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German Pages [360] Year 2008
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften Pastoraltheologie und Wege zum Menschen und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie
Band 56
Vandenhoeck & Ruprecht
Norbert Schwarz
„denn wenn ich schwach bin, bin ich stark“ Rezeptivität und Produktivität des Glaubenssubjektes in der Homiletik Hans Joachim Iwands
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62406-7
© 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier.
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Kapitel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Eine dreifache Annäherung an die Homiletik Hans Joachim Iwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Zum Verhältnis von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit – eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand im Horizont der jüngeren homiletischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die Wahrnehmung Iwands im Horizont der jüngeren Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Die Stellung von Predigt und Homiletik im Gesamtwerk Hans Joachim Iwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Frage nach der Bedeutung des Wortes Gottes für die Verantwortung und den Vollzug der Predigt sowie für die fundamentale Bestimmung des Verhältnisses von humaner Subjektivität und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kapitel Die theologische Anthropologie Hans Joachim Iwands im Spannungsfeld von Wort Gottes und Subjektivität . . . . . . . . . .
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2.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.1.1 Iwands Stellung im Horizont einer Neuorientierung der Theologie am Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 49 2.2 Iwands Entwicklung seiner eigenen religionsphilosophischen Basis in der Auseinandersetzung mit Karl Heim . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.1 Die Begründung der Glaubensgewissheit bei Karl Heim . . 56 2.2.2 Die Gliederung der Dissertation und der Charakter ihrer Gedankenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.2.3 Die subjektive Erfahrung als Wechsel von Selbst- und Fremdbestimmung und das Antinomieproblem . . . . . . . 62 2.2.4 Das Verhältnis von rationalem und erlebendem Wirklichkeitsbezug als Ausgangspunkt für Iwands Entfaltung einer eigenen religionsphilosophischen Basis . . 68 2.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5
2.3 Iwands theologische Interpretation der Selbstbewusstseinsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Zum Verhältnis von theologischem und außertheologischem Wirklichkeitsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Das Verhältnis von Selbst- und Sündenerkenntnis als Grundproblem für die Bestimmung des menschlichen Gottesverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Die rechtfertigungstheologische Fundierung der Glaubensgewissheit in einem christologisch vermittelten Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Die Selbsttätigkeit des Glaubenssubjektes unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zusammenfassung, Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . .
88 91
3. Kapitel Iwands Bloestauer Homiletik-Vorlesung
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3.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Vorlesung und die Situation ihrer Entstehung . . . . . . . . . 3.2.1 Die Situation des Kirchenkampfes als zeitgeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der Gesamtaufbau der Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Iwands Programm eines homiletischen Realismus . . . . . . . . . 3.3.1 Die fundamentaltheologischen Weichenstellungen in Iwands Homiletik vor dem Hintergrund der theologischen Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Begründung des Predigtauftrages in der Schrift . . . . 3.3.3 Die Welt als konstitutiver Bezugspunkt der Predigt . . . . 3.3.4 Predigt als eschatologisches Ereignis zwischen Tod und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Amt und Person – der Prediger als erster Hörer des Wortes 3.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 76 78 80
. 95 . 97 . 97 . 98 . 104 . 104 . 118 . 128 . 136 141 . 147
Vorüberlegungen zur rhetorischen Analyse von Predigten Iwands . . . . 153 4. Kapitel Predigt als involvierende Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Weiterführende Hinweise zur Gestaltung des Schriftgebrauches bei Iwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Narrativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Selbsterkenntnis durch Identifi kation mit der Christusrolle 6
157 159 159 160
4.3 4.4 4.5
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4.2.3 Die Gestaltung des christologisch vermittelten Selbstverhältnisses als szenische Vergegenwärtigung der im biblischen Text angelegten Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Modell: Die narrative Perspektive auf die biblische Welt und deren szenische Vergegenwärtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die narratologische Perspektive in den Predigten Iwands . . . . . . Der Name des Herrn – Analyse zu einer Predigt über Apg 4,11–12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Binnengliederung und Themenentfaltung . . . . . . . . . . . 4.5.2 Die sukzessive Entfaltung der Rollen des biblischen Textes auf die gegenwärtige Situation der Predigthörer hin . . . . . Von der Rückkehr des unreinen Geistes – Analyse zu einer Predigt über Mt 12,43–45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Binnengliederung und Themenentfaltung . . . . . . . . . . . 4.6.2 Die sukzessive Entfaltung der Rollen des biblischen Textes auf die gegenwärtige Situation der Predigthörer hin . . . . . Zusammenfassende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Vergleichende Zusammenfassung der Rollenentfaltung . . . 4.7.2 Rückbezug auf die Voraussetzungen und Überlegungen zum Gewinn des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Kapitel Predigt als Kampfgeschehen zwischen Fleisch und Geist . . . . . . . 5.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Hinweise zur Gestaltung des Rezeptionsverhältnisses zu den Hörern in Iwands Bloestauer Homiletik-Vorlesung . . . . . . . . . . 5.2.1 Das Predigtgeschehen in der Spannung zwischen Wort und wirklicher Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Das Ineinander von Enge und Offenheit der Verkündigung 5.3 Die Analyse des Zusammenhangs von Predigtaufbau und Rezeptionsbeziehung zu den Hörern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Predigt als Kampfgeschehen – Analyse zur Predigt über Gal 5,25–6,10 und zu typischen Elementen weiterer Galaterbriefpredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Die Grundstruktur des Predigtaufbaus als blockartige Nebenordnung von Anspruchs- und Zuspruchsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Die sukzessive Wendung der Hörer zu einem neuen Weltund Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Die Entfaltung des Ringens zwischen Fleisch und Geist in der Predigt über Gal 2,15–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Die rhetorische Gestaltung der Christusbeziehung als Herrschaftswechsel im Ich des Glaubenden . . . . . . . . . . 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
162 165 167 170 170 173 183 183 185 203 204 206 209 209 210 210 212 214 216 219 221 226 230 232 7
6. Kapitel Predigt als eschatologisches Ereignis zwischen Tod und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Todesverfallenheit und Auferstehung in Iwands Predigten . . . 6.3 Die Bildanalyse als methodischer Zugang zur eschatologischen Dimension in Iwands Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Die Frage nach der mentalen Modellierung der Äonenwende in Iwands Predigten . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Vortrupp des Lebens – Analyse zur Predigt über Ez 37,1–14 . . 6.4.1 Iwands eschatologische Predigt angesichts der Erfahrung des Luftkrieges in Dortmund . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Binnengliederung und Themenentfaltung der Predigt . . 6.4.3 Die mentalen Modelle und ihre jeweiligen Konkretionen 6.4.4 Die zeitliche Konstellation der Modelle als Schlüssel zur zentralen Botschaft der Predigt . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Die Züge des konkreten mentalen Bildes, das die Predigt bei den Hörern auslöst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz – Analyse zur Predigt über Ps 51,12f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Die gewandelte Situation in der Predigt des Jahres 1959 6.5.2 Binnengliederung und Themenentfaltung . . . . . . . . . 6.5.3 Die mentalen Modelle der Predigt . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4 Das Gesamtbild der Predigt als Zusammenschau der vier Modelle in ihrer sukzessiven Entfaltung . . . . . . . 6.5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kapitel Schlussbetrachtung
. . 235 . . 236 . . 237 . . 240 . . 242 . . 243 . . 243 . . 245 . . 248 . . 254 . . 256 . . 267 . . . .
268 268 269 272
. . 284 . . 288
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
7.1 Die Einbettung der Predigtaufgabe in das Konzept eines christologisch vermittelten Selbstverhältnisses . . . . . . . . . . . . 7.2 Narrative Schriftauslegung als Finden des Wortes Gottes im „Heute“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Gestaltung der Beziehung zwischen dem Wort Gottes und seinen Rezipienten als dialektisches Ineinander von Anspannung und Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die Arbeit mit mentalen Bildern als Neuerschließung menschlicher Lebenswirklichkeit im Licht des Wortes Gottes . . 7.5 Abschließende Kurzzusammenfassung der Studie . . . . . . . . .
8
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. 291 . 295 . 297 . 303 . 306
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Predigt 1: Der Name des Herrn . . . . . . . . . . . . Predigt 2: Von der Rückkehr des unreinen Geistes Predigt 3: Kampf zwischen Fleisch und Geist . . . Predigt 4: N.N. ist nicht hier! . . . . . . . . . . . . . Predigt 5: Vortrupp des Lebens . . . . . . . . . . . . Predigt 6: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz . .
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311 323 331 336 345 350
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
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Vorwort Vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Promotionsschrift, die im Juli 2005 von der Theologischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen angenommen wurde. Das Rigorosum fand am 14. Juli 2005 statt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Jan Hermelink und Herrn Prof. Dr. Manfred Josuttis. Beide haben meine Studie auf sehr unterschiedliche Weise angeregt, begleitet und mich darüber hinaus theologisch geprägt. Prof. Hermelink hat meine Aufmerksamkeit im Zuge der Beschäftigung mit der Theologie Iwands auf das Feld der Predigtanalyse gelenkt. Er hat mich in zahlreichen Gesprächen dazu angeregt und ermutigt, diesen Weg konsequent zu beschreiten. Für mich hat sich dadurch ein neuer Zugang zum Untersuchungsgegenstand eröffnet. Schließlich hat Prof. Hermelink das Erstgutachten erstellt. Herr Prof. Manfred Josuttis hat mich darin ermutigt und bestärkt, die Homiletik Hans Joachim Iwands einer erneuten Untersuchung zu unterziehen und ihren Orientierungswert für die heutige Verkündigung zu erschließen. Er hat das Zweitgutachten erstellt. In eine wissenschaftliche Arbeit fließt – oft unmerklich für spätere Leserinnen und Leser – auch immer etwas von dem Umfeld ein, in dem sie entsteht. Zu nennen sind in diesem Falle die Göttinger Freunde Henning Seiffert, Florian Schneider, Christian Schulken und Matthias Wilke. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Danken möchte ich auch den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern auf den Iwand-Symposien in Beienrode. Ein großes Dankeschön meinen Eltern, die mich beim Werden dieser Arbeit von langer Hand unterstützt und viel Geduld und Verständnis dafür aufgebracht haben. Das größte Dankeschön geht natürlich an meine Frau Imke, an deren Seite ich nach langer Zeit der wissenschaft lichen Analyse nun im Pfarramt eigene homiletische Gehversuche unternehme. Mein weiterer Dank gilt den Herausgebern, die meine Arbeit in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Homiletik“ aufgenommen haben, der Georg-August-Univeristät Göttingen für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, der Hans Iwand Stiftung e. V. und der Hannoverschen Landeskirche für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen. Steffen Riesenberg danke ich für das Korrekturlesen und die Erarbeitung der Druckvorlage. Fleestedt, Juni 2008
Norbert Schwarz
. Kapitel
Einleitung . Eine dreifache Annäherung an die Homiletik Hans Joachim Iwands Der Theologe Hans Joachim Iwand gehört zu den markanten Erscheinungen der Epoche der so genannten „Dialektischen Theologie“ und hat die zeitgenössische Diskussion um die Predigt nachhaltig beeinflusst. Wenn wir seine homiletische Theorie und Praxis erneut zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Arbeit machen, so geschieht das aus einem veränderten Reflexionshorizont heraus. Dies macht sowohl den Reiz als auch die Schwierigkeit der vorliegenden Untersuchung aus. Erhebt sie doch den Anspruch, neben der werkgeschichtlichen Rekonstruktion auch einen systematischen Beitrag zur gegenwärtigen Fachdiskussion zu leisten. Zeitlicher Abstand einerseits und überraschende Aktualität im Blick auf die heutige Gesprächslage andererseits lagen für uns bei der Arbeit an Iwands Texten dicht beieinander. Dies macht es erforderlich, Rechenschaft abzulegen über den eigenen Interpretationsstandpunkt. Sie dient zugleich dazu, die Leser an die Thematik heranzuführen: Inwiefern können die homiletischen Erörterungen Hans Joachim Iwands Impulsgeber für die heutige Fachdiskussion sein? Wie sind sie bisher aufgenommen worden? Wie kommen sie im Zusammenhang seines eigenen Wirkens zu stehen? – Diesen Fragen gehen wir am Beginn in drei Annäherungen nach, um sodann das Vorgehen unserer Studie darzulegen. Anhand einer problemgeschichtlichen Skizze (1.1.1) zeichnen wir – unter vorübergehender Absehung vom Untersuchungsgegenstand – die Absetzbewegung kommunikationswissenschaftlich orientierter Homiletik vom dogmatischen Theologietypus in groben Zügen nach, um zu erörtern, inwiefern eine erneute Vermittlung beider Perspektiven auf das Predigtgeschehen geboten ist. Unsere zweite Annäherung (1.1.2) bezieht diese Problemkonstellation auf den Untersuchungsgegenstand und geht auf die jüngere Iwandforschung ein. Genauer gesagt: Es soll gezeigt werden, welche der unter Abschnitt 1.1.1 erörterten Gesichtspunkte eine erneute Rezeption Iwands behindern, und unter welchen Voraussetzungen sich eine neue Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand eröffnet. In unserer dritten Annäherung (1.1.3) geben wir einen Überblick über die Stellung von Predigt und Homiletik im Gesamtwerk Iwands. 13
Ausgehend von diesen Erörterungen entwickeln wir (1.2) das Vorgehen unserer Studie. Es ist motiviert durch eine doppelte Erwartung: Einerseits eröffnet das der Homiletik in jüngerer Zeit zugewachsene methodische Inventar in der Anwendung auf Iwands Predigtlehre und -praxis einen neuen Einblick in sie. Es stellt eine reizvolle Herausforderung dar, die in der neueren Predigtforschung adaptierten kommunikationswissenschaftlichen Verfahren auf einen Prediger und Predigtlehrer anzuwenden, für den die empirische Wahrnehmung der Predigtaufgabe i.S. der jüngeren Homiletik noch außerhalb seines Horizontes lag. Andererseits ist die Beschäftigung mit Iwands Ansatz dazu geeignet, der gegenwärtigen Homiletik ihrerseits zu einer Vergewisserung hinsichtlich der theologischen Voraussetzungen von Verkündigung zu verhelfen. In der Meinung, dass bei Iwand zentrale theologische Fragen angegangen werden, die im Zuge der Neuorientierung der Homiletik nach seinem Tod vorübergehend in den Hintergrund getreten sind, erwarten wir, dass er der homiletischen Gegenwart über den zeitlichen Abstand hinweg etwas zu lernen gibt. .. Zum Verhältnis von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit – eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand im Horizont der jüngeren homiletischen Diskussion Die Neubestimmung des Verhältnisses von Rhetorik und Homiletik innerhalb der letzten vierzig Jahre geschah als eine Absetzbewegung von einem Theologietypus, welcher die Predigt dogmatisch als Selbstbewegung des Wortes Gottes bestimmt hatte. Zielte das Pathos einer an der Souveränität des Wortes Gottes orientierten Homiletik auf eine „Zurückdrängung der Subjektivität“ von Predigern und Hörern,1 so wurde nun die Würdigung letzterer als entscheidende Voraussetzung für die Rezeption eines modernen Rhetorikverständnisses geltend gemacht. Erst die konsequente Wahrnehmung der Verkündigung als menschliche Rede eröffnet den Blick dafür, wie der Prediger sich in sie als handelnde Person einbringt, wie er auf die Wirklichkeit der Hörer eingeht und wie er den Bezug darauf methodisch nachvollziehbar gestaltet. Wenn wir diese homiletische Wende im Folgenden kritisch nachvollziehen, so ist vorab dem Missverständnis zu wehren als ginge es darum, hinter sie zurück zu gehen auf eine sich der kommunikationstheoretischen Betrachtung verschließende dogmatische Position. Wir sind vielmehr der Meinung, dass eine moderne Homiletik ihre Aufgabe nur dann einzulösen vermag, wenn sie ihre theologischen Voraussetzungen nicht aus dem Blick verliert, sondern sie gerade in ihrer die Praxis orientierenden Funktion geltend macht. In diesem Sinne hat Wilhelm Gräb gefordert, dass Predigttheorie über die Aufnahme empirischer Methoden hinaus „die theologische Reflexion des Predigtvollzuges für sich selber erbringen“ müsse.2 Erst dies versetzt sie in die Lage zu zeigen, inwiefern ihre Selbstauffassung folgenreich ist für die Strukturierung 1 Engemann, Wilfried, Einführung, 247. 2 Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 9.
14
des kommunikativen Aktes. Wir treten an unsere Studie mit der Erwartung heran, dass die erneute Konzentration auf die Frage nach den prinzipiellen Konstitutionsbedingungen von Predigt die Richtung vorgeben kann für die Überwindung einer unproduktiven Entgegensetzung von theologischen und kommunikationstheoretischen Bestimmungen. Führt die Profi lierung des pragmatisch-empirischen Charakters von Homiletik auf Kosten ihrer theologischen Bestimmung zur Auflösung der Predigt in eine unspezifische Redesituation, so gewinnt sie in dem Maße Kontur, in dem es gelingt den inneren Verweisungszusammenhang von Prinzip und Erfahrung transparent zu machen.3 Bei dieser Arbeit kommt der Erörterung der Frage eine zentrale Bedeutung zu, welcher handlungsorientierende Sinn sich mit der Bestimmung der Predigt als Wort Gottes verbinden kann, bzw. wie letztere mit der Bestimmung von Predigt als subjektiv verantworteter menschlicher Rede vermittelbar ist.4 Bevor wir diese Überlegungen präzisieren, entwerfen wir eine kurze problemgeschichtliche Skizze hinsichtlich der Bestimmung der Verkündigung als Wort Gottes und menschlicher Rede in der jüngeren Homiletik. Wir verfahren dabei notwendigerweise selektiv. Es geht uns darum das Bewusstsein für ein Problem zu schärfen, das die kommunikationswissenschaft lich orientierte Homiletik von Beginn an bis in jüngste Veröffentlichungen hinein begleitet und dessen Lösung noch aussteht: eine kritische Vermittlung von theologischen und empirischen Bestimmungen im homiletischen Akt, die mehr ist als eine additive Verkoppelung zweier ansonsten gegeneinander verschlossenen Wirklichkeitskonstruktionen.5 Die Abkehr von einem Wort-Gottes-theologischen Predigtverständnis zugunsten einer kommunikationswissenschaftlichen Orientierung der Homiletik ist vielleicht am nachdrücklichsten von dem Rhetoriker Walter Jens in einer Rede auf dem deutschen Pfarrertag von 1976 formuliert worden, wo er pathetisch zu einem „Aufstand der Praxis“ aufgerufen und den „Entwurf einer rhetorica nova“ als „Gebot der Stunde“ ausgegeben hat.6 Essentielle Bestimmung letzterer ist für ihn die Forderung, dass „die reformatorische Sentenz ‚Die Verkündigung des Gotteswortes ist das Gotteswort selbst‘ als christlicher Rede unangemessen, als hybrid und aller Erfahrung hohnsprechend“ zurückgewiesen werden müsse.7 Vor Jens hatte bereits der Homiletiker Hans-Dieter Bastian die Alternative aufgemacht: 3 Vgl. ebd., 32f. 4 In diesem Sinne konvergiert unser Forschungsinteresse mit dem von Jan Hermelink formulierten Anspruch, die Kontinuität zwischen den Paradigmen der empirischen Wende und der Wort-Gottes-Theologie herauszuarbeiten; vgl. ders., Die homiletische Situation, 16. 13. 5 Wir folgen damit einer Problembestimmung, der Wilhelm Gräb eine umfangreiche Studie gewidmet hat, vgl. ders., Predigt als Mitteilung, 14. Zur Wahrnehmung dieses Problems auf einer breiteren Basis verweisen wir zudem auf den ersten Teil der Studie von Jochen Cornelius-Bundschuh, der die Bedeutung der Kategorie des Wortes Gottes für die Homiletik seit Ernst Lange in Relation auf die Gemeinde rekonstruiert; vgl. ders., Die Kirche des Wortes, 17–152. 6 Jens, Walter, Die christliche Predigt, 26. 16. 7 Ebd., 16.
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„Entweder […] die Praktische Theologie folgt der Lehre vom Wort, gewinnt Gewißheit (dogmatisch), aber verliert Wirklichkeit (praktisch), oder sie wendet sich vom axiomatischen Wort ab und den menschlichen Wörtern zu, übernimmt die Verantwortung für deren Macht und Ohnmacht und unterwirft kirchliches Reden und Handeln radikal der empirischen Analyse.“8
Dass die derart gefasste Alternative zur Auflösung der Predigt in eine unspezifische, allgemeine Sprechsituation führt, ist an dieser Fassung des Empiriebezuges inzwischen wiederholt kritisiert worden. Unzulänglich ist diese Betrachtungsweise nicht nur gegenüber dogmatischen Ansprüchen an die Predigt. Rolf Schieder hat im Blick auf eine empiristische Rhetorik i.S. Bastians kritisiert, dass es ihr an Sensibilität für die „Pragmatik der institutionalisierten Rede- und Verstehensgewohnheitsnotwendigkeiten des Gottesdienstes“ mangelt.9 Geben letztere der Kanzelrede ihre unverwechselbare rhetorische Kontur, so kommt es infolge von deren Missachtung zu einer Isolation der Predigt im Gottesdienst und zu ihrer Überfrachtung mit missionarischen Ansprüchen.10 Auf der Kanzel werden außergottesdienstliche Sprachvollzüge imitiert, die ihrer Funktion nach dort nicht eingelöst werden können.11 Demgegenüber hat Albrecht Grözinger darauf hingewiesen, dass gerade die moderne Rhetorik die Beachtung der „unauflösliche[n] Wechselwirkung“ zwischen Inhalt und Form gebietet.12 Dieser Grundsatz verbietet es, sich bei der Entwicklung einer Predigttheorie rein auf die Pragmatik zu beschränken. Über das empirisch Beschreibbare hinaus muss theologisch bestimmt werden, was eine Predigt ist und worin sie ihr normatives Kriterium hat.13 Deshalb gab und gibt es neben den genannten Voten zu einem radikal empiristischen Predigtverständnis von Anfang an Ansätze, welche die Öffnung zur Kommunikationswissenschaft mit einer theologischen Fundierung der Predigtaufgabe zu vermitteln suchten. Manfred Josuttis hat bereits zu Beginn des Auseinandertretens der Perspektiven darauf hingewiesen, dass die homiletische Aufgabe nur dort angemessen bewältigt werden kann, wo sowohl die kommunikationswissenschaftliche als auch die dogmatische Betrachtungsweise zu ihrem Recht kommen. Soll eine echte Aneignung empirischer Verfahren in der Homiletik stattfinden, dann ist es notwendig, die Predigt nicht nur als „kommunikatives“, sondern zugleich als „kreatorisches Geschehen“ zu begreifen. Dementsprechend formuliert er: „Die Kritik an einer Verkündigung von oben her bleibt auf die Dauer nur legitim, wenn sie die Begrenztheit ihrer kritischen Position kalkuliert. […] Eine Kritik an der Verkündigungstheologie, die die Dialektik zwischen Theologie und Empirie übersieht, bringt sich selbst und die Verkündigung um die Fähigkeit zur Kritik. Eine Praktische Theologie, die mehr sein will als Kunstlehre oder Anwendungs8 9 10 11 12 13
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Bastian, Hans-Dieter, Vom Wort zu den Wörtern, 29. Schieder, Rolf, Der „Wirklichkeitsbezug“, 327. Vgl. ebd. Vgl. Josuttis, Manfred, Die Öffentlichkeit, 54f. Grözinger, Albrecht, Die Sprache, 75f. Vgl. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 9.
wissenschaft, wird sich mit der Rezeption empirischer Methoden nicht begnügen und die Verkündigung nicht nur als kommunikatives Geschehen ansehen dürfen. […] Daß die Kraft der Verkündigung, Glauben zu wecken, nicht menschlicher Aktivität und Organisationsfähigkeit zugeschrieben wird, ist die eigentliche Spitze der Behauptung, Verkündigung sei kreatorisches Ereignis. […] Der Glaube, der die doxologische Differenz zwischen Gott und Mensch behauptet, behauptet damit zugleich, daß er nicht aus sich selber, nicht aus kirchlicher Information und Kommunikation, sondern aus der Schöpferkraft Gottes stammt.“14
Josuttis konfrontiert die kommunikationstheoretische Betrachtung der Predigt als Handlung mit dem in der reformatorischen Rechtfertigungslehre formulierten Anspruch, dass der Glaube sich nicht aus menschlicher Selbsttätigkeit gewinnt, sondern sowohl hinsichtlich seiner Entstehung als auch hinsichtlich der Kontinuität seines Selbstverhältnisses auf Gott als seinen fremdkonstitutiven Bestimmungsgrund verwiesen ist. In seinem Vollzug bringt der Glaube dies als „Bekenntnis zur kreatorischen Kraft des Heiligen Geistes“ zur Geltung und unternimmt damit eine kritische Selbstunterscheidung zwischen seinem empirischen und theologischen Subjekt.15 Das Bekenntnis schärft das Bewusstsein dafür, dass empirisches Handeln sich hinsichtlich seiner Begründung und seiner Folgen entzogen ist, und verwehrt es, das Handlungsparadigma als abschließende Perspektive der Selbstwahrnehmung aufzufassen. Insofern soll es konstitutive Voraussetzung auch für die Beschreibung der Predigtaufgabe sein. Für die Bestimmung des homiletischen Aktes als Ineinander von kommunikativem Handeln und Geistwirken bleibt die von Josuttis getroffene Unterscheidung allerdings unzulänglich. Maßgeblich für ihn ist, gegenüber der Gefahr einer empirischen Überformung eine doppelte Perspektive auf das Verkündigungsgeschehen festzuhalten. Sie sichert das Recht der theologischen Betrachtungsweise.16 Nicht mehr erörtert wird dagegen die Frage nach dem inneren Verweisungszusammenhang von kommunikativem und kreatorischem Geschehen. Predigt kommt entweder als kommunikatives oder kreatorisches Geschehen in den Blick, ohne dass einzusehen wäre, wie beide aufeinander bezogen sind. So birgt die Profi lierung der doxologischen Differenz zwischen Gottes- und Menschenwort aber ihrerseits die Gefahr in sich, dass der sich in der Interdependenz von theologischen und kommunikativen Bestimmungsfaktoren vollziehende Konstitutionsvorgang der Subjektivität des Predigers aus der Beschreibung des homiletischen Aktes herausfällt. Bleibt es bei der bloßen Entgegensetzung, dann erweist sich die Qualifi kation der Predigt als göttliches Schöpferwort gegenüber ihrer rhetorischen Gestaltung letztlich als indifferent. 14 Josuttis, Manfred, Verkündigung, 36. 41. 15 Ebd., 41. 16 Vgl. ebd., 46: „Es wäre ein Verlust an theologischer Substanz, wenn die notwendige Einbeziehung empirischer Gesichtspunkte zur Verdrängung oder zum Verzicht auf theologische Sätze innerhalb der Praktischen Theologie führen würde.“
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Tatsächlich ist es jedoch nicht nur aus kommunikationstheoretischen, sondern auch aus theologischen Gründen geboten, zu beschreiben, wie das empirisch bestimmte Subjekt an der Begegnung mit dem Evangelium zu seiner wahren Bestimmung kommt. Von diesem Vorgang her gewinnt die Predigtaufgabe allererst ihr spezifisch theologisches Profi l. Verbindet sich mit der Verkündigung im Sinne von CA V doch die qualifizierte Frage nach der Konstitution der Glaubenswirklichkeit.17 Die Predigt ist notwendig, weil der Glaube sich nicht immer schon gegeben ist und auch nicht einfach als eine zweite Perspektive zur empirischen Welt- und Selbstauslegung hinzutritt, sondern seinen Entstehungszusammenhang an der Wortverkündigung hat. Dann ist im Rahmen der homiletischen Reflexion aber legitimer Weise zu fragen, inwiefern „die Kraft zur Bildung des Glaubens dem kommunikativen Akt als solchem innewohnt“ bzw. inwiefern durch das kommunikative Geschehen, das die Predigt als menschliche Rede darstellt, die Neubestimmung des Menschen im Glauben erfassbar wird.18 Weil von der Predigt zu erwarten ist, dass sie Glauben stiftet, darf Predigttheorie sich nicht darauf beschränken, die Wirkung des Geistes lediglich als eine dem kommunikativen Handeln entzogene Realität zu postulieren. Vielmehr muss sie die Neubestimmung des Menschen durch das Evangelium im Glauben so zum Thema machen, dass diese im homiletischen Akt selber angeeignet wird, und der durch den Vollzug der Aneignung sein unverwechselbares Profi l erhält. Zu vermeiden ist es, dass die Struktur des kommunikativen Handelns durch die theologische Qualifikation des homiletischen Aktes ausgeblendet oder verdunkelt wird. Mit besonderem Nachdruck wird dieses Anliegen von Wilfried Engemann in einem über dreißig Jahre nach den Äußerungen von Josuttis veröffentlichten Aufsatz geltend gemacht.19 Er ist beispielhaft dafür, wie sich die homiletische Diskussion um die Vermittlung von Gottes- und Menschenwort unter dem Einfluss kommunikationstheoretischer Faktoren fortentwickelt hat. Engemann will die Predigt ihrerseits als „Schöpfungsakt“ verstanden wissen,20 nimmt seinen Ausgangspunkt zur Bestimmung desselben allerdings konsequent bei der Subjektivität von Prediger und Hörern. Im Unterschied zur Betonung einer strikten Trennung zwischen Gottes- und Menschenwort sieht er die handelnde Kommunikation von Menschen in Kontinuität zum göttlichen Schöpfungsgeschehen.21 Seine Intention ist es, „die Auswirkung der Predigt auf das Leben eines Menschen“ – so der Untertitel des Aufsatzes – aufzudecken. 17 Vgl. BSLK, 58: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er als durch Mittel den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wann er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket, […]. Und werden verdammt die Wiedertaufer und andere, so lehren, daß wir ohn das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen.“ 18 Josuttis, Manfred, Verkündigung, 41. 19 Engemann, Wilfried, Predigt als Schöpfungsakt, 71–92. 20 Ebd., 71. 21 Vgl. ebd., 75.
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Aus der identifi katorischen Verhältnisbestimmung von Gottes- und Menschenwort folgt, dass das kommunikative Handeln des Predigers im homiletischen Geschehen aufgewertet und ihm zugleich ein enormer Anspruch zugemutet wird. Im Sinne Engemanns legt Predigt nicht nur von sich selber weg weisendes Zeugnis vom Heil ab, sondern antizipiert unmittelbar am Handeln des trinitarischen Gottes. Der Prediger steht seinerseits vor der Aufgabe, „das Wort des Schöpfers in die Sprache der Geschöpfe zu fassen und noch einmal das ‚Es werde…‘ zu sprechen“,22 bzw. „einen Durchbruch zu versuchen in die wirkliche Gegenwart einer heilsgeschichtlichen Zeit.“23 Der homiletische Akt zielt grundsätzlich auf eine „Vermittlung von Lebensmacht im Hier und Jetzt“ und ist seiner theologischen Bedeutung nach „Wirklichkeit stiftendes Machtwort“.24 Wohl gemerkt: Mit dieser Aufgabenzuweisung bewegt Engemann sich ganz auf der Linie des reformatorischen Verständnisses, insofern er seine theologischen Bestimmungen – deutlicher als Josuttis – auf das konkrete homiletische Sprachereignis bezieht. Adressat der Predigt soll das unter den Bedingungen personaler Kommunikation angesprochene Subjekt sein. Problematisch ist jedoch, wie Engemann theologische und empirische Sichtweise aufeinander bezieht. In seinen theologischen Begründungen greift er sowohl auf schöpfungs- als auch auf inkarnationstheologische Bestimmungen zurück: Insofern der Mensch mit einer relativen Selbstmächtigkeit ausgestattet und Gott in Christus selber Menschen geworden ist, soll auch der Prediger „von der ihm verliehenen schöpferischen Kompetenz“ Gebrauch machen und seinen Hörern ihrerseits dazu verhelfen, ihre Geschöpflichkeit zu leben.25 An dieser Bestimmung ist zunächst zu kritisieren, dass sie unterhalb des rechtfertigungstheologischen Niveaus der Predigtaufgabe bleibt. Wir können dies hier nur kurz anreißen: Nach der von uns vertretenen Auffassung besteht die Pointe der reformatorischen Fassung der Rechtfertigungslehre darin, dass sie nicht lediglich auf eine Gestalt gegebener, personaler Freiheit rekurriert, sondern deren Begriff im Durchgang durch Gericht und Gnade transzendiert. Der Glaube ist nicht als besonderer Realisierungsfall einer allgemeinen Struktur zu bestimmen, sondern betrifft die Neukonstitution des Menschen unter der Bestimmung durch das Wort Gottes.26 D.h. aber: Erst der Rechtfertigungsglaube gelangt zur Aufk lärung über die wahre Bestimmung seiner selbst und diese Erkenntnis wirft ein neues Licht auf alle tätige Selbstauslegung des Menschen in seinen welthaften Bezügen. Die Schöpfungstheologie kann dann nicht als Interpretationsrahmen für das Wirklichwerden des Glaubens herhalten, sondern ist vielmehr im Horizont der Rechtfertigungslehre neu zu interpretieren. Im Sinne letzterer schließt die Analyse des Glauben das Bewusstsein „jetzt sich vollziehender Aneignung […] im Einzelnen“ immer schon ein.27 22 23 24 25 26 27
Ebd., 73. Ebd., 77. Ebd., 79. Ebd., 90. Vgl. ebd., 75. Vgl. dazu Gräb, Wilhelm/Korsch, Dietrich, Selbsttätiger Glaube, 14f. Wittekind, Folkart, Karl Barth, 367.
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Diese Unterscheidung ist folgenreich für die Bestimmung der homiletischen Aufgabe: Ist die Predigt der Ort, an dem das Selbstverhältnis des Glaubens entsteht und die welthafte Selbstauslegung in ein neues Licht gesetzt wird, so sind auch die kommunikativen Vollzüge von daher neu zu bestimmen. Nicht erst die Position der Hörer, sondern schon die davon gar nicht zu trennende Predigttätigkeit selber muss der Ort sein, an dem das Selbstverhältnis des Rechtfertigungsglaubens exemplarisch zur Darstellung kommt. M.a.W.: Der Prediger darf nicht als Kommunikator des Evangeliums bestimmt werden, der seine Begegnung mit dem Wort schon hinter sich hat, sondern muss in seiner Subjektivität als aktuell vom Wort Gottes Betroffener angesprochen werden. Wo der Predigtbegriff allein aus einer schöpfungsmäßigen Wortmächtigkeit entwickelt wird, führt dies in letzter Konsequenz wiederum dazu, dass seine Konturen verblassen. Dies zeigt sich daran, wie Engemann in der Durchführung seines Ansatzes die Verbindung zwischen theologischen und kommunikativen Bestimmungen sukzessiv lockert: Bei der Qualifizierung der Predigt als Schöpfungsakt setzt er zunächst beim göttlichen Schöpferwort an, dem nach Genesis 1 „die Kraft zugeschrieben [wird], das Chaos mit der göttlichen Ordnung zu überziehen“. Von dieser Bestimmung her drängt sich ihm die Analogie auf, dass auch die Predigt „ein Prozess [ist], in dem Licht und Dunkelheit, oben und unten, hinten und vorn, Fülle und Leere – in dem Zeichen ansichtig werden.“ Über die Assoziation des Zeichenbegriffes gelangt er schließlich zu dem Resümee: „Predigen hat mit dem Setzen von in Sprache geformten Zeichen zu tun. Zeichen, die dem Menschen dazu verhelfen, sich als Geschöpf in Gottes Welt wahrzunehmen, Zeichen, die er braucht, um seinen Lebensraum zu strukturieren.“28
Zweifellos ist mit der Charakterisierung der Predigt als menschliches Leben orientierendes Setzen von Zeichen jene theologische Bestimmung nicht eingeholt, die als „Durchbruch […] in die wirkliche Gegenwart einer heilsgeschichtlichen Zeit“ angesprochen wurde.29 Im Zuge ihrer Konkretisierung auf das kommunikative Handeln degenerieren exklusiv theologische Bestimmungen zu Deutungen für Kommunikationsvorgänge, deren Beschreibung sich einer semiotischen Betrachtungsweise verdankt und letztlich auch ohne theologische Begrifflichkeit auskommt. Mit Jochen Cornelius-Bundschuh ist zu kritisieren, dass so „die semiotische Struktur selbst“ zum Zentrum der Predigt wird, ohne dass eine inhaltliche Respezifizierung ihrer theologischen Gehalte erfolgt.30 In praktischer Konsequenz folgt aus der unzulänglichen Qualifi kation des homiletischen Aktes eine unzureichende Bestimmung der Rolle der Predigerperson. Obwohl Engemann diesem Thema den letzten Teil seines Aufsatzes widmet,31 bleiben seine Äußerungen zur Funktion und Legitimation 28 29 30 31
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Engemann, Wilfried, Predigt als Schöpfungsakt, 80. Ebd., 77. Cornelius-Bundschuh, Jochen, Die Kirche, 151f. Vgl. Engemann, Wilfried, Predigt, 89–92.
subjektiv-personaler Vermittlung des Wortes Gottes undeutlich. Was heißt es für den Prediger, Teilhaber am Schöpfungsgeschehen zu sein?32 Sind die „Annahme der eigenen Person“ und „Bejahung der eigenen Subjektivität“ Voraussetzung für die Vermittlung der „Lebensmacht“ des Evangeliums, oder nicht vielmehr Folge davon?33 Engemann spricht die Person des Predigers auf eine von ihr zu leistende Vermittlungstätigkeit an, ohne die Konstitutionsbedingungen von Personalität unter der Bestimmung durch das Wort Gottes zu bedenken. Wird diese Grund legende Dimension von der Beschreibung der homiletischen Arbeit aber abgekoppelt, so muss dies entweder zur Überforderung der Person führen, oder dazu, dass der homiletische Akt von anderen Kommunikationsvollzügen nicht mehr hinlänglich unterscheidbar ist. Erst die Transzendierung des tätigen Selbstverhältnisses im Rechtfertigungsglauben erlaubt es, die Predigt in einem theologisch verantwortlichen Sinne als „Schöpfungsakt“ zu bestimmen. Fassen wir zusammen: In einer am kommunikativen Handeln orientierten Homiletik kommt es darauf an, die Pragmatik menschlicher Rede und die theologische Bestimmung von Predigt als Wort Gottes nicht gegeneinander auszuspielen. Vielmehr gilt es beides in seiner wechselseitigen Bezogenheit aufeinander zu begreifen. Das war der Ausgangspunkt unserer Erörterungen. Manfred Josuttis hat in seinen frühen Äußerungen der Homiletik die Differenz zwischen empirischem und theologischem Predigtsubjekt als Prinzip kritischer Selbstunterscheidung eingeschärft. Diese Doppelperspektive ist dazu geeignet die Grenzen einer empirischen Betrachtungsweise zu markieren. Problematisch ist daran allerdings, dass der homiletische Akt nicht mehr als Konstitutionszusammenhang des Glaubens ansichtig wird. Wilfried Engemann geht in seinen jüngeren Äußerungen den entgegen gesetzten Weg. Er betont die Kontinuität zwischen Schöpferwort und Sprachmächtigkeit des Menschen und will aufzeigen, wie das Wort Gottes im kommunikativen Handeln seine Wirksamkeit entfaltet. Dabei gelingt es ihm die konkrete Sprechsituation als Bezugspunkt der homiletischen Bemühung zu profi lieren. Ausgeblendet wird jedoch die in der Rechtfertigungslehre indizierte Selbstunterscheidung des Menschen von seinem empirisch-tätigen Weltverhältnis. Theologische Bestimmungen werden lediglich affirmativ auf das kommunikative Handeln bezogen. Welche Konsequenzen sind aus der Gegenüberstellung der beiden konträren Verhältnisbestimmungen von Gottes- und Menschenwort und den daraus resultierenden Problemen zu ziehen? Wir sind der Meinung, dass sich aus den skizzierten Positionen eine weiter führende Fragestellung ergibt, bei der die Abgrenzungen zur Rechten und zur Linken neu zu bestimmen sind. Für eine angemessene Vermittlung von kommunikativen und theologischen Faktoren ist es u.E. notwendig, (mit Engemann) die Subjektivität des Predigers im Zusammenhang der homiletischen Sprechsituation als Organisationszentrum 32 Vgl. ebd., 73. 33 Ebd., 91.
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der Predigt zu begreifen. Ebenso notwendig ist es aber, (mit Josuttis) eine Positivierung der Subjektivität zu vermeiden, und zwar so, dass die Neubestimmung des tätigen Selbstverhältnisses durch den Rechtfertigungsglauben am homiletischen Akt und seiner Strukturierung abzubilden ist. Die Formulierung der Predigtaufgabe kann u.E. nur gelingen, wenn der Prediger in seiner Arbeit als exemplarisch Glaubender und Erstbetroffener des Wortes ansichtig wird, das er auszurichten hat.34 Einen deutlichen Vorstoß in diese Richtung hat Wilhelm Gräb unternommen, indem er für die Homiletik ein handlungsorientierendes Selbstkonzept des Predigers fordert, dass einen „systematisch kohärenten Verweisungszusammenhang zwischen der Normativität, der Reflexivität und der Faktzität der Predigt“ herzustellen versucht.35 Auf Grund eines vertieften Problembewusstseins, innerhalb dessen das Interdependenzverhältnis der verschiedenen homiletischen Faktoren durchdacht wird, gelangt Gräb zu einer präzisen theologischen Bestimmung desjenigen Mangels, den die empiristische Positivierung der Subjektivität des Predigers darstellt. Im Blick darauf formuliert er: „Die über ihre […] psychologischen und soziohistorischen Bestimmungsfaktoren aufgeklärte Subjektivität wird als eine so bestimmte positiv gesetzt, sozusagen zum empirischen Faktum erklärt und als solche zum steuernden Organisationszentrum des homiletischen Aktes erhoben. […] Der Prediger […] wird als das empirische Subjekt, das er ist und das es […] aufzuklären gilt, Träger der Begegnung mit dem Evangelium. […] D.h., es ist ein von diesem [dem homiletischen, Anm. d. Verf.] Akt gerade abgelöstes Subjektsein, mit dem er für den Predigtvollzug in Anspruch genommen wird, ein Subjektsein gerade unabhängig von dem Weg, den der Glaube vom Gesetz zum Evangelium zu gehen hat.“36
Gegenüber einer aus pragmatischen Gründen nahe liegenden Fixierung auf empirisch bestimmte Subjektivität führt Gräb folgenreiche Unterscheidungen zwischen dem subjektiven Welt- und Gottesverhältnis ein: Ein Sich-gegebensein im empirischen Sinne ist nicht zu verwechseln mit einer substantiellen Selbstmächtigkeit im metaphysisch-theologischen Sinne. Entsprechend ist die Vermittlung der Lebensmacht des Evangeliums auch nicht nach einem Substanz-Träger-Modell zu erfassen. Ein in psychogenetischer Sicht entworfenes Identitätsverhältnis kann nicht letzte Zielvorgabe für die Selbstexplikation eines Glaubens sein, der im Kern durch die heilsame Differenz des simul iustus et peccator bestimmt ist.37 Wo zu Unterscheidendes vermischt wird, wird die Aufk lärung des Selbstkonzeptes des Predigers verhindert. 34 Vgl. dazu die Rede Christian Möllers vom Prediger als erstem Hörer des Wortes; ders., Seelsorgerlich predigen, 43ff. Ähnlich spricht auch Jochen Cornelius-Bundschuh vom gemeinsamen Hören von Gemeinde und Prediger auf das Wort; vgl. ders., Die Kirche, 294. 35 Vgl. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 261. 36 Ebd., 259f. 37 Vgl. ebd., 258. Zur Frage, welche Konsequenzen die Bestimmung des Rechtfertigungsglaubens als Differenzerfahrung für die Wahrnehmung von theologischer Praxis in ihren einzelnen Arbeitsfeldern hat, ist an dieser Stelle auf die einschlägigen Beobachtungen Henning Luthers verwiesen: Ders., Identität als Fragment, 317–338. Vgl. dazu auch den Abschnitt 1.1.2.2 unserer Arbeit.
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Entscheidend ist es dann aber, anzugeben, worin die Unterscheidung zwischen den Selbstverhältnissen ihr theologisches Maß hat. Mit seinem Verweis auf den „Weg, den der Glaube vom Gesetz zum Evangelium zu gehen hat“, gibt Gräb dazu einen richtungsweisenden Hinweis. Unter der Bestimmung von Gesetz und Evangelium kommt das Ich des Glaubens niemals als in sich ruhende Identität zu stehen, sondern befindet sich in einer spannungsvollen Bewegung zwischen einem alten und neuen Selbstbild. Ist das Subjekt unter dem Gesetz im Versuch seiner Selbstbegründung verfangen, so muss es seinen wahren Bestimmungsgrund im Evangelium immer erst ergreifen, ohne diesen seinerseits in die Struktur der Selbstbegründung überführen zu können. Genau das ist es, worauf die Wortverkündigung zielt. Evangelium und Glaube sind in einem höchst spannungsvollen Prozess aufeinander bezogen, in dem das Ich nur so unter die Bestimmung kommt, die ihm in Christus zuteil wird, dass es dies „als die Unterbrechung und konstitutive Neubestimmung seiner Eigenaktivität“ erfährt.38 Gerade so gewinnt der Glaube seine ihn von einer im Horizont des allgemeinen Weltverhältnisses vollzogenen Selbsttätigkeit unterscheidende, individuelle Gestalt. Erst die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erlaubt sodann, die Subjektivität des Predigers in einem kohärenten Verweisungszusammenhang mit der Neubestimmung von Subjektivität durch das Wort Gottes zu begreifen. Wo diese Unterscheidung zu Grunde gelegt wird, ist die Subjekthaftigkeit von Prediger und Hörern weder als empirisches Faktum noch als an sich selbst zur Vollendung kommende Identität zu bestimmen. Stattdessen stellt sich die Aufgabe, die Konstitution des Glaubens als einen dialektischen Prozess der Subjektwerdung unter dem Wort Gottes zu beschreiben. Sie geschieht nicht losgelöst vom empirisch bestimmten Selbstbewusstsein, sondern im Anschluss daran. Allerdings schließt die Selbstmitteilung des Subjekts im Glauben stets die negierende Opposition gegen dessen eigene faktische Vorfindlichkeit ein. Der Glaube kann seiner Identität nur vermittelst des verkündigten Gotteswortes gewiss werden. Nur unter der antinomischen Verfassung seines Selbstentwurfes kann er im reformatorischen Sinne als ein ursprüngliches Selbstverhältnis bestimmt werden, dass sich allein in Gott gegründet und jedem handelnden Zugriff entzogen weiß. Nur der Glaube macht umgekehrt die antinomische Verfassung des Selbstentwurfes tragbar. Er lebt davon, dass er in seiner praktischen Selbstbetätigung nie schon das ist, was ihm zuteil werden will.39 Handelt es sich bei der Selbstauslegung des Glaubens unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium um einen höchst spannungsvollen Prozess, so muss dieser sich auch in der faktischen Predigtarbeit bis hin zur rhetorischen Gestaltung des homiletischen Aktes auswirken und abbilden. Unsere vorläufige Quintessenz aus den hier angezeigten Problemen und Perspektiven zur Vermittlung von Gottes- und Menschenwort in der Predigt lautet: 38 Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 256. 39 Vgl. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 256.
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Eine theologisch verantwortete Homiletik darf sich nicht mit der Rezeption kommunikationswissenschaftlicher Methoden samt deren handlungstheoretischer Voraussetzungen begnügen, sondern muss ihrerseits eine kritische Reflexion der Subjektivität von Prediger und Hörern im Horizont des Rechtfertigungsglaubens erbringen. Um andererseits eine Verselbständigung der theologischen Perspektive zu vermeiden, muss diese auf die Subjektivität von Prediger und Hörern bezogen bleiben. Die theologische Reflexion dient der Aufk lärung des Selbstkonzeptes homiletischen Handelns. Eine in diesem Sinne integrative und zugleich normierende Perspektive auf die Predigt ist u.E. dann zu gewinnen, wenn die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium der Predigtorganisation als Strukturprinzip zu Grunde gelegt wird. Sie erlaubt es den homiletischen Akt als kommunikatives Handeln wahrzunehmen und zu zeigen, wie darin das Evangelium als Unterbrechung und Neubestimmung menschlicher Aktivität zur Geltung kommt. Unter diesen Rahmenbedingungen verspricht u.E. eine erneute Beschäftigung mit dem homiletischen Erbe Hans Joachim Iwands ertragreich zu sein. Dies gilt gerade deshalb, weil wir es bei ihm mit einem Theologen zutun haben, dessen Orientierungshorizont noch außerhalb einer empirischen Orientierung von Homiletik lag, der sich aber der dogmatischen und homiletischen Reflexion des Verhältnisses von Wort Gottes und menschlicher Selbstbestimmung im Horizont der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in allen Schichten seines Werkes gewidmet hat. Im Sinne einer weiteren Profi lierung der problemgeschichtlichen Perspektive zeigen wir jedoch zunächst, wie die in diesem Abschnitt dargestellten Sichtweisen die Rezeption Iwands innerhalb der jüngeren homiletischen Diskussion geprägt haben. .. Die Wahrnehmung Iwands im Horizont der jüngeren Homiletik ... Die Stoßrichtung der Kritik an Iwand Die homiletische Rezeption Iwands innerhalb der letzten Jahre ist durch die Wendung zu einem erfahrungswissenschaftlich orientierten Predigtverständnis bestimmt, das sich nach seinem Tod in der Praktischen Theologie etabliert hat.40 Geschah die Öffnung zur Wahrnehmung von Predigt als empirisch ausweisbarem Menschenwort im Zeichen der Abkehr vom Theologumenon des Wortes Gottes, so wirkt diese Konversionsbewegung in der Beurteilung der Homiletik Iwands bis heute nach. Sein Name wird gerne in einem Atemzug mit der sog. „Dialektischen Theologie“ genannt,41 als deren typischer Vertreter 40 Wir versagen uns in unserer Studie einen Überblick über die bald nach Iwands Tod einsetzende wissenschaft liche Aufarbeitung seiner Theologie und verweisen auf andere Arbeiten, in denen umfassende Forschungsberichte bereits vorliegen. Vgl. Meier, Ralf, Gesetz, 27–35; Pritzke, Frank, Rechtfertigungslehre, 11–26. Stattdessen konzentrieren wir uns auf solche Wahrnehmungen, die Iwand explizit vor dem Problemhorizont gegenwärtiger Homiletik verorten und beurteilen. 41 Vgl. Grözinger, Albrecht, Homiletik, 183.
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er gilt und deren Defizite sich bei ihm verdichten. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht das Urteil Wilfried Engemanns, der im Horizont der angedeuteten Alternative auf Iwand gewendet konstatiert: „Das Theorem der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes hat andere Prämissen einer Theologie der Homiletik eine Zeitlang so stark verdrängt, daß man der Predigtsprache als individueller Ausdruckweise eines einzelnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Man hat sogar gemeint, auf persönliche Einfärbungen der Predigt, die vornehmlich durch die Sprache entstehen, gänzlich verzichten zu können. Statt dessen wurde dem Prediger nahe gelegt, die Wirkungsabsicht des Wortes Gottes – wie in den biblischen Texten überliefert – nicht durch eigene Intentionen zu gefährden und statt dessen darauf zu bauen, daß dieses Wort sich auch im Predigtprozeß‚ selbst in der Hand behält‘.“42
Die Hypostasierung des Wortes Gottes „zu einer eigenständigen, fast konkurrierenden Größe“ suspendiere den Prediger „von den Bedingungen zwischenmenschlicher Kommunikation“.43 Anstatt ihm zur Aufk lärung über sich selbst als verantwortliches Subjekt der Rede zu verhelfen, seien Iwands Anweisungen dazu angetan, einem „quasi Magie-gläubigen Textfetischismus“ zu verfallen, der in predigtpraktischer Konsequenz die „Reproduktion einer obturierten Predigtstruktur“ nach sich ziehe.44 Quintessenz der Kritik ist der Vorwurf, dass die Wort-Gottes-theologische Position Iwands zur dualistischen „Konstruktion einer doppelten Wirklichkeit“ führe, wobei sich die Weltwirklichkeit zugunsten der Christuswirklichkeit in eine Traumwelt zu verflüchtigen drohe.45 Bezieht sich das Urteil Engemanns eher auf Einzelaussagen Iwands, so liegen in den Arbeiten von Jan Hermelink und Birgit Weyel detaillierte Untersuchungen seines Ansatzes vor, die ihn vom Standpunkt empirischer Homiletik aus in den Blick nehmen.46 Die Studie Hermelinks konzentriert sich ebenfalls auf die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Iwands Homiletik und sucht, entgegen der Tendenz zu polemischer Abgrenzung von dogmatischen Positionen die „prinzipielle Kontinuität, die sich in der ‚empirischen Wende‘ der Homiletik beobachten lässt“, herauszuarbeiten.47 Als gemeinsamen Bezugspunkt beider Richtungen sieht er „die Erfahrung pastoraler Praxis“.48 In seiner Einschätzung dessen, wie in Iwands Predigtmeditationen die „‚wirkliche Welt‘ als Kriterium der Predigt“ berücksichtigt wird,49 weiß Hermelink es durchaus als einen Fortschritt zu würdigen, dass die Wirklichkeit mit ihren „individuellen, sozialen und nicht zuletzt politischen Verhältnissen“als „Ziel der Predigt“ wahrgenom42 43 44 45 46 47 48 49
Engemann, Wilfried, Einführung, 329; zitiert nach Iwand, Hans Joachim, Briefe, 494f. Engemann, Wilfried, Semiotische Homiletik, 147. 145. Ebd., 142. Engemann, Wilfried, Einführung, 366. Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation; Weyel, Birgit, Ostern. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 16. Ebd., 15. Ebd., 31.
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men wird.50 Angesichts der Konzentration aller Heilserwartungen auf die unverfügbare Zukunft des Wortes Gottes gelangt er allerdings zu dem negativen Befund: „[…] die prinzipielle Kritik an der gegebenen Wirklichkeit, die auf Lebenserfahrungen nur in gebrochener Weise Bezug nehmen kann, versagt vor der Aufgabe, in diesen Erfahrungen Hinweise auf das erneuernde Handeln Gottes auszumachen. Dann droht der Glaube nun doch – gegen Iwands ausdrückliche Intention – zu einer wirklichkeitslosen Überzeugung zu werden.“51
Birgit Weyel, die ihrer Untersuchung der Homiletik der Schrift leiter der Göttinger Predigtmeditationen (=GPM) die kriteriologische Frage zu Grunde legt, „ob das Zursprachebringen christlicher Tradition einen bedeutsamen Beitrag zur Deutung und Bewältigung menschlicher Lebensvollzüge zu leisten vermag oder das wirkliche Leben tatsächlich verfehlt“,52 kommt für Iwand zu einem durchweg negativen Urteil: Die Wirklichkeit Gottes trete hier „der faktischen Wirklichkeit unvermittelt gegenüber“,53 während „die ‚wirkliche‘ Wirklichkeit faktisch ausgeblendet“ werde.54 Grundproblem des Wirklichkeitsbezuges der untersuchten GPM-Konzepte sei, dass sie jeweils eine „Aufspaltung der Wirklichkeit“ intendierten, die eine „auf Sorgfalt bedachte Aufmerksamkeit“ auf die „Wirklichkeit der heutigen Menschen“ nicht mehr zulasse.55 ... Anfragen an die Voraussetzung der Kritik Diese beiden negativen Urteile zum Wirklichkeitsbezug und zur Methodik Iwands sind hinsichtlich der in ihnen waltenden Voraussetzungen zu problematisieren. Zwar ist die erfahrungswissenschaftliche Analyse durchaus dazu geeignet, Defizite dogmatischer Homiletik aufzudecken. Wir sahen aber bereits, dass sie ihrerseits in der Gefahr steht, sich der Neubestimmung von Wirklichkeit im Rechtfertigungsglauben durch die Positivierung empirisch bestimmter Subjektivität zu verschließen.56 Birgit Weyel misst in der Homiletik der Aufgabe eine zentrale Bedeutung zu, „Wirklichkeitsexegese“ zu betreiben bzw. zu einem sachgemäßen Verständnis von Wirklichkeit anzuleiten.57 Darunter fällt für sie nicht nur die Explikation des „Selbstverständnis[ses] des glaubenden Selbstbewusstseins in seinen welthaften Bezügen […].“58 Angesichts einer „Pluralität von Wirklichkeitsverständnissen“ in der modernen Welt kommt es ihr vor allem darauf an, die „Einheit der Wirklichkeit“ als solche theologisch zu legitimieren,59 und zwar durch Ausweis dessen, dass sie außerhalb ihrer selbst in Gott 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
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Ebd., 273. 32. Ebd., 55. Weyel, Birgit, Ostern, 213. Ebd., 99. Ebd., 100. Ebd., 217–219. Vgl. dazu Abschnitt 1.1.1. Weyel, Birgit, Ostern, 225. Ebd., 233. Ebd., 229.
begründet ist.60 Dabei entwickelt sie ihre Überlegungen zur wirklichkeitserschießenden Kraft des Glaubens nicht in Relation auf die Wortverkündigung, sondern geht aus von einer Grund legenden Erschlossenheit empirischer Erfahrung für Transzendenz.61 Wir versagen uns die an den Systematiker Eilert Herms angelehnte Argumentation im Einzelnen nachzuzeichnen,62 stellen jedoch fest: Auch Weyel verzichtet darauf, den spannungsvollen Konstitutionsvorgang, den der Glaube als „Weg […] vom Gesetz zum Evangelium zu gehen hat“,63 in die Entfaltung ihres Wirklichkeitsverständnisses einzubeziehen. Stattdessen kommt die theologische Bestimmung als ontologischer Gehalt einer positiv gesetzten Erfahrungswirklichkeit in den Blick und hat ihrerseits die Funktion, die vorgefundene Struktur von Erfahrung theologisch zu qualifizieren. Der in der Predigt auszutragende Streit um die Wirklichkeit gestaltet sich nicht als der um die wahre Selbstbestimmung des Menschen im Evangelium, sondern als der um ein einheitszentriertes christliches Wirklichkeitsverständnis, dass anderwärtigen Tendenzen entgegen zu setzen ist. In diesem Sinne plädiert Weyel für ein monistisches Selbstkonzept, in dem es alle möglichen Erfahrungen in einem einheitlichen Wirklichkeitshorizont homiletisch zu fundieren gelte. In einer Differenzerfahrungen abwehrenden Einheitssemantik schärft sie ein, dass es für die Predigt „keinen Ausstieg aus der Wirklichkeit“, „keine Sonderwirklichkeit“ und keinen „Spagat […], an mehreren Wirklichkeiten zugleich teilzunehmen“, geben dürfe.64 Zu vermeiden sei die zum Weltverlust führende „radikale Herstellung von Kontrasten“.65 Gegenüber einem adversativen Auseinandertreten der als Einheit erfahrenen Lebenswelt der Menschen, habe die Predigt „immer das Interesse an Wirklichkeit [zu] bewahren“ bzw. „den Blick für das […] [zu schulen], was wirklich ist.“66 Eine solche Betrachtungsweise vermag weder den theologischen Ansatz Iwands seiner Intention nach zu erfassen, noch wird er der faktischen Erfahrung von Wirklichkeit in einer durch nicht zu harmonisierende Brüche gekennzeichneten Lebenswelt gerecht.67 Eine ähnliche perspektivische Engführung ist in der Kritik Hermelinks zu verzeichnen, wenn er aus dem Sachverhalt, dass Iwands Homiletik „auf Lebenserfahrungen nur in gebrochener Weise Bezug nehmen kann“ schließt, dass „der Glaube […] zu einer wirklichkeitslosen Überzeugung zu werden“ drohe.68 Theologie müsse auf die durch das erkennende Subjekt konstituierte „Wirklichkeit als ganze“ bezogen sein und habe diese „auf ihren Grund hin zu deuten und auszulegen“.69 Die Unterbrechungen eines geschlossenen Zu60 61 62 63 64 65 66 67 68 69
Ebd., 228. Vgl. ebd., 230. Vgl. dazu Herms, Eilert, Gottes Wirklichkeit, 319–342. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 260. Weyel, Birgit, Ostern, 232. Ebd., 219. Ebd., 234. Vgl. dazu besonders das 6. Kapitel unserer Studie. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 55. Ebd., 20.
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sammenhanges subjektiver Selbstauslegung können so nur noch als „unzureichende Reflexion des Verhältnisses von Subjekt und dessen jeweiliger Wirklichkeit“ interpretiert werden.70 Systematisch besteht das Problem der Interpretationsperspektive bei Hermelink und Weyel in der Gleichsetzung von Subjektivität (als transzendentale Struktur zur Begründung von Wissensansprüchen), Identität (als ein der Lebensgeschichte zugrunde liegendes numerisch identisches Ich),71 und Individualität der Person, unter der sich der erfahrungswissenschaft liche Ansatz zu einem monistischen Konzept verhärtet.72 Qualitative Brüche im Selbstbild können dann nur noch als Persönlichkeitsschwäche und Realitätsverlust interpretiert werden. Vor allem fällt das sich an seiner Nichtidentität abarbeitende, seiner wahren Identität erst im Evangelium gewiss werdende Selbstbild des Glaubens aus dem Rahmen des Wirklichen heraus. Dass der Zusammenhang von Wort Gottes und subjektivitätstheoretisch fokussierter menschlicher Wirklichkeit auch in einem ganz anderen Sinne entfaltet werden kann, soll ein Seitenblick auf Henning Luthers Ansatz erhellen. Letzterer vertritt ein Konzept von Ich-Identität, innerhalb dessen die „Erfahrung der eigenen Differenz“ als Ursprung introspektiver Selbstwahrnehmung qualifiziert wird.73 Ausgerechnet die als Referenztext der Selbstsuche geltenden Bekenntnisse Augustins erweisen sich ihm nicht als Zeugnis sich stabilisierender Persönlichkeitsreife, sondern vielmehr als solches einer permanenten Verunsicherung: „Die Confessiones bekennen die Erfahrung der Differenz. Die von hier ausgehende Unruhe hebt die Selbstgenügsamkeit der vorangegangenen Identitäten des Ich auf, enttarnt sie. Die Confessiones des Augustin dienen also nicht dazu, irgendeine Form der eigenen Identität zu rechtfertigen, weder die Identitätsformen vor der Taufe noch die danach. Das Bekenntnis zu Gott ist ein Eingeständnis der eigenen Unruhe und Nichtidentität, der Differenz.“74
Das dem christlichen Glauben äußerlich bleibende Interesse selbstbezogener Ich-Identität wird ins Verhältnis gesetzt zum ersten Gebot, wenn Luther analysiert: „Identität ist für Augustin gerade ein privilegiertes Attribut Gottes (Unwandelbarkeit, Vollständigkeit), das menschliche Selbst dagegen ist konstitutiv durch 70 Ebd., 273. 71 Die fehlende Evidenz dieser Verknüpfung hat Ingolf U. Dalferth in seinem Aufsatz über die Verhältnisbestimmung von „Subjektivität und Glaube“ herausgearbeitet: „Subjektivität konstituiert weder Identität noch Individualität […]. Der Versuch, Subjektivität als Ich-Identität zu denken, ignoriert nicht nur die faktische Diversität und Vielfalt individueller Identitäten, sondern er verharrt ganz im Horizont der mit dem Subjekt-Objekt-Modell verbundenen Subjekt-Prädikat-Logik, die Identität nur als substantielle Unveränderlichkeit dessen zu denken vermag, dem Prädikate zugesprochen werden. Doch ich bin meine Lebensgeschichte, und mein Ich ist nicht das, was meine Lebensgeschichte hat. […] Mein Ich ist nicht die tranzendentale Voraussetzung all meiner Erfahrung, sondern das Produkt von Erfahrungsprozessen, in denen sich Strukturen zu meiner Identität und Individualität aufbauen“; ders., Subjektivität, 45. 72 Vgl. Tanner, Klaus, Von der liberalprotestantischen Persönlichkeit, 96–104. 73 Luther, Henning, Das unruhige Herz, 374. Vgl. ders., „Ich ist ein Anderer“. 74 Ebd., 370.
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Nichtidentität (Differenz, Brüche) gekennzeichnet. Gotteserkenntnis heißt, dieser eigenen Nichtidentität innezuwerden und innewerden zu können.“75
Unter einer solchen subjektivitätstheoretischen Perspektive hätte u.E. die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Iwands Homiletik zu sehr viel weiterführenden Ergebnissen führen können. Im Blick auf seinen theologischen Nachlass lässt sich der Mangel der hier angezeigten Rezeptionen noch präzisieren: Zu wenig Beachtung gefunden hat in ihnen der Sachverhalt, dass Iwand in seinen eigenen Erörterungen zum Wirklichkeitsbezug von Theologie überhaupt der kritischen Reflexion des Verhältnisses von Subjektivität, Glaube und Welterfahrung eine Schlüsselstellung einräumt.76 Dementsprechend ist die Einholung dieses Horizontes u.E. eine entscheidende Voraussetzung für die angemessene Würdigung seines Ansatzes. ... Wege zu einer produktiven Neuerschließung von Iwands homiletischem Erbe Am Schluss unserer problemgeschichtlichen Einordnung erörtern wir, inwiefern sich aus der Kritik an den angezeigten Rezeptionsweisen Ansatzpunkte für eine neue Erschließungsperspektive Iwands ergeben. Sodann soll gezeigt werden, wo richtungsweisende Überlegungen bereits angestellt worden sind, die wir für anschluss- und ausbaufähig halten. Dazu kommen wir noch einmal zurück auf die am Ende des letzten Abschnittes genannten Äußerungen Henning Luthers. An seiner Deutung der Glaubenserfahrung als Differenzerfahrung ist für uns aufschlussreich, dass sie den scheinbar unüberwindlichen Gegensatz von subjektivitätsorientierter und Wort-Gottes-theologischer Positionierung unterläuft. Das Gespräch zwischen beiden wird von ihm in der Weise vorangetrieben, dass er – anstatt Subjektivität positiv zu setzen – auf ihren Ursprung in Gott reflektiert. In diesem Sinne tut Luther das Gleiche, was wir im Abschnitt 1.1.1 schon bei Wilhelm Gräb herausgearbeitet haben: Im Rückgang auf die Konstitutionsbedingungen von Glaubenssubjektivität werden diejenigen theologischen Bestimmungen, die zuvor unverbunden neben der empirisch bestimmten Erfahrung standen, als deren kritischer Bestimmungsgrund ausgewiesen. Die theologische Qualifikation des homiletischen Aktes tritt im Zusammenhang der Selbstvergewisserung empirisch bestimmter Subjektivität in den Gesichtskreis der Forschung, ohne an diesen ausgeliefert zu werden. Luther und Gräb entwerfen ihre Bestimmungen zum theologischen Subjekt jeweils im Bezug auf Probleme, die sich in Folge einer empirischen Neuorientierung der Praktischen Theologie ergeben haben. Das von ihnen formulierte Interesse legt es unserer Überzeugung nach nahe, den Gesprächszusammenhang mit Theologen der Dialektischen Theologie und Iwand im Besonderen erneut aufzunehmen. Namentlich geht es darum, das Interesse dieser Theologen am Verhältnis von Glaube und Er75 Ebd., 382. 76 Vgl. Einleitung 1.2.
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fahrung besser zu würdigen, als dies in der Phase der Abgrenzung geschehen ist, bzw. zu überlegen, inwiefern ihre Bestimmungen anschlussfähig sind an die gegenwärtige homiletische Diskussion. Einen Schritt in dieser Richtung ist in jüngster Zeit Folkart Wittekind gegangen. Nachdem er in einem Aufsatz über „Karl Barth und die moderne Predigt“ für die Aufarbeitung des dialektisch-theologischen Erbes den methodischen Grundsatz formuliert hat, „die der offenbarungstheologischen Formulierung zugrunde liegenden subjektivitätstheoretischen Muster“ zu benennen und offen zu legen,77 hat er ihn in einer weiteren kleinen Arbeit an der Theologie des jungen Iwands selber angewendet.78 Wittekind zeigt darin, dass Iwand seine Bestimmung Gottes als subjektumfassender Wirklichkeit nicht „als Fußpunkt theologischer Arbeit behauptet, sondern […] aufgrund einer durchgeführten Kritik der transzendentalen Analyse der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung“ gewinnt.79 Diese Beobachtung ist insofern folgenreich, als sie eine neue Interpretationsperspektive auf Iwands theologische Arbeit freilegt: Sie ist auch in ihrem dogmatischen Sprachzusammenhang durchaus orientiert an Grund legenden subjektivitätstheoretischen Bestimmungen und lässt sich ihrerseits als Suche nach der wahren, je individuellen und zugleich exklusiv in Jesus Christus erschlossenen Selbstbestimmung des Glaubens verstehen. Wittekind kann darum die Christologie Iwands als „Urgeschehen des allein durch Gott möglichen wahren Bewußtseins“ interpretieren.80 Im Verhältnis zur „Allgemeinheitsbehauptung transzendentalphilosophischer Gedankengänge“ist ihre Leistung darin zu sehen,81 dass sie hinter jede gedanklich objektivierende Beschreibung ihrer selbst zurückgeht auf das unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium sich vollziehende Aneignungsgeschehen, in dem sich gegenwärtiger Glaube mit seinem Ursprung gleichzeitig wird. Letzteres ist zentraler Bezugspunkt aller theologischen Bemühungen. Die Bedeutung von Iwands Christologie fasst Wittekind dahingehend zusammen, dass „die wahre Persönlichkeit und Individualität des Glaubens in das durch Christus realisierte Gotteserlebnis hinein“ verlegt wird.82 Entscheidend ist dabei u.E.: Dass das Moment der individuellen Aneignung in die Bestimmung der Christuswirklichkeit selber fällt, heißt mitnichten, dass die Individualität des Glaubens einfach übergangen wird.83 Es kann auch gerade umgekehrt Ausweis dafür sein, dass Iwand die je unverwechselbare Individualität des Glaubens als gegenwärtige Realisierungsgestalt des Christusgeschehens begreift. Weil die Christologie das Wirklichwerden Gottes im Glauben einschließt, kann Theologie nicht abstrakt-allgemein bleiben, sondern muss immer im Hinblick auf den aktuellen Vollzug des Glaubens reden. 77 78 79 80 81 82 83
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Wittekind, Folkart, Karl Barth, 344–371. Ebd., 370f. Wittekind, Folkart, Das Erleben, 20–42. Ebd., 31. Ebd., 37. Ebd. Ebd., 38. Vgl. Engemann, Wilfried, Einführung, 329.
In diesem Sinne will auch Wilhelm Gräb Iwands Anleitungen zum Prozess der Predigtvorbereitung als „Argument für dessen unabdingbare Individualisierung“ verstanden wissen.84 Gräbs Beobachtungen sind nicht an den systematischen Grundlagen von Iwands Theologie, sondern an deren homiletischer Anwendung orientiert. Sie haben Iwands im Rahmen der Göttinger Predigtmeditationen entfaltetes Konzept zum Gegenstand.85 Er fragt, wie sich die Erwartung einer Bestimmung des Predigers durch das Wort Gottes in den Meditationsanweisungen zur Predigtvorbereitung abbildet. Dabei zeigt sich, dass Iwands gedruckte Predigthilfen nicht nur auf die Heilige Schrift verweisen, sondern einweisen wollen in eine Suchbewegung, die auf eine je individuelle Erschließung des Wortes Gottes zielt.86 Der Aktualität des Wortes Gottes entspricht eine „unabschließbare Prozessualität seiner Bezeugung“, die den Prediger als unvertretbares Individuum einschließt.87 Indem er immer wieder in die Position eingewiesen wird, wo er sich fragen muss, ob er selber ein vom Wort Gottes Angeredeter ist,88 zeigt sich, dass jene auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zielende Suchbewegung genau die Funktion übernimmt, den Predigtvorbereitungsprozess zu individualisieren. Noch einmal in eine andere Richtung formuliert heißt das: Mit seiner individuellen Suchbewegung wird der Prediger auf eine Weise in den Prozess der Predigtvorbereitung involviert, die durch keine methodische Operation zu ersetzen ist. Vergleicht man dieses Untersuchungsergebnis Gräbs mit den Beobachtungen Wittekinds, so ist übereinstimmend festzuhalten: Die von Wittekind herausgestellte systematische Struktur von Iwands Theologie, nach der die theologische Bestimmung der Gotteswirklichkeit zugleich die Weise und den Vollzug ihrer Aneignung bestimmt, bildet nach Gräb auch das organisatorische Zentrum seines Predigtmeditationskonzeptes. Deutlicher als in dem Systematisch-theologischen Zusammenhang gibt letzteres zu erkennen, dass Iwands theologische Bestimmungen tatsächlich auf ein gesteigertes Maß an individueller Verantwortung zielen. Nicht zuletzt von daher rühren die methodenkritischen Äußerungen, die Iwand im Kontext der Homiletik immer wieder getätigt hat. Als obsolet erwiest sich damit jedenfalls eine Interpretation, die in seiner Theologie nichts anderes zu sehen vermag als einen „quasi Magie-gläubigen Textfetischismus“ oder eine „mythisierende Verschleierung“ des homiletischen Aktes.89 Nichts desto trotz dürfte bei der Zusammenschau der im Abschnitt 1.1.2 angesprochenen Rezeptionen deutlich geworden sein, dass die Beurteilung 84 Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 244. 85 Vgl. dazu Abschnitt 1.1.3.2. Gräb arbeitet das Meditationskonzept Iwands nicht eigenständig auf, sondern knüpft seine Wahrnehmungen i.W. an die Arbeit Christoph Bizers an; ders., Unterricht und Predigt, 87–106. Dabei entwirft er auf das von Bizer systematisierte Material allerdings eine neue Perspektive und wird aus diesem Grund trotz der Kürze seiner Erörterungen auch hier aufgenommen; Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 242–245. 86 Vgl. ebd., 243f. 87 Ebd., 244. 88 Vgl. ebd., 245. 89 Engemann, Wilfried, Semiotische Homiletik, 142. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 244.
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Iwands im Horizont jüngerer homiletischer Forschung weit auseinander klafft. Sie reicht von solchen Sichtweisen, die den Wirklichkeitsbezug dieses Konzeptes grundsätzlich in Abrede stellen, bis hin zu solchen, die darin den Ausdruck für ein gesteigertes Maß von Individualisierung sehen. Abgesehen haben wir dabei noch von der Frage, wie die Prämissen von Iwands Theologie – trotz des Vorbehaltes gegenüber jeder methodischen Vereinnahmung – den homiletischen Prozess zu steuern vermögen.90 Auf Grund dieses Sachverhaltes streben wir in unserer Studie an, die theologische Grundlegung des Verhältnisses von Subjektivität und Glaube bei Iwand in ihrem inneren Verweisungszusammenhang zur homiletischen Theorie und Praxis auszuarbeiten.91 .. Die Stellung von Predigt und Homiletik im Gesamtwerk Hans Joachim Iwands ... Die Eigenart von Iwands theologischem Wirken im Spannungsfeld von Theologie und Kirche Hans Joachim Iwands (1899–1960) kirchliches und akademisches Wirken zeichnet sich in besonderer Weise durch das Bemühen um die „Einheit von ‚Leben und Lehre‘“ aus.92 Wie sehr sein theologisches Denken mit persönlichem Engagement innerhalb der kirchlichen und politischen Bewegungen seiner Zeit verwoben ist, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf seine Biographie: Aus einem schlesischen Pfarrhaus kommend, schlug er seinerseits den Weg ins Pfarramt ein. Unter dem Einfluss seines Lehrers Rudolf Hermann, der ihm die Theologie Luthers nahe brachte, führte sein Weg jedoch zunächst in die akademisch-theologische Ausbildung (1920–1935). Auf Druck des NS-Regimes und der kirchenpolitischen Entwicklungen in den 1930er Jahren trat die akademische Lehrtätigkeit dann zugunsten des Engagements für die Bekennende Kirche zurück, in deren Bloestauer Predigerseminar er die Ausbildung der Vikare in Ostpreußen übernahm (1935–1937). Das „Reichsredeverbot“ und die Ausweisung aus Ostpreußen durch die Gestapo führten ihn schließlich in ein sieben Jahre bekleidetes Pfarramt in Dortmund, wo er mit seiner Gemeinde die Schrecken der Nazidiktatur (Inhaftierung von November 1938 bis März 1939) und des Krieges (schwere Luftangriffe auf Dortmund 1944) durchlebte.93 Die Wiederaufnahme seiner akademischen Lehrtätigkeit als Professor für Dogmatik in Göttingen (1945–1952) und Bonn (1952–1960) ging einher mit einem verstärkten kirchlichen und politischen Engagement, das ihn z.T. in eine scharfe Opposition zur damaligen offiziellen Regierungs90 Vgl. ebd., 245. 91 Vgl. dazu Abschnitt 1.2. 92 Vgl. Sänger, Peter/Pauly, Dieter (Hg.), Hans Joachim Iwand, 9f. 93 Eindrückliches Zeugnis von dieser Zeit ist die am 21.10.1945 gehaltene Abschiedspredigt über Eph 6,10–17 unter der Überschrift: „Daß ihr bestehen könnt“, in: Iwand, H.J., Nachgelassene Werke (=NW) III, 171–183.
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politik führte. Das breite akademische, kirchliche und gesellschaftliche Engagement Iwands spiegelt sich in der Vielgestaltigkeit seines Werkes wieder. Die Beantwortung der Frage, worin das eigentliche Proprium besteht, fällt einigermaßen schwer: War er primär Lutherforscher? – Die Beschäftigung mit dem jungen Luther seit den Studientagen legt dies nahe.94 Sie fand ihren Niederschlag in der 1930 erschienen Habilitationsschrift „zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfängen“,95 den 1939 veröffentlichten Erläuterungen zu Luthers „De servo arbitrio“,96 der 1941 erstmals herausgekommenen Schrift „Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre“ sowie zahlreichen weiteren veröffentlichten und unveröffentlichten Äußerungen.97 Von Seiten einer primär historisch orientierten Lutherforschung ist allerdings bemerkt worden, dass seine Arbeiten stark mit dem Bemühen um Klärung aktueller systematischer Grundbegriffe verbunden sind.98 War er in erster Linie Systematischer Theologe? – Nicht nur dass er von 1945 bis zu seinem Tod einen Lehrstuhl für Systematische Theologie innehatte. Er galt und gilt als profunder Kenner neuzeitlicher Philosophie- und Theologiegeschichte.99 In Relation auf sie entfaltete er seine eigenen Überlegungen und brachte dabei die lutherische Tradition auf originelle Weise mit den spezifischen Fragestellungen der Moderne ins Gespräch. Ausweis dessen ist bereits die Dissertation „Zur methodischen Verwendung von Antinomien in der Religionsphilosophie dargestellt an Karl Heims ‚Glaubensgewissheit‘“ von 1924. Vorlesungen und Vorlesungszyklen aus den 1950er Jahren griffen die in ihr aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von „Glauben und Wissen“ auf und suchten die Themen der Dogmatik sukzessiv zu entfalten.100 Hat er zuerst als Homiletiker zu gelten? – Sachverhalte, die für diese Annahme sprechen, haben wir bereits angesprochen und sind sogleich noch zu erörtern. Jüngst ist Iwand schließlich als „Kirchenpolitiker“ bezeichnet worden.101 – Dafür spricht die bereits angesprochene Tatsache, dass er seit seinem Engagement in der Bekennenden Kirche als Theologe gesellschaftliche und politische Entwicklungen durch seine Stellungnahmen kritisch begleitete. Bei der geistlichen und politischen Neuorientierung der Evangelischen Kirche nach dem Zusammenbruch wirkte er aktiv mit.102 94 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Hans Joachim Iwand, 389. 95 Ders., Rechtfertigungslehre, III. 96 Luther, Martin, Daß der freie Wille, 251–315. 97 Vgl. Iwand, Hans Joachim, Glaubensgerechtigkeit (= Gesammelte Aufsätze II = GA II), 11–125. 98 Vgl. Lohse, Bernhard, Luthers Theologie, 16. 99 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Warum muß ich. 100 Vgl. NW I. 101 Graf, Friedrich Wilhelm, Iwand, Hans Joachim, 399. [Kursivsetzung N.S.] 102 Im Rahmen seines kirchenpolitischen Engagements wären vor allem hervorzuheben: die Flüchtlingsarbeit sowie die Mitarbeit in zahlreichen Synoden und Gremien, in denen er sich für das Eingeständnis deutscher Schuld, für die Versöhnung mit den Völkern des Ostens, für die Ökumene, aber auch gegen Antisemitismus, Instrumentalisierung des Christentums für den Kalten Krieg und atomare Aufrüstung engagierte. Eckdaten sind dabei u. a. der Entwurf des Darmstädter Wortes von 1947, der Besuch beim
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Kehrseite dieses vielgestaltigen Bildes ist, dass Iwands Werk in hohem Maße fragmentarisch blieb. Am deutlichsten tritt dies darin zu Tage, dass er seit seiner Habilitationsschrift „trotz mancher Pläne […] kein abgeschlossenes, dem Umfang nach größeres Werk vorlegen konnte.“103 Die Anzahl seiner Veröffentlichungen scheint sich umgekehrt proportional zum Einfluss und zur Wirkung seiner Person zu verhalten.104 Sein Nachlass ist erst von seinen Schülern posthum veröffentlicht worden.105 Zu kurz gegriffen wäre es, diese Fragmenthaftigkeit allein mit einer permanenten Selbstüberforderung oder einem Mangel an wissenschaftlicher Disziplin zu erklären.106 Iwands permanenter Grenzgang zwischen kirchlicher und gesellschaftlicher Praxis auf der einen und akademischer Lehre auf der anderen Seite hängt vielmehr mit seiner Erwartung zusammen, dass das Wort Gottes als zentrale Kategorie seiner Theologie nichts Statisches ist, sondern in der jeweiligen „wissenschaftlichen, geistigen und politischen Wirklichkeit“ neu aufgesucht und namhaft gemacht werden muss.107 Sowohl Großflächigkeit als auch Unabgeschlossenheit seines Wirkens sind in seinem Ansatz zutiefst angelegt.108 Gerade als systematischer Theologe verwehrte er sich dagegen, seine Reflexion in ein „abgerundetes und ausgewogenes theologisches Gefüge“ zu überführen, demgegenüber theologische Praxis nur noch als Anwendungsproblem zu begreifen ist.109 Joachim Gandras hat betont, dass die „Bezogenheit von Kirche und Theologie aufeinander […] für Iwand keine theoretisch deduzierte Erkenntnis [ist], die im Sinne einer Theoriebildung als Postulat erhoben wird.“110 Sämtliche theologischen Erörterungen Iwands kreisen vielmehr um die der Reflexion entzogene Wirksamkeit des Wortes Gottes als Wirklichkeit setzendes Machtgeschehen. Die Begrifflichkeit, mit dem er diesen qualitativen Umschlag in der Wirklichkeitswahrnehmung und die darauf bezogene lebenspraktische theologische Arbeit bezeichnet, entwickelt er im Anschluss an Luther. Und zwar ist die „polare Zueinandergehörigkeit von Wissenschaft und Patriarchen von Moskau 1956, die Begründung der christlichen Friedenskonferenz zusammen mit dem befreundeten tschechischen Theologen Josef L. Hromádka. 103 Gandras, Joachim, Predigt, 17. Mittlerweile droht die Tatsache, dass bald nach seinem Tod und jüngst seit seinem hundertsten Geburtstag Vorlesungs- und Vortragsmanuskripte als Nachgelassene Werke veröffentlicht worden sind, zu verdecken, dass er selber seine Äußerungen als unabgeschlossen empfunden und zur Publikation in dieser Form nicht vorgesehen hatte. 104 Vgl. dazu Meier, Ralph, Gesetz, 27; Hermelink, Jan, Rezension PTh 88, 537. 105 Vgl. dazu die von 1962–1964 herausgegebenen „Nachgelassene[n] Werke, Band 1–6“, sowie die inzwischen drei Bände umfassende Ausgabe der „Nachgelassene[n] Werke. Neue Folge“ seit 1999. Eine ausführliche Bibliographie der Publikationen Iwands von 1920–1960 fi ndet sich bei Sänger/Pauly (Hg.), Hans Joachim Iwand, 226–300. 106 In diesem Sinne führt Manfred Haustein Iwands „ausgeprägten Aktivismus“ in Verbindung mit seinem frühen Tod auf eine „Anspannung“ und „Überforderung“ zurück, die ihrerseits Ausdruck einer „Forderungschristologie“ seien; ders., Im Zeichen, 406f. 107 Iwand, H.J., Predigtmeditationen, Göttingen 1963, 419. Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 32f. 108 Vgl. Gandras, Joachim, Predigt, 16: „Die Kategorie des Visionären, der Intuition zeigt sich als integrierter Bestandteil theologischer Reflexion, und der Mut zum Fragment, zum Unabgeschlossenen, zum offenen Prozeß tritt als der Sache angemessen in Erscheinung.“ 109 Ebd., 5. 110 Ebd., 11f.
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Praxis […] verstanden als ein Kasus der […] wesentlichen dialektischen Einheit von Gesetz und Evangelium.“111 Theologische Erkenntnis vollzieht sich in Predigt und Lehre innerhalb der Dynamik dieses Geschehens und hat selber den Charakter einer „illuminatio“.112 Die von Gandras herausgearbeitete Eigenart seines Theologieverständnisses lenkt das Interesse in einem doppelten Sinne auf Iwands Homiletik: Einmal ist – seinem Selbstverständnis entsprechend – Theologie in allen ihren Facetten letztlich auf Verkündigung und Predigt als eigentlichem Ort des Ergehens des Wortes Gottes innerhalb der menschlichen Wirklichkeit bezogen.113 Sodann ist zu erwarten, dass jener der Dynamik des Wortgeschehens korrespondierende intuitive Denkstil in Iwands eigener Predigt seinen genuinen Ort hat und sich in ihrer Machart niederschlägt. ... Hans Joachim Iwand als Homiletiker Wenden wir uns der Homiletik Iwands im engeren Sinne zu, so sind auch hier verschiedene Arbeitsgebiete zu unterscheiden: Zunächst (1) ist der Name Iwands untrennbar verbunden mit den Göttinger Predigtmeditationen (GPM). Sie stellen den Versuch dar, Predigtarbeit unter den Bedingungen der lebendigen Bewegung des Wortes Gottes in ein breit angelegtes, einer Vielzahl von Predigern zugängliches methodisches Konzept umzusetzen.114 Der Predigttext des jeweiligen Sonntags wurde hier 111 Ebd., 12. 112 Iwand, Hans Joachim, Um den rechten Glauben (= Gesammelte Aufsätze I = GA I), 83. Vgl. ebd., 80: „Predigt und Lehre sind Charismen des Geistes und auf ihn sind wir ebenso gewiesen, wenn wir auf der Kanzel oder wenn wir auf dem Katheder stehen. Wo aber der lebendig machende Geist das Wort auslegt, da wird diese Aufgabe in sich selbst Berufung und Sendung sein, […].“ Wie sehr Iwand sein Theologieverständnis in Opposition zum sich zu jener Zeit formierenden rein zweckrationalen Wissenschaftsverständnis entwickelt, zeigt besonders ein Vortrag über „Theologie als Beruf “ aus dem Jahre 1929. Iwand nimmt darin seinerseits Bezug auf den Vortrag Max Webers aus dem Jahre 1919, den dieser unter dem Titel „Wissenschaft als Beruf “ gehalten hatte. Weber begründet dort seine Forderung nach „intellektuelle[r] Rechtschaffenheit“ (97) und gelangt hinsichtlich der Frage, was eine derart bestimmte Wissenschaft für das Leben zu leisten vermag zu einer dreifachen Antwort. Sie habe (1.) „Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben, die äußeren Dinge sowohl wie das Handeln der Menschen, durch Berechnung beherrscht“ (97) zu vermitteln; sie habe (2.) „Methoden des Denkens, das Handwerkszeug und die Schulung dazu“ (ebd.) bereitzustellen und (3.) über die Zweck-Mittel-Relation zur Erreichung eines Zieles Rechenschaft abzulegen, ohne ihrerseits bestimmte Zwecke zu formulieren (vgl. 104); ders., Wissenschaft als Beruf, 71–111. Für die Theologie macht Iwand dagegen geltend, dass sie der „Berufsnot des Theologen“ und der „schwersten Anfechtungen“, denen er sich durch seine prekäre Verstrickung in den Lebensvollzug ausgesetzt sieht, nicht gerecht zu werden vermag, sobald sie ihre Methoden in einem bloß technischen Sinne entfaltet: „Wem sein ganzes Leben […] nicht durch sein Studieren gegenwärtig wird, der treibt Theologie im besten Falle als ‚Wissenschaft‘, aber er treibt sie nicht als Beruf, er hängt kein ganzes Leben daran. Wir können auch sagen, seinem wissenschaft lichen Arbeiten fehlt der Ernst der Wahrheitsfrage“, NW I, 219. Seinerseits unter der Dynamik von Sünde, Anfechtung und Gnade stehend stellt sich dem theologischen Lehrer stets die Aufgabe, „seinen Schüler zu einem Prediger zu erziehen, aus dessen Verkündigung er selbst seinen Glauben schöpfen könnte“, NW I, 226. Vgl. dazu auch Den Hertog, Gerhard C., Befreiende Erkenntnis, 56–61. 113 Exemplarisch ist in dieser Hinsicht der Satz, mit dem er im Jahre 1937 seine Dogmatikvorlesung über Gesetz und Evangelium beginnt. In Abgrenzung zu den schematischen Auslegungsprinzipien zeitgenössischer lutherischer Theologie heißt es dort: „Das Wissen um Gesetz und Evangelium gehört zur rechten Predigt. Evangelium und Gesetz recht unterscheiden, heißt ein Prediger werden. Man kann das Verhältnis nur predigen“; NW IV, 13. 114 Vgl. Bizer, Christoph, Unterricht, 91–99.
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mit der Stimme seiner Ausleger in der Kirchengeschichte, vor allem aber mit den Nöten und Erwartungen der gegenwärtigen kirchlichen und politischen Wirklichkeit ins Gespräch gebracht, um Predigern eine „Hilfe“ zum „Finden des Wortes in unserer […] Wirklichkeit“ zu geben.115 War die Herausgabe einer Predigthilfe für Pfarrer ursprünglich durch die äußere Notlage motiviert, dass theologische Literatur nach dem Ende des Krieges nur schwer zugänglich war, so entwickelten sie sich unter Iwands Ägide zur meist verbreiteten deutschen theologischen Zeitschrift. Als deren Ziel wurde die umfassende Erneuerung der gottesdienstlichen Predigt ausgewiesen.116 Neben zahlreichen von ihm selbst verfassten Meditationen legte er in den Begleitworten über das Programm der GPM und die Aufgabe der Predigt unter den sich wandelnden theologischen und politischen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland Rechenschaft ab.117 Der posthum erschienene Sammelband seiner eigenen GPMBeiträge ist von Ferdinand Hahn als sein eigentliches theologisches Hauptwerk bezeichnet worden.118 Iwands Beschäftigung mit der Homiletik unter didaktischen Gesichtspunkten setzte aber nicht erst mit der Herausgabe der GPM ein. Die erste Begegnung mit der Predigtlehre war für ihn (2) dadurch gegeben, dass ihm 1935 vom Bruderrat der ostpreußischen Bekenntnissynode die Leitung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche übertragen wurde.119 Relativ unvermittelt stand er vor der Aufgabe, den Kandidaten unter dem Druck der äußeren Ereignisse einen Überblick von den Grundlagen der Homiletik bis hin zu deren konkreter Anwendung zu geben.120 Dennoch stellt seine HomiletikVorlesung von 1937 einen eigenständigen Entwurf dar. Die enge Verzahnung zwischen theologisch qualifiziertem Wirklichkeits- und Predigtverständnis kommt bereits in diesem Stadium seines Wirkens zum Ausdruck: Parallel zur Homiletik las er eine dogmatische Vorlesung über Gesetz und Evangelium.121 Schließlich hat Iwand (3) nicht nur als homiletischer Lehrer, sondern auch zu allen Phasen seines theologischen Wirkens selber als Prediger gewirkt. Diese praktische Entfaltung seiner Homiletik verlangt danach, in einem eigenen Abschnitt dargelegt zu werden.
115 Iwand, Predigtmeditationen, 419. 116 Vgl. dazu das Geleitwort Helmut Gollwitzers zum ersten Band von Iwands Predigtmeditationen, Göttingen 1963, PM I, 5. 117 Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 31f. 118 Vgl. Hahn, Ferdinand, Geleitwort zu Gandras, Joachim, Predigt, 6; Pritzke, Frank, Rechtfertigungslehre, 2. 119 Vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 153. 120 Vgl. dazu Iwand in einem Brief an seinen Lehrer Rudolf Hermann vom 1. 1. 1936: „Ich muß mich jetzt sehr in praktische Theologie einarbeiten und werde damit so ein rechter Dilettant. Aber was hilft es“; NW VI, 287. 121 Frank Pritzke liest Iwands Homiletik im Blick auf den engen Zusammenhang von Dogmatik und Predigtlehre als „konsequente Fortführung seiner bisher ausgearbeiteten Theologie“; ders., Rechtfertigungslehre, 287.
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... Hans Joachim Iwand als Prediger Das Wirken Iwands als Prediger lässt sich nach vier Phasen untergliedern. Und zwar handelt es sich dabei (1) um seine Anfänge als Lizentiat des Lutherheims in Königsberg (1923–1934), (2) sein Wirken für die ostpreußische Bekennende Kirche im Kirchenkampf (1934–1937), (3) als Gemeindepfarrer in Dortmund (1937–1945) und schließlich (4) als Professor der Theologie und Universitätsprediger in Göttingen (1945–1952) und Bonn (1952–1960): Die frühste homiletische Betätigung Iwands (1) fällt in das zeitliche Umfeld seiner Habilitationsschrift. Es handelt sich dabei um Andachten, die er im Königsberger Lutherheim – einem Wohnkonvikt kirchlicher Trägerschaft für 15 Theologiestudenten – in seiner Funktion als dessen Lizentiat gehalten hat. Die Tätigkeit dort umfasste die Leitung des Heimes und Organisation des Gemeinschaftslebens, das durch „gemeinsames Wohnen, gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsame theologische Übungen und eben auch durch gemeinsame Andachten“ gekennzeichnet war.122 Die Andachten selber sind unveröffentlicht, Frank Pritzke hat ihnen in seiner Arbeit aber einen Abschnitt von Analysen gewidmet.123 In ihren Themenstellungen spiegeln sich die Probleme des gemeinsamen Hauslebens wider.124 Andere homiletische Betätigungen jener Zeit beziehen sich auf Anlässe im privaten Bereich, wie etwa eine Rede zur Taufe seines Sohnes aus dem Jahre 1929.125 Obwohl Iwand in dieser Phase seines Wirkens noch verhältnismäßig wenig gepredigt hat und „ihm der Bezug der theologischen Arbeit auf die Verkündigung mehr theoretisch als praktisch klar gewesen ist,“126 begegnen doch bereits bemerkenswerte Äußerungen, die sich als Weichenstellungen für seinen weiteren Lebensweg interpretieren lassen. Ein frühes Zeugnis für das spannungsreiche Verhältnis zwischen akademischer und kirchlicher Gestalt der Theologie bei Iwand findet sich bereits in einem Brief an seinen Lehrer Rudolf Hermann aus dem Jahre 1927. Hier ringt er mit seiner akademischen Profession und klagt, „daß mir je länger – je mehr das Verhältnis von Wissenschaft und Christentum zum Problem wird. Daher kann ich leicht predigen und schwer lehren.“127 Eine deutliche Zäsur in der Predigttätigkeit Iwands stellt (2) der Beginn des Kirchenkampfes und die damit empfundene Notwendigkeit dar, sich öffentlich gegen die Deutschen Christen zu stellen. Welchen nachhaltigen Eindruck der Konflikt bei ihm hinterließ und auf welche Weise er sein homiletisches Selbstbewusstsein prägte, vermittelt die Retrospektive, die er in einem Vortrag von 1946 darauf nimmt. Dort formuliert Iwand: 122 Ebd., 152. 123 Vgl. ebd., 150–218. 124 Vgl. dazu Pritzkes Analyse der Predigt über 1Kor 9,24–27 unter der Überschrift „Von Gemeinschaft der christlichen Liebe“; ebd., 151–168. 125 Vgl. ebd., 178–190. 126 Vgl. dazu das Geleitwort von Hans Helmut Esser und Helmut Gollwitzer zum dritten Band von Iwands Nachgelassenen Werke, der zugleich die Hauptquelle seiner bisher veröffentlichten Predigten ist; NW III, 8. 127 NW VI, 167.
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„Es sind in der evangelischen Kirche Dinge geschehen, wie sie seit den Tagen der Reformation, im Guten und im Bösen, nicht wieder geschehen sind […]. Es wurde wieder ernst mit dem Predigen, es war gefährlich nicht nur zu predigen, sondern auch zu denen zu gehören, die sich das predigen ließen. Es tagten Synoden, wie sie seit Jahrhunderten in Deutschland nicht mehr getagt hatten, die einmütig und verbindlich für die ganze evangelische Christenheit sprachen, die es wagten Nein zu sagen und damit das Ja, das sie sagten, erst kräftig und der Öffentlichkeit begreifbar machten, die die Kirche daran erinnerten, daß sie eine theologische Verantwortung hätte und daß sie, wenn sie diese theologische Verantwortung außer acht ließe, aufhören müsse evangelische Kirche zu sein.“128
Iwands zu dieser Zeit auf überregionalen kirchlichen Zusammenkünften und Synoden gehaltene Predigten stehen ganz im Zeichen des neuen Sendungsbewusstseins. Der Bekenntnischarakter ist in ihnen besonders ausgeprägt. Sie setzen sich mit den innerkirchlichen Entwicklungen ebenso auseinander wie mit Fragen der theologischen Lehre. In mannigfaltigen Variationen geht es ihm darum, die Differenz zwischen Wort und menschlicher Wirklichkeit, etwa gegenüber institutionellen Erstarrungen christlicher Nächstenliebe in der Inneren Mission,129 vor allem aber gegenüber der deutschchristlichen Forderung nach Anerkennung konkreter völkischer Offenbarung geltend zu machen.130 Grundtenor ist die kairologische Erwartung, dass in den turbulenten aktuellen Bewegungen, Entwicklungen und Schismen „die Hand des Herrn […] spürbar“ wird.131 So sehr er die Formierung der Bekennenden Kirche im Zusammenhang mit einem „Gegenangriff Gottes“ gegen die Gleichschaltung der Evangelischen Kirche durch die Deutschen Christen sieht,132 so sehr sucht er es doch andererseits zu vermeiden, die eigene Sache mit dem göttlichen Offenbarungshandeln zu identifizieren. Letzteres bleibt eine kritische Potenz gegenüber der menschlichen Wirklichkeit als ganzer und kann jedem zum Gericht werden.133 Einen breiteren öffentlichen Wirkungskreis erhielten die Predigten Iwands durch ihre Veröffentlichung in Organen der Bekennenden Kirche, wie den „Flugschriften für die evangelische Kirche im Osten“, den „Bekenntnispredigten“ und der Schriftenreihe „Bekennende Kirche“.134 Neben Predigten sind dort auch eine Anzahl von auf Synoden und Freizeiten gehaltenen Andachten veröffentlicht. Den größten Umfang nimmt dabei die 1936 als „Geistliche Reden“ publizierte Sammlung unter dem Titel „Der Name des Herrn“ ein.135 Festzuhalten ist der Sachverhalt, dass Iwands Predigten in 128 NW III, 9. 129 Vgl. ebd., 20. 130 Vgl. ebd., 38. 131 Ebd., 24. 132 Ebd., 31. 133 In eine Predigt über Jer 23, 28–31 von 1935 steigt er etwa mit der Überlegung ein: „Es wäre nicht gut, wenn wir beim Hören dieser Worte sogleich an die Gegensätze und Feindschaften denken würden, die in den letzten Jahren in unserer Kirche ausgebrochen sind. Sie sind nicht zu leugnen, gewiß nicht, wir stehen mitten in ihnen, mitten im Kampf. Aber es wäre doch ratsam, diese Worte nicht als Waffe gegen die anderen zu gebrauchen; es wäre vermessen, wollten wir den Versuch machen, den Blitz, der hier aus der Wolke zuckt, auf das Haupt irgend eines Gegners abzulenken.“ Ebd., 23. 134 Vgl. Sänger, Peter/Pauly, Dieter (Hg.), Iwand, Hans Joachim, 238. 135 Iwand, Hans Joachim, Der Name des Herrn.
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dieser Phase seines Wirkens offensichtlich nicht lediglich als mündliche Rede, sondern auch literarisch wirkten. Die nächste predigtpraktische Phase Iwands (3) ist durch seinen Wechsel in das Gemeindepfarramt in der Dortmunder St. Marien Gemeinde bestimmt, das er sieben Jahre bekleidete. Die Publikation von Predigten trat – durch die Entwicklung der äußeren Umstände bedingt – zurück.136 Hervorzuheben ist vor allem, dass Iwand hier erstmals das Amt eines Gemeindepfarrers mit allen seinen Verpflichtungen innehatte, zu denen eine kontinuierliche Predigttätigkeit im wöchentlichen Hauptgottesdienst gehörte.137 In den Predigten kommt die enge Verbundenheit des Predigers mit seiner überwiegend aus der Arbeiterschaft stammenden Gemeinde in dem Moment voll zum Tragen, als letztere von den Schrecken des Luftkrieges eingeholt wurde. Wir werden diesen homiletischen Kontext im sechsten Kapitel unserer Arbeit ausführlich analysieren. Unsere These ist, dass zu keiner anderen Phase seiner Predigtpraxis sich das kreuzestheologische Profi l Iwands so stark mit den Erfahrungen der Menschen durchdrungen und lebensweltliche Plausibilität gewonnen hat. Der Grundsatz seiner Bloestauer Homiletik, dass der Prediger im Spannungsfeld zwischen Anfechtung und Glaube als stellvertretender Hörer dem Text das Evangelium abringen muss, um die trostlose Wirklichkeit in das Licht der Christusverheißung zu stellen,138 wird hier von Iwand selber eingelöst. Die Predigten sind dominiert von dem Kontrast zwischen Text und Wirklichkeit, in dem Themen entfaltet werden wie Gericht und Leiden, unter deren Maske Gott doch die Menschen sucht,139 Gemeinde und Gemeinschaft und die Frage nach der Gottlosigkeit der Welt.140 Das Kreuz Christi wird immer wieder als derjenige Ort beschworen, an dem Gott die Welt nicht preisgibt.141 Die Predigten tragen durchweg einen seelsorgerlichen Zug. Eine Zuspitzung der Situation trat mit der weit gehenden Zerstörung der Kirche im Mai 1943 ein, wonach die Fortsetzung des regelmäßigen Gottesdienstablaufes jede Selbstverständlichkeit verlor.142 Iwand hielt zu dieser Zeit Reihenpredigten über biblische Bücher (Hiob, Apokalypse), die die Bedrohung und Auflösung jeglichen Alltagslebens zu spiegeln geeignet waren. Wie innig die in dieser Zeit gewachsene Gemeinschaft zwischen Prediger und Hörern war, zeigt besonders seine Abschiedpredigt vom 21. Oktober 1945.143 Sie wurde in seinen Nachkriegspredigten zum Leitbild christlicher Gemeinschaft, wobei er auch als Theologieprofessor wiederholt in Dortmund Predigten hielt.144 136 Vierzehn Predigten aus dieser Zeit sind im dritten Band der Nachgelassenen Werke posthum veröffentlicht worden; vgl. NW III, 67–161. 137 Vgl. Hermelink, Jan, Rezension (PTh 88), 536. 138 Vgl. Homiletik, 40. 139 Vgl. NW III, 84f. 140 Vgl. dazu etwa wie Iwand die Situation seiner Gemeinde in Analogie setzt zum Volk Gottes in der babylonischen Gefangenschaft nach Jes 40,26–31; ebd., 77. Vgl. ebd., 103. 141 Vgl. ebd., 120. 142 Vgl. ebd., 109. 143 Vgl. ebd., 171–183. 144 Vgl. ebd., 195–205; bes. 198f.
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Die vierte Phase seines Predigtwirkens (4) ist durch seine Tätigkeit als Universitätsprediger in Göttingen und Bonn bestimmt. Daneben hat er auf Konferenzen, Tagungen und Reisen gepredigt und Andachten gehalten. Als neues Element ist vor allem die explizit politische Predigt i.S. der direkten Stellungnahme zu tagespolitischen Themen anzuführen. Sie kommt vor allem in der „Bonner Situation“ voll zum Tragen, wo er neben Kreck, Gollwitzer und anderen kritisch zu den politischen Diskussionen in der sich formierenden bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Stellung bezog.145 Dieses kerygmatische Engagement resultiert nicht aus einer oberflächlichen Konversion von einstmals vertretenen Überzeugungen,146 vielmehr ist es zutiefst in den Erfahrungen des Krieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verwurzelt. Bereits in den Kriegspredigten deutet sich die Konfrontation des Evangeliums mit den vorherrschenden politischen Doktrinen an, wenn er etwa den „Totenäcker[n] Europas“ die Vision eines umfassenden Völkerfriedens entgegenstellt, das „Volk Israel“ als Typus einer neuen Menschheit beschwört und Durchhalteparolen dadurch konterkariert, dass er alle Hörererwartungen auf den pfingstlichen „Gegenangriff […] von oben her“ und den endzeitlichen Sieg Gottes zentriert.147 Waren der Möglichkeit zur Äußerung von Herrschaftskritik unter der Nazidiktatur enge Grenzen gesetzt, so kommt dieser Zug in Iwands Nachkriegspredigten voll zum Tragen. Das in Naziherrschaft und Krieg aktualisierte Vernichtungspotential deckt er nun als untergründige gewaltförmige Tendenzen der modernen Gesellschaft auf, die in Gestalt von Antisemitismus, Denken in Freund-Feind-Verhältnissen und Meinungsmanipulation bis in die bundesrepublikanische Öffentlichkeit hinein weiterwirken.148 Im Licht der biblischen Überlieferung werden diese Tendenzen als dämonische Machtstrebungen offenbar, denen mit rationaler Aufk lärung nicht beizukommen ist.149 Dagegen profi liert Iwand in seinen Predigten das christologisch ausgelegte Gotteswort und die Geistwirksamkeit in der Gemeinde als Machtgeschehen, 145 Hermelink, Jan, Rezension (PTh 88), 536. 146 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Hans Joachim Iwand, 386. 147 NW III, 110–113. 148 Vgl. dazu die Predigt über Mt 12,43–45, wo Iwand im Blick auf die Wiederkehr des bösen Geistes formuliert: „Heute wissen wir es, daß dieser Geist lange zuvor unter uns herangewachsen und gereift war, in Gesten und Worten, in Schriften und Redewendungen, denen unsere Väter und Großväter noch kaum ernsthafte Bedeutung zugemessen haben. Aber uns war es dann bestimmt, seine Macht, seine furchtbare Unsauberkeit zu erleben und Werkzeuge, schuldige häßliche Werkzeuge dieses Geistes zu werden. Wir bemühen uns heute, im einzelnen wie im Ganzen darüber wegzukommen, aber immer, wenn man an diese Sache rührt, zeigt sich eben dann doch, daß dies keine so einfache Sache ist, wie unsere Umerzieher glauben“; NW III, 201f. 149 Eine interessante Aufgabe wäre es, die Parallelen zwischen der Aufarbeitung des Gewaltausbruches von 1933–45 bei Iwand und in der Kritischen Theorie herauszuarbeiten. Beide konvergieren nicht nur in der theoretischen Einschätzung, dass die Verabsolutierung des Subjektes in einen gesellschaft lichen Totalitarismus umschlägt, sondern stimmen bis in konkrete Phänomenbeschreibungen überein. Vgl. Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufk lärung“, deren Darstellungsduktus ebenfalls von einer Fundamentalbestimmung des Verhältnisses von Mythos und Aufk lärung zur Kritik an Meinungsmanipulation der Kulturindustrie und Antisemitismus verläuft; dies., Dialektik der Aufk lärung. Wir müssen uns einen solchen Vergleich in dieser Studie versagen, weisen aber darauf hin, dass die Konvergenzen zwischen Kritischer Theorie und Iwand bereits an anderer Stelle beobachtet worden sind; vgl. dazu Lempp, Eberhard/Thadigsmann, Edgar, Gottes Gerechtigkeit; Gandras, Joachim, Predigt.
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das sich in kritischer Relation auf die Gesellschaft entfaltet.150 Unter dieser Perspektive treten Themen wie Frieden,151 die Frage nach sozialer Gerechtigkeit,152 Freiheit und echter Führerschaft in sein Blickfeld.153 Hatten wir als Charakteristikum der Kriegspredigten die seelsorgerliche Dimension genannt, so lässt sich nun das prophetische Element als besonders hervorstechendes analysieren.154 Insgesamt ist festzuhalten, dass sich in der Komplexität und Weitgespanntheit der Themenstellungen in den Nachkriegspredigten sowohl der Wechsel Iwands in das akademische Lehramt als auch das Eingehen auf eine Hörerschaft spiegelt, die in einer so nie zuvor gekannten Breite das Politische bewusst als Gestaltungsraum wahrnimmt.
150 Vgl. bes. NW III, 204f. Ein wesentlicher Faktor ist für Iwand dabei, dass die Gemeinde auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges existiert und ihrer Universalität nicht durch Totalanpassung an eines der herrschenden Systeme verlieren darf. Diese grenzübergreifende Gemeinschaft kommt in einer kurz vor seinem Tod zur Hochphase des Kalten Krieges in Bonn gehaltenen Osterpredigt besonders gut zum Ausdruck: „Um dieser Wahrheit willen sind wir hier zusammen, sind Menschen aller möglichen Rassen und Denkformen heute in ihren Kirchen und Versammlungen zusammen und werden singen: Christ ist erstanden. Oder sie werden rufen, wie es in den Kirchen der orthodoxen Christenheit in Rußland in der Osternacht geschieht: ‚Christus woskresje‘, Christus ist auferstanden, und das Volk wird antworten: ‚Woistinu woskresje‘, Er ist wahrhaftig auferstanden“; NW III, 304. 151 Vgl. dazu die Predigten über die Bergpredigttexte vom Tun des göttlichen Willens und vom Tötungsverbot; NW III, 184–194. 213–225. 152 Vgl. dazu die Predigt vom reichen Jüngling und dem fehlenden armen Bruder an seiner Seite; NW III, 235–244. 153 Vgl. die Predigt zu Joh 8,36; NW III, 264–270. Vgl. NW III, 288–290. 154 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein kursorischer Vergleich zwischen zwei Predigten über die Perikope Ez 37,1–14. Die erste wurde Pfi ngsten 1943 gehalten und wird von uns im 6. Kapitel ausführlich analysiert werden; vgl. NW III, 108–113. Die zweite Predigt ist nicht genau zu datieren, stammt aber eindeutig aus der Nachkriegszeit und wurde im Bereich der westfälischen Kirche, genauer: im Bereich von Minden-Ravensberg gehalten, wie aus dem Text hervorgeht; vgl. NW N. F. V, 49–57. Im gewandelten zeitgeschichtlichen Horizont aktualisiert der Prediger im Eingangsteil der Predigt die Rolle des prophetischen Mahners vor einer neuen Selbstsicherheit, wo er unter dem unmittelbaren Eindruck der Kriegserfahrungen vornehmlich als seelsorgerlicher Tröster sprach; vgl. NW N. F. V, 50–53. Ihr Tenor ist das verborgene Weiterwirken jener selbstzerstörerischen und dehumanisierenden Kräfte in der industriellen Gesellschaft , das in der Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel seinen sichtbaren Ausdruck fi ndet. In diesem Sinne heißt es zur Totenfeldvision des Ezechiel: „Ich meine, das Abendland könnte heute etwas davon merken, von der grausamen Herrschaft des Todes, wie der anfängt mitten in unser Leben wieder hineinzuziehen, nicht der gewöhnliche Tod, daß der Mensch in seinem Alter verfällt oder an einer Krankheit stirbt, sondern der Tod, der als eine Macht heraufzieht, der Tod der großen Kriege, der Tod der Revolution, der Tod, der Tausende als sein Opfer fordert und die Erde tränkt mit frischem lebendigem Blut. Glaubt ihr wohl, daß sonst die Müdigkeit der Menschen so groß wäre zu glauben, wenn nicht der Tod seine Allgewalt einer übermütigen Menschheit Europas heute wieder deutlich machte, so deutlich, daß heute alle Völker zittern, daß in Kürze aufs Neue eine große Hekatombe für den Kriegsgott geopfert werden müßte? Darum verschmachtet unsere Seele, darum sind wir nur noch darauf aus: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Der Bann des Todes nimmt uns ganz mit Leib und Seele. Das sieht der Prophet. Ein Totenfeld. Eine Menschheit, ein Volk gezeichnet dadurch, daß der Tod anfängt, dieses Volk zu besitzen, dieses Volk zu beherrschen. […] Wer einmal mit den Augen Gottes heute durch unsere Großstädte ginge, durch die großen Industriestädte des Westens, und einmal da nach dem Volke Gottes fragte, der würde vielleicht etwas Ähnliches mit Erschauern merken, wie das ein Gang ist, wie durch ein Totenfeld“; NW N. F. V, 52. Zur Rolle des prophetischen Mahners vgl. auch die Einleitung zur Predigt über Mt 12,43–45; NW III, 195f.
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. Die Frage nach der Bedeutung des Wortes Gottes für die Verantwortung und den Vollzug der Predigt sowie für die fundamentale Bestimmung des Verhältnisses von humaner Subjektivität und Wirklichkeit Folgende Punkte sind als Ergebnis unserer dreifachen Annäherung für die Entwicklung des Programms dieser Untersuchung festzuhalten: – Hinsichtlich der Verortung Iwands im Kontext gegenwärtiger Homiletik (vgl. Abschnitt 1.1.1) gilt: Die Aufgabe der Vermittlung zwischen dem theologischen Anspruch, dass Predigt Verkündigung des Wortes Gottes sei, und ihrer Beschreibung als subjektiv zu verantwortender menschlicher Rede ist mit dem Übergang zu einer rhetorisch-kommunikationswissenschaftlichen Wahrnehmung der Predigtaufgabe keineswegs erledigt, sondern stellt sich innerhalb dieses erweiterten Reflexionshorizontes neu. Es ist unumgänglich, die kommunikationstheoretische Wahrnehmung in einem theologischen Begriff von Predigt zu fundieren, und auf diese Weise erst zu einem angemessenen Verständnis von Subjektivität unter der dialektischen Bestimmung von Gesetz und Evangelium zu gelangen. Angesichts dieser Aufgabe bietet sich Iwand als kritischer Gesprächspartner an, legt er in seiner Homiletik doch alles Gewicht darauf, die Positivierung humaner Selbsttätigkeit durch den steten Verweis auf die normative Bestimmung von Subjektivität durch das Wortes Gottes zu verhindern. – Hinsichtlich der Wahrnehmung Iwands im Horizont der jüngeren Homiletik (vgl. Abschnitt 1.1.2) haben wir zwei Rezeptionsweisen gegeneinander profi liert. Eine markante Kritikrichtung an Iwand zeichnet sich dadurch aus, dass sie seiner Homiletik einen unzureichenden Wirklichkeitsbezug attestiert (vgl. Abschnitt 1.1.2.1). Problematisch ist diese Kritik darin, dass sie ihrerseits an einer unzureichenden Vermittlung des Verhältnisses von empirischer und theologischer Bestimmung menschlicher Wirklichkeit leidet. Bei Lichte besehen erweist sich die Positivierung samt theologischer Qualifizierung des welthaften Selbstverhältnisses als alleiniger Maßstab des Wirklichen, aus dem der spannungsvolle Konstitutionsvorgang des Glaubens dann per Definition herausfällt (vgl. Abschnitt 1.1.2.2). Diese eng geführte Sichtweise verkennt die Potentiale von Iwands Homiletik und verhindert es, dass seine Stimme als Anregung für die gegenwärtige Predigtforschung hörbar wird. Neben dieser defizitorientierten Rezeption haben wir (mögliche) Ansätze zu einer Interpretation aufgezeigt, die den Gegensatz von Wort-Gottes-theologischer und subjektivitätsorientierter Positionierung unterläuft (vgl. Abschnitt 1.1.2.3). Sie vermag u.E. nicht nur den Blick dafür zu eröffnen, wie sehr Iwand in seiner Homiletik das Gewicht auf das Moment gegenwärtiger Aneignung und den Gewinn von Individualität legt, sondern macht sie auch beziehbar auf die nachdialektischen Probleme der Homiletik. Steht heutige Homiletik doch erneut vor der Aufgabe, die sich Iwand in seiner vorempirischen Perspektive noch 42
selbstverständlich gestellt hat: nämlich die Frage nach dem homiletischen Wirklichkeitsbezug um die kritische Reflexion des Verhältnisses von Wort Gottes, Subjektivität und menschlicher Wirklichkeit zu erweitern. – Dass Iwand sich hinsichtlich der hier aufgerissenen fundamentaltheologischen Dimensionen von Predigt als interessanter Gesprächspartner für die homiletische Gegenwart aufdrängt, ist auch auf Grund der im Abschnitt 1.1.3. angezeigten Eigenart seines theologischen Wirkens ersichtlich. Wird für ihn der Zusammenhang zwischen theologischer Theorie und Praxis durch die Erwartung der Wirksamkeit des Wortes Gottes hier und dort gewährleistet, so erweist Iwand sich seinerseits als ein Grenzgänger zwischen beiden Bereichen. Seine in der systematisch-theologischen Arbeit entwickelten Überzeugungen sucht er immer wieder an der eigenen homiletischen Praxis zu bewähren. Von daher stellt sich die Aufgabe, Iwands Predigtpraxis einmal gezielt in den Blick zu nehmen. Der Sachverhalt, dass er einen Fundus von eigenen Predigten hinterlassen hat, ermöglicht es seine theologischen Überzeugungen mit Hilfe des analytischen Inventars der jüngeren Predigtforschung an der eigenen Praxis zu messen. Unser Ziel ist es zu untersuchen, wie sich die jeweiligen Anschauungen auf die konkrete rhetorische Gestaltung von Predigt auswirken. Von diesen Überlegungen her gilt es nun, den Untersuchungsgegenstand dieser Studie abzugrenzen. Unseren Ausgang nehmen wir dabei von einer Anschauung Iwands, die in ihrer provozierenden Einseitigkeit wiederholt zum Ansatzpunkt der Kritik an ihm gemacht worden ist.155 Wir stellen sie hier im Sinne einer produktiven Irritation gegenwärtiger, rhetorisch-kommunikationswissenschaftlich orientierter Predigtforschung voran, um sodann die Frage nach der Vermittlung zwischen beiden Perspektiven unserer Arbeit methodisch zu Grunde zu legen. Die aus Iwands Erwartung der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes resultierende Haltung zur Predigtarbeit kommt in seinem Vorwort zum vierten Heft der Göttinger Predigtmeditationen von 1947 besonders pointiert zum Ausdruck. Dort nimmt er auf die Kritik aus einem Leserbrief Bezug, dass den als Predigthilfe gedachten Textmeditationen „die konkrete Bezogenheit auf die Praxis“ fehle. Anstatt darüber nachzudenken, die Predigthilfe um die eingeforderten hermeneutischen Reflexionen zu erweitern, stellt er dem die zurückweisende Antwort entgegen: „auch die Richtung, in der das Wort Gottes uns trifft und anspricht, liegt in ihm selbst, das Wort behält sich auch in seiner ‚Anwendung‘ selbst in der Hand.“156
In der Konsequenz dieser Haltung gibt Iwand an einer anderen Stelle die Anweisungen, dass der Prediger ganz hinter dem Zeugnis der Botschaft zurücktreten solle und sich auch nicht an den Hörererwartungen orientieren dür155 Vgl. Einleitung 1.1.2.1. 156 Iwand, Hans Joachim, Predigtmeditationen (= PM I), 94.
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fe.157 Letztere müssten ebenso zunichte werden, damit die Verkündigung ihr Ziel erreiche.158 Das Wort Gottes und die subjekthaft bestimmte menschliche Wirklichkeit werden von ihm als konkurrierende Größen aufgefasst.159 Mit dieser Auffassung kommt Iwand in diametralem Widerspruch zum Forschungsinteresse empirisch orientierter Homiletik zu stehen, die nach der Bedeutung der Subjektivität von Prediger und Hörern als für das Predigtgeschehen konstitutiven Personen fragt: danach, wie sich der Prediger in den Predigtvollzug einbringt, und danach, wie die Hörer in der Predigt angesprochen, integriert und gegebenenfalls zum Handeln aktiviert werden. Eine rhetorisch-kommunikationswissenschaftliche Wahrnehmung der Predigtaufgabe setzt voraus, dass die Person des Predigers als menschlicher Redner gestaltend handelt und dabei mit seinen Hörern interagiert. Trotz dieser Divergenz der Perspektiven hegen wir die Erwartung, dass die Wahrnehmung von Iwands homiletischer Theorie und Praxis unter dem gewandelten Blickwinkel jüngerer Homiletik keineswegs aussichtslos ist, sondern zum wechselseitigen Gewinn beider geschehen kann. Dazu ist es notwendig, die provozierenden Äußerungen Iwands noch einmal anders zu hören, als sie bisher gehört worden sind, hinter die Konstatierung unvereinbarer Gegensätze zurück zu treten, und die Frage nach der Vermittelbarkeit von Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes und menschlichem Handeln in der Predigt der Untersuchung als offene Frage zu Grunde zu legen. Wir gehen davon aus, dass die Redeweise Iwands vom Zurücktreten des Prediger- und Hörer-Ichs hinter dem machtvollen Selbsterweis des Wortes Gottes nicht im schlechten Sinne als Liquidation humaner Subjektivität aus dem Verkündigungsgeschehen interpretiert werden und nicht notwendigerweise in einen unvermittelbaren Gegensatz zur Darstellung des Predigtgeschehens „von unten her“ treten muss. Denkbar wäre auch, dass diese Erwartung einen ganz eigenen Typus rhetorisch gestalteter Predigt hervorbringt, in dem gerade bei äußerstem individuellem Engagement des Predigers und der Beanspruchung seiner Hörer dennoch mit der Einsicht ernst gemacht 157 Vgl. Josuttis, Manfred, Der Prediger, 73f. Am Eindrücklichsten formuliert Iwand das negative Verhältnis zwischen Subjektivität des Predigers und Souveränität des Wortes in seinen Meditationen zu den logozentrischen Texten des johanneischen Korpus: „Nur indem wir das ‚Ich‘ darin [in der Botschaft , Anm. d. Verf.] auslöschen, das Leben nicht in uns inkarniert sehen, das Wort des Lebens nicht mit unserer Verkündigung identifi zieren (gerade an diesem Punkt sind größte Gefahren im Anzuge!), werden wir dem gerecht, was von Gott her für uns und alle Menschen geschehen ist. Nur so bleibt das, was in dieser Weise bezeugt und verkündet geschehen ist – die Erscheinung des Wortes des Lebens mitten unter uns – frei in sich selbst, souverän, ein Licht, das von ihm selbst her leuchtet und aller Augen auf sich richtet“; PM I, 330. Von Joh 1,20 her sucht Iwand geradezu eine Defi nition des Predigtamtes abzuleiten: „Die Negation, das Nein des Johannes, sein unbedingtes ‚Ich bin nicht‘ gehört unaufgebbar hinein in die Ausübung dieses Amtes“; ebd., 422. 158 Vgl. ebd., 121, wo Iwand das Pathos der Selbstauslöschung auf die Kommunikationssituation der Predigt insgesamt ausdehnt: „wenn uns das Wort Gottes nicht trifft als das Wort, das ‚alles neu macht‘, als das Nein Gottes zu dem Menschen, der zu sich Ja sagt, und als das Ja Gottes zu dem, der zu Gott Nein sagt, wenn es uns nicht trifft als das einzige, was jenseits aller unserer Gedanken und Erwartungen liegt, als das Fremde, das uns aber doch im tiefsten fehlt, als das Gegnerische, das aber doch den Frieden bringt, wenn wir nicht bereit sind, das Wort Gottes in seiner harten Wahrheit zu erleiden, dann wird es uns mit seiner gnadenvollen Herrlichkeit nicht erquicken. Niemand kann Gott sehen, ohne zu sterben!“ 159 Vgl. Engemann, Wilfried, Semiotische Homiletik, 147.
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wird, dass Predigt mehr und anderes ist als das, was sich in methodischen Anweisungen für die Predigtproduktion erfassen lässt. Legen wir letzteres als Hypothese zu Grunde, so ist das Ziel unserer Studie folgendermaßen zu formulieren: Es geht uns darum aufzudecken, dass Iwand – entgegen der provozierenden Einseitigkeit der genannten Äußerungen – eine Homiletik hinterlässt, die der Person des Predigers die Rolle eines vom Wort Gottes bestimmten und begrenzten Subjektes zuweist, und der im praktischen Vollzug ein eigentümlicher Predigtstil korrespondiert, der Hörererwartungen zu integrieren vermag. Entsprechend der Differenzierung zwischen Predigtlehre und Predigtvollzug lauten die Leitfragen zur Untersuchung von Iwands Homiletik dann: 1) Wie wirkt sich die Erwartung der Neukonstitution von Wirklichkeit durch das Wort Gottes auf den Zusammenhang von prinzipieller Homiletik, homiletischer Methodik und Anleitung zur Predigtgestaltung als intersubjektivem kommunikativem Geschehen aus? 2) Wie wirkt sich die Erwartung der Neukonstitution von Wirklichkeit durch das Wort Gottes in Iwands eigenen Predigten auf die Gestaltung der Rezeptionsbeziehungen zwischen Prediger, Predigttext und Hörern aus? Angesichts des im Abschnitt 1.1.2.2. aufgeworfenen Problemhorizontes wäre es allerdings zu kurz gegriffen, die Frage nach dem Verhältnis des Wortes Gottes zur humanen Subjektivität lediglich im Kontext der Anleitung und Gestaltung homiletischer Praxis zu verhandeln. Sie ist vielmehr von prinzipieller Relevanz, insofern sich an ihr die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Theologie überhaupt entscheidet.160 Bereits der Sachverhalt, dass sich die Kritik an Iwands Homiletik an der Frage ihres Wirklichkeitsbezuges entzündet, macht es notwendig, die Untersuchung über den homiletischen Horizont im engeren Sinne auf dessen anthropologische Voraussetzungen auszuweiten. Darüber hinaus legt sich die Erörterung der Bedeutung der Glaubenssubjektivität bei Iwand in systematischem Horizont nahe, weil er sich in seiner theologischen Entwicklung seinerseits auf einem längeren akademischen Weg der homiletischen Praxis annäherte. Hat er seine Anschauungen zur Zentralität des Wortes Gottes über seiner Arbeit an systematisch-theologischen Problemstellungen entwickelt, so war für ihn die Frage, wie sich jener Anspruch unter den Bedingungen moderner Welt- und Selbstdeutung darstellt, von Anfang an von zentraler Relevanz. Nicht erst seine Predigtarbeit, sondern bereits seine religionsphilosophische Dissertation von 1924 zeugt von der Suche nach theologischen Alternativen zur Fundierung religiöser Gewissheit und theologischen Wissens im Subjekt, wie er sie in seinem Studium moderner Subjektivitätsphilosophien und den ihnen korrespondierenden Bewusstseinstheologien kennen gelernt hatte.161 Dass er seine Überzeugung von der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes in Gestalt einer kritischen Anthropologie 160 Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 19. 161 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Hans Joachim Iwand, 389.
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auf das Subjekt in seiner neuzeitlichen Selbstauslegung zurück bezog, ist dabei von zentraler Bedeutung für die Bestimmung des Verhältnisses von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit. Von daher sind die beiden formulierten Leitfragen um eine dritte zu ergänzen, die ihnen sachlich zu Grunde liegt: 3) Wie wirkt sich die Erwartung der Neukonstitution von Wirklichkeit durch das Wort Gottes auf die durch die Selbst- und Weltauslegung des modernen Menschen geprägte Wirklichkeitssicht aus? Den drei Leitfragen soll auf der Makrostrukturebene unserer Arbeit in der Weise nachgegangen werden, dass wir in ihrem ersten Teil den systematischen Hintergrund von Iwands Homiletik ausleuchten. Die Verhältnisbestimmung zwischen Gotteswirklichkeit und humaner Subjektivität soll hier von den Anfängen seines theologischen Denkens her angegangen werden, um seine späteren Äußerungen zu diesem Thema in den bereits in der Dissertation aufgerissenen Problemhorizont einzuordnen. Es geht uns darum, die theologische Anthropologie, auf der seine Homiletik basiert, in ihren Grundzügen nachzuzeichnen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Iwands Homiletik, soweit sie als Predigtlehre Regeln zur Vorbereitung und Gestaltung der Predigt formuliert. Gegenstand der Untersuchung ist Iwands Homiletik-Vorlesung aus seiner Zeit als Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Ostpreußen. Im Unterschied zu seinen Predigtmeditationen, in denen er jeweils nur einzelne Predigttexte exemplarisch auslegt, entfaltet er in dieser Vorlesung seine Homiletik zusammenhängend, ausgehend von deren prinzipiell-theologischem Teil über die materiale Homiletik bis hin zu explizit methodischen Anweisungen. Als Gewinn ihrer gründlichen Aufarbeitung ist zu erwarten, dass die „unverwechselbare homiletische Stimme Iwands in der Polarität zwischen theologisch-prinzipieller Homiletik und pragmatisch orientierter empirischer Homiletik zu Gehör“ kommt.162 Sodann steht die Darstellung und Interpretation der Vorlesung in einem engen Zusammenhang mit den Predigtanalysen im dritten Teil unserer Studie, insofern diese thematisch an den bereits in der Vorlesung gewonnenen Gesichtspunkten zur Predigtgestaltung orientiert sind. Der dritte Teil der Untersuchung, der nach Umfang und Gehalt deren Schwerpunkt bildet, widmet sich der Analyse von Iwands eigenen Predigten. Zur Anwendung kommen soll hier jenes analytische Inventar, das der Homiletik durch die jüngere Predigtforschung zugewachsen ist. In diesem Teil geht es im eigentlichen Sinne darum, einen durch gegenwärtige Reflexionsperspektiven vertieften Einblick zu gewinnen, wie die systematischen und homiletischen Erörterungen predigtpraktisch umgesetzt werden. Es soll untersucht werden, welcher spezifisch rhetorischen Darstellungsmittel er sich bei der Gestaltung seines Predigtvollzuges bedient. Die leitende Frage lautet: 162 Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 187.
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Wie verhält sich Iwands Predigt zu seinem dogmatischen Programm und den homiletischen Folgerungen, die er daraus für die Predigtlehre gezogen hat? Ziel dieser Analysen ist es, zu zeigen, dass Iwands Homiletik in seiner eigenen Predigt-praxis eine genuine Umsetzung findet. Um mit einem Diktum Engemanns zu reden: es geht uns darum mittels der Predigtanalyse Iwands „homiletischen Idiolekt[.]“ zu erheben.163 Am Schluss dieser Studie soll noch einmal überlegt werden, wie die von seinen theologisch-anthropologischen Grundlagen her entwickelte Predigttheorie und -praxis die Bestimmung der Predigtaufgabe und die rhetorische Gestaltung der Predigt prägt. Dabei unternehmen wir zugleich einen Ausblick auf seine Relevanz für die homiletische Gegenwart.
163 Engemann, Wilfried, Einführung, 321.
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. Kapitel
Die theologische Anthropologie Hans Joachim Iwands im Spannungsfeld von Wort Gottes und Subjektivität . Ausgangspunkt .. Iwands Stellung im Horizont einer Neuorientierung der Theologie am Beginn des . Jahrhunderts In die Rekonstruktion des systematisch-theologischen Hintergrundes von Iwands Homiletik steigen wir ein, indem wir seinen Standort in seinem theologiegeschichtlichen Kontext näher bestimmen. Für ihn ist eine Modifi kation des Problembewusstseins in der Evangelischen Theologie am Beginn des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Sie zeichnet sich durch die Wendung von anthropologischen Fragestellungen hin zur Neuorientierung an der göttlichen Offenbarung aus. Anstatt vom religiösen Selbstverständnis des Menschen auszugehen, wird die Unabhängigkeit der Gottheit Gottes von jeglicher menschlicher Selbstauslegung konstatiert und ihre Offenbarung als deren Krisis beschworen.1 ... Die Off enbarung Gottes als zentrales Thema der Theologie Iwand selber legt über die Neupositionierung in einer nach fünf Jahrzehnten eingenommenen Retrospektive Rechenschaft ab und bestimmt die Veröffentlichung von Luthers Römerbriefvorlesung durch Johannes Ficker im Jahre 1908 als einschneidendes Datum.2 Diese Gewichtung ist aussagekräftig dafür, wie er die Neuorientierung verstanden wissen will. Es geht ihm darum, hinter die Aufk lärungszeit auf Luther und dessen Theologie zurückzugreifen. Bildete am Leitfaden neuzeitlicher Denkvoraussetzungen das Selbstverständnis des Menschen den Ausgangspunkt theologischer Reflexion, so ist Iwand über dem Studium von Luthers Römerbriefvorlesung die Formulierung: „Per suum extraire efficit nostrum introire in nos“ zum Erkenntnisprinzip seiner eigenen Theologie geworden.3 Sie wird von ihm dermaßen interpretiert, dass der Glaube auf Gottes souveräne Selbstdarstellung im Menschen bezogen ist und letz1 Vgl. Barth, Karl, Biblische Fragen, 59f. 2 Vgl. GA I, 226f. 3 NW VI, 68 (= Brief an Rudolf Hermann vom 13.01.1924).
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terer erst kraft des göttlichen Offenbarungshandelns zur wahren Erkenntnis seiner selbst gelangt.4 Für die Theologie folgt daraus eine Umkehrung der in den Humanwissenschaften leitenden Prinzipien, insofern ihre Reflexion sich an Gottes Offenbarung in Jesus Christus gewinnt und ihre Bestimmungen über den Menschen von daher ableitet.5 Dabei geht Iwand so weit, dass er dem aktiven Glaubensvollzug für das Zustandekommen der Gottesbeziehung keine selbständige Bedeutung beimisst, sondern ihn primär als Gottes Handeln am Menschen bestimmt.6 In einer von ihm als Professor der Systematischen Theologie gehaltenen Vorlesung über das Verhältnis von Glauben und Wissen beschreibt Iwand die Divergenz zur vorangehenden Theologengeneration dermaßen,7 dass er gegenüber der Frage nach den subjektiven Bedingungen von Glaubenserfahrung die Bezogenheit derselben auf ihren Gegenstand wieder in den Vordergrund stellt.8 Er kritisiert ein methodisches Vorgehen, das bei der autonomen Welt- und Selbstauslegung des Menschen ansetzt und die Gottesbeziehung nach Maßgabe der darin leitenden Bestimmungen entfaltet. Unter diesen Bedingungen kann Gott nicht mehr als handelndes Gegenüber, sondern nur noch als religiöse Idee in den Blick kommen, die dem autonomen Bewusstsein eine Legitimationsgrundlage verschafft .9 Weiß in diesem Sinne etwa Schleiermacher über Gott lediglich zu sagen, dass er das im religiösen Bewusstsein „mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“ ist,10 so sieht Iwand darin einen „Agnostizismus“ walten,11 bei dem der Glaubensgegenstand gänzlich unterbestimmt bleibt. Weil die Intentionalität des Glaubens auf den sich dem Menschen als Gegenüber offenbarend und wirkmächtig imponierenden Gott außer Betracht bleibt, wird das „Verhältnis zu sich selbst und […] zur Welt und das Verhältnis seines [des Menschen, Anm. d. Verf.] Selbstverständnisses zu seinem Weltverständnis [zum] […] eigentlichen Gegenstand der theologischen Fragestellung“.12 4 Vgl. Lempp, Eberhard/Thaidigsmann, Edgar, Gottes Gerechtigkeit, 48f. 5 In diesem Sinne formuliert Iwand in dem auf jenen Paradigmenwechsel zurückblickenden Vortrag: „Hier führt keine Brücke von draußen, aus der Geschichte oder aus der Natur, aus der besonderen geschichtlichen Situation oder was es auch sonst sei, in das Innere hinein. Es gibt kein Aufsteigen zu Gott, es sei denn, er wäre zuvor zu uns herabgestiegen. Seine Offenbarung ist zugleich seine Epiphanie mitten unter uns, aber in alledem doch sein Er-Selber-Sein. Gott als der Vater Jesu ist nicht das Geheimnis hinter den Dingen, das X dort oben, sondern er ist mitten unter uns. Die ganze religiöse Hinterwelt fällt – weil Gott in Jesus Christus mitten unter die Menschen, mitten vor unsere Augen getreten ist. Es gibt nur diese revelatio specialis, aber sie ist faktisch die revelatio generalis, denn sie gilt aller Welt und allen Menschen“; GA I, 233. 6 Im Anschluss an Luthers Gleichsetzung von der Rechtfertigung des Sünders mit dessen Gerechtmachung durch Gott nach Röm 1,17 gelangt Iwand zu der Formulierung: „Glauben ist nun kein Akt mehr, sondern ein Gestaltgewinnen Gottes in uns – jegliche Vorstellung, auf die sich noch der Glaubensakt, um ein Akt zu sein, beziehen könnte, fällt bei der Coincidenz von Gottes und unserem Sein dahin. Gott half Luther aus dem Gedanken ins Leben“; NW VI, 129 (= Brief an Rudolf Hermann vom 16. 10. 1926). Vgl. Wittekind, Folkart, Das Erleben, 38. 7 Vgl. NW I, 27–216. 8 Vgl. ebd., 40. 9 Vgl. ebd., 36. 10 Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube, 28. 11 NW I, 36. 12 Ebd., 41.
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Der Glaube droht zu einem „Produkt der Reflexion […] über sich selbst“ zu werden.13 Demgegenüber fordert Iwand eine theologische „Sachlichkeit“ ein, die ihre Aussagen in Relation auf die sich von sich her zu erkennen gebende Gotteswirklichkeit entfaltet.14 S.E. wird die Selbstauslegung des Menschen dabei mit einem Anspruch konfrontiert, der sich ihr von außen aufdrängt und den anzuerkennen für sie eine Zumutung darstellt. Um die Unausdenkbarkeit dieses Vorganges zum Ausdruck zu bringen, greift Iwand auf die reformatorische Formel des „extra nos“ zurück.15 Die angemessene Form, in der theologische Aussagen über das Gottesverhältnis zu tätigen sind, ist das Bekenntnis.16 Die derart prononcierten Bestimmungen zum Primat der göttlichen Offenbarung gegenüber der subjektiven Erfahrung bilden ein Grundmotiv in Iwands systematischem Ansatz. Im Rahmen unserer Studie konzentrieren wir uns auf die Frage, ob und inwiefern Iwand von diesen Voraussetzungen her einen Beitrag zur Profi lierung der Glaubenssubjektivität zu leisten vermag. Führt die starke Betonung der theozentrischen Perspektive zu einer Vernachlässigung oder gar Ausschaltung des individuellen Subjekts aus der theologischen Bestimmung von Offenbarung?17 Oder sind seine negativen Bestimmungen zur Selbsttätigkeit des Glaubens als Momente seiner Neukonstitution unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium zu verstehen und dementsprechend einer subjektivitätsorientierten Sichtweise integrierbar?18 Anders formuliert: Läuft Iwands Forderung hinsichtlich der Konstitution des Glaubens „von uns abzusehen“19 auf eine formale Trennung von theologischem Prinzip und empirischer Erfahrung hinaus, oder ist sie ihrerseits als Ausdruck eines neuen, handlungsorientierenden Selbstverständnisses zu verstehen? An der Beantwortung dieser Frage entscheidet es sich, ob sein systematischer Ansatz einen Beitrag zur Erhellung des homiletischen Aktes zu leisten vermag. ... Die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Wirklichkeit Zur Klärung der Frage, inwiefern Iwands Verständnis von Offenbarung kritischer Bestimmungsgrund eines neuen Selbstverständnisses werden kann, ist es notwendig, einen weiteren Grundzug seiner Theologie in den Blick zu 13 Ebd., 49. 14 Vgl. ebd., 33: „Dies ist das Schwerste, was der Verstand zu vollziehen hat: sich selbst loslassen und das Erkannte ‚selbstlos‘ freigeben, so daß es von sich selber her zu wirken in der Lage ist.“ 15 Vgl. ebd., 301: „Um zum Glauben zu kommen, müssen wir lernen, von uns abzusehen, anders und radikaler von uns abzusehen als wir es sonst bei irgendeiner gegenständlichen Erkenntnis tun. Das Außen, um das es sich bei der Glaubenserkenntnis handelt, ist nicht das Außen von Welt, sondern es ist das Außen Gottes, es ist diese seine Unerreichbarkeit, seine gänzlich uns und unserem Begreifen entzogene Verborgenheit und Überlegenheit. Es ist jener Bereich, der es allererst möglich macht, daß Offenbarung das Unerwartete, Undenkbare, Unableitbare wird. Die Möglichkeit also dessen, daß wir glauben, als Glaubende leben, Glaubende sind, diese Möglichkeit liegt nicht in uns, […] sondern sie liegt schlechthin ‚außer uns‘, extra nos!“ 16 Vgl. ebd., 30. 17 Vgl. dazu die im Kapitel 1.1.2.1 dargestellte Kritik an seinem Ansatz. 18 Vgl. dazu die im Kapitel 1.1.2.3 angedeuteten Wege zu einer produktiven Neuerschließung seines Erbes. 19 Vgl. NW I, 301.
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nehmen. Er hängt damit zusammen, dass Iwand seit den Anfängen seines Denkens darum bemüht ist, eine anthropologische Alternative zu den im 19. Jahrhundert vorherrschenden philosophisch-theologischen Anschauungen zu entwickeln. Dabei entzündet sich seine Kritik an der überkommenen Fundierung der Theologie nicht an der Anthropologie als solcher, sondern vielmehr an einer bestimmten darin waltenden Engführung in der Wahrnehmung menschlicher Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung mit den Fragen nach einer anthropologischen Grundlegung stellt ein eigens zu würdigendes Motiv von Iwands Theologie dar, das sein gesamtes theologisches Denken begleitet. In diesem Zusammenhang tritt er immer wieder in das Gespräch mit im 19. Jahrhundert wirkmächtigen Gestalten wie Kant und Schleiermacher ein, und begegnet ihnen sowohl in positiver Aneignung als auch in kritischer Abgrenzung.20 Namentlich zielt seine Kritik darauf, dass in der Evangelischen Theologie seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Selbstreflexivität in einer Weise als elementare Struktur menschlicher Existenz veranschlagt wurde, die ihre Bestimmung durch einen sie ihrerseits umfassenden Wirklichkeitsbezug nicht mehr in den Blick kommen ließ. Folge davon ist eine für die Qualifikation des religiösen Erlebens unzureichende Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Wirklichkeit. Erschien das Autonomiebewusstsein als der geeignete Anknüpfungspunkt für die Entfaltung einer Transzendenzbeziehung des Menschen, so konnte die ihn darüber hinaus bestimmende Wirklichkeit nur noch als potentiell beherrschbares Objekt wahrgenommen werden. Iwand stellt diese Problemanzeige in den großen Zusammenhang der modernen Philosophie und führt sie auf den Rationalismus Descartes’ zurück. In diesem Sinne formuliert er in einer 1953/54 in Bonn gehaltenen Vorlesung: „Unser Außer-der-Welt-Sein […] ist ein abstraktes Sein, das sich auf das bloße ‚Ich denke‘ (cogito) gründet. Wir müssen die Einheit von Leib und Seele leugnen, müssen aufhören, um den Tod zu wissen, den Leib als unsere Bestimmung zu tragen, wenn wir uns ‚aus der Welt‘ heraus begeben wollen. Wir sind eben nicht von Natur unwelthaft.“21
Iwands Kritik an dieser Bestimmung des Selbstverhältnisses ist getragen von der Suche nach einer Erschließung von menschlichem Bewusstsein für Wirklichkeit, in welcher letzteres im Widerspruch zu seinem Autonomiestreben vor sich kommt und sich als erleidendes und empfangendes erfährt. Er will die Vorstellung vom sich im Verhältnis zur Welt allein mit sich selbst identisch wissenden Subjekt ablösen zugunsten einer solchen, welche die den religiösen Wirklichkeitsbezug bestimmenden Momente des unvermittelten Widerfahrnisses, der Entdeckung und des Ergriffen-Werdens von Affekten zu integrieren vermag.22 Die anthropologische Seite seiner theologischen Arbeit ist 20 Vgl. dazu unsere Darstellung von Iwands Kant- und Schleiermacherrezeption in diesem Kapitel. 21 NW N. F. II, 101. Vgl. dazu Descartes, René, Meditationes de prima philosophia. 22 In einer 1957 gehaltenen Vorlesung greift Iwand diese Bestimmungen wieder auf und wendet sie gegen die bewusstseinstheoretische Religionstheorie des reifen Schleiermachers. Er kritisiert, dass
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dadurch geprägt, dass er die für die göttliche Offenbarung geltend gemachte Unausdenkbarkeit und Unableitbarkeit als Strukturmomente von Erfahrung überhaupt aufzuweisen sucht. In diesem Sinne stellt er bereits in seiner Dissertation den Begriff des „Erlebnisses“ ins Zentrum und bezieht ihn kritisch auf das rationale Wirklichkeitsbewusstsein.23 Für unseren eigenen Zugang zu Iwands Theologieansatz ist dieser Sachverhalt von entscheidender Bedeutung. Wir erhoffen von daher einen vertieften Aufschluss darüber zu gewinnen, wie göttliche Offenbarung und subjektive Konstitutionsbedingungen von Erfahrung bei ihm aufeinander bezogen sind, und welche Konsequenzen sich daraus für die Qualifi kation der Selbsttätigkeit des Glaubens ergeben. ... Vorgehen Iwands in seiner Dissertation vorgenommene Bestimmungen zum erlebenden Wirklichkeitsbezug wählen wir im Folgenden als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion seiner Anthropologie. Wir rechnen damit, dass wir innerhalb dieses Reflexionshorizontes differenziertere Bestimmungen des Verhältnisses von neuzeitlicher, subjektivitätsbezogener Anthropologie und Offenbarung antreffen, als die bloße Gegenüberstellung von Gotteswirklichkeit und menschlicher Erfahrung es suggeriert. Ziel unserer Darstellung ist es herauszuarbeiten, wie die theologische Bestimmung von Offenbarung am Ort der subjektiven Selbstauslegung zur Geltung kommt und zu deren kritischem Bestimmungsgrund wird. Wir gehen dabei so vor, dass wir unserer Darstellung die bisher unveröffentlichte Dissertation Iwands zu Grunde legen und an ihr (2.2) untersuchen, wie er sein Verständnis von Subjektivität in Relation auf deren allgemeine Konstitutionsbedingungen und in kritischer Auseinandersetzung mit überkommenen anthropologischen Ansätzen entwickelt. In einem zweiten Schritt (2.3.) soll gefragt werden, wie diese erfahrungstheoretische Grundlegung mit dem offenbarungstheologischen Aussagezusammenhang vermittelt ist, bzw. „Schleiermacher […] in seiner Psychologie nur zu solchen Empfi ndungen und Erregungen vorstoßen [kann], die ich als geistiges Wesen beherrsche oder wenigstens ‚potentiell‘ beherrschen kann. Aber er vermag von seinem Ansatzpunkte aus nicht jene ‚Affekte‘ aufzudecken, die ‚mich‘ beherrschen. Noch vermag er den Grund einsichtig zu machen, warum es diese Affekte gibt, die den Menschen als solchen in ihrer Macht haben bzw. in ihre Macht bringen“; Dogmatik I, 15. Stunde, 4. Iwand beruft sich in seiner Kritik auf eine phänomenologisch orientierte Anthropologie im Gefolge Heideggers, von der aus „eine neue Interpretation des Daseins“ eingesetzt habe, ebd. Im Unterschied zur Vorstellung von einer geistigen Autonomie werden die sein „In-der-Welt-Sein“ bestimmenden Momente hier als zu seinem Wesen gehörig begriffen. 23 Folkart Wittekind hat jüngst einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er Iwands religionsphilosophische Erörterungen zum Begriff des Erlebens analysiert; ders., Das Erleben, 20–42. Er zeichnet die Entwicklung von Iwands Gedanken über dessen Lehrer Carl Stange und Rudolf Hermann nach. In diesem Zusammenhang zeigt er an, dass Iwand seine Überlegungen „nicht etwa einfach als Fußpunkt theologischer Arbeit behauptet“, sondern sie in strenger Bezogenheit auf die neuzeitliche Philosophie entfaltet; vg. ebd., 31. Hinsichtlich der philosophischen Atmosphäre, in der sie zu stehen kommen, konstatiert er: „Mit dem Wandel von Stange zu Hermann wird die zeitgenössische Entwicklung des Neukantianismus über die Kritik an der ‚formalen‘ bedingungs-, wert- und gültigkeitsanalytischen Philosophie hin zu einer am Leben, an der Geschichte und an einem gesteigerten Wirklichkeitsbedürfnis orientierten ‚phänomenalen‘ Philosophie nachgezeichnet“; ebd., 29.
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wie und wodurch die Offenbarung die subjektive Selbstauslegung bestimmt und sich ihrer noch einmal anders ansichtig werden lässt, als dies in der reflexiven Selbstauslegung geschieht. Dabei weiten wir unsere Perspektive über den Horizont der Dissertation aus und ziehen Texte aus Iwands späterem Werdegang zur Interpretation heran. Unserem Vorgehen liegen folgende Erwartungen zu Grunde: – Wir gehen davon aus, dass die in der Dissertation gefällten systematischen Entscheidungen Basis für die weitere Entwicklung seines theologischen Denkens sind und sich in der angezeigten Weise durchhalten. Wechselseitige Verweise zwischen dem Erstlingswerk und Texten, die er in den fünfziger Jahren als Professor für dogmatische Theologie verfasst hat, sollen dies erhärten. – Sodann erwarten wir (a) anhand der Dissertation zeigen zu können, dass er unter Leitung des Erlebnisbegriffes einen eigenständigen Zugang zur menschlichen Erfahrung sowie einer auf ihr fußenden religionsphilosophischen Betrachtungsweise entwickelt. Letztere ist (b) dazu geeignet, einen Referenzrahmen für die theologischen Bestimmungen abzugeben, die sich durchgängig daraufhin respezifizieren lassen. Wir erwarten, dass Iwands Theologie sich durchaus als eine Theorie religiöser Erfahrung entschlüsseln lässt. – Nebeneffekt dieses Vorgehens ist, dass es auf diese Weise gelingt, die Entwicklung seines Ansatzes in den philosophie- und geistesgeschichtlichen Kontext der Moderne einzustellen.24 – Schließlich ist unsere Intention, den erfahrungstheoretischen von einem genuin theologischen Erörterungszusammenhang abzuheben, durch unseren praktisch-theologischen Zugang motiviert. Ist doch insbesondere von Seiten der Praktischen Theologie (1.) im Horizont ihrer Wendung zur Erfahrungswelt die Bedeutung von Subjektivität als Bezugspunkt kirchlicher und pastoraler Praxis enorm aufgewertet und (2.) unter diesem Aspekt der Ansatz Iwands wiederholt unter das Verdikt gestellt worden, dass in ihm „die ‚wirkliche‘ Wirklichkeit faktisch ausgeblendet“ werde.25
. Iwands Entwicklung seiner eigenen religionsphilosophischen Basis in der Auseinandersetzung mit Karl Heim Zur Klärung der anthropologischen Voraussetzungen von Iwands Theologie eignet sich u.E. keine seiner Schriften besser, als die 1924 von ihm unter dem Titel „Zur methodischen Verwendung von Antinomien in der Religionsphilosophie“ an der Universität Königsberg eingereichte Disserta24 Vgl. Wittekind, Folkart, Das Erleben, 42. 25 Weyel, Birgit, Ostern, 100. Vgl. dazu unsere Einleitung, 1.1.2.1.
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tion.26 Theologiegeschichtlich fällt dieses Erstlingswerk in eine Phase, in der die Neuorientierung am Wort Gottes und der Offenbarung an den Universitäten wirksam geworden ist. Inhaltlich setzt er sich in ihr mit dem Versuch des durch den schwäbischen Pietismus geprägten Tübinger Systematikers Karl Heim auseinander, die Gewissheit des christlichen Glaubens in der persönlichen Erfahrung des Glaubenden zu fundieren. Wie an keiner anderen Stelle arbeitet sich Iwand dabei an den durch das 19. Jahrhundert vorgegebenen anthropologischen Fragestellungen ab und konfrontiert sie mit einer neuen Sicht der theologischen Aufgabe. Der Grund dafür besteht darin, dass Heims Erörterung des Gewissheitsproblems geprägt ist von erkenntnistheoretischen und praktischen Fragestellungen des Neukantianismus, die er einer theologischen Lösung zuzuführen beansprucht. Sein Interesse ist ein explizit apologetisches, insofern er die theologischen Aussagen am Realisierungszusammenhang von gelebter Sittlichkeit, Individualität und Persönlichkeit zu bewähren sucht. Heim geht davon aus, dass die vom subjektiven Bewusstsein begehrte unbedingte Gewissheit seiner selbst lediglich durch ein personales Gottesverhältnis verbürgt werden kann. Letzteres fungiert bei ihm als Grund und Grenze humaner Selbstauslegung und ist als solches einzig dazu geeignet, den einheitlichen Konstitutionszusammenhang von Wirklichkeit in ihrer natur- und geisteswissenschaftlichen Wahrnehmung vor einem Abgleiten in den Relativismus zu bewahren. Für Iwand hat die Auseinandersetzung mit Heim exemplarischen Charakter, insofern er ihn einem bestimmten neuprotestantischen Persönlichkeitsmodell verpflichtet sieht, nach dem die unhintergehbare Gewissheit personaler Identität im Verhältnis zu allen immer nur kontingenten Außenweltbezügen als konstitutiver Bezugspunkt philosophisch-theologischer Reflexion zu gelten hat. Das Bestreben zur positiven Vermittlung dieses Persönlichkeitsideals mit der theologischen Rede von Gott verbindet ihn mit anderen Theologen der kulturprotestantischen Ära, wie etwa Wilhelm Hermann und Albrecht Ritschl. Der Problematisierung dieses Modells unter theologischen und erfahrungstheoretischen Gesichtspunkten gilt die Argumentation Iwands in seiner Dissertation. Wir werden nun folgendermaßen vorgehen: – Zunächst (2.2.1) stellen wir Heims Begründung der Glaubensgewissheit in ihren Grundzügen dar. Dabei legen wir unsererseits den Schwerpunkt darauf, die für neuprotestantische Persönlichkeitstheologien typischen Züge dieses Ansatzes hervorzuheben und theoriegeschichtlich einzuordnen. – Sodann (2.2.2) gegeben wir einen kurzen Überblick zu Iwands Dissertation und den Charakter ihrer Gedankenführung. – Als Ansatzpunkt seiner Kritik an Heim arbeiten wir (2.2.3) heraus, wie sich auf Grund seiner eigenen, in Bezogenheit auf die Transzendentalphilosophie entwickelten Sichtweise das Erkenntnisproblem darstellt. 26 In unserer Darstellung beziehen wir uns auf das unveröffentlichte und im Hans Joachim Iwand Archiv in Koblenz eingelagerte Exemplar der Dissertation. Auf Letzteres beziehen sich auch die von uns im Haupttext in Klammern angegebenen Seitenzahlen.
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– Hinsichtlich der Entfaltung von Iwands eigenen religionsphilosophischen Erörterungen (2.2.4) ist entscheidend, dass er die innerhalb der transzendentalen Erkenntnistheorie getroffenen Bestimmungen über den Menschen für insuffizient hält, um die religiöse Erfahrung ihrem Wesen nach angemessen zu erfassen. Unter dem Begriff des Erlebens macht er einen von ersterer unterschiedenen Zugang zur Wirklichkeit geltend und bezieht diesen dialektisch auf das transzendentale Bewusstsein zurück. Dass er anhand dieser Verhältnisbestimmung die anthropologische Basis für die Entfaltung seines theologischen Ansatzes entwickelt, ist als der eigentliche Gewinn der Argumentationslage seiner Dissertation anzusehen. Dementsprechend kulminiert unsere Rekonstruktion im ersten Teil dieses Kapitels (2.2) in der Darstellung derselben, bevor wir im zweiten Teil (2.3) untersuchen, wie die qualifiziert theologische Bewertung des Verhältnisses von Subjektivität und Gotteswirklichkeit darauf bezogen ist. .. Die Begründung der Glaubensgewissheit bei Karl Heim ... Die Suche nach Selbstgewissheit als Ausgangspunkt von Heims apologetischer Methode Als leitendes Interesse der Erörterung des zunächst ganz allgemein gefassten Gewissheitsproblems bei Karl Heim lässt sich die Sicherstellung unbedingter personaler Identität bestimmen. Er entfaltet es in Auseinandersetzung mit einer naturwissenschaftlichen Weltsicht, der die Formulierung absoluter Gewissheitsansprüche grundsätzlich fraglich geworden ist. Dazu greift er auf ein Erkenntnismodell zurück, das die unhintergehbare epistemische Selbstgewissheit im Verhältnis zu allen immer nur kontingenten Außenweltbezügen zum Ausgangspunkt philosophischer Reflexion macht. In diesem Sinne zeigt er in der dritten Auflage seiner „Glaubensgewißheit“27 von 1923 das Problem an, dass die der empirisch-rationalen Weltanschauung zu Grunde liegende Erkenntnistheorie „alles auf die eine Fläche der gegenständlichen Erfahrung projiziert“,28 die Frage nach der Möglichkeit von Selbstgewissheit angesichts der Kontingenz aller empirischen Erfahrung aber offen lässt. Die Infragestellung der Zentralität menschlichen Mittelpunktsdaseins durch die wissenschaftliche Welterkenntnis löst bei ihm die Frage nach dem „Warum und Wozu meiner jetzigen Lebenslage“29 aus. Soll nicht der gesamte Wissenschaftskosmos samt des durch ihn verunsicherten Menschen in ein grundloses Gleiten ohne Anfang und Ende geraten, so muss der „ewige Sinn meiner jetzigen Lage“30 von anderswo her evident werden. An dieser Stelle setzt für ihn die Thematik der Religion ein. Sein apologetisches Interesse ist es, den Skeptiker gerade dadurch für sie zu gewinnen, dass 27 28 29 30
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Heim, Karl, Glaubensgewißheit. Ebd., 80. Heim, Karl, Leitfaden, 4. Ebd.
er das „Wirklichkeitsproblem“ in denkbar allgemeinster Form erörtert und deren Lösungsangebote darauf bezieht. In diesem Sinne erhofft er vom religiösen Erlebnis eine Neufundierung der fraglich gewordenen Selbstgewissheit. Als dessen Charakteristikum wird ein Durchblick durch das Ganze der Wirklichkeit angesichts einer kontingenten Erfahrung bestimmt. Das Ich soll im „Hier und Jetzt“31 seines Erlebens des „allgegenwärtige[n] Urgrund[es] des Erfahrungsganzen“32 innewerden. Die in der Religion getätigten Glaubensaussagen bestimmt er zunächst rein formal als Urteile, in denen die beiden Momente der Universalität und Tatsächlichkeit erfüllt sind.33 Im Verhältnis zu allen anderen menschlichen Urteilen sollen sie ein „absolute[s] Gewißheitsmaximum“34 gewähren. Dabei ist Heim sich dessen bewusst, dass dieser Anspruch von den Vergewisserungsmöglichkeiten her, welche die gegenständliche Erkenntnis bereithält, unlösbare Schwierigkeiten bereitet. Er lässt sich nur durchhalten, wenn die religiöse Selbstgewissheit als der Sphäre des Gegenstandsbewusstseins entzogen gedacht wird: „Solange die gegenständliche Auffassung des Ich Recht behält, ist Glaubensgewißheit undenkbar. Ein zeitlich und lokal begrenztes Ichbewußtsein kann niemals Gewißheit erlangen über Dinge, die über seinen Horizont gehen.“35
Dem Problem der Nachweisbarkeit eines nichtgegenständlichen Ichs sucht er dadurch beizukommen, dass er die Beweislast gewissermaßen umkehrt und konstatiert, dass ohne die Voraussetzung absoluter und unmittelbarer Selbstgewissheit empirische Erfahrung gar nicht als möglich gedacht werden könne. Diese Überlegung bildet den Kern seiner apologetischen Methode und wird durchgeführt anhand des Aufweises von vermeintlich in jeder gegenständlichen Erfahrung auftretenden Antinomien. Die eigentümliche Argumentationsfigur, die Heim dazu bemüht, nennt er das „Und-Oder-Verhältnis“,36 womit ein Widerstreit zwischen konjunktiver und disjunktiver Funktion des Erkennens bezeichnet wird. Seine elementarste Form analysiert er am Zustandekommen einer Zeitstrecke aus verschiedenen Zeitpunkten,37 um es sodann als Grundform gegenständlicher Erfahrung auch für den Raum und die Tiefendimension zu reklamieren. Ihre Beweiskraft gewinnt seine Argumentation dadurch, dass sie das Verhältnis von Synthesis 31 Heim, Karl, Glaubensgewißheit, 236. 32 Ebd., 242. 33 Vgl. Heim, Karl, Glaubensgewißheit, 32: „Alle Glaubensaussagen, von der einfachsten Überzeugung […] bis zum vollendetsten Dogmensystem […] stimmen in zwei wesentlichen Eigentümlichkeiten überein. 1. Sie […] wagen Aussagen über das Ganze der Welt, über das, was immer und überall und für alle Wirklichkeit ist. 2. Sie beschränken sich aber bei ihren Aussagen nicht auf hypothetische Sätze. Sie reden von einem wirklichen Tatbestand.“ 34 Ebd., 14. 35 Ebd., 272. 36 Vgl. ebd., 89, 93, 95, u. ö. 37 Vgl. ebd., 88:„Obwohl [Zeitpunkt] a und b voneinander geschieden sind, werden sie doch durch ein geheimnisvolles Band zusammengehalten. Sie stehen nicht bloß in einem disjunktiven, sondern zugleich in einem konjunktiven Verhältnis zueinander. […] Wenn also eine Zeitstrecke erlebt wird, so muß neben der sukzessiven Aufeinanderfolge noch ein Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen den Elementen des zeitlichen Ereignisses bestehen.“
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und Mannigfaltigkeit wiederum unter rein formalen Gesichtspunkten in den Blick nimmt und fordert, dass für das Zustandekommen von Erfahrung ein zureichender Grund gegeben sein müsse.38 Diese Bedingung sieht er dort erfüllt, wo eine oberste Synthesis von einem absolut gesetzten nichtgegenständlichen Subjekt vollzogen wird. M.a.W., erst wo ein sich seiner selbst unbedingt gewisses Ich die relativen Vergewisserungsmöglichkeiten gegenständlicher Erfahrung trägt und als absolutes perspektivisches Zentrum vorausgesetzt wird, kann sich ein Gesamtbild der Wirklichkeit entfalten. Heim deduziert aus der Einsicht in die irreduzible Einheit des Bewusstseins die Notwendigkeit zur Anerkennung absoluter Selbstgewissheit, von der die Tragfähigkeit des wissenschaftlichen Weltbildes abhängen soll. Indem er die Religionsthematik unmittelbar an diese Struktur anknüpft, erweist er sich auf prägnante Weise als Vertreter eines Theologietypus, den Klaus Tanner als „modern“ einstuft und der sich dadurch auszeichnet, dass der Persönlichkeitsgedanke den einheitlichen Konstitutionszusammenhang von Wirklichkeit gewährt.39 Freilich unternimmt er dabei eine Verknüpfung von Problemhorizonten, die unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten fragwürdig ist. Dies gilt vor allem für die Art, in der Heim die Frage nach dem Zusammenhang von Synthesis und Mannigfaltigkeit in der Erkenntnis mit der nach dem Bedürfnis nach Gewissheit verbindet. Zielt erstere im Sinne der Transzendentalphilosophie auf eine ideelle epistemische Instanz, die der Bestimmbarkeit gänzlich entzogen ist,40 so entsteht letztere erst dem streng davon zu unterscheidenden empirischen Ich in seinem Lebensvollzug.41 ... Die Bildung des Gottesgedankens aus der Analogie zur Vorstellung vom nichtgegenständlichen Ich Typisch für einen neuprotestantischen Theologietypus ist Heims Vorgehen auch darin, dass er die in der allgemeinen Erfahrungsanalyse entstehenden Be38 Vgl. ebd., 82: „Die gegenständliche Erfahrungswelt enthält Antinomien, die sich alle auf einen letzten Urwiderspruch [des Und-Oder-Verhältnisses, Anm. d. Verf.] zurückführen lassen. Dieser Widerspruch würde logisch betrachtet das Zustandekommen der Erfahrung unmöglich machen. Daß die Erfahrung trotzdem zustande kommt, beweist […] das Gegebensein eines nichtgegenständlichen Datums, in dem der Urwiderstreit gelöst ist.“ Vgl. ders., Leitfaden, 17: „Wenn wir nicht einen Widerspruch für wahr halten wollen, so können wir die Grundformen der Erfahrung nicht für den reinen Ausdruck des wahren Wesens der Wirklichkeit ansehen. Wir müssen vielmehr glauben: Das wahre Wesen der Wirklichkeit ist von dem Widerstreit frei, den die Erfahrungsformen enthalten.“ 39 Vgl. ders., Von der liberalprotestantischen Persönlichkeit, 99f: „Konservative wie liberale Persönlichkeitstheologien haben einen monistischen Grundzug. Ihrer Struktur nach stimmen sie mit den Hauptströmen der deutschen nachidealistischen Philosophie darin überein, dass es ein Grundprinzip, gleichsam einen universal verwendbaren Generalschlüssel zur Erschließung aller ‚welthaften Wirklichkeit‘ und zur Auslegung aller dogmatischen Gehalte gibt.“ 40 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 344: „Durch dieses Ich […] welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können“. 41 In diesem Sinne hat Dalferth eine wichtige Unterscheidung geltend gemacht: „Subjektivität konstituiert weder Identität noch Individualität […]. Der Versuch Subjektivität als Ich-Identität zu denken, […] verharrt ganz im Horizont der mit dem Subjekt-Objekt-Modell verbundenen Subjekt-PrädikatLogik, die Identität nur als substantielle Unveränderlichkeit dessen zu denken vermag, dem Prädikate zugesprochen werden. […] Subjektivität, individuelle Identität und Individulität sind nicht das immer
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gründungsnöte für eine prinzipielle Vorrangstellung des Subjektes aufnimmt, um sie unter religionsphilosophischen Prämissen einer Lösung zuzuführen. Lässt sich die Souveränität des erkennenden Subjektes gegenüber der als Objekt behandelten Welt immer nur bedingt aufrechterhalten, so wird im Anschluss an diese Legitimationskrise ein religiös gefasster Unbedingtheitsanspruch formuliert, der die subjektivitätszentrierte Wirklichkeitssicht trotz ihrer Insuffizienz durchzuhalten erlaubt. Der Gewinn dieses apologetischen Verfahrens ist ein wechselseitiger: Einerseits gelingt es den holistischen Anspruch eines subjektivitätstheoretischen Erschließungsmodells von Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Andererseits erhält die durch eben jenes Modell in Frage gestellte Religion in der Subjektivität eine neue, universale Legitimationsgrundlage und kann ihre Inhalte in modifizierter Form an ihr zur Geltung bringen. Seinem Grundschema nach lässt sich das Verfahren wie folgt bestimmen: Ausgangspunkt der Problemerörterung ist (1.) der Sachverhalt, dass sich das auf eine Objektsphäre bezogene Selbstbewusstsein in der Reflexion immer zugleich als sich selbst entzogenes und durch ein anderes bestimmtes erfährt. Dieser Sachverhalt wird nun (2.) positiv gewendet und als Transzendenzabhängigkeit des Ich gedeutet. Sodann (3.) wird die Bestimmung der Transzendenz nach jenen Bedingungen gestaltet, die dem Selbstbewusstsein seine souveräne Stellung im Zusammenhang der Welt- und Selbsterfahrung sichern.42 In diesem Sinne gestaltet Heim den Übergang zur Entfaltung des Gottesgedankens im Anschluss an die in der reflexiven Selbsterschließung auftretenden Aporien. Vermag das endliche Ich in seiner Orientierung an der Welterfahrung das Bedürfnis nach unbedingter Selbstgewissheit nicht zu befriedigen, so postuliert er in Entsprechung zu ihm die Idee eines unendlichen Ichs Gottes, aus der es sich empfangen soll. Unter ihrer Bestimmung ergibt sich, dass „die animistische Auffassung des Ich als einer im Menschenleib wie in einem Fetisch wohnenden geistigen Substanz“43 zu überwinden ist zugunsten der Vorstellung von einem universalen Ich, an dem das in einer „Wesensschau“44 aus seinem endlichen Zusammenhang gelöste Ich teilhat. Ohne diese Beziehung näher zu entfalten, gelangt er am Leitfaden seiner Ich-Philosophie zu einem Gottesverständnis, das ganz durch die Züge unmittelbarer Selbstgewissheit, Nichtgegenständlichkeit und absoluter Identität geprägt ist: schon Vorauszusetzende, […]. Vielmehr entwickeln sich sowohl das Ich-Bewusstsein als Zentrierung meiner leiblich vermittelten und über meinen Körper selegierten und gebündelten Welterfahrung als auch das Selbst-Bewusstsein als sozial vermittelte Totalität meiner Zustände, Qualitäten, Erfahrungen und Handlungen erst allmählich im Lebensprozess kausalen Interagierens mit der Umwelt zu identitätsbildender Kontinuität und Stabilität“; ders., Subjektivität, 45.48. 42 Am profi liertesten ist dies in der reifen Gestalt von Schleiermachers Frömmigkeitstheorie geschehen. Ist die Möglichkeit einer rationalen Erschließung des Zusammenhanges von Welt- und Gotteserkenntnis mit der kantischen Kritik der traditionellen Gottesbeweise fraglich geworden, so ist es die apologetische Intention Schleiermachers zu zeigen, dass sich die analoge Bestimmung des Verhältnisses von Selbst- und Gottesbewusstsein auch unter den gewandelten neuzeitlichen Bedingungen durchhalten lässt. Zur Bezugnahme Iwands darauf vgl. Abschnitt 2.2.4.3. 43 Heim, Karl, Glaubensgewissheit., 72. 44 Ebd., 75.
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„Es gibt nur Ein Ich, nur Eine ‚Person‘, und das ist Gott. Alle andern Subjekte oder Bewußtseinswelten können das nur in abgeleiteter Weise werden, nämlich dadurch, daß sie in Gott aufgenommen, von einem Strahl Gottes getroffen werden.“45
Die Lösung der Gewissheitsfrage sieht Heim letztlich in einer Willensentscheidung des endlichen Bewusstseins für seine Gründung im Ich Gottes als dem „unsichtbaren allgegenwärtigen Ermöglichungsgrund, der das Erfahrungsganze trägt“.46 Angesichts der denkerischen Notwendigkeit unbedingte Gewissheit zu erlangen, und des Unvermögens, sie an der gegenständlichen Erfahrung auszuweisen, steht der menschliche Wille vor der Entscheidung „Gott oder [den] Zufall“47 als die Wirklichkeit bestimmende Faktoren anzuerkennen.48 Entscheidet er sich für letzteren, so verfällt sein gesamtes Weltbild dem Relativismus. Entscheidet er sich für ersteren, erlangt er kraft des durch den Geist gewirkten Glaubens Teilhabe am „Selbstbewußtsein Gottes“.49 .. Die Gliederung der Dissertation und der Charakter ihrer Gedankenführung Iwands Dissertation umfasst vier Teile, wobei er sich dem Ansatz Heims in einem Einleitungsteil unter der Überschrift „Heims Tendenz“ (1–14) annähert und die Sicherung des Absolutheitsanspruchs des christlichen Glaubens als dessen Hauptintention bestimmt. Der zweite Teil hat die Untersuchung der „apologetischen Methode“ zum Gegenstand (14–32). Dabei setzt er sich mit der Benutzung von Antinomien zum Erweis der Notwendigkeit von Glaubensaussagen auseinander. Unter dieser Fragestellung wird der Problemhorizont über Heim hinaus erweitert, insofern er einen Vergleich mit ähnlichen apologetischen Systemen durchführt (14–18), und vertieft, insofern er den 45 Ebd., 247 46 Ebd., 244. 47 Ebd. 241. 48 Vgl. ebd., 242: „Es handelt sich um die Frage, ob ich zu diesem Unsichtbaren, das mich trägt, Ja oder Nein sage. Die Frage, die damit gestellt ist, nennen wir die religiöse Frage.“ Vgl. ebd., 246f: „Da sich das Nichtgegenständliche nur dadurch indirekt manifestiert, daß auf allen Gebieten des Daseins immer Ein Element im Gegensatz zu den andern in den nichtgegenständlichen Zustand aufgenommen wird, so kann ich Gottes nur dadurch innewerden, daß ich auf allen Gebieten zugleich das nichtgegenständliche Element in seinem Gegensatz zur Gegenständlichkeit bejahe. Die indirekte Kundgebung oder ‚Offenbarung‘ Gottes besteht also darin, daß auf allen Gebieten Ein Element in die Sphäre Gottes hinaufgehoben wird.“ 49 Ebd., 274. Unter der Leitung dieses Dezisionismus verzichtet Heim allerdings darauf, die für das Glaubensbewußtsein in Anspruch genommenen Vollzugsmomente am Paradigma der autonomen Weltund Selbstauslegung auf ihre Plausibilität hin zu respezifi zieren. In diesem Sinne empfi ndet er es nicht als Problem, dass seine Ableitung nur mittels eines Rekurses auf das als Außeneinwirkung auf das Ich vorgestellte „testimonium Spiritus sancti internum“ zu überzeugen vermag; Heim, Karl, Glaubensgewißheit, 255. An der Argumentationsverknüpfung wird so offensichtlich, dass die Art des Zugriffs auf die Gotteswirklichkeit den Charakter einer Hilfskonstruktion zugunsten der Sicherstellung der problematisch gewordenen Unbedingtheit personaler Identität hat. Die von ihm geltend gemachte Doppelperspektivität zeigt an, dass der Anspruch einer holistischen Wirklichkeitserschließung von einem allgemein als relevant anerkannten Fundament unter der Hand bereits zurückgenommen ist zugunsten der Favorisierung ausschließender Alternativen.
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Umgang Heims mit dem Antinomieproblem im Kontext der philosophischen Tradition seit Kant wahrnimmt. Der dritte Teil (32–52) dient der Untersuchung und Kritik des Glaubensverständnisses, wie es sich am Leitfaden der Fassung des Antinomieproblems bei Heim entfaltet. Schließlich holt Iwand im vierten Teil unter der Überschrift „Das Problem der Antinomie“ (52–66) zu einer Fundamentalkritik der Fragestellung unter Rückgriff auf die Erkenntniskritik Kants und zur Reformulierung derselben unter einer alternativen religionsphilosophisch-theologischen Perspektive aus. Charakteristisch für Iwands Gedankenführung ist, dass Darstellung, Kritik und Entwicklung eigener Überlegungen stark ineinander fließen. So ist bereits der Einleitungsteil mit fundamentalkritischen Äußerungen (vgl. bes. 5–7) und der Andeutung alternativer Lösungen durchsetzt (vgl. bes. 10f). In jedem der weiteren Teile wird die Darstellung immer wieder von seinen eigenen Erörterungen überblendet. Er führt begriffliche Distinktionen, die sich von Kant, der Lebensphilosophie (vgl. 30), Schleiermacher (vgl. ebd.) und Luther (vgl. 44) herleiten lassen, ein, um Heim unter einer der Richtung seines Denkens integrierbaren Perspektive in den Blick zu bekommen. Bezeichnend ist, dass der Kritik an einzelnen Gesichtspunkten Heims der Versuch, das Kritisierte unter umgekehrtem Vorzeichen dem eigenen Wollen zu integrieren, oftmals auf den Fuß folgt (vgl. 12.37.59). Man gewinnt den Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit Heim aus einem großen Abstand erfolgt und über weite Strecken die Folie zur Entfaltung der eigenen anthropologischen Basis ist. Aus diesem Sachverhalt erwächst für die Rekonstruktion die Aufgabe, die einzelnen Interpretationshorizonte deutlicher voneinander abzuheben, als Iwand selber dies tut: – Zum einen entfaltet Iwand seine Erörterungen in Relation auf die von Heim als Grundlage gewählte erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Fassung des Wirklichkeitsproblems. In diesem Zusammenhang bezieht er sich wiederholt auf die Erfahrungsanalyse Kants, um Heims überzogene Ansprüche an die Stellung der Subjektivität im Erkenntnisprozess zurückzuweisen. Seine Kritik beruht auf transzendentalphilosophischen und zugleich transzendental-kritischen – die transzendentale Gedankenführung durch eigene Überlegungen überbietenden – Gesichtspunkten.50 – Dies ist darauf zurückzuführen, dass Iwand die humane Subjektivität auf die durch den Begriff des Erlebnisses qualifizierte Wirklichkeitssicht bezieht. Unter dieser Bestimmung sucht er eine Perspektive zu eröff nen, nach der die Beziehung des Ichs auf die Wirklichkeit sich nicht nach abstrakten Prinzipien gestaltet, sondern als ein dynamisches Ineinander von Aktivität und Passivität, Bemächtigung und Erleiden derselben. Entscheidend ist, dass diese Dynamik in der Beschreibung Iwands beim absoluten Selbstbehauptungswillen des Ich ansetzt und im Durchgang bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten schließlich in einen als Erschütterung jeglicher Selbstgewissheit widerfahrenden „Absolutheitsanspruch der Wirklichkeit an das 50 Vgl. Wittekindt, Folkart, Das Erleben, 31.
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Ich“ umschlägt.51 Letzteres Moment ist der Anknüpfungspunkt für eine religiös qualifizierte Wirklichkeitswahrnehmung. Auf dieser Linie beabsichtigt er, die bei Heim begegnende „apologetische […] in eine religionsphilosophische Betrachtung“ (52) zu überführen. – Schließlich ist Iwand nicht darum bemüht zu verhehlen, dass seine Erörterungen angeregt und inspiriert sind von einem offenbarungstheologischen Hintergrund, in dem die menschliche Wirklichkeit in ihrem Sein coram Deo unter der Bestimmung durch spezifisch christliche Glaubensinhalte zu Gesicht kommt. Unter dieser Perspektive gelangt er zu einer qualifiziert christologischen Neubewertung der auf Grund der religionsphilosophischen Betrachtung gewonnenen Einsichten. .. Die subjektive Erfahrung als Wechsel von Selbst- und Fremdbestimmung und das Antinomieproblem Als Ausgangspunkt für die Darstellung von Iwands Kritik an Heim erscheint es uns geboten, den problemgeschichtlichen Kontext, auf den er sich bezieht, zu beachten. Erst eine solche großflächigere Einordnung macht die Entfaltung von Iwands eigener anthropologischer Basis verständlich und transparent für die Reichweite der dabei gefällten Entscheidungen. Heim und Iwand entwickeln ihre Erörterungen je unterschiedlich in Relation auf die philosophischen Probleme (1.) der Unbedingtheit epistemischer Selbstgewissheit und (2.) der Antinomie der transzendentalen Verstandesbegriffe. Es handelt sich dabei um zwei zentrale Topoi der transzendentalen Erfahrungsanalyse, die Kant in seiner theoretischen Vernunftkritik verhandelt. In welcher Weise sind sie für unsere Auseinandersetzung virulent? ... Kants transzendentale Erfahrungsanalyse als Hintergrund der Auseinandersetzung Das Problem unbedingter epistemischer Selbstgewissheit Heims Bezugnahme auf die „Identität des nichtgegenständlichen Subjekts“ (27) als höchster Einheit gegenüber der Mannigfaltigkeit gegenständlicher Erfahrung weist zunächst eine große Nähe zur Philosophie Kants auf, nennt letzterer doch das Selbstbewusstsein den „höchste[n] Punkt“ der theoretischen Philosophie, „an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß “.52 Der Gedanke einer Einheit der Synthesis im transzendentalen Subjekt ist die elementarste Voraussetzung, um rationale Erkenntnis überhaupt als möglich zu denken.53 51 NW VI, 74. 52 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 137. 53 Kant formuliert dies im Abschnitt über die transzendentale Apperzeption mit den Worten: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein“; ebd., 136.
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Die Forderung nach der Unbedingtheit derselben entspringt dem Interesse der Vernunft, alle Erkenntnis unter letzte einheitsstiftende Prinzipien zu subsumieren, die ihrerseits von nichts anderem abhängig sind. Eine diesem „Streben nach Voraussetzungslosigkeit“ (47) entsprechende Antwort könnte in der Tat nur auf der Linie eines absoluten Selbstbewusstsein gesucht werden. Im Widerspruch dazu steht jedoch der Sachverhalt, dass das Bewusstsein sich in jedem Erkenntnisakt zugleich als bedingt durch etwas Anderes erweist, das sich der Selbstbestimmung entzieht bzw. letztere allererst ermöglicht. Kant trägt dem Rechnung, indem er betont, dass seine Bestimmungen zur einheitsstiftenden Funktion des Bewusstseins sich sämtlich aus der Analyse des unter der Duplizität von Vernunft und Gegebenem stehenden Gegenstandsbewusstseins ergeben und nur in der Bezogenheit darauf sinnvoll sind.54 Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Befund für die Bestimmung der Struktur des Selbstbewusstseins? Für Kant ist der Gedanke unbedingter Ich-Identität im Interesse rationaler Erkenntnis festzuhalten, zugleich aber deren gänzliche Unbestimmbarkeit zu behaupten. Von dem Ich der transzendentalen Bewusstseinseinheit kann es keine Erkenntnis geben. Es handelt sich dabei um eine jegliche Erkenntnis notwendig begleitende Instanz, die sich der prädikativen Bestimmung entzieht. Als Subjekt von Bewusstsein überhaupt „drückt [sie] den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen“55 und ist nur indirekt zugänglich über die Prädikate, durch die sie zugleich sich bestimmt. Das solcherart Erschlossene ist ein Seiendes ohne alle Eigenschaft und Qualität, von dem lediglich gewusst wird, dass es ist, nicht aber, was es ist.56 Kants Erörterungen zum transzendentalen Ich behalten einen schillernden Charakter, insofern er seine Existenz zweifelsfrei behauptet,57 es für sich selbst genommen aber als eine gänzlich leere Vorstellung bezeichnet. Im Übrigen absentiert Kant die Ideen der reinen Vernunft dermaßen von der Empirie, dass er ihnen transzendentale Idealität, d.h. lediglich eine regulative Bedeutung für letztere zuschreibt.58 Hinsichtlich des als höchstem Punkt der Philosophie beanspruchten transzendentalen Ichs 54 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 138: „Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz, erklärt aber doch eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannig faltigen als notwendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins nicht gedacht werden kann. Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannig faltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden. Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannig faltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen. Ich bin mir also des identischen Selbst bewusst, in Ansehung des Mannig faltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen.“ 55 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 152. 56 Vgl. ebd., 152: „Dagegen bin ich mir in der transzendentalen Synthesis des Mannig faltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen. 57 Vgl. ebd., 355: „Das Ich denke ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz, und hält den Satz, Ich existiere, in sich.“ 58 Vgl. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, 138.
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kann er jedoch nicht umhin, es als ein in der gegenständlichen Erfahrung selber liegendes, vorprädikatives Element zu bestimmen und ihm unmittelbare Existenz zuzubilligen.59 Die exponierte Stellung, die Kant dem transzendentalen Subjekt einräumt, hat dazu geführt, dass die auf ihn folgende idealistische Philosophie seine reduzierten Bestimmungen desselben als unbefriedigend empfunden und eine Theorie absoluten Wissens entworfen hat. Die Verbindung des Existenzurteils mit dem Anspruch unbedingter Identität des Subjektes kann in dieser Perspektive nur dann auf einer gesicherten Basis erfolgen, wenn dem Ich eine unmittelbare, von der äußeren Wahrnehmung unabhängige Anschauung seiner selbst zugeordnet wird. Eine unter dieser Bestimmung entfaltete Konzeption des Selbstbewusstseins erlaubt es, die absolute Selbstsetzung des letzteren samt seiner Wirklichkeit zu behaupten. Es beschränkt sich nicht mehr darauf, die ihm vermittels der äußeren Anschauung gegebene Mannigfaltigkeit zu ordnen, sondern bringt auch sie noch in einem ursprünglichen Setzungsakt aus sich selbst hervor.60 Kant macht gegenüber dieser Lösung des Erkenntnisproblems freilich seinen Vorbehalt geltend. Er erörtert die Möglichkeit unter dem Begriff der intellektuellen Anschauung und schärft hinsichtlich ihrer ein, dass die Beanspruchung des transzendentalen Ichs i.S. eines einheitsstiftenden Prinzips der Erfahrungserkenntnis nicht als „Erweiterung unserer Selbsterkenntnis durch reine Vernunft “61 missverstanden werden darf. Der Gedanke einer ursprünglichen Selbstsetzung des Bewusstseins erweist sich ihm als tautologisch, weil dabei das der Duplizität von Vernunft und Gegebenem verhaftete Objektsetzungsmodell immer schon in Anspruch genommen werden muss. Er vermag die Fundamentalität des Selbstbewusstseins nicht zu begründen. Vor allem konstatiert Kant, dass sich aus ihm kein Analogieschluss auf die Struktur eines göttlichen Verstandes ableiten lässt, der in seinen Setzungsakten von der Bestimmung durch ein Gegebenes unabhängig ist.62 59 Vgl. Frank, Manfred, Fragmente, 422: „In Kants Augen steht […] fest, daß die reine Apperzeption das unmittelbare Bewußtsein ihrer Existenz einschließt und daß dies Bewußtsein, obwohl vor-anschauungshaft , gleichwohl die Wahrnehmung eines Existierenden einschließt; denn Existenz kann vom Denken nicht erreicht, sie muß gegeben werden, sowie Bewußtsein von ihr besteht.“ 60 Dalferth bestimmt als Kulminationspunkt dieser Entwicklung die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, in der es zu „einer letzten Steigerung des Subjektivierungsprozesses kommt“ und wo hinsichtlich des reinen Vernunft-Ichs gilt: „Das Ich setzt schlechthin sich selbst samt seinen Begriffen und der durch diese begriffenen Welt, indem es in freier Tätigkeit sich selbst schlechthin als Sich-selbst-Setzen setzt und damit als identisch mit seinem Tätigsein konstituiert: Ich = Ich, das absolute Subjekt“; ders., Subjektivität, 34. 61 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 373. 62 Vgl. ebd., 140: „Aber dieser Grundsatz [von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, Anm. d. Verf.] ist doch nicht ein Prinzip für jeden überhaupt möglichen Verstand, sondern nur für den, durch dessen reine Apperzeption in der Vorstellung: Ich bin, noch gar nichts Mannig faltiges gegeben ist. Derjenige Verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannig faltige der Anschauung gegeben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen solchen Actus der Synthesis der Mannig faltigkeit zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, derer der menschliche Verstand, der bloß denkt, bedarf.“ Im Weiteren sagt Kant, dass der menschliche Verstand sich von einem intellektuell anschauenden „nicht den mindesten Begriff machen kann“; ebd.
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Die Antinomie der transzendentalen Verstandesbegriffe Die Frage der Identität des rationalen Selbstverhältnisses verknüpft Heim mit einem anderen sich aus der transzendentalen Erfahrungsanalyse ergebenden Problemkomplex. Letzterer entsteht wiederum aus dem Vernunftstreben, alle Erkenntnis unter einheitsstiftende Prinzipien zu subsumieren, zu allem Bedingten das Unbedingte aufzusuchen und auf diese Weise zu einem geschlossenen Konstitutionszusammenhang von Wirklichkeit zu gelangen. Hinsichtlich der Frage nach der Verfassung des erkennenden Subjektes sucht die Vernunft, die Bestimmung durch das Postulat unbedingter epistemischer Selbstgewissheit einzulösen. Sie verfolgt dieses Interesse aber auch nach der Seite der zu erkennenden Objekte hin. Im Bezug auf dieses Unterfangen erörtert Kant die Antinomie der transzendentalen Verstandesbegriffe. In Analogie zur Vorstellung von empirischen Gegenständen bildet die Vernunft die Vorstellung von solchen, die auf eine Totalbestimmung des Daseins zielen. Ihre leitende Intention ist es dabei, „die Fragmente menschlicher Erfahrung zu einer Totalität aller Erscheinungen zu extrapolieren und über die Totalität objektive Aussagen“ zu treffen.63 Material hat es derjenige Teil der Vernunftkritik, der sich mit der Möglichkeit dieser Begriffsbildungen beschäftigt, mit den kosmologischen Ideen des Unbedingten zu tun. Die Aufstellung letzterer stellt das Denken allerdings vor unlösbare Probleme, weil es dabei unter einander widersprechende Bestimmungen gerät, die sich aus der logischen Konsequenz seiner Schlüsse gleichermaßen ergeben. In der Deduktion des kosmologischen Unbedingten bildet es die Vorstellungen von (1.) der Welt als geschlossenem raumzeitlichen Konstitutionszusammenhang aller äußeren Erscheinungen, (2.) der schlechthin einfachen Teile als Bedingung des Aufbaus von Materie, (3.) der Freiheit als absoluter Spontaneität, welche die Kausalität der Natur überhaupt erst zu denken ermöglicht, und schließlich (4.) der Existenz eines absolut notwendigen Wesens, von dem sich alle veränderlichen Erscheinungen als abhängig erweisen.64 Im Widerspruch zu diesen als notwendig erschlossenen Bestimmungen lassen sich – wie Kant analysiert – die jeweils gegenteiligen (Unendlichkeit der Welt, unendliche Teilbarkeit, unbedingte Kausalität, Nichtnotwendigkeit der Welt) mit der gleichen logischen Folgerichtigkeit ableiten. Kant stellt die einander widersprechenden Sätze paarweise gegenüber und gelangt auf diese Weise zu seinen Antinomien. Sie zeigen an, dass das Denken auch hinsichtlich seiner Objekte genötigt ist, Vorstellungen immer schon in Anspruch zu nehmen, die es seinem eigenen Vermögen nach nicht zu setzen vermag. Die Lösung des Antinomieproblems sieht Kant darin, dass er zwischen der transzendentalen Idealität und empirischen Realität jener Vorstellungen strikt unterscheidet. Diese Unterscheidung erlaubt es ihm, die einander widerstreitenden Bestimmungen teils beider maßen als unangemessen (so für die Dialektik von Unbegrenztheit/Begrenztheit und Unteilbarkeit/Teilbarkeit) 63 Höffe, Otfried, Immanuel Kant, 143. 64 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 399–440.
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teils beider maßen als denkmöglich (so für die Dialektik von Freiheit/Kausalität und Notwendigkeit/Nichtnotwendigkeit) zu behaupten.65 Ohne das Vorgehen Kants im Einzelnen zu rekonstruieren ist festzuhalten, dass er den unbedingten Vernunftbegriffen eine regulative Funktion im Blick auf die empirische Erfahrung zuschreibt.66 Mithin beziehen sie sich auf Gegenstände, die dem Denken niemals in der Anschauung gegeben, sondern immer nur aufgegeben sind. Erst wo die Vernunft – so interpretiert Iwand – „den endlichen Fortschritt […] in der Erfahrung […] als vollendet vor[stellt] und […] aus dem negativen Begriff der Unendlichkeit einen positiven, aus dem Nichtzuendekommen ein Zuendegekommensein [macht]“ (61), entspannt sich der antinomische Widerstreit in einer die Gültigkeit rationaler Wissensansprüche tangierenden Weise. Dass Kant die Bestimmung des Unbedingten in der angezeigten Weise offen hält, kommt der weiteren Entfaltung seines philosophischen Systems insofern entgegen, als er dadurch in dessen praktischem Teil einen Spielraum für die Erörterung einer rein intelligiblen Welt als durch die Sittlichkeit bestimmtes Reich der Freiheit gewinnt. Für letzteres gilt in pointierter Weise, dass seine Verwirklichung dem Denken in Gestalt des kategorischen Imperativs und der Hoffnung auf einen göttlichen Gesetzgebers uneinholbar aufgegeben ist.67 ... Iwands Geltendmachung des transzendentalen Vorbehaltes gegenüber Heim Die Hauptschwierigkeit der Rekonstruktion von Iwands Kritik an Heim besteht darin, dass er sich den transzendentalen Vorbehalt zueigen macht und Heims Problemstellung von daher korrigiert, zugleich aber von einer anthropologischen Basis aus operiert, deren Intentionen spezifisch anders gelagert sind als die der Philosophie Kants. Folkart Wittekind hat beobachtet, dass Iwands Argumentation „auf transzendentalen und zugleich transzendentalkritischen“ Wirklichkeitsannahmen beruht.68 Zunächst geht es ihm allerdings darum Heims in den Setzungen eines nichtgegenständlichen Ichs zentrierten Logozentrismus auf der Basis von Kants erkenntniskritischen Erörterungen zurückzuweisen. Wie geht er dabei im Einzelnen vor? Der zentrale Einwand Iwands gegen die Methode Heims besteht darin, dass letzterer die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen gegenständlicher Erfahrung nicht als die nach dem Verhältnis von Anschauung und Begriff, sondern als ein formal-logisches Problem behandelt. Dies macht er daran fest, dass Heim Antinomien als einen „Verstoß gegen den Widerspruchssatz“ (55) auffasst und suggeriert, dass eine Lösung derselben vom „Fortschritt des Den65 Vgl. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, 148f. 66 Vgl. ebd., 148: „Die kosmologischen Ideen haben keine konstitutive, sondern nur eine regulative Bedeutung. Sie sagen nicht, wie die Welt als ganze aussieht, sondern geben eine Regel an, wie die Naturforschung anzustellen ist, um zu einer umfassenden Erkenntnis zu erlangen. Die Welt als Totalität der Erscheinungen ist nicht an sich vorhanden, sondern tritt in empirischen Forschungen nach und nach, allerdings nie vollständig zu Tage.“ 67 Zur Bezugnahme Iwands darauf vgl. Abschnitt 2.3.3. 68 Ders., Das Erleben, 31. Vgl. dazu Abschnitt 2.2.4.
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kens“ (54) zu absoluten Synthesen zu erwarten sei. Gegenüber dieser Problemstellung macht Iwand die dem endlichen Denken durch seine konstitutive Bezogenheit auf ein Gegebenes gesetzte Grenze geltend und formuliert: „Heim hat […] das Ineinander von Analysis und Synthesis berührt, welches von Kant zur Grundlage seiner Erkenntniskritik gemacht ist. Allerdings ist es bei letzterem nicht so, wie man oft meint, dass er die Synthesis der Analysis übergeordnet hätte, sondern vielmehr so, dass er den analytischen Satz von der Bewusstseinseinheit als einen synthetischen ansieht“ (20). „Es zeigt sich aus diesen Stellen [zur transzendentalen Einheit der Apperzeption, Anm. d. Verf.], dass Kant mit einem negativen Urteile beginnt, nicht mit der Selbstgesetztheit im Ich-Bewusstsein, sondern mit der Bedeutungslosigkeit dieser Selbstgesetztheit ohne die äusseren Gegebenheiten“ (20, Anm. 6).
Der Versuch, die Endlichkeit mit Hilfe der Vorstellung vom nichtgegenständlichen Ich zu transzendieren, zeichnet nicht den Weg zur absoluten Gewissheit vor, sondern führt vielmehr dazu, dass das Ich sich in einen spekulativen Scheinstreit verwickelt und darin auf seine endliche Gebundenheit zurückgeworfen wird. Weil Heim im Sinne eines reinen Konstitutionsidealismus das Wesen der Wirklichkeit am Leitfaden der formalen Logik ergründet, bleibt die Einheit derselben lediglich „ein logisches Postulat […], welches […] niemals in der Anschauung erfüllt werden kann“ (35). Versucht er sich vom geistigen Ich als vermeintlich widerspruchsfreiem Erfahrungsgrund her „immer stärker zu einer neuen Verbindung von Idee und Wirklichkeit zurückzuarbeiten“ (36), so ist dieses Unterfangen von seinen Voraussetzungen her zum Scheitern verurteilt. Die Gründung des Ichs im aus der Analogie zum endlichen Bewusstsein erschlossenen Ich Gottes ist für Iwand lediglich eine Hilfskonstruktion, um diesem Befund auszuweichen. Auf Grund der Bestimmung des menschlichen Bewusstseins durch die Duplizität von Vernunft und Gegebenem korrigiert Iwand auch die heimsche Fassung des Antinomieproblems von Kant her. Heim hatte letzteres auf einen Widerstreit zwischen konjunktiver und disjunktiver Erkenntnisfunktion bezogen und es bereits in die Grundformen der Erfahrung eingetragen. Von seiner Position aus stellte sich ihm die Frage, wie angesichts dieses Widerspruches das Zustandekommen von Erfahrung überhaupt möglich ist.69 Demgegenüber macht Iwand die kantische Sichtweise des Problems geltend, nach der Antinomien (1.) an Gegenständen entstehen,70 die (2.) dadurch charakterisiert sind, dass sie auf eine Totalbestimmung des Daseins zielen.71 Unter dieser 69 Vgl. Abschnitt 2.2.1.1. 70 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 60: „Man erkennt […], dass Kant von vornherein darauf dringt, […] die Antinomien hinsichtlich des Gegenstandes, an dem sie entstehen, zu bestimmen. Damit wird vermieden, in ihnen nur eine Kapitulation der Vernunft zu sehen, und unser Augenmerk wird darauf gerichtet, nachzuforschen, wovor die Vernunft kapituliert. Die Antinomie ist nämlich ein nur in ganz bestimmten Fällen eintretender Widerspruch.“ 71 Vgl. ebd., 60f: „Antinomien treten […] stets dann ein, wenn der Mensch sich mit dem Ganzen befasst. […] Sobald der Mensch Aussagen über die ganze Welt versucht, ergeben sich die entgegen gesetzten Prädikate der Endlichkeit und der Unendlichkeit, sobald er über die Persönlichkeit als solche Aussagen macht, ergeben sich die Prädikate der Freiheit und der Notwendigkeit.“
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Bestimmung ist es unzulässig, in den Antinomien einen „Verstoss gegen den Widerspruchssatz“ (55) zu sehen und zu suggerieren, dass eine Lösung dieses Problems vom Fortschreiten des Denkens zu absoluten Synthesen zu erwarten wäre (vgl. 54). Die bei der Setzung des Unbedingten auftretende Antithetik liegt vielmehr „in der Vernunft selbst“ (ebd.) und zeigt lediglich die Insuffizienz des Denkens zur Totalbestimmung der Wirklichkeit an.72 Iwand hebt darauf ab, dass Kant Antinomien einen „Widerstreit der Gesetze“73 nennt und reformuliert das Problem dahingehend, dass der Vernunft das Gesetz zur Erfassung des Absoluten fehlt (vgl. 56). Die interne Rekonstruktion des Verstandesvermögens gelangt dann aber zu keinem anderen Ergebnis als demjenigen, dass das rationale Bewusstsein dazu verurteilt ist, „der absoluten Gewissheit gegenüber in Ungewissheit zu bleiben“ (48). .. Das Verhältnis von rationalem und erlebendem Wirklichkeitsbezug als Ausgangspunkt für Iwands Entfaltung einer eigenen religionsphilosophischen Basis Eignet Iwand sich den kritischen Vorbehalt Kants gegenüber Heims überzogenen Ansprüchen an die Rationalität an, so geht er in seinen Erörterungen doch zugleich über ersteren hinaus. Der Gedanke, dass nicht allein die reflexive Selbsterschlossenheit das wirklichkeitsbezogene Vermögen des Menschen ausmacht, wird von ihm sehr viel radikaler gewendet und seinerseits zur Basis einer bewusstseinskritischen Sichtweise gemacht. Um seinen Weg zu rekonstruieren, ist es notwendig zu eruieren, worin er seinerseits die Insuffizienz des transzendentalen Wirklichkeitsbewusstseins sieht. ... Iwands Kritik an der Unbestimmtheit des Menschen in der transzendentalen Bewusstseinfassung Die Transzendentalphilosophie hatte für den der rationalen Welt- und Selbsterschließung unverrechenbaren Wirklichkeitsüberschuss den Begriff des „Dinges an sich“ geprägt und ihn als Relat der Sinnen- und Selbsterfahrung eingeführt. Sie veranschlagte einerseits die Subjektivität als methodischen Konstitutionspunkt von Wirklichkeit, begrenzte deren Erkenntnisvermögen aber andererseits auf den Bereich gegenständlicher Erfahrung. Dem liegt die Erwartung zu Grunde, dass die Rationalität mittels kritischer Rückbesinnung auf sich in der Lage ist, der Grenzen ihres eigenen Vermögens inne zu werden und ihre Erkenntnisansprüche auf den Bereich der Empirie zu restringieren. In ihrem Vollzug weiß sie zwischen der empirischen Realität und transzendentalen Idealität ihrer Setzungen zu unterscheiden. 72 Vgl. ebd., 55: „Die Antinomie ist ja selbst ein Widerspruch, also kann sie kein Verstoss gegen den Widerspruchssatz sein, sondern höchstens gegen die Erwartung, dass man sich durch vernünftiges Denken nicht in Widersprüche verwickeln könnte. Insofern die Antinomie in einem Widerspruch besteht und sie durch vernünftiges Denken zustande kommt, sieht man tatsächlich, dass der Widerspruch zum Resultat des Denkens werden kann.“ 73 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 401.
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Bildet dieses Modell die theoretische Grundlage für die naturwissenschaftliche Erschließung von Wirklichkeit, so ist es doch nach Meinung Iwands nicht dazu geeignet, dem erlebenden Wirklichkeitsbezug des Menschen gerecht zu werden. Was er vor Augen hat, wird an Kants Bestimmung des transzendentalen Erkenntnissubjektes besonders greifbar. Es handelt sich dabei um ein vor aller empirischen und individuellen Erfahrung liegendes Vernunftprinzip,74 von dem nicht einzusehen ist, wie es auf das sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewahr seiende Ich und dem ihm daraus erwachsenden Bedürfnis nach Gewissheit und Identität zu beziehen ist. Unter diesen Voraussetzungen wendet sich der Vorwurf, den Iwand gegenüber Heims Vorstellung vom nichtgegenständlichen Ich geltend macht, auch gegen die Bestimmung des transzendentalen Subjektes: „Der Mensch selbst bleibt unbestimmt, und durch diese Unbestimmtheit wird die Vollständigkeit der Erfahrung verfehlt“ (32).
Iwand nimmt demgegenüber die Stellung des Ichs nicht von den formalen Voraussetzungen empirischer Erkenntnis her in den Blick. Im Horizont seiner sich dem erlebenden Wirklichkeitsbezug verpflichtet wissenden Erörterung geht es ihm (1.) darum, das Verhältnis von Selbst- und Welterfahrung nicht „von einem Gegensatz der Prinzipien“ (32) her, sondern als eine Beziehung wechselnder Momente des Bestimmens und bestimmt Werdens anzusehen. Sie ist (2.) sodann so zu entfalten, dass das Erleben im Unterschied zum reflektierenden Erkennen nicht durch einen aktiven Selbstbezug auf die Wirklichkeit, sondern durch ein totales bestimmt Werden von ihr qualifiziert ist. In letzterem Moment ist das Ich sich selber so entzogen, dass er nur noch als Unterbrechung der kontinuierlichen Selbstauslegung, d.h. in Rückwendung auf das reflektierende Ich als Innewerden von Nichtidentität bestimmt werden kann. Unter der Leitung des Erlebnisbegriffes beschreibt Iwand die reflektierende Selbstauslegung als einen dialektischen Prozess, in welchem das Ich – angetrieben durch seinen Bestimmungswillen – sich der Wirklichkeit zu bemächtigen sucht, im Vollzug dessen aber an einen Punkt kommt, an dem es „gegen sich selbst [empfindet] und […] seiner nicht mehr Herr werden [kann]“ (31). Von daher gelangt er zu seiner kritischen Bestimmung des Vernunft geleiteten „Streben[s] nach Voraussetzungslosigkeit“ (47). Handelt es sich bei der „konstruktive[n] Tendenz der Vernunft der Ganzheit gegenüber“ (61) unter rein formaler Betrachtungsweise um ein neutrales Vermögen, so sieht Iwand darin die Macht- und Herrschaftsinteressen des Ichs wirksam.75 Es vermag die 74 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 371f: „Es ist also die Identität des Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten nur eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges, beweiset aber gar nicht die numerische Identität meines Subjekts, in welchem, ohnerachtet der logischen Identität des Ich, doch ein solcher Wechsel vorgegangen sein kann, der es nicht erlaubt, die Identität desselben beizubehalten“. 75 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 62: „Der Versuch des Menschen, sich die Totalität unterzuordnen, ist ein Willensakt. Die Vernunft ist daher der Wille zum Absoluten. Sie widerstrebt jeder Setzung, die sie nicht selbst vollzogen hat.“
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äußere Wirklichkeit immer nur als von sich aus zu überwindende Grenze seiner Tätigkeit oder – wie Iwand interpretiert – als Gestaltungsmaterial seiner Selbstverwirklichung in den Blick zu bekommen (vgl. 30). ... Die Bestimmung des reflektierenden Selbstbewusstseins durch die „Totalität des Lebens“⁷⁶ Qualifiziert Iwand die für die Struktur des Erlebens geltend gemachte Totalbestimmung des Ichs als ein der reflexiven Selbstauslegung unerschließbares Moment – er kann sie in diesem Sinne auch „Geheimnis des Lebens“ (30) nennen – , so ist für ihn doch entscheidend, in welcher Weise sie auf das reflektierende Bewusstsein bezogen ist. Hinsichtlich der Möglichkeit, das Verhältnis zu ihr zu klären, misst Iwand dem antinomischen Widerstreit die entscheidende Bedeutung zu und integriert ihn seinen eigenen Erörterungen.77 Treten die Antinomien dort ein, wo das Denken die Totalität des Daseins zu erschließen sucht, so bestimmt er die dem zu Grunde liegende Bewusstseinshaltung als eine solche, in der das Ich sich „der Ganzheit gegenüber als Subjekt [zu] behaupten“ (65) sucht. Dabei wird es seiner Ohnmacht gegenüber dem Ganzen gewahr. Für Iwand ist dieser Vorgang allerdings darin, dass das reflektierende Ich seiner „Unvollkommenheit“ (31) bewusst wird und seine Erkenntnisansprüche dementsprechend auf den empirischen Bereich zurücknimmt, noch nicht hinreichend bestimmt. S.E. ist die Einsicht ins Scheitern an der Konstruktion der Totalität des Daseins auf die Grund legende Bestimmung des Welt- und Selbstverhältnisses zurückzuwenden. Sie bedeutet für ihn einen qualitativen Umschlag im Wirklichkeitsbewusstsein, der „ein ganz neues Gebiet von Erfahrung und damit eine neue Bestimmungsmöglichkeit des Menschen“ (61) zu erschließen vermag. In diesem Sinne formuliert er: „Man erfasst in der sinnlichen Erfahrung alle Vorgänge durch das Gesetz, in welches die menschliche Vernunft die Wahrnehmungen einordnet. Hier ist aber eine Gegebenheit, der gegenüber diese allgemeine Regel zum gegenteiligen Ergebnis führt. Es kommt also nicht darauf an, die Ganzheit unter ein Gesetz zu bringen, sondern vielmehr, sich ihrem Gesetze unterzuordnen. Wir haben hier eine noch nicht von der Vernunft erfasste Gegebenheit vor uns, die trotzdem schon den Charakter einer absoluten Setzung trägt und deren Verletzung sich in einem Bewusstseinszerfall, d.h. in einer Dialektik zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit mit Notwendigkeit auswirkt“ (62).
Bei seiner Bestimmung der Totalitätsbeziehung setzt Iwand voraus, dass das Bewusstsein im Vollzug seiner Setzungen immer auf ein Anderes, ihm Gegebenes bezogen ist. Von daher stellt das Totalitätsbewusstsein, welches die 76 NW VI, 328. 77 In diesem Sinne bestimmt er seine eigene Zuspitzung des Antinomieproblems gegenüber der transzendentalen Sichtweise wie folgt: „Wir haben uns bei der Bestimmung des formalen Charakters der Antinomien vor allem an Kant gehalten. Hier ist allerdings der Punkt, an dem wir versuchen, ein bei Kant liegendes, aber nicht so deutlich hervortretendes Moment zur Lösung zu benutzen“; Zur methodischen Verwendung, 55, Anm. 11.
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Ganzheit allein aus seinem reflexiven Vermögen zu generieren sucht, eine Grenzüberschreitung dar. Dass es dabei unter einander widerstreitende Bestimmungen gerät, wertet er als Ausweis dessen, dass dem Bewusstsein dennoch nicht die Beziehung zur Ganzheit fehlt (vgl. 61). Zwar ist die Totalität „niemals erfahrbar und liegt daher jenseits des Bewusstseins“ (ebd.). Die Antinomien zeigen aber an, dass die Totalität dem Ich nicht äußerlich ist, sondern es in seinem Innersten bestimmt. Im antinomischen Widerstreit konstituiert sich die Beziehung zu ihr als eine negative. Gerade darin, dass das Ich sich hier ungleichzeitig wird und sich selber als nichtidentisch erfährt, verweist es auf die Totalität. Handelt es sich nach Iwand bei ihr um eine „irrationale Größe, die jeder Rationalisierung durch Zerfall ihrer Einheit spottet“,78 so ist umgekehrt die Antinomie des Bewusstseins Ausdruck dessen, dass es mit ihr befasst ist. Hinsichtlich der Bewertung des Antinomieproblems unterscheidet er am Ende seiner Arbeit zwei „mögliche Fassungen des Absolutheitsbegriffs“ (64). In der transzendentalen Betrachtungsweise stellt es „ein wissenschaftliches Prinzip“ (ebd.) zur Unterscheidung zwischen regulativer und empirischer Erkenntnis dar. Ihre Grenze liegt darin, dass sie – unbesehen dessen, dass die Vernunft in Konsequenz ihrer Schlüsse zu sich selbst in Widerspruch gerät – am Satz der Bewusstseinsidentität festhält. Infolge dessen bleibt der Mensch in dieser Perspektive unbestimmt und kommt nur als sich bestimmend auf die Wirklichkeit beziehendes Subjekt in den Blick. Innerhalb der sich dem erlebenden Wirklichkeitsbezug verpflichtet wissenden Betrachtungsweise ist die Frage leitend, wodurch der Mensch seinerseits bestimmt ist. Letztere wendet Iwand kritisch gegen das reflexive Bewusstsein und macht ihm gegenüber geltend, dass es die „Totalität des Lebens“79 genau deshalb verfehlt, weil es „bei dem Versuch, vollständige Selbsterschlossenheit zu erreichen, grundsätzlich seiner eigenen Subjekt-Objekt-Struktur aufsitzt, […].“80 Angesichts dessen werden die Antinomien zum „Hinweis auf die irrationale Setzung der Totalität“ (ebd.). Wendet das Ich die Widersprüche, unter die es in der reflexiven Selbstauslegung gerät, auf sich zurück, so ist es genötigt die „Lebenseinheit als absolut gesetzte Totalität“ (ebd.) und die Weise, in der es sich bewusst auf sie bezieht, als eine Grenzüberschreitung anzuerkennen. Der Anspruch des Ichs auf Totalbestimmung der Wirklichkeit schlägt um in eine Totalbestimmung des ersteren durch letztere. In der Perspektive des Ich-Erlebens ist nicht die Wirklichkeit, im Verhältnis zu der das Subjekt sich unbedingt identisch setzt, antinomisch. Vielmehr erweist sich an dem schlechthinnigen Gegebensein ersterer die Verfassung des menschlichen Bewusstseins als eine antinomische. Dabei ist die reflexive Selbsterschließung auf die „Totalität des Lebens“ immer nur nachgängig bezogen und wird ihrer in der Erfahrung der eigenen Differenz gewahr. Iwand verbindet die beiden Betrachtungsweisen mit zwei unter78 NW VI, 328. 79 Ebd. 80 Wittekind, Folkart, Das Erleben, 33f.
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schiedlichen Haltungen zur Wirklichkeit. Handelt es sich bei ersterer um die wissenschaftliche, so kann Iwand die am Leitfaden seiner Erörterungen zum Ich-Erleben entfaltete auch die „religiöse Haltung“ (65) nennen. ... Die Dialektik zwischen Erlebnis- und Bewusstseinseinheit als Spezifikum von Iwands Bestimmung der Totalitätsbeziehung Im Verhältnis zur religionsphilosophischen Tradition, auf die Iwand sich im Zuge seiner Ausführungen bezieht, stellen seine Erörterungen zur Totalitätsbeziehung des Bewusstseins eine erhebliche Radikalisierung dar. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Begriff des Erlebens negativ zu dem der bewussten Selbsterschließung entfaltet wird. In diesem Sinne verzichtet er darauf, ihn als eine isolierbare Zuständlichkeit des Selbstbewusstseins – etwa im Sinne des Gefühls – zu bestimmen. Macht er für seine eigene Bestimmung der religiösen Haltung namentlich den Einfluss Schleiermachers geltend, so muss doch dahingestellt bleiben, ob er sich seiner Differenz zu dessen Wollen vollends bewusst gewesen ist. Nichts desto trotz erscheint uns die Darstellung der Bezugnahme und Abweichung Iwands von letzterem für die Profi lierung seiner eigenen (religions-)philosophischen Basis besonders geeignet. Im Bezug auf das Verhältnis von transzendentalem und erlebnismäßigem Totalitätsverständnis äußert er während seiner Arbeit an der Dissertation gegenüber Rudolf Hermann in einem Brief: „Wie schön ist Schleiermacher. Ich lese immerfort seine Reden. Ich bin ganz begeistert und haue tüchtig auf Heim mit Schleiermacher ein. Wie denken Sie über folgende Verbindung von Kant und Schleiermacher. Kant sagt: Das Ganze ist aufgegeben. Schleiermacher: Das Ganze ist gegeben. Beide wissen, daß das Ganze der Wissenschaft notwendig sei, alles Endliche ist nicht Teil des Unendlichen, sondern Erscheinung des Unendlichen. Aber was bei Kant gefordert ist, das ist bei Schleiermacher gegeben. Die Religion erfaßt das Leben als Ganzes, unbewußt und unmittelbar – die Wissenschaft begreift das Leben als Ganzes, bewußt und mittelbar. […] Diese und ähnliche Gedanken bilden den Kern meiner Arbeit, […].“81
Was hat es mit dieser Referenz auf sich? – In seiner Religionsschrift ist Schleiermacher mit dem Anspruch angetreten die religiöse Erfahrung gegenüber dem rationalen Wirklichkeitsbewusstsein in einem „höhern Realismus“82 zu fundieren. Dabei setzte er dem Gedanken einer ursprünglich produktiven Subjektivität den eines ihr voraus liegenden anschauenden Wirklichkeitsbezuges entgegen, in welchem sich das Universum dem Betrachter „in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen“ offenbart.83 Iwand schätzt diesen Entwurf deshalb, weil er (1.) von einem ursprünglichen und umfassenden Wirklich81 NW IV, 69 (Brief vom 13.01.1924). In diesem Sinne kann er seine Divergenz zu Heim auch in die Worte fassen: „Nicht das Endliche zum Unendlichen zu erweitern, sondern das Unendliche im Endlichen zu fi nden, das ist Ziel und Lösung der Gewissheitsfrage“; Zur methodischen Verwendung, 11. 82 Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion, 52. 83 Vgl. ebd., 52f: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird […] was Ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. Was Ihr über jene wißt
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keitsbezug ausgeht, der (2.) dem reflexiven Selbstverhältnis zu Grunde liegt – letzterem aber unbegreiflich bleibt, weil er (3.) die Bezogenheit des Ichs auf die Wirklichkeit kontradiktorisch zu den im Objektsetzungsmodell leitenden Bestimmungen entfaltet. Schleiermacher geht in seinen Reden allerdings nicht dazu über, die mit dem Begriff des Universums indizierte Totalität dialektisch zur Subjektivität zu entfalten. Stattdessen operiert er mit einer vermögenstheoretischen Ausdifferenzierung, nach welcher die religiöse Erfahrung neben dem wissenden und handelnden Wirklichkeitsbezug in „Anschauung und Gefühl“84 eine „eigene Provinz im Gemüte“85 hat. Im Zuge der weiteren Entfaltung seines Ansatzes ist Schleiermacher zusehends bewusst geworden, dass die Vorstellungen einer nicht durch sinnliche Erfahrung vermittelten Anschauung wie einer Bestimmung des Ichs durch das Universum unter den Bedingungen der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins unvollziehbare Gedanken sind.86 Stellt bewusste Erfahrung im Horizont des transzendentalen Wirklichkeitsbewusstseins ein unauflösliches „Ineinander von Aktivität und Passivität“ (30) dar, so macht Schleiermacher dieses Theorem in seiner Glaubenslehre seinerseits geltend. Die Vorstellung einer Bestimmung des Menschen durch die Totalität findet dort ihre Grenze darin, dass „jedes irgendwie Gegebensein […] [nur, Anm. d. Verf.] als Gegenstand einer wenn auch noch so geringen Gegenwirkung“ aufzufassen ist.87 Als Konsequenz aus dieser Verschiebung des Referenzhorizontes dispensiert er sich von der in seiner Jugendschrift vertretenen Vorstellung von einer Anschauung des Universums, die einen aktiven Einfluss des letzteren auf das Bewusstsein indiziert.88 Seine Fassung der Totalitätsbeziehung modifiziert er in der Weise, dass er sie dem Realisierungszusammenhang des sich aus wechselnden Zuständen von Aktivität und Passivität konstituierenden Gesamtbewusstseins vorlagert. Ausgehend von der Entgegensetzung von unmittelbarem Selbst- und durch die Anschauung vermitteltem Weltverhältnis schwächt er die Totalitätsbestimmung des Ichs ab auf die dem Selbstbewusstsein entstehende Frage nach dem „Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins […].“89 Sie ist für ihn keine solche, die das Identitätsverhältnis des Ichs tangiert, vielmehr ist das Totalitätsbewusstsein „so in das Selbstbewußtsein ein[geschlossen], daß beides […] nicht voneinander getrennt werden kann.“90 Bezeichnet er letzteres mit dem Terminus des „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls“,91 so bedeutet ihm die Totalität „zunächst nur das […], was in diesem Gefühl das Mitbestimmende ist, und worauf wir dieses unser Sosein und glaubt, liegt weit jenseits des Gebiets der Anschauung. So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick.“ 84 Ebd., 41. 85 Ebd., 40. 86 Vgl. Hirsch, Emanuel, Geschichte IV, 520f. 87 Ders., Der christliche Glaube, 30. 88 Vgl. dazu Pannenberg, Wolfhart, Problemgeschichte, 64f. 89 Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube, 28. 90 Ebd., 30. 91 Ebd., 29.
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zurückschieben, […].“92 Entscheidend bei dieser Bestimmung ist, dass sie die im transzendentalen Wirklichkeitsbewusstsein veranschlagte privilegierte Position des Ichs aufrecht zu erhalten erlaubt, ja sie ihrerseits auf eine neue Grundlage zu stellen beansprucht. Das Ich setzt sich gegenüber der Welt als „Gesamtheit des zeitlichen Seins“93 autonom und weist darin zugleich einen Totalitätsbezug auf, der sich als Anknüpfungspunkt für eine religiöse Betrachtung des Selbstverhältnisses eignet. Frömmigkeit und Autonomiebewusstsein greifen für Schleiermacher ineinander.94 Irreführend ist es vor diesem Hintergrund, wenn Iwand in seiner Dissertation die „Definition der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (66) als adäquaten Ausdruck für jenen Absolutheitsbegriff bezeichnet, den er seinerseits in Relation auf die antinomische Struktur des Selbstbewusstseins entwickelt hat. Klingt dabei die Bezugnahme auf Schleiermacher an,95 so verbietet sich von Iwands Voraussetzungen die Vorstellung einer dem Bewusstsein analogen Totalitätserschließung. Im Horizont der dialektischen Bestimmung des Verhältnisses von Totalitätserlebnis und Selbstsetzung ist das Totalitätsbewusstsein immer eine kritische Größe. Es vermag seines Ganzheitsbezuges lediglich in der Erfahrung der eigenen Nichtidentität wider sich selbst gewahr zu werden. In diesem Sinne haben alle Aussagen, die das Verhältnis von Totalität und Bewusstsein betreffen, einen paradoxen Charakter. Kann Iwand das Erlebnis seinerseits als einen Zustand „vollständiger Passivität bei vollster Aktivität“ (63) bestimmen, so ist dies so zu verstehen, dass zwei einander widersprechende Aussagen einem Ich zugesprochen werden. Beide Momente indizieren eine Totalbestimmung des erlebenden Selbstvollzuges und sind dem Bewusstsein nur dadurch vermittelt, dass es über seinem Unbedingtheitsstreben in Widerspruch zu sich gerät und „zur Anerkennung der Lebenseinheit als absolut gesetzte[r] Totalität“ (65) genötigt wird. Hinsichtlich seines Verhältnisses zu Schleiermacher kann man sagen, dass Iwand die religiöse Vorstellung „von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln“96 der Totalität gerade um der Implikationen willen aufnimmt, um deretwillen sie Schleiermacher später fallen gelassen hat. Indem er das Selbstverhältnis in dialektischer Bezogenheit darauf entfaltet, sucht er sie gegenüber den divergierenden Bestimmungen des transzendentalen Wirklichkeitsbewusstseins durchzuhalten. Unzulässig ist es im Sinne Iwands, den erlebenden Wirklichkeitsbezug als einzig durch die Bewusstseinsidentität vermittelten zu bestimmen. Denn einerseits wird damit die fundamentale Infragestellung der 92 Ebd., 30. 93 Ebd., 29. 94 In diesem Sinne hat Wolfhart Pannenberg Schleiermachers Frömmigkeitslehre als eine „philosophisch originelle[.] Variante idealistischer Subjektivitätstheorie“ bezeichnet; ders., Problemgeschichte, 69. 95 Vgl. NW VI, 329. Immerhin spricht Iwand im Unterschied zu Schleiermacher lediglich von einer „schlechthinnigen Abhängigkeit“ und nicht von einem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl. Er vermeidet damit sie auf eine Zuständlichkeit des Selbstbewusstseins zurückzuführen, was für Schleiermacher jedoch den Kern seiner Theorie der religiösen Erfahrung ausmacht; vgl. Pannenberg, Wolfhart, Problemgeschichte, 65–68. 96 Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion, 52f.
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Selbstbezüglichkeit des Ichs durch die Totalität umgangen. Andererseits führt die subjektiven Interessen verpflichtete Entfaltung der Totalitätsbeziehung zu einer transzendentalen Verflüchtigung derselben im Sinne eines unbestimmten „Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins […].“97 .. Zusammenfassung In unserer Darstellung der Kritik Iwands an Heim sind wir davon ausgegangen, dass er dessen Vorstellung vom seiner selbst absolut gewissen Ich, welches die Basis für die Entfaltung seines Gottesgedankens ist, zurückweist. Er bezieht sich dabei zunächst auf Kants Bestimmung des transzendentalen Wirklichkeitsbewusstseins, wonach sich dessen Gesamtstruktur immer aus der Duplizität von Verstandestätigkeit und Gegebenem zusammensetzt. Unter dieser Voraussetzung erweist sich ihm die Konstatierung einer sich gegenüber der sinnlichen Erfahrung absolut setzenden Ich-Identität als aporetisch. Der Verstand gelangt über seine Abhängigkeit von Gegebenem nicht hinaus, sondern muss sie immer schon voraussetzen. Was geschieht, wenn er sich dennoch darüber hinwegsetzt und die Totalität des Daseins aus sich heraus zu konstruieren sucht, zeigen die in der Vernunft selber aufbrechenden Antinomien an. Iwand interpretiert sie dahingehend, dass das reflexive Bewusstsein hier mit sich selber nichtidentisch wird, insofern es unter einander widerstreitende Bestimmungen gerät. Ist seine Kritik an Heim so weit im Horizont des transzendentalen Wirklichkeitsbewusstseins nachvollziehbar, so geht er dort, wo er seinerseits den religiösen Bezugsrahmen des Selbstbewusstseins bestimmt, einen entscheidenden Schritt darüber hinaus. Zwar hält er die transzendentale Wirklichkeitssicht bis zu einem gewissen Grad dafür geeignet, überzogene Ansprüche des am Leitfaden der Subjektivität entfalteten menschlichen Erkenntnisvermögens zu korrigieren. Im Entscheidenden bleibt sie aber in ihrer Kritik an der Selbstermächtigung des Bewusstseins ohnmächtig, weil sie sich ihrerseits dem Objektsetzungsmodell verpflichtet weiß und die Wirklichkeit des Nicht-Ichs lediglich als Grenze seiner Selbsttätigkeit in den Blick bekommt. In diesem Sinne bleibt sie potentiell beherrschbares Material der Selbstverwirklichung. Unvollziehbar ist, dass es zu einer Bestimmung des Ichs durch einen von seiner Setzungstätigkeit unabhängigen, äußeren Einfluss auf es kommt, wie ihn nach Meinung Iwands der junge Schleiermacher in seinen Reden geltend gemacht hatte. Die gegen Heim vorgetragene Kritik, dass der Mensch nicht mehr als Ganzer vor sich kommt und sein Ich unbestimmt bleibt, wendet sich auf höherer Ebene gegen die transzendentale Sichtweise. Unter dem Begriff des Erlebens fragt Iwand nach einem Zugang zur Wirklichkeit, der von der transzendentalen Sichtweise nicht mehr abhängig gedacht werden darf und der für die Religion der maßgebliche ist. Dabei sucht er es 97 Ebd., 28. Vgl. Dalferth, Ingolf U., Subjektivität, 42.
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zu vermeiden, die Struktur des Erlebens aus einem Gegensatz von Vernunftprinzipien heraus zu entfalten, und dem Sachverhalt gerecht zu werden, dass es sich in einem dynamischen Wechsel von Momenten des Bestimmens und bestimmt Werdens als sich selber entzogenes erfährt. Das Wesen religiösen Erlebens sieht er in einer Bestimmung des Ichs durch die Lebenseinheit als absolut gesetzte Totalität, die selber nicht mehr in die Reflexion gehoben werden kann. Andererseits entfaltet er diese umfassende Totalitätsbestimmung aber in Relation auf die reflexive Selbstauslegung. Das Verhältnis zwischen bewusster Erfahrung und Erleben stellt sich ihm unter dieser Bedingung als ein dialektisches dar, und in diesem Sinne weiß er die Antinomieproblematik seinem eigenen Ansatz zu reintegrieren. Ist die Identität des Erlebens eine totale, so kommt sie darin zu Bewusstsein, dass sie in ihm einen Widerstreit auslöst, sobald es sich im Verhältnis zu sich selber absolut identisch setzt. Umgekehrt wird ihm das Innewerden der eigenen Nichtidentität dabei zum Hinweis, dass es mit der Totalität befasst ist. Iwand bestimmt die religiöse Erfahrung ihrem Wesen nach als eine Differenzerfahrung. An dieser Kernbestimmung lässt sich zugleich der Unterschied zu Schleiermachers Verständnis des religiösen Abhängigkeitsbewusstseins festmachen, auf das er sich bezieht.98 So ist die eigentliche Bedeutung von Iwands anthropologischen Erörterungen dahingehend zusammenzufassen, dass er die Insuffizienz der transzendentalen Betrachtungsweise für die Beschreibung des Erlebens und unter der Leitung dieses Begriffes einen umfassenden Zugang zur Wirklichkeit geltend gemacht, der auf erstere dialektisch bezogen bleibt.99 Wie verhalten sich die für den erlebenden Wirklichkeitsbezug herausgearbeiteten Bestimmungen nun zu den spezifisch theologischen?
. Iwands theologische Interpretation der Selbstbewusstseinsproblematik .. Zum Verhältnis von theologischem und außertheologischem Wirklichkeitsbewusstsein Vor dem Hintergrund der dargestellten Überlegungen Iwands muss die starke Betonung der Divergenz zwischen philosophischer und theologischer Erörterung, die er auf den ersten Seiten seiner Dissertation anmahnt, zunächst überraschen. 98 In seiner 1957 gehaltenen Vorlesung zur Prinzipienlehre der Dogmatik bestimmt er die Differenz zu Schleiermacher deutlicher. Er kritisiert im Blick auf dessen Fassung des Verhältnisses von Gottes- und Selbstbewusstsein, dass der Totalitätsgedanke erst dort angemessen gefasst ist, wo Gott als das „aus der Reflexion nie mehr zu erreichen[de] […] [und] in ein Innen nicht auflösbare ‚Aussen‘“ gesetzt ist; ebd., 10. Std., 2. Weil es auf Grund dieser Bestimmung „keine Einheit von Selbstbewusstsein und Gottesbewusstsein geben“ kann, ist die Beziehung keine unmittelbare, sondern dialektisch vermittelt; ebd. 99 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 30: „So bleibt in aller sinnlichen Erfahrung ein einsames Ich, dem es nicht gelingt, aus seiner Einsamkeit herauszutreten, weil es das aktive Element bei aller sinnlichen Erfahrung ist und weil seine Passivität es dem Nichts gegenüberstellt. Das heisst im Grunde, in der Sinnlichkeit kann es niemals zum Erlebnis kommen.“
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In diesem Sinne wendet er gegen Heim ein, „dass die Entscheidung für die Wirklichkeitsgeltung des christlichen Glaubens von dem Ernst abhängt, mit welchem die Einzelfragen desselben angefasst werden“ (10). Das Problem der Glaubensgewissheit wird der Dogmatik als derjenigen Reflexionsgestalt zugespielt, die mit ihrer konstitutiven Bezogenheit auf die in der „Einzigartigkeit Christi“ (6) erschlossene Gotteswirklichkeit allein die Voraussetzung rechten Fragens erfüllt. Unter dieser Bestimmung ist es von der philosophischen Fassung des Gewissheitsproblems charakteristisch unterschieden. Der Anspruch auf absolute Gewissheit ist für den christlichen Glauben „an die geschichtliche Größe Jesu“ (6) und somit an die „Sphäre des veränderlichen Bewusstseins“ (7) gebunden. Mit ihm allein verbindet sich die Erwartung, dass das Dogma „Wahrheit und Wirklichkeit“ (10) zu vereinigen vermag. Greift Iwand bei seiner Erläuterung und Kritik der Gewissheitsfrage auf einen genuin theologischen Aussagezusammenhang zurück, so ist dies aber wiederum nur verständlich vor dem Hintergrund seiner erfahrungsbezogenen Erörterungen zum Totalitätsverhältnis des Menschen. Dass er den Gottesbezug nicht in unmittelbarer Anknüpfung an das bewusste Selbstverhältnis entfaltet, hängt damit zusammen, dass er die Relation des Ichs auf die Totalität – anders als Schleiermacher – als eine negative bestimmt. Insofern es im Verhältnis zu ihr in Differenz zu sich selber tritt und jeglicher Selbstgewissheit verlustig geht, scheidet für ihn der Weg aus, positiv an dieses Abhängigkeitsverhältnis anzuknüpfen. Festzuhalten ist aber, dass Iwand dem Menschen ein Wissen um die Totalität als diejenige Größe, auf die sich die Theologie mit dem Wort „Gott“ bezieht, zubilligt.100 Auf Grund der kontradiktorischen Bestimmung des Ichs als „Wille zum Absoluten“ vermag er letzteres aber nicht zu aktualisieren. Iwands Argumentation schillert in diesem Sinne zwischen einer negativen religionsphilosophischen Begründung des Gottesgedankens und seiner positiven Entfaltung von offenbarungstheologischen Axiomen her. Dabei sieht er gerade in der subjektiven Notwendigkeit, „sein Leben aus der gegenständlichen Erfahrungswelt [zu] erklären“ (12), die Ohnmacht religionsphilosophischer Kritik an der Selbstermächtigung des Bewusstseins begründet. Als Konsequenz aus der irrationalen Totalitätsbestimmung ergibt sich unter diesen Bedingungen lediglich die nihilistische Selbstverneinung.101 – Der erwartete Gewinn der Glaubensperspektive ist demgegenüber so zu bestimmen, dass der Mensch in ihr noch einmal anders von sich unterschieden wird als 100 In dieser Hinsicht würdigt er in einer 1957 gehaltenen Vorlesung die bleibende Bedeutung Schleiermachers und interpretiert: „Schleiermacher hat gezeigt […], dass die Leugnung Gottes unhaltbar ist, […]. In dieser Antithese hat er Recht! […] Das menschliche Selbstbewusstsein hat sozusagen eine heimliche Tür – nach draussen, eine Tür, von der es selbst oft gar nichts weiss. Diese Tür mir in meinem innersten Selbst zu zeigen, zu zeigen, dass wir mit dem Namen Gott meinen: dass diese Tür aufgeht, dass sie ganz woanders hin aufgeht als alle meine Sinne und mein waches Bewusstsein – das war Schleiermachers Anliegen und darin hat er Recht“; Prinzipienlehre, 11. Std. 101 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 13: „Denn damit, dass der Mensch von sich absieht, ist noch keineswegs gesagt, dass er auf Gott hinsieht, er kann auch ins Nichts sehen. Der Glaube kann nur dann vor dem Vorwurf des Illusionismus gesichert sein, wenn er an der Offenbarung Gottes entsteht und so von vornherein eine Beziehung hat, in welcher er schwingt.“
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dies im durch die Dialektik von Erleben und bewusster Erfahrung bestimmten Horizont einzusehen war. Damit ist zugleich der Ort benannt, an dem Iwand die Christusoffenbarung ansiedelt und in Relation auf das außertheologische Wirklichkeitsbewusstsein entfaltet. Er versteht das Verhältnis so, dass die am außertheologischen Wirklichkeitsbewusstsein gewonnen Bestimmungen innerhalb des theologischen Aussagezusammenhanges in ein neues Licht gesetzt werden. Letzteres soll in der Weise geschehen, dass es – um mit Dalferth zu reden – „ zu einer internen Rekonstruktion der externen Perspektive kommt.“102 In diesem Sinne formuliert Iwand in einem Brief gegenüber Rudolf Hermann: „Die Vereinigung von Glauben und Wissen könnte ich auch mein Berufsziel nennen, wenn man darunter die konsequente Durchdringung der Lebensanschauung vom Standpunkt des Glaubens versteht, das Ernst-Machen mit der christlichen Verkündigung für das Ganze der Weltanschauung.“103
Unter diesen Voraussetzungen kann die Glaubensperspektive – anders als Heim dies beansprucht – ihre besondere Evidenz nicht mehr aus den allgemein zugänglichen anthropologischen Einsichten ableiten. Zwischen beiden Perspektiven herrscht kein deduktiver Zwang. Dennoch gestaltet Iwand die Vermittlung zwischen beiden als ein beständiges Werben für die Sichtweise des Glaubens im Horizont eines ihr zu Grunde liegenden Wirklichkeitsbewusstseins. Wie gestaltet sich unter diesen Bedingungen das Verhältnis der Christusoffenbarung zur durch die Krisis subjektiver Selbstauslegung charakterisierten Wirklichkeitssicht? .. Das Verhältnis von Selbst- und Sündenerkenntnis als Grundproblem für die Bestimmung des menschlichen Gottesverhältnisses Die theologische Erörterung der Gotteswirklichkeit läuft in Iwands Dissertation denjenigen Bestimmungen parallel, die er über die dem Zugriff des Bewusstseins entzogene Totalität des Lebens trifft . Das vom Interesse der subjektiven Selbstbehauptung domestizierte Totalitätsverständnis betrachtet er als ein geeignetes Medium, um die Bezogenheit des Menschen auf die allem bewusstseinsinternen Begreifen voraus liegende schöpferische Wirklichkeit Gottes auszudrücken.104 Unter dieser Voraussetzung ergibt sich als fundamentale theologische Problemstellung, dass das dem Selbstbewusstsein zu Grunde liegende Identitätsverhältnis den Menschen dar102 Ders., Theologischer Realismus, 414. 103 NW VI, 93. 104 Vgl. Wittekind, Folkart, Das Erleben, 36. In diesem Sinne entfaltet Iwand seinen Gottesbegriff in strenger Korrelation darauf, indem er formuliert: „Gott ist mir der Herr des Lebens. Nicht der kausale Grund, sondern wenn ich das Leben als ein Ganzes sehe, dann merke ich, daß Gott sein Schöpfer ist. Ich kann nicht Gott dem Leben irgendwie als prima causa überordnen. Ich kann nur in dem Leben leben, das er mir gab und um mich her erschuf. Ich kann nur überall Leben sehen. Gott sehe ich nicht, aber sein Werk. Und es ist das Geheimnis des Lebens, daß man bei ihm nicht fragen braucht, wer hat’s gemacht – sondern weiß, daß Gott es machte, wenn anders man das Leben spürte“; NW VI, 81.
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an hindert, sich ganz aus Gott zu empfangen und die Einheit seines Werdens dem schöpferischen Wirken Gottes anheim zu stellen. Ist das Gotteserlebnis eine vom Bewusstsein immer schon verfehlte Möglichkeit, so bestimmt Iwand dessen antinomische Struktur als dasjenige Moment, in dem die sündige Selbstverschlossenheit des Menschen greifbar wird und ordnet sie dem Gesetz zu. Die Sünde besteht für ihn darin, dass das Bewusstsein nicht umhin kann, sich als absolut identisches vorauszusetzen. Demgegenüber interpretiert er die an der irrationalen Totalitätssetzung aufbrechende Antinomie des Totalitätsbewusstseins als Gesetzeserfahrung.105 In ihr wird es sich dessen bewusst, dass es sich das Identitätsprädikat ungerechtfertigter Weise aneignet. Im Verhältnis zum Gewissheitsverständnis Heims hat diese theologische Interpretation ihre Pointe darin, dass das, was bei diesem als entscheidender Gewinn des christlichen Glaubens galt – nämlich die Sicherung der Identität im Verhältnis zur Umwelt – als Grundmoment in sich selbst verschlossener Konkupiszenz aufgedeckt wird. Unter kreuzestheologischem Vorzeichen interpretiert er es „[…] als Eigenart der von sich aus nach Gott strebenden menschlichen Religion.“106 Diese Umwertung greift ineinander mit einer weiteren Gewichtsverschiebung in der Hamartiologie. Den Kardinalfehler Heims sieht Iwand darin, dass die Sünde lediglich ein „innermenschlicher Vorgang“ (43) bleibt, wobei er den „naturhaften Dualismus“ (47) von Idealität und Realität zum Interpretationsrahmen macht. Kann er von dieser Voraussetzung her nicht zur „Erörterung des Amor Dei concupiscibilis“ (44) im Sinne reformatorischer Theologie vorstoßen, so macht Iwand demgegenüber den „Dualismus Luthers zwischen Gott und Ich“ (47) zum Ausgangspunkt seiner Reflexion und bezieht diesen auf den im Totalitätsbewusstsein anhebenden antinomischen Widerstreit.107 Als Gewinn seiner Erörterungen zum Zusammenhang von Gesetz, Sünde und Gotteserkenntnis lässt sich festhalten, dass er die an der Antinomie des Totalitätsbewusstseins entwickelten Wirklichkeitsbestimmungen in einen genuin theologischen Aussagezusammenhang transformiert. Dieser Sachverhalt 105 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 62: „Man kann sagen, dass wir hier auf ein Gesetz stossen, welches erst dann als solches erscheint, wenn es übertreten ist. Dieses ist die Eigenart der göttlichen Gesetze.“ 106 Wittekind, Folkart, Das Erleben, 37. Vgl. Zur methodischen Verwendung, 45: „Mit jedem religiösen Empfi nden ist ein eritis sicut Deus verbunden, welches vielmehr von der Endlichkeit des Menschen als der seiner Geschöpfl ichkeit kritisiert werden sollte, als dass die religiöse Empfi ndung zur Kritik gegen die endliche Gebundenheit des Menschen benutzt wird. Dadurch wird die Absolutheit zu einer Forderung an die Welt und an die Natur, damit tritt der Zerfall der Schöpfung in Natur und Geist ein und die Sünde verwandelt sich in eine Antinomie. Denn weil die Welt dem absoluten Begehren nicht entspricht, und der Mensch die Gebote nicht durchsetzen kann, die die Vernunft ihm aufgibt, so bleibt die Wirklichkeit hinter der Erwartung des Menschen zurück, und das Absolutheitsstreben fi ndet keine Befriedigung. […] Verharrt doch […] das Ich in einem dauernden Wechsel von Freiheitsgefühl und Abhängigkeit. […] Damit wird die Religion ihres Erlebnischarakters beraubt, sie bleibt höchstens noch Sehnsucht nach Erlebnis und der Glaube ist die Hoff nung auf Erfüllung der Sehnsucht.“ 107 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 47f: „Gott als Gesetzgeber wird zum Anlass der Sünde. […] In einer theozentrischen Theologie […] muss die Relation von Gesetz und Sünde den Ausgangspunkt bilden, der dem synthetischen Akte der Rechtfertigung entspricht und diesem einen adäquaten Ausdruck gibt.“
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stellt einerseits eine Zuspitzung dar: Das Identitätsverlangen des Menschen wird nun als sich sündhaft gegen Gott verschließende Konkupiszenz aufgedeckt und das Innewerden von Nichtidentität als Gesetzeserfahrung unter der Verborgenheit Gottes qualifiziert. In diesem Sinne bieten die theologischen Bestimmungen aber andererseits lediglich eine Verschärfung des Dilemmas, das durch die Erörterung des Antinomieproblems angezeigt worden ist. Nicht einzusehen ist hingegen, wie es von ihnen her zu einer soteriologischen Neuqualifizierung der Wirklichkeit kommt und die Gewissheitsfrage im Glauben einer alternativen Lösung zugeführt wird. Tatsächlich äußert Iwand sich dazu in seiner Dissertation lediglich in Andeutungen, die jedoch indizieren, dass eine umfassende Anschauung dahinter steht. Es überwiegt das kritische Pathos gegen Heim. Hinweise, auf welcher Linie er die evangelische Neubestimmung der Wirklichkeit verfolgt, liegen dort vor, wo er die „Willenseinheit zwischen dem Gläubigen und Gott […] durch die Vermittlung und Fürsprache Christi“ (46) realisiert sieht bzw. wo er konstatiert, dass „der Glaube mit seinem Inhalt“ (66) eine Totalität bildet. Geleitet von dem Interesse zur Klärung dieses Hintergrundes weiten wir unsere Untersuchung über den Textbefund der Dissertation hinaus. Wir legen dem die Frage zu Grunde: Wie sieht für ihn angesichts der Krisis des Identitätsbewusstseins die evangelische Neubestimmung des Gottesverhältnisses aus? .. Die rechtfertigungstheologische Fundierung der Glaubensgewissheit in einem christologisch vermittelten Selbstverhältnis ... Voraussetzungen Bevor wir die Entwicklung von Iwands Gedanken über die Dissertation hinaus weiter verfolgen, fassen wir zusammen, welche maßgeblichen Bestimmungen sich aus der Einordnung der Antinomie des Totalitätsbewusstseins in einen gesetzestheologischen Rahmen ergeben: – Der Sachverhalt, dass die Totalität für Iwand eine irrationale Größe ist, die genau dort zu Bewusstsein kommt, wo dieses seine Wirklichkeitsauslegung holistisch abzuschließen sucht, hat für die Charakterisierung der Beziehung zu ihr weit reichende Konsequenzen. Sie erschließt sich ihm nicht – wie das transzendentale Wirklichkeitsbewusstsein suggeriert – als eine umfangsmäßige Bestimmung des Daseins, sondern als Implikat der sinnlichen Erfahrung selbst, d.h. im Innewerden von Nichtidentität. Dies bedeutet, dass der Gegensatz von allgemeiner Notwendigkeit und empirischer Kontingenz seine Maßgeblichkeit für die Suche nach absoluter Gewissheit verliert. Das Ich ist sich nie anders gegeben als in der die sinnliche Erfahrung kennzeichnenden Abhängigkeit von zufälligen Gegebenheiten und der Versuch letztere zu transzendieren eine Illusion.108 Umgekehrt darf diese Abhängig108 Gegenüber Heim macht er geltend, dass die Glaubensgewissheit eine solche sein muss, die der geschichtlichen „Sphäre des veränderlichen Bewusstseins“ niemals entraten kann; Zur methodischen Verwendung, 7.
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keit nicht als Hindernis für die Realisierung der Totalitätsbeziehung angesehen werden. Letztere erschließt sich gerade darin, dass ein kontingentes Moment der sinnlichen Erfahrung für das Bewusstsein so bestimmend wird, dass es sich daran ungleichzeitig wird und dies als Totalbestimmung seines Daseins erlebt. Wo dieses Moment in die Reflexion gehoben wird, anerkennt das Ich sich im Widerspruch zu sich selbst als absolut gesetzt. Dass es sich dabei um ein paradoxes Urteil handelt, ist auf sein Unvermögen zurückzuführen, sich anders als setzend auf die Wirklichkeit zu beziehen, damit aber zugleich seinen umfassenden Wirklichkeitsbezug zu verfehlen. – Theologisch gesprochen ist jener Sachverhalt Ausdruck für die prinzipielle Rechtfertigungsbedürftigkeit des Bewusstseins. Sie wird von Iwand in der Weise zugespitzt, dass er ihm auf Grund der soeben angezeigten Verfassung das Vermögen abspricht, ein angemessenes Verständnis von der Wirklichkeit Gottes zu entwickeln. Von seinen Bestimmungen zur antinomischen Struktur des Bewusstseins her interpretiert er Schleiermachers Überlegungen zum Abhängigkeitsbewusstsein mit den Worten: „Unser Gottesbewusstsein hat nur das zum Inhalt, dass wir ihn nicht kennen!“109 Unter dieser Voraussetzung fällt allerdings ein neues Licht auf den eingangs genannten Sachverhalt, wonach er es ablehnt, dem subjektiven Glaubensvollzug eine selbständige Bedeutung für das Zustandekommen der Gottesbeziehung beizumessen.110 Es handelt sich bei dieser Bestimmung nicht lediglich um ein offenbarungstheologisches Axiom, sondern sie ist streng bezogen auf die anthropologischen Erörterungen. Von daher kommt ihr eine rechtfertigungstheologische Valenz zu. – Den Glauben vermag Iwand durchaus als eine menschliche Haltung zu beschreiben. Er entfaltet sein Glaubensverständnis im Anschluss an das 1. Gebot und interpretiert es als Forderung nach Anerkennung der Gottheit Gottes.111 Diese Definition läuft dem parallel, was er im religionsphilosophischen Kontext als „grundsätzliche Anerkennung der Lebenseinheit als absolut gesetzte Totalität“ (65) qualifiziert. Problem dieser Haltung ist allerdings, dass sie an sich betrachtet ein Paradox darstellt: Insofern es sich dabei um ein menschliches Urteil handelt, bedeutet es zugleich ein aktives sich Beziehen auf etwas, was von der Definition der Gotteswirklichkeit als Totalität her ausgeschlossen ist. Der Ermöglichungsgrund dazu muss anderswo gesucht werden als im Bewusstsein. In diesem Sinne wird für Iwand die Christologie virulent, die er als Überwindung der manifestierten Widerspruchsrelation von Gott her interpretiert. Erst vermittelst der Christusoffenbarung findet das Bewusstsein für Iwand jenen Zugang zum „Unendliche[n] im Endlichen“ (11), der in der religionsphilosophischen Tradi109 Prinzipienlehre, Do. 11. Std., 6. 110 Vgl. Abschnitt 2.1.1.1. 111 Explizit stellt er diese Defi nition an den Beginn einer siebzehn Jahre später veröffentlichten Studie zur „Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre“: „[…] Gott recht geben ist die formale Voraussetzung in allem Glauben. Glauben heißt: sich Gottes Urteil zueigen machen, seiner Verheißung vertrauen, seine Vergebung gelten lassen. Wenn wir Gott recht geben, tun wir den ersten Schritt des Glaubens, […]“, GA II, 22.
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tion, auf die er sich bezieht, bereits aus der internen Bewusstseinsstruktur als solcher entwickelt wurde. Im Zuge dessen entfaltet er ein völlig neues Verständnis von Personalität, das wir im Folgenden darstellen. ... Die Antinomie des Selbstbewusstseins als Nichtidentität im Schuldspruch des Gewissens Es ist vor allem seiner Beschäftigung mit der Theologie Luthers zu verdanken, dass Iwand im Zuge seiner weiteren theologischen Arbeit die antinomische Struktur des Bewusstseins in der Weise zum Gegenstand theologischer Erörterung gemacht hat, dass es sich im Schuldspruch des Gewissens als nichtidentisches erfährt. Dabei ist der Bezugspunkt zum transzendentalphilosophischen Wirklichkeitsbewusstsein nicht zu verkennen: In der Entfaltung des kantischen Systems kommt der dritten von ihm konstatierten Antinomie eine entscheidende Bedeutung zu, schließt sich an die Dialektik von Naturkausalität und Freiheit doch die Frage an, wie Vernunft im Blick auf die wirkliche Welt praktisch wirksam werden kann. Kant begnügt sich hinsichtlich dieser Antinomie denn auch nicht damit, ihre Bestimmungen im Sinne der Unterscheidung von regulativer und empirischer Erkenntnisfunktion gegenüber zu stellen. Es geht ihm vielmehr darum einen Freiraum dafür offen zu halten, der eine normative Funktion der Vernunft hinsichtlich der Bestimmung der Erscheinungswelt durch Sittlichkeit und Moral als zu denken möglich erlaubt. Dem Nachweis dieser Funktion dient der gesamte praktische Teil seines philosophischen Systems. Worauf er sich dabei bezieht, ist Folgendes: Entsprechend seiner Doppelkonstruktion von Idealität und empirischer Realität unterscheidet er jeden Gegenstand danach, was er seiner Erscheinung und seiner Ansich-Bestimmtheit nach ist. Folgt er im Bezug auf erstere der Naturkausalität, so billigt er ihm im Bezug auf letztere einen intelligibelen Charakter zu.112 Für die Bestimmung des menschlichen Ichs und der ihm zuzuschreibenden Handlungen ergibt sich daraus, dass jede von ihnen „im empirischen Charakter des Menschen vorher bestimmt [ist], ehe noch als sie geschieht. In Ansehung des intelligibelen Charakters, wovon jener nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher, oder Nachher, und jede Handlung, unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligibelen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, ohne in der Kette der Natursachen, durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein, […].“113 Diese als Grund legende Voraussetzung seiner Moralphilosophie getroffene Unterscheidung ist es, die Iwand dazu bewogen hat Kant als den „echteste[n] […] von allen Idealisten“ zu bezeichnen und ihm vorzuwerfen, dass er über dem „Glanz des Imperativs“ die wirkliche Welt vergisst.114 In seiner Disser112 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 492f. 113 Ebd., 502f. 114 NW IV, 54. Vgl. ebd.: „Der Idealismus ist nichts anderes, als daß der Mensch über dem Schauen des Gesetzes und seiner Herrlichkeit sich vergißt und die Welt entwickelt aus der Herrlichkeit des Gesetzes.“
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tation hatte Iwand an der Bestimmung des transzendentalen Ichs kritisiert, dass es den Menschen „unbestimmt“ (32) lässt, insofern es sich dabei um ein zeitloses Vernunftprinzip handelt, von dem nicht einzusehen ist, wie es auf das erlebende Ich zu beziehen ist.115 Immerhin konnte er in diesem Zusammenhang noch den erkenntniskritischen Vorbehalt Kants gegenüber der Vorstellung von Heims nichtgegenständlichem Ich geltend machen. Auf Grund der Art, wie Kant im Bezug auf den praktischen Teil seiner Vernunftkritik das Prinzip der Zeitlosigkeit des Ichs einbringt, kommt er für Iwand ganz auf der Seite der zu überwindenden idealistischen Wirklichkeitssicht zu stehen. Dem ist dadurch Vorschub geleistet, dass Kant bei der Konstruktion des zeitlosen Ichs nicht stehen blieb, sondern letzteres seiner selbst in einem Vernunftglauben vergewisserte.116 Iwand stellt diese Glaubensfassung ganz auf eine Linie mit dem sich im Sinne des Vernunftkonstruktivismus zum Unendlichen erweiternden Ich und formuliert: „Dies ist ein Glaube, bei welchem ich mich selbst entscheide, mich im letzten von der Vernunft her noch faßbaren Sinne zur Person im Sinne ‚endloser Dauer‘ erhebe.“117
In Relation zu dieser Fassung des Postulates unbedingter personaler Identität entfaltet Iwand sein theologisches Verständnis der menschlichen Existenz als ein durch die Sünde total korrumpiertes und allein durch den Zuspruch des göttlichen Vergebungswortes zu einem neuen Leben aus der Verheißung befreites Dasein. Dem idealistischen Persönlichkeitsideal setzt er ein an der Anthropologie Luthers entwickeltes Modell von Personalität entgegen, das durch die Dialektik von Identitätsstreben und Selbstwiderspruch bestimmt ist. Insofern diese aus subjektivem Vermögen nicht zu überwinden ist, ja die auf sich selbst bezogene Person nicht einmal die Richtung vorzeichnen kann, in der dies geschieht, kann er sie auch als „Psychologie des unfreien Willens“ bezeichnen.118 Die spezifische Leistung Iwands für die Vermittlung reformatorischer Theologie mit dem transzendentalen Wirklichkeitsbewusstsein ist dahingehend zu bestimmen, dass er seine bewusstseinskritische Sichtweise theologisch nicht lediglich voraussetzt, sondern am Paradigma des transzendentalen Wirklichkeitsbewusstseins respezifiziert und plausibilisiert. An diesem Punkt kommt seine Intention zum Zuge, den Gewissheitsanspruch des Glaubens in Relation auf „das Ganze der Weltanschauung“ zu entfalten.119 Seine Vermitt115 Vgl. Abschnitt 2.2.4.1. 116 Iwand bezieht sich auf Kants Bestimmung der zweiten Vernunft kritik, nach welcher der rechtschaffene sagen darf: „ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen; denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nicht nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt, […]“; Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft , 277f. Vgl. Iwand, Hans Joachim, Wider den Missbrauch, 122. Zur Darstellung vgl. Assel, Heinrich, „…für uns zur Sünde gemacht…“, 195f. 117 Vgl. Iwand, Hans Joachim, Wider den Mißbrauch, 122. 118 Prinzipienlehre, 15. Std., 5. 119 NW VI, 93.
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lung gestaltet sich folgendermaßen: Hatte er die religiöse Haltung in Relation auf die antinomische Struktur des Bewusstseins als „grundsätzliche Anerkennung der Lebenseinheit als absolut gesetzte Totalität“ bestimmt, so kommt sie in praktischer Hinsicht genau darin zum Tragen, dass das Gewissen die eigene Ohnmacht gegenüber seinem in der Vergangenheit schuldig gebliebenen Sollen anerkennt. Das Ich tritt an dieser Stelle in Differenz zu sich selber, insofern es – als intelligibeles Ich im kantischen Sinne – zu jeder Zeit unter dem Anspruch stand und steht, seine Bestimmung als Vernunft wesen zu verwirklichen. Im Sinne der Vernunft handelt es sich um einen Totalanspruch. Als zeitliches Ich ist ihm die Einlösung dieser Möglichkeit aber zumindest hinsichtlich seiner Vergangenheit unwiederbringlich verspielt, ohne dass der Anspruch des Sollens aufgehoben wäre.120 Kant hat dieses Problem gesehen und in seiner Religionsschrift das Postulat des Vernunftglaubens um das eines gnädigen Gottes erweitert, der die Differenz zwischen guter Gesinnung und ihr vorausgehender Schuld ausgleicht.121 Im Sinne Iwands handelt es sich dabei jedoch lediglich um eine Erweiterung in zweiter Potenz, die sich wiederum dem Interesse verdankt, sein Prinzip Zeit übergreifender Ich-Identität gegen die Differenzerfahrung des erlebenden Ichs zu immunisieren. Zur Anerkennung der Situation des Ichs in dem indizierten totalen Sinne kommt es erst dort, wo es auf sein Dasein in der Zeit festgelegt wird. In diesem Moment aber, so formuliert Iwand im Anschluss an Luthers Galaterbriefvorlesung von 1531/35, muss es eingestehen, dass „die Gleichung Ich = Ich […] unsere Ohnmacht gegenüber dem Gewissen“ ist.122 An dieser Stelle aktualisiert sich die Totalitätsbeziehung des Bewusstseins. Sie ist dadurch qualifiziert, dass sie den Menschen nicht unbestimmt und ihn sein Identitätsverhältnis nicht auf einen transzendenten Grund zurückschieben lässt. Er wird hier bei seinem Sosein behaftet. Theologisch gesprochen ordnet Iwand diese Erfahrung dem Gesetz zu und formuliert: „Das Gesetz ist immer bezogen auf eine Erfahrung. Es redet dich an auf dein wirkliches Leben, aber so, daß dein wirkliches Leben aufgerufen wird als Zeuge für die Wahrheit, die im Gesetz Gottes selber ist. Das heißt, mein Leben, wie ich es erfahrungsmäßig lebe, spielt hier die Rolle dessen, der sagen darf: ‚Ja, so ist es.‘“123
Zeichnet sich die Totalität der Gesetzeserfahrung dadurch aus, dass der Mensch im Widerspruch zu seinem elementaren Selbstentwurf vor sich kommt, so vermag sie dennoch den entscheidenden Umschlag vom transzendentalen zum religiösen Wirklichkeitsbewusstsein nicht herbeizuführen. Zu Bewusstsein kommt letzteres erst dort, wo der Mensch auch noch das Scheitern an seinen Möglichkeiten nicht mehr auf sich zurück bezieht, sondern die Bestimmung seiner selbst ganz aus der Totalität empfängt. Ein dem erlebenden Wirklichkeitsbezug koinzidierendes Gottesverhältnis müsste für Iwand dadurch quali120 121 122 123
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Vgl. Assel, Heinrich, „…für uns zur Sünde gemacht…“, 195f. Vgl. Kant, Immanuel, Die Religion, 726–733. NW IV, 432. NW IV, 27.
fiziert sein, dass die Reflexivität des Ichs der Realisierung der Totalitätsbeziehung nicht mehr im Wege steht. In diesem Sinne bestimmt Iwand theologisch die Wirksamkeit des Wortes Gottes am Menschen folgendermaßen: „[…] wenn Gottes Wort an uns geschieht, dann heisst es nicht: Du bist Du, dann bestätigt er mir nicht jenes ‚Ich bin Ich‘, das ich in meinem Stolz oder in meiner abgründigen Verzweiflung sage, sondern er streicht jene Identität durch – als die Grundtäuschung, der ich erlegen bin. Und eben damit betreten wir das Reich, wo Er Herr ist, wo wir festen Boden unter den Füssen haben, wo nicht mehr die Frage zu unserer Lebensfrage wird, ob wir die Welt gestalten oder sie uns, sondern wo beide Positionen in ihrer Absolutheit aufgehoben sind […].“124
Dieser Sachverhalt ist der tiefere Grund dafür, warum die religionsphilosophische Betrachtungsweise gegenüber der Selbstermächtigung des Bewusstseins ohnmächtig, warum ihre Fassung des Totalitätsverständnisses insuffizient bleibt und warum das Bewusstsein subjektiv im Recht ist, wenn es sich der Anerkennung der Totalität als absolut gesetzter verschließt. Löst das religiöse Erlebnis dort, wo es ins Bewusstsein gehoben wird, immer nur jenen Widerstreit des Ichs gegen sich selber aus, so kann es niemals zu einer wirklichen Koinzidenz zwischen der Totalität und dem Menschen kommen. Die theologische Bestimmung der Insuffizienz des religiösen Bewusstseins besteht darin, dass letzteres dem Gesetz keinen anderen Sinn abgewinnen kann, als dass es den Menschen auf seine Taten zurückwendet.125 ... Die Neukonstitution der Person in Christus und der Zugang zum religiösen Erleben in einem christologisch vermittelten Selbstverhältnis Wir sind damit in unserer Darstellung an jenem Punkt angelangt, an dem für Iwand die theologische Neubestimmung des Menschen zum Tragen kommt und der die antinomische Selbstauslegung desselben vom Evangelium her in ein neues Licht setzt. Fasst er das Gesetz als theologischen Ausdruck dafür auf, dass das Bewusstsein über der Anerkennung der Totalität des Erlebens in Entzweiung zu sich gerät, so kann die soteriologische Lösung dieses Problems nur auf der Linie liegen, dass ihm, respektive der Antinomie des Selbstverhältnisses, ein neuer Sinn abgewonnen wird.126 Diese Sinnstiftung darf ihrerseits nicht als Setzung des Bewusstseins verstanden werden, sondern muss ihm gegeben bzw. von außen zugesprochen werden. In diesem Sinne bestimmt er die Christusoffenbarung als das Wort Gottes, in welchem dies geschieht und formuliert:
124 Prinzipienlehre, 2. Std. 125 Vgl. NW IV, 23: „Es ist eine Illusion, wenn man meint, der Mensch könne dadurch befreit werden aus diesem falschen Selbstverständnis, daß man seinen Blick auf seine Taten lenkt, darauf, daß er Böses tut. Das hat noch nie vermocht, diese Illusion zu zerbrechen.“ 126 Vgl. ebd., 22: „Den Sinn des Gesetzes erkennen, heißt seinen Sinn ändern. Die Sinnesänderung des Menschen, sie ist der Sinn des Gesetzes, […].“
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„Der Mensch steht einem in seiner Forderung der Sache nach erfüllten Gesetz gegenüber.“127
Die Suche des Bewusstseins nach einer die widersprüchliche Erfahrung zu einem Ganzen zusammenschließenden Einheit kommt hier tatsächlich zum Ziel. Der Mensch bekommt es mit einer erfüllten Wirklichkeit zu tun. Wie ist diese Erfüllungsperspektive nun aber im Unterschied zu der aus der Selbstauslegung heraus entworfenen bestimmt? Seine Christusauffassung entwickelt Iwand in enger Anlehnung an die reformatorische Rechtfertigungstheologie, wonach das Verhältnis zu Christus über das aktuelle Wortgeschehen in der Verkündigung vermittelt ist und seine Bedeutung darin zu stehen kommt, dass er im Geschehen von Kreuz und Auferstehung die Sünde des Menschen stellvertretend vor Gott trägt. Der Grundgedanke von Iwands Christologie ist, dass Gott durch sein Handeln in Christus jene Gemeinschaft verwirklicht, die ihm die Menschen auf Grund ihrer sündigen Selbstverschlossenheit schuldig geblieben sind. Unter dieser Voraussetzung ist das Verständnis des irdischen Daseins Jesu ganz von seiner inklusiven Bedeutung für alle übrigen Menschen bestimmt, deren Selbstverhältnis es im Innersten betrifft . Er kann sagen, „daß das Leben Jesu ein prinzipiell unabgeschlossenes, ein prinzipiell unerfülltes, ein immer noch und immer wieder offen stehendes, auf uns wartendes Leben ist […].“128 In diesem Sinne ist für ihn die Aneignungsproblematik, das pro me des Christusgeschehens, der Ort, um den seine Erörterungen kreisen.129 Sein primäres Interesse richtet sich nicht auf die Geschichtlichkeit des Ereignisses als solche, sondern darauf, wie es zum Zentrum des glaubenden Selbstverhältnisses wird: „Die Wahrheit Gottes zieht vom Kreuze her ein in mein Leben, ich erkenne sie, ich weiß, warum ich glaube. Ich begreife in einer nicht näher zu schildernden Exstasis, einer Versetzung an jene Stelle, daß mein Leben und diese Geschichte zusammenhängen, daß sie nicht wäre, wenn mein Leben nicht wäre, und mein Leben keine Hoffnung auf Wendung, auf Umkehr, auf Verwandlung hätte, wenn mir Gott diesen ‚topos pou sto‘, diesen Ort, wo ich stehen kann, nicht geschenkt hätte.“130
Die Formulierungen, um die Iwand hier ringt, indizieren die Schwierigkeiten, die es bereitet, diese Erfahrung im Horizont einer personalen Ontologie unterzubringen. Dies wird von ihm allerdings nicht zum Anlass genommen, den Stellvertretungsgedanken – wie es in neuzeitlichen Christologien usus gewesen ist – aufzugeben, sondern dazu, das von seinen eigenen Voraussetzungen her aporetische Persönlichkeitsideal einer Ontologie der Person zuzuführen, deren Kern die christologische Selbstunterscheidung ist. Die Christusbeziehung konstituiert sich nicht als personale Beziehung zum das Persönlichkeits127 Ebd., 451. 128 Ebd., 448. Vgl. ebd., 445: „Die Geschichte Jesu könnten wir gar nicht auf uns beziehen, wenn sie nicht je schon meine Geschichte, die Geschichte meiner selbst, soweit ich teilhabe am Menschsein und am Menschenlos, wäre. Dieses Kreuzigen geschieht mir, solange ich lebe.“ 129 Vgl. ebd., 446: „Das ‚für dich‘ heißt also: an deiner statt! Du bist mit diesem Gericht gemeint. Eben das ist ja nicht aus dem brutum factum des Kreuzes abzulesen, dies eben liegt in dem Wort vom Kreuz.“ 130 Ebd., 447.
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ideal seinerseits urbildlich darstellenden Jesus.131 Vielmehr ist das theologische Verständnis von Personalität unter den Bedingungen der Bewusstseinsantinomie so zu dynamisieren, dass der Glaubende seine Identität nicht aus der Reflexivität, sondern aus dem ihm in Christus zugesprochenen neuen Sein in der Versöhnung mit Gott schöpft.132 Obwohl er sich auch hier aktiv auf Wirklichkeit bezieht, ist diese Beziehung doch so strukturiert, dass der Grund für seine Selbstbehauptung gegenüber jener wegfällt. In diesem Sinne wird das Erleben vermittels des Christusglaubens der Erfahrung neu zugänglich gemacht. Lebenselement des Ichs ist nun die von sich loslassende Bestimmung durch Christus als dem neuen Menschen, der er zugleich in mir werden will. Die Personalität des Glaubens konstituiert sich im lebendigen Übergang vom auf sich selbst bezogenen zum Kraft der Stellvertretung Christi zugeeigneten Sein aus dem Wort der Versöhnung. Als Pointe von Iwands Erörterungen lässt sich festhalten, dass das Selbstverhältnis im Licht des Glaubens nicht bei sich bleibt, sondern zu einem christologisch vermittelten wird.133 Vor dem Hintergrund des in der Dissertation angezeigten religionsphilosophischen Horizontes ist der entscheidende Gewinn dieser Auffassung von der Personalität des Glaubens dahingehend zu qualifizieren, dass sie keineswegs als Abbruch des Diskurses mit den sich aus erfahrungs- und religionswissenschaftlichen Perspektiven ergebenden anthropologischen Bestimmungen zu werten ist. Im Gegenteil: Entgegen zuweilen anders lautender Äußerungen Iwands selber ist seine Fassung des Christusglaubens eine solche, welche dem Menschen religiöse Erfahrung allererst zugänglich macht. Setzt man seine späteren Erörterungen zu dem in der Dissertation formulierten Wollen in Beziehung, so sind jene als Aufweis des Realisierungszusammenhanges jener Totalität des Erlebens zu verstehen, in der Gottes- und Erfahrungswirklichkeit zusammenfallen. Dadurch, dass der Glaubende in Christus sein eigenes Sein zugleich als ein mit Gott versöhntes wieder erkennt, wird er dazu befreit im 131 Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube, 18. 132 Vgl. NW N. F. II, 429: „Glauben heißt: […] den Unterschied dahinfallen lassen, der von Hause aus – nach meinem ‚Fleisch‘, also nach meiner natürlichen Existenz – zwischen mir und ihm besteht […]. In ihm begegnet mir mein vor Gott verlorenes und wiedergewonnenes Leben.“ 133 In diesem Sinne interpretiert Heinrich Assel Iwands Verständnis der simul-Struktur reformatorischer Theologie mit den Worten: „Der anthropologische Kernsatz ‚simul iustus et peccator‘ spricht […] nicht zwei antinomische Prädikate einem feststehenden, identischen Subjekt zu. Vielmehr ist die menschliche Person lebendig und in Bewegung. Sie ist im Übergang: Im selben Moment, in dem sich der geistliche Mensch mit dem fleischlichen Menschen, seiner Sünde, identifi ziert, geht er nicht in ihr unter, sondern stirbt ihr ab. Er empfängt sich im selben Moment vor Gott aus der Verheißung. Er lebt als Gerechter auf. Die Regel ‚Gerecht und Sünder zugleich‘ bringt völlig Widersprechendes in einen Augenblick zusammen, um diesen Augenblick als Übergang vom Gericht zur Rettung zu umschreiben. Diese lebendige Bewegung, dieser Übergang vom Tod zum Leben, von Sünde zur Gerechtigkeit ist die Person in Christus. In diesem Übergang wird wahr, dass Sünde, Tod und Gericht auf Christus schon übertragen sind“, Assel, Heinrich, „… für uns zur Sünde gemacht …“, 206. Wenn wir in unserem Kapitel darauf verzichtet haben eine Darstellung der Christologie Iwands zu geben und uns dabei einer umfassenderen Auswertung der Quellen zu widmen, so ist dies darauf zurückzuführen, das Assel in seinem Aufsatz eine solche anhand von Iwands in den fünfziger Jahren gehaltenen Christologievorlesungen vorgelegt hat. Im zweiten Teil dieses Kapitels haben wir uns auf seine Interpretation fortwährend bezogen und setzten sie unserer eigenen Sichtweise voraus. Unser spezifisches Darstellungsinteresse richtete sich demgegenüber darauf, wie diese Erörterungen auf den in seiner Dissertation formulierten religionsphilosophischen Ansatz bezogen sind.
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Hören auf das Wort sein Leben in Personeinheit mit ihm als „absolut gesetzte Totalität“ (65) anzuerkennen. Die das religiöse Erleben charakterisierende Unterbrechung und Entsicherung ichzentrierter Selbstauslegung verliert im Glauben ihre Bedrohlichkeit und wird zur Quelle des Heils.134 Der Glaube erweist sich seinerseits als eine Differenzerfahrung und stellt die Einheit seines eigenen Werdens allein dem schöpferischen Handeln Gottes anheim. .. Die Selbsttätigkeit des Glaubenssubjektes unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium Nachdem wir herausgearbeitet haben, wie Christologie, Personsein und religiöses Erleben bei Iwand aufeinander bezogen sind, soll nun profi liert werden, welche Konsequenzen sich daraus für die Selbsttätigkeit des Glaubenssubjektes ergeben. Hinsichtlich der personkonstitutiven Implikationen des Christusglaubens ist festzuhalten, dass der Glaube als Aneignung des pro me des Christusgeschehens den antinomischen Selbstentwurf tragbar macht. Mehr noch, erkennt der Glaube an, dass der Selbstwiderstreit, der vom Ich nicht transzendiert werden kann, in Christus als des Gesetzes Erfüllung seinen wahren Bestimmungsgrund hat, so ist für ihn mit der Antinomie des Selbstverhältnisses jener Weg angezeigt, der vom Gesetz zum Evangelium führt. Im Unterschied zum positiv gesetzten Selbstverhältnis empfängt sich die Glaubensgewissheit daraus, dass das Ich in seiner Selbsttätigkeit niemals ist oder werden kann, was ihm kraft der christologischen Vermittlung im Glauben zuteil werden will. Es lebt aus der Verheißung, dass allein der Christusglaube die Brücke zu einem identischen Selbstverhältnis bildet. Was bedeutet dies für die Selbsttätigkeit des Ichs? Vermag das christologisch vermittelte Selbstkonzept auch dem empirischen Ich einen handlungsorientierenden Sinn einzustiften? Oder erweist seine uneinholbare Selbstentzogenheit den Christusglauben als indifferent gegenüber der subjektiven Gestaltung des Weltverhältnisses?135 Der Beantwortung dieser Frage kommt für die praktisch-homiletische Relevanz dieses Ansatzes eine entscheidende Bedeutung zu. Vorgezeichnet wurde sie bereits dadurch, dass das antinomische Selbst durch den Glauben i.S. Iwands in den erlebenden Wirklichkeitsbezug eingewiesen wird. Die christologisch vermittelte Selbstauffassung zeitigt Konsequenzen im Blick auf die Wahrnehmung des Seins in der Welt als widerfahrendes und zu erleidendes.136 Aber nicht nur dies: In der Perspektive des Christusglaubens 134 Zur Frage, wie Iwand diese Neubestimmung des Selbstverhältnisses homiletisch gestaltet vgl. insbesondere Kapitel 3.3.4.2. 135 Vgl. dazu Abschnitt 2.1.1.1. Letztere Konsequenz zu ziehen liegt nahe, wenn Iwand die Realisierung der Gottesbeziehung im Glauben als jenen Ort bestimmt, „wo nicht mehr die Frage zu unserer Lebensfrage wird, ob wir die Welt gestalten oder sie uns, sondern wo beide Positionen in ihrer Absolutheit aufgehoben sind“; Prinzipienlehre, 2. Std. 136 Vgl. dazu Abschnitt 2.1.1.2.
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intendiert der Widerstand, auf den das Ich stößt, nicht die Auslöschung der Selbsttätigkeit, sondern fordert gerade den Gestaltungs- und Lebenswillen des angefochtenen Ichs heraus. Letzteres kommt zu seiner wahren christologischen Bestimmung, indem es sein Selbstverhältnis „in vollständiger Passivität bei vollster Aktivität“ (63) lebt, und auf diese Weise in seiner Selbsttätigkeit die Struktur des simul iustus et peccator zur Darstellung bringt. Für Iwand stellt der Glaube eine Aktivität des Sich-bestimmen-Lassens durch Christus dar, die im Glauben so zu Bewusstsein kommt, dass sie als Widerfahrnis erlebt wird. Wie nun gestaltet sich die im Horizont christologischer Selbstunterscheidung vollzogene Selbsttätigkeit im Unterschied zu einer solchen, die das Ich allein aus sich heraus entwirft? Oder anders formuliert: Wodurch wird fassbar, dass die christologisch vermittelte Selbsttätigkeit nicht lediglich ein Subjektivismus höherer Potenz ist, sondern sich in ihrer Wirklichkeitserschließung dadurch bestimmen lässt, dass Christus des Gesetzes Erfüllung ist? Zur Klärung dieser Frage ziehen wir einen einzelnen längeren Abschnitt aus Iwands Dissertation heran. In ihm skizziert er unter der Leitdifferenz zwischen rationalem und erlebendem Wirklichkeitszugang den Charakter theologischer Denkarbeit. Wir meinen, dass das, was er über diese Tätigkeit sagt, Grund legend ist für die Selbstauslegung der in sich widersprüchlichen und in Christus gerechtfertigten Glaubenssubjektivität. Die Bedeutung dieses Passus ist darin zu sehen, dass er in ihm gewissermaßen ein Schema für jenen Wirklichkeitssinn entwickelt, der dem christologisch vermittelten Selbstentwurf entspricht. Es ist damit zu rechnen, dass mit diesen Bestimmungen zugleich eine Spur gelegt ist für die Strukturierung der homiletischen Arbeit. Iwand formuliert dort zu den Möglichkeiten und Grenzen der Systematisierbarkeit theologischen Denkens: „[…] darin besteht die Aufgabe jedes Systems, eine als unlösbar geltende Antinomie wieder zum Problem zu machen, den Schacht des Denkens in die Tiefe zu treiben und gleichsam alle die stehenden Gewässer zum Fluss zu bringen, bereit sie in einem grösseren Bereiche zu umschliessen. Die Lösung der betreffenden Frage wird freilich niemals eine letzte sein, niemals eine absolut notwendige, sondern eine zufällige. Weil die wahre Problematik notwendig verläuft, darum muss der Stillstand der Gedankenbewegung, d.h. die Lösung immer einen mehr zufälligen Charakter haben, nicht im Sinne eines gewaltsamen Eingriffs, aber im Sinne eines treffenden und nicht konstruierbaren Gedankens. Die Lösung muss einmalig sein, wenn sie glaubhaft sein soll. Sobald ein System bei einer solchen Lösung anlangt, dann hat es seine Aufgabe erfüllt. Natürlich ist das nicht so gemeint, dass am Ende plötzlich wie durch eine Erlösung alle Schwierigkeiten behoben werden. Eine solche Lösung würde konstruiert aussehen und eben gerade darum nicht glaubhaft sein. Sie könnte höchstens denkmüden Menschen helfen, das Problem abzutun. Eine echte Lösung wird vielmehr […] an den innerlich gespanntesten Stellen sich aufdrängen und immer wieder neuen Schwierigkeiten weichen müssen, die doch von neuem zu ihr hinführen. Solch ein System ist lebendig und lässt Echtheit empfindbar werden. Hier steht der, der das System bildete, noch unter der Lösung, und
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alles ist ein grosses Ringen mit ihr. Aber gerade, weil die Lösung irrational bleibt, darum trägt sie den objektiven Charakter an sich […].“137
Iwand beschreibt die theologische Denkarbeit als eine Suchbewegung, in der es sich Widersprüchen und unauflösbaren Spannungen auszusetzen gilt und zwar im Bewusstsein, dabei in die Dynamik des Erlebens involviert zu sein, die zugleich Ort der Gottesbegegnung ist. Er markiert damit die Grenze gegenüber einem Vernunftgebrauch, der sich am Universalhorizont logischer Unbedingtheit unter Absehung von kontingenten Bestimmungsmomenten vergewissert. Theologisches Denken gestaltet sich – der Kontingenz der Christusoffenbarung entsprechend – als ein prinzipiell unabschließbarer Weg, auf dem gefundene Lösungen den Charakter des Zufälligen und Einmaligen niemals verlieren. Dass eine universale Welt- und Selbsterkenntnis nicht zu erreichen ist, ist nicht intellektueller Trägheit geschuldet, sondern Indiz für die Rechtfertigungsbedürftigkeit des Denkens im Verhältnis zur Totalität des Lebens. Das Unvermögen, von sich aus zu absoluter Selbstgewissheit zu gelangen, ist für das Ich eine Quelle permanenter Beunruhigung. Das ist die Perspektive des Gesetzes. Es steht jedoch zugleich unter der Verheißung, durch seine krisenhafte Erschütterung hindurch in Christus als dem „Unendliche[n] im Endlichen“ (11) seinen wahren Bestimmungsgrund zu ergreifen. Dieser Akt darf nach Iwand allerdings nicht mehr als eine rationale Konstruktionsleistung des Ichs verstanden werden (was einen Rückfall unter die Gesetzesperspektive bedeuten würde), sondern ist im Sinne eines unverfügbaren Impulses identisch mit dem Wirklichwerden Christi im Glauben. Ist das Ich der derart bestimmten Dialektik von Gesetz und Evangelium unterworfen, so zielt die entsprechende Entfaltung seiner Selbsttätigkeit darauf, sich von Christus bestimmen zu lassen. Mit dem Christusbezug kommt ein Moment der Verstörung in das nach systematischer Erfassung des Unbedingten strebende rationale Denken. Am Ort der subjektiven Selbstauslegung kommt er dermaßen zum Tragen, dass alle gedanklichen Konstruktionen sich an der „Leerstelle“ des erlebenden Wirklichkeitsbezuges brechen, von der her und auf die hin sich ihr Realitätsgehalt bemisst. Der Subordination des Denkens unter das Erleben entspricht eine subjektive Haltung, welche die Vertiefung von Erkenntnis im Ringen um eine Annäherung des Denkens an das Erleben anstrebt („den Schacht des Denkens in die Tiefe“ treibt), der sich darüber aber zugleich das Bewusstsein dafür schärft, dass eine solche Vertiefung sich nur vom Erleben selber her, unverfügbar impulsiv „an den innerlich gespanntesten Stellen aufdrängen“ kann. Vornehmliche Aufgabe des Denkens ist es in Bewegung zu bleiben, sich der Antinomie des Selbstverhältnisses auszusetzen und dadurch die Stelle offen zu halten, an der Christus sich als Bestimmungsgrund des Lebens erweist. Die Selbsttätigkeit des Ichs ist dadurch bestimmt, dass das Durchschreiten seines eigenen Reflexionsvermögens und das Durchleiden der darin auf137 Zur methodischen Verwendung, 50f.
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tretenden Widersprüche sich dem Glauben als eine kreuzestheologische Vertiefung der Daseinsgewissheit darstellt. Das antinomisch bestimmte Ich lässt sich auf die Dynamik und Unverfügbarkeit des Erlebens ein, weil es von der Verheißung herkommt, dass Christus ihm darin als Totalität des Lebens widerfährt. Dem Christusglauben entspricht in diesem Sinne ein subjektiver Gestaltungswille, der sich nicht durch Passivität, sondern durch die engagierte Suche nach dem Bestimmungsgrund des eigenen Lebens auszeichnet.
. Zusammenfassung, Ergebnis und Ausblick Ausgehend von der in der jüngeren homiletischen Forschung geltend gemachten Kritik, dass Iwands Betonung der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes einer durch die humane Subjektivität bestimmten modernen Wirklichkeitssicht nicht gerecht zu werden vermag,138 ja zu einer faktischen Ausblendung der wirklichen Welt führe,139 hatten wir dem ersten Kapitel unserer Studie die Frage zu Grunde gelegt: Wie wirkt sich die Erwartung der Neukonstitution von Wirklichkeit durch das Wort Gottes auf die durch die Selbst- und Weltauslegung des modernen Menschen geprägte Wirklichkeitssicht aus?140 Unsere Überlegung war es, dass bei der Beurteilung des Wirklichkeitsbezuges von Iwands Homiletik die fundamentaltheologische Reflexion des Verhältnisses von Wort Gottes, Subjektivität und Wirklichkeit einbezogen werden müsse.141 In diesem Sinne hatten wir die Dissertation Iwands zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, vollzieht er doch in ihr die Weichenstellungen seines weiteren theologischen Denkens in kritischer Auseinandersetzung mit Grund legenden Bestimmungen neuzeitlicher Anthropologie. Das Ergebnis derselben lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: – Zunächst ist deutlich geworden, dass Iwand seine theologischen Erörterungen von den Anfängen seines Denkens her in strenger Bezogenheit auf ein allgemeines Wirklichkeitsbewusstsein entwickelt. Sein theologisches Verständnis von Offenbarung entfaltet er im Anschluss an eine Analyse der subjektiven Erfahrung. Als deren Ursprung veranschlagt er eine „religiöse Haltung“ (65) des Selbstbewusstseins, in der es seiner Bezogenheit auf die „Totalität des Lebens“ (ebd.) gewahr wird. Die Struktur religiöser Erfahrung wird von ihm keineswegs losgelöst von der Welterfahrung gesehen, in ihr verdichten sich vielmehr jene das Persönlichkeitsleben bestimmenden Momente der Suche nach Selbstgewissheit und Identität. Was Iwand sodann darüber in einem genuin theologischen Aussagezusammenhang erörtert, ist nur verständlich und sinnvoll vor dem Hintergrund seiner Erfahrungsanalyse. Insofern ist seine Theologie nicht erst in ihrem homiletischen Teil, sondern von ihrem Ansatz her darauf aus, eine Explikation des „Selbst138 139 140 141
Vgl. Einleitung 1.1.2.1. Vgl. Weyel, Birgit, Ostern, 100. Vgl. Einleitung 1.2. Vgl. ebd.
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verständnisses des glaubenden Selbstbewusstseins in seinen welthaften Bezügen“ zu leisten.142 Für den weiteren Gang unserer Untersuchung stellt sich von daher die Aufgabe, darauf zu achten, wie seine homiletischen Äußerungen auf den Horizont der Welterfahrung bezogen sind. Bei deren Analyse gilt es den spezifisch theologischen Horizont von dem der Welterfahrung abzuheben, um zu einer Beurteilung darüber zu gelangen, inwiefern Iwands Verkündigung einen spezifischen Beitrag zur Deutung und Gestaltung der subjektiven Lebenserfahrung ihrer Hörer darstellt und letztere zu integrieren weiß. – Als besondere Leistung von Iwands Erörterungen ist es zu würdigen, dass er – obwohl vom subjektiven Identitätsbewusstsein seinen Ausgang nehmend – dennoch zu einer kritischen Wahrnehmung des sich darin äußernden Totalitätsstrebens gelangt. Der Gewinn seiner Unterscheidung zwischen reflektierendem und erlebendem Wirklichkeitsbezug liegt darin, dass er anhand des Erlebnisses sensibel wird für die Engführung der dem Objektsetzungsmodell verhafteten subjektivitätstheoretischen Sichtweise. Kommt doch unter letzterer Wirklichkeit nur als potentiell beherrschbares Objekt in den Blick. Iwands Intention ist es demgegenüber, die menschliche Wirklichkeitswahrnehmung zu öffnen für die Momente des Erleidens, des Empfangens, des unvermittelten Widerfahrnisses und des Ergriffen-Werdens. Religiös-existentielles Erleben indiziert für ihn eine Dimension der Welt- und Selbsterfahrung, die einen qualitativen Umschlag des subjektiven Wirklichkeitsbewusstseins impliziert, und auf welche die reflexive Selbsterschließung kritisch bezogen ist. Für das um Selbstgewissheit ringende Ich stellt dies freilich eine erhebliche Zumutung dar. Es erweist sich in seinen Setzungen stets als von einem Gegebenen abhängig und ist infolge dessen genötigt, sich im Verhältnis zur Totalität des Daseins als gesetzt anzuerkennen. Diesen Sachverhalt interpretiert Iwand als radikale Infragestellung der Selbstbezüglichkeit des Ichs. Anstatt die „Einheit der Wirklichkeit“143 vom Primat des identischen Selbstverhältnisses her zu begründen, bestimmt er die Verstörung des letzteren unter der Antinomie von Unbedingtheitsstreben und an der Totalität des Gegebenseins aufbrechenden Bewusstseinskrisis als Ursprungsmoment der Selbsterfahrung. Totalität zielt nicht auf eine umfangsmäßige, sondern auf eine existentielle Bestimmung, in der das Ich seiner Nichtidentität gewahr wird und als reflektierendes Ich dazu verurteilt ist, „der absoluten Gewissheit gegenüber in Ungewissheit zu bleiben“ (48). Ist unter dieser Voraussetzung für Iwands Homiletik tatsächlich zu erwarten, dass die Verkündigung des Wortes Gottes „auf Lebenserfahrungen nur in gebrochener Weise Bezug nehmen kann“, so ist aus diesem Sachverhalt dennoch nicht zu folgern, dass der Glaube eine „wirklichkeitslose[.] Überzeugung“ 142 Weyel, Birgit, Ostern, 233. 143 Ebd., 239f.
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bleibt.144 Letzterer kann vielmehr auch als Indikator für eine größere Wirklichkeitsnähe interpretiert werden, insofern Homiletik hier bezogen ist auf ein reflektiertes Wirklichkeitsbewusstsein, das nach einer kreuzestheologischen Vertiefung empirischer Daseinsgewissheit strebt.145 Im Ausblick auf den homiletischen Teil unserer Arbeit ist zu fragen, welche Bewusstseinshaltung sich als Konsequenz aus dieser Anschauung ergibt, und wie diese in der Wahrnehmung der Verkündigungsaufgabe zum Tragen kommt. Hinsichtlich des Verhältnisses von Wort Gottes und subjektiver Wirklichkeitserfahrung können wir an dieser Stelle die Vermutung formulieren, dass wir es mit einer Homiletik zu tun bekommen, in der dem Unausgedachten, den Momenten des Ergriffen-Werdens und der Entdeckung eine entscheidende Bedeutung zukommt. Die Anschauung von einem irrationalen Totalitätserleben, im Verhältnis zu dem die Struktur des Selbstbewusstseins eine antinomische ist, legt in homiletischer Hinsicht den Grundsatz nahe, dass Predigt mehr und anderes ist, als die Regeln ihrer Konstruktion. Andererseits ist zu erwarten, dass sich der Zugang zum Totalitätserlebnis nicht unmotiviert erschließt. Setzt er doch ein Durchschreiten des reflektierenden Vermögens des Ich bis an seine Grenzen voraus, an denen es seiner Ungleichzeitigkeit im Verhältnis zum Absoluten gewahr wird. Iwand selber prägt dafür die paradoxe Formel von einer Haltung, bei der „wir uns in vollständiger Passivität bei vollster Aktivität“ (63) befinden. In dieser Bestimmung ist zugleich die Erwartung begründet, dass Iwands homiletische Arbeit, insofern sie Ausdruck dieser Haltung ist, als menschliches Handeln nachvollziehbar ist und sich ihren Gestaltungsregeln nach rekonstruieren lässt. – Entscheidend für die Verhältnisbestimmung von allgemeinem Wirklichkeitsbewusstsein und Christusglauben ist, dass Iwand der Dialektik zwischen Unbedingtheitsstreben und Bewusstseinsantinomie eine rechtfertigungstheologische Valenz beimisst. Im Horizont der Christologie erhält diese anthropologische Grundbestimmung ein theologisches Gewicht und wird zugleich zur Basis einer Wahrnehmung des Menschseins unter Doppelbestimmung von Gericht und Gnade. Das Scheitern des Versuches die Identitätsbestimmung im Bezug auf die Wirklichkeit als ganze abzuschließen wird von ihm als Gesetzeserfahrung identifiziert. Demgegenüber ist die Christusbeziehung der Ort der Versöhnung des in sich widersprüchlichen Ichs mit Gott. Christus als des Gesetzes Erfüllung macht die Antinomie des Selbstverhältnisses tragbar und weist das tätige Ich trotz der Erfahrung des Scheiterns seiner Selbstkonstitutionsversuche in die aktive Gestaltung seines erlebenden Wirklichkeitsbezuges ein. Indem es sich im Bewusstsein seiner erlebnisjenseitigen Rechtfertigung auf die spannungsvolle Dynamik von Gestalten und Erleiden einlässt, betätigt es seine christologische Bestimmung als simul iustus et peccator und empfängt sein Dasein aus Gott als der Totalität des Lebens. 144 Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 55. 145 Vgl. dazu Kapitel 1.1.1.
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Im Ausblick auf den homiletischen Teil unserer Arbeit ist die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Homiletik, Christologie und Personalität des Glaubens zu richten. Ist damit zu rechnen, dass Iwands Verständnis von Predigt als Wortgeschehen im Kern von dem christologisch vermittelten Personbegriff geprägt ist, so erhält die Verkündigung umgekehrt unter seiner Leitung eine enorme Aufwertung. Ist sie doch der Ort, an dem sich die Personalität des Glaubens allererst konstituiert. Eine zentrale Frage wird von daher sein, wie Iwand diesen Übergang homiletisch gestaltet, und wie dieser auf die Wahrnehmung von Prediger und Hörern als im Predigtvollzug handelnden und angesprochenen Personen zurückwirkt.
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. Kapitel
Iwands Bloestauer Homiletik-Vorlesung . Ausgangspunkt Nachdem wir im letzten Kapitel den fundamentaltheologischen Hintergrund für das Verständnis von Glaubenssubjektivität bei Iwand herausgearbeitet haben, widmen wir uns im folgenden Kapitel der homiletischen Theorie Iwands. Ihr wurde in der wissenschaft lichen Erschließung seiner Theologie, neben seinem dogmatischen Ansatz, am meisten Aufmerksamkeit geschenkt.1 Eine Besonderheit unserer Studie besteht darin, dass wir Iwands homiletische Theorie anhand seiner Homiletik-Vorlesung aus dem Jahre 1937 rekonstruieren, die er im Bloestauer Predigerseminar vor Vikaren der Bekennenden Kirche gehalten hat.2 Dieses Vorgehen bedarf einer Begründung, ist Iwand als Homiletiker doch erst auf Grund seiner späteren homiletischen Äußerungen wirkmächtig geworden. Die unter seiner Ägide ins Leben gerufenen Göttinger Predigtmeditationen haben das Interesse jüngerer homiletischer Forschung auf ihn gelenkt.3 Auch die in der Einleitung dargestellten kritischen Einschätzungen zum Wirklichkeitsbezug von Iwands Homiletik und die Ansätze zur produktiven Neuerschließung seines Erbes beziehen sich durchweg auf Äußerungen aus den Göttinger Predigtmeditationen.4 Wir setzen diesen Diskurs im Folgenden voraus: Am Ende dieses Kapitels beziehen wir unsere Untersuchungsergebnisse auf jenes Bild von Iwands Homiletik zurück, das anhand der Forschung zu seinen späteren homiletischen Auslassungen entstanden ist.5 Hinsichtlich unserer eigenen Erarbeitung von Iwands homiletischer Theorie 1 Vgl. Einleitung 1.1.2. 2 Dieser Text hat bisher relativ wenig Beachtung gefunden. Frank Pritzke und Albrecht Grözinger haben sich ihm in ihren Studien gewidmet; vgl. Pritzke, Frank, Rechtfertigungslehre, 287–332; Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 183–197. In unserer Zitation halten wir uns an das stenographisch aufgenommene Manuskript, das im Hans Joachim Iwand-Archiv in Koblenz eingelagert ist und auch der Arbeit von Frank Pritzke zu Grunde gelegen hat; vgl. ders., Rechtfertigungslehre, 394. Teile davon sind jüngst in dem fünften Band der Nachgelassenen Werke Iwands in neuer Folge veröffentlich worden; vgl. NW N. F. V, 417–507. In dieser Veröffentlichung fehlt allerdings der u.E. wesentlich zur Vorlesung gehörende Teil über die Kasualien. Ferner ist Iwands Untergliederung nach Thesen und Überschriften, die für die Erfassung von deren Gesamtaufbau notwendig ist, im Druck nicht mehr zu ersehen. Um es Leserinnen und Lesern zu ermöglichen, unsere Erörterungen anhand des Bandes nachzuvollziehen, arbeiten wir mit einer doppelten Seitenangabe: Die erste bezieht sich auf das Originalmanuskript, die zweite auf den Band NW N. F. V. 3 Vgl. Bizer, Christoph, Unterricht, 87–106; Gandras, Joachim, Predigt; Gräb, Wilhelm, Predigt, 242–245; Hasselmann, Niels, Predigthilfen, 68–85; Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 31–95, Weyel, Birgit, Ostern, 97–126. 4 Vgl. Einleitung 1.1.2.1 und 1.1.2.3. 5 Vgl. Kapitel 3.4.
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haben uns folgende Gründe dazu bewogen, dies auf Basis der weniger prominenten Vorlesung aus dem Jahre 1937 zu tun: In den Göttinger Predigtmeditationen kommt Iwands Homiletik in Gestalt von Meditationen zu einzelnen Predigttexten sowie in Vor- und Nachworten zu Meditationsheften zu Gesicht. Notwendigerweise handelt es sich dabei um Einzelaussagen. Sie nehmen Bezug auf konkrete, sich aus dem jeweiligen Predigttext ergebende oder von den Lesern der Göttinger Predigtmeditationen aufgeworfene Fragen.6 Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Vorlesung von 1937 trotz ihrer fragmentarischen Gestalt um einen systematischen Entwurf zur Predigtlehre, innerhalb dessen Iwand „vom Grundsätzlichen zum Praktischen“7 fortschreitet. Mit Albrecht Grözinger erwarten wir, dass Iwand hier in seiner „homiletischen Eigenständigkeit“ noch sehr viel deutlicher fassbar wird als im programmatischen Kontext der Göttinger Predigtmeditationen.8 Vertieften Aufschluss erhoffen wir uns vor allem darüber, wie Iwand prinzipiell-homiletische Bestimmungen zur Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes und methodisch-praktische Bestimmungen zur Gestaltung der Predigtarbeit miteinander verbindet.9 Auf den Gesamtduktus unserer Untersuchung gesehen, erscheint uns die frühe Vorlesung Iwands besonders dazu geeignet, den Entwicklungszusammenhang zwischen der Homiletik und den im 1. Kapitel herausgearbeiteten anthropologischen Grundlagen seiner Theologie darzustellen. Dies gilt einerseits sachlich: In der Vorlesung behandelt Iwand die Predigtaufgabe in prinzipieller und praktischer Hinsicht. Er spannt einen Bogen von Grundbestimmungen des Wirklichkeitsbewusstseins zur Methodik der Predigtarbeit. Dies gilt aber auch biographisch: Die Homiletik aus dem Jahr 1937 steht am Übergang Iwands von dessen akademischer Tätigkeit zur pastoralen Praxis.10 Zur Zeit ihrer Entstehung prägt der Weg „vom Grundsätzlichen zum Praktischen“ (1/419) seine konkrete Arbeitssituation. Er steht unter einer gesteigerten Anforderung beides aufeinander zu beziehen und miteinander zu vereinen. In diesem Sinne analysieren wir die Homiletik-Vorlesung in diesem Kapitel und gehen dabei folgendermaßen vor: – Im Anschluss an ihre Vorstellung im Kontext der Entstehungssituation (3.2) soll ihre Eigenart unter der Überschrift: „Programm eines homiletischen Realismus“ (3.3) herausgearbeitet werden. – Dabei sollen zunächst die fundamentaltheologischen Weichenstellungen (3.3.1) für dieses Programm in doppelter Abgrenzung zur liberaltheologi6 Vgl. Einleitung 1.1.3.2. 7 Homiletik, 1/419. 8 Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 183. 9 In der Diskussion um Iwands Predigtmeditationen ist das Insistieren Iwands auf der Vorstellung einer Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes wiederholt zum Anlass genommen worden, seine Homiletik als eine solche zu charakterisieren, die sich der Methodisierbarkeit der Predigtarbeit weit gehend verschließt, vgl. Einleitung 1.1.2.1, 1.1.2.3 und 1.2. Demgegenüber erwarten wir, dass (1.) die Beziehung des Wort Gottes auf die menschliche Wirklichkeit bei Iwand sehr viel mehr konstruktive Aspekte für die Methodik der Predigtarbeit aufweist, als in der bisherigen Forschung gesehen worden sind, und dass (2.) seine frühe Homiletik-Vorlesung der Ort ist, wo dies genuin greifbar wird. 10 Vgl. Einleitung 1.1.3.3.
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schen Homiletik (3.3.1.1) und zum theologischen Wortverständnis Barths (3.3.1.2) dargestellt werden, die Iwand seinen spezifischen Ort innerhalb homiletischen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg zuweisen. – Bewährt sich Iwands homiletischer Realismus an der unauflöslichen Wechselwirkung zwischen homiletischer Methodik und prinzipieller Homiletik, so soll diesem Zusammenhang am konkreten Umgang mit drei konstitutiven Elementen seines Predigtverständnisses nachgegangen werden. Es handelt sich um die Schrift (3.3.2), die Welt (3.3.3) und die christologisch erschlossene Verheißungswirklichkeit eines neuen Menschseins (3.3.4). In einem eigenen Abschnitt (3.3.5) sollen die Bestimmung der Predigerrolle und die sich daraus für die Predigtarbeit ergebenden Konsequenzen in den Blick genommen werden. – Der Abschnitt 3.4 dient der Zusammenfassung und dem Ausblick auf den weiteren Gang unserer Untersuchung.
. Die Vorlesung und die Situation ihrer Entstehung .. Die Situation des Kirchenkampfes als zeitgeschichtlicher Kontext Die besonderen Umstände, unter denen Iwand seine Homiletik-Vorlesung vorgetragen hat, sind von Frank Pritzke und Jürgen Seim bereits dargelegt worden.11 Die Notwendigkeit, sich in die Praktische Theologie einzuarbeiten, ist bei ihm motiviert durch die zugespitzte Situation des Kirchenkampfes, die es erforderlich machte alternative Ausbildungsstätten zu den staatlichen Fakultäten für die Vikare der Bekennenden Kirche zu organisieren. Es handelt sich also bei der Vorlesung keineswegs um ein von langer Hand geplantes, sondern vielmehr aus einer akuten Notlage geborenes Unternehmen. Hinzu kommt, dass sich der Druck der Illegalität – insbesondere die Ausweisung des gesamten Predigerseminars aus Bloestau in Ostpreußen nach Jordan in der Neumark im Mai 1937 – erschwerend auf die theologische Arbeit auswirkte. Möglicherweise ist dieser Sachverhalt dafür verantwortlich, dass angekündigte Unterabschnitte z.T. unausgeführt bleiben und die Ausführung der Gedanken zum Ende hin immer freier wird.12 Wie sehr die Auseinandersetzung mit den deutsch-christlichen Gegnern die Gedankenführung mitbestimmt, hat Sabine Bobert-Stützel in ihrem Vergleich von Iwands mit Bonhoeffers Finkenwalder Homiletik herausgestellt.13 Für beide Theologen ist die Predigtaufgabe aufs Engste verknüpft mit dem Verständnis von Offenbarung, das in der Barmer Erklärung festgehalten worden ist: 11 Vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 186–195. 205f; Pritzke, Frank, Rechtfertigungslehre, 287f. 12 Vgl. Pritzke, Frank, Rechtfertigungslehre, 287f. 13 Vgl. Bobert-Stützel, Sabine, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, 207–240.
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„Der Auftrag der Verkündigung liegt darin, Jesus Christus so zu verkündigen, dass (Barmen) in Ihm die einzige Offenbarung Gottes liegt, in der wir Menschen das Heil haben, dass die Unvergleichlichkeit dieser Offenbarung zu allen sonstigen Bezeugungen Gottes deutlich wird, dass gerade das eine deutlich wird, im Hören auf dieses Wort allein haben wir das Leben“ (3/422f).
In der Vorlesung werden die aktuellen Auseinandersetzungen von Iwand in einer ambivalenten Weise aufgenommen. Einerseits desillusioniert er seine Hörer über die Erwartung, dass dem Auftreten von Häresie mit administrativen Maßnahmen der Kirchenleitung beizukommen sei.14 Andererseits betont er die Notwendigkeit, sich den innerhalb der verfassten Kirche auftretenden Konflikten zu stellen.15 Umso zentraler ist von daher die Bedeutung der Predigt, die er als den Ort bestimmt, wo die „Auseinandersetzung um die Bewahrung der Gemeinde […] Sonntag für Sonntag“ (15/443) zu führen ist. In kairologischem Sendungsbewusstsein schärft er seinen Hörern ein, dass sie als zukünftige Prediger durch das Wort „ins Heute gedrängt“ (16/444) werden und gerade so die „große Aufgabe in der evangelischen Kirche“ (15/443) wahrnehmen. Diese Konfliktgeladenheit durchzieht die gesamten Ausführungen, die immer wieder in Stellungnahmen zur gegenwärtigen Situation münden.16 Wir wollen die Vorlesung nun zunächst ihrer Gesamtanlage nach vorstellen. Dabei ist vorauszuschicken, dass das Manuskript elf Vorlesungsstunden umfasst, wobei sich der Stoff entsprechend den Überschriften auf fünf größere Abschnitte verteilt. Innerhalb dieser Abschnitte werden die einzelnen Aspekte jeweils in Form von Thesen fokussiert und sodann entfaltet.17 .. Der Gesamtaufbau der Vorlesung ... Das Was der Verkündigung¹⁸ Angesichts der fragmentarischen Gestalt von Iwands Vorlesung fällt es einigermaßen schwer, ihren Aufbau in seiner Systematik zu erfassen. Dennoch sind 14 Vgl. Homiletik, 15/443: „Das ist der Fehler aller Orthodoxie, dass sie meint, ein für alle Mal eine richtige Lehre feststellen zu können. Sie wird das Hochkommen der Irrlehre nicht verhindern können. Wenn der Sturm kommt, schüttet er Sand über die Felder, die wir bebaut haben. Da nützt kein Kirchenregiment und keine Aufsicht.“ 15 Vgl. ebd.: „Wenn sie die Kirche heraushalten aus den Auseinandersetzungen, dann kommt die Auseinandersetzung eines Tages unerwartet (vgl. die russische Kirche). […] Wir sind genötigt, ständig im Kampf zu liegen.“ 16 So fordert Iwand zur Kontrastierung der exklusiv-christologischen Grundlegung des Predigtauftrages seine Hörer dazu auf, „jetzt nur einmal mit einem Blick das an Ihrem geistigen Auge vorüberziehen [zu] lassen, wo die Welt heute von Glaube, Offenbarung, Gott, Schöpfer spricht“ (3/423). Selbst bei spezifischen Fragen der Textauslegung kann er direkt zum Angriff auf die Deutschen Christen übergehen und ihnen vorwerfen, dass sie „bestimmte Stücke wegzuschneiden“ (65/494) und die Schrift eigenmächtig auf die politische Situation anzuwenden suchen; vgl. ebd., 72/498. 17 Die äußere Gestalt der Vorlesung hängt aufs Engste mit dem Vortragsstil Iwands zusammen, handelt es sich doch um ein stenographisch aufgenommenes Manuskript. Dabei ist zu vermuten, dass er – ähnlich wie in der parallel gehaltenen Vorlesung über Gesetz und Evangelium – über die formulierten Thesen in freiem Vortrag zu den Kandidaten gesprochen hat, vgl. dazu das Vorwort von Walter Kreck zu NW IV, 7. 18 Vgl. Homiletik, 1–35/419–468.
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wir der Meinung, dass sich bereits in ihrer Gesamtanlage das in den folgenden Abschnitten zu eruierende homiletische Programm Iwands widerspiegelt. Bei der Rekonstruktion der Makrostruktur seiner Homiletik halten wir uns an die vorgegebenen Überschriften, sowie an die den Stoff strukturierenden Thesen.19 Richtungsweisend ist bereits der erste Satz, in dem Iwand formuliert: „Wir gehen vom Grundsätzlichen zum Praktischen.“ (1/419)
Albrecht Grözinger hat darauf hingewiesen, dass diese Bestimmung keineswegs nur als ein formaler Hinweis zu verstehen ist. Er zeigt vielmehr ein Gefälle an, dass für Iwands theologischen und homiletischen Denkstil charakteristisch ist. Im Begriff der prinzipiellen Homiletik ist für ihn die konkrete Predigtpraxis sowie der konkrete Ort der Predigthörer bereits impliziert.20 Inwiefern gilt dies? Erinnern wir uns zunächst an die im letzten Kapitel dargestellten Überlegungen Iwands zur Systematisierbarkeit theologischen Denkens: Dieses folgt seiner Bestimmung dadurch, dass es sich der Behauptung einer allvermittelten Welt- und Selbsterkenntnis enthält, sich stattdessen von Widerfahrnissen innerhalb des konkreten subjektiven Lebensvollzuges anstoßen bzw. verstören lässt und ihnen engagiert nachdenkt.21 Seine Entsprechung innerhalb der Homiletik hat dieser Grundsatz darin, dass der Verkündigungsgegenstand nicht für sich in den Blick genommen, sondern Christus vielmehr von Anfang an als der „gepredigte[.] Christus“ (1/419), d.h. als das mich gegenwärtig angehende, in meinem verlorenen und wieder gewonnenen Sein vor Gott einschließende Wort, thematisiert wird. In diesem Sinne beginnt Iwand seine Vorlesung mit der Frage: „Was heißt Verkündigung?“ (ebd.) und entfaltet die Wesensbestimmung der Predigtaufgabe über die ersten fünf Stunden, fast die Hälfte der gesamten Vorlesungszeit. Seine Grundintention ist dabei die Zurückweisung des Missverständnisses, dass der historische Jesus als eine für sich betrachtete Gestalt eigentlicher Inhalt christlicher Verkündigung sei.22 Entscheidend ist demgegenüber, dass die sich in der Wortverkündigung ereignende Christusbegegnung zu einer Verstörung des historischen Bewusstseins führt, und zwar in dem Sinne, dass die Hörer „das Heute“ (16/444) des Zuspruchs der Verheißung als Anstoß und Wendung zu einem neuen, eschatologisch gefassten Selbstverständnis aufnehmen. Ist die Predigtaufgabe in dem über sein geschichtliches Leben hinausweisenden „Befehl des Auferstandenen“ (4/425) sowie in der aktuellen Bezogenheit seines Wirkens auf die Gegenwart (vgl. 11/437) begründet, so markiert ihr Vollzug das Ende der Welt in ihrer vorfindlichen Gestalt und 19 Vgl. Kapitel 3.2.1. 20 Vgl. Grözinger, Albrecht, Hans Joachim Iwand als Homiletiker und Prediger, 518. 21 Vgl. Kapitel 2.3. 22 Vgl. Homiletik, 1/419: „Der Versuch, hinter den gepredigten Christus auf den historischen Christus zurückzugehen, ist schon der Sturz in einen Abgrund. Der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus, nicht der historische Christus. Das Kerygma und Jesus Christus selbst waren von Anfang an nicht zu unterscheiden. Vgl. 2. Ko 5. Ohne das Predigtamt wäre die Auferstehung Christi eine Phantasie.“
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den Anbruch einer neuen Welt (vgl. 17/445). Organisierendes Zentrum der Erörterungen ist die Anschauung, dass die Verkündigung des Gekreuzigten und Auferstandenen ein neues Wirklichkeitsbewusstsein setzendes Machtgeschehen ist und als solches das auf das Eschaton ausgerichtete Selbstverständnis des Einzelnen und der Gemeinde konstituiert. Iwand entfaltet dies unter den ihrem homiletischen Gehalt nach noch näher zu analysierenden Begriffen des Kerygmas, der Paraklese und der Didache.23 Wie sehr er bei diesem Rückgriff auf neutestamentliche Bestimmungen von der gegenwärtigen Verkündigungssituation her denkt, zeigt vor allem der Sachverhalt, dass seine prinzipiellen Erörterungen durchzogen sind von der aktuellen Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen. Anhand ihrer Charakterisierung als Didache thematisiert er die polemische Seite der Predigtaufgabe als „Kampf mit der stets von neuem eindringenden Irrlehre“ (26/457). Differenzkriterium zwischen rechter Predigt und Häresie ist für ihn die Bestimmung des Verhältnisses von Wort Gottes und wirklicher Welt. Iwand formuliert die Alternative dermaßen, dass entweder die Wirksamkeit des Wortes absorbiert wird in einen Auslegungshorizont, der auf die Sicherung des Bestandes der Verhältnisse innerhalb der wirklichen Welt angelegt ist. Oder aber, dass der Wirksamkeit des Wortes eine eschatologische Weite zugemessen wird, welche die Verhältnisse innerhalb der wirklichen Welt durch das christologisch erschlossene Wirklichkeitsbewusstsein begrenzt und erschüttert (vgl. 17/445). ... Die Stellung der Gemeinde in der Predigt²⁴ Von der alternierenden Bestimmung des Verhältnisses zwischen Wort Gottes und wirklicher Welt leitet Iwand in der sechsten und siebten Stunde (35– 62/469–491) zu der Fragestellung über: „Welchen Platz nimmt die Gemeinde ein in der Wortverkündigung?“ (35/469). Die Thematisierung des Gemeindebezuges in unmittelbarem Anschluss an die Erörterung des Wesens der Predigt stellt eine konsequente Entsprechung zur Vorstellung von der aktuellen Wirksamkeit des Wortes dar, ist die Gemeinde doch jener Ort innerhalb der wirklichen Welt, an dem die Wende zu einem neuen Sein Gestalt gewinnt. Gemäß dieser Funktion entfaltet Iwand seine Überlegungen nicht in Relation auf die Gemeinde als eine empirische Größe, deren Ansprechbarkeit auf das Wort Gottes allererst zu begründen wäre. Vielmehr entwickelt er einen theologischen Begriff von Gemeinde, auf den die Hörer kraft der gegenwärtigen Wirksamkeit des Wortes ansprechbar sind, und der jenen dem alten Äon verhafteten Selbstbildern kritisch entgegen gehalten wird. In diesem Sinne formuliert er: „Ich habe nicht erst die Brücke zu schlagen, wohl aber habe ich der Gemeinde gegenüber, wie sie ist, die Gemeinde anzureden, die sie vor Gott ist. Ich habe also der Gemeinde gegenüber, die ein bestimmtes Bild von sich selber hat, die Gemeinde 23 Vgl. Kapitel 3.3.2.2/3.3.2.3. 24 Vgl. Homiletik, 35–62/469–491.
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anzureden wie sie vor Gott steht. Dass sie vor Gott als eine gerichtete und begnadigte steht.“ (42/474)
Unter der Rektion des theologischen Verständnisses von Gemeinde als creatura verbi verschieben sich für Iwand die Gewichte in der Bestimmung der Verkündigungsaufgabe. Anstatt die Frage nach der Vermittelbarkeit des Wortes in eine konkrete Situation zum Ausgangspunkt der Reflexion zu machen, insistiert er darauf, dass das Wort kraft seiner Eigenart als Mensch gewordenes Gotteswort immer schon auf solche Situationen bezogen ist, in ihnen aufgesucht und gefunden werden will. Der konkrete Ort der zum Hören der Predigt versammelten Gemeinde erhält dadurch eine enorme Aufwertung. Wird doch der Streit darum, welche Bilder ihr Leben bestimmen sollen, selber als Ausweis der Nähe Gottes in seinem Wort qualifiziert. Die Frage des Gemeindebezuges von Verkündigung betrifft nicht die Herstellung einer sekundären Beziehung zwischen dem Verkündigungsgegenstand und der Lebenswirklichkeit seiner Rezipienten, sondern den Abbau falscher Selbstbilder, welche ihnen die primäre Bezogenheit derselben auf ersteren verstellen. ... Die Stellung des Textes in der Predigt²⁵ Überraschend mutet es zunächst an, dass Iwand in seiner Vorlesung den Textbezug der Verkündigung erst an dritter Stelle, nach dem Gemeindebezug, verhandelt, ist er doch in der gegenwärtigen Diskussion als ein Texthomiletiker charakterisiert worden, bei dem die „Beschwörung der Autorität des Textes“ andere Momente in den Hintergrund zu drängen droht.26 Am Beginn der achten Stunde formuliert er „Heute wollen wir sprechen vom Verhältnis von Predigt und Text“ (62) und widmet sich eine weitere Doppelstunde lang (9. und 10. Stunde) spezifischen Fragen der Textauslegung. Einen Erklärungsansatz für dieses Vorgehen bietet u.E. seine Anschauung von der primären Bezogenheit des Wortes Gottes auf die Lebenswirklichkeit der Predigthörer. Sie ist bei der Bewertung der Rolle des Textes in seiner Homiletik einzubeziehen und ist dazu geeignet, ein neues Licht darauf zu werfen. Freilich nimmt in Iwands Predigtlehre der Schriftbezug eine Zentralstellung ein und zieht sich durch seine gesamten Erörterungen.27 Entscheidend ist aber, wie dieser näher hin zu verstehen ist. Wenn Iwand fordert, dass nicht nur der Auftrag, sondern auch die konkrete Predigtgestaltung in der „Verkündigung der Apostel“ (66/494) vorgezeichnet ist, so bedeutet dies nicht, dass Textzeugnisse einer den Hörern abständigen Lebenswelt der gegenwärtigen Gemeindesituation einfach übergestülpt werden sollen, oder die Inferiorität letzterer gegenüber ersterer behauptet wird. Vielmehr sucht Iwand zu einer Schrifthermeneutik zu gelangen, die dermaßen offen ist, dass es zu einer wechselseitigen Durchdringung von Text und Hörersituation kommt. Sein Anliegen ist es, die beiden Pole des Predigtgeschehens in eschatologischer Perspektive unter dem 25 Vgl. ebd., 62–108/492–507 […]. 26 Engemann, Wilfried, Einführung, 246. 27 Vgl. Kapitel 3.3.2.
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Aspekt der Gleichzeitigkeit in den Blick zu bekommen.28 Die Doppelseitigkeit dieses Rezeptionsverhältnisses ist für ihn darin begründet, dass der einzelne in einer Predigt auszulegende Text seine normative Kraft erst dort gewinnt, wo er auf die Anschauung von Christus als dem gegenwärtig wirksamen Gotteswort bezogen wird (vgl. 63/492). In diesem Sinne formuliert Iwand den Grundsatz: „Die Schriftauslegung verdient den Namen der Predigt dann, wenn in ihr das ganze Heil Gottes verkündigt wird“ (62/492).
Ist die christologische Qualifi kation des Predigtgeschehens so zu verstehen, dass die Hörer bei ihrer Lebenswirklichkeit behaftet und diese in „das Heute“ (16/444) eines neuen Äons gerückt wird, so stellt dieser Sachverhalt für die Bewertung des Textes zugleich eine Aufweitung und Begrenzung der aus der segmentierten Lesart erwachsenden Ansprüche dar. Methodisch ergibt sich daraus die doppelte Konsequenz, dass die Prediger dazu angewiesen werden mit den Fragen und Nöten der Hörer an den Text als konkretes Gegenüber der Gemeinde heranzutreten (vgl. 19/449), um sich beim Vernehmen seines Zeugnisses ihrerseits zu öffnen für die Vielfalt biblischer Texte, innerhalb derer er als individuelle Gestalt zu stehen kommt.29 ... Die Bedeutung der Kasualien³⁰ Im letzten Abschnitt seiner Vorlesung behandelt Iwand die Bedeutung der Kasualien und der Beerdigungsrede im Besonderen. Unverkennbar ist dabei die durch die äußere Situation bedingte Fragmenthaftigkeit seiner Ausführungen.31 Hatte er bereits zu Beginn der zehnten Stunde bemerkt, dass er „die Dinge nicht [hat] ausarbeiten können“ (92), so kündigt er in der letzten Stunde unvermittelt an, „noch über Kasualien“ (108) sprechen zu wollen und lässt dem Ausführungen über die Beerdigungsrede folgen (108–118). Für die Gesamtintention seiner Homiletik erscheint uns dieser Sachverhalt in doppelter Weise aufschlussreich: Einerseits bezeichnet das Sterben jenen Ort menschlicher Erfahrungswirklichkeit, an dem die Frage nach der Neuschöp28 Unterstrichen wird dieses Anliegen dadurch, dass Iwand innerhalb dieses Teils seiner Vorlesung in einem Zwischenabschnitt (71–77/497–502) die Frage aufwirft: „Wie ist nun die Beziehung der Predigt auf den Hörer?“ (71) und zwar unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Schriftauslegung thematisiert. Er formuliert dazu die These:„Das Wort Gottes […] das wir in der Schrift suchen und fi nden, enthält in sich schon die Beziehung auf den Menschen, so dass rechte explicatio auch die rechte applicatio in sich schliesst“ (ebd./497), die in drei Unterthesen erläutert wird: Aufgrund der schöpferischen Potenz des Wortes ist der Mensch anzusprechen (a) auf seine Wandelbarkeit als „homo mutabilis“ (72/499), (b) auf seinen wirklichen Lebensvollzug (vgl. 76/501) und (c) auf seine Interimsstellung zwischen Adam und Christus, durch die er „ein werdender, […] ein aufhörender und ein anfangender“ (77/502) ist. 29 Helmut Gollwitzer hat in seinem Vorwort zu Iwands Predigten dafür den Begriff des „Kokordanzhören[s]“ geprägt; NW III, 11. 30 Vgl. ebd., 108–118/[…]. 31 Im Hintergrund dürfte hier die Sorge Iwands vor einem erneuten staatlichen Übergriff auf das Predigerseminar nach dessen Emigration in die Neumark stehen. Von Jordan aus schrieb er im Mai 1937 an seinen Lehrer Rudolf Hermann: „Schwerer ist mir die Sorge, daß ich nun wieder meine Arbeit werde wechseln müssen. Ich hatte mich jetzt in diese Arbeit der praktischen Theologie etwas eingearbeitet und den neuen Beruf liebgewonnen“ ; NW VI, 294. Tatsächlich wurde das Seminar wenige Monate später von dort vertrieben; vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 214f.
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fung des Menschen in Christus sich in besonderer Dringlichkeit stellt. Andererseits kommt unter der Thematisierung der Kasualpraxis in den Blick, wie die Wirksamkeit des Wortes auf die individuell verfasste Lebenswelt bezogen ist, nachdem die Relation im zweiten Hauptteil im Bezug auf die Gemeinde als Kollektiv erörtert worden ist. Hatte Iwand die Wirkung des Wortes grundsätzlich dahingehend beschrieben, dass „Sterben mit Christus […] vereinzelt werden“ heißt und „die Verkündigung in die Einsamkeit der Todesstunde versetzt“ (7/429), so kommt der Kasualpredigt die Funktion zu, den individuellen Fall in das Verheißungswort einzubeziehen. Hier hat sich die eschatologische Ausrichtung der Verkündigung auf den kommenden Christus zu bewähren. Seine Vorlesung endet mit einer vier Punkte umfassenden Besinnung über die Wirklichkeit des Todes in ihrem Verhältnis zur Auferstehungswirklichkeit in Christus (114–118). Auf diese Weise wird zugleich abschließend nochmals der Zusammenhang zwischen konkreter homiletischer Praxis und christologischer Prinzipienfrage hervorgehoben. ... Zusammenfassung Unser Durchgang durch die Vorlesung in ihren vier Großabschnitten zeigt, dass ihr Aufbau in hohem Maße durch die Grundintention Iwands bestimmt ist, wonach die Erörterung der prinzipiellen Homiletik den konkreten Ort der Predigthörer bereits impliziert. In diesem Sinne thematisiert er im Anschluss an die christologische Wesensbestimmung der Predigtaufgabe deren Gemeindebezug in Relation auf die aktuellen Auseinandersetzungen im Kirchenkampf. Im Zentrum steht dabei die Entwicklung eines theologischen Begriffes der Gemeinde als Schöpfung des Wortes Gottes. Umgekehrt bezieht Iwand seine Erörterung des Schrift verständnisses stark auf die konkrete Erschließungssituation des Wortes in der gegenwärtigen Verkündigung zurück. Der von ihm angezeigte Weg „vom Grundsätzlichen zum Praktischen“ (1/419) lässt sich somit für die einzelnen Teile der Vorlesung nachzeichnen und wird von ihm jeweils auch in umgekehrter Richtung gegangen. Die Vermutung Frank Pritzkes, dass ihrem Gesamtaufriss eine Systematik zu Grunde liegt, die an der Gliederung der Homiletik in einen prinzipiellen, materialen und formalen Teil orientiert ist,32 findet dagegen u.E. wenig Anhalt am Text. Gerade weil sich theologische Grundsatz- und Praxisfragen der Predigt für ihn nicht auseinander dividieren lassen, sondern sich wechselseitig durchdringen, bleibt das Schema seinen Ausführungen recht äußerlich.
32 Legt man dieses seit Alexander Schweitzers Homiletik von 1848 gängige Schema der Vorlesung Iwands zu Grunde, so lassen sich deren Teile folgendermaßen einander zuordnen: Die ersten fünf, unter der Frage nach dem Was der Verkündigung stehenden Stunden behandeln die prinzipielle Homiletik. Die den Gemeinde- (6.-7. Stunde) und Textbezug (8. Stunde) thematisierenden Abschnitte widmen sich der materialen Homiletik. Die Abschnitte über „besondere Fragen der Textauslegung“ (78) (9.–10. Stunde) und Kasualien (11. Stunde) betreffen jeweils die „Arbeit des Predigtmachens“ und sind der formalen Homiletik zuzuordnen; vgl. Pritzke, Frank, Rechtfertigungslehre, 288–292.
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. Iwands Programm eines homiletischen Realismus .. Die fundamentaltheologischen Weichenstellungen in Iwands Homiletik vor dem Hintergrund der theologischen Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg ... Kritik am liberaltheologischen Verständnis der Predigt als kultisches Handeln Wie stark Iwand in seinen homiletischen Erörterungen von den Umbrüchen und Aufbrüchen der evangelischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt ist, zeigt sich bereits an seiner Polemik gegen die Deutschen Christen. Iwand sieht in ihrem Abweg keineswegs nur eine extreme Form der Politisierung des Evangeliums, sondern stellt sie in den Zusammenhang einer über Jahrhunderte währenden Fehlentwicklung,33 die aufzudecken erst der jüngsten Theologengeneration vorbehalten gewesen sei. Die kritisierte Auffassung, die er dabei vor Augen hat, soll in ihrer Grundintention kurz skizziert werden. Es ist dies das homiletische Programm des modernen theologischen Liberalismus,34 in dem das Erbe Schleiermachers zu voller Entfaltung kommt.35 Die Wirkung Schleiermachers auf die Homiletik im 19. Jahrhundert geht nicht von der Vorlage eines bestimmten homiletischen Entwurfes, sondern vielmehr von dessen Neubestimmung der Funktionszuweisung der Predigt im Rahmen einer Theorie des Gottesdienstes aus.36 Der Gottesdienst wird von Schleiermacher als Kultus aufgefasst und insgesamt als „darstellendes Handeln“ verstanden. Im Hintergrund steht dabei ein Konzept von Religion, wonach letztere ihren anthropologischen Ort im unmittelbaren Selbstbewusstsein als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ hat.37 Der Gottesdienst bringt die religiöse Erfahrung im Kultus äußerlich und mittelbar zur Darstellung. Als „darstellendes“ Handeln hat er die Funktion, das Abhängigkeitsgefühl durch wechselseitige Vergewisserung der Teilnehmenden zu entwickeln. Im Unterschied zum „wirksamen“ Handeln ist es selber nicht produktiv, bringt aber die religiöse Erfahrung zum Ausdruck und vermag andere dazu anzuleiten, ihrer Religiosität ihrerseits inne zu werden.38 In diesem Sinne ist „Erbauung“ das Ziel gottesdienstlichen Handelns. Die Predigt ist neben der Liturgie eines der beiden konstitutiven Elemente des Gottesdienstes, die dafür sorgen, dass das religiöse Bewusstsein zirkuliert. Sie ist gegenüber dem gebundenen liturgischen Vollzug das freie Element. In 33 Vgl. Homiletik, 15/443 (im Bezug auf den Kirchenkampf): „Seit Luther kämpfen wir mit diesem modernen Geist in unaufgelöster Ordnung.“ 34 Vgl. Niebergall, Alfred, Die Geschichte, 334. 35 Vgl. ebd., 336. Zur Homiletik Schleiermachers vgl. Albrecht, Christian, Schleiermachers Predigtlehre, 93–119; Wintzer, Friedrich, Die Homiletik. 36 Vgl. Albrecht, Christian, Schleiermachers Predigtlehre, 103f. 37 Vgl. dazu Kapitel 2.2.4.3. 38 Vgl. Albrecht, Christian, Schleiermachers Predigtlehre, 109.
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ihr teilt sich das christlich fromme Selbstbewusstsein öffentlich mit, und deckt den Hörern den religiösen Gegenwartssinn der überlieferten Formen auf. In besonderer Weise kommt ihr die Aufgabe zu, zum selbständig verantworteten Umgang mit der Tradition anzuleiten. Die Impulse, die von Schleiermachers Bestimmung des „darstellenden“ Handelns für die Orientierung am Kultus und dessen Vermittlung mit dem religiösen Gegenwartsbewusstsein ausgingen, sind in der Phase des sog. Kulturprotestantismus aufgenommen und weitergeführt worden. Friedrich Niebergall etwa hat in einem Aufsatz unter dem Titel „Die moderne Predigt“ das Programm für eine zeitgemäße Verkündigung formuliert. Es zielt auf eine Vermittlung zwischen modernem Verständnis des Evangeliums und modernem Menschen, wobei „das moderne Evangelium […] die Norm, das moderne Bewusstsein die Form“ abgeben soll.39 Möglich wird eine solche Vermittlung dadurch, dass Dogma und Schrift nicht mehr als Gegenstand, sondern vielmehr als „Ausdruck […] des Glaubens“40 aufgefasst werden. Entsprechend lautet der Grundsatz der Schrifthermeneutik: „Die Frage heißt nicht: Was sagt uns diese Stelle? sondern: Was lebte in den Leuten, die zu ihrer Zeit ihr Inneres so ausdrückten?“41
Eine besondere Bedeutung kommt der Analyse der Bewusstseinslage des modernen Menschen zu. Niebergall schildert eingehend Phänomene des „modernen Geistes- und Seelenlebens“42 und stellt zeitgenössische Predigtstile dar, aus denen er die „Grundsätze für die moderne Predigt“43 entwickelt. Insgesamt wurde für die Praktische Theologie jener Zeit gefordert, dass diese „mehr deskriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben werden“ und die „Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Landeskirchen“ Voraussetzung einer „besonnenen und wirksamen Beeinflussung des kirchlichen Lebens“ sein müsse.44 Ein Beispiel für die kultische Einordnung der Predigt im Protestantismus der Jahrhundertwende bietet Martin Schian, der in seiner Predigtlehre formuliert: „Die Predigt als gottesdienstliche Rede muß sich in den Rahmen des Gottesdienstes einfügen. Gemeindegesang, Gebet, Schriftlesung, Predigt – alles muß ein Ganzes bilden. Dieses Ganze muß zur gottesdienstlichen Situation passen: zu dem Raum, der Zeit, der Gemeinde. Es ist eine Grundforderung, daß die Predigt diese ihre Stellung als Teil des Gottesdienstes nie vergesse. Alle Elemente des Gottesdienstes müssen derselben Situation entsprechen; wie dürfte die Predigt die Harmonie stören?“45 39 40 41 42 43 44 45
Niebergall, Friedrich, Die moderne Predigt, 74 (Aufsatz). Ebd., 49. Ebd., 48. Ebd., 20. Ebd., 41. Drews, Paul, „Religiöse Volkskunde“, 1. Schian, Martin, Praktische Predigtlehre, 7.
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Als übergreifender Zweck des Gottesdienstes wird herausgestellt, dass dieser „festlicher Ausdruck der christlichen Gewißheit sein“ müsse.46 Gegenüber dem derart umrissenen Programm formuliert Iwand in seiner Homiletik zu Beginn der zweiten Vorlesungsstunde die These: „Weil die Predigt vom Auftrag her verstanden werden muss, muss man auch bei der Predigtlehre vom Auftrag ausgehen, nicht von der Form, nicht von Kultus“ (4/424).
Er vollzieht damit jene radikale Wendung der Homiletik mit, welche die Predigtarbeit nicht mehr in Relation auf die öffentliche Mitteilung und Darstellung von Frömmigkeit, sondern im Bezug auf die Offenbarung Gottes entfaltete und damit eine Begründungskrise hinsichtlich der Möglichkeit menschlicher Verkündigung des göttlichen Wortes überhaupt heraufbeschwor. Auf dieser Linie hatte Eduard Thurneysen die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Predigt aufgeworfen mit dem Hinweis: „Positiv beantworten kann sie kein Mensch, nur Gott selber, der sie gestellt hat. Und Gott hat sie positiv beantwortet: ‚Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker‘ (Matth. 28,19). Und weil er sie beantwortet hat, ist es keine Frage menschlicher Voraussetzungen mehr, ob es gewagt werden soll, was doch von uns aus nicht gewagt werden dürfte. Es darf gewagt werden, es muß gewagt werden – aber nur von Gott selbst aus.“47
Unter der veränderten Fragestellung konzentrierte sich die Homiletik ganz auf die Explikation eines neuen Offenbarungsverständnisses, während methodische Fragen der Predigtgestaltung zurückgestellt oder gar schroff negiert wurden.48 Dem derart gewandelten Verständnis der Predigtaufgabe trägt Iwand dadurch Rechnung, dass er im ersten Satz des Vorlesungsmanuskriptes ankündigt „vom Grundsätzlichen zum Praktischen“ (1/419) zu gehen. In dieser Ankündigung verbirgt sich bereits eine tiefe Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer methodologischen Bestimmung der Predigtaufgabe. Er lehnt es ab, eine „allgemeine Predigtlehre [zu] entwerfen“ (3/422) und will stattdessen immer wieder neu die Frage aufwerfen: „Was müssen wir heute predigen auf Grund des Wortes Gottes, das uns heute herausstellt gegen diese ganz bestimmte Gestalt von Welt, wie wir sie finden [?]“ (ebd.).
Freilich ist die jeder methodischen Handhabbarkeit spottende Beanspruchung durch das aktuell ergehende Wort Gottes nicht zu verwechseln mit der neuprotestantischen Forderung nach einer zeitgemäßen Verkündigung. Das „Heute“ ist streng christologisch qualifiziert und die Meinung, Aktualität durch reflexive Vermittlung zwischen dem göttlichen Wort und der modernen 46 Ebd., 8. 47 Thurneysen, Eduard, Die Aufgabe, 107. 48 Vgl. dazu die provozierenden Imperative Thurneysens: „keine Beredsamkeit!“; kein „Eingehen auf das sogenannte Bedürfnis des Hörers“, „Keine Abwechslung in der Predigt! “, ebd., 111.113.116.
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Bewusstseinslage herstellen zu können, stellt bereits eine problematische Abstraktion von der Einheit der Offenbarung dar, die in Jesus Christus „an uns gekommen“ ist (32/464). Der Versuch einer zeitgemäßen Umformung dieser Botschaft gleicht für Iwand dem hybriden Unternehmen, das Wort „noch einmal zu vermenschlichen“ und die „Inkarnation [zu] potenzieren“ (32/464). Die christologische Konzentration der Predigtaufgabe bei Iwand und anderen Theologen jener Zeit hängt aufs Engste zusammen mit den Erschütterungen, die der Erste Weltkrieg im kulturellen Bewusstsein bewirkt hat. Ging Schleiermacher noch von der Möglichkeit einer harmonischen Vermittlung zwischen humaner und christlicher Welt- und Selbstauslegung auf der Basis eines allgemeinen Religionsbegriffes aus, so ist der nach dem Ersten Weltkrieg aufstrebenden Theologengeneration die positive Anknüpfung an eine religiöse Grundiertheit des Menschlichen fragwürdig geworden. Verantwortlich dafür ist das Fortschreiten der Religionskritik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber die Krisenanfälligkeit jener allgemeinen religiös-sittlichen Basis, die angesichts des Versagens von Humanität in der Weltkriegskatastrophe offenbar geworden war. Vor diesem Hintergrund ist Iwands kreuzestheologische Auslegung des Verhältnisses zwischen Gottes- und Weltwirklichkeit auch als Ausdruck eines veränderten kulturpessimistischen Bewusstseins zu lesen, das die Zeitverhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg trifft .49 Es ist bestimmt von der Einsicht in die „risikoreiche Bindung Gottes an die Welt“50 in Christus und rechnet mit deren Inkommensurablität zur allgemeinen Kultur und Gesellschaft. Ist Jesus Christus „im Kerygma […] gegenwärtig“, so lässt sich dieser Sachverhalt doch nie „über […] eine christliche Theorie oder Weltanschauung“ verallgemeinern, sondern das Wort Gottes hat „seine bleibende Geschichte in der Welt“ stets so, dass es sich in sie „als das Kreuz“ (2/422) einzeichnet. Mit den anthropologischen Voraussetzungen des modernen theologischen Liberalismus ist für Iwand der Ansatz obsolet geworden, die Predigtlehre im Rahmen einer Theorie des Gottesdienstes als „die Lehre einer bestimmten kultischen Handlung“ (4/424) zu entwickeln. Selbst die Homiletik von Wolfgang Trillhaas wird von daher einer Kritik unterzogen, obwohl sie als „erste Predigtlehre im Anschluß an die Wort-Gottes-Theologie“ gilt.51 Ihre Stoßrichtung verläuft ihrerseits gegen einen „falschen Liturgismus“ zugunsten der „Treue gegen Gottes Wort“ verläuft.52 Bereits die Wahrnehmung der Predigt als „ein wesentlicher Teil“ der Liturgie53 veranlasst Iwand dazu, Trillhaas auf den Bahnen Schleiermachers zu sehen, „denn auch Tr.[illhaas] geht eigentlich von der Predigtlehre aus als einer Lehre von einer gottesdienstlichen Handlung“ (4/424). 49 Vgl. Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 185f. Jürgen Seim hat in seiner Biographie dargelegt, dass auf Iwand am Beginn seines theologischen Denkens die Lektüre von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ nachhaltigen Eindruck gemacht hat, vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 21. 50 Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 190. 51 Wintzer, Friedrich, Praktische Theologie, 108. 52 Vgl. Trillhaas, Wolfgang, Evangelische Predigtlehre, 11. 53 Ebd.
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Iwands kultkritischer Reflex hängt aufs Engste zusammen mit jenem eingangs skizzierten Verständnis des Kultus als „symbolisierende[m]“ oder „darstellende[m] Handeln“. Iwand sieht darin die Gefahr, dass die Verkündigung nur noch ihrer äußeren Gestalt nach in den Blick kommt und deren innerer Bestimmungsgrund verkannt bleibt. Tatsächlich bieten Auslassungen neuprotestantischer Homiletiker für diese Kritik eine breite Angriffsfläche: Für Martin Schian etwas ist der Gottesdienst „festlicher Ausdruck der christlichen Gewißheit“, ohne dass thematisiert würde, wie sich dort ein Gewissheit begründender und gewährender Überschuss an göttlicher Heilswirklichkeit realisiert. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Forderung, dass der „gemeinsame Heilsbesitz […] immer die Voraussetzung für die Predigt sein“ müsse. Er „bildet die Grundlage, den Anknüpfungspunkt für alles, was gesagt wird.“54 Gegenüber dieser undialektischen Bestimmung des Kultus als menschlichmachbarem Handeln insistiert Iwand darauf, dass sich in der Verkündigung mit dem Einbruch des Wortes Gottes eine Äonenwende vollzieht: „wir haben es tatsächlich nicht zu tun mit einer Symbolik, hinter der dann die Wahrheit steht, sondern wir haben es mit der Wahrheit und Wirklichkeit Gottes selbst zu tun. […] Bei uns steht der in der Mitte, der sagt: Ich selber kenne Ihn. In der Verkündigung setzt der Auferstandene seine Herrschaft im Kosmos durch, und zwar im Kosmos nach der Breite und Länge (Eph), im Raum und in der Zeit“ (5/426f).
Weil die Gegenwart Gottes immer mit der Welt- und Selbstwahrnehmung des Menschen im Streit liegt und sich gegen letztere durchsetzen muss, ist sie Kraft des Predigtamtes exklusiv an die Verkündigung gebunden. Predigt vollzieht sich im Spannungsfeld zweier einander widerstreitender Wirklichkeiten und wird dadurch vom gottesdienstlichen Handeln abgehoben, dass für sie ein eschatologischer Wirklichkeitsgewinn reklamiert wird. Die Predigt darf nicht primär als Ausdruck christlich frommen Selbstbewusstseins aufgefasst werden, sondern als ein „Handeln Gottes mit der Gemeinde“ (4/425), dass auf menschlicher Seite seinerseits eine Antwort herausfordert. Wenn wir Iwands Predigtlehre in diesem Kapitel als „Programm eines homiletischen Realismus“ bezeichnen und gleichzeitig davon ausgehen, dass seine Auffassung von der Wirksamkeit des Wortes Gottes nicht im schlechten Sinne die Ausschaltung der Subjektivität des Predigers intendiert,55 so ist dies nach der Seite der Abgrenzung von einem liberaltheologischen Predigtverständnis folgendermaßen zuzuspitzen: Seine Bestimmungen zur Predigt als Handeln Gottes zielen darauf, zwischen der Selbstmitteilung des Glaubens und seinem fremdkonstitutiven Bestimmungsgrund so zu unterscheiden, dass letzterer Eingang findet in die Beschreibung des Predigtaktes. Im Sinne der Bestimmung von Verkündigung als Äonenwende ist Predigt immer ein spannungsvolles Sichabarbeiten an vorgegebenen Selbstbildern. Sie geschieht in 54 Schian, Martin, Praktische Predigtlehre, 8f. 55 Vgl. dazu unsere systematisch-grundsätzlichen Überlegungen im Kapitel 2.3.4.
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der Erwartung, dass es im Hören auf das Wort zu einer Unterbrechung und konstitutiven Neubestimmung der Eigenaktivität kommt. Um die kritischen Äußerungen Iwands gegenüber einer neuprotestantischen Bestimmung der Predigtaufgabe als Selbstmitteilung des Glaubens, richtig einordnen zu können, ist es allerdings notwendig, sein Insistieren auf dem Primat der Offenbarung Gottes im Zusammenhang zu sehen mit den anthropologischen Grundlagen seiner Theologie, die wir im letzte Kapitel herausgearbeitet haben. Wir hatten dort gezeigt: Iwands Theologie ist von ihren Ursprüngen her ihrerseits am modernen Horizont subjektiver Selbstund Weltauslegung orientiert. Sie lässt sich als ein theologischer Beitrag zur Lösung der darin auftretenden Aporien verstehen.56 Dieser Sachverhalt nötigt dazu, die Konvergenz und Divergenz zu den von ihm kritisierten Auffassungen noch genauer zu bestimmen. Unser, über die Vorlesung hinausgreifende Interpretationsvorschlag dazu lautet: Wenn Iwand Handeln Gottes und menschliches Handeln in der Verkündigung gegeneinander profi liert (vgl. 4/ 425), dann geht es ihm nicht darum Gottes- und Selbstbewusstsein auseinander zu reißen. Iwands Polemik zielt nicht darauf, dass Gott dem menschlichen Selbstbewusstsein als ein von den Bedingungen seiner Selbstmitteilung dispensiertes, unverständliches X gegenübertritt. Er erörtert Gottes Handeln im Zusammenhang der Welt- und Selbstauslegung des Menschen. Die Differenz zu den von ihm kritisierten, liberaltheologischen Anschauungen kommt vielmehr in folgendem Aspekt zum Tragen: Für Iwand ist das Gottesbewusstsein nicht affirmativ, sondern konfrontativ auf das Selbstbewusstsein zu beziehen. Als Gesetz und Evangelium verstört das Wort Gottes seine Hörer und gibt ihrem Leben einen neuen Richtungssinn.57 Erst auf der Grundlage dieses fundamentalen Sachverhaltes ist die Frage nach religiöser Gewissheit theologisch angemessen zu erörtern. Worin das Verhältnis von Gottes- und Selbstbewusstsein bei Iwand seine spezifische Pointe hat, wird allerdings noch deutlicher, wenn man beachtet, dass er seine Homiletik noch nach einer anderen Seite hin profi liert. ... Kritik an dem transzendentalen Wortverständnis Barths Obgleich die Überwindung des liberaltheologischen Predigtverständnisses für Iwand die zentrale Aufgabe der Homiletik bildet und er sich darin mit anderen Vertretern der Wort-Gottes-Theologie eng verbunden weiß, vertritt er doch einen ganz eigenständigen Ansatz. Bereits der Blick auf Iwands theologischen Denkweg zeigt, dass er in einen regen Austausch mit Barth erst in den 1930er Jahren getreten ist, nachdem sich seine theologischen Grundanschauungen bereits verfestigt hatten. Seine genuine Prägung hat Iwand durch die intensive Beschäftigung mit der Theologie Luthers vermittels seines Lehrers Rudolf Hermann erhalten. Insofern ist er dem Kreis der sog. „Lutherrenais56 Vgl. Kapitel 2.4. 57 Vgl. Kapitel 2.3.4.
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sance“ zuzuordnen, die ihren Ausgang von Karl Holls Studien über den jungen Luther nahm.58 Es ist unsere im nun folgenden Abschnitt zu entfaltende These, dass gerade jene im Zusammenhang mit dem Lutherstudium gewonnenen Einsichten, die Iwand kritisch gegenüber ihm ansonsten so nahe stehenden Theologen wie Karl Barth und Eduard Thurneysen in Anschlag bringt, seinem Programm eines homiletischen Realismus ein spezifisches Profi l geben. Bevor wir diese These entfalten, soll Iwands Homiletik kurz innerhalb derjenigen homiletischen Entwürfe verortet werden, die zu jener Zeit im Umkreis der Wort-Gottes-Theologie entstanden. Haben wir im Zusammenhang mit Iwands Kritik an der liberaltheologischen Homiletik auf den theologischen Neuaufbruch nach dem Ersten Weltkrieg rekurriert, so ist nun zu präzisieren, dass dieser zum Zeitpunkt von Iwands Vorlesung bereits in eine neue Phase getreten war.59 Indikator dafür ist neben dem Kirchenkampf der Sachverhalt, dass der Wort-Gottes-Theologie sich verpflichtet wissende Homiletiker dazu übergingen, systematische Entwürfe zur Predigtlehre zu entwickeln. Es hing mit der schon bei Iwand kennen gelernten grundsätzlichen Skepsis gegenüber methodisch-machbaren homiletischen Operationen zusammen, dass für lange Zeit von dieser Seite „keine allgemeine Predigtlehre“ (3/422) vorgelegt wurde. Dieser Sachverhalt führte zu der Diskrepanz, dass das „Pfarrerproblem der Predigt“60 als Fundamentalproblem der Theologie überhaupt einerseits eine enorme Aufwertung erfuhr, andererseits aber ausschließlich in Gestalt von Vorträgen und Aufsätzen und nicht in einer zusammenhängenden Homiletik traktiert worden ist.61 Erst die Etablierung von Vertretern jener Richtung an Lehrstühlen, oder – im Falle Iwands und Bonhoeffers – die Notwendigkeit, sich aus der veränderten Lage heraus zur Predigtlehre äußern zu müssen, führte hier zu einem Wandel. Zwar sind die nun entstehenden Predigtlehren z.T. von sehr fragmentarischer Gestalt, in Mitschriften überliefert und erst sehr viel später oder überhaupt nicht veröffentlicht worden, dennoch handelt es sich durchweg um zusammenhängende homiletische Entwürfe. Zu nennen ist an erster Stelle die Homiletik Karl Barths, die aus seinem Seminar in Bonn 1932/33 hervorgegangen und 1965 erstmals veröffentlicht wor58 Vgl. Assel, Heinrich, Der andere Aufbruch, 32. In seiner Vorlesung positioniert Iwand sich mit den Worten: „Ein neuer Aufbruch war uns geschenkt in den Jahren der Nachkriegszeit, als wir Luther fanden, als wir zur Schrift fanden, als uns der Durchbruch durch den Liberalismus gelang, als wir die Theologie des Kreuzes wiederfanden“ (12/439). In der Retrospektive aus dem Jahre 1956/57 würdigt er explizit die Rolle Karl Holls bei diesem Aufbruch: „Holl war ein Zeitgenosse und auch ein Fakultätsgenosse von Adolf v. Harnack und Ernst Troeltsch. Er allein aber hat jenen Berg bestiegen, der ihn in das neue Land schauen ließ, in das damals die junge Theologie auf dem Marsche war. Er als einziger hat etwas davon gesehen […] er hat einer ganzen theologischen Generation bei ihrem Aufbruch nach vorn Luther mitgegeben“; NW V, 48. 59 Vgl. Niebergall, Alfred, Die Geschichte, 341. 60 Barth, Karl, Not und Verheißung, 70. 61 Einen Sonderstatus nimmt das schon 1925 erschienene homiletische Lehrbuch des Tübinger Stiftsephorus Karl Fezer (ders., Das Wort Gottes) ein. So sehr die Arbeit bereits im Titel ihre Verbundenheit mit der Wort-Gottes-Theologie signalisiert, so wenig ist sie aber „als Ausdruck der dialektischen Theologie von dieser […] akzeptiert worden“, Müller, Hans Martin, Artikel: Homiletik, 545.
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den ist.62 Wolfgang Trillhaas hat mit seiner bereits genannten „Evangelischen Predigtlehre“ 1935 das erste und einzige klassische homiletische Lehrbuch der im unmittelbaren Umkreis von Barth stehenden Theologen veröffentlicht.63 1937 hielten Bonhoeffer und Iwand zeitgleich homiletische Vorlesungen in den Predigerseminaren der Bekennenden Kirche in Finkenwalde und Bloestau. Dabei ist Bonhoeffers Finkenwalder Homiletik bisher ebenso wenig zur Veröffentlichung gelangt wie die Iwands.64 Die sprachliche Nähe Iwands zu Barth und sein Insistieren auf dem Selbstwort Gottes als Subjekt der Verkündigung können leicht dazu verleiten, seine homiletische Eigenständigkeit zu nivellieren. Die Antwort, die Iwand auf der ersten Seite seiner Vorlesung auf die Frage nach dem Was der Verkündigung gibt, lässt zunächst vermuten, dass sie aus einer tiefen Kongenialität mit dem Ansatz Barths heraus formuliert ist: „Das Wort Gottes, das wir zu verkündigen haben, ist das Wort Gottes selbst, und der Versuch, beides auseinander zu nehmen, ist bereits der Versuch des Menschen, sich frei zu machen vom Auftrag der Verkündigung“ (1/420).
Erst an späterer Stelle gibt er zu erkennen, dass die hier vorgenommene Identifi kation des Wortes Gottes mit der menschlichen Verkündigung eine kritische Pointe gegen den Ansatz Barths enthält. Iwand bezieht sich dabei auf den berühmten Barth-Vortrag von 1922, in dem jener den Syllogismus aufgestellt hatte: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser NichtKönnen, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“ 65
Direkt darauf Bezug nehmend formuliert Iwand in seiner Vorlesung: „Wir sollen wissen, dass wir Menschen sind, aber darauf vertrauen, dass wir Gottes Wort verkündigen sollen, sollen dem Wort Gottes mehr vertrauen als uns selbst. Das nehme ich an. Aber nicht ohne weiteres nehme ich diese Frage an, wie kann ich, der Mensch, Gottes Wort verkündigen. Sie können in der Tat sehen bei Moses: ich habe eine schwere Zunge. Zögern nicht alle Propheten, wird ihnen nicht da erst deutlich, dass sie Menschen sind? Das ist richtig. Aber damit ist noch nicht gesagt, ob das der Ansatz sein darf, von dem ich ausgehe, um das Problem von Menschenwort und Gotteswort zu erfassen, […]. Das ist eine Anfechtung; aber es ist fraglich, ob das ein theologischer Ansatz ist“ (31/463).
Was steht hinter dieser Kritik? Wir müssen etwas weiter ausholen, um zu sehen, worum es Iwand hier geht: In der kritischen Aufnahme der Theologie Barths durch die nachfolgende Generation Systematischer Theologen ist die These aufgestellt worden, dass es sich auch bei seinem Ansatz trotz der vorherrschenden Polemik um „eine Va62 Barth, Karl, Homiletik. 63 Trillhaas, Wolfgang, Evangelische Predigtlehre. 64 Zur Darstellung des Entwurfes vgl. Bobert-Stützel, Sabine, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, 207–240. 65 Barth, Karl, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, 338.
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riante des neuzeitlichen Themas der Subjektivität und ihrer Autonomie“ handelt:66 Erklärtes Ziel Barths ist es gewesen, die bewusstseinstheoretische Engführung der protestantischen Theologie im Gefolge der kantischen Transzendentalphilosophie und der Religionstheorie Schleiermachers rückgängig zu machen. An die Stelle der Extrapolation des Gottesverständnisses aus einem sich gegenüber der Welt ursprünglich setzenden Selbst – die zwar die Aufrechterhaltung des Letzteren als Fundamentalstruktur menschlicher Existenz sicher stellte, aber zugleich die „transzendentale Verflüchtigung des Gottesverständnisses“67 zum unbestimmten Woher schlechthinniger Abhängigkeit zur Folge hatte – sollte die Wiedergewinnung Gottes als theologische Zentralkategorie treten. Demgegenüber hat Trutz Rendtorff in seiner Interpretation Barths dargelegt, dass letzterer in seiner Entfaltung des Gottesgedankens jenem bewusstseinstheoretischen Paradigma verhaftet bleibt: „das Neue und Bemerkenswerte an dem Entwurf […] ist, daß dieser Protest gegen die Autonomie im Namen einer höheren Autonomie erfolgt, der radikalen Autonomie Gottes. Damit rückt Karl Barth, wohl zum ersten mal in der neueren Theologiegeschichte, die Theologie ganz unter die Bedingungen von Autonomie, aber so, daß die Position der Autonomie gänzlich von der Theologie reklamiert wird, von ihr her neu besetzt wird. Statt apologetischer Versuche, die Grenzen der Autonomie zu bestimmen, um das Recht einer selbständigen Religion daneben behaupten zu können, verlegt Karl Barth den Anspruch der Theologie ins Zentrum der Autonomieforderung selbst.“68
Der Ort, an dem diese Operation zum Tragen kommt, ist die an der betonten Diastase zwischen Gottes- und Menschenwort entwickelte Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Offenbarung. Gegenüber den Identifi kationen der Theologie des späten 19. Jahrhunderts schärft Barth der Homiletik unermüdlich die Frage ein „nicht: wie macht man das? – sondern: wie kann man das?“,69 um die positive Antwort darauf allein in der weltüberlegenen Subjektivität Gottes zu suchen. Wie allerdings in der neuzeitlichen Philosophie die In-Beziehung-Setzung des cartesianischen Subjektes zur gegenständlichen Wirklichkeit erhebliche Schwierigkeiten bereitete, so bereitet es von den barthschen Voraussetzungen her große Schwierigkeiten, die Gegenständlichkeit der Offenbarung festzuhalten.70 Deutlich wird dies etwa an der Explikation des Offenbarungsverständnisses der „Dialektischen Theologie“, die Eduard Thurneysen in seiner Besprechung gegenüber der Homiletik Karl Fezers vornimmt: 66 Pannenberg, Wolfhart, Die Subjektivität, 96. 67 Dalferth, Ingolf Ulrich, Subjektivität, 42. 68 Rendtorff, Trutz, Radikale Autonomie, 165f. 69 Barth, Karl, Not und Verheißung, 72. 70 Vgl. Rendtorff, Trutz, Radikale Autonomie, 167: „Der Scheincharakter aller Wirklichkeitserkenntnis, die nicht aus der in sich selbst gegründeten Vernunft hervorgegangen ist, […] ist weiteres Grundmotiv der radikalen Aufk lärungskritik. Die Entlarvung des Scheincharakters menschlicher, gar religiöser Welt- und Geschichtserkenntnis ist so die erste Aufgabe einer Theologie, die sich auf die Position der radikalen Autonomie Gottes stellt.“
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„[…] wenn der Begriff der Offenbarung im Zusammenhang mit dem Worte Gottes etwas bedeuten will, so eben das Nichtg egebensein dieses Wortes – außer im Akt seines Geredetwerdens von Gott selber. Daß man das Wort Gottes nie und nimmer anders hat, als indem er, Gott, es zu uns redet: das will der Offenbarungsbegriff sagen. Wenn er etwas anderes bedeuten sollte als diesen Akt des Redens Gottes selber, […] nicht mehr Offenbarung, sondern irgendeine Offenbarheit, sei es eine so genannte ‚Wirklichkeit‘ oder bloß eine offenbarte Wahrheit, dann ist seine primäre Bedeutung aus und dahin.“71
Dieses Offenbarungsverständnis konkretisiert sich nach Rendtorff u.a. in der Schrifthermeneutik Barths, insofern er „sich Zeit seines Lebens dagegen gewehrt hat, sich den Kriterien der offiziellen Bibelauslegung zu unterwerfen und auch seine Bibelauslegung aus der sich selbst begründenden theologischen Autonomie entwickelt hat.“72 Dies geschieht, indem Schrift und Verkündigung mittels der dogmatischen Reflexion nochmals zum Gegenstand der kritischen Nachfrage nach dem Wort Gottes gemacht werden, das selber „actus purus, göttliche, mit sich selbst anfangende und nur aus und durch sich selbst einsichtige […] Handlung […] [,] nicht kontinuierlich-vorfindliche Beziehung“ ist.73 In seiner Homiletik kommt diese Unterscheidung in der Grund legenden Doppelbestimmung zum Tragen, dass die Predigt einerseits „Gottes Wort [ist], gesprochen von ihm selbst“ und andererseits als „der der Kirche befohlene Versuch“ angesehen werden muss, „dem Worte Gottes selbst durch einen dazu Berufenen […] zu dienen […].“74 Entsprechend erörtert Barth im Mittelteil, der die „Kriterien der Predigt“ zum Gegenstand hat, zuerst die Kriterien der „objektiven Ermöglichung der Predigt“ (Offenbarungsmäßigkeit, Kirchlichkeit, Bekenntnismäßigkeit, Amtsmäßigkeit) und zum Schluss die der „subjektiven Verwirklichung der Predigt“75 (Biblizität, Originalität, Gemeindemäßigkeit, Geistlichkeit). Die „Vorläufigkeit“ als in der Mitte stehendes Kriterium macht „die Schlüsselstellung des ganzen Problems der Predigt“ aus,76 insofern damit zu Bewusstsein tritt, dass sie nur der vorläufige Versuch ist, Gottes Wort Raum zu schaffen.77 Für das Predigtverständnis Barths insgesamt hat Manfred Josuttis herausgearbeitet, dass dieser „zu keiner Zeit seiner theologischen Entwicklung die Predigt ohne weiteres und vorbehaltlos mit dem Wort Gottes identifiziert.“ Setzt Barth bereits in den frühen Aussagen „der Erwartung der Hörer […] die Unverfügbarkeit Gottes […] entgegen“, so wird diese Dialektik in den 1930er Jahre in der angezeigten Doppelbestimmung fortgeführt. Bezeichnenderweise verliert die Predigt beim späten Barth „jede Sonderstellung im Raum menschlicher Rede; Wort Gottes ist Jesus Christus allein, ihm gegenüber bleibt alles 71 72 73 74 75 76 77
Thurneysen, Eduard, Das Wort, 201. Rendtorff, Trutz, Radikale Autonomie, 180. Barth, Karl, KD I, 1, 41. Barth, Karl, Homiletik, 30. Genest, Hartmut, Karl Barth, 137–152. Barth, Karl, Homiletik, 58. Vgl. Voigt, Friedemann, Predigt als theologischer Begriff, 197.
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Reden innerhalb und außerhalb der Kirche abgeleitetes menschliches Zeugnis.“78 Die Charakterisierung der Predigt als Zeugendienst – wobei die Stellung des Zeugen unter der Autonomieforderung für das göttliche Wort äußerst prekär ist – scheint von daher für Predigtverständnis Barths besonders geeignet zu sein.79 Der Ansatzpunkt der Kritik Iwands an Barth betrifft im Kern genau jenes hier dargelegte Autonomieverständnis. Dies tritt am deutlichsten in Iwands Besprechung der „Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik“ aus dem Jahre 1935 zu Tage, die deshalb ergänzend zur Homiletik-Vorlesung herangezogen werden soll:80 War Iwand seit seinem Studium mit der Philosophie Kants vertraut, so vermochte er hinter der barthschen Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen von Offenbarung sofort jenen transzendentalen Ansatz zu erblicken, der für das neuzeitliche Denken von so weit reichender Bedeutung ist.81 Bei Barth sieht er diese Denkvoraussetzung an der Stelle wirksam, wo der Dogmatik aufgrund der Unterscheidung zwischen „dem göttlichen Gehalt und der weltlichen Gestalt der Offenbarung“82 die Kompetenz eingeräumt wird, „dem religiösen ‚Akt‘ [der Offenbarung, Anm. d. Verf.] gegenüber eine kritisch reflektierende Haltung einzunehmen und die Bedingungen zu studieren, unter denen dieser Akt möglich wird.“83 Dieses Vorgehen ist für Iwand rein hypothetisch und verfehlt die Situation, in der sich der Mensch dem Wort Gottes gegenüber befindet.84 In immer neuen Anläufen fragt er demgegenüber: „Ist die Verkündigung in diesem Sinne ‚Material‘ der dogmatischen Arbeit? Kann sie das sein, wenn sie echte Verkündigung, also wirklich Zuspruch Gottes an mich ist? Kann ich dieser Verkündigung gegenüber der dogmatisch reflektierende Kritiker bleiben? Ist nicht die ständige Bezogenheit dogmatischer Arbeit auf die Heilige Schrift das echte und ursprüngliche Verhältnis zwischen Verkündigung und Dogmatik, zwischen Hören und Verstehen, zwischen credere und intelligere?“85 „Kann man hier wirklich zwischen einer phänomenalen und einer noumenalen Seinsweise des Wortes Gottes unterscheiden?“86
Auf Iwand wirken die am transzendentalen Vorbehalt entwickelten Unterscheidungen deshalb so befremdlich, weil er den Ausgangspunkt seiner eigenen 78 Josuttis, Manfred, Das Wort, 241. 79 Vgl. Josuttis, Manfred, Der Prediger, 70–94. 80 Vgl. GA I, 87–109. 81 Ähnlich wie Rendtorff sah Iwand die Nähe Barths zur kantischen Erkenntnistheorie, deren Ausgangspunkt die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen gegenständlicher Erfahrung ist und deren Lösung darin besteht, letztere in die vor-empirische Verfassung des Subjektes zu verlegen. Vgl. Kants Rede von der kopernikanischen Revolution der Denkungsart, Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft , 25. Diese Operation stellte die privilegierte Stellung des Subjektes gegenüber der verdinglichten Welt sicher und schuf die Voraussetzung für eine ungehemmte (natur-)wissenschaft liche Erforschung letzterer. 82 GA I, 101. 83 Ebd., 93. 84 Vgl. ebd., 102f: „es gibt gar keine Möglichkeit, nach dem Wesen als solchem zu fragen, denn in dieser Begegnung mit dem Worte Gottes bin ich ja schon der davor oder der dahin fl iehende“. 85 Ebd., 93. 86 Ebd., 102.
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theologischen Besinnung konsequent bei der Inkarnation nimmt. Verdankt sich die Unterscheidung zwischen einem ideellen Gehalt und einer welthaften Gestalt letztlich einer idealistischen Weltanschauung, in der Sein und Bewusstsein auseinander fallen, so beteuert er, dass für Luther „die Menschlichkeit des Wortes Gottes identisch mit dem Heil“ sei: „Menschwerdung bedeutet doch wohl mehr als weltliche Gestalt, wenn anders in Jesus Christus die Menschheit zur Rechten Gottes erhöht ist. Und wenn Christus Mensch wird, dann heißt das mehr, als daß Gottes Wort welthaft ist. […] Das ist mehr als ein Mittel, das er braucht, als eine Hülle, in der er sich verbirgt, als eine Sprache, die er annimmt, […]. So wie Gott Mensch wird, so muß auch sein Wort in unserer Verkündigung Menschenwort werden […]“87
Iwand kann geradezu fordern, das hinsichtlich der Verkündigung von einer „Verwandlung des Wortes Gottes in eines Menschen Wort“ die Rede sein müsse.88 Dabei sieht er seine Auseinandersetzung mit den bei Barth wirksamen Denkvoraussetzungen der neuzeitlichen Philosophie auf einer Linie mit der Auseinandersetzung zwischen Luther und den Schweizern um die Auslegung der Einsetzungsworte im Abendmahl. Der Gegensatz stellt sich ihm dermaßen dar, dass die Schweizer den Ansprüchen der Rationalität (finitum non capax infinitum) Rechnung zollen, indem sie die „machtvolle Souveränität Gottes“89 gegenüber der Welt wahren und sich darauf beschränken, die Mahlpräsenz Christi als Akt mentaler Repräsentation auszusagen. Demgegenüber legt Luther alles Gewicht darauf, die Gegenwart Christi kraft der Idiomenkommunikation „in, mit und unter“ irdisch-leiblicher Wirklichkeit festzuhalten. Leitend ist dabei die Anschauung, dass die Gnade den Menschen nicht kraft dessen Besinnung auf das göttliche Wesen, sondern allein dadurch erreicht, dass der Zuspruch der Sündenvergebung in einer „wirkliche[n] Begegnung mit dem Wort Gottes“ (4/425) auf ihn kommt.90 ... Die unhintergehbar menschliche Gestalt des gepredigten Wortes als Grundlage von Iwands homiletischem Realismus Die Präsenz des göttlichen Wortes in der menschlichen Wirklichkeit ist das Thema von Iwands homiletischem Realismus, das er als Theologe lutherischer Provenienz besonders betont. In negativer Abgrenzung bedeutet dies zunächst für die Funktionsbestimmung der Predigt, dass sie nicht lediglich das religiö87 Ebd., 105. 88 Ebd., 104. 89 Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 190. 90 Vgl. dazu Bayer, Oswald, Handbuch, 381-383. Gustav Wingren hat in seiner nach dem zweiten Weltkrieg veröffentlichten Predigtlehre die Kritik Iwands gegenüber Barth folgendermaßen aufgenommen: „Schon der Versuch, das Menschliche wegzuschälen, um zu einem Punkt zu gelangen, an dem das Wort nur göttlich ist, losgelöst vom Menschlichen, schon ein solches Bestreben leitet in die Irre. Es setzt nämlich voraus, daß Gott oberhalb des Menschlichen gefunden und ergriffen werden könne, aber der wirkliche Gott liegt, wie Luthers sagt, im Stroh im Stalle. Aus Menschenmund werden Gottes Wort und Stimme gehört, ‚nicht die vom hymel herab schallet, sondern die da unter den menschen ist‘“, ders., Die Predigt, 32.
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se Bewusstsein der Gemeinde öffentlich zur Darstellung zu bringen (Schleiermacher), aber auch nicht lediglich die unverfügbare Offenbarung in einem vorläufigen Versuch zu bezeugen (Barth) hat. In diesem Sinne forderte bereits Karl Holl gegenüber der Charakterisierung der Predigt als „persönliches Glaubenszeugnis“: „Die Predigt hat wirklich keine andere Aufgabe als die, Gott zu vergegenwärtigen. Sie soll nicht reden von den religiösen oder anderen Meinungen der Menschen, sondern uns vor das Angesicht Gottes stellen; man soll in ihr den Menschen, der redet, völlig vergessen können. Das ist die unweigerliche Aufgabe und die ungeheure Verantwortung, vor der der evangelische Prediger steht.“91
Sabine Bobert-Stützel hat für die Finkenwalder Homiletik Bonhoeffers herausgearbeitet, dass dieser das Wesen der Predigt ebenfalls auf der Grundlage der Abendmahlstheologie zu erfassen sucht.92 Die homiletischen Identitätsproportionen werden bei ihm mit Hilfe der Lehre von der communicatio idiomatum formuliert und die Predigtgestalt wird als Aufnahme menschlicher Worte in die Niedrigkeitsgestalt des inkarnierten Logos aufgefasst.93 Insofern kann Bobert-Stützel von einem „sakramentsähnlichen Charakter des Predigtgeschehens“ bei Bonhoeffer reden.94 Relativiert wird das sakramentstheologische Schema allerdings durch Bonhoeffers personale Ontologie, auf Grund derer er „Christi Gegenwart als Gegenwärtigsein im Akt des Gegenwärtigwerdens“ denkt und damit den bei Barth kennen gelernten Vorbehalt seinerseits festhält.95 Iwands Position zeichnet sich gegenüber den genannten Ansätzen dadurch aus, dass er die „Niedrigkeit und Selbstentäußerung Gottes“96 in die menschliche Wortverkündigung noch einmal zuspitzt. Und zwar will er die Erniedrigung des Wortes zur Predigtgestalt nicht lediglich als ein je aktuales Geschehen verstanden wissen. Unter der christologischen Signatur heißt Offenbarung vielmehr ein wirkliches „Ausgeliefertsein des Wortes an den Menschen“. Er gelangt von daher zu der Bestimmung: „Gott gibt sich wehrlos dem Menschen in die Hand […]. […] Gottes Wort […] ist nicht der actus purus […] sondern die Menschwerdung Gottes, seine Ohnmacht und sein Kreuz“.97
Wird die Inkarnation des Logos konsequent zum Ausgangspunkt der Besinnung auf das Verkündigungsgeschehen gemacht, dann ist das genuine Pro91 Holl, Karl, Neugestaltung, 224. 92 Bobert-Stützel, Sabine, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, 220. 93 Ebd., 216. 94 Ebd., 219. 95 Ebd., 222. Vgl. ebd., 223: „Die Berücksichtigung des transzendentalen Aspektes der Personalität Christi bewahrt Bonhoeffer davor, Gottes Gegenwart in der Predigt als etwas Vorfi ndliches, Verfügbares, Seiendes institutionalisiert zu denken.“ 96 GA I, 106. 97 Ebd., 106. Vgl. dazu Assel, Heinrich, „…für uns zur Sünde gemacht…“, 196: „Thema der Rechtfertigungstheologie [Iwands, Anm. d. Verf.] ist das Ausgeliefertsein des Namens als Verheißungswort an den Menschen und das Ausgeliefertsein des Menschen an das Gericht seiner Werke.“
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blem der Predigt nicht mehr die Überbrückung des „Gegensatzes zwischen Menschenwort und Gotteswort“,98 sondern die Frage, wie der Mensch sich zu dem in der Verkündigung tatsächlich auf ihn kommenden Wort stellt. Der Mensch erfährt Gottes Wort nicht als ein „totaliter aliter“, sondern „als eine in seinen Augen belanglose Rede eines Menschen von Gott. […] Aber“, so fährt Iwand fort: „das ist eben sein Urteil! […] Mit diesem Urteil hat sich der Mensch je schon frei gemacht von Gott.“99 Für Iwand ist das Auseinandertreten von weltlicher Gestalt und göttlichem Gehalt des Wortes Gottes nicht in dessen Wesen, sondern vielmehr im menschlichen Urteil über die Niedrigkeitsgestalt des Wortes begründet. Er billigt dem Menschen die Möglichkeit zu, sich entweder urteilend über das Wort zu erheben, oder sich ihm als Beurteilter zu unterstellen. In ersterem Fall wird es ihm zum Gesetz, das ihm dem Gericht seiner Werke ausliefert, im letzteren Fall ist es das Evangelium: „da geht Gott ‚aus sich heraus‘ und der Mensch ‚in Gott ein‘ und diese Coincidenz des Wortes Gottes in seinem Innerhalb und Außerhalb ist die Gewissheit des Glaubens.“100 Von dieser Voraussetzung her gewinnt das Predigtgeschehen bei Iwand seine Brisanz und seine eigentümliche Dynamik, wiederholt sich doch in der Stellungnahme der Hörer zum „geschriebene[n] und gesprochene[n] Menschenwort“ das Gegenüber des irdischen Jesus zu seinen irdischen Richtern. Kraft ihres Amtes obliegt den Predigern die Verantwortung für die prekäre Stellung des Wortes in der Welt. In diesem Sinne schärft Iwand seinen Hörern gleich auf der ersten Seite ein: „Das Evangelium hat heute so wenig einen Raum in der Welt, wie in den Tagen, als Er in das Seine kam und die Seinen nahmen ihn nicht auf. […] Hier wird schon deutlicher, warum Gott Boten braucht. Er braucht sie darum, weil er sonst niemanden hat, dem er sein Wort anvertrauen kann, weil er sein Wort nicht in den Weltbestand als solchen legen kann. In dem Augenblick, wo die Boten Gottes in der Welt aufhören würden, würde auch das Wort Gottes nicht mehr da sein. Das Wort Gottes ist nicht an sich da, es gehört nicht zum Wesen und zur Existenz der Welt[.] Darum kann man das Wort Gottes ausrotten, darum kann eine Kirche untergehen. […] Gott vertraut sein Wort irrenden und schwachen Menschen an und davon lebt die Kirche“ (1f/420).
Was mit der Ausrichtung der Predigt auf dem Spiel steht, zeigt sich daran, dass die Kirche auch dort, wo sie ihren Auftrag verfehlt, nicht aus ihrer Verantwortung entlassen ist: „Wenn die Verkündigung der Kirche als Rede von Gott dem Menschen nichts anderes sagt, als was er sich selbst […] sagen kann, wenn die Verkündigung den Monolog des irrenden und anklagenden Gewissens nicht zu durchbrechen vermag, [….] dann wird auch diese Verkündigung mehr sein als Menschenwort, aber sie wird das Wort sein, in dem die Kirche, die nicht glaubt, sich selbst richten und zugrunde richten muß. Diese verkehrte, teuflische Verkündigung ist nicht nichts, 98 GA I, 101. 99 Ebd., 106. 100 Ebd., 107.
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sie ist mehr als Menschenwort, sie ist das Todesgericht, das die gefallene Kirche […] an sich und der Welt ausüben muß, sie ist das Lautwerden der Stimme Gottes im Mund der Kirche, an der diese Kirche selbst sterben muß.“101
Als Spezifi kum des an der Niedrigkeitsgestalt Christi entwickelten Wortverständnisses Iwands zeichnet es sich bereits auf der Ebene der prinzipiellen Homiletik ab, dass die Dramatik des Predigtgeschehens gegenüber anderen Varianten der zeitgenössischen Wort-Gottes-Theologie noch einmal erheblich gesteigert ist. Dies gilt sowohl für die Intensität, mit der das göttliche Wort sich in die menschliche Wirklichkeit investiert und dabei seine machtvolle Souveränität aufs Spiel setzt, als auch für das Maß an Verantwortung, das Predigern und Hörern damit aufgebürdet wird. Jede reflexive Distanznahme von der Beanspruchung durch das Wort wird bereits als Fluchtversuch aufgedeckt und unmöglich gemacht. Im Folgenden wollen wir untersuchen, welche Konsequenzen sich daraus für die homiletische Methodik ergeben. .. Die Begründung des Predigtauftrages in der Schrift Das realpräsentische Wortverständnis Iwands kommt in seiner Homiletik zunächst darin zum Tragen, dass er der Schrift gegenüber allen anderen homiletischen Faktoren den Primat einräumt. Dabei geht er soweit, dass er im Bezug auf den biblischen Verkündigungsauftrag die empirische Möglichkeit der konkreten Predigt bereits mit gesetzt sieht und dieses Fundament immer wieder gegen existentielle, hermeneutische, spekulative und methodische Begründungsansätze der Homiletik ausspielt.102 Es handelt sich, was die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Predigt angeht, schlicht um die Alternative von Gehorsam und Ungehorsam gegenüber dem biblischen Auftrag (vgl. 33/466). Jegliches Absehen von dem unauflösbaren Zusammenhang von Inkarnation, Schrift, Auftrag und Verkündigung ist eine Quelle der Anfechtung, die unweigerlich zum Verlust der Heilsgewissheit führt und den Menschen auf sich selbst zurückwirft. Von daher schärft er seinen Hörern ein: „wenn Gott mir aufträgt, sein Wort zu verkündigen, dann habe ich nicht die Frage zu stellen: wie kann ich als Mensch dieses Wort verkündigen. Die Möglichkeit liegt im Worte Gottes, nicht in mir. […] Ich würde so sagen: Ihr findet in der Schrift den für Euch bereiteten Auftrag, dass ihr ihn erfüllen könnt. […] In dem Augenblick, wo die Kirche das Wort Gottes reden wollte ohne Beziehung auf die heilige Schrift, würde sie an ihrer Aufgabe scheitern müssen, die übermenschlich ist“ (31/463f).
... Die Schrift als homiletischer Schutzraum Welche Konsequenzen hat der geforderte Gehorsam gegen die Schrift aber für den konkreten Umgang mit ihr? Das erste, was in den Ausführungen Iwands 101 Ebd., 104. 102 Vgl. Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 188.
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immer wieder hervorsticht, ist, dass er die Schrift angesichts der Raumlosigkeit des Evangeliums in der Welt (vgl. 1/420) rhetorisch als einen Schutzraum behandelt, dessen Betreten Prediger und Hörer gegenüber der Anfechtung durch die Welt in die befreiende Nähe Gottes versetzt. Seinen Hörern als zukünftigen Predigern erteilt Iwand den Ratschlag, die Arbeit am Text nicht als „Hemmung oder Behinderung“ aufzufassen, sondern in der Schrift zu leben, „wie der Fisch im Wasser“ (65/494). Der umfassende homiletische Imperativ lautet: „Lebe nur in der Schrift, dann wirst Du Gottes Wort predigen können“ (32/465).
Aber auch für die Gemeinden rechnet er damit, dass es dort über dem Leben mit der Schrift zu einem Wachstum an Erkenntnis und zum Reden für die Bibel „aus einer inneren Substanz heraus“ (24/454) kommt. Dabei wird die Schrift als eine Einheit und der Christusbezug als ihr organisierendes Zentrum aufgefasst. Für das Gelingen der Predigt kommt es darauf an „das Zeugnis der Apostel und Propheten mit dem Leiden und Auferstehen Jesu Christi zur Deckung zu bringen“ (63/492). Iwand sucht zwei verschiedene Umgangsweisen mit der Schrift zu vereinen, von denen erstere besonders in der Charakterisierung der Predigt als Kerygma und letztere in der Charakterisierung als Paraklese entfaltet wird: Hat die Predigt als Kerygma zu verkündigen, „was in keines Menschen Herz gekommen ist“ (17/445), so beschreibt er die Art von dessen Erschließung als ein unverfügbares Widerfahrnis, in dem der Text die Botschaft aus sich heraustreten lässt und die Gegenwart der Hörer in völlig neuer, unvorhersehbarer Weise erhellt. Leitend bei diesem vernehmenden, auf reines Hören (vgl. 21/450) angelegten Zugang zur Schrift ist die Erwartung ihrer Selbstwirksamkeit. Ihr entspricht eine sehr genaue, tastende Wahrnehmung der strukturellen Eigenart des jeweiligen Textes und eine offene Gestaltung der Predigt zu den Hörern hin. Es gilt dem Wort nicht vorausgreifen oder seine Wirkung kanalisieren zu wollen – beides wäre Ausdruck sündiger Überheblichkeit. Auf diese Bestimmung bezieht sich die Metapher von der „Schrift als Raum“ insbesondere. Wenn Iwand daneben der Predigt als Paraklese die Funktion zuweist, „in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit dieser Offenbarung“ zu erziehen (17/445), so deutet sich darin ein weiter gehender Umgang mit der Schrift an, den er ebenfalls für unabkömmlich hält. Der Erschließungsvorgang endet nicht mit der widerfahrnishaften Erhellung der Gegenwart von einem einzelnen Text her, sondern nimmt die Hörer darüber hinaus in Anspruch für eine Gesamtanschauung von der Offenbarung Gottes in Christus, der es sich urteilend und anerkennend zu unterwerfen gilt.103 Erst auf diese Weise wird der 103 Ulrich Barth macht an diesem Übergang zur Explikation des Glaubens in dem ihm übergeordneten Zusammenhang ein entscheidendes Differenzkriterium zwischen „Religion und ästhetische[r] Erfahrung“ fest: „Das Widerfahrnismoment […] gehört zu den klassischen Merkmalen von Religion […], demzufolge der Heilszustand immer das Gepräge eines Geschenks, einer nicht vom Menschen hervorgebrachten Teilhabe trägt. Doch das religiöse Bewußtsein bleibt bei solchen Passivitätsmustern nicht
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Glaube zum Gehorsam und weiß sich einem Bekenntnis verpflichtet. Kehrseite dieses Gehorsams ist die Glaubensgewissheit.104 Homiletisch erwächst daraus die Notwendigkeit, den einzelnen Text lehrhaft auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus hin zu fi xieren und ihn damit auf eine exklusive und definitive Anschauung von der göttlichen Offenbarung zurückzuführen. Rhetorisch bringt dies eine stärkere Geschlossenheit, die Neigung zur Darstellungsverkürzung und definitiver Festlegung mit sich. Die Botschaft verliert in dieser Funktion ihre „narrative Unschuld“,105 indem der weite Raum biblischer Erzählung zum assertorischen, formelhaften Bekenntnissatz verengt wird. ... Predigt als Kerygma Unter der Bestimmung der Predigt als Kerygma sucht Iwand einen „christlichen Dogmatismus“ (24/454) abzuwehren, der die Lebendigkeit des Schriftzeugnisses auf ein formales Prinzip reduziert. Die latente Gefahr dazu sah er bei der Assimilation der Predigt in die Liturgie (vgl. 4/424) ebenso wie im Offenbarungsverständnis Barths. Demgegenüber macht er die unlösliche Wechselbeziehung von Inhalt und Form zunächst in der Weise geltend, dass er den Schriftbezug Grundgesetz auch der formalen Gestaltung sein lässt. Dies wird nicht nur daran deutlich, dass Fragen der Textauslegung (vgl. 62–108/492–507 […]) einen ausgesprochen großen Raum einnehmen. Vielmehr liegt die Besonderheit Iwands darin, dass er überall, wo er auf die Frage der Form zu sprechen kommt, darum bemüht ist, diese allein aus biblischen Vorbildern heraus zu entwickeln. Der Seitenblick auf ihm nahe stehende Entwürfe der Predigtlehre soll dies abermals verdeutlichen: Die bereits angeführte Homiletik Barths lässt gegenüber der Frage nach spezifischen Verkündigungsformen eine weit gehende Indifferenz erkennen. Konzentriert er sich in der Abgrenzung von der vorausgehenden Epoche der Homiletik ganz auf die Neudefinition des der Predigt zugrunde liegenden Offenbarungsverständnisses,106 so bleiben seine Anweisungen an die künftigen Prediger zur „eigentlichen Vorbereitung der Predigt“ blass und stellen weit gehend Dekonstruktionen dar.107 Die aus der stehen, sondern sucht diese selber noch einmal nach ihren inneren Voraussetzungen zu durchdringen. Es kehrt – wie Karl Holl exemplarisch an Luthers Rechtfertigungslehre gezeigt hat – seine subjektive Perspektive um und beschreibt seine Erfahrung gleichsam aus dem Blickwinkel des göttlichen Standpunkts. […] Das Widerfahrniserlebnis bleibt also nicht wie im Falle der ästhetischen Erfahrung in seiner Gegebenheit stehen, sondern wird auf einen ihm vorausliegenden Ermöglichungsgrund zurückgeführt“, Barth, Ulrich, Religion, 121. 104 An dieser Stelle kommt die grundlegende Defi nition des Glaubens bei Iwand als „Deum iustificare“ (GA II, 21f) zum Tragen, auf Grund dessen die angezeigte „Coinzidenz des Wortes Gottes in seinem Innerhalb und Außerhalb“ (GA I, 107) eintritt. Vgl. Lempp, Eberhard/Thaidigsmann, Edgar, Gottes Gerechtigkeit, 48ff. 105 Weinrich, Harald, Narrative Theologie, 331. 106 Barth, Karl, Homiletik, 30. 107 Ebd., 73–112. Vgl. dazu die Abwehr der Frage nach einem Textskopus (84), die Warnung vor lebensnahen Beispielen (97), Lieblingsgedanken (97f) und Aktualität (98), die Ablehnung einer Einleitung (101), einer Segmentierung (105) und eines Schlusses (106) zugunsten der „Einheit der Predigt“ (100), wobei offen bleibt, wie letztere aussehen soll; ebd.
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Predigtdefinition abgeleiteten „Kriterien der Predigt“108 fallen ebenso wie die in positiver Absicht vorgetragenen methodischen Überlegungen recht formal aus und lassen keinen direkten Bezug zu dem biblischen Stoff erkennen.109 Auch die Formbestimmung der Predigt als „Homilie“ bleibt sehr allgemein. Gefordert wird „das corpus der Predigt aufzubauen in der Wiederholung des dem Text eigenen Rhythmus und unter Beachtung der sachgemäßen Proportionen“, ohne dass dabei der „Buchstabensklaverei“ zu verfallen sei.110 In methodischer Hinsicht differenzierter ist die Erörterung der Predigtformen bei Bonhoeffer. Er unterscheidet finis docendi, movendi und delectandi als die drei möglichen Predigtziele und ordnet diesen als Konkretionen die Lehr-, Erbauungs- und Bekehrungspredigt zu. Damit orientiert er sich allerdings wie schon die Orthodoxie und die Homiletik des 19. Jahrhunderts an der klassischen Einteilung der antiken Redegattungen.111 Auch Bonhoeffer favorisiert die Homilie im allgemeinen Sinne der Schriftauslegung als Idealgestalt der Predigt.112 Demgegenüber veranlasst Iwand sein Verständnis der Schrift als homiletischer Schutzraum dazu, die Grundformen der Predigt selber der Schrift zu entlehnen. Die Regel, die Iwand für die Gestaltung besonderer thematischer Predigten neben der „eigentlichen Schriftauslegung“ (71/497) aufstellt, lässt sich als Grundgesetz seiner gesamten formalen Homiletik auffassen: „Die besonderen Formen der Verkündigung finden wir vorgezeichnet in der Verkündigung der Apostel selbst“ (66/494).
Durchgängig lehnen sich die formalen Bestimmungen der Predigt als Kerygma (17–23/445–453), Paraklese (23–26/453–457), Didache (26–35/457–468), Lehrpredigt (67f/495f), Paränese (68/496) und prophetische Predigt (69–71/ 497) an neutestamentliche Vorbilder an. Ausgehend von der neutestamentlichen Bezeichnung des Apostels als Keryx (vgl. 1Tim 2,7)113 und dessen Botschaft als Kerygma (vgl. Röm 16,25; 1Kor 2,4; 15,14) spürt er den antiken Sinn dieses Wortstammes auf, um ihn für die Wesensbestimmung der Predigt fruchtbar zu machen und gegen mögliche Deformationen abzugrenzen. Der Keryx bezeichnet die Funktion des Heroldes, als autorisierter fürstlicher Beauftragter eine Nachricht bekannt zu machen. Wichtige Merkmale sind, dass er in fremder Autorität die Botschaft und Meinung seiner Auftraggeber übermittelt, im Unterschied zum Gesandten keinen eigenen Verhandlungsspielraum hat, seine Botschaft immer öffentlich ist und mit dem Ausrufen in Kraft tritt.114 Diese werden von Iwand bis ins Einzelne auf das Verkündi108 Ebd., 32–72. 109 In diese Kategorie gehören solch banal klingende Anweisungen, wie die, dass Wiederholungen den Inhalt wirkungslos machten (100), durch Einleitungen Zeit vergeudet werde (101), man den Faden des Textes nicht abreißen lassen (107) und Eitelkeiten vermeiden solle (ebd.), usw.; ebd. 110 Ebd., 105f. 111 Vgl. Bobert-Stützel, Sabine, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, 223f. 112 Vgl. ebd., 207. 113 Vgl. Homiletik, 64/493: „[…] der Prediger ist ja nicht ein Textausleger, ein Hermeneut, sondern der Prediger ist ein Bote, ein keryx.“ 114 Vgl. Coenen, Lothar, Artikel: κηρυσσω, 1755f.
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gungsgeschehen übertragen, bei dem der Prediger ganz unter der Autorität des Auftraggebers steht und den Inhalt nicht eigenmächtig zu vermitteln hat. Wie bei der Proklamation einer Thronbesteigung kommt alles darauf an, ein eingetretenes Ereignis auszurufen (vgl. 10/435), das als solches selbstexplikativ ist. Drei Aspekte sind besonders hervorzuheben: – Zum einen kommt der reduktive Sinn des Kerygmas als Botenrede darin zum Tragen, dass die Verkündigung im Blick auf ihre Rezipienten bewusst offen zu gestalten ist. Keinesfalls darf es dazu kommen, dass der Prediger sich zwischen Gott und Gemeinde stellt und „den Pfeil des Wortes Gottes“ (72/498) selber ins Ziel zu lenken sucht. Das Wort kann nur so vernommen werden, dass es seinen Hörern samt dem Prediger selber unverfügbar zum Widerfahrnis wird.115 Iwand beschreibt das Verhältnis von Prediger und Hörern in dem Bild: „Wir gehen, wenn wir predigen, an lauter Türen vorbei, die einen tuen sich auf[,] die anderen bleiben verschlossen, aber das Auftun und Verschliessen liegt nicht in unserer Hand. Wir können anrennen mit aller Kraft, die verschlossenen Türen gehen nicht auf; wenn sie aufgehen, gehen sie von innen auf, von innen wird der Riegel aufgestossen […]. Wenn man sich das klar macht, verliert man das Aufdrängerische, dann bringt man den Friedensgruss von Tür zu Tür und wartet, bis Gott selbst den Riegel zurückschiebt. Man wird geduldig, man erzürnt nicht, man verzweifelt nicht, man fängt wirklich an zu arbeiten“ (45f/477f).
Der Gestaltungsrahmen des Predigers im Bezug darauf, wie sich das Wort im Lebensvollzug der Gemeinde und des Einzelnen auswirkt, wird im Vertrauen auf dessen Selbstwirksamkeit sehr eng gefasst. Der Botschaftscharakter bedeutet, dass dem Mitteilungsbedürfnis des Predigers gegenüber der Gemeinde eine nicht zu überschreitende Grenze gezogen ist: „In dem Augenblick, wo Sie beginnen, als Prediger über die Seelen herrschen zu wollen, laufen Sie in Gottes Schwert“ (8/432).
Die Frage nach der Offenheit des Kerygmas konkretisiert Iwand am Zusammenhang von Selbst- und Sündenerkenntnis. Am Deutlichsten äußert er sich dazu in der parallel zur Homiletik gehaltenen Vorlesung über „Gesetz und Evangelium“116 sowie einem drei Jahre zuvor veröffentlichten Aufsatz über „Die Predigt des Gesetzes“,117 die an dieser Stelle ergänzend herangezogen werden. Eine Grenzüberschreitung des Predigers im Blick auf die Gemeinde stellt für Iwand jenes psychologische Schema dar, das zunächst den Ernst der Sünde anhand von individuellen Verfehlungen oder dem Lauf der Welt nachzuweisen sucht, um sodann die Vergebung darauf zu beziehen.118 115 Vgl. Homiletik, 72/498: „Wenn ich das Wort Gottes wahrhaft fi nde, dann trif[f]t das Wort, dann fi nde ich im Wort schon den vom Worte getroffenen Menschen.“ 116 NW IV, 12–230. 117 GA II, 145–170. 118 Vgl. NW IV, 23: „Es geht nicht so, daß Sie ihre Hörer darauf aufmerksam machen, wie oft sie schon gesündigt haben“; ebd., 43: „Das Gesetz offenbart nicht, daß Sünde da ist, Jesus redet nicht, wie furchtbar es in der Welt zugeht“.
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Iwand karikiert von daher den Predigertyp des gescheiterten Idealisten, der „auf die Kanzel tritt und aus seinem Scheitern dann die christliche Selbsterkenntnis macht.“119 Dagegen stellt er die völlig unaufdringliche Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt, wo dieser für die Selbsterkenntnis „den Raum frei [lässt], daß jeder seinen Namen unterschreiben kann“:120 „Hier heißt es nicht: Du bist ein Mörder, du ein Ehebrecher, du ein Schalksknecht [vgl. Mt 18,32], du ein Geizhals. Jesus macht gerade von der so gepriesenen Rede ad hominem keinen Gebrauch, sondern in einer feierlichen Stille und Einsamkeit lädt er jeden ein, bei sich einzukehren, vereinzelt er die Menge und hält jedem den Spiegel seines Herzens vor. Er spricht wie in die Luft hinein: Wer – der, wer seinen Bruder hasst, der ist … [vgl. Mt 5,22], wer ein Weib ansieht, der hat schon … [Mt 5,28], wenn du Almosen gibst … [Mt 6,2], wenn du betest … [Mt 6, 6]. Er redet, als ob er niemanden meinte, und trifft doch alle.“121
– Zum anderen geht es bei der Charakterisierung der Predigt als Kerygma nicht – wie bei philosophischen Sentenzen – um die Weitergabe satzhafter ewiger Wahrheiten, sondern um die Ansage eines dynamischen Geschehens, das im „Lauf dieser Welt“ (10/434) geschichtlich verankert ist. Iwand greift damit einer von der existentialistisch orientierten Theologie immer wieder geltend gemachten Grenzziehung voraus.122 Er entwickelt diese Überlegung aber noch weiter, indem er der Verkündigung eine unübersteigbare Affinität zur Form des Narrativen zuweist: „Wenn wir die Form vom Inhalt her verstehen wollen, müssen wir sagen, keine Verkündigung ist echt, die nicht die Weise der Erzählung annehmen kann, die nicht Bericht ist. […] Weihnachten müssen Sie die Weihnachtsgeschichte erzählen, das ist die Grenze für alle theologischen Extravaganzen. Ebenso Ostern und Pfingsten, was da geschehen ist, darauf kommt es an“ (11/436).
Die Erzählstruktur biblischer Überlieferung hat für ihn nicht nur eine pädagogisch-didaktische Funktion i.S. der Unterscheidung: „Verkündigung erzählt, Theologie argumentiert“,123 sondern ist vielmehr von fundamentaler Relevanz für das Verständnis des Wortes Gottes in seiner Niedrigkeitsgestalt und den sich ihm unterwerfenden Glauben. Besteht für Iwand die Grundstruktur menschlichen Beschlossen-Seins unter der Sünde darin, sich als wertende Subjektivität gegen alle von außen an sie herantretenden Ansprüche zu verschließen, so äußert sich dieses Bewusstsein sprachlich in einer „fundamentale[n] Diskriminierung der 119 NW IV, 23. Vgl. ebd.: „Darin besteht nicht die Enttäuschung, dass da einige im Graben liegen, die der marschierenden Truppe zurufen: Wir haben versagt, ihr werdet auch versagen. Wir haben die Ideale aufgegeben. Seien sie sicher, wenn noch so viele im Graben liegen, es wird immer Neue geben, die von Neuem durch die Ideale in die Schlacht getrieben werden. Niemals werden Gescheiterte andere zurückhalten, denn die Gescheiterten haben kein Recht, uns um unseren Glauben an das Gesetz zu bringen.“ 120 NW IV, 28. 121 GA II, 163. 122 Vgl. Bultmann, Rudolf, Allgemeine Wahrheiten, 166–177; Ott, Heinrich, Verkündigung, 24–31. 123 Metz, Johann Baptist, Kleine Apologie, 337.
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Narrativität zugunsten der Diskursivität“.124 Dabei ist es der dem cartesianischen cogito eignende Zwang zur Selbstbegründung des Denkens, der es zur Rückzugsbewegung aus der „Nichtidentität geschichtlichen Lebens […] auf einen geheimen, unverfügbar-unsagbaren Identitätspunkt […] des Subjektes“ nötigt.125 Demgegenüber gestaltet sich das Verhältnis von Wort und Glaube dermaßen, dass die fides ex auditu auf den narrativen Austausch und die sich durch ihn vollziehende je jetzige Neuerschließung des Wortes angewiesen bleibt, ohne dass sich dieses Verhältnis jemals rational auflösen lässt.126 Die Verstrickung des Wortes in biblische Geschichten desavouiert den Versuch, das Bewusstsein aus der abstrakten Einheit des „Ich denke“ zu rekonstruieren und zeigt, „daß unser Bewußtsein vielmehr ein ‚in Geschichten verstricktes‘ Bewußtsein ist, das auf eine narrative Identifizierung verwiesen bleibt“.127 – Schließlich arbeitet Iwand an der Eigenart des Kerygmas die Vergangenheit und Gegenwart umfassende Wirksamkeit des Wortes heraus. Kerygma ist „in erster Linie weder Belehrung, noch Überredung oder Befehl, sondern vielmehr Anrede und Aufforderung mit performativem (wirklichkeitsveränderndem) Charakter.“128 Predigt hat in diesem Sinne das „Heute Gottes“ als Anbruch der Heilszeit zu proklamieren. Vor dem Hintergrund der starken Betonung der Heilspräsenz im Wortverständnis Iwands zeigt der Begriff eine Verschiebung der Nuancen gegenüber der Charakterisierung der Predigt als Homilie. Setzt letztere als versweise Rezitation mit anschließender Auslegung129 die Abgeschlossenheit eines Schriftkanons voraus und konnte darum im eigentlichen Sinne erst in der Alten Kirche praktiziert werden,130 so liegen beim Kerygma Botschaft und zu proklamierendes Ereignis derart eng ineinander, dass sich eine wechselseitige Isolierung verbietet: „Ein Gewitter geschieht und ist auch ein Ereignis, aber es geschieht auch[,] wenn nichts davon proklamiert wird. Eine Thronbesteigung, die nicht proklamiert wird, ist ein Theater. […] Zur Machtergreifung gehört der Botendienst, streichen wir das, dann streichen wir damit faktisch die Versöhnung Gottes“ (10f/435f).
Iwand bestimmt die Predigt unmittelbar als denjenigen Ort, an dem „die Herrschaft Jesu Christi in der Welt“ sich durchsetzt.131 Verkündigung bedeutet „Zusammentreten dessen, was dort geschieht und dessen, was heute geschieht. Die Aufhebung der Zeiten, die Gleichzeitigkeit mit dem was dort geschieht, […] ist die Aufgabe der Predigt“ (85/505). 124 125 126 127 128 129 130 131
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Weinrich, Harald, Narrative Theologie, 333. Metz, Johann Baptist, Kleine Apologie, 338. Ebd., 335. Ebd., 341. Biesinger, Albert, Artikel: Kerygma, 934. Vgl. das Stufenschema der klassischen Homilie bei Zerfaß, Rolf, Textpredigt, 165. Vgl. Steiger, Thomas, Artikel: Homilie, 1512. Vgl. Homiletik, 4/426:„Dein Reich komme, das heisst, es werde gepredigt.“
In seiner Betonung der Gleichzeitigkeit des Kerygmas setzt Iwand sich von dem durch den Historismus bedingten Geschichtsverständnis, das auch in die Theologie Einzug erhalten hat,132 ab. Letzteres bleibt dem durch die Korrelation von Wort und Glaube gesetzten Verhältnis immer äußerlich, weil es sich seinerseits der Autonom-Setzung des Subjektes und der daraus resultierenden Kondensierung seiner Welt in der Dualität von notwendigen Vernunft- und tatsächlichen Geschichtswahrheiten verdankt. Die Möglichkeit, dass eine geschehene Geschichte über ihren begrenzten historischen Horizont hinaus wirksam wird, ist unter diesen Voraussetzungen apriori ausgeschlossen. Darum sieht Iwand es als einen fundamentalen Fehler an, die historische Wahrheit als das Medium anzusehen, in dem sich die Wahrheit des Kerygmas ursprünglich ausdrückt und identifiziert.133 Wie sich die Gleichzeitigkeit in der narrativen Auslegung des Textes realisiert, wird in seinen Erörterungen zu „besondere[n] Fragen der Textauslegung“ (78–108/502–507 […]) deutlich. Angesichts der christologischen Identitätsproportionen zwischen dem Erniedrigten und dem Erhöhten leitet er zur allegorischen Auslegung der Wunder Jesu an, welche die Strukturen biblischer Erzählungen durch meditierendes „Begehen der Topographie des Textes“134 dramaturgisch vergegenwärtigt: „Das Schiff ist die Kirche, das Meer ist die Welt[,] der Sturm ist die Anfechtung, der sinkende Jünger ist der vom Glauben abfallende Mensch, der Blinde ist der Ungläubige […]! Weil […] der Erhöhte Herr und dieser irdische Jesus eins sind, […] können wir unsere Lebensgeschichte fassen in dieses Bild und so werden wir […] begreifen, was das Ziel einer wirklichen Wunderpredigt ist“ (84/505).
Hier kündigt sich eine Form der Textauslegung an, die im Unterschied zur historisch-kritischen Distanznahme von Anfang an mit einer Verschmelzung der Auslegungshorizonte rechnet und die Gegenwart unbefangen im Medium biblischer Erzählungen auslegt. Reißt die historische Isolierung des Textes einen der Realpräsenz des Wortes unangemessenen und durch den Prediger nicht mehr zu überwindenden Graben auf, so besteht die „Kunst der Predigt“ darin, Geschichten so wiederzugeben, dass „unsere Situation mit der Situation zusammen[fällt], die im Wunder erzählt wird“ (84/505). Dabei misst Iwand dem Sachverhalt höchstes Gewicht bei, dass die Wunder nicht mit der neuzeitlichen Frage nach deren empirischer Möglichkeit belastet und von daher rationalistisch oder supranaturalistisch aufgelöst werden. Alles kommt vielmehr darauf an, einen Blick für die „Einzelheiten des Textes“ 132 Vgl. dazu das von dem Philologen Weinrich noch 1973 gefällte Urteil: „[…] heute herrscht in der Theologie die einhellige und kritisch kaum hinterfragte Meinung, daß die biblischen Erzählungen, wenn schon notgedrungen überhaupt von ihnen die Rede sein muß, allenfalls dann als Erzählungen bestehen bleiben dürfen, wenn sie mit den anerkannten Methoden der Geschichtswissenschaft als wahre Geschichten ausgewiesen werden können“, ders., Narrative Theologie, 332. 133 Vgl. Homiletik, 1/419: „Der Versuch, hinter den gepredigten Christus auf den historischen Christus zurückzugehen ist schon der Sturz in einen Abgrund. Der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus […]. Das Kerygma und Jesus Chr. selbst waren von Anfang an nicht zu unterscheiden.“ Vgl. Metz, Johann Baptist, Kleine Apologie, 339. 134 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 181.
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(79/503) zu erlangen und das Geschilderte „in minutiöser Genauigkeit […] dar[zu]stellen und aus[zu]legen“ (ebd.). Auf diese Weise soll der Hörer dazu gebracht werden, „dass er still steht, dass er nicht gleich beim Ende des Wunders anlangt[,] sondern dass er mitgeht Zug um Zug“ (79f/503). Bei einer derartigen Exegese stellt sich die Erfahrung ein, „dass das Wunder in sich ein Ereignis schildert, welches nicht von vornherein erwartet werden kann, welches unerwartet, paradox, uns selbst überraschend und ergreifend aus dieser Geschichte herausspringt“ (81/503f). Niemals dürfe die Predigt an den Punkt kommen, wo der Prediger das Fazit formuliert: „Diese Predigt will uns sagen, dass […]“ (ebd.), weil in diesem Augenblick das eigentliche Wunder zerstört und der „Geist […] aus dem Ereignis gelöst“ (80/503) werde. ... Predigt als Paraklese Unter dem Stichwort Paraklese greift Iwand einen Terminus auf, der „zu den wichtigsten Begriffen des Sagens und Beeinflussens im NT“ gehört.135 Der Begriff weist eine hohe Modulationsfähigkeit auf und kann sowohl Mahnen, als auch Bitten und Trösten meinen.136 Im Unterschied zum stärker auf den Erstkontakt abhebenden Kerygma als Hören dessen, „was in keines Menschen Herz gekommen ist“ (17/445), zielt er auf Kontinuität und Konservierung einer gewonnenen Haltung oder grundsätzlichen Auffassung.137 Wir hatten bereits gesehen, dass Iwand vor einer Verselbständigung dieses Momentes zum „christlichen Dogmatismus“ (23f/454) warnt und ihm wohl aus diesem Grund gegenüber dem Kerygma eine untergeordnete Bedeutung beimisst (vgl. ebd.). Dennoch bestimmt er es als Aufgabe der Predigt, die Gemeinde „in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit der Offenbarung“ (23/453) zu erziehen. Am Nachdrücklichsten ist diese Aufgabe von dem Sachverhalt her gestellt, dass der Glaube nicht Moment eines passiven Widerfahrnisses bleibt, sondern zur Konfession drängt, in der er sich einer Gesamtanschauung von der Offenbarung Gottes in Christus unterwirft. Die Rückführung der Predigt auf eine „exklusive Anschauung Gottes im Gekreuzigten“,138 wie sie die Paraklese vollzieht, ist zugleich der Grund und die Grenze für die narrative Erschließung biblischer Geschichten. Haben letztere in der Geschichte Jesu Christi ihre „erzählerische Einheitlichkeit“,139 so lässt sich die Grenze narrativer Texterschließung mit Jüngel auf die Formel bringen: „Gottes Sein als Geschichte läßt sich zwar durch Geschichten andeuten, aber doch nicht einholen. […] Es ist die Defi nität der göttlichen Offenbarung und es ist die Einzigartigkeit des sich offenbarenden Gottes, die Gottes Geschichte nicht in Geschichten aufgehen läßt. Gott hat nicht Geschichten, er ist Geschichte.“140
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Thomas, Johannes, Artikel: παρακαλεω, 55. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 57. 60. Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis, 428. Ebd. Ebd., 428f.
Den Sinn für die Gottesgeschichte als Einheit der Offenbarung zu schärfen, ist die Funktion des Dogmas (vgl. 25/456). In ihm geschieht nach Iwand die „Fixierung der Erkenntnis der Kirche“ (24/454) und die Predigt hat in dem Sinne dogmatisch zu sein, dass sie auf das Dogma bezogen ist und im Sinne des Dogmas erzieht (vgl. ebd.). Dazu ist es notwendig, von der narrativen Erschließung einer biblischen Geschichte immer wieder identifizierend „durchzustoßen […] auf die Wirklichkeit“ (92) des Gekreuzigten und Auferstandenen und die Hörer in vergleichsweise spröder, assertorischer Diktion für letztere in die Pflicht zu nehmen. Die dementsprechende Sprachgestalt ist das Bekenntnis, zu dem zu erziehen die konkrete Aufgabe dogmatischer Predigt ist. Vor allem ist Iwand daran gelegen, dass der Zusammenhang zwischen formuliertem Bekenntnis und durch die Predigt vermittelter aktueller Glaubenserkenntnis einsichtig und die Gemeinde zu einem mündigen „Mitsprechen des Apostolicums“ (25/456) befähigt wird. Gerade die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen machen es notwendig, dass die Gemeinden im Bezug auf das, was in Barmen bekannt worden ist, urteilsfähig werden (vgl. ebd.). Auf eine eigentümliche Nuance, die der Begriff des Dogmas bei Iwand hat, ist allerdings gesondert hinzuweisen. Sie besteht darin, dass seine lebendige Beziehung auf die Schrift niemals aus dem Blick geraten darf. Die Definität des Dogmas darf nicht um den Preis erkauft werden, dass die theologische Reflexion aus dem lebendigen Zusammenhang von Schrift und Verkündigung heraustritt und letzteren allererst zu begründen sucht. Dies hatte Iwand Barth gegenüber kritisiert und dabei die „ständige Bezogenheit dogmatischer Arbeit auf die Heilige Schrift“ das „ursprüngliche Verhältnis zwischen Verkündigung und Dogmatik“ genannt.141 Daraus ergibt sich die weitreichende Konsequenz, dass Dogmatik niemals im strengen Sinne zu einer diskursiven Theorie werden kann. Jenseits ihrer Bezogenheit auf die Schrift bewegt sich die kritische Reflexion immer schon im Raum sündhafter Selbstverschlossenheit.142 In diesem Sinne räumt er dem 141 GA I, 93. Diese von Iwand gegenüber Barth gezogene Grenze theologischer Diskursivität wird auch von Jüngel überschritten, wenn er dem naiven Zugang zur Schrift „die unverzichtbare Reflexion dogmatischen Denkens, das ‚das Erzählen vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren‘ hat“ vorordnet und fortfährt: „Damit argumentierende Theologie zur narrativen Theologie werden kann, muss sie sich zuvor gerade als eine das Erzählen und das zu Erzählende reflektierende und das heißt dialektisch-diskursive Theologie vollzogen haben“, Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis, 427. – Eine derartige Entgegensetzung von Narrativität und Diskursivität, welche die Wahrheitsfähigkeit des Glaubens in der theologischen Reflexion zu fundieren und die Erzählstruktur des Kerygmas erst sekundär – i.S. einer „,zweiten Naivität‘“ (ebd.) – darauf zu beziehen sucht, läuft nach Iwand Gefahr, wiederum von einem Formalprinzip her zu bestimmen, „wie sich Verkündigung vollzieht“, GA I, 94. 142 Vgl. dazu den Titel von Iwands Besprechung der barthschen Prolegomena der Dogmatik: „Jenseits von Gesetz und Evangelium“, GA I, 87. Sein hier dargelegtes Verständnis des Dogmas eröffnet eine interessante Perspektive auf den Sachverhalt, dass Iwand Zeit seines Lebens nicht dazu übergegangen ist, seine Theologie in Gestalt eines geschlossenen dogmatischen Entwurfes zu entfalten. Wirkmächtig sind seine dogmatischen Aussagen vielmehr in Gestalt von Meditationen zu einzelnen biblischen Predigttexten geworden. Bereits in der parallel zur Homiletik gehaltenen Vorlesung über „Gesetz und Evangelium“, die am ehesten so etwas wie eine Dogmatik in nuce darstellt, steigt Iwand mit der vielsagenden Bemerkung ein: „Das Wissen um Gesetz und Evangelium gehört zur rechten Predigt. Evangelium und Gesetz recht unterscheiden, heißt ein Prediger werden. Man kann das Verhältnis nur predigen“, NW IV13.
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Dogma gegenüber der Schrift lediglich eine dienende Funktion ein. Die Vielgestaltigkeit des Schriftzeugnisses und dessen Einheit im Dogma sind in einer lebendigen Dynamik aufeinander zu beziehen. Deshalb ist das Dogma immer nur Richtpunkt und Verstehenshilfe. Iwand verwehrt sich gegen eine Reflexivität, die unter Berufung auf ihr kritisches Wesen die Lebendigkeit dieses Prozesses resultativ auflöst um den Preis einer diskursiven Erstarrung. In diesem Sinne ermutigt er seine Hörer zu einer permanenten Offenheit dafür, wie sich ihnen die Einheit des Schriftzeugnisses in der Vielheit erschließt: „Was bedeutet die verschieden[e] Überlieferung? Das müssen Sie sehen, nicht die Augen davor zumachen. Fragen Sie, was das bedeutet. Das bedeutet Fülle, Reichtum, Verwaschenheit, Willkür, aber bedeutet Leben und nicht Starrheit. Lebendige Menschen sind Zeugen gewesen. Und das gerade ist das grosse Wunder, wenn Sie diese verschiedenen Zeugnisse nebeneinander stellen, sie werden sehen, es ist ein Kerygma. Denken Sie an die verschiedenen Berichte vom Abendmahl, von den Seligpreisungen, vom Vaterunser. Wenn wir das sehen, die Verschiedenheit und die Einheit, dann wissen wir genau, was wir zu predigen haben, nämlich die Einheit. Die Verschiedenheit haben wir auch, weil es jedem in einer bestimmten Weise gegeben ist und aufgeht, weil wir auch nicht ein Apparat sind, sondern Menschen sind, Boten Gottes. Es kommt darauf an die Offenbarung in ihrer Vielgestalt ernst zu nehmen“ (24/454).
Als Beispiel für diese Funktion des Dogmas führt Iwand etwa das von der Jungfrauengeburt an, das die Aufmerksamkeit der Hörer der Weihnachtsgeschichte darauf lenken soll, „dass Christus der Anfänger einer neuen Menschheit ist“ (ebd.) und der Schöpfergeist dabei auf den Plan tritt. .. Die Welt als konstitutiver Bezugspunkt der Predigt Der Schriftbezug ist für Iwand Legitimationsgrund der Predigtaufgabe, aber keineswegs hinreichendes Kriterium für deren Bestimmung. Vielmehr ist ein bestimmtes Verhältnis zur Welt im Verkündigungsgeschehen immer schon mit gesetzt, und wirkt sich seinerseits Form bestimmend aus. Dieses gilt es in dem nun folgenden Abschnitt zu analysieren. Eine Besinnung auf das Wesen des Wortes Gottes für sich ist – so hatten wir gesehen – von den Voraussetzungen Iwands her nicht möglich.143 Folglich ist der Bezug der Predigt auf die Hörer konstitutiv. Dieser Bezug stellt aber zugleich ein massives Gegengewicht zur Schrift dar, handelt es sich doch um die in eine widergöttliche Welt verstrickten Hörer. Sie sind von sich aus nicht bereit, sich dem Anspruch der Botschaft zu öffnen und bringen keinerlei (geschöpfliche) Disposition mit, an die das Wort anknüpfen könnte (vgl. 44/476). Iwand bewegt sich hier ganz auf der Linie Barths, der gegenüber Emil Brunner die Frage nach einer positiven In-Beziehung-Setzung des Verhältnisses von Natur und Gnade mit einem schroffen „Nein!“ zurückgewiesen hatte.144 143 Vgl. Abschnitt 3.3.1.2. 144 Vgl. Brunner, Emil, Natur; Barth, Karl, Nein!
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Paradigmatisch für das Verhältnis von Wort und Welt ist die Polarität von Joh 1,11: „er kam in sein Eigentum, aber sein Eigentum nahm ihn nicht auf “ (43/475). An der Missachtung dieses Grundverhältnisses krankt nach Iwand die gesamte hermeneutische Fragestellung.145 Die natürliche Haltung des Menschen zum Evangelium ist immer die des Nicht-Verstehens. Sie müssen zum Hören allererst befreit werden,146 wobei Hören und Verstehen im gleichen Maße Werk der göttlichen Gnade sind: „Versteht Dich einer in Deiner Predigt, dann musst Du Gott danken, dass Er diesen Menschen durch seine Gnade gerettet hat“ (45/477).
Das durch das Wort konstituierte Verhältnis wird auf Seiten der Hörer niemals als ein konstantes Verhältnis anschaulich, woraus folgt, dass die Predigt niemals Lebensfunktion der empirischen Gemeinde ist (vgl. 39/472), und der hörende Mensch immer als „homo mutabilis“ (72/499) im Übergang von der fleischlichen Existenz zum neuen Sein in Christo angesehen werden muss. ... Die Welt als homiletischer Kampfplatz Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Bestimmung für die Gestaltung der Predigt? Iwand entfaltet die Verkündigung als ein Macht- und Kampfgeschehen, in dem das Wort und die sich dagegen verschließende Welt aufs Härteste aufeinander treffen. Hatte Iwand das Evangelium in einer räumlichen Dimension beschrieben, so ist auch die ihm entgegen gesetzte Welt kein Vakuum, sondern trägt als „Festungswerk“ (57/487) des Widersachers ihrerseits räumliche Züge. „Welt“ ist für Iwand zudem Chiffre für die auf sich selbst geworfene menschliche Wirklichkeit. Erst wenn die von daher drohende Tendenz zur Deformation des Wortes in den Blick kommt, wird vollends verständlich, warum das Wort in der Predigt „Sonntag für Sonntag“ (15/443) neu ausgerichtet werden muss. Konnte bei der Bestimmung der Predigt als Kerygma noch die Frage entstehen, warum es nicht genügt die Erkenntnis von der Verwirklichung des göttlichen Heilsplans in Christus einmalig kundzutun (vgl. 1/419f), so lässt die Verfassung der Welt und des Menschen keinen Zweifel daran, dass ein immer neues Hören des Wortes notwendig ist.147 Es ist für Iwand die reflexive Selbstbezogenheit, die dazu neigt, an der Banalität der Vermittlung des 145 Vgl. dazu die Sätze, die der soeben zitierten Paraphrase von Joh 1,11 vorausgehen: „wenn Jesus Christus in die Welt kommt, dann heisst es nicht, er kam mit einer bestimmten Botschaft in eine bestimmte Welt und versucht nun, sich auf bestimmte Art und Weise den Menschen verständlich zu machen“; Homiletik, 42f/475. 146 Vgl. Homiletik, 30/462: „Predigen heisst, die Menschen herausholen aus ihren Dunkelheiten. Nur so kann ich das Evangelium verkündigen, dass die Wahrheit die Menschen freimacht.“ 147 Eine eindrückliche bildliche Veranschaulichung dieser Situation bietet Iwand das Sämannsgleichnis (vgl. Mt13,1–9). Gegenüber dem, was die Verkündigung schafft , gilt: „Die Welt schüttet alles wieder zu, die Vögel picken es weg, die Dornen erstickens, es gerät auf den Felsen, geht nur wenig auf. Die Welt sendet auch ihre Prediger, um die Prediger des Evangeliums zu verirren. Der Fürst dieser Welt tut alles, diese Botschaft , die ja den Kindern der Welt Freiheit bringt, zu unterdrücken“; Homiletik, 12/439.
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Wortes durch menschliche Rede Anstoß zu nehmen und sich den Blick für seine göttlich-menschliche Realität zu verstellen. Zwei Momente greifen hier ineinander: Zum einen ist es die Neigung des auf sich selbst zentrierten menschlichen Bewusstseins, alles ihm Äußerliche nach seinem „Nutzwert“ (4/425) zu bemessen und nur das dem subjektiven Interesse Förderliche gelten zu lassen. Damit verbindet sich die Erwartung, dass das göttliche Heilswirken die Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet, wie sie sich angesichts der eigenen Unvollkommenheit darstellt. Der Mensch nimmt sich als jemanden wahr, der in den Beziehungen zu seiner Umwelt und zu sich selbst nicht aufgeht, sondern als „Zweifler“, „Skeptiker“ (75/500) und Sinnsucher sein Innenleben hypostasiert (vgl. 76/501) und auf eine vermeintliche Tiefendimension hin ausrichtet. In und durch diese Introspektion eröffnet sich ihm der Zugang zur Gotteswirklichkeit. Mit dieser Bewegung ist für Iwand der dem Menschen „in seiner Rolle [und] in seiner Lebensbeschäftigung“ (75/500) zugewiesene Raum bereits verlassen. Er kommt vor sich „als ein präpariertes Wesen“ (ebd.) und die Verkündigung, die daran anzuknüpfen sucht, muss die Niedrigkeitsgestalt des Wortes in eine allgemeine „philosophische Wahrheit“ (1/[…]) oder „das Urbild des frommen Selbstbewussteins“ (13/440) auflösen.148 Anstatt den Menschen in dieser Weise „in ein Kloster zu stecken“ (76/501) kommt für Iwand alles darauf an, dass die Verkündigung ihn bei seinem konkreten Lebenswerk behaftet, „dass das Wort Gottes ihn in dieser seiner Lage aufsucht, nicht am Sonntag[,] nicht in Abstraktionen[,] nicht in dem Bild[,] das er von sich hat[,] sondern in seiner Tätigkeit […] wie er umgeht[,] wie er lebt und arbeitet in der Welt“ (75/500). Iwand hat hier das biblische Motiv vor Augen, wonach der Mensch von seinem alltäglichen Wirken weg zum Dienst am Reich Gottes gerufen wird (vgl. Mk 1,16f; 2,14; Mt 24,40f). Unter dieser Bestimmung gewinnt das Predigtgeschehen eine enorme Dynamik. Sie konfrontiert den Menschen in seiner wirklichen Welt mit dem ihn behaftenden Wort, das ihm ohne vorlaufende Präparation gewissermaßen vor die Füße fällt und ihn staunend in die Gottesgegenwart stellt. Diese unvermittelte Nähe ist zugleich Quelle der Anfechtung, zielt doch sein eigenes Verlangen auf Identität in einem überzeitlichen Raum.149 Der eigentümliche Charakter, den die Predigtarbeit unter dieser Voraussetzung für Iwand gewinnt, erhellt wiederum besonders im Vergleich mit Theologen seines näheren Umfeldes. Teilt er mit Barth dessen radikale Ablehnung einer bei der Geschöpflichkeit des Menschen anknüpfenden Theologie, so zieht er daraus im Blick auf die homiletische Praxis doch andere Konsequenzen. Barth hatte aufgrund der Selbstgenügsamkeit des göttlichen Wortes für die Predigtarbeit eine „anspruchslose Gelassenheit“ gefordert.150 Mit seelsorgerlichem Unterton formuliert er etwa im Blick auf die „Situation des (jungen) Predigers“: 148 Vgl. ebd.: „Man kann weltlich und geistlich die Predigt überflüssig machen.“ 149 Vgl. die Dialektik von Dtn 30,11–15. 150 Hermelink, Jan, Predigt und Predigtlehre, 450.
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„Gerade der arme Schlucker, der am Samstag beim Memorieren seiner ihm inhaltlos und langweilig dünkenden Predigt vor einem Nichts zu stehen meint, gerade er muß getröstet werden. Es ist gar kein Grund zur Aufregung, Mutlosigkeit und Verzweiflung. Denn das eine sei ihm zum Trost gesagt: Es ist ja alles vorgegeben, was gesagt werden soll. Darüber muß man sich ganz klar werden. […] Es gilt nur das eine zu tun: die Augen öffnen und den Schatz schauen, der vor uns ausgebreitet ist, dann aber sammeln und schöpfen von dem unermesslichen Reichtum und weitergeben an die Gemeinde.“151
Zwar hält auch Iwand die Vorgegebenheit der göttlichen Heilswirklichkeit fest. Die spannungsvolle Dynamik zwischen Wort und Welt nötigt ihn allerdings dazu, das von Barth indizierte Moment des „Augenaufschlages“ in Beziehung zu setzen zur sonstigen Bewusstseinsaktivität des Menschen. Entscheidend ist, dass der Mensch in seinem Verhältnis zum Wort Gottes nicht einfach ein „white paper“ ist, dem sich der göttliche Logos einschreibt. In dieser Hinsicht kann das Absehen Barths von jedem menschlichen Vorverständnis gegenüber der Offenbarung in die Irre führen, darf doch „das dem Wort Gottes vorgelagerte Verständnis, das der Mensch mitbringt und das dem Hören des Wortes im Wege steht“,152 homiletisch nicht unberücksichtigt bleiben. Iwand kennt durchaus einen negativen Anknüpfungspunkt des Wortes: „Das Bild, das sich der Mensch von Gott macht, ist nicht nichts, sondern es ist seine Religion, von der aus er das ihm im göttlichen Incognito begegnende Wort Gottes beurteilt und verurteilt.“153
Die Annahme dieses Vorverständnisses bestimmt auch seine kritische Haltung gegenüber dem Ansatz Adolf Schlatters zu einer beobachtenden oder empirischen Bibeltheologie.154 Gemahnt Schlatter seine Leser zur Pflicht, „daß wir den Sehakt, der nichts als die Wahrnehmung des Gegebenen begehrt, mit Treue pflegen“,155 so stellt dies für Iwand eine Reduktion dar. Die bei Schlatter vorausgesetzte Wahrnehmungsoffenheit verkennt die Stellung des Menschen zur Schrift und darum fordert er ihm gegenüber: „Nicht allein nachdenken und nachsprechen, was Gott gesagt hat. Hier fehlt noch das Suchen. Es gehört zu den Dingen, die Schlatter sich zu einfach macht, wenn er meint, es genüge, das Hinsehen und Hinhören. Nicht, einfach Text auslegen. Das ist gerade die Frage, was hier einfach heisst“ (19/448). 151 Barth, Karl, Homiletik, 74. Prominentestes Beispiel für die souveräne Weltüberlegenheit, mit der Barth der Bedrängnis durch aktuelle gesellschafts- und kirchenpolitische Entwicklungen begegnet, ist sein Umriss der „Theologischen Existenz heute“ von 1933, der die gleichnamige Zeitschrift begründete. Der an ihn herangetragenen Erwartung einer Stellungnahme „zu den uns alle nun seit Monaten beschäftigenden kirchlichen Sorgen und Problemen“ begegnet er mit dem doppelsinnigen Anliegen „nach wie vor und als wäre nichts geschehen – vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen – Theologie und nur Theologie zu treiben. Etwa wie der Horengesang der Benediktiner im nahen Maria Laach auch im Dritten Reich zweifellos ohne Unterbruch und Ablenkung ordnungsgemäß weitergegangen ist. Ich halte dafür, das sei auch eine Stellungnahme, jedenfalls eine kirchenpolitische und indirekt sogar eine politische Stellungnahme!“ ; ders., Th Eh 1, 3. 152 GA I, 107. 153 Ebd., 107. 154 Vgl. Neuer, Werner, Adolf Schlatter, 197. 155 Schlatter, Adolf, Die Theologie des N. T., 21.
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Auf Grund der natürlichen Blindheit des Menschen als homo incurvatus ist das, was wir über die an der Wahrnehmung des Textes orientierte, narrative Exegese bei Iwand herausgearbeitet haben,156 in einem entscheidenden Sinne zu präzisieren. Es handelt sich dabei niemals um eine harmonische Einfühlung, wie etwa Schleiermacher sie in seiner Apologie der Religion als angemessenes Verhältnis zur Überlieferung fordert.157 Der negative Weltbezug der Predigt sorgt dafür, dass ihr Verhältnis zu Schrift und Offenbarung niemals ein undialektisches ist, sondern die Suche nach dem Evangelium des Textes sich als ein von ständiger Anfechtung begleiteter Prozess des Suchens und Findens gestaltet. Das Finden des Wortes hat immer den Charakter eines konkreten Widerfahrnisses und eines „Durchbruches vom Nichtverstehen zum Verstehen“ (19/448). Die Predigt gewinnt von daher den Charakter eines prinzipiell unabschließbaren Geschehens, in dem Prediger und Hörer gemeinsam auf dem Weg sind: „Eine Predigt taugt so viel, als der Prediger selbst auf dem Weg ist, in Bewegung ist, Neues zu sehen und zu finden, und das[,] was er gefunden hat, hinter sich lässt. Und zwar nicht nur hinter sich lässt, weil ein Zeitabstand ist zwischen dem 10. und 17. März, sondern weil er in mühseliger Arbeit Falsches entdeckt an dem, was er für richtig hielt, und Neues entdeckt in einem Gebiet, das ihm bisher verschlossen war. Wenn die Predigt nicht getragen wird von einem Werden und Wachsen, nicht allein in der Heiligung[,] sondern in der Erkenntnis, dann taugt die Predigt nichts“ (13/441).
Anstelle eines statischen Schrift verständnisses tritt hier das Verständnis des widerfahrenden Wortes inmitten der Anfechtungen durch die Welt als viva vox evangelii. In einem ein Jahr zuvor gehaltenen Vortrag geht er so weit zu sagen, dass das Wort, wo es das menschliche Nichtverstehen durchbricht, aufhört Schrift zu sein und die Kommunikationssituation seines ursprünglichen Ergehens wiedererstehen lässt.158 ... Predigt als Didache Unter der angezeigten Konstellation des Wort-Welt-Verhältnisses wird das Ringen um die Hörer und die Durchbrechung der auf ihrer Seite vermuteten Widerstände zur Grundsignatur der Verkündigung. Sie ist der äußere Grund für die Raumlosigkeit des Evangeliums in der Welt und die strenge Gegenwartsbezogenheit des Kerygmas. Weil die Welt dem Wort immer schon in ihrem ablehnenden Urteil begegnet, ist der Spielraum der Predigt sehr eng bemessen. In Anlehnung an Luthers Diktum vom Wort Gottes als „Platzregen“ (2/421) kommt Iwand alles darauf an, „die Stimme Gottes im Heute ganz zu erfüllen“ (16/444). Die Predigt erhält von daher einen drängenden Charakter. Sie muss die Menschen mitten aus ihrer Befangenheit im Alltäglichen „an die Todes156 Vgl. Abschnitt 3.3.2.2. 157 Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion, 18–41. 158 Vgl. GA I, 122: „Sie [die Schrift , Anm. d. Verf.] wird wieder, was sie ursprünglich war: Wort, Zeugnis, Botschaft , Heroldsruf, Evangelium. Sie hört auf, toter und tötender Buchstabe zu sein und verwandelt sich in lebenschaffenden Geist.“
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grenze“ und vor den „Ernst der Ewigkeit“ stellen und darf sie zugleich nicht weggehen lassen, „ohne dass sie hier und jetzt eine Antwort kriegen“ (16/444). Rhetorisch wird von daher ihr Gedankenfluss ungemein gerafft und jede Argumentation verkürzt. Das Pathos gegen eine Homiletik, die den Plausibilitätsverlust des Christlichen primär als das Problem misslungener Aneignung auffasst und durch das Alternativprogramm einer „moderne[n] Predigt“ zu überwinden sucht,159 ist in diesem Zusammenhang am ausgeprägtesten. Iwand setzt dagegen schlicht den Hinweis auf die biblische Ursprungssituation, in der die Ablehnung der Christusbotschaft dort am größten ist, wo sie auf die verständigsten Hörer trifft (vgl. Mk 12parr), und zieht daraus das Fazit: „Je wahrer und verständlicher […] gepredigt wird, desto mehr wächst der Widerstand“ (50/481).
Der Predigt kommt die Aufgabe zu, in allgemein verständlicher Diktion ihre Hörer vor den Punkt zu stellen, wo die Entscheidung über ihr Leben fällt. Paradigmatisch sind in dieser Hinsicht wiederum die Gleichnisse als neutestamentliche Verkündigungsform, weil sie in ihrem Aufweis der Geheimnisse der Gottesherrschaft an schlichten alltäglichen Vorgängen keine hermeneutische Distanzierung ermöglichen: „Es wird hier vom Himmelreich so geredet, dass er [der Hörer, Anm. d. Verf.] sich nicht entschuldigen kann und sagen kann, das ist mir zu hoch, das verstehe ich nicht. Wenn er versteht, was mit einem Sauerteig geschieht, […] dann versteht er in Wahrheit, was das für eine Sache ist mit dem Himmelreich“ (87f/505f).
Im Unterschied zur im rationalen Diskurs auf freie geistige Überzeugung zielenden Rede kommt es in dem Ringen des Predigers um die Hörer darauf an, ihnen im Widerspruch zu sich selbst die Heilswirklichkeit Gottes vor Augen zu stellen und die eigene Unheilswirklichkeit aufzudecken. Als Reflex darauf kommt es zu Entscheidungen und Scheidungen, die geradezu das Echtzeichen der Verkündigung des Wortes sind: „Es ist wie ein Pflug, der dann wirklich einschneidet in den Acker und da auf Steine trifft , die in diesem Acker liegen. Wenn ich hineinfahre in dieses Leben mit dem Wort Gottes, decke ich den Widerstand auf “ (50/481).
Die polemische Dimension des Predigtgeschehens als Ringen gegen den Widerstand der Welt wird am deutlichsten unter der Bestimmung der Verkündigung als Didache. Bezeichnet das Verb dieses Wortstammes im neutestamentlichen Sprachgebrauch ganz allgemein „lehren, belehren, unterrichten, dartun“,160 so fasst Iwand es sofort im polemischen Sinne als „Kampf mit der stets von neuem [in die Gemeinde, Anm. d. Verf.] eindringenden Irrlehre“ (26/457) auf: „Im Neuen Testament begnügen sich die Lehrer nicht damit, dass sie herausstellen: das ist die falsche, das ist die rechte Lehre, nun entscheidet euch. Die Lehrer 159 Vgl. Niebergall, Friedrich, Die moderne Predigt. 160 Wegenast, Klaus, Artikel: διδασκω, 1256.
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im Neuen Testament widerstehen ganz real den Gegnern, wie Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern. In diesem Sinn wird auch der Heilige Geist verstanden: er überführt die Welt der Sünde, der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Es ist ein Gerichtsprozess, der sich da vollzieht“ (27/458).
Mit seinem die Rezipienten sogleich involvierenden und überführenden Verständnis von Didache hebt Iwand auf die eschatologische Akzentuierung der vollmächtigen Lehre Jesu in den Evangelien ab, die bei ihren Hörern Entsetzen und Staunen bewirkt und sie wissen lässt, wo sie angesichts des erwarteten Reiches stehen.161 In Anlehnung an die Auseinandersetzungen innerhalb der Urgemeinde und Anspielung auf den Kirchenkampf schreibt Iwand der polemischen Dimension der Predigt eine machtvolle Dynamik zu, die im wirksamen Widerstand die Gemeinde gegen ihre Entheiligung bewahrt. Diese Funktion steht in engem Zusammenhang mit der eschatologischen Dimension der Predigt und wird dem entsprechend im folgenden Abschnitt weiter zu entfalten sein.162 Vordem soll jedoch nochmals erörtert werden, wie das über die letzten beiden Abschnitte (3.3.2/3.3.3) entfaltete Schrift verständnis in Iwands Grundverständnis von der Bestimmung des Menschen durch das Wort Gottes eingebettet ist. ... Der Christusglaube und das durch ihn vermittelte Selbstverhältnis als ständiger Bezugspunkt der Schriftauslegung Anhand der Weise, wie Iwand sein Predigtverständnis entlang der neutestamentlichen Begriffe des Kerygmas, der Paraklese und der Didache entwickelt, ist deutlich geworden, dass für ihn die Methodik der Predigtvorbereitung über der Orientierung an dem selbstwirksamen Gotteswort keineswegs obsolet wird. Gegenüber seinen Vorlesungshörern macht er Präferenzen geltend, für einen narrativen Umgang mit der Schrift,163 für eine Wahrnehmung des Christuszeugnisses in seiner Einheit und Vielgestaltigkeit164 und für eine dynamische Schriftauslegung, die von Widerständen und von der Suche nach dem Wort Gottes im „Heute“ bestimmt ist.165 Allen diesen Aspekten konvergieren methodische Entscheidungen über das Verfahren der Predigtvorbereitung. Bevor wir dem im Bezug auf die Relevanz für Iwands eigene homiletische Praxis weiter nachgehen, soll an dieser Stelle darüber nachgedacht werden, wie die methodischen Anweisungen in sein Grundverständnis von Predigt als Verkündigung des Mensch gewordenen Gotteswortes eingebettet sind. Dabei nehmen wir die Frage auf, welche Rolle der Subjektivität und Eigenaktivität 161 Vgl. ebd., 1258: „‚Verstehen‘ der Lehre Jesu meint […] nicht blosses ‚Zur Kenntnis nehmen‘ oder ‚Begreifen‘ von Sätzen und Argumenten, sondern eher eine durch’s Herz gehende Einsicht, dass jetzt alles auf dem Spiel steht, Heil und Unheil, Gegenwart und Zukunft . Der Hörer weiss, woran er ist.“ 162 Vgl. Abschnitt 3.3.4. 163 Vgl. Abschnitt 3.3.2.2. 164 Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. 165 Vgl. Abschnitt 3.3.3.2.
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des Predigers in der Schriftauslegung zugewiesen wird.166 Was bedeutet es für das homiletische Selbstverständnis des Predigers, wenn Iwand die Trennung zwischen einem dogmatischen Gehalt und einer situativen Gestalt des Wortes Gottes in der Verkündigung ablehnt,167 und ihn stattdessen unmittelbar „in seiner Lebensbeschäftigung“ (75/500) mit dem Wort Gottes konfrontiert sieht? Neben der dargestellten besonderen Weise des Aufmerksamwerdens auf die Schrift folgt aus dieser Bestimmung eine Aufwertung der Subjektivität von Prediger und Hörern. Dass Gott sich in der Wortverkündigung „wehrlos dem Menschen in die Hand“ gibt,168 bedeutet im Unterschied zu einem bloßen „Nachdenken und Nachsprechen“ (19/448) der Schrift eine riskante Öffnung des homiletischen Aktes: Das Wort Gottes wird zugänglich nur in einer je eigenen Betroffenheit von Prediger und Hörern, sowie in der spannungsvollen Beziehung zu situativen Bestimmungsfaktoren, die von ihnen durchlebt und durchlitten werden müssen. Ob die Predigt ihr Ziel erreicht, das erweist sich nicht an einer formalisierbaren Richtigkeit der Exegese, sondern daran, ob Prediger und Hörer sich auf eine individuelle Suchbewegung einlassen und ob „wir unsere Lebensgeschichte“ (84/505) in der Begegnung mit dem Text wieder erkennen. Wenn Iwand Schriftauslegung und Dogma dem lebendigen Zusammenhang von Schrift und aktueller Verkündigung unterordnet,169 so tut er dies im Bewusstsein, dass alle homiletische Arbeit verwiesen ist auf jene „in des Menschen Herz kommen[de]“ Einsicht (18/447) als dem Moment unverfügbar individueller Aneignung des Wortes im Einzelnen. Für das Selbstverhältnis von Prediger und Hörern bedeutet die Identifi kation des Wortes Gottes mit der situativen Gestalt seiner Verkündigung, dass es in eine eigentümliche Spannung zu sich gerät. Die Anstrengung, die im Falle einer Trennung der reflexiven Vermittlung des Wortes mit der aktuellen Verkündigungssituation galt, wird jetzt gewissermaßen in das Selbstverhältnis des Glaubens verlegt. In der Verkündigung und im Hören kommt es entscheidend darauf an, falsche Selbstbilder abzubauen, die sich der Bestimmung durch Christus verschließen. Wenn Iwand die Prediger einerseits in kerygmatischer Erwartung der Selbstwirksamkeit des Wortes zu Geduld und Gelassenheit ermuntert,170 dass „Heute“ des Evangeliums aber andererseits von der DidachePerspektive her als einen Moment bestimmt, den es gegen heftigste Widerstände freizulegen gilt,171 so kommt darin die antinomische Struktur des unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium stehenden Selbstverhältnisses zum Tragen.172 Die Schriftauslegung ist untrennbar verbunden mit einer Selbstbewegung des Glaubenssubjektes, in der es jene Bestimmung ergreift, auf die es in Christus als Erfüllung des Gesetzes immer schon vorgängig bezogen ist. 166 167 168 169 170 171 172
Vgl. dazu Kapitel 1.2. Vgl. Abschnitt 3.3.1.3. GA I, 106. Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. Vgl. Abschnitt 3.3.2.2. Vgl. Abschnitt 3.3.3.2. Vgl. Kapitel 2.3.4.
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Das Finden des Wortes geschieht dabei als Entdeckung im Zusammenhang einer an der Schrift orientierten und von den situativen Fragen bestimmten Suche. .. Predigt als eschatologisches Ereignis zwischen Tod und Auferstehung Eine letzte Dimension des Predigtgeschehens, die in der Vorlesung immer wieder thematisiert wird, ist bereits im Abschnitt 3.3.1.1. angeklungen: Dort hatten wir herausgestellt, dass Iwand für die Predigt einen eschatologischen Wirklichkeitsgewinn reklamiert. Der Predigtauftrag wird als „Befehl des Auferstandenen“ (4/425) eingeführt und die Predigt selber als Durchsetzung „seine[r] Herrschaft im Kosmos“ (5/427) aufgefasst. ... Die Ausrichtung der Predigt auf den neuen Äon und die Gemeinde als Stätte der Wirksamkeit des Geistes Vor diesem Horizont erschließt sich die Polarität zwischen Wort und Welt erst in ihrem ganzen Umfang, hat die Predigt doch „immer endzeitlichen Charakter“ (17/445): es geht um das Ende der Welt in ihrer vorfindlichen Gestalt und um den Anbruch einer neuen Welt. Der Prediger steht „an der Grenze des Existierenden“ (22/452) und partizipiert in der Ausübung seines Amtes an der Schöpfungsmacht Gottes. Nicht die gegebene, sondern die im Wort verheißene Wirklichkeit bildet den Orientierungspunkt, auf den es sich auszurichten gilt: „Was ist, muss zunichte werden, was nicht ist, muss ins Dasein gerufen werden. Darum darf ich nicht sagen: was ich sehe, ist nichts als ein Feld von Totengebeinen [Anspielung auf Ez 37, Anm. d. Verf.], sondern: Herr, Du weisst es wohl, ich glaube[,] hilf meinem Unglauben“ (23/452f).
Von der eschatologischen Neuschöpfung her darf die Koinzidenz des Menschen mit dem Wort Gottes im Glauben nicht lediglich im forensischen Sinne als Urteilskonformität verstanden werden, sondern ist ein effektives Geschehen. Iwands Verständnis von Rechtfertigung ist mit der Frage nach der Totenauferstehung unlösbar verknüpft. Dabei grenzt er sich vehement gegen Versuche ab, die Erneuerung des Menschen in der Restitution des moralischen Subjektes zu sehen. Die im Folgenden darzustellende Grundspannung seiner Anthropologie rührt daher, dass das Neue zwar in der Anschauung des Wirkens Gottes durch Wort und Geist identifizierbar wird, der Mensch in Anschauung seiner selbst aber stets der gottlose Sünder und die guten Werke des Glaubens ihm verborgen bleiben (vgl. Mt 25, 37–39). Gerade in der eschatologischen Dimension der Predigt wird der Hörer radikal auf das extra nos ausgerichtet.173 Auch die Heiligung 173 In der parallel zur Homiletik gehaltenen Vorlesung über „Gesetz und Evangelium“ formuliert Iwand: „Vergebung der Sünden wird uns […] so geschenkt, daß wir nicht sündlos werden, sondern daß
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als „Vorbereitung auf die Wiederkunft des Herrn“174 und die Auseinandersetzung mit den widergöttlichen Mächten kommen als kontinuierliches und präsentisches Wirken des Geistes in den Blick, niemals aber als durch Glaubensindividuen zu verwirklichende Aufgabe. An keiner anderen Stelle tritt dies so deutlich hervor, wie an Iwands Verständnis von Gemeinde: „pneuma heisst praesentia dei, Gott ist in der Mitten, ihr seid der Tempel des Heiligen Geistes, und die Gemeinde ist darum Gottes Eigentum, weil eben Jesus Christus sie erworben hat […]. Gott muss ständig in der Mitte der Gemeinde stehen als der Versöhnende und der Vergebende“.175
Wiederum regiert dabei das Denken in umfassenden Räumen. Die Predigt ist der Ort, wo Wort und Geist im „Kampf und Widerstand gegen ganz reale und konkrete Mächte, die in die Gemeinde einbrechen“ (28/459), auf den Plan treten: „Der Zusammenhang von Wort und Geist, der ja für die Verkündigung von ungeheurer Wichtigkeit ist, wird verstanden darin, dass die Macht des Bösen durch das Wort Gottes gebrochen wird. Der Zusammenhang liegt nicht im Subjektiven, in Erweckungsbewegungen, sondern im Objektiven, in einem Einbruch in das Reich des Satans und in Befreiung derer, die da gebunden sind“ (55/485).
Die Bekehrung des Einzelnen darf nicht, wie im Pietismus, „auf das Individuum, auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst“ begrenzt bleiben, sondern wird von Iwand als „Einbruchsstätte Gottes in einen Kreis der Gottlosigkeit“ im Horizont des umfassenden endzeitlichen „Gegensatz[es] zwischen Gott und Welt“ (57f/487) erörtert. Sie zielt auf den Gemeindeaufbau (vgl. 57f/486f) und die Gemeinde wird von daher zum zentralen Bezugspunkt der Wirksamkeit der Predigt. Dabei sieht Iwand es als entscheidendes Differenzkriterium zum Kirchenverständnis der Deutschen Christen an, dass sie sich nicht aus ihren empirischen Verhältnissen, sondern ihrerseits aus dem eschatologischen Wirken des Geistes versteht.176 Letzteres qualifiziert er als eine Raum schaffende Bewegung. In ihr realisiert sich die Christuswirklichkeit insofern, als die wesenhaft durch ein Sein in Beziehung bestimmte Personalität des Glaubens ihre Entsprechung innerhalb der menschlichen Sozialität erhält. Die Gemeinde ist für Iwand ein Freiraum, innerhalb dessen Menschen sich nicht mehr aus der primären Bezogenheit auf sich selber, sondern auf Christus und durch Christus auf den Nächsten verdiese Gerechtigkeit Verheißung bleibt, sie bleibt Geschenk, sie bleibt Gnade, sie wird nicht unser Sein, unsere Qualität, unser habitus, sondern sie bleibt etwas, was uns verheißen ist“; NW IV, 125. 174 Ebd., 137. 175 Ebd., 128. 176 In seiner Defi nition der Gemeinde von ihrem eschatologischen Wirklichkeitsüberschuss her, weist Iwand eine große Nähe zu dem zwei Jahre zuvor gehaltenen Barth-Vortrag auf, indem dieser formulierte: „Wenn wir von Gemeinde sprechen in einem ernsthaften theologischen und christlichen Sinn, so meinen wir nicht Gesellschaft , Gefolgschaft , irdische Gemeinschaft , sondern das schlechthin Einzigartige und von keiner Soziologie zu Bestimmende: die Kirche, die ecclesia Jesu Christi“, Barth, Karl, Die Gemeindemäßigkeit, 166.
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stehen. In seinen die Vorlesung schließenden Ausführungen zur Beerdigungsrede stellt Iwand den Zusammenhang zwischen christologisch erschlossener Auferstehungswirklichkeit und dem Ausblick auf die Gemeinde als räumlich und zeitlich entgrenzte communio sanctorum her, wenn er formuliert: „die Gemeinschaft in Christus, die die Gemeinde trägt, wird zu einer Gemeinschaft mit den Toten. – Hier wird deutlich, dass die Gemeinde in Christus etwas anderes ist als die Volksgemeinschaft“ (118/[…]).
... Die Stellung des Menschen zwischen Adam und Christus Zielen Iwands Ausführungen zur eschatologischen Neukonstitution des Menschen auf eine jede Vereinzelung übersteigende Gemeinschaft in Christus, wie Luther sie in seiner Freiheitsschrift entfaltet,177 so steht dabei dennoch die Wahrnehmung des einzelnen, vom Wort angeredeten Menschen im Zentrum. Die Vereinzelung des Menschen, wie sie in letzter Schärfe angesichts des Todes erfahren wird, ist ihm das Nadelöhr, durch das hindurch allein der Weg zur selbstvergessenen communitas mit Christus führt: „Christ wird man dadurch, dass man durch die Verkündigung in die Einsamkeit der Todesstunde versetzt wird. Sterben mit Christus, das heisst vereinzelt werden, dass man da mit ihm ganz allein ist und in IHM genüge hat […] Jesus kann uns nicht anders heimholen als so, dass er uns vereinzelt“ (7).178
Iwand bleibt bei dieser Vereinzelung allerdings nicht stehen, sondern begreift sie als Durchgangsmoment einer eschatologischen Neuschöpfung. Im Lichte des neuen Seins der Person in Christus interpretiert er sie als eine notwendige Krisis, in welcher der Glaube an dem Kreuzestod Jesu partizipiert. In diesem Sinne erhält die Erschütterung des selbstbezüglichen Identitätsbewusstseins eine heilvolle Bedeutung. Wird letzteres als Quelle der Anfechtung identifiziert, so kommt es darauf an, sich in einem Prozess unabschließbaren Neuwerdens von der Verzweiflung an sich selbst immer wieder auf die Zusage der Treue Gottes zurückwerfen zu lassen. Der Mensch stirbt sich selber ab, empfängt sich dabei jedoch zugleich auf wunderbare, nicht mehr von ihm zu verantwortende Weise aus der Verheißung neu (vgl. Röm 6, 3–5). Dieser Übergang von der adamitischen Todes- zur in Christus verheißenen Auferstehungswirklichkeit wird für die Erfahrung des Glaubens derart bestimmend, dass der Existenzverlust im leiblichen Tod aufhört, eine Vorstellung absoluten 177 Vgl. WA 7, 38: „Aus dem allenn folget der schluß, das ejn Christen mensch lebt nit jnn jhm selb, sondern jnn Christo und sejnem nejstenn, jnn Christo durch den glauben, jm nejsten durch die liebe: durch den glauben feret er uber sich jn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe, und blejbt doch jmmer jnn gott und gottlicher liebe, Glejch wie Christus sagt Johan. 1 ‚Ihr werdet noch sehen den hjmell offen stehn, und die Engell auff und abstejgenn ubir den Sun des menschenn‘.“ 178 Iwand erweist sich darin ganz als Schüler Luthers, an dessen Einstieg in die Invocavitpredigten er sich wörtlich anlehnt: „Wir sind alle zum tode gefoddert und wird keiner fur den andern sterben, sondern ein jglicher in eigner Person mus geharnischt und gerüstet sei fur sich selbs mit dem Teufel und Tode zu kempffen. In die ohren können wir wol einer dem andern schreien, jn trösten und vermanen zu gedult, zum streit und kampff, aber fur jn können wir nicht kempffen noch streiten, es mus ein jglicher alda auff seine schantz selbs sehen und sich mit den feinden, mit dem Teufel und Tode selbs einlegen und allein mit jnen im kampff liegen“, WA 10, 3, 1.
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Schreckens zu sein. Die Rechtfertigung des Sünders entfaltet Iwand in diesem Sinne als dynamischen Übergang der Person von der Sünde zu einem neuen Sein in Christus.179 Zum Schlüsselbegriff der Verkündigung wird von daher der Begriff der Buße (vgl. 22/452), mit dem er jene Konversion unter der schöpferischen Macht des Wortes zusammenfasst: „Das nennen wir dann Wiedergeburt, Umkehr, Reue, Busse-Tun, mit einem Wort mutatio hominis. Das Wort bringt den Menschen das neue Leben, die zoé, und zwar einem Menschen, der tot ist. Predigen heisst also, betraut sein von Gott mit dem umschaffenden Worte Gottes“ (73/499).
Charakteristisch für Iwands eschatologisches Predigtverständnis ist, dass sich die Wende vom alten zum neuen Äon mitten durch das Selbstverständnis des Menschen hindurch vollzieht. Dementsprechend konstituiert sich die Individualität des Glaubens nicht über die selbstbezügliche Identität des Ichs,180 sondern in der im Wirken Gottes begründeten Dynamik des Sterbens und schöpferischen Neuwerdens: „Wenn ich das Wort Gottes predige, dann glaube ich auf Grund des Wortes, dass der Mensch […] sich wandeln kann. Das hat ungeheure Konsequenzen. So predige ich hinein in die gottlose Welt, indem ich weiss, dass das Menschen sind, die sich wandeln können. […] Und zwar redet das Wort Gottes den Menschen auf das an, was er nicht ist. […] Es redet uns an auf […] Glaube[,] Liebe[,] Hoffnung, auf das[,] was wir nicht sind und nicht haben, damit [es] aus dem, was nicht ist, das Seiende schafft“ (72f/499).
Iwand entwickelt seine homiletische Bestimmung des Menschen als homo mutabilis im Zusammenhang mit der Auferstehungshoffnung und grenzt sie von solchen Vorstellungen ab, welche den Unsterblichkeitsgedanken aus einer bestimmten Qualität des selbsttätigen Ichs extrapolieren.181 Sein homiletischer Realismus legt sich hier in der Weise aus, dass er den alleinigen Hoffnungsgrund für den Menschen in die Christusauferstehung verlegt.182 Je prekärer die Schilderung des widerstreitenden Selbstbewusstseins ausfällt, desto realistischer fasst er die christologisch vermittelte Heilswirklichkeit auf. Von daher kritisiert er abermals den transzendentalen Vorbehalt, der sich seines Erachtens in die Dogmatik Barths eingeschlichen hat, wenn dieser die 179 Vgl. Kapitel 2.3.3.3. 180 Pointiert bringt Iwand diese Betrachtung des Menschen vor dem Hintergrund von Kreuz und Auferstehung in einem Vortrag zu Luthers Galaterbriefvorlesung 1531/35 zum Ausdruck: „Die Gleichung Ich = Ich ist unsere Ohnmacht gegenüber dem Gewissen. Darum bedeutet der Glaube eben dies, daß diese Gleichung fällt, daß damit auch die Psychologie, auch die des Wiedergeborenen – soweit man das versucht hat – hinfällig wird, daß es vielmehr eine ganz andere Analogie ist, die sich nun als Gleichung anbietet: die Analogie mit dem auferstandenen Herren selbst“, NW IV, 432. Vgl. dazu Kapitel 2.3.3.3. 181 Vgl. dazu etwa Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft , B 258: „Der Rechtschaffene darf sagen: ‚ich will, daß ein Gott [sei], daß mein Dasein […] in der reinen Verstandeswelt [sei], endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen.‘“ Zur Bedeutung von Kants Unsterblichkeitspostulat für die neuzeitliche Philosophie und Theologie vgl. Lang, Bernhard, Himmel, 87–91.107–112. 182 Vgl. Assel, Heinrich, Die Öffentlichkeit, 82.
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Inkarnation lediglich als Annahme irdischer Gestalt, nicht aber i.S. des „fröhlichen Wechsels“ als Seinsübernahme auffasst. Die Menschwerdung Gottes im gegenwärtigen Kerygma indiziert für Iwand eine ontologische Verwandlung und hat eine fundamentale Neubestimmung des menschlichen Wesens zur Folge.183 ... Die Begräbnisrede als Bewährungsfall der Verkündigung Vor dem zuletzt aufgerissenen eschatologischen Horizont wird verständlich, warum Iwand in der letzten Stunde seiner Vorlesung scheinbar unvermittelt auf die Kasualien und insbesondere auf die Begräbnisrede als „punctum saliens“ zu sprechen kommt. Sie ist für ihn in besonderer Weise der Ernstfall der Verkündigung. Ihm kommt es dabei auf zweierlei an, nämlich einerseits auf die Ernstnahme der durch Verlust und Schmerz der Trauernden bestimmten Situation und andererseits darauf, dass der Tod „als Wirklichkeit in Gott“ wahrgenommen wird: „Der Tod gehört hinein in Gottes Wirklichkeit durch Jesus Christus, in dem Gott selbst den Tod geschmeckt hat. Wer den Tod nicht ernst nimmt, der kann auch Gott nicht ernst nehmen. Denn Gott steht nicht nur auf der Lichtseite des Lebens, sondern beides, Leben und Tod, gehört in Gottes Welt“ (114).
Iwand warnt seine Hörer wiederholt davor, sich bei der Begräbnisrede sogleich „in die reine Wortverkündigung“ (109) zu stürzen und fordert „Verständnis auf[zu]bringen für die Situation, die durch diesen bestimmten Fall gekennzeichnet ist“ (ebd.). Dies bedeutet, dass nicht vorschnell von der Auferstehung der Toten zu reden ist,184 sondern der Tod zunächst in seiner den Beziehungsreichtum menschlichen Lebens destruierenden Macht wahrgenommen werden muss: „Der Tod ist weithin die Zerstörung der Gemeinschaft, der Vater, der Gatte, der Kamerad wird hinweg gerissen. Das[,] was die Zurückbleibenden empfinden[,] ist die Lücke in der Gemeinschaft“ (117).
Die homiletische Regel, die Iwand für den Umgang mit dem Toten formuliert, lautet, dass „der besondere Fall, den wir vor uns haben, hereingenommen und regiert wird von dem besonderen Worte, das hier auszulegen ist“ (111). Dies soll sich in der Textwahl widerspiegeln. Es kommt darauf an, „einen Text [zu] finden, der […] im Leben des Verstorbenen eine Rolle gespielt hat, ein Wort, das sich bewährt hat in zahlreichen Anfechtungen im Leben […] und das sich auch noch zum letzten Mal bewähren soll sozusagen an denen, die nun dem Tode gegenüber ohne Trost dastehen“ (110). „Verkündigung und […] Seelsorge“ (109) sind hier aufs engste miteinander verbunden. 183 Vgl. GA I, 105: „Wo Gott menschlich zu uns redet, da […] ist [es] mehr als ein Mittel, das er braucht, als eine Hülle, in die er sich verbirgt, […] sondern es ist unser Sein, das er zu seinem eigenen macht. Die Menschheit reicht weiter, als dieser Äon reicht, der letzte Mensch ist nicht der Mensch, den die Biologie und Astronomie hier auf Erden sterben und untergehen sieht, sondern der εσχατο Αδαμ ist bei Gott, und das Geheimnis der Menschheit ist nicht geringer als das Geheimnis der Gottheit selbst.“ 184 Vgl. Homiletik, 109: „Es ist ganz sicher, dass jede Beerdigungsrede unser Gesicht ausrichtet auf Ostern hin, aber es wäre dennoch falsch, am Grabe nur eine Osterpredigt zu halten. Es kommt darauf an, dass die Menschen in diesem bestimmten Fall getröstet werden.“
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Einen falschen Trost stellt die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele dar, „wenn sie die Wirklichkeit des Todes ins Leibliche abschiebt und darin den Trost sucht“ (115). Die idealistische Verklärung des menschlichen Selbstbewusstseins kommt für Iwand aber vor allem darin zum Tragen, dass die Totenrede „mit einer Moralpredigt“ (117) verquickt und das Bild des Menschen von daher in positiver oder negativer Weise verzeichnet wird: „Darum haben wir seit der Aufk lärung den Nekrolog, […] die Tugendrede, de mortibus nil nisi bene. Der Pfarrer, der so lügt am Grabe, verscherzt sich seine Glaubwürdigkeit auf der Kanzel. Von faktischen Verdiensten und Nöten dürfen Sie wohl sprechen. Aber nicht unbekannte Sünden jetzt bekannt machen“ (ebd.).
Aufzugreifen ist hingegen der Wunsch „nach dem Wiedersehen mit den Toten“ und die „Sehnsucht, dass die Gemeinschaft wiederhergestellt werden möchte“ (ebd.). Sie stehen in direkter Analogie zum „Wiedererkennen in Christus“ (ebd.). An dieser Hoffnung hat sich der homiletische Realismus zu bewähren, insofern er das im Widerstreit zwischen Anfechtung und Trost vielmals erlittene „Sterben in Christo“ als „wahre[n] Tod“ herausstellt und dieses Ende in der Grunderfahrung des Glaubens in einen neuen Anfang umschlagen lässt (vgl. 115): „Wenn der Mensch in die Erde gebettet wird, dann verwest er, wenn er in Christus begraben wird, wird der begraben zur Auferstehung von den Toten. Wir haben nicht nur einen hölzernen Sarg, in den wir gelegt werden, sondern wir werden in Christus gelegt zur Auferstehung. Wir wollen den Tod nicht ansehen nach ihm selber, was er ist, sondern wir sollen ihn ansehen, wie er gefasst ist in Christus. So wird uns im Tod der Sieg des Lebens offenbar. Der Tod wird selber ein Zeuge in Christus vom Sieg des Lebens. Da, wo natürlicherweise die Verzweiflung steht, steht in Christus gerade der Sieg. […] Das heisst Trost“ (114f).
.. Amt und Person – der Prediger als erster Hörer des Wortes Die im letzten Abschnitt dargestellte anthropologische Grundspannung kommt an keiner anderen Stelle in so exponierter Weise zum Tragen, wie am Prediger und der seine Arbeit bestimmenden Dialektik zwischen Amt und Person. Seine Rolle soll abschließend noch einmal gesondert beleuchtet werden. Iwand hat in seiner Vorlesung keinen eigenen Abschnitt über den Prediger vorgesehen, spricht seine Hörer aber immer wieder mit konkreten Ratschlägen und Mahnungen auf die vor ihnen stehende Aufgabe an. Dies hängt mit dem im Folgenden zu entfaltenden Sachverhalt zusammen, dass für ihn der Prediger von der Gemeinde nicht grundsätzlich unterschieden, sondern vielmehr selber Hörer des Wortes ist.186 185 Vgl. Möller, Christian, Seelsorglich predigen, 43ff. 186 Vgl. Homiletik, 40: „[…] der Prediger und die Gemeinde stehen beide unter Gottes Wort. Der Prediger steht ebenso darunter wie die Gemeinde. Und es handelt sich […] darum, […] dass der Prediger als ein Glied der Gemeinde selber predigt, das Wort Gottes auslegt, dass er nicht Herr ist über die Gemeinde, sondern dass er ihr Glied ist“ (40).
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Der Spannungsreichtum zwischen positiver Begründung, Anfechtung durch die wirkliche Welt und Ausrichtung auf ein neues Sein verdichtet sich in seiner Existenz. Er ist als vollmächtiger Bote zugleich angefochtener Sünder und darüber hinaus derjenige, der die Not der Gemeinde unterwegs zur Glaubenserkenntnis „in priesterlichem Dienst“ (19/449) auf sich nimmt: ... Die Menschwerdung des Wortes in der Verkündigung Unter der Bestimmung als Keryx wird das Predigtamt mit einer enormen Vollmacht ausgestattet, die von den Voraussetzungen des realpräsentischen Wortverständnisses her weit über das in Iwands theologischem Umfeld übliche Maß hinausgeht. Für Barth und die ihm folgenden Theologen war die amtsmäßig-biblische Begründung der Predigt das entscheidende Differenzkriterium zu deren Legitimation als Selbstdarstellung des religiösen Bewusstseins in der liberalen Theologie.187 Insofern kam ihr von Anfang an eine zentrale Stellung zu. Relativiert wurde diese Stellung jedoch durch den Vorbehalt, dass die Verkündigung gegenüber dem göttlichen Selbstwort immer nur als ein vorläufiger menschlicher Versuch angesehen werden kann.188 Demgegenüber wird das Predigtamt von Iwand auf Grund seiner Betonung, dass der „wirkliche Christus […] der gepredigte Christus“ (1/419) ist, sehr viel positiver bestimmt. In der Auseinandersetzung mit dem Wortverständnis Barths spitzt er seine Anschauung darauf zu, „dass der, der […] verkündigt, selber ‚wahrer Mensch‘ wird, nicht in dem Sinne, dass er das neben seinem Amt, sondern in und durch dies Amt des Neuen Testaments sei.“189 Er soll ganz aus der Verheißung reden, ohne den Inhalt der Worte an seinen subjektiven Fähigkeiten bewähren zu wollen. Im Anklang an eine Aussage aus Luthers Schrift „Wider Hans Worst“ formuliert er in der Vorlesung: „ein Prediger kann nicht sündigen, denn er predigt Gottes Wort, denn sonst müsste ich sagen, Gott sündigt“ (30/462f).190 Diese massiv realistischen Bestimmungen sind die Kehrseite von Iwands subjektivitätstheoretischen Prämissen und den sich daraus ergebenden soteriologischen Interessen. Dass gegenwärtige Wortgeschehen ist für ihn der Ort, an dem sich die Personalität des Glaubens im Übergang von der fleischlichen zur geistlichen Existenz allererst konstituiert. Von daher bleibt das Wesen der Predigt dort unterbestimmt, wo ihre Aufgabe lediglich – wie in der liberaltheologischen Tradition – die exemplarische Vermittlung eines frommen Selbstbewusstseins ist, dessen Ausbildung von der Wortverkündigung prinzipiell unabhängig bleibt und in ihm lediglich zur Darstellung kommt. Unzulänglich ist es aber auch, wenn Predigt – wie bei Barth vorgesehen – sich lediglich erinnernd und Zeugnis ablegend auf das Christusgeschehen bezieht. In beiden Fällen kommt es im Sinne Iwands zu keiner wirklichen Begegnung von 187 188 189 190
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Vgl. Barth, Karl, Homiletik, 50ff. Ebd., 55ff. GA I, 104. Vgl. WA 51; 517,20f.
Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit, weil das ichzentrierte Selbstbewusstsein auf sich geworfen und dessen christologische Neubestimmung unterbleibt. Nicht der abstrakte Gedanke einer Annahme der Menschheit in Christus, sondern erst die gegenwärtige Wirksamkeit des Wortes an seinen Hörern vermag jene Wendung herbeizuführen, die bis ins Zentrum des Selbstverhältnisses der Glaubenden reicht. In diesem Sinne ist es Voraussetzung evangelischer Heilsgewissheit, dass bei der Predigt in den menschlichen Worten Gott selbst präsent wird. Was folgt aus diesem theologischen Axiom für das Selbstverständnis des Predigers? – Negativ lässt sich die auftragsmäßige Qualifi kation seiner Rolle auf die Funktion zuspitzen, dass am Beginn der Arbeit mit dem Text eine Distanznahme von einer bestimmten Anspruchshaltung steht. Der Prediger soll sich von der Erwartung lösen, er könne und müsse das Wort Gottes kraft der in ihm angelegten Möglichkeiten oder erlernten Fähigkeiten zur Sprache bringen. Existentielle Voraussetzung der Predigtarbeit ist ein Vertrauen in die Wirksamkeit des Wortes, das nicht durch das auf die Integrität der eigenen Person und deren Kunstfertigkeit abgestützt werden kann, sondern sich allein auf dessen sakramentale Heilsgegenwart in der Gemeinde kraft der Inkarnation gründet. Von Seiten einer empirisch-didaktisch orientierten Homiletik ist an dieser Bestimmung kritisiert worden, dass sie dem Prediger „eine spezifische Gestalt gläubiger Vorleistung“ abverlange und zwar als vorgängige „Selbstpreisgabe“ gegenüber dem Wort.191 Unter den anthropologischen Prämissen Iwands stellt sie freilich eine entscheidende Schutzfunktion dar. Sie entlastet ihn im Umgang mit dem Text voN den aus seiner selbst bezogenen Personalität aufsteigenden Allmachts- und Ohnmachtserwartungen.192 Angesichts der Gefahr, sich mit überzogenen Selbstansprüchen zu überfordern, formuliert er: „Schämen Sie sich Ihrer Armut nicht. […] Das Glaubenszeugnis haben Sie nicht herzustellen, das wird Ihnen ja übergeben, Sie sind ja Boten. […] Predigen Sie nach Maßgabe dessen, was Sie können, dann werden Sie sehen, dass das Wachstum in der Erkenntnis nicht damit zusammenhängt, dass wir immer gläubiger und heiliger werden, sondern dass wir abnehmen und ER wächst und wir dadurch anfangen, zu erkennen, zu sehen, dass uns die Dinge aus den Augen genommen werden, die uns am Sehen hindern […] dass wir nicht mehr auf uns sehen, sondern auf Christus“ (14/442).
Schwieriger zu beantworten ist allerdings die Frage, wie sich die göttliche Stiftung auf die Predigtarbeit auswirkt. Wird die Legitimation des Amtes ganz von seinem Träger abgezogen und auf das von ihm unterschiedene Wort übertragen, so lassen sich schwerlich methodisch handhabbare Verfahren dafür angeben, wie sich das Wort in die – für sich genommen nur als Sünder ansichtig werdende – Person inkarniert. Andererseits zeigen unsere bisherigen Darlegungen zum Zusammenhang von prinzipieller Homiletik und homiletischer 191 Bizer, Christoph, Unterricht, 104f. 192 Vgl. Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 190.
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Methodik – und wir suchen dies im Folgenden an seiner homiletischen Praxis zu bewähren – , dass die theologischen Bestimmungen nicht folgenlos bleiben, sondern rhetorische Gestaltungsanweisungen nach sich ziehen. Namhaft zu machen ist die aus der amtsmäßigen Selbstunterscheidung sich ergebende Konsequenz für die Predigtarbeit als eine bestimmte Hör- bzw. Leseerwartung, mit welcher der Prediger an den Text herantritt. Sie besteht darin, dass er – gerade weil er sich in seinem Wissen darum, was der Text zu sagen hat, nicht vollends erschlossen wähnt – damit rechnet und darauf hofft , dass er sich ihm die gegenwärtige Situation seiner selbst und seiner Hörer erschließend imponiert. Die in diesem Kapitel herausgearbeiteten Hinweise zum Schriftgebrauch, zur Gestaltung des Verhältnisses von Wort und Welt und zur eschatologischen Neubestimmung der Wirklichkeit lassen sich sämtlich auf die Erwartung eines Widerfahrnisses des Wortes Gottes zurückführen, in welcher die Vorstellung von einem geschlossenen Zusammenhang der Weltund Selbstauslegung aufgebrochen wird. Unter dieser Bestimmung zentriert die Aufwertung des Amtes darin, dass der Prediger es in seiner Begegnung mit dem Predigttext im Verhältnis zu allen übrigen literarischen Zeugnissen mit einer unverrechenbaren Wirklichkeit zu tun bekommt. In ihr ist zugleich das andere Moment beschlossen, dass der Prediger sich als Hörer in das Wortgeschehen mit einbezieht und von den Gliedern seiner Gemeinde nicht prinzipiell unterschieden ist. Jene ihn zur Wahrnehmung seines Amtes qualifizierende Haltung entspricht genau dem der Korrelation von Wort und Glaube angemessenen, anthropologischen Selbstverhältnis. Aus dieser Perspektive stellt sich als überraschendes Ergebnis ein, dass die enorme theologische Aufwertung des Amtes zugleich eine erhebliche Relativierung desselben ist.193 Seine berufliche Herausgehobenheit aus dem Glaubensleben der Gemeinde wird lediglich an der gottesdienstlichen Verkündigung als spezifischer Sprechsituation greifbar und lässt sich darüber hinaus nicht habitualisieren. Er ist als Prediger exemplarisches „Glied der Gemeinde“ (40/473). Das Gelingen seiner Aufgabe hängt vollständig daran, dass nicht aus dem „Gegensatz von Gemeinde und Pfarrer“ (40/473) heraus kommuniziert, sondern Prediger und Gemeinde als gleichermaßen unter dem Wort stehend wahrgenommen werden. Innerhalb dieses Rahmens spezifiziert Iwand die Rolle des Predigers allerdings in einer weiteren Hinsicht. Sie lässt sich darauf zurückführen, dass der Rolle im Verhältnis zur Glaubenserfahrung eine exemplarische Funktion zugewiesen wird.
193 An dieser Offenheit setzt freilich auch die Kritik jüngerer Homiletik ein, unter deren Perspektive die Bestimmungen Iwands als mangelnde funktionale Ausdifferenzierung zu Gesicht gekommen sind. Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 83: „Diejenigen Bedingungen, welche die berufl iche Situation des Predigers von der jedes Glaubenden unterscheiden, kommen kaum in den Blick. Zwar ergibt sich die besondere Berufung des Predigers unmittelbar aus dem Verhältnis des Wortes zur Wirklichkeit […]. Aber indem dieses Geschehen einzig und allein als ein – freilich exemplarischer – Glaubensprozeß erscheint, bleibt die spezifische Aufgabe des Predigers als Prediger doch unterbestimmt.“
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... Die Anfechtung des Predigers Begründet die Bestimmung des Amtes kein homiletisches Gefälle, sondern ein gleich berechtigtes Beieinander-Stehen von Prediger und Hörenden unter dem Wort,194 so kommt der für den Glaubensvollzug charakteristischen Erfahrung von Ohnmacht und Anfechtung eine wesentliche Bedeutung bei der Wahrnehmung seines Auftrages zu.195 In dieser Beziehung wird zugleich die persönliche Erfahrung des Predigers als unverzichtbarer Anteil des Predigtgeschehens virulent. Iwands ständiger Verweis an das Amt ist nicht als eine Ausschaltung der Person des Predigenden zu verstehen. Ebenso wenig darf jene die Predigtarbeit im Kern bestimmende Selbstdistanzierung als unpersönliche Sachlichkeit aufgefasst werden. Für Iwand ist klar, dass eine „Predigt, die lediglich das in der Schrift enthaltene Dogma gibt, […] unmenschlich“ (19/449) ist. Sie zielt vielmehr auf eine gesteigerte Form der Selbsterfahrung, in der die Person mit ihren Zweifeln sich im Lichte des Zuspruchs des Wortes neu zu Gesicht kommt. Das homiletische Selbstverständnis des Predigers zeichnet sich in diesem Sinne durch Züge aus, mit denen Helmut Tacke die Haltung des Seelsorgers charakterisiert: „Betroffenheit vom Evangelium“, so seine Formulierung, „wird […] zunächst den Mut zur Selbsterfahrung implizieren, bei dem das Selbst in seiner Gott entfremdeten und zutiefst auf Gnade angewiesenen Natur aufgedeckt wird. […] Der Zeuge im Seelsorger ist nicht nur Zeuge Gottes, sondern auch Zeuge seiner eigenen Verlorenheit. Sein Engagement ist das eines Menschen, der mit dem Evangelium zugleich seine eigene Differenz zum Evangelium bezeugt. In dieser Differenz liegt die eigentliche Motivation, die das Zeugnis bewirkt.“196
In der Predigtarbeit kommt dieses Moment zum Tragen in jener zwischen Wort und Welt oszillierenden dynamischen Bewegung des Suchens und Findens, die auf den immer neuen „Durchbruch[.] vom Nichtverstehen zum Verstehen“ (19/448) aus ist. Letztere haben wir im Abschnitt 3.3.3. dargestellt. Geleitet von der Erwartung des unverfügbaren Selbsterweises des Wortes soll der Prediger in seiner Verkündigung dem spannungsvollen Wechsel der Artikulation von Zweifel und Gewissheit Raum geben. Dies geschieht, indem er in einem angespannten Ringen als skeptischer Hörer den Text mit den in seiner Lebenswelt aufbrechenden Widerständen konfrontiert. Seine Hoffnung richtet sich darauf, dass sein Blick auf die widersprüchliche Erfahrungswirklichkeit in einer entdeckungshaften Begegnung mit dem Text aus der Perspektive desselben gewendet wird. Iwand fasst die Selbstentzogenheit dieser Dimension der Predigtarbeit im Bild von einem Bettler zusammen, der mit leeren Händen vor einer Tür liegt und wartet, dass ihm aufgetan wird.197 Die einzige Disposition, die er mitbringt, ist seine eigene existentielle Bedürftigkeit. In der Betonung seiner Armut gegenüber dem göttlichen Verheißungswort kommt 194 Vgl. Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 190. 195 Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 78. 196 Tacke, Helmut, Glaubenshilfe, 153. 197 Homiletik, 19/449: „Predigen heißt, Zeugnis davon ablegen, dass man selbst vor dieser Tür gelegen hat und nicht umsonst davor gelegen hat.“
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der seelsorgerliche Zug zur Geltung. Seine Verkündigung dient dazu, sich und andere zu trösten.198 Ihre Zuspitzung findet die exemplarische Darstellung des Glaubenskampfes in dem priesterlichen Charakter, den Iwand für die Verkündigung geltend macht. Potenziert sich unter der menschlichen Ohnmachtserfahrung die Anfechtung des Predigers angesichts der Tatsache, dass er auf Grund seiner persönlichen Disposition der Aufgabe nicht besser gewachsen ist als andere Menschen,199 so wird sie auch dahingehend ausgeweitet, dass er nicht nur für sich, sondern für die Gemeinde redet. In der öffentlichen Verkündigung betrifft der Widerstreit zwischen Wort und Welt nicht – wie etwa im persönlichen Gebet – nur die eigene Person, sondern die ganze Gemeinde. In diesem Sinne fordert er: „Ich muss in priesterlichem Dienst die Not dieses Menschen zu meiner Not machen und muss als solcher vor der Tür des Textes liegen, wie ein Bettler vor der Tür des Reichen Mannes. Ich muss wirklich anfangen zu sagen, ich verstehe das nicht, muss mich hineinreißen lassen in das Fragen und Nichtverstehen der ganzen Welt. Und nun heißt die Verkündigung nichts anderes, als dass wir dieses Nichtverstehen unserer Brüder zu unserem eignen machen, damit sich Gott unserer erbarme, damit ER uns eine Antwort gebe. Denn Sie können ja fragen, gerade, wenn ich mich so an das Nichtverstehen verliere, wer garantiert mir dann, dass ich am Sonntag fertig bin mit meiner Predigt? Das garantiert uns in der Tat niemand und ich habe auch keinen Grund zu sagen, weil mich diese Fragen gefährden in der Fertigstellung meiner Predigt, lasse ich sie beiseite. Ich habe das Gelingen meiner Verkündigung nicht in der Hand und es kommt darauf an, dass ich den Menschen nicht mehr gebe, als ich zu geben habe“ (19f/449).
Die Funktion des Vermittlers schildert Iwand hier als eine Bewegung, in der er sich ganz auf die Seite der Hörer ziehen lässt bis an den Punkt, an dem er seine eigene homiletische Existenz aufs Spiel setzt. Unter dieser Bestimmung setzt er sich freilich enormen Anspannungen aus. Als charakteristisches Element der Predigtarbeit lässt sich von daher ein permanenter Wechsel zwischen Herausforderung und Entlastung durch die Erwartung der widerfahrnishaften Erschließung des Wortes benennen. Über dem sich bewegen Lassen von der Verstehensnot kann die methodische Unverrechenbarkeit des Wortgeschehens zur krisenhaften Erschütterung der Arbeit führen. Umgekehrt entlastet sie ihn als Ermutigung dazu, den notwendig fragmentarischen Charakter der eigenen Predigt einzugestehen. 198 Vgl. Tacke, Helmut, Glaubenshilfe, 159: „Die[.] Armut des Seelsorgers beweist eine spontane Affinität zu allen, die arm sind. Wer könnte die Armen trösten als ein Armer.“ Aus dieser Armut leitet er das gleich berechtigte Beieinander-Stehen in der seelsorgerlichen Situation ab: „Die Partner wissen, wie sie miteinander dran sind. Hier geht es nicht um die Überlegenheit des Arztes gegenüber seinem Patienten, auch nicht um die Erfurcht vor einer religiösen Kapazität, sondern es handelt sich um zwei seelsorgebedürftige Menschen auf gleicher Ebene“; ebd., 149. 199 Vgl. Homiletik, 2/422: „Wer wüsste heut[e] nicht, wie uns die Versuchung anliegt, dem Wort zu entgehen. Jedes mal, wenn Gott uns herausstellt, das Wort zu verkündigen, haben wir zu kämpfen mit Fleisch und Blut, weil wir uns dem Wort entziehen wollen.“
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. Zusammenfassung und Ausblick In der Einleitung zu unserer Studie hatten wir der Erörterung von Iwands Homiletik die Frage zu Grunde gelegt: Wie wirkt sich die Erwartung der Neukonstitution von Wirklichkeit durch das Wort Gottes auf den Zusammenhang von prinzipieller Homiletik, homiletischer Methodik und der Anleitung zur Predigtgestaltung als intersubjektivem Kommunikationsgeschehen aus?200 Aufgeworfen hatten wir diese Frage vor dem Hintergrund einer kritischen Wahrnehmung Iwands in der jüngeren homiletischen Forschung. Ihre Stoßrichtung bestand darin, dass sie Iwand auf Grund von dessen Wort-Gottestheologischen Zuspitzungen die Möglichkeit bestritt, sich angemessen auf die subjektiv bestimmte Erfahrungswirklichkeit zu beziehen.201 Aus dieser Einschätzung wiederum nährte sich die Skepsis, ob von Iwands Voraussetzungen her Predigtgestaltung überhaupt als methodisch geleitete und subjektiv verantwortete Aufgabe zu verstehen sei. Forschungsarbeiten, die Iwands Homiletik entlang seiner im Rahmen der Göttinger Predigtmeditationen getätigten Aussagen untersuchten, gelangten hinsichtlich der Frage nach ihrem methodischen Repertoire zu dem Ergebnis: In seinen Meditationen leitet Iwand den Prediger lediglich zu einer mehr oder weniger unspezifischen Suchbewegung an und setzt ihn im Übrigen der Unverfügbarkeit des Wortes aus.202 Vor diesem forschungsgeschichtlichen Hintergrund haben wir unsere Rekonstruktion von Iwands homiletischer Theorie bewusst auf der Basis seines homiletischen Entwurfes von 1937 durchgeführt. Maßgeblich für diese Entscheidung war die Erwartung, anhand dieses Textes zu einem Verständnis des Zusammenhanges von prinzipieller und praktischer Homiletik bei ihm zu gelangen, das über seine Auslassungen in den Göttinger Predigtmeditationen hinausführt.203 Diese Erwartung hat sich im Zuge der Durchführung unserer Untersuchung erfüllt. Seine in der Homliletik-Vorlesung entfalteten Erörterungen geben zu erkennen: Iwand überführt seine theologischen Grundannahmen in konkrete homiletische Gestaltungshinweise, welche die Predigtarbeit als methodisch geleitete und subjektiv verantwortete menschliche Rede zu verstehen erlauben. Als Voraussetzung für die Erarbeitung seiner Predigtlehre haben wir Iwands prinzipielle Bestimmung der Predigtaufgabe unter dem Stichwort „homiletischer Realismus“ zunächst gegenüber seinem weiteren und engeren zeitge200 Vgl. Einleitung 1.2. 201 Vgl. Einleitung 1.1.2.1. 202 Vgl. Bizer, Christoph, Unterricht und Predigt, 94–96; Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 93; Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 243f. Freilich wird dieser Sachverhalt von den Rezipienten unterschiedlich bewertet. Wilfried Engemann sieht darin eindeutig ein Defi zit, vgl. ders., Einführung, 329. Gräb lässt die Möglichkeit offen, ihn positiv als Indiz für eine unabdingbare Individualisierung der Predigtvorbereitung zu verstehen, vgl. ders., Predigt als Mitteilung, 244. Auch letzterer gelangt jedoch schließlich zu dem Urteil, dass Iwands Meditationskonzept konturlos bleibe, wenn es darum gehe die dogmatische Prämisse in die Struktur der Predigtgenese einzuholen, vgl. ebd., 245. Zum Ganzen vgl. Einleitung 1.1.2.1 und 1.1.2.3. 203 Vgl. Kapitel 3.1.
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nössischen Kontext profi liert.204 Iwand bestimmt die Verkündigung als gegenwärtig wirksames „Handeln Gottes mit der Gemeinde“ (4/425) – darin wurde für uns seine Eigentümlichkeit greifbar. Dass er sich mit dieser Bestimmung von der liberaltheologischen Homiletik absetzt, bestätigt das durch bisherige Forschungen entworfene Bild von ihm. Dass er damit aber auch im Kontext der Dialektischen Theologie eigene Akzente setzt und sich auf seine Weise vom Wort-Gottes-Verständnis Karl Barths abgrenzt, wird allererst in der Vorlesung erkennbar und ist dementsprechend bisher nur am Rande wahrgenommen worden.205 Gerade die ihn in prinzipieller Hinsicht charakterisierenden und von seinem Umfeld unterscheidenden Bestimmungen zum Wort Gottes in der Predigt verdienen u.E. gesteigerte Aufmerksamkeit. Von ihnen her erscheint die Vermittlung von Wort Gottes und menschlicher Erfahrungswirklichkeit bei Iwand, deren Fehlen von Seiten einer empirisch orientierten Forschung angezeigt worden ist, in einem anderen Licht.206 Iwands Ausführungen zur verborgenen Präsenz des inkarnierten Gotteswortes in der Erfahrungswirklichkeit207 weisen zurück auf die von uns im 2. Kapitel herausgearbeiteten religionsphilosophischen Wurzeln seiner Theologie. Als prinzipiell-homiletische Bestimmungen lassen sie sich dem dort entwickelten Konzept von Erfahrung zu- und einordnen: Qualifizierte Iwand das religiöse Erleben dadurch, dass er darin den in sich geschlossenen Zusammenhang der Weltund Selbsterfahrung des subjektiven Identitätsbewusstseins durch das Totalitätserlebnis aufgebrochen sah,208 so findet diese Anschauung in der Charakterisierung der Verkündigung als den Menschen „in seiner Lebensbeschäftigung“ (75/500) treffendes und ihn auf die Neubestimmung seiner Person in Christus ansprechendes Gotteswort ihre genaue Entsprechung. Erfahrungswirklichkeit und Verkündigung erscheinen beim jungen Iwand in einem konsistenten Zusammenhang und bilden sich aufeinander ab. Von daher ist die im Bezug auf seine späteren homiletischen Schriften geäußerte Meinung, Iwands Bestimmung der Predigtaufgabe führe zur „Konstruktion einer doppelten Wirklichkeit“, zu revidieren:209 Die Verkündigung zielt genau auf jenen Punkt in der menschlichen Wirklichkeit, wo das Identitätsbewusstsein sich über dem Versuch, sich aus sich selbst heraus zu entwerfen, mit sich entzweit. Deshalb hat das Wort Gottes notwendigerweise die Gestalt eines sich der Verfügbarkeit entziehenden Widerfahrnisses. Gerade die Einsicht in die Fragmenthaftigkeit der eigenen Person zeichnet die Fluchtlinie in den Glauben vor, und umgekehrt wird die Erschütterung des Ichs vom Wort Gottes her neu bestimmt: Als Übergang von der adamitischen Todeszur christologischen Verheißungswirklichkeit. 204 205 206 207 208 209
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Vgl. Kapitel 3.3.1. Vgl. Grözinger, Albrecht, Die Homiletik, 183. Vgl. Einleitung 1.1.2.1. Vgl. Kapitel 3.3.1.3. Vgl. Kapitel 2.2.4.3. Engemann, Wilfried, Einführung, 366.
Auf Grund einer differenzierten Wahrnehmung von Iwands prinzipiell-homiletischen Anschauungen wird verständlich, warum die Betonung der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes in der Verkündigung nicht notwendigerweise zur Dispensierung aller methodischen Bemühungen darum führt. Anhand der in diesem Kapitel ausgearbeiteten Studien zeigt sich: Auch in dieser Hinsicht operiert die empirisch-homiletisch orientierte Iwandkritik mit kurzschlüssigen Alternativen. Iwand überbietet die Anschauung von der Predigt als Selbstmitteilung des Glaubens nicht, indem er den Prediger „von den Bedingungen zwischenmenschlicher Kommunikation“ suspendiert.210 Die Anschauung von der verborgenen Präsenz des Wortes Gottes in der subjektiv bestimmten Erfahrungswirklichkeit wird von ihm derart in den homiletischen Prozess eingeholt, dass der Prediger zusammen mit seinen Hörern in ein Ringen um die Konformität des eigenen Selbstverhältnisses mit dem freisprechenden Gotteswort tritt. Letztere ist keine vom Prediger herzustellende. Ihr Ausbleiben ist aber auch kein solches, das der unverfügbaren Weltüberlegenheit des Wortes Gottes geschuldet wäre. Zugang zur Dialektik von Offenbarung und Entzug des Wortes Gottes eröffnet allein die kreuzestheologische Anschauung von seiner unhintergehbar menschlichen Gestalt in der Schrift. Diese Anschauung hält die Doppelperspektive auf das Verkündigungsgeschehen als subjektives Bemühen und als göttlicher Selbsterweis offen. Sie übersteigt sie jedoch zugleich in der Erwartung, dass Gottes Wort Kraft der in Christus auf uns gekommenen Nähe Gottes zu uns dem Urteil über uns selbst immer schon zuvor kommt. In der Verkündigung sucht der Prediger sich und seine Hörer dahin zu führen, wo ihm das Wort Gottes im Widerspruch zum Urteil des auf sich bezogenen Selbst zuteil wird. Dieser Moment ist zugleich eine Konversion. Ihn gilt es als Ursprung seines Selbstverhältnisses im Evangelium zu entdecken und anzunehmen. Die dementsprechende Struktur der Selbsttätigkeit ist Grund legend für alle weiteren methodischen Überlegungen, die Iwand in seiner Vorlesung entwickelt:211 Greifbar wird dies zunächst anhand von Iwands Bestimmung zur Schrift als homiletischem Schutzraum.212 Die Schrift ist konkreter Gegenstand der Predigtarbeit. Sie ist zugleich der Ort, an dem sich das christologisch vermittelte Selbstbewusstsein ausbildet. Weil Iwands Schrift verständnis ein Konzept von Erfahrung zu Grunde liegt, dessen Zentrum der Zusammenhang von Gottes- und Selbstverhältnis ist, kann er sich nicht damit begnügen, die Schrift als formbares Material der Verkündigung anzusehen. In seiner Warnung vor einem rein analytischen Zugriff auf die Schrift meldet sich der Vorbehalt gegen eine Wirklichkeitserschließung nach dem Objektsetzungsmodell. Der Zusammenhang von Gottes- und Selbstverhältnis bleibt unerreichbar, solange Wirklichkeit dem autonomen Subjekt nur als potentiell beherrschbares Objekt zugänglich ist.213 Demgegenüber bringt Iwand den kerygmatischen Gehalt der 210 211 212 213
Ders., Semiotische Homiletik, 145. Vgl. Kapitel 2.3.4. Vgl. Kapitel 3.3.2. Vgl. Kapitel 2.2.4.
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Schrift zu Geltung, indem er sie homiletisch als Lebens- und Offenbarungsraum angefochtener Glaubenssubjektivität qualifiziert. Sie erschließt sich allein dem Suchenden und unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium sich in ihr Verlierenden. Der Umgang mit ihr setzt eine Haltung vernehmenden Hörens voraus, in der die Auslegungshorizonte zu einem eschatologisch qualifizierten „Heute“ verschmelzen. Diese Haltung nährt sich ihrerseits aus der Erwartung, dass das „Zusammentreten dessen, was dort geschieht und dessen, was hier geschieht“ (85/505) kraft der Autorität des Wortes Ereignis wird. Als Bezugspunkt homiletischer Praxis konstatiert Iwand dieses Schrift verhältnis nicht lediglich, sondern überführt es in eine die Predigtarbeit orientierende Form: Für die Exegese weist er der Form des Narrativen eine besondere Bedeutung zu. Die Schrift bleibt als Offenbarungsmedium stets auf narrative Identifi kation verwiesen.214 Schon an dieser Stelle ist festzuhalten, dass unsere anhand von Iwands früher Vorlesung gewonnenen Beobachtungen zum Schrift verständnis über das hinausgreifen, was auf Basis seiner Meditationspraxis erörtert worden ist. Weder lässt sich die Auffassung aufrechterhalten, dass der starke Schriftbezug die Subjektivität von Prediger und Hörern aus dem homiletischen Akt verdrängt,215 noch reicht es aus, seine Schrifthermeneutik allein als Argument für die „unabdingbare Individualisierung“ der Predigtvorbereitung zu sehen.216 Im Kontext eines theologisch qualifizierten Erfahrungskonzeptes muss das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten als wechselseitiger Bildungsprozess aufgefasst werden, dessen Zielpunkt das eschatlogogische „Heute“ ist. Der Weg dahin ist flankiert von mehr oder weniger konkreten methodischen Hinweisen zur Gestaltung der Predigtarbeit. Eine Verbindungslinie von prinzipiell-homiletischen Bestimmungen hin zu Überlegungen zur Predigtgestalt und zur Predigtgestaltung lässt sich auch für den Aspekt des Weltbezuges in Iwands Homiletik namhaft machen.217 Unsere Erörterungen haben ergeben: Aus der Tatsache, dass der Begriff der „Welt“ negativ konnotiert ist, folgt nicht, dass er als Bestimmungsfaktor des individuellen Selbstverhältnisses wie der Predigtarbeit ausgeblendet wird.218 Vielmehr sind die Rezipienten der Predigt in ihrer welthaften Selbstbezogenheit konstitutiver Bezugspunkt des homiletischen Prozesses. Letzterer erhält von daher einen ungemein dramatischen und dynamischen Charakter: Das Wort Gottes behaftet den Hörer jeweils bei sich selbst und bringt ihn in Widerspruch zu sich selbst. Unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium bleibt ihm kein Raum zur neutralen Annäherung an die christologische Neubestimmung des Selbstverhältnisses. In Relation auf die Selbsttätigkeit liegen altes und neues Sein i.S. der Struktur des simul iustus et peccator untrennbar ineinander. Unter dieser Bestimmung wird die Hörergegenwart zum 214 215 216 217 218
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Vgl. Kapitel 3.3.2.2. Vgl. Einleitung 1.1.2.1. Vgl. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung, 244. Vgl. Kapitel 3.3.3. Vgl. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 55.
Austragungsort eines Konfliktes. Angesichts der Frage, welcher Perspektive die Hörer erlauben ihr Leben zu bestimmen, befinden sie sich in einer Situation des permanenten Wechsels zwischen Zweifel und Gewissheit. Nirgendwo anders wird dies greifbarer, als in der Existenz des Predigers, der in erster Linie selber Hörer ist. Die Predigtarbeit gestaltet sich für ihn als ein Weg, der in sich durch einen spannungsvollen Wechsel zwischen Anfechtung und Trost gekennzeichnet ist, und auf dem die gegenwärtige Heilsbedeutung des Textes in immer neuen Umbrüchen „vom Nichtverstehen zum Verstehen“ (19/448) realisiert werden muss. In einem angespannten Ringen oszilliert seine Rolle zwischen der des skeptischen Hörers, der den Text mit den in seiner Lebenswelt aufbrechenden Widerständen konfrontiert, und des vom Kerygma ergriffenen Boten, der inmitten der widersprüchlichen Erfahrungswirklichkeit Christus als Bestimmungsgrund letzterer entdeckt. Weil dies immer wieder gegen den Widerstand des alten Wirklichkeitsbewusstseins abgerungen werden muss, hat die Predigt für Iwand – im Unterschied etwa zur auf freie geistige Übereinkunft zielenden Rede – einen polemischen, kämpferischen Grundzug. Iwand charakterisiert ihre notwendige Struktur als die eines von uns aus nicht abschließbaren Weges. In einer dritten Annäherung an Iwands Homiletik haben wir sie unter dem Gesichtspunkt der Eschatologie bzw. der Ausrichtung der Hörer auf die Zukunft des Reiches Gottes thematisiert.219 Auch daraus ergaben sich uns Hinweise zur Predigtgestaltung: Das Ineinander einer engen Zentrierung der Hörer auf die je eigene Existenz und die Weitung ihres Blickes über den Horizont empirischer Welt- und Selbsterfahrung hinaus ist für seine Beschreibung des homiletischen Prozesses charakteristisch. Die Hörer werden angesprochen auf ihre Interimstellung zwischen Todes- und Auferstehungswirklichkeit. Iwand spitzt die Anschauung von der Äonenwende daraufhin zu, dass sie sich mitten durch das Selbstverständnis des Glaubenden hindurch vollzieht und diesen sich selber ungleichzeitig werden lässt. Die Grunderfahrung des Glaubens wird plastisch als eine Bewegung des sich selber Absterbens und in der Gegenwart Christi Auflebens. Für die Gestaltung des homiletischen Prozesses kommt in dieser Hinsicht der Grundstruktur des Perspektivenwechsels auf die wirkliche Welt eine spezifische Bedeutung zu. Aufgabe der Predigt ist es, die Hörer auf eine ihnen unverfügbare Zukunft auszurichten. In ihr kommt das, was augenscheinlich dem Tod preisgegeben ist, unter der Perspektive des Auferweckungshandelns Gottes neu zu Gesicht. Misst Iwand der Beerdigungsrede in seiner Vorlesung eine besondere Bedeutung als Bewährungsfall von Verkündigung zu, so formuliert er hinsichtlich des darin geltend zu machenden Perspektivenwechsels: „Wir wollen den Tod nicht ansehen an ihm selber, was er ist, sondern wir sollen ihn ansehen, wie er gefasst ist in Christus“ (114). Auch die Stellung, die er dem Gemeindebezug im homiletischen Prozess einräumt, ist im Kern durch das eschatologische Bewusstsein bestimmt. Die Gemeinde qualifiziert er als denjenigen Ort innerhalb der wirklichen Welt, 219 Vgl. Kapitel 3.3.4.
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wo der eschatologische Widerstreit zwischen Geist und Fleisch anhebt und sich die räumlich und zeitlich entgrenzte communio sanctorum zu verwirklichen beginnt. Im Blick auf den weiteren Gang unserer Untersuchung ist insgesamt festzuhalten, dass Iwand von den Grundlagen seiner Homiletik her zu einer Wahrnehmung der homiletischen Praxis gelangt, die zugleich Anhaltspunkte zur methodischen Gestaltung von Predigt gibt. Offensichtlich ist das Gefälle seiner Vorlesung vom „Grundsätzlichen zum Praktischen“ (1/419) durchaus so zu verstehen, dass seine prinzipiellen Erörterungen eine handlungsorientierende Funktion für den Predigtvollzug haben. Dies gilt für alle drei der hier dargestellten Relationen: Den Schriftbezug, den Weltbezug und die Ausrichtung auf das Eschaton. In Bezug auf alle diese Aspekte entwickelt Iwand Überlegungen dazu, welche Folgen sich daraus für die Predigtarbeit ergeben: Für die Schriftexegese weist er der Form des Narrativen eine besondere Bedeutung zu. Für deren Weltbezug reklamiert er eine Gestalt von Predigt als prinzipiell unabschließbarem Weg. Die eschatologische Dimension von Verkündigung kommt für ihn in einem neuen Sehen von der Auferstehungswirklichkeit her zum Tragen. Im weiteren Gang unserer Studie verfolgen wir die von Iwand in seiner Vorlesung gelegten Spuren weiter. Wir tun dies, indem wir die hier ausgearbeiteten Aspekte als Hypothesen zur Eruierung von in seiner eigenen Predigtgestaltung charakteristischen Verfahren zu Grunde legen. Iwands eigene Predigten sollen daraufhin analysiert werden, in welcher Weise in ihnen die Form des Narrativen zum Tragen kommt, inwiefern sie die Struktur eines prinzipiell unabschließbaren Weges aufweisen, und auf welche Weise er den perspektivischen Wechsel von der Todes- zur Auferstehungswirklichkeit rhetorisch gestaltet. Es soll anhand von Iwands Predigtpraxis untersucht werden, ob sich aus den punktuellen Gestaltungshinweisen in der Vorlesung rhetorische Strukturen ermitteln lassen, die seiner eigenen Predigt ein unverwechselbares Profi l verleihen.220
220 Vgl. die Kapitel 4–6 dieser Studie sowie unsere „Vorüberlegungen zur rhetorischen Analyse von Predigten Iwands.“
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Vorüberlegungen zur rhetorischen Analyse von Predigten Iwands Als leitenden Gesichtspunkt für die Analyse von Iwands eigener Predigtpraxis hatten wir in der Einleitung die Frage formuliert: Wie wirkt sich die Erwartung der Neukonstitution von Wirklichkeit durch das Wort Gottes in Iwands eigenen Predigten auf die Gestaltung der Rezeptionsbeziehungen zwischen Prediger, Predigttext und Hören aus?221 Vor der Durchführung dieser Untersuchung soll noch einmal eine Grund legende Besinnung auf unseren Interpretationsstandpunkt und die Art unseres Vorgehens erfolgen: Methodisch setzen wir bei unserer Arbeit die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Rhetorik und Theologie voraus, die sich innerhalb der letzten dreißig Jahre durchgesetzt hat.222 Im Zuge dieser Entwicklung gelangte man zur positiven Rezeption eines von überkommenen Vorurteilen befreiten Verständnisses der Rhetorik,223 die sich gegenüber zu vermittelnden Redeinhalten keineswegs indifferent zeigt, sondern vielmehr von einer „unauflöslichen Wechselwirkung“ zwischen Form und Inhalt ausgeht. Sie setzt voraus, dass „jeder Inhalt immer schon in einer bestimmten Sprachform vorliegt und stets einer bestimmten Sprachform bedarf, um als Inhalt zu wirken.“224 In diesen Bestimmungen ist die Möglichkeit und Notwendigkeit, die Predigt als eine spezifische Form der Rede mit einer ihr eigenen poetischen Dimension wahrzunehmen und zu analysieren, bereits angelegt.225 Parallel zur Neubestimmung des Verhältnisses zur Rhetorik hat sich dementsprechend die Predigtanalyse verstärkt zu einem eigenständigen Arbeitsfeld herauskristallisiert.226 Auf dieser Linie sollen auch in unserer Arbeit Predigten ihrer rhetorischen Gestalt nach analysiert werden. Angesichts unseres Forschungsinteresses, den Zusammenhang von Iwands prinzipieller und praktischer Homiletik herauszuarbeiten, ist diese Aufgabe zu spezifizieren: Im Ausblick des letzten Kapitels haben wir gesagt, dass wir Iwands homiletische Praxis entlang der von ihm selber gegebenen Hinweise untersuchen wollen.227 Dahinter steht die Erwar221 Vgl. 1.2. 222 Vgl. dazu die Arbeiten von Erne, Thomas, Rhetorik und Religion; Grözinger, Albrecht, Die Sprache des Menschen; Grünberg, Wolfgang, Homiletik und Rhetorik; Josuttis, Manfred, Rhetorik und Theologie; Otto, Gert, Predigt als Rede; ders., Predigt als rhetorische Aufgabe; ders., Rhetorische Predigtlehre. 223 Vgl dazu die Arbeiten von Jens, Walter, Von deutscher Rede; ders., Die christliche Predigt; ders. (Hg.), Theologie und Literatur; Knape, Joachim, Was ist Rhetorik?; Oesterreich, Peter L., Fundamentalrhetorik; Plett, Heinrich F., Von deutscher Rhetorik; Schlüter, Hermann, Grundkurs der Rhetorik; Ueding, Gert, Moderne Rhetorik. 224 Grözinger, Albrecht, Die Sprache des Menschen, 75f. 225 Vgl. Otto, Götz, Predigt als Rede, 53ff. 226 Eine gute Literaturübersicht bietet die von Jan Hermelink erstellte „Bibliographie zur Predigtanalyse seit 1945“, in der die Fülle von unterschiedlichen Analyseansätzen untergliedert werden nach psychologischen, kommunikationstheoretischen, linguistischen, rhetorischen und kombinatorischen Methoden; vgl. Bohren, R./Jörns, K.-P., Die Predigtanalyse als Weg, 179–186. In ähnlicher Weise versucht Wilfried Engemann sechs unterschiedliche Ansätze zur Predigtanalyse zu profi lieren, betont dabei aber zugleich, dass ihre „systematische Erschließung, insbesondere ihre Überführung in eine wirkliche Methodenlehre,“ noch aussteht; ders., Einführung, 422–448. 227 Vgl. Kapitel 3.4.
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tung, dass den in der Homiletik-Vorlesung analysierten Anweisungen zur Predigtgestaltung rhetorische Verfahren zu Grunde liegen, die sich genauer bestimmen und an Iwands Predigtpraxis verifizieren lassen. Diese Hypothese prägt den Aufbau der folgenden Kapitel: Am Beginn eines jeden Kapitels gehen wir von Gestaltungsmaximen der homiletischen Vorlesungen aus und ziehen bisweilen weitere theoretische Äußerungen Iwands heran, um das sich abzeichnende Konzept auf eine breitere Grundlage zu stellen. In einem zweiten Schritt verknüpfen wir die Auslassungen Iwands mit Reflexionsperspektiven gegenwärtiger, rhetorisch orientierter Predigtforschung. Aus dieser Verknüpfung ergibt sich jeweils die predigtanalytische Fragestellung der dann im dritten Schritt durchzuführenden Analysen. Für die weitere Gliederung unserer Studie ergibt sich daraus folgende Struktur: – Im 4. Kapitel soll der Schriftgebrauch in Iwands Predigten unter dem für ihn zentralen narratologischen Gesichtspunkt und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Verhältnis von Schrift und Dogmatik in der Predigt untersucht werden. Es steht unter der Überschrift: „Predigt als involvierende Erzählung“. – Im 5. Kapitel soll es darum gehen, das Verhältnis von Wort und Welt im Blick auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Dynamik des Predigtaufbaus und die eigentümliche Gestaltung der Kommunikation mit den Hörern zu untersuchen. Es steht unter der Überschrift: „Predigt als Kampfgeschehen“. – Im 6. Kapitel untersuchen wir, wie die eschatologische Dimension der Predigt im Kontrast zwischen Todes- und Auferstehungswirklichkeit als perspektivischer Wechsel gestaltet wird. Es steht unter der Überschrift: „Predigt als eschatologisches Ereignis zwischen Tod und Auferstehung“. Vor dem Beginn unserer Analysen geben wir noch einige Hinweise zu deren Art und zu unserer Auswahl der zu analysierenden Predigten: In den folgenden drei Kapiteln analysieren wir insgesamt sechs Predigten Iwands. Nummeriert und abgedruckt sind sie im Anhang zu dieser Studie.228 Sie entstammen allesamt dem Fundus der im dritten Band von Iwands 228 Unsere Analysen basieren auf einer genauen Wahrnehmung einzelner Predigten in literarischer Gestalt. Wir meinen, dass es für Leserinnen und Leser Gewinn bringend ist, sich die Predigten zunächst unvoreingenommen von unserer Interpretation anzueignen und empfehlen entsprechend deren Vorablektüre. Für den Nachvollzug unserer Analysen ist es hilfreich, Inhalt und Gedankengang der jeweiligen Predigt vor Augen zu haben. Aus diesem Grund haben wir die sechs in Gänze analysierten Predigten im Anhang zu dieser Studie abgedruckt, nummeriert und mit einer Zeilenzählung versehen. An dieser Stelle geben wir die Predigten in der von uns aufgestellten Nummerierung zusammen mit ihrem ursprünglichen Fundort in Iwands Nachgelassenen Werken an: Predigt 1 über Apg 4,11–12 = NW III, 29–44; Predigt 2 über Mt 12,43–45 = NW III, 195–205; Predigt 3 über Gal 5,25–6,10 = NW III, 271–277; Predigt 4 über Gal 2,15–21 = NW III, 245–256; Predigt 5 über Ez 37,1–14 = NW III, 108–113; Predigt 6 über Ps 51,12–13 = NW III, 299–303. Die Stellenangaben in unserem Haupttext beziehen sich im Folgenden auf die jeweilige Predigt sowie deren fortlaufende Zeilennummerierung (Beispiel: P 1,25–28 = Predigt 1 über Apg 4,11–12, die Zeilen 25–28).
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Nachgelassenen Werken veröffentlichten Predigten. Zur Auswahl gerade dieser Predigten aus einem Predigtnachlass, dessen Zugänglichkeit mit der Veröffentlichung eines weiteren Predigtbandes noch verbreitert worden ist,229 ist Folgendes zu sagen: Grundsätzlich haben wir uns dafür entschieden, einzelne Predigten als Ganze, d.h. über ihre gesamte Länge hinweg zu analysieren. Dieses Verfahren hat sich uns im Verlauf unserer Arbeit als sachgemäß herausgestellt. Erst auf diese Weise eröffnet sich der Blick für die spezifische Dynamik von Iwands Predigten, sei es hinsichtlich deren narrativer Struktur, deren Aufbau oder deren Bildmodulation. In der Analyse entlang von einzelnen Predigten lassen sich Entwicklungslinien und Brüche nachvollziehen, die im Falle einer quantitativ orientierten Auswertung verborgen bleiben.230 Diese Grundsatzentscheidung hat uns dazu genötigt, aus Iwands vergleichsweise großem Predigtnachlass einige wenige Exemplare auszuwählen. Maßgeblich dafür waren die in den einzelnen Kapiteln leitenden, predigtanalytischen Fragestellungen. M.a.W.: Bei der Auswahl der analysierten Predigten haben wir uns von rhetorischen Gesichtspunkten leiten lassen. Geht es uns darum den Zusammenhang zwischen inhaltlich-theologischen Bestimmungen und einem entsprechenden Gestaltungsverfahren zu untersuchen, so haben wir dies in der Durchführung an solchen Predigten dargestellt, die uns exemplarisch dafür erschienen. Die den einzelnen Kapiteln paarweise zugeordneten Predigten eröffnen jeweils in herausragender Weise Zugang zu Iwands bibelhermeneutischem Konzept der involvierenden Erzählung,231 zur Dialektik des Predigtaufbaus als der eines prinzipiell unabschließbaren Weges232 und zur eschatologischen Bildmodulation.233 Insofern bilden sie das Grundgerüst des predigtanalytischen Teils unserer Studie. Gestützt werden diese exemplarischen Analysen durch den verallgemeinernden Ausblick auf andere Predigten, an denen sich vergleichbare Aspekte beobachten lassen.234 Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der sechs Predigten ist der Anspruch, einen exemplarischen Zugang zum predigtpraktischen Wirken Iwands in seinen verschiedenen Phasen zu eröffnen.235 Die ausgewählten Predigten umspannen den Zeitraum vom Kirchenkampf (Predigt 1 von 1935) bis kurz vor seinem Tod (Predigt 6 aus dem Juni 1959). Wichtiger noch als die zeitliche Spanne war uns, dass in den Predigten die phasenspezifische Verwicklung von 229 NW N. F. V. 230 In dem hier dargelegten Sinne plädiert auch Grözinger dafür, Predigten bei der Analyse als organische Einheiten zu behandeln; vgl. ders., Die Homiletik, 193: „Eine Predigt ist im Grunde nur als Ganze zu verstehen und zu würdigen.“ In praktisch-theologischen Dissertationen ist dieses Verfahren mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunktsetzungen wiederholt zur Anwendung gebracht worden. Zu nennen sind: Richter-Böhne, Andreas, Unbekannte Schuld; Quade, Andreas, Ostern in Bremen gepredigt; Landau, Rudolf, Die Nähe des Schöpfers; Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. 231 Vgl. die Kapitel 4 zu Grunde liegenden Predigten 1 und 2. 232 Vgl. die Kapitel 5 zu Grunde liegenden Predigten 3 und 4. 233 Vgl. die Kapitel 6 zu Grunde liegenden Predigten 5 und 6. 234 Vgl. etwa Kapitel 4.4; 5.4 und 6.2. 235 Vgl. Einleitung 1.1.3.3.
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Prediger und Hörern in zeitgeschichtliche und persönliche Umstände auf eine für den heutigen Interpreten noch rekonstruierbare Weise sichtbar wird. Vier der sechs Predigten weisen in diesem Sinne deutlich erkennbare Situationsbezüge auf: Vom Kirchenkampf (Predigt 1)236 über das Erleiden des Luftkrieges (Predigt 5)237 bis hin zur Depression über restaurative Tendenzen Nachkriegsdeutschlands (Predigt 2)238 und zur persönlichen Erschöpfung (Predigt 6).239 Darüber hinaus sind in drei der analysierten Predigten konkrete gemeindliche Anlässe greifbar: Predigt 1 beschließt eine Zusammenkunft der Bekennenden Kirche in Ostpreußen. Predigt 3 wurde Pfingsten 1943 in Dortmund kurz nach Zerstörung der Kirche gehalten. Predigt 2 hat die Amtseinführung der Presbyter in selbige Dortmunder Gemeinde im Jahre 1952 zum Anlass. Der Bezug auf diese Umstände und Ereignisse ist für unsere Analyse von erheblicher Bedeutung. Er eröffnet die Möglichkeit zu untersuchen, wie sich Iwands theologische Anschauungen in der Gestaltung der „homiletischen Situation“ auslegen und letztere ihrerseits in die Predigt Eingang findet. Im 6. Kapitel kommt dieser Fragestellung eine besonders exponierte Bedeutung zu. Eine Sonderstellung nehmen im Verhältnis zum zuletzt genannten Aspekt die im Kapitel 5 analysierten Predigten ein (Predigt 3 und 4). In diesem Kapitel arbeiten wir am stärksten ergozentrisch: Wir konzentrieren uns darauf, den inneren Zusammenhang zwischen Iwands dialektischer Anthropologie und einer den Predigtaufbau konturierenden, rhetorischen Bewegung herauszuarbeiten. Dementsprechend haben wir die zu analysierenden Predigten aus strukturellen Gründen und nicht um des Situationsbezuges willen ausgesucht.240 Abschließend noch ein grundsätzlicher Hinweis dazu, wie wir rhetorische Verfahren aus der gegenwärtigen Predigtforschung unserem Untersuchungsgegenstand akkommodieren: Im Verlauf unserer Arbeit hat es sich als notwendig erwiesen, die aus der jüngeren homiletischen Forschung übernommenen Methoden nicht statisch anzuwenden, sondern sie am Untersuchungsgegenstand auszuprobieren und sie daran gemäß der sich aus dessen Charakteristik ergebenden Bestimmungen anzugleichen.
236 237 238 239 240
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Vgl. Kapitel 4.4. Vgl. Kapitel 6.4.1. Vgl. Kapitel 4.4. Vgl. Kapitel 6.5.1. Vgl. Kapitel 5.4.
. Kapitel
Predigt als involvierende Erzählung . Ausgangspunkt In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie Iwand die Bestimmung der Schrift als homiletischer Schutzraum in seinen Predigten umsetzt. Wir knüpfen dabei an unsere Ausführungen zur Homiletik-Vorlesung an, in der Iwand mit seinen Hinweisen zur Predigtgestaltung bereits leitende Gesichtspunkte dazu vorgezeichnet hat:1 Angesichts des prekären Verhältnisses von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit bestimmte er dort die Schrift als denjenigen Ort, an welchem dem angefochtenen Prediger und den Hörern die befreiende Nähe Gottes zugänglich wird. Dabei kam es ihm darauf an, die Arbeit am Text nicht primär als „Hemmung oder Behinderung“ zu begreifen, sondern mit der Erwartung an ihn heranzutreten, dass das Wort Gottes für die gegenwärtige Situation wirkmächtig aus ihm vernehmbar wird.2 Iwands umfassender, auf die künftigen Prediger zielender homiletischer Imperativ lautete: „Lebe nur in der Schrift, dann wirst Du Gottes Wort predigen können.“3
Bei dem Versuch, diese Maxime zu spezifizieren zeigt sich allerdings, dass in ihr recht unterschiedliche Aspekte miteinander verknüpft sind, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Fordert er etwa einerseits die Priorität des Predigttextes ein, so warnt er andererseits davor, dass Predigt sich nicht im Nachsprechen des biblischen Textes erschöpfen dürfe.4 Anhand seiner Ausführungen lassen sich drei konstitutive Elemente für den homiletischen Umgang mit Schrift differenzieren: – Die Profi lierung der Schrift als homiletischer Schutzraum zielt zunächst auf eine gesteigerte Sensibilität für die strukturelle Eigenart des einzelnen Predigttextes, den es „in minutiöser Genauigkeit […] dar[zu]stellen und aus[zu]legen“ gilt.5 Das „Begehen der Topographie des Textes“6 in kleinen Schritten ist offensichtlich die Bedingung dafür, dass seine Wahrheit dem Prediger als Widerfahrnis entgegen kommt. Iwand sucht die Wahrnehmung 1 2 3 4 5 6
Vgl. dazu Kapitel 3.3.2. Homiletik, 65/494. Ebd., 32/465. Vgl. Kapitel 3.3.3.1. Homiletik, 79/503. Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 181.
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für die inneren Spannungen und Bewegungen des Textes in der Weise zu schärfen, dass eine analoge Erschließung der Wirklichkeit der Predigthörer und der in ihr auftretenden Konflikte möglich wird. Er tut dies vor allem in Abgrenzung zu einer rein historischen Betrachtungsweise. In der homiletischen Begegnung mit der Perikope sollen die Auslegungshorizonte so verschmelzen, dass die gegenwärtige Wirklichkeit jenem Geschehen gleichzeitig wird, wovon die Bibel berichtet.7 – Sodann zielen Iwands Anweisungen auf einen Umgang mit der Schrift, der sie in der Beschäftigung mit dem Einzeltext zugleich als Einheit wahrnimmt. Seine Kritik an einem bloßen Nachsprechen des Textes entzündet sich daran, dass die holistische Perspektive auf die Schrift dabei nicht mehr in den Blick kommt. Rhetorisch konstituiert Iwand die Einheit der Schrift dadurch, dass er sie im Gegenüber zur Welt als eine geschlossene Größe behandelt. Rechnet er einerseits damit, dass die in der Bibel zur Sprache kommenden Konflikte denen der gegenwärtigen Wirklichkeit der Hörer analog sind, so ist sie für ihn andererseits in einem exklusiven Sinne Medium der einen göttlichen Heilsoffenbarung, die sie in unterschiedlichen Erfahrungszusammenhängen zu Gesicht bringt. In ihrer Geschlossenheit soll sie zugleich dafür offen sein, das Wort Gottes als viva vox evangelii in der Predigt je neu zu Gehör zu bringen.8 – Als Zentrum der Schrifteinheit bestimmt Iwand schließlich eine Schrifthermeneutik, die das, wovon der einzelne Text redet, transparent macht für das in Jesus Christus realisierte Heilshandeln Gottes an den Menschen. Das Kriterium der Christusgemäßheit ist für Iwand die materiale Bestimmung, welches die Segmentierung der Schrift angesichts von deren Vielgestaltigkeit verhindert. Die Wertigkeit sämtlicher biblischer Zeugnisse ist letztlich einzig darin begründet, dass sie die Christusoffenbarung als ihre übergeordnete Dimension bezeugen. In diesem Sinne formuliert Iwand den Grundsatz: „Die Verkündigung, die Predigt ist […] die Kunst, das Zeugnis der Apostel und Propheten mit dem Leiden und Auferstehen Jesu Christi zur Deckung zu bringen. In dem Moment, wo mir das gelingt, gelingt mir die Predigt.“9
Unsere der Untersuchung von Iwands homiletischer Praxis zu Grunde liegende Fragestellung ist nun, ob es gelingt, an seinen Predigten ein rhetorisches Verfahren zu analysieren, das die drei Bestimmungen zueinander ins Verhältnis setzt. Welcher sprachlichen Gestaltungsmittel bedient er sich, um die Einheit der Schrift gegenüber der empirischen Erfahrungswirklichkeit zu profi lieren und sie doch zugleich wirkmächtig auf sie zu beziehen? 7 Vgl. Homiletik, 85/505: „Die Aufhebung der Zeiten, die Gleichzeitigkeit mit dem was dort geschieht, das ist die Aufgabe der Predigt.“ 8 In diesem Sinne formuliert er in seiner Vorlesung die These: „Die Schriftauslegung verdient den Namen der Predigt dann, wenn in ihr das ganze Heil Gottes verkündigt wird“; Homiletik, 62/492. 9 Ebd., 63/492.
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Bei der Suche nach einem solchen rhetorischen Verfahren gehen wir in drei Schritten vor: – Zunächst soll (4.2.) Iwand selber noch einmal daraufhin befragt werden, ob sich bei ihm näher gehende Hinweise zur Gestaltung des Schriftgebrauches finden. In diesem Reflexionsgang ist der Textbefund über die Bloestauer Homiletik auszuweiten auf Äußerungen aus anderen Kontexten, die in dieser Hinsicht eine Profi lierung ermöglichen. Dabei soll das Augenmerk vor allem auf solche Aussagen gerichtet werden, die eine Näherbestimmung des Verhältnisses zwischen den genannten rhetorischen Anweisungen und dem materialen Kriterium der Christusgemäßheit erlauben. Wir fragen, ob bei Iwand ein genuiner Zusammenhang zwischen der Qualifizierung des biblischen Textes als Offenbarungsmedium des gekreuzigten und auferstandenen Christus und der Forderung nach einem holistischen und zugleich an der Wahrnehmung des Einzelnen orientierten Umgang mit dem Predigttext erkennbar ist. – Sodann (4.3./4.4.) geht es uns darum, ausgehend von dem bei Iwand gewonnenen Befund ein konkretes Modell für die rhetorische Analyse von Predigten zu entwickeln. In ihm verbinden wir die Anschauungen Iwands mit Reflexionsperspektiven der jüngeren Homiletik. Es soll den gezielten und strukturierten Zugang auf Iwands eigene homiletische Praxis gewährleisten. – Zur Anwendung kommen (4.5./4.6.) soll dieses Modell insbesondere an zwei ausgewählten Predigten, die unter seiner Leitperspektive exemplarisch analysiert werden. Diese materielle Beschränkung hat den Vorteil, dass wir die Predigten in ihrer Entfaltung als Ganze wahrnehmen können.
. Weiterführende Hinweise zur Gestaltung des Schriftgebrauches bei Iwand .. Narrativität Einen wichtigen Hinweis auf die rhetorische Gestaltung des Schriftgebrauches stellt der Sachverhalt dar, dass Iwand in seiner Homiletik-Vorlesung unter der Bestimmung der Predigt als Kerygma der Form des Narrativen eine zentrale Bedeutung zumaß. Entfaltete er die Rolle des Predigers aus der Analogie zum Keryx als herrschaftlich autorisiertem Überbringer von Nachrichten, so sah er in der erzählenden Darbietung biblischer Ereigniszusammenhänge ein der Geschichtlichkeit der Offenbarung selber korrespondierendes Medium für die Homiletik.10 Diese Präferenz ist nicht lediglich unter ästhetischen Gesichtspunkten relevant, sondern bereits von prinzipiell-theologischer Bedeutung. 10 Vgl. Kapitel 3.3.2.2.
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Dies zeigt sich, wenn man beachtet, auf welche Weise sie mit den im 2. Kapitel unserer Studie erarbeiteten anthropologischen Grundlagen von Iwands Theologie korrespondiert: Die Grundstruktur menschlicher Selbstverschlossenheit unter der Sünde besteht darin, dass sich das autonom gebärdende Ich als wertende Subjektivität gegenüber allen von außen an es herantretenden Ansprüchen verschließt und die Nichtidentität geschichtlichen Lebens leugnet.11 Demgegenüber ist das durch das Hören auf das Wort konstituierte Ich des Glaubens ein in den Erzählzusammenhang biblischer Geschichten verstricktes. Im Spannungsfeld von Selbstzweifel und Glaubensgewissheit vermag es sich nicht als abstraktes cogito zu setzen, sondern bleibt auf narrative Identifikation verwiesen. Der biblische Traditionszusammenhang wird als konkretes Gegenüber gehandhabt, auf das hin es sich zu entwerfen gilt. .. Selbsterkenntnis durch Identifikation mit der Christusrolle Hängt die Gewichtung des Narrativen in Iwands Schrift verständnis aufs Engste mit seinem Verständnis von Offenbarung zusammen, so gelingt es, diese Funktion im Rekurs auf die im 2. Kapitel unserer Arbeit erörterte Entfaltung der Christologie als kritischer Basis von Anthropologie weiter zu spezifizieren. Dazu gilt es, sich die in Iwands späten Vorlesungen zur Christologie entwickelten Anschauungen nochmals zu vergegenwärtigen:12 Für die Personalität des Glaubens hatten wir herausgearbeitet, dass sie sich im Übergang vom auf sich selbst bezogenen empirischen zum sich aus der Verheißung empfangenden Ich konstituiert. Das Sein der Person bezeichnet in diesem Sinne kein unmittelbares Selbstverhältnis, sondern ein christologisch vermitteltes. Es lässt sich nicht nach seinem Für-sich-Sein von der Christusgemeinschaft isolieren. Sein Lebenselement ist vielmehr die von sich loslassende Ausrichtung auf Christus als den neuen Menschen, der er in den Seinen werden will.13 Analog dazu ergibt sich für das Gegenüber von Text und Hörern in der Predigt, dass ersterem die Funktion zukommt, als Ort der homiletischen Begegnung mit dem gegenwärtig wirkenden Christus die neue Identität des Glaubens zu stiften. Diese Bestimmung markiert eine gewichtige Differenz zu solchen homiletischen Konzepten, die den Text lediglich als sekundäres Medium der Darstellung religiösen Bewusstseins auffassen, das sich vom Verkündigungsgeschehen prinzipiell unabhängig ausbildet.14 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. Kapitel 2.3.3.3. 13 Vgl. NW N. F. II, 429: „Glauben heißt: […] den Unterschied dahinfallen lassen, der von Hause aus – nach meinem ‚Fleisch‘, also nach meiner natürlichen Existenz – zwischen mir und ihm besteht […]. In ihm begegnet mir mein vor Gott verlorenes und wiedergewonnenes Leben.“ 14 In diesem Sinne hatten wir Iwands Ansatz gegen die liberaltheologische Anschauung von Predigt als „Selbstmitteilung des Glaubens“ sowie gegen das barthsche Verständnis von Predigt als Zeugenschaft abgegrenzt; vgl. Kapitel 3.3.1.
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Wie stellt Iwand sich nun die Konstitution der Glaubenserfahrung als christologisch vermitteltes Selbstverhältnis vor? – Ein wichtiger Hinweis darauf findet sich in seiner Christologievorlesung vom Wintersemester 1958/59, in der er das Dasein Jesu Christi in der Welt und sein Verhältnis zu den Glaubenden mit den Worten schildert: „Es ist, wie wenn in einem Drama einer eine Rolle spielt – und wir sitzen dabei und erkennen uns darin selbst, aber jetzt nicht darin, was wir im einzelnen nach unseren Taten sind, sondern darin, was wir sind, weil wir Menschen sind: Sehet den Menschen (Ecce homo, Joh 19,5)! […] Was ist der Mensch? Wo ist die Grenze zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Tier? Hier in Jesus geht der Mensch, der Mensch im eigentlichen Sinn, über die Bühne unserer Welt, hier wird er Geschichte!“15
Die soteriologische Bedeutung Jesu Christi wird hier dahingehend spezifiziert, dass er – wie auf der raumzeitlich ausgegrenzten Bühne eines Theaters – die Rolle des Menschen vor Gott spielt. Die übrigen Menschen befinden sich ihm gegenüber in der Situation von Zuschauern. Bei diesem exklusiven Sinn der Christologie bleibt es allerdings nicht. In dem Maße, in dem sich der Glaube mit Christus identifiziert, erhält die Christusrolle vielmehr eine inklusive Funktion. Die Glaubenden gelangen zur Erkenntnis ihrer selbst in ihrem wahren Sein vor Gott. Was hat es mit der Verwendung dieses Analogons innerhalb der Christologie auf sich? – Iwand sucht hier zwei Momente miteinander zu verbinden, die s.E. für das rechte Verständnis der Heilsbedeutung Christi unabdingbar sind: Einerseits bestimmt er im Anschluss an Schleiermacher die Person Christi als Urbild des wahren Menschen, die das bei allen übrigen Menschen durch die Sünde verzerrte Gottesverhältnis lebt und zur Darstellung bringt.16 Andererseits will er die Geschichte Jesu Christi von Anfang an in einem inklusiven Sinne als das Innerste eines jeden Menschen betreffend verstanden wissen.17 Die Schwierigkeit dieser Doppelbestimmung liegt darin, dass die Urbildrelation zu Jesus als dem wahren Menschen von Iwands anthropologischen Voraussetzungen her nicht unmittelbar zugänglich ist. Der Vergleich mit Schleiermacher verdeutlicht dies: Denkt letzterer das Gottesbewusstsein als ein im Selbstverhältnis bereits mit gesetztes, das bei Jesus bis zur unsündlichen Vollkommenheit entwickelt ist, so ist das ursprüngliche Selbstverhältnis im Sinne Iwands als Für-sich-Sein des Menschen selber schon ein durch die Sünde korrumpiertes Sein. Die Urbildrelation wird nicht über die Einkehr bei sich selber erreicht und kann nicht in Anknüpfung an ein in jedem Menschen angelegtes Gottesbewusstsein entfaltet werden. Vielmehr ist die Anschauung des göttlichen Handelns in Kreuz und Auferstehung Anfang der Gottes- und 15 NW N. F. II, 260. 16 Vgl. ebd., 260. Zur Darstellung der Christologie Iwands unter diesem Gesichtspunkt vgl. auch Assel, Heinrich, „…für uns zur Sünde gemacht…“, 201f. 17 Vgl. NW N. F. II, 261: „Ich kann ihm nicht begegnen, ohne daß ich mir selbst – in meinem Inneren – begegne.“
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Selbsterkenntnis im Glauben.18 Zentrum der Christologie ist von daher der Gedanke, dass Jesus die Sünde des Menschen vor Gott trägt, aufdeckt und dem Sünder in fremder Gestalt vor Augen stellt.19 Dieser epistemischen Struktur entspricht die dramatische Bestimmung des Heilswirkens Jesu Christi als in einem exklusiven und inklusiven Sinne die Rolle des Menschen vor Gott spielend: Um mich selbst zu erkennen, muss ich ins Gegenüber zu mir selbst gestellt werden. Ich bedarf einer Darstellung meines Lebens, in der ich mich von außen sehe, mich selbst darin erkenne und dabei doch zugleich in Distanz zu mir trete. Indem ich mich mit der Christusrolle identifiziere, ergreife ich ein neues Selbstverständnis und erkenne das mir bisher Selbstverständliche als von Gott entfremdetes Sein. Der damit vollzogene epistemische Übergang stellt eine Umwertung der bisherigen Welt- und Selbstanschauung dar. .. Die Gestaltung des christologisch vermittelten Selbstverhältnisses als szenische Vergegenwärtigung der im biblischen Text angelegten Rollen Die im letzten Abschnitt herausgearbeitete Struktur der Selbsterkenntnis durch Identifi kation mit der Christusrolle ist für Iwands Umgang mit der Schrift insofern bedeutungsvoll, als darin – so lautet unsere Hypothese – seine homiletische Präferenz für die Narrativität bereits angelegt ist20 und sie umgekehrt der narrativen Identifi kation ein spezifisches Gepräge gibt. Einen wichtigen Hinweis dazu bietet ein Abschnitt aus einem Vortrag, den Iwand 1936 unter dem Titel „Die heilige Schrift als Zeugnis des lebendigen Gottes“ gehalten hat.21 Von der Welt der Bibel heißt es dort: „Da treten dieselben Figuren auf, Reiche und Arme, Könige und Kärrner, die Priester in ihrer Sicherheit und Tempelgläubigkeit; da gibt es Kriegs- und Friedenszeiten, häusliche Szenen und hochpolitische Affären, da gibt es himmelstürmende und himmelschreiende Gottlosigkeit; da spielt die Geschichte des Reiches Gottes bald bei den armen Fischern am See Genezareth, bald in dem stillen Frieden von Bethanien, bald wieder vor Schriftgelehrten und Hohepriestern, vor Gewaltherrschern und unter dem Schatten des Imperium Romanum. Gewiß, all diese Geschichten und Geschehnisse sind nur ein Ausschnitt aus unserer Welt, räumlich und zeitlich sehr begrenzt, relativ, heute in vielem so nicht mehr denkbar, uns, dem Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts fremd geworden. […] Genug, daß es ein Stück unserer Welt ist, von unserem Fleisch und Blut, aber ein Stück Welt eingetaucht in das Licht der Gegenwart Gottes. Alles, was in der übrigen Welt verborgen oder zukünftig ist, das bricht hier schon herein, liegt am Tage. Dieses Stück Welt, dies herausgeschnittene, ausgewählte Volk, diese Zeit, dies zum Paradigma 18 Vgl. Assel, Heinrich, „…für uns zur Sünde gemacht…“, 201. 19 Vgl. ebd., 204. 20 In diesem Sinne deutet Heinrich Assel innerhalb seiner Darstellung von Iwands Christologie bereits an, dass als Konsequenz aus ihr „Jesus Christus als ‚Parabel Gottes‘ zu erzählen und zu verkündigen ist“; ebd., 204. 21 Vgl. GA I, 110–124.
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erhobene Geschehen steht heute schon unter Gericht und Gnade, hier berührt die Tangente der Ewigkeit heute schon den Weltkreis, hier begegnen sich der erste und der letzte Mensch, hier stehen Fall und Auferstehung als Woher und Wohin des Menschen schlechthin vor uns.“22
Iwand behandelt hier die Schrift als Ort der Gottesoffenbarung und wendet auf sie das Bild von der Bühne an, auf der bestimmte Figuren auftreten. Gegenüber der übrigen Welt zeichnet sie sich durch die dreifache Einheit des Raumes, der Zeit und der Handlung aus. Die in ihr berichteten „Geschichten und Geschehnisse“ zeigen die Figuren in einer Interaktion, in der Konfliktfelder, Bewältigungsstrategien und Einstellungen, die den Lesern aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit vertraut sind, auf eigentümliche Weise durchkreuzt werden. Das dramatische Element der biblischen Welt besteht darin, dass deren Akteure in das „Licht der Gegenwart Gottes“ gestellt werden und in ihr „die Tangente der Ewigkeit heute schon den Weltkreis“ berührt. Was Iwand für das Christusgeschehen im Besonderen geltend macht, dass es die „der übrigen Welt“ verborgene Bestimmung des Menschen zur Darstellung bringt, „zum Paradigma“ erhebt und auf diese Weise das „Woher und Wohin des Menschen schlechthin vor uns“ stellt, wird hier bis in die einzelnen Züge hinein auf das Ganze der Schrift als Ort der göttlichen Offenbarung übertragen. Die inklusive Funktionsbestimmung der Christusrolle prägt Iwands Schrifthermeneutik offensichtlich in einer spezifischen Weise. Was er in seinem Vortrag tut ist, dass er die in biblischen Texten angelegten Rollen szenisch vergegenwärtigt, indem er sie ihrer Relation zur christologisch bestimmten Offenbarung und zur Wirklichkeitserfahrung der Leser nach transparent macht. In diesem Sinne hebt er auf die eigentümliche Dualität ab, welche die „Menschen der Bibel“ im Verhältnis zu sich selbst und ihrer Umwelt aufweisen: Einerseits „gehen [sie] mit ihren Volksgenossen durch ein und dieselbe Zeit, durch denselben Tag, durch dieselben Stunden der Freude, des Glücks, der Trübsal, der Angst, durch dieselbe Welt der großen Politik und des kleinen Alltags […].“23 Andererseits sind sie gezeichnet durch den Einbruch der Offenbarung und deren Aufdeckung der Bestimmung des Menschseins coram Deo: „Sie müssen in der Gottesgegenwart leben als Sehende, Wissende, Erkennende, darum als die Erschrockenen, Leidenden, Mühseligen und Beladenen.“24
Iwands für die Verkündigung erhobene Forderung, dass sie die Kunst sei, „das Zeugnis der Apostel und Propheten mit dem Leiden und Auferstehen Jesu Christi zur Deckung zu bringen“,25 löst er hier mittels des szenischen Umgangs mit der Schrift ein. Den im Text angelegten Rollen kommt eine Mittlerfunktion zwischen der konventionellen Erfahrungswirklichkeit und der neuen Sicht des Glaubens zu, welche die in ersterer vorherrschenden Einstellungen als von Gott entfremdetes Sein aufdeckt. 22 23 24 25
Ebd., 118. Ebd., 117. Ebd. Homiletik, 63/492.
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Erfahrungstheoretisch lässt sich das von Iwand praktizierte hermeneutische Verfahren mit Hilfe von Überlegungen des schwedischen Religionspsychologen Hjalmar Sundén beschreiben: Sundén leistet in seinem Ansatz eine Präzisierung unseres bisher eher unspezifisch, im Anschluss an Iwands eigene Terminologie gebrauchten Begriffes der Rolle. Unter Aufnahme von Einsichten der Sozialpsychologie bestimmt er in seinem 1966 auf Deutsch erschienen Hauptwerk eine Rolle als „ ‚[…] Totalsumme der Kulturmuster […]‘ die mit einem bestimmten Status verbunden sind‘ “.26 Entscheidend für ihn ist, dass Rollen in diesem Sinne nicht lediglich als Verhaltensmuster, sondern „auch gleichzeitig [als] Referenzrahmen für Wahrnehmungen“ zu verstehen sind.27 Diese Erweiterung des üblichen Rollenbegriffes ermöglicht es ihm, religiöse Traditionen als Rollensysteme zu begreifen, und zu beschreiben, wie sich religiöse Erfahrung mit Hilfe der Übernahme einer Rolle aufbaut. Eine Gotteserfahrung ist unter dieser Bestimmung nicht lediglich im Sinne eines unmittelbaren affiziert Werdens zu verstehen. Vielmehr setzt sie die Identifikation mit einer bestimmten Rolle aus dem Rollen-Ensemble der Bibel voraus, gemäß derer sich das Wahrnehmungsfeld strukturiert. Der Glaubende nimmt sich selber dann in einer bestimmten Weise wahr und erfährt Gott in einer bestimmten Weise – beides ist durch die übernommene Rolle vorgegeben.28 Ist von den dargestellten Erörterungen Iwands zum Umgang mit der Schrift her leicht einzusehen, dass letzterer auf eine Rollenidentifi kation im Sinne des Modells von Sundén zielt, so lässt sich dieser Sachverhalt auf eine i.W. in drei Bereichen konvergierende Bestimmung der Glaubenserfahrung bei beiden zurückführen: (1.) Iwands Voraussetzung, dass die Anschauung des göttlichen Handelns in Kreuz und Auferstehung Anfang der Gottes- und Selbsterkenntnis im Glauben ist, kommt mit der Auffassung Sundéns überein, dass religiöse Erlebnisse „ohne religiöse[s] Referenzsystem, ohne religiöse Tradition, ohne Mythus und Ritus undenkbar“ sind.29 (2.) Für Sundén ebenso wie für Iwand handelt es sich bei der religiösen Erfahrung zentral um ein Interaktionsgeschehen zwischen dem Menschen und einem transzendenten Partner. Gott ist im religiösen Bewusstsein nicht lediglich i.S. des Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit (Schleiermacher) mitgesetzt, sondern tritt zu dem religiös wahrnehmenden Menschen als sprechendes und handelndes Gegenüber in Kontakt.30 (3.) Ist für Iwand die Erfahrung des Glaubens unter den Bedingungen 26 Ders., Die Religion, 7. 27 Sundén, Hjalmar, Die Religion, 10. 28 Vgl. ebd., 29: „Identifi ziert sich ein Mensch mit einer menschlichen Gestalt der biblischen Tradition, sagen wir, daß er deren Rolle übernimmt; aber in demselben Augenblicke nimmt er die Rolle Gottes auf, das heißt, er kann kraft der biblischen Erzählung Gottes Handeln antizipieren und kann alles kommende Geschehen in seinem eigenen Leben als das Handeln Gottes wahrnehmen.“ In diesem Sinne arbeitet Sundén an den Zeugnissen von der Bekehrung James Naylers heraus, wie die durch die biblische Tradition vermittelte Gottesrolle zu einem Grund legenden Referenzrahmen für die Bearbeitung seiner Erlebniswelt wird; vgl. ebd., 17. In ähnlicher Weise zeigt er für die Bekehrung Augustins, wie das Wort Gottes vermittels des biblischen Rollensystems in seine Persönlichkeit eindringt; vgl. ebd., 24. 29 Ebd., 27. 30 Vgl. Sundén, Hjalmar, Religionspsychologie, 46: „Die Religion ist eine Beziehung des Dialogs mit dem Dasein als Totalität.“
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fleischlicher Existenz durch einen permanenten perspektivischen Wechsel zwischen Anfechtung und Gewissheit, auf sich selbst bezogener und christologisch vermittelter Wirklichkeitswahrnehmung bestimmt, so sucht Sundén diese Differenzerfahrung durch Integration eines Phasenwechsels zwischen religiöser und nichtreligiöser Wahrnehmung seinem Konzept zu integrieren.31 Aus dem Nebeneinander dieser beiden Bereiche erwächst für das Konzept der Rollenidentifi kation – wie wir es für Iwand angedeutet haben – die spezifische Vermittlungsaufgabe. Von den hier angeführten Beobachtungen her formulieren wir die Hypothese, dass sich aus ihnen ein Verfahren für die rhetorische Gestaltung des homiletischen Schriftgebrauches als szenische Vergegenwärtigung biblischer Geschichte(n) ergibt. In ihm kommt dem Konzept der Übernahme der Rollen des Textes eine zentrale Bedeutung zu. Zugleich werden darin die eingangs genannten drei Komponenten (Wahrnehmung des einzelnen Textes, Einheit der Schrift, christologische Schrifthermeneutik) miteinander verbunden.
. Das Modell: Die narrative Perspektive auf die biblische Welt und deren szenische Vergegenwärtigung Um Iwands Predigten auf ein solches rhetorisches Verfahren hin zu untersuchen, soll hier zunächst ein Analysemodell entworfen werden. Dazu ist es notwendig, nach einem Konzept zu suchen, das den mit Hilfe von religionspsychologischen Kategorien dargestellten Prozess der Identifi kation mit Rollen biblischer Erzählung auf die literarische Ebene einzugrenzen vermag. Sind uns die Predigten Iwands lediglich in literarischer Form zugänglich, so muss sich unsere Nachfrage darauf beschränken, wie der Prediger die biblischen Rollen in seinem Manuskript zur Darstellung bringt und seinen Hörern vermittelt. Gegenstand unserer Untersuchung ist nicht eine lebensgeschichtliche Inszenierung (wie etwa für Sundén die Bekehrungsgeschichte James Naylers), sondern der Text einer Predigt. Dieser Umstand nötigt uns dazu, auf ein literaturwissenschaftliches Modell zurückzugreifen, das den Prozess der Rollenidentifi kation und der über sie verlaufenden Vermittlung von Einstellungen auf der Ebene des Textes transparent macht. (a) Methodisch steht uns dabei das in der Erzähltextanalyse entwickelte und in der jüngeren Homiletik bereits rezipierte Aktantenmodell zur Verfügung.32 Unsere Darstellung dieses Analysemodells wird zeigen, dass in ihm 31 Vgl. ebd., 42f: „Den Gegensatz zwischen religiöser und nicht-religiöser Erlebnisweise dürft e es in allen Zeiten gegeben haben. Wir müssen uns schlicht fragen, ob man nicht immer mit einem Phasenwechsel zwischen intentionalem Erleben und dem Erleben eines mechanischen Geschehens rechnen mußte, zwischen der Haltung des Gebetes und der des praktischen Handelns. […] Ebenso wie es einen Wechsel gibt zwischen Zeit und ‚Hochzeit‘, zwischen Alltag und Fest, so wechselt das Erleben des Menschen von einer profanen Phase zu einer religiösen und von einer religiösen zu einer profanen.“ 32 Aufgenommen wurde dieses in seiner Handhabung recht komplexe Modell zuerst von Ottmar Fuchs; vgl. ders., Sprechen in Gegensätzen, bes. die Seiten 75–121; Narrativität und Widerspenstigkeit, 87–123; Wohl Euch, ihr Armen, 88ff. Wir beschränken uns in unserer Adaption lediglich auf sein Grundschema.
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jenem Sachverhalt, den wir mit dem Begriff der Rolle indiziert haben, der Begriff des Aktanten strukturell entspricht. Was ist das Erkenntnisziel dieses Verfahrens? – Das Modell geht davon aus, dass Erzähltexte einen persuasiven Sinn enthalten, und untersucht, wie Wertvorstellungen über sie vermittelt werden. Dies geschieht, indem die Struktur einer Geschichte von deren Aktanten her rekonstruiert wird. Aktanten sind zunächst handelnde Instanzen in einer Erzählung, die in ihr ein Ereignis erleben oder verursachen. Um den Zusammenhang zwischen den in der Geschichte auftretenden Figuren und den persuasiven Absichten des Erzählers zu eruieren, hat der französische Narratologe Algirdas Julien Greimas die Unterscheidung zwischen Aktanten des Aussagevorgangs, die dem Diskurs äußerlich sind (= der Erzähler und die Rezipienten der Erzählung), und Aktanten der Aussage, die in einem Diskurs selbst anzutreffenden sind (= die in einer Erzählung auftretenden Figuren), eingeführt.33 Nach dieser Unterscheidung hat es mit den Handlungs- und Kommunikationsbeziehungen innerhalb einer Erzählung folgendes auf sich: Ein Erzähler formuliert einen Text im Blick auf einen Rezipienten, der in sich selber eine entworfene Autorenrolle (Adressant) und eine Rezipientenrolle (Adressat) enthält. „So führt jeder konnotative Text ein ‚Theater‘ seiner Wahl auf: In den Sätzen und Absätzen werden Kommunikationssituationen ‚aufgeführt‘, in denen Wörter als Akteure ihre Rollen in einem semantischen Spiel zu übernehmen haben, das auf ein gewertetes Objekt […] hin inszeniert wird.“34 Der Leser soll dadurch veranlasst werden, sich in die textinterne Adressatenrolle einzufinden und die ihm dort angebotenen Wertungen des Objekts zu übernehmen. (b) Wendet man dieses Modell auf die Predigt an, so ist das Spezifische ihrer Gattung darin zu sehen, dass sie nicht in erster Linie eine freie Erzählung sein will, sondern den in Gestalt des Predigttextes vorgegebenen biblischen Traditionszusammenhang mit den ihm eignenden Wertungen zu vermitteln beansprucht. Im Unterschied zum auktorialen Erzähler ist der Prediger nicht primär Schöpfer, sondern in sehr viel höherem Maße Nacherzähler eines Textes bzw. Vermittler einer Botschaft, an deren Ausrichtung er durch seine Funktion als Prediger gebunden ist.35 Wilfried Engemann hat für diesen Sachverhalt den Begriff der „Kooperation zwischen Text und Prediger“ geprägt und ihn folgendermaßen umschrieben:
33 Vgl. dazu Greimas, Algirdas Julien, Strukturale Semantik. 34 Fuchs, Ottmar, Sprechen in Gegensätzen, 80. 35 Besonders plastisch wird diese homiletische Funktion in dem jüngst von Albrecht Grözinger geprägten Begriff vom „Amt der Erinnerung“, das Pfarrerinnen und Pfarrer wahrzunehmen haben; ders., Die Kirche, 134. Dass für Iwand von seiner theologischen Voraussetzung der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes her die Leitfunktion der biblischen Tradition besonders ausgeprägt ist, ist zu erwarten. In diesem Sinne fordert er in seinen Predigtmeditationen, dass der Text „die missio zur Verkündigung von sich ausgehen lassen“ müsse; NW III, 11. In den Predigten selber begegnen wiederholt Formulierungen, in denen er die Bibel als Aktant des Aussagevorgangs veranschlagt, wie: „Verstehen wir, was die Schrift uns sagen will?“ (NW III, 37), „[…] wie die Bibel sagt […]“ (NW III, 202) oder: „Darum mahnt uns die Heilige Schrift immer wieder, […]“ (NW III, 204).
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„[…] im Prozeß der Rezeption eines Textes trifft der Leser [= in diesem Falle der Prediger bei der Predigtgestaltung, Anm. N.S.] auf verschiedene Instanzen der Begleitung, mit deren Hilfe er sich die im Text dargestellte, erzählte oder fi ktive Welt erschließen, Zeuge von Gesprächen werden und Ereignisse beobachten kann. Dies setzt voraus, dass der Leser bereit ist, im Zuge der Textlektüre auch das vom Text geforderte ‚Leseverhalten‘ an den Tag zu legen […]. So wie der Autor im Text unterschiedliche Rollen wahrnimmt, werden auch vom Leser und Interpreten unterschiedliche Rollen erwartet.“36
Für unsere Analyse von Iwands Predigten ist die Wahrnehmung des biblischen Textes als gegenüber dem Prediger eigenes Referenzsystem Grund legend. Sie erlaubt die Unterscheidung und Zusammenschau von Bibeltext und dem, was in seiner szenischen Umsetzung daraus wird. Ausgehend von dieser Verhältnisbestimmung lässt sich ermitteln, wie der Prediger sich bei dem Inszenierungsverfahren dem Text aussetzt, seine Rollen aufnimmt und sie auf sich und seine Gemeinde überträgt. Unter der Überschrift „Predigt als involvierende Erzählung“ soll nun analysiert werden, inwiefern die in der Inszenierung der biblischen Welt zum Tragen kommenden Interaktionsmuster die rhetorische Gestaltung des Verhältnisses zwischen Prediger und Gemeinde, bzw. der Gemeinde zu ihrer Lebenswelt prägen. Die Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Aktanten der Aussage und des Aussagevorgangs in der homiletischen Präsentation eines Predigtextes ermöglicht es zu zeigen, wie weit die Wertungen des Textes auch dort bestimmend sind, wo die narrative Darstellungsweise im engeren Sinne verlassen wird.
. Die narratologische Perspektive in den Predigten Iwands Treten wir von diesen methodischen Überlegungen her an das Predigtwerk Iwands heran, dann fällt zunächst auf, dass die Einführung des Predigttextes häufig verbunden ist mit einer Situationsschilderung hinsichtlich des Geschickes oder des Verhaltens der hinter dem Text stehenden oder in ihm auftretenden Aktanten, die damit zu Aktanten der Aussage werden. Bei diesen kann es sich um Figuren oder Sprecher innerhalb einer Erzählung, oder aber um den Autor selber in seiner ursprünglichen Korrespondenzsituation handeln: 1. In diesem Sinne beginnt eine Predigt über Hi 1f damit, dass die Hauptfigur nochmals vorgestellt wird: „Das Buch Hiob behandelt die Geschichte eines Mannes, von dem es heißt, […].“37
Was dann folgt ist im Grunde nichts anderes als eine breit angelegte Nacherzählung der biblischen Geschichte, in der das Ergehen des Hiob in seiner Verflochtenheit mit der himmlischen Streitszene geschildert wird. Der 36 Ders., Einführung, 263. 37 NW III, 115.
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inneren Dramaturgie der Erzählung folgend38 setzt der Prediger eigene Akzente lediglich dadurch, dass er die Textvorlage amplifiziert, indem er Motive und Verhaltensmuster der handelnden Figuren beleuchtet, kommentiert und typisiert.39 Das Geschick Hiobs wird den Hörern bisweilen dadurch nahe gebracht, dass Phänomene aus ihrer Erfahrungswelt in die Hiobrolle hinein projiziert werden.40 2. Eine Predigt über Apg 4,11f, den Schlussversen einer der Petrusreden in der Apostelgeschichte (vgl. Apg 4,8), beginnt damit, dass der Prediger auf den narrativen Erzählzusammenhang von Apg 3f zurückgeht und die dort auftretende Konfliktsituation, die Anlass der Rede ist, schildert: „Das Wort, das wir eben gehört haben, ist das Schlußwort der Verteidigungsrede, die Petrus und Johannes vor dem Rat der Juden hielten. Freilich, eine Verteidigungsrede eigener Art.“41
Die anschauliche Schilderung des Konfliktes, der Umstände, die dazu führten, sowie der daran beteiligten Gruppen und Figuren bestimmt dann im Folgenden die innere Dramatik der Predigt, während der Predigttext seinem Wortlaut nach kaum noch traktiert wird. 3. In eine Predigt über 2Kor 6,1–10 steigt der Prediger mit einer Beobachtung zu der besonderen, persönlichen Redeweise, in der Paulus hier die Korrespondenz mit seiner korinthischen Gemeinde gestaltet, ein,42 um die Gründe dafür im Rückgang auf die eigentümliche Korrespondenzsituation zu suchen: „Warum mag er das wohl tun? Warum tut er das gerade hier, gerade Menschen gegenüber, die ihn nicht verstehen und gar nicht verstehen wollen […]. Es kann unser
38 Nach der Vorstellung Hiobs (Hi 1,1–5//NW III, 115f) folgt ein vierfacher Szenenwechsel in die himmlische Gesprächsszene (Hi 1,6–12//NW III, 116f), zurück zum Ergehen Hiobs unter den Anfeindungen des Satans (Hi 1,13–22//NW III, 117–119) und wiederum in die Himmelszene (Hi 2,1–6//119), um das Ergehen Hiobs dann zum zweiten Mal in seiner gesteigerten Not zu schildern (Hi 2,7–10//NW III, 119f). Erst am Schluss durchbricht der Prediger die durch die Geschichte vorgegebene Dramaturgie, um das Geschick der Hiobgestalt mit dem neutestamentlichen Christusgeschehen zu vermitteln; vgl. NW III, 120. 39 Das gilt zunächst für den Satan, dem aufgrund seines Auftrittes im himmlischen Disput der Zweifel wesenhaft zugeschrieben wird (vgl. NW III, 116), vor allem aber für die im Kontrast dazu ausgemalte Hiobgestalt selber. So kommentiert der Prediger die Demut Hiobs vor Gott etwa mit den Worten: „Wunderbar, wenn ein Mensch in den Fluten der Anfechtung seinen Fuß auf den rettenden Felsengrund solcher Erkenntnis setzt. […] An Gott den Schöpfer glauben hieße also darauf verzichten, daß wir einen Anspruch vor Gott haben“; ebd., 118. Hiob tritt auf als Typus des Glaubens, der durch seinen Mund Gott rechtfertigt (vgl. ebd.), dem andererseits aber die „Tiefen und Abgründe des Leidens“ (ebd.) nicht fremd sind und der sich selber – wie die Hörer des Jahres 1945 – noch auf dem schwierigen Weg zur „Anbetung Gottes“ befi ndet; vgl. ebd. 40 Den Wunsch des Satans, beim zweiten Mal auch das Leben Hiobs antasten zu dürfen (vgl. Hi 2,4f), bringt der Prediger seinen Hörern mit einem Bild nahe: „‘Alle leben‘, das steht auf unseren Hauswänden geschrieben. Solange das Leben nicht angetastet wird, ist die Hauptsache gerettet. Man kann noch arbeiten, man kann noch schaffen“; NW III, 119. 41 NW III, 29. 42 Vgl. NW III, 143: „Es gibt nicht viele Stellen in den Briefen des Paulus, in denen der Apostel so redet, wie er hier redet. Meistens redet er lehrhaft oder ermahnend, aber er redet nicht von sich. Hier redet er von sich.“
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Leben an jenen Punkt kommen, wo es um das Allerpersönlichste und Allerlebendigste geht, einfach um das schlichte Zeugnis des eigenen Lebens.“43
Die Veranschaulichung des Inhaltes des Predigttextes erfolgt dann, indem der Prediger die apostolische Existenz im Kampf um seine Gemeinden: die Zwänge, denen er unterliegt, die Widerstände, auf die er stößt, und die Macht, von der er sich dabei gehalten weiß, schildert. Dabei münden diese Schilderungen immer wieder in Passagen direkter Rede des Apostels, die die Hörer in die ursprüngliche Korrespondenzsituation einbeziehen. Den angezeigten Beispielen für die Einführung des Predigttextes ist gemein, dass der Prediger den Text jeweils in Szene setzt, indem er ihn mit den Aktanten der Aussage oder der ursprünglichen Aussageform in Verbindung bringt und das Umfeld, innerhalb dessen sie auftreten, als Erzählrahmen rekonstruiert. Wo die Erzählung, wie bei Hiob, durch den Text selber bereits vorgegeben ist, taucht er ganz in sie ein und folgt der vorgegebenen Gedankenführung. Wo die szenische Repräsentation nicht schon durch die Gedankenführung des Textes vorgegeben ist, tritt er hinter letztere zurück, um durch die Nachzeichnung des erzählerischen Umfeldes (Apg 4) oder der Korrespondenzsituation (2Kor 6) die narrative Darstellung zu ermöglichen. Die Aktanten des Aussagevorgangs (der Redner Petrus/der Briefschreiber Paulus) werden dabei selber zu Aktanten der Aussage. Die Wertungen der Predigtperikope werden auf diese Weise jeweils am Verhalten und Ergehen der Figuren Hiobs, der Apostel Petrus und Johannes, oder des Paulus narrativ entfaltet. Das in Abschnitt 4.2.3. dargestellte Verfahren, wonach die Vermittlung der biblischen Botschaft mittels Inszenierung der dort auftretenden „Zeugen des lebendigen Gottes“44 im Rahmen der durch eine eigene Dramaturgie bestimmten biblischen Welt geschieht, scheint also tatsächlich für Iwands Predigtgestaltung von Belang zu sein. Der einzelne Predigttext ist dabei dann jeweils das Fenster zu dieser biblischen Welt, die in sich eine geschlossene Ganzheit darstellt. Um ein detaillierteres Bild von dem sich hier abzeichnenden homiletischen Verfahren zu gewinnen ist, sollen im Folgenden zwei Predigten exemplarisch analysiert werden: Es handelt sich zum einen um die bereits genannte Predigt über Apg 4,11f, aus dem Juli 1935, deren Hintergrund die Situation des Kirchenkampfes bildet. Iwand hielt sie bei einer Zusammenkunft von Mitgliedern der Bekennenden Kirche, die anschließend zu einer Evangelisation in den ostpreußischen Gemeinden ausgesandt wurden. Seine Intention war es, ihnen dazu eine Wegweisung mitzugeben.45 Unter der Überschrift „Der Name des Herrn“ wurde sie 1936 in einer Schriftenreihe „Bekennende Kirche“ abgedruckt.46
43 Ebd., 143. 44 GA I, 117. 45 Vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 154. 46 Vgl. Iwand, Hans Joachim, Der Name des Herrn, 4–19. Die bei uns angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die im Anhang abgedruckte Predigt 1 (= P 1).
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Die zweite Predigt über Mt 12,43–45, der Perikope von der „Rückkehr des bösen Geistes“, hielt Iwand in der Zeit vor Pfingsten 1952 als Gastprediger in seiner ehemaligen Dortmunder Gemeinde. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits Professor für Systematische Theologie an der Universität Bonn. Besonderer Anlass seines Auftretens war wiederum die Unterweisung von Gemeindemitgliedern, denen eine herausragende Aufgabe übertragen wurde: Die St. Marien Gemeinde feierte in dem Gottesdienst die Amtseinführung ihrer neu gewählten Presbyter und hatte aus diesem Grund ihren früheren Pfarrer eingeladen. Als gesellschaftspolitischen Hintergrund macht Iwand in seiner Predigt die zu diesem Zeitpunkt stattfindende Diskussion um die Wiederbewaffnung namhaft und verbindet sie mit als bedrohlich empfundenen restaurativen Tendenzen im Nachkriegsdeutschland.47 Wir werden so vorgehen, dass wir die Predigten zunächst jeweils als Ganze ihrer Binnengliederung und Themenentfaltung nach darstellen, um sie sodann auf die Inszenierung der biblischen Rollen hin zu untersuchen.
. Der Name des Herrn – Analyse zu einer Predigt über Apg ,– .. Binnengliederung und Themenentfaltung Der Versuch, einzelne Teile der Predigt i.S. einer mehrgliedrigen Disposition klar gegeneinander abzugrenzen, gestaltet sich äußerst schwierig. Dies hängt damit zusammen, dass sie über ihre gesamte Länge bei der Entfaltung eines einzelnen Szenariums verweilt, das bereits im ersten Satz aufgerufen wird: „Das Wort, das wir eben gehört haben, ist das Schlußwort der Verteidigungsrede, die Petrus und Johannes vor dem Rat der Juden hielten. Freilich, eine Verteidigungsrede eigener Art“ (P 1,1–3).
Der knappe Dialog zwischen den Aposteln und dem Hohen Rat setzt sich aus der Frage des letzteren, in wessen Namen diese Heilungswunder vollbringen, und ihrer Antwort darauf mit dem Christuszeugnis zusammen. Er stellt die Rahmenszene für die Predigt dar, auf die sie immer wieder zurück lenkt, indem sie das Verhalten der Apostel schildert oder ihre Äußerung dem biblischen Wortlaut nach zitiert.48 Ihr Spannungsbogen baut sich dadurch auf, dass der Prediger nacheinander neue Perspektiven ins Spiel bringt, die jeweils ein anderes Licht auf das Geschehen werfen und es am Ende auf die konkrete Situation der bekennenden Gemeinde im Kirchenkampf zulaufen lassen. Dabei verhält es sich keineswegs so, dass mit der Einführung neuer Gesichtspunkte die zuvor thematisierten Ebenen gänzlich abgeblendet werden. Vielmehr entfaltet der Prediger die im 47 Vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 439f. 48 Vgl. P 1,1–138, 169–198, 222–253, 400–410, 429–431, 446f.
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biblischen Text angelegte Rollenkonstellation in immer neuen Relationen und weitet so deren Horizont schrittweise aus. Er endet damit, dass er die Situation der Predigthörer jener der Apostel vor dem Hohen Rat vollständig analogisiert und ihnen die zuversichtliche Weisung gibt: „So laßt uns denn hingehen und den Namen kund machen, in dem unserer Kirche Heil widerfahren ist. Und laßt uns das tun ohne Furcht und Heimlichkeit. Der Geist des Herrn wird mit uns sein, wenn wir uns ob solchen Tuns zu verantworten haben“ (P 1,468–471).
In unserer Darstellung der Makrostruktur der Predigt heben wir zunächst die verschiedenen Ebenen voneinander ab, um im darauf folgenden Abschnitt zu analysieren, wie der Prediger sie mittels Entfaltung der Rollen der biblischen Erzählung rhetorisch kunstvoll miteinander verknüpft: – Der erste Abschnitt (P 1,1–19), den man unter der Überschrift: „Das Namenszeugnis der Apostel vor dem Hohen Rat“ als Exposition der Predigt bezeichnen kann, dient der Einführung der Szene. Ort, Zeit und Personen der Handlung werden mit den sie charakterisierenden Aussagen (P 1,5f = Apg 3,6b; P 1,14f = Apg 4,7b) genannt. – Schon auf der ersten Seite bringt der Prediger allerdings eine Metaperspektive ins Spiel, indem er „das ganze Verhör der Apostel vor ihrer geistlichen Behörde auf eine andere Ebene verlegt“ (P 1,20f). Im Zeichen der Entfaltung dieser Perspektive stehen die folgenden Seiten (P 1,20–102). Sie trägt entscheidend zur Steigerung der Spannung bei, kehrt sie doch die Positionsverteilung zwischen den Akteuren gegenüber der Ausgangsszene um. Dies geschieht, indem der Prediger den Horizont über das eng gefasste Szenarium ausweitet und in den Kontext der biblischen Heilsgeschichte seit der Kreuzigung und Auferstehung Jesu einbettet. Angesichts dessen wirft er die Frage auf: „Wer ist hier Angeklagter und wer ist Richter?“ (P 1,21f) und gelangt zu der überraschenden Antwort: „Ein anderer Richter ist auf den Plan getreten, und sie haben nichts anderes zu tun als sein Gericht zu bezeugen“ (P 1,39–41).
Das Gericht des Hohen Rates über die Apostel wird als Gericht Gottes über den Hohen Rat in der Auferweckung Jesu aufgedeckt (vgl. bes. P 1,59–68). – Eine weitere Ebene der Darstellung kommt ab der dritten Seite (vgl. P 1,102f, 139ff ) ins Spiel. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Prediger in die „Wir“- Form wechselt und mittels des Diktums: „Name ist Schall und Rauch“ (P 1,103f) die Zweifel zeitgenössischer Hörer gegenüber der Macht des Namens Jesu thematisiert. Diese aktualisierende Frage dominiert den Verlauf der Predigt über die folgenden fünf Seiten (P 1,102–329). In ihrem Horizont erörtert er das Problem des Verhältnisses von vorfindlicher Wirklichkeit und der sich ihr entziehenden Christusoffenbarung. Vermutete Höreranliegen, dass die Kraft des Namens Jesu in der Veränderung von empirischen Lebensverhältnissen greifbar werden müsse, werden aufgenommen (vgl. P 1,139–168). Er nimmt Bezug auf aktuelle kontroverstheologische 171
Fragen, wie der nach der Gebetserhörung verbunden mit der Bedeutung von Zeichen und Wundern (vgl. P 1,288, 305) oder der deutschchristlichen Forderung nach einer konkreten Offenbarung (vgl. P 1,268f). Sprachlich hebt sich diese Ebene von den anderen durch die Neigung zu theologischer Grundsätzlichkeit ab. Der Prediger ist bestrebt, eine bestimmte Struktur der göttlichen Offenbarung aufzudecken, nach der es „zuerst den Namen [zu] setzen [gilt], in dem Gott seine Herrschaft über alle Mächte und Gewalten aufgerichtet hat und dann die Wunder [zu] schauen, mit denen er sich den Seinen nahe erweist“ (P 1,319–321). – Die letzte Ebene der Darstellung zeichnet sich dadurch aus, dass der Prediger seine Ausführungen „im Blick auf unsere Gemeinden und die Lage der Bekennenden Kirche“ (P 1,330f) konkretisiert. Die Erörterung der Fragen, wie die gegenwärtige Situation der Evangelischen Kirche zu bewerten, was angesichts der sie beherrschenden Konflikte zu tun ist und wie sich das Namenszeugnis Jesu im Kirchenkampf ausnimmt, bestimmt den Gedankengang der Predigt bis zum Schluss (P 1,330–471). Der Prediger hebt darauf ab, dass die Kirche „in den letzten beiden Jahren“ (P 1,338f) eine große „Erweckung und Erhebung“ (P 1,333) erlebt habe, an die es für die Zukunft anzuknüpfen gelte. Die rechte Haltung dazu sieht er allerdings darin, „bestimmte Ziele und Pläne, die wir vielleicht haben […] ab[zu]blenden, aus dem Sinn [zu] schlagen, preis[zu]geben […]“, um stattdessen „ganz im Heute zu stehen“ (P 1,365–370). Entscheidend für die Gegenwart ist, dass „das Leben in der Kirche […] in Gott und seinem Wort“ wurzelt (P 1,354) und dies in deren „Glaubensmut und Bekenntnistreue“ (P 1,381f) zur Darstellung kommt. Eindeutig herrscht in diesem Teil der Predigt eine appellierende Sprache vor, mit der gerade angesichts der Bedeutsamkeit der innerhalb der sichtbaren Kirche sich vollziehenden Umbrüche die Zumutung eingeschärft wird von sich selber weg und auf den Namen Jesu hinzuweisen.49 – Der eigentliche Schlussteil der Predigt (P 1,440–471) hebt sich von dem Vorausgehenden dadurch ab, dass der Prediger die für die aktuelle Situation geforderte Verkündigung in direkter Relation zum Handeln Gottes entfaltet. In diesem Sinne formuliert er in kairologischem Pathos: „Diese Verkündigung will heute heraus. Wir werden sie nicht dämpfen können. Wenn wir schweigen, wird sich Gott andere Boten suchen, die sie kund machen“ (P 1,440–422). „Wir müssen Schritt halten mit dem Siegeszug Gottes und dürfen nicht müde werden, wenn uns auch darüber der Atem ausgeht. An der Stelle, wo wir als Lehrer und Prediger der Kirche stehen, fällt die Entscheidung“ (P 1,452– 454).
Auf Grund der direkten Identifi kation des göttlichen Wirkens mit dem Verkündigungsauftrag der Bekennenden Kirche wird den zuvor gesetzten Appel49 In diesem Sinne formuliert der Prediger für die Selbstdarstellung der Bekennenden Kirche nach innen und außen den Grundsatz: „Unsere Namen sollten hier auf Erden verschwiegen und vergessen sein, damit alles unter einem Namen geschieht und in ihm verantwortet wird, […]. Darauf kommt es an, ihn groß zu machen, wenn wir hinausgehen in unsere Gemeinden“ (P 1,421–425).
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len noch einmal ein besonderer Nachdruck verliehen. Dazu gilt es zu bedenken, dass der Prediger darauf zielt, seine Hörer ihrerseits auf eine Evangelisationsaufgabe vorzubereiten und ihnen das dafür erforderliche Sendungsbewusstsein zuspricht. .. Die sukzessive Entfaltung der Rollen des biblischen Textes auf die gegenwärtige Situation der Predigthörer hin Nachdem wir die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung gegeneinander differenziert haben, wollen wir nun untersuchen, auf welche Weise der Prediger sie miteinander verknüpft und die aktuelle homiletische Situation im Licht des apostolischen Namenszeugnisses deutet. ... Die Verteidigungsrede der Apostel vor dem Hohen Rat In seiner Schilderung der Ausgangszene taucht der Prediger zunächst ganz in das Beziehungsgeflecht der Erzählung zwischen den Aposteln und dem Hohen Rat ein. Dabei vermittelt er als scheinbar neutraler Beobachter eines sich auf der Bühne der biblischen Welt vollziehenden Geschehens Wertungen nur indirekt über die Erkundung von Verhaltensmustern und Motivationen der auftretenden Rollen. Es entsteht der Eindruck, als beobachte der Prediger das Verhalten der beteiligten Gruppen sehr genau, indem er sein Interesse auf scheinbar nebensächliche Details lenkt und durch diese Beleuchtung bisher unausgeleuchteter Hintergründe ein umfassenderes Gesamtverständnis biete. In diesem Sinne steigt er etwa mit den erläuternden Hinweisen ein, dass es sich um eine Verteidigungsrede „eigener Art“ (P 1,3) handle, die „eine so überaus einfache Sache“ (P 1,11f) sei, dass es „besonders nötig [sei], darauf zu achten, daß die Apostel nicht ihrerseits die Rolle eines Anklägers übernehmen“ (P 1,37f) und dass es sich bei dem Verhör um das erste handle, „das der hohe Rat nach der Kreuzigung Jesu vornahm“ (P 1,46f). Es geht dem Prediger darum, die Aufmerksamkeit der Hörer zunächst ganz auf die Szene vor dem Hohen Rat zu lenken. Dabei werden sie auf den ersten drei Seiten nicht direkt angeredet, sondern zusammen mit dem Prediger in die Beobachterrolle versetzt. Das Spannungselement der Schilderung entsteht, indem eine den Hörern vertraute allgemein menschliche Situation (= Plädoyer der Verteidigung vor einem Gericht) von Anfang an verfremdet vorgestellt und dadurch die neugierige Nachfrage erweckt wird: Warum müssen sich Menschen für die Heilung eines Gelähmten vor Gericht verantworten? Warum verteidigen sie „nicht ihre Angelegenheit oder ihre Person“ (P 1,12), sondern übertragen die Verantwortung auf einen anderen? Warum ist über diese Angelegenheit im Grunde schon entschieden, und warum braucht das Plädoyer nur noch nach einem festgelegten Schema vorgetragen zu werden? 173
... Das Ineinander von menschlichem Verhalten und göttlichem Handeln Funktion der Verfremdungselemente ist es, die Einführung der „andere[n] Ebene“ (P 1,21) vorzubereiten, die dem Szenarium erst sein spezifisches Gepräge gibt und seine Dramaturgie bestimmt: Eigentlicher Akteur der Handlung sind nicht die sich im Gericht gegenüberstehenden Gruppen, sondern ist Gott selbst, dessen Wirken durch den Heiligen Geist seit der Auferstehung Jesu Raum greift und der den Plan der jüdischen Geistlichkeit, einen Schlussstrich unter die Sache Jesu zu ziehen, durchkreuzt. Intention des Predigers ist es, die menschliche Szene vor dem Hohen Rat transparent zu machen für das Handeln Gottes und das Auftreten der Apostel in Verbindung zu setzen zu seiner Offenbarung in Kreuz und Auferstehung Jesu. Die Grund legende Schwierigkeit – aber auch der eigentümliche Spannungsgehalt – dieses Unterfangens besteht darin, dass letztere der direkten Anschauung auf der horizontalen Ebene zwischenmenschlicher Interaktion entzogen ist (vgl. bes. P 1,212–214). In diesem Sinne beschreibt der Prediger das Handeln Gottes mit den Worten: „Hier ist etwas geschehen, das so unvergleichlich ist mit allem, was sonst geschehen und verwirklicht werden mag, daß es an Narrheit grenzen würde, wollte man versuchen, es irgendwie in diesem Äon einzuordnen oder unterzubringen“ (P 1,95–98).
Der Prediger führt das Handeln Gottes mit höchst dynamischen, unableitbare Aktualität indizierenden Kategorien ein: „mit einem Schlage“ (P 1,20) wird klar, dass er „auf den Plan getreten“ (P 1,40), seine „Hand sichtbar geworden“ (P 1,55), „die letzte Grenze […] durchbrochen“ (P 1,72) ist. Gerade diese Entzogenheit veranlasst ihn dazu, zwecks der Vermittlung der beiden Ebenen das Rollenverhalten von Aposteln und jüdischer Geistlichkeit näher zu konturieren. Weil das Handeln Gottes selbst unanschaulich ist, richtet er sein Augenmerk auf dessen Folgen, die in den Reaktionen der am Prozess Beteiligten sichtbar werden. Ein spezifisches Element der Darstellung besteht darin, dass der Prediger kein Interesse daran zeigt, die sich zwischen den beiden Gruppen entspannende Interaktion horizontal zu entfalten. Ihr Verhalten wird vielmehr jeweils in Relation auf das Handeln Gottes in den Blick genommen: „[…] mit einem Male ist es klar, mit einem Male ahnen alle, die einen mit Schrecken und die anderen mit seligster Gewißheit, daß mit der Auferweckung Jesu der Gegenangriff Gottes eingesetzt hat gegen das Gericht all derer, die Jesus zu den Toten geworfen haben“ (P 1,59–62).
Wie gestaltet er diese divergierende Reaktion des Näheren? – Das Verhalten der jüdischen Geistlichkeit angesichts des Wiederaufloderns der Sache Jesu wird mit Zügen geschildert, die nach Auffassung des Predigers für die allgemein menschliche Position gegenüber dem Evangelium charakteristisch sind und seiner Aufnahme zugleich im Wege stehen. Zeichnet es sich dadurch aus, dass es „der Welt ein Ärgernis“ (P 1,125) ist und deren institutionelle Ord174
nung verstört (vgl. P 1,20–24), so erscheint die Verunsicherung der Mitglieder des Hohen Rates als angemessene Reaktion darauf. Ihr Denken ist bestimmt durch strategisches Machtkalkül, Festhalten am Bestehenden und Vertrauen auf äußere Ordnungen. Alle diese Züge sind offen für die Deutung der Gegenwart der Predigthörer und dürften ihnen – insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Kirchenkampfes – von daher vertraut sein. Ihre Bedürfnislage wird dahingehend bestimmt, dass „Ruhe eintreten“ (P 1,75) möge, Volksaufstände und Kirchenspaltungen vermieden und die Vergangenheit vergessen gemacht werden solle. Gegenläufig dazu ist die Nervosität, Geschäftigkeit und Ratlosigkeit, mit der sie in dem Prozess agieren.50 In ihnen kündigt sich die Ahnung an, dass mit dem Fall Jesu etwas Entscheidendes in Bewegung geraten ist, was sich jedoch mit den Kategorien ihrer Wahrnehmung nicht erfassen lässt. Sie kulminiert in dem verständnislosen Erstaunen über den Verlauf, den die Ereignisse trotz des passiven Verhaltens der Jünger Jesu nehmen: „Die Jünger waren doch still gewesen, sie hatten nicht zum Schwert gegriffen, um die Lehre ihres Meisters kämpferisch durchzusetzen; sie hatten keinen Volksaufstand entfesselt, keine Bewegung organisiert und Anhänger geworben […]. Sie sind tatsächlich alles andere als Revolutionäre und Kirchenstürmer. Was haben sie dann aber Besonderes an sich?“ (P 1,81–90).
Dass diese Haltung exemplarisch ist für die des mit dem Evangelium noch nicht vermittelten Hörers, verdeutlicht der Prediger, indem er sie ab der vierten Seite mit bei der Gemeinde vermuteten Widerständen verbindet: „Vielleicht fragen wir heute: ‚Ist das alles?‘ Uns kommt es so wenig vor. Was ist ein Name? ‚Name ist Schall und Rauch‘ “ (P 1,102–104).
Im Verhältnis zur Reaktion der jüdischen Geistlichkeit wird die Rolle der Apostel mit Verhaltensweisen charakterisiert, welche die Turbulenz der äußeren Ereignisse konterkarieren. In diesem Sinne betont der Prediger die Passivität ihres Auftretens: Es gestaltet sich dermaßen, dass sie „gar nicht ihre Angelegenheit oder ihre Person […] verteidigen“ (P 1,12f), der „Heilige Geist […] ihnen das rechte Wort zur rechten Zeit“ (P 1,25) eingibt und sie sich nicht „aus eigener Weisheit und Kunst“ (P 1,33f) verteidigen. Die Schilderung unterstreicht den Bruch mit der zu erwartenden Reaktion, nämlich sich gegenüber den Vorwürfen zur Wehr zu setzen und die Rolle des Verteidigers argumentativ aufzunehmen. In der Gegenüberstellung der Haltungen der Kontrahenten erhält die Darstellung geradezu ironische Züge: Wird diejenige Gruppe, deren Wunsch das Eintreten von Ruhe ist, in wachsender Beunruhigung präsentiert, so zeichnet sich die Gruppe, die mit dem die Ordnung verstörenden Geschehen im Zusammenhang steht, durch „wunderbare Gelassenheit“ (P 1,69) 50 Vgl. dazu die Reihe von der Selbstvergewisserung dienenden Aussagen und Fragen, die der Prediger der jüdischen Geistlichkeit in den Mund legt: „Es kam jetzt alles darauf an, […]. Es musste alles vermieden werden, was […]. Wie kam es, daß […]? Die Jünger waren doch […]. Was haben sie dann aber […]?“ (P 1,76–89).
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aus. Bei den Einen tritt ein, was die Anderen suchen, allerdings auf eine ganz andere Weise als letztere es erwarten. Dass die unnatürliche Haltung der Apostel exemplarisch für die allein am Namen Jesu orientierte Glaubenshaltung schlechthin ist, macht der Prediger an folgender Stelle explizit: „Es ist eine wunderbare Ruhe, die von diesem Namen ausgeht. Alle Sucht und alle Leidenschaft, alle Unruhe und Unrast wird hier gebunden; der Mensch, der nie genug hat, findet hier sein Genüge. Der Drang nach oben und der Sturz in den Abgrund, das stolze und das verzweifelte Herz – sie finden beide hier ihre Grenze. In diesem Namen umfängt der Friede Gottes alle Aufgeregtheit und alle Unrast, in ihm umschließt er das unruhigste Ding in der Welt, das menschliche Herz zu dem Frieden, der von oben ist. Friedfertige Menschen – das waren die ersten Jünger Jesu, aber gerade darum müssen sie vor der Welt als Ruhestörer dastehen“ (P 1,116–124).
Unter der Maßgabe des unter 4.3 vorgestellten Modells zur Analyse von Erzähltexten lässt sich das vom Prediger hier angewandte Verfahren wie folgt bestimmen: Vermittels der Rolle des Hohen Rates wird das von der biblischen Szene favorisierte Wertobjekt (= apostolisches Namenszeugnis) den Hörern zunächst in verfremdeter Gestalt vorgeführt. Letzteres hat die Funktion, die Hörerwiderstände gegen seine Aufnahme in das Beziehungsgeflecht der Erzählung zu integrieren. Die intendierte Umwertung dieser Haltung geschieht dadurch, dass das für alle Beteiligten wünschenswerte Heilsgut (= Ruhe, Friede mit Gott) auf die Apostelrolle übertragen und als aus deren Zeugnis des Namens Jesu folgender Gewinn präsentiert wird. Von daher lässt sich das Verfahren als eine zweistufige Vermittlung bestimmen: Der Prediger leistet der Depotenzierung der vermuteten Widerstände gegen das favorisierte Wertobjekt Vorschub, indem er sie auf die Antagonisten überträgt, deren Position dem Gefälle der biblischen Erzählung nach dem „Gegenangriff Gottes“ (P 1,61) bereits erlegen ist. Von ihren Voraussetzungen her können sie das erstrebte Heilsgut nicht erlangen. Bei den Protagonisten ist es dagegen von Anfang an gegeben. Dies wird im Verlauf der Entfaltung von ihrer Rolle zunehmend deutlich. Dabei wird das wünschenswerte Heilsgut unter der Leitung des favorisierten Wertobjektes zugleich entscheidend modifiziert: Ruhe erlangt man nicht durch die Befestigung äußerer Ordnungen, sondern dadurch, dass man allein im Vertrauen auf den Namen Jesu Genüge findet. Der Friede Gottes ist kein solcher, der durch äußere Institutionen sichergestellt werden könnte, sondern ein Friede, der „das menschliche Herz“ umschließt und „von oben ist.“ Die Wahrnehmung der unter der Macht des Namens Jesu stehenden Jünger als „Ruhestörer“ ist nur die äußere Seite des ihnen zuteil gewordenen inneren Friedens, der sich von der Stabilisierung oder Erschütterung religiöser Ordnungen unberührt weiß.51 51 Vgl. dazu bes. P 1,93–95: „Hier ist nicht die Form neu geworden und der Mensch, der in diesen Lebensformen lebt, der alte geblieben; hier ist dem Menschen selbst die Erneuerung, die Wiedergeburt zuteil geworden.“
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... Das Zeugnis des Namens Jesu und der Wunsch nach äußeren Zeichen seiner Wirksamkeit Hat der Prediger auf der soeben dargestellten Ebene den Hören das favorisierte Wertobjekt indirekt über die Gestaltung der textinternen Rollen nahe gebracht, so kommt ab der vierten Seite eine weitere Darstellungsform hinzu. Sie besteht darin, dass er das geschlossene Gegenüber zwischen dargestellter Welt der biblischen Erzählung und Predigthörern öffnet, indem er sich direkt an die Hörer wendet (vgl. P 1,102–104). Wir haben bereits gezeigt, dass er dies in enger Anlehnung an die ratlose Frage der jüdischen Geistlichkeit nach dem Besonderen der Apostel (vgl. P 1,89f) tut. Dennoch stellt dieser Perspektivenwechsel auch eine thematische Gewichtsverschiebung dar: Nicht mehr die Frage des Hohen Rates, in wessen Namen und mit wessen Kraft das Wunder geschieht, sondern die des Predigthörers, wo dieser Name heute seine Kraft erweist, tritt in den Mittelpunkt. Im Unterschied zur jüdischen Geistlichkeit besteht der Anstoß, welcher der Gemeinde beim Hören der Geschichte entsteht, darin, dass der Christusname „etwas Selbstverständliches, Nichtssagendes“ (P 1,105) geworden ist. Waren erstere verwundert über die Dynamik, welche die Jesusbewegung trotz der Passivität ihrer Mitglieder entfaltet, so richtet sich der gegenwärtige Zweifel darauf, dass diese Dynamik heute offensichtlich ausbleibt. In diesem Sinne heißt es: „Es mag gar manchen unter uns geben, der die Dinge mit stillem Zweifel hört, es mag vielleicht auch der eine oder andere bei sich denken: Wenn das doch heute einmal geschehen würde! Wenn sich doch der Name Jesu wieder in dieser Kraft erweisen würde, dann würden wir es leichter haben für diesen Namen zu zeugen, dann würden wir leichter an ihn glauben“ (P 1,141–146).
Bei der Erörterung dieses Problems löst sich der Prediger keinesfalls von dem Zusammenhang der biblischen Erzählung, sondern nimmt es zum Anlass, sich noch tiefer in letztere zu involvieren. Er tut dies, indem er seine Wahrnehmung der eng gefassten Szene von Apg 4 auf ihr narratives Umfeld, auf die dem Gerichtsverfahren vorlaufende und es veranlassende Heilungsszene ausdehnt (vgl. P 1,126ff = Apg 3). Das Szenarium spielt nicht mehr vor dem Hohen Rat, sondern tags zuvor vor bzw. im Tempel. Das Beziehungsgeflecht setzt sich aus der über das Wunder staunenden Menge und der Predigt des Petrus zusammen, die er ihnen im Tempel gehalten hat. Dieser Szenenwechsel ermöglicht es dem Prediger, die Hörerfrage durch einen rhetorischen Kunstgriff in den biblischen Darstellungszusammenhang zu integrieren: Er aktiviert die hinzugekommene textinterne Rolle, um sie mit dem „Wir“ der Hörer zu synthetisieren. Letztere werden dazu angehalten, sich „unter die Menge derer [zu] mischen“ (P 1,170), die über dem Wunder im Eingangsbereich des Tempels zusammengelaufen ist und „die nun eine Antwort haben möchten auf die Frage, die diese Heilung in ihnen geweckt hat“ (P 1,170–172). Abermals nutzt der Prediger eine biblische Rolle, um eine vermutete Erwartungshaltung dem Zusammenhang der Erzählung zu integrieren und diese so177
dann von den textinternen Wertungsstrukturen her zu modifizieren. Folgen die Hörer dem Apostel als Teil der staunenden Menge in den Tempel, so wird ihre Neugier dort durch dessen Tadel geläutert: „[…] als die Menge, die über das Wunder der Heilung erschüttert ist und erfahren hat, wer sie vollbracht hat, zu den Aposteln vordringt, die im Tempel beten und sie am liebsten zu Wundertätern ausrufen möchte, sagt ihnen Petrus schonungslos, daß sie sich über die inneren Zusammenhänge dieses Ereignisses gründlich täuschen. Er sagt ihnen ohne Umschweife, daß diese Heilung nichts zu tun hat mit irgendwelchen wunderbaren Kräften, die wir in solchem Falle gern zuschreiben“ (P 1,172–178).
Die Imagination der Predigthörer in den Verlauf der biblischen Erzählung leistet nicht lediglich eine prinzipielle Aufk lärung über das Verhältnis von Wunder und Namenszeugnis. Der Clou besteht vielmehr darin, dass die eigentümliche Bestimmung der Petrusrolle es erlaubt, die Aufmerksamkeit der Hörer in der gottesdienstlichen Verkündigungssituation zu zentrieren und letztere als gegenüber allem äußeren Geschehen wesentlich zu profi lieren. Kulminiert die Geschichte nicht in der Wundertat, sondern im durch die Verkündigung ergehenden Namenszeugnis, so folgt daraus für die Identifizierbarkeit des Handelns Gottes in der menschlichen Wirklichkeit: „So ist es mit allen Zeichen und Wundern, die Gott tut, es muß immer noch das rechte Wort hinzutreten, es muß nicht nur eine Geschichte da sein, sondern auch ein Prediger, damit unser Glaube nicht an Geschichten hängen bleibt, sondern die Geschichten uns zum Glauben treiben“ (P 1,187–191).
Die durch die Erzählung vorgezeichnete Umwertung vom äußeren Geschehen auf die gottesdienstliche Verkündigung wird vom Prediger noch durch eine weitere Akzentuierung rhetorisch unterstützt. Und zwar identifiziert er die Wertungsstrukturen des biblischen Textes anhand der Verhältnisbestimmung seiner beiden Handlungsorte: „Das Wunder dient, der Name regiert. Das Wunder ist der Vorhof, das Wort steht im Heiligtum. In diesem Namen werden nicht übernatürliche Kräfte geweckt, sondern der Mensch wird aufgeweckt, damit er erkenne zu seiner Zeit, was zu seinem Heile dient“ (P 1,225–228).
Diese Bestimmung ist in hohem Maße transparent für die Situation der im Gottesdienst versammelten Gemeinde. Sie sind aus einer durch turbulente gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen gezeichneten Lebenswelt in den Gottesdienst gekommen, um auf das Wort zu hören. Anhand der biblischen Erzählung wird ihnen verdeutlicht, dass diese unspektakuläre Handlung im Sinne des Glaubens die entscheidende ist. Was der Prediger mit der Aktualisierung der Rollen des Petrus und der staunenden Menge wie der Übertragung der Handlungsorte auf das Verhältnis von Gottesdienstversammlung und Umwelt leistet, lässt sich mit den Kategorien des Aktantenmodells näher bestimmen: Die zunächst als Aktanten der Aussage des Predigttextes eingeführten Rollen werden nun zu Aktanten des 178
Aussagevorgangs der Predigt selbst. Wurde das Wertobjekt der Erzählung den Hörern bisher indirekt vermittelt, so wird es nun direkt auf sie bezogen. Auf Grund der Analogisierung des biblischen Geschehens mit der gottesdienstlichen Verkündigungssituation bleiben sie nicht länger distanzierte Beobachter, sondern werden zu Teilhabern am biblischen Diskurs. Die Apostel werden zu Diskurspartnern der Gemeinde stilisiert, die ihnen für ihren Glaubensstand Entscheidendes mitzuteilen haben. In diesem Sinne werden die Hörer dazu aufgefordert: „So wollen wir uns denn von den Aposteln lehren lassen, daß das Wunder draußen bleiben muß, damit im Tempel die Verkündigung des Namens das Ein-und-alles sei“ (P 1,254–256).
Der Prediger gestaltet seine Funktion als Keryx dermaßen,52 dass er die Rolle der im Tempel predigenden Apostel aufnimmt und gegenüber der Gemeinde vertritt. Wie tut er dies konkret? – Zunächst konzentriert er sich ganz darauf, der Gemeinde die kritische Seite des apostolischen Kerygmas einzuschärfen. Gegen konventionelle Erwartungshaltungen gewendet formuliert er: „Was für ein einschneidendes Gericht liegt in dieser Erkenntnis! Was für ein einschneidendes Gericht über der Verkündigung, wie wir sie lieben und treiben. Wird doch damit all denen eine Absage erteilt, die wunderbare Geschehnisse und Erfahrungen in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung stellen und meinen, gerade damit erwecklich und lebensnahe zu wirken“ (P 1,261–266).
Der unter diesem Zeichen stehende Predigtabschnitt (P 1,254–329) ist ausgerichtet auf die Restriktion von falschen Erwartungshaltungen und die Konzentration auf die Wahrung des rechten Verhältnisses von Name und Zeichen. Der apostolische Tadel an der staunenden Menge wird als Wächteramt darüber ausgelegt.53 Dabei richtet er das Augenmerk auf gegenwärtige Phänomene: Die deutschchristliche „Parole von der konkreten Offenbarung“ (P 1,268f), die Suche Gottes in „Bilder[n] und Gleichnisse[n] aus der Natur, aus dem eigenen Erleben oder aus dem Erleben der Völker“ (P 1,284–287), die Qualifizierung „wunderbare[r] Gebetserhörungen“ (P 1,288), der Erhaltung einer „christliche[n] Anstalt“ (P 1,289) oder der „eigene[n] Lebensgeschichte“ (P 1,292f) als Mittelpunkt des Glaubens – all dem setzt er in apostolischem Selbstverständnis läuternd entgegen: „Dies alles liegt auf einer Linie, und diese Linie ist nicht die Linie der apostolischen Verkündigung, nicht die Linie, auf der die Kirche Jesu Christi sich zu halten hat“ (P 1,295–297).
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die nüchterne Sachlichkeit, mit der er das Namenszeugnis von Jesus Christus einschärft. Sprachlich kommt dies in schmuckloser, aber eindringlicher theologischer Grundsätzlichkeit 52 Vgl. Kapitel 3.3.2.2. 53 Vgl. P 1,328f: „Darum heißt es wachen und von allen, die ins Lager einpassieren wollen, die Parole fordern.“
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zum Ausdruck.54 Die klare Positionierung und Abgrenzung ist im Sinne des Predigers die angemessene Entsprechung zur Haltung der Apostel vor dem Hohen Rat, die „nicht ihre Angelegenheit oder ihre Person zu verteidigen“, sondern „schlicht und wahrheitsgetreu diese Tat Gottes zu bezeugen“ hatten (P 1,12f). ... Das Zeugnis des Namens Jesu in der gegenwärtigen Bekennenden Kirche Erst nachdem den Hörern die rechte Ordnung von Name und Zeichen eingeschärft worden ist, wendet der Prediger seinen „Blick auf unsere Gemeinden und die Lage der Bekennenden Kirche“ (P 1,330f). Das Beziehungsgeflecht zwischen den Rollen der biblischen Erzählung wird wiederum auf eine neue Weise ins Verhältnis zu den Predigthörern gesetzt. Er deutet das Geschick der Bekennenden Kirche gleichnishaft zu der Heilung, die dem Gelähmten vor dem Tempel widerfahren ist: „Sie [unsere Kirche, Anm. d. Verf.] glich nach dem Urteil der Menge in der Tat einem von Mutterleib an Gelähmten, der, vor der Tür des Tempels liegend, sich durch milde Gaben am Leben erhält. Wenn dieser Gelähmte auf einmal auf den Füßen steht – müssen sich dann nicht alle wundern?“ (P 1,383–386).
Beachtenswert ist, dass der Prediger diese Charakterisierung der Situation der eigenen Kirche nach der grundsätzlichen Thematisierung des Namenszeugnisses bringt und damit die eingeschärfte Ordnung des Verhältnisses von Name und Zeichen im Predigtverlauf abbildet: War der Ausgangspunkt zur Öffnung des biblischen Szenariums die vermutete Hörerfrage nach der äußeren Wirksamkeit des Namens Jesu in der gegenwärtigen Situation, so setzte sich der Prediger damit bisher kritisch auseinander. Seine Darstellung galt dem Unterfangen, die Erwartung vom äußeren Geschehen abzuwenden und stattdessen auf Wort und Verkündigung hin zu zentrieren. In diesem Sinne schärfte er ein, dass das „Wunder von der Heilung des Gelähmten nichts anderes als eines der Zeichen [sei], die […] das Zeugnis der Jünger […] bestätigen“ (P 1,191–194). Die Frage der Hörer wurde zugunsten des zurechtweisenden Tadels zurückgestellt, dass es auf die äußere Wirksamkeit des Namens in Zeichen und Wundern nicht ankomme, sondern Wort und Verkündigung entscheidend seien. Im letzten Teil der Predigt, nachdem diese Ordnung in wünschenswerter Klarheit aufgedeckt ist, gibt der Prediger eine direkte Antwort darauf: In der Bewegung, die in den vergangenen Jahren von der Bekennenden Kirche ausgegangen ist, wiederholt sich das Wunder der apostolischen Heilung. Im Urteil 54 Vgl. Formulierungen wie: „Man komme uns hier nicht mit der Parole von der konkreten Offenbarung“ (P 1,268f); „[…] gegen dies Gebot verstoßen alle, die […]“ (P 1,284f), „Damit ist […] keineswegs […] jenen Zweiflern und Skeptikern das Feld freigegeben, die […]“ (P 1,298f), „Darum heißt es wachen […] und die Parole fordern“ (P 1,328f). In den Gesichtskreis des Predigers treten essentielle theologische Bestimmungen wie das 1. Gebot (vgl. P 1,284) und die Ordnung von Name und Zeichen, vgl. P 1,317ff. Deutlich vernehmbar ist der Bezug auf die 1. These der Barmer Theologischen Erklärung, vgl. P 1,317– 321.
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der sie von außen sehenden gesellschaftlichen Gruppen (Arbeiter, Gebildete) war die protestantische Kirche bereits abgeschrieben und hatte jegliche Prägekraft verloren. Angesichts von „Glaubensmut und Bekenntnistreue“ (P 1,381f), die wider Erwarten in ihr aufgebrochen sind, müssen selbst die außen Stehenden ins Staunen geraten. Erst jetzt gelingt eine vollständige Analogisierung der eigenen Situation mit dem Ereigniszusammenhang der biblischen Erzählung. Was der protestantischen Kirche widerfahren ist, lässt sich im Blick auf deren Geschichte nur als Wunder göttlichen Handelns verstehen. In diesem Sinne formuliert der Prediger: „Wir sind heute als Prediger der evangelischen Kirche in einer ganz ähnlichen Lage wie die Apostel damals im Tempel“ (P 1,375f).
Nachdem die Hörer den Erkenntnisweg der apostolischen Predigt mitgegangen sind und sich durch den Tadel haben zurechtweisen lassen, können sie dieses Wunder angemessen verstehen: „[…] die Erweckung und Erhebung, die wir erlebt haben, [darf] nicht zur Grundlage unserer Gewißheit und unseres Bekenntnisses werden“ (P 1,333–335) – darum wird sie erst am Schluss in den Blick genommen. Die Hörer begegnen ihrer eigenen kirchlichen Wirklichkeit nun als in das apostolische Selbstverständnis Eingeweihte. Damit vollzieht der Prediger den letzten, entscheidenden Schritt in der Transformation der Rollen des Textes auf die Hörer: Die Apostelrolle wird nicht mehr nur gegenüber der Gemeinde vertreten, sondern auf letztere selber übertragen. Die Predigthörer haben nicht mehr die Position der staunenden Menge, sondern stehen inmitten der Zeugnissituation und werden für sie gegenüber den außen Stehenden in die Pflicht genommen. Vor dem Hintergrund, dass sie selber mit einem Verkündigungsauftrag versehen sind, fragt er: „Finden die Menschen, die in den Tempel kommen, um zu hören, wie das geschehen konnte, dort auch das Wort und das Bekenntnis, das allein die Antwort auf ihr Staunen und Fragen sein kann? Wollen wir nicht bei den Aposteln in die Schule gehen, damit das fragende und verwunderte Volk die rechte Antwort findet?“ (P 1,397–402).
Diese letzte Rollenübertragung erlaubt es dem Prediger, die Ausgangsszene bis in einzelne Züge hinein auf die Gegenwart zu übertragen. Der Gedankenkreis der Predigt schließt sich, indem die eingangs den Aposteln zugeschriebenen Verhaltensweisen nun als Orientierungsmuster für die Gegenwart normativ gemacht werden: – Hatte der Prediger am Beginn an den Aposteln eine „wunderbare Gelassenheit“ (P 1,69) als aus dem Zeugnis des Namens Jesu hervorgehender Gewinn dargestellt, so propagiert er diese Haltung nun für die gegenwärtige Orientierung: „Wir werden also ganz bestimmte Ziele und Pläne, die wir vielleicht haben – und wie sollten uns Hoffnung und Verantwortung für die Kirche nicht immer wie-
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der ins Plänemachen und Zielsetzen hineintreiben! – wir werden sie dennoch abblenden, aus dem Sinn schlagen, preisgeben müssen. Wir werden auch hier aus der Erinnerung an das Gestern und aus der Sorge um das Morgen herausmüssen, um ganz im Heute zu stehen; um eingekeilt zwischen unseren Sünden und Gottes Verheißungen in dem engen Raum der gegenwärtigen Stunde das zu tun – was nun eben die Apostel damals taten, als sie von der Menge gestellt wurden: sagen, in welchem Namen der Lahme heil geworden ist“ (P 1,365–374).
– Hatte der Prediger eingangs an den Aposteln gewürdigt, dass sie sich nicht „aus eigener Weisheit und Kunst“ verteidigen, sondern „auf die Antwort Gottes“ verweisen (P 1,33–35), so fordert er nun für das Selbstverständnis der Verantwortungsträger in der Bekennenden Kirche: „Unsere Namen sollten hier auf Erden verschwiegen und vergessen sein, damit alles unter einem Namen geschieht und in ihm verantwortet wird, in dem Namen, mit dem wir als Lehrer und Prediger des Evangeliums dem Kranken die Gesundheit geschenkt haben“ (P 1,421–424).
– Die Einführung der Gottesrolle in das Szenarium vor dem Hohen Rat bildet schließlich die Grundlage dafür, Gott als Subjekt der gegenwärtigen Verkündigung zu identifizieren. Den Predigern wird ein Selbstverständnis nahe gelegt, nach dem sie nicht die planenden Akteure sind, sondern sich gegen ihren eigenen Widerstand mitreißen lassen von der Selbstbewegung des Wortes Gottes, die ihnen uneinholbar voraus bleibt: „Diese Verkündigung will heute heraus. Wir werden sie nicht dämpfen können“ (P 1,440f). „Wir müssen Schritt halten mit dem Siegeszug Gottes und dürfen nicht müde werden, wenn uns auch darüber der Atem ausgeht. An der Stelle, wo wir als Lehrer und Prediger der Kirche stehen, fällt die Entscheidung“ (P 1,452–455).
In der analogen Erschließung des biblischen Szenariums für die gegenwärtige Orientierung wird vom Ende der Predigt her noch einmal deutlich, wie stark die Schilderung der biblischen Welt geprägt ist durch die Integration von Konfliktmustern der kirchlichen Wirklichkeit des Jahres 1936 sowie von den theologischen Grundüberzeugungen des Predigers. In diesem Sinne werden etwa die Apostel als exemplarische Typen für das unerschrockene und unmittelbare Christuszeugnis „vor ihrer geistlichen Behörde“ (P 1,20f), im Gegensatz zu „kirchenamtliche[r] Autorität und theologische[r] Schriftgelehrsamkeit“ (P 1,23f) charakterisiert. Das kairologische Bewusstsein „ganz im Heute zu stehen“ und die Unvermitteltheit des eigenen Agierens sind Ausdruck des für den Prediger konstitutiven christologisch vermittelten Selbstverhältnisses. Die Horizonte der biblischen Erzählung und der Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation sind von Anfang an stark ineinander verschmolzen. Die durchgehaltene „Linie der apostolischen Verkündigung“ (P 1,296) wird dabei am prägnantesten greifbar in der Erwartung einer höchst dynamischen Selbstbezeugung des Wortes Gottes in der Welt, die der Anschauung entzogen und darum lediglich an der eigentümlichen Haltung der von ihm ergriffenen Menschen darstellbar ist. 182
. Von der Rückkehr des unreinen Geistes – Analyse zu einer Predigt über Mt ,– .. Binnengliederung und Themenentfaltung Als zweites Beispiel für narrative Rollenentfaltung in einer Predigt wählen wir eine 16 Jahre später in einer gänzlich gewandelten Situation gehaltene. Zwischen diesen beiden Predigten liegen der Zweite Weltkrieg mit der daraus resultierenden Grund legenden Veränderung der politischen und kirchlichen Verhältnisse in Deutschland und die Unterbrechung von Iwands akademischer Tätigkeit durch die siebenjährige Bekleidung eines Gemeindepfarramtes in Dortmund. Beide Aspekte wirken auf die Gesamtgestaltung der Predigt ein: Ist der äußere Anlass die Amtseinführung der Gemeindeältesten in der Dortmunder Marienkirche, so gestaltet der Prediger seine Ausführungen als ein Mahnwort in eine beängstigende Situation angesichts des Wiederauflebens restaurativer Tendenz im Nachkriegsdeutschland. Die Predigt unterscheidet sich von der über Apg 4,11f durch ihre klar abgrenzbare Gliederung. Handelt es sich bei der Perikope von der Rückkehr des unreinen Geistes um ein Gerichtswort Jesu über diejenigen, die gegen den Anbruch der Gottesherrschaft opponieren,55 so beginnt der Prediger damit, dass er den Unheilssinn der Geschichte auf die politischen Verhältnisse, unter denen die Gemeinde existiert, appliziert und endet mit der Bitte um Abwendung dieses Geschehens.56 Ziel der Predigt ist es, bei den Hörern die Wahrnehmung für das Wort Gottes in der konkreten politisch-gesellschaftlichen Realität von der biblischen Perikope her zu schärfen. In diesem Sinne fordert er im letzten Teil die politische Rechenschaftspflicht der Verantwortlichen in der Gemeinde „vor den Mächtigen und Gewaltigen“ (P 2,258f) ein. Gerahmt von Einleitung und Schluss entfaltet er den Gedankengang in drei gleichmäßig proportionierten Teilen. – Bemerkenswert ist zunächst, dass der Prediger mit einer Reflexion auf die Wahl des Predigttextes einsteigt und dabei die persönlichen Motive aufdeckt, die ihn dazu veranlasst haben: „Ganz gewiß werden einige unter Ihnen erstaunt sein, daß wir gerade diesen Text an diesem besonderen Tag, an dem Sie als die Ältesten der Gemeinde ihr Amt antreten, gewählt haben. Aber wenn ich ganz offen sein darf: es ist ein Text, der mir seit langem nachgeht, […]“ (P 2,1–4).
Den Grund für diese Textwahl entfaltet er im Einleitungsteil (P 2,1–24): Der Text erscheint ihm in besonderer Weise geeignet, die gegenwärtige Situation im Nachkriegsdeutschland zu erschließen. Letztere sieht er dadurch charakterisiert, dass die Überlebenden des Krieges, „dem fast gewissen Untergang“ (P 2,5f) entkommen sind. Anstatt dies zum Anlass für eine 55 Vgl. Mt 12,38f. 56 Vgl. P 2,319f: „Der Herr behüte uns vor allem Übel, der Herr behüte deine Seele!“
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Grund legende Neuorientierung zu nehmen, macht sich unter den Geretteten wiederum „Sicherheit und Vermessenheit“ (P 2,16) breit, was an der „Restauration von Ordnungen und Begriffen, die in Wahrheit verdient hätten, zerbrochen […] zu werden“ (P 2,23f), sichtbar wird. Diese Situation, in die sich der Prediger aufs Höchste involviert weiß, macht es notwendig, das Drohwort Jesu auf der Kanzel zu Gehör zu bringen. – Im ersten Teil der Predigt (P 2,25–125) werden die Hörer in das Beziehungsgeflecht eingeführt, innerhalb dessen das Gerichtswort Jesu im biblischen Text zu stehen kommt. Die Ausleuchtung seines narrativen Umfeldes ist für den Prediger notwendig, um bei den Hörern den Eindruck zu vermeiden, als handle es sich nur um „ein Wort der Sorge oder […] der Drohung“ (P 2,27f) dem „ganz und gar das Evangelium zu fehlen scheint“ (P 2,27). Anlass der Mahnung ist vielmehr die Heilung eines Besessenen, die unter dem jüdischen Volk Aufsehen erregt und große Erwartungen geweckt hat. Dem steht allerdings eine andere Gruppe, die der Pharisäer und Schriftgelehrten, gegenüber. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie über ihrer Gelehrsamkeit die Zeichenhaftigkeit dieses Wunders für den Anbruch der Königsherrschaft Gottes verkennen und Jesu Wirken stattdessen mit dem Teufel in Verbindung bringen. Wegen dieser Blindheit sagt Jesus ihnen das Gericht voraus. Mit seiner Gegenüberstellung der beiden Gruppen des Volkes und der Pharisäer erreicht der Prediger, dass das Nebeneinander von Einladung und Gericht, Scheidung und Entscheidung, in dem das Jesuswort im 12. Kapitel des Matthäusevangeliums zu stehen kommt, für die Hörer transparent wird. Der Teil kulminiert darin, dass er den soteriologischen Gewinn des exorzistischen Wirkens Jesu in der Wirklichkeit der Predigthörer verankert, indem er ihn als von ihnen am eigenen Leib erfahrene Errettung vor Augen führt (vgl. P 2,100–106). Von da aus zieht er eine Linie zu den sich ergebenden Konsequenzen für die gegenwärtige politische Orientierung aus (vgl. P 2,115–123). – Im zweiten Teil der Predigt (P 2,126–190) entfaltet der Prediger in theologischer Grundsätzlichkeit, was es heißt, dass Jesus zu einem neuen, sich in der Umkehr zu Gott konstituierenden Menschsein befreit. Befreiung aus der Dämonologie bedeutet – so schärft er in Anknüpfung an die Demutstheologie Luthers ein – das Eingeständnis eigener Ohnmacht und das Sich-Empfangen aus der Gnade Gottes. Für die derartige Interpretation des Exorzismusgeschehens macht er als Ort der Realisierung in der konkreten Lebenswirklichkeit der Hörer die sich an Jesus haltende Gemeinde namhaft: „[…] eine Gemeinde ist eigentlich der Zusammenschluß solcher wahren, schwachen, aber erlösten und geretteten Menschen, für die der unsaubere Geist etwas Fremdes, gewiß etwas Bedrohliches, aber eben doch von außen her Bedrohliches ist“ (P 2,180–183).
– Nachdem er dargelegt hat, worin der Gemeinde die Befreiung vom unreinen Geist zu Teil geworden ist (vgl. P 2,191f), thematisiert er erneut den 184
Unheilssinn des Gerichtswortes Jesu und zwar indem er die Hörer dazu auffordert, „unseren Blick von Jesus aus [zu] richten auf den unsauberen Geist, den wir als Volk in dieser besonderen Periode unserer Geschichte erfahren haben“ (P 2,192–194). Dieser Teil (P 2,191–298) legt in drei Punkten thetisch dar, worin die Dämonien gegenwärtig bestehen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stehen und nach deren Zusammenbruch untergründig weiterwirken (P 2,191–217: Antisemitismus; P 2,218–260: Freund–Feind–Denken; P 2,261–292: Meinungsmanipulation). Sie werden in drei parallel strukturierten Abschnitten behandelt. Dabei bildet den Ausgangspunkt jeweils (1.) die Benennung eines Misstandes im öffentlichen Leben. Sodann (2.) stellt der Prediger heraus, dass diese Misstände sich unmittelbar gegen die Christuswirklichkeit richten, wie die Gemeinde sie kennen gelernt hat, und folglich als Gestalten des unreinen Geistes identifizierbar sind. In der Konsequenz werden die Gemeinde und ihre Ältesten (3.) für die Wachsamkeit gegenüber ihnen und ihre Abwehr durch Bezeugung Christi in die Pflicht genommen. – Am Predigtschluss (P 2,299–320) greift der Prediger die eingangs thematisierte Rechtfertigung der Wahl des Predigttextes nochmals auf (vgl. P 2,302f), um den Hörern den entscheidenden Erkenntnisgewinn desselben resultativ darzulegen: Heilung von Besessenheit erschöpft sich nicht in der Herstellung äußerer Ordnung und Beseitigung der „Spuren der Verwüstung“ (P 2,301). Gewähr gegen einen erneuten Rückfall in die Dämonie bietet einzig die Einwohnung des Geistes Gottes in seiner Gemeinde und bei den Glaubenden. Dementsprechend endet die Predigt mit der demütigen Bitte um das Kommen des Schöpfergeistes (P 2,310) und um Behütung vor künftigem Übel (vgl. P 2,319f). .. Die sukzessive Entfaltung der Rollen des biblischen Textes auf die gegenwärtige Situation der Predigthörer hin Nachdem wir die Predigt ihren einzelnen Teilen nach untergliedert haben, wollen wir nun analysieren, auf welche Weise der Prediger sie miteinander verknüpft und dabei sein Verfahren der Rollenentfaltung zur Anwendung bringt. ... Mahnung vor einer neuen Selbstsicherheit (P ,–) Ein Unterschied zu der Predigt über Apg 4,11f besteht darin, dass der Prediger das Drohwort Jesu direkt auf die Situation der Hörer bezieht, ohne zuvor sein narratives Umfeld szenisch zu rekonstruieren. Stattdessen reflektiert er auf seine eigene Geschichte mit diesem Text („es ist ein Text, der mir seit langem nachgeht“, P 2,3f) und macht als Grund für dessen Wahl namhaft, dass ihm eine Erschließungskraft für die gegenwärtige Situation zukommt. In diesem 185
Vorgehen begegnet uns allerdings bereits eine für den Gesamtcharakter der Predigt entscheidende Rollenübernahme: Der Prediger selbst vertritt die biblische Rolle des mahnenden Jesus in einer spezifischen Zuspitzung gegenüber der Gemeinde. Um die Art, in der er diese Rolle aufnimmt und füllt, zu bestimmen, erscheint es uns hilfreich, Ausführungen aus seiner Homiletik-Vorlesung zur Interpretation heranzuziehen. Dort erörtert er in einem eigenen Abschnitt die Möglichkeit, dass es neben der agendarischen Schriftauslegung „besondere Formen“ der Verkündigung gebe, welche die Wahl eines besonderen Textes im Bezug auf die Gemeindesituation notwendig machen. Vorgezeichnet sieht er diese Formen in der „Verkündigung der Apostel“.57 In diesem Zusammenhang formuliert er hinsichtlich der „prophetische[n] Predigt“:58 „Es handelt sich dabei um die Deutung der Zukunft. Es ist das nicht leicht und nicht jedem gegeben. Wem es aber gegeben ist, den soll man nicht hindern. ‚Dem Geist dämpfet nicht!‘ Wenn Sie einmal Ihrer Gemeinde eine solche Predigt halten müssen, aus dem Erschrecken über die Zeichen der Zeit heraus, dann tun Sie’s. Aber deuten Sie die Zeichen der Zeit dabei nicht nach irgendwelchen Meinungen, sondern immer an Hand der heiligen Schrift. Das dient dazu, die zerstörenden Faktoren bei Zeiten zu erkennen, das dient dazu recht aufzuwachen.“59
Die Predigt über Mt 12,43–45 ist u.E. ein Paradigma für diese Form der Verkündigung, was insbesondere von ihrer Einleitung her deutlich wird. Handelt es sich um ein zur Umkehr mahnendes Gerichtswort, so nimmt der Prediger es im Kontext der Umkehrforderungen prophetischer Tradition wahr. In diesem Sinne praktiziert er das von ihm favorisierte Verfahren des Konkordanzhörens auf die Weite der Bibel und formuliert: „[…] neben einem Wort wie dem eben gehörten stehen dann noch einige andere Mahnungen, die mir nicht aus dem Sinn wollen […]. Ich denke etwa an ein Wort wie das aus dem Propheten Jesaja: ‚In dem allen läßt sein Zorn nicht ab; seine Hand ist noch ausgestreckt‘ oder an das andere: ‚Wehe denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich selbst für klug‘“ (P 2,8–15).
Wie gestaltet der Prediger die Rolle des prophetischen Mahners gegenüber der Gemeinde und auf welche Weise prägt sie seine Wahrnehmung der Situation? – Zunächst ist zu sagen, dass bereits der Einstieg in den Text über die persönliche Betroffenheit als Element dieser Rolle zu identifizieren ist: Jesus sieht sich dem Verlauf des Evangeliums nach trotz der Transparenz seines Wirkens für den Anbruch der Heilszeit einer wachsenden Gegnerschaft ausgesetzt. Der Prophet Jesaja leidet angesichts des Widerspruches zwischen Offensichtlichkeit der Zeichen für das göttliche Gericht und der Verstockung Israels unter zunehmender Vereinzelung und Verzweiflung. Analog dazu qualifiziert der Prediger seine eigene Existenz durch die Be57 Homiletik, 66/494. Vgl. Kapitel 3.3.2.2. 58 Homiletik, 69/497. 59 Ebd., 69f/497.
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troffenheit vom gegenwärtigen Riss zwischen der Erfahrung göttlichen Handelns und allgemeiner Unbußfertigkeit. Als Einzelner, dem die wunderbare Errettung „von dem fast gewissen Untergang“ (P 2,5f) evident ist, positioniert er sich im Gegenüber zu einer Allgemeinheit, in der sich erneut eine unerklärliche „Sicherheit und Vermessenheit“ (P 2,16) breit macht. Das Verstockungsmotiv wendet er unmittelbar auf sein eigenes Befinden zurück, indem er bekennt, dass ihm darüber bange wird (vgl. P 2,15) und die Entwicklung ihn „bis an den Rand der Verzweiflung“ (P 2,18) führt, während andere völlig „unbesorgt“ (P 2,18f) agieren. – Eine weitere Konkretisierung der Rolle stellt die bewusste Inkaufnahme der Inkongruenz zwischen Botschaft und Gottesdienstsituation dar. In diesem Sinne formuliert er im ersten Satz: „Ganz gewiß werden einige unter Ihnen erstaunt sein, daß wir gerade diesen Text an diesem besonderen Tag, an dem Sie als die Ältesten der Gemeinde ihr Amt antreten, gewählt haben“ (P 2,1–3).
Der Anlass, die Amtseinführung von Gemeindeältesten, lässt eher eine feierliche Ordinationspredigt erwarten, die den Blick auf die Aufgaben letzterer in der Gemeinde lenkt und ihnen dafür den Rücken stärkt. Stattdessen werden die Hörer mit einer düsteren Prognose über gesellschaftliche Missstände konfrontiert, welche die Einflussmöglichkeiten der Ortsgemeinde bei Weitem übersteigt. In diesem Vorgehen kommt die in der biblischen Rolle angelegte Erwartung einer Öffentlichkeitswirksamkeit des Wortes Gottes und seines Handelns im Geschick der großen Politik zum Tragen. ... Das exorzistische Wirken Jesu im Spannungsfeld von Aufnahme und Verstockung (P ,–) Hat der Predigteinstieg die Funktion, die Hörer im Sinne der Rolle eines prophetischen Mahners wachzurütteln für die Wahrnehmung einer sich in Kirche, Politik und Gesellschaft breit machenden Selbstsicherheit, so geht der Prediger im ersten Großabschnitt auf das narrative Umfeld des biblischen Textes zurück. Erst jetzt entfaltet er das interne Beziehungsgeflecht, in dem das Jesuswort zu stehen kommt, und leistet damit jene narrative Inszenierung erster Ordnung, die in der Predigt über Apg 4,11f den Ausgangspunkt bildete. Motiviert ist der Wechsel der Darstellungsebene durch die Notwendigkeit, das in der direkten Konfrontation von Text und Situation entstandene Negativgefälle der Botschaft zu modifizieren. Er vermutet, dass bei den Hörern der Eindruck entstanden sei, als solle mit dem Gerichtswort lediglich die „Unvermeidlichkeit des Untergangs angekündigt“ (P 2,29f) werden und fordert sie darum auf zu „beachten, in welchem Zusammenhange es uns begegnet“ (P 2,30f): Jesus hat einen Besessenen geheilt. Dem Wechsel der Ebene entspricht eine thematische Gewichtsverschiebung. In den Mittelpunkt tritt nun die Frage, wie die das Gerichtswort al187
lererst veranlassende Heilungstat in der Umwelt Jesu aufgenommen wird. Zu ihrer Beantwortung versetzt der Prediger sich wiederum in die Position des scheinbar neutralen Beobachters eines sich auf der Bühne der biblischen Welt vollziehenden Geschehens. Die Darstellung des Szenariums konvergiert darin mit dem von Apg 4,11f, dass das favorisierte Wertobjekt – die Befreiung eines Menschen von dämonischer Besessenheit – den Hörern indirekt über die an den biblischen Rollen ablesbare Haltung der Aufnahme und Ablehnung nahe gebracht wird: Es stehen sich gegenüber das jüdische Volk, das in dem Kommen Jesu die Erfüllung der davidischen Verheißung sieht, und die Pharisäer und Schriftgelehrten, die blind dafür sind und hinter seinem Wirken dämonische Kräfte wittern. Ein Unterschied zur Darstellung des Szenariums vor dem Hohen Rat besteht darin, dass der Prediger es offener gestaltet, indem er die biblischen Rollen von Anfang an mit der Lebenswelt der Hörer synthetisiert: In diesem Sinne wird die Rolle des Volkes auf die gottesdienstliche Gemeinde übertragen und mit aktualisierenden Elementen aus deren Erfahrungswirklichkeit, wie dem „Streit der Ideologien“, „Staatsmänner[n]“, „Journalisten und […] Militärs“ (P 2,39–42) aufgefüllt. Auch die Pharisäerrolle bezieht er unmittelbar auf die gegenwärtige Gemeindesituation, indem er deren Verhalten als „Gefahr […] für die Theologen und Kirchenmänner, für die, welche als Älteste und tonangebende Glieder in der Gemeinde wirken“ (P 2,78–80) generalisiert. Die pharisäische Selbstgerechtigkeit wird mit einer bestimmten Haltung christlich-konservativer Kreise im Ost-West-Konflikt identifiziert und auf das „sich als den unentbehrlichen Schnittpunkt der Wege Gottes brüstende[.] christliche[.] Abendland[.]“ (P 2,88f) bezogen. Diese Offenheit hängt damit zusammen, dass der Predigttext bereits als ein die gegenwärtige Situation erschließendes Wort eingeführt worden war und von Anfang an den Rahmen für die Gesamterschließung der Lage abgibt. Wie gestaltet er diese Rollenübertragungen im Einzelnen? Die Rolle des Volkes Das Erste, was der Prediger in den Blick nimmt, ist die Aufnahme des Wirkens Jesu durch das jüdische Volk: „[…] eben hat er [Jesus] einen Menschen geheilt, einen Besessenen, und diese Tat hat höchste Bewegung ausgelöst im Volk. Sie ahnen an diesem seinem Tun, daß hier die Verheißungen der Gottesherrschaft, die am davidischen Stamme hingen, in Erfüllung gehen. Sie ahnen etwas davon, daß der Herr aller Herren und der König aller Könige mitten unter sie getreten ist, daß es von dieser Gottesherrschaft heißen darf: Heute und Jetzt! Heute ist euch das Heil widerfahren. Sie erleben das Wunder, daß dieser Jesus von Nazareth es vermag, den bösen Geist auszutreiben und den Menschen zu retten“ (P 2,31–39).
Die Reaktion des Volkes auf die Heilungstat Jesu ist bestimmt durch eine unter ihm anhebende Bewegung, den Modus der Ahnung (vgl. P 2,34.53), ehrfürchtiges Staunen und Erwartung. Aus seiner Perspektive hat das Wirken Jesu die Gestalt des „unbegreiflichen Wunder[s] der Königsherrschaft Gottes“ 188
(P 2,53). Darin verbindet sich das Moment der Nähe und Betroffenheit („Heute und Jetzt!“) mit dem der bleibenden Distanz angesichts der unvermittelten Durchbrechung des konventionellen Lebenszusammenhanges. In der Darstellung Jesu kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass seine Gestalt ganz auf die Seite Gottes gestellt und dem zwischenmenschlichen Miteinander entzogen wird. Sie wird ihrem Handeln nach gar nicht in den Blick genommen, sondern lediglich aus der Perspektive des Volkes mit herrschaft lichen Titeln belegt: „Sie ahnen etwas davon, daß der Herr aller Herren und der König aller Könige mitten unter uns getreten ist, […]“ (P 2,34–36). „Er ist wahrhaftig der, auf welchen alle Verheißungen der Davidsohnschaft übertragen sind: denn die Herrschaft liegt auf seiner Schulter. Er heißt: Wunderbar, Rat, Kraft, Ewig-Vater, Friedefürst“ (P 2,55–57).
Wiederum trägt der Prediger seiner Auffassung von der Entzogenheit des göttlichen Handelns gegenüber jedem menschlichen Zugriff Rechnung, indem er es indirekt über die Haltung der von ihm Betroffenen zu Gesicht bringt. Erst angesichts der doxologischen Differenz zwischen Alltags- und Verheißungswirklichkeit wird die Heilsgegenwart Jesu identifizierbar. Er konkretisiert diese Differenzerfahrung, indem er die Situation des biblischen Volkes konnotativ mit der des durch Krieg und Zerstörung gekennzeichneten deutschen Volkes verknüpft und die Hörer auf diese Weise in das Staunen angesichts der Macht Jesu über die bösen Geister zu integrieren sucht: „Denn wenn wir, die wir eben keine Macht über den unsauberen Geist besitzen, den Kampf mit diesem aufnehmen, wenn wir uns einlassen in den sogenannten Streit der Ideologien und dann unsere Staatsmänner und unsere Journalisten und wohl auch unsere Militärs das Beste tun, was sie vermögen, um das Eindringen eines bösen, unsauberen Geistes zu verhindern, dann zeigt meist ein Totenfeld, ein Feld von erschlagenen Leichnamen und gebrochenen Herzen das Werk an, das wir fertig gebracht haben. Und dann wundern wir uns noch, wenn aus diesen Stätten des Todes, aus dieser Hölle, aus dieser Tiefe des Nichts – der ‚Dürre‘ und Unfruchtbarkeit, wie unser Text sagt – neue, wilde und vermehrte Geister aufstehen, die nur darauf gewartet haben, daß Ordnung und Sauberkeit wiederhergestellt sind, um ihr Werk der Zerstörung gewaltiger und schrecklicher tun zu können. Darum bewegt sich etwas in dem Volk, als sie sehen, wie Jesus rettet und wie er den Menschen von dem Dämon, der ihn besessen machte, reinigt“ (P 2,39–52).
Im durch die Katastrophe des Weltkrieges geprägten Erfahrungshorizont der Hörer ist die Erwartung einer Überwindung des die Lebensverhältnisse durch Chaos und Gewalt bedrohenden Bösen zutiefst erschüttert worden. Sie blicken auf eine Vergangenheit zurück, in der die Beschwörung von „Ordnung und Sauberkeit“ durch ein totalitäres Regime ein umso größeres „Werk der Zerstörung“ hervorgebracht hat. Im Lichte des Beziehungsgeflechtes der biblischen Erzählung wird das daraus resultierende Gefühl der Enttäuschung und Verunsicherung allerdings entscheidend modifiziert. Die Stellung des Volkes zu Jesus eröffnet den Hörern die Möglichkeit, die Einsicht in die eigene 189
Ohnmacht als Auslöser einer Bewegung auf den biblischen Christus anzunehmen. Die Resignation wird in Beziehung gesetzt zur doxologischen Differenz zwischen den die Heilsgegenwart Gottes Ersehnenden (vgl. P 2,61f) und ihrer Verwirklichung im Auftreten Jesu. In dieser Perspektive erscheint sie als höchst angemessene Haltung. Die Gottesherrschaft realisiert sich nicht als Resultat planvollen strategischen Handelns, sondern erst dort, wo solche Möglichkeiten erschöpft sind. Unvermittelt tritt Jesus „mitten unter sie“ (P 2,35) und stellt die Menschen in ein neues „Heute und Jetzt“ (P 2,36), dem nur mit Lob angemessen begegnet werden kann. Legt der Prediger die Haltung des biblischen Volkes zunächst als Möglichkeit zur religiösen Bewältigung gegenwärtiger Ohnmacht nahe, so geht er in der folgenden Entfaltung dieser Rolle noch einen Schritt weiter, indem er die Exorzismuserfahrung direkt am Lebensgeschick der Hörer identifiziert. Von der Errettung vom Bösen wissen sie nicht lediglich vermittels des biblischen Erzählzusammenhanges. Entscheidend ist, dass das dort Geschilderte ihnen bereits am eigenen Leib zu Teil wurde. In diesem Sinne formuliert er: „[…] ganz nahe, mitten unter uns, menschlich und rührend in seiner Einfalt steht es vor uns: ‚wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausgefahren ist.‘ Das ist das Evangelium, das ist seine echte, mitten unter uns sich begebende Realität. Und wenn wir das Herz auf dem rechten Fleck hätten, zumal eben dieses unser so schwer angefochtenes Geschlecht, dann würden wir jetzt erst einmal alle stille werden und einen Blick zurücktun in jene Zeit, da eben dieser unsaubere Geist mit seiner ganzen Furchtbarkeit unter uns hauste und würden vielleicht auch einmal an jene Gebete und Gelübde denken, die wir taten, als wir in seinem Gefängnis schmachteten und ahnen, daß wir seine Beute werden sollten“ (P 2,97–106).
In seiner Schilderung der Erfahrung von Ohnmacht und Errettung greift der Prediger das Motiv aus der Einleitung wieder auf, wonach die Gemeinde „in diesem wunderbar von dem fast gewissen Untergang geretteten Deutschland“ (P 2,5f) steht. Dieser Sachverhalt wird nun konkretisiert. Er führt seinen Hörern das Wüten des Bösen anhand der Schrecken des zurückliegenden Bombenkrieges vor Augen, der die Stadt Dortmund verwüstet hat und den die Gemeindeglieder in den Luftschutzkellern über sich ergehen lassen mussten (vgl. auch P 2,233–238).60 Das Beispiel hat den Vorteil, dass es die Aufmerksamkeit der Hörer im von diesem Zerstörungswerk betroffenen gottesdienstlichen Raum zentriert.61 Am Kontrast zwischen der ohnmächtigen Erwartung des eigenen Todes und dem aus der damaligen Perspektive unwahrscheinlichen Fall, „in dieser Stunde und an dieser Stätte“ (P 2,191f) als Überlebende wieder zu einem Gottesdienst zusammenzukommen, wird die exorzistische Macht Jesu greifbar. Zugleich wird die dem jüdischen Volk zugeschriebene Haltung mit konkreten, das Gottesverhältnis der Hörer bestimmenden Vollzügen identifiziert: Angesichts der erlebten Differenz von Bedrohung und Errettung gilt es immer wieder „stille [zu] werden“ und „einen Blick zurückzutun“, um sich letz60 Vgl. Kapitel 6.4.3.1. 61 Vgl. Kapitel 6.4.5.1.
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terer erinnernd zu vergewissern. In einer solchen Einkehr wird evident, dass das Sehnen des Volkes auch das eigene Krisenverhalten bestimmte und sich in den unter der Anfechtung getätigten „Gebete[n] und Gelübde[n]“ Ausdruck verschaffte. Darum sind das Staunen und die große Freude, welche das Volk beim Anblick der Heilung des Besessenen ergriffen haben, angemessene Reaktionen auf die gegenwärtige, durch die Befreiung vom Dämon des Krieges gekennzeichnete Situation. Erscheint Gott in der vermittels der biblischen Rolle wahrgenommenen Gegenwart als alleiniges Subjekt des Rettungsgeschehens, so favorisiert der Prediger auf Seiten des Menschen eine passive Haltung staunender Daseinsvergewisserung im „Heute und Jetzt“ (P 2,36), die sich davon ergreifen lässt. Wichtig ist ihm allerdings, dass die das Verhältnis zu Jesus bestimmende Ohnmacht und Passivität nicht mit einer resignierenden Gleichgültigkeit gegenüber den im politischen Raum stattfindenden Entwicklungen verwechselt wird. Um einen solchen Fehlschluss von Anfang an auszuschließen, betont er bestimmte Züge in der Rolle des Volkes und des durch ihn wahrgenommenen Jesus. Sie sind für die weitere Entfaltung des Gedankenganges der Predigt von entscheidender Bedeutung: Jesus wird in diesem Sinne als derjenige geschildert, dessen Macht von Anfang an eine Affinität zur weltlichen politischen Herrschaft aufweist, sich über sie erstreckt und für deren Ausübung Konsequenzen hat. Das Volk erkennt dies und nennt ihn „Herr[n] aller Herren und […] König aller Könige“ (P 2,35). Er ist nicht gekommen, um die „Unvermeidlichkeit des Untergangs“ (P 2,29) anzukündigen, sondern um sein Werk der Dämonenaustreibung über alle Bereiche des Lebens auszudehnen. Am Ende des ersten Teils beschwört der Prediger diese Reichweite, indem er konstatiert, dass mit dem Kommen Jesu das Böse „abgedrängt ist aus allem, wo immer Menschen leben und wirken, nicht nur aus dem religiösen, sondern ebenso aus dem politischen aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben“ (P 2,114–116). Im Verhalten des Volkes entspricht diesem Zug des Wirkens Jesu, dass seine Betroffenheit von ihm sich keineswegs in einem regungslosen Staunen erschöpft. So sehr Jesus einerseits als das alleinige Subjekt der Errettung beschworen wird und das Verhältnis zu ihm passiv strukturiert ist, so sehr kommt es dem Prediger andererseits darauf an, dass der in der Begegnung mit ihm sich vollziehende Eintritt in eine neue Gegenwart die Betroffenen im Wirken auf ihre Umwelt aktiviert. In diesem Sinne betont er, dass die Heilungstat Jesu im Volk „höchste Bewegung ausgelöst“ (P 2,32 vgl. P 2,51) hat. Der erste Teil schließt mit der Schilderung derjenigen menschlichen Haltung, welche diesem Ineinander von Aktivität und Passivität auf angemessene Weise entspricht: „Wo Er mitten unter uns tritt, mögen wir noch so schwach und elend, angefochten und zerschunden sein, da dürfen wir unser Angesicht Gott und dem Teufel den Rücken zukehren. Da ist der Tage nahe herbeigekommen und die Nacht im Sinken. Das sollte man nicht Schwärmerei nennen, denn was heißt sonst Umkehr, wenn nicht dies!“ (P 2,119–123).
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Mit der Benennung der Umkehrforderung als sich aus dem Auftreten Jesu ergebende Konsequenz erreicht die Darstellung des szenisch-narrativen Hintergrundes der Perikope ihren Zielpunkt: Zweck der Mahnrede Jesu ist es nicht, den Menschen in einem finalen Sinne das Gericht anzusagen, sondern sie zur Umkehr zu bewegen. Dem Prediger kommt es darauf an, sie als eine Befreiung von einer dämonischen Knechtschaft zu begreifen. In diesem Sinne hat sie nicht den Charakter einer gesetzlichen Forderung, sondern eher den einer dringlichen Einladung („da dürfen wir“). Sie eröffnet eine neue Lebensmöglichkeit, die durch überkommene Gebundenheiten leidvoll verstellt war. Hervorgehoben wird dieses Moment dadurch, dass er den frömmigkeitsgeschichtlich vorbelasteten Begriff der „Buße“, wie er im Luthertext steht (vgl. Mt 12,41), ersetzt. Er schildert diese Haltung im Rekurs auf den Nahkontext der Geschichte von der Wiederkehr des unreinen Geistes, in dem Jesus die im Prophetenbuch Jona (Jona 3,5) berichtete Bekehrung der Leute von Ninive als Gegenbeispiel zur Verstocktheit von Pharisäern und Schriftgelehrten anführt (Mt 12,41; vgl. P 2,90–92). Entscheidend für ihn ist, dass die Niniviten in der Begegnung mit dem Gott Israels vollständig mit den sie bisher leitenden Orientierungen gebrochen und sich auf ein gänzlich neues Leben eingelassen haben. Eine solche Umkehr ist auch das Gebot der Stunde. Sie strahlt in alle Bereiche der Gesellschaft hinein aus und ist das Gegenbild zur gegenwärtig erlebten „Restauration von Ordnungen und Begriffen“ (P 2,23). Darum darf sie von denjenigen, die sich ihr verweigern, den Vorwurf der „Schwärmerei“ nicht scheuen.62 Die Rolle der Pharisäer und Schriftgelehrten Kontrastiert wird die favorisierte Haltung des Volkes durch die Schilderung des Verhaltens von Pharisäern und Schriftgelehrten zum Auftreten Jesu. Innerhalb des ersten Teils führt der Prediger sie durch einen abrupten Wechsel der Perspektive ein: „Aber da gibt es noch etwas anderes, unser Text nennt sie die Pharisäer – das sind die Frommen, die von solcher Besessenheit wenig wissen –, und die Schriftgelehrten, das sind die Theologen, die am allerschwersten zu glauben vermögen, daß es solch ein Heute und Jetzt für die von ihnen gelehrte, aber offenbar nicht heiß ersehnte Gottesherrschaft gibt. Sie gleichen den Menschen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen vermögen und die nun, als das Wunder einer solchen Errettung vor ihren Augen geschieht, nichts anderes zu sagen wissen, als daß der Teufel und nicht Gott hier seine Hand im Spiel haben müsste“ (P 2,58–66). 62 Mit der Aufnahme dieses Vorwurfes spielt der Prediger konkret auf eine Haltung konservativ-lutherischer Kreise gegenüber den Vertretern der Bruderräte der Bekennenden Kirche und deren Position zu Wiederbewaff nung, atomarer Rüstung und Ost-West-Konfl ikt in den 50er Jahren an. Unter Berufung auf die sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ wurde gegen sie wiederholt der Vorwurf der Schwärmerei geltend gemacht. Ein eindrückliches Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist der Brief Iwands an den Bischof Dibelius vom 7. April 1957, in dem er auf dessen Äußerung reagiert, nur eine „‚ganz kleine Schar von Schwärmern‘“ habe sich der Annahme des Militärseelsorgevertrages auf der EKD-Synode in Bonn verweigert; Sänger, Peter/Pauly, Dieter, Theologie in der Zeit, 156–163.
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Entscheidend für die Applikation der Pharisäerrolle auf die gegenwärtige Hörerschaft ist zunächst, dass der Prediger sie der Gemeinde internalisiert. Die Gefahr der Blindheit für das exorzistische Wirken Jesu ist unter den sich auf seinen Namen Berufenden keineswegs gebannt, sondern umso größer „für die Theologen und Kirchenmänner, für die, welche als Älteste und tonangebende Glieder in der Gemeinde wirken“ (P 2,78–80). Mit dieser Rollenübertragung schafft er die Voraussetzung dafür, den Predigttext als Medium kritischer Selbstwahrnehmung zu hören und ihn in jene Funktion einzusetzen, in der er ihn bereits in der Predigteinleitung vertreten hat: Pharisäisches Verhalten ist nicht das einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft, sondern eine menschliche Grundhaltung, welche die an Jesus gewonnene Glaubenserkenntnis immer wieder zu verschütten droht. Der Gerichtssinn des Textes richtet sich darum auch und gerade gegen Christen, die sich in falscher Selbstsicherheit wiegen.63 Den Legitimationsgrund für die Internalisierung der Opponenten gegen die Sache Jesu in den Kreis seiner Anhänger sucht er im narrativen Umfeld des Evangeliums und findet ihn darin, dass bereits für den Evangelisten das Auftreten Jesu nicht nur auf äußere Feindschaft stößt, sondern letztere bis in den Zwölferkreis reicht. In Anspielung auf den Verrat des Judas (Mt 26,21f) erwägt er die Möglichkeit, als Vertreter des kirchlichen Establishments selber jener pharisäischen Blindheit und Gegnerschaft zu erliegen: „Man fragt sich unwillkürlich: Herr, bin ich’s? Hat mich etwa meine Theologie, meine Lehre, die von uns und unseren Vätern vertretene Dogmatik so blind gemacht, daß auch ich Jesus nicht mehr sehe, daß auch ich nichts davon sehe und glaube, daß wo immer Teufel ausgetrieben werden, der Einbruch Gottes in unsere Welt erfolgt ist und der Satan seine Beute freigeben muß“ (P 2,70–75).
Welche innerhalb der Christenheit begegnende Haltung stellt der Prediger mittels Entfaltung der Pharisäerrolle als der Christusbeziehung unangemessen heraus? – Zunächst konkretisiert er an ihr die in der Einleitung denunzierte „Sicherheit und Vermessenheit“ (P 2,16), mit welcher in der gegenwärtigen Situation die „Restauration von Ordnungen und Begriffen“ (P 2,23) betrieben wird. Sie wird in Beziehung gesetzt zu einem religiösen Selbstverständnis, dass seine Heilsgewissheit aus durch Tradition vermittelten und in hierarchischen Institutionen habitualisierten Glaubenssätzen speist. Pharisäer und Schriftgelehrte sind diejenigen, die „das Amt und das Wissen, die rechte Lehre und das rechte Bekenntnis“ (P 2,83f) haben. Die christliche Tradition ist für sie das Unterscheidungsmerkmal gegenüber ihrer Umwelt. Sie leben in dem Bewusstsein, innerhalb dieses Wertgefüges zu stehen und sich gegen dessen Erschütte63 Der Prediger vermeidet damit jene Gefahr, die Ulrich Luz in seiner Reflexion auf die Wirkungsgeschichte von Mt 12,43–45 folgendermaßen beschreibt: „Bedrückend zeigt die Auslegungsgeschichte, wie jede Gerichtsankündigung pervertiert wird, sobald sie zur Betrachtung des Gerichtes, das über andere erging, durch solche wird, die selbst davon nicht betroffen sind. Schlimm ging es den ‚Häretikern‘ aller Sorte, die – von der erkannten Wahrheit einmal abgefallen – zu hoffnungslos Besessenen und unheilbar Verlorenen wurden. Vor allem ist dieser Text massiv antijüdisch und antisemitisch ausgelegt worden“, ders., EKK I/2,283.
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rung schützen zu müssen. Bricht letztere von außen in es hinein, so wird sie auf zerstörerische Kräfte zurückgeführt (vgl. P 2,64–66). Eine Umwertung dieser Haltung vollzieht der Prediger dadurch, dass er als tieferen Grund für sie den Unglauben an die Vollmacht und Weite des befreienden Handelns Jesu aufdeckt. Der – insbesondere an leitende Gemeindeglieder – zu vermittelnde Erkenntnisgewinn besteht darin, dass Treue und Rechtschaffenheit (vgl. P 2,67) im Umgang mit dem Bekenntnis als solche keine Garanten für die Heilsgegenwart Jesu sind, sondern mit dem Unglauben an ihn und der inneren Resignation über seine Macht koexistieren können. Sein Name bleibt dann „ein leeres Wort“ (P 2,76). Kulminiert die Entfaltung der Rolle des Volkes in der Favorisierung einer Umkehr, die eine vollständige Entsicherung und Befreiung aus überkommenen Bindungen bedeutet, so stellt sich dem das rückwärtsgewandte pharisäische Denken in den Weg. Im Kontrast zu ihrem Strukturkonservativismus profi liert der Prediger abermals die Dynamik des göttlichen Handelns: Es wird „Kraft des Heiligen Geistes sichtbar […] in der Rettung des Menschen“ (P 2,77), realisiert sich als „Einbruch […] in unsere Welt“ (P 2,74) und flammt in ihr auf wie ein wunderbares Licht (vgl. P 2,81). Er rechnet damit, dass seine Aktualität sich in konkreten Situationen je neu erweist und konstatiert, dass es nichts „Schlimmeres, Schrecklicheres und Beklagenswerteres“ (P 2,82f) gibt, als diese zu verkennen. Wo letzteres geschieht, wird der Gerichtssinn des Predigttextes virulent. Die Entfaltung der Pharisäerrolle kulminiert darin, dass der Prediger die Gerichtsansage Jesu über sie (vgl. Mt 12,41) kritisch auf ein bestimmtes christliches Selbstverständnis zuspitzt: „[…] wer sagt uns denn, daß es nicht auch über uns stehen könnte, über diesem auf sich selbst vertrauenden, sich als den unentbehrlichen Schnittpunkt der Wege Gottes brüstenden Abendlande, was wir hier lesen: daß die Leute von Ninive auftreten werden im Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und es verdammen werden; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr denn Jona“ (P 2,87–92).
Nun wird deutlich, dass er bei seiner Beschwörung der Gefahr vor allem eine Haltung im Ost-West-Konflikt vor Augen hat. Sie benutzt die christliche Tradition dazu, um sich gegenüber dem Atheismus Osteuropas zu profi lieren. Der Prediger setzt ihr den Gang der „Wege Gottes“ entgegen, wie sie im Gesamtduktus des Matthäusevangeliums sichtbar werden: Die Heiden finden Zugang zum göttlichen Heilsbereich, während Israeliten als die rechtmäßigen Erben dafür verstockt bleiben und dem Gericht verfallen (vgl. bes. Mt 21,43). Worin diese Haltung im Horizont der aktuellen politischen Entwicklungen konkret besteht und wie andererseits die dem Auftreten Jesu entsprechende Umkehr in ihn einzuzeichnen ist, bleibt zunächst allerdings offen.
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... Die zur Umkehr befreite Humanität als Frucht des exorzistischen Wirkens Jesu (P ,–) Nachdem die Predigt im ersten Teil den Hörern über die biblischen Rollen die beiden möglichen Haltungen zu Jesus nahe gebracht hat, verweilt sie im Mittelteil bei der Konversion zu einem neuen Welt- und Selbstverhältnis in seiner Heilsgegenwart. Grundtenor dieses Predigtteils ist: In der Umkehr zu einem neuen Menschsein manifestiert sich das Handeln Gottes in der wirklichen Welt. Dieser Gedanke wird in einer doppelten Hinsicht entfaltet: Einerseits geht es dem Prediger darum zu bestimmen, wodurch dieses neue Menschsein bestimmt ist (P 2,126–160), andererseits darum anzuzeigen, dass es sich dabei nicht nur um ein fernes Ideal, sondern eine innerhalb der wirklichen Welt begegnende Realität handelt (P 2,161–190). Die Gestalt des neuen Menschseins aus der Umkehr zu Gott Die Erörterung des ersten Aspektes zeichnet sich vor allem durch einen sprachlichen Wandel gegenüber der bisherigen, durch den Bibeltext vorgegebenen Terminologie aus. In den Mittelpunkt treten Bestimmungen, die den Gedanken der Umkehr in theologischer Grundsätzlichkeit thematisieren. Begriffe wie „Schuld“ (P 2,129), „Gesetz“ (P 2,135), „Gnade und […] Vergebung“ (P 2, 143f), „Gabe und Aufgabe“ (P 2,150) und „Wort“ (P 2,151) kommen ebenso ins Spiel wie die Berufung auf theologische Gewährsmänner.64 Diese Verdichtung der Botschaft in der Mitte der Predigt stellt eine Parallele zu dem Abschnitt in der über Apg 4,11f dar, der die rechte Ordnung von Name und Zeichen einschärfte.65 Der Prediger verortet seine Zentralaussage im Koordinatennetz kontroverstheologischer Fragestellungen und nimmt seine Hörer im Sinne der bereits in der Homiletik-Vorlesung erhobenen Forderung, dass Predigt „in der Erkenntnis der Einheit und Weisheit der Offenbarung“ zu erziehen habe, in die Pflicht.66 Diese Überformung der szenisch-narrativen Darstellungsweise stellt jedoch ihrerseits eine Transformation der an den biblischen Rollen gewonnenen Einstellungen auf eine neue Ebene dar und ist insofern als eine Aufweitung derselben zu bestimmen. Die protagonistische und die antagonistische Position gegenüber Jesus werden nun folgendermaßen entfaltet: „Überall wo Jesus uns von unserer Besessenheit frei macht, werden wir das erfahren. Auf einmal befinden wir uns mitten drin in unserer wahren, schmerzlichen, aber eben doch ganz und gar nicht hoffnungslosen Menschlichkeit. Wir sehen, wer wir sind, und wir bekennen vor Gott und den Menschen, wer wir sind. Wir können wieder zusammen leben, denn wir nehmen den anderen Menschen als eine Gabe und Aufgabe aus Gottes Hand. Und wir wissen, daß wir Gott brauchen, sein Wort ist das Licht auf unserem Wege und seine Kraft ist in unserer Schwachheit mächtig. Die Besessenheit aber ist gerade das andere, das Mehr-sein-Wollen, jene 64 Vgl. P 2,137f: „Luther hat einmal ein gutes Wort über dieses Menschsein der Erlösten gesagt.“ 65 Vgl. Kapitel 4.5.2.3. 66 Vgl. Homiletik, 23/453.
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schlimme und furchtbare Einsamkeit, die den anderen verdrängt oder ihn meidet. So ist der eine besessen von seiner Ruhmsucht und der andere von dem, was er seine Sendung nennt, der dritte vielleicht von dem, was Jesus den Mammon nennt, und der vierte sogar von seiner eigenen Frömmigkeit und seiner Konfession. Es gibt auch das und dies ist oftmals das Schlimmste von allem, denn gerade hier, in der Gemeinde Jesu Christi, bei denen, die seinen Namen anrufen, hoffen wir doch immer wieder den befreiten, den erlösten, den wahren Menschen zu finden“ (P 2,145–160).
In seine Schilderung der Befreiung von Besessenheit zeichnet der Prediger den zuvor an der Rolle des Volkes herausgestellten Zusammenhang von Bedürftigkeit und Aufnahmebereitschaft Jesu ein. Entscheidend modifiziert wird die Exorzismuserfahrung dadurch, dass nicht mehr das Staunen evozierende Wunder, sondern schon die Erkenntnis eigener Schwachheit und des Angewiesenseins auf Gott als deren Kern identifiziert werden. Hatte er die Hörer im ersten Teil auf ihr eigenes von Lebensbedrohung bestimmtes Geschick angesprochen, so qualifiziert er nun die Einsicht in die Todesverfallenheit des Menschen als wesentliches Element seiner Befreiung und Hinwendung zu Gott (vgl. P 2,131–137). In der Ohnmacht des Volkes zeichnet sich der Typus eines neuen Menschseins unter kreuzestheologischer Signatur ab. Der Prediger stellt dies unter Aufnahme von 2Kor 12,9 heraus. Anfechtung, Schmerz und Fehlerhaftigkeit sind unter dieser Perspektive nicht Insignien hoffnungsloser Resignation, sondern sollen den Menschen zum Gottesbekenntnis und zum Leben aus seinem Wort reizen. Die aus ihnen erwachsende Selbsterkenntnis ist keineswegs Allgemeingut, sondern hat bereits den Charakter eines Wunders, das Gott unter den Menschen wirkt. Ein weiteres mit der kreuzestheologischen Deutung der Ohnmacht des Volkes eingeführtes Moment besteht darin, dass der Prediger die ethischen Konsequenzen dieser Haltung aufzeigt. Die am Ende des ersten Teils erhobene Umkehrforderung wird konkretisiert auf ein neues Gemeinschaftsverhältnis hin, dessen Kern die Solidarität der Schwachen ist. Befreiung von Besessenheit zeigt sich in einer das Sozialverhalten prägenden, akzeptierenden Annahme der eigenen Schwachheit. – Demgegenüber wird die Besessenheit als Verdrängung dieses das Sein des Menschen vor Gott auszeichnenden Momentes geschildert. Sie ist wesentlich bestimmt durch Züge, die er im ersten Teil an der pharisäischen Haltung herausgestellt hatte. Den aufgezählten Untugenden (Mehr-sein-Wollen, Ruhmsucht, Sendung, Mammonismus, Konfessionalismus) ist gemein, dass die in ihnen intendierten Wertmaßstäbe sämtlich am Verhältnis zur äußeren Wirklichkeit gewonnen werden und dazu dienen, „jene schlimme und furchtbare Einsamkeit“ des inneren Menschen zu verdecken (vgl. P 2,152ff ). Am bedrohlichsten ist diese Haltung, wenn sie „in der Gemeinde Jesu Christi“ selbst auftritt, Frömmigkeit und Konfession dazu benutzt werden, das wahre Sein des Menschen vor Gott zu verschleiern. Die Dämonie erhält in dieser Möglichkeit eine besondere Zuspitzung, insofern darin die Anrufung des Namens Jesu als Hoff196
nungsgrund eines den Menschen zur Umkehr befreienden Neuanfangs vom Hang zur Selbstbehauptung gegenüber Gott okkupiert wird. In ihr wiederholt sich jener unbegreifliche Verrat an Jesus aus dem Kreis seiner Anhänger (vgl. P 2,70–75). Die Verblendung der um die verändernde Kraft seines Namens Wissenden stellt für den Glauben die schwerste Anfechtung dar, ist sie doch dazu geeignet, den Zweifel an der Wirksamkeit des Handelns Gottes in der Welt überhaupt zu wecken. Zusammenfassen lässt sich die im Zuge der Schilderung der neuen Humanität vollzogene Rollentransformation dahingehend, dass die an den biblischen Gruppen dargestellten Verhaltensweisen gegenüber Jesus ganz zu individuellen Haltungen des Glaubens und des Unglaubens verdichtet werden, die als Einstellungsmaximen für die Hörer auf das eigene Leben übertragbar sind. Der Ort der Realisierung des neuen Menschseins Der zweite im Mittelteil der Predigt entfaltete Aspekt besteht darin, dass der Prediger die Realität jener Befreiung zur neuen Humanität anzeigt (P 2,161– 190). Dazu setzt er zu einer erneuten Exegese des biblischen Exorzismusgeschehens unter einem gewandelten Gesichtspunkt an: „Jesus nennt die Besessenheit mit einem einzigen, zusammenfassenden Namen: den unsauberen Geist. Wenn er sagt, daß er aus dem Menschen ausfährt, dann sagt er damit etwas unerhört Tröstliches: daß dieser Geist etwas Fremdes, nicht in uns Wurzelndes, nicht zu unserem Wesen Gehöriges sei“ (P 2,161–164).
Im Verhältnis zum im ersten Teil geschilderten konventionellen Erfahrungshorizont des Volkes stellt diese Aussage eine entscheidende Wendung dar. Jener war dadurch gekennzeichnet, dass „wir eben keine Macht über die unsauberen Geister besitzen“ (P 2,39f) und menschenmögliche Maßnahmen zur Überwindung des Bösen stets eine Potenzierung desselben bewirken. Unter Anhäufung von apodiktischen Wendungen absentiert der Prediger nun die Besessenheit vom Wesen des Menschen und bestimmt die Wirksamkeit der Liebe Gottes als eine zwischen dem Bösen und dem wahren Menschsein unterscheidende Macht (vgl. P 2,170–174). Er führt damit jenes am Ende des ersten Teils gesetzte Motiv, dass der Exorzismus Jesu eine „echte, mitten unter uns sich begebende Realität“ ist (P 2,99f), weiter aus. Im Horizont der Entfaltung der biblischen Rollen über den Gesamtduktus der Predigt nun ist dieser vergewissernde Zuspruch aus einem doppelten Grund notwendig geworden: – Einerseits tritt er der vom Standpunkt der konventionellen Erfahrungswirklichkeit nahe liegenden Anschauung entgegen, dass der den Pharisäern zugeschriebene Strukturkonservativismus mehr Realitätssinn auf seiner Seite hat. Geleitet durch das Interesse an der (Wieder-)herstellung überkommener Ordnungen rechnen sie nicht mit einer wirklichen Überwindung des Bösen kraft des „Einbruch[s] Gottes in unsere Welt“ (P 2,74), sondern lediglich mit dessen äußerer Begrenzung. Sie befinden sich damit in der vermeintlich sicheren Position, der gegenüber eine radikale Umkehr ein unkalkulierbares Risiko darstellt. In diesem Sinne 197
hatte der Prediger bereits angedeutet, dass die ihm vorschwebende Umkehrforderung von ihren Gegnern mit dem Vorwurf der „Schwärmerei“ (P 2,122) zurückgewiesen wird. – Zweifel an der Realisierbarkeit des neuen Menschseins erheben sich aber auch aus dem durch die Duplizität von Bedürftigkeit und Hinwendung zu Christus charakterisierten Bewusstsein des Volkes. Letzteres wird der exorzistischen Macht Jesu immer nur in Differenz zur eigenen Ohnmacht Gewahr (vgl. P 2,39f). Die Erfahrung von Befreiung wird auf seiner Seite niemals zur habitualisierten inneren Gewissheit, sondern bleibt auf ein Außen verwiesen. Bei der unverstellten introspektiven Selbstwahrnehmung stellt sich sofort der Gedanke ein, dass das Böse eben doch etwas zum eigenen Wesen Gehöriges sei. In diesem Sinne formuliert der Prediger: „Manchmal fürchten wir das. Wir fürchten das, weil alle diese Unsauberkeiten aus unserem Inneren kommen und weil wir nur zu gut wissen, wie viel wir davon durch unseren äußeren Wandel verdecken, ohne daß wir es ganz loswerden“ (P 2,165–168).
Diesen Zweifeln setzt er den Zuspruch des äußeren Wortes entgegen, im Vertrauen auf das allein die Unterscheidung zwischen dem Bösen und einem gottgemäßen Menschsein greifbar und gewiss wird. Es ist für den Prediger das Medium, in dem das göttliche Befreiungshandeln seinen konkreten Ort innerhalb der wirklichen Welt hat: „Das ist ja gerade diese Liebe, daß sie zu uns sagt: das bist du nicht! Daß sie sich zwischen uns und diesen bösen Geist stellt und wir ihr und ihrem Urteil glauben dürfen“ (P 2,171–174).
Ist die Macht des Bösen stark genug, auch noch das Selbstbewusstsein der Glaubenden zu erschüttern, so kommt es entscheidend darauf an die Realität der Befreiung von ihr weder in äußeren Sicherheiten noch in sich selber zu suchen, sondern sich vom biblischen Kerygma her als einen solchen Menschen verstehen zu lernen, der „die Krone der Barmherzigkeit“ (P 2,188) auf seinem Haupt trägt. Die Unterscheidung des Menschen vom Bösen ist für den Prediger im Kern ein Urteilsgeschehen, das es im Glauben anzunehmen gilt. In diesem Sinne spricht er es den Hörern in immer neuen Anläufen zu (vgl. P 2,183–190). Er bedient sich dabei des Konkordanzhörens und reiht unkommentiert biblische Wendungen aneinander, welche die Bezeugung desselben zum Gegenstand haben. Dieses Verfahren ist seinerseits Ausdruck der hohen Erwartung an die Wirksamkeit des Wortes, die in der holistisch ausgeweiteten Schriftexegese zum Tragen kommt. Mit der Zentrierung auf das von der Gebundenheit durch das Böse freisprechende Wort Gottes erhält die am Gegenüber des Volkes zum biblischen Christus anhebende Umwertung der Welt- und Selbstwahrnehmung ihre letzte Zu198
spitzung. In der gottesdienstlichen Wortverkündigung erfüllt sich jenes „Heute und Jetzt“ (P 2,36) der Dämonenaustreibung Jesu, das ein Leben aus der radikalen Umkehr zu ihm ermöglicht.67 Die Übertragung der Rolle des biblischen Volkes auf die Hörerschaft der Predigt kulminiert darin, dass die Dialektik von eigener Ohnmacht und Heilsgegenwart Jesu identifiziert wird mit der Korrelation von Wort und Glaube, unter der die Hörer immer wieder auf die gottesdienstliche Verkündigungssituation zurückgeworfen werden. In dem in ihr ergehenden Zuspruch eines neuen Seins wiederholt sich Sonntag für Sonntag jene Befreiung, von welcher der Text redet. Anhand dieser Konkretisierung des Gegenübers der bedürftigen Menschen zu Jesus wird auch die bleibende Distanz zu ihm verständlich, welche die Rolle des Volkes im ersten Teil prägte: Weil sich die Gottesherrschaft im Wortgeschehen realisiert, wird sie niemals zum Besitz, sondern muss im Hören darauf je neu ergriffen werden. Ist die Verkündigung des Zuspruches der Liebe Gottes die primäre Realisierungsgestalt des neuen Menschseins in der wirklichen Welt, so kommt es dem Prediger in einem zweiten Schritt darauf an, dass dieser Zuspruch, wo er recht verstanden wird, nicht folgenlos bleibt, sondern neue Formen des sozialen Miteinanders aus sich generiert: „Aus dieser Liebe, die uns selbst widerfahren ist, könnten und sollten wir auch die anderen Menschen lieben lernen, wir sollten ihnen dasselbe tun, was Gott uns tut, indem er eine Wand aufrichtet zwischen dem unsauberen Geist und dem wahren, von Gott geliebten und geretteten Menschen, der wir sind“ (P 2,174–177).
Als konkrete Realisierungsgestalt der neuen Humanität im zwischenmenschlichen Miteinander bestimmt der Prediger die Gemeinde:68 „Eben dies ist es, was die Bibel Heiligung nennt, daß uns Gott einbezieht in seinen geschützten und gesicherten Bezirk, in den Bezirk seines Heiligen Geistes, in den der unsaubere Geist nicht einzubrechen vermag. Und eine Gemeinde ist eigentlich der Zusammenschluß solcher wahren, schwachen, aber erlösten und geretteten Menschen, für die der unsaubere Geist etwas Fremdes, gewiß etwas Bedrohliches, aber eben doch von außen her Bedrohliches ist“ (P 2,178–183).
In der aus dem Zuspruch der Liebe Gottes konstituierten Gemeinde bekommt das exorzistische Wirken Jesu eine sichtbare Gestalt innerhalb der wirklichen Welt. Bei der Schilderung dieser Realität verbindet er an der Entfaltung der biblischen Rollen herausgearbeitete Züge mit der gegenwärtigen Lebenswelt der Hörer: – Zunächst zieht er darin die durch die szenische Rollenkonstellation vorgegebene Linie weiter aus, dass er Gott als Subjekt der Gemeindebildung 67 Ein Abschnitt innerhalb des dritten Teils der Predigt führt diesen Gedanken weiter aus. Dort heißt es: „Mag unser evangelischer Gottesdienst heute vielen arm und kahl erscheinen, hinter dieser Armut steht doch ein wunderbares und großes Bekenntnis, eben dies, das wir der Reformation verdanken: Das Wort, nichts als das Wort! Was das Wort bedeutet, wenn es rein und unverfälscht aus Gott kommt, könnten wir gerade an Jesus erkennen. Vor ihm weichen die unsauberen Geister. Was es bedeutet, unter dem Wort zu leben, bezeugt die seltsame Geschichte, die in der Bibel aufgezeichnet ist und deren Fortgang wir bis heute als Gemeinde Jesu leben. Wir leben von dem Wort“ (P 2,264–272). 68 Vgl. 3.3.4.1.
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bestimmt. Der Zusammenschluss zu ihr wird nicht primär als Initiative von Menschen in den Blick genommen, sondern als diese einbeziehendes Wirken des Heiligen Geistes. Konnte das Volk dem Wirken Jesu nur mit Staunen über seine unbegreifliche Vollmacht begegnen, so sollen sich auch die in der Gemeinde Versammelten dessen Gewahr sein, dass ihre Gemeinschaft durch etwas konstituiert ist, „was wir uns eben nicht geben können, Gott und sein Geist, der bei uns wohnen will“ (P 2,313f). Unterstrichen wird dies dadurch, dass der Prediger am Schluss die Bitte um das Kommen des Schöpfergeistes ins Zentrum des Gottesdienstes rückt und mit einem Gebet um Bewahrung endet (vgl. P 2,310–320). – Näher hin bestimmt er die Gemeinde als einen „geschützten und gesicherten Bezirk“ und nimmt damit das alle Gruppen des biblischen Rollengeflechtes verbindende Motiv der Suche nach umfriedeten Lebensverhältnissen wieder auf. Der entscheidende Erkenntnisgewinn liegt darin, dass letztere nicht auf der Linie pharisäischen Ordnungs- und Sicherheitsdenkens erreicht werden, sondern allein dort, wo dieses zerbricht und die Menschen sich mit leeren Händen Gott zuwenden. Echte Geborgenheit wird nicht durch die Wiederherstellung überkommener Ordnungen, sondern nur in der Jesus „bekennenden und sich zu ihm flüchtenden Gemeinde“ (P 2,195f) erlangt. Diese Schilderung der Gemeindewirklichkeit verbindet der Prediger mit Zügen aus den Kriegserlebnissen der Hörer, in denen das Ineinander von Bedrohung, Ohnmacht und Hinwendung zu Gott unmittelbar evident wurde (vgl. P 2,191–194). – Schließlich geht der Prediger bei der Entfaltung der biblischen Rollenkonstellation auf die Gemeinde noch einen entscheidenden Schritt weiter als bisher, indem er die Christusrolle selbst auf sie überträgt: Die Ausgangsschilderung des Verhältnisses von biblischem Volk und Jesus war dadurch geprägt, dass ersteres der Herrschaft Christi als Gegenbild zu seiner eigenen Lebenswirklichkeit gewahr wurde. In ihrer Differenzerfahrung wurden sie als außen Stehende von der Ahnung ergriffen, dass „der König aller Könige mitten unter sie getreten ist“ (P 2,35f). Diese Perspektive behält ihr bleibendes Recht, insofern sich nach Auffassung des Predigers die Korrelation von Wort und Glaube niemals ins humane Selbstverhältnis auflöst. Kraft des Gemeinde gründenden Geistwirkens bleibt die Königsherrschaft Gottes aber nicht nur ein Gegenüber, durch den Zuspruch des Wortes werden die Hörer vielmehr in sie einbezogen. In diesem Sinne überträgt er die christologischen Herrschaftsprädikate auf die Gemeindeglieder und fordert dazu auf, „an uns allen […] die Krone der Barmherzigkeit“ zu sehen und sich „als Kinder des Vaters eben dieser großen und wunderbaren Barmherzigkeit“ zu verstehen (P 2,187–190). Glied der Gemeinde Jesu Christi zu sein bedeutet drinnen zu stehen im Heilsbereich seiner durch Liebe und Solidarität mit den Schwachen bestimmten Herrschaft und die Wirksamkeit des Bösen in der Welt von außen zu sehen als „etwas Fremdes, nicht in uns Wurzelndes, nicht zu unserem Wesen Gehöriges“ (P 2,163f). 200
... Die Umkehr zu Christus in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation (P ,–) Die Profi lierung des kerygmatischen Zuspruchs der Liebe Gottes und der Gemeinde als Ort der gegenwärtigen Realisierung eines neuen Menschseins ist für den Prediger die entscheidende Voraussetzung für das rechte Verständnis der Mahnung vor der Wiederkehr des unreinen Geistes. Sie zielt darauf, sich dem durch Wort und Geist gegenwärtig wirkenden Christus zuzuwenden. Er allein vermag dem Rückfall in die Dämonie zu wehren. Dienten die ersten beiden Teile in diesem Sinne der Konturierung der Heilswirklichkeit als Fluchtpunkt vor dem Bösen, so rückt im letzten Teil der Mahnsinn des Textes in den Vordergrund. Der Prediger fordert dazu auf „unseren Blick von Jesus aus [zu] richten auf den unsauberen Geist, den wir als Volk in dieser besonderen Periode unserer Geschichte erfahren haben“ (P 2,192–194). Die Predigt wird nun explizit in die prophetische Funktion eingesetzt, die er ihr am Beginn zugewiesen hat und die gemäß seinen eigenen homiletischen Grundsätzen darin besteht, „die Zeichen der Zeit […] an Hand der heiligen Schrift“ zu deuten.69 Vom letzten Teil her wird vollends klar, wie stark die narrative Darstellung des Wirkens Jesu bestimmt ist durch die Wahrnehmung derjenigen gesellschaftlichen Situation, welche die Umkehrforderung s.E. akut macht. War die bisherige Entfaltung der biblischen Rollen durchzogen von versteckten und offenen Bezugnahmen auf aktuell-politische Entwicklungen, so werden diese im dritten Teil direkt thematisiert.70 Die Weise, in der dies geschieht, ist für das Verständnis des Predigers von der gegenwärtigen Wirksamkeit des Wortes Gottes besonders aufschlussreich: Zunächst kommt hier das am Anfang und abermals am Schluss genannte Moment voll zum Tragen, dass die Textwahl durch eine konkrete Situation herausgefordert ist (vgl. P 2,1–3.302f). Die Notwendigkeit der Umkehr zu Christus wird evident angesichts einer furchtbaren Bedrohung, von welcher der Text als einem potenzierten Wüten des unreinen Geistes redet. Der Prediger entfaltet diesen Gegenwartsbezug im zweiten der von ihm genannten Punkte, der den Ost-West-Konflikt und das ihn prägende Denken in „FreundFeind-Verhältnis[sen]“ (P 2,221) zum Gegenstand hat. In diesem Kontext ist klar, dass es sich bei der Drohung um die eines atomaren Krieges handelt. Er spricht die Hörer wiederholt auf Kriegeserlebnisse an, in denen sie bereits mit der Möglichkeit eines „totalen Untergang[s]“ (P 2,226) konfrontiert worden sind. Für ihn legt sich aus diesen Erfahrungen „der tiefsten Angefochtenheit“ (P 2,236) der einzig mögliche Schluss nahe, dass das Überleben der Menschheit nur gesichert werden kann durch eine radikale Abkehr von einer auf militärische Stärke setzenden Politik. Diese Situation ist zugleich das deutlichste 69 Homiletik, 70/497. 70 Erst von den in ihm aufgedeckten Gegenwartsbezügen her wird verständlich, worin der Prediger die Gefahr eines umso gewaltigeren Zerstörungswerkes des Bösen sieht (vgl. P 2,49f), was er bei der Denunziation des pharisäischen Sicherheitsdenkens und deren Taktieren mit „theologischen Formeln“ (P 2,253) vor Augen hat und warum er das untergründig-kontinuierliche Wirken des Bösen für besonders gefährlich hält.
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Zeichen für die Notwendigkeit einer Umkehr zum neuen Menschsein nach den das Zusammenleben in der Gemeinde bestimmenden Maximen. Sie hat für ihn eine unmittelbare missionarische Valenz: Angesichts des entfesselten Rüstungswettlaufs verbleiben das Eingeständnis eigener Schwachheit und das brüderliche, nicht auf Übervorteilung des Anderen angelegte Miteinander als einzig noch mögliche Handlungsweisen. Bei ihrer Erschließung greifen alle an den biblischen Rollen des narrativen Umfeldes von Mt 12 herausgearbeiteten Züge ineinander: – Paradigmatisch für die Einsicht in die Notwendigkeit einer „Heute und Jetzt“ (P 2,36) zu vollziehenden Umkehr ist die Rolle des Volkes, das die Macht des Bösen erfahren hat und daraus die Konsequenz zieht, sich Jesus zuzuwenden. Unbesehen der leidvollen Vergangenheit soll die Gemeinde „auf Jesus hören und vertrauen“ (P 2,239), wenn es darum geht, das politische Handeln neu zu gestalten. – Umso unbegreiflicher ist die Tatsache, dass Theologen sich dieser Notwendigkeit entziehen und unter Rückgriff auf traditionelle Formeln (der Prediger spielt hier auf die lutherische Zwei-Reiche-Lehre an) den Status quo aufrecht zu erhalten suchen. Diese Haltung ist Ausdruck des pharisäischen, auf äußere Sicherheit und Begrenzung des Bösen bedachten Strebens. Sie ist blind für das Gebot der Stunde und getragen von dem Unglauben an die Reichweite der Königsherrschaft Christi. Im Blick auf die Wiederbewaffnung vermag der Prediger darin nichts anderes zu sehen, als dass dem „unsauberen Geist […] innerhalb der Politik ein Recht, die Menschen zu Besessenen zu machen“ (P 2,253–255) eingeräumt wird. – Hatte der Prediger am Ende des zweiten Teils die Christusrolle auf die mit der „Krone der Barmherzigkeit“ (P 2,188) ausgezeichnete Gemeinde übertragen, so konkretisiert er dies im dritten Teil dadurch, dass er ihr die Rolle Jesu als Umkehrprediger gegenüber den „Mächtigen und Gewaltigen“ (P 2,258f) zuordnet. Damit schließt sich der Gedankengang der Predigt, indem er jene Rolle, die er in der Einleitung gegenüber der Gemeinde vertreten hatte, am Ende auf sie und ihre Ältesten im Besonderen überträgt (vgl. P 2,214–217). Er weist ihr die Aufgabe zu: „Als die erlösten und befreiten Kinder des barmherzigen Gottes werden wir eine andere Sprache reden als die, die in dem anderen den Feind sieht. Wir werden nie und nimmer glauben, daß es einen unsauberen Geist geben könnte, der nicht durch die Kraft Jesu ausfahren und die von ihm Besessenen, auch und gerade die politisch Besessenen freigeben müßte. Wir werden nie und nimmer glauben, daß die Stätten politischer Entschließungen Stätten solcher Besessenheit sein müßten, und wir, die Gemeinde dieses Herrn, werden mitten in der Welt ein Zeichen aufzurichten haben, daß auch da, wo die praktischen Lebensfragen der Völker und die Verschiedenheiten ihrer Ideen zur Debatte stehen, der unsaubere Geist nicht Herr im Hause ist“ (P 2,242–251).
Das der Gemeinde übertragene prophetische Wächteramt kulminiert darin, dass sie mittels Vergewisserung der sie bestimmenden Prinzipien 202
des menschlichen Miteinanders auf eine öffentliche Stellungnahme zu aktuellen friedenspolitischen Fragen verpflichtet wird. Darin kommt ihr Christuszeugnis in der gegenwärtigen Situation zum Tragen. Hebt die vom biblischen Volk proklamierte Königsherrschaft Jesu in ihr als einem „geschützten und gesicherten Bezirk“ (P 2,179) an, so soll erstere doch über diesen Bereich ausstrahlen und einwirken auf die Gestaltung von Politik und Gesellschaft. In ihrer Herrschaftskritik nimmt die Gemeinde ein wesentliches Element prophetischer Tradition wahr. Dabei ist dem Prediger besonders daran gelegen jeden gesetzlichen Charakter zu vermeiden. Das Zeugnis der Gemeinde vor der Welt ist getragen vom Zuspruch der Liebe Gottes und wird ihr als eine neue Lebensmöglichkeit angesichts der Aporien, in die bisherige Orientierungen geführt haben, vor Augen gestellt. Als Element der Rollenentfaltung, das insbesondere im dritten Teil zu Tage tritt, lässt sich festhalten, dass die Identifi kation des Handelns Gottes nicht auf die gottesdienstlichen Vollzüge im Engeren beschränkt bleibt. Im Sinne prophetischer Predigt will das Wort Gottes durch eine bestimmte Situation zu den Hörern sprechen und sie zur Umkehr bewegen. Es wird noch einmal in neuer Weise auf die menschliche Wirklichkeit bezogen. Die Scheidung von Glaube und Unglaube wird nicht lediglich an der Stellung zu überlieferten Bekenntnissen, sondern an einer konkreten Haltung in politischen Entwicklungen festgemacht. Die Diskussion der Problematik einer solchen analogen Erschließung der gemeindlichen und politischen Situation müssen wir uns an dieser Stelle versagen. Auffällig ist jedoch, dass die Predigt nicht zur Formulierung konkreter Handlungsanweisungen für den Bereich des Politischen fortschreitet (weil sie es von ihren Voraussetzungen her nicht will oder nicht vermag?), sondern am Schluss auf die gottesdienstliche Situation zurücklenkt. Die Zeugnisfunktion nach außen bleibt streng bezogen auf die dortige Vergewisserung der Heilsgegenwart Jesu. In ihr kommt es darauf an, dass die Bitte um das Kommen des Geistes allem kultischen Handeln vorausgeht. Indem der Prediger dieses Gebet ans Ende setzt, stellt er die Gemeindeglieder nochmals in die Schwebe zwischen vollmächtiger Bezeugung der Christuswirklichkeit und ohnmächtiger Bitte um den Erweis ihrer Macht an ihnen.
. Zusammenfassende Aspekte Die in diesem Kapitel vorgeführte Analyse von zwei Predigten Iwands hat gezeigt, dass der Übertragung der im biblischen Text angelegten Rollen auf die Predigthörer eine entscheidende Bedeutung bei der Vermittlung der Botschaft zukommt. Das Verfahren erlaubt es, einen Text nicht nur seinen internen Strukturen nach zu entfalten, sondern auf Seiten der Hörerschaft vermutete Widerstände und Fragen zu integrieren und sein Kerygma i.S. der Bestimmung von Predigt als viva vox evangelii auf sie zulaufen zu lassen.71 Als mar71 Vgl. Kapitel 4.1.
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kantestes Merkmal iwandscher Schrifthermeneutik lässt sich von daher der im letzten Teil der Predigt über Mt 12,43–45 noch einmal besonders zur Geltung gekommene Grundsatz benennen, dass der Bibeltext aus einer konkreten Situation heraus gehört werden will und in ihr den Hörern zum Widerfahrnis wird. Die Erwartung einer gegenwärtigen Wirksamkeit des Wortes Gottes in der wirklichen Welt wird hier in Differenz zu einer historischen, an den Entstehensbedingungen des Textes interessierten Auslegung greifbar. Mittels des Inszenierungsverfahrens löst Iwand ein, was er für die homiletische Arbeit in dem unter 4. 2. 3. genannten Vortrag fordert: „Die Schrift […]“, so heißt es dort, „[…] ist damit und darin das Zeugnis des lebendigen Gottes, daß sie über sich hinausweist, daß am Ende des langen, bangen Weges von Adam bis Maria die Botschaft von dem neuen Menschen steht, in dem das Wort Gottes Fleisch geworden ist, in dem das Ja zu allen Verheißungen Gottes Ereignis geworden ist, in dem die Wahrheit, das Leben, das Licht Gottes mitten unter uns getreten ist. Darum hört die Schrift hier auf Schrift zu sein. Sie wird wieder, was sie ursprünglich war: Wort, Zeugnis, Botschaft, Heroldsruf, Evangelium.“72
Wir fassen sein konkretes Vorgehen zusammen, indem wir zunächst einen vergleichenden Überblick über die Stufen der Rollenentfaltung in den beiden Predigten geben. Sodann sollen unsere Beobachtungen noch einmal zurück bezogen werden auf die Grund legenden Voraussetzungen dieses Verfahrens und es soll dessen Gewinn erörtert werden. .. Vergleichende Zusammenfassung der Rollenentfaltung In der sukzessiven Entfaltung der Rollen lässt sich dieser Übergang zusammenfassend an einer zweistufigen Modifi kation des durch den jeweiligen Text vorgegebenen Szenariums festmachen: Das Beziehungsgeflecht der Erzählung wird (1.) zunächst als geschlossenes Gegenüber zu den Hörern entfaltet, um es sodann (2.) zu öffnen und sie mit ihren eigenen Fragen und Anliegen zu integrieren. Die Differenzierung zwischen diesen beiden Ebenen kann dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Predigt über Apg 4,11f konzentriert sich zunächst ganz auf die Darstellung der Gerichtsszene vor dem Hohen Rat und ihre Vermittlung mit dem göttlichen Handeln in Kreuz und Auferweckung. Anfragen von Seiten gegenwärtiger Hörer werden direkt erst später aufgenommen. Im Unterschied dazu ist bereits die erste Entfaltung des Szenariums um das Auftreten Jesu in der Predigt über Mt 12,43–45 durch vermutete Hörerwiderstände gegen den Text motiviert. Entsprechend werden die Rollen von Anfang an sehr viel transparenter für die gegenwärtige Situation gestaltet. Charakteristisch für beide Predigten ist, dass der Prediger sich zur Integration gegenwärtiger Problemhorizonte nicht von der biblischen Vorlage löst, 72 GA I, 122.
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sondern deren narratives Umfeld auf mögliche Anknüpfungsmöglichkeiten für neue Perspektiven durchleuchtet. Dieses Vorgehen ist als rhetorische Umsetzung des in der Homiletik–Vorlesung formulierten Grundsatzes zu werten, wonach der Prediger solange am Tor der Schrift anzuklopfen hat, bis ihm aufgetan wird und es zum „Durchbruch vom Nichtverstehen zum Verstehen“ kommt.73 In ihm wird die Handhabung der Schrift als homiletischer Schutzraum gegenüber dem Zweifel konkret greifbar. Dabei erhalten solche Rollen eine zentrale Vermittlerfunktion, die im internen Beziehungsgeflecht des Textes nur eine Randstellung haben, wie die staunenden Volksmengen angesichts der Heilungswunder in Apg 3 und Mt 12 oder die Leute von Ninive als Beispiel für eine radikale Umkehr (vgl. P 2,90). Sie dienen dem Hineinkommen in die im Verhältnis zur konventionellen Erfahrungswirklichkeit fremd anmutenden Ereignisse in der biblischen Welt. Die folgende Stufe der Applikation des biblischen Rollengeflechtes auf die Hörer ist dadurch bestimmt, dass (3.) die eigentliche Protagonistenrolle der Erzählung direkt auf sie übertragen wird. In beiden Predigten lässt sich für die Rollenentfaltung ein Gefälle von der Peripherie zum Zentrum der Erzählung nachzeichnen, bei dem auf Seiten der Hörer eine fortschreitende Aneignung des favorisierten Wertobjektes intendiert wird. Am Ende befinden sie sich selber in der Rolle der gegenüber der Welt Zeugnis ablegenden Apostel bzw. des vor einer Rückkehr der Dämonie mahnenden Christus. Werden die an den Wertungsstrukturen des Textes gewonnenen Einstellungen nun in direkter Relation auf ihre Wirklichkeit entfaltet, so tritt das Ausgangsszenarium hinter den Gegenwartsbezügen zurück und bleibt doch zugleich der Rahmen für die Erschließung derselben. Der entscheidende Erkenntnisgewinn dieses Vorgehens liegt darin, dass das Handeln Gottes vermittels der Rollenübertragung innerhalb der wirklichen Welt, d.h. im Kirchenkampf und im politischen Zeugnis angesichts der Nachkriegszeit, identifizierbar wird. Es ist in seiner Dynamik der direkten Anschauung entzogen und wird jeweils greifbar in einer durch das Ineinander von Passivität und Aktivität charakterisierten menschlichen Haltung. Sie begegnet Machtansprüchen der wirklichen Welt selbst bewusst und gelassen und sehnt sich zugleich bedürfnisvoll nach der Heilsgegenwart Gottes in seinem Wort und Geist. Eine entscheidende materiale Bestimmung der Rollenentfaltung ist die Zentrierung der Hörer auf die gottesdienstliche Verkündigungssituation. Die Gestaltung der Petrusrolle als eines Wortverkündigers und die Zurückführung der biblischen Umkehr auf das von der Gebundenheit durch das Böse freisprechende Wort sind Beispiele dafür. In der Predigt über Mt 12,43–45 wird die Gottesdienstsituation allerdings sofort im Zusammenhang mit dem Geschick der in ihr Versammelten und sie als Gemeinde verbindenden wahrgenommen: Die durchlittenen Kriegserfahrungen erlauben eine entscheidende lebensweltliche Konkretisierung des Gemeindebegriffes in der durch Bedrohung und Errettung miteinander verbundenen Gemeinschaft. Jenes Element, 73 Vgl. Homiletik, 19/449. Kapitel 3.3.3.1.
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das eine breitere Wahrnehmung der Christusbeziehung im Horizont der Erfahrung ermöglicht, ist dabei wiederum die biblische Rolle des Volkes. .. Rückbezug auf die Voraussetzungen und Überlegungen zum Gewinn des Verfahrens Insgesamt zeichnet sich die Rollenentfaltung durch eine spannungsvolle Dynamik aus, die streng bezogen ist auf Iwands rechtfertigungstheologische Anschauung des zwischen Selbstbezogenheit und Neuwerden in Christus oszillierenden Ichs:74 Ausgangspunkt seiner Hörerwahrnehmung ist in diesem Sinne nicht die Fixierung des autonomen Ichs auf seinen unveränderlichen Identitätskern, sondern der dynamische Wechsel des erlebenden Ichs zwischen höchst widersprüchlichen Zuständen, die es ihm unmöglich erscheinen lassen, zu einer Gesamtanschauung von sich zu gelangen. Die Voraussetzung dafür ist bereits in der Qualifizierung von religiöser Erfahrung als Totalitätserlebnis angelegt, nach welcher das Subjekt sich an einem Moment seiner konkreten Erfahrungswirklichkeit ungleichzeitig wird und sich aus der Totalität Gottes empfängt.75 Die Einheit seines Werdegangs bleibt im Verhältnis zu Gott auf die Vermittlung durch Christus angewiesen. In diesem Sinne ist die Dramatik seiner Rollenentfaltung dadurch bestimmt, dass er unterschiedliche Rollen, die einerseits mit menschlichen Zweifeln besetzt sind (der hohe Rat und die Menge; die Pharisäer und das an seiner Ohnmacht verzweifelnde Volk) und andererseits das Heil mutig vor der Welt bezeugen (die bekennenden Apostel, das erwartungsfrohe Volk und der prophetische Jesus), in Relation auf die Christusbeziehung entfaltet und wechselweise auf die Hörer bezieht. In der wechselnden Rollenzuweisung bildet sich die Dialektik von Zweifel und Gewissheit in der Subjektivität der Hörer ab. Hinsichtlich der Iwands Rollenentfaltung zu Grunde liegenden Schrifthermeneutik ist festzuhalten: Die Anschauung, dass die Schrift in der Predigt als die Gegenwart erschließendes Gotteswort zur Geltung kommt, findet ihre rhetorische Entsprechung in der direkten Beziehung der biblischen Rollen auf die gegenwärtige Situation der Hörer. Ihre Pointe ist darin zu sehen, dass Iwand den Imperativ: „Lebe nur in der Schrift“76 von seinen Voraussetzungen her nicht lediglich metaphorisch versteht, sondern als Ruf in das Glaubensleben in einem existentiellen Sinne. Im Sinne der narrativen Identifi kation mit den biblischen Rollen erschließt das Wort Gottes den Hörern ihr neues, durch die Christusgemeinschaft vermitteltes Selbstverhältnis. Dem entspricht eine Zentrierung der Hörer in der gegenwärtigen Verkündigungssituation. Neben den wiederholten Proklamationen, dass die Gegenwart Jesu „Heute und Hier“ (P 2,85) verwirklicht ist, kommt sie in der räumlichen Veranschaulichung zum Tragen, dass das Wort Gottes die Gemeinde und den Einzelnen in ihr heiligt, bzw. zu einem „gesicherten, geschützten Bezirk“ zusammenschließt. 74 Vgl. Kapitel 2.3.3.3. 75 Vgl. Kapitel 2.2.4. 76 Homiletik, 32/465.
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Auf das Verfahren rückblickend lässt sich die Bestimmung zur Einheit des Schriftgebrauches dahingehend präzisieren, dass die Identifi kation mit den Rollen des Textes die Einheit des Ichs mit Christus im „Heute“ bei gleichzeitiger Aufbrechung der Geschlossenheit seiner konventionellen Wahrnehmung des Zusammenhanges von Welt und Selbst bedeutet. Beschreibt Iwand die biblische Welt als Bühne, so bleiben die Hörer keine Zuschauer, sondern werden gewissermaßen selber auf die Bühne geholt, und zwar in der Weise, dass die Rollenaufnahme zum Ort der Selbstdistanzierung des neuen vom alten Ich wird. In diesem Sinne agiert etwa der Prediger in der Rolle des prophetischen Mahners vor der Wiederkehr überwundener Dämonien, oder wird die Bekenntnisgemeinde auf ihre Zeugenfunktion vor der Welt in der Bedrängnis des Kirchenkampfes angesprochen. Diese Struktur lässt sich gut anhand des von Hjalmar Sundén entwickelten Modells nachvollziehen, wonach die Aufnahme einer biblischen Rolle einen Phasenwechsel von einer nichtreligiösen zur religiösen Wahrnehmung ermöglicht.77 Vermittels der Rollenzuweisung wird Gott als handelndes Subjekt (des Zeugnisses im Kirchenkampf und der Bewahrung vor dem Dämon des Krieges) identifizierbar. Aber auch die lebensweltlich vorgegebene Erfahrung von Ohnmacht wird vermittels der Rolle des Volkes überformt, indem er sie im Horizont der die Christusbeziehung strukturierenden doxologischen Differenz zwischen Alltags- und Verheißungswirklichkeit zur Sprache bringt. Die Rollenübertragung intendiert in diesem Sinne einen Perspektivenwechsel auf Phänomene der wirklichen Welt. Zielt der Schriftgebrauch in der Predigt auf die Modifi kation der Bestimmung des Selbstbewusstseins im gegenwärtigen Hören auf das „Heute“ des Wortes, so ist im Blick auf das Verfahren noch einmal die Frage nach dem primären Bezugspunkt bei der Rekonstruktion des biblischen Erzählrahmens zu stellen. Von unseren analytischen Beobachtungen her wird man aufs Ganze der beiden Predigten gesehen urteilen müssen: Sein Bezugspunkt ist nicht die Vergangenheit des Textes, sondern die Gegenwart der Hörer. Iwands Ausruf: „Diese Verkündigung will heute heraus“ (P 1,440), ist in der Hinsicht programmatisch. Dem Text wird eine große Erschließungskraft für die Hörersituation zugemutet. In diesem Sinne strukturieren die Rollen die Aneignung desselben. Auf dramatische Weise wird das Handeln Gottes an der Welt staunend identifiziert, regt sich der Widerstand dagegen und wird mit einem Schlag die Wahrnehmung in ein neues Licht gerückt. Arbeiter und Gebildete, Journalisten und Militärs, die polische Gegenwartslage und die mahnende Rolle des Predigers sind in der Texterschließung schon mit inbegriffen. Die Situation fordert den Text heraus und seine Verheißungen sind im Bezug auf sie schon „echte, mitten unter uns sich begebende Realität“ (P 2,100). Auf Grund der Anschauung, dass letztlich das kreuzestheologische Grundverhältnis zwischen Wort Gottes und wirklicher Welt die Aneignung strukturiert, gewinnt die Rollenentfaltung jene Dynamik, die wir hier vorgeführt haben. 77 Vgl. Kapitel 4.2.2.
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. Kapitel
Predigt als Kampfgeschehen zwischen Fleisch und Geist . Ausgangspunkt Im letzten Kapitel haben wir ein rhetorisches Verfahren dargestellt, mit dem Iwand den Schriftgebrauch in seinen Predigten gestaltet. Wir gingen dabei aus von dem Sachverhalt, dass er für seine homiletische Arbeit der Schrift die Priorität einräumt, und zeigten, wie unter dieser Voraussetzung mittels Entfaltung von Rollen interne Strukturen biblischer Texte für die Wahrnehmung gegenwärtiger Wirklichkeit fruchtbar gemacht werden. Im Zuge dessen wurde deutlich, dass der Rezeptionsvorgang keineswegs nur in eine Richtung verläuft, sondern Predigttext und gegenwärtige Situation der Hörer sich wechselseitig durchdringen. Dieser Sachverhalt liegt ganz auf der Linie des Schriftverständnisses Iwands, wonach es nicht allein um deren Nachsprechen und Nachdenken geht.1 Das Wort Gottes hat für ihn den Charakter eines aktuellen Ereignisses. Für die Predigtarbeit kommt es darauf an, eingedenk der Nöte und Zweifel der Hörer nach dem Wort zu suchen in der Erwartung, dass es in einem „Durchbruch[.] vom Nichtverstehen zum Verstehen“ gegenwartsmächtig wirksam wird.2 In diesem Kapitel wollen wir Iwands Predigtweise von der anderen Seite in den Blick nehmen und untersuchen, wie er mit vermuteten Erwartungen und Widerständen der Hörer umgeht: – Wir gehen dabei wiederum dermaßen vor, dass wir zunächst die homiletische Theorie Iwands daraufhin sichten, welche Anhaltspunkte sich unter dem genannten Aspekt ergeben. Anhand der methodischen Anweisungen zur Predigtarbeit in seiner Homiletik-Vorlesung soll gefragt werden, welche fundamentalen Bestimmungen für die Gestaltung der Rezeptionsbeziehung zu den Hörern maßgeblich sind und ob sich Hinweise darauf abzeichnen, wie sie rhetorisch umzusetzen sind. – In einem zweiten Schritt sind die Ausführungen Iwands zu verknüpfen mit Reflexionsperspektiven der jüngeren Homiletik. Er dient dazu, unseren analytischen Zugriff auf Iwands homiletische Praxis genauer zu bestimmen. Sie soll in diesem Kapitel unter dem Gesichtspunkt des Predigtaufbaus un1 Vgl. Homiletik, 19/448. 2 Ebd.
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tersucht werden. Von ihm erwarten wir, dass er die Gestaltung der Rezeptionsbeziehung zu den Hörern in einer charakteristischen Weise abbildet. Anhand der Herausarbeitung des Zusammenhanges zwischen Hörerbezug und Predigtaufbau soll zudem verdeutlicht werden, dass die Bestimmungen Iwands zum Verhältnis von Wort und Welt eine handlungsorientierende Funktion für die Predigtgestaltung, und zwar im Bezug auf ihre Makrostruktur haben. – Zur Anwendung kommen soll die Analyse wiederum an ausgewählten Predigten bzw. Predigtabschnitten. Wir werden dabei diesmal so vorgehen, dass wir den Aufbau einer Predigt zu Grunde legen und unsere Beobachtungen über sie hinaus auf eine andere ausdehnen.
. Hinweise zur Gestaltung des Rezeptionsverhältnisses zu den Hörern in Iwands Bloestauer Homiletik-Vorlesung .. Das Predigtgeschehen in der Spannung zwischen Wort und wirklicher Welt In unserer Darstellung von Iwands Homiletik-Vorlesung haben wir gezeigt, dass die Verkündigungssituation für ihn durch eine höchst spannungsvolle Dynamik gekennzeichnet ist. Sie ist entfaltet sich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite bestimmt er das Wort Gottes dem Wesen nach als gegenwärtig wirksames und die Hörer bei ihrer Lebenswirklichkeit behaftendes. Seine machtvolle Unverfügbarkeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es dem Menschen im Prozess des Suchens und Ringens mit ihm zum Widerfahrnis wird. Das Insistieren auf der Entzogenheit dieses Geschehens von jedem planenden Zugriff wird vor allem darin greifbar, dass Iwand es ablehnt, den Prediger als selbständige Vermittlungsinstanz zu begreifen, die den Bezug auf die konkrete Lebenswirklichkeit der Hörer allererst erarbeitet. Im Vollzug der Predigtarbeit sieht er ihn jedes Mal auf die Situation eines Hörens auf den Text zurückgeworfen, in der dieser sich ihm die Gegenwart erschließend imponieren muss und die von jener der Laien nicht prinzipiell unterschieden ist.3 Den anderen Pol des Verkündigungsgeschehens bezeichnet Iwand mit dem Begriff der Welt. Er steht als Chiffre für die Widerstände, die der Aufnahme des Wortes auf Grund der sündigen Selbstverschlossenheit entgegenstehen. Sie ergeben sich aus den subjektivitätstheoretischen Prämissen seiner Anthropologie, wonach der Mensch sich durch Hypostasierung seiner Innenwelt allen von außen an ihn herantretenden Ansprüchen verschließt und die Wahrheit der Gottesbeziehung in einer Tiefendimension seines Selbstverhältnisses sucht. Diese Bewegung hindert ihn daran, sich auf die Situation unbefangenen Hörens auf das Wort einzulassen und stürzt ihn in den Zweifel. Iwand sieht sich genötigt, das Anknüpfungsverhältnis zwischen Wort und menschlicher Wirk3 Vgl. Homiletik, 19/448f.
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lichkeit unter dieser Voraussetzung durchweg negativ zu bestimmen. Die aus der konventionellen Erfahrung aufbrechenden Zweifel drohen den Gewinn der den Menschen von außerhalb seiner selbst konstituierenden Glaubenserkenntnis immer wieder zu verschütten und machen die Permanenz der Verkündigung notwendig.4 Unter dieser doppelten Bestimmung erhält die Verkündigung den Charakter eines höchst spannungsvollen Macht- und Kampfgeschehens. Iwand entfaltet diese polemische Dimension in seiner Homiletik-Vorlesung unter der Charakterisierung der Predigt als Didache.5 Welche Grund legenden Faktoren ergeben sich von daher für die Rezeptionsbedingungen der Verkündigung? – Zunächst folgt daraus, dass das Ergehen des Wortes Gottes nicht das Ergebnis einer harmonischen Einfühlung in den Text ist, sondern ihm vielmehr in einem kritischen Prozess des Durcharbeitens von Widerständen abgerungen werden muss. Es trifft den Menschen als aktueller Durchbruch und Unterbrechung seiner Alltagswahrnehmung. Sein Bestand lässt sich der wirklichen Welt niemals affirmieren. Letztere steht in ihrem auf Kontinuität und Bestandssicherung ausgerichteten Streben immer schon unter dem Signum der Gottlosigkeit. Sie ist für sich genommen nicht das Ziel, sondern lediglich der Durchgangspunkt zur worthaft erschlossenen Gotteserkenntnis, die sich „in die Welt als das Kreuz“ einzeichnet.6 Weil das Wort Gottes „nicht zum Wesen und zur Existenz der Welt“ gehört,7 muss es den Hörern immer wieder neu eingeschärft werden. – Andererseits rechnet Iwand damit, dass der Mensch in der Bestimmung durch die Welt nicht aufgeht, und mutet seinem Rezeptionsverhalten ein hohes Maß an Flexibilität zu. Von der Situation der Anrede durch das Wort her qualifiziert er ihn als „homo mutabilis“.8 Erscheint das in sich gegründete Selbstverhältnis im Horizont der konventionellen Erfahrungswirklichkeit als eine konstante Größe, so erweist es sich in der Betroffenheit durch das Wort als höchst fragil. Als Hörer des Wortes ist der Mensch keineswegs ein mit sich selbst identisches Wesen, sondern eingespannt in den ständigen Wechsel von Zweifel und Gewissheit, in dem eine fleischliche und eine geistliche Existenzweise miteinander ringen. Aufgabe der Predigt ist es, die daraus entspringende Verunsicherung in einer bestimmten Weise fruchtbar zu machen. Es gilt die Hörer dazu anzuleiten, sich im Widerspruch zu ihrer von Gott entfremdeten Erfahrungswirklichkeit zunehmend aus der dynamischen Situation des Wortgeschehens zu empfangen und die Unvermit4 In Anknüpfung an das Sämannsgleichnis formuliert er hinsichtlich der Hemmungen, die der Verkündigung im Wege stehen: „Die Welt schüttet alles wieder zu, die Vögel picken es weg, die Dornen erstickens, es gerät auf den Felsen, geht nur wenig auf. Die Welt sendet auch ihre Prediger, um die Prediger des Evangeliums zu verwirren. Der Fürst dieser Welt tut alles, diese Botschaft [zu] unterdrücken. Die Welt tut alles, um das[,] was durch diese Verkündigung geschaffen wird, zu vernichten“; Homiletik, 12/439. Vgl. Kapitel 3.3.3.1. 5 Vgl. Kapitel 3.3.3.2. 6 Homiletik, 2/422. 7 Ebd., 1/420. 8 Ebd., 72f/499.
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teltheit des Selbst als Bestimmung eines neuen, durch das Wort vermittelten Selbstverhältnisses akzeptieren zu lernen. Der Mensch wird angesprochen auf das, was er nicht ist, weil er „ein werdender, […] ein aufhörender und ein anfangender“ ist.9 – Sind Widerspruchsrelation und Mutabilität die entscheidenden Bestimmungen im Rezeptionsvorgang der Verkündigung, so konkretisiert Iwand sie dahingehend, dass letztere unmittelbar am Lebenszusammenhang des Menschen anzuknüpfen habe, ohne ihn „[…] erst aus seiner Welt herauszulösen, in ein Kloster zu stecken, ein Innenleben zu hypostasieren und an ihm herumzuarbeiten, sondern ihn in der […] wirklichkeitsnahen Situation seines Lebens zu treffen.“10 Gegenüber jeglichen Versuchen einer abstrakten anthropologischen Wesensbestimmung hegt er den Verdacht, dass sie letztlich der Verschleierung seines wirklichen Seins Vorschub leistet. Predigt zielt auf eine Erschließung seiner selbst, die ihn „[…] nicht am Sonntag[,] nicht in Abstraktionen[,] nicht in dem Bild[,] das er von sich hat [aufsucht,] sondern in seiner Tätigkeit“, d.h. „in seiner Lebensbeschäftigung“ als Mann, Frau, Bauer, Pharisäer, Zöllner, usw.11 .. Das Ineinander von Enge und Off enheit der Verkündigung In seiner Vorlesung begnügt Iwand sich nicht mit der Konstatierung des angezeigten Spannungsverhältnisses zwischen Wort Gottes und wirklicher Welt, sondern deutet Konsequenzen an, die sich daraus für die rhetorische Predigtgestaltung ergeben. Zunächst soll ihm ein Wechsel zwischen Enge und Offenheit in der Wortverkündigung entsprechen: Die Voraussetzung, dass das Widerfahrnis des Wortes Gottes den Charakter einer aktuellen Durchbrechung der konventionellen Erfahrungswirklichkeit hat, setzt dem Prediger einen sehr engen Gestaltungsrahmen im Bezug darauf, wie sich das Wort im Lebensvollzug der Gemeinde und des Einzelnen auswirkt. Für Iwand ist das Hören selbst der eigentliche Kulminationspunkt der Verkündigung. Die dem Wort widerstrebende Dynamik kommt zum Tragen in der Tendenz zu dessen Vereinnahmung und Deformation durch subjektive Interessen von Prediger und Hörern. Dem ist nur dadurch zu entgehen, dass der Prediger sich auf die aktuelle Verkündigungssituation konzentriert, in der es „das Heute ganz zu erfüllen“ und die Hörer auf das Moment des gegenwärtigen Widerfahrnisses zu zentrieren gilt.12 9 Ebd., 77/502. 10 Ebd., 76/501. 11 Ebd., 75/500. 12 Ebd., 16/444. In diesem Sinne formuliert er in mannigfaltigen Variationen: „Sie haben für den Tag zu stehen, an dem Sie verkündigen. Wenn Sie predigen ist Heute, das Heute Gottes! Heute, jetzt haben Sie zu verkündigen. Was daraus wird, haben Sie Gott zu überlassen. ER kann Sie behüten, er kann die Gemeinde auch der Irrlehre überlassen. Danken Sie Gott, dass Sie heute noch der Gemeinde predigen dürfen“; ebd. Vgl. ebd.: „Gerade dadurch, dass die Welt uns bedroht, dadurch zwingt sie uns, das Heute ganz
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Andererseits korrespondiert der Erwartung der gegenwärtigen Wirksamkeit des die Wortes eine Offenheit in der Predigtgestaltung. Sie besteht darin, dass sie ihn von komplexen hermeneutischen Ansprüchen entlastet und ihn dazu freistellt, die von der Geworfenheit auf sich selbst los sprechende Botschaft des biblischen Textes direkt auf die Hörer zulaufen zu lassen. Eine semantische Ambiguität im Blick darauf, wie der Aneignungsprozess beim Einzelnen abläuft und sich in eine konkrete Veränderung lebensweltlicher Praxis umsetzt, wird bewusst in Kauf genommen. Iwand formuliert dafür den Grundsatz, dass die Menschen in ihrem Hören auf das Wort in Gottes Hand bleiben, und fordert für die Predigtarbeit insgesamt eine Haltung der Gelassenheit.13 Zeichnet sich von diesen Gestaltungshinweisen her ein Nebeneinander von Anspannung (hinsichtlich der Suche nach dem Wort im Heute) und Entspannung (hinsichtlich der Erwartung von dessen souveräner Selbstwirksamkeit) ab, so ist stellt sich die Frage, wie er diese beiden Momente aufeinander bezieht. Dabei ist von seinen Voraussetzungen her klar, dass eine Lösung der Spannung vom Standpunkt des bedürftigen Hörens auf das in machtvoller Unverfügbarkeit ergehende Wort nicht möglich ist. Der bleibende Wechsel zwischen angespannter Suche und mitteilsamer Freude über die Entdeckung der freisprechenden Kraft des Wortes ist vielmehr dem Verkündigungsgeschehen höchst angemessen. In ihm kommt der Grundsatz zum Tragen, dass der Prediger von der Situation seiner Hörer und der Weise, wie das Wort auf sie kommt, nicht grundsätzlich unterschieden, sondern als Prediger selber zugleich erster Hörer und Rezipient des Wortes ist.14 In der Predigt bildet sich der für das Glaubensleben insgesamt charakteristische Wechsel von Offenbarung und Entzug, Selbstzweifel und Gottesgewissheit ab. Unter dieser Voraussetzung beschreibt Iwand die Predigttätigkeit als einen prinzipiell unabschließbaren Weg, auf dem es immer wieder zu neuen Entdeckungen und Enttäuschungen kommt.15 zu erfüllen mit dem Worte Gottes, nichts anderes zu sein als die Stimme Gottes im Heute. […] Gerade dadurch, dass die Welt uns keinen Raum lässt, dass wir nicht sagen können: was wir sagen hat Ewigkeitsbedeutung, gerade dadurch bekommt unsere Predigt den Ernst. Ich kann nur reden zu den Menschen die gerade hier sind, die nicht weggehen dürfen, ohne dass sie hier und jetzt eine Antwort kriegen. Gerade durch den Kampf wird unsere Predigt gegenwärtig.“ Vgl. ebd, 21/450: „Denn dieses Hören des Wortes kennt kein darüber hinaus, kennt nicht die Situation des ‚dann erst‘. Damals habe ich es gehört, später habe ich es erlebt. Dieses Hören ist der Inbegriff des Erlebens, Glaubens, Wissens. Es gibt nichts, was über das Hören hinausging: Dir sind deine Sünden vergeben.“ 13 Vgl. ebd., 45f/477f: „Wir gehen, wenn wir predigen, an lauter Türen vorbei, die einen tuen sich auf[,] die anderen bleiben verschlossen, aber das Auft un und Verschlissen liegt nicht in unserer Hand. Wir können anrennen mit aller Kraft , die verschlossenen Türen gehen nicht auf; wenn sie aufgehen, gehen sie von innen auf, von innen wird der Riegel aufgestossen […]. Wenn man sich das klar macht, verliert man das Aufdrängerische, dann bringt man den Friedensgruss von Tür zu Tür und wartet, bis Gott selbst den Riegel zurückschiebt. Man wird geduldig, man erzürnt nicht, man verzweifelt nicht, man fängt wirklich an zu arbeiten.“ 14 Vgl. Kapitel 3.3.5. 15 Vgl. ebd., 13/441: „Eine Predigt taugt so viel, als der Prediger selbst auf dem Weg ist, in Bewegung ist, Neues zu sehen und zu fi nden, und das[,] was er gefunden hat, hinter sich lässt. Und zwar nicht nur hinter sich lässt, weil ein Zeitabstand ist zwischen dem 10. und 17. März, sondern weil er in mühseliger Arbeit Falsches entdeckt an dem, was er für richtig hielt, und Neues entdeckt in einem Gebiet, das ihm bisher verschlossen war. Wenn die Predigt nicht getragen wird von einem Werden und Wachsen, nicht allein in der Heiligung[,] sondern in der Erkenntnis, dann taugt die Predigt nichts.“
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Unsere Hypothese lautet nun, dass diese Bestimmung nicht lediglich die homiletische Praxis insgesamt betrifft , sondern sich auch in der Struktur einzelner Predigten abbilden müsste. Wir gehen davon aus, dass Iwand mit der Wegmetapher ein Steuerungselement hinsichtlich der rhetorischen Disposition der Stoffe indiziert und in diesem Sinne der Prediger unter den angezeigten Prämissen als Subjekt der Predigtgestaltung identifizierbar wird. In diesem Sinne soll im Folgenden anhand des Predigtaufbaus untersucht werden, wie diese Stoffdisposition aussieht. Die Analyse des Gesamtaufbaus einer Predigt scheint uns besonders geeignet zu sein, um die Struktur der Rezeptionsbeziehungen in ihr zu eruieren. Bevor dies geschieht, wollen wir einen Blick auf Ansätze der jüngeren Predigtforschung werfen, die auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht haben.
. Die Analyse des Zusammenhangs von Predigtaufbau und Rezeptionsbeziehung zu den Hörern In der jüngeren Homiletik sind Ansätze dazu entwickelt worden, den Aufbau von Predigten nach didaktischen, kommunikationswissenschaftlichen und dogmatischen Gesichtspunkten zu analysieren.16 Besonderes Gewicht wurde dabei auf die beiden Fragen gelegt, wie die Verkündigung auf die Verstehensbedingungen der Hörer eingeht und wie die theologisch-inhaltlichen Bestimmungen mit der äußeren Form korrespondieren.17 Auf den zweiten Punkt hat Manfred Josuttis in einer Studie „Über den Predigtaufbau“ besonderes Gewicht gelegt und dabei den Begriff gegenüber dem der Gliederung als der Predigtanalyse angemessen profi liert. Letzterer birgt s.E. die Gefahr einer Engführung, insofern er indiziert, dass Predigt „einheitlich und übersichtlich zusammenzufassen, in einem Thema anzugeben und in verschiedenen Teilen gedanklich zu entfalten ist.“18 Der weitere Begriff des Aufbaus vermag hingegen dem Moment Rechnung zu tragen, dass es sich bei der Verkündigung um ein dynamisches Geschehen handelt, in dessen Verlauf am Beginn noch nicht abzusehende Fragen auftreten und innerhalb dessen es zu Entdeckungen kommt, die den Text in ein neues Verhältnis zur Situation der Hörer setzen. Der Nachvollzug des Weges, den eine Predigt geht, tritt in das Zentrum der Analyse. In diesem Sinne formuliert Josuttis: „Der Begriff ‚Aufbau‘ deutet an, daß der Ablauf […] vom Prediger, bewußt oder unbewußt, gelenkt wird und von ihm deshalb in theologischer Reflexion zu verantworten ist. Indem er seine Gedanken, dem Text genau folgend oder Einzelaussagen des Textes zu einer neuen Sinneinheit zusammenfügend, in einer bestimmten Folge nacheinander und in einer bestimmten Beziehung untereinander ordnet, setzt er die Richtung fest, in der die Predigt verläuft, und markiert er, mit Anfang und Ziel den Weg, den der Hörer an Hand der Predigt zu gehen hat. Mag sie von 16 Vgl. Engemann, Wilfried, Einführung, 290–325. 17 Vgl. ebd., bes. 303–307; 298–303. 18 Josuttis, Manfred, Über den Predigtaufbau, 188.
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logischen oder psychologischen Gesetzen bestimmt oder einfach dem vorgegebenen Text angepaßt sein: Die Art, wie das Geschehen einer Predigt verläuft, impliziert ein spezifisches Verständnis des Wortes Gottes. Deshalb zeigt sich schon in dem Aufbau, zu dem die Gedankenblöcke einer Predigt zusammengestellt sind, sehr häufig ihr theologisches Profi l.“19
Unsere bisher angeführten Hinweise Iwands zur Dynamik des Predigtgeschehens im Spannungsfeld von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit lassen bereits erahnen, dass die von Josuttis geltend gemachten Gesichtspunkte für die Wahrnehmung seiner homiletischen Praxis besonders virulent sind. Eine weitere Bereicherung des analytischen Inventars für unsere Fragestellung stellt die Beschäftigung mit dem Phänomen der Rezeption innerhalb der jüngeren Predigtforschung dar. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Studie von Hans-Ulrich Gehring zu „Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik“. In ihr setzt Gehring den Ansatz des Literaturwissenschaftlers Hans Robert Jauß in Beziehung zu theologischen Grundsätzen und zur homiletischen Praxis Martin Luthers. Das Spezifische der rezeptionsästhetischen Fragestellung bestimmt er dahingehend, dass sie sich literarischen Produktionen aus der Betrachter- oder Rezipientenperspektive nähert und die impliziten hermeneutischen Maximen hinsichtlich der Aufnahmebereitschaft der Leser sowie des Wirkungspotentials eines Textes aufzudecken sucht. Überträgt man die Perspektive auf das Predigtgeschehen, so umfasst es einen „doppelten Rezeptionsvorgang“ vom biblischen Text zum Manuskript der Predigt und von der Predigt zu den Hörern.20 Unter den Maßgaben der rezeptionsästhetischen Perspektive hebt er hervor, dass „die im Wortgeschehen sich ereignende Reinigung und Verwandlung des Menschen […] ihn […] auf neue Weise kommunikations-, aber auch wahrnehmungs- und interpretierfähig macht.“21 Im Horizont dieser Methode kommt u.E. der Analyse des Predigtaufbaus i.S. der von Josuttis geltend gemachten Wegstruktur eine entscheidende Bedeutung zu. Gehring selber deutet dies an, wenn er die „Metapher des Gehens“ zur Beschreibung des Predigtgeschehens für angemessen hält.22 Im ersten Teil seiner Studie führt er die rezeptionsästhetische Betrachtungsweise an einer Predigt Martin Luthers durch, um daraus programmatische Einsichten in das Verhältnis zwischen dessen hermeneutischen Maximen und der „zutage tretende[n] Struktur der Rezeptionsbeziehung zwischen Predigt und Hörer“ zu gewinnen.23 Dabei konzentriert er sich auf einzelne Darstellungselemente der Predigt: Aufgedeckt wird, wie Luthers Grundsatz der Selbstwirksamkeit 19 Ebd., 189. 20 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 4. Implizit haben wir dieses Verfahren bereits im letzten Kapitel unserer Arbeit zur Anwendung gebracht, indem wir fragten wie der Prediger die im biblischen Text zum Tragen kommenden Interaktionsmuster für die rhetorische Gestaltung des Verhältnisses zu den Hörern fruchtbar macht; vgl. 4.3. In diesem Kapitel konzentrieren wir unsere Analyse auf den anderen Pol der Rezeptionsbeziehung, die bei den Hörern vermuteten Erwartungen und Widerstände. Freilich lassen sich die unterschiedlichen Seiten des Rezeptionsvorgangs i.S. der iwandschen Bestimmung des Wortes Gottes als viva vox evangelii nie streng voneinander trennen. 21 Ebd., 192. 22 Ebd., 180. 23 Ebd., 5.
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des Wortes ihn dazu veranlasst, den „Erfahrungszusammenhang seiner Zuhörer“ in einer spezifischen Weise zu stimulieren,24 wie sich der Kampf zwischen fleischlicher und geistlicher Existenz in der Predigt als strukturelle Antithetik niederschlägt, die bisweilen den „Charakter formloser Redundanz“ annehmen kann,25 und wie schließlich die Auffassung von der Unverfügbarkeit des Wortes eine „Rezeptionsfreiheit des Hörenden“ eröffnet.26 Ein Defizit der Analyse ist darin zu sehen, dass Gehring von den Einzelmotiven sogleich zu deren systematischer Auswertung fortschreitet. Der horizontale Gesamtaufriss der Predigt kommt auf diese Weise nicht in den Blick. Gerade an ihm müsste sich aber – so unsere Überlegung – der „prozessuale[.] Charakter der Verwandlung“,27 den er unter den Stichworten „Katharsis“ bzw. „Inversion des Verstehens“ als entscheidenden Erkenntnisgewinn rezeptionsästhetischer Predigtanalyse bestimmt,28 anschaulich zeigen lassen. Im Nachvollzug einer Predigt über deren gesamte Länge wird greifbar, dass letztere „als Rede […] ein Geschehen in der Zeit“ und ihr zeitlicher Ablauf der Horizont ist, in dem sie ihre Wirkung entfaltet.29 In diesem Sinne führen wir in unserer eigenen Analyse die Ansätze von Josuttis und Gehring weiter, indem wir die Analyse des Predigtaufbaus verknüpfen mit jener der Entfaltung der Rezeptionsbeziehungen zu den Hörern.
. Predigt als Kampfgeschehen – Analyse zur Predigt über Gal ,–, und zu typischen Elementen weiterer Galaterbriefpredigten Im Folgenden wollen wir analysieren, wie Iwand das im Rahmen seiner Vorlesung erörterte spannungsreiche Verhältnis zwischen Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit in seiner homiletischen Praxis umsetzt. Besonders geeignet dazu erscheint uns eine Gruppe von Predigten, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass ihnen Perikopen aus dem Galaterbrief zu Grunde liegen. Iwand hat in unterschiedlichen Phasen seines Wirkens immer wieder über Galaterbrieftexte gepredigt. Die im dritten Band der Nachgelassenen Werke abgedruckten Predigten hielt er 1941 in seiner Dortmunder Gemeinde (Predigt über Gal 1,10–24),30 1954 im Bonner Universitätsgottesdienst (Predigt über Gal 2,15–21 = Predigt 4)31 und zwei Jahre später wiederum in Dortmund (Predigt über Gal 5,25–6,10 = Predigt 3).32 24 Ebd., 25. 25 Ebd., 72. 26 Ebd., 44. 27 Ebd., 39. 28 Ebd., 201. 29 Josuttis, Manfred, Über den Predigtaufbau, 187. 30 Vgl. NW III, 87–94. 31 Vgl. ebd., 245–256. 32 Vgl. ebd., 271–277. Während wir auf die Predigt über Gal 1,10–24 nur kurz eingehen, analysieren wir die Predigten über Gal 5,25–6,10 und über Gal 2,15–21 jeweils in ihrem Gesamtzusammenhang.
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Die Eigenart dieser Predigten ist zunächst dadurch bestimmt, dass die polemische Situation der Auseinandersetzung mit Widerständen gegen das Evangelium durch den Text selber vorgegeben ist. Wenn Iwand diesen Zug für die Gestaltung des Rezeptionsverhältnisses zu den Hörern fruchtbar macht, so ist dies zugleich ein Ausweis für seine identifi katorische Lesart biblischer Texte, die wir im letzten Kapitel analysiert haben. Darüber hinaus ist sein Verhältnis zu dieser Epistel von deren Wirkungsgeschichte bestimmt, die aus der Perspektive seiner eigenen Prägung durch die reformatorische Theologie offensichtlicher als andere biblische Texte mit dem Horizont der aktuellen Verkündigungssituation verschmilzt. In diesem Sinne macht er sich deren „wirkmächtige konnotative Aura“33 zu eigen, wenn er konstatiert: „Das ist Paulus. Das ist es, was man in der Sprache der Theologie die Rechtfertigungslehre nennt“,34 Anderen Orts stellt er seine Hörer im Blick auf das paulinische Evangelium vor die Alternative: „Die alte und die neue Kirche! Das Mittelalter und die Reformation, Rom und Wittenberg. Unsere Kirche vor 1933 und nach 1933! Es wird immer dasselbe sein. Eines Tages merkt man doch, dass es sich besser lebte bei den Fleischtöpfen Ägyptens als in der Wüste!“35
Entscheidend für unsere Auswahl ist, dass die Verwandtschaft der Predigten sich nicht in theologisch-inhaltlichen Bestimmungen erschöpft, sondern in einem weiteren Charakteristikum besteht. Und zwar zeichnen sie sich dadurch aus, dass ihr Aufbau sich in auffälliger Weise von den in der klassischen Rhetorik aufgestellten Grundsätzen für die Gestaltung persuasiver menschlicher Rede dispensiert.36 Das prägnanteste Beispiel dafür ist die Predigt über Gal 1,10–24 aus dem Jahre 1941: Anstatt seine Hörer behutsam an das Thema heran zu führen, werden sie unter Verweis auf den kämpfenden Paulus sofort in den sein Verhältnis zu den Galatern bestimmenden schroffen Gegensatz involviert.37 In ihrem die Argumentation verkürzenden und zudringlich auf die Hörer einwirkenden Dementsprechend haben wir diese beiden Predigten in den Anhang aufgenommen und mit der Nummerierung Predigt 3 und Predigt 4 versehen. Unsere Zitation verweist darauf in der bereits aus Kapitel 4 vertrauten Weise. Vgl. unsere Vorüberlegungen zur rhetorischen Analyse. 33 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 182. 34 P 4,123f.. 35 P 4,88–92. 36 In diesem Sinne bestimmt Heinrich F. Plett die gelungene Stoffanordnung einer Rede dahingehend, dass die Einleitung (= Exordium) dazu dient, die Hörer wohlwollend zu stimmen, um sie sodann in der Erzählung des Hergangs (= Narratio) über den zu verhandelnden Sachverhalt zu informieren. Der Mittelteil der Rede dient der argumentativen Entfaltung (= Argumentatio) des letzteren. Sie schließt mit einer kurzen Wiederholung der Beweisführung und gegebenenfalls einem Appell an die Affekte der Hörer (= Peroratio); vgl. ders., Einführung, 16f. In Anknüpfung an dieses Schema sind weitere Gliederungsmerkmale des Redestoffes ausgearbeitet worden, nach denen Einleitung, Hauptteil und Schluss einer Rede die Kontakt-, Lehr- und parakletische Funktion derselben zugeordnet werden oder sie unter lernpsychologischen Gesichtspunkten zu gestalten ist; vgl. Engemann, Wilfried, Einführung, 297. 303– 307. Allen diesen Gliederungsansätzen ist gemein, dass das Gelingen der Rede an einer klar abgrenzbaren und eingängigen Stoffdisposition festgemacht wird. 37 Vgl. NW III, 87: „Dieses, was wir eben hörten, ist ein Einblick, wie ein Mann ums Evangelium kämpft , wie er ums Evangelium kämpft , einer Gemeinde gegenüber, die das nicht versteht, die abfallen möchte von dem, was sie empfangen hat. Und er kämpft in einer eigentümlichen Weise dafür: […].“
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Pathos,38 verharrt die Predigt bei der Darstellung eines einzigen Sachverhaltes, der sich in einem knappen Satz zusammenfassen lässt: „Paulus sagt, das Evangelium hat nichts Menschliches an sich, ich habe es von keinem Menschen, auch nicht durch einen Menschen, die einzige Erklärung und das Woher ist: Gott.“39
Am Schluss werden die Hörer ultimativ vor diejenige ausschließende Alternative gestellt, die den Diskurs bereits seit der ersten Entfaltung des Themas bestimmt: „Gott, das ist die letzte Autorität, der steht dahinter, wenn wir uns evangelische Christen nennen, unsere Kirche hat nur ein Zeichen, das Evangelium von Gott, das Evangelium nicht nach Menschenart; wenn dieses Evangelium verdorben würde, dann würde unsere Kirche nicht mehr sein.“40
Anstößig ist an dieser Predigt vor allem, wie der Prediger mit für den Leser geradezu enervierender Redundanz einen einzelnen Gedanken einschärft. In ähnlicher Weise schwört er in der Predigt über Gal 2,15–21 (= P 4) seine Hörer über die Länge von fast vier Seiten auf das „Entweder-Oder“ von Gesetzes- und Glaubensgerechtigkeit ein, bevor er mit der sukzessiven Exegese des Predigttextes fortschreitet.41 Die in den Predigten zum Galaterbrief zu beobachtende Eigensinnigkeit der Kommunikationsgestalt ist umso bemerkenswerter, wenn man beachtet, dass sich im Predigtwerk Iwands durchaus Beispiele finden, in denen er allgemein rhetorischen oder lernpsychologischen Hörererwartungen Rechnung trägt.42 38 Typisch ist in diesem Kontext die vorwegnehmende Widerlegung möglicher Einwände mittels Aneinanderreihung rhetorischer Fragen, die als vehementer Appell die Absurdität des gegnerischen Standpunktes aufzudecken suchen: „was seid ihr denn, woher habt ihr es? […] Meint ihr, ihr könntet […]? Ach wie töricht, habt ihr denn nicht begriffen, daß […]?“ ; ebd., 92. 39 Ebd., 92. 40 Ebd., 93. 41 Vgl. P 4,1–145. 42 Ein Beispiel für eine im klassischen Sinne rhetorisch wohl disponierte Predigt ist die über den Einzelvers Joh 8,36 („Wenn euch der Sohn frei macht, so werdet ihr in Wahrheit frei sein“) aus dem Jahre 1956; vgl. NW III., 264–270. Sie fällt durch die klare Disposition in fünf Unterpunkte (I.–V.) auf, die den Stoff unter dem Gesichtspunkt des intellektuellen Wirkungsziels argumentativ entfaltet. Der Prediger beginnt mit der Benennung des Themas seiner Ausführungen („Wir spüren heute alle, daß der Mensch ohne Freiheit nicht leben kann“; 264), das unter Punkt zwei einer Grund legenden Problematisierung zugeführt wird („Nein, es ist schon wahr, daß zwischen der Freiheit und uns Menschen ein Graben gezogen ist, ein breiter, garstiger Graben, daß, wer da wollte hinüber kommen, der kann es nicht und kann auch niemand von dort herüber kommen“; 265). Ist bis hierhin die Zustimmung der Hörer vorausgesetzt, so beginnt mit Punkt drei der eigentlich argumentierende Teil: Im Zusammenhang mit der Einführung des Textes wird der Problemhorizont abermals vertieft („Wirklich nicht? Darum geht es bei diesem unserem Text. Wenn es wirklich kein Herüber gäbe, weil es kein Hinüber gibt, dann wäre unser Textwort sinnlos“; 265) der bisherige Erkenntnisstand als „Trugschluss enthüllt“ und die Bibel als „klare, unzweideutige Magna Charta Gottes vom künftigen Tag unserer Befreiung“ (266) dagegen gesetzt. Dementsprechend hat Punkt vier die Neufassung der Freiheitsthematik unter biblischer Perspektive zum Gegenstand. Der letzte Punkt führt die Predigt insofern zu einem runden Schluss, als er die Frage aufwirft und beantwortet, auf welche Weise die gewonnene Erkenntnis auf die Hörer zu applizieren ist („Aber wie kommt uns Gottes Freiheit nahe? Wenn sie uns in Jesus Christus nahe kommt, dann kommt sie uns immer in einer bestimmten, in einer von allen anderen Befreiungsaktionen unterschiedenen Weise nahe“; 269). Der Versuch einer Systematisierung nach lernpsychologischen Gesichtspunkten böte sich im Blick auf die Predigt über Apg 4,11–12 an, an der wir bereits die bei dem Auftritt der Apostel vor dem Hohen Rat
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Unsere Hypothese ist, dass diese Eigensinnigkeit sich der Erwartung der Selbstwirksamkeit des Wortes und der ihm auf Seiten der Hörer entgegen stehenden Widerstände verdankt. In der die allgemeinen Konventionen menschlicher Rede sprengenden Darbietung der Stoffe kommen die theologischen Voraussetzungen Iwands in einer spezifischen Weise zur Geltung.43 Sie ist das genuine Mittel, um Predigt als ein zwischen der fleischlichen und geistlichen Existenzweise sich entspannendes Kampfgeschehen zu konturieren. Die Analyse der dabei in Anspruch genommenen Gestaltungsmittel eröffnet den Zugang zu einer den theologischen und anthropologischen Grundanschauungen Iwands konvergierenden Struktur des Predigtaufbaus. Dazu ist ein Gang durch die Predigt in kleinen Schritten notwendig. Wir wollen dem nachkommen, indem wir zunächst die Predigt über Gal 5,25–6,10 (= P 3) der Grundstruktur ihres Aufbaus nach darstellen, um sodann zu analysieren, wie der Prediger mittels eines intendierten Wandels des Rezeptionsverhaltens auf Seiten der Hörer zur Neubestimmung des Verhältnisses von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit gelangt. Bei dem der 1956 in Dortmund gehaltenen Predigt zugrunde liegenden Text handelt es sich um den zweiten Teil der Paränese des Galaterbriefes, der sich mit der konkreten Mahnung zu geschwisterlichem Umgang an die galatische Gemeinde wendet. Dieser Charakter des Textes findet seinen Niederschlag im imperativischen Rahmen der Predigt, die mit der Mahnung zum Wandeln im Geist beginnt und schließt (vgl. P 3,1–3.184). .. Die Grundstruktur des Predigtaufbaus als blockartige Nebenordnung von Anspruchs- und Zuspruchsperspektiven Der Gesamtaufriss der Predigt ist bestimmt durch eine antithetische Struktur, in der die Perspektive immer wieder zwischen einem massiven Verpflichtungscharakter und dem Zuspruch des zu einem neuen Lebenswandel befreienden Heilswirkens Gottes oszilliert. Dieser Charakter zeigt sich bereits im ersten Satz, der den Eingangsvers des Predigttextes wiederholt und über ein mehrgliedriges Satzgefüge hin paraphrasiert: anhebende und in einem weit gespannten Bogen bei den Hörern in der Situation des Kirchenkampfes zum Ziel kommende sukzessive szenische Entfaltung des Gedankenganges gewürdigt hatten. Unter den von W. Engemann im Anschluss an das Zeichenmodell K. Bühlers entwickelten didaktischen Gesichtspunkten (vgl. ders., Einführung, 295–297) ließe sich dieser Bogen in eine Motivationsphase, in der die ästhetische Funktion (= szenische Darstellung), einen Mittelteil, in dem die Darstellungsfunktion (=Katechese) und einen Schluss, an dem die Signalfunktion (= Paraklese) dominiert, differenzieren. 43 Friedrich Niebergall hat bereits im Jahre 1929 darauf hingewiesen, dass die Tendenz zur Loslösung von klassischen rhetorischen Formen in zeitgenössischen Predigten motiviert ist durch das Verlangen, einer intensiven inneren Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Aus dem Bewusstsein heraus, dass die überkommenen Darstellungsmittel dazu nicht ausreichen, entstand eine Schaffensweise, die er in den Zusammenhang mit Entwicklungen der modernen Kunst stellt: „Man könnte, um […] einen Vergleich aus der Kunst und der Dichtung zu gebrauchen, sagen, dass die Predigt aus dem Bereich eines formgebundenen Klassizismus zu einem Expressionismus übergegangen sei, der erlaubt und gebietet, seelische Gehalte nach inneren Gesetzen anstatt nach äußerlichen Regeln ausströmen zu lassen“; ders., Die moderne Predigt, 211.
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„‚Wenn wir durch den Geist leben, dann laßt uns auch durch den Geist wandeln‘, so wird man den Eingang unseres Textes übersetzen müssen. Wenn – dann! Wenn ihr schon teilhaft geworden seid des Geistes, der von oben ist, der Leben, ewiges Leben bedeutet, dann bedeutet das auch einen Befehl für euch, einen Aufruf, eine Verpflichtung. Wenn – dann! […]“ (P 3,1–3).
Bezeichnend ist, dass der Prediger nicht einmal den Versuch unternimmt die Hörer für die folgenden Erörterungen aufnahmebereit zu stimmen, sondern sofort in medias res geht. Er legt das ganze Gewicht seiner Darstellung darauf, die Argumentation zu verkürzen und seine Hörer auf Konsequenzen festzulegen, bevor die Sache als solche („Leben im Geist“) überhaupt entfaltet worden ist. Rhetorisch geht es ihm darum, gleich zu Beginn „die Schwelle“ zu markieren, „über die wir allein Eintritt finden können in unseren Text“ (P 3,11f). Angesichts einer zu „Halbheit“ (P 3,24) und Müdigkeit neigenden Hörerschaft gilt es, „die Menschen immer wieder aufs neue wach[zu]rütteln“ (P 3,25f). Die Einleitung (P 3,1–34) nimmt sich insgesamt als ein einziger Weckruf aus, der den Hörern die Augen öffnen soll für die Geistwirklichkeit und die Ansprüche, unter die sie von daher gestellt werden. Die zudringlich vorgetragene Forderung, im Geist zu wandeln, wird über den gesamten Verlauf der Predigt in mannigfachen Variationen immer wieder neu eingeschärft. In diesem Sinne entfaltet er, dass die Geistexistenz eine Absage an die Fleischlichkeit (P 3,45–61), „eine Verpflichtung“ (P 3,96–118), eine Lösung vom Besitzdenken (P 3,119–130) und die Hinwendung zum gefallenen Mitmenschen (P 3,160–177) bedeutet. Unter dieser Perspektive erhält die Predigt von Anfang an den drängenden Charakter eines Ringens um die Hörer. Der dazu gehörige hermeneutische Grundsatz lautet: „Geist […] heißt Kampf. Geist ist zunächst und vor allem das unabdingbare Nein Gottes zu allem, was wir von Hause aus sind und haben. Geist ist das Messer, das ins Fleisch schneidet […]“ (P 3,48–51).
Umso überraschender ist es, dass diese Bewegung ab der zweiten Seite durch eine andere Perspektive unterbrochen wird, welche die Schilderung des göttlichen Heilswirkens als eines Zustandes vollkommener Erfüllung zum Gegenstand hat und letzteren auf die Hörer appliziert. In einem abrupten Wechsel proklamiert der Prediger die der Forderung zu Grunde liegende Initiative Gottes. Unter dieser Bestimmung gilt von demselben Sachverhalt, der eben noch ein Höchstmaß an Anstrengung provozierte: „Die Sache ist nicht so schwierig, wie wir uns das manchmal machen. Es ist nun einmal etwas Neues und Grundstürzendes in dieser Welt und mit ihr geschehen. Gott selbst hat sich unser und unserer Not angenommen. Gott hat die Gitterstäbe unseres Gefängnisses, die harten, für unsere Hände unzerbrechlichen Stäbe weggetan. Gott hat […] in Jesus Christus[,] die große, selige Wendung herbeigeführt […]. Und nicht nur das, er hat uns auch die Freiheit geschenkt […]“ (P 3,35–42).
Im weiteren Verlauf der Predigt wird diese zweite Ebene immer wieder zu dem angespannten Ringen in Kontrast gesetzt, indem der Prediger entfaltet, 220
dass der Geistwandel in der „große[n] wunderbare[n] Wirklichkeit“ Gottes begründet ist (P 3,69–76), Gott „uns auf seine Seite“ zieht (P 3,77–95) und sein Geist „von uns Besitz ergreifen“ will (P 3,131–150). In diesen Abschnitten bekommt die Predigt einen weiten Charakter, der auf Seiten der Hörer eine großzügige Gelassenheit intendiert. Aus der Grundpolarität ergibt sich für den Gesamtaufriss der Predigt eine Nebenordnung kleiner, blockartiger Texteinheiten, in denen die Hörer auf sehr unterschiedliche Weise angesprochen werden. Ist das natürliche Selbstverhältnis des Menschen dadurch bestimmt, dass „[…] wir mit unseren Sinnen und unserer Vernunft von dieser Wirklichkeit des Geistes, wo sie uns begegnet, nichts, aber auch gar nichts […] begreifen“ (P 3,57–59), so rechnet der Prediger damit, dass der Geist kraft der in der Gemeinde anbrechenden Gottesherrschaft „mitten unter uns“ (P 3,33) auf den Plan tritt und die Seinen ergreift. Dies geschieht wiederum nicht „wie, wenn der Wind ein Blatt vor sich herweht“ (P 3,46f), sondern nur kraft der Überwindung heftigster Widerstände im Kampf mit der fleischlichen Existenz. Letzterer fordert die Hörer zu angespannter Aktivität heraus. An der zwischen einem imperativischen Ringen und dem Zuspruch des Wortes Gottes oszillierenden Grundstruktur bestätigt sich unsere Erwartung, dass die Dialektik von Wort und Welt sich in ihrem Aufbau niederschlägt. Die hermeneutische Voraussetzung, dass die Hörer vom Wort Gottes in einem Zustand sündhafter Selbstverschlossenheit getroffen werden, lässt für einen Ausgleich der Spannungen keinen Raum, sondern führt dazu, dass sie unvorbereitet und überraschend mit dem „Heute“ der göttlichen Heilsbotschaft konfrontiert werden. Wird dies zuerst an der hohen Anforderungsschwelle am Beginn der Predigt sichtbar, so bleibt der Gestaltungsraum für den Zuspruch der Heilsgegenwart Gottes auch im weiteren Verlauf der Predigt sehr eng. Das neue Sein wird sogleich zurück bezogen auf die ihm entgegen stehenden Widerstände, gegen die es durchgerungen werden muss, und wird greifbar nur im ständigen Wechsel von Anfechtung und Gewissheit. Die Bestimmung von Predigt als prinzipiell unabschließbarem Weg lässt sich von daher als eine Kontrasthermeneutik charakterisieren, in der das ungleichzeitige Selbstverhältnis des Glaubens Ausdruck gewinnt. .. Die sukzessive Wendung der Hörer zu einem neuen Welt- und Selbstverhältnis Unter den angezeigten Rahmenbedingungen ist zu fragen, ob es der Predigt gelingt, ihren Hörern ein neues Verhältnis zu ihrer Umwelt zu eröffnen und sie im Blick darauf „auf neue Weise kommunikations-, aber auch wahrnehmungs- und interpretierfähig“ zu machen.44 Iwands Anspruch, dass das Wort Gottes als viva vox evangelii die menschliche Wirklichkeit erreicht, ist nur 44 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 192.
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dann einzulösen, wenn die Verkündigung nicht bei einer blockartigen Nebenordnung in sich geschlossener Perspektiven stehen bleibt, sondern wenn es innerhalb dieses Verfahrens zu einer wechselseitigen Durchdringung derselben kommt. Geht es ihm darum, am Lebenszusammenhang der Hörer anzuknüpfen und sie dazu anzuleiten, sich im Widerspruch zur von Gott entfremdeten Erfahrungswirklichkeit aus der dynamischen Situation des Wortgeschehens neu zu empfangen, so muss dieser Wandel in einer dauerhaften Neukonstitution des Verhältnisses zur ihrer wirklichen Welt greifbar werden. Dem steht allerdings entgegen, dass das zugesprochene Sein im Geist niemals zu einer geschlossenen Gesamtperspektive für die Deutung des Welt- und Selbstverhältnisses synthetisiert werden kann. Angesichts dessen stellt sich das Problem, wie die Wirksamkeit des Wortes Gottes auf Seiten seiner Hörer Kontinuität gewinnt. Um zu klären, wie Iwand mit diesem Problem umgeht, nehmen wir den Aufbau noch einmal unter einer anderen Betrachtungsweise in den Blick. Es soll analysiert werden, ob innerhalb der antithetischen Nebenordnung der Perspektiven eine Annäherung derselben zu verzeichnen ist und worin diese besteht. Dabei richten wir unser Augenmerk darauf, wie der Prediger die Rezeptionsbeziehung zu den Hörern durch den Gang der Predigt hindurch gestaltet, und untersuchen, ob sich eine Entwicklungslinie erkennen lässt. Ein erster Anhaltspunkt dazu bietet sich auf der vierten Seite: Ist das Rezeptionsverhältnis in den imperativischen Sätzen der Einleitung ganz durch jene die Verkündigung hemmende Grundsituation bestimmt, nach der es die Hörer „wach[zu]rütteln“ (P 3,26) gilt, so ist demgegenüber dort eine prägnante Veränderung zu verzeichnen. Der Prediger greift die Metaphorik des Schlafes wieder auf, spricht die Gemeinde aber nun auf einen Zustand inzwischen fortgeschrittener Wachheit an. Aus ihm heraus kommen die Eingangsoptionen in der Perspektive eines distanzierten Rückblicks zu Gesicht: „Wem dieser Geist je begegnet ist, der reibt sich wohl hernach die Augen und fragt sich, wie konnte ich nur all dem glauben, was nicht von Gott kam, dem Bösen, dem Tod, dem schrecklichen abgründigen Nichts? Das ist ja alles nicht wahr! Und jetzt verstehen wir erst, warum Gott zunächst Nein sagen muß, warum die Begegnung mit dem Geiste Gottes so weh tut, warum hier erst ein Strich gemacht werden muß durch alles, […] was mir als einem natürlichen Menschen geläufig ist […], damit mir wirklich die Augen aufgehen können für seine Wahrheit und Nähe“ (P 3,77–86).
Zwischen der Einleitung und dieser erneuten Positionsbestimmung im Spannungsfeld von Fleisch und Geist steht die zweimalige Proklamation des göttlichen Befreiungshandelns in Jesus Christus (P 3,35–44.69–76) und die Mahnung, den Kampf mit der fleischlichen Existenz aufzunehmen (P 3,45–61). Indiziert wird an dieser Stelle eine auf Seiten der Hörer stattfindende Inversion der natürlichen Wahrnehmung, die sich in einem widerfahrnishaften Erschließungsmoment realisiert. Davon ausgehend gestaltet der Prediger das Rezeptionsverhältnis zum Text in der zweiten Hälfte der Predigt als eine Fol222
ge von Entdeckungen, die sich im Verlauf seines räsonierenden und reflektierenden Nachvollzuges einstellen. Gehäuft greift er zu Formulierungen, wie: „Hier bricht nun etwas auf […] als ob uns der Apostel einen Spiegel vor Augen hielte“ (P 3,119f); „Jetzt erst merken wir, was für eine wichtige und tiefe Scheidegrenze der Apostel […] zieht“ (P 3,151–153); „Der Geist offenbart mir da etwas“ (P 3,162f) bzw. „[…] damit stehen wir vor dem Lebensgesetz der neuen Gemeinde […]“ (P 3,179).
Er rechnet offensichtlich damit, dass durch das angespannte Werben und die unauflösliche Antithetik von Fleisch und Geist hindurch das Wort Gottes seine Wirksamkeit entfaltet, und zwar im Sinne einer sukzessiven Verwandlung des Wahrnehmungsvermögens der an dem Kommunikationsgeschehen Predigt beteiligten Menschen. Sie wirkt sich aus in der neu gewonnenen Fähigkeit zur staunenden Achtsamkeit über die Möglichkeiten, die das Wort im Kontrast zu bisherigen Lebensentwürfen eröffnet. In deren Folge enthüllt sich das, was in der sarkischen Wahrnehmung unmittelbare Evidenz beansprucht, als das Unwahre und Unwirkliche, wohingegen das unverfügbare Heilsgut immer stärker zum perspektivischen Zentrum der Welt- und Selbstwahrnehmung wird. Wie gestaltet der Prediger diesen Prozess im fortschreitenden Gedankengang der Predigt? – Das Darstellungsziel, dass die pneumatische Wirklichkeitssicht in das Zentrum der Wahrnehmung tritt, wird zunächst dadurch forciert, dass er das Handeln Gottes in Relation auf die wirkliche Welt zunehmend konkretisiert: – In der ersten Proklamation des göttlichen Heilswerkes stellt er es in einem semantisch offenen Sinne als Befreiung aus einem Gefängnis und „große, selige Wendung“ (P 3,40) dar. Die Schilderung im Indikativ Perfekt unterstreicht, dass es sich dabei um ein abgeschlossenes, unwiderrufliches und äußeres Geschehen handelt. Seine Gültigkeit ist prinzipiell unabhängig von der Stellungnahme der Rezipienten zu ihm. – Bei seiner abermaligen Thematisierung wird es stärker auf die Wirklichkeit der Hörer bezogen, indem er die Gegenwart Gottes „mitten unter uns“ (P 3,73) beschwört und hervorhebt, dass von ihr „eine Bewegung ausgeht, die immer aufs neue zu Menschen des Geistes macht“ (P 3,75f). Die mit dem Bild vom Zerbrechen der Gitterstäbe (vgl. P 3,37–39) indizierte Dynamik göttlichen Handelns wird in den Menschen selber hinein verlegt. – Die Tendenz zur Internalisierung kulminiert darin, dass der Prediger aufdeckt, worin die von Gott ausgehende Bewegung auf den Menschen besteht und wie sie sich an ihm auswirkt: „Geist heißt: Gott zieht uns auf seine Seite, wir dürfen die Welt, die Menschen, wohl auch uns selbst, mit seinen Augen sehen, wir dürfen die Wahrheit aus seinem Mund hören, wir können nicht mehr Gegner, Feinde, Zweifelnde und Abgewandte sein, sondern wir dürfen, wir müssen mit Gott eines Sinnes sein! Das heißt Geist“ (P 3,86–91).
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Der Gewinn der Wirksamkeit des Geistes an der wirklichen Welt wird nun entscheidend als die Eröff nung einer neuen Perspektive auf sie bestimmt. Vom Geist ergriffen zu werden bedeutet eine Sichtweise zu erlangen, die sich von der konventionellen Alltagswahrnehmung Grund legend unterscheidet.45 Sie distanziert den Menschen von seinem natürlichen Selbstverhältnis und lässt ihn sich und seine Umwelt mit den Augen Gottes sehen. Hat die Darstellung damit jenen Punkt erreicht, an dem das Handeln Gottes in den Zusammenhang der konventionellen Erfahrungswirklichkeit eintritt, so ist zu fragen, wodurch diese neue Wahrnehmung des Näheren bestimmt ist und welche Konsequenzen sich aus ihr für das In-der-Welt-Sein insgesamt ergeben: – Ersteres konkretisiert der Prediger, indem er die in der Erfahrung des von sich selber unterschieden Werdens realisierte Geisterkenntnis in Kontrast setzt zur monoperspektivischen fleischlichen Selbstwahrnehmung. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass ihr die Möglichkeit der Distanznahme von sich selber völlig fremd ist und sie sich die Aneignung des Geistes nur nach den Maßgaben subjektiver Interessen vorstellen kann. Das Gegenbild dazu, dass der Geist „uns auf seine Seite“ (P 3,87) zieht, entfaltet er unter dem Begriff des „Besitzes“: „[…] gerade da, wo man meint, den Geist zu besitzen, wo man nichts mehr von dem Schmerz weiß, dem Kampf zwischen Geist und Fleisch, nichts mehr von dem Seufzen des Geistes, – sondern immer fröhlich, immer sicher, immer gerecht, immer besser als die anderen, immer auf Gottes Seite – da ist der Geist Gottes leer, eine bloße subjektive Einbildung, ein eitler leerer Ruhm. Das sind keine ‚Geistlichen‘!“ (P 3,122–127).
– Ist die fleischliche Haltung motiviert durch ein vordergründiges Vernutzungsdenken,46 so entspricht der pneumatischen Erkenntnis die Bereitschaft, sich von Eigeninteressen zu lösen, von der Dynamik des Geistes ergreifen zu lassen und sich ihm gegenüber in ein Verhältnis der Gefolgschaft zu begeben. Unter dieser Bestimmung wird das Verständnis dafür, was es heißt, „den Kampf aufzunehmen“ (P 3,115), entscheidend modifiziert. Die angespannte Aktivität, zu welcher der Prediger seine Hörer seit dem ersten Satz herausfordert, ist eine Aktivität des Lassens bzw. des Loslassens. Sie ist von einem durch Sicherung eines Besitzstandes motivierten Streben Grund verschieden. Bildet im natürlichen Kampf um Selbsterhaltung die Sorge um das eigene Befinden das Zentrum aller Bemühungen, so besteht das Wagnis der Glaubens darin, eine subjektiv als Bedrohung und Erschütterung von Selbstgewissheit erlebte Bewegung als hinübergezogen Werden in den Heilsbereich Gottes zu akzeptieren. 45 Vgl. dazu Thaidgismann, Edgar, Gottes schöpferisches Sehen, 19: „[…] das Wort, das im Glauben aufgenommen werden will, rückt etwas ins Licht und bringt etwas in den Blick. Es entfaltet eine Sehkraft . Die kommt zwar von dem her, was man nicht sieht. Doch nimmt sie in den Blick, was man sehen kann, nimmt es neu und richtig wahr. Durch solches Wahrnehmen geschieht etwas an und mit dem Gesehenen.“ 46 Vgl. Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 59.
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– Diese Geisterkenntnis verändert nicht lediglich das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, sondern setzt ihn zugleich in ein neues Verhältnis zu seinen Mitmenschen ein. In einem weiteren Schritt legt der Prediger die perspektivische Selbstdistanzierung im Gesicht des Glaubens als neuartige Freisetzung für die Welt aus:47 „Dann denken wir gar nicht mehr an uns, denken gar nicht daran, daß wir besser, frömmer, gotterfüllter sind als die anderen, sondern wir sehen ihn, den Bruder, den, der unter die Räuber gefallen ist. Wir sehen ihn jetzt mit Gottes Augen“ (P 3,135–138).
Unter der Führerschaft des Geistes können die bisher zum Zweck der Selbsterhaltung gebundenen Sehkräfte in eine andere Richtung gelenkt werden. Indem der Prediger diese Wahrnehmungsinversion auf den letzten beiden Seiten zur zentralen Aussage der Predigt profi liert, leistet er jene Neukonstitution des Verhältnisses der Hörer zu ihrer wirklichen Welt, die das Handeln Gottes im Zusammenhang allgemeiner Erfahrung identifizierbar macht. Der Wandel im Geist wird greifbar in der Sorge um den Mitmenschen und seiner akzeptierenden Annahme in allen Fehlern und Schwächen. In diesem Sinne formuliert er: „Der Geistbesitz offenbart mir da etwas: der Mensch, der da vor dir liegt, der um irgendeines Fehlers willen gestürzt ist, der könntest auch du selbst sein! Daß du stehst und er gefallen ist – ist das nicht schlechthin Gnade? Du stehst ja auch nicht um deinetwillen, sondern um seinetwillen, um ihm die Hand zu reichen, um an ihm das zu tun, was ihn wieder glauben läßt an seinen Vater im Himmel. So wie Jesus, eben weil der Geist über ihm und in ihm war, nicht einen Schritt tun konnte, ohne daß er durch das Elend und den Fall seines Mitmenschen bewegt war, so könnt ihr gar nicht im Geist Gottes leben, ohne daß euch das Elend und der Jammer eures Bruders, eures Mitmenschen, vielleicht gerade eines solchen, über den sie alle herfallen, das Herz abgewinnt“ (P 3,162–172).
Diese Schlusspassage zeigt, wie der Prediger die Hörer im Horizont der den Predigtaufbau charakterisierenden Nebenordnung von Anfechtungsund Heilsperspektive zu einem neuen Gesamtverständnis ihrer Lebenswelt führt und Konsequenzen für die Handlungsorientierung eröffnet. In ihm wird die Dialektik zwischen Fleisch und Geist nicht aufgehoben. Sie bleiben in den ständigen Wechsel eingespannt. Dennoch ist die unvermittelte Unterbrechung der Alltagserfahrung durch die Konfrontation mit dem Heilswirken Gottes nicht folgenlos. Am Ende wird die Perspektive auf die wirkliche Welt zurückgewendet und angezeigt, wie letzteres in ihr kraft einer bestimmten Haltung Kontinuität gewinnt: Angesichts der Erfahrung, dass das ihnen entzogene Wort Gottes seine Hörer „immer aufs neue zu Menschen des Geistes macht“ (P 3,75f), werden sie zu einem nachsichtigen und solidarischen Umgang miteinander befreit. Er lebt davon, im Anderen die eigene Bedürftigkeit wieder zu erkennen und ihn zugleich darauf hin 47 Vgl. ebd., 162.
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anzusehen, dass er potentieller Empfänger einer erneuten Erschließung des göttlichen Geistes ist. Geistliche und menschliche Realität werden schließlich dadurch miteinander zusammengeschlossen, dass der Prediger Jesus als denjenigen Menschen vor Augen stellt, an dem die stetige Nähe des Geistes „über ihm und in ihm“ greifbar wird und der darum „nicht einen Schritt tun konnte, ohne […] durch das Elend und den Fall seines Mitmenschen bewegt“ zu werden. Zusammenfassend lässt sich die vom Prediger intendierte und am Gesamtaufriss der Predigt nachvollzogene Verwandlung der Rezeptionshaltung der Hörer als eine breit angelegte Katharsis beschreiben.48 Sie wird dermaßen gestaltet, dass die in der gegenwärtigen Wirkungsmacht des Wortes gründende Zuspruchsperspektive und die durch die sündige Selbstverschlossenheit der Welt bedingte Anspruchsperspektive in einem Wechselspiel immer wieder gegeneinander gehalten werden. Dies geschieht in der Erwartung, dass das Wort selber eine wachsende Sehkraft entfaltet und die Hörer auf seine Seite zieht. Innerhalb dieses Prozesses gewinnt die Kernforderung, im Geist zu wandeln, eine zunehmende Konkretisierung in Richtung auf die wirkliche Welt. Wird sie ihr in der Predigteinleitung konfrontativ als zu übertretende hohe Anforderungsschwelle entgegen gehalten, so schält sich im weiteren Verlauf heraus, dass sie die Wirklichkeit mit den Augen Gottes zu sehen lehrt und dabei auf eine akzeptierende Annahme eigener und anderer Bedürftigkeit zielt. Schließlich wird sie zu einer Haltung verdichtet, die den Wechsel von Offenbarung und Entzug für die Gestaltung des menschlichen Miteinanders fruchtbar macht. Im weiteren Gang dieses Kapitel weiten wir den Blick über die Predigt zu Gal 5,25–6,10 hinaus und untersuchen, ob sich die an ihr gewonnen Strukturmerkmale an einer anderen Predigt erhärten lassen. Diese Erweiterung des Horizontes dient zugleich dazu, andere Facetten des dialektischen Verfahrens Iwands noch stärker zu profi lieren. .. Die Entfaltung des Ringens zwischen Fleisch und Geist in der Predigt über Gal ,– Haben wir als charakteristisches Element des Einstiegs in die Predigt über Gal 5,25–6,10 herausgestellt, dass der Prediger die Forderung des Textes direkt auf die Hörer bezieht und sie vorwegnehmend auf Konsequenzen festzulegen sucht, deren Sachgehalt von den mitgebrachten Verstehensvoraussetzungen her noch unbestimmt ist, so bietet die zwei Jahre zuvor gehaltene Predigt über das Herzstück der paulinischen Argumentation des Galaterbriefes eine frappierende Parallele für dieses Vorgehen. Ihre ersten vier Seiten stehen im Zeichen der Entfaltung eines „ große[n] Entweder-Oder[s]“ (P 4,1–145), das den Hörern gegenüber einer „hin und her 48 Vgl. Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 192.
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schwankenden Christlichkeit“ (P 4,73) eingeschärft wird. Immer wieder spitzt der Prediger den Gedankengang auf die Formulierung eines Totalanspruches zu, wonach es bei den folgenden Erörterungen „ums Ganze“ (P 4,26) bzw. um „alles oder nichts“ (P 4,75) geht, dass, wer aus diesen Worten leben will „ganz und gar unter das Gericht“ (P 4,66) treten und „alles hinter […] [sich] lassen [muss], um das eine zu gewinnen, was not tut“ (P 4,73f). Die massiven Verpflichtungen appellieren an den Mut der Hörer, einen kompromisslosen Überschritt zu wagen (vgl. P 4,145.211f). Sie werden zu konditionalen Satzgefügen amplifiziert. Ein entscheidendes rhetorisches Mittel zur Verdichtung des Forderungscharakters besteht darin, dass der Prediger den das Argumentationsziel des Predigttextes bildenden Vers 21 an den Beginn der Predigt zieht. Ist die Perikope in sich nach den Regeln antiker Rhetorik kunstvoll gegliedert,49 so rollt er sie gewissermaßen von hinten auf, indem er die Hörer sogleich vor die abschließende Alternative stellt: „Laßt uns den letzten Satz, den wir soeben gehört haben, gleich festhalten und voranstellen. Er ist offensichtlich das Ziel, dem die schwierige Beweisführung des Paulus zustrebt. Er ist der Punkt hinter dem Ganzen. Das große Entweder-Oder, unter dem alles, was der Apostel zu sagen hat, steht: ‚Denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit käme, dann wäre ja Christus umsonst gestorben.‘ Wenn – dann […]“ (P 4,1–6).
Dieser Umstellung konvergiert die Art, in welcher sich der Prediger des im letzten Kapitel dargestellten Verfahrens der Entfaltung biblischer Rollen bedient, um die Gestalt des Paulus zu konturieren. Er tut dies, indem er sie im direkten Gegenüber zur Gemeinde profi liert und letztere auffordert zu hören, „[…] was uns der Apostel zu sagen hat […]“ (P 4,4). Das Entweder-Oder wird autoritativ bekräftigt durch Formulierungen wie: „Das will der Apostel sagen“ (P 4,20); „Paulus möchte uns ganz und gar mit hineinnehmen […]“ (P 4,27f); „Darauf will der Apostel heraus […]“ (P 4,47); „Das meint Paulus […]“ (P 4,78). Im Rückbezug auf sein Werben und Warnen kehrt der Prediger eine bestimmte Funktion und einen bestimmten Charakterzug heraus. Paulus ist der „Posten“ (P 4,134), der den „Rückfall aus dem Glauben in die eigene Leistung“ (P 4,127) abwehrt. Dies wird greifbar in der „männlichen Kraft und Entschiedenheit des paulinischen Nein“, seinem „echten, […] in die Entstehungsurkunde des Christentums eingesenkten Protestantismus“ (P 4,112f), sowie in seiner Zielstrebigkeit: „[…] wie ein Steuermann, der starr seine Augen auf das eine Ziel gerichtet hat und über das Auf und Ab der Wogen […] hinwegschaut […]“ (P 4,115–117). Gegen welche vermuteten Hörererwartungen richten sich die leidenschaftlichen Appelle des Predigers? – Ausgangspunkt seiner Erörterungen ist die Frage, wie ein Mensch vor Gott gut wird (vgl. P 4,10–14). Diese Frage ist für ihn aufs Engste verbunden mit einer bestimmten ethischen Haltung, die durch vernünftige Güterabwägung, Kompromissbildung und Diplomatie (vgl. 49 Vgl. Betz, Hans Dieter, Der Galaterbrief, 213f.
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P 4,36) einen Ausgleich divergierender Interessen zu erzielen sucht. Im Kern ist sie bestimmt durch eine Tätigkeit des Differenzierens und Vergleichens von Ansprüchen, die von außen an den Menschen herantreten. Der Prediger qualifiziert diese Einstellung als eine natürliche Grundhaltung und imaginiert sie in den die Korrespondenz mit den Galatern bestimmenden Konflikt zwischen Petrus und Paulus hinein: „Die Gemeinde in Galatien möchte so gern beiden recht geben, für die Gemeinde ist es immer schmerzlich, wenn sie plötzlich in das theologische Sperrfeuer gerät“ (P 4,80–82).
Besteht der Nachteil des Interessenausgleiches darin, dass das subjektiv als gut erkannte niemals vollständig verwirklicht wird, so lässt sich die Behebung dieses Defizits immer noch von einem zukünftigen Fortschritt bzw. einer Entwicklung erwarten (vgl. 248,33). Unter dieser Perspektive erscheint es vernünftig, auch das Christentum i.S. einer „sittlich-religiöse[n] Offenbarung“ (P 4,102) der ethischen Rahmenorientierung einzuordnen. Seine spezifische Leistung besteht dann darin, die Bestimmungen der Gnade und Vergebung Gottes dort einzusetzen, wo Menschen vorläufig „an das Ende und die Grenze ihres Vermögens gekommen sind“ (P 4,64f). Mit seiner Beschwörung des Totalitätsanspruches der Glaubensgerechtigkeit sucht der Prediger diese natürliche Sicht der Dinge dahingehend zu modifizieren, dass er sie als entscheidendes Hindernis für den Überschritt zum Glauben aufdeckt. Hinter ihr steht die Motivation „die Grundlage der eigenen Existenz zu sichern“ (P 4,58). Die Glaubenshaltung sieht er demgegenüber durch eine radikale Entsicherung bestimmt. Sie tritt auf mit „wirklich leere[n] Hände[n], Bettlerhände[n], die sich nach oben strecken, um zu empfangen, was Gott für den Menschen bereit hält“ (P 4,55–57). Erkenntnisziel der Predigt ist es, die Hörer an jenen Punkt existentieller Betroffenheit durch das Wort zu führen, an dem die verschiedenen Optionen moralischer Entwürfe in ihrer qualitativen Unterschiedenheit von der Glaubensgerechtigkeit offenbar werden und der Mensch sich in radikaler Bedürftigkeit letzterer zuwendet. In diesem Sinne lässt er Paulus zur Gemeinde gewendet sagen: „Dieses ganze System, das von seiner nomistischen wie von seiner antinomistischen, seiner bürgerlichen wie seiner revolutionären Seite gottlos ist – das wollte ich aufheben. Das ist gerade hier von Gott gerichtet. Mit seinen guten wie mit seinen bösen Exponenten! Mit seinen Tugenden wie mit seinen Lastern“ (P 4,244–248).
Das rhetorische Mittel, mit dem er die Transformation der Rezeptionshaltung vom distanzierten Räsonnement hin zur existentiellen Betroffenheit gestaltet, lässt sich dahingehend näher bestimmen, dass er das intellektuelle Wirkungsziel ganz hinter dem leidenschaftlichen Appell zurücktreten lässt. Innerhalb des Spannungsfeldes von Fleisch und Geist kommt die rationale Abwägung ihrerseits auf der Seite des Fleisches zu stehen: – In diesem Sinne siedelt er die Hörerwiderstände nicht auf der Ebene des Verstehens an, sondern führt sie darauf zurück, dass die vom Wort Er228
griffenen in ihrer sich über die Zeit ausdehnenden Daseinsform von einer Trägheit eingeholt werden, in der sie aus dem anfänglichen Konnex von Bedürftigkeit und Totalbestimmung durch es herausfallen. Dieser Abfall ist die Voraussetzung für den neu einsetzenden Abwägungsprozess bei den Galatern: „Bei der Bekehrung – ja, da war ihnen [den Galatern, Anm. d. Verf.] die Predigt des Paulus von der Gnade Gottes, von der Gerechtigkeit allein aus dem Glauben wie eine Erlösung, wie eine Stimme aus der oberen Welt, die das Herz frei machte und sie ins neue Leben führte. Aber jetzt – nachdem sie nun einmal gläubig geworden sind, müssen sie da nicht erkennen, daß es doch nicht ganz falsch war, was sie aus ihren jüdischen Traditionen und Gesittungen mitbrachten!“ (P 4,82–88).
Die Eröffnung einer Mehrzahl von Entscheidungsmöglichkeiten wird hier nicht als Horizonterweiterung aufgefasst, sondern als Verlust von Unmittelbarkeit zur befreienden Nähe Gottes. In ihrer Überzeichnung durch die Dynamik von Fleisch und Geist erscheint sie als ein „Sog“ (P 4,78), der die Kraft dazu raubt, den Tod des durch Eigeninteressen bestimmten Selbstvollzuges als „Eingang in das Leben“ (P 4,77f) unter der Gnade Gottes zu sehen. Sie ist ein prägnantes Beispiel für die vom Prediger empfundene Notwendigkeit, seine Hörer „ins Heute“ zu drängen und den Gestaltungsraum der Botschaft möglichst eng zu fassen. – Dieser Darstellungsintention ist auch der Sachverhalt zuzuordnen, dass der Prediger die „schwierige Beweisführung des Paulus“ (P 4,2f) in der Versfolge von Gal 2,15–21 nicht als Verständnisproblem in den Blick nimmt. Letzteres wird lapidar zu der ausschließenden Alternative verkürzt: „Entweder kommt die Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes oder Christus […] ist meine Gerechtigkeit! Eins oder das andere – aber unter keinen Umständen beides. Das ist Paulus. Das ist es, was man in der Sprache der Theologie die Rechtfertigungslehre nennt. So einfach ist sie – aber offenbar doch wohl auch ungemein schwierig, sie ein Leben lang festzuhalten!“ (P 4,120–126).
Hinsichtlich der Evidenz der Rechtfertigungserfahrung vertraut der Prediger ganz auf „die wirkmächtige konnotative Aura“50 des Textes, die mit der Betonung der Entschiedenheit des Paulus, Verweisen auf die „Auslegungen Luthers und Calvins“ (P 4,149f), bzw. darauf, dass die Formulierungen „zu den Kernsätzen unseres Bekenntnisses“ (ebd.) gehören, auf den Plan tritt. Mögliche Widerstände dagegen werden jedes Mal auf die existentielle Ebene zurückgeschoben und mit der Fleischlichkeit der menschlichen Existenz begründet. – Als Gegenbild zur rational abwägenden Wirklichkeitserschließung der Galater profi liert er im Anschluss an Gal 2,15 die Rolle der Juden und typisiert sie an Hand des alttestamtentlichen Bildes vom aufbrechenden Gottesvolk. Innerhalb ihres Erwartungshorizontes entfaltet das Wort seine Evidenz dadurch, dass es sie widerfahrnishaft als ein „helles Licht von draußen“ 50 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 182.
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(P 4,253) ergreift und auf die Seite Gottes hinüberzieht. Der Übergang in seinen Machtbereich gestaltet sich als räumlicher Transfer, in dem es „bloß und frei hin[zu]treten“ (P 4,145) gilt. Er impliziert den radikalen Bruch mit allen ihnen bisher vertrauten Wertsystemen: „Sie [die Juden, Anm. d. Verf.] haben gesehen, wohin man treten, nein, wohin man springen muß, um diesem Gericht [über den fleischlichen Menschen, Anm. d. Verf.] zu entgehen. Sie haben alles hinter sich gelassen, was Gott richten könnte – ihre eigenen, ihre besten Taten, ihr ganzes, ernstes, hingegebenes Leben – und haben sich an den geklammert, den er nicht richten kann. An Jesus!“ (P 4,211– 215).
Die Juden werden hier dermaßen charakterisiert, dass sie vom sarkischen Standpunkt des abwägenden Vergleichens aus am ehesten dazu berechtigt wären, sich einer Neubestimmung des Menschen zu verschließen. Sie sind „ethisch gesehen […] das höchste, was die Völkergeschichte kennt“ (P 4,178f). Gerade darum wird die Konsequenz der Glaubenshaltung an der Konversion des Juden Paulus zu einer sich allein aus der Betroffenheit vom Wort empfangenden Existenz am deutlichsten greifbar, bedeutet sie doch die Aufgabe aller „bewundernswürdigen sittlichen Leistungen“ (P 4,281), die ihn im Verhältnis zur Umwelt auszeichnen. Mittels der wechselseitigen Kontrastierung der fleischlichen und geistlichen Haltung sucht der Prediger die Rezeptionshaltung der Hörer dermaßen zu modifizieren, dass sie sich selber unter der Totalbestimmung durch zwei einander widerstreitende Machtansprüche zu Gesicht kommen. Es geht ihm darum, der natürlichen Haltung des Abwägens im Verhältnis zu Gott ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen und sie dazu anzuhalten, in ihrer Erwartung der heilsamen Nähe Gottes aus ihrem bisherigen Selbstverständnis herauszutreten. Paradigmatisch dafür ist die Aufbruchshaltung des Gottesvolkes, welche „das Gebiet […] den Menschen, der Fleisch ist“ (P 4,204f) verlassen hat. .. Die rhetorische Gestaltung der Christusbeziehung als Herrschaftswechsel im Ich des Glaubenden Stellt der Prediger seine Hörer mit der Forderung des Glaubenssprunges vor eine ungemein hohe Anforderungsschwelle, so ist zu fragen, wie er ihnen den Gewinn dieser Preisgabe eigener Ansprüche nahe bringt und wie er das Werben darum gestaltet. Hinsichtlich dessen ist vor allem der letzte Teil der Predigt aufschlussreich, der die Auslegung der Verse Gal 2,19f zum Gegenstand hat. Wie in der Predigt über Gal 5,25–6,10 lässt sich an ihrem Gesamtaufriss ein Gefälle verzeichnen, nach dem am Beginn die Konfrontation mit den offen gehaltenen Forderungen des Textes steht und am Ende die aus ihm herausgeschälte neue Selbstwahrnehmung auf das Sein unter den Bedingungen der wirklichen Welt zurückgewendet wird. 230
Er führt dazu das Bild vom Verlassen des Landes weiter aus und wendet es auf das Ich des Menschen (vgl. P 4,264f). Das Ringen zwischen Rückzug (vgl. P 4,23–25) und Aufbruch wird nun mit zwei gegenläufigen Bewegungen des Selbstvollzuges identifiziert. Danach gleicht die sich dem Glaubenssprung entziehende Haltung dem Standpunkt auf einem unhaltbaren Terrain, der sich einer nicht abzuwehrenden Menge von übermächtigen Angreifern ausgesetzt sieht. In diesem Sinne verfremdet der Prediger das im Verhältnis zur Außenwelt auf sich bezogene Ich zu einer „geheimnisvolle[n] Größe“ (P 4,265) und modelliert die forensische Situation, in der es sich angesichts an es herantretender Ansprüche immer neu zu rechtfertigen hat. Insbesondere in „jene[n] schweren Stunden, in denen der Mensch über sein verfehltes Leben nachdenkt oder über seine Schuld, die er an anderen Menschen auf sich geladen hat“ (P 4,268–270) wird der Überforderungscharakter des Versuches „sich selbst mit seinem Tun die Grundlage der eigenen Existenz zu sichern“ (P 4,52f) offensichtlich. Demgegenüber eröffnet die Zumutung, in den Glauben zu springen und sich allein aus dem unverfügbaren Zuspruch des Wortes zu empfangen, eine Option, welche die als feindlichen Angriff geschilderten Selbstanklagen des Gewissens ins Leere stoßen lässt. Der Triumph der Glaubenshaltung (vgl. P 4,328) kommt darin zu stehen, dass die Funktionen, welche dem in sich selbst gegründeten Ich seine exponierte Stellung zuwiesen, an Christus delegiert werden. Im Rückblick auf den rettenden Sprung kann der Glaube dem Angreifer zurufen: „N. N. ist nicht hier! N. N. ist tot! Hier – in der Mitte meiner selbst, wo du mein Ich vermutest, da lebt Christus! Setze dich mit ihm auseinander. Er deckt mich!“ (P 4,271–273). „Genau da, wo dieses Ich bisher stand, wo es alles verkehrt gehen ließ, was die Hand oder der Mund, was Gedanke und Tat versuchten – genau an diese Stelle will Jesus Christus treten, dein besseres, dein neues Ich!“ (P 4,296–298)
Der Gewinn, den die Einsetzung dieses Bildes angesichts des Gesamtduktus der Predigt bedeutet, ist dahingehend zu bestimmen, dass das Eingangsverhältnis von Anforderung und Entspannung umgekehrt wird. Wiederum intendiert der Prediger eine Katharsis der Rezeptionshaltung bei den Hörern, in deren Zug es zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Freiheit und Bindung kommt: Wirkte der Totalanspruch des Glaubens zunächst als eine engstirnige und im Horizont rationaler Selbstauslegung unzumutbare Forderung, so erscheint er jetzt als Befreiung zu einem Welt- und Selbstverhältnis, das gegen überhöhte Ansprüche immun ist. Umgekehrt erweist sich die Trägheit, mit der sich die natürliche Haltung dem Entweder-Oder zu entziehen suchte, als Quelle einer hoffnungslosen Enge und Überforderung.51 51 Für die Gestaltung des Verhältnisses zur wirklichen Welt kommt dem Bild von der Leerstelle, welche die Distanzierung von der Selbstbezogenheit hinterlässt, eine entscheidende Bedeutung zu. Sie eröffnet die Freiheit im Umgang mit irdischen Autoritäten und Maßstäben, die von außen an sie herangetragen werden. In diesem Sinne konzentriert der Prediger sich in seiner 1941 über Gal 1,10–24 gehaltenen
231
. Zusammenfassung Ausgehend von Iwands eigenen methodischen Hinweisen zur Predigtgestaltung, nach denen diese unter der theologischen Voraussetzung einer Dialektik zwischen Wort und Welt als prinzipiell unabschließbarer Weg zu charakterisieren sei, haben wir in diesem Kapitel den Zusammenhang zwischen Predigtaufbau und Gestaltung der Rezeptionsbeziehung zu den Hörern untersucht. Unter einer zunächst rein formalen Betrachtung des Predigtaufbaus sind wir an Hand von Iwands Predigten zum Galaterbrief auf den Sachverhalt gestoßen, dass diese eine höchst eigensinnige Kommunikationsgestalt aufweisen, die sich gegen die Disposition der Stoffe nach den Regeln klassischer Rhetorik sperrt. Sie zeichnet sich aus durch den unvermittelten Wechsel zwischen Anspruchs- und Zuspruchsperspektiven und erweckt über weite Strecken den Eindruck formloser Redundanz. An der Analyse der Grundstruktur der Predigt über Gal 5,25–6,10 hat sich unsere Erwartung bestätigt, dass diese Eigentümlichkeit aufs Engste mit seiner Erwartung der Wirksamkeit des Wortes im Spannungsfeld von Fleisch und Geist zusammenhängt. Hatte Iwand im Rahmen seiner methodischen Besinnungen selber gefordert, dass die Verkündigung die beiden Momente einer engen Zentrierung der Hörer im gegenwärtigen Wortgeschehen und einer weit gespannten Erwartung in die Wirksamkeit desselben zu verbinden habe, so gewinnt dieser Grundsatz in der kontrastierenden Nebenordnung blockartig geschlossener Texteinheiten rhetorisch Gestalt. In ihr bildet sich der für das Glaubensleben charakteristische Wechsel von Offenbarung und Entzug ab, insofern die Hörer unvermittelt mit dem „Heute“ der göttlichen Heilsbotschaft konfrontiert werden und deren proklamative Entfaltung eine Unterbrechung der Alltagswahrnehmung darstellt. Am prägnantesten greifbar wird er in der imperativischen Predigteinleitung, welche die Hörer sogleich auf ihr geistliches Sein anspricht und die Konversion zu einem neuen, nicht mehr in der konventionellen Erfahrungswirklichkeit gegründeten Selbstverständnis intendiert. Angesichts dieser Rahmenbedingungen haben wir das Problem aufgeworfen, wie es dem Prediger gelingt, gemäß seiner Bestimmung des Wortes Gottes als viva vox evangelii dessen Wirksamkeit in Relation auf die wirkliche Welt zu entfalten. Zu diesem Zweck haben wir für den Nachvollzug der Wegstruktur des Predigtaufbaus eine weitere Betrachtungsweise hinzugezogen und gefragt, welche hermeneutischen Maximen der Prediger hinsichtlich der Gestaltung der Rezeptionsbeziehung zu den Hörern veranschlagt und wie sich letztere über den Verlauf der Predigt entwickelt. Als Wirkungsziel der Predigt kristallisierte sich uns ein Perspektivenwechsel auf die wirkliche Welt heraus, den der Prediger als sukzessive Verwandlung der Rezeptionshaltung in den Predigt ganz auf die Entfaltung des paulinischen Selbstbewusstseins in Relation auf das Urteil seiner Umwelt. Immer wieder zielt die Schilderung darauf, Gott als „unsichtbare […] Mitte“ seiner Biographie zu profi lieren, NW III, 88.
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Gesamtaufriss der Predigt eingewoben hat. Er erlaubt es, die Wahrnehmung des Handelns Gottes an der wirklichen Welt als Neukonstitution des Verhältnisses der Hörer zu ihren Mitmenschen zu identifizieren. Als Korrelat zur unverfügbaren Wirksamkeit des Geistes favorisiert der Prediger eine Haltung zum Nächsten, die ihn trotz seiner Schwächen als potenziellen Empfänger desselben ansieht und sich mit ihm zu einer Solidarität der Gottes Bedürftigen zusammenschließt. In ihr realisiert sich die Forderung, im Geist zu wandeln. An der Predigt über Gal 2,15–21 arbeiteten wir einen weiteren Zug heraus, der die Entfaltung des Rezeptionsverhältnisses im Spannungsfeld von Fleisch und Geist prägt. In ihr sucht der Prediger seine Hörer an die Situation der existentiellen Betroffenheit durch das Wort heranzuführen, indem er das intellektuelle Wirkungsziel ganz hinter leidenschaftlichen Appellen an ihren Entscheidungsmut zurücktreten lässt. An der Entfaltung des Predigttextes auf die Hörer wirkt sich dieses rhetorische Verfahren in einer Verkürzung der Argumentation zugunsten der Amplifizierung der ausschließenden Alternativen aus. Alles wird darauf zugespitzt, entweder im alten Selbstverständnis zu verharren oder den Sprung in das Neue zu wagen. Unterstützt wurde der drängende Charakter dieses Ringens durch die Einflechtung von Bildern der räumlichen Enge in die Dramaturgie des Predigtaufbaus. Hinsichtlich der Modellierung des Übergangs von der fleischlichen zur geistlichen Existenz sowie des Ineinanders von Offenheit und Enge in der Gestaltung der Rezeptionsbeziehung zu den Hörern, sind sie besonders aufschlussreich. Wird die räumliche Dimension der Enge der fleischlichen Existenz mit dem Bild von den Juden eingeführt, die sich zum Sprung genötigt sahen, bzw. zum Verlassen des Landes genötigt waren (vgl. P 4,204f), so wird es zusammen mit dem Motiv der Existenzstellvertretung Christi wieder aufgenommen. Assoziiert die Formulierung: „NN ist nicht hier!“ (P 4,271f) doch die Vorstellung von einem verlassenen Terrain, im Blick auf das ein feindlicher Angriff ins Leere stoßen muss. Unterdessen hat sich dem Ich in Christus eine neues „Lebenszentrum“ erschlossen (P 4,279), das für den Feind unerreichbar ist. Jener Raum der Zuflucht und der Deckung (vgl. P 4,273f) erschließt sich aber erst dort, wo das Ich in Differenz zu sich selber tritt und seiner Selbstbezüglichkeit enthoben ist. Die christologische Selbstunterscheidung markiert die Grenze zwischen andringender Enge und befreiender Offenheit der Predigt. Ihr Gefälle kommt darin zu stehen, dass die Schilderung der Anforderungsstruktur am Ende umschlägt in die Haltung einer gelösten Selbstdistanziertheit, die sich ganz aus dem Wort empfängt und die Rolle des Verteidigers gegen die Selbstanklagen des Gewissens an Christus delegiert. Unter den Maßgaben der rezeptionsästhetischen Betrachtungsweise lässt sich der in der Predigt nachzuvollziehende Wandel des Welt– und Selbstverhältnisses als eine über ihre gesamte Länge entfaltete Katharsis bestimmen. Dabei wird die widersprüchliche Lebensbewegung des Ichs in der Dynamik des Predigtaufbaus modelliert und zugleich unter den Freispruch des Wortes Gottes gestellt. Insofern in diesem Verfahren Iwands christologische Grund233
anschauung des Personseins als neues Sein in Christus zu Geltung kommt,52 lässt sich der emphatische Wechsel von An- und Entspannung als rhetorische Gestaltungsform einer Entlastungschristologie charakterisieren. Sie weist dem Ich den Weg zu der Stelle, wo es von überzogenen und bedrängenden Identitätsansprüchen befreit ist.
52 Vgl. Kapitel 2.3.3.3.
234
. Kapitel
Predigt als eschatologisches Ereignis zwischen Tod und Auferstehung . Ausgangspunkt In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie die eschatologische Dimension des Predigtgeschehens in Iwands homiletischer Praxis zur Sprache kommt. Dabei knüpfen wir an unsere Ausführungen zur Homiletik-Vorlesung an,1 wo wir die für ihn in dieser Hinsicht bestimmenden Faktoren bereits herausgearbeitet hatten: Predigt zielt auf eine eschatologische Neuerschließung der Wirklichkeit der Hörer und stellt sie in den Horizont einer umfassenden Äonenwende von der Todes- zur Auferstehungswirklichkeit. In dieser Perspektive gewinnt der Widerstreit zwischen Wort und Welt seine eigentliche Tiefe. Die Wirksamkeit des Wortes muss verstanden werden als eschatologische Neuschöpfung, worüber die Bestimmung des Menschen als homo mutabilis in eine eigentümliche Spannung gerät. Wir entfalteten dies in einer dreifachen Relation: – Zum einen als eine Raum schaffende Bewegung, wonach Gott durch seinen Geist in den „Kreis der Gottlosigkeit“ einbricht, die Gemeinde als Stätte seiner Präsenz innerhalb der wirklichen Welt schafft und dadurch den Streit mit widergöttlichen Mächten anheben lässt.2 – Zum anderen kommt die Eigentümlichkeit des eschatologischen Predigtverständnisses darin zum Tragen, dass sich die Äonenwende mitten durch das Selbstverständnis des Glaubenden hindurch vollzieht und die Person in den Übergang des Sich-Selber-Absterbens und In-Christus-Neu-ErfundenWerdens gerät.3 – Schließlich misst Iwand der Begräbnisrede als konkretem Ort der Konfrontation menschlicher Todesverfallenheit mit christlicher Auferstehungshoffnung besondere Bedeutung zu und formuliert für sie die Aufgabe, den einzelnen Todesfall ins Licht der Verheißung zu stellen.4 Diese Bestimmungen bringen es mit sich, dass die Predigt auf ein Geschehen von kosmischer Weite zielt, der einzelne Hörende dabei jedoch unmittelbarer 1 2 3 4
Vgl. Kapitel 3.3.4. Vgl. Kapitel 3.3.4.1. Vgl. Kapitel 3.3.4.2. Vgl. Kapitel 3.3.4.3.
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Angriffspunkt für das Wort Gottes bleibt. Christliche Existenz vollzieht sich in der Dialektik zwischen Vereinzelung und Transzendierung der Individualität auf ein neues Sein in Christus.
. Todesverfallenheit und Auferstehung in Iwands Predigten Im Folgenden wollen wir analysieren, wie Iwand die Wahrnehmung der Todesverfallenheit und die eschatologische Neuerschließung der Wirklichkeit der Hörer in seinen Predigten gestaltet. Blicken wir zunächst auf sein Predigtwerk als Ganzes, so fällt auf, dass die metaphorische Beschreibung der Todesverfallenheit menschlicher Wirklichkeit einen breiten Raum einnimmt. Sie wird in mannigfaltigen Variationen als Gegenbild der in Christus anbrechenden Auferstehungswirklichkeit beschrieben. Der Tod wird nicht allein als ein am Ende des Lebens virulentes Problem wahrgenommen, sondern das gesamte gegenwärtige Leben tritt unter die Perspektive eines Vorlaufens in den Tod. In diesem Sinne dominieren in vielen Predigten Schilderungen, nach denen Menschen sich „schon untergepflügt, […] zu den Toten, den Vergessenen, den Erledigten geworfen“ wissen,5 sich dem Anblick von Totenfeldern ausgesetzt sehen,6 ihren Tod als einzig gebliebene Gewissheit erwarten und spüren, „daß das letzte Geheimnis der Zeit der Tod ist.“7 Er kommt als eine personifizierte Macht in den Blick, die die Menschheit zu einem anonymen, die Individualität nivellierenden Kollektiv zusammenschließt8 und den Einzelnen doch „plötzlich […] aus den Augen des liebsten Freundes, des nächsten Menschen, der liebsten Frau“ ansieht.9 Bedeutet sein Eintreten den Abbruch jeder Beziehung und das „gänzliche Verstummen“ jeglicher Lebensäußerung, so stellt er eine tiefe Anfechtung des Glaubens an die lebenschaffende Macht Gottes dar.10 Wo die Lebenswelt in einer derart düsteren Perspektive geschildert wird, setzt Iwand in einer umso massiveren Sprachgewalt die Hoffnung auf die in Christus erschlossene Auferstehungswirklichkeit dagegen. Im harten Kontrast zu den Ohnmachtsszenarien beschwört er den Sieg und Triumphzug Gottes,11 dessen Geist die Toten zu neuem Leben erweckt12 und dessen am Kreuz erwiesene Liebe zu den Menschen die trennende Macht des Todes überwindet.13 Unversehens werden die Hörer in Anschauung Jesu Christi aus der Zeitlichkeit des Seins in das Heute der Ewigkeit Gottes versetzt.14 Angesichts 5 NW III, 49. 6 Vgl. P 5,1–154; P 2,44; P 6,17–22. 7 NW III, 122. Vgl. ebd., 120. 8 Vgl. P 5,75–80. 9 So Iwand in der Grabrede für Anneliese Bornkamm am 3. Juni 1936, zitiert nach Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 179. 10 P 6,24. 11 Vgl. NW III, 49; P 5,132–135. 12 Vgl. P 5,106.120f. 13 Vgl. NW III, 120; P 6,53–56.128–131. 14 Vgl. NW III, 122f.
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der Vereinzelung der Todesstunde wird ihnen der Ausblick auf Christus, der „die Siegel des Grabes bricht und frei und lebendig aufersteht,“ als einziger Hoffnungsgrund offen gehalten.15 In seiner Auferstehung ist „aller Menschen Leben beschlossen“,16 an dem die gottesdienstliche Gemeinde als „Vortrupp einer neuen Zeit, einer neuen Gemeinschaft“ heute schon partizipiert.17 Der Richtungssinn dieser Verheißungswirklichkeit verläuft reziprok zur konventionellen Zeiterfahrung als Sein zum Tode.18 Stellt Iwand seine Hörer mit der Konzentration auf diese Perspektive in den weiten Horizont eines kosmischen Geschehens, so hatte er in seiner Homiletik-Vorlesung hinsichtlich der Begräbnisrede andererseits gefordert, dass es gerade angesichts der Herausforderung des Todes notwendig sei, „Verständnis auf[zu]bringen für die Situation“ und den besonderen Fall in das Wort hinein zu nehmen.19 In diesem Sinne ist von Iwand selber für die eschatologische Dimension des Predigtgeschehens die Frage nach dem Bezug auf eine konkrete Situation in der Lebenswelt der Hörer gestellt. Wir wollen bei den Analysen innerhalb dieses Kapitels unser Augenmerk besonders auf die Vermittlung zwischen allgemeiner Lebenswirklichkeit und ihrer Neuerschließung im Licht der Äonenwende richten.
. Die Bildanalyse als methodischer Zugang zur eschatologischen Dimension in Iwands Predigten Zur Analyse der Predigten innerhalb dieses Kapitels stützen wir uns wiederum auf eine durch die neuere Homiletik angeregte Interpretationsperspektive. Entwickelten wir unsere unterschiedlichen methodischen Zugänge zu Iwands Predigten schon bisher im Anschluss an die Unterscheidung verschiedener sprachlicher Dimensionen,20 so wollen wir uns der Wahrnehmung der Todesverfallenheit menschlicher Wirklichkeit im Horizont der Äonenwende durch Analyse des Bildgebrauches in seinen Predigten nähern. In der jüngeren homiletischen Diskussion ist im Zuge der Beschäftigung mit dem Phänomen des Bildes in Predigt und Gottesdienst das Bewusstsein für die Bedeutung dieser sprachlichen Ebene im Predigtvollzug geschärft worden.21 So hat etwa Reiner Preul in seinem Programm für eine deskriptive Pre15 P 6,130f. 16 NW III, 306. 17 P 5,42. 18 Vgl. NW III, 306: „[…] während bei uns das Leben in den Tod eingetaucht ist und dahinein verwandelt und verändert wird, ist bei ihm unser Tod in das Leben einbezogen und in die neue Geburt eines neuen Wesens und Wandels verändert.“ 19 Ebd., 109. Vgl. ebd., 111. 20 Im 4. Kapitel gingen wir vom konkreten szenisch-narrativen Schriftgebrauch Iwands aus und bestimmten dessen Verhältnis zur assertorisch-bekenntnishaften Verkündigungssprache. Unsere Analysen im 5. Kapitel zielten auf ein bestimmtes syntaktisch-rhetorisches Gesamtgefüge der Predigt, in dem das dialektische Wort-Welt-Verhältnis zur Darstellung kam. 21 Vgl. dazu Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 23–37; Grözinger, Albrecht, Praktische Theologie, 223–258; Josuttis, Manfred, Religion, 235–258.
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digt drei sprachliche Ebenen differenziert und ihr Gelingen von deren richtiger Koordination abhängig gemacht.22 Neben den Ebenen des Denkens und des Gefühls ordnet er der Ebene „leibhafte[r] Vorstellungen“23 einen eigenen Wirkungszusammenhang zu: „Wir haben es hier mit der Logik der Assoziation zu tun, die ganz anders funktioniert als die Logik des methodischen Denkens und auch als die Logik der Empfindungen, obwohl sie letztere stark beeinflußt. Die Logik der Assoziation ist besonders in der Aura von Bedeutungen, die sich an ein Wort knüpfen, faßbar. Diese Aura wiederum ist mehr oder weniger eigentümlich bestimmt.“24
Für die Analyse der homiletischen Praxis Iwands unter der Perspektive der eschatologischen Neuerschließung der menschlichen Wirklichkeit legt sich dieser Zugang aus mindestens drei Gründen nahe: – In unserer Darstellung von Iwands Homiletik-Vorlesung hatten wir am Verhältnis der beiden zentralen Bestimmungen Kerygma und Paraklese herausgearbeitet, dass er sich zugunsten des Ereignischarakters des Kerygmas gegen dessen digitale Entschlüsselung verwehrt. Wo das Kerygma theologischer Reflexivität unterworfen wird, besteht die Gefahr, dass die Dynamik lebendiger Aneignung resultativ aufgelöst wird und eine diskursive Erstarrung dogmatischer Formeln eintritt. Hängt für ihn dieser Prozess aufs Engste mit der Erhebung wertender Subjektivität über die Schrift zusammen, so kommt alles darauf an, die theologische Reflexion nicht aus dem lebendigen Zusammenhang von Schrift und Verkündigung heraustreten zu lassen. Bereits die Dogmatik hat unter diesen Voraussetzungen in einem offenen Sinn lediglich Richtpunkt und Verstehenshilfe zu sein, vermag die Schriftautorität aber selber nicht diskursiv zu begründen.25 Diese Forderung gilt in umso höherem Maße für die Predigt. – Eine konkrete Gestalt, in der dies zum Zuge kommt, ist – so unsere Hypothese – der bildhafte Sprachgebrauch in Iwands Predigten. Die „bildhafte Organisation von Weltwissen“ stellt eine Alternative zur digitalen Erschließung des Textes dar, die letzteren durch Identifi kation von Schlüsselaussagen zu erfassen sucht.26 In gewissem Sinne gilt für das Medium des Bildes als solchen bereits, was Iwand in seiner Homiletik-Vorlesung für die Offenheit des Kerygmas gefordert hatte, nämlich nicht „ad hominem“ zu reden, „sondern in einer feierlichen Stille und Einsamkeit“ jeden dazu einzuladen, „bei sich einzukehren“.27 Es soll einen „Spielraum“ eröffnen, in dem sich 22 Preul, Reiner, Deskriptiv predigen, 84–112. 23 Ebd., 109. 24 Ebd. 25 Vgl. Kapitel 3.3.2.2 und 3.3.2.3. In seiner Vorlesung macht Iwand die Funktion des Dogmas an Jungfrauengeburt und Gottheit Jesu fest und legt die Dogmen dabei so aus, dass sie jeweils eine Grenze gegenüber bestimmten, das Wirken Gottes beschneidenden Mißverständnissen markieren, dabei aber auf das lebendige Walten des Geistes in der Schrift bezogen bleiben und dieses keineswegs erschöpfend zu erfassen suchen, vgl. ebd., 24f/454f. 26 Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 225. 27 GA II, 113. Vgl. dazu Kapitel 3.3.2.2.
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der Einzelnen mit seinen individuellen Erfahrungen wieder finden kann.28 Die Konzentration auf diesen Aspekt ist also aufs Engste mit dem theologischen Anliegen Iwands verknüpft. – Darüber hinaus weist das Medium des Bildes eine Affinität zur Kategorie der Verheißung auf, bieten doch Metaphern, Symbole und andere Formen „medialer“ Sprache die Möglichkeit, den Wirklichkeitsüberschuss letzterer gegenüber der konventionellen Alltagswelt überhaupt zur Sprache zu bringen.29 In diesem Sinne hat etwa Jan Hermelink für Iwands Predigtmeditationen herausgearbeitet, dass das Bild von der Morgenröte von zentraler Bedeutung ist, um die räumliche und zeitliche Nähe des Anbruches der Gottesherrschaft auszudrücken und zugleich deren bleibende Distanz und Unverfügbarkeit festzuhalten.30 Vor allem eröffnet die Imagination gegenüber der digitalen Organisation von Weltwissen weitergehende assoziativ-kreatorische Möglichkeiten zur Versprachlichung der neuen Weltsicht des Glaubens. Hängen für Iwand die eingeschliffenen Wirklichkeitsbilder letztlich mit der Befangenheit des homo incurvatus in der augenscheinlich-vorfindlichen Welt und ihren Gesetzmäßigkeiten zusammen, so kommt die mit der Äonenwende anhebende nova experientia gerade in der Durchbrechung des als natürlich Angesehenen zur Sprache.31 In diesem Sinne manifestiert sich das Sehen des Glaubens etwa darin, dass Tote sprechen, Gräberfelder wieder belebt werden,32 die lineare Zeiterfahrung umgekehrt oder völlig neue Wirkungszusammenhänge aufgezeigt werden.33 – Die Generierung mentaler Bilder in der Predigt ist schließlich für den homiletischen Bezug auf die Lebenswirklichkeit der Beteiligten von zentraler Bedeutung, geht es doch darum, letztere in das Licht der Christusverheißung zu stellen.34 Was für die Kommunikation insgesamt gilt, trifft für die bildhafte Sprache in besonderem Maße zu: Dass nämlich ein Text in verschiedener Hinsicht das (mentale) Vorwissen der Lesenden bzw. Hörenden um die ihnen gemeinsam zugängliche Wirklichkeit aktiviert und in einer spezifischen Weise modifiziert.35 28 Vgl. Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 230. 29 Vgl. ebd., 219f. Zum Transzendierungscharakter medialer Sprache, der sie für den religiösen Bereich besonders angemessen erscheinen lässt, vgl. auch Beutel, Albrecht, Offene Predigt, 533; ders., Sprache, 20f. 30 Vgl. ders., Die homiletische Situation, 54: „An verschiedenen Stellen zieht Iwand dafür das Bild der Morgendämmerung heran: Das Licht der neuen Welt Gottes ist zwar für den Glauben bereits wahrnehmbar, aber es ist noch von Dunkelheit begleitet. Das Wort erscheint, als Verheißung begriffen, vom Vorfi ndlichen in einer zeitlichen Hinsicht unterschieden, es ist den Fakten wohl deswegen überlegen, weil es stets ein noch nicht eingeholtes und gleichwohl wirksam auf diese Fakten bezogenes ist.“ 31 Bei seiner Abschiedspredigt in Dortmund im Oktober 1945 fasst Iwand das Verhältnis von Verkündigung und Lebenswirklichkeit im Rückblick dermaßen zusammen, dass „alles darauf ankam, der Wirklichkeit nicht zu glauben, die wir sahen, sondern dem zu glauben, der uns mit seinem Wort führte und tröstete“; NW III, 171. 32 Vgl. P 5,72. 33 Vgl. NW III, 306. 34 Vgl. Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 237. 35 Vgl. ebd., 221f.
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Die Frage nach dem Verhältnis von Text und Situation ist bei Iwand in zugespitzter Weise virulent, hatten wir doch in der Darstellung seiner Homiletik-Vorlesung gezeigt, dass er mit anderen Vertretern seiner Generation eine Theologie der Anknüpfung strikt zurückweist, die Bezugnahme auf den konkreten Fall aber gerade dort, wo es um die Frage von Tod und Auferstehung geht, für konstitutiv hält.36 An dieser Stelle entzündete sich in Folge der sog. „empirischen Wende“ der Praktischen Theologie die Kritik an seinem homiletischen Programm, das sich der Aufgabe, konkrete Situationen „als notwendig vorauszusetzendes Fragepotential der Verkündigung zu begreifen“, durch „Konstruktion einer doppelten Wirklichkeit [der Verheißung und der wirklichen Welt, N.S.]“ entziehe.37 Umso aufschlussreicher erscheint es uns unter dieser Voraussetzung zu sein, seine Predigten darauf hin zu analysieren, welche Anhaltspunkte die angedeuteten Bilder von der allgemeinen Todesverfallenheit an der Lebenswelt der Hörer haben und wie deren bildhafte Modellierung ihrerseits die starke Fixierung auf das Eschaton begünstigt. .. Das Modell Bei unserer Analyse des Bildgebrauches in Iwands Predigten soll ein textsemiotisches Modell Eberhard Müskes zur Anwendung kommen, dass bereits von Jan Hermelink zur Erfassung der „Predigt als Arbeit an mentalen Bildern“ fruchtbar gemacht worden ist.38 Wurde schon mehrfach auf diesen Ansatz hingewiesen, so soll er nun kurz vorgestellt und sodann auf unseren Untersuchungsgegenstand bezogen werden. Ausgangspunkt des Verfahrens ist die Beobachtung, dass sich die Verarbeitung von Texten auch als Prozess der Veranschaulichung beschreiben lässt, „gleichsam als das Entstehen eines Filmes vor dem inneren Auge.“39 Die kom36 Vgl. 3.3.4.3. 37 Engemann, Wilfried, Einführung in die Homiletik, 366; 368. Kritisiert worden ist an Iwand näher hin, dass er das Gottesverhältnis der Menschen lediglich von seinen Grenzen und ihre alltägliche Lebenswirklichkeit lediglich unter dem Aspekt der Krisenerfahrung in Blick nimmt. Die Mannigfaltigkeit und Ambivalenz des Lebens diesseits der Todesgrenze reduziere sich typischerweise auf die Wahrnehmung als „dunkle Folie“ der sich von ihr absetzenden Verheißungswirklichkeit; Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 55. Weil für Iwand das Aufrufen der christologischen Verheißungswirklichkeit mit einer „prinzipielle[n] Kritik an der gegebenen Wirklichkeit, die auf Lebenserfahrungen nur in gebrochener Weise Bezug nehmen kann“, zusammenfalle, versage er „vor der Aufgabe, in diesen Erfahrungen Hinweise auf das erneuernde Handeln Gottes auszumachen“; Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 55. 38 Vgl. Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 219–239. Hermelink entwickelt in seiner Untersuchung den Theorieansatz Müskes zur Analyse literarisch-künstlerischer Texte für die Predigtanalyse weiter (vgl. ebd., 221, Anm. 6) und konkretisiert ihn anhand der Analyse einer Predigt von Wolfgang Trillhaas über die Hochzeit zu Kana. Seine eigene Fragestellung zielt dabei besonders auf die Vermittlung von Text und Situation. Der Ansatz Müskes stellt seinerseits eine Konkretisierung und Weiterentwicklung des von Gotthard Lerchner entwickelten Modells des literarischen Diskurses dar; Müske, Eberhard, Diskurssemiotik; Lerchner, Gotthard, Literarischer Text. 39 Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 225. Vgl. Preul, Reiner, Deskriptiv Predigen!, 109.
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munikative Funktion von Bildern innerhalb eines literarischen Textes wird zunächst daraufhin angesehen, dass sie bei den Lesern ein inneres Modell von Lebenswelt i.S. einer typischen Szene aufruft. Sie basiert auf einem durch das allgemeine Wirklichkeitsbewusstsein bedingten Vorwissen um „einen konventionellen alltagsweltlichen Tätigkeitszusammenhang“.40 Als mentale Modelle gelten in diesem Sinne etwa der Besuch eines Restaurants, eine Geburtstagsfeier, oder ein Hochzeitsgottesdienst.41 Entscheidend für das Verfahren ist der doppelte Sachverhalt, dass diese Modelle einen propositional bestimmbaren thematischen Kern enthalten, der jedoch als vage Modellszene notwendig unbestimmt bleibt. Ausgangspunkt der Betrachtung ist nicht das konkrete Bild eines einzelnen Restaurantbesuches, einer einzelnen Geburtstagsfeier, usw. Vielmehr erscheinen die „jeweils typischen Elemente als Leerstellen (slots), die erst im konkreten Fall eine Füllung (fi ller) erhalten und gegebenenfalls Modifi kation erfahren.“42 Es handelt sich um ein usuelles mentales Modell.43 Die Vagheit des letzteren gegenüber einem konkreten Bild macht gerade seine kommunikative Dynamik aus.44 Im Verhältnis dazu besteht die Qualität eines literarisch-künstlerischen Textes darin, „den Rezipient/inn/en die sinnliche Vergegenwärtigung der jeweils [i.S. des usuellen Modells, Anm. N. S.] ‚vorgeführten‘ Sachverhalte zu ermöglichen, und zwar in einem bestimmten, individuellen ‚Blickwinkel‘, der die konventionelle Sicht modifiziert oder transzendiert.“45 Methodisch nachvollziehbar wird diese Dynamik in einer vierschrittigen Analyse: Im ersten Schritt (1) gilt es jene unbestimmte, im Vorwissen der Rezipienten um ihre gemeinsam zugängliche Wirklichkeit angelegte Modellszene ihrem thematischen Kern nach zu benennen. Zur weiteren Umgrenzung der für das usuelle Modell charakteristischen Leerstellen, wird die Szene mittels eines idealtypischen Ordnungsschemas spezifiziert.46 In Anlehnung an die Lehre von den Topoi der klassischen Rhetorik geht es darum, Ort, Zeit, Umstände, Personen, Abläufe, Anlässe, usw. zu bestimmen.47 Auch diese Elemente werden jeweils nur in ihrer usuellen Verbindlichkeit, noch nicht ihrer konkreten Füllung nach benannt.48 Zur Erfassung der „konkreten Äußerungsbedeutung“ eines Textes ist es (2) von Relevanz zu ermitteln, durch welche konkreten Züge das usuelle mentale Modell gefüllt wird. Im Sinne des Verfahrens löst ein literarischer Text seine Aussageintention dadurch ein, dass er die als eine Konfiguration typischer 40 Ebd., 226. 41 Vgl. ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. ebd., 227. 44 Vgl. ebd., 226. 45 Ebd., 225. 46 Vgl. ebd., 226. 47 Vgl. Plett, Heinrich F., Einführung, 12. 48 Im Blick auf das Beispiel vom Restaurantbesuch wären etwa ein Kellner, eine Speisekarte und ein Essen als typische Elemente zu denken, die sich dem idealtypischen Schema zuordnen ließen.
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Leerstellen erfasste Szene konkretisiert und in einer neuen, ungewohnten Perspektive erscheinen lässt. Dies geschieht auf eine doppelte Weise: Davon auszugehen ist, dass Elemente, die als Bestandteile des usuellen Modells zu interpretieren sind, sukzessive konkretisiert werden. In diesem Sinne ist zu fragen, welche der Leerstellen gefüllt werden und auf welche Weise dies geschieht. Es ist zu zeigen, wie, und in welcher Richtung die Szene konkretisiert wird und dadurch ein individuelles Gepräge erhält.49 Methodisch ist dazu über den Text hinaus auf die jeweilige muttersprachliche oder kulturelle Kompetenz zurückzugreifen.50 Eine andere Möglichkeit der Konkretisierung des usuellen Modells besteht (3) in der Einführung solcher Elemente, die sich nicht in die typische Struktur des Bildes einfügen, sondern es vielmehr verfremden bzw. umstrukturieren. Es handelt sich dabei um unvorhergesehene, überraschende Konkretisierungen, die den thematischen Kern in einer neuen Perspektive erscheinen, und/oder das Bild in das eines ganz anderen Aussagezusammenhangs umschlagen lassen.51 Sie sind in dialektischer Abhebung von den affirmativen Bildelementen zu analysieren. Im letzten Analyseschritt können (4) einzelne Analysen zum Aufbau mentaler Bilder zusammengeführt werden, „indem Verweisungen und andere Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bildern beschrieben und die Prozesse der Modellmodifi kation (bzw. Modelltranszendierung) im Blick auf die gesamte Predigt verallgemeinert werden.“52 Ziel der Untersuchung ist es zu zeigen, welches neue konkrete mentale Bild die Modifi kationen bei den Rezipienten insgesamt auslösen.53 .. Die Frage nach der mentalen Modellierung der Äonenwende in Iwands Predigten Bei der Anwendung dieses Modells auf unseren Untersuchungsgegenstand gehen wir von der Leitfrage aus, welcher typischen Bilder aus der gemeinsam zugänglichen Wirklichkeit von Prediger und Hörern sich die Predigt zur Veranschaulichung der allgemeinen Todesverfallenheit bedient und auf welche Weise sie diese in Zusammenhang bringt mit der eschatologisch bestimmten Auferstehungswirklichkeit. Im Verlauf unserer Arbeit an den Predigten Iwands hat sich uns gezeigt, dass deren Wirkung sich schwerlich aus der Konkretisierung und Umstrukturierung eines einzelnen usuellen Modells rekonstruieren lässt. Es zeichnet die von uns analysierten Predigten vielmehr aus, dass in ihnen jeweils eine Verknüpfung mehrerer mentaler Modelle vorliegt und sich erst aus deren Gesamtkonstellation ein konkretes mentales Bild ergibt. Darum haben wir uns 49 50 51 52 53
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Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 228f; 231; 235. Vgl. ebd., 225–228; 230; 235. Vgl. ebd., 229f; 231; 235f. Ebd., 231. Vgl. ebd., 229f; 231f; 236f.
entschieden, das von Hermelink entwickelte Verfahren stärker synthetisch zu handhaben, also die einer Predigt zugrunde liegenden mentalen Modelle in ihrer jeweiligen Konkretion kurz darzustellen, aber erst anhand von deren spezifischer Verknüpfung die stattfindenden Transformationsprozesse im Detail zu beschreiben. Einzelne Aspekte lassen sich auf diese Weise durch die unterschiedlichen mentalen Modelle hindurch verfolgen und es wird erkennbar, wie ihre Darstellung durch letztere jeweils gesteuert wird.54 Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass wir auch in diesem Kapitel unseren Analysen den Gesamtverlauf einzelner Predigten zugrunde legen. Dabei soll zu einzelnen Punkten jedoch zugleich Material aus einem breiteren Predigtbestand herangezogen werden, das die angesprochenen Sachverhalte zu vertiefen und aufzuweiten erlaubt. Eine weitere Leitperspektive, die wir aus der Darstellung von Iwands Homiletik-Vorlesung gewinnen, besteht darin, dass wir die Äonenwende einerseits in ihrer Wirksamkeit an der Gemeinde und andererseits am einzelnen Glaubensindividuum in den Blick nehmen und dazu zwei Predigten auswählen,55 die jene Gesichtspunkte besonders thematisieren. Es handelt sich zum einen um eine Predigt über Ez 37,1–14 (= P 5), die Iwand Pfingsten 1943 unter dem Eindruck der alliierten Luftangriffe in seiner Dortmunder Gemeinde gehalten hat, zum anderen um eine im Bonner Universitätsgottesdienst weniger als ein Jahr vor seinem eigenen Tod gehaltene Predigt über Ps 51,12f (= P 6).
. Vortrupp des Lebens – Analyse zur Predigt über Ez ,– .. Iwands eschatologische Predigt angesichts der Erfahrung des Luftkrieges in Dortmund Bevor wir uns der Analyse der Predigt zuwenden, erscheint uns die kurze Beleuchtung der allgemeinen und biographischen Umstände, unter denen Iwand sie hielt, zur Erfassung ihrer Bildwelt hilfreich. Sichtet man den Predigtnachlass Iwands im Blick auf Bilder für die allgemeine Todesverfallenheit menschlicher Wirklichkeit, so fällt auf, dass die Anspielung auf Erfahrungen des Bombenkrieges kein Einzelfall ist. Angesichts des Erleidens der schweren Luftangriffe der Jahre 1943/44 auf Dortmund hat seine kreuzestheologische Anthropologie offensichtlich eine lebensweltliche Konkretion erhalten, die seine homiletische Praxis fortan entscheidend prägte. Der Sachverhalt ist für die Predigttätigkeit jener Zeit durchaus typisch. So hat Corinna Dahlgrün in ihrer Arbeit über die Eschatologie in der Predigt 54 Im Sinne des soeben vorgestellten vierstufigen Analyseverfahrens konzentrieren wir uns also insbesondere auf den vierten Schritt. 55 Vgl. Abschnitt 6.1.
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des 20. Jahrhunderts bereits auf den allgemeinen Zusammenhang zwischen der Konfrontation der deutschen Bevölkerung mit den Schrecken des Krieges in den fortgeschrittenen Kriegsjahren und der Ausbreitung eschatologischen Gedankengutes hingewiesen. Im Blick auf das aus diesem Zeitraum herangezogene Material kommt sie zu dem Schluss: „Auffällig ist das häufigere Auftreten apokalyptischen Gedankenguts; die Prediger thematisieren immer wieder das Weltende in Zusammenhang mit dem Tod des einzelnen oder sogar anstelle des individuellen Endes. Das Kommen Christi ist, ob mahnend oder tröstend, gegenüber der Einladung Gottes oder dem letzten Gericht in den Vordergrund getreten.“56 Der Hang zu einer „kollektive[n] Eschatologie“57 nimmt nicht Wunder, wenn man beachtet, dass mit den alliierten Flächenbombardements ein Massensterben bisher ungekannten Ausmaßes Einzug in die deutschen Großstädte hielt. Dementsprechend ist auch die Bezugnahme auf die Todesthematik keinesfalls ein Einzelfall, sondern betrifft als eine allen vor Augen stehende Bedrohung die Mehrzahl der Predigten.58 Insgesamt spricht Dahlgrün den Kriegspredigten im Verhältnis zur vorausgehenden Epoche, aber auch zu den Predigten des Ersten Weltkrieges, einen Zug zur „‚Re-Eschatologisierung‘“59 zu. Dieser allgemeine Befund bestätigt sich im Blick auf das Wirken Iwands als Prediger der Dortmunder St. Marien Gemeinde. 1937 war er – nachdem er mit seinem Predigerseminar aus Ostpreußen ausgewiesen und letzteres nach einer längeren Odyssee aufgelöst worden war60 – Pfarrer der in einem Industriegebiet liegenden Gemeinde geworden,61 deren Glieder vornehmlich Arbeiter waren. Für den aus dem weitläufigen Osten kommenden Iwand trug das proletarische Leben als solches bereits apokalyptische Züge. Seine Schilderung des städtischen Daseins war bestimmt von jener kulturpessimistischen Sichtweise, die er durch die Lektüre von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ erhalten hatte.62 Vollends zum Tragen kam das Bewusstsein, in „eschatologische[n] Zeiten“ zu leben, unter dem Eindruck der furchtbaren Luftangriffe.63 Dies schlug sich auch in seiner Wahl der Predigttexte nieder. In 56 Dahlgrün, Corinna, Nicht in die Leere, 512. 57 Ebd. 58 Vgl. ebd., 512.522. 59 Ebd., 526. 60 Vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 153–217. 61 Vgl. NW VI, 295. 62 In diesem Sinne schrieb er 1941 in einem Brief an den befreundeten Ernst Burdach nach Ostpreußen: „Je länger ich hier bin, desto mehr habe ich über den Menschen der großen Städte nachgedacht, er bekommt leider auch ihr Gepräge und wird davon im Innersten verwandelt. Spengler hat einmal das Wort von dem Atheismus der großen Städte gesprochen. […] Diese Städte sind die Welt, die sich der Mensch selbst gebaut (hat), überall predigen sie von seiner Kunst, seiner Kälte, seiner Brutalität, seiner Genußsucht. Darum sind sie, anders als noch die mittelalterliche Stadt, versteinerter Atheismus“, zitiert nach: Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 261. 63 So schreibt er in einem Brief an Burdach über die Luftangriffe auf Dortmund im Frühjahr 1943: „Mit einer fast grimmigen Genugtuung erlebt man den Untergang der industriellen Welt an sich selbst. Es ist eine unheimliche Predigt, wenn sich die Hand des Todes gerade über die ‚große Stadt‘, die glaubte, am meisten gegen ihn gefeit zu sein, herabsenkt und dort die Menschen wieder einmal vor die letzten, ursprünglichen Fragen stellt“, Zitiert nach: Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 281.
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den Wochenschlussgottesdiensten hielt er bevorzugt Reihenpredigten über Bücher, die das Unfassbare im Licht der biblischen Verheißung zu erschließen erlaubten. Den Anfang machte dabei 1942 die fortlaufende Auslegung der Johannes-Offenbarung64 und es folgte im Sommer 1944 ein Predigtzyklus, der das Hiobbuch zum Gegenstand hatte.65 .. Binnengliederung und Themenentfaltung der Predigt Die Predigt steht unter dem unmittelbaren Eindruck des Schreckens und der angerichteten Zerstörung. Die durch den Luftangriff verursachte individuelle und kollektive Krisenerfahrung lässt sich sofort als bestimmender Situationsbezug benennen. Dabei zeichnet es das Vorgehen des Predigers allerdings aus, dass er der empirischen Situation wenig eigenen Raum lässt, sondern sie von Anfang an in ständiger Korrelation auf den im Predigttext intendierten Wirklichkeitszusammenhang entfaltet. Dieses Verfahren verleiht der Predigt den für Iwands Predigtweise typischen antithetischen Charakter. Als leitende Betrachtungsweise für die Schilderung der Situation lässt sich die Aussage des Predigers bestimmen: „Und darum soll auch heute aus unseren Herzen und Mündern sein Lob über den Trümmern erklingen“ (P 5,31f). Die Antithetik zwischen Krisenerfahrung und Gotteslob kennzeichnet bereits den ersten Satz (vgl. P 5,1–4). Im Blick auf den Gesamtaufriss der Predigt bleibt die angezeigte Polarität jedoch nicht allein bestimmendes Gliederungsmerkmal, so dass von einer „zweigliedrige[n], antithetische[n] Disposition“ die Rede sein könnte.66 Die Dominanz des einen, die gesamte Situation beherrschenden Krisenmomentes, an dem sich die Predigt abarbeitet, lässt die Differenzierung des Predigtaufbaus nach unterschiedlichen Perspektiven äußerst schwierig erscheinen. Dennoch schlagen wir eine dreigliedrige Disposition nach Einleitung, Hauptteil und Schluss vor: – Der weit ausladende Einleitungsteil (P 5,1–37) ist dadurch bestimmt, dass er das dialektische Verhältnis von Schreckensnacht und Gotteslob noch ohne direkte Bezugnahme auf den Predigttext an Orten gegenwärtiger Realisierung vorführt. Er besteht aus zwei Bildern: Das erste ist das der in den Luftschutzkellern ihren Tod erwartenden Menschen, die sich mit ihren Gebeten zu Gott wenden (vgl. P 5,4–25). Das zweite ist das der im notdürftig hergerichteten Kirchengebäude versammelten Gemeinde, die sich bei ihrer Vorbereitung des Pfingstfestes der Verfluchung durch einen „Mann von der Straße“ ausgesetzt sieht (vgl. P 5,25–36). – Der Hauptteil der Predigt (P 5,37–140) zeichnet sich durch den Versuch aus, die Situation von der großflächigen Auslegung des Predigttextes her in 64 Vgl. ebd., 276. 65 Vgl. ebd., 285. 66 Ueding, Gert, Rhetorik, 59f.
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einer dreifachen Perspektive zu erfassen. Dabei legt der Prediger den Text nicht Vers für Vers aus, sondern folgt vielmehr seinen beherrschenden Motiven, die sich mit der Erfahrungswelt der Hörer durchdringen und gewissermaßen eine Konkordanz von Text und Situation entstehen lassen. – Die erste Perspektive (P 5,37–70) ist dadurch bestimmt, dass sie gegenüber der Frage nach Ursachen und Auswegen aus der Katastrophe Gott als eigentlichen Akteur in jenem Geschick profi liert. Sie zentriert in der Auslegung der Formel des göttlichen Selbsterweises: „,Ihr werdet erfahren, daß ich allein der Herr bin‘“ (P 5,47f/Ez 37,13) und wird eingeleitet durch die Aussage: „Alles Aufbauen, das ohne Gott geschieht, wird umsonst sein. Wo der Herr nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen. Sollen wir das nicht wieder begriffen haben?“ (P 5,37–39)
Gott wird als derjenige apostrophiert, der gegenüber dem Walten der Todesmächte den „Gegenangriff […] von oben her“ (P 5,61f) einleitet. – Die zweite Perspektive (P 5,70–109) nimmt die Totenfeldvision des Propheten auf und entfaltet das Bild einer umfassenden, alle sozialen Unterschiede aufhebenden Apathie (vgl. P 5,75–80). Sie oszilliert zwischen der Schilderung der durch den Krieg eingetretenen gegenwärtigen Notlage und dem biblischen Bild vom Propheten, der das Totenfeld überschaut (Ez 37,1f). Letzteres steuert ihre weitere Entfaltung in der Weise, dass die Reaktion des Propheten auf die Frage Gottes im Anschluss an die Vision (vgl. P 5,98: „Herr, du allein weißt das!“) als vorbildliche Glaubenshaltung für die Gemeinde profi liert wird (vgl. P 5,97: „Auch wir können gar nichts anderes tun“). – In einer dritten Perspektive (P 5,103–140) setzt die Predigt dem Bild vom Totenfeld das vom Leben schaffenden Wirken des Geistes als „Gottes Antwort“ (P 5,105f) entgegen und schildert letzteres als In-Bewegung-Geraten des Totenfeldes in Folge seines Rauschens und Wehens (vgl. P 5,116.122f). Konkretisiert wird das Geistmotiv durch die Verknüpfung mit dem Pfingstfest und die Benennung der Gemeinde als Ort gegenwärtiger Realisierung. Dabei entfaltet er einen Gedanken, den er bereits im Zusammenhang der ersten Perspektive angedeutet hatte. Dort hatte er die Stellung der versammelten Gemeinde innerhalb des Gesamtgeschehens als „Vortrupp einer neuen Zeit“ (P 5,42) charakterisiert. Am Ende ihrer Entfaltung werden die drei angezeigten Perspektiven des göttlichen Selbsterweises, der Totenfeldvision und des wieder belebenden Geistwirkens jeweils auf die Hörer der Predigt appliziert, indem der Prediger sich ihnen direkt (vgl. bes. P 5,64.101: „Meine Freunde“) zuwendet (P 5,64–70.101–109.130ff ). Dabei wird der als leitende Betrachtungsweise bestimmte Zusammenhang zwischen Krisenerfahrung und Gotteslob jeweils explizit gemacht.
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Im ersten Drittel der Predigt hatte der Prediger in beinahe formelhaft wiederholten Vergewisserungssätzen sich und seine Gemeinde unter der Anfechtung zusammengeschlossen, um antithetisch auf die von Gott her zu erwartende Wende zu verweisen („Ich weiß wohl, […] aber ich weiß auch“ – P 5,49–51; vgl. P 5,4–9). Im weiteren Verlauf der Predigt zeichnet sich eine Entwicklung im Umgang mit den Hörern ab, die zutiefst mit ihrer und des Predigers existentieller Erschütterung zusammenhängt: Die Perspektive des göttlichen Selbsterweises (1.) mündet in die Mahnung zum 1. Gebot, wonach es vor und trotz allem, was geschieht, die Gottheit Gottes im Glauben anzuerkennen gilt (vgl. P 5,64–70). Angesichts der Schilderung des Totenfeldes (2.) wird der Glaubensimperativ in den Optativ zurückgenommen: „Meine Freunde, wenn wir das doch sagen wollten, wenn wir doch so bescheiden sein könnten, so gläubig bescheiden, daß wir hier Halt machen und sagen: Gott, du weißt es“ (P 5,101–103).
Der Prediger schließt sich dadurch mit seiner Gemeinde noch enger zusammen (vgl. P 5,49f.152–154), sein Werben erhält einen wärmeren, seelsorgerlichen Unterton. Es tritt aber auch der Anfechtungscharakter der Situation noch stärker hervor. Im Anschluss an die Schilderung des wieder belebenden Geistwirkens (3.) wendet er den Blick vom Verlauf der biblischen Totenfeldvision auf die bange Zukunft der Gemeinde. Dabei überholt er die Ängste vor erst noch bevorstehenden Notsituationen mittels deren Schilderung im Futur II, d.h. aus der Perspektive des endzeitlichen Handelns Gottes, an das es sich auf Grund der Verheißung jetzt schon zu erinnern gilt: „Und es werden dann die Schatten der Nacht zurückweichen. Wir werden an diese Zeiten denken in den Angstträumen unserer Nächte, so wie die Toten vielleicht daran denken in der Ewigkeit, […] wie die Mächte der Gottesverachtung schon glaubten, den Sieg ergriffen zu haben und wie dann auf einmal der Geist Gottes hineinfegte und sie zurückweichen mussten in die Abgründigkeit“ (P 5,129–135).
In diesem vergewissernden Aus- bzw. Rückblick auf das Kommende kulminiert der Zuspruch der Predigt und wird mittels des eigentümlichen Zeitsprunges objektiviert. Das Geschilderte tritt in ein uneinholbares Gegenüber zu denjenigen Faktoren, die für gegenwärtige Bedrängnis verantwortlich sind. – Am Schluss kehrt der Prediger zur Situation der momentanen Anfechtung zurück und stellt sich und seinen Hörern die Bitte um das Kommen des Geistes als konkrete Realisierungsgestalt des Heils angesichts der Bedrohung vor Augen (P 5,141–146). Dringlichkeit und Bedürftigkeit dieser Bitte wird dadurch unterstrichen, dass sie abschließend wiederum als vergewissernder Wunsch vorgetragen werden:
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„Daß doch dieser Geist nicht zu spät käme, daß doch Gott bald seinen Geist senden möge […]. Daß wir in solcher Gewißheit hingehen möchten, […] das gebe Gott euch und mir aus seiner großen Barmherzigkeit!“ (P 5,147–154)
.. Die mentalen Modelle und ihre jeweiligen Konkretionen Die einzelnen Bildelemente, die Iwand im Verlauf seiner Predigt entfaltet, lassen sich drei mentalen Modellen zuordnen, die es im Folgenden zu umreißen und in ihren jeweiligen Konkretionen kurz zu bestimmen gilt. Es handelt sich dabei um die usuellen Modellszenen vom Erleiden eines Luftangriffes, der zum Pfingstgottesdienst versammelten Gemeinde und der Auferweckung des Totenfeldes, die dem literarischen Zusammenhang des Predigttextes entstammt. 6.4.3.1 Das Modell vom Erleiden eines Luftangriffes Nach dem idealtypischen Ordnungsschema Hermelinks67 lässt sich das Modell folgendermaßen umreißen: Ort des Geschehens sind Städte, seine Zeit ist unbestimmt, abgesehen davon, dass Angriffe häufig nachts erfolgten. Beteiligte Personen sind die Bewohner der Städte. Typische Umstände sind eine lebensbedrohliche Vernichtungssituation, die sich über die gesamte Stadt ausbreitet und der die Beteiligten passiv ausgesetzt sind, damit zusammen hängen der Verlust von Menschenleben sowie des bisherigen materiellen Lebensumfeldes. Der Ablauf ist durch die zeitliche Begrenzung des Angriffs bestimmt, wobei die Betroffenen um ihr Leben bangend in Schutzräumen ausharren. Er ist gekennzeichnet durch eine starke Zäsur zwischen der Ungewissheit des unmittelbaren Angriffserlebens und dem Nachher des Überlebens. Ursache ist der Krieg. Der Modus des Geschehens ist der einer bedrohlichen Krisenerfahrung, die die Betroffenen aus ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang herausreißt. Die Glaubwürdigkeit/Wahrscheinlichkeit des Geschehens ist hoch und wächst mit der Ausbreitung der alliierten Luftangriffe im fortschreitenden Krieg. Bevor wir untersuchen, wie Iwand das usuelle Modell im Predigttext konkretisiert, wollen wir kurz auf seine Eigenart und die sich von unserem Standpunkt aus ergebenden Interpretationsprobleme eingehen. Das Modell vom Erleiden eines Luftangriffes ist ohne Zweifel am stärksten in der gemeinsam zugänglichen Wirklichkeit der Hörer verwurzelt, stellt die größte homiletische Herausforderung für den Prediger dar und verspricht insofern, Aufschluss über die Kontextualität von Iwands Predigt zu geben. Es stellt uns als Interpreten allerdings vor die Schwierigkeit, dass es der Alltagserfahrung unserer konventionellen Lebenswirklichkeit vollständig entzogen ist.68 67 Vgl. Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 226. 68 Dies erhellt besonders, wenn man die Hermelink angeführten Beispiele für konventionelle alltagsweltliche Tätigkeitszusammenhänge dagegen hält, als da sind: Kleiderkäufe, Geburtstagsfeiern, Hochzeitsgottesdienste und Restaurantbesuch; vgl. Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 226. 229. Dennoch handelt es sich auch bei dem von Iwand modellierten Sachverhalt um einen solchen, der die Lebenswirklichkeit der Beteiligten durch und durch bestimmte. Zu dem spezifischen Phänomen der Tabuisierung und Verdrängung dieses Sachverhaltes, der trotz seiner Breitenwirkung im kulturellen Gedächtnis der Nachkriegszeit kaum Spuren hinterlassen zu haben scheint, vgl. Sebald, Winfried Georg, Luft krieg, 12.
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Umso notwendiger erscheint es uns, neben dem skizzierten allgemeinen Rahmenkonzept Konkretisierungen aus anderen literarischen Zusammenhängen vergleichend heranzuziehen.69 Dabei kommt uns die intensivierte Beschäftigung mit der Erfahrung des Luftkrieges in Literatur- und Geschichtswissenschaft seit Mitte der 1990er Jahre zu Gute.70 Insbesondere können wir uns auf die Untersuchung des Historikers Jörg Friedrich stützen, die unter Rückgriff auf ein breites Material von Erlebnisberichten die äußeren,71 psychologischen72 und sozialen Folgen73 des Luftkrieges gegen Deutschland in den Jahren 1940–1945 darlegt. Auf der Grundlage der bei Friedrich zusammengestellten Augenzeugenberichte ergibt sich folgendes Bild vom Erleiden des Luft krieges durch die städtische Bevölkerung: Mit der Ausdehnung der englischen Luftangriffe auf das Ruhrgebiet und ihrer Perfektionierung zu Flächenbombardements im Frühjahr 1943 wurden Keller und Bunker für die Menschen Schutzorte innerhalb eines umfassenden Vernichtungsraumes, in den sich die oberirdische Stadt während des Angriffs verwandelte.74 Das alltägliche Leben verlagerte sich zunehmend unter die Erde,75 wo die Schutzsuchenden auf dramatische Weise mit dem Vernichtungsgeschehen in Kontakt blieben.76 Ein Sicherheitsgefälle bestand zwischen Häuserkellern, in denen die unmittelbare Lebensbedrohung durch Einsturz oder Verschüttung ungleich höher war als im eigentlichen Luftschutzbunker. In letzterem gewärtigten die Insassen den Untergang ihres ganzen Lebensumfeldes in dem Bewusstsein, selber mit dem nackten Leben davongekommen zu sein.77 Gemeinsam war allen Beteiligten die Ohnmachtserfahrung angesichts der offensichtlich durch nichts aufzuhaltenden Allgegenwart des Feindes.78 Beim Verlassen des Schutzraumes nach dem Angriff bot sich den Überlebenden oft ein grauenvolles Bild: Aufgedeckte Sterbeszenen waren weithin sichtbar, wobei zwischen menschlichen Wesen und Sachen oftmals kaum noch zu unterscheiden war.79 Schutz gegen diese Bilder bot deren Wegfi lte69 Vgl. Hermelink, Jan/Müske, Eberhard, Predigt, 230. 70 Vgl. dazu neben der bereits genannten Monographie von Sebald: Bergander, Götz, Dresden im Luft krieg; Brack, Friedhelm, Als Feuer vom Himmel fiel; Foedrowitz, Michael, Bunkerwelten, Friedrich, Jörg, Der Brand; Hage, Volker, Der Angriff; ders., Zeugen der Zerstörung. 71 Vgl. Friedrich, Jörg, Der Brand, bes. 371–464. 72 Vgl. ebd., bes. 491–514. 73 Vgl. ebd., bes. 465–490. 74 Vgl. ebd., 371. 75 Vgl. ebd., 373f. 76 Vgl. ebd., 392. 77 Vgl. ebd., 392f. 78 Vgl. ebd., 415. 79 Vgl. ebd., 512f: „Die zutage geförderten Organismen sind keine Toten, sondern Zustände. […] Die Kinder laufen mit auch bei der Identifi kation in den Leichenbergen von Darmstadt. […] Die Zerstörung ersinnt in dem Höllensturz des spätsommerlichen Darmstadt Spottgeburten der Entleibung. […] Die Metaphorik dieser Tode rühmt die kosmische Gewalt der Strahlhitze und den unsichtbaren Zerschmetterer von Adern und Stein, die Druckwelle. Sie verwerfen die Hinfälligkeit des Gewebes, dessen Dekomposition es schon als Abfall ausweist. […] Wie das Haus, das auf der Brust des Bewohners liegt, ist die Wirklichkeit umgedreht. Tote stellen sich lebendig.“
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rung „durch einen seelischen Immunschirm“, was freilich zu einer allgemeinen Abstumpfung führte.80 Iwand konkretisiert das Modell, indem er bereits in den ersten Zeilen seiner Predigt die Erlebnisse der Hörer beim jüngst erfolgten Bombenangriff auf Dortmund als „Nacht des Schreckens“ (P 5,2) aufruft: „Liebe Gemeinde! Das, was wir wohl alle denken in dieser Stunde, da wir uns nach der Nacht des Schreckens hier wieder sammeln im Gotteshaus, dürfte doch wohl dies sein: Herr, wir sind zu gering aller Güte und Barmherzigkeit, die du an uns getan hast! Ich weiß, was viele unter uns verloren haben, ich weiß, welche Schrecken über die Menschen ergangen sind, die da in ihren Kellern auf ihr Ende gewartet haben. Ich weiß, daß in dieser Nacht Dortmund arm geworden ist, aber ich weiß auch, meine Freunde, daß wir alle in dieser Nacht zum Herrn gerufen haben, daß wir ihn gebeten haben, das mit uns zu tun, was seinem Willen entspricht. Wo wir Hab und Gut verloren haben, haben wir doch das Leben gerettet, daß wir noch denen dienen können, die uns brauchen, den Menschen, die uns lieb haben, die Frau dem Mann, die Eltern den Kindern. Ich weiß, daß Gott uns unsere Häuser erhalten hat, damit wir andern helfen können, damit der Geist seiner Liebe wirke in dieser Zeit des Trauerns, damit er einen Wall gegen das Unheil schafft , eine Hilfe. Es ist ja so in solcher Nacht, daß uns der Herr alles aus den Händen schlägt, und dass wir es dann neu geschenkt wieder bekommen wie ein großes Wunder“ (P 5,1–16).
Zunächst fällt auf, dass das Bild sehr eng umrissen ist und sich auf eine konkrete Situation eingrenzen lässt: Ort und Zeit sind die hinter den Hörern liegende Nacht des Bombenangriffs auf Dortmund vom 5. Mai 1943. Beteiligte Personen sind die Mitglieder der Ortsgemeinde. Besondere Umstände sind Todesangst und das daraus resultierende Flehen zu Gott, der Verlust von Hab und Gut, aber auch die Erfahrung wunderbarer Errettung (vgl. P 5,4ff ). Die Ursache des Geschehens, der sich auf das Reich zurückwendende Krieg, bleibt unbenannt. Stattdessen wird Gott als das bestimmende Subjekt der Errettung und – wenn auch eher indirekt – der Zerstörung eingeführt. Als erster Eindruck lässt sich festhalten, dass das Bild die Situation der Menschen in einer eigentümlichen Ambivalenz zu sich selber und zueinander zeichnet. Neben dem Warten auf das Ende und dem Verlust von Hab und Gut steht das Bewusstsein wunderbarer Errettung, neben dem Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen81 steht die Gemeinschaft der Überlebenden, wobei der Prediger damit rechnet, dass sie sich davon zu gegenseitiger Fürsorge und Hilfe aktivieren lassen. Abgesehen von weiteren direkten Anspielungen auf das Angriffsgeschehen (vgl. bes. P 5,107–109.130f) erfährt das Modell eine zweite entscheidende Konkretion in der durch den Predigttext gesteuerten Schilderung der Totenfeld80 Ebd., 501. 81 Dass sich die Rede vom Verlust nicht lediglich auf materielle Güter bezieht, spricht Iwand an dieser Stelle nicht direkt an, geht aber aus seiner Predigt über Ps 46 drei Tage nach dem besagten Angriff hervor. Dort formuliert er in der Einleitung: „Es wird manch einer fehlen, der zu uns gehörte, wie jenes liebe junge Mädchen, das am Gründonnerstag bei unserer Abendmahlsfeier mit sang und nun mit ihren Eltern und anderen im Keller ein Grab gefunden hat“, NW N. F. V, 41.
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vision, der Züge allgemeiner Zerstörung und der typischen Reaktion der Betroffenen eingeschrieben sind: „[a] wenn so Skelett an Skelett nebeneinander liegt, hören alle Unterschiede auf, da gibt es nicht mehr König und Bettler, nicht mehr Gut und Böse, nicht mehr Reich und Arm. So wird dieses Bild von Totengebeinen zum Bild für das große Kollektiv der Menschheit überhaupt, wo jeder der Nivellierung erliegt, wie ein Abgrund tut sich das vor uns auf. [b] Man liest es aus den Gesichtern der Menschen, daß alles Leben aus ihrem Herzen gewichen ist, daß sie nur noch ein Herz von Stein haben, welches mit stummer Apathie das unabwendbare Schicksal trägt. Darum läßt die Luft zu helfen nach, darum gibt es kaum noch Mitgefühl und Mitleid, die Not stumpft ab und das Bestreben, sich selber zu retten wird das einzige sein, was Tun und Lassen regiert. [c] Das ist dann der letzte Ausweg dieser Hoffnungslosigkeit, nicht mehr zu denken, nicht mehr sein eigenes Leben zu führen, nicht mehr vor Gott zu stehen, nicht mehr aus Verantwortlichkeit vor Gott für die anderen da zu sein, sondern dies alles gleichsam dem Tod zu überlassen. Lebend werden wir dann schon hereingezogen in das Todesgeschehen. Das ist das Feld der Totengebeine, wo jeder Mensch hart und leblos wird, wo das Gewissen verstummt, wo keiner mehr glaubt, keiner mehr betet, wo alle in jener furchtbaren Gleichheit des Nichts ihre Wesensgestalt und Farbe ihres Wesens verlieren“ (P 5,76–93).
Der Abschnitt lässt sich dreifach untergliedern und umfasst (a) die Schilderung der äußeren Umstände nach einem Angriff, die Friedrich durch den pietätlosen Anblick von „aufgedeckten Sterbeszenen“ bestimmt sieht,82 (b) die Schilderung einer allgemeinen, schicksalsergebenen Apathie als mentale Reaktion darauf und (c) die zuspitzende Konkretisierung dieser Gemütslage auf einen dehumanisierenden Atheismus und Nihilismus hin. Insbesondere b und c stehen in starker Spannung zur ersten Entfaltung des Modells, wo die intensive Gebetstätigkeit betont und an ein intensiviertes Gemeinschaftsbewusstsein appelliert wurde. 6.4.3.2 Die zum Pfingstgottesdienst versammelte Gemeinde Das zweite mentale Modell, das Iwand in der Predigt aufruft, ist das der zum Pfingstgottesdienst versammelten Gemeinde. Auch dieses lässt sich nach dem idealtypischen Ordnungsschema umreißen: Ort ist i.d.R. eine Kirche, Zeit ist das Pfingstfest, beteiligte Personen sind die der feiernden Gemeinde. Umstände sind – da es sich um einen der hohen kirchlichen Feiertage handelt – eine den konventionellen Sonntagsgottesdienst überbietende Festlichkeit, die in einer besonderen Gottesdienstgestaltung Ausdruck finden kann. Typische Abläufe sind durch die Agende des Gottesdienstes festgelegt. Anlass des Geschehens ist der Gottesdienst, in dessen Zentrum die Feier der Gegenwart Gottes in seinem Geist sowie Lob und Dank für die erfahrene Zuwendung stehen. Dabei wird das biblische Pfingstereignis als Datum der Ausgießung des Geistes und Gründung der Gemeinde repräsen82 Friedrich, Jörg, Der Brand, 429.
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tiert. Modus der Durchführung ist der einer gelösten Freude, des Aufbruches und der Ausbreitung der christlichen Botschaft über die gesamte Welt. Dies kommt vor allem in der jahreszeitlichen Stellung des Festes zum Ausdruck. Im Blick auf die biblische Tradition kann sich diese Stimmung gar zur Ekstase steigern. Die Möglichkeit des Vorgangs ist im Zyklus des Kirchenjahres fest verankert. Er hat im Lebensrhythmus der Gemeinde seinen festen Ort. Die Entfaltung dieses Modells schließt unmittelbar der Bedrohungsszene von der „Nacht des Schreckens“ (P 5,2) an: „Darum, meine Freunde, sind wir in dieser von Gottes Gnade uns erhaltenen Kirche versammelt. Treue Hände von christlichen Brüdern und Schwestern haben sie für diesen Tag von allem Schutt gereinigt. Während dies geschah, betrat ein Mann von der Straße unsere Kirche und verfluchte uns, daß wir die Kirche festlich für den Tag der Pfingsten bereiteten. So steht heute beides hart nebeneinander, das Lob Gottes und die Empörung derer, die ihn nicht verstehen. Und darum soll auch heute aus unseren Herzen und Mündern sein Lob über den Trümmern erklingen. Es würde der Welt da draußen vielleicht besser bekommen, wenn sie sich einmal stille hielte, wenn sie auch einmal am Tage von Pfingsten Einkehr hielte und dem Menschen etwas zukommen ließe von dem Lebensbrot, das wir alle brauchen, gerade heute brauchen, wenn wir nicht ganz verzagen sollen“ (P 5,25–36).
Die Konkretisierung steht im Zeichen des Kontrastes zwischen der Zerstörungssituation und dem Anlass des Festes: Ort ist die im Bombenangriff zerstörte und notdürftig wieder hergerichtete Kirche. Zeit ist die Jetztzeit des Gottesdienstes. Beteiligte Personen sind die anwesenden Gottesdienstbesucher. Besondere Umstände sind das Erklingen von Lobgesängen bzw. Gebeten, allerdings angesichts eines völlig zerstörten Umfeldes, das Stille- bzw. Einkehrhalten, Festlichkeit und zugleich Bedürftigkeit. Typische Abläufe kommen nicht in den Blick, außer das der Prediger das Geschehen immer wieder im Hier und Jetzt zu zentrieren sucht.83 Als Ursache wird das gütige und barmherzige Handeln Gottes benannt (vgl. P 5,3f). Zweck ist es dementsprechend „Gott [zu] loben und ihm die Ehre [zu] geben“ (P 5,40). Charakteristisch ist die Abgrenzung zur „Welt da draußen“ (P 5,32f), „die nicht müde wird zu rufen: es gibt keinen Gott“ (P 5,20). Die aus dem Pfingstmodell übernommenen und vom Prediger in der gegenwärtigen Konkretisierung durchgehaltenen Motive des Lobes und Dankes für Gottes barmherziges Handeln an seiner Gemeinde wirken angesichts der äußeren Umstände befremdlich. Im weiteren Verlauf der Predigt wird das Modell unter Leitung der biblischen Perikope in zweifacher Hinsicht modifiziert: Einerseits wird zunehmend Gewicht darauf gelegt, dass das Gottesdienstgeschehen selber Ort des Selbsterweises Gottes und bereits realisierter Gottesgegenwart ist (vgl. bes. P 5,68–70). 83 Vgl. dazu die wiederholte Betonung „dieser Stunde“ (P 5,1.17.39), des Versammelt- bzw. Zusammengerufenseins in dieser Kirche (vgl. P 5,2.25f.48.106f), so wie Formulierungen wie: „Es ist Zeit geworden“ (P 5,51), „Vielleicht wissen wir jetzt […] und begreifen jetzt, daß hier […] solches schon angefangen hat“ (P 5,141–143).
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Andererseits wird es über das Zwischenglied des biblischen Pfingstmotives zu dem in der Perikope indizierten Geschehen in Beziehung gesetzt und erhält dadurch ein Gefälle zur eschatologischen Zukunft. In Analogie zu dem sich über die gesamte Schöpfung ausbreitenden pfingstlichen Lobpreis am Ende der Zeit (vgl. P 5,137–140), erweist sich der gegenwärtige Pfingstgottesdienst als etwas, was „jetzt […] schon angefangen hat“ (P 5,142f), aber dazu bestimmt ist, kosmische Dimensionen anzunehmen und die Pfingstgemeinde als „Vortrupp einer neuen Zeit“ (P 5,42). Das Motiv der Erwartung (vgl. P 5,149), die sich in der Bitte um das Kommen des Geistes artikuliert (vgl. P 5,144), wird als treibende Kraft des in „Not und Verzweiflung“ (P 5,145) stattfindenden Lobpreises Gottes aufgedeckt. 6.4.3.3 Die Auferweckung des Totenfeldes Das dritte Modell der Predigt zeichnet sich dadurch aus, dass es über ihren gesamten Hauptteil entfaltet wird und im Unterschied zu den ersten beiden einem anderen (literarischen) Zusammenhang entnommen ist. Da es sich um ein biblisch-eschatologisches Motiv handelt, lässt es sich einer im Lebensumfeld der Hörer verwurzelten Szene nicht ohne weiteres zuordnen. Dennoch lässt sich auch seine Gestaltung durch den Prediger anhand des idealtypischen Schemas bestimmen: Ort und Zeit sind unbestimmt. Beteiligte Personen sind Gott, die Toten und der Prophet. Umstände sind ein Feld von Totengebeinen, die dennoch reden können und ihre Hoffnungslosigkeit artikulieren, eine Dialogszene zwischen Gott und dem Propheten, sowie die Wiederbelebung der Toten, die einher geht mit einem „große[n] Rauschen“, Wind, Wehen, dem Öffnen von Gräbern und der Gabe des Geistes. Ursache und Zweck sind der Selbsterweis Gottes. Von zentraler Bedeutung ist der dramatische Handlungsablauf des Geschehens, der an der Folge von Verheißung und Erfüllung orientiert ist und sich auf einen Vierschritt zurückführen lässt: (1) Ankündigung eines in naher Zukunft bevorstehenden Selbsterweises Gottes, der den Seinen die Wende zum Heil bringen wird (P 5,47f.68/Ez 37,12–14) – (2) Schauung eines Szenariums gänzlicher Todesverfallenheit, das dem Schauenden Anlass zu Hoffnungslosigkeit und Resignation gibt (P 5,70–94/Ez 37,1f.11) – (3) Befragung des Schauenden, ob er an die ganz und gar unwahrscheinliche Restitution des Verfallenen zu glauben vermag/Fügung des Schauenden in den Glauben an die Schöpfermacht Gottes (P 5,94–103/Ez 37,3) – (4) Eintreten einer völlig unerwarteten, das natürliche Zeitgefälle revolutionierenden Wendung durch das Wirken von Gottes Wort und Geist auf Grund des Vertrauens in seine Macht (P 5,105–140/Ez 37,4–10). Entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Geschehens ist, dass diese im Unterschied zu den anderen beiden Modellen allein darin begründet ist, dass es sich um das göttliche Selbstwort handelt und als solches unbedingte Glaubensautorität beansprucht (vgl. P 5,46–48.103).
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Weitergehende Konkretionen bestehen darin, dass das Schema mit Elementen aus dem Modell vom Erleiden eines Luftangriffes aufgefüllt wird, wie wir im Abschnitt 6.4.3.1. für das Totenfeld bereits angedeutet haben. So assoziiert der Prediger unmittelbar die Trümmerfelder der Städte (vgl. P 5,57), „Todesäcker Europas“ (P 5,117) und das Leben in Bunkern und Luftschutzkellern, die schnell zu „Grüften und Gräbern“ (P 5,107) werden konnten. Auch das Eintreten der unerwarteten Wende wird mit Bildern aus der Kriegswirklichkeit wie „Vortrupp“ (P 5,42), „Gegenangriff “ (P 5,61), schon sicher geglaubtem Sieg und plötzlichem Zurückweichen-Müssen auf Seiten des Feindes (vgl. P 5,133–135) geschildert. Entscheidend ist allerdings, dass das Vierschrittschema von der Verheißung zur Erfüllung auf die im Pfingstgottesdienst versammelte Gemeinde übertragen wird, die sich zusammen mit dem Propheten am dritten Punkt befindet und in den Erwartungshorizont der Totenauferweckung gestellt wird. So zielt die Predigt darauf, dass die in Folge der Zerstörung eingetretene Resignation umschlägt in die Erwartung des rettenden Eingreifens Gottes, angesichts deren „die Tiefe des Todes […] nur der Anfang des wunderbaren Lebens“ (P 5,69f) ist. .. Die zeitliche Konstellation der Modelle als Schlüssel zur zentralen Botschaft der Predigt Nachdem wir die einzelnen mentalen Modelle in ihrer jeweiligen Entfaltung dargestellt haben, wollen wir nun untersuchen, ob sich hinsichtlich ihrer Kombination eine spezifische Grundkonstellation eruieren lässt, die für die Bildlogik der gesamten Predigt konstitutiv ist und den schrittweisen Nachvollzug der Transformation einzelner thematischer Aspekte durch die usuellen Modelle ermöglicht. Wir gehen dazu zunächst noch einmal zurück an den Beginn der Predigt, um das Ausgangsproblem zu fi xieren. Als leitende Betrachtungsweise hatten wir dort „das Lob [Gottes, Anm. d. Verf.] über den Trümmern“ (P 5,32) bestimmt.84 Fragt man danach, wodurch dieser Appell des Predigers an seine Gemeinde motiviert ist, so wird man auf die „Güte und Barmherzigkeit“ gewiesen, „die du an uns getan hast!“ (P 5,3f). Als Zentralaussage der Predigt schält sich von daher heraus: „Gott hat gnädig an uns gehandelt und wir sollen ihn loben“. Angesichts des ebenfalls am Beginn der Predigt aufgerufenen usuellen Modells vom Erleiden eines Luftangriffes mutet diese Aussage allerdings reichlich kühn an, hatten wir als dessen charakteristisches Element doch eine Haltung der Apathie, Hoffnungslosigkeit und atheistischen Gottesleugnung analysiert. Dieser Schwierigkeit begegnet der Prediger dadurch, dass er das Modell vom Erleiden eines Luftangriffes zu keinem Zeitpunkt aus seinen internen 84 Vgl. Kapitel 6.4.2.
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Relationen heraus entfaltet, sondern jeweils in eines der beiden anderen Modelle einbettet. So erfolgt gleich im ersten Satz der Predigt eine Einbettung des Luftangriffsmodells in das Modell der Zum Pfingstgottesdienst versammelten Gemeinde.85 Im Bezug auf letzteres lässt sich die zu vermittelnde Aussage: „Gott hat gnädig an uns gehandelt und wir sollen ihn loben“ ohne Schwierigkeiten als thematischer Kern identifizieren. Entscheidend für die Einbettung ist nun die Zeitstruktur, in der die beiden Modelle ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Der Prediger lässt seine Hörer nach der Aufrufung der „Nacht des Schreckens“ keineswegs mental in der Angriffsszene verweilen, holt sie nicht einmal dort ab, sondern blickt mit ihnen aus der Jetztzeit am Ort des Gottesdienstgeschehens darauf zurück: „Das, was wir wohl alle denken in dieser Stunde, da wir uns nach der Nacht des Schreckens hier wieder sammeln im Gotteshaus, dürfte doch wohl dies sein: […]“ (P 5,1–3).86
Diese Perspektive setzt das Bedrohungsszenarium in ein völlig neues Licht, oszilliert es doch nun zwischen der Vergegenwärtigung des Schreckens und dem Bewusstsein, daraus errettet worden zu sein. Als versammelte Pfingstgemeinde teilen die Hörer nicht lediglich die Erfahrung, „daß uns der Herr alles aus den Händen schlägt“, sondern auch „daß wir es dann neu wieder bekommen wie ein großes Wunder“ (P 5,15f). Angesichts der zurückliegenden Ereignisse erscheint die Tatsache, dass sich wider Erwarten überhaupt eine Gemeinde zum Gottesdienst versammelt und aus ihren „Herzen und Mündern sein Lob über den Trümmern erklingen“ (P 5,31f) lässt, bereits als entscheidender Hinweis auf das gnädige Handeln Gottes. Zeichnet sich das Verhältnis der beiden usuellen Modelle vom Erleiden eines Luftangriffes und der Zum Pfingstgottesdienst versammelten Gemeinde in der Makrostruktur der Predigt dadurch aus, dass ersteres der soeben entronnenen Vergangenheit und letzteres der unmittelbaren Gegenwart der Hörer zugeordnet wird, so kommt mit dem dritten Modell von der Auferweckung des Totenfeldes die Zeitstufe der Zukunft ins Spiel. Der vierschrittige Handlungsablauf des Modells wird in der Predigt als „Fenster“ zu dem eingesetzt, was kommt. Die Zentralaussage: „Gott hat gnädig an uns gehandelt und wir sollen ihn loben“ wird erweitert durch die Aussage: „Gott wird gnädig an uns handeln“. Dabei besteht ein wichtiger Unterschied zu den beiden anderen Modellen: Seine Glaubwürdigkeit wird allein mit der Tatsache begründet, dass es sich um das göttliche Selbstwort handelt. Es stellt die Hörer vor den hohen Anspruch, sich auf die Korrelation von Wort und Glaube einzulassen und das Verheißene allein Kraft seiner göttlichen Autorität zu glauben. Der Prediger wirbt darum in immer neuen Anläufen.87 85 Vgl. P 5,29.34.118–120.137–140. 86 Kursivierung N.S. 87 Vgl. bes. P 5,65–68: „Meine Freunde, dazu sind wir da, daß wir das glauben. Gott will, daß wir es glauben, ehe er es tut. […] Es ist das 1. Gebot, auf das er uns weist: Ich bin der Herr, dein Gott.“
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Der entscheidende Mechanismus, mit dem der Gemeinde das Verheißungsgut nahe gebracht wird, besteht darin, dass der Prediger das Zeitverhältnis der ersten beiden Modell (Luftangriff = Vergangenheit/Gottesdienst = Gegenwart), auf das des zweiten zum dritten Modell überträgt, indem er sich und seine Hörer in die Zeit nach dem Eintreten der eschatologischen Wende imaginiert und damit eine Analogie zwischen gegenwärtigem und künftigem Entrinnen eines Zerstörungsszenariums, heutigem und eschatologischem Pfingstfest herstellt (vgl. P 5,130–140). Nach dem Verfahren a minore ad maius wird von der bereits realisierten Modifi kation auf die im Modus der Verheißung vorgetragene, noch ausstehende geschlossen. Vergleichsmoment ist dabei die unerwartete Wende: Wo bereits der aus der Perspektive des allgemeinen Vernichtungsgeschehens ganz und gar unwahrscheinliche Fall einer erneuten Feier des Pfingstgottesdienstes eingetreten ist, da ist auch dem Wort zu vertrauen, das die endzeitliche Auferstehung der „Kirche des Glaubens […] aus dem Zusammenbruch aller Welt“ (P 5,127f) verheißt. Wo angesichts des sicher geglaubten Endes eine wunderbare Lebensrettung erfahren wurde, da ist auch Bereitschaft, eine kosmische Wende in Gestalt einer endzeitlichen Totenauferweckung zu erwarten. Wie die Hörer bereits in der Angriffsnacht ganz auf den Willen Gottes geworfen waren (vgl. P 5,9), so eröffnet ihnen die Predigt die Option, ganz aus dem zu leben, was ihnen im Wort verheißen wird. Vom Ausblick auf das Kommende her kippt die Bewertung der gegenwärtigen Umstände noch einmal völlig um und die Gemeinde gewärtigt sich in dem Bewusstsein: „Wir sind vielleicht heute noch die letzten, aber wir werden die ersten sein“ (P 5,43f). Als neues Motiv tritt das der vorwärts gewandten Erwartung ins Bild (vgl. bes. P 5,149), dass den im Luftangriffsmodell Agierenden ganz und gar abhanden zu kommen schien (vgl. bes. P 5,85–90). Die derart kombinierte Entfaltung der drei usuellen Modelle vollzieht bei den Hörern ein Wendung vom Vergangenen über die Gegenwart zum Zukünftigen, die wesentlicher Zug des konkreten mentalen Bildes ist, das die Predigt insgesamt entwirft. Bestimmen wir diese Verknüpfung als Grundkonstellation innerhalb der Bildlogik der Predigt, so lassen sich von daher einzelne Aspekte in ihrer jeweiligen Modifi kation durch die verschiedenen Modelle verfolgen. Dadurch gewinnen wir zugleich die besonderen Züge, durch die das konkrete mentale Bild, das die Predigt im Ganzen auslöst, bestimmt ist. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen. .. Die Züge des konkreten mentalen Bildes, das die Predigt bei den Hörern auslöst Auf der Basis des Ausgearbeiteten nähern wir uns der Predigt nun noch einmal im Blick auf einzelne zentrale Aspekte, deren Modellierung und Modifi kation. Und zwar wollen wir sie analysieren (1) im Blick auf die Wahrnehmung des Selbsterweises Gottes angesichts des äußeren Vernichtungsgeschehens, (2) des individuellen Selbstverhältnisses der Beteiligten und (3) ihres Gemein256
schaftsverhältnisses. Hinsichtlich jeder dieser drei Relationen greift der Prediger auf Elemente aus dem Modell vom Erleiden eines Luftangriffes zurück und modifiziert diese, indem er sie unter der Perspektive der beiden anderen Modelle entfaltet. 6.4.5.1 Die Modifi kation der Wahrnehmung des äußeren Vernichtungsgeschehens angesichts von Gottes gegenwärtigem und kommendem Selbsterweis Iwands Schilderung der äußeren Umstände beim Rückblick auf die Schreckensnacht des Luftangriffes beginnt damit, dass er die typische Situation in den Kellern aufruft, wo die Beteiligten „auf ihr Ende gewartet haben“ (P 5,6). Dabei nimmt er die im Abschnitt 6.4.3.1 geschilderte Gesamtsituation in einer an Totalitätsbestimmungen reichen, mythischen Rede von der „Welle des gottfeindlichen Geistes, die heute über die ganze Welt geht“ (P 5,22) auf.88 Den eigentlichen Anfechtungscharakter der Situation schildert er allerdings dahingehend, dass sich der Untergang des gesamten Lebensumfeldes als eine „unheimliche Predigt“89 ausnimmt, die den Triumph des Nihilismus ankündigt und den Schluss nahe legt: „es gibt keinen Gott“ (P 5,20). Drastischer noch als in unserer Predigt zeichnet Iwand in der drei Tage nach dem Angriff gehaltenen Predigt über Psalm 46 die negativ beantwortete Theodizeefrage als eigentlich bedrohliche Folge des Erfahrenen: „Aber, meine Freunde, hinter und unter dem allen geht ein Fragen durch die Herzen, durch viele Herzen, kein gutes, vielleicht auch kein böses Fragen, aber es ist da und würgt heraus: Gott – so sagt es – Gott soll das zulassen? Tausende sagen so. […] Sie fragen oft nur so, ohne die Antwort abzuwarten, sie halten die Antwort selbst schon in der Hand: Also es ist kein Gott!“90
Dass für viele Menschen „die Frage nach dem Dasein Gottes überhaupt“ gestellt ist,91 „Gott verloren und der Teufel gewonnen“ hat,92 klingt in zahlreichen Predigten – insbesondere der über Hi 1f93 – an. Die äußeren Umstände scheinen einen resignativen Atheismus als einzig realistische Lebenshaltung zuzulassen. Gottes Gegenwart im Gottesdienst Die auf Grund des usuellen Modells vom Erleiden eines Luftangriffes intendierte negative Verhältnisbestimmung zwischen Handeln Gottes und allgemeiner Vernichtungssituation wird in unserer Predigt sogleich in den ersten Sätzen modifiziert, indem Gott angerufen und für das Werk seiner „Güte und 88 Vgl. dazu auch die Rede von der „ganzen gottentfremdeten […] Welt“ (P 5,46) bzw. dem „Zusammenbruch aller Welt“ (P 5,128). In einer anderen Predigt beschreibt er die Situation als das Schmachten im Gefängnis eines bösen Geistes, das bestimmt ist von der Ahnung, seine Beute werden zu sollen; vgl. P 2,105f. 89 NW VI, 298. 90 NW N. F. V, 41. 91 NW III, 116. 92 NW III, 103. 93 Vgl. NW III, 114–120.
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Barmherzigkeit“ (P 5,3) gepriesen wird: Gott ist es, der „uns unsere Häuser erhalten hat“ (P 5,12), der „einen Wall gegen das Unheil schafft“ (P 5,14), der „alles aus den Händen schlägt“, um es neu zu schenken (P 5,15f), der das Geschehen im Selbsterweis dahingehend deutet, „daß ihr durch meine Gerichte hindurch müßt“ (P 5,56) und sich zugleich als alleiniger Retter präsentiert. Die Frage, wie sich das Handeln Gottes zum Wüten gottfeindlicher Mächte verhält, als das die Vernichtung geschildert wird, bleibt dabei offen. Die Perspektive kulminiert vielmehr in der göttlichen Beteuerung: „Ich stehe mitten unter euch, das ganze Geschehen ist in meiner Hand und die Tiefe des Todes ist nur der Anfang des wunderbaren Lebens“ (P 5,68–70).
Entscheidend für diese Modifi kation ist, dass die Hörer radikal bei dem die Gegenwart bestimmenden Modell der zum Pfingstgottesdienst versammelten Gemeinde behaftet werden und aus dieser Situation auf die Angriffsnacht zurückblicken.94 Anstatt bei den Schreckenserlebnissen und deren Verarbeitung anzusetzen, tut der Prediger alles, um seine Hörer mittels performativer Sprechakte im Hier und Jetzt des stattfindenden Pfingstgottesdienstes zu zentrieren und dies bereits als Ort gnädigen Gotteshandelns zu realisieren. Die Unwahrscheinlichkeit dieses Geschehens angesichts der Totalität, mit der das gesamte Lebensumfeld zerstört wird und aus den Fugen gerät,95 ist gewissermaßen der Gegenbeweis zur These, dass die Welt von „Mächte[n] der Gottesverachtung“ (P 5,133) total beherrscht wird. An die Stelle der allgemeinen Gottverlassenheit tritt nun die zeitliche und räumliche Kontrastierung zwischen „der Welt da draußen“ (P 5,32f) und den Gottesdienstbesuchern, die in dieser „Stunde […] hier versammelt sind und Gott loben und ihm die Ehre geben“ (P 5,39f). Die Situation muss bei Prediger und Gemeinde einen derartig starken Eindruck hinterlassen haben, dass Iwand sie in der mehr als zwei Jahre später gehaltenen Abschiedspredigt fast wörtlich wieder aufnimmt: „Soll ich davon reden, wie die Scheidung unter den Menschen unserer Tage offenbar wurde, wie die einen all das, was sie erlebten, in den Satz zusammenfassten: ‚Es gibt keinen Gott‘, während wir es wagten, auch über die Trümmer und durch die zerstörten Fenster unserer Kirche sein Lob neu zu singen und um das Kommen seines Geistes zu bitten?“96
Vollzieht der Prediger durch die Zentrierung auf das mentale Modell des Pfingstgottesdienstes eine Modifi kation des durch das Luftkriegsmodell nahe gelegten Verhältnisses Gottes zum äußeren Geschehen, die die Identifi kation 94 Vgl. Kapitel 6.4.4. 95 Wie wenig selbstverständlich die Fortsetzung der Gottesdienste war, wird in der Predigt vor allem durch das Bild des „Mann[es] von der Straße“ hervorgehoben, der es verfluchte, „daß wir die Kirche festlich für den Tag der Pfi ngsten bereiteten“ (P 5,28f). 96 NW III, 173f. Nebenbei wird hier deutlich, dass die gottesdienstlichen Gesänge durch die leeren Fensterhöhlen der zerstörten Kirche draußen zu hören waren, so dass der Kontakt zur äußeren Situation intensiviert war, vgl. Seim, Hans Joachim Iwand, 279. Es ist davon auszugehen, dass dies einerseits den Bekenntnischarakter gesteigert hat und andererseits einen sinnlichen Bezug zum Wehen des Geistes über dem Totenfeld (Ez 37) und zum Pfi ngstmotiv hergestellt hat.
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seines gegenwärtigen Handelns in einem Umfeld der Zerstörung ermöglicht, so wird es durch die Einführung des mentalen Modells von der Auferweckung des Totenfeldes abermals modifiziert. In ihm ist es bestimmt durch die Ankündigung eines bevorstehenden Selbsterweises Gottes, der zu einer totalen Umkehrung und Wendung des Vernichtungsraumes führt und in der lebenschaffenden Macht Gottes begründet ist. Das Geschehen selber beinhaltet die endzeitliche Auferweckung der „Todesäcker Europas“ (P 5,117), den Sieg über die „Mächte der Gottesverachtung“ (P 5,133) und die Ausbreitung seines Geistes über die ganze Welt. Die Bilderfolge der Predigt modelliert das Verhältnis Gottes zum äußeren Vernichtungsgeschehen also mittels einer zweistufigen Modifi kation: Sie eröffnet den Hörern zunächst einen Blickwinkel auf ihre Lebenswelt, wonach Gott inmitten der allgemeinen Zerstörung bereits unerwartet sein gnädiges Handeln erwiesen hat und erweist. Von daher legt sie ihnen eine neue Sichtweise dar, wonach trotz und gerade angesichts der scheinbaren Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Situation das zukünftige rettende Eingreifen Gottes, wie er es in seinem Wort verheißt, zu erwarten ist. Der Lobpreis Gottes in den Gebeten Ein weiteres Bildelement, das der Modellierung dessen dient, dass Gott angesichts des Vernichtungsgeschehens bereits gehandelt hat und in Zukunft handeln wird, ist die Haltung des Gebetes. Es ist ebenfalls mit allen drei usuellen Modellen verbunden. Zunächst lässt sich das Eingangsbild von den aus ihren Kellern zu Gott rufenden Menschen am Beginn der Predigt ohne weiteres als fester Bestandteil des usuellen Modells vom Luftangriff entschlüsseln, wird es doch von zahlreichen Augenzeugenberichten bestätigt: „Die Hausgemeinschaften [in den Kellern, Anm. d. Verf.] schwiegen oder beteten, schrieen, weinten, rangen, ob Flucht oder Abwarten rettete.“97 „Nichts bewegte stärker als das Gebet, die Überantwortung meines Geschicks an einen Höheren. Ein Bedürfnis entstand nach Gotteskindschaft. ‚Großen Einfluss hatte auf uns meine Großmutter, die sehr fromm ist und ruhig und ernst uns aufgefordert hat, mit ihr zu beten.‘ Das Gebetsmurmeln der Schwestern in der Stille flößte Patienten Frieden ein.“98 Die Aussagen zeigen die starke Ambivalenz der Situation auch im Blick auf religiöse Verhaltensmuster, hatten wir doch einen Hang zum Nihilismus als charakteristische Reaktionsweise herausgearbeitet und müssen diesem nun einen Zug zur Aktualisierung der Gottesbeziehung angesichts der äußeren Bedrängnis entgegensetzen.99 An diese Ambivalenz knüpft Iwand unmittelbar an, indem er die Aufmerksamkeit der Hörer von der Erfahrung des Verlustes weg auf die Tatsache lenkt, „daß wir alle in dieser Nacht zum Herrn gerufen haben“ (P 5,7f). 97 Friedrich, Jörg, Der Brand, 392. 98 Ebd., 501f. 99 Vgl. Kapitel 6.4.3.1.
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Dabei verfremdet er den Vorgang sofort, indem er die Gebete aus einer radikal theozentrischen Perspektive in den Blick nimmt. Anstatt auf die subjektiven Anliegen und Nöte einzugehen, die sich in den Gebeten artikulieren, steuert er sogleich auf die Verherrlichung Gottes als deren eigentlichen Zweck zu. Mittel dieser Entfremdung ist ihm die Diktion der Psalmen, wonach die alttestamentlichen Beter das rettende Handeln Gottes dadurch herauszufordern suchen, dass sie ihre Absicht kundtun, ihn gegenüber den Gottlosen zu preisen (vgl. Ps 7,18; 10,12–18; 13,6; 35,28 u.a.). In diesem Sinne legt er sich und seiner Gemeinde Worte aus Ps 50,15 in den Mund und bezieht sie auf die Ambivalenz der Angriffssituation und ihrer Folgen: „Wir wollen doch in dieser Stunde nicht vergessen, was wir wohl gebetet haben: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen! Du sollst mich preisen! Damit, daß du deinen Mund auftust und meinen Ruhm hineinträgst in eine Welt, die nicht müde wird zu rufen: es gibt keinen Gott“ (P 5,16– 20).
Durch diese Transformation wird als wesentliches Moment des Betens nicht etwa der den Beter bestimmende Zwiespalt zwischen Hoffnung und Zweifel (vgl. Ps 22,2f) hervorgehoben, sondern der Zeugnis– und Bekenntnischarakter, den die Tätigkeit des Betens als solche angesichts der äußeren Umstände hat. Darin, dass auch in einer Situation tiefster Hoffnungslosigkeit Menschen „zum Herrn gerufen“ (P 5,8) und ihr Geschick in seine Hände gelegt haben (vgl. P 5,8f), ist bereits das gnädige Handeln Gottes auf dem Plan und dementsprechend auch für die Zukunft zu erwarten. Sprachlich realisiert sich die durch das Gebet indizierte Gottesgegenwart dadurch, dass die Predigt in diesem Zusammenhang in die direkte, auf die Anrufung der Beter bezogene Rede Gottes übergeht, während auf der anderen Seite die stumme Apathie lediglich in der unpersönlichen Form des „Man“ eingeführt wird. In der durch den eschatologischen Predigttext aufgerissenen Perspektive wird dieser Vorgang abermals modifiziert und konkretisiert, indem das Moment der Erwartung einer universalen Wende zum Heil mit den Gebeten in Verbindung gebracht wird. Hielten sich am Predigtanfang die Motive, Gott zu loben und zu preisen, noch mit dem, was eher für die Empörung gegen ihn spricht (vgl. P 5,29–31), die Waage, so ist am Predigtschluss offensichtlich geworden, warum der Triumph gottloser Mächte den Lobpreis Gottes nicht abreißen lassen kann: „Vielleicht wissen wir jetzt, worum wir heute beten sollten und begreifen jetzt, daß hier oder da bei uns oder jenseits unserer Grenzen solches schon angefangen hat, daß da draußen im Toben der Schlacht ein paar Christen stehen, die ebenso wie wir rufen: ‚Komm, Schöpfer Geist!‘, daß es hier oder da Menschen in ihrer Not und Verzweiflung durch die Seele blitzt, es müßte an uns das Pfingstwunder geschehen“ (P 5,141–146).
Erst am Schluss wird das eigentliche Objekt der Gebete genannt. Letzteres lässt erkennen, dass es sich bei der Bedrängnis der Gegenwart lediglich um 260
ein Übergangsstadium handelt, in dem sich das Kommen Gottes ankündigt. Unter dieser Perspektive dient die Gebetstätigkeit nicht mehr lediglich dem Zeugnis gegenüber der gottlosen Welt, sondern entfaltet ihre seelsorgliche Kraft an denen, die mitten in ihren „Angstträumen“ (P 5,131) an das Verheißungsgut erinnert werden, um das sie bitten. Zugleich wird das Gebet in der Bedrohung am Ende der Predigt als konkreter Ort des Selbsterweises Gottes innerhalb der Lebenswelt der Hörer ausgewiesen.100 6.4.5.2 Die Modifi kation der Wahrnehmung des individuellen Selbstverhältnisses Eine ähnliche Modifi kation auf Grund des Zusammenspiels der drei usuellen Modelle lässt sich an der Wahrnehmung des individuellen Selbstverhältnisses der Glaubenden nachvollziehen. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht das Ich des Predigers, dass sich immer wieder direkt einbringt (vgl. P 5,4–9.12–14/(Wir:) P 5,106–109.141.143f.152– 154). Es erscheint in einem äußerst fragilen Zustand, ist auf der Suche nach einer Gewissheit, die es in sich selber nicht finden kann und wendet sich darum von seinem Erfahrungswissen ab und dem äußeren Wortgeschehen des göttlichen Selbsterweises zu (vgl. P 5,49–51). Es gerät dadurch in einen unlösbaren Selbstwiderspruch und wird sich selber ungleichzeitig. Letzteres tritt dort besonders stark hervor, wo sich das Wir der Glaubenden angesichts von den „Angstträumen unserer Nächte“ (P 5,131) in das prophetische Ich aufschwingt und die eschatologische Geistausgießung rückblickend aus der Perspektive der Vollendung anschaut. Die Fragilität des Selbstverhältnisses der Glaubensindividuen wird des weiteren dadurch modelliert, dass sie den „Geist Gottes nicht in der Hand“ (P 5,123f) haben, sondern dieser über sie kommt wie der Wind und „wann er will“ (P 5,125). Ihre Haltung ist bestimmt durch das Verharren in Passivitätsmustern, als da sind: Stille halten (vgl. P 5,33), Gar-nichts-anderes-tun-können (vgl. P 5,97), den befreienden „Gegenangriff “ (P 5,61) erwarten und „gläubig bescheiden“ sein (P 5,102). Der Erfolg ihrer Bitten um das Kommen des Geistes reduziert sich vorläufig darauf, „daß es hier oder da Menschen in ihrer Not und Verzweiflung durch die Seele blitzt, es müßte an uns das Pfingstwunder geschehen“ (P 5,144–146). Während des ungeduldigen Wartens bedürfen sie der ständigen wechselseitigen Vergewisserung. Vergleicht man diese Aussagen mit Berichten über das individuelle Erleben der Situation des Luftangriffes, so wird deutlich, dass die in der Predigt geschilderte Fragilität des Selbstverhältnisses sich bis in einzelne Züge hinein auch als Element dieses usuellen Modells entschlüsseln lässt. Dies gilt zunächst 100 Das dabei zu Grunde gelegte Gebetsverständnis zentriert in der Doxologie, die die Aufmerksamkeit radikal von der eigenen Not und Bedürftigkeit abzieht, um selbstvergessen im „Lob über den Trümmern“ (P 5,32) aufzugehen. Es fällt auf, dass das Gebetsgeschehen für Iwand immer als Machtgeschehen in den Blick kommt, innerhalb dessen alter und neuer Mensch im Streit mit sich selber liegen. Zu einer echten Zwiesprache des Beters mit Gott kann es auf Grund dieser Voraussetzung nicht kommen, da die Empörung gegen ihn immer ganz auf die Seite der Anfechtung tritt. Wir werden diese Struktur in unserer Analyse der Predigt über Ps 51,12f noch näher zu bestimmen haben.
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für die eingeschärften Passivitätsmuster, die in hohem Maße den im Luftschutzkeller konventionierten Verhaltensweisen entsprechen.101 Zudem wird davon berichtet, dass das Ich des Bombenkrieges als zweites, vom Alltags-Ich durch die Flut von traumatischen Eindrücken unterschiedenes und mit ihm nicht zur Deckung zu bringendes Ich erlebt wurde. Den Betroffenen bereitet es Schwierigkeiten, ihre Erfahrungen in dem konventionellen Bewusstseinsmodell, das die unhintergehbare Selbstidentität voraussetzt, zu explizieren.102 Iwand modifiziert diese Krisenerfahrung des Individuums nun dadurch, dass er sie als wesenhaften Bestandteil gegenwärtiger Gottes- und Rechtfertigungserfahrung qualifiziert, wobei seine kreuzestheologische Anthropologie voll zum Tragen kommt. Im Bezug auf die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde geschieht dies am Exponiertesten in der Abschiedspredigt aus Dortmund, wo er in der Retrospektive insbesondere auf jenen Pfingstgottesdienst des Jahres 1943 formuliert: „Gott hat uns viel genommen, aber indem er uns vieles nahm, gab er uns mehr, Gott hat den Weg zu ihm ganz freigelegt. Nun bleibt nichts anderes übrig als ER, der treue, barmherzige Gott, und wir, ganz auf ihn gewiesen, in uns ratlos und verlassen, an den Rand der Verzweiflung gedrängt, immer in der Entscheidung, entweder ihn anzuerkennen, von seinem Wort zu leben, in seinem Dienst zu handeln, oder im Nichts zu zerschellen. Das ist unser Reichtum, der neue Ansatzpunkt unseres Lebens. So dürfen wir auch von uns sagen, wie es die ersten Christen taten: Wir, die wir nichts haben und die doch viele reich machen (2Kor 6,10).“103
Die Krise der Selbstgewissheit und die Verlusterfahrungen auf Grund der Bombenangriffe werden hier aufgegriffen und ins Positive gewendet, indem eine Sichtweise darauf eröffnet wird, die in dieser Erfahrung eine Konkretisierung der totalen Abhängigkeit des Menschen von Gott und seinem Willen erkennt. In dieser Perspektive verbleibt das Erlebte nicht im Bereich von Sinnlosigkeit und Selbstzweifel, sondern erfährt in der Diktion der Demutstheologie eine neue Deutung als entscheidendes Element des von Gott gesetzten ordo salutis. Im Verhältnis zu dem bereits analysierten Lobpreis Gottes aufgrund seiner Errettung aus gegenwärtiger Bedrohung und seiner Verheißung einer künftigen Neuschöpfung wird das Handeln Gottes an dieser Stelle noch tiefer 101 Vgl. dazu Friedrichs Schilderung der Situation im Keller, wo im Unterschied zum Ineinander von Aktivität und Passivität in der klassischen Kriegssituation die volle Waffenwirkung von Zivilisten lediglich passiv erduldet wird. Für das Regime stellte diese Passivität ein großes Problem dar. Es sah sich veranlasst, der Bevölkerung die Aussicht auf Vergeltung ständig propagandistisch vor Augen zu halten, vgl. ders., Der Brand, 465. 102 Vgl. ebd., 503f. Die Berichte bei Friedrich werden bestätigt durch den mit der Situation vergleichbaren Erlebnisbericht Jan Philipp Reemtsmas über seine Entführung, in deren Verlauf er über 33 Tage in einem Keller eingesperrt war. Dort heißt es: „Im Keller wurde ihm [der Autor redet von sich in der 3. Person, Anm. d. Verf.] übrigens das mir schon längst theoretisch fragwürdige, aber historisch interessante Konzept des ‚Individuums‘ als der Vorstellung von einem Menschen, in dem irgend etwas Kontinuität und Festigkeit in allen Wechselfällen des Lebens verbürgt, zu einer gänzlich obsoleten Vorstellung. Mich hat ein freundlicher Brief erreicht, der diese Vorstellung thematisierte: Unter diesen Umständen ‚Individuum geblieben zu sein‘ sei besonders anerkennenswert. Wenn ich diese freundlichen Zeilen abwehre, so ist das keine Bescheidenheit, sondern nur Resultat der Selbstbeobachtung im Keller“, ders., Im Keller, 196. 103 NW III, 174.
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mit der Bedrohungssituation vermittelt, insofern es als sub contraria specie mitten durch das erfahrene Gericht hindurch sich vollziehendes aufgedeckt wird. Auf das Gottesverhältnis gesehen liegt der Zweck der gegenwärtigen Krisenerfahrung allein darin, den Weg zu ihm freizulegen. Auf die heillose Verzweiflung an sich selbst und seinen Möglichkeiten (desperatio diabolica) wird von daher eine Perspektive der heilvollen Verzweiflung an Gott (desperatio evangelii) freigelegt.104 Die Transformation der Unheilserfahrung in diesen Heilszusammenhang ist allerdings kein Automatismus, sondern stellt die Hörer vor die Entscheidung, die neue Sicht gegen die Widerstände im traumatisierten Ich anzunehmen. Dem trägt der Prediger in der dargestellten Polarität zwischen Empörung und Lob und dem unablässigen Werben um seine Hörer Rechnung. Durch das eschatologische Modell von der Auferweckung des Totenfeldes wird die Erfahrung der Fragilität des Selbstverhältnisses abermals modifiziert, indem die innere Unruhe und der Verlust von Selbstmächtigkeit dem In-Bewegung-Geraten des Totenfeldes durch das äußere Einwirken des Geistes analogisiert werden. Ist das Motiv der inneren Unruhe im Modell vom Bombenangriff Ausdruck von Angst auf Grund permanenter Bedrohung, so wird sie im eschatologischen Modell zum Ausdruck von Erwartung. Ihre Ursache ist das Rauschen und Wehen des Geistes (vgl. P 5,58), der „durch die Seele blitzt“ (P 5,145) und ankündigt, „daß etwas geschehen wird an euch und der ganzen Welt, daß […] der Gegenangriff beginnt […] von dem Geist, der der Menschen Herzen wendet“ (P 5,59–62). Am Deutlichsten tritt der Zusammenhang zwischen Luftkriegserfahrung und eschatologischem Bewusstsein im Herausfallen aus dem natürlichen Zeitrahmen zu Tage. Wir greifen dazu nochmals auf die Ausführungen von Friedrich zurück, der formuliert: „Im wirklichen Angriff wechseln die inneren Realitäten des Ich. Es fällt aus dem Zeitrahmen seiner inneren Uhr, rafft jetzt die Vorgänge zusammen und liegt mental hinter dem Angriffsablauf zurück.“105 Charakteristisch für das unmittelbare Erleben des Angriffes ist die totale Zentrierung auf den momentanen Zeitpunkt, auf den sich die lineare Zeiterfahrung zusammenzieht: „Es [das Ich, Anm. d. Verf.] steht gebannt im ‚Jetzt‘, das Vorher und Nachher entfallen. ‚Irgendwelche Gedanken habe ich nicht gehabt, nur: Jetzt, jetzt trifft’s uns.‘ […] Das ‚Jetzt‘ ist angstfrei. […] Das ‚Jetzt‘ ist der intensivste Austausch zwischen Waffe und Adressat.“106 Die geschilderte Zeiterfahrung ist für die Perspektivität eschatologischer Texte charakteristisch und wird von Iwand in mehrfacher Weise daraufhin modifiziert: Für die Retrospektive auf das eschatologische Pfingstgeschehen, 104 Bei dieser anthropologischen Zuspitzung erweist Iwand sich ganz als von Luthers theologia crucis abhängig. Vgl. dazu etwa den Beginn der 7. Resolution zu den Ablaßthesen, WA 1,540f: „Wenn Gott anfängt, einen Menschen gerecht zu machen, so verdammt er ihn zuvor, und wen er aufbauen will, den reißt er nieder, wen er heilen will, den schlägt er, wen er lebendig machen will, den tötet er, wie es 1 Sam 2,6f heißt: ‚Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Unterwelt und wieder heraus. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht.‘“ 105 Friedrich, Jörg, Der Brand, 491. 106 Ebd., 497f.
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die er am Ende der Predigt zum Trost für sich und seine Hörer einnimmt, lässt sich der mentale Sprung über den linearen Zeitlauf am deutlichsten nachvollziehen. Aber auch die Betonung der Jetzigkeit des Daseins und des Hierseins, die wir als Element des Modells von der versammelten Pfingstgemeinde analysiert hatten, ist dem zuzuordnen. Dies erhellt, wenn man beachtet, wie Iwand in anderen Predigten dem „mitten in der Auflösung der Zeiten“ stehenden „Heute“ eine besondere Affinität zur Ewigkeit zuweist107 und die Sensibilität der Hörer für den Augenblick schärft. Für unsere Predigt ist damit zu rechnen, dass die Hörer bei der wiederholten Nennung des „Rauschen[s]“ (vgl. P 5,58.116) das unmittelbare Erleben der Jetztzeit des Angriffs konnotieren.108 Entscheidend für die Umstrukturierung dieser Erfahrung ist, dass die Betroffenen ihre Konfrontation mit der Möglichkeit des plötzlichen Abrisses ihres eigenen Lebens und der sich angesichts dessen einstellenden existentiellen Krise als Anknüpfungspunkt für eine nicht mehr bei ihnen liegende Neuschöpfung begreifen. In diesem Sinne kommt dem gegenwärtigen Zusammenschmelzen aller Handlungsmöglichkeiten zu einer vollständigen Ohnmachtserfahrung die Funktion zu, sich einmal mehr vollständig auf denjenigen auszurichten, der sagt: „das ganze Geschehen ist in meiner Hand und die Tiefe des Todes ist nur der Anfang wunderbaren Lebens“ (P 5,69f). 6.4.5.3 Die Modifi kation der Wahrnehmung des Gemeinschaftsverhältnisses In unserem Umriss des usuellen Modells vom Erleiden eines Luftangriffes hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass Iwand in seiner Predigt auch die sozialen Folgen des Ereignisses in den Blick nimmt und dabei ein eigentümlich ambivalentes Bild zeichnet. Einerseits rechnet er damit, dass die Betroffenen mit dem Ausmaß des Leides völlig überfordert sind, resignieren und das zwischenmenschliche Zueinander der kollektiven Apathie zum Opfer fällt: „Darum läßt dann die Luft zu helfen nach, darum gibt es kaum noch Mitgefühl und Mitleid, die Not stumpft ab und das Bestreben, sich selbst zu retten, wird das einzige sein, was Tun und Lassen regiert“ (P 5,83–85).
Andererseits rechnet er damit, dass sich die Überlebenden in vertiefter Gemeinschaft zueinander finden und sich zu gegenseitiger Fürsorge und Hilfe aktivieren lassen. In diesem Sinne apelliert er an seine Hörer, dass sie sich angesichts ihrer wunderbaren Errettung dazu motivieren lassen sollen, „denen [zu] dienen […], die uns brauchen“ (P 5,10) und „andern [zu] helfen“ (P 5,13). Die Ambivalenz sozialen Verhaltens lässt sich wiederum sehr gut als Element des usuellen Modells vom Luftangriff identifizieren. So wurden die zermürbenden Folgen der permanenten Bedrohung in engen und dunklen Luftschutzräumen unter dem Schlagwort „‚Bunkerkoller‘“ subsumiert, wo107 NW III, 127. 108 Vgl. Friedrich, Jörg, Der Brand, 498: „Mit der Wahrnehmung des Rauschens ‚ist es grade, als wenn man die Luft anhält, die Hände an den Ohren, um den Schall abzudämpfen ‚jetzt, jetzt, jetzt kommt’s wieder‘.‘“
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nach wenige „dort zugebrachte Tage […] den da Wohnhaften stumpf, roh und gleichgültig“ machten und das Dasein verkommen ließen.109 Dies blieb aber nicht die einzige Reaktionsweise auf die schwierigen Umstände. Andererseits schweißten sie die Hausbewohner in den Luftschutzkellern zu Überlebensgemeinschaften zusammen, die in der Erfahrung von Verlust und Errettung aufs Engste miteinander verbunden waren.110 So finden sich zahlreiche Beispiele für die von Iwand in seiner Predigt beschworene humanisierende Wirkung der Notsituation. Die offizielle Rassenideologie des Regimes wurde dort durchbrochen, wo es darum ging, seinen Mitmenschen den gleichen Schutz zu gewähren. Hausbewohnerschaften setzten gegen den Luftschutzwart durch, dass Juden, denen nach offizieller Regelung der Zutritt verwehrt war, in den Luftschutzkeller aufgenommen wurden.111 Umgekehrt zeigten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene unermüdlichen Einsatz bei der Bergung Verschütteter. Mit den Keller- und Bunkergenossenschaften bildeten sich soziale Zellen heraus, deren Verhältnis zum offiziellen Regime einerseits durch zunehmende Distanz und Skepsis, andererseits durch Abhängigkeit gekennzeichnet war.112 Das in dieser Situation erfahrene Ineinander von Ohnmacht und Gemeinschaft hat in Iwands Predigt[en] einen derart starken Eindruck hinterlassen, dass er es zum Prototyp des Miteinanders innerhalb der christlichen Gemeinde modifiziert. Wie die Menschen in den Bunkern, so erfährt auch diese täglich ihre wunderbare Erhaltung in einem ihr feindlich gesonnenen äußeren Umfeld. Noch in der sieben Jahre nach Ende des Krieges gehaltenen Predigt über die Rückkehr des unreinen Geistes (Mt 12,43–45) beschreibt er ihr Wesen als Einbezogen-Werden in „seinen [Gottes, Anm. d. Verf.] geschützten und gesicherten Bezirk, in den der unsaubere Geist nicht einzubrechen vermag“113 und als Zusammenschluss von „wahren, schwachen, aber erlösten und geretteten Menschen“.114 Das Gemeinschaftsbewusstsein klingt auch in dem „Wir“ an, zu dem er sich und seine Hörer zusammenschließt und das er als Indiz einer „neuen Gemeinschaft“ (P 5,142f) sieht: „Wir sind vielleicht heute noch die letzten, aber wir werden die ersten sein“ (P 5,43f). Es handelt sich dabei keineswegs lediglich 109 Ebd. 405. Vgl. ebd.: „Jeder Ordnungs- und Reinlichkeitssinn schwindet. Früher gepflegte Menschen waschen, kämmen, rasieren sich tagelang nicht, die Kleidung verlumpt. Mütter vernachlässigen ihre Kinder, Männer kehren sich brachial gegen schutzsuchende Frauen. Niemand bereitet sich ein Essen zu, man läßt sich von der Volkswohlfahrt ernähren und klagt über den faden Geschmack. Siebzig Prozent der Bunkerinsassen leiden an der ‚Bunkerkrankheit‘, der Krätze, weit und breit fehlen Entlausungseinrichtungen.“ 110 Vgl. ebd., 410f. 111 Vgl. ebd., 403f. 112 Vgl. ebd., 371: „Bombenkrieg fesselt an den Staat. Als Staat organisiert das NS-Regime das Überleben, als Regime organisiert es den Terror gegen die Kapitulanten. So schützt es sich selbst, dem die Souveränität über sein Territorium schon halb entschwunden ist. Zwischen Bombenterror und Regi meterror besitzt die Bevölkerung keine Wahl, als ihre Haut vor beidem zu retten.“ Ebd., 392: „Der Bunker ist der Ort des ‚wir‘. Mit nicht vielen Worten, weil die Gestapo zuhörte, verständigte das ‚wir‘ sich über die Lage.“ 113 P 2,178f. 114 P 2,181f.
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um ein manipulatives rhetorisches Gestaltungsmittel,115 sondern es ist vielmehr Ausdruck echter Schicksalsgemeinschaft.116 Entscheidend für die Umstrukturierung des Bildes von neuer Gemeinschaft ist, dass der Prediger jene allein aus der Notsituation geborene affektive Zuwendung zum Nächsten,117 die sich nicht aus zuvor gefassten Maximen und Anschauungen gewinnt, als neue Humanität bestimmt, in der der Geist der göttlichen Liebe seine Wirksamkeit entfaltet (vgl. P 5,13). In der Predigt über die Rückkehr des unreinen Geistes beschreibt er die Solidarität der Bedürftigen als direkte Folge davon, wie sich die Menschen angesichts der Bedrohung ihres Lebens neu entdeckten: „Es gab vielleicht ein paar Augenblicke, in denen wir aufatmeten […], wo wir uns auf einmal als Menschen entdeckten – eben in den Stunden der tiefsten Angefochtenheit, eben da, wenn uns deutlich wurde, daß wir nicht Richter sind, sondern die aus Gnaden gerechtfertigten Sünder“.118 „Auf einmal befinden wir uns mitten drin in unserer wahren, schmerzlichen, aber eben doch ganz und gar nicht hoffnungslosen Menschlichkeit.“119
Damit werden die im letzten Abschnitt analysierten Züge jener kreuzestheologischen Ungleichzeitigkeit mit sich selber in das Gemeinschaftsverhältnis übertragen (vgl. Mt 25,37–39), stellt letztere sich doch zusammen mit der Erkenntnis mitten im allgemeinen Untergang in die Gegenwart Gottes versetzt zu sein und ebenso unverrechenbar wie diese ein. Innerhalb des eschatologischen Modells von der Auferweckung des Totenfeldes wird das Ineinander von Ohnmacht und Gemeinschaft in der Gemeinde dadurch modifiziert, dass es universell entgrenzt wird. In dieser Perspektive kommt das Hoffnungspotential der Predigt am stärksten zum Tragen. Das Bild von einer durch den Geist Gottes zu „einer neuen Menschheit, zum Volke Gottes, zu dem wahren Volk Israel“ (P 5,63f) gewendeten Gemeinschaft lässt das kritische Potential der Predigt gegenüber dem durch das Naziregime beschworenen Gemeinschaftsgeist deutlich zu Tage treten. Trägt der Prediger doch unüberhörbar seine Sehnsucht nach Frieden (vgl. P 5,62f) darin ein, hebt hervor, dass es sich um keine nationale, sondern die Völker Europas (vgl. P 5,117) und „überall in der Welt“ (P 5,137) umfassende Gemeinschaft handelt und stellt deren expliziten Bezug zum im Zeitgeist negativ konnotierten „Volk Israel“ (P 5,64) her. Entscheidend für die Hörerschaft ist die Aussicht, dass es sich dabei um eine Lebende und Tote umfassende Gemeinschaft handelt, innerhalb derer die ge115 Vgl. Engemann, Wilfried, Einführung, 54. 116 In diesem Sinne formuliert Iwand etwa in der Silvesterpredigt des Jahres 1944: „Vieles, wenn nicht das meiste von dem, was uns, jeden für sich, am Jahresende diesmal bewegt, ist Einzelschicksal und Gesamtschicksal zugleich. Selten wird es eine Zeit gegeben haben, in der das allgemeine Geschehen so weitgehend und so stark das Einzelleben bestimmte wie jetzt“; NW III, 126. 117 Vgl. Friedrich, Jörg, Der Brand, 502f. 118 P 2,233–237. 119 P 2,146f.
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genwärtige gemeinschaftszerstörende Macht des Todes aufgehoben sein wird (vgl. P 5,130–135). Auf die Situation der im gegenwärtigen Gottesdienst versammelten Gemeinde wird dieses Bild zurückgewendet, indem der Prediger „die Gemeinde Gottes“ und „die Kirche des Glaubens“ (P 5,127) als Zentrum jener Vision bestimmt und dadurch eine Perspektive auf das gottesdienstliche Geschehen eröffnet, innerhalb derer sie sich als „Vortrupp einer neuen Zeit“ zu verstehen lernt (P 5,42). .. Zusammenfassung Zur Bestimmung des konkreten mentalen Bildes, das die Predigt aufgrund der Kombination der drei usuellen Modelle bei den Hörern auslöst, lassen sich folgende drei Züge benennen: – Durch das Aufgreifen der Tendenz zur Gottesverneinung angesichts der Vernichtungssituation und deren zweifacher Modifi kation innerhalb der anderen beiden Modelle eröffnet die Predigt eine Perspektive, die den Hörern den Schluss nahe legt: Inmitten der allgemeinen Zerstörung hat Gott gehandelt, handelt er jetzt an uns und wird er an uns handeln zu unserem Heil. – Mittels der Anknüpfung an die durch die Angriffserfahrung bedingte Fragilität des individuellen Selbstverhältnisses der Betroffenen und deren zweistufiger Modifi kation eröffnet der Prediger ihnen eine Perspektive auf sich, die den Schluss nahe legt: Gerade in der Fragilität unseres Selbstverhältnisses will Gott den Weg zu sich freilegen und handelt an uns unter kreuzestheologischer Signatur. In unserer Verzweiflung an uns selbst kündigt sich bereits der Übergang zu einem neuen Sein an, das sich ganz aus der Initiative Gottes empfängt. – Das Aufgreifen des Ineinanders von Ohnmacht und Gemeinschaft als dem Ausgangsmodell zuzuordnendes Verhaltensmuster und dessen zweistufige Modifi kation eröffnet der Gemeinde eine Perspektive auf sich, die den Schluss nahelegt: In unserer aus der Bedrohung zusammengewachsenen Gemeinschaft ist der Geist der Liebe Gottes wirksam. Sie wird sich als Beginn einer universalen Gemeinschaft zwischen den Völkern und einer neuen Humanität erweisen, aus dem Ausblick auf die uns die gegenwärtige Bedrängnis jetzt schon erträglicher werden kann. Zusammenfassend lässt sich das vom Prediger angewandte Verfahren der Bildmodifi kation als eine Art „Überblendtechnik“ beschreiben, mittels derer er die Festlegung von Bildelementen (äußere Zerstörung/Fragilität des Selbst/ Ohnmacht) auf ihre eindeutig negative Bedeutung im Lebens- und Leidenszusammenhang seiner Hörer verhindert. Anstatt Bilder des Schreckens und der Verzweiflung zu monosemieren, werden sie durch ihre Integration in verschie267
dene Bezugsrahmen offen gehalten für eine völlig unerwartete Wendung zum Heil. Einzelne Konkretisierungen erhalten auf diese Weise unterschiedliche Funktionen. Im Licht der biblischen Verheißung wird den Hörern eine Sichtweise auf ihre Lebenswelt eröffnet, die nahe legt, dass die augenscheinliche Zerstörung nicht die ganze Wahrheit ist und nicht das letzte Wort hat.
. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz – Analyse zur Predigt über Ps ,f .. Die gewandelte Situation in der Predigt des Jahres Zwischen der Dortmunder Pfingstpredigt und der im Folgenden zu analysierenden Predigt über Ps 51,12f liegt ein Zeitraum von sechzehn Jahren, innerhalb dessen Iwand von der Kanzel auf das Katheder gewechselt und als akademisch-theologischer Lehrer zunächst in Göttingen und ab 1952 in Bonn tätig war. Die Predigt hielt er am 21. Juni 1959 im Bonner Universitätsgottesdienst. Gegenüber den in seiner Dortmunder Gemeinde gehaltenen Predigten lässt sie eine gänzlich gewandelte Atmosphäre erkennen. So ist der Situationsbezug hier sehr viel offener gestaltet und sehr viel weniger auf die Gemeinde vor Ort zugespitzt. Er setzt an bei allgemein-menschlichen Erfahrungen bzw. innerseelischen Vorgängen, die für die Mentalität in jener Zeit durchaus typisch sein dürften. Eine Bezugnahme auf die Hörer vor Ort, bei denen es sich zum Teil um Iwands Studierende gehandelt hat, stellt allenfalls das Bild vom jungen „Krieger“ dar, der „noch am Anfang des ganzen Lebensweges“ steht und „doch schon etwas ahnt“ (P 6,19f) von dem, was der Prediger entfaltet. Freilich verrät dieses Bild auch etwas von der Distanz, in der sich Iwand mit seiner eigenen Erfahrung den Hörern gegenüber sieht. Beachtet man die biographische Situation Iwands zu jener Zeit, so legt sich der Eindruck nahe, dass die für die Predigt zentrale Modellierung der Todesnähe in hohem Maße davon bestimmt ist. Seit Ende des Wintersemesters wurde er verstärkt von Depressionen heimgesucht, von denen er in Briefen an die befreundete Gräfin Kanitz und an Karl Barth Zeugnis ablegt: „[…] das Schlimmste war eine schreckliche geistige Müdigkeit … Ich denke, daß es damit zusammenhängt, daß wir alles, was wir versucht und getan haben, umsonst getan haben. […] Es ist so, als ob nun wirklich das Gesetz des Alterns groß über mir würde … Aber es ist auch die Einsamkeit und der Misserfolg. […] Es war alles leer. Wie wenn ein Brunnen bis auf den letzten Tropfen ausgeschöpft ist. […] es schmeckt einem das ganze Leben nicht mehr.“120 Stellen diese Äußerungen einen Vorgeschmack auf den weniger als ein Jahr später eingetretenen Tod Iwands in Folge eines Schlaganfalls dar, so handelt es sich bei der Predigt 120 Zitiert nach Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 569.
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über Ps 51,12f auch um eine sehr persönliche Predigt, ohne dass der Prediger dies direkt erkennen lässt. .. Binnengliederung und Themenentfaltung Stärker noch als die Predigt über Ez 37,1–14 zeichnet sich die über Ps 51,12f durch eine „zweigliedrige[n], antithetische[n] Disposition“ aus.121 Sie wird bereits in der knappen szenischen Gegenüberstellung des ersten Satzes formuliert: „Mitten unter all denen, die je und je zu Gott gerufen haben, steht hier einer, der bittet: Schaff in mir, Gott ein reines Herz!“ (P 6,1f)
Mit der unbestimmten Vielheit derer, die sich im Gebet zu Gott wenden, und der Stimme des Predigttextes führt der Prediger Bilder zweier Wirklichkeiten ein, die im Verlauf der Predigt in ihrer Eigenart bestimmt und gegeneinander profi liert werden. Maßgeblich sind dabei die Gegensätze zwischen oben und unten, innen und außen. Es handelt sich einerseits um die Unheilswirklichkeit des menschlichen Herzens in Anschauung seiner selbst, andererseits um die christologisch vermittelte göttliche Heilswirklichkeit, die zu ersterer in Gestalt der fremden Stimme des Gebetes hinabsteigt und sich ihrer annimmt. Als thematischer Kern der Predigt lässt sich die Aussage bestimmen: Angesichts der Angefochtenheit, Todesverfallenheit und Verlorenheit, die unsere Gebete offenbaren, gilt es entschlossen die in dem Psalmgebet indizierte, außer uns realisierte Wirklichkeit zu ergreifen und sich daraus neu zu empfangen. Der thematische Kern wird in zahlreichen Anläufen entfaltet. Wir schlagen eine Untergliederung der Predigt in Einleitung, Hauptteil und Schluss vor, wobei sich unter diesem Gesichtspunkt Parallelen zum Aufbau der Predigt über Ez 37,1–14 ergeben: – Im Einleitungsteil (P 6,1–43) wird der Grundkonflikt jeweils in zwei Bildern modelliert, von denen das erste durch die Erfahrung der Todesverfallenheit, das letzte durch die göttliche Heilswirklichkeit dominiert ist. – Im Hauptteil (P 6,44–113) kommt der Schilderung der Bedingungen, unter denen sich die göttliche Heilswirklichkeit bei den Hörern realisiert, eine zentrale Bedeutung zu. In der Predigt über Ps 51,12f verwendet der Prediger zudem einen Großteil seiner Darstellung darauf, die Hörer über illusionäre Realisierungsversuche ihrerseits aufzuklären. – Schließlich peilt der Prediger am Schluss (P 6,114–136) jeweils eine Erfüllungsperspektive an, in der die Überwindung des Konfliktes durch das Handeln Gottes angedeutet wird. – Der weit ausladende Einleitungsteil (P 6,1–43) beginnt damit, dass die menschliche Gebetswirklichkeit in einem kollektiven Bild vom zum Him121 Ueding, Gert, Rhetorik, 59f.
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mel schreienden „Herz der Menschheit“ (P 6,5) modelliert (P 6,2–25) und ihm die in die Tiefe hinab steigende Stimme des Gebetes als Stimme Gottes entgegengestellt wird (P 6,26–43). Auf diese Weise entwirft der Prediger das Gesamtbild von einem heilsdramatischen Geschehen, in dem eine anabatische und eine katabatische Bewegung aufeinander bezogen sind. Die Pointe des Geschilderten liegt darin, dass die nüchterne Diagnose (vgl. P 6,5f) der dem „Herz der Menschheit“ entspringenden Äußerungen ein hoffnungsloses Bild der Not und Verzweiflung zeigt, dass unter der Bestimmung eines „gänzliche[n] Verstummens“ (P 6,24) in einer umfassenden Todeswirklichkeit steht. Entbirgt die isolierte Betrachtung der von unten ausgehenden Bewegung eine unüberbrückbare Kluft zwischen Bedürfnis und Erfüllung, so bedeutet der Eintritt „dieses Gebet[s]“ (P 6,26) in den Unheilszusammenhang der Gebete eine unerwartete, zur Hoffnung Anlass gebende Wende. Die einem anderen Wirklichkeitszusammenhang entspringende, „hinabgestiegen[e]“ (P 6,32f) Bitte um Schaff ung eines reinen Herzens steht unter der Signatur der Totenauferstehung und eröffnet den unten Stehenden einen neuen, aus ihrer Perspektive ganz und gar unwahrscheinlichen Erwartungshorizont. Der Prediger versetzt sich und seine Hörer zunächst in die Position von äußeren Betrachtern des Geschehens, deutet dabei aber bereits an, dass er/ sie Teil jenes Unheilszusammenhanges sind, indem er auffordert „bei uns selbst ein[zu]kehren“ (P 6,9f). Am Ende der Einleitung vollzieht er die direkte Identifi kation des todesverfallenen Herzens mit der „Mitte meines Lebens“ (P 6,41) und steigert die Dramatik dadurch entscheidend. Spätestens von da ab ist für die Hörer klar, dass das Geschehen sie in ihrem eigenen Inneren betrifft: „Das müsste geschehen, wenn mir geholfen werden könnte“ (P 6,43). Als Ort gegenwärtiger Realisierung fügt er der Entfaltung der Todesverfallenheit das Bild eines das Schlachtfeld betretenden jungen Kriegers ein, der beim Anblick der Toten ahnt, was ihm bevorsteht (vgl. P 6,17–22). Dieses Bild bleibt zugleich das einzige in der gesamten Predigt, mit dem er auf das Lebensumfeld seiner Hörer direkten Bezug nimmt. Im Übrigen ist sie ganz von biblischer und traditionell-christlicher Sprache bestimmt. – Nach der elenchtischen Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen dem Verfallsgeschehen und meiner/unserer eigenen Lebensgeschichte wendet der Prediger sich im Hauptteil (P 6,44–113) den Hörern in einer um sie ringenden Bewegung direkt zu und entfaltet diese in zwei größeren Anläufen. Dabei werden der Weg, der zur Rettung und der Weg, der in die Irre führt, jeweils in hartem Kontrast gegenübergestellt. Das homiletische Problem, mit dem sich der Prediger auseinandersetzt, besteht darin, dass er das sich und seinen Hörern am unmittelbarsten Vertraute als Ort heilloser Verzweiflung und die demgegenüber fremd und äußerlich anmutende Stimme des Gebetes als exklusiven Ort der Abhilfe zu profi lieren sucht: 270
– In diesem Sinne wirbt er im ersten Anlauf (P 6,44–62) eindringlich darum, als Konsequenz aus dem Geschauten aus sich herauszugehen und die „fremde Stimme“ (P 6,52) zu ergreifen, nachzusprechen und nachzubeten. Wo das äußere Wort in einem solchen gewagten Akt ergriffen wird, da ist der Übergang vom Tod zum Leben vollzogen (vgl. P 6,57–59). Die dem entgegen gesetzte Bewegung ist der Versuch einer Selbstreinigung (P 6,62–75) mittels des Rückzuges auf die vermeintlich „reine, wahre, heilige Innerlichkeit“ (P 6,70). Letztere wird schonungslos als unreine Quelle aufgedeckt, aus der alle Bedrängnisse und Nöte der menschlichen Seele aufsteigen. Sie gehört ganz auf die Seite der Todesverfallenheit und eröffnet keinen Weg zur Erneuerung. – In einem zweiten Anlauf (P 6,76–113) konkretisiert der Prediger sein Werben um die Hörer dadurch, dass er „die Heilige Schrift“ (P 6,81) als äußeren Ort benennt, an dem die Stimme des Gebetes in mannigfaltigen Variationen zu hören und an die herangeführt zu werden die „beste und hilfreichste Erkenntnis […] in diesem Ablauf unserer Lebensbahn“ (P 6,77f) ist. In der Schrift wird dem in die Irre gehenden Streben nach Selbstreinigung die menschlicher Hilflosigkeit zuvorkommende Gnade Gottes entgegengesetzt. Sie zeigt, dass das Gegenüber von Ohnmacht und Hilfe, Sünde und Gnade, Tod und Leben, wie es in der Einleitung entfaltet wurde, das dem Menschen angemessene Verhältnis zu Gott ist. Unser „ganz und gar in sich selbst versunkenes Leben“ (P 6,99f) steht in seiner Bedrängnis unter der Bestimmung „Stätte des Handelns, der Gnade, der Wunder des lebendigen Gottes“ (P 6,100f) zu werden. Angesichts dessen lenkt der Prediger abermals den Blick zurück auf die vermessene Erwartung, mit sich selber ins Reine zu kommen (P 6, 103–113), und weitet die Perspektive darauf aus, dass auch der tröstende zwischenmenschliche Austausch von innerer Not und Bedrängnis nicht vollständig zu befreien vermag. Im Horizont des Todes sieht sich vielmehr jeder für sich in eine letzte unüberwindliche Einsamkeit gestellt. – Der äußeren Realisierung des Heils in der Schrift stellt der Prediger am Schluss (302,34–303,24 P 6,114–136) als dem korrespondierende subjektive Haltung die eines radikalen Absehens von sich selber und des Hinsehens auf das dort dargelegte Handeln Gottes zur Seite. Wie am Anfang der Predigt beschreibt er dabei zunächst aus der Perspektive des distanzierten Betrachters, was ein reines Herz ist (vgl. P 6,117–124: „Ein reines Herz – das heißt eben dieses: […]“), um sich und seine Hörer sodann in die letzteres charakterisierende Bewegung einzuschließen (vgl. P 6,124–136: „Dann schauen wir Gott. […]“). In der das Vertrauen auf die eigenen Kräfte preisgebenden Gottesschau wird das menschliche Herz seinerseits zum Spiegel Gottes und es erfüllt sich die Bitte des Gebetes.
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.. Die mentalen Modelle der Predigt Entsprechend der zweigliedrigen, antithetischen Disposition der Predigt lassen sich die einzelnen Bildelemente, die der Prediger in ihrem Verlauf aufruft, zunächst zwei mentalen Modellen zuordnen. Es handelt sich einerseits um das Modell vom verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott, andererseits um das Modell vom Nachsprechen eines (Psalm-)Gebetes. Im weiteren Verlauf der Predigt kommen noch zwei weitere hinzu, die sich als Modell von der Einkehr bei sich selbst und von einem Doxologischen Gebet benennen lassen. Alle vier Modelle sollen wiederum zunächst in ihrem offenen Modellcharakter umrissen werden, um sodann ihre Konkretisierung in der Predigt zu verfolgen. 6.5.3.1 Das Modell vom verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott In Anlehnung an das bereits bekannte idealtypische Ordnungsschema lassen sich für dieses Modell folgende Leerstellen ausmachen: Ort und Zeit des Geschehens sind unbestimmt. Typische Umstände sind eine äußere und/oder innere Notsituation, die in ihrer ganzen Schärfe offenbar wird, wo der Einzelne isoliert in den Blick kommt. Das Rufen ist Ausdruck von Mangel und Entbehrung, deren Beseitigung durch die Wendung nach außen, an eine höhere Instanz erwartet wird. Insgesamt handelt es sich um eine von der Normalität des Alltags abgehobene Krisensituation. Beteiligte Personen sind der/die Beter. Als typischer Ablauf lässt sich die anhaltende Aktivität eines dringlichen Bittens und Flehens benennen, die dort zum Ziel kommt, wo das erbetene Gut erlangt wird. Ursache sind alle denkbaren Not- und Mangelsituationen, Wünsche und Erwartungen. Als Modus lässt sich die Dramatik des Vorgangs auf Grund der gesteigerten Aktivität des Bittens festhalten. Die Glaubwürdigkeit des Geschehens ist hoch, handelt es sich doch um eine allgemein-menschliche Situation. Sie wächst darüber hinaus durch die Häufung von kollektiven und individuellen Krisen- und Mangelerfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seiner Predigt ruft Iwand das Modell gleich zu Beginn auf. Im Anschluss an die Gegenüberstellung des ersten Satzes und die erstmalige Zitation der für die Predigt zentralen Bitte von Ps 51,12a lenkt er den Blick zunächst auf die unbestimmte Vielheit derjenigen, „die je und je zu Gott gerufen haben“ (P 6,1) zurück, um deren Situation Schritt für Schritt näher zu bestimmen. Der Abschnitt lässt sich fünffach untergliedern: „[a1] Was für Gebete sind zum Himmel gestiegen, steigen dorthin empor, Gebet um Heil und Wohlergehen, um ein ruhiges Leben, um Glück und Reichtum, um Erkenntnis und Freiheit. [a2] Wenn wir alle einmal das Ohr an das Herz der Menschheit legen könnten, um zu hören, was von dort zum Himmel schreit, wie viel Begierde, wie viel Verzweiflung! [b] Und wir brauchen dazu nicht unser Ohr nach draußen zu richten, nicht jene Stimmen zu erlauschen, die dort zu vernehmen waren oder sind, wir hören ein wenig von der Vielfalt solcher Stimmen, wenn wir bei uns selbst einkehren.
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Was für Wünsche, was für Hoffnungen – aber auch was für Klage der Not und Verzweiflung steigt von da auf! [c] Und wenn gar nichts mehr zu vernehmen ist, kein Rufen, kein Bitten, kein Verlangen, aber auch kein Verzweifeln, dann wissen wir es wohl: hier ist der Tod eingezogen. Hier ist alles still und leer geworden. Hier hat ein Herz es endgültig aufgegeben, sich noch rufend, bittend, flehend, vielleicht auch klagend und anklagend, murrend und hadernd an den zu wenden, auf den hin es geschaffen ist. Hier ist alles leer. [d] Ach, meine Freunde, wir kennen doch wohl etwas davon und wenn wir noch am Anfang des ganzen Lebensweges stehen, so kennen wir es wie ein junger Krieger, der doch schon etwas ahnt von dem Grauen des Schlachtfeldes, das er betreten hat, der sieht, wie sie da liegen, die Erschlagenen, die innerlich Toten, die nicht mehr reden, beten, flehen, rufen – zu ihrem Gott. [e] Und laßt mich darum eins am Anfang sagen: Schlimmer als alles Hadern, schlimmer als alles Fragen und Zweifeln, schlimmer als das lauteste und furchtbarste Nein ist eben doch dieses gänzliche Verstummen, dieses: wenn unser Herz wird wie eine klingende Schelle und ein tönendes Erz!“ (P 6,2–25)
Der Prediger entfaltet das Bild sukzessiv und steigert seine Dramatik von Satz zu Satz. Dies gilt zunächst für die Benennung der beteiligten Personen: Handelt es sich am Anfang um eine unbestimmte Vielheit, die offen ist für alle möglichen Gebetssituationen [a1], so wird diese im folgenden Satz im „Herz der Menschheit“ personifiziert und auf die Gestalt eines einzelnen Beters verdichtet [a2]. Der Prediger modelliert eine individuelle Erfahrung, die für ihn jedoch zugleich eine allgemein-menschliche ist. Dabei wird er an späterer Stelle die Vereinzelung als entscheidendes Moment besonders hervorheben (vgl. P 6,102–113). Im darauf folgenden Satz [b] werden die Hörer auf ihre eigene Erfahrung zurückgewendet. Letztere wird in das Bildgeschehen einbezogen (vgl. P 6,17f) und die Position des distanzierten Beobachters dadurch aufgegeben. Sie werden darauf vorbereitet, dass das Geschilderte „die Mitte meines Lebens“ (P 6,41) betrifft . Eine sukzessive Klärung des Bildes lässt sich auch hinsichtlich der Umstände verfolgen: Sind diese bei der Nennung der verschiedenartigen Gebetsanliegen [a1] noch völlig unbestimmt, so werden sie im darauf folgenden Satzgefüge konkretisiert. Das Bitten entbirgt eine innere Haltung der Begierde und Verzweiflung. Statt von ihrem Emporsteigen zum Himmel [a1] ist nun vom Schreien die Rede [a2]. Es entsteht ein Negativgefälle hin zur „Klage der Not und Verzweiflung“ [b]. Entscheidend für die Modifi kation des Bildes ist jedoch, dass das Nachsinnen über die Gebetsaktivität unvermittelt in die klinische Konstatierung des plötzlich eingetretenen Todes des bittenden Herzens umschlägt [c]. Die schockierende Wirkung dieser plötzlichen Wende erhellt besonders, wenn man beachtet, wie der Prediger damit den typischen Ablauf modifiziert: Die durch den erwarteten Zusammenhang von Bedürfnis und Erfüllung motivierte und auf Gott gerichtete Bewegung wird unterbrochen, indem der Tod als unvorhergesehene Größe dazwischen tritt. Die Aktivität und Vitalität des 273
dringlichen Bittens weicht einer totalen Passivität und Stille, die nicht etwa dadurch bedingt ist, dass das erbetene Gut erlangt wird, sondern dadurch, dass die Lebensenergie verbraucht ist. Dabei kommt der Tod nicht lediglich als ein physisches Phänomen, sondern vor allem als ein innerer Zustand der Leere (vgl. P 6,17.20–22) und Sprachlosigkeit (vgl. P 6,24) in den Blick. Den Übergang von Vitalität zu leblosem Verstummen, Lebendem zu geistloser Materie, hatten wir bereits für die Modellierung des Totenfeldes von Ez 37,1–14 analysiert. Die Parallele zwischen dem dortigen Bild der kollektiven Apathie und der verstummenden Gebetstätigkeit wird noch deutlicher, wenn man beachtet, wie Iwand im weiteren Verlauf seiner Predigt den innerseelischen Verfall als Mineralisierung des Vitalitätszentrums darstellt. Das menschliche Herz erscheint dabei als „vertrocknete Scherbe“ (P 6,40f), „harter Stein“ (ebd.), „ein durch nichts mehr zu erweichendes Etwas“ (ebd.), „steinerne[s] Herz“ (P 6,59f) und Ursprungsort von allerlei „Geröll“ (P 6,71). Bei den derart geschilderten Gemütszuständen stehen offensichtlich ähnliche Krisenerfahrungen wie die der ausgebombten Menschen im Hintergrund, die er mittels Bildern vom „Herz aus Stein“, von Härte und Leblosigkeit, „Eiseskälte“ und erlöschendem Pulsschlag modelliert hatte.122 Anders als in der Predigt über Ez 37,1–14 ist die Modellierung der menschlicher Todesverfallenheit hier allerdings weitaus offener und weniger an das unmittelbare Alltagsgeschick der Ortsgemeinde gebunden. Dies zeigt sich besonders am Bild vom „Grauen des Schlachtfeldes“, das Iwand zur Konkretisierung des plötzlichen Umschlages vom Leben zum Tod und des Verstummens jeglicher Selbstäußerung [d] einführt. Möglicherweise greift er damit auch auf individuelle Erfahrungen von sich und seinen Hörern zurück (vgl. P 6,17f: „wir kennen doch wohl etwas davon“).123 Vor allem ist das durch die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges geprägte Bild jedoch durch seine konnotative Aura, die in die zeitgenössische bildende Kunst, Literatur, exis122 P 5,70–121. 123 Iwand ist, obwohl 1918 noch zum Kriegsdienst einberufen und nach Frankreich verlegt, im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Front nicht mehr zum Einsatz gekommen. Allerdings war er an den sich unmittelbar anschließenden Kämpfen zwischen Deutschen und Polen samt der Erstürmung des Annaberges beteiligt. Die dort gesammelten Eindrücke hinterließen bei ihm eine Mischung aus Faszination und Untergangsstimmung, die sich in der begeisterten Lektüre von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und den Schriften Ernst Jüngers intellektuell formte; vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 10f.21.25. Erst unter dem Eindruck der entfesselten Vernichtungssituation in den Luftangriffen auf Dortmund schlug bei ihm das Pendel gänzlich von der existentialistischen Kriegsbegeisterung zur Realisierung der nihilistischen und dehumanisierenden Folgen des modernen Krieges um, und er wurde zum engagierten Gegner von Wiederbewaffnung und Aufrüstung; vgl. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand, 11. Von daher resümierte er in einer Göttinger Vorlesung aus dem Jahre 1949/50: „Die Generation, die wachen Sinnes den ersten Weltkrieg durchlebte, deren bürgerliche Lebens- und Denkformen durch die Begegnung mit dem Tode […] zersplitterten, […] war sich […] bewußt, daß irgendwie das vorangegangene Jahrhundert ‚zu Ende‘, daß der Krieg wie eine Erlösung aus der zunehmenden Langeweile war, die sich um die Jahrhundertwende in alle geistigen Bezirke ausdehnte – endlich kommt es zur Begegnung mit dem Leben. […] Sie ‚erlebt‘ ihn [den Krieg, Anm. d. Verf.] noch, zum mindesten zuerst, ehe er sein ‚modernes‘, sein ‚technisches‘, sein ‚amerikanisches‘ Gesicht enthüllt“; NW III N. F.,350f. Die Verwendung des Bildes vom „Grauen des Schlachtfeldes“ in unserer Predigt ist demgegenüber ein Beleg dafür, dass Iwand den Krieg nicht mehr als die Intensität des Daseins steigerndes Erlebnisfeld ansieht, sondern ihn ganz von seiner destruktiven Seite her in den Blick nimmt.
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tentialistische Philosophie und Theologie ausstrahlte und dort einen tief greifenden Wandel des kulturellen Bewusstseins bewirkte, wirksam geworden.124 Unter dem Eindruck der Weltkriegserfahrungen setzte sich ein überwiegend pessimistisches, von nihilistischen Zügen dominiertes Menschenbild durch, in dem die Existenz vor dem Abgrund „der Leere und der Sinnlosigkeit“,125 als Vorlaufen zum Tod126 und als bestimmt durch „Grenzsituationen“127 wahrgenommen wurde. Iwand macht sich diese Wende in seiner Wahrnehmung der menschlichen Situation zu eigen und spiegelt sie in die Modifi kation des Bildes vom Rufen des Beters zu Gott hinein. Vor diesem Horizont erweitert sich angesichts des Abbruchs der von unten her gestalteten Gottesbeziehung durch das Dazwischentreten des Todes die individuelle Krise zu einer Krise des schöpfungsmäßigen Gottesverhältnisses überhaupt (vgl. P 6,16f.21f). Die am Anfang der Bildentfaltung auftretende Frage nach dem subjektiven Zusammenhang von Bitte und Erfüllung wird durch die einschneidende Modifi kation zur kritischen Frage nach dem Dasein Gottes und dem Sinn des Gebetes radikalisiert. Diese Umstrukturierung wird in dem Summarium am Ende [e] nochmals hervorgehoben, indem als zentrales Problem nicht mehr das „Hadern, […] Fragen und Zweifeln“, sondern das „gänzliche Verstummen“ jeglicher Lebensäußerung genannt wird. 6.5.3.2 Das Modell vom Nachsprechen eines (Psalm-)Gebetes Die offene Modellszene lässt sich folgendermaßen umreißen: Zeit und Ort des Geschehens bleiben unbestimmt (mit der Einschränkung, dass die Psalmengebete ihren festen Ort im liturgischen Vollzug des Gottesdienstes haben). Typische Umstände sind eine schriftbezogene, durch Tradition vermittelte, individuell oder kollektiv ausgeübte Frömmigkeitspraxis. Neben einem Beter ist dabei das Gegenüber einer äußeren Quelle sowie die Bereitschaft sich ihr zu öffnen und auf sie zu hören konstitutiv. Beteiligte Personen sind der/die Beter. Der typische Ablauf ist im Unterschied zu den Gebeten im ersten Modell in zwei Phasen zu zergliedern: Es handelt sich nicht um eine spontane, unmittelbare Selbstäußerung, sondern am Beginn steht das Hören auf die äußere Quelle und daraufhin erfolgt das Nachsprechen. Entsprechend ist der Anlass des Geschehens nicht ein innerer Beweggrund, sondern das Befasstwerden mit der äußeren Quelle. Als Modi des zweiphasigen Ablaufs lassen sich zunächst 124 Vgl. dazu H. Zahrnts biographische Erläuterungen zum Werden der Theologie Paul Tillichs: „Was Tillich im Ersten Weltkrieg – vier Jahre als Militärpfarrer an der Westfront – erlebt hat, ist der Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur und des Lebensstils des 19. Jahrhunderts […]. Tillich meinte für dieses Erleben sogar ein genaues Datum angeben zu können. Er erinnert sich an eine Nacht von Verdun, in der er im Trommelfeuer zwischen den Sterbenden umherirrte und schließlich erschöpft zwischen den Toten einschlief. ‚Als ich erwachte, sagte ich mir: ‚Das ist das Ende der idealistischen Seite meines Denkens!‘ In dieser Stunde begriff ich, daß der Idealismus zerbrochen war.‘ An die Stelle des idealistischen Strebens des 19. Jahrhunderts trat die Existenz in Verzweiflung und Angst im 20. Jahrhundert, an die Stelle des Bewußtseins eines ständigen Fortschritts das Gefühl einer permanenten Krise“; Zahrnt, Heinz, Die Sache, 328f; zitiert nach Tillich, Paul, Auf der Grenze, 39. 125 Tillich, Paul, Der Mut, 37. 126 Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, §§ 47ff. 127 Jaspers, Karl, Einführung, 20.
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Passivität und Empfänglichkeit ausmachen, die in eine Aktivierung durch das Nachsprechen des Gebetes übergeht. Die Glaubwürdigkeit des Geschehens ist hoch, handelt es sich doch um einen Vorgang, der den Hörern vom sonntäglichen Gottesdienst, aber auch durch religiöse Erziehung (Konfirmandenunterricht) vertraut ist und der einer verbreiteten individuellen Frömmigkeitspraxis entspricht. In seiner Predigt entfaltet Iwand das Modell, indem er im Bezug auf die erste Bitte des Predigttextes an seine Hörer eindringlich appelliert: „Es ist eine wunderbare, neue, eine so ganz und gar nicht aus uns und unserer Selbstbeobachtung, aus unserer Buße und Beichte sich erhebende Stimme. Es ist eine fremde Stimme, die aber unsere Stimme werden möchte. Es ist jene Stimme, die dort laut wird, wo menschlich gesehen alles zu Ende ist, wo wir den Tod, das Ende, das tiefe geistliche Zuendesein in unserem Leben schmecken, und sie ihre Schatten über alle unsere Lichter legt. An dieser Grenze des Lebens, da wartet dieses Gebet auf uns. Da möchte es von uns ergriffen, gesprochen, nachgesprochen und nachgebetet werden. Und der, der so betet, die Zunge, die das nachbuchstabiert, das Herz, das dieses Wort in sich aufnimmt – der ist hindurch! Das tote Herz lebt, das steinerne Herz ist aus unserem Leib herausgenommen, und wir haben wieder ein Herz das fühlt und leidet, hofft und bittet: damit fängt alles Leben an. Das wahre, das neue, das ewige Leben: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz!“ (P 6,50–62).
Die entscheidende Modifi kation, die der Prediger vollzieht, besteht darin, dass er es seinem Modus nach ungemein dramatisiert. Ist das Nachsprechen eines Psalmgebetes erwartungsgemäß eher unspektakulär und lässt sich einer eingeschliffenen Frömmigkeitspraxis zuordnen, so wird die Tatsache, „daß wir herangeführt wurden an diese Stimme“ (P 6,80), hier zur „beste[n] und hilfreichste[n] Erkenntnis […], die wir in diesem Ablauf unserer Lebensbahn“ erlangen können (P 6,77f). Der schlichte Vorgang des Hörens und Nachsprechens wird zu einem Akt eschatologischer Erneuerung aufgewertet, in dem sich der Übergang vom Tod zum Leben vollzieht.128 Dabei hebt der Prediger auf den Sachverhalt ab, dass echtes Hören auf ein von außen kommendes Wort das Verstummen des inneren Monologes voraussetzt. Zum Nachsprechen des Gehörten kann es erst dort kommen, wo zuvor eine Entleerung von denjenigen Gedanken, Erwartungen und Befürchtungen stattgefunden hat, die der Öffnung für die äußere Quelle im Wege stehen. Im Hören und Nachsprechen gerät der Sprechende in Diskontinuität zu sich selbst, indem er sich aus dem Gehörten gänzlich neu empfängt. Unter dieser Bestimmung legt der Prediger das ganze Gewicht seiner Darstellung darauf, dass es sich bei dem Gebet um eine äußere, der Innenwelt der Hörer und (Nach-)Beter gegenüber eigenständige Quelle handelt (vgl. schon P 6,1f). Dies ist bereits eine bedeutende Modifi kation des usuellen Modells, ließen sich doch die in den Psalmen artikulierten Bitten samt den ihnen zu128 Zur eschatologischen Qualität des Hörens auf die Überlieferung im alttestamentlichen Judentum vgl. Zenger, Erich, „Gib deinem Knecht ein hörendes Herz!“, 27–43, bes.39.
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grunde liegenden Notsituationen durchaus als allgemein-menschlich und den Hörern vertraut verstehen.129 Eine weitere Stufe der Modifi kation stellt der Grund legende Perspektivenwechsel dar, durch den der Psalm von der individuellen Gebetssituation entfremdet wird. Es tritt selber als handelnde Person auf, die dem innertrinitarischen Zusammenhang der Gotteswirklichkeit entspringt, in die Menschenwelt „hinabgestiegen“ ist (P 6,302f) und sich einzelner Beter als Medien bedient, um sich Gehör zu verschaffen (vgl. bes. P 6,26–43). Dieser theozentrische Subjektwechsel, der das Geschehen unter der Perspektive eines göttlichen Selbsterweises von kosmischer Tragweite in den Blick nimmt, war bereits bei der Wahrnehmung der Gebete in der Predigt über Ez 37,1–14 charakteristisch.130 Der ganze Vorgang des Hörens und Nachsprechens wird auf diese Weise zum Übergang zwischen zwei Machtsphären, denen der Beter unterworfen ist. Indem er das Gebet nachspricht, tritt er aus der Sphäre privater Selbstbezogenheit in die der göttlichen Heilswirklichkeit. Diese hat ihren konkreten Ort in der Schrift, wie Iwand in einem eigenen Unterabschnitt entfaltet (P 6,76– 102). In diesem Sinne identifiziert er die Psalmenbitte, nachdem er sie von der allgemein-menschlichen Gebetstätigkeit entfremdet hat, als „eine Stimme, die wir immer wieder hören, wenn wir durch die Heilige Schrift hindurchgehen“ (P 6,80f). Sie lässt ihre Beter dem Geschick biblischer Gestalten und deren Errettung synchron werden (vgl. bes. P 6,83–89). Insgesamt zielt die Modifi kation des usuellen Modells vom Nachsprechen eines (Psalm-)Gebetes auf eine neue Wahrnehmung des Selbstverhältnisses des Sprechenden, die seine prekäre Stellung zwischen heilloser Selbstbezogenheit und heilsamer Erneuerung durch den Eintritt in den biblischen Heilszusammenhang aufdeckt. 6.5.3.3 Das Modell von der Einkehr bei sich selbst Die offene Modellszene dieses Bildes lässt sich folgendermaßen umreißen: Zeit, Ort und konkrete Personen sind unbestimmt. Typisches räumliches Gefüge ist jedoch das Innere eines Menschen als nur der Selbstbeobachtung zugängliche Sphäre höchster Intimität. Als typische Umstände lassen sich Einsamkeit, Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen benennen. Der typische Ablauf besteht in einer Bewegung der Selbstversenkung und Schau des eigenen Inneren, die zugleich einen Prozess sukzessiver Läuterung darstellt. Anlass ist eine als Disharmonie, Unruhe und Unfrieden empfundene 129 Ein Beispiel für eine inklusive Auslegung eines Psalmgebetes, die es primär als Ausdruck individueller Krisenerfahrung behandelt, bietet die Predigt Emil Brunners über den 130. Psalm aus dem Jahre 1929. Ähnlich wie bei Psalm 51 handelt es sich um einen Bußpsalm, dessen Sitz im Leben Krankheit oder allgemeine Niedergeschlagenheit ist; vgl. Würthwein, Ernst, Bemerkungen, 382. Brunner beginnt seine Predigt mit den Worten: „Aus der Tiefe ruft da einer. Das könnte einer von uns sein. Denn in der Tiefe sind wir alle“; ders., Predigt, 89. Er lässt den Text direkt auf die Hörer zulaufen und geht wenige Zeilen später dazu über, sie durch direkte Anrede in die Situation des Psalmbeters einzuschließen: „In der Tiefe bist auch du. Ein jeder von uns trägt einen nie aufhörenden Kummer mit sich herum. Wir sind alle Leidensgefährten“; ebd. 130 Vgl. Abschnitt 6.4.5.1.
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Entzweiung des Ichs mit seiner Umwelt. Beweggrund ist dementsprechend die Suche nach (innerem) Frieden, (geistlicher) Erneuerung und Wiederherstellung des durch äußere Anlässe gestörten seelischen Gleichgewichts. Als Modus des Geschehens lässt sich eine kontemplative Haltung benennen, die sich durch wachsende Gelassenheit im Zuge fortschreitender Läuterung auszeichnet und in der mystischen Vereinigung mit Gott kulminieren kann. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit/Möglichkeit des Vorgangs gilt, dass er einer nicht nur in der christlichen Tradition begegnenden mystisch-quietistischen Frömmigkeitspraxis zuzuordnen ist. Das Motiv des in der Introspektion auf sich gewendeten homo interior ist allerdings aus der abendländischen Geistesgeschichte schlechterdings nicht wegzudenken und erstreckt sich von Augustin131 über die spätmittelalterliche Mystik und die Reformation bis zum Pietismus. Im 20. Jahrhundert sieht es sich jedoch von einer materialistischen Anthropologie her, die dessen metaphysische Voraussetzungen nicht mehr teilt, wachsender Kritik ausgesetzt. Wie wir bereits für das erste Modell zeigten, führte die krisenhafte Erschütterung Europas durch die beiden Weltkriege auch bei diesem, eine kontemplative Versenkung intendierenden Modell zu einem erheblichen Plausibilitätsverlust. In diesem Sinne beurteilt etwa Walter Benjamin von seinen marxistischen Denkvoraussetzungen her die Versenkung in eine harmonische Totalität, wie sie noch im klassischen und romantischen Kunstwerk vorausgesetzt wurde, unter den Bedingungen industrieller Entfremdung als Anachronismus. In seinem bedeutenden kunsttheoretischen Essay aus den 1930er Jahren zeichnet er nach, wie die „Versenkung […] in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde“.132 In seiner Predigt knüpft Iwand daran an, indem er das Modell in antithetischer Bezogenheit auf das in der Psalmenbitte sich äußernde Ich entfaltet: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz! Wir haben versucht, alles Böse, Häßliche, Gemeine und Niedrige von ihm fern zu halten, wir haben es versucht, weil wir den Spiegel rein halten wollten, der uns dein Angesicht spiegelt, den Anblick des Guten in der bösen Welt, der Ewigkeit in der Zeit, bis wir sahen, daß die Trübungen auf diesem Spiegel nicht von außen kamen, sondern von innen, daß die Quelle nicht rein war, bis wir erkannten, daß dein Sohn recht hat, daß alles, was den Menschen unrein macht, von innen her kommt. Bis wir erkannten, daß diese, wie wir meinten, reine, wahre, heilige Innerlichkeit nicht das ist, was wir von ihr dachten. Sie bringt all dieses Geröll mit sich, sie muß ihren Quell in einem dunklen Grunde haben, denn das Wasser, das hier fließt, ist kein Wasser des Lebens. Wer aus dieser Quelle trinkt, der wird sterben, ob er gleich lebt. Aus diesem, unserem Inneren, aus dem, was unser Herz bewegt, können wir nicht leben“ (P 6,62–75).
Der Prediger konkretisiert das Modell, indem er das Innere des Menschen (= räumliches Gefüge) mit durch die Mystik geprägten Bildern vom Spiegel, von der Quelle, vom Brunnen und vom Seelengrund modelliert und dadurch 131 Vgl. Stendahl, Krister, Der Apostel Paulus, 22f. 132 Ders., Das Kunstwerk, 38.
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einem bestimmten theologie- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang einordnet: So redet etwa Mechthild von Magdeburg von der spiegelähnlichen Beschaffenheit der Seele des Menschen im Zusammenhang mit seiner Gottebenbildlichkeit und ordnet ihr die Funktion zu „als Gegenüber Gottes Gott abbildhaft zur Darstellung zu bringen“. Das Bild von der glatten Beschaffenheit der Spiegeloberfläche wird von ihr zur Charakterisierung „unbeeinträchtigte[r] Authentizität“ herangezogen.133 In ähnlicher Weise wird die Spiegelmetapher bei Meister Eckart und Tauler verwendet.134 Noch deutlicher tritt die Vorstellung einer wesenhaften Beziehung der menschlichen Seele zu ihrem transzendenten Grund, dessen sie in der Abkehr von der äußeren Welt innewird, im Gebrauch des Bildes von Brunnen bzw. von der Quelle zu Tage. Dabei lagern sich die Entfaltungen dieses Bildes an die Brunnengeschichte von Joh 4 und ihr zentrales Quellmotiv an. Für Tauler ergeben sich nach Egerding aus dessen Gebrauch der Metapher folgende Bestimmungen: „Der Mensch erfährt Gott nicht in sinnlicher oder vernünftiger Weise, indem man hört oder liest, oder ihn mit den Sinnen in sich aufnimmt. Vielmehr ist die Erfahrung Gottes ein smecken Gottes an seinem Ursprung in der Seele. Gegenüber der Erfahrung von Dingen, die in die Seele hineingetragen werden, macht Tauler über die Parallelisierung Gottes mit einer im grunt der Seele entspringenden Quelle deutlich, daß hier Gottes erfahrbarer Ursprung liegt. Wenn sich der Mensch in sich kehrt und Gott in seinem Ursprung ‚in bevindender wisen‘ (61,12) aufsucht, wird er neu; denn ‚das ist und heisset nuwe daz nohe ist bi sinem begine…‘ (61,9f).“135
Den Autoren der Mystik ist auch die Störung des Verhältnisses der Seele zu Gott durch die Sünde bewusst. Sie wird allerdings als eine von außen auf den Menschen kommende aufgefasst. Darum verbindet sich mit der Spiegelmetaphorik die Forderung nach einer vollständigen Entleerung von allen von außen in den Menschen eindringenden Bildern, die ihn in der Welt gefangen halten. Tauler benutzt die Erfahrungstatsache, dass sich kein Hindernis zwischen der Sonne und einem Spiegel befinden darf, wenn sie als Bild im Spiegel erscheinen soll, als Metapher für die erstrebte Beschaffenheit der Seele in ihrem Verhältnis zu Gott.136 Im Zusammenhang mit dem Quellmotiv wird wiederholt die reinigende Kraft des Wassers von allen Sünden und Flecken beschworen, dass als eine aus dem göttlichen Grund in die Seele fließende Gestalt der Gnade gedeutet wird.137 Die entscheidende Modifi kation vollzieht Iwand dadurch, dass er den Weg der inneren Reinigung durch Selbstversenkung in der Zeitstufe der abgeschlossenen Vergangenheit zurückschiebt („Wir haben versucht“) und als ein 133 134 135 136 137
Egerding, Michael, Die Metaphorik, 530. Vgl. ebd., 533–535. Vgl. ebd., 142f. Vgl. ebd., 534f. Vgl. ebd., 137f.
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gescheitertes Unterfangen darstellt. Dabei macht er sich die kontemplative Aura der Bilder zu nutze, um seine Hörer auf schockierende Weise aus einer anachronistischen Weltsicht, die eine innere Harmonie von Seele und Gott voraussetzt, in die unter dem Signum der Todesverfallenheit stehende Gegenwart zu versetzen. Die religiöse Mystifizierung der Innerlichkeit wird von ihm schonungslos destruiert. In der Retrospektive ruft er die Beweggründe auf, die den Weg nach Innen motivierten, um sie plötzlich („bis wir sahen […] bis wir erkannten“) mit den Resultaten zu konfrontieren, die dieser Weg entbarg. Statt den Hörern angesichts äußerer Bedrängnis eine innere Ruhestätte aufzuzeigen, werden sie vor die schockierende Erkenntnis gestellt, dass ihre Entzweiung nicht lediglich das Verhältnis zur Außenwelt betrifft , sondern das Innerste des Menschen samt seiner ihm eigensten Triebfedern. Indem er die Bilder der „reine[n], wahre[n], heilige[n] Innerlichkeit“ zu denen eines von innen her getrübten Spiegels und einer unreinen Quelle, aus der tödliches Wasser fließt, verfremdet, signalisiert der Prediger, dass die im Ausgangsmodell intendierte harmonische Totalität insgesamt brüchig geworden ist und keine Rückzugsräume ins Private mehr offen stehen. Das Bild kippt in die Aussage um, dass die Stätte der für äußere Einflüsse unzugänglichen Intimität gerade die Quelle der Verunreinigung ist. Zur Verfremdung des Ausgangsmodells greift Iwand auf die Brunnengeschichte von Joh 4 zurück, die er gegen ihre Traditionsgeschichte ausspielt (vgl. P 6,71–75): Das von Christus verheißene Lebenswasser entspringt gerade nicht der Innerlichkeit des (alten) Menschen, sondern bringt diesen in Differenz zu sich selber (vgl. Joh 4,13).138 Anstatt Kräfte entspringen zu lassen, die ins ewige Leben quellen (Joh 4,14), bringt die Innerlichkeit Geröll aus der Vergangenheit mit, das schwer auf der Seele liegt. Anstatt Gabe Christi zu sein, muss sie darum aus einem dunklen (Ab-)Grund quellen. Anstatt unter die Verheißung des Lebens, „auch wenn er stirbt“ (vgl. Joh 11,25) zu gelangen, steht der aus dieser Quelle Trinkende unter der Bestimmung des Sterbens, „ob er gleich lebt“. Leitendes Motiv für die Destruktion der Innerlichkeit ist die Selbsttätigkeit, mit der der Mensch den Weg zu Gott freilegen bzw. „den Anblick des Guten in der bösen Welt, der Ewigkeit in der Zeit“ konservieren wollte und infolge dessen an seinem eigenen Unvermögen scheitern musste. In der Destruktion der traditionellen Motive mit Hilfe von dem Neuen Testament entstammenden Bildern und Aussagen führt der Prediger seine Hörer zu der überraschenden Erkenntnis, dass die Krise des Individuums keineswegs die biblische Glaubensgrundlage erschüttert, sondern umgekehrt die Entmystifizierung des Inneren dort vorausgesehen und als Vorlauf einer alle Erwar138 In seiner Predigtmeditation zu jener Stelle setzt Iwand sich mit dem exegetischen Problem auseinander und weist jene Auslegung zurück, die das Gewicht auf den Zusammenhang von Bedürfnis und Erfüllung legt: „Der Satz: ‚Den Lebensdurst, der im körperlichen Durst sich meldet, stillt der Offenbarer radikal‘ (Bultmann), ist mir weder nach seinem exegetischen, noch nach seinem faktischen Recht ganz einsichtig. Ist das wirklich so? Liegt nicht vielmehr die Verheißung darin, daß in dem von der Gabe Christi Erquickten ein Quell anhebt, welches Kräfte des ewigen Lebens in einem sterblichen und hinfälligen Wesen entspringen läßt“; PM I,293.
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tungen auf Gott zentrierenden Glaubenshaltung sogar konstitutiv ist für eine Anthropologie unter kreuzestheologischem Vorzeichen (vgl. P 6,80–89). Im dramatischen Ablauf von der Erwartung zur Enttäuschung und Resignation weist das Modell von der Einkehr bei sich selbst Parallelen zum ersten Modell auf. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass die intendierte Bewegung nicht zu ihrem Ziel gelangt und die handelnden Personen auf sich selbst zurückgeworfen werden. Sie hinterlassen jeweils einen Eindruck von der eigenen Nichtigkeit und legen angesichts der Aussicht auf den baldigen Tod eine innere Resignation nahe, die nur von außen durchbrochen werden kann. 6.5.3.4 Das Modell vom doxologischen Gebet Die am Schluss der Predigt aufgerufene Modellszene lässt sich ihrer usuellen Struktur nach folgendermaßen umreißen: Die Zeit des Geschehens ist unbestimmt, ebenso der Ort, wiederum mit der Einschränkung, dass es im liturgischen Vollzug des Gottesdienstes seine feste Verankerung hat. Beteiligte Personen sind der/die Beter. Typische Umstände sind das Fehlen der sonst für den Vorgang des Betens konstitutiven direkten Kommunikation, da das Ich des Beters ganz hinter Gott zurücktritt. Kennzeichnend für das doxologische Gebet ist dessen synästhetische Qualität, wobei neben dem Sprechen dem visionären Erleben eine zentrale Bedeutung zukommt.139 Der typische Ablauf besteht in einer Bewegung des Von-sich-selber-Absehens und des Hinsehens auf Gott bzw. seine irdische Repräsentanz, wobei das Ich vor der Erhabenheit des Geschauten verschwindet. Alleiniger Beweggrund ist es Gott zu loben und zu preisen. Wie in dem vorigen Modell geht es auch hier um die mystische Vereinigung mit Gott, die allerdings in dem Verschwinden in seiner Herrlichkeit besteht. Der typische Modus ist der einer äußersten Hingabe, die wechselhaft als kontemplative Ergriffenheit, aber auch als krisenhafte Erschütterung (vgl. Jes 6,5) erfahren werden kann. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit/Möglichkeit des Vorgangs gilt, dass er in der gesamten christlichen Frömmigkeitsgeschichte immer wieder begegnet und eine herausragende Stellung in der göttlichen Liturgie der orthodoxen Kirche hat.140 In der westlichen, der introspektiven Selbstwahrnehmung von Anfang an ein größeres Gewicht einräumenden Kirche, ist er allerdings weniger ausgeprägt. Edmund Schlink charakterisiert das doxologische Gebet in seiner Ökumenischen Dogmatik als eine der Grundformen theologischer Aussage folgendermaßen:
139 Dieser Sachverhalt lässt sich u.a. daran festmachen, dass in der östlichen Kirche, in deren Liturgie die doxologische Anbetung einen exponierten Status hat, der Ikone als bildhafter Repräsentanz der himmlischen Welt und „Fenster im Irdischen, durch das die Strahlen der Ewigkeit einen Menschen erreichen“ eine besondere Bedeutung zukommt, Barth, Hans-Martin, Spiritualität, 26. Auch die Gebetspraxis des ostkirchlichen Hesychasmus, die der doxologischen Anbetung darin korrespondiert, dass sie das intersubjektive Gegenüber transzendiert, intendiert eine Gottesschau, wenn auch auf einem bildfreien Weg; vgl. Josuttis, Manfred, Religion, 254. 140 Vgl.ebd., 24f.
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„Weicht in der Doxologie das Du dem göttlichen Er, so verschwindet in ihr zugleich das Ich des Menschen, der die Doxologie anstimmt. […] Die doxologische Grundform ist nicht: Gott, ich preise Dich, sondern: Gott sei Preis, nicht: Gott, ich verherrliche dich, sondern: Gott ist herrlich. Wenngleich die Doxologie Antwort des Menschen ist auf Gottes Tat an ihm, schweigt der Mensch von sich: Gott selbst ist in der Doxologie ein und alles. So erscheinen doxologische Aussagen im höchsten Maße ‚objektiv‘. Dabei bedeutet freilich das Fehlen des Ich im Wortlaut vieler doxologischer Aussagen kein unbeteiligtes Zuschauen, sondern äußerste Hingabe. Denn das Ich des Lobpreisenden fehlt zwar im Wortlaut, nicht aber im faktischen Vollzug der Anbetung: Das Ich wird in der Doxologie zum Opfer gebracht. Doxologie ist immer zugleich Lobopfer.“141
Ein entscheidender Hinweis darauf, dass Iwand das Gebet als Doxologie entfaltet, stellt der Sachverhalt dar, dass die durch den Predigttext (= das Gebet eines Einzelnen) vorgegebene direkte Kommunikation in der Predigt fast vollständig zurücktritt. Lediglich an zwei Stellen wendet er sich der Gotteswirklichkeit in direkter Anrede mit einem „du“ (P 6,38) zu bzw. redet ihn auf „deinen Sohn“ (P 6,68) an.142 Ein exponiertes „Ich“ begegnet an keiner einzigen Stelle.143 Statt dessen wird das Gebet von der intimen Gebetssituation von Anfang an entfremdet, indem er es im unpersönlichen Neutrum als „dieses Gebet“ (P 6,26), „Es“ (P 6,27.28.29.32.33), „diese Stimme“ (P 6,47), „eine neue […] Stimme“ (P 6,50–52), „eine fremde Stimme“ (ebd.), usw. benennt. Dem Prediger liegt alles daran, es als eine den Zusammenhang intersubjektiver Selbstdeutung transzendierende kosmische Größe herauszustellen, was dadurch unterstützt wird, dass er es dem christologischen Aufstiegs-AbstiegsSchema einordnet. Faktisch greift Iwand auf das Modell des doxologischen Gebetes am Schluss seiner Predigt zurück, um auszusagen, worin die Erneuerung des menschlichen Herzens besteht. Er gestaltet seine Entfaltung dabei am Leitfaden der Verheißung von Mt 5,8 „Denn selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (P 6,101f): „[a] Ein reines Herz – das heißt eben dieses: ein Herz, in dem nichts, aber gar nichts anderes sich spiegelt als – Gott! Ein unreines Herz, das nichts anderes kennt, als ihn, ein totes Herz, das zur Wohnung des Lebendigen wird. Wie ein Auge ganz leer sein muß, damit die Sonne des Leibes Licht sein kann, und ein kleines Stäublein, das ins Auge fliegt, die Finsternis über unser ganzes Wesen ausbreitet, so daß wir nicht sehen, wohin wir schreiten, so muß auch unser Herz ganz rein sein – rein sein von allem Dünkel, als könnten wir uns selbst helfen. [b 1] Dann schauen wir Gott. Dann schauen wir ihn, wie er uns nahe ist, wie er sich aufmacht und dem verlorenen Schaf nachgeht, wie er mitten unter uns ist in der Gestalt, die unser Herz zu fassen, die sie in sich aufzunehmen vermag. [b 2] Wir schauen ihn, wie er zum Kreuz geht, und wir schauen ihn, wie er zum Zeichen, daß er der Herr des Todes, 141 Schlink, Edmund, Ökumenische Dogmatik, 35. 142 Ausgenommen ist hier die Stelle P 6,89, wo das „zu dir“ Zitat der „Stimme des Volkes Gottes ist“. 143 Das „Ich“ des Predigers in P 6,36.41 ist lediglich Teil einer rhetorischen Redewendung, in P 6,83. 85.89 ist es lediglich Zitat einer Bibelstelle.
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auch unseres inneren Todes ist, die Siegel des Grabes bricht und frei und lebendig aufersteht. Unser Herz schaut ihn“ (P 6,117–131).
Der Abschnitt lässt sich in zwei Teile gliedern, wobei im ersten [a] die dem Gottesverhältnis angemessene Haltung des menschlichen Herzens bildhaft beschrieben wird, während der Prediger im zweiten [b] dazu übergeht, sie mit seinen Hörern einzunehmen und die doxologische Bewegung des Von-sichselber-Absehens und Gott-Lobpreisens selber zu vollziehen. Dabei ist auffällig, dass der Prediger zur Beschreibung des Verhältnisses des menschlichen Herzens zu Gott [a] jene der Sprachwelt der Mystik entstammende Metaphorik wieder aufgreift, die er im Modell von der Einkehr bei sich selbst destruiert hatte. Insbesondere der Vergleich der Reinheit des Herzens mit dem Spiegel bzw. dem Auge im Verhältnis zur Sonne begegnet, wie wir sahen, in ähnlicher Weise bei Tauler. Vergleichsmoment ist nun allerdings nicht mehr der Vorgang der Reinigung i.S. der Bearbeitung der Innenwelt (vgl. P 6,62–66.103–105), sondern das der vollständigen Leere bzw. der eigenen Nichtigkeit, die überraschender Weise als erstrebter Zustand der Reinheit identifiziert wird. Voraussetzung dafür, sich in völliger Selbstvergessenheit der doxologischen Gottesschau hinzugeben ist es „rein [zu] sein von allem Dünkel, als könnten wir uns selbst helfen.“ Die Praxis des doxologischen Gebetes eröffnet hier eine neue Sichtweise auf den innerhalb der Modelle vom verzweifelten Rufen eines Beters und von der Einkehr bei sich selbst beklagenswerten Zustand „unseres inneren Todes“ (P 6,130) bzw. des „tiefe[n], geistliche[n] Zuendeseins in unserem Leben“ (P 6,54f), insofern letzteres gerade die Voraussetzung dafür ist, sich der Gottesschau ganz zu ergeben. Wie zentral für Iwand der Zusammenhang zwischen Nichtigkeiterfahrung und einem Lobpreis der Erhabenheit Gottes ist, soll an dieser Stelle durch den Ausblick auf eine andere Predigt erhärtet werden. Es handelt sich wiederum um eine unter dem Eindruck des Luftkrieges 1944 in Dortmund gehaltene Predigt über die Gottesreden am Schluss des Hiobbuches (Hi 38–42), die er mit den Worten auslegt: „Das Ich des Menschen wird ganz klein, in jeder Frage, die Gott stellt, wird das Ich des Menschen ausgestrichen und das Ich Gottes wächst und wächst über alle Maße hinaus; hinter den Sternen, hinter der Erde, über dem Meer, aus allen Tiefen, in allem wunderbaren Treiben, auf Bergen und Halden, bei den Tieren in der Luft, bei den Tieren des Feldes, überall, überall wächst Gott. Gottes Ich wird so groß, daß es in keinem Verhältnis mehr steht zum Ich des Menschen. […] Alles Mögliche und Unmögliche kommt in diesen Schlußreden des Hiobbuches im Munde Gottes vor, nur einer fehlt, der Mensch. Die Welt dreht sich um Gott und nicht um den Menschen. Gott ist das Maß aller Dinge und nicht der Mensch. Gott ist um seiner selbst willen da und nicht nur einer, der für den Menschen da ist […] Und darum, meine Freunde, wenn wir lesen, was Gott hier zu Hiob sagt, so können wir vielleicht doch verstehen, wie einer ganz still werden könnte. Wie einer sich ganz vergessen könnte. Wie er Augen bekommen könnte für Gottes Größe.“144 144 NW N. F. V, 34f.
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Der Lobpreis der Majestät Gottes wird hier als solcher bereits zur Quelle des Trostes, insofern er den Hörern die Augen dafür öffnet, dass die Nichtigkeit des eigenen Ichs nicht nichts ist, sondern die Ergebung in seine Schöpfermacht, die in unserer Predigt als Stimme, die „aus dem Nichts heraus“ (P 6,38) schafft , prädiziert wird. Wiederholt sucht Iwand in seinen Predigten die Grenze zum Unglauben bereits dort zu ziehen, wo er das, was eine anthropozentrische Sichtweise lediglich als Destruktion zu erblicken vermag, als „die Stunde“ entdeckt, „wo Gott alles in allem ist.“145 Im zweiten Teil [b], in dem der Prediger sich mit seiner Gemeinde direkt in die Bewegung des Schauens hineinbegibt, wird das Modell vom doxologischen Gebet allerdings noch einmal entscheidend modifiziert. Und zwar besteht die Modifi kation darin, dass die Schauenden Gott nicht lediglich in seiner unnahbaren Majestät und Erhabenheit erblicken, sondern in einer den nichtigen Sündern zugewandten, beziehungsreichen Aktivität, wie die Bibel sie für das Wirken des irdischen Jesus reklamiert [b1]. Paradoxerweise wird Gott nicht in seiner unnahbaren Heiligkeit erblickt, sondern in seiner Präsenz „mitten unter uns […] in der Gestalt, die unser Herz zu fassen, die sie in sich aufzunehmen vermag.“ Dabei wird die Spannung allerdings nicht aufgelöst. Die Predigt lebt aufs Ganze gesehen gerade davon, dass der unnahbar fremde und weltüberlegene Gott sich dem Nichtigen als barmherziger Samariter und als derjenige, der auf der Suche nach dem Verlorenen ist, zuwendet. Auf diese Weise ergibt sich in der Modifi kation des Modells für die Hörer als entscheidender Erkenntnisgewinn: Obwohl das Ich des Beters vollständig von seinen eigenen Erwartungen absieht, im Versagen seiner Selbsttätigkeit und Verstummen seiner Wünsche seinen geistlichen Tod stirbt, macht es dennoch die Erfahrung, in seiner totalen Hingabe an Gott nicht unterzugehen, sondern sich aus der freundlichen Zuwendung des Angesichts Gottes zu ihm neu zu empfangen. In dieser Bewegung realisiert sich [b 2] der Übergang vom (geistlichen) Tod zur Auferstehung, der für Prediger und Zuhörer zuvor schon in dem paulinischen Diktum: „Wir sind Sterbende und siehe, wir leben“ (P 6,114/2Kor 6,9) reklamiert wurde, bereits im gegenwärtigen Lebensvollzug. Der letzte Satz der Predigt fasst die Dialektik zwischen unnahbarer Majestät und gnädiger Zuwendung Gottes nochmals zusammen: „Denn, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört, und was in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben“ (P 6,134–136).
.. Das Gesamtbild der Predigt als Zusammenschau der vier Modelle in ihrer sukzessiven Entfaltung Nachdem wir die vier usuellen Modelle in ihrer jeweiligen Entfaltung vorgestellt haben, ergibt sich das Gesamtbild der Predigt durch deren sukzessive Verknüpfung, die sich auch als bestimmter Erkenntnisweg beschreiben lässt. 145 Ebd., 42.
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Zunächst zeigt die Predigt in ihrer antithetischen Makrostruktur ein Kontrastbild, in dem das Scheitern und die Neubegründung bestimmter religiöser Erwartungen und einer bestimmten religiösen Praxis angesichts der Krisenerfahrung des Individuums gegenüber gestellt werden: – Eröffnet das Modell vom Verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott den Blick auf eine heillose Krise des Individuums, so wird mit dem Modell vom Nachsprechen eines Psalmgebetes eine alternative Praxis favorisiert, die sich ganz aus dem vorgegebenen biblischen Sprachzusammenhang konstituiert. – Deckt das Modell von der Einkehr bei sich selbst in seiner spezifischen Modifi kation den Rückzug auf das verborgene Innere als einen Irrweg mit langen Tradition auf, so setzt das Modell vom doxologischen Gebet eine Praxis dagegen, die den Weg zu Gott als Brechung individueller Selbstbezogenheit und Ausrichtung auf eine extra nos realisierte Totalität beschreitet. Der besondere Reiz der Verknüpfung liegt darin, dass sich die beiden eine Neubestimmung favorisierenden Modelle auch als extreme Modifi kationen der ins Negative gewendeten Modelle entschlüsseln lassen. Was beim Verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott und bei der Einkehr bei sich selbst als aporetisches Bild erscheint, wird beim Nachsprechen eines Psalmgebetes und beim doxologischen Gebet als Durchgangs- bzw. Anfangsstadium zu einer erweiterten Sicht der Wirklichkeit im Licht der Gottesgegenwart offenbar. Am deutlichsten lässt sich diese in der Antithetik gesetzte Kontinuität an der Modifi kation einzelner Motive nachvollziehen, die in der usuellen Struktur aller vier Modelle beheimatet sind bzw. vom Prediger in sie eingeführt werden. Wir wollen dies an den drei zentralen Motiven der Stille, der Vereinzelung und der krisenhaften Erschütterung des Welt-Selbst-Verhältnisses vorführen. 6.5.4.1 Das Motiv der Stille Im Modell vom Verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott steht das Motiv der Stille als „gänzliche[s] Verstummen“ (P 6,24) des menschlichen Herzens im Zeichen des Vorlaufes in den Tod, des Ausbleibens der erwarteten Hilfe und der Beziehungslosigkeit. Diese Negativität wird im Modell vom Nachsprechen eines Psalmgebetes gewendet, insofern es nun zur Voraussetzung für ein neues Hören jenseits eingeschliffener Meinungen und Erwartungshaltungen (vgl. P 6,44f: „Daß wir immer noch meinen, […]“) wird. Erst wo innere Stille eingetreten ist, kann die Aufmerksamkeit darauf fallen, dass an „dieser Grenze des Lebens […] dieses Gebet auf uns“ (P 6,56) wartet. Im Modell von der Einkehr bei sich selbst konnotiert dem Stillemotiv wieder eine andere Bedeutung, nämlich die der willentlichen Abkehr von allem Äußeren, insbesondere vom äußeren Wort. Indiziert dieses Bild nach Ansicht des Predigers eine falsche Unmittelbarkeit, so erschüttert er dessen kontemplative Aura durch die Einführung des Gerölls in das Bild von der Quelle (vgl. P 6,71), das für Lärm und innere Unruhe steht. Im Modell vom doxologischen Gebet wird das Motiv abermals ins Positive gewendet, insofern es für die Er-
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gebenheit in die Gottesschau steht, angesichts der es zu erstaunen und still zu werden gilt. 6.5.4.2 Das Motiv der Vereinzelung Eng mit dem Stillemotiv hängt das von der Vereinzelung zusammen, dessen Modifi ktation der Prediger selber explizit macht, bevor er zur Doxologie anhebt: „Es gibt einen Punkt, auf den muß man ganz allein zugehen, wie auf den Tod. Da kann uns niemand begleiten. Da, wo es gilt, reines Herzens zu werden, sind wir immer allein. Wir sind allein, um zu glauben! Wir sind Sterbende und siehe, wir leben. Wir laufen alle auf dieser Bahn, aber einer, immer nur einer, erlangt das Kleinod. Immer nur einer. Wo Gott ein neues Herz schafft , da sind wir immer nur einer! Einer von ihm und einer durch ihn“ (P 6,111–117).
Bereits im ersten Satz hatte der Prediger dieses Motiv in der Gegenüberstellung eines Einzelnen zu einer Vielheit aufgerufen, ohne diese Beziehung näher zu klären. Im Modell vom Verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott konnotierte die Vereinzelung dem Vorlauf in den Tod und der Beziehungslosigkeit des Beters. Im Nachsprechen eines Psalmgebetes wird sie dagegen zur entscheidenden Präparation für den Vorgang modifiziert, sich in voller Ergebenheit dem einen Gebet hinzuwenden und es zu ergreifen. Das paulinische Bild vom Wettkämpfer auf der Laufbahn (1Kor 9,24f) veranschaulicht die Haltung. Konnotiert der Einkehr bei sich selbst die negative Möglichkeit, dass der Einzelne in der Selbstbeobachtung verharrt und seine innere Erfahrung mystifiziert, so erweist sich die Vereinzelung im doxologischen Gebet wiederum als angemessene Form der totalen Hingabe, in der Gott ebenfalls als Einzelner erkannt wird, der zugleich ein und alles ist. Erst in dieser Perspektive wird der Anfangssatz der Predigt in seiner ganzen Tiefe erfasst, insofern Gott als wahrer Einzelner offenbar wird. 6.5.4.3 Die krisenhafte Erschütterung des Welt-Selbst-Verhältnisses und ihre Modifi kation Den thematischen Kern der Predigt macht schließlich die modifizierte Wahrnehmung der krisenhaften Erschütterung des Welt-Selbst-Verhältnisses im Lichte des Gottesverhältnisses aus: Im Modell vom Verzweifelten Rufen eines Beters zu Gott wurde das Verhältnis des Beters zur Welt und zu Gott vom Standpunkt seiner subjektiven Bedürftigkeit aus wahrgenommen und vor dem Hintergrund gegenwärtiger Krisenerfahrung ein Bild mit einem entsprechend negativen Gefälle entworfen. Die Versagung elementarer Lebensbedürfnisse musste naheliegender Weise als Nichthandeln Gottes entschlüsselt werden mit allen negativen Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit überkommener theistischer Religiosität. Der vergebliche Versuch, seinen Lebensvollzug aus dem Vertrauen auf eine transzendente Macht zu gestalten, erschien angesichts der Masse derer, „die nicht mehr reden, beten, flehen, rufen – zu ihrem Gott“ (P 6,21f) als ein Weg, der an sein Ende gekommen ist. 286
Die in der Entfaltung des ersten Modells nahe gelegte Sichtweise wird im Modell vom Nachsprechen eines Psalmgebetes auf eine überraschende Weise modifiziert. Überraschend ist zunächst, dass der im Verhältnis zu einer individuellen, auf authentische Darstellung des eigenen Erlebens ausgerichteten religiösen Praxis spröde und konventionelle Vorgang des Nachbetens unter den angezeigten Bedingungen die einzig verbliebene Möglichkeit zu beten ist. Angesichts des Verstummens der inneren Stimme bleibt nur noch das Nachsprechen einer fremden Stimme. Entscheidend ist allerdings, dass sich diese Verknüpfung der beiden Modelle auch von der entgegen gesetzten Seite her verstehen lässt: Dann erscheint das innere Verstummen geradezu als die Voraussetzung dafür, in das Nachsprechen des fremden Gebetes einzustimmen. Erst wo der Zusammenhang zwischen Erwartung und Erfüllung nicht mehr im subjektiven Bedürfnis gesucht wird, kann eine wirkliche Öffnung für die Transzendenz Gottes stattfinden, die ihren adäquaten Ausdruck in der demütigen Bitte von Ps 51,12 hat. Die resignative Perspektive des ersten Modells kippt dadurch um, dass das ausdruckslose und entseelte Nachsprechen der fremden Stimme als kreatorisches Handeln Gottes in Entsprechung zu seinem Auferweckungshandeln identifiziert wird (vgl. Röm 8,26). In diesem Sinne formuliert Iwand: „Wo so gerufen wird, da ist Gott bei seinem Namen gerufen, da ist er wirklich gemeint, er, der kommt und hilft. Da ist seine Gabe gemeint, die Gabe, um deretwillen er ans Kreuz gegangen ist. Da öffnet sich das Grab des Lazarus, da wird der Blinde sehend, da wird die Erde, da wird mein Leben, mein armes sündiges, ganz und gar in sich selbst versunkenes Leben zur Stätte des Handelns, der Gnade, der Wunder des lebendigen Gottes. (P 6,95–101).
Der in der eigenen Sprachlosigkeit sich abzeichnende Existenzverlust wird hier nicht mehr als Ende des Weges Gottes mit dem Menschen, sondern als Anknüpfungspunkt für sein Heilshandeln modelliert. Dem verzweifelten Rufen des Beters wird eine Antwort dadurch zuteil, dass er seinen Erwartungen abstirbt und in seiner Perspektivlosigkeit auf einen Weg gedrängt wird, auf dem er nicht mehr die Beseitigung seiner individuellen Not, sondern die Erneuerung seines ganzen Wesens von Gott her erbittet. Mit dieser Modifi kation seines Gebetes stößt er ins Zentrum der biblischen Erwartung vor und sein Blick wird freigelegt auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus als Urbild des neuen Menschen (vgl. P 6,128–133). Diese für die Predigt zentrale Umstrukturierung eröffnet insgesamt eine neue Sicht auf die religiöse Verunsicherung der Gegenwart, die sich nun nicht mehr einseitig als Ausdruck von Gottverlassenheit, sondern ebenso als Ausdruck der Weltüberlegenheit Gottes auffassen lässt, in der er überkommene Gewissheit erschüttert, um einen Neuanfang zu setzen. Auf der Basis des derart verschobenen Erwartungshorizontes eröffnet das Modell von der Einkehr bei sich selbst eine Retrospektive auf die religiöse Haltung des alten Menschen, der die Quelle seiner Heiligung in sich selber suchte, weil er die Notwendigkeit seiner eschatologischen Erneuerung verkannte. In287
dem der Prediger die Züge gegenwärtigen Krisenbewusstseins in die traditionellen kontemplativen Bilder der Innerlichkeit einträgt, deckt er als Ursprung der Gottesfinsternis, wie sie sich im ersten Modell darstellte, die Suche nach Gott ein einem falschen Ort auf. Was sich zunächst als Scheitern des Glaubens angesichts empfundener Gottesverlassenheit ausnimmt, erweist sich im erweiterten Horizont eschatologischer Erwartung als Scheitern des Menschen an dem Versuch, dass Verhältnis zu Gott aus seinem Inneren heraus zu entwerfen. Nicht die Gottheit Gottes ist es also, deren Ende im Abbruch des Gottesverhältnisses angesichts menschlicher Ohnmacht gegenüber dem Tod offenbar geworden ist, sondern das Ende der Sakralisierung der Innenwelt. Das Scheitern dieses Bestrebens ist von einer kreuzestheologischen Anthropologie her zu bejahen, weil es den irrigen Versuch darstellte, den für das göttliche Handeln am Menschen konstitutiven Zusammenhang von Tod und Auferstehung auszuhebeln. Die neue Anthropologie findet ihren adäquaten Ausdruck schließlich in der Praxis des doxologischen Lobes Gottes, in dem das Ich des Glaubenden verschwindet und aus dem es sich doch zugleich durch die von Gott her gesetzte Beziehung neu empfängt. Die individuelle Krisenerfahrung tritt auf dieser Ebene in ein völlig neues Licht, insofern sie nicht mehr im Gegenüber des Ichs zu seiner Umwelt, sondern im Gegenüber des Schöpfers zu seiner Schöpfung wahrgenommen wird. Als Umwelt des menschlichen Individuums wurde die Wirklichkeit an dessen Bedürfnissen gemessen (= Sichtweise des ersten Modells) oder aber als eine von seinem geistigen Wesen ablösbare, defizitäre Außenwelt bestimmt (= Sichtweise des zweiten Modells). Dem setzt der Prediger die Wahrnehmung von Welt und Selbst als Schöpfung entgegen, die ohne Unterschied der Vergänglichkeit preisgegeben sind, denen aber auch kraft der Mächtigkeit des Schöpfers gegenüber dem Nichts eine eschatologische Neuwerdung verheißen ist. Diese Umstrukturierung von der Zentrierung auf die subjektiven Bedürfnisse bzw. die Bearbeitung des eigenen Inneren auf die extra nos realisierte Heilswirklichkeit Gottes findet der Prediger in der Struktur der ersten Bitte von Ps 51,12 begründet. .. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich für den analysierten Bildgebrauch in der Predigt über Ps 51,12f festhalten, dass sie im Verhältnis zu der über Ez 37,1–14 einen sehr viel offeneren Situationsbezug zeigt, sich aber im Verlauf der Analyse umso stärker eine bestimmte Frömmigkeitspraxis als Konkretisierungsfeld herauskristallisiert hat. Ihre Leistung liegt darin, dass sie vor dem Hintergrund einer verbreiteten religionskritischen Zeitdiagnostik auf der Basis einer kreuzestheologischen Anthropologie die Kompatibilität zwischen der Krisenerfahrung des Individuums und einer theozentrischen Heilserwartung aufzeigt. Letztere wird nicht nur nach ihrer kognitiven Seite hin entfaltet, sondern konkretisiert 288
sich in einer Umstrukturierung der religiösen Praxis auf ein traditionsgeleitetes Nachsprechen der biblischen Psalmen und die doxologische Form des Betens hin. Wie sehr der auf den ersten Blick unkonventionelle Weg der Predigt vom verzweifelten Hilferuf am Beginn über das Ergreifen der vorgegebenen Formel bis zum doxologischen Gotteslob am Schluss einer auf phänomenologischer Grundlage erhobenen religiösen Handlungslogik entspricht, erhellt, wenn man beachtet, was Josuttis über die Praxis der Anbetung schreibt. Ist der Rückgriff auf Formeln für das doxologische Beten schlechterdings konstitutiv, so gilt für das Verhältnis von Bitt- zum Lobgebet: „Das Beten, das um Hilfe ruft und für Hilfe dankt, enthält immer auch eine Tendenz zur Selbstvergessenheit. Wer die göttlichen Heilstaten er-innert, kann außer sich geraten. Der Anruf kann über Bitte, Dank und Lob zur Anbetung führen. Die Methode, die die Beziehung zu allem Irdischen transzendiert, kann sich auf diese Weise selbst transzendieren und jenseits aller Zweckorientierung zur universalen Bestimmung alles Geschöpflichen führen.“146
146 Josuttis, Manfred, Religion, 119.
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. Kapitel
Schlussbetrachtung Nachdem wir in den drei Teilen dieser Arbeit die fundamentaltheologische und die predigtheoretische Dimension von Iwands Homiletik sowie seine eigene Predigtpraxis untersucht haben, soll am Schluss noch einmal überlegt werden, wie die von seinen theologisch-anthropologischen Grundlagen her entwickelte Predigttheorie und -praxis die Bestimmung der Predigtaufgabe und die rhetorische Gestaltung der Predigt prägt. Damit verbunden ist für uns die Frage, welches Orientierungspotential sein Ansatz für die heutige Bestimmung der Predigtaufgabe bereithält. Wenn wir unserer Studie eine Sichtweise der Predigt als intersubjektives Kommunikationsgeschehen zu Grunde gelegt1 und seine eigene homiletische Praxis unter dieser Voraussetzung analysiert haben,2 so zeugt dieser Zugang seinerseits von einem spezifischen forschungsgeschichtlichen Horizont. Die Verknüpfung der Perspektiven geschah von Anfang an in der Erwartung, dass Iwands Homiletik heute „etwas zu lernen“ gibt. In diesem Sinne setzen wir unseren Untersuchungsgegenstand am Schluss noch einmal in Beziehung zu jener Problemanzeige, die wir im Einleitungskapitel hinsichtlich der nach wie vor aktuellen Aufgabe einer kritischen Vermittlung von empirischen und theologischen Konstitutionsbedingungen der Predigt gegeben haben.3 Wir gehen dabei so vor, dass wir die am Beginn unserer Studie aufgeworfene Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Iwands Homiletik nochmals aufgreifen (7.1)4 und von da aus die mögliche Gegenwartsrelevanz seines Ansatzes im Ausblick auf und in der Verknüpfung mit aktuellen Fragen der Predigtlehre zu profi lieren suchen (7.2–7.4). Am Schluss dieses Kapitels geben wir eine Kurzzusammenfassung der gesamten Studie (7.5).
. Die Einbettung der Predigtaufgabe in das Konzept eines christologisch vermittelten Selbstverhältnisses Um zu würdigen, wie bei Iwand die Bestimmung der Predigtaufgabe mit der Ausbildung eines umfassenden Wirklichkeitsbewusstseins zusammen hängt, 1 2 3 4
Vgl. Kapitel 1.2. Vgl. Kapitel 4–6. Vgl. Kapitel 1.1.1. Vgl. Kapitel 1.1.1 und 1.1.2.
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ist es hilfreich, sich die von uns im Einleitungskapitel dargestellte Kritik am Wirklichkeitsbezug seiner Homiletik noch einmal zu vergegenwärtigen:5 Sie wurde auf der Basis eines Reflexionsniveaus formuliert, das sich im Zuge der Wende der Praktischen Theologie zur Empirie und zur empirisch bestimmten Subjektivität herausgebildet hat. Von da aus wurde energisch eingefordert, dass die Predigt sich nicht in Bibelexegese erschöpfen darf, sondern zugleich „Wirklichkeitsexegese“ leisten muss.6 Wesentliche Voraussetzung für eine angemessene Erfassung menschlicher Wirklichkeit ist es, das „Selbstverständnis des glaubenden Selbstbewusstseins in seinen welthaften Bezügen“7 wahrzunehmen. Dementsprechend gilt es den in der gegebenen Wirklichkeit lebenden Prediger als Organisationszentrum des homiletischen Aktes zu begreifen. Seine Aufgabe ist es, die Botschaft des Evangeliums mit seiner und durch seine Person in das wirkliche Leben hinein zu vermitteln. Angesichts dieser Fokussierung ist Iwands Option für eine dem subjektiven Vermittlungs- und Gestaltungswillen entzogene Selbstbewegung des Wortes Gottes als eine Perspektive auf das Verkündigungsgeschehen eingestuft worden, die unterhalb des Niveaus einer wirklichkeitsbezogenen und subjektiv verantworteten Homiletik bleibt. Sie steht unter dem Verdacht, das empirische Wirklichkeitsbewusstsein durch die unvermittelte Einführung extramundaner Bestimmungsfaktoren zu unterlaufen,8 und die „Konstruktion einer doppelten Wirklichkeit“ zu etablieren.9 In ihrem Kern läuft die von Seiten empirisch orientierter Predigtforschung geäußerte Kritik auf den Vorwurf hinaus, dass Iwands Profi lierung des Wortes Gottes zum zentralen homiletischen Bestimmungsgrund auf Kosten einer „unzureichende[n] Reflexion des Verhältnisses von Subjekt und dessen jeweiliger Wirklichkeit“ geschieht,10 und dass es seiner Homiletik an Bezogenheit auf die subjektive Erfahrungswirklichkeit mangelt.11 Die Aufarbeitung von Iwands Dissertation hat demgegenüber gezeigt, dass er seine Theologie von Anfang an in strenger Bezogenheit auf ein subjektivitätstheoretisch gefasstes Wirklichkeitsbewusstsein ausbildet und seine theologischen Bestimmungen als Antwort auf die Krisis dieses Bewusstseins entfaltet.12 Seine theologische Grundlagenreflexion setzt an bei dem Problem der Selbstvergewisserung empirisch bestimmter Subjektivität und führt im Durchgang durch transzendental- und religionsphilosophische Gedankengänge zu einer eigenständigen Bestimmung der Gotteswirklichkeit als „Totalität des Lebens“, auf die das Subjekt in der Antinomie seines Selbstverhältnisses zwischen reflektierendem und erlebendem Wirklichkeitsbewusstsein bezogen ist. Worin unterscheidet sich diese Bestimmung des Wirklichkeitsbezuges von 5 6 7 8 9 10 11 12
292
Vgl. Kapitel 1.1.2.1 Weyel, Birgit, Ostern, 225. Ebd., 233. Vgl. ebd., 100. Engemann, Wilfried, Einführung, 366. Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 273. Vgl. Weyel, Birgit, Ostern, 99. Vgl. besonders Kapitel 2.4.
solchen Konzepten, die den theologischen Auslegungshorizont ganz auf die empirisch bestimmte Subjektivität fokussieren? Entscheidend für Iwand ist, dass die Neubestimmung des Menschen durch das Evangelium zugleich eine Grund legende Neubestimmung des handelnden Selbstverhältnisses in Christus impliziert. Die wirklichkeitserschließende Kraft des Wortes Gottes ist gekoppelt an eine gewandelte Wirklichkeitswahrnehmung des Ichs, die letzteres in Differenz zu sich selber bringt. Zielpunkt der Verkündigung ist nicht das sich im empirischen Sinne gegebene Ich, sondern das die negierende Opposition gegen seine eigene Vorfindlichkeit einschließende und sich im Hören auf das Wort neu empfangende Ich des Glaubens. Das heißt nicht, dass das Ich des Glaubens dem empirischen Ich unvermittelt gegenüber stünde. Vielmehr sind beide in einem spannungsvollen Prozess aufeinander bezogen und bilden zusammen die Dialektik von Gesetz und Evangelium im Selbstverhältnis ab. Man kann sagen, dass das Zentrum von Iwands theologischem Wirklichkeitsverständnis das transitorische Moment des Übergangs von einem alten zu einem neuen, in Christus gegründeten Selbstbild ist. Die eigentümliche Struktur der Vermittlung zwischen Selbst-, Gottes- und Weltbewusstsein wird deutlich, wenn man beachtet wie eng alle drei Elemente aufeinander bezogen sind. Iwand begreift die Korrelation von Gott und Welterfahrung nicht als Problem einer reflexiven Vermittlung von eigenständigen Wirklichkeitsbereichen. Am sinnenfälligsten ist dies an seiner gegenüber Barth formulierten Weigerung, zwischen einem reflexiven Gehalt und einer situativen Gestalt des Wortes Gottes in der menschlichen Verkündigung zu unterscheiden.13 Ebenso weigert Iwand sich, die Gotteswirklichkeit als transzendenten und erlebnisjenseitigen Grund des Selbstbewusstseins aufzufassen.14 Wie er sich eine angemessene Verhältnisbestimmung von Gott und Selbstbewusstsein denkt, erhellt am klarsten in seiner Dissertation: Die Pointe ihres Gedankenganges ist darin zu sehen, dass Gott auf das Selbstverhältnis in seinem tätigen Vollzug und in seiner antinomischen Verfassung als begleitendes und bestimmendes Moment immer schon bezogen ist. Kommt er unter dem Gesetz nur indirekt als vom Ich aus nicht zu transzendierender Widerstreit des Ichs gegen sich selbst zu Bewusstsein, so besteht für den Glauben ein konstitutiver Zusammenhang zwischen der subjektiven Erfahrungswirklichkeit und ihrer Neuerschließung für das „Heute“ des Evangeliums in Christus als des Gesetzes Erfüllung. Unter der Dialektik von Gesetz und Evangelium sind Gottes- und Selbstverhältnis so eng aufeinander bezogen, dass sie nicht im Rückgang auf die Position eines „neutralen“ Subjektes voneinander separiert werden können. Iwands theologisches Verständnis von Subjektivität ist stets bezogen auf ihre (Neu-)Bestimmung in der und durch die Gegenwart Gottes.15 13 Vgl. Kapitel 3.3.1.2 und 3.3.1.3. 14 Vgl. Kapitel 2.2.3.2. 15 Vgl. Kapitel 2.3.
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Was folgt daraus für die Gestaltung des homiletischen Wirklichkeitsbezuges? Zunächst bedeutet dies, dass die Christuswirklichkeit sich im Zusammenhang der zwischen Erlebnis, Erleiden und Reflexion bewegten subjektiven Wirklichkeitserfahrung erschließt. Sucht Iwand die theologische „Wirklichkeitsexegese“ insgesamt auf die Struktur der Zu- und Aneignung des Christusglaubens auszurichten, so bedeutet dies, dass sie selber Anteil hat an der Gebrochenheit aller Reflexion, und dass sie um die „Leerstelle“ des erlebenden Wirklichkeitsbezuges kreist, an der Christus sich als Bestimmungsgrund des Lebens erweist. Die homiletische Auslegung der Erfahrungswirklichkeit geht aus von der Suche nach dem Wort Gottes im „Heute“ und steht in einem Entdeckungszusammenhang, den Iwand in seiner Homiletikvorlesung in Anlehnung an die biblischen Gleichnisse vom Suchen und Finden entfaltet.16 Dabei kommt die Unverfügbarkeit des Wortes Gottes dergestalt zum Tragen, dass es sich vom Ich nicht in die Struktur seiner reflexiven Selbstbegründung überführen lässt. Wo sich dem Ich ein neues Sein in der Gegenwart Christi erschließt, da gerät es in die Bewegung zwischen einem alten und einem neuen Selbstbild. Diese transitorische Bestimmung des Selbstverhältnisses im Christusglauben ist folgenreich für die Rolle und Funktion des Predigers in der Verkündigung. Letzterer kann als das empirische Subjekt, als das er sich gegeben ist, nicht zum Kommunikator des Evangeliums bestimmt werden, sondern kommt vielmehr zusammen mit allen anderen Hörern diesseits jener Grenze zu stehen, von jenseits der sich der Glaube aus dem Wort empfängt.17 Dass er mit seiner Subjektivität gleichwohl in einer gesteigerten Verantwortung steht und seine Hörer auf dem Weg zur Neubestimmung seiner und ihrer selbst durch das Evangelium anleitet, zeigt sich an der Weise, wie Iwand den Wirklichkeitsbezug in seiner homiletischen Praxis gestaltet. Im Blick darauf ist als Ergebnis des predigtanalytischen Teils unserer Studie festzuhalten: Hinsichtlich ihrer die homiletische Praxis steuernden Funktion gelangt Iwand von der Erwartung der gegenwärtigen Wirksamkeit des Gotteswortes her zur Ausbildung rhetorischer Verfahren, die den Forschungsinteressen gegenwärtiger Homiletik in hohem Maße konvergieren. Dies gilt zunächst für den Sachverhalt, dass Iwand der Form des Narrativen eine entscheidende Bedeutung zuweist und von seinen Anweisungen zum Umgang mit der Schrift zu einem Verfahren der szenischen Vergegenwärtigung biblischer Texte gelangt.18 Dies gilt sodann für den Sachverhalt, dass Iwand das Phänomen der Rezeption in einer spezifischen Weise thematisiert und seine Anschauung vom spannungsreichen Verhältnis zwischen Wort Gottes und wirklicher Welt in der Gestaltung des Predigtaufbaus rhetorisch umgesetzt.19 Dies gilt schließlich für den Sachverhalt, dass Iwand der Lebenswirklichkeit seiner Hörer entstammenden mentalen Bildern eine entscheidende Bedeu16 17 18 19
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Vgl. Kapitel 3.3.3.2. Vgl. Kapitel 3.3.5.1. Vgl. Kapitel 4. Vgl. Kapitel 5.
tung für die Gestaltung seiner homiletischen Praxis zumisst, und seine Anschauung von der kreuzestheologischen Signatur göttlichen Handelns an der wirklichen Welt über die Bearbeitung letzterer zu vermitteln sucht.20 Abschließend setzen wir Iwands homiletische Bestimmungen ins Verhältnis zu der Weise, wie in der gegenwärtigen Forschung die Predigtgestaltung nach rhetorischen Maßgaben erörtert wird. Im Sinne der Einordnung Iwands in den Horizont gegenwärtiger Fragestellungen und gleichzeitiger Abhebung von ihm soll so der „Mehrwert“ seiner Homiletik erhoben werden. Wir führen diese Betrachtung an den drei Bestimmungen (1.) des narrativen Schriftgebrauches, (2.) der Bewertung des Rezeptionsverhältnisses zwischen Wort Gottes und wirklicher Welt, sowie (3.) des Zusammenhanges von Bildbearbeitung und eschatologischer Wirklichkeitserschließung durch.
. Narrative Schriftauslegung als Finden des Wortes Gottes im „Heute“ In der gegenwärtigen homiletischen Diskussion wird der narrativen Sprachgestalt sowie der Erschließung des Textes über die in ihm angelegten Rollen eine entscheidende Bedeutung zugemessen.21 Im Sinne Wilfried Engemanns etwa ist diese Gestalt der Annäherung als eine wichtige Ergänzung zu historischen und kerygmatischen Zugängen zum Textsinn zu verstehen.22 Im Unterschied zu letzteren steht der historische Autor bei der narrativen Erschließung „dem Leser als ‚textinterner Autor‘ zu den Bedingungen des Textes zur Verfügung.“23 Aus der Perspektive kommunikationswissenschaft lich orientierter Predigtforschung wird der Gewinn dieses Verfahrens vor allem unter ästhetischen und didaktischen Gesichtspunkten gesehen, eröffnet es im Gegensatz zur diskursiven Erschließung doch einen vielfältigeren, plastischen und spielerischen Zugang zum Textverständnis.24 Die prinzipiell theologische Bedeutung der Bezogenheit homiletischer Arbeit auf den biblischen Erzählzusammenhang kommt demgegenüber erst nachgeordnet in den Blick. Zwar vermag Engemann es zu würdigen, dass die Beziehung zwischen Gott und den Menschen in der Bibel „vorzugsweise in Form von Geschichten wiedergegeben“ wird.25 Die Frage nach dem Subjekt der Predigt wird aber unabhängig von dieser Relation entwickelt.26 Das Verhältnis zwischen Text und Prediger stellt sich als das einer Kooperation dar, innerhalb derer dieser bei seiner Auslegung auf „verschiedene Instanzen der Begleitung“ trifft ,27 die ihn zur Entdeckung einer „begrenzte[n] Ähnlichkeit“ 20 Vgl. Kapitel 6. 21 Vgl. Engemann, Wilfried, Einführung, 263. 307–312. 22 Vgl. ebd., 263. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd., 271: „Wer einen Text verstehen will, muß die im Text für den Leser vorbereiteten Enklaven versuchsweise bewohnen – mit eigenen Fragen und Erwartungen im Gepäck.“ 25 Ebd., 309. 26 Vgl. ebd., 175–237. 27 Ebd., 263.
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zwischen der Welt des Textes und der gegenwärtigen Wirklichkeit führen können. Unterbestimmt bleibt im Horizont dieses „Analogie-Modell[s]“,28 wie die Auslegung zu einem „Perspektivenwechsel“ im Sinne der jesuanischen Gleichnisse erweitert werden kann, bei dem „die Gegenwart als eschatologischer Ort hervor[tritt]“.29 Im Verhältnis dazu findet man bei Iwand u.E. ein Verständnis von Narrativität vor, das tiefer mit der Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Glaubens vermittelt und dazu geeignet ist, die Hörer im „Heute und Hier“ (P 2,85) der Verkündigung als Ursprungsort christlicher Heilsgewissheit zu zentrieren. Von seiner theologischen Voraussetzung eines christologisch vermittelten Selbstverhältnisses her gelangt Iwand zu einem Modell der Inszenierung des biblischen Textes, welches die Hörer unter den wechselnden Zuständen von Gewissheit und Zweifel wahrzunehmen und ihnen über die Entfaltung dessen interner Rollen eine neue Identifi kationsmöglichkeit anzubieten vermag.30 Dem in seiner Selbstbezogenheit angefochtenen Ich eröffnet sich in der Begegnung mit dem Text eine Existenzmöglichkeit, in der es von sich selber loslassen und sich ganz aus dem gegenwärtigen Hören auf die Schrift empfangen kann. Charakteristisch für das iwandsche Verfahren der Rollenentfaltung ist jene Stimme des 51. Psalms, hinsichtlich der er im Anschluss an die Schilderung der inneren Leere des menschlichen Ichs formuliert: „Sollte es nicht dieses sein: daß wir herangeführt werden an diese Stimme, die wir immer wieder hören, wenn wir durch die Heilige Schrift hindurchgehen, […] – das ist die durchgehende Stimme des Volkes Gottes, jenes: aus der Tiefe schreie ich zu dir. Mit diesem Ruf beginnt und endet unser aller Leben, über ihn kommen wir nicht hinaus“ (P 6,79–90)
In Differenz zu dem von Engemann angezeigten Inszenierungsverfahren lässt sich der im „Heute“ des gegenwärtig wirksamen Gotteswortes indizierte Perspektivenwechsel – mit Worten von Manfred Josuttis – folgendermaßen charakterisieren: „Aus dem Rezeptionsprozess wird ein Konversionsgeschehen.“31 Als Gewinn der Anschauung Iwands von der gegenwärtigen Wirksamkeit des Wortes Gottes ist festzuhalten, dass der narrative Umgang mit dem Predigttext dabei einen eschatologischen Ernst erhält, welcher einer rein kommunikationswissenschaftlichen Betrachtungsweise verschlossen bleibt. Von seinen hermeneutischen Voraussetzungen her eröffnet sich ihm die Möglichkeit, sich dem Anspruch des biblischen Textes in einem umfassenderen Sinne auszusetzen, als eine rein kommunikationswissenschaftlich orientierte Hermeneutik dies zu leisten vermag. Mittels seines Verfahrens entfaltet die Predigt eine synthetisierende „Sehkraft“,32 nach der die gegenwärtige Wirklichkeit 28 29 30 31 32
296
Ebd., 271. Ebd., 310f. Vgl. Kapitel 4.7. Josuttis, Manfred, Gottes Wort im kultischen Ritual, 179. Thaidigsmann, Edgar, Gottes schöpferisches Sehen, 19.
in Gestalt von Phänomenen des öffentlichen und privaten Lebens, Arbeitern und Gebildeten, Journalisten und Militärs, der politischen Gegenwartslage und des mahnenden Predigers in der Texterschließung schon mit inbegriffen ist.33 Die Situation fordert den Text heraus und seine Verheißungen sind im Bezug auf sie als „echte, mitten unter uns sich begebende Realität“ (P 2,100) zu begreifen.34 In der Verschmelzung der Auslegungshorizonte werden die Rezipienten dazu angeleitet, den Bibeltext aus ihrer konkreten Situation heraus zu hören und Gottes Handeln an ihnen darin zu identifizieren. Dabei verläuft die analoge Erschließung nicht mehr nur in der Richtung vom Hörer auf den Text, sondern führt an einen Punkt, an dem sich die Perspektiven gewissermaßen umkehren. Wo die Hörerfahrung als Anfang einer neuen, durch ihn vermittelten Selbsterkenntnis qualifiziert wird, hört der Text auf, lediglich eine begleitende Instanz im Sinne eines literarischen Zeugnisses zu sein. Im Sinne des Wortes Gottes als viva vox evangelii wird er jener Bezugspunkt, aus dem sich die Lebensmöglichkeit des Glaubens konstituiert. Erst unter dieser Bestimmung wird der identitätsstiftende Anspruch der Verkündigung eingeholt. Die Schrift erscheint nicht mehr als Spielraum, sondern als Schutzraum, zu dem es sich angesichts der im Ich aufbrechenden Anfechtungen zu flüchten, und aus dem heraus es sich auf ein neues Sein aus der Versöhnung mit Gott hin zu entwerfen gilt. In der narrativen Gestaltung des Schriftbezuges erhält dieser Anspruch eine rhetorische Form und einen konkreten Ort: Die Hörer werden angesichts der ihr Glaubensleben begleitenden Zweifel auf den biblischen Traditionszusammenhang verwiesen. Analog dazu profi liert er die spezifische Sprechsituation gottesdienstlicher Verkündigung zum eschatologisch qualifizierten „Heute“, das die Hörer unter den Anspruch und Zuspruch der Nähe Gottes stellt.35 Predigt und Gottesdienst sind die konkreten Orte innerhalb der menschlichen Wirklichkeit, auf welchen die Hörer im Sinne der wiederholten Proklamation des „Heute und Hier“ (P 2,85) der Gegenwart Jesu rhetorisch zentriert werden.
. Die Gestaltung der Beziehung zwischen dem Wort Gottes und seinen Rezipienten als dialektisches Ineinander von Anspannung und Entspannung Konvergent zu gegenwärtigen Forschungsperspektiven erweist sich der Ansatz Iwands auch darin, dass er die Aufmerksamkeit auf die Gestaltung der Rezeptionsbeziehungen zwischen Text, Prediger und Hörern lenkt, und von der Anschauung der unverfügbaren Wirksamkeit des Wortes her zum Plädoyer für eine offene Gestaltung von Predigt gelangt.36 33 34 35 36
Vgl. Kapitel 4.7.2. Vgl. ebd. Vgl. Kapitel 4.7. Vgl. Kapitel 5.2.2.
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Vertreter der jüngeren Predigtforschung haben sich verstärkt auf den „Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik“37 eingelassen und in diesem Kontext die Auffassung von einer unabschließbaren Offenheit der Rezeptionsbeziehungen innerhalb des homiletischen Prozesses entwickelt. Diese Betrachtungsweise veranlasst sie dazu, die Predigtgestaltung als eine ästhetische Produktion zu begreifen.38 Dem liegt folgende Differenzierung und Zuweisung verschiedener Modelle von Welt- und Selbsterschließung zu Grunde: Im Unterschied zum Wirklichkeitsbewusstsein, das in den (Natur-)Wissenschaften leitend ist, wird in der religiösen wie in der ästhetischen Erfahrung die Aufmerksamkeit besonders auf den Sachverhalt gelenkt, dass menschliche Wirklichkeitswahrnehmung in der subjektiven Zuschreibung von Bedeutung nicht aufgeht, sondern auf ein dem identifizierenden Zugriff des Subjektes entzogenes „Widerfahrnismoment“39 verwiesen bleibt. Im Verhältnis zur Totalität des Daseins bleibt das Subjekt Fragment, d.h., es kommt in einem von sich aus nicht einholbaren Verweisungszusammenhang auf erstere zu stehen.40 In seiner Dissertation hatte Iwand dafür die Formel von der religiösen Erfahrung als Totalitätserlebnis geprägt und letzteres in Abhebung vom rationalen Wirklichkeitsbewusstsein dialektisch profi liert.41 Vertreter der rhetorisch orientierten Predigtforschung haben dies in der Weise aufgenommen, dass sie der poetischen, über sich hinaus verweisenden Sprache, für den Ausdruck religiöser Erfahrung eine besondere Bedeutung zugemessen haben.42 In diesem Sinne formuliert Henning Luther: „Während […] die Wissenschaftssprache und tendenziell auch die routinisierte Alltagssprache diesen fluktuierenden Differenzierungsprozeß [des unabschließbaren Prozesses der Bedeutungsfindung, Anm. N.S.] durch eindeutige Identifizierungen (Bedeutungszuschreibungen) zum Stillstand zu bringen versucht, ist es gerade das Kennzeichen poetischer Sprachverwendung, diesen Prozess offen zu halten und das Fragmentarische der jeweiligen Interpretationen produktiv für deren Weiterführung zu nutzen. […] Nur als Fragment vermittelt Predigt eine Ahnung von jenem Sinnganzen, das verschwiegen wird, wenn die einzelne Predigt sich selbst als dieses endgültige Sinnganze präsentieren würde. Daß der Prediger nicht über das ‚Wort Gottes‘ verfügt, bedeutet also, daß der Hörer in die Interpretation des Textes konstitutiv mit einbezogen ist.“43
Der letzte Satz dieses Luther-Zitates stellt eine frappierende Parallele zur Anschauung Iwands dar, wonach es in der Arbeit am Text die Wirklichkeit der Predigthörer zu finden gilt und beide Horizonte sich im „Heute“ der Verkündigung wechselseitig durchdringen.44 37 38 39 40 41 42 43 44
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Martin, Gerhard M., Predigt als offenes Kunstwerk, 46. Vgl. ebd. Barth, Ulrich, Religion, 121. Vgl. Luther, Henning, Identität, 330. Vgl. Kapitel 2.2.4.3. Vgl. Beutel, Albrecht, Sprache und Religion, 2–23. Luther, Henning, Identität, 336f. Vgl. Kapitel 7.2.
Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass die Differenzierung von Zugängen zur menschlichen Wirklichkeit nach ihnen zu Grunde liegenden Rezeptionshaltungen eine entscheidende Präzisierung dessen gebietet, was im Horizont empirisch orientierter Predigtforschung als Bezugnahme auf die „Wirklichkeit als ganze“ eingeklagt worden ist.45 Im Sinne einer Wahrnehmung der Predigtaufgabe unter ästhetischen Gesichtspunkten lässt sich der Wirklichkeitsbezug von Homiletik nicht lediglich im Rekurs auf ein erkenntnistheoretisches Modell einholen, in dem letzterer durch die Zuschreibung allen Wissens zu einem Träger desselben garantiert ist. Vielmehr gilt es das für die religiöse Wahrnehmung charakteristische Moment einzubeziehen, dass das Bewusstsein hier in uneinholbarer Differenz zu der sich ihm als geschlossener Wirklichkeitszusammenhang darstellenden Welt- und Selbstauslegung vor sich kommt. Aus diesem Grund ist das Forschungsinteresse im Horizont ästhetisch orientierter Homiletik erneut auf das innerhalb der sog. „Dialektischen Theologie“ leitende Verständnis von Offenbarung, bzw. auf die Anschauung von der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes gegenüber jedem planenden menschlichen Zugriff gelenkt worden: Albrecht Grözinger weiß etwa das der Theologie Karl Barth zu Grunde liegende Wirklichkeitsverständnis dahingehend zu würdigen, dass in ihm – wie in der modernen Kunst – „Momente[n] mit Offenbarungscharakter“, „aufblitzende[r] Erkenntnis“ und der Unterbrechung von Kontinuität i.S. unerwarteter Überraschungen besondere Bedeutung zugemessen wird.46 Ausgehend von Barth formuliert er für die Wirklichkeitswahrnehmung in der Homiletik die „These vom strukturellen Offenbarungscharakter alles Wirklichen: ‚Wirklichkeit‘ eröffnet sich in einer Vielzahl von überraschenden Augenblicken, in einer Mixtur aus Vertrautheit und Fremdheit, von Präsentation und Entzug.“47 Hans Ulrich Gehring zieht diese Linie weiter aus. Innerhalb seiner Studie zum Verhältnis von „Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik“48 bestimmt er die Konvergenz zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung dahingehend, dass beide sich ihrer Intention nach der Einordnung in einen innerweltlichen, geschlossenen Funktionszusammenhang verschließen und letzterem gegenüber durch den Anspruch einer „zweckfreien Eigenständigkeit“ qualifiziert sind.49 Im Anschluss an ein Diktum Eberhard Jüngels formuliert er: 45 Hermelink, Jan, Die homiletische Situation, 20. 46 Grözinger, Albrecht, Offenbarung und Praxis, 185–187. 47 Ebd., 189. Entscheidender Referent dieses Wirklichkeitsverständnisses ist Walter Benjamin. Er gelangt im Rahmen seiner Kunsttheorie zu der Auffassung, dass ästhetische Wahrnehmung sich als Konfrontation und Schock vollzieht: „sie ist nie Erkenntnis aus sich selbst heraus, sie ist ‚provozierte‘ Erkenntnis, sie ist immer Erkenntnisgewinn und nie lediglich eine Intensivierung von bereits vorab Gewußtem. In der Unterbrechung von Kontinuität liegt der Charakter von ästhetischer Erkenntnis begründet“; Grözinger, Albrecht, Praktische Theologie, 151. Die „messianische Kraft“ geglückter ästhetischer Wahrnehmung rührt für ihn gerade vom Durchbrechen vorhandener Lebenszusammenhänge und dem daraus resultierenden ontologischen Riss her; vgl. ebd., 151. 48 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. 49 Ebd., 179.
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„Der Glaube als ästhetische Erfahrung sui generis ist weltlich nicht notwendig, sondern mehr als notwendig! Er hat auf seine Weise Anteil an der Zweckfreiheit alles Ästhetischen. Religiöser Erfahrung bestimmte innerweltliche Funktionen zuweisen hieße, sie wieder in jenes Geflecht von Zwecken und Zielen einzuspannen, dem das ‚ekstatische Moment des Glaubens‘ (Tillich) gerade heilsam zu entkommen vermag.“50
Noch einen Schritt weiter geht Gehring, wenn er diese Anschauung für den Umgang mit der Schrift im Prozess der Predigtvorbereitung fruchtbar macht. Die von ihm favorisierte Hermeneutik ist gekennzeichnet durch eine ästhetische Grundhaltung, nach der es den Text im Sinne des Wortes Gottes als unverfügbares Offenbarungsmedium zu behandeln und sich den der Beschäftigung mit ihm entspringenden „Bilder[n] und Einfälle[n]“51 auszusetzen gilt. Unter den Überschriften „Wortgenuss“ und „Gastwirtschaft“ fordert er eine „in jedem Fall höflich und taktvoll zu vollziehende, die Fremdheit dieses Gastes achtende und bewusst haltende Annäherung an den Text“ ein.52 Iwands im Rahmen unserer Studie herausgearbeitetes homiletisches Profi l erweist sich in hohem Maße anschlussfähig an diese Sichtweise. Dies gilt bereits hinsichtlich dessen, was er in seiner Dissertation zur Eigenart theologischen Arbeitens insgesamt formuliert hat. Die Lösung von Problemen ist für ihn niemals das Ergebnis geradliniger, plan und einsehbarer Konstruktionen, sondern drängt sich dem Suchenden unverrechenbar auf, in Erschließungsmomenten, die ihrerseits den Charakter des Zufälligen und der widerfahrnishaften Begegnung haben.53 In seiner Homiletik legt Iwand diese Erwartung dem Umgang mit dem Predigttext zu Grunde, insofern er die Schrift als einen homiletischen Schutzraum profi liert.54 Für die Bezogenheit der theologischen Reflexion auf den Zusammenhang von Schrift und Verkündigung bedeutet dies, dass der Prediger die Schrift nicht i.S. des Objektsetzungsmodells als Material seiner Auslegung ansehen darf, dem gegenüber er die Haltung eines distanzierten Kritikers einnehmen kann.55 Er rechnet vielmehr damit, dass das Sich-Einlassen auf das Schriftzeugnis ihm sein Welt- und Selbstverhältnis noch einmal anders zu erschließen vermag, als dies im auf sich selbst bezogenen Bewusstsein geschieht. Iwands Bestimmungen zum Umgang mit der Schrift zielen darauf, den einzelnen Predigttext „in minutiöser Genauigkeit […] dar[zu]stellen und aus[zu]legen“,56 um ihm so lange in seinen inneren Spannungen und Bewegungen zu folgen, bis seine Bedeutung für das „Heute“ dem Prediger evident wird. Unter dem Begriff des zweckfreien Genießens ist i.S. Iwands jenes die religiöse Erfahrung strukturierende Rezeptionsverhältnis keineswegs hinrei50 51 52 53 54 55 56
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Ebd. Vgl. Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis, 19. Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, 176. Ebd. Vgl. Kapitel 2.4. Vgl. Kapitel 3.3.2.1. GA I, 93. Vgl. bes. Kapitel 3.3.3.2 und 3.3.3. Homiletik, 79/503.
chend bestimmt. Wir kommen damit an den Punkt, an dem sein Ansatz einer ästhetisch orientierten Homiletik Entscheidendes zu lernen gibt: Der Gewinn ist darin zu sehen, dass er die von sich loslassende Haltung des Ichs in der religiösen Erfahrung streng zurück bezieht auf jenes Identitätsverlangen, welches das Lebenselement der auf sich bezogenen Selbstauslegung ist. In diesem Sinne hatte er in seiner Dissertation das Totalitätsverhältnis als eine spannungs- und wechselvolle Dialektik zwischen Selbsterhaltung und Erschütterung des Bewusstseins dargestellt.57 Diese Verhältnisbestimmung hat Konsequenzen im Blick auf die Strukturierung der Rezeptionsbeziehung zwischen Wort Gottes und wirklicher Welt. Letztere gestaltet sich nicht als eine harmonische Bewegung des Loslassens, sondern vielmehr als ein höchst angespanntes und engagiertes Ringen mit Widerständen, innerhalb dessen es zu der befreienden Koinzidenz zwischen Wort und Wirklichkeit, bzw. zum Loslassen von sich selber kraft des Ergriffen-Werdens durch Gott kommt.58 Iwand selber prägt dafür die paradoxe Formel von einer Haltung, bei der „wir uns in vollständiger Passivität bei vollster Aktivität“ befinden.59 Der Gewinn dieser Anschauung liegt darin, dass Iwand das positive Moment der gelösten Zwecklosigkeit religiöser und ästhetischer Erfahrung aufzunehmen vermag, zugleich aber auf das humane Befinden unter den Bedingungen von subjektiver Welt- und Selbstauslegung zurück bezieht, und auf diese Weise beiden Momenten im homiletischen Prozess ihren Ort zuweist. In diesem Sinne wird für ihn die Welt zum konstitutiven Bezugspunkt der Verkündigung.60 Theologisch gesprochen ist eine lediglich an der Haltung des interesselosen Sich-Einlassens auf die Schrift orientierte ästhetische Homiletik von Iwand her dahingehend zu kritisieren, dass sie den Rezipienten eine Stellung jenseits des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium zuweist,61 damit aber die menschliche Wirklichkeit im Wechsel von Zweifel und Gewissheit, Anfechtung und Trost aus dem Blick verliert. Unter Iwands Prämissen gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem Wort Gottes und seinen Rezipienten nicht – um im Bild Gehrings zu bleiben – als das eines umsichtigen, respektvollen Gastgebers, sondern eher als das der unverschämt bittenden Witwe (Lk 18,1–8), die dem Richter mit ihrer Not in den Ohren liegt und nicht fortgehen kann, bevor sie Hilfe erhalten hat. An keiner anderen Stelle tritt dies so deutlich hervor, als in der Existenz des Predigers selber. Sieht er in ihm den ersten Hörer des Wortes,62 so weist er ihm zugleich die priesterliche Aufgabe zu, mit den Sorgen und Nöten der Welt an den Text heranzutreten, um im „Durchbruch vom Nichtverstehen 57 Vgl. Kapitel 2.2.4.3. 58 Vgl. Kapitel 2.4. 59 Vgl. Zur methodischen Verwendung, 63. 60 Vgl. Kapitel 3.3.3. 61 Das Verhältnis Iwands zu gegenwärtigen Forschungsperspektiven gestaltet sich hier analog zu dem, was von ihm hinsichtlich der Vorstellung von einer Autonomie des Wortes Gottes an Barth kritisiert worden ist. Vgl. Kapitel 3.3.1.2. 62 Vgl. Kapitel 3.3.5.
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zum Verstehen“63 das „Heute“ des Wortes Gottes zu hören und in der Predigt hörbar zu machen. In einem angespannten Ringen oszilliert seine Rolle zwischen der des skeptischen Hörers, der den Text mit den in seiner Lebenswelt aufbrechenden Widerständen konfrontiert, und des vom Kerygma ergriffenen Boten, der die widersprüchliche Erfahrungswirklichkeit aus der Perspektive der göttlichen Heilwirklichkeit neu qualifiziert. Erst unter dieser Doppelbewegung ist der Offenbarungscharakter des Wortes als in immer neuen und einmaligen Entdeckungen hörbar werdendes angemessen erfasst, und erhält er den eschatologischen Ernst, der ihm angesichts der krisenhaften Verfassung der Welt zukommt. Dass Iwand mit seiner Forderung, die wirkliche Welt in die Predigtgestaltung einzubeziehen, in seiner eigenen Praxis ernst macht, ist in der Analyse zur Predigt über Ez 37 besonders greifbar geworden. Die konkrete Situation seiner von den Luftangriffen betroffenen Gemeinde wird hier zum Ausgangspunkt der eschatologischen Neubestimmung von Wirklichkeit im Lichte des Wortes Gottes.64 Welche rhetorische Disposition der Stoffe der angezeigten Rezeptionsbeziehung entspricht, haben wir aber zunächst im 5. Kapitel dieser Studie analysiert: Für Iwand stellt sich die Predigtaufgabe als ein prinzipiell unabschließbarer Weg dar, der seinen Ausdruck findet im spannungsvollen Nebeneinander von sich aus Anfechtungs- und Glaubenserfahrung eröffnenden Perspektiven. Das Gesamtbild der Predigt ergibt auf diese Weise einen Kontrast, der den für das Glaubensleben insgesamt charakteristischen Wechsel zwischen Selbstzweifel und Gottesgewissheit zum Gegenstand hat. Eine hohe Anforderungsschwelle und die Entlastung in Gestalt einer heilsamen Unterbrechung der Alltagswahrnehmung formen eine Kontrasthermeneutik i.S. einer blockartigen Nebenordnung kleiner Einheiten.65 Offenheit und Enge wechseln einander ab. Bezeichnend ist, dass Iwand einer sukzessiven Annäherung dieser beiden Ebenen keinen Raum lässt, sondern die Hörer aus der Depression heraus unvorbereitet und überraschend mit dem „Heute“ der göttlichen Heilsbotschaft konfrontiert. Erhalten die Predigten von daher einen drängenden Charakter, so ist dies im Blick auf seine Prämissen hinsichtlich der Rezeptionsbeziehungen dermaßen zu werten, dass der Prediger bei seiner Arbeit am Text nicht aus seiner Weltverantwortung entlassen, sondern in der Bedrängnis durch sie auf ihn verwiesen wird. In diesem Sinne werden auch die Hörer immer wieder auf ihre Verantwortung und Solidarität mit den Bedürftigen zurück verwiesen, mit der sie sich durch den Wechsel von Anfechtung und Gewissheit verbunden wissen.66 Die Predigt kommt von ihrer Wirklichkeit her und führt sie zugleich in sie zurück. Obwohl eine wirkliche Entlastung erst im Licht der eschatologischen Neubestimmung durch das Wort eintritt und insofern unverfügbar bleibt, sind Iwands Predigten im Sinne einer rezeptionsästhetisch 63 64 65 66
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Homiletik, 19/448. Vgl. Kapitel 6.4. Vgl. Kapitel 5.5. Vgl. Kapitel 5.4.2.
motivierten Betrachtungsweise doch Beispiele dafür, dass das Wort Gottes trotz seiner innerweltlichen „Funktionslosigkeit […] nicht folgenlos“ bleibt.67 Die Unterbrechung des geschlossenen Handlungszusammenhanges setzt die Aufforderung zu einer Veränderung der Praxis aus sich heraus: Wo die menschliche Erfahrungswirklichkeit unter das eschatologische „Heute“ der Gottesgegenwart gestellt wird, da gilt es den Nächsten „mit Gottes Augen“ neu zu sehen und in der Fragmenthaftigkeit seines Lebens sich selbst wieder zu entdecken – Iwand ruft zu einer Gemeinschaftsform, die vom Bewusstsein der Solidarität getragen ist.68 Da gilt es gegenüber verhärteten Denkweisen in der Politik „eine andere Sprache“ hörbar zu machen „als die, die in dem anderen Menschenbruder den Feind sieht“ – Iwand ruft zu einer Umkehr in den politischen Überzeugungen, die auf eine Deeskalation des Denkens in Freund-Feind-Verhältnissen zielt.69 Da gilt es den Übergriffen der Machtansprüche weltlicher Herrschaft auf die Religion, die sich etwa in der Beschwörung der „Wiedergeburt unseres Volkes“ als Moment der göttlichen Führung ausdrückt, eine von nüchterner Sachlichkeit getragene Haltung des Zeugnisses für die Unverfügbarkeit des göttlichen Namens entgegenzusetzen, welche weltliche Macht heilsam begrenzt. Die Geltendmachung des Weltbezuges von Predigt wirkt sich in Iwands rhetorischer Gestaltung dermaßen aus, dass die zweckfreie Proklamation des Heils zurück bezogen wird auf Phänomene des alltäglichen Lebens und diese sprachlich eingeholt werden.
. Die Arbeit mit mentalen Bildern als Neuerschließung menschlicher Lebenswirklichkeit im Licht des Wortes Gottes Im Anschluss an den durch die jüngere Ästhetik angeregten Forschungshorizont soll auch der im 6. Kapitel dieser Studie analysierte Bildgebrauch in Iwands Predigten noch einmal rekapituliert und ausgewertet werden, ist die Arbeit mit Bildern doch eine spezifische Form poetischer Rede, die im Unterschied zum diskursiven Denken einer „Logik der Assoziation“ folgt.70 Die rhetorische Bedeutung der Bildassoziation liegt darin, dass in ihr jenes von Seiten der Rezeptionsforschung geforderte Eröffnen von Spielräumen, in denen der Einzelne sich mit seinen individuellen Erfahrungen wieder finden kann, verwirklicht wird. Für das Gelingen dieses Verfahrens kommt es darauf an, dass (1.) die bearbeiteten Bilder in der gemeinsam zugänglichen Wirklichkeit von Prediger und Hörern verwurzelt sind. Sodann gilt es (2.) eine neue Perspektive auf Phänomene der konventionellen Alltagswirklichkeit zu eröffnen, durch welche zugleich die konkrete Äußerungsbedeutung der Predigt erschlossen wird.71 67 Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip, 179. 68 Vgl. P 3,138–150. 69 Vgl. P 2,242–246. 70 Preul, Reiner, Deskriptiv predigen, 109. Vgl. Kapitel 6.1. 71 Vgl. dazu das in Kapitel 6.3.1 vorgestellte Modell von Eberhard Müske und dessen Akkommodation auf die Predigt von Jan Hermelink.
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In Iwands Predigten ist die Arbeit mit mentalen Bildern dadurch bestimmt, dass er das Handeln Gottes an der Welt durch sein Wort unter kreuzestheologischer Signatur wahrnimmt. Erscheint die Herrlichkeit Gottes unter den Bedingungen der wirklichen Welt immer sub contraria specie, so ist in dieser Anschauung bereits ein Verfahren medialer Wirklichkeitswahrnehmung beschlossen. Es geht darum, auf die Welt in ihrem Für-sich-Sein und die Phänomene, die das Leben in ihr bestimmen, eine neue Perspektive zu eröffnen, welche sie in ihrer Interimstellung zwischen Todes- und Auferstehungswirklichkeit zu Gesicht bringt und auf eine ihr unverfügbare Zukunft ausrichtet. Was lässt sich hinsichtlich der Eigenart der bildhaften Vermittlung des Zusammenhanges zwischen allgemeiner Erfahrungs- und biblischer Verheißungswirklichkeit bei Iwand festhalten, und worin ist ihr Gewinn für die Orientierung der Hörer in ihrem Leben zu sehen? In den beiden Predigten über Ez 37,1–14 und Ps 51,12f vermittelt Iwand den eschatologischen Wirklichkeitsüberschuss der Verheißung dermaßen mit den der Alltagserfahrung zuzuordnenden mentalen Bildern, dass er den Unheilszusammenhang von Krieg und Vereinzelung schrittweise durch neue Bildelemente überblendet, die vom Predigttext her auf den Plan treten. Dabei gelingt es ihm, die Affinität der dem Kontext biblischer Eschatologie entstammenden Bilder zu gegenwärtigen Krisenerfahrungen aufzuweisen, indem er seine Darstellung auf Momente der Erschütterung von Selbstgewissheit und sie begleitende Umstände lenkt, die in beiden Horizonten konvergieren. Bis in einzelne Details wird die Ohnmacht angesichts der Gewalt des äußeren Vernichtungsgeschehens, die Resignation und der Wechsel zwischen Hoffen und Bangen durch Analogisierung des Befindens des Propheten Ezechiel mit dem der unter dem Luftkrieg leidenden Gemeinde ausgestaltet.72 In der Predigt über Ps 51,12f nimmt Iwand den Verweisungszusammenhang des Textes zwischen individueller Not und Transzendierung der Heilserwartungen auf das schöpferische Handeln Gottes zum Anlass, die Situation des Psalmbeters mit der krisenhaften Wahrnehmung von Individualität und Vereinzelung in der Gegenwart zu analogisieren.73 Der Text wird zum Medium gegenwärtiger Wirklichkeitserschließung, indem das in ihm geäußerte Befinden mit dem der Hörer zu einem einzigen Szenarium zusammengeschlossen wird. Dieses Verfahren ist die Voraussetzung dafür, dass die Hörergegenwart überraschend als Ort der schon anhebenden Wende zum Heil aufgedeckt werden kann. In ihrer medialen Gestaltung durchdringen sich fremde mit bekannten Bildelementen, bzw. kommt Bekanntes in verfremdeter Perspektive in den Blick. In diesem Sinne spricht Iwand etwa die Haltung passiven Erleidens mit der Demut im Gottesverhältnis, Unruhe mit Erwartung und das traumatische Herausfallen aus dem Zeitrahmen mit dem Kairos zusammen.74 Das befreiende, für die konkrete Äußerungsbedeutung der Predigt entschei72 Vgl. Kapitel 6.4.5. 73 Vgl. Kapitel 6.5.3. 74 Vgl. Kapitel 6.4.5.2.
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dende Moment dieser perspektivischen Überblendung ist darin zu sehen, dass die Anschauung von der gegenwärtigen Wirksamkeit des Wortes Gottes individuelle und kollektive Krisenerfahrungen in einen neuen Bezugsrahmen zu stellen und ihnen eine neue Funktion zuzuweisen vermag:75 Unter dem Sog der äußeren Umstände verdichtet sich dem Krisenbewusstsein seine Wirklichkeit zu einem geschlossenen, unter dem Vorzeichen des Todes stehenden Unheilszusammenhang. Demgegenüber bringt die Verheißung eine neue Perspektive ins Spiel, welche das äußere Ergehen in ganz anderer Weise zu deuten ermöglicht, nämlich als Interimszustand und Übergang zu einem neuen Sein in Christus. Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht Iwands Formulierung: „Wir sind vielleicht heute noch die letzten, aber wir werden die ersten sein“ (P 5, 43f)
Jene Zustände, die im Deutungshorizont der Alltagserfahrung eindeutig negativ bewertet werden, erscheinen im Horizont der Verheißung als Anzeichen für den Beginn einer neuen Heilszeit, im Verhältnis zu der den Leidenden die Rolle eines „Vortrupp[s]“ (P 5,42) zugewiesen wird. Die Funktion des Textes ist es dabei, mit seinen Auferstehungsbildern ein Gegengewicht zu denen der Zerstörung und der inneren Leere zu setzen, und auf diese Weise den Horizont der Lebensdeutung insgesamt offen zu halten. Die Mittel dazu sind nicht lediglich die Bilder als solche, sondern auch der zeitliche Rahmen, innerhalb dessen der Iwand sie aufeinander bezieht.76 Die Anschauung, dass in den Bibeltexten der eschatologische Wirklichkeitsüberschuss der Verheißung gegenüber der Jetztzeit zur Sprache kommt, ermöglicht es dem Prediger, seine Hörer am Ort des Gottesdienstgeschehens zu zentrieren und sich mit ihnen zugleich in die Zeit nach dem Eintritt der Heilswende zu imaginieren.77 Vom Ausblick auf das Kommende her kippt die Bewertung der gegenwärtigen Umstände um: Die Erfahrung der Fragilität des Selbstverhältnisses wird so identifizierbar als Moment der Neukonstitution des Ich von Gott her.78 Der durch die äußere Not bedingte Zusammenschluss zu Überlebensgemeinschaften wird identifizierbar als Lebenselement des neuen Gemeinschaftstypes des Reiches Gottes, für den die affektive Hinwendung zum Nächsten charakteristisch ist.79 Innere Leere und Haltlosigkeit werden identifizierbar als Momente des Verwiesenseins auf den Ruf in das Leben, der in Gestalt des von außen zugesprochenen Wortes hörbar wird.80 75 Das Vorgehen Iwands konvergiert insofern einem in der systemischen Familientherapie unter dem Begriff „Refraiming“ eingesetzten Verfahren, insofern es darum geht, dass „einem Geschehen dadurch ein anderer Sinn gegeben [wird], daß man es in einen anderen Rahmen (engl. ‚frame‘) stellt, der die Bedeutung des Geschehens verändert“; Schlippe, Arist v./Schweitzer, Joachim, Lehrbuch, 177. Die wichtigste Funktion eines Refraimings ist es, die Verstörung einer eingeschliffenen Wirklichkeitssicht zu bewirken, um dadurch neue Lebensmöglichkeiten zu erschließen; vgl. ebd., 180. 76 Vgl. Kapitel 6.4.4. 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. Kapitel 6.4.5.2. 79 Vgl. Kapitel 6.4.5.3. 80 Vgl. Kapitel 6.5.4.
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Insgesamt ist Iwands Einführung biblischer Bilder in den Kontext der Alltagswahrnehmung so zu bewerten, dass erstere im Bezug auf letztere nicht eine neue Eindeutigkeit schaffen, sondern eine durch die Perspektive der Resignation bedingte Eindeutigkeit aufbrechen und ins Verhältnis setzen zur Möglichkeit einer unerwarteten Wende zum Heil. Innerhalb dieses Verweisungszusammenhanges oszilliert die Wirklichkeitswahrnehmung zwischen Anfechtung und Gewissheit. Die Bildbearbeitung erweist sich in diesem Sinne als konvergent zu den Beobachtungen, die wir zum Predigtaufbau angestellt haben.81 Sie gibt dem Zweifel der Hörer Raum und behaftet ihn zugleich bei der ihm zugemuteten Mutabilität der Wahrnehmung seiner Lebenswirklichkeit.82 Beide Momente sind in ihrem Ineinander Ausdruck der Erwartung der Wirksamkeit des Wortes Gottes am Menschen unter kreuzestheologischer Signatur. Hinsichtlich der Relevanz des bei Iwand analysierten Verfahrens für gegenwärtige Forschungsperspektiven ist zu sagen: Von ihm her drängt sich mit besonderem Nachdruck auf, dass die Bildmodulation im Spannungsfeld von Anfechtung und Glaube kein harmloser, lediglich unter didaktischen Gesichtspunkten zu erörternder Vorgang ist, sondern auf die zentrale Bestimmung des Welt- und Selbstverhältnisses zurückwirkt. Sie vollzieht sich auf der Grenze zwischen zwei durch das Wort Gottes voneinander unterschiedenen Machtbereichen, welche die Hörer beider maßen autoritativ beanspruchen. Im Ringen widersprüchlicher Bilder um die angemessene Sicht der Erfahrungswirklichkeit entscheidet sich, ob das Ich in der Resignation auf sich zurückgeworfen oder neu ins Leben gerufen wird. Ist die bildhafte Dimension für die Wirksamkeit des Wortes i.S. Iwands kennzeichnend, so markiert die Einbildung in die eschatologische Verheißungswirklichkeit konkret den Übergang zum neuen Sein der Person in Christus. In der Anweisung zum Nachsprechen der Stimme des 51. Psalms und deren Ausweitung zum doxologischen Gotteslob reicht er seinen Hörern dafür eine religiöse Praxis zur Hand,83 die für ihn bereits in den Bedrohungssituationen des Krieges maßgeblich war.84 Der Rückverweis darauf macht deutlich, dass es sich bei der Bildbearbeitung für ihn nicht um ein isoliertes Verfahren handelt, sondern dass das Ringen mit Bildern der Bedrohung und der Befreiung für ihn in den Gesamtvollzug des Glaubenslebens eingebettet ist.85
. Abschließende Kurzzusammenfassung der Studie „denn wenn ich schwach bin, bin ich stark“ (2Kor 12,10b) – Wenn wir unsere Studie abschließend unter diesen Vers aus dem 2. Kornitherbrief stellen, dann 81 82 83 84 85
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Vgl. Kapitel 7.2. Vgl. Kapitel 3.3.4.2. Vgl. Kapitel 6.5.5. Vgl. Kapitel 6.4.5.1.2. Vgl. Josuttis, Manfred, Religion, 119.
tun wir dies, weil wir in ihm das der Homiletik Iwands zu Grunde liegende Verständnis von Glaubenssubjektivität treffend ausgedrückt finden. Im Gegensatz zu Ansätzen, die den homiletischen Subjektbezug im Gedanken einer stabilen Ich-Identität zu fundieren suchen,86 qualifiziert Iwand die dem homiletischen Akt zu Grunde liegende Subjektivität durch eine Differenzerfahrung. Der Zusammenhang von Gottes- und Selbstverhältnis hat seinen Ursprung dort, wo das Ich in der Krisis seiner Selbstbezüglichkeit als in Christus gegründetes Ich durch das Wort Gottes ins Leben gerufen wird. Iwands Weg zu einem den homiletischen Akt fundierenden Verständnis von Subjektivität haben wir im zweiten Kapitel unserer Studie von den Anfängen seines Denkens her rekonstruiert: Bereits in seiner Dissertation bestimmt er das religiöse Erlebnis im Kern als eine Differenzerfahrung, in der die Person sich an der Totalität Gottes ungleichzeitig wird.87 In Christus gefasst, markiert diese Erfahrung den Übergang zu einem neuen, darin seiner selbst gewissen Sein ist, dass es sich ganz aus Gott empfängt und die Einheit seines Werdens dem schöpferischen Handeln Gottes anheim stellt. In einer späteren Christologievorlesung führt Iwand die Überlegungen seiner Dissertation weiter, indem er die Christologie als kritische Basis von Anthropologie entfaltet. Die Pointe seiner Erörterungen liegt darin, dass er ausgehend von der reformatorischen Fassung der Christusbeziehung als „fröhlicher Wechsel“ zwischen Christus und der angefochtenen Seele ein völlig neues Verständnis von Personalität entwirft.88 Personalität konstituiert sich im Übergang vom selbstbezogenen zum Kraft der Verheißung zugeeigneten Sein in Christus. Das Ich des Glaubens lässt sich von der Christusgemeinschaft nicht isolieren. Sein Lebenselement ist die von sich loslassende Ausrichtung auf Christus als dem neuen Menschen, der er zugleich in mir werden will. Iwands systematischer Hintergrund war für uns eine entscheidende Voraussetzung zur Erarbeitung seiner homiletischen Vorlesung mit ihrer charakteristischen Verzahnung von prinzipiellen und praktischen Bestimmungen. Im dritten Kapitel haben wir als deren Grundzug das „Programm eines homiletischen Realismus“ bestimmt.89 In der Zusammenschau seiner homiletischen Auslassungen mit dem systematischen Hintergrund erschloss sich uns ein prägnantes Bild von Predigt und Predigtarbeit: Vor allem, was sie sonst noch bestimmt, liegt das Geheimnis der Predigtarbeit darin beschlossen, dass in ihr die Grundbestimmung christlicher Existenz zum Tragen kommt. Predigen heißt: Unnachgiebig nach jenem Ort suchen, wo das Selbstbewusstsein dem freisprechenden Gotteswort konform wird, und gleichzeitig wissen, dass das Auffinden dieses Ortes mit dem Widerspruch des Selbstbewusstseins gegen seine eigene Selbstbezüglichkeit zusammenfällt. Die selbsttätige Aneignung des Wortes Gottes zielt auf jenen Moment, wo das in die Predigt involvierte 86 87 88 89
Vgl. Einleitung 1.1.1. Vgl. Kapitel 2.2. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Kapitel 3.3.
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Subjekt so von sich loslässt, dass es sich ganz aus dem Wort als jenseitigem und zugleich aktuellem Ursprung seiner selbst empfängt. Iwands Auffassung von der den homiletischen Akt charakterisierenden Suchbewegung des Predigers drängt dazu, sie in Gestaltungsregeln für die Predigtarbeit zu übersetzen. Diese Einsicht haben wir zunächst anhand seiner in der homiletischen Vorlesung formulierten Maximen zum Schriftgebrauch,90 zur Gestaltung der Hörerbeziehungen91 und zur eschatologischen Neubestimmung von Wirklichkeit92 entwickelt. Wir stellten seine homiletischen Bemühungen so auf eine breitere Basis: Ihnen liegt nicht nur ein auf die Erfahrungswirklichkeit bezogenes Konzept von Subjektivität zu Grunde. Iwand versteht es auch, dieses Konzept mit der Struktur der Predigtgenese zu vermitteln und die Predigtarbeit methodisch anzuleiten. Überraschten seine Auslassungen durch ihren konkreten Praxisbezug, so standen wir damit bereits an der Schwelle zum predigtanalytischen Teil unserer Studie.93 Unsere leitende Überlegung war: Diejenigen Maximen, die Iwand seinen Vorlesungshörern als homiletischer Lehrer vermittelt, müssten sich in angewandter Form auch an seinen eigenen Predigten rekonstruieren lassen. M.a.W.: Es ging uns darum, Iwands eigene Predigtpraxis an der Theorie zu messen, in der Zusammenschau beider Dimensionen seinen homiletischen Idiolekt zu profi lieren und ihn zurück zu beziehen auf seine Grundanschauung von Glaubenssubjektivität. In diesem Sinne analysierten wir im vierten Kapitel zwei Predigten über Apg 4,11–1294 und Mt 12,43–4595 im Blick auf eine spezifische Gestalt des Umgangs mit der Schrift. Als typisch für Iwands Predigtweise erwies sich uns eine szenische Vergegenwärtigung der biblischen Textwelt, in welcher der historische und der durch die gegenwärtige Situation bedingte Auslegungshorizont miteinander verschmelzen. Iwand betreibt seine Schriftexegese in Erwartung einer grundsätzlichen Offenheit des Textes für die Gegenwart. Nicht in seiner historischen Abgeschlossenheit, sondern als „ein Stück Welt eingetaucht in das Licht der Gegenwart Gottes“96 kommt er homiletisch zur Geltung. Unter der Voraussetzung, dass das Wort Gottes sich als viva vox evangelii in der Predigt je neu imponiert, sucht er in der Schrift nach einem der Predigtgemeinde zugewandten Gegenüber. Im fünften Kapitel analysierten wir Predigten über Gal 5,25–6,1097 und Gal 2,15–2198 im Blick auf deren Aufbau und die Gestaltung der Rezeptionsbeziehungen zu den Hörern. In beiden Punkten wurde für uns das spannungsvolle Verhältnis zwischen vorfindbarer Welt und jedem planenden Zugriff entzogener Unverfügbarkeit des Wortes Gottes seiner gestalterischen Konsequenzen 90 91 92 93 94 95 96 97 98
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Vgl. Kapitel 3.3.2. Vgl. Kapitel 3.3.3. Vgl. Kapitel 3.3.4. Vgl. unsere „Vorüberlegungen zur rhetorischen Analyse von Predigten Iwands“ Vgl. Kapitel 4.5. Vgl. Kapitel 4.6. GA I, 118. Vgl. Kapitel 5.4. Vgl. Kapitel 5.4.3.
nach greifbar. Im Selbstverhältnis bildet sich die Spannung als Wechsel von Zweifel und Gewissheit ab. Durch sie hindurch realisiert sich die gegenwärtige Heilsbedeutung des Textes in immer neuen Umbrüchen „vom Nichtverstehen zum Verstehen“.99 Charakteristisch dafür ist ein kontrastreiches Nebeneinander wechselnder Perspektiven der Anfechtung und der Gewissheit. Obwohl letzteres niemals nach einer Seite hin aufgelöst wird, intendiert der Prediger doch ein Wachstum des Glaubens, indem er sich und seine Hörer sukzessive für die christologische Selbstbestimmung zu gewinnen sucht. Im sechsten Kapitel analysierten wir Predigten über Ez 37,1–14100 und Ps 51,12f101 im Blick auf deren eschatologische Dimension. Im Anschluss an Aussagen der homiletischen Vorlesung entwickelten wir die Hypothese, dass Iwand eine spezifische Form der Bildmodulation zur Aufdeckung der unter der Bestimmung von Anfechtung, Leid und Gottesferne existierenden Wirklichkeit als Ort göttlicher Verheißung betreibt. Sie zielt darauf, die wirkliche Welt sub contraria specie anzusehen und im Licht der Auferstehungsverheißung neu zu Gesicht zu bringen. Unsere Analysen haben im Einzelnen ergeben: Iwand macht sich in kunstvoller Weise die Offenheit bildhafter Sprache für die Verknüpfung mit unterschiedlichen Referenzrahmen zueigen, um eingeschliffene Unheilserfahrungen in die Verheißungsperspektive coram Deo zu überführen. Selbst Bedrohungssituationen wie die Luftkriegserfahrung und das Leiden an physischer und psychischer Erschöpfung werden als Ort einer anhebenden Wende zum Heil aufgedeckt. In diesem siebten und letzten Kapitel unserer Studie setzten wir unsere Forschungsergebnisse ins Verhältnis zu ähnlich gelagerten Forschungshorizonten der neueren Homiletik.102 Wir erörterten, was Iwand gegenwärtiger Homiletik zu lernen gibt und gelangten zu dem Schluss: Im Blick auf die verschiedenen von uns herangezogenen Vergleichspunkte erweisen sich die bei Iwand geltend gemachten Maximen insgesamt als tiefsinniger vermittelt mit den Konstitutionsbedingungen des Rechtfertigungsglaubens. Die Einbettung des Selbstverhältnisses in die Dialektik von Gesetz und Evangelium kommt in seiner Homiletik so zum Tragen, dass die Maximen der Predigtgestaltung mit einem größeren eschatologischen Ernst zur Geltung gebracht und durchgeführt werden. Kommunikationstheoretische Perspektiven, die es erlauben im Verhältnis zum Gegenstand eine ästhetischen Distanzhaltung zu waren, werden von Iwand dadurch überboten, dass er das Wort Gottes wieder und wieder als Lebenselixier des angefochtenen Ichs beschwört und Prediger wie Hörer in die direkte Konfrontation mit ihm zu führen sucht.
99 100 101 102
Homiletik, 19. Vgl. Kapitel 6.4. Vgl. Kapitel 6.5. Vgl. Kapitel 7.2, 7.3 und 7.4.
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Anhang Predigt : Der Name des Herrn¹ Apostelgeschichte 4,11–12: Das ist der Stein, von euch Bauleuten verworfen, der zum Eckstein geworden ist. Und ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darinnen wir sollen selig werden.
Das Wort, das wir eben gehört haben, ist das Schlußwort der Verteidigungsrede, die Petrus und Johannes vor dem Rat der Juden hielten. Freilich, eine Verteidigungsrede eigener Art. Denn die Tat, um derentwillen die Apostel hier vor Gericht stehen, besteht in nichts anderem, als daß sie zu einem gelähmten Mann, der vor der Tür des Tempels lag und bettelte, gesagt haben: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle“ und daß diesem Manne wirklich geschah, was sie im Glauben ihm zugesprochen hatten. Oder, um es noch deutlicher zu sagen, die Tat, um derentwillen sich die Jünger vor Gericht zu verantworten haben, besteht in nichts anderem als daß Gott den Namen Jesu durch diese Heilung des Gelähmten verherrlicht hat. Darum ist die Verteidigung, die Petrus und Johannes hier zugefallen ist, eine so überaus einfache Sache. Sie haben ja gar nicht ihre Angelegenheit oder ihre Person zu verteidigen, sie haben schlicht und wahrheitsgetreu diese Tat Gottes zu bezeugen. Die Hohenpriester und Ältesten fragen sie: „In welcher Kraft und in welchem Namen habt ihr das getan?“ und Petrus gibt auf diese eindeutige Frage eine eindeutige Antwort. Er sagt: diese an uns gestellte Frage ist eigentlich keine Frage, denn es ist ja am Tage und ist allem Volke offenbar, in welchem Namen wir das getan haben. Wir haben es getan im Namen des Jesus von Nazareth, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat. Und doch ist dadurch mit einem Schlage das ganze Verhör der Apostel vor ihrer geistlichen Behörde auf eine andere Ebene verlegt. Wer ist hier Angeklagter und wer ist Richter? Was bedeuten hier noch Titel und Würden? Was bedeutet hier noch kirchenamtliche Autorität und theologische Schriftgelehrsamkeit? Was der Herr den Seinen verheißen hatte, ist in Erfüllung gegangen. Der Heilige Geist gibt ihnen das rechte Wort zur rechten Zeit. Er vertritt sie 1 Quelle: Iwand, Hans Joachim, Nachgelassene Werke, Bd. 3, 29–44. Der Abdruck der Predigten aus dem 3. Band der Nachgelassenen Werke in diesem Anhang geschieht mit freundlicher Genehmigung von Frau Malve Fuhrmann. Als Predigttext hat Iwand ihnen jeweils den Text der Lutherbibel (Fassung von 1912) zu Grunde gelegt. Diese Texte sind ebenfalls aus dem 3. Band der Nachgelassenen Werke übernommen und hier abgedruckt.
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wie vor dem himmlischen Richter, so auch vor dem irdischen. Denn so heißt es in dem Bericht, der uns von jener Stunde überliefert ist: „Petrus, voll des heiligen Geistes, sprach zu ihnen: Ihr Obersten des Volks und ihr Ältesten von Israel, so wir heute werden gerichtet über dieser Wohltat an dem kranken Menschen, durch welche er ist geheilt worden, so sei euch und allem Volke von Israel kundgetan, daß in dem Namen Jesu Christi von Nazareth, welchen ihr gekreuzigt habt, den Gott von den Toten auferweckt hat, steht dieser allhier vor euch gesund.“ Die Apostel verteidigen sich nicht aus eigener Weisheit und Kunst, sie entschuldigen sich nicht, und sie beklagen sich nicht, sondern sie verweisen auf die Antwort Gottes, die in der Gestalt des Geheilten vor den Augen und Ohren des ganzen Volkes kund geworden ist. Es ist uns besonders nötig, darauf zu achten, daß die Apostel nicht ihrerseits die Rolle eines Anklägers übernehmen, um mit den Obersten und Ältesten über den Mord an ihrem Meister zu rechten. Das tun sie gerade nicht. Ein andrer Richter ist auf den Plan getreten, und sie haben nichts anderes zu tun als sein Gericht zu bezeugen. Sein Gericht? Jawohl, Gottes Gericht! Denn daß dem Gelähmten im Namen Jesu Gottes Gnade widerfuhr, ist das Gericht über die Bauleute, die den Stein, den Gott zum Eckstein ausersehen hatte, verworfen haben. Nun müssen sie erkennen, daß sie sich selbst damit zu den Toten geworfen haben. So endet das Verhör der Apostel, das erste, das der hohe Rat nach der Kreuzigung Jesu vornahm. Die tot geglaubte Vergangenheit ist auf einmal wieder lebendige, unmittelbar eingreifende Gegenwart; die Männer, die über Jesus von Nazareth zu Gericht saßen, sitzen nicht mehr auf der sicheren Bank des Anklägers; der römische Statthalter, der eben noch seine Macht für die Erledigung des ärgerlichen Prozesses zur Verfügung stellen konnte, ist keine Hilfe mehr; das Volk, das sich eben noch aufputschen und in blinde Raserei gegen seinen treuesten Freund und Nothelfer bringen ließ, ist angesichts dessen, was hier geschehen ist, keine Zuflucht mehr; hinter dem zu den Toten Geworfenen ist eine Hand sichtbar geworden, mit der niemand gerechnet hatte; der Tod, das letzte Mittel in der Rechnung der Menschen, wenn es gilt, die Wahrheit stumm zu machen, hat versagt: „Den ihr gekreuzigt habt, den hat Gott auferweckt von den Toten.“ Und mit einem Male ist es klar, mit einem Male ahnen alle, die einen mit Schrecken und die anderen mit seligster Gewißheit, daß mit der Auferwekkung Jesu der Gegenangriff Gottes eingesetzt hat gegen das Gericht aller derer, die Jesus zu den Toten geworfen haben: daß diese Tat frevelnden Hochmutes den Himmel zerrissen, daß sie Gott in seiner Majestät zum Eingreifen gebracht hat, daß dieser Name Gewalt bekommen hat wie noch nie ein Name auf Erden, daß er über der Erde steht wie eine Erinnerung, die nicht verblaßt und wie eine Verheißung, die alle Tage neu ist. Mit einem Male ist klar, wer in diesem Verfahren Richter und wer Angeklagter ist, wer „das Wort“ hat und wer nichts mehr vorzubringen vermag. Die Verteidigung der Apostel vor dem Hohen Rat zeichnet sich durch eine wunderbare Gelassenheit aus; schweigend 312
von sich selbst bezeugen sie allein das eine, daß die Geschichte, die mit dem Erdendasein Jesu begonnen hat, nun ihren Lauf nimmt. Wer will sie jetzt noch aufhalten, nachdem die letzte Grenze, die Todesgrenze durchbrochen ist? Man kann sich denken, daß der ganze Vorgang für die jüdische Geistlichkeit außerordentlich unangenehm war. Nachdem die peinliche und aufsehenerregende Hinrichtung vollzogen war, mußte eigentlich Ruhe eintreten. Dazu war ja die ganze Sache angefangen. Es kam jetzt alles darauf an, die Dinge möglichst bald in Vergessenheit zu bringen. Es mußte alles vermieden werden, was den Namen des Gekreuzigten wieder zum Gegenstand der Debatte und der Aufmerksamkeit machen konnte. Wie kam es, daß diese Ruhe nicht eintrat, daß die Sache nicht einschlafen wollte, daß diese Frage plötzlich wieder mit ihrer ganzen Gewalt und Macht von neuem aufbrach? Die Jünger Jesu waren doch still gewesen, sie hatten nicht zum Schwert gegriffen, um die Lehre ihres Meisters kämpferisch durchzusetzen; sie hatten keinen Volksaufstand entfesselt, keine Bewegung organisiert und Anhänger geworben, sie haben auch nicht – und das fällt uns heute nicht ganz leicht zu sehen und zuzugeben – eine Kirchenspaltung herbeigeführt und eine Art Sekte gegründet; im Gegenteil, sie gehen immer noch in den Tempel beten und halten die religiösen Ordnungen, in denen sie groß geworden sind. Sie sind tatsächlich alles andere als Revolutionäre und Kirchenstürmer. Was haben sie dann aber Besonderes an sich? Lediglich das eine, daß sie Bescheid wissen um das unerhört Neue, das sich mit der Welt von Gott her ereignet hat, und daß sie gerade darum nicht versuchen, dies Neue in irgendwelche revolutionäre oder separatistische Formen zu fassen. Hier ist nicht die Form neu geworden und der Mensch, der in diesen Lebensformen lebt, der alte geblieben; hier ist dem Menschen selbst die Erneuerung, die Wiedergeburt zuteil geworden. Hier ist etwas geschehen, das so unvergleichlich ist mit allem, was sonst geschehen und verwirklicht werden mag, daß es an Narrheit grenzen würde, wollte man versuchen, es irgendwie in diesem Äon einzuordnen oder unterzubringen. Weil die Apostel gewürdigt sind, Zeugen dieser Tat Gottes zu sein, darum ist all ihr Sinnen und Trachten auf das eine gerichtet, das not tut. Sie sind gewiß, und darum haben sie Genüge an dem, was Gott ihnen offenbar gemacht hat. Sie kennen den Namen, der „gesetzt ist zum Fall und zur Auferstehung vieler“. Vielleicht fragen wir heute: „Ist das alles?“ Uns kommt es wenig vor. Was ist ein Name? „Name ist Schall und Rauch.“ Uns ist es zur Gewohnheit geworden, daß auch wir diesen Namen kennen; wir sehen darin etwas Selbstverständliches, Nichtssagendes, und darum fragen wir, ob es alles sei. Darum verstehen wir nicht mehr, was es auf sich hat, wenn sich ein Mensch zu diesem Namen bekennt und meinen, das Bekenntnis bedeute noch nichts, es müsse nun erst die Tat, die Gestaltung, die Wirkung und Leistung dazu kommen. So wird es immer wieder sein: Auf der einen Seite stehen die Menschen, die das Reich Gottes bauen wollen mit ihren Leistungen, Taten, Leiden und Plänen – und auf der anderen Seite stehen die, für die dieser eine Name alles bedeutet, denen in diesem Namen alles gegeben ist, die darum in ihm Genüge finden. In diesem Namen Genüge finden – das 313
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nennt die Schrift: Glauben. In ihm alles finden, was wir suchen: Heil, Leben, 115 Frieden, Gerechtigkeit, Wahrheit, Freude – das nennt sie: Glaubensgehorsam.
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Es ist eine wunderbare Ruhe, die von diesem Namen ausgeht. Alle Sucht und alle Leidenschaft, alle Unruhe und Unrast wird hier gebunden; der Mensch, der nie genug hat, findet hier sein Genüge. Der Drang nach oben und der Sturz in den Abgrund, das stolze und das verzweifelte Herz – sie finden beide hier ihre Grenze. In diesem Namen umfängt der Friede Gottes alle Aufgeregtheit und alle Unrast, in ihm umschließt er das unruhigste Ding in der Welt, das menschliche Herz zu dem Frieden, der von oben ist. Friedfertige Menschen – das waren die ersten Jünger Jesu, aber gerade darum müssen sie vor der Welt als Ruhestörer dastehen. Denn dieser Friede hat eine Kehrseite. Der Name, an dem sie hängen, bleibt der Welt ein Ärgernis. Indem sie den Frieden suchen, geraten sie in das härteste Getümmel. Ein Zufall hatte die Dinge wieder in Fluß gebracht. Petrus und Johannes gingen gewohnheitsmäßig in den Tempel um zu beten. Ein Krüppel, der vor der Tempeltür lag, bat sie um ein Almosen. Und da sie selbst nichts hatten und nicht in Versuchung kommen konnten, die Not, die da um Hilfe flehte, mit Gold und Silber zu beschwichtigen, gaben sie, was sie bekommen hatten. Sie schenkten, was ihnen geschenkt worden war und erfuhren dabei das Wunder, daß sie durch dieses Wegschenken selbst reich wurden und auch den reich machten, der in seiner Not vor ihnen stand. „Was ich habe, das gebe ich dir“, sagt Petrus, „im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle.“ Und dabei reicht er ihm seine Hand, stellt ihn auf die Füße, so wie man einem Menschen aufhilft, der gestürzt ist. Und siehe, der Gelähmte steht, seine Glieder tragen ihn, er kann sich bewegen und ist heil. Es liegt uns heute nahe – und es lag den Menschen von damals nicht weniger nahe – mit unserer Aufmerksamkeit und unserem Erstaunen an dem Geschehnis hängen zu bleiben und zu fragen, wie das möglich ist. Es mag gar manchen unter uns geben, der die Dinge mit stillem Zweifel hört, es mag vielleicht auch der eine oder der andere bei sich denken: Wenn das doch heute noch einmal geschehen würde! Wenn sich doch heute der Name Jesu wieder in dieser Kraft erweisen würde, dann würden wir es leichter haben für diesen Namen zu zeugen, dann würden wir leichter an ihn glauben. Wenn das Volk erkennen würde, daß in diesem Namen Wunder geschehen, daß die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Tauben hören, die Aussätzigen rein werden, die Toten auferstehen – dann würden sich die Armen vielleicht auch das Evangelium verkündigen lassen. Es gibt mehr Christen unter uns, als wir wahr haben wollen, die so denken. Und vielleicht würde auch geschehen, was sie hoffen, wenn dieser Wunsch nicht aus dem Zweifel geboren wäre; wenn sie nicht wollten, daß diese Zeichen und Wunder an die Stelle des bloßen Namens treten, ja wohl gar ihn ersetzen sollen; wenn sie nicht heimlich wünschten, an Stelle des Namens diese Wunder und Zeichen zu verkündigen und damit den zu vergessen, in dessen Namen alles geschieht. Wir kennen solche Leute, die unter dem Schein der größten Frömmigkeit der Kirche unserer Tage dies vorwerfen, 314
daß sie im Namen Jesu keine Kranken heilt, keine Toten auferweckt, nicht die Hungrigen satt macht und nicht die Arbeitslosen in Arbeit und Brot bringt. Wir kennen diese Leute, die uns sagen: Wenn ihr das fertig bringen würdet, dann würden auch wir dem Namen glauben, den ihr bekennt, aber bis dahin laßt uns mit ihm zufrieden, wir haben Wichtigeres zu tun. Man lese einmal das Kapitel: „Empörung“ in Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasoff “. Da wird man Ergreifendes zu diesem Thema finden. Da wird man vielleicht auch verstehen, warum das Wunder den Namen überstrahlt. Vielleicht hat der, der das nicht versteht, noch nie in die Tiefe des Elends und der Not dieser Welt geblickt. Vielleicht hat er noch nie begriffen, daß es nur eine Anfechtung für den Glauben gibt, die wahrhaft furchtbar ist – das Mitleid! Aber lassen wir das jetzt. Es schadet nichts, wenn uns Staunen und Verwunderung ergreifen und wir uns unter die Menge derer mischen, die nun eine Antwort haben möchten auf die Frage, die diese Heilung in ihnen geweckt hat. Denn als die Menge, die über das Wunder der Heilung erschüttert ist und erfahren hat, wer sie vollbracht hat, zu den Aposteln vordringt, die im Tempel beten und sie am liebsten zu Wundertätern ausrufen möchte, sagt ihnen Petrus schonungslos, daß sie sich über die inneren Zusammenhänge dieses Ereignisses gründlich täuschen. Er sagt ihnen ohne Umschweife, daß diese Heilung nichts zu tun hat mit irgendwelchen wunderbaren Kräften, die wir in solchem Falle einander gern zuschreiben. „Was starrt ihr uns an“, sagt Petrus, „als ob wir aus eigener Kraft oder aus eigener Frömmigkeit heraus bewirkt hätten, daß dieser Mann wieder gehen kann? Nein, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott eurer Väter, hat sein Kind Jesus verherrlicht.“ Wieder vollzieht sich die Umkehrung, ganz ähnlich wie vor dem hohen Rat; das Wunder tritt in den Hintergrund, und der Name steht vor aller Augen. Das Wunder ist nicht mehr der Mittelpunkt der Handlung, es ist nur der Rahmen, in dem der Name faßbar wird, die Tür, durch die wir eintreten, das Zeichen, das uns aufmerken ließ und das aus dem Blickfeld rückt, wenn es seinen Dienst getan hat, wenn wir in die Richtung schauen, in die es weist. So ist es mit allen Zeichen und Wundern, die Gott tut, es muß immer noch das rechte Wort hinzutreten, es muß nicht nur eine Geschichte da sein, sondern auch ein Prediger, damit unser Glaube nicht an Geschichten hängen bleibt, sondern die Geschichten uns zum Glauben treiben. So ist denn dies Wunder von der Heilung des Gelähmten nichts anderes als eines der Zeichen, die die Auferstehung des Gekreuzigten begleiten und das Zeugnis der Jünger von dieser einen Tat Gottes bestätigen. Wenn wir es recht verstünden, dann sähen wir jetzt in das offene Grab und erkennten den, der dem Tode die Macht genommen. „Jesus von Nazareth, von den Menschen verworfen – von Gott auf erweckt“, das zu bezeugen hat Gott die Apostel neben den Gelähmten gestellt, das zu predigen hat er sein Wort seinen Machttaten beigesellt. Nicht wahr, wenn es einen unter uns gäbe, der bereit wäre, alle Wunder, von der Schrift bezeugt, wortwörtlich zu glauben, ja mehr, wenn es einen unter uns gäbe, der sie nicht nur glaubte, sondern selbst vollbrächte – der aber jene Tat 315
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Gottes, die Auferweckung seines Kindes Jesus nicht anerkennen, nicht von daher alle anderen Wunder glauben, nicht von daher die Mächte der Sünde und des Todes bekämpfen würde, dann wäre dieser so makellose Wunderglaube und diese imponierende Kraft bergeversetzenden Waltens nichts anderes als eine große Verführung und eine ungeheure Blasphemie. Wenn Gott dem Versucher solche Gewalt und Kraft überläßt, wer wird vor diesem gleißenden Schein bestehen? Denn es heißt von diesen Zeichen und Wundern in der Schrift, daß sie sogar den Auserwählten zur Verführung werden müssen. Wir wissen ja gar nicht, was wir tun, wenn wir nach Wundern Ausschau halten und dabei den aus dem Auge verlieren, der dem Wunderglauben seine verführerische Macht und seinen bezaubernden Schein genommen hat. Denn in der Auferstehung Jesu ist das Wunder unserer Schaulust entzogen und ins Unsichtbare zurückgetreten. Wer weiß, was aus uns würde, wenn wir über diese geheimnisvollen Kräfte verfügen und sie in den Dienst unserer Absichten stellen könnten? Wer weiß, was aus unserer Kirche würde, wenn das Wunder groß und der Name Jesu klein würde? Ein reformatorischer Christ sollte eigentlich wissen, woher diese Verführung kommt und wohin sie treibt; er sollte eigentlich wissen, daß die Werke das Grab des Glaubens sind und daß die Kirche zu Grabe getragen wird, wo die Predigt des Glaubens zugeschüttet wird durch das Tun der guten Werke. Die Apostel weichen jedenfalls nicht von ihrem Wege und bleiben auf der Bahn, auf der sie den ersten Schritt getan haben. Dies Geschehen, das mit der Anrufung des Namens Jesu seinen Anfang nahm, bleibt auch weiterhin diesem Namen unterstellt. Das Wunder dient, und der Name regiert. Das Wunder ist der Vorhof, das Wort steht im Heiligtum. In diesem Namen werden nicht übernatürliche Kräfte geweckt, sondern der Mensch wird aufgeweckt, damit er erkenne zu seiner Zeit, was zu seinem Heile dient. „Tut Buße und wandelt euch, damit euch eure Sünden vergeben werden“, das ist die Antwort, die der fragenden und staunenden Menge von den Aposteln zuteil wird. Das ist die göttliche Predigt, die er neben sein Tun gesetzt hat, damit wir das Wozu und Warum verstehen. Darum, damit wir Buße tun, dazu, daß wir umkehren, ist dies Zeichen auf den Weg gestellt. Dazu ist ja auch das Zeichen aller Zeichen, Jesus Christus selbst, der Menschheit von Gott auf den Weg gesetzt. Der Gelähmte wird zum Gleichnis, zum Spiegel, in dem jeder der Fragenden sich selbst erkennt. Der Gelähmte in seiner Schwachheit und in seiner wiedergewonnenen Kraft ist zum Gleichnis geworden, darin wir alle unsere eigene Lage, unser eigenes Elend, aber auch die uns zugewandte Gnade Gottes und die uns offenstehenden Möglichkeiten Gottes erblicken können. Nicht mehr das Wunder steht zwischen Gott und uns, sondern der Name seines Sohnes, und damit steht nun nichts mehr zwischen unserer Not und seiner Kraft – nichts mehr! Das Wunder war das letzte Hindernis für den Glauben; nicht der Zweifel hat es hinweggenommen, sondern das Wort ist darüber gekommen, um uns zu schenken, was wir staunend nicht fassen konnten. „Tut Buße und wandelt euch, damit euch eure Sünden vergeben werden“ – das ist dasselbe 316
Wort, das dem Gelähmten widerfahren ist: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle.“ Zweifeln wir daran, daß es in der Tat einunddasselbe ist? Es wäre nicht das erste Mal, daß hier das Ärgernis am Evangelium aufbräche. Oder „was ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle?“ Verstehen wir, was die Schrift uns sagen will? Die Sündenvergebung ist das Zeichen des Namens Jesu, das in den Wundern Gottes eingegraben ist. Wo ihr dies Zeichen nicht findet, da dürft ihr gewiß sein, daß es der Gegenspieler Gottes ist, der euch narrt. So wollen wir uns denn von den Aposteln lehren lassen, daß das Wunder draußen bleiben muß, damit im Tempel die Verkündigung des Namens das Ein-und-alles sei; aber auch das andere, daß in dieser Verkündigung bezeugt wird, daß der Name Jesu mit jenen Geschehnissen auf der Straße in der Tat etwas zu tun hat: daß Gott nicht nur redet, sondern handelt, ja, daß wir zuerst sein Werk sehen, ehe wir auf sein Wort merken, daß wir aber seine Werke erst recht verstehen, wenn wir den Namen gehört haben, den Gott in allen seinen Werken verherrlicht. Was für ein einschneidendes Gericht liegt in dieser Erkenntnis! Was für ein einschneidendes Gericht gegenüber der Verkündigung, wie wir sie lieben und treiben. Wird doch damit all denen eine Absage erteilt, die wunderbare Geschehnisse und Erfahrungen in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung stellen und meinen, gerade damit erwecklich und lebensnahe zu wirken. Dafür wird dann der Name Jesu und seine Bezeugung an den Rand gedrängt. Über dem Wunder wird der vergessen, dessen Hand in ihm wirksam ist. Man komme uns hier nicht mit der Parole von der konkreten Offenbarung. Als ob das Wort Gottes erst dadurch „konkret“, faßbar, wirklich würde, daß es sich mit unserer Wirklichkeit verbindet! Als ob das Wort Gottes nicht in sich und durch sich wirklich wäre! Als ob es seine Wirklichkeit und Wirksamkeit von dem entlehnen müßte, was wir dafür halten, von diesem Traum und Schaum einer Wirklichkeit, die jeden Tag anders ist und eines Tages nicht mehr sein wird! Haben wir denn vergessen, was es für ein Wort ist, das wir zu bezeugen und zu verkündigen haben? Daß es das ewige Wort vom Vater ist, durch das die Welt mit allem, was in ihr ist und auf ihr geschieht, erst ins Dasein gerufen wurde? Das Wort, das der Kirche aufgetragen ist, bedarf zu seiner Wirksamkeit keiner anderen Fleischwerdung als der einen, die bezeugt ist im Namen Jesu. In ihm ist das ewige Wort Ereignis, Wirklichkeit, Geschichte geworden. In ihm ist es – wenn wir so wollen – „konkret“ geworden. In ihm haben wir das Wort, das am Anfang und am Ende steht, gehört, geschaut, mit Händen gegriffen. An diesen Namen hat sich das freie Wort gebunden, damit wir uns von ihm binden lassen. „Du sollst dir kein Bild noch Gleichnis machen“ – gegen dies Gebot verstoßen alle, die der Wirklichkeit des Wortes Gottes andere Bilder und Gleichnisse unterschieben, mögen diese Bilder und Gleichnisse aus der Natur, aus dem eigenen Erleben oder aus dem Erleben der Völker stammen. Denn es ist grundsätzlich gleich, ob der eine wunderbare Gebetserhörungen in den Mittelpunkt seiner Verkündigung stellt oder ob eine christliche Anstalt in der wunderbaren 317
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an die sie sich hält; ob eine Kirche ihre Geschichte als das Wunder bestaunt, das heilig ist und nicht preisgegeben werden darf, oder ob andere ihre eigene Lebensgeschichte zum Mittelpunkt ihres Glaubens machen oder wieder andere uns sagen, die Wiedergeburt unseres Volkes sei das Wunder, durch das sie zum Glauben an Gott gekommen sind. Das alles liegt auf einer Linie, und diese Linie ist nicht die Linie der apostolischen Verkündigung, nicht die Linie, auf der die Kirche Jesu Christi sich zu halten hat. Damit ist gegen die Fügungen und Wundertaten nichts gesagt; es ist auch keineswegs damit jenen Zweiflern und Skeptikern das Feld freigegeben, die in ihrem aufgeklärten Verstand nur das für möglich halten, was sie in das System ihrer Kategorien und Begriffe fassen können. Wir hätten wohl öfter, als wir ahnen, Grund, die Hände zu falten und einen Blick nach oben zu tun, in unserer eigenen Lebensgeschichte nicht minder als in der Geschichte unseres Volkes und unserer Kirche. Wohl uns, wenn wir uns das nicht nehmen lassen. Aber diese Zeichen und Wunder sind im wahrsten Sinne des Wortes „Zufälle“, und wehe uns, wenn wir daraus Gesetzlichkeiten machen. Aus dem, was ihm zufiel, hat das jüdische Volk ein Gesetz gemacht, und damit ist ihm das Wunder zum Abfall vom Glauben geworden. Hüten wir uns, daß wir nicht von derselben Höhe abstürzen. Wunderbare Ereignisse und Erfahrungen sind immer Höhepunkte in dem Leben des Menschen; darum sind diese Zeiten der wunderbaren Erweisungen Gottes besonders gefährliche Zeiten; denn so erhaben und majestätisch die Höhen sind, auf die uns Gott dann führt, so abgründig und furchtbar sind die Tiefen, an denen wir damit stehen. Wohl uns, wenn wir stehen! Wohl uns, wenn wir, je höher uns Gott führt, ihn desto mehr fürchten. Denn auf diesen Bergen seiner Macht zu stehen ohne zu stürzen, das vermag nur der, der den Herrn fürchtet. Gott fürchten – das heißt aber die Ordnung beachten, die er selbst aufgerichtet hat, zuerst nach der Gottesherrschaft trachten und dann offen stehen für das, was uns zufällt, zuerst den Namen setzen, in dem Gott seine Herrschaft über alle Mächte und Gewalten aufgerichtet hat und dann die Wunder schauen, mit denen er sich den Seinen nahe erweist. Denn zu greifen ist die Gottesherrschaft in all diesen wunderbaren Zeichen und Hilfen nicht. Sie kommt eben nicht mit diesen äußeren Zeichen und Gebärden; sondern sie ist gekommen und ist gebunden in dem einen Namen: Jesus Christus. Und wo immer unter anderen Namen Gottes Herrschaft und Offenbarung ausgerufen wird, da ist es nicht Gottes, sondern des Teufels Herrschaft – mag sich der Teufel auch in einen Engel des Lichts verkleiden und dem Sohne Gottes die Reiche der Welt anbieten. Darum heißt es wachen und von allen, die ins Lager einpassieren wollen, die Parole fordern. Es ist nötig, im Blick auf unsere Gemeinden und die Lage der Bekennenden Kirche noch etwas Besonderes hier herauszustellen. Es ist dies vor allem nötig in diesem Augenblick, da wir hinausgehen, um unsere Gemeinden um die rechte Parole zu sammeln. Auch bei uns darf die Erweckung und Erhebung, 318
die wir erlebt haben, nicht zur Grundlage unserer Gewißheit und unseres Bekenntnisses werden. Wir haben Großes in der Kirche erlebt, Dinge, die wir 335 nie für möglich gehalten hätten; aber gerade darum sind sie die größte Gefahr für uns, wenn wir dabei stehen bleiben. Wir wollen doch nicht eine Kirche werden, deren Glaubensüberzeugung in den Erfahrungen der letzten beiden Jahre begründet liegt, ebensowenig wie wir eine Kirche sein sollten, deren tragende Gewißheit auf den Erfahrungen der Reformationszeit ruht. Oder soll es 340 nun unser Geschäft und Bemühen sein, das „wiedererwachte religiöse Leben“, wie die Kriegsberichterstatter das Geschehen, das unserer Kirche widerfahren ist, zu nennen belieben, immer von neuem anzuregen und aufzufrischen bis der Tag kommt, da nichts mehr aufzufrischen und anzuregen ist, weil das Leben in der Wurzel abgestorben ist? Die Bewegung, die wir erfahren haben, ist 345 doch keine Zierblume, die wir abschneiden und ins Zimmer stellen können. Sie ist nicht dazu von Gott hervorgerufen, daß wir damit den „Raum der Kirche“ ausschmücken. Sondern Dinge, die von Gott kommen, bleiben in seiner Hand, und niemand kann sie leiten, lenken, fördern, erhalten, der versucht, diese Taten, über denen der Name Jesus steht, auf seinen eigenen Namen um- 350 zuschreiben. Ich fürchte, wir werden sonst bald die Feststellung machen müssen, daß wir das zarte Reis, das aus dem morschen Stamm aufgeschossen ist, begießen und hegen können, soviel wir wollen, und es doch dahinwelkt. Denn das Leben in der Kirche wurzelt in Gott und seinem Wort und muß verwelken, wenn es nicht wachsen kann, wo der Same ausgestreut ist. Alle, die in die- 355 sem Sinne aus der Bekennenden Kirche eine von Menschen zu lenkende und zu leitende Sache machen wollten, die Gegner zur Linken und die Freunde zur Rechten, sind dabei bereits auf sehr geheimnisvolle Grenzen gestoßen, Grenzen, bei denen es meist den Anschein hatte, als lägen die Hemmnisse und Widerstände an dem bösen Willen der Menschen – aber im Grunde sind es nicht 360 Menschen, an denen wir dabei scheitern. Es ist ein anderer, der verhütet und der verhüten möge, daß die Bekennende Kirche zu einer Glaubensbewegung wird, die man organisieren, erregen, weitertreiben, abstoppen, hochpredigen und abriegeln kann. Wir werden also ganz bestimmte Ziele und Pläne, die wir vielleicht haben 365 – und wie sollten uns Hoffnung und Verantwortung für die Kirche nicht immer wieder ins Plänemachen und Zielsetzen hineintreiben! – wir werden sie dennoch abblenden, aus dem Sinn schlagen, preisgeben müssen. Wir werden auch hier aus der Erinnerung an das Gestern und aus der Sorge um das Morgen herausmüssen, um ganz im Heute zu stehen; um eingekeilt zwischen unse- 370 ren Sünden und Gottes Verheißungen in dem engen Raum der gegenwärtigen Stunde das zu tun – was nun eben die Apostel damals taten, als sie von der Menge gestellt wurden: sagen, in welchem Namen der Lahme heil geworden ist. Wir sind heute als Prediger der evangelischen Kirche in einer ganz ähnli- 375 chen Lage wie die Apostel damals im Tempel. Man muß sich nur einmal das Bild vor Augen halten, das unsere Kirche dem Beschauer darbot. Was dach319
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ten die Gebildeten von ihr? Was ist das stillschweigende Urteil der Arbeiter über die Kirche gewesen? Man hört es erst jetzt, wenn Gegner und Freunde immer wieder sagen: „Das hätten wir der protestantischen Kirche nicht zugetraut.“ Und wenn man weiß, wie wenig das ist, was bisher an Glaubensmut und Bekenntnistreue aufgebrochen ist, dann weiß man auch, wieviel weniger man unserer Kirche zutraute. Sie glich nach dem Urteil der Menge in der Tat einem von Mutterleib an Gelähmten, der, vor der Tür des Tempels liegend, sich durch milde Gaben am Leben erhält. Wenn dieser Gelähmte auf einmal auf den Füßen steht – müssen sich dann nicht alle wundern? Müssen sie nicht versuchen, sich dies Wunder irgendwie zu erklären, die einen im Guten, die anderen im Bösen; die einen so, daß sie das Ganze nur als Ruhestörung, als Sektiererei, als Eigenmächtigkeit und Verführung ansehen, die anderen aber so, daß sie von besonderen menschlichen Qualitäten, Tugenden, Leistungen und Fähigkeiten sprechen? Wir kennen die guten und bösen Gerüchte, die um dies Ereignis herum einen gefährlichen Dunstkreis geschaffen haben. Es ist hohe Zeit, daß die Sonne vom Himmel diesen Nebel, den unsere Sympathie oder unsere Antipathie über diese Morgenstunde der evangelischen Kirche gebreitet hat, zerstreut. Dazu sind wir da, das ist nun unsere Aufgabe. Dazu hat Gott seine Predigt neben sein Tun gesetzt, damit offenbar werde, in welcher Kraft und Vollmacht wir das getan haben, was wir getan haben. Finden die Menschen, die in den Tempel kommen, um zu hören, wie das geschehen konnte, dort auch das Wort und das Bekenntnis, das allein die Antwort auf ihr Staunen und Fragen sein kann? Wollen wir nicht bei den Aposteln in die Schule gehen, damit das fragende und verwunderte Volk die rechte Antwort findet? Denn zweierlei muß geantwortet werden. Einmal müssen wir die Menschen von uns wegweisen und ihnen sagen: „Was starrt ihr uns an, als ob wir es aus eigener Kraft oder auf Grund eigener Frömmigkeit fertig gebracht hätten, daß unsere Kirche, die so lange gelähmt war, wieder auf den Beinen steht!“, und zweitens müssen wir sie in die Richtung weisen, von der aus dies Wunder geglaubt sein will: „Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter hat sein Kind Jesus verherrlicht, das ihr preisgegeben, das ihr verleugnet habt, Sein Name hat diesen Gelähmten wieder aufgerichtet. Der Name Jesu allein ist es gewesen, der ihm die Kraft zum Wandeln wiedergeschenkt hat.“ Denn alles, was wir an Erweckung und an Opfer erlebt haben, ist nutzlos und schädlich, wenn es nicht zur Verherrlichung des Namens Jesu in der Welt dient. Gewiß, es gibt auch menschliche Namen, die dabei eine Rolle gespielt haben, Namen von Lehrern der Kirche und Namen von einzelnen Bischöfen, Namen von vielen treuen Pfarrern und vielen treuen Christen, Namen von Gemeinden und ganzen Städten, die dabei laut geworden sind – aber wer auch immer im Ernst dabei mit im Spiel gewesen ist, der wird nicht wollen, daß sein Name groß geschrieben wird, im Gegenteil, er wird seine Freunde warnen und seine Gegner auslachen, wenn sie ihn dafür verantwortlich machen und seinen Namen über das Stück Kirchengeschichte schreiben wollen, bei dem er dabei war. Unsere Namen sollten hier auf Erden verschwiegen und vergessen 320
sein, damit alles unter einem Namen geschieht und in ihm verantwortet wird, in dem Namen, mit dem wir als Lehrer und Prediger des Evangeliums dem Kranken die Gesundheit geschenkt haben. Darauf kommt es an, ihn groß zu machen, wenn wir hinausgehen in unsere Gemeinden. Damit steht und fällt 425 die Bekennende Kirche, daß in unseren Gottesdiensten die Verkündigung zu finden ist, die dem erstaunten Volke sagt, wer hier wirksam ist und wie er an ihm wirksam sein will; daß wir das Wort von der Umkehr und der Vergebung der Sünden sagen. Die Frage ist laut geworden gerade von der Straße, von der Gasse her, bei unseren Volksgenossen und auch über die Grenzen unseres 430 Landes hinaus: „In welchem Namen habt ihr das getan?“ Ist aber auch schon die Verkündigung laut geworden, die darauf antwortet? Ist sie laut geworden? Hat sie die vielen störenden Stimmen, die sich darüber erhoben haben, übertönt, überschrieen und zur Besinnung gerufen? Ist es schon kund geworden vor aller Welt, was kund werden muß, wenn nicht Zeit und Stunde ungenutzt 435 vorübergehen sollen, daß die Rettung aller Welt und aller Zeiten zusammengefaßt ist in dem einen Namen Jesus von Nazareth, den die Menschen zu den Toten geworfen haben, den Gott aber auferweckt hat, daß er lebt und regiert in Ewigkeit? Diese Verkündigung will heute heraus. Wir werden sie nicht dämpfen kön- 440 nen. Wenn wir schweigen, wird sich Gott andere Boten suchen, die sie kund machen. Er ist nicht auf uns angewiesen. Wenn ein Kirchenregiment aus Sorge um die Existenz der Kirche dafür kein Verständnis aufbringt, wenn es die Fahrt, zu der wir aufgerufen sind, bei dem erregten Meer unverantwortlich findet, wenn hier und da Prediger aus Sorge oder Sorglosigkeit abseits stehen 445 und sich gebärden, als ginge sie das Ereignis, das sich vor der Pforte des Tempels abgespielt hat, nichts weiter an, wenn die Lehrer der Kirche diese Störung des akademischen Gleichgewichts, diese Erschütterungen ihrer Systeme und Lehrgebäude als plebejisch und roh empfinden und wenn andere wieder gar nicht müde werden, ihre Hände in Unschuld zu waschen und sich vom Schiff 450 der Kirche ans feste Land zu retten suchen – dann soll uns das nicht verdrießen: Wir müssen Schritt halten mit dem Siegeszug Gottes und dürfen nicht müde werden, wenn uns auch darüber der Atem ausgeht. An der Stelle, wo wir als Lehrer und Prediger der Kirche stehen, fällt die Entscheidung. Denn hier will es aufbrechen mit unwiderstehlicher Gewalt, hier will der Name des 455 eingeborenen Sohnes wieder zu der Ehre kommen, die ihm gebührt. Wenn wir dem im Wege sind, wird uns kein anderes Geschick beschieden sein als denen, die damals dieser Verkündigung im Wege waren. Wenn wir dem unseren Mund und unseren Geist zur Verfügung stellen, werden wir tun, was unseres 460 Amtes ist. Es soll nur kein Pfarrer und kein Bischof und kein Lehrer der Kirche meinen, sie hätten’s in der Hand, diese Kunde von Jesus Christus zu dämpfen oder totzuschweigen. Es sind andere da, die reden müssen! Die Luft in unserem Lande trägt heute weit, und was im Winkel des Landes gesprochen wird, wird auf den Dächern gehört. Es kommt der Tag, da unser Amt und Dienst nach 465 321
der Verrichtung gewogen wird und der treue Dienst der Adel und der Lohn der Knechte sein wird. So laßt uns denn hingehen und den Namen kund machen, in dem unserer Kirche Heil widerfahren ist. Und laßt uns das tun ohne Furcht und ohne 470 Heimlichkeit. Der Geist des Herrn wird mit uns sein, wenn wir uns ob solchen Tuns zu verantworten haben.
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Predigt : Von der Rückkehr des unreinen Geistes² Matthäus 12, Vers 43–45: Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausgefahren ist, so durch wandelt er dürre Stätten, sucht Ruhe, und findet sie nicht. Da spricht er denn: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er’s leer, gekehrt und geschmückt. So geht er hin und nimmt zu sich sieben andere Geister, die ärger sind denn er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie allda; und es wird mit demselben Menschen hernach ärger, denn es zuvor war. Also wird‘s auch diesem argen Geschlecht gehen.
Ganz gewiß werden einige unter Ihnen erstaunt sein, daß wir gerade diesen Text an diesem besonderen Tage, an dem Sie als die Ältesten der Gemeinde ihr Amt antreten, gewählt haben. Aber wenn ich ganz offen sein darf: es ist ein Text, der mir seit langem nachgeht, der mir nachgeht, wenn ich so manches sehe und erfahre, was heute in Deutschland – in diesem wunderbar von dem fast gewissen Untergang geretteten Deutschland und auch in unseren Kirchen, in diesen trotz aller unserer Untreue neu begnadeten und zum Dienst am Evangelium gerufenen Kirchen, geschieht. Und neben einem Wort wie dem eben gehörten stehen dann noch einige andere Mahnungen, die mir nicht aus dem Sinn wollen, wenn auch viele unter uns meinen, man könnte nunmehr den Blick davon abwenden und sich den besseren und optimistischeren Bildern der Zukunft zuwenden. Ich denke etwa an ein Wort wie das aus dem Propheten Jesaja: „In dem allen läßt sein Zorn nicht ab; seine Hand ist noch ausgestreckt“ oder an das andere: „Wehe denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich selbst für klug“. Denn es könnte einem schon bange werden, wenn man sieht, wie wiederum Sicherheit und Vermessenheit bei uns aufkommen, wie wenn das alte Unkraut in den Ruinen durch den Schutt der Trümmer wächst. Es könnte einen bis an den Rand der Verzweiflung führen, wenn man sieht, wie unbesorgt die Menschen, aber auch die Christen und die Theologen unter ihnen den neuen Wein in die alten Schläuche zu füllen bestrebt sind, ganz genauso wie das die Generation nach den Freiheitskriegen vor einem Jahrhundert auch getan hat. Und zwar auch damals in gleicher Weise in Staat und Kirche, in der Restauration von Ordnungen und Begriffen, die in Wahrheit verdient hätten, zerbrochen und durch andere, bessere ersetzt zu werden. Aber dasjenige, was vielleicht ernsthafte Bedenken diesem Worte Jesu gegenüber rechtfertigen könnte, ist doch noch etwas anderes: daß nämlich in ihnen ganz und gar das Evangelium zu fehlen scheint, daß es nur ein Wort der Sorge oder vielleicht sogar der Drohung ist, ja, man könnte es vielleicht auch dahin verstehen, daß Jesus hier die Unvermeidlichkeit des Untergangs ankündigt, zumal, wenn wir beachten, in welchem Zusammenhange es uns begegnet. Denn eben hat er einen Menschen geheilt, einen Besessenen, und diese seine Tat hat höchste Bewegung ausgelöst im Volk. Sie ahnen an die2 Quelle: Iwand, Hans Joachim, Nachgelassene Werke, Bd. 3, 195–205.
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sem seinem Tun, daß hier die Verheißungen der Gottesherrschaft, die am davidischen Stamme hingen, in Erfüllung gehen. Sie ahnen etwas davon, daß der Herr aller Herren und der König aller Könige mitten unter sie getreten ist, daß es von dieser Gottesherrschaft heißen darf: Heute und Jetzt! Heute ist euch das Heil widerfahren. Sie erleben das Wunder, daß dieser Jesus von Nazareth es vermag, den bösen Geist auszutreiben und den Menschen zu retten. Denn wenn wir, die wir eben keine Macht über die unsauberen Geister besitzen, den Kampf mit diesen aufnehmen, wenn wir uns einlassen in den sogenannten Streit der Ideologien und dann unsere Staatsmänner und unsere Journalisten und wohl auch unsere Militärs das Beste tun, was sie vermögen, um das Eindringen eines bösen, unsauberen Geistes zu verhindern, dann zeigt meist ein Totenfeld, ein Feld von erschlagenen Leichnamen und gebrochenen Herzen das Werk an, das wir fertig gebracht haben. Und dann wundern wir uns noch, wenn aus diesen Stätten des Todes, aus dieser Hölle, aus dieser Tiefe des Nichts – der „Dürre“ und Unfruchtbarkeit, wie unser Text sagt – neue, wilde und vermehrte Geister aufstehen, die nur darauf gewartet haben, daß Ordnung und Sauberkeit wiederhergestellt sind, um ihr Werk der Zerstörung gewaltiger und schrecklicher tun zu können. Darum bewegt sich etwas in dem Volk, als sie sehen, wie Jesus rettet und wie er den Menschen von dem Dämon, der ihn besessen machte, reinigt. Das Volk ahnt etwas von dem unbegreiflichen Wunder der Königsherrschaft Gottes, das in Jesus Christus seit den Tagen seiner Geburt und seiner Auferstehung unter uns mächtig ist. Er ist wahrhaftig der, auf welchen alle Verheißungen der Davidsohnschaft übergegangen sind: denn die Herrschaft liegt auf seiner Schulter. Er heißt: Wunderbar, Rat, Kraft, Ewig-Vater, Friedefürst. Aber da gibt es noch etwas anderes, unser Text nennt sie die Pharisäer – das sind die Frommen, die von solcher Besessenheit wenig wissen –, und die Schriftgelehrten, das sind die Theologen, die am allerschwersten zu glauben vermögen, daß es solch ein Heute und Jetzt für die von ihnen gelehrte, aber offenbar nicht heiß ersehnte Gottesherrschaft gibt. Sie gleichen den Menschen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen vermögen und die nun, als das Wunder einer solchen Errettung vor ihren Augen geschieht, nichts anderes zu sagen wissen, als daß eben der Teufel und nicht Gott hier seine Hand im Spiele haben müßte. Meine Freunde, ich sage das nicht, um den Theologen oder den treuen und rechtschaffenen Gliedern der Gemeinde etwas anzuhängen, aber wenn ich solch einen Text lese – und dieses Motiv geht ja durch das ganze Neue Testament und führt schließlich zum Kreuz –, dann geht es mir immer wieder so wie den Jüngern beim letzten Mahl. Man fragt sich unwillkürlich: Herr, bin ichs? Hat mich etwa meine Theologie, meine Lehre, die von uns und unseren Vätern vertretene Dogmatik so blind gemacht, daß auch ich Jesus nicht mehr sehe, daß auch ich nichts davon sehe und glaube, daß, wo immer Teufel ausgetrieben werden, der Einbruch Gottes in unsere Welt erfolgt ist und der Satan seine Beute freigeben muß. Gerade wenn und wo etwas geschieht, wenn und wo der Name Jesu nicht mehr ein leeres Wort bleibt, sondern die 324
Kraft des Heiligen Geistes sichtbar wird in der Rettung des Menschen aus seiner furchtbaren Besessenheit, ist die Gefahr für uns so groß, für die Theologen und Kirchenmänner, für die, welche als Älteste und tonangebende Glieder in der Gemeinde wirken. Die Gefahr, meine ich, daß die Sehenden über diesem hellen, wunderbaren Licht, das da aufflammt, blind werden, während die Blinden sehend werden. Und gibt es denn etwas Schlimmeres, Schrecklicheres und Beklagenswerteres, als wenn das geschieht: wenn die Leute, die das Amt und das Wissen, die rechte Lehre und das rechte Bekenntnis für sich haben, sich an der Gegenwart Jesu, an seinem Heute und Hier, stoßen: wenn für sie der Tag Jahves finster und nicht licht ist. Wenn es dann bei uns so zugeht wie in Chorazim und Bethsaida. Denn wer sagt uns denn, daß es nicht auch über uns stehen könnte, über diesem auf sich selbst vertrauenden, sich als den unentbehrlichen Schnittpunkt der Wege Gottes brüstenden christlichen Abendlande, was wir hier lesen: daß die Leute von Ninive auftreten werden im Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und es verdammen werden; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr denn Jona. Und seht, meine Freunde, eben in diesem einen kleinen Satz liegt das ganze weite und reiche Evangelium. Das ist das Hier der großen Freude. Da ist es so gesagt und gemeint, daß wir es mit unseren Händen greifen könnten, daß wir nicht in den Himmel unserer Phantasien emporzusteigen oder in den Abgrund unserer Ängste zu stürzen brauchen; sondern ganz nahe, mitten unter uns, menschlich und rührend in seiner Einfalt steht es vor uns: „wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausgefahren ist“. Das ist das Evangelium, das ist seine echte, mitten unter uns sich begebende Realität. Und wenn wir das Herz auf dem rechten Fleck hätten, zumal eben dieses unser so schwer angefochtenes Geschlecht, dann würden wir jetzt erst einmal alle stille werden und einen Blick zurücktun in jene Zeit, da eben dieser unsaubere Geist mit seiner ganzen Furchtbarkeit unter uns hauste und würden vielleicht auch einmal an jene Gebete und Gelübde denken, die wir taten, als wir in seinem Gefängnis schmachteten und ahnen, daß wir seine Beute werden sollten. Und wo dies nicht so allgemein und so offensichtlich gilt, wie von jener Zeit, da wird jeder unter uns ein besonderes Lied zu singen wissen, ein tiefes, tränenreiches Klagelied von den einschneidenden Ketten, an die jeder gelegt ist, der die Leidenschaften und die Schwachheiten seines Todesleibes zu schmecken bekommt. Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten. Aber eben dies: daß der unsaubere Geist weichen muß, daß er abgedrängt ist ins Nichts, dahin, wohin er gehört, da wo er selbst umkommt, weil er keinen Saft und kein Leben findet, aus dem er trinken kann, daß er abgedrängt ist aus allem, wo immer Menschen leben und wirken, nicht nur aus dem religiösen, sondern ebenso aus dem politischen aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben, daß reiner Tisch gemacht ist mit dieser ganzen Dämonologie, die zu Ende geht, wenn Gottes Reich seine Macht unter uns aufrichtet – ich meine also, dieses Ende und dieser Anfang, das ist Jesus. Wo Er mitten unter uns tritt, mögen wir noch so schwach und elend, angefochten und zerschunden sein, da dürfen wir unser Angesicht Gott und 325
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dem Teufel den Rücken zukehren. Da ist der Tage nahe herbeigekommen und die Nacht im Sinken. Das sollte man nicht Schwärmerei nennen, denn was heißt denn sonst Umkehr, wenn nicht dies! Und wer der Umkehr den Vorwurf der Schwärmerei macht, der möge sich hüten, daß er damit nicht etwas redet wider den Heiligen Geist! Nun – jedenfalls – das ist Jesus, und das ist die Frucht seiner Botschaft : ein Mensch, der frei geworden ist, geistig, aus dem Banne geistiger Nacht und Knechtschaft frei geworden ist. Ein Mensch, der wieder glauben und hoffen, der wieder lieben und der seine Schuld bekennen kann, ein neuer Mensch, ein Mensch, wie er ohne Jesus und seine Gegenwart nie über die Erde ging. Ein Mensch, der sich nicht mehr schämt, daß er ein Mensch ist, der irren und fehlen muß, der blüht in seiner Jugend wie des Grases Blume in hinreißender Schönheit und Fülle und der dann doch, wenn der Schnitter Tod seine Sense erklingen läßt, wie das Gras verdorrt und verwelkt. Ein Mensch, der unter dem Gesetz alles vergänglichen Lebens steht – und doch ein Mensch Gottes ist, ein Mensch, an den Gott gedacht hat, um den er gebangt hat, den er zu befreien gekommen ist. Luther hat einmal ein gutes Wort über dieses Menschsein der Erlösten gesagt. Er geht davon aus, daß wir alle keine wahren Menschen sind, sondern mehr sein möchten, Übermenschen, Götter. Unglückselige Götter sind wir geworden, wir haben den Trennungsstrich nicht beachtet, den Gott zwischen sich und uns gezogen hat. Und darum, so fährt Luther fort, mußte Gott Mensch werden, um uns wieder zu wahren Menschen zu machen, das heißt zu solchen, die wissen, daß sie Gott nötig haben, seine Gnade und seine Vergebung. Überall wo Jesus uns von unserer Besessenheit frei macht, werden wir das erfahren. Auf einmal befinden wir uns mitten drin in unserer wahren, schmerzlichen, aber eben doch ganz und gar nicht hoffnungslosen Menschlichkeit. Wir sehen, wer wir sind, und wir bekennen vor Gott und den Menschen, wer wir sind. Wir können wieder zusammen leben, denn wir nehmen den anderen Menschen als eine Gabe und Aufgabe aus Gottes Hand. Und wir wissen, daß wir Gott brauchen, sein Wort ist das Licht auf unserem Wege und seine Kraft ist in unserer Schwachheit mächtig. Die Besessenheit aber ist gerade das andere, das Mehr-sein-Wollen, jene schlimme und furchtbare Einsamkeit, die den anderen verdrängt oder ihn meidet. So ist der eine besessen von seiner Ruhmsucht und der andere von dem, was er seine Sendung nennt, der dritte vielleicht von dem, was Jesus den Mammon nennt, und der vierte sogar von seiner eigenen Frömmigkeit und seiner Konfession. Es gibt auch das und dies ist oftmals das Schlimmste von allem, denn gerade hier, in der Gemeinde Jesu Christi, bei denen, die seinen Namen anrufen, hoffen wir doch immer wieder den befreiten, den erlösten, den wahren Menschen zu finden. Jesus nennt diese Besessenheit mit einem einzigen, zusammenfassenden Namen: den unsauberen Geist. Wenn er sagt, daß er aus dem Menschen ausfährt, dann sagt er damit etwas unerhört Tröstliches: daß dieser Geist etwas Fremdes, nicht in uns Wurzelndes, nicht zu unserem Wesen Gehöriges sei. 326
Manchmal fürchten wir das. Wir fürchten das, weil alle diese Unsauberkeiten aus unserem Inneren kommen und weil wir nur zu gut wissen, wieviel wir davon durch unseren äußeren Wandel verdecken, ohne daß wir es ganz loswerden. Aber Jesus unterscheidet zwischen dem Menschen und dem unsauberen Geist. Er haust in uns wie etwas Fremdes, Böses, nicht in unser Herz und in unser Inneres Hingehöriges. Und Jesus unterscheidet darum zwischen dem Menschen und diesem unsauberen Geist, weil er die Liebe Gottes ist. Das ist ja gerade diese Liebe, daß sie zu uns sagt: das bist du nicht! Daß sie sich zwischen uns und diesen bösen Geist stellt und wir ihr und ihrem Urteil glauben dürfen. Aus dieser Liebe, die uns selbst widerfahren ist, könnten und sollten wir auch die anderen Menschen lieben lernen, wir sollten ihnen dasselbe tun, was Gott uns tut, indem er eine Wand aufrichtet zwischen dem unsauberen Geist und dem wahren, von Gott geliebten und geretteten Menschen, der wir sind. Eben dies ist es, was die Bibel Heiligung nennt, daß uns Gott einbezieht in seinen geschützten und gesicherten Bezirk, in den Bezirk seines Heiligen Geistes, in den der unsaubere Geist nicht einzubrechen vermag. Und eine Gemeinde ist eigentlich der Zusammenschluß solcher wahren, schwachen, aber erlösten und geretteten Menschen, für die der unsaubere Geist etwas Fremdes, gewiß etwas Bedrohliches, aber eben doch von außen her Bedrohliches ist. Gott hat das getan, was wir alle aus eigener Kraft nicht zu tun vermögen: er hat alle unsere Sünden hinter uns geworfen, er hat uns abgewaschen und ganz neu gemacht, er hat unser Leben vom Verderben erlöst und uns gekrönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Eigentlich sollten wir an uns allen immer diese Krone sehen, die wir von Gott her auf dem Haupte tragen: die Krone der Barmherzigkeit, an der wir alle erkennbar sind als Kinder des Vaters eben dieser großen und wunderbaren Barmherzigkeit. Aber es kann nicht ausbleiben, daß wir in dieser Stunde und an dieser Stätte, die so viele furchtbare Erinnerungen für uns alle birgt, unseren Blick von Jesus aus richten auf den unsauberen Geist, den wir als Volk in dieser besonderen Periode unserer Geschichte erfahren haben. Schon damals haben wir gewußt, was es bedeutet, in der Gemeinde Jesu, in dieser ihn bekennenden und sich zu ihm flüchtenden Gemeinde geborgen zu sein. Laßt mich ein Dreifaches nennen, was uns gewiß heute alle noch bewegt: da war zunächst und zuerst jener Geist, der in Volk und Kirche eine mörderische Feindschaft stiften wollte zwischen uns als Deutschen und dem Volke Israel. Heute wissen wir es, daß dieser Geist lange zuvor unter uns herangewachsen und gereift war, in Gesten und Worten, Schriften und Redewendungen, denen unsere Väter und Großväter noch kaum ernsthafte Bedeutung zugemessen haben. Aber uns war es dann bestimmt, seine Macht, seine furchtbare Unsauberkeit zu erleben und Werkzeuge, schuldige und häßliche Werkzeuge dieses Geistes zu werden. Wir bemühen uns heute, im einzelnen wie im Ganzen darüber wegzukommen, aber immer, wenn man an diese Sache rührt, zeigt sich eben dann doch, daß dies keine so einfache Sache ist, wie unsere Umerzieher glauben. Gerade hier sollten wir an Jesus denken. Er ist nicht zufällig aus Davids Stamm. Das Heil, 327
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sich seiner erinnern, denn sie sind eigentlich nur um seinetwillen auf der Erde, und alle ihre Leiden sind eben doch Leiden, von denen einmal offenbar werden wird, daß sie hineingehören in die Geschichte Gottes mit unserer großen, wildbewegten Heidenwelt. Und wenn wir heute hier zusammen sind, um die Ältesten dieser Gemeinde einzuführen, dann wird es zu den vornehmsten und wichtigsten Aufgaben gehören, darüber zu wachen, daß jener unsaubere Geist nicht wiederkehrt. Aber laßt mich daneben noch ein Zweites nennen, wogegen wir alle bis heute mit unserer schwachen Kraft angehen: ich meine den politischen Fanatismus. Er tritt dann und da auf, wo unser ganzes gesellschaftliches Leben in das berüchtigte Freund-Feind-Verhältnis verwandelt und umgedeutet wird. Dann ist es so, als ob wir nicht anders zueinander stehen könnten als Kain und Abel und nur die Gewalt des Staates uns noch zügelt, daß nicht alles Leben in dieser furchtbaren Feindschaft, in dem unsauberen Geist des Brudermordes, untergeht. Es ist dies gewiß keine Übertreibung, wir haben jedenfalls etwas davon geahnt, daß es so etwas geben kann wie einen totalen Untergang und daß eben dieser unsaubere Geist ein Menschenmörder ist von Anbeginn, wie die Bibel sagt. Die ganze Menschheit in Ost und West windet sich ja geradezu in tiefen und schweren Qualen unter der Umklammerung dieses Geistes des Hasses und der Furcht. Und alles, was wir das öffentliche Leben nennen, unsere Zeitungen und die über den Äther gehenden Reden, aber auch das Denken und die Erziehung sind von diesem Geist immer noch befallen wie von einer furchtbaren Epidemie. Es gab vielleicht einmal ein paar Augenblicke, in denen wir aufatmeten und glaubten, nun sei auch dieser böse Geist von uns gewichen, wo wir uns auf einmal als Menschen entdeckten – eben in den Stunden der tiefsten Angefochtenheit, eben da, wenn uns deutlich wurde, daß wir nicht die Richter, sondern die aus Gnaden gerechtfertigten Sünder sind, aber dann kehrte diese Nebelwolke zurück und wir atmeten wieder ihr Gift ein. Auch hier dürfen wir auf Jesus hören und vertrauen. Dieser Geist kommt nicht aus dem Menschen, sondern er kommt von draußen, aus jenen „dürren Stätten“ des Nichts, wir brauchten nicht seine Sprecher und seine Werkzeuge zu sein. Als die erlösten und befreiten Kinder des barmherzigen Gottes werden wir eine andere Sprache reden als die, die in dem anderen Menschenbruder den Feind sieht. Wir werden nie und nimmer glauben, daß es einen unsauberen Geist geben könnte, der nicht durch die Kraft Jesu ausfahren und die von ihm Besessenen, auch und gerade die politisch Besessenen freigeben müßte. Wir werden nie und nimmer glauben, daß die Stätten politischer Entschließungen Stätten solcher Besessenheit sein müßten, und wir, die Gemeinde dieses Herrn, werden mitten in der Welt ein Zeichen aufzurichten haben, daß auch da, wo die praktischen Lebensfragen der Völker und die Verschiedenheiten ihrer Ideen zur Debatte stehen, der unsaubere Geist nicht Herr im Hause ist. Wir werden darüber zu wachen haben, daß nicht wieder mit irgendwelchen pfi ffigen 328
und knifflichen theologischen Formeln eine Hintertür für diesen unsauberen Geist aufgetan wird, als hätte er ein Recht, hätte gerade innerhalb der Politik ein Recht, die Menschen zu Besessenen zu machen. Und auch in dieser Sache werden die Ältesten unserer Gemeinden die Sprecher dieses unseres Glaubens und Zeugnisses vor der Welt sein müssen. Es ist eine große Hoff nung mitten unter uns aufgebrochen, und wir haben von dieser Sache vor den Mächtigen und Gewaltigen Rechenschaft abzulegen, damit sie nicht wiederum aus Hoffnungslosigkeit sich den Mächten der Tiefe überlassen. Und ein Drittes: die Lüge. Wir werden nicht vergessen, und jeder Gottesdienst, in dem wir uns versammeln, erinnert uns daran, daß die Macht, mit der Jesus den unsauberen Geist vertreibt, das Wort ist. Die Lüge wurzelt in dem Unglauben an diese Kraft des Wortes. Mag unser evangelischer Gottesdienst heute vielen arm und kahl erscheinen, hinter dieser Armut steht doch ein wunderbares und großes Bekenntnis, eben dies, das wir der Reformation verdanken: Das Wort, nichts als das Wort! Was das Wort bedeutet, wenn es rein und unverfälscht aus Gott kommt, könnten wir gerade an Jesus erkennen. Vor ihm weichen die unsauberen Geister. Was es bedeutet, unter dem Wort zu leben, bezeugt die seltsame Geschichte, die in der Bibel aufgezeichnet ist und in deren Fortgang wir bis heute als Gemeinde Jesu leben. Wir leben von dem Wort. Wer nicht von ihm lebt, der weiß gar nicht, was das Wort der Wahrheit und der Treue Gottes bedeutet. Er hört es vielleicht, aber er getraut sich nicht, sich daran zu halten. So versinken wir dann wegen unseres Unglaubens an das Wort in all jene Dunkelheiten des Lebens, die wir mit Lügen zudecken. Darum mahnt uns die Heilige Schrift immer wieder, die Lüge abzulegen und es mit der Wahrheit zu wagen, in allen unseren Lebenszügen, nicht nur in dem persönlichen, im Leben von Mensch zu Mensch, nicht nur da, wo man noch damit rechnet, daß wir aufrichtig sind, sondern auch da, wo man schon ganz den Glauben an das Wort verloren hat, in dem, was wir drucken und gedruckt lesen, in der Lenkung und Gestaltung der öffentlichen Meinung. Was ist zum Beispiel alles in den letzten Jahren gesagt worden, um uns langsam, aber sicher aus der Entwaffnung in die Wiederbewaffnung hineinzumanövrieren! Wieviel wurde da verdeckt und wieviel schöne Worte wurden da über eine sehr beängstigende und gefahrvolle Sache gebreitet! Dürfen wir wirklich sagen: Das Volk will belogen werden? Darf so in der christlichen Gemeinde gedacht oder gehandelt werden? Sollten nicht ihre Wächter auch dafür einstehen, daß das Volk unter den klaren Sachverhalt der Wahrheit kommt? Nicht nur der Wahrheit, die von Gott ist, sondern auch der anderen, die wir Wirklichkeit nennen. Dann erst wird das Wort wieder gelten, und jener unsaubere Geist, der es benutzt, um die Unwirklichkeit, die Träume und eitlen Wünsche damit zu bemänteln, wird ausfahren müssen. Man könnte gewiß noch manches über die Verzweigtheit dieses unsauberen Geistes und seiner sieben Helfershelfer sagen. Aber es mag genug sein. Gegen die Rückkehr und das Wiedermachtgewinnen dieses Geistes sollten wir wachsam sein. Ihn sollten wir mehr fürchten als alles andere. Denn seiner Rückkehr 329
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alle Wege zu verriegeln, das erst heißt wahrhaft dankbar sein für die Errettung, die uns zuteil geworden ist. Jesus sagt, wenn der Geist zurückkommt, findet er das Haus, aus dem er 300 zuvor weichen mußte, „leer, gekehrt und geschmückt“. Es ist Ordnung geschaffen, die Spuren der Verwüstung sind beseitigt. Aber es ist leer, und weil es leer ist, kommt er zurück. Und nun, meine Freunde, werdet ihr begreifen, warum ich glaubte, diesen Text heute wählen zu dürfen, um ihn Euch mitzugeben: wenn Jesus den Besessenen heilt, dann will er nicht, daß sein Inneres, das Ge305 häuse seines Lebens, leer bleibt. Wenn es das bleibt, dann nützt das Ordnen und Schmücken sehr wenig. Sondern er selbst, und mit ihm und durch ihn der Geist Gottes will einziehen. Dann, wenn ihr der Tempel seines Geistes seid, wenn vor allem Ordnen und Schmücken, vor allem, was wir in Lehre und Kult tun, das eine Gebet steht: Veni creator Spiritus!
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werden wir ohne Furcht leben. Dann sind wir erfüllt von dem Geist des Lebens, der jenen unsauberen Geist nicht nach Rückkehr gelüsten läßt. Aber wenn das fehlt, wenn das fehlt, was wir uns eben nicht geben können, Gott und sein Geist, der bei uns wohnen will, wenn wir vergessen, daß wir auf dem 315 Wege von Ostern nach Pfingsten gehen, kräftig und sehnsüchtig vorwärts gehen müssen, wenn wir uns damit begnügen, Ordnung zu machen, wenn wir uns damit aushelfen, unsere Gottesdienste schön zu gestalten, dann gilt die Weisung Jesu: Und es wird mit demselben Menschen ärger, denn es zuvor war. Also wirds auch diesem argen Geschlecht ergehen. Der Herr behüte uns vor 320 allem Übel, der Herr behüte deine Seele!
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Predigt : Kampf zwischen Fleisch und Geist³ Galater 5, Vers 25 – Galater 6, Vers 10: So wir im Geist leben, so lasset uns auch im Geist wandeln. Lasset uns nicht eitler Ehre geizig sein, einander zu entrüsten und zu hassen. Liebe Brüder, so ein Mensch etwa von einem Fehler übereilt würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist ihr, die ihr geistlich seid; und siehe auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. So aber sich jemand läßt dünken, er sei etwas, so er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeglicher aber prüfe sein eigen Werk; und alsdann wird er an sich selbst Ruhm haben und nicht an einem andern. Denn ein jeglicher wird seine Last tragen. Der aber unterrichtet wird mit dem Wort, der teile mit allerlei Gutes dem, der ihn unterrichtet. Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasset uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten ohne Aufhören. Als wir denn nun Zeit haben, so lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.
„Wenn wir durch den Geist leben, dann laßt uns auch durch den Geist 1 wandeln“, so wird man den Eingang unseres Textes übersetzen müssen. Wenn – dann! Wenn ihr schon teilhaft geworden seid des Geistes, der von oben ist, der Leben, ewiges Leben bedeutet, dann bedeutet das auch einen Befehl für euch, einen Aufruf, eine Verpflichtung. Wenn – dann! Nur wenn ihr beides in 5 diesem Zusammenhang seht, nur wenn ihr wißt, daß, wer A sagt, auch B sagen muß, dann erst seid ihr wirklich Menschen des Geistes! Der Geist Gottes kennt keine Aufteilung zwischen Leben und Wandel. Wer aus dem Tode ins Leben gekommen ist, der muß nun auch in seinen Schritten bezeugen, daß er von neuem geboren ist. 10 Das ist die Schwelle, über die wir allein Eintritt finden können in unseren Text. Es gibt so besondere Stellen in der Bibel, die zwingen uns, der Wahrheit unmittelbar ins Auge zu sehen. Da geht es uns wie einem Patienten, der zu einem guten und ernsten Arzt kommt. Man kann dann der entscheidenden Wahrheit nicht mehr ausweichen. Der Arzt legt den Finger gerade auf die 15 wunde Stelle in unserem Leben und sagt uns, wie es um uns steht. So geht es uns oft, wenn nicht immer, wo wir von dem Anspruch Gottes getroffen werden. Er verlangt etwas Ganzes von uns, wir aber möchten uns mit dem Halben begnügen. Daß jene Männer, die Apostel und Propheten, so nüchtern und entschieden zu ihren Gemeinden redeten, das lag eben daran, daß es ihnen darum 20 ging – worum es ja auch uns gehen sollte –, sie wollten nicht den Menschen gefallen oder sie nur mit einem menschlichen Trost und einem schönen Bild der Zukunft vertrösten, sie wollten ihnen wirklich helfen, herauszukommen 3 Quelle: Iwand, Hans Joachim, Nachgelassene Werke, Bd. 3, 271–277.
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aus der Krankheit, an der sie litten, aus der Halbheit, mit der sie sich zufrie25 den gegeben hatten. Es ging nun einmal nicht anders, sie mußten die Men-
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schen immer wieder aufs neue wachrütteln, damit sie nicht müde wurden. Sie mußten ihnen sagen, daß all ihr Geistbesitz und ihr Leben im Geist nichts ist, wenn sie nicht wagten, den Schritt hinüber zu machen, den Überschritt in die Tat, in den Wandel. Die Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nun einmal nicht verborgen bleiben. Wenn ihr wirklich solche Leute seid, die irgendwie und irgendwo vom Geist Gottes erfaßt sind, dann könnt ihr das nicht verbergen, das muß dann schon deutlich werden an eurem Wandel. Ja, dazu ist der Geist ja mitten unter uns, daß er nun auch unsere Schritte lenke, damit deutlich wird, von woher wir dirigiert sind. Die Sache ist nicht so schwierig, wie wir uns das manchmal machen. Es ist nun einmal etwas Neues und Grundstürzendes in dieser Welt und mit ihr geschehen. Gott selbst hat sich unser und unserer Not angenommen. Gott hat die Gitterstäbe unseres Gefängnisses, die harten, für unsere Hände unzerbrechlichen Stäbe weggetan. Gott hat in einem Menschen, der sein Werk vollführte, in Jesus Christus, die große, selige Wendung herbeigeführt, von der eben jene Apostel und Propheten herkommen. Und nicht nur das, er hat uns auch die Freiheit geschenkt, nach einem neuen Gesetz zu leben, nicht mehr nach dem Todesgesetz, das in uns angelegt ist, sondern nach dem Gesetz des Lebens und des Geistes, dem Gesetz, das in seinem Reiche und für die Seinen gilt. Manche Leute meinen das freilich ganz anders. Sie meinen, wenn Gottes Geist sie erfaßt, dann ginge alles wie von selbst, wie, wenn der Wind ein Blatt vor sich herweht, ohne daß es selbst von sich aus etwas tut. Das ist der große Irrtum, den unser Text heilen, den er unter uns austreiben möchte. Geist, das hat der Apostel kurz zuvor gesagt, heißt Kampf. Geist ist zunächst und vor allem das unabdingbare Nein Gottes zu allem, was wir von Hause aus sind und haben. Geist ist das Messer, das ins Fleisch schneidet, hat einer gesagt, der kein Christ war, der von dieser Sache aber offenbar mehr verstand, als so manche unserer modernen Christen. Die meinen immer, der Geist verkläre unser Fleisch, er erhöhe, verwandle, veredle und durchgeistige unsere Natur. Und sie wollen es nicht hören, daß der Geist Gottes für den Menschen, der wir von Haus aus sind, Tod und Gericht bedeutet, daß er das Nein Gottes bedeutet. Daher vermögen wir mit unseren Sinnen und unserer Vernunft von dieser Wirklichkeit des Geistes, wo sie uns begegnet, nichts, aber auch gar nichts zu begreifen. Daß uns Weihnachten und Ostern, aber auch wohl Pfingsten, diese großen Taten des Geistes, leer bleiben werden, wenn wir nicht erst das Nein vernommen haben, das uns zurückwirft. „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann!“ Ist das nicht wahr? Und ist es nicht auch wahr, daß uns eben dann das bloße Wissen um Gottes Gnade und Herrlichkeit, um alle diese hohen Erkenntnisse und Weisheiten gar nichts nützt, wenn ich da nicht hinkomme? Daß ich dann in diese so hell erleuchteten Fenster immer nur von außen hineinschaue und niemand da ist, der mich an der Hand nimmt, der 332
mir die Türe dahin auftut, der mich da hineinführt, so daß ich wirklich weiß: Ja, Gott lebt, ja, es gibt eine solche große, wunderbare Wirklichkeit, wo der Tod und die Sünde aufgehoben sind! Es gibt Vergebung –, was auch immer mein Gewissen dagegen ins Feld führen mag, es gibt ewiges Leben –, was auch immer meine stumpfen und an diese Welt gebundenen Sinne mir dagegen bezeugen mögen. Und es gibt Gottes Reich und Willen mitten unter uns, auf dieser Erde, so wahr eben Jesus da ist, Jesus, Gottes Sohn und mein Heiland! Und daß von ihm eine Bewegung ausgeht, die immer aufs neue zu Menschen des Geistes macht. Das heißt Geist! Oder besser, Begegnung mit dem Geiste Gottes. Wem dieser Geist Gottes je begegnet ist, der reibt sich wohl hernach die Augen und fragt sich, wie konnte ich nur all dem glauben, was nicht von Gott kam, dem Bösen, dem Tod, dem schrecklichen abgründigen Nichts? Das ist ja alles nicht wahr! Und jetzt verstehen wir erst, warum Gott zunächst Nein sagen muß, warum die Begegnung mit dem Geiste Gottes, d. h. mit dem wirklichen, lebendigen Gott, so weh tut, warum hier erst ein Strich gemacht werden muß durch alles, was die Bibel Fleisch nennt, das heißt, was mir als einem natürlichen Menschen geläufig ist. Das muß Gott erst wegnehmen, damit mir wirklich die Augen aufgehen können für seine Wahrheit und Nähe. Geist heißt: Gott zieht uns auf seine Seite, wir dürfen die Welt, die Menschen, wohl auch uns selbst, mit seinen Augen sehen, wir dürfen die Wahrheit aus seinem Munde hören, wir können nicht mehr Gegner, Feinde, Zweifelnde und Abgewandte sein, sondern wir dürfen, wir müssen mit Gott eines Sinnes sein! Das heißt Geist. Und die Menschen, denen solche Begegnung widerfahren ist, haben kein besseres Wort dafür gefunden als eben dieses, daß sie sagten: ein solcher Mensch ist von neuem geboren! Er ist aus dem Tode ins Leben gekommen. So heißt es ja auch in unserem Text: Wer auf den Geist säet, der wird vom Geist das ewige Leben ernten! Aber – wie gesagt – Geist bedeutet auch eine Verpflichtung! Wandelt im Geist! Wir wissen, wie schwer uns das gemacht wird. Nicht nur von unserer eigenen Natur, die immer wieder in den alten Trott zurückfällt, sondern auch von unseren besten Freunden, von den Mitchristen. So muß das jedenfalls damals in Galatien gewesen sein, und so ist es in der Geschichte der christlichen Kirche bis heute geblieben. Wirken des Geistes, das hieß, daß Gott in Christo ein Neues in der Welt geschaffen, angefangen, begonnen hat. Wandeln im Geiste, heißt nun auch, an unserem Teil etwas von dem fertigbringen, was Gott freilich endgültig und vollkommen vor uns hingestellt hat. Wir sind doch auch ziemlich geschäftig gewesen oder sind es noch, wo es gilt, gottfeindliche, böse, finstere Prinzipien auf die Welt und ihre Gestaltung anzuwenden, danach unseren Wandel auszurichten – das leere, tote Nichts, das so zersetzend und zerstörend alles verpestet und vergiftet. Der Ungeist dieser Welt ist doch auch nicht etwa tot, und die sich ihm verschreiben, sind doch ziemlich munter bei der Sache. Wo seid ihr denn? fragt der Apostel die Christen in Galatien bei diesem Spiel. Habt ihr euch etwas vornehm zurückgezogen, stolz, 333
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daß ihr Menschen seid, in die Gott seinen Geist gelegt hat, in Besorgnis, ihr könntet diesen Besitz verlieren, wenn ihr euch mit der Welt einlaßt? Oh, wenn ihr so denkt, dann habt ihr ihn längst verloren! Ihr wagt dann eben nicht, mit dem Geiste Gottes, in seiner Waffenrüstung, nun den Kampf aufzunehmen mit der finsteren, dummen, bösen, gemeinen Wirklichkeit, die ihr vor euch habt. Ist das die Nachfolge Christi? Ist er ausgewichen in das Niemandsland des bloßen Geistbesitzes? Hier bricht nun etwas auf – man kann schon sagen, es ist, als ob uns der Apostel einen Spiegel vor Augen hielte, und wir unseren ganzen stolzen geisterfüllten Stolz und den von daher so peinlichen, so abstoßenden Betrieb zu sehen bekämen: gerade innerhalb des Christentums, gerade da, wo man meint, den Geist zu besitzen, wo man nichts mehr von dem Schmerz weiß, dem Kampf zwischen Geist und Fleisch, nichts mehr von dem Seufzen des Geistes, – sondern immer fröhlich, immer sicher, immer gerecht, immer besser als die anderen, immer auf Gottes Seite – da ist der Geist Gottes leer, eine bloße subjektive Einbildung, ein eitler leerer Ruhm. Das sind keine „Geistlichen“! Da setzt man sich nur ab von den anderen, den Gottlosen, den Verlorenen! Und manchmal hat man ja heute den Eindruck, daß wir mehr und mehr alle in dem aufgeblasenen Treiben auf- und untergehen! Darum hier der Befehl: Wandelt im Geist, laßt ihn euern Führer sein! Er ist nichts Totes, nichts, was ein Mensch sich anmaßen und wie einen Besitz an sich reißen könnte. Wir können den Geist Gottes nie besitzen, er kann immer nur von uns Besitz ergreifen. Und nun gibt der Apostel ein Beispiel, was dann geschieht, wenn wir uns vom Geiste führen lassen: Dann denken wir gar nicht mehr an uns, denken gar nicht daran, daß wir besser, frömmer, gotterfüllter sind als die anderen, sondern wir sehen ihn, den Bruder, den, der unter die Räuber gefallen ist. Wir sehen ihn jetzt mit Gottes Augen. So sieht Gott uns und darum hat er seinen Sohn zu uns gesandt! Genauso sehen wir jetzt den, der unter irgendwelchen Fehlern und Übertretungen, unter dem Urteil und der Verurteilung seiner Mitmenschen zusammengebrochen ist. Und der Geist Gottes befiehlt uns auszuhalten, vom hohen Roß unseres Stolzes herabzusteigen, den Gefallenen aufzurichten in jener Güte und jenem Erbarmen Gottes, auf daß wir selbst die neue Geburt unseres Lebens gründen. Das ist das wunderbare Sakrament der Liebe, das immer aufs neue in unserer Gemeinschaft geschehen sollte – so wie es einmal, eindeutig und unübertrefflich da geschah, wo Gottes Geist in seinem Sohne über diese Erde ging. So! Das sollte unter euch immer aufs neue geschehen! Das heißt: wandelt im Geist. Daran werden die Blinden, die Lahmen, die Aussätzigen, die Toten spüren, wes Geistes Kinder ihr seid. Jetzt erst merken wir, was für eine wichtige und tiefe Scheidegrenze der Apostel zwischen den falschen und den echten, vom Geist wirklich bewegten und getriebenen Christen zieht. Das ist so ein Abgrund, daß man wohl sagen muß, da gibt es gar keine Brücke und keine Verständigung herüber und hinüber. Es ist das auch bei diesem Geistbesitz so wie mit dem reichen und dem 334
armen Mann. Gottes Gericht macht da einen Abgrund, daß niemand hinabfahren kann und kann auch niemand herüberkommen. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als wenn der Geistbesitz einen Menschen stolz macht auf sich selbst. Den kann niemand mehr retten. Der Geistbesitz – der wirklich Geist von oben ist – macht es gerade umgekehrt: er macht uns vorsichtig! Sieh auf dich selbst, damit du nicht selbst versucht werdest! Das ist die andere Seite der Sache. Der Geist Gottes offenbart mir da etwas: der Mensch, der da vor dir liegt, der um irgendeines Fehlers willen gestürzt ist, der könntest doch auch du selbst sein! Daß du stehst und er gefallen ist – ist das nicht schlechthin Gnade? Du stehst ja auch nicht um deinetwillen, sondern um seinetwillen, um ihm die Hand zu reichen, um an ihm das zu tun, was ihn wieder glauben läßt an seinen Vater im Himmel. So wie Jesus, eben weil der Geist Gottes über ihm und in ihm war, nicht einen Schritt tun konnte, ohne daß er durch das Elend und den Fall seines Mitmenschen bewegt war, so könnt ihr gar nicht im Geist Gottes leben, ohne daß euch das Elend und der Jammer eures Bruders, eures Mitmenschen, vielleicht gerade eines solchen, über den sie alle herfallen, das Herz abgewinnt. Ihr könntet eben da auch liegen, wo er liegt, und vielleicht habt ihr schon einmal da gelegen, wo er nun hinabgestoßen ist! Auch ihr bei den Verworfenen, bei denen, über die sie die Nase rümpften! Gott wird uns nicht fragen, wo wir den Geist haben, den er uns verliehen hat, sondern er wird uns fragen, wo der Bruder geblieben ist, für den uns der Geist die Augen und das Herz aufschließen sollte. Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein! Und damit stehen wir nun vor dem Lebensgesetz der neuen Gemeinde, des aus dem Geist Jesu geborenen Volkes: Einer trage des Anderen Last! Wir wissen ja, daß eine bedeutende und fruchtbare Synode eben unter diesem Motto getagt hat, und wir wissen auch, wieviel Ärger sie damit angerichtet hat, daß sie Ernst machte mit dem Befehl, der darin ausgesprochen wurde. Das heißt: Wandelt im Geist!
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Predigt : N.N. ist nicht hier!⁴ Galater 2, Vers 15–21: Wir sind von Natur Juden und nicht Sünder aus den Heiden. Doch weil wir wissen, daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum, so glauben wir auch an Christum Jesum, auf daß wir gerecht werden durch den Glauben an Christum und nicht durch des Gesetzes Werke; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht. Sollten wir aber, die da suchen, durch Christum gerecht zu werden, auch selbst als Sünder erfunden werden, so wäre Christus ein Sündendiener. Das sei ferne! Wenn ich aber das, was ich zerbrochen habe, wiederum baue, so mache ich mich selbst zu einem Übertreter. Ich bin aber durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt. Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, des lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben. 1 Laßt uns den letzten Satz, den wir soeben gehört haben, gleich festhalten und
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voranstellen. Er ist offensichtlich das Ziel, dem die schwierige Beweisführung des Paulus zustrebt. Er ist der Punkt hinter dem Ganzen. Das große EntwederOder, unter dem alles, was uns der Apostel zu sagen hat, steht: „Denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit käme, dann wäre ja Christus umsonst gestorben.“ Wenn – dann, sagt der Apostel: wenn ihr recht hättet, wenn es doch einen Weg gäbe, über das Gesetz hinweg die Gerechtigkeit zu erlangen, wenn die Werke, die Anstrengungen und Bemühungen, die wir unter dem Ansporn des Gesetzes vollbringen, uns der Gerechtigkeit Gottes doch näher brächten, wenn das wirklich der Weg wäre, um gut zu werden, gut vor Gott, gut, nicht nur in unseren Augen oder in denen unserer Mitmenschen, sondern wirklich gut in den Augen dessen, der Herz und Nieren prüft – wenn das wirklich so wäre, dann stünde das Kreuz umsonst auf Golgatha, dann wäre der Tod Christi nutzlos. Dann wäre alles leer und fade, was wir von ihm, von diesem dort geopferten Jesus Christus sagen. Wenn beides möglich wäre, der Weg des Gesetzes und der Weg des Glaubens, der Weg unserer Taten und dieser einen großen Tat Gottes – dann wäre all das umsonst geschehen, was wir heute als unseren letzten Trost und als Gewißheit unseres Lebens und Sterbens verkündigen. Das will der Apostel sagen. Er will uns darauf hinweisen, was für Konsequenzen es mit sich bringt, wenn wir sagen: Ich glaube an Jesus Christus! Er will uns darauf verweisen, daß wir mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus ein Land betreten, aus dem es kein Zurück gibt. Kein Zurück von Golgatha zum Sinai, kein Zurück von Jesus Christus zu Mose, kein Zurück von Paulus zu Petrus, kein Zurück von Luther zu Kant! Das will er sagen. In dieser Sache geht es ums Ganze. Es kann gar nicht anders sein. Gott ist ein eifriger Gott, er 4 Quelle: Iwand, Hans Joachim, Nachgelassene Werke, Bd. 3, 245–256.
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duldet keine anderen Götter neben sich. Paulus möchte uns ganz und gar mit hineinnehmen – nicht etwa in die logischen oder auch theologischen Konsequenzen seiner Denkweise, sondern in die Konsequenzen der Denkweise Gottes! Um Gottes Wege geht es hier. An Gott um Jesu willen glauben, mit Gott in Jesus Christus zu tun bekommen, heißt unter Konsequenzen geraten, die nicht so einfach nach Ort und Stunde aufzulösen sind. Dann kann man nicht heute liberal sein, wenn es gewünscht wird, und morgen orthodox, wenn die strengen Gemeindekreise es anders wünschen. Dann kann man eben nicht heute mit den Heiden essen und morgen den Juden zuliebe wieder die Absonderung wählen. Dann kann man nicht mehr ein geschickter Diplomat im schwarzen Rock oder ein stets gefälliger Theologe im Wandel des Zeitgeistes sein – nein, Gottes Konsequenzen liegen fest. Wer unter sie gerät, der ist gleichfalls festgelegt. Jeder, der den Jordan überschreitet, muß sein Schiboleth sagen. Wenn dein Schiboleth Gesetz heißt, dann bist du eben auf der anderen Seite. Mag das Gesetz in dir sein oder außer dir, magst du es begründen mit der natürlichen Offenbarung deines Gewissens oder mit dem, was da auf den Tafeln am Sinai geschrieben wurde, mag es das Gesetz der Natur sein, das dich hält, dem du dich verschreibst, oder das Gesetz der Personalität, die Autonomie der freien, wenigstens angeblich freien Persönlichkeit: damit bleibst du immer noch diesseits, hast noch nicht das gelobte Land betreten, wo Gottes Herrlichkeit, wo seine Gerechtigkeit und Ehre wohnt, wo sie auf dich wartet. Darauf will der Apostel heraus, daß wir begreifen: In Jesus Christus ist ein Entweder-Oder gesetzt, kein Sowohl-als-auch! Hier kann ich nicht ein bißchen mitnehmen von meinem eigenen Tun und meinen eigenen Bemühungen, um es dann in seiner Unvollständigkeit auff üllen zu lassen von dem, was Gott uns in Jesus Christus getan hat. Nein, entweder Saulus oder Paulus. Entweder Pharisäer oder Zöllner! Entweder: Gott ich danke dir, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Mörder, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner da – oder: Gott sei mir Sünder gnädig! Entweder wirklich leere Hände, Bettlerhände, die sich nach oben strecken, um zu empfangen, was Gott für den Menschen bereit hält, oder freier Wille und Entschlossenheit, sich selbst mit seinem Tun die Grundlage der eigenen Existenz zu sichern. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Aber nicht beides. Nicht solche Menschen, die sich schämen, wenn sie nichts anderes vorzubringen haben als eben dies eine: daß Gott für uns seinen Sohn in den Tod gegeben hat! Und daß dies genügt – für Zeit und Ewigkeit. Nicht solche Leute, die auf der einen Seite Gesetz, Sittlichkeit, Ethik sagen, soweit sie meinen, es selbst zu schaffen, und Christus sagen, Gottes Gnade, Vergebung, wenn sie merken, daß sie an das Ende und die Grenze ihres Vermögens gekommen sind. Nein, wer Jesus Christus sagt, wer aus dem Glauben an ihn wirklich leben will, der tritt ganz und gar unter das Gericht, als der Mensch mit seinen guten und seinen verfehlten Taten, mit seinen Tugenden und mit seinen Schwächen – der muß erkennen, daß es Gerechtigkeit nur so gibt. Anders gesagt: daß es Gerechtigkeit nur hier gibt im Tode Jesu Christi! Nur durch das Gericht über alles, was wir sind. Indem wir uns der großen, 337
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göttlichen, seligen Konsequenz unterziehen, die mit dem Tode Jesu Christi offenbar geworden ist. Indem wir das Sowohl-als-auch aus dem Sprachschatz unserer hin und her schwankenden Christlichkeit streichen und wirklich alles hinter uns lassen, um das eine zu gewinnen, was not tut! Wem es hier nicht um alles oder nichts geht – um das, was wir Menschen Sittlichkeit und Religion nennen auf der einen Seite, und Vergebung und Gnade auf der anderen Seite –, dem ist Christus umsonst gestorben! Dem ist dieser Tod eben nicht zum Eingang in das Leben geworden. Das meint Paulus, als er sich dem Sog entgegenstemmt, der die Gemeinde in Galatien ergriffen hat, die beides können möchte und die sich dabei leider noch auf Petrus berufen konnte. Die Gemeinde in Galatien möchte so gern beiden recht geben, für die Gemeinde ist es immer schmerzlich, wenn sie plötzlich in das theologische Sperrfeuer gerät. Bei der Bekehrung – ja, da war ihnen die Predigt des Paulus von der Gnade Gottes, von der Gerechtigkeit allein aus dem Glauben wie eine Erlösung, wie eine Stimme aus der oberen Welt, die das Herz frei machte und sie ins neue Leben führte. Aber jetzt – nachdem sie nun einmal gläubig geworden sind, müssen sie da nicht erkennen, daß es doch nicht ganz falsch war, was sie aus ihren jüdischen Traditionen und Gesittungen mitbrachten! Die alte und die neue Kirche! Das Mittelalter und die Reformation, Rom und Wittenberg. Unsere evangelische Kirche vor 1933 und nach 1933! Es wird immer dasselbe sein. Eines Tages merkt man doch, daß es sich besser lebte bei den Fleischtöpfen Ägyptens als in der Wüste. Eines Tages spürt man doch, daß es gar nicht so leicht ist, Christus ein und alles sein zu lassen, alles andere zu verkaufen und ihm zu folgen, eines Tages melden sich dann doch neben dem großen Tag der Offenbarung, der Gnade, der wunderbaren Versöhnung und Vergebung aller unserer Schuld die Überlieferungen, das Alte, die Gewohnheit, das Sowohl-als-auch von Glaube und Werk. Gnade, jawohl, Tod Christi, jawohl, wer möchte ihn missen! Aber daneben nun eben doch auch ein wenig von dem, was wir tun können und was wir leisten. Zumal, wenn man sich vergleicht mit den Gottlosen, den Sündern, den Ungerechten – es kann doch nicht alles Pharisäismus sein, was aus dem Gesetz, aus den Werken des Gesetzes lebt. Ist das Christentum nicht selbst die sittlich-religiöse Offenbarung? Aber das, was wir hier gelesen haben, ist das unverfälschte, das glaubwürdige Dokument, daß Paulus dazu Nein sagt. Daß er keinen Fortschritt, keine Entwicklung hier kennt. Jesus Christus ist unsere ganze Gerechtigkeit. In seinem Tod liegt unser ganzes Heil! Erst muß sicher stehen, daß wir unsere Gerechtigkeit Gott verdanken, Gott allein, der seinen Sohn für uns in den Tod gegeben. Und dann kann und darf auch vom Gesetz die Rede sein, wenn das Entweder-Oder klar ist: Wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit käme, dann wäre Christus umsonst gestorben. Wenn wir das einmal ins Auge gefaßt haben, wenn wir etwas begriffen haben von dieser männlichen Kraft und Entschiedenheit des paulinischen Nein, seines echten, seines in die Entstehungsurkunde des Christentums eingesenkten Protestantismus – dann werden wir uns wohl auch von ihm den Weg dahinführen lassen, den er hier mit einigen klaren, scharfen und genau formu338
lierten Sätzen gebahnt hat. Er mutet in dieser Lage an wie ein Steuermann, der starr seine Augen auf das eine Ziel gerichtet hat und über das Auf und Ab der Wogen, die das Schiff aus dem Kurs bringen möchten, hinwegschaut. Und dies Ziel heißt eben: Christus ist nicht umsonst gestorben! Es darf nicht sein, daß wir das Kreuz Christi entleeren, daß wir es wertlos, nutzlos machen. Es darf nicht sein, daß die Gnade ungültig wird. Entweder-Oder: Entweder kommt die Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes oder Christus, der gekreuzigte, der für mich dahingegebene Christus ist meine Gerechtigkeit! Eins oder das andere – aber unter keinen Umständen beides. Das ist Paulus. Das ist es, was man in der Sprache der Theologie die Rechtfertigungslehre nennt. So einfach ist sie – aber offenbar doch wohl auch ungemein schwierig, sie ein Leben lang festzuhalten! Wie oft hat sich das wiederholt, was hier in Galatien begonnen hatte, dieser Rückfall aus dem Glauben in die eigene Leistung? Der Rückfall aus der Gnade in das eigene Rühmen. Der Rückfall aus dem, was Gott an uns getan hat, in das, was wir uns zutrauen. Wie oft vollzieht er sich, nicht nur im großen Gange der Kirchengeschichte, sondern in jeder einzelnen Gemeinde, in jedes einzelnen Menschen Leben? Es kommt für jeden Menschen einmal der Tag, da scheint es ihm nicht mehr genug zu sein, allein aus der Gnade zu leben. Da möchte er über den Tod Jesu, über das Wort vom Kreuz hinauskommen. Gott sei Dank, daß wir Paulus haben! Daß er hier Posten steht, daß er uns hier mit einer unwiderleglichen Argumentation den Übergang unmöglich macht. Was ihr Übergang nennt, so sagte er, ist Abfall. Die Gnade Gottes in Jesus Christus hat ihre Konsequenzen! Keine menschlichen, keine logischen, auch keine bloß theologischen, sondern göttliche Konsequenzen. Glaubensgehorsam heißt: daß wir uns den Konsequenzen Gottes unterziehen müssen. Daß wir hier eben nicht auf beiden Füßen hinken, daß wir nicht Gott und Abgott zusammennehmen dürfen. Weil uns in Jesus Christus Gott begegnet, Gott in seiner überlegenen Gerechtigkeit, darum mußt du schon die Schuhe ausziehen, wenn du dies Land betreten willst, mußt die Mittel abtun, mit denen du dich sonst durchs Leben schlägst – deine Werke, deine Leistungen, mögen sie noch so gut sein. Hier mußt du bloß und frei hintreten. Und nun meine ich, das könnte uns doch vielleicht Mut machen, uns von ihm sagen zu lassen, was er damals seiner wankend und weich gewordenen Gemeinde in Galatien geschrieben hat. Und was seitdem immer wieder – nicht zum wenigsten in der Reformation und in den Auslegungen Luthers und Calvins zu den Kernsätzen unseres Bekenntnisses gehört hat: Schon der erste Satz, den wir gelesen haben, enthält die Erinnerung an eine Sache, deren Größe wir kaum ermessen können. Ich würde das am liebsten das menschliche Wunder am Evangelium nennen. Daß es nämlich hier heißt: „Wir, die wir von Natur Juden sind und nicht Sünder wie die Heiden.“ Es gibt soviele Dinge in der Bibel, die uns am Menschen verzweifeln lassen könnten. So etwa, wenn wir uns da abgebildet sehen als reichen Mann und als armen Lazarus; warum geht denn der reiche Mann nicht heraus und holt seinen Bruder Lazarus zu sich herein? Jedenfalls, er tut es nicht und er wird es nicht tun. Warum freut 339
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tat es nicht und er wird es nicht tun, solange die Welt steht. Warum sagt der Pharisäer nicht: Gott sei mir Sünder gnädig, sondern dankt Gott für lauter Dinge, die vor Gott greulich und garstig sind? Jedenfalls, er tut es nicht und er wird es nicht tun, solange er nicht von neuem geboren wird. Warum muß denn der Hohepriester Jesus Christus an die Römer ausliefern, warum opfert er den einen Zeugen der Wahrheit für das Volk? Jedenfalls, er tuts und gibt dadurch gerade sein Volk dem Verderben preis. Das ist der Mensch, der reiche, der gute, der priesterliche Mensch. Kann man da nicht verzweifeln? Aber dann kommt das, was wir eben gelesen haben: Wir, die wir von Natur Juden sind – wir sind zum Glauben gekommen an Christus Jesus, „damit wir gerecht würden durch den Glauben an Christus und nicht aus den Werken des Gesetzes“. Und da lernt man erst, den Menschen wieder lieb zu haben. Wissen wir, was ein Jude ist? Menschlich gesehen, ethisch gesehen ist er sicher das höchste, was die Völkergeschichte kennt. Darum treffen sich auch meist die menschlichen Ideale mit dem Judentum. Man könnte meinen, die Heiden außerhalb der Gesetzesfrömmigkeit wären vielleicht dem sola gratia, der Gerechtigkeit aus Glauben näher! Aber nein. Hier redet ein Jude! Die, die das bekennen, die, welche die Rechtfertigung allein aus Glauben gegen alle Werkerei vor der Welt proklamieren, die, welche das Kreuz Christi wirklich begriffen haben, Gottes Gerechtigkeit hier und nirgendsonst gefunden haben – sie sagen: Wir, die wir von Natur Juden sind! Wir legen alles nieder, was unseren Ruhm und unseren Vorzug bedeutet, und verkündigen Jesus, und diesen als den Gekreuzigten! Das sind die Juden! So stehen sie in der Gottesgeschichte, die zugleich Weltgeschichte ist. Die wahren Juden! Und wenn wir fast verzweifeln wollen über den Menschen, über den Abgründen und Gegensätzen, die wir zwischen uns aufrichten, und wir stoßen dann auf solche Menschen, dann atmen wir auf. Das ist wirklich das Wunder des Heiligen Geistes, das Wunder der Gnade Gottes an seinem Volk für die Heiden! Sie, die Juden, haben uns die Türe aufgetan, damit wir Gottes Gnade finden. Sie, ausgerechnet sie, die Juden, haben die Welt herausgehoben aus dem Gefängnis der Werkgerechtigkeit, sie haben – durch die Berufung und Gnade Gottes – der Welt das Heil gebracht. Und zwar behaupten sie etwas Bestimmtes zu wissen und etwas mit Gewißheit zu glauben: Sie wissen etwas vom Menschen! Sie wissen es aus der Heiligen Schrift des Alten Testamentes. „Vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps 142,3). Die Juden kennen Gottes Gerechtigkeit. „das macht dein Zorn, daß wir so gar aus sind“, das wissen sie aus der Schrift. Und daß alles Fleisch wie Gras ist und seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Und darum sagt es der Apostel hier als das Gewisseste und Selbstverständlichste: „Daß aus den Werken des Gesetzes kein Fleisch gerecht gesprochen wird“. Sie wissen das, und setzen darum auf diesen Menschen, der Fleisch ist, nicht mehr ihr Vertrauen, ihren Glauben und ihre Gewißheit. Wir sind gläubig geworden an Jesus Christus, sagt Pau340
lus, damit wir aus dem Glauben an Christus gerecht erfunden würden! Sie haben die Konsequenzen gezogen, sie haben das Gebiet verlassen, über dem das Gottesgericht steht – den Menschen, der Fleisch ist – und haben sich an Jesus Christus gehalten, damit sie gerettet würden. Sie haben verstanden, wenn Gottes Gerechtigkeit ausholen wird zum Gericht, wird keiner ihr entgehen, der seine Lebenswurzeln in seinem eigenen Dasein und Menschsein hat. Sie haben den Schnitt gehört, der von Gott her durch das Gras und all seine Herrlichkeit hindurchgeht. „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, hat Gewalt vom lieben Gott.“ Sie haben gesehen, wohin man treten, nein, wohin man springen muß, um diesem Gericht zu entgehen. Sie haben alles hinter sich gelassen, was Gott richten könnte – ihre eigenen, ihre besten Taten, ihr ganzes, ernstes, hingegebenes Leben – und haben sich an den geklammert, den er nicht richten kann. An Jesus! Sie sind mitten in das Gericht Gottes hineingetreten, weil sie erkannten, daß dies Gericht Rettung ist, Leben, volle, ewige Gerechtigkeit. Eben damit, daß Paulus das sagt, daß er uns auffordert, unseren Standort dort einzunehmen, wo wir nichts anderes haben als eben Jesus Christus, und auch ihn nicht etwa als einen siegreichen Gott, sondern als einen zum Tode verurteilten, gerichteten, für uns getroffenen Menschen – eben damit löst er eine Frage aus, die überall aufbricht, wo immer die Gnade Gottes verkündet wird. Die Frage lautet etwa so: aber dann ist es ja ganz gleich, was wir tun! Ob wir Böses oder Gutes tun – alles ist einerlei. Wenn alle Menschen doch verloren sind, wenn sogar die Juden nicht besser sind als die Heiden, wenn selbst dieser Unterschied aufgehoben ist, dann können wir ja im Namen Christi tun, was wir wollen. Christus – ein Freipaß für die Sünde! Das kommt dabei heraus. Bis heute ist das ja der Vorwurf, den die römisch-katholischen Theologen Luther machen. Wir wollen diese Sache nicht zu leicht nehmen. Es gibt in der Tat diesen Abweg. Es gibt nicht nur den Abweg zur Rechten, es gibt auch einen zur Linken. Vielen Menschen ist in der Tat der Protestantismus die Form des christlichen Ethos, die uns die Gnade billig macht! Aber dabei haben wir Paulus nicht im Bunde. O nein, sagt Paulus. Wenn ihr mich so versteht, wenn das bei eurer Art von Glauben herauskommt, dann kann ich nur sagen: Mitnichten! Mitnichten machen wir Christus zu einem Handlanger des Bösen, der Laxheit, der Sünde. „Wenn ich das, was ich eben aufgelöst habe, wieder aufbaue, dann erweise ich mich ja als im Widerspruch mit mir selbst befindlich.“ Sünde ist ja genau das, was uns hindert, daß wir Gott gefallen. Auch in unserem besten Leben. Auch da, wo wir das Gesetz erfüllen nach seinem Tatbestande, aber im Innersten eben doch Rebellen bleiben. Rebellen, die an die Kette gelegt sind, aber eben doch nicht Kinder, nicht solche, die das Gute in der Freiheit tun, nicht solche, die Gott wirklich suchen und seine Ehre. Nicht solche, die mit allen ihren Gesetzesbefolgungen, mit ihrer bürgerlichen oder auch antibürgerlichen Moral Gott meinen – sondern ihre eigene Gerechtigkeit. Dieses ganze System, das von seiner nomistischen wie von seiner antinomistischen, seiner bürgerlichen wie seiner revolutionären Seite gottlos ist – das wollte ich aufheben. Das gerade ist ja hier von Gott gerichtet. Mit seinen 341
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guten wie mit seinen bösen Exponenten! Mit seinen Tugenden wie mit seinen Lastern! Ich werde doch nicht etwa anfangen, die Sache nun von der anderen Seite her wieder aufzubauen, die ich eben von meiner, von der positiven, von der scheinbar guten Seite her eingerissen habe. Wenn hier die Juden offenbar sind als Sünder, als Verlorene, so bedeutet das etwas ganz anderes, als was ihr nach eurem Verständnis außerhalb Christus, ferne vom Kreuz, darunter versteht. Es ist ein helles Licht von draußen über uns alle gefallen und in diesem Lichte haben wir gesehen, daß wir alle gleich sind, Gute und Böse, Juden und Heiden! Daß diese Unterschiede unter uns Bedeutung haben mögen, für die menschliche Gerichtsbarkeit, aber nicht für die göttliche Gerechtigkeit. Wo die erscheint – und sie ist eben erschienen in Jesus Christus – da gibt es keinen Unterschied. Da sind wir allzumal Sünder. Da zeigt sich, daß wir alle vor Gott nicht eines bringen können. Und nun geht Paulus noch einen Schritt weiter und sagt es so hart, wie sonst selten wieder: „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben. Ich bin mit Christus gekreuzigt.“ Es gibt im Christentum einen Punkt, da kann man nicht mehr objektiv reden, da muß man – gerade um der Sache willen – subjektiv reden. Da muß man sagen, wie es um uns steht. Und indem Paulus das so sagt, da gibt es ein Echo bei uns allen, da, wo bei uns jene geheimnisvolle Größe sitzt, die wir Ich nennen. Es ist nicht leicht, verständlich zu machen, was Paulus damit meint. Luther hat es einmal sehr schön deutlich zu machen gewußt: wenn das Gesetz kommt, so sagt er, um den Schuldigen zu suchen – er denkt dabei an jene schweren Stunden, in denen etwa ein Mensch über sein verfehltes Leben nachdenkt oder über eine Schuld, die er an anderen Menschen auf sich geladen hat oder gar so, daß das Gesetz mich trifft als Gottes Ruf, als seine unerbittliche Abrechnung, dann werde ich sagen: NN ist nicht hier! NN ist tot! Hier – in der Mitte meiner selbst, wo du mein Ich vermutest, da lebt Christus! Setze dich mit ihm auseinander. Er deckt mich! Wie es im Psalm heißt: Unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht! Und jetzt erst wird es dem Apostel geschenkt, einmal vom Glauben, von diesem unserem Christenstande so zu sprechen, daß in den nach ihm kommenden Jahrhunderten niemand es besser sagen noch beschreiben konnte, was es heißt, ein Christ zu sein. „Nun aber lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.“ Man könnte es vielleicht übersetzen: Das Lebenszentrum ist nicht mehr mein Ich, wie das bei aller meiner noch so bewunderungswürdigen sittlichen Leistung der Fall war, sondern da ist eine andere Mitte: Christus lebt in mir! Man hat versucht, den Apostel Paulus hier mystisch zu verstehen, aber ich glaube, es ist richtiger, wenn sich die Mystik von Paulus her verstünde als wenn wir Paulus aus der Mystik verstehen. Paulus will von Christus her verstanden sein. Er will sagen, wo immer wir auf ihn treffen, da geht es um Tod und Leben. Da endet meine Geschichte, die die Geschichte des Menschen ist und bleiben wird, der sich selbst sucht. Des Reichen, der den armen Lazarus nicht sieht, des Pharisäers, der nicht beten kann wie der Zöllner, dem das Bekenntnis seiner Schuld nicht aus des Herzens Tiefe kommt, des Priesters, der über den Herrn der Kirche zu Gericht sitzt, anstatt ihm zu Füßen zu fallen und mit ihm ins 342
Leiden zu gehen. Dieses Ich, dieses stolze, gute, auf sich selbst gegründete, dieses im Gesetz so sichere, seiner selbst sichere Ich muß sterben! Ihm ist in Jesus Christus die Axt an die Wurzel gelegt. Vor seinem Kreuz kann dieses Ich nicht leben! Hier wird es offenbar in seiner ganzen schäbigen und innerlich leeren Tugendhaftigkeit. Es muß eine andere Mitte meines Lebens gesetzt werden! Genau da, wo dieses Ich bisher stand, wo es alles verkehrt gehen ließ, was die Hand oder der Mund, was Gedanke und Tat versuchten – genau an diese Stelle will Jesus Christus treten, als dein besseres, dein neues Ich! Jesus als die große Barmherzigkeit Gottes. Jesus will nichts Äußerliches, nichts Geschichtliches, nichts Historisches sein, er will seine Wohnstatt in der innersten Mitte meines Lebens einnehmen. Dort soll ich seinen Namen tragen wie einen Fingerring, dort soll sein Reich sein, so will er mich behüten, mich behüten vor mir selbst in meiner eigensten, innersten Mitte. Seine Geschichte ist meine Geschichte geworden, wenn ich ihn sehe, wenn ich von seinem Leiden und seiner Auferstehung höre, dann höre ich die Geschichte von Gottes großer, mich für Zeit und Ewigkeit in sich einschließender Gerechtigkeit. Hier, in seinem Reiche, im Reiche dieses Königs, der die Dornenkrone trägt, gibt es keine Macht der Sünde mehr und keine Grausamkeit des Todes. Hier hat die Hölle ihre Macht verloren. Hier ist nichts als Gott und seine Gnade, seine dem sündhaften, dem verlorenen Menschen zugedachte Gnade. Aber gewiß, ich muß ja auch noch in dieser Welt, in der Zeit, in diesem Leibe leben. Wie das zugeht? Auch das beantwortet Paulus. Und daran, wie er das beantwortet, sieht man, daß er eben kein Mystiker ist. Jetzt darf eben doch von meinem Ich die Rede sein: „Was ich aber lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und der sich für mich dahingegeben hat.“ Es gibt ein Leben – auch hier, auch jetzt – ein Leben, das den Tod im Rükken hat, ein neues, ein freies, ein nun wirklich zu allem Großen und Tüchtigen entschlossenes Leben: Christ sein heißt nicht etwa als ein Sterbender durch die Welt gehen! Genau das nicht! Sondern als einer, der am Tode gelernt hat, zu leben. Eben nicht mehr aus sich, wohl aber aus dem Glauben an den, der uns geliebt hat, Jesus Christus. Man kann wieder leben, wenn man weiß, da ist einer, der uns lieb hat! Aber mehr noch: Hier darf es nicht nur, hier muß es jetzt heißen: Ich glaube. Nicht „es lebt in mir“, nicht „ich fühle“, nicht „ich empfinde und erfahre ein neues Leben“. Das Neue ist der Glaube. Er ganz allein. Aber Ich glaube. Der Glaube hat einen Mund bekommen, der ihn bekennt, einen Geist, der ihn begreift, ein Herz, in dem er immer aufs neue Fleisch wird, Mensch wird, das heißt im Ringen mit all unserer Schwachheit und Unkraft neu sich erhebt als Sieger und als Ruf der großen Freude hinein in unsere so tief betrübte, so verzagte, so unter die falsche, heuchlerische Gesetzesfrömmigkeit geknechtete Welt. „Ich mache die Gnade Gottes nicht zuschanden!“ Eigentlich sollte man sagen: Diese Setzung Gottes, die er mit Jesus Christus, mit seinem Tod und seiner Auferstehung getroffen hat, hebe ich nicht auf! Was haben wir daraus gemacht? Wir haben Gottes Gerechtigkeit mit unseren sehr brüchigen, sehr wenig guten und beständigen Taten identifi343
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Leben sei die Erscheinung von Gottes Gerechtigkeit und sie, die Welt, liege in der Ungerechtigkeit. Das war unsere Schuld. Gottes Gerechtigkeit ist in Jesus Christus in seinem Kreuz und in seiner Auferstehung aufgegangen über alle Welt. Das ist Gottes Setzung, Gottes Thesis. Die hebe ich nicht wieder 340 auf! Denn wenn die Gerechtigkeit aus dem Gesetz käme, dann wäre Christus umsonst gestorben. Nun ist aber am Tage, daß Christus nicht umsonst gestorben ist. Die Welt ist wirklich erlöst, die Sünde ist wirklich gerichtet und der Tod ist wirklich seiner Macht entkleidet. Die Frage, die bleibt, die Bitte, die offen bleibt, ist die, 345 daß uns – jedem für sich – daran liegen sollte, daß er für ihn nicht umsonst gestorben sei! Daß wir uns alle dem großen Entweder-Oder Gottes, dem sola gratia und dem sola fide unterstellen sollten. Daß der Tod Christi auch für uns den Tod bedeuten sollte jener Welt und jenem Leben, das aus den Werken des Gesetzes gerecht sein wollte und darum den Namen Leben nicht verdient.
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Predigt : Vortrupp des Lebens⁵ Hesekiel 37, Vers 1–14: Und des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich auf ein weites Feld, das voller Totengebeine lag. Und er führte mich allenthalben dadurch. Und siehe, des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld; und siehe, sie waren sehr verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du auch, daß diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, Herr, das weißt du wohl. Und er sprach zu mir: Weissage von diesen Gebeinen und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des Herrn Wort! So spricht der Herr Herr von diesen Gebeinen: Siehe, ich will einen Odem in euch bringen, daß ihr sollt lebendig werden. Ich will euch Adern geben und Fleisch lassen über euch wachsen und euch mit Haut überziehen und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war; und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Wind: So spricht der Herr Herr: Wind, komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden. Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein sehr großes Heer. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsre Gebeine sind verdorrt, und unsre Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr Herr: Siehe, ich will eure Gräber auftun und will euch, mein Volk, aus denselben herausholen und euch ins Land Israel bringen; und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber geöffnet und euch, mein Volk, aus denselben gebracht habe. Und ich will meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und sollt erfahren, daß ich der Herr bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr.
Liebe Gemeinde! Das, was wir wohl alle denken in dieser Stunde, da wir uns 1 nach der Nacht des Schreckens hier wieder sammeln im Gotteshaus, dürfte doch wohl dies sein: Herr, wir sind zu gering aller Güte und Barmherzigkeit, die du an uns getan hast! Ich weiß, was viele unter uns verloren haben, ich weiß, welche Schrecken über die Menschen ergangen sind, die da in ihren Kel- 5 lern auf ihr Ende gewartet haben. Ich weiß, daß in dieser Nacht Dortmund arm geworden ist, aber ich weiß auch, meine Freunde, daß wir alle in dieser Nacht zum Herrn gerufen haben, daß wir ihn gebeten haben, das mit uns zu tun, was seinem Willen entspricht. Wo wir Hab und Gut verloren haben, haben wir doch das Leben gerettet, daß wir noch denen dienen können, die uns 10 brauchen, den Menschen, die uns lieb haben, die Frau dem Mann, die Eltern den Kindern. Ich weiß, daß Gott uns unsere Häuser erhalten hat, damit wir 5 Quelle: Iwand, Hans Joachim, Nachgelassene Werke, Bd. 3, 108–113.
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andern helfen können, damit der Geist seiner Liebe wirke in dieser Zeit des Trauerns, damit er einen Wall gegen das Unheil schafft , eine Hilfe. Es ist ja so in solcher Nacht, daß uns der Herr alles aus den Händen schlägt, und daß wir es dann neu geschenkt wieder bekommen wie ein großes Wunder. Wir wollen doch in dieser Stunde nicht vergessen, was wir alle wohl gebetet haben: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen! Du sollst mich preisen! Damit, daß du deinen Mund auf tust und meinen Ruhm hineinträgst in eine Welt, die nicht müde wird zu rufen: es gibt keinen Gott. Daß du dich mitten hineinstellst in eine Welt. Du sollst ihn preisen. Daß du dieser Welle des gottfeindlichen Geistes, die heute über die ganze Welt geht, die Kraft der heiligen Liebe entgegensetzest, daß du dem Geist von unten den Geist entgegensetzest, der von oben kommt, den Geist des Lebens, der Zucht, der Wahrheit. Darum, meine Freunde, sind wir in dieser von Gottes Gnade uns erhaltenen Kirche versammelt. Treue Hände von christlichen Brüdern und Schwestern haben sie für diesen Tag von allem Schutt gereinigt. Während dies geschah, betrat ein Mann von der Straße unsere Kirche und verfluchte uns, daß wir die Kirche festlich für den Tag der Pfingsten bereiteten. So steht heute beides hart auf hart nebeneinander, das Lob Gottes und die Empörung derer, die ihn nicht verstehen. Und darum soll auch heute aus unseren Herzen und Mündern sein Lob über den Trümmern erklingen. Es würde der Welt da draußen vielleicht besser bekommen, wenn sie sich einmal still hielte, wenn sie auch einmal am Tage von Pfingsten Einkehr hielte und dem Menschen etwas zukommen ließe von dem Lebensbrot, das wir alle brauchen, gerade heute brauchen, wenn wir nicht ganz verzagen sollen. Alles Aufbauen, das ohne Gott geschieht, wird umsonst sein. Wo der Herr nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen. Sollten wir das nicht wieder begriffen haben? Könnte es nicht sein, daß diese Stunde, in der wir hier versammelt sind und Gott loben und ihm die Ehre geben, mehr bedeutet, als wir mit aller unserer Mühe schaffen können. Und so sind wir denn hier zusammen, wie ich glaube, als der Vortrupp einer neuen Zeit, einer neuen Gemeinschaft. Wir sind vielleicht heute noch die letzten, aber wir werden die ersten sein. Es wird einmal tagen über der ganzen Welt, über jung und alt, über arm und reich, über den toten Gebeinen, die vor uns liegen, über der ganzen gottentfremdeten und darum erstorbenen Welt. Es wird aufgehen, daß ihre einzige Hoffnung bei dem liegt, der hier sagt: „Ihr werdet erfahren, daß ich allein der Herr bin!“ Dazu sind wir hier zusammengerufen, um diesen Glauben in unsere Seele zu senken. Ich weiß wohl, wie schwer das ist. Ich rede davon als einer, der auch tief unten im Staube liegt, aber ich weiß auch das andere: was Gott redet, das tut er auch! Es ist Zeit geworden, daß jeder von uns das glaubt, daß wir Gott beim Wort nehmen: Herr, jetzt ist die Zeit, laß uns nicht umsonst auf dich warten, wie lange willst du noch schweigen? „Ihr werdet erfahren“, sagt Gott, „daß ich Gott bin.“ Ihr werdet erfahren! Woran? Nicht daran, daß ihr vor euch ein Feld von Totengebeinen seht, daß ich alles zerschlage, daß ihr durch meine Gerichte hindurch müßt, sondern daran, daß 346
jenseits dieser Todesgrenze, daß mitten in den Trümmern, mitten auf dem Todesfeld ein Rauschen geschehen wird, das Wehen meines Geistes, daß sich diese Skelette überziehen werden mit Gestalt und Leben, daß etwas geschehen wird an euch und der ganzen Welt, daß nicht mehr die Welt des Fleisches einfach ihr Schicksal allein gestaltet, sondern daß der Gegenangriff beginnt, von oben her, von dem Geist, der der Menschen Herzen wendet, der Friede schaffen kann, der von innen her die Menschheit neu aufbaut. In einer neuen Menschheit, zum Volke Gottes, zu dem wahren Volk Israel. Meine Freunde, dazu sind wir da, daß wir das glauben. Gott will, daß wir es glauben, ehe er es tut. Denn wenn wir es nicht glauben, ehe er es tut, dann werden wir es nicht verstehen, wenn es geschehen wird. Es ist das 1. Gebot, auf das er uns weist: Ich bin der Herr, dein Gott. Ihr werdet erfahren, daß ich Gott bin! Ich stehe mitten unter euch, das ganze Geschehen ist in meiner Hand und die Tiefe des Todes ist nur der Anfang des wunderbaren Lebens. Ein Feld von Totengebeinen sieht der Prophet vor sich. Nicht so, als wären das wirklich Tote, die Toten, die er sieht, reden ja, sie sagen: Wir haben keine Hoffnung, wir sind verloren, unsere Gebeine sind verdorrt, es ist aus mit uns! Ebendas hören auch wir heute, ebendas geht ja auch durch unsere Seele, liegt auch auf unserem Herzen. Es ist aus mit uns! Und doch liegt in dem Bild der Totengebeine noch mehr: wenn so Skelett an Skelett nebeneinanderliegt, hören alle Unterschiede auf, da gibt es nicht mehr König und Bettler, nicht mehr Gut und Böse, nicht mehr Reich und Arm. So wird dieses Bild von Totengebeinen zum Bild für das große Kollektiv der Menschheit überhaupt, wo jeder der Nivellierung erliegt, wie ein Abgrund tut sich das vor uns auf. Man liest es aus den Gesichtern der Menschen, daß alles Leben aus ihrem Herzen gewichen ist, daß sie nur noch ein Herz von Stein haben, welches mit stummer Apathie das unabwendbare Schicksal trägt. Darum läßt dann die Luft zu helfen nach, darum gibt es kaum noch Mitgefühl und Mitleid, die Not stumpft ab und das Bestreben, sich selber zu retten wird das einzige sein, was Tun und Lassen regiert. Das ist dann der letzte Ausweg in dieser Hoffnungslosigkeit, nicht mehr zu denken, nicht mehr sein eigenes Leben zu führen, nicht mehr vor Gott zu stehen, nicht mehr aus der Verantwortlichkeit vor Gott für die anderen da zu sein, sondern dies alles gleichsam dem Tod zu überlassen. Lebend werden wir dann schon hereingezogen in das Todesgeschehen. Das ist das Feld der Totengebeine, wo jeder Mensch hart und leblos wird, wo das Gewissen verstummt, wo keiner mehr glaubt, keiner mehr betet, wo alle in jener furchtbaren Gleichheit des Nichts ihre Wesensgestalt und Farbe ihres Wesens verlieren. Das ist das Bild, das der Prophet sieht. Und nun fragt Gott: Glaubst Du, daß diese Gebeine leben? Glaubt ihr, daß diese Menschen noch einmal leben werden? So leben, daß der Name Leben hier mit Recht gebraucht werden kann? Glaubt ihr das? Auch wir können gar nichts anderes tun, meine Freunde, wir müssen dasselbe antworten, was hier der Prophet zum Herrn sagt: Herr, du allein weißt das! Gott, du allein weißt es, ob du noch einmal diese Totengebeine lebendig machen kannst, diese Menschen zur Gemeinschaft umschaffen kannst. 347
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Meine Freunde, wenn wir das doch sagen wollten, wenn wir doch so bescheiden sein könnten, so gläubig bescheiden, daß wir hier Halt machen und sagen: Gott, du weißt es. Dann werden wir auch glauben, was Gott sagt: sprich zu diesen Gebeinen, weissage ihnen, befiehl von dir aus, bringe mein Wort hinein in dieses Totenfeld und siehe dann zu, was geschehen wird! Das ist Gottes Antwort: Gottes Wort kann, ja muß Tote lebendig machen. Wir selbst sind ja hier zusammengerufen, herausgekommen wie aus Grüften und Gräbern, wir selbst merken, wie die Eiseskälte unser Herz umgibt, wie wir kaum noch den Pulsschlag unseres Lebens fühlen unter so viel Verzweiflung und Not. Aber dann kommt Gottes Wort und sagt: ich lebe, und redet mit uns ein vertrautes Wort und nimmt uns an unserer Hand und sagt: fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Dann wissen wir auf einmal: Nein, es ist nicht wahr, der Tod hat nicht das letzte Wort. Gott lebt, und wir müssen nur warten auf seine Stunde, denn es wird Großes geschehen. „Ich will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin.“ Dann kommt das große Rauschen, das der Prophet hört. Es weht über das ganze Volk, über die Todesäcker Europas, über die Gottlosigkeit, die die Völker überall ergriffen hat. Und das Feuer des Heiligen Geistes brennt hindurch, es erweckt aus allen Gründen und Klüften die Zeugen seiner Herrlichkeit. Sie erheben sich wie die vom Tode erstandenen, sie rufen neu nach Gott und sie fragen erneut nach seinem Geiste. Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde! Und der Wind kommt aus den vier Winden. Der Wind ist das Zeichen des Geistes. Wir haben den Geist Gottes nicht in der Hand. Es ist so, wie Jesus zu Nikodemus sagt: Er kommt, wann er will. Wenn dann die Winde Gottes wehen werden über die Welt, dann werden die Verächter Gottes etwas Erstaunliches erleben. Dann wird die Gemeinde Gottes da sein, dann wird die Kirche des Glaubens da sein, erstanden aus dem Zusammenbruch aller Welt, sie wird so gewiß da sein als das Wort Gottes. Denn das Wort wird nicht leer zurückkommen. Und es werden dann die Schatten der Nacht zurückweichen. Wir werden an diese Zeiten denken in den Angstträumen unserer Nächte, so wie die Toten vielleicht daran denken in der Ewigkeit, wie sie in den Gräbern gelegen haben, wir werden daran denken, wie die Mächte der Gottesverachtung schon glaubten, den Sieg ergriffen zu haben und wie dann auf einmal der Geist Gottes hineinfegte und sie zurückweichen mußten in die Abgründigkeit, aus der sie kamen und der Geist Gottes eine neue Bahn machte und wie sich die Menschen in Gott neu verstehen werden überall in der Welt. So wie es damals angedeutet ist in der Pfingstgeschichte, daß alle die verschiedenen Völker in ihren Zungen die großen Taten Gottes Geist hören, daß der Fluch von Babel von ihnen genommen ist und der Segen von Pfingsten über sie kommt. Vielleicht wissen wir jetzt, worum wir heute beten sollten, und begreifen jetzt, daß hier oder da bei uns oder jenseits unserer Grenzen solches schon angefangen hat, daß da draußen vielleicht im Toben der Schlacht ein paar Christen stehen, die ebenso wie wir rufen: „Komm, Schöpfer Geist!“, daß es hier 348
oder da Menschen in ihrer Not und Verzweiflung durch die Seele blitzt, es 145 müßte an uns das Pfingstwunder geschehen. Daß doch dieser Geist Gottes nicht zu spät käme, daß doch Gott bald seinen Geist senden möge, daß wir anfangen möchten, Träger dieses Geistes zu sein, so daß wir wissen, wir sind Wartende, wir warten darauf, daß Gott mit seinem Hammer das Gräberfeld zerstören wird, daß wir spüren das Wirken 150 seines Geistes! Christus ist nicht umsonst gen Himmel gefahren. Christus rettet seine Menschheit. Daß wir in solcher Gewißheit hingehen möchten, daß wir so unsere Liebe hineinsenken möchten in die Herzen der Menschen, das gebe Gott euch und mir aus seiner großen Barmherzigkeit!
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Predigt : Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz⁶ Psalm 51, Vers 12–13: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. 1 Mitten unter all denen, die je und je zu Gott gerufen haben, steht hier einer,
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der bittet: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz! Was für Gebete sind zum Himmel gestiegen, steigen dorthin empor, Gebet um Heil und Wohlergehen, um ein ruhiges Leben, um Glück und Reichtum, um Erkenntnis und Freiheit. Wenn wir alle einmal das Ohr an das Herz der Menschheit legen könnten, um zu hören, was von dort zum Himmel schreit, wieviel Begierde, wieviel Verzweiflung! Und wir brauchen dazu nicht unser Ohr nach draußen zu richten, nicht jene Stimmen zu erlauschen, die dort zu vernehmen waren oder sind, wir hören ein wenig von der Vielfalt solcher Stimmen, wenn wir bei uns selbst einkehren. Was für Wünsche, was für Hoffnungen – aber auch was für Klage der Not und Verzweiflung steigt von da auf! Und wenn gar nichts mehr zu vernehmen ist, kein Rufen, kein Bitten, kein Verlangen, aber auch kein Fluchen, kein Hoffen, aber auch kein Verzweifeln, dann wissen wir es wohl: hier ist der Tod eingezogen. Hier ist alles still und leer geworden. Hier hat ein Herz es endgültig aufgegeben, sich noch rufend, bittend, flehend, vielleicht auch klagend und anklagend, murrend und hadernd an den zu wenden, auf den hin es geschaffen ist. Hier ist alles leer. Ach, meine Freunde, wir kennen doch wohl etwas davon und wenn wir noch am Anfang des ganzen Lebensweges stehen, so kennen wir es wie ein junger Krieger, der doch schon etwas ahnt von dem Grauen des Schlachtfeldes, das er betreten hat, der sieht, wie sie da liegen, die Erschlagenen, die innerlich Toten, die nicht mehr reden, beten, flehen, rufen – zu ihrem Gott. Und laßt mich darum eins am Anfang sagen: Schlimmer als alles Hadern, schlimmer als alles Fragen und Zweifeln, schlimmer als das lauteste und furchtbarste Nein ist eben doch dieses gänzliche Verstummen, dieses: wenn unser Herz wird wie eine klingende Schelle und ein tönendes Erz! Aber wie es auch sei, dieses Gebet: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz – geht auch daran nicht vorüber! Es geht auch an dem in seinem Grabe liegenden, dem der Verwesung preisgegebenen Menschen nicht vorüber! Es bezieht auch ihn ein. Es sagt nicht: Dieser Fall ist hoffnungslos. Es macht nicht eine Teilung zwischen den Lebenden, Suchenden, nach Gott noch immerhin Fragenden, um ihn Kreisenden, darum Wissenden – und jenen Anderen, den Verlorenen, Toten, Leeren, den Kalten und Rohen. Es ist selbst so tief hinabgestiegen, es weiß soviel von dem, was Sünde heißt, daß es wirklich aus der Tiefe, aus der letzten Tiefe ruft. Wir werden vielleicht fragen: Welcher Tote kann denn rufen? Welcher Erstorbene kann denn an die Mauern seines Grabes klopfen? Und doch – so würde ich sagen – müssen wir die Stimme, die wir 6 Quelle: Iwand, Hans Joachim, Nachgelassene Werke, Bd. 3, 299–303.
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hören, von dort her vernehmen, aus dieser äußersten, letzten Tiefe. Schaff in mir Gott ein reines Herz! So aus dem Nichts heraus, wie du die Welt und alles was ist, aus dem Nichts heraus geschaffen hast. Es ist wirklich nicht mehr da, als eine vertrocknete Scherbe, als ein harter Stein, und ein durch nichts mehr zu erweichendes Etwas, das nenne ich die Mitte meines Lebens! Es geht wirklich in diesem Gebet um so etwas Ähnliches, wie um eine Auferstehung von den Toten! Das müßte geschehen, wenn mir geholfen werden könnte. Ach, meine Freunde, daß wir uns nie bis an dieses Äußerste wagen! Daß wir immer noch meinen, es gehe nicht ums Schaffen, sondern nur um das Wiederherstellen, um das Aufrichten, um ein bißchen Zufuhr an Kraft, an Gnade, an Erkenntnis, an Zucht, an Freude. Nein, diese Stimme, die da in uns einbricht, in die Mitte unseres Lebens einbricht, sagt: Schaffe! Und damit spricht sie zugleich ein Urteil nicht über das, was wir sind, sondern auch über das andere, was wir vermögen. Es ist eine wunderbare, eine neue, eine so ganz und gar nicht aus uns und unserer Selbstbeobachtung, aus unserer Buße und Beichte sich erhebende Stimme. Es ist eine fremde Stimme, die aber unsere Stimme werden möchte. Es ist jene Stimme, die dort laut wird, wo menschlich gesehen alles zu Ende ist, wo wir den Tod, das Ende, das tiefe, geistliche Zuendesein in unserem Leben schmecken, und sie ihre Schatten über alle unsere Lichter legt. An dieser Grenze des Lebens, da wartet dieses Gebet auf uns. Da möchte es von uns ergriffen, gesprochen, nachgesprochen und nachgebetet werden. Und der, der so betet, die Zunge, die das nachbuchstabiert, das Herz, das dieses Wort in sich aufnimmt – der ist hindurch! Das tote Herz lebt, das steinerne Herz ist aus unserem Leib herausgenommen, und wir haben wieder ein Herz, das fühlt und leidet, hofft und bittet: damit fängt alles Leben an. Das wahre, das neue, das ewige Leben: Schaff in mir, Gott, ein reines Herz! Wir haben es versucht, aber wir vermögen es nicht. Wir haben versucht, alles Böse, Häßliche, Gemeine und Niedrige von ihm fern zu halten, wir haben es versucht, weil wir den Spiegel rein halten wollten, der uns dein Angesicht spiegelt, den Anblick des Guten in der bösen Welt, der Ewigkeit in der Zeit, bis wir sahen, daß die Trübungen auf diesem Spiegel nicht von außen kamen, sondern von innen, daß die Quelle nicht rein war, bis wir erkannten, daß dein Sohn recht hat, daß alles, was den Menschen unrein macht, von innen her kommt. Bis wir erkannten, daß diese, wie wir meinten, reine, wahre, heilige Innerlichkeit nicht das ist, was wir von ihr dachten. Sie bringt all dieses Geröll mit sich, was uns dann so schwer auf der Seele liegt, sie muß ihren Quell in einem dunklen Grunde haben, denn das Wasser, das hier fließt, ist kein Wasser des Lebens. Wer aus dieser Quelle trinkt, der wird sterben, ob er gleich lebt. Aus diesem, unserem Inneren, aus dem, was unser Herz bewegt, können wir nicht leben. Seht, meine Freunde, wenn wir heute hier zusammentreten und uns fragen, welches wohl die beste und hilfreichste Erkenntnis sein würde, die wir in diesem Ablauf unserer Lebensbahn gewonnen – wenn wir uns fragen, welche Erkenntnis wir den Brüdern vermittelt haben: Sollte es nicht dieses sein: daß wir herangeführt wurden an diese eine Stimme, die wir immer wieder 351
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hören, wenn wir durch die Heilige Schrift hindurchgehen, nicht immer so rein und klar wie hier im 51. Psalm, aber doch eben diese Stimme, ob das nun die Stimme des Berufenen ist, der da redet: Ich bin unreiner Lippen und komme von einem Volk mit unreinen Lippen, ob es die Stimme des ist, der da sagte: Herr, gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch, oder die Stimme der Frau am Brunnen: Herr, gib mir zu trinken von diesem Wasser, oder die Stimme des, der da rief: Herr, gedenke an mich, wenn du im Paradiese sein wirst – das ist die durchgehende Stimme des Volkes Gottes, jenes: aus der Tiefe schreie ich zu dir. Mit diesem Ruf beginnt und endet unser aller Leben, über ihn kommen wir nicht hinaus. Er ist der Sinn aller Erkenntnis. Es muß Gott uns helfen. Er muß, er kann und er will helfen. Er ist der, der hilft. Es gibt einen Ruf, den kann Gott nicht ins Leere gehen lassen, der reißt alle Türen auf und durchbricht alle Wände und Räume, vor ihm schrumpft der ungeheure Unterschied von Zeit und Ewigkeit in ein Nichts zusammen, und wir sehen die Engel des Himmels herauf und herabsteigen. Wo so gerufen wird, da ist Gott bei seinem Namen gerufen, da ist er wirklich gemeint, er, der kommt und hilft. Da ist seine Gabe gemeint, die Gabe, um deretwillen er ans Kreuz gegangen ist. Da öffnet sich das Grab des Lazarus, da wird der Blinde sehend, da wird die Erde, da wird mein Leben, mein armes sündiges, ganz und gar in sich selbst versunkenes Leben zur Stätte des Handelns, der Gnade, der Wunder des lebendigen Gottes. Denn selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Da sehen wir nun auch, was ein reines Herz ist. Wir haben ja immerzu gemeint, wir müßten die Flecken tilgen, die sich auf diesem Spiegel zeigten, und haben versucht, ihn blank zu putzen. Wir haben versucht, unser Herz auszuschütten, dem oder jenem und haben gemeint, damit die Dinge loszuwerden, die uns Last machen. Und wir haben vielleicht auch dann und wann erlebt, daß der Bruder Mensch seinen eigenen Weg suchte, wenn er spürte, daß wir einen suchten, dem wir unser Herz öffnen konnten. Es gibt eine letzte Grenze, bis zu der kein Mensch den anderen begleiten kann, weil er selbst vor dieser letzten Wahrheit und letzten Grenze Angst hat. Es gibt einen Punkt, auf den muß man ganz allein zugehen, wie auf den Tod. Da kann uns niemand begleiten. Da, wo es gilt, reines Herzens zu werden, sind wir immer allein. Wir sind allein, um zu glauben! Wir sind Sterbende und siehe, wir leben. Wir laufen alle auf dieser Bahn, aber einer, immer nur einer, erlangt das Kleinod. Immer nur einer. Wo Gott ein neues Herz schafft , da sind wir immer nur einer! Einer von ihm und einer durch ihn. Ein reines Herz – das heißt eben dieses: ein Herz, in dem nichts, aber gar nichts anderes sich spiegelt als – Gott! Ein unreines Herz, das nichts anderes kennt, als ihn, ein totes Herz, das zur Wohnung des Lebendigen wird. Wie ein Auge ganz leer sein muß, damit die Sonne des Leibes Licht sein kann, und ein kleines Stäubchen, das ins Auge fliegt, die Finsternis über unser ganzes Wesen ausbreitet, so daß wir nicht sehen, wohin wir schreiten, so muß auch unser Herz ganz rein sein – rein sein von allem Dünkel, als könnten wir uns selbst helfen. Dann schauen wir Gott. 352
Dann schauen wir ihn, wie er uns nahe ist, wie er sich niederbeugt zu dem 125 unter die Räuber gefallenen, wie er sich aufmacht und dem verlorenen Schaf nachgeht, wie er mitten unter uns ist in der Gestalt, die unser Herz zu fassen, die sie in sich aufzunehmen vermag. Wir schauen ihn, wie er zum Kreuz geht, und wir schauen ihn, wie er zum Zeichen, daß er der Herr des Todes, auch unseres inneren Todes ist, die Siegel des Grabes bricht und frei und lebendig 130 aufersteht. Unser Herz schaut ihn. Das heißt: Dieses Gebet ist erhört: das Gebet des alten Bundes, das Norm und Ziel unseres Betens geworden ist, führt nicht ins Leere. Es ist erfüllt – höher und vollkommener, als je unser Denken und Verstehen sich seine Erfüllung zu denken wagte. Denn, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört, und was in keines Menschen Herz gekommen 135 ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.
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