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German Pages [265] Year 2018
Jakob Brüssermann
Sein und Situation
KONTEXTE
Zu den Forderungen einer Ontologie des »ich bin«
ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495813850
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B
ALBER PHÄNOMENOLOGIE
A
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Wittgenstein zufolge ist die Welt alles, was der Fall ist. Aber ich selbst bin – nie anders denn hier und jetzt, d. h. immer in jeweils dieser Situation; es ist folglich eine Ontologie aus der Perspektive der ersten Person möglich, und zwar im Ausgang vom Begriff der Situation. Dabei ergibt sich, dass Situativität letztlich zu verstehen ist als absolute (nicht auf unsere oder irgendeine Art von Aktivität zurückführbare) Prozessualität. In deren Dynamik einbegriffen durchlaufen wir – die Situierten – unsere jeweilige existenzielle Lebensbahn von der Geburt zum Tod. So zeigt sich der alte Gedanke einer unhintergehbaren conditio humana neu aus der Perspektive der ersten Person gedacht.
Der Autor: Jakob Brüssermann, geb. 1982, studierte Philosophie und Anglistik in Heidelberg. 2015 wurde er dort mit der vorliegenden Arbeit promoviert.
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Jakob Brüssermann Sein und Situation
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PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler
KONTEXTE Band 27
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Jakob Brüssermann
Sein und Situation Zu den Forderungen einer Ontologie des »ich bin«
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48850-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81385-0
https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Annäherung an das Phänomen der Situation . . . . Situation und Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sperrigkeit des Situationsbegriffs . . . . . . Die zweifache Individuiertheit der einen Situation 1) Die Einzigkeit der einen Situation . . . 2) Die Einzelnheit des einen Situierten . . Ich und man: Situierter und Person . . . . . . . Der Situierte über die Situation . . . . . . . . .
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13 13 16 20 20 27 34 41
Die Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrung und Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantität und Phänomenalität als ontologische Grundmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Phänomenalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Phänomen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zeugen und das phänomenologische Wir . . . . . Das So . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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60 66 70 76 81
Die Situation als Verhältnis . . . . . . . . . . . . Erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhalten und Sich-so-Gestalten . . . . . . Die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskursivität und Transitivität des Verhaltens Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . Das cogitatur-Theorem . . . . . . . . . . .
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89 89 91 96 100 107 110 118 119 121 126
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Inhalt
Die Diskursivität des Denkens . . . . . . . . . . . . . . Vor- und Nichtsprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . .
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Existenz und Prozessualität: Zeit . . . . . . . . . . . . . . Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geburt und Tod als Extreme der Existenz . . . . . . 1) Vergangenheit: Geburt . . . . . . . . . . . 2) Zukunft: Tod . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die phänomenal begriffene Zeit als situativer Prozess Die Zeitlichkeit des Situierten – die Zeitlichkeit des Jeweiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1) Das Jeweilige . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Die Umwart . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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144 144 155 156 161 165 165
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170 177 178 185 188
Die Situierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das situierte Miteinander . . . . . . . . . . . . . . . . . Der methodische Vorrang der ersten Person Singular Unsere Situation: Die Perspektive der zweiten Person 1) Die Berührung . . . . . . . . . . . . . . . 2) Die Wechselrede . . . . . . . . . . . . . . Die situative Symptomatik – zweite und dritte Person Der ontologische Perspektivensprung . . . . . . Der Situierte selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berührung und Treff: ich . . . . . . . . . . . . . . Handeln und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das quantitative Schema der Wahrheit . . . . . . . Das phänomenale Schema der Wahrheit . . . . . . .
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196 196 196 198 198 207 212 214 219 219 228 236 238 244
Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
»Das Situationsphänomen«, so hat Martin Heidegger bereits 1920 festgestellt, »ist an sich […] noch zu wenig vertraut und in seiner prinzipiellen Bedeutung erfaßt (2007, 34).« Hat sich daran inzwischen grundsätzlich etwas geändert? Ich meine: nein und ich meine, der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass die ontologischen Implikationen des Situationsphänomens bisher nicht erkannt und zureichend gewürdigt worden sind. Die Situation – so meint man – fällt in den Zuständigkeitsbereich der Handlungstheorie, die Problematik der Situation ist zuallererst eine Problematik der praktischen Philosophie. Die Explikation des Situationsphänomens stellt uns aber vor allem vor eine ontologische Aufgabe: Die Ausarbeitung einer Sprache, in der sie in ursprünglicher Gestalt an den Tag kommen kann, entpuppt sich schnell als die Aufgabe, zwei konträre Sprachen über das Seiende als solches zu unterscheiden. Nur in einer von ihnen findet die Situation in ursprünglicher Gestalt Ausdruck, die andere dagegen unterdrückt in ihrem Ausdruck gerade das ursprüngliche Situationsphänomen. Dergestalt wird die Situation zum discrimen zweier ontologischer Grundmöglichkeiten, so dass uns die schärfere Fassung des Unterschieds beider die Situation schärfer sehen lässt und umgekehrt die Klärung des Situationsphänomens uns Aufklärung über diese (von der heideggerschen verschiedene) ontologische Differenz verschafft, die ich auch die ontologische Alternative nenne. 1 In diesen Zirkel fänden wir keinen Eingang, wenn die Situation uns nicht – ihrer ontologischen Unvertrautheit zum Trotz – in der
Zur ontologischen Differenz von Sein und Seiendem bei Heidegger vgl. besonders Vom Wesen des Grundes. In Sein und Zeit, wo noch nicht expressis verbis von ›ontologischer Differenz‹ die Rede ist, ist der Sache nach die Unterscheidung von Sein und Seiendem bereits operativ: »Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus (38).«
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Einleitung
Tagtäglichkeit mit das Wohlvertrauteste wäre. Nach der Situation müssen wir nicht lange suchen: Wir sind doch immer in ihr, umgekehrt mithin sie immer um uns herum. Wenn uns jemand fragte, was eine Situation sei, könnten wir ihm antworten: zum Beispiel dies hier – dass wir hier miteinander reden. Wenn er uns dann aufforderte, unsere deiktische Redeweise einzulösen und auf die Situation zu zeigen, wäre das einerseits vielleicht nicht frei von polemischen Absichten, andererseits aber doch keine so absurde Forderung wie die, auf eine platonische Idee zu zeigen. Die Geste, die sich mir aufdrängt, wäre: beide Hände vor der Brust und nach oben geöffnet (passenderweise eine Geste der Hilfoder Ratlosigkeit), die Finger gespreizt, um in alle Richtungen um uns herum zu zeigen, ohne dabei eine Vielzahl bestimmter Gegenüber (auf die man jeweils mit der Fingerspitze zeigen könnte) zu meinen, sondern eben das mich und alle Gegenüber umgebende Ganze, das nicht darin aufgeht, eine Summe einzelner Gegenüber zu sein. Zeigt unsere hilflose Geste also auf den Raum? Ja, aber genauso hilflos auch auf die Zeit, nämlich auf die Gegenwart, in der hier und jetzt diese Gegenüber gegenwärtig sind. Dabei zeige ich, indem ich, hilfloserweise, versuche, auf die Situation zu zeigen, weder auf den ganzen Raum – sondern nur auf dies hier – noch zeige ich auf eine bloße Raumstelle; ich zeige nicht auf die Zeit überhaupt, sondern auf die Gegenwart, aber nicht auf ein punktuelles Jetzt, sondern auf die horizontal tiefe Gegenwart, die in ihrem Verlauf ein Kontinuum mit Vergangenheit und Zukunft bildet. Die Situation bleibt unscharf: Sie ist nicht schlechthin der ganze Raum, nicht die Zeit überhaupt, sondern das Hier und Jetzt. Sie ist dabei aber genauso wenig zuzuspitzen auf die eine Raumstelle und den einen Zeitpunkt. Diese Unschärfe mag uns dazu veranlassen, den Situationsbegriff zu meiden; wir können sie aber auch als Herausforderung annehmen – als Forderung nach einer Sprache, in der die ursprünglich unscharfe Situation, in der wir immer sind, in dieser Ursprünglichkeit Ausdruck findet. Die Ratlosigkeit, in die das Situationsphänomen uns stürzt, liegt darin, dass die Situation uns einerseits so nah ist, wie sie uns andererseits fern ist, so vertraut wie unvertraut, was daran liegt, dass wir zunächst keine Sprache für sie haben. Wenn es uns um die nähere Vertrautheit des Situationsphänomens zu tun ist, dann ist die Aufgabe – der in ihre Nähe führende Weg, die Methode – die, eine Sprache für das zu finden, was uns einerseits stets genauso nah ist, wie es 10 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Einleitung
sich seiner deskriptiven Zuspitzung auf die Eindeutigkeit des Punktuellen widersetzt. Indem ich auf die Situation zeige, inkludiert meine Geste mich selbst und auch den, der mich auffordert: ›Zeig auf diese Situation!‹. Meine Geste inkludiert dich und mich, aber nicht als atomistisch aufgefasste Individuen, auf die man mit der Fingerspitze zeigt, sondern als Teilhaber am Situationsganzen. Hegel hat als Charakteristikum der archaischen Skulptur die ›Situationslosigkeit‹ ausgemacht, in der wir z. B. alte Tempelbilder aus den Anfängen der Kunst sehen, deren Charakter des tiefen Ernstes, der ruhigsten, ja selbst der starrsten, aber grandiosen Hoheit, auch in späteren Zeiten wohl in dem gleichen Typus ist nachgebildet worden. Die ägyptische und älteste griechische Skulptur z. B. gewährt eine Anschauung von dieser Art der Situationslosigkeit (1985, 199).
›Situationslosigkeit‹ hieße Starrheit des durch nichts aufgestörten Insich-Ruhens; die Situierten, wir, dagegen sind gekennzeichnet durch unsere Gewecktheit für die Gegenwart des Gegenübers: »[…] ein Wesen, das sagen kann ›meine Situation‹«, ist eines, das »in keiner Weise self-contained ist«, sondern »im Gegenteil […] ausgesetzt, offen für […] (Marcel, 160).« 2 Die Situation ist das, worin wir uns je schon finden, sobald wir der Gegenwart irgendeines Gegenübers ausgesetzt sind. Als solches ist sie so elementar, wie sie uns fern bleibt, solange das ihr korrespondierende In-Sein in ihr (unsere Situiertheit) nicht zureichend geklärt ist. So soll sich im Laufe der Untersuchung herausschälen, dass die Problematik der Situation als eine ontologische Problematik entrollt werden muss: Was muss ›sein‹ uns bedeuten, damit unser InSein in der Situation und damit sie selbst und damit wir als Situierte getreu zur Sprache kommen können?
»[…] un être susceptible de dire ma situation […] n’est aucunement self-contained. Il est au contraire exposé à, il est ouvert à …« Soweit nicht anders angegeben sind fremdsprachliche Zitate im Folgenden übersetzt von mir. Zum Vergleich ist dann in den Fußnoten oder – bei kürzeren Zitaten – im Fließtext immer der Wortlaut des Originals angegeben.
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Situation und Ereignis Wir nähern uns der Situation, indem wir sie zuerst gegen das verwandte Phänomen des Ereignisses abheben. Verwandt sind Ereignis und Situation insofern, als beide sich vollziehen: eintreten, verlaufen und enden. An diese Verwandtschaft halten wir uns zunächst, um so einen ersten Aufschluss über das Situationsphänomen zu erhalten. Zunächst sagen wir ›Situation‹ im Verbund der Präpositionalphrase ›in der Situation‹ aus. Diese kann wiederum übergeordnetes Glied einer Hypotaxe sein, deren untergeordnetes Glied die Situation näher beschreibt: ›in der Situation, dass …‹ Sellars führt in Time and the World Order den »Metaereignis-Ausdruck (metaevent expression) ›Epr [E1]‹« ein, der »das Währen der Episode E1 (E1’s being present)« bezeichnen soll (554). ›In der Situation‹ fungiert nun semantisch als solch ein Metaereignis-Ausdruck: ›in der Situation, dass …‹ heißt: ›während des Ereignisses, dass …‹, d. h. als das betreffende Ereignis angefangen und noch nicht geendet hatte; zwischen seinem Anfang und seinem Ende und in der Bewegung von seinem Anfang zu seinem Ende, d. h. im Sich-Abspielen, im Verlauf oder Vollzug (Sich-Vollziehen) des Ereignisses. Zum zweiten sagen wir In-der-Situation-Sein (Situiertheit) von uns selbst und anderen aus: ›ich bin in der Situation, dass …‹ und ebenso: ›du bist, er ist etc. in der Situation, dass …‹ Der Situationsbegriff impliziert also einen Situierten oder eine Situierte – jemanden, der in das sich vollziehende Ereignis, das wir als seine oder ihre Situation ansprechen, auf irgend eine Weise involviert ist. Die Situation ist z. B. meine, deine, seine etc.: die, in der ich bin, du bist, er ist etc. ›Ich bin in der Situation, dass …‹ heißt: ›Ich bin involviert in das sich vollziehende Ereignis, dass …‹ Sprechen wir von der Situation, so sprechen wir vom Binnenaspekt des Ereignisses: Der Sturm auf die 13 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Bastille war, als er verlief, die Situation der an ihm Beteiligten; er ist ein Ereignis relativ zu einem Historiker, der ihn jetzt in seinem Ablauf, seinen Ursachen und Auswirkungen beschreibt. Ein Historiker kann dieses Ereignis freilich als die Situation anderer auffassen. Aber als solche ist sie ihm dennoch nur als Ereignis da: Ereignisse habe ich vor mir, die Situation ist um mich; mein Verhältnis zu ihr ist das eines In-seins (der Situiertheit) in ihr. Indem ich ein Ereignis als meine Situation anspreche, konzipiere ich es nicht mehr als ein vor mir sich abspielendes Ereignis, zu dem ich mich als Zuschauer oder Beobachter verhalte, sondern als eines, in dessen Verlauf ich selbst einbegriffen bin. Sprachlich schlägt sich der Unterschied zwischen Situiertem und Beobachter so nieder, dass nur Ersterer berechtigterweise davon sprechen kann, wie es ist oder war, in das betreffende Ereignis involviert zu sein. Dies eben macht den Binnenaspekt des Ereignisses aus: Es ist irgendwie, in es involviert zu sein. Der Beobachter kann von dem beobachteten Ereignis nicht wahrheitsgemäß sagen, wie es ist, in es involviert zu sein; er könnte sagen, wie es ist, in der Situation zu sein, das Ereignis zu beobachten. Er ist als Beobachter nicht schlechthin desituiert, aber dadurch gekennzeichnet, dass er von seiner eigenen Situation wegsieht, hin auf das, was als Ereignis vor ihm ist. Die Situation, dass … ist damit erstens das Währen des Ereignisses, dass … und zweitens das Mich-Involvieren dieses Ereignisses. Ich bin in der Situation, die Situation ist um mich: Sie ist dasjenige Ereignis, in dessen Verlauf ich hier und jetzt einbegriffen bin. Der Sinn dieser Einbegriffenheit bleibt zunächst noch aufzuklären; vorläufig weisen wir ausdrücklich auf einen Punkt hin, dessen Entfaltung einen der Hauptstränge der vorliegenden Untersuchung ausmachen wird: Um die Situation adäquat zu denken, müssen wir die eigene Situation und die eigene Situiertheit in ihr bedenken. Denn jemandes Situation, in der wir ihn sehen, ist relativ zu uns selbst nur Ereignis. Genuin als Situation erfahren wir nur diejenige, in der wir jeweils selbst sind. 3 Wir dürfen also keinesfalls so von der Situation handeln, als könnten wir dabei die eigene Situiertheit ausklammern oder schlicht ignorieren, dass wir je selbst ein Situierter, eine Situierte sind. Es Indem sie dies missachtet, operiert etwa die von Barwise und Perry entwickelte ›Situationssemantik‹ m. E. mit einem zu weiten Begriff von ›Situation‹, der mit dem des Sachverhalts verschwimmt: »Reality consists of situations – individuals having properties and standing in relations at various spatiotemporal locations (6).«
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Situation und Ereignis
dürfen nicht irgendjemandes Situationen unser Paradigma sein, sondern diejenigen dieses Jemands, der wir je selbst sind. Wir müssen, wenn wir dem Phänomen der Situation gerecht werden wollen, als Situierte über sie handeln, anstatt sie – von der eigenen Situiertheit abstrahierend – nur als jemandes Situation zu fassen. Ursprünglich fasse ich die Situation nur als meine: Deshalb gilt es, nicht über irgendjemandes Situation oder gar die eines Kollektivs zu sprechen, sondern von meiner Situation und meiner Situiertheit in ihr. Lipps hat recht, wenn er sagt: »Situation ist immer: je eines Situation. Situation ist keine sachliche Konstellation; sie kann nicht in Formen des Allgemeinen entwickelt werden (23).« Nur bedarf dies noch folgender Ergänzung und Verschärfung: Sie kann auch nicht als Situation eines indifferenten Einzelnen entwickelt werden, sondern nur als jeweils meine (kurz: je-meine). Deshalb ist das der Situation gemäße Sprechen von ihr – wie unten näher erläutert werden wird – ein Bezeugen ihrer: Ich spreche dann der Situation gemäß von der Situation, wenn ich davon zeuge, wie es ist, selbst situiert zu sein. Das Possessivpronomen, ausdrücklich sei es gesagt, drückt in der Phrase ›meine Situation‹ nicht so etwas wie ein Besitzverhältnis aus: Ich bin relativ zu meiner Situation nicht Besitzer, sie ist umgekehrt nicht mein Besitztum. Meine Situation ist die, in der ich bin. Ebenso gut wie ich sagen kann, sie sei meine und damit nahelegen kann, sie gehöre mir zu, hinge von mir ab, kann ich sagen, ich sei in ihr: insofern gehöre viel eher ich als Situierter zur Situation. Es handelt sich hier also gerade nicht um ein asymmetrisches Besitzverhältnis, sondern um das symmetrische Verhältnis einer wechselseitigen Implikation: das eine nicht ohne das andere und umgekehrt. 4 Wir halten also als erstes vorläufiges Ergebnis fest: Wir dürfen, wenn wir über die Situation handeln, nicht von der eigenen Situiertheit – davon, dass wir selbst Situierte sind – absehen. ›Die‹ Situation ist damit immer diese Situation, in der dieser oder diese Situierte hier und jetzt ist; und diese(r) Situierte sind wir je selbst. 5 Als Situierte
Dass das Possessivpronomen mehr als den Besitz ausdrücken kann, hat Adorno im Jargon der Eigentlichkeit geflissentlich übersehen: »Daß das Dasein […] ›je meines‹ sei, wird als einzige allgemeine Bestimmung aus der Individuation herausgeklaubt. Das principium individuationis […] wird zum Eigentumsverhältnis (96).« 5 Der Begriff der Situiertheit ist neutral gegenüber der Geschlechterdifferenz, d. h. neutral dagegen, ob es sich im Einzelfall um einen Situierten oder eine Situierte handelt. Sporadisch wird dem hier durch Hinzufügen der femininen Form Rechnung 4
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
und von der eigenen Situiertheit her müssen wir die Situation ansprechen.
Die Sperrigkeit des Situationsbegriffs Insofern das tertium comparationis von Situation und Ereignis darin liegt, dass beide sich vollziehen, besteht ihre Verwandtschaft im Hinblick auf die Zeit. Die Rede von der Sperrigkeit des Situationsbegriffs soll nun darauf aufmerksam machen, dass sich dieser – anders als der des Ereignisses – gegen das präzise Gliedern (Segmentieren, Parzellieren) der Zeit zu sperren scheint. Der Ereignisbegriff erlaubt weitaus exaktere temporale Einteilungen und überhaupt klarere Verhältnisse: Ereignisse gehen einander vorauf und folgen einander bzw. überlappen sich zeitlich. Dergestalt bilden sie eine Reihe. Solch eine Reihung kann selbst wieder weiter untergliedert werden. Ich sitze am Schreibtisch und lese, ich stehe auf, gehe zum Fenster, öffne es etc. Je nachdem, wie subtil wir diese Ereignisse selbst wieder zu differenzieren vermögen, ergeben sich immer feiner ziselierte Ereignisreihen, deren Konstituenten etwa bloße Muskelbewegungen sein können oder diesen Bewegungen korrelierte Ereignisse im Zentralnervensystem. Ereignisse sind analysierbar in kleinere Ereignisse: Das eine Aufstehen ist eine Vielzahl von Muskelbewegungen. Der Situationsbegriff dagegen sperrt sich gegen diese Zergliederung ins immer Kleinere: Lesend am Schreibtisch zu sitzen ist vielleicht eine Situation; ist es ebenso eine Situation, vom Tisch aufzustehen? Sicher ist es keine Situation mehr, einen zum Aufstehen benötigten Muskel zu bewegen. Wo aber liegt die Schwelle? Was ist noch Situation (sinnvollerweise als ›Situation‹ anzusprechen), was nicht mehr? Ich bin vielleicht jetzt in der Situation, zu sitzen und zu lesen, wenig später bin ich – wiederum jetzt – in der Situation, zum Fenster zu gehen. Aber wo grenzt die eine Situation an die andere, wo wurde die eine zur anderen? Und liegt zwischen beiden die Situation, vom Tisch aufzustehen? Das Buch zuzuklappen? Den Stift wegzulegen? All dies sind Ereignisse, angeordnet in einer zeitlichen Reihung. Versuchen wir dieselbe aufreihende Anordnung mit Situationen, dann merken wir, dass die Situation sich gegen ihre Aufreihung getragen, ansonsten beschränke ich mich der Kürze und Lesbarkeit halber auf das Maskulinum.
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Situation und Ereignis
sperrt, und zwar zum einen deshalb, weil die Grenze zwischen Situation und Situation unscharf bleibt, und zum anderen deshalb, weil unklar ist, was dabei überhaupt als eine Situation zählen darf. Woran liegt es aber, dass wir Schwierigkeiten haben, die Grenze zwischen zwei Situationen zu bestimmen? Letztlich an unserem eigenen Verhältnis zur Situation. Wir sind in ihr: Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist (Gadamer 1986, 307; Sperrung von mir – JB).
Qua Situierte erfahren wir die Situation als immer schon um uns, d. h. wir finden uns immer schon in dieser Situation: Die Situation ist immer schon eine andere geworden, sobald wir ihr Umschlagen feststellen. Das Umschlagen der Situationen ist uns – den Situierten – uneinholbar vorweg. Meine Situation ist immer diese, in der ich mich schon finde, die schon um mich ist. Die Situation ist immer schon im Verlaufen begriffen, sobald wir uns in ihr finden. Wir vermöchten daher qua Situierte nicht exakt zu bestimmen, wo (zu welchem Zeitpunkt) die Situation, in der wir eben noch waren, umschlug in die, in der wir jetzt sind. Sobald ich mich selbst fasse als in der Situation, dass …, muss ich schon in ihr sein, sie schon um mich verlaufen, wenn anders diese Selbsterfassung nicht schlichtweg irrig sein soll. Ereignisse lassen sich deshalb präziser unterteilen als Situationen, weil Ereignisse sich vor mir abspielen, ich ihrer Reihung gegenüber stehe, Situationen aber Ereignisse sind, in die ich selbst involviert bin. Immer schon in dieser Situation, liegt ihr Anfang immer schon in meinem Rücken. Ich erfahre die Situation, in der ich je bin, nicht als anfangend, sondern nur als sich schon vollziehend. Deshalb sperrt sie sich gegen eine reihende Aufzählung: Ich vermag nicht den Zeitpunkt anzugeben, zu dem die eine Situation in die andere umschlägt, weil die Situation immer schon umgeschlagen hat, sobald ich gewahr werde, in einer Situation zu sein. 6 Zwar könnte man sagen, dass sich – zu irgendeinem Zeitpunkt – der Umschlag von SituaVgl. Bahrdt: »Wir erleben – […] meist beiläufig – den Übergang von einer Situation zur anderen wie das Überschreiten einer Schwelle (59).« – Nein! Im Gegenteil ist es für die Situation wesentlich, dass, was unser Erleben ihrer angeht, kein solches Überschreiten stattfindet, sondern wir immer schon in dieser Situation sind.
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
tion zu neuer Situation vollziehen muss und dass es dagegen von geringer Bedeutung sei, dass wir ihn faktisch nicht feststellen. Aber indem wir so sprechen, haben wir schon gegen die eben erst aufgestellte Forderung verstoßen, als Situierte von der Situation zu sprechen; wir lassen dann außer Acht, wie es für uns selbst als Situierte ist, in einer Situation zu sein, d. h. sprechen schon nicht mehr als Involvierter vom Binnenaspekt des Ereignisses, sondern nurmehr aus der Perspektive eines Beobachters über es. Das Ereignis lässt sich unterteilen in eine Abfolge von Teilereignissen. Ein Aufstehen vom Tisch ist selbst wieder viele Muskelbewegungen, deren jede als Ereignis Teil eines komplexeren Ereignisses ist. Die Ereignisreihe kann verschieden dicht formuliert sein, ich kann die Abfolge von Sitzen, Aufstehen und Gehen ausformulieren, d. h. als dichter gefüllte Ereignisreihe darstellen, indem ich diese drei Ereignisse in n kleineren Ereignissen darstelle. Das Ereignis: ›XY öffnet das Fenster.‹ ist wiederum beschreibbar als Zusammenhang kleinerer Ereignisse, bis hinunter auf die Ebene der zerebralen Ereignisse. Das Ereignis ist erstens Teil eines weiteren Ereigniszusammenhanges und zweitens selbst prinzipiell zerlegbar in einen Zusammenhang kleinerer Ereignisse. Das kleinste denkbare Ereignis ist dabei das bloße Folgen eines Zustands auf einen vorhergehenden. Dergestalt kann ›Ereignis‹ nurmehr die schiere Differenz von Z1 zu tx und Z2 zu ty bedeuten: Der Zustandsumschlag ist der limes, gegen den seine eigene atomistische Verfassung – seine Zerlegbarkeit in kleinere Teile – das Ereignis streben lässt. Die Abfolge von Z1 zu tx und Z2 zu ty ist der ideale Grenzwert der realen Ereignisse. 7 Ich nenne dieses Führen des Ereignisses bis hart an die Grenze seiner Schwundstufe seine Zuspitzung (Pointierung), wobei vor allem an das Zulaufen der Spitze zu einem Punkt gedacht ist. Leicht machen wir als Berechtigung dieser infinitesimalen Annäherung des Ereignisses an den Zeitpunkt die erhöhte Präzision der Beschreibung aus: Je kleiner die Einheit der Gliederung ist, desto exakter ist diese. Die Situation ist dagegen nicht in dieser Weise zuspitzbar – sie geht uns in ihrer Zuspitzung selbst verloren: Sie sperrt sich gegen eine atomisierende Beschreibung ihrer. Ohne in diesem Zusammenhang explizit von ›Situation‹ zu sprechen, hat Bergson heftig gegen diese Zuspitzung und die damit verbundene Atomisierung des Ereignishaften (der Bewegung, Prozes›ideal‹ ist dieser Grenzwert in dem Sinne, dass Zeitpunkte und Zustände zu Zeitpunkten Gedankendinge, entia rationis sind.
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Situation und Ereignis
sualität) protestiert – mit dem Argument, dass uns die Bewegung selbst abhanden komme, wenn sie als Abfolge von n Zuständen aufgefasst werde, die jeweils einem Zeitpunkt zugeordnet sind und deren der eine auf den anderen folgt. Der Protest richtet sich also gegen die Zerlegung des Verlaufs in zeitlich kleinere Einheiten – besonders gegen den bis zur Grenze, an den limes, geführten Extremfall seiner Zerlegung in eine Abfolge von Zuständen. Bergson besteht auf der Ungeteiltheit der Bewegung, die sich immer »in einem Satz (d’un seul bond)« vollzieht, d. h. nicht summativ aus kleineren zeitlichen Einheiten aufgebaut, sondern eine nur holistisch zu fassende prozessuale Ganzheit ist (2013, 159). Diese in ihrer Ganzheit belassene Bewegung nennt er ›durée‹, was wir im Kontext der Schriften Bergsons m. E. viel adäquater als ›Verlauf‹, denn als ›Dauer‹ übersetzen. Bergsons Bestehen auf der durée ist hier insofern relevant, als es mit der hier anfangs erhobenen Forderung danach, als Situierte über die Situation zu handeln, konvergiert: Sobald wir unsere eigene Situiertheit nicht ausklammern, nicht von der eigenen Situation weg- und absehen, bleibt uns als Thema unserer Beschreibung diese, hier und jetzt um uns verlaufende Situation übrig, in der wir jeweils selbst sind. Es gibt also strenggenommen gar nicht in der Weise eine Situation, in der es ein Ereignis als eine diskrete Einheit innerhalb einer Ereignisreihung gibt, sondern jeweils nur diese. Um diesen Unterschied überhaupt zu sehen, ist es wichtig, sich an die eigene Situation zu halten: Jemand anderem zugeschriebene Situationen kann ich wie Ereignisse als Glieder einer Kette behandeln, da sie relativ zu mir nichts anderes sind als Ereignisse. Aber die eigene Situation – die, in der ich selbst bin – ist immer die, in der ich je schon bin. Das Ummich der Situation ist ein zeitliches: Sie hat immer schon begonnen, ist immer schon in ihrem Verlauf, sobald ich mich als in ihr seiend fassen kann. Das Englische verfügt über das Tempus des present perfect, der in ihrer Kontinuität mit der Vergangenheit gesehenen Gegenwart. Die temporale Semantik von Aussagen im present perfect macht diese grammatische Figur geeignet zum Ausdruck des Verhältnisses zur eigenen Situation: ›I am in this situation‹ heißt immer schon so viel wie: ›I have been in this situation‹ oder: ›This situation has been going on‹, welch letzteres der Situation noch näher kommt, insofern hier das Tempus des present perfect um den Aspekt des Verlaufs erweitert ist. Die Situation erfasse ich nur im present perfect progressive, denn ich bin immer schon in ihr: Sobald ich sie über19 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
haupt erfassen kann, verläuft sie schon. Darin liegt ihr Um-mich, darin liegt mein In-Sein in ihr. 8 Es gilt also, was rein negativ als Mangel und Defizienz des Situationsbegriffs gegenüber dem des Ereignisses erscheinen könnte, in seiner positiven Bedeutung zu erfassen: Der Situationsbegriff vollendet die Individuation des Ereignisses. Situation, in der ich bin, ist immer nur ein Ereignis, nämlich dieses, das währt (has been going on) und in das ich involviert bin. Die Situation ist immer diese (kurz: je-diese). Als Glied einer Kette ist das Ereignis nicht ausgezeichnet gegenüber seinen Vorgängern und Nachfolgern: Jedes Ereignis ist einmal gegenwärtig, vergangene waren es, zukünftige werden es sein. Der Situationsbegriff zeichnet ein Ereignis gegenüber allen anderen aus: Er individuiert es als das hier und jetzt mich einbegreifende. Die beschriebene Unschärfe des Situationsbegriffs hinzunehmen heißt also gewissermaßen, sich auf eine Art deskriptives Gambit einzulassen: Wir nehmen seine Unschärfe in Kauf um einer anderen Art der Genauigkeit willen, die er ermöglicht.
Die zweifache Individuiertheit der einen Situation 1) Die Einzigkeit der einen Situation Im Ansprechen von etwas als das Ereignis, dass … liegt noch unentfaltet der Binnenaspekt des betreffenden Ereignisses: wie es für mich als Involvierten ist, in es involviert zu sein. Der Situationsbegriff faltet diese Innenseite auf. Indem ich ein Ereignis als meine Situation anspreche, spreche ich aus dem Ereignis selbst heraus, als ein in das Ereignis in irgendeiner Weise Involvierter. ›Ich bin in der Situation, dass …‹ heißt also: ›Es währt um mich das mich involvierende Ereignis, dass …‹ Nur Ereignisse, die einen solchen Binnenaspekt aufweisen, sind prinzipiell als Situationen ansprechbar. Ereignisse sind solange keine Vgl. Leech, Meaning and the English Verb (44) über das present perfect progressive: »The meaning of the verbal form is roughly that of a temporary situation leading up to the present moment, and is comparable to the state-up-to- the-present meaning of the non-progressive Present Perfect.« Der Unterschied liegt darin, dass der Aspekt des Verlaufs das Zuständliche – recht eigentlich Perfektive – aufhebt, weshalb perfect progressive strenggenommen einen Fall dessen darstellt, was das Englische selbst einen misnomer nennt.
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Situation und Ereignis
Situationen, wie niemand in sie involviert ist. Ein Sturm auf dem Meer ist nur dann eine Situation, wenn er um jemanden tobt. Denn nur dann kommt ihm ein Binnenaspekt zu. Und nur derjenige, um den er tobt, kann ihn als seine eigene Situation beschreiben; nur derjenige, der wahrheitsgemäß von sich selbst sagen kann: ›Ich bin in der Situation, dass (nicht ein, sondern) dieser Sturm um mich tobt.‹ Deshalb lassen sich auch die bloße Muskelbewegung oder die oben angesprochenen zerebralen Episoden nicht mehr als Situationen beschreiben: »Das Gehirn […] unterscheidet sich von vielen Körperpartien und dem gesamten Körper als integrale Erfahrung darin, dass es jeglichen phänomenologischen Status und damit jeglichen Charakters der Zugehörigkeit zu mir entbehrt. (Ricœur 1996, 159)« 9 Was im Gehirn geschieht, ist bloßes Ereignis, nicht mehr meine Situation, weil ich mich nicht als in es involviert erfahre. Ich erfahre mich nicht als Stätte eines Neuronenfeuerns, das Gehirn gehört gar nicht zu dem, was vor allem Merleau-Ponty der Philosophie als ›Leib‹ erschlossen hat, weil mir mein Gehirn gar nicht da ist. 10 Zwar können uns durch die Technik der sog. bildgebenden Verfahren die zerebralen Ereignisse gegeben sein – aber dann nur so, dass wir uns zu ihnen als Beobachter verhalten. An uns selbst erfahren wir sie nicht: Es ist nicht irgendwie, ein Gehirn zu haben. Deshalb ist das, was sich in meinem Gehirn ereignet, niemals meine Situation; meine Situation ist nur dasjenige Ereignis, worin involviert ich mich selbst erfahre. Der Binnenaspekt, sagten wir, liege darin, dass es für einen in ein Ereignis Involvierten irgendwie ist, in es involviert zu sein. Der Binnenaspekt dieser einen Situation, in der ich bin, liegt nun darin, dass es so ist, in ihr zu sein, d. h. hier und jetzt in dieses Ereignis involviert zu sein. Es hat sich, sobald ich mich in einer Situation finde, immer schon entschieden, wie es ist, in ihr zu sein: so und nicht anders. 11 Es ist faktisch niemals irgendwie, jetzt hier zu sein: Das abstrakte Irgendwie hat sich immer schon konkretisiert zum So dieser Situation. »Le cerveau, en effet, diffère de maintes parties du corps, et du corps tout entier en tant qu’expérience intégrale, en ce qu’il est dénué de tout statut phénoménologique et donc du trait d’appartenance mienne.« 10 Ein Hauptwerk der sog. ›Leibphänomenologie‹ ist sicher Merleau-Pontys 1945 erschienenes Phénoménologie de la Perception. Fuchs gibt einen Überblick über die Entwicklung der Leibphänomenologie (43 ff.) und nennt dabei Husserl, Scheler und Straus als Vorgänger Merleau-Pontys. 11 Das gesperrt gedruckte ›so‹ ist im Folgenden zu lesen als Kurzschrift für so-undnicht-anders. 9
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Das So ist formal gesprochen das phänomenale Moment der Situation. Es gehört ebenso gleichursprünglich zur Situation wie die Momente der Hiesig- und Jetzigkeit. Das Hier, Jetzt und So ist das ursprüngliche Miteinander von indexikalischer Bestimmtheit (dass ich immer jetzt hier bin) und Phänomenalität (dass es dabei so ist). In dieser Situation zu sein heißt: Es ist so, jetzt hier zu sein. Formulierungen des Hier und Jetzt, wie sie sich am Anfang der Phänomenologie des Geistes finden: ›Das Hier ist der Baum‹ oder ›das Haus‹, ›Das Jetzt ist der Tag‹ oder ›die Nacht‹ sind insofern steril, als sie die Reichheit des So auswischen bis auf die bare Konstatierbarkeit eines Gegenstands: In solchen Aussagen ist die phänomenale Dimension – dass es so ist –, wenn nicht völlig unterschlagen, so doch bis auf ihre dünnsten Bestimmungen entleert (vgl. 83 ff.). ›Hier ist das Haus.‹ oder ›Hier ist der Baum.‹ abstrahiert völlig davon, dass es immer so ist, in dieser Situation vor diesem Haus oder diesem Baum zu stehen; dass es zu jeder Tages- und Nachtzeit so ist, jetzt hier zu sein. Niemals ist nur der nackte Tag oder die bloße Nacht. Es ist immer so, dass es jetzt Tag oder Nacht ist. Wir dürfen Indexikalität – leibliche Hiesigund-Jetzigkeit – nicht ohne die phänomenale Dimension denken, dass es dabei so ist. Die Phänomenalität ist notwendiges Korrelat der Indexikalität: Unterschlagen wir sie, konzipieren wir eo ipso ein seiner ursprünglichen Reichheit und Konkretion beraubtes, ein sterilisiertes Hier und Jetzt. Umgekehrt, aber mit demselben Recht, können wir sagen: Indexikalität ist die nicht wegzudenkende leibliche Dimension der Phänomenalität; insofern meine leibliche Existenz mich immer zu dieser Zeit an diesen Ort bindet, ist es niemals und nirgendwo so als hier und jetzt. 12 Verschiedene Einzelne, die involviert sind in was von einem Beobachter (einem Dritten neben ihnen und dem Ereignis, in das sie involviert sind) als das nämliche Ereignis, dass … beschreibbar ist, Dass dies nicht ganz so selbstverständlich zu sein scheint, wie es in meinen Ohren klingt, macht zum Beispiel Max Blacks Stahlkugelbeispiel deutlich, dass nur unter Ausschluss der Inkarniertheit funktioniert: Wenn wir als leiblich verfasste Wesen die zwei qualitativ identischen Stahlkugeln nebeneinander imaginieren, so sind sie uns unmittelbar unterscheidbar als rechte und linke, diese hier und jene dort etc. relativ zum Standort unseres Blickens, das wir mitimaginieren müssen, um überhaupt ein solches Szenario zu imaginieren: Wir müssen, um uns die Kugeln vorzustellen, eine Situation vorstellen, in der sie uns visuell gegeben sind (vgl. Segal, 412). Und in einer solchen gibt es sehr wohl relationale Eigenschaften, die beide Kugeln unterscheiden (vgl. 156 ff.).
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Situation und Ereignis
unterscheiden sich hinsichtlich dessen, dass es für jeden von ihnen dabei je so ist. Zwei So sind un-gleich, was mehr heißt als verschieden: ›Un-gleichheit‹ bedeutet, dass es überhaupt unmöglich ist, von Gleichheit und Nicht-Gleichheit zu sprechen, insofern zwei So nicht gegeneinander abzugleichen sind: Zwei So sind inkommensurabel ungleich, da nicht von einem Dritten in Hinsicht auf ein gemeinsames Maß zu vergleichen. Der Grund dafür ist, dass das So gerade der einem Dritten unzugängliche Binnenaspekt des Ereignisses ist, der nur relativ zu einem in es Involvierten denkbar ist. Es ist nicht ›mein‹ So neben ›deines‹ zu stellen, so dass beide dann von einem Dritten gegeneinander abgeglichen werden könnten. Was aber könnte darüber hinaus überhaupt das Maß eines solchen Vergleichs abgeben? Unter welcher Bedingung könnten zwei So präzise auf Gleichheit und Nicht-Gleichheit hin verglichen werden? Nur dann, wenn sie beide summativ darstellbar wären als qualitative Ganzheit einer Anzahl qualia. Wir könnten dann zwei Auflistungen einzelner qualia vergleichen und bei Übereinstimmung beider auf Gleichheit, bei Abweichung voneinander auf Ungleichheit entscheiden. Gleichheit und Ungleichheit zweier So wären überhaupt nur dann trennscharf zu unterscheiden, wenn beide So in ihrer Gesamtheit fixiert werden könnten als Summe an qualia, die zusammen die Gesamtheit einer qualitas ausmachen. Dazu müssten sie aber auf einen Zeitpunkt abbildbar sein, zu dem sie als eine bestimmte Summe an qualia bestehen: Das So ist aber an das situierte Erfahren des situativen Verlaufs gebunden. Es kennt weder Zustände noch Zeitpunkte. Sobald wir es durch Abbildung auf einen Zeitpunkt fixieren, haben wir seine talitas schon zur qualitas einer Summe an qualia entstellt. Eben deshalb wurde auf Bergsons Forderung verwiesen, den Verlauf in seiner Gänze zu belassen. Diese Forderung müssen wir uns zu eigen machen, wenn wir dem Phänomen der Situation (dem Hier, Jetzt und So) gerecht werden wollen. Der Einwand, dass wir doch die Möglichkeit einer solchen Abbildung (und also einer vollständigen Erfassung) des So zugestehen müssen, gegenüber der unser bloß faktisches Unvermögen ihrer doch gar nicht ins Gewicht fällt, greift hier nur unter der Bedingung, dass wir unserer eigenen Situiertheit ein desituiertes Erfahren gegenüberstellen, im Vergleich zu dem unser jeweils eigenes situiertes Erfahren den Mangel des bloß faktischen (kontingenten) Unvermögens aufweist. Wenn wir wirklich als Situierte über die Situation sprechen wollen, dann dürfen wir die Unmöglichkeit der vollständigen Erfas23 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
sung des So nicht auf einen Mangel zurückführen, mit dem wir Situierten nur kontingenterweise behaftet sind und der deshalb ontologisch nicht ins Gewicht fällt. Halten wir uns an die eigene Situiertheit, dann ist die Unmöglichkeit, das So je-dieser Situation deskriptiv erschöpfend zu fassen, selbst ein positives Charakteristikum des So. Dergestalt ist dann meine Situation durch ihre Inkommensurabilität mit ihnen gegen die jedes und jeder anderen einzelnen bestimmt, von dem oder der man sagen kann, er oder sie sei in das nämliche Ereignis involviert wie JB. Und genauso verhält sich deine, seine, ihre etc. Situation zur Situation jedes und jeder anderen, von dem bzw. der sich je sagen lässt, er oder sie sei in das nämliche Ereignis involviert wie du oder er oder sie. Was relativ zu einem Dritten das eine Ereignis ist, in das mehrere involviert sind, ist qua Situation der einzelnen in es Involvierten binnendifferenziert: als meine Situation nicht das nämliche wie als deine, als deine Situation nicht seine oder ihre etc. Der Psychiater von Baeyer berichtet den Fall einer nach dem von ihm selbst geprägten Ausdruck ›situagenen‹ Psychose: Es handelt sich um eine halbjüdische Künstlerin, Tochter eines hohen deutschen Beamten jüdischer Herkunft, um ein von jeher etwas sensitives und labiles Mädchen. Ihre beiden robusteren Schwestern, eine mit einem sog. Arier verheiratet, haben die Ächtung der väterlichen Familie folgenlos überwunden. Die Familie verfiel ab 1933 der gesellschaftlichen Diskriminierung (22).
Nur bei ihr war diese mit ihren Schwestern geteilte Situation pathogen, nur bei ihr führten die Umstände, in die alle drei Schwestern gerieten, zur Psychose. Warum nur bei ihr? Weil die vermeintlich eine und selbe Situation der drei Schwestern durchaus nicht die eine und selbe war. Die Situation der Patientin war nicht die Situation ihrer einen oder anderen Schwester. Dies gilt freilich genauso für die jeweiligen Situationen ihrer zwei Schwestern – nur dass diese im Unterschied zu ihr klinisch nicht ›auffällig‹ wurden und damit in der psychiatrischen Beschreibung nicht erhalten sind. Was der aus der Perspektive eines Dritten beschreibende Psychiater nur als die nämlichen Umstände beschreiben kann, mit denen alle drei Schwestern konfrontiert waren, zerfällt in drei inkommensurabel verschiedene Situationen, insofern es für jede Schwester je so war, in diesen Umständen zu sein, die aus dritter Perspektive als die nämlichen beschreibbar sind. Relativ zu einem Beobachter, d. h. einem Dritten, der gekenn24 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
zeichnet ist durch die Distanz, die er zum Beobachteten hält, ist jemand, die Person …, zu einem Zeitpunkt und an einem Ort in ein Ereignis involviert, und zwar auf diese und jene Weise, d. h. spielt diese und jene Rolle in dessen Fortgang. Hier und jetzt ist es – sofern ich mich selbst nicht als die Person JB maskiere – so, in dieser Situation zu sein. Jedes Ereignis vollzieht sich irgendwann und irgendwo, irgendjemand ist in es involviert. Meine Situation ist nur das hier und jetzt verlaufende Ereignis, in das ich involviert bin – und für das gilt, dass es so ist, in es involviert zu sein. Hier, Jetzt und So machen in ihrer Einheit die Faktizität der einen Situation aus; diese nimmt hier und jetzt diesen Verlauf. Ich bin z. B. in der Situation, gerade durch den Lesesaal der Bibliothek zu gehen: Ich will zum Fenster und es öffnen. Das bedeutet: Es ist hier und jetzt so, eben dorthin zu laufen, an diesem Ort, an diesem Tag, zu dieser Uhrzeit, mit dem, was ich gerade mache, mit dem, was ich bis eben gelesen habe, mit dem, was ich heute vor mir habe, in dieser sinnfälligen Umgebung, unter diesen anderen Anwesenden, in diesen Gegebenheiten, durch die ich mich jetzt bewege, in diesem Licht, dieser Luft, in dieser Stimmung, mit diesen Gedanken, die mir kommen, während mein Blick auf einige wenige der unzähligen Details fällt, die diese Umgebung bietet. Es ist so, hier und jetzt zum Fenster zu laufen, bedeutet auch: Es ist letztlich zu reich für Worte. Die volle Konkretion dessen, dass es eben so ist, nicht anders, brächte ich beschreibend nicht erschöpfend zu Wort. Mehr noch: Es ist, sooft ich unter einer derart grob vereinfachenden Beschreibung wie ›Ich gehe durch den Lesesaal …‹ auf eine Situation zurückkomme, in der ich war, überhaupt nicht letztgültig zu sagen, bis zu welchem Grad diese Beschreibung zu verfeinern wäre, um das So dieser Situation erschöpfend zu sagen. Diese wesentliche Unerschöpftheit des So bedingt, dass es mehrdeutig bleibt, so oft ich auf es zurückkomme. Auf es zurückkommen muss ich, insofern es flüchtig ist, d. h. gebunden an den Verlauf der Situation, in der es je so ist. Als Entflohenes ist es nicht schlechthin nichts: Wir erinnern es, erzählen von ihm; aber als Erinnertes, Erzähltes bleibt es mehrdeutig: Wir schöpfen erzählend oder beschreibend aus ihm, ohne es je zu erschöpfen. 13 Vgl. Schmitz: »Menschen (wie auch Tiere) leben, indem sie aus Situationen schöpfen. Diese sind unerschöpflich durch eine Bedeutsamkeit, die nicht erst in sie hineingelegt zu werden braucht; … Die Bedeutsamkeit der Situationen kann von der Explikation nicht ausgeschöpft werden, aber diese hebt aus der Ganzheit einzelne Faktoren
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Alles, was wir über ein gewesenes So sagen, ist revidierbar – sei diese Revision eine verwerfende oder ergänzende. Gerade, wenn ich immer wieder auf eine Situation zurückkomme, nicht loskomme von etwas, das mir geschehen ist, revidiere und re-revidiere ich meine nachträglichen Auslegungen ihrer. Das So der Situation entflieht und als entflohenes bleibt es mehrdeutig: Es lässt sich nicht fixieren auf eine letztgültige Ausgelegtheit. Jaspers sieht etwas Ähnliches, wenn er von der Situation sagt: Wenn ich als Dasein mich stets in Situationen finde, in denen ich handle oder mich treiben lasse, so bin ich doch weit entfernt, die Situationen, in denen ich faktisch bin, zu kennen. Ich weiß sie vielleicht nur im Schema verschleiert als typisch allgemeine oder nur einige Seiten der Situation, nach deren Kenntnis ich handle (202).
Ich kenne die einzelnen Situationen nicht, insofern zum Beispiel die Allgemeinheit und Leerheit, in der ich sie beschreibe, mir ihre Einzigkeit verschleiert. Dass meine Beschreibung einer Situation meiner wie ›Ich gehe zum Fenster.‹ von deren Unerschöpflichkeit nichts behält, ist kein Beweis gegen diese Unerschöpflichkeit, sondern Beleg dafür, dass wir die Situationen, in denen wir waren, oft nur in dürftigster Gestalt zurückbehalten – es ist ein Beleg für die Flüchtigkeit des So. Ich verschleiere diese Situation, hier und jetzt in der Bibliothek zum Fenster zu gehen, indem meine Beschreibung ihrer sie vielen anderen Situationen qualitativ gleichmacht, als sei dieses Gehen zum Fenster nicht unwiederholbar Einzelnes. Ich stehe auf und gehe durch den Lesesaal zum Fenster: Es ist durchaus denkbar, dass zu einem anderen Zeitpunkt das unter dieser Beschreibung qualitativ identische Ereignis, dass JB in der Bibliothek aufsteht und zum Fenster geht, eintrat oder eintreten wird; aber diese qualitative Identität kommt nur dadurch zustande, dass unsere Beschreibung sich rein an die Außenseite des Ereignisses hält und absieht von dessen Binnenaspekt – dass es nämlich so ist, jetzt zum Fenster zu laufen. Qua meine Situation ist das hiesig-jetzige Gehen zum Fenster ein anderes als jenes. Mögen wir sie qua Ereignisse als qualitativ identisch beschreiben, talitativ, d. h. hinsichtlich dessen, dass es in ihnen je so ist, sind sie niemals identisch. Die talitative Alterität dieser zwei Ereignisse mag ich ignorieren, mich nicht um sie kümmern: Es gibt sie, insofern heraus, die durch intelligente Vernetzung zu Konstellationen verknüpft werden können, um die unerschöpfliche Situation näherungsweise zu rekonstruieren (9).«
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Situation und Ereignis
dieses eine Ereignis jetzt gerade meine Situation ist. Ich mag faktisch keinen Unterschied feststellen zwischen dem Ereignis, dass ich gestern in der Bibliothek aufstand und zum Fenster ging und dass ich heute ebenfalls dort aufstehe und zum Fenster gehe; sie sind verschieden qua Situationen. 2) Die Einzelnheit des einen Situierten Schmitz hat folgendes Paradigma der Situation vorgeschlagen: Von einer Situation spreche ich, wenn allerlei (von beliebiger Art) ganzheitlich (d. h. in sich zusammenhängend und nach außen abgehoben) zusammengehalten wird durch eine im Inneren diffuse, d. h. nicht in lauter Einzelnes durchgegliederte Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen. Schlagende Beispiele sind die Gefahrensituationen im Straßenverkehr. Ich bediene mich gern eines Extremfalls: Der Autofahrer, der auf regennasser, dicht befahrener Straße einem drohenden Zusammenstoß nur durch augenblickliches, geschickt auf die Umstände abgestimmtes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entgehen kann … (53).
Als Autofahrer, wie überhaupt als Angehöriger jeder Klasse, unter die man Individuen subsumieren kann, gerate ich in die und die Lage, finde mich in diesen und jenen Umständen. Als Autofahrer z. B. in denen, auf regennasser, dicht befahrener Straße … – die Situation tritt uns hier in einem Sinne entgegen, in dem der Begriff synonym ist mit dem der Lage. Viele können in den nämlichen Umständen sein: Ob ich oder du qua Autofahrer in diese Lage geraten, ist bloßer Zufall und letztlich nicht entscheidend. Man ist als Autofahrer in dieser Lage. Und während man als Autofahrer in dieser Lage ist, ist man auch finanziell, beruflich, privat, gesundheitlich etc. pp. jeweils in einer Lage. 14 Eine Lage ist beschreibbar als eine bestimmte Konstellation von Umständen; Umstände sind Sachverhalte, die relativ zu demjenigen, der je in der betreffenden Lage ist, eine bestimmte Relevanz besitzen. Prinzipiell ist also jede Lage, in der jemand ist, komplett beschreibbar durch eine vollständige Aufzählung aller UmstänHeidegger hat in Sein und Zeit eine eigene Unterscheidung von Situation und Lage eingeführt, die an die Unterscheidung von Entschlossenheit und Unentschlossenheit, eigentlichem Selbst und ›Man-selbst‹ gekoppelt ist und für unsere Unterscheidung hier keine Rolle spielt (vgl. 299 f.). Lipps scheint Heidegger zu folgen, wenn er sagt: »Gegenüber dem Verzagten, der sich zum bloßen Objekt seiner Lage entgleitet, setzt man sich in der Erkenntnis der Situation als deren Subjekt durch. Nur wagender Zugriff schafft diese Überlegenheit (25).«
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
de, die sie ausmachen. Prinzipiell ist dann auch jemandes Gesamtlage beschreibbar als Summe aller Lagen, in denen er oder sie zu einem gegebenen Zeitpunkt ist. Genauso ist die Gesamtlage einer Gruppe von Personen als Gesamtmenge aller Lagen zu beschreiben, in denen diese Gruppe sich befindet. Die mit Lage synonyme Situation ist daher auch von juristischen Personen und anderen Kollektiven aussagbar. Die Synonymie mit ›Lage‹ ist ein Grund für die Weite des Situationsbegriffs, wie Finke sie beschreibt: Von den einfachen Milieu- und Umweltkomponenten tierischer Reaktionen bis zu den komplexen geschichtlichen Zusammenhängen politischer Entscheidungen, von den dramatisch zugespitzten Grenzfällen des Daseins bis zu den sehr gewöhnlichen Bedingungen unseres alltäglichen Verhaltens reicht heute der Bedeutungshorizont des Ausdrucks ›Situation‹, während der Kreis möglicher ›Subjekte‹ konkreter Situationen praktisch alles umfaßt, was zwischen der Amöbe und dem Menschen, zwischen dem Individuum und der Massenorganisation auf dieser Erde existiert (11).
Eine Lage ist ein Einzelfall eines Situationstyps: Eine Prüfungs-, Schwellen-, Stress-, Grenzsituation ist jeweils ein Einzelfall eines allgemeinen Situationstyps. Indem wir aber am Leitfaden solch typischer Situationen über die Situation handeln, handeln wir über sie nur als Lage. Jeder Einzelfall ist dadurch Fall eines Typs, dass er bestimmte – typische – Eigenschaften exemplifiziert. Die Eigenschaften einer typischen (einen Situationstyp exemplifizierenden) Situation sind ihre Umstände. Eine Prüfungssituation ist durch bestimmte Umstände definiert: Jemand fungiert ihn ihr als Prüfer, ein anderer als Prüfling, wieder ein anderer als Protokollant oder Beisitzer etc. Wer von uns aber als Prüfer, wer als Prüfling fungiert, ist, was die von der Lage vorgegebenen Funktionen angeht, unwichtig: ›Jemand‹ im Sinne von: ›jeder, der bestimmte Bedingungen erfüllt‹, kann sie ausfüllen. Diesen Sinn von Jemand halten wir fest als den des indifferenten Jemand, der über sein Fungieren als … hinaus undifferenziert, unidentifiziert, unbestimmt bleibt. Wann und wo die Prüfung stattfindet, wer in ihr als Prüfer, wer als Prüfling fungiert, das individuiert die eine Prüfungssituation, das macht die Umstände aus, aufgrund derer sie von allen anderen unterschieden ist. Als Prüfer, Prüfling, Autofahrer etc. fungieren wir je auf eine bestimmte Weise. Dieses Fungieren vollzieht sich immer unter bestimmten Bedingungen: den Umständen, in denen jemand fungiert als … Auch Jaspers beschreibt das, was er ›Grenzsituationen‹ nennt, 28 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
durch solche Umstände: »Situationen wie die, […] daß ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß, nenne ich Grenzsituationen (203).« Eine Lage ist erstens Fall von … und zweitens Einzelfall, d. h. durch bestimmte Umstände, die sie aufweist, gegen alle anderen Fälle dieses Typs unterschieden. Dass Jaspers hier ›ich‹ sagt, dürfen wir also nicht vorschnell als Beleg dafür nehmen, dass er hier nicht von einem indifferenten Jemand spricht. Im Gegenteil könnte man ebenso sagen: ›Man lädt Schuld auf sich etc.‹ Man fungiert oder ebenso: ich fungiere in bestimmten Umständen als Schuldiger (habe diese und jene Schuld, hinsichtlich dieses und jenen und gegenüber diesem und jenem auf mich geladen). So weisen wir zunächst auf eine einfache aber entscheidende Sache hin: Was hier und im Folgenden über die Differenz der Pronomina ›ich‹ und ›man‹ entwickelt wird, ist niemals nur an der Oberfläche ihres Gebrauchs festzumachen; wie ›Lage‹ und ›Situation‹ können auch ›ich‹ und ›man‹ synonym gebraucht werden. Der Situationstyp ist also dadurch bestimmt, dass irgendjemand irgendwann und irgendwo und unter irgendwelchen Umständen auf irgendeine Weise fungiert. Wir wollen aber über die typische Situation eines indifferenten Jemands hinaus nach der Situation selbst fragen. Dies gelingt uns nur, indem wir nach der Situation fragen, in der wir je jetzt gerade selbst sind. Ich kann die Situation, in der ich jetzt bin, freilich typisierend beschreiben: ›ich sitze am Laptop und schreibe‹. Dann habe ich noch nicht mehr als eine Lage beschrieben, dann habe ich – was die Perspektive der Beschreibung angeht – noch nicht mehr gesagt als: ›Jemand sitzt am Laptop und schreibt‹. Meine Gegenwart dankt ihren Charakter, ihr Gepräge bestimmten Umständen, in denen ich bin, so wie jedermanns Gegenwart durch bestimmte Umstände geprägt ist: Ich sitze am Schreibtisch, vor dem Bildschirm und schreibe, so wie jemand am Schreibtisch sitzt etc. Mein Sitzenam-Schreibtisch ist Einzelfall des Situationstyps ›XY sitzt am Schreibtisch und schreibt‹. Dies ist selbst ein Einzelfall dessen, was Strawson ›P-Prädikat‹ genannt hat, das heißt ›Prädikat, das unter den Partikularien (den logischen Individuen) nur den Personen zukommt‹ (vgl. 104 f.). Indem ich von mir sage: ›Ich sitze am Laptop und schreibe‹, habe ich noch nicht mehr gesagt als was auch ein Beobachter von der Person JB aussagen könnte: Ich bin deskriptiv noch nicht über die Lage hinaus zur Situation vorgedrungen. Was aber, wenn ich über ihre typische Gestalt hinaus von dieser Situation sprechen will, in der ich jetzt gerade bin? Was gilt dann 29 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
noch von ihr? Dass es hier und jetzt so ist. Deshalb wurde gleich zu Anfang darauf insistiert, dass wir nach unserer je-eigenen Situation zu fragen haben; nach der, in der wir je jetzt gerade sind. Mit der Aussage ›Es ist so, jetzt hier zu sein‹ meint jeder seine je-eigene Situation, in der er oder sie ist. Jeder von uns muss diese Aussage je für sich selbst vollziehen: Niemand kann durch sie für einen anderen sprechen. Wenn ich sage: ›Es ist so jetzt hier zu sein‹ dann spreche ich damit von meiner und nur von meiner Situation. Der Einzelfall wiederholt das Vorkommen des Typs: Jeder Einzelfall ist ein weiteres Vorkommen des Typs. Die Situation wiederholt keinen Typ, denn sie ist gebunden an die Einzelnheit des Situierten. Hier, Jetzt und So sind also nichts weniger denn – als allgemeinste – die Typen aller Typen: Sie sind immer relativ auf die Einzelnheit des einzelnen Situierten. Hier, Jetzt und So sind die formalen Momente jeder Situation; jede Situation aber ist gebunden an die Einzelnheit des Situierten und somit das Atypische schlechthin. Die eine Situation geht deshalb niemals darin auf, Einzelfall eines allgemeinen Typs zu sein, weil sie immer diese hier und jetzt verlaufende Situation dieses einen Situierten ist: Sie ist nur als jeweils meine. Jede Situation meiner ist untrennbar von der Einzelnheit meiner selbst und daher nicht rückführbar auf einen unabhängig von dieser Einzelnheit zu formulierenden Typ: Ich bin – deshalb ist es immer hier und jetzt so. Eine Lage ist immer jemandes Lage (die eines Autofahrers etc.). Die Situation in dem hier intendierten Sinne, in dem ›Situation‹ nicht mit ›Lage‹ synonym ist, ist immer diese und meine. 15 Eine Lage besteht in einer bestimmten Anzahl von Sachverhalten, die zu einem Zeitpunkt für jemanden – gleich wen – in bestimmter Hinsicht eine gewisse Relevanz besitzen: Wir alle sind qua irgendwie Fungierende (einen Typ Exemplifizierende) dauernd in den verschiedensten Lagen; insofern zwei von uns dieselben Funktionen ausüben (denselben Typ exemplifizieren), geraten sie auch in identische Lagen. Der Autofahrer in Schmitz’ Beispiel reagiert mit geschicktem Ausweichen auf die Umstände, in denen er ist; alle ähnlich geschickten Autofahrer reagieren, wenn sie in die nämliche Lage geraten, auf die nämliche Weise. Das Schema der Lage ist das jemandem zugeschriebene Konfrontiertsein mit bestimmten Umständen, auf die er oder sie irgendwie reagiert. Jeder ist zu jedem Zeitpunkt mit vielerlei solchen UmstänWenn im Folgenden ohne weitere Bestimmung schlicht von ›Situation‹ die Rede ist, ist damit immer diese von der Lage verschiedene Situation gemeint.
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Situation und Ereignis
den konfrontiert, die eine bestimmte Reaktion fordern oder nahelegen; viele von uns sind in derselben Lage, insofern sie dieselben Funktionen ausüben. In meiner Situation bin nur ich: In dieser Hinsicht bin ich inkommensurabel einzeln. Meine Situation individuiert mich über die numerische Einzelnheit des Einzelfalls eines Typs hinaus als diesen jenigen, für den es so ist, jetzt hier zu sein. Qua Situierter bin ich in einer Weise einzeln, die es nicht erlaubt, mich gemäß geteilter Lagen zu kategorisieren und mich mit den anderen Individuen, die unter dieselbe Kategorie fallen wie ich, zu vergleichen. Rombach hat mit Recht auf das »scharfe und die Situation von Grund auf kennzeichnende ›Mein-sein‹ (20)« hingewiesen: Nur ich bin in dieser Situation. Und wenn du dasselbe von dir sagst, oder er von sich etc., dann sagst du und sagt er mit dem Ausdruck ›diese Situation‹ etwas anderes als jeder andere. Qua Autofahrer können zwei Individuen in den nämlichen Umständen sein, qua Situierter kann nur ich in meiner Situation, du nur in deiner sein, d. h. in derjenigen, die du und ich jeweils die meine nennen: in je-meiner Situation. Situiertheit impliziert eine Einzelnheit, die hinausgeht über den partikularen Status eines Angehörigen einer Klasse: Keine zwei identischen Lagen, in die zwei beliebige Autofahrer geraten können, sind dieselben qua Situation: Aufgrund ihres jeweiligen Binnenaspekts – dass es jeweils hier und jetzt so ist – sind sie un-gleich, denn jeder Binnenaspekt verweigert sich von vorneherein einem Vergleich mit einem anderen. Der Situierte ist der von seiner Situiertheit her Individuierte: derjenige, der allein in dieser Situation ist. Die Situation ist deshalb nie Fall eines Typs von Ereignissen, wie z. B. dem, dass ein Autofahrer auf regennasser Straße …, oder eines Typs von Lagen, in die wir qua Autofahrer o. Ä. geraten, sondern allein meine. Meine Situation ist diejenige, von der nur ich sagen kann, ich sei in ihr; deine diejenige, von der nur du sagen kannst: ›ich bin in ihr.‹ Und für jeden und jede ist die eigene Situation dergestalt diejenige, die nur er oder sie als ›meine‹ ansprechen kann. Eben deshalb ist – sofern verschiedene Einzelne in ein Ereignis involviert sind – dessen Binnenaspekt gemäß diesen verschiedenen Involvierten differenziert: Für jeden Involvierten ist das nämliche Ereignis, die nämliche Lage ein anderes bzw. eine andere qua Situation. Und die Alterität zweier Situationen ist nicht durch Vergleichen bestimmbar hinsichtlich des Grades ihrer Ähnlichkeit oder Verschiedenheit. Zwei, die beim Sturm der Bastille Seite an Seite kämpften, waren in derselben Lage: ihre jeweiligen Situationen aber waren in31 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
kommensurabel un-gleich, weil es kein gemeinsames Maß gibt, gemäß dem Situationen in eine vergleichende Relation zueinander gesetzt werden könnten. Es müsste dazu einen Dritten geben, dem meine und deine Situation gleichermaßen gegeben sind; nur ein solcher wäre in der Lage, sie vergleichend gegeneinander zu halten. Dieser Dritte müsste selbst desituiert sein, d. h. nicht wie wir (die Situierten) selbst an die jeweils eigene Situation gebunden. Zwei Situierte können ihre jeweilige Situation als Ganze nicht vergleichen. Die Begründung dieser These wird im Verlauf der Darlegungen entwickelt werden; zunächst belassen wir es bei folgender Überlegung: Jeder der Situierten, die und deren Situation verglichen werden sollen, ist doch jetzt in der zu vergleichenden Situation; diese vollzieht sich um ihn. Die Situation ist offen, solange sie überhaupt ist, d. h. sie ist in dem starken Sinne unabgeschlossen, dass sie, sobald sie abgeschlossen ist, damit auch schon zugunsten einer anderen vergangen, nicht mehr meine Situation ist, in der ich bin, sich nicht mehr um mich vollzieht. Dieses Verhältnis zur eigenen Situation durchkreuzt jeden Versuch eines vergleichenden Gegeneinanderhaltens meiner und deiner Situation: Ich bin nur in meiner Situation, die immer diese ist und flüchtig. Das In-Sein in meiner Situation kann ich dir nicht übertragen, genauso wenig kann ich dir das In-Sein in deiner Situation abnehmen. Nur meine Situation ist um mich, nur zu ihr verhalte ich mich in der Weise des In-Seins – insofern ist sie, was mich angeht, deiner Situation inkommensurabel: Gerade das Faktum, daß ich mich der Situation nicht entwinden kann, daß ich sie nicht auswählen kann, daß sie sich nicht verleugnen läßt und nicht übertragbar ist, ja daß sie mir so unablösbar folgt, als wäre sie ›ich selbst‹, dies macht ihren Begriff wesentlich aus (Rombach, 20).
Sofern zwei Situierte sich vergleichen, vergleichen sie sich als zwei Individuen einer Klasse, d. h. in Hinsicht auf ein geteiltes Maß, z. B. auf bestimmte Lagen, in die man qua Angehöriger einer Klasse sein kann. Autofahrer zu sein gibt das Maß vor für die Lagen, in die man qua Autofahrer geraten kann. Für meine und deine Situation gibt es dagegen kein solches gemeinsames Maß; und kein selbst situierter (so wie ich und du an die jeweils eigene Situation gebundener) Dritter könnte sie einander gegenüberstellen, um über den Grad ihrer Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit zu urteilen, denn meine Situation ist allein-meine, während deine allein deine ist: »Es gibt keinen absoluten Standpunkt, auf den man sich stellen könnte, um verschiedene 32 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
Situationen zu vergleichen, jeder einzelne realisiert nur eine Situation: seine eigene (Sartre, 635).« 16 Gewiss bereden die Situierten ihre Situation, bringen sie sie im Gespräch miteinander zur Sprache: Ich kann dir mitteilen, dass es so ist, jetzt hier zu sein; umgekehrt kannst auch du dich mir in deiner Situiertheit mitteilen. Nur erschöpft diese Mitteilung niemals das Ganze des hiesig-jetzigen So, und zwar deshalb nicht, weil wir für das So gar nicht den Punkt angeben könnten, an dem eine deskriptive Erfassung seiner den Grad der Vollkommenheit erreicht. Denn solch ein Punkt ließe sich nur unter der Bedingung angeben, dass das So aus einer Anzahl von Elementen bestünde, die eine Beschreibung vollständig auflisten könnte. Das So ist aber keine Summe von qualia, es ist nicht die Beschaffenheit (qualitas) einer Lage, die etwa in der vollzähligen Auflistung ihrer Umstände zu suchen wäre, und schon gar nicht die Beschaffenheit einer ›subjektiven Wahrnehmung‹ einer objektiv vielleicht anders beschaffenen Lage, sondern das eine unerschöpfliche tale dessen, jetzt hier zu sein. Meine Situation ist immer diese; als Situierter bin ich diesseits jeder Zugehörigkeit zu einer Klasse dadurch individuiert, dass es so ist, jetzt hier zu sein. Deshalb heißt Situierheit: Einzelnheit jenseits der Vergleichbarkeit von Individuen derselben Klasse. Als Situierter bin ich auf inkommensurable Weise dieser jenige, relativ zu dem allein es so ist, jetzt hier zu sein. Und jeder einzelne Situierte ist dergestalt Diesjeniger. Im Kommenden wird erläutert werden, was hier schon als These aufgestellt wird: Die den Situierten eigene Einzelnheit ist zu explizieren vor dem Hintergrund der den Situierten eigenen ›Seinsart‹. Die Rede von der Seinsart geht zurück auf heideggersche Terminologie in Sein und Zeit: Das Sein ist differenziert in Arten, auf die das verschiedene Seiende ist. 17 Daraus ergeben sich terminologische Unterscheidungen zwischen dem Seienden – Heiegger nennt es ›Dasein‹ –, »dessen Wesen darin liegt, daß es je sein Sein als seiniges zu sein hat (12)« und dem, was ›Vor-‹ oder ›Zuhandenes‹ heißt: Nur das Dasein existiert, womit zunächst formal eine gegenüber der Tradition neue »Il n’y a aucun point de vue absolu duquel on puisse se placer pour comparer des situations différentes, chaque personne ne réalise qu’une situation: la sienne.« 17 Vgl z. B. § 11, wo »[…] das Fehlen einer eindeutigen, ontologisch zureichend begründeten Antwort auf die Frage nach der Seinsart dieses Seienden, das wir selbst sind, in der Anthropologie, Psychologie und Biologie (50)« bemängelt wird und passim. 16
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Sprachregelung etabliert wird: Was im traditionellen Sinne der existentia existiert, (das, was ist; das Seiende) ist zu differenzieren in das Vor-, Zuhandene und die (nach der neuen Sprachregelung) Existierenden. Diese drei sind durch ihre Seinsart, d. h. dadurch, wie sie je sind, ursprünglich differenziert und nicht erst dadurch, dass zu ihrer puren existentia ein Was (essentia) hinzutritt. Die Seinsart des Daseins, das heideggersche Existieren, wird im Folgenden als Situiertheit ausgelegt: Die Situierten sind die in den Verlauf je-dieser Situation Einbegriffenen. Je-diese Situation aber ist flüchtig, d. h. tritt ein und vergeht: Ich bin jetzt in dieser Situation, werde später – wiederum jetzt – in dieser Situation sein, die aber eine andere sein wird als die jetzige: Jede Situation erleben wir nur als zeitweilige, in jeder finden wir uns nur im Durchgang. Die Situationsbeziehung zur Umwelt ist keine rein räumliche, ist nicht nur Lage (situs). Der zeitlich-historische Charakter unterscheidet die Situation von der bloßen Raumbeziehung des Situs (Straus, 87).
Die Situierten existieren als in die Zukunft bewegt, dabei die Vergangenheit hinter sich lassend. Diese existierende Bewegung verbleibt dabei in der Gegenwart: Die Situation ist also die horizontal tiefe Gegenwart, die mit Vergangenheit und Zukunft ein Kontinuum bildet – auch dafür ist an dieser Stelle noch auf das Folgende zu verweisen. Ebenso wie die einzelne Situation unabgeschlossen ist, ist dies auch die weiteste aller denkbaren Situationen: die, welche mit der Geburt begonnen und noch nicht mit dem Tod geendet hat, die situierte Existenz, die für jeden die meine, deshalb je-meine, ist.
Ich und man: Situierter und Person Zu jedem Zeitpunkt, zu dem ich von mir sagen kann, es sei für mich so, jetzt hier zu sein, bin ich im Verlauf dieser Situation begriffen, die erstens unwiederholbar und zweitens allein die meine ist. Ich kann dabei immer noch in der gleichen Lage sein wie andere; die nicht mit Lage synonyme Situation (das Hier, Jetzt und So) aber behält ihre inkommensurable Einzelnheit: Meine Situation und deine sind als ganze gar nicht gegeneinander zu halten und auf Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zu prüfen: Darin besteht ihre Alterität; sie sind ungleich, d. h. jenseits der Entscheidbarkeit von gleich und nicht-gleich. Ebenso sind zwei Situierte als Ganze un-gleich: Zwei Einzelne 34 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
kann ich nur vergleichen aus der Perspektive eines Dritten, dem beide in Hinsicht auf ein gemeinsames Maß gegeben sind: Man vergleicht zwei Individuen einer Kategorie (etwa zwei Exemplare der Gattung animal rationale). Ich kann sogar mich selbst als dergestalt vergleichbaren Einzelnen konzipieren und mich als solchen mit anderen vergleichen, was wir faktisch ja auch tun. Dann spiegelt nur noch die Oberflächengrammatik – der Umstand, dass ich den Ausdruck ›ich‹ gebrauche – vor, ich spräche noch von mir selbst als Diesjeniger. Denn ich spreche dann von mir als …, ich hole mich selbst ein in die Konzeption der Lage, des zu einem Zeitpunkt und an einem Ort irgendwie fungierenden Jemands. Ich als Sprechender fungiere dann selbst als der vergleichende Dritte neben mir und dem Womit des Vergleichs. Dieser Dritte hat die Eigenheit an sich, sich selbst aus seinem Sprechen auszutilgen. Die Perspektive dieses dritten nennen wir deshalb die eines Beobachters, wobei das Beobachten sich gerade dadurch auszeichnet, sich selbst zu ignorieren, über sich selbst hinwegzusehen, hin auf das Beobachtete, zugunsten dessen es sich selbst auswischt. Wenn Heidegger in Sein und Zeit statt des geläufigen ›Person‹ oder des ebenso geläufigen ›Subjekt‹ den Neologismus ›Dasein‹ vorzieht, dann führt er diese Umtaufung des Einzelnen als solchen dergestalt ein: Dasein ist »das Seiende, das wir […] je selbst sind (7).« Das bedeutet: ›Dasein‹ ist ein allgemeiner Ausdruck für den Einzelnen in seiner Einzelnheit – für mich in meiner, für dich in deiner etc. Das Dasein ist der oder die einzelne, der oder die jeder und jede von uns je selbst ist. Jeder von uns ist je-dieser Einzelne: Jeder von uns ist Dasein. In der zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit gehaltenen Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik heißt es: […] wenn wir nach dem Wesen des Menschen fragen, fragen wir nach uns selbst. Das heißt aber […], daß wir nach einem Seienden fragen, das zu sein uns selbst aufgegeben ist […] Damit ist freilich nicht gesagt, daß wir selbst uns dabei für die ganze Menschheit oder gar den Abgott derselben halten; sondern im Gegenteil: Es wird darin nur deutlich, daß alles Fragen des Menschen nach dem Menschen zuerst und zuletzt eine Sache der jeweiligen Existenz des Menschen ist (407).
Die Einführung des Neologismus ›Dasein‹ ist also, wenn wir sie nicht als bloße Extravaganz der Ausdrucksweise missverstehen, Ausdruck des Versuchs, im Sprechen über sich selbst die Perspektive des desituierten Dritten fernzuhalten. Denn ich selbst kann, wie gesagt, diese 35 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Perspektive einnehmen. Wenn ich dies tue, so tue ich es stillschweigend, insofern dieser Dritte durch das Übergehen seiner eigenen Perspektive gekennzeichnet ist. Ich kann mich also beschreiben als die Person JB. Jeder von uns kann sich beschreiben als Person XY. Dann handeln wir zu den ontologischen Bedingungen von uns selbst, für die Thomas Nagel das Bild des Blicks von Nirgendwo gefunden hat: Einerseits scheint es, als würde in einer kompletten Weltbeschreibung von keinem partikularen Standpunkt aus, die alle Personen beinhaltet, von denen eine TN ist, etwas fehlen, als bliebe etwas absolut Wesentliches unbestimmt, nämlich wer von ihnen ich bin. Aber andererseits scheint es in der dezentrierten Welt keinen Platz zu geben für solch eine zusätzliche Tatsache: Die Welt, wie sie sich von Nirgendwo darbietet, scheint auf eine Weise vollständig, die solche Zusätze ausschließt; sie ist einfach die Welt, die alles, was sich wahrheitsgemäß von TN aussagen lässt, schon beinhaltet (54 f.). 18
Ich bin in dieser Beschreibung niemand, nämlich der Dritte, der sich selbst aus seiner Beschreibung austilgt und der sich daher selbst nur als Person JB fassen kann. Von Nirgendwo zu beschreiben heißt, als Niemand (getilgter Beschreibender) sich selbst als bloßen Jemand zu beschreiben, d. h. nicht anders als ich jeden anderen und jede andere auch beschreiben könnte. 19 Ich beschreibe mich dann als indifferenten Jemand, als Einzelfall des Typs ›Person‹. In der Konzeption des Einzelnen als indifferenter Jemand bleibt der Konzipierende selbst niemand, er tilgt sich selbst aus seiner Beschreibung aus. Er macht sich dann die Perspektive eines Beobachters zu eigen: eines Sprechers, der sich selbst und das eigene Beobachten überspringt, es aus seinem Sprechen ausmerzt. Beobachten ist immer ein Blicken von Nirgendwo und als Niemand. Ein Beispiel Wittgensteins aus den ›Philosophischen Untersuchungen‹ kann uns als Beispiel dafür dienen, was hier unter einem Beobachter verstanden ist:
»Given a complete description of the world from no particular point of view, including all the people in it, one of whom is Thomas Nagel, it seems on the one hand that something has been left out, something absolutely essential remains to be specified, namely which of them I am. But on the other hand there seems to be no room in the centerless world for such a further fact: the world as it is from no point of view seems complete in a way that excludes such additions; it is just the world, and everything true of TN is already in it.« 19 Anders ausgedrückt ist ein view from nowhere immer ein self-effacing view: Beobachten ist selbst-los, da sich selbst aus seinem Blicken ausklammernd. 18
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Situation und Ereignis
Wenn man in einer Diskussion dringend eine Bemerkung, einen Einwurf machen will, geschieht es häufig, daß man den Mund öffnet, den Atem einzieht und anhält; entscheidet man sich dann, den Einwurf zu unterlassen, so lässt man den Atem aus. Das Erlebnis dieses Vorgangs ist offenbar das Erlebnis einer Tendenz, zu sprechen. Wer mich beobachtet, wird erkennen, daß ich etwas sagen wollte und mich anders besonnen habe. In dieser Situation nämlich (458).
Wenn man in einer Diskussion etwas sagen will – man, der z. B. auch ich sein kann – dann legt man ein bestimmtes Benehmen an den Tag: Dieses Benehmen ist beobachtbar. Auf Grundlage der Beobachtung ist die Absicht dieses Benehmens erkennbar (dass man dabei ist, einen Einwurf zu machen) und auch, dass dieses Absehen ins Zaudern gerät, letztlich zurückgehalten wird. Jemand (der ich sein könnte) legt ein beschreibbares Benehmen an den Tag, das unter Berücksichtigung der Umstände, in denen er es an den Tag legt, als eine bestimmte Absicht deutbar ist. Jemandes Benehmen, das er in einer bestimmten Lage, d. h. unter bestimmten Umständen an den Tag legt, lässt uns seine Absicht erkennen. Wie springen wir aber heraus aus dieser Perspektive in die Eigenperspektive desjenigen, der aus unserer Beobachterperspektive nur jemand ist, der ein bestimmtes Benehmen an den Tag legt? Formalgrammatisch, indem wir statt des Indefinitpronomens das Personalpronomen der ersten Person gebrauchen. Wittgenstein spricht vom ›Erlebnis‹ des beobachtbaren Vorgangs – wir können also sagen: ›Ich habe ein Erlebnis des Vorgangs, etwas sagen zu wollen und dann an mir zu halten‹ bzw. allgemeiner gesprochen: ›Ich habe ein bestimmtes Erlebnis, wenn ich, was einen Beobachter angeht, ein bestimmtes Benehmen an den Tag lege‹. Haben wir damit bereits einen Sprung in die Perspektive desjenigen getan, der hier und jetzt in dieser Diskussion dies sagen will? Spreche ich schon genuin als Situierter? Da wir ebenso gut sagen könnten: ›Man hat ein Erlebnis von dem Vorgang, etwas sagen zu wollen und dabei an sich zu halten‹ ist hiermit auch noch nicht mehr gesagt als was ich auch über einen anderen aussagen könnte: ›Ich habe ein Erlebnis, wenn ich dieses Benehmen an den Tag lege‹ und genauso: ›Jemand hat ein Erlebnis, wenn er dieses Benehmen an den Tag legt‹ Auch hier gilt wieder: Dass wir der Oberflächengrammatik nach in der ersten Person sprechen, verbürgt noch nicht dafür, dass wir wirklich von uns selbst qua Situierter sprechen, dass uns die je-eigene Situiertheit dabei in den Blick kommt. Wir haben uns in der angeführten Aussage ›Ich habe ein Erlebnis …‹ 37 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
tatsächlich nur die Form ihres Ausdrucks zu eigen gemacht, ich spreche über mich als indifferenten Jemand, denn diese Aussage sagt über mich nicht mehr als das, was ich auch über einen beliebigen anderen sagen könnte. Die grammatische Form solcher Aussagen ist ein anderes Indefinitpronomen: ›Man hat ein Erlebnis, wenn man dieses Benehmen an den Tag legt.‹ ›Man‹ schluckt dann alle grammatischen Personen und nivelliert ihre Differenzen. ›Man‹ ist Kurzschrift für: ›ich so wie Du, so wie er, so wie überhaupt jede Person und deshalb abgesehen von unserer Ungleichheit‹. Es ist die grammatische Möglichkeit, über sich so zu sprechen, wie über alles andere. Es negiert die perspektivische Differenz zwischen dem, der bei einem Benehmen, das er an den Tag legt, ein Erlebnis hat, und dem, der dabei sein Benehmen beobachtet. Es ist diese Negation der perspektivischen Differenz, auf die Heideggers Terminologisierung des Pronomens ›man‹ hinweisen will. Es ist eine der zentralen Thesen seiner Philosophie in den Jahren um die Niederschrift von Sein und Zeit, »daß wir nach dem Menschen nur dann recht fragen, wenn wir in der rechten Weise nach uns selbst fragen (2010, 407).« Die laut Heidegger, dem ich hierin folge, unrechte Weise, nach sich selbst zu fragen, ist die, mich so zu beschreiben, wie ich jedes Individuum der Kategorie beschreiben würde, der ich zugehöre. Die Einzelnheit der einen Person ist eine leere oder selbst-lose Einzelnheit: Ich bin nicht selbst die Person JB: Ich, der ich mich selbst hier und jetzt in dieser Situation finde, in der es so ist, komme in einer Beschreibung dieser Person, die sich jeweils zu einem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befindet, gar nicht vor, denn ich selbst bleibe in solch einer Beschreibung niemand, d. h. der sich selbst aus seiner Beschreibung tilgende Dritte. Die Person JB ist Exemplar einer Kategorie des Seienden (nämlich der Partikularien, auf die P-Prädikate anwendbar sind) und weist darüber hinaus bestimmte, sie von anderen Exemplaren derselben Kategorie unterscheidende Eigenschaften auf. Dasein dagegen ist »nie […] zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung«, denn es muss, wenn es von sich selbst spricht »stets das Personalpronomen mitsagen (42).« Das Dasein muss, wenn es von sich selbst spricht, immer sagen: ›ich bin‹ (während Wittgenstein in seinem Beispiel problemlos das Pronomen der ersten Person durch das Indefinitpronomen ersetzen kann und umgekehrt); darin liegt, dass das Dasein von sich selbst nicht in der Weise sprechen kann, wie es über alles andere spricht, über das es sagt: ›… ist …‹ Das 38 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
Dasein ist der oder die Einzelne, der oder die wir je selbst sind: Dieser einzelne, der ich bin; dieser einzelne, der du bist; diese einzelne, die sie ist etc. Sich als Dasein zu konzipieren bedeutet: als dieser jenige unter denen, die das Pronomen der ersten Person mitsagen müssen; nicht als Exemplar einer Gattung – obwohl das möglich und legitim ist – sondern in der Einzelnheit der einen Existenz, in der jeder von sich sagt: ›ich bin‹. Das Man gehört in Sein und Zeit in den Umkreis der dort entwickelten Unterscheidung eigentlicher und uneigentlicher Existenz, wobei die mögliche Uneigentlichkeit des Daseins zunächst beschrieben wird als eine Tendenz desselben zur Durchschnittlichkeit. Das Dasein wird umgetrieben von der Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das […] Dasein – gegen die anderen zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten (126).
Das bedeutet: Das Dasein selbst, das seiner eigenen Seinsart nach nicht als Exemplar einer Kategorie zu fassen ist (da es sagt: ›ich bin‹), verkennt diese seine Seinsart, fasst sich nun selbst als ein solches Exemplar und lässt sich daraus das Maß eines Vergleichs seiner selbst mit anderen vorgeben. Es fragt dann etwa: Wie gut bin ich, in der Hinsicht auf eine Weise, auf die ich fungiere (als Student, Doktorand etc.), im Vergleich zu ihm, ihr, die dasselbe tun? Bin ich gemessen an den Leistungen anderer adäquat? Indem ich aber so von mir als … spreche, liegt das Man unausgesprochen zugrunde: Man ist zum Beispiel Student, Doktorand, ich bin es auch: Und als Student oder Doktorand frage ich nach der Abständigkeit gegen die anderen, d. h. vergleiche ich mich mit ihnen. Darin übergehe ich meine Diesjenigkeit, indem ich mich selbst konzipiere als Einzelfall dieser oder jener Klasse. ›Man‹ drückt in Sein und Zeit eine Tendenz zur Selbstnivellierung des Daseins aus, die darin gründet, dass es besorgt ist um seinen Abstand zu anderen. Das Man ist darüber hinaus einer ontologisch grundsätzlicheren Formulierung fähig, als Heidegger selbst sie gibt, wenn wir die Voraussetzungen dieser Tendenz bedenken: In welcher Sprache ist es denn überhaupt möglich, sich selbst dergestalt exemplarisch zu nehmen? Das ist gleichbedeutend mit der Frage: Wie ist das Man ontologisch zu konzipieren? Ontologisch gefasst ist das Man eine Konzeption seiner selbst als von einem Dritten beschriebener 39 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Jemand. Sich ontologisch als Man zu konzipieren bedeutet, von sich selbst so zu sprechen, wie über alles andere: ›man ist …‹ oder: ›die Person JB ist …‹. Als Man zu sprechen bedeutet, mich selbst einzureihen unter dasjenige, von dem ich sage: ›… ist …‹. Ich sage dabei nicht zwangsläufig Falsches (Unzutreffendes) über mich: Nur spreche ich über mich als die Person JB, d. h. bleibe selbst der sich aus seinem Sprechen ausmerzende Dritte. ›Dasein‹ ist dagegen ein allgemeiner Ausdruck für den Einzelnen, der seine Einzelnheit selbst ausspricht, indem er sagt: ›ich bin‹ oder ›ich bin da‹ – ›Dasein‹ ist ja nichts anderes als die Nominalisierung der infiniten Form dieser Aussage. Der Infinitiv zeigt hier die Allgemeinheit des Ausdrucks an; eine Allgemeinheit, die die Einzelnheit aber ausdrücklich nicht aufheben (im Man aufgehen lassen) soll bzw. sie nur in dem Sinne aufheben soll, dass sie sie aufbewahrt. ›Dasein‹ ist allgemein gesprochen; aber in einer Allgemeinheit, die der Einzelnheit ontologisches Gewicht verleihen soll. Diese Allgemeinheit ist verschieden von der schlechten Allgemeinheit des Man, in der die situierte Einzelnheit ausgetilgt ist. Wir müssen auch sagen: ›Dasein ist …‹, wenn wir mit dem Ausdruck etwas Allgemeines aussagen wollen, d. h. etwas, das nicht nur je für uns selbst gilt. Diese angestrebte gute Allgemeinheit liegt darin, dass ich mich als Einzelner so ausspreche, dass es dir und ihm und jedem, der von sich sagt: ›ich bin‹ nachvollziehbar ist. Das Man ist eine Konzeption des Einzelnen, die ihn oder sie nur als Jemand unter anderen konzipiert, als Person unter Personen, Subjekt unter Subjekten. Es zeichnet sich aus durch die Indifferenz dieses Jemand: Dieser ist irgendjemand, gleich welcher oder welche Einzelne. Der Ausdruck ›Dasein‹ soll die Einzelnheit diesjenigen einzelnen wiedergeben, der sagt: ›ich bin …‹ : Ich darf mich selbst nicht konzeptuell in die Indifferenz des bloßen Jemand auflösen, sondern muss genuin von mir in meiner Einzelnheit derart sprechen, dass sich darin prinzipiell jeder Einzelne als solcher wiedererkennen kann. Diese Einzelnheit, um die es Heidegger zu tun war, soll nun hier expliziert werden als die der Situiertheit. Ich bin, solange und sofern ich existiere, unausgesetzt in je-dieser Situation. Darin liegt meine Einzelnheit und die Einzelnheit jedes und jeder, der oder die jeweils von sich sagt: ›ich bin …‹ Die Ausdrücke ›Situierter‹ und ›Situierte‹ sind Explizierungen des Ausdrucks ›Dasein‹ : Am Leitfaden der Situiertheit soll schärfer gefasst werden, worauf Heideggers alternative Charakterisierung des Menschen als Dasein hinauswill. Eine Pointe dieses Ausdrucks ist ja, dass er ein Singularetantum ist: Qua Dasein 40 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
kann ich nicht im Plural erscheinen. Es geht nicht um den Einzelnen als einer unter einer Vielzahl Gleichartiger, sondern der Einzelne soll radikaler, ursprünglicher in seiner Einzelnheit gefasst werden. Diese ursprüngliche Einzelnheit soll hier ausgelegt werden als Situiertheit: Ursprünglich einzeln bin ich als Diesjeniger, d. h. dadurch individuiert, unausgesetzt in je-dieser unwiederholbaren Situation zu sein, die allein die meine ist.
Der Situierte über die Situation Weiter versuchen wir, der Situation nahezukommen, indem wir fragen: Unter welchen Bedingungen thematisieren wir die je-eigene Situation eigens? Wir können freilich sagen: ›Ich bin in der Situation, in der Bibliothek zu sitzen, zum Fenster zu gehen, es zu öffnen.‹ Aber unter welchen Bedingungen würden wir so reden, anstatt einfach zu sagen: ›Ich sitze in der Bibliothek, gehe zum Fenster, öffne es.‹ ? Erstere Formulierung scheint ein wenig artifiziell, weil sie einfach eine pleonastische Weise ist, das zu sagen, was letztere ökonomischer aussagt. Wann thematisieren wir die Situation aber zwanglos oder unerkünstelt – und zwar so, dass dabei ›Situation‹ nicht synonym mit ›Lage‹ gebraucht wird? Die Frage ist also: Unter welchen Bedingungen sprechen wir die eigene Situation ausdrücklich an? Wir beantworten diese Frage durch Rekurs auf zwei Beispiele. Beide entnehmen wir der sog. ›schönen‹ Literatur. Wir gehen deshalb so vor, weil uns die Situation als einzelne und das Sprechen Situierter über ihre jeweilige Situation viel eher dort begegnet als in den Beispielen für Situationen, die man in der einschlägigen philosophischen Literatur findet: Schmitz’ Paradigma der Situation kann uns dabei gewissermaßen als Metaparadigma dienen für die Situationen, die dort als paradigmatisch angesetzt werden: Diese sind formuliert als jemandes Situation, d. h. als Lagen. Lagen sind Situationen, die definiert sind durch eine bestimmte Konstellation an Umständen, in denen sich prinzipiell jeder finden kann. Dergestalt ist in ihnen die Einzigkeit je-dieser Situation und die Einzelnheit (Diesjenigkeit) des einen Situierten von Anfang an unterschlagen. Einen Situierten, der als solcher von seiner Situiertheit selbst spricht – dies finden wir viel eher in der schönen denn in den Beispielen der philosophischen Literatur, wo vielmehr die Tendenz zum Typisieren der Situation vorherrscht. Jene bringt uns so näher 41 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Annäherung an das Phänomen der Situation
an das Phänomen der Situation als die philosophischen Paradigmen à la Schmitz. Die Bedeutung von Beispielen überhaupt, das heuristische Gewicht, das sie im Rahmen einer Untersuchung tragen, hat Wittgenstein in das folgende Bild gefasst: »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen (1984, 459).« Was ist damit, dass sie – bildlich gesprochen – die Nahrung der Philosophie darstellen, über Beispiele gesagt? Inwiefern nährt sich die Theorie von ihren Beispielen? Und was bedeutet es, dass diese Nahrung einseitig sein kann? Beispiele sind – um Wittgenstein, der gern in Bildern gesprochen hat, selbst durch ein Bild auszulegen – die Anfänge der Theoriebildung wie die Nahrungsaufnahme der Anfang der Blutbildung ist: Die Theorie, so z. B. eine Theorie der Situation, entwickelt sich an und ausgehend von dem, was sie als paradigmatische Situation ansetzt. Sie setzt sich selbst ein Paradigma voraus, an dem sie ihre Begriffe bildet. Dergestalt geben die Beispiele der Theorie die erste Richtung vor. Die Theorie geht an den Beispielen entlang, sie schlägt schon mit ihnen eine Richtung ein, d. h. entscheidet sich schon in ihnen stillschweigend gegen andere mögliche Richtungen. Interessanterweise sind die Beispiele als Anfänge (Einstiege) der Theorie nie schlechthin Anfänge, sondern setzen selbst schon die Vertrautheit mit dem voraus, wovon sie Beispiele sind. Andererseits – und darin liegt die Weichenstellung, die durch Beispiele geschieht – geht dieses Wovon den Beispielen nie in dem Sinne voraus, dass es einfach vorläge und sie es so, wie es vorliegt, formulierten (sprachlich fassten) und dadurch präsentierten: Die Formulierung der Beispiele – die Sprache, in der sie ihr Wovon herbeispielen – verhält sich zu diesem Wovon nicht wie der Bernstein zum in ihm konservierten Insekt, denn sie ist gegenüber diesem Wovon eben nicht konservativ, sondern gestaltend. Darin, dass die Beispiele gegenüber ihrem Herbeigespielten nie neutral sind, sondern es herbeispielend gestalten, liegt die Möglichkeit ihrer Einseitigkeit: Sie geben dann der Theoriebildung einseitig nur eine mögliche Gestalt des Herbeigespielten vor und unterdrücken andere. Insofern sie also die Nahrung der Theoriebildung darstellen, sind Beispiele nicht etwas, das ich bloß zur Verdeutlichung und eventuell erst nachträglich mit Rücksicht auf die Klarheit meiner Thesen und der Leserfreundlichkeit halber anfüge. Insofern ist auch die Frage nach dem anfänglichen Paradigma der Situation, an dem entlang wir sie explizieren, entscheidend; deshalb auch ist es keinesfalls nebensäch42 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
lich, sicherzugehen, dass wir uns nicht anfänglich an der Lage orientieren, wenn wir nach der Situation fragen. Ein Beispiel zu geben von … bedeutet … herbeizuspielen. Dieses Herbeispielen ist als Gestalten des Herbeigespielten verschieden vom Erzählen als narrativem Gestalten dieser Situation, in der ich bin, bzw. jener Situation, in der ich war. Indem ich ein Beispiel der Situation gebe, erzähle ich nicht von einer Situation, die diese und meine ist oder es einmal war. Und selbst angenommen, ich nähme eine solche Situation zum Vorbild bei der Formulierung meines Beispiels, so würde ich das weder eigens deklarieren noch dürfte es überhaupt eine Rolle spielen. Ich erzähle durch das Beispiel einer Situation nicht von dieser Situation, sondern spiele die Situation herbei. Das Beispiel erzählt also nicht vom Einzelnen, es spricht in obliquer Weise vom Allgemeinen, es zielt durch die Erzählung des Einzelnen auf die Allgemeinheit. Aristoteles hat also bei seiner Unterscheidung des Dichters und des Geschichtsschreibers bzw. der Texte, die beide jeweils verfassen, vielleicht nicht das literarische Erzählen überhaupt beschrieben, wohl aber das literarische Erzählen, insofern es in einem theoretischen Text wie diesem als Beispiel fungieren kann. 20 Der Theorie geht es um die Allgemeinheit; Beispiele sind die anfängliche Allgemeinheit: In ihnen vollzieht sich der Überstieg der Einzelnheit hin zur Allgemeinheit der Theorie. Ich gebe hier also Beispiele aus literarischen Texten und integriere sie in diesen theoretischen Text. Es liegt nahe zu fragen, ob dies überhaupt erlaubt sei. Der offensichtlichste Einwand dürfte lauten wie folgt: Das literarische Erzählen fingiert. Die Literatur zeigt uns nur fingierte Situierte in fingierten Situationen. Wenn eine literarische Figur ›ich‹ sagt, spricht ein fiktiver Situierter aus einer fiktiven Situation. Sein Sprechen selbst ist dabei ebenso ein fingiertes wie die Situation, aus der er spricht, fiktiv ist. Dürfen wir solche Situationen mir nichts dir nichts mit unseren eigenen gleichsetzen? Die Situationen in der Literatur sind, anders als die Situationen, in denen wir selbst sind, und um die es hier doch gehen soll, nicht echt, sondern eben fingiert. Dürfen wir diesen Unterschied ohne weiteres vernachlässigen?
Ich beziehe mich auf Poetik 1451b, 4–8: »Die Dichtung sagt eher das Allgemeine (ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου […] λέγει)«, weshalb sie »philosophischer […] als die Geschichtsschreibung ist (φιλοσοφώτερον […] ἱστορίας ἐστιν).«
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Die Frage ist allerdings, was ›echt‹ hier bedeuten kann: Gesetzt, dass in meinem eigenen Verhältnis zu einer Situation meiner diese echt gegeben sei – lässt sich dann diese Echtheit ausreichend gegen die Fiktionalität der literarischen Fiktion abheben? Das So je-dieser Situation bleibt mehrdeutig, hieß es oben. Das Erzählen meiner Situation (das Mich-Aussprechen in meiner Situiertheit) erschließt die Mehrdeutigkeit des So. Sooft wir darauf zurückkommen, dass es hier und jetzt so ist, ist unser eigenes Verhältnis zur Situation ein erzählendes. Und das vermeintlich echte Etwas, das unserer Erzählung voraufgeht, ist selbst eine philosophische Fiktion, denn unser eigenes Verhältnis zu je-dieser Situation ist bereits von Grund auf narrativ: Es konstatiert nicht (›Hier ist das Haus‹, ›Jetzt ist die Nacht‹), es erzählt davon, dass es so ist jetzt hier zu sein: Es gestaltet die erzählte Situation, indem sie sie zu Worten kommen lässt. Erzählend halten wir uns im Verhältnis zur jeweils eigenen einen Situation, in der wir sind oder in der wir waren: Insofern ist uns das literarische Erzählen der Situation so wenig fremd wie die literarisch erzählte Situation. Wir erkennen im Einzelnen der literarisch erzählten Situation das Allgemeine, die je-eigene Situiertheit, wieder. Wir vermöchten dies gar nicht, wenn wir uns nicht selbst als Erzählende zu unserer jeweiligen Situation verhielten. Insofern ist das literarische Erzählen einer Situation kein von unserem Verhältnis zur je-eigenen Situation abgekoppeltes Konstruieren eines bloß fiktiven Gebildes, sondern eine Ausbildung seiner. Deshalb kann die Literatur uns die Situation herbeispielen, so wie wir selbst mit ihr vertraut sind im Erzählen von dieser oder jener Situation, die jeweils meine ist bzw. war – die Situation, die nicht mit der Lage zusammenfällt. In diesem Sinne widmen wir uns dem ersten Beispiel. Es ist Dostojewskijs Kurzroman Der Spieler entnommen: Alexei Iwanowitsch, Hauslehrer eines Generals, reist in dessen Gefolge in einen deutschen Kurort. Er verliebt sich in die Adoptivtochter des Generals, Polina, und leistet, um für die ihm Unerreichbare wenigstens irgendeine Bedeutsamkeit zu gewinnen, ihren Launen Liebesdienste. Auf einem Spaziergang gibt sie ihm aus einer dieser Launen heraus den Befehl, einen in der Nähe mit seiner Frau vorbeiflanierenden Baron anzusprechen und eine Szene zu provozieren. Bis hierhin haben wir in der dritten Person jemandes Umstände und sein Benehmen in diesen Umständen nacherzählt. Lassen wir jetzt den Situierten selbst zu Wort kommen:
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Situation und Ereignis
Ich erinnere mich noch genau der ganzen Situation […] »Madame la Baronne«, sagte ich laut, jede Silbe markant aussprechend, »j’ai l’honneur d’être votre esclave.« Darauf verbeugte ich mich, setzte den Hut wieder auf und ging an dem Baron vorüber, indem ich ihm höflich mein Gesicht zuwandte und ihn anlächelte. Nur den Hut abzunehmen hatte sie mir befohlen, alles übrige, so wie es sich frei aus der Situation heraus ergab, war mein eigener Mutwille. Der Teufel weiß, was mich in diesem Augenblick dazu antrieb! Ich rutschte gleichsam einen Berg hinab (61 f.). 21
Vermerken wir als Erstes, das wir es hier mit einer Beschreibung zu tun haben, in der ›ich‹ nicht mehr durch ›man‹ ersetzbar ist. Es handelt sich hier um eine Beschreibung, die in einem Sinne ›ich‹ sagt, der darüber hinausgeht, dass ich als Person mich immer in einer Lage befinde, die einen bestimmten Typ exemplifiziert und in der ich diesem Typ entsprechend fungiere. Was ist nun über die herbeigespielte Situation selbst zu sagen? Die herbeigespielte Situation ist eine, die den Situierten dazu bringt, seine Situiertheit eigens anzusprechen – und zwar in einer Redefigur, die wir einen revidierten Irrealis nennen können. Revidiert wird dieser Irrealis durch die Faktizität dessen, was tatsächlich eintritt. Seine allgemeine Formulierung lautete etwa: ›Ich würde/ könnte/hätte (normalerweise) nie …, aber in der Situation …‹ Hier revidiert die Situation selbst, was wir von uns ausgesagt hätten, nämlich dass wir niemals … würden, könnten oder hätten. In diesem Falle ist auch ›Situation‹ nicht durch ›Lage‹ zu ersetzen, was uns einen Fingerzeig gibt, dass in der Redefigur des revidierten Irrealis die originäre, nicht mit der Lage gleichzusetzende Situation zur Sprache kommt. Jede Situation, in der ich bin, konfrontiert mich neu mit mir selbst: Ich bin mir selbst nur relativ vertraut, insofern als mir immer vorbehalten bleibt, neu und in von mir selbst für unmöglich gehaltener Weise aufzutreten. Dies artikuliert die Erzählung von Dostojewskijs Erzähler. Wie knüpfen wir jetzt theoriebildend an die in diesem Beispiel herbeigespielte Situation an? Wie ist diese literarisch herbeigespielte Situation deskriptiv zu charakterisieren? Die Situation selbst bekommt hier einen Sogcharakter. Sie reißt hin in das Neue eines Tuns, das dem Tuenden selbst unvorhersehbar war, bevor er es vollzieht. 21
Aus dem Russischen von E. K. Rasin.
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
Die Situation selbst – um zur Ausgangsfrage dieses Abschnitts zurückzukommen – wird uns also zum Beispiel ausdrücklich, indem wir das Phänomen des Hingerissenwerdens thematisieren: Wir kommen dann eigens auf die Situation zu sprechen, wenn uns in der Beschreibung unseres eigenen Tuns die Dichotomie von aktiv und passiv suspekt wird, weil sie der Phänomenalität unseres Tuns nicht mehr gerecht wird, weil wir dieses erfahren als eine Bewegung, die uns ebenso sehr selbst ergreift, wie sie von uns ausgeht. 22 Ich erfahre aber (und das gilt für jeden und jede, der bzw. die ›ich‹ sagt) nur an mir selbst und am eigenen Tun diese Ununterscheidbarkeit von Tun und Leiden, Aktivität und Passivität. Den Sogcharakter der Situation beobachten wir nicht, ihn erfahren wir nur je selbst im Hier, Jetzt und So der zu diesem Tun hinreißenden Situation. Dass wir es faktisch jemandem ansehen mögen, dass er unbeherrscht und ›im Affekt‹ reagiert, ist überhaupt nur insofern möglich, als wir von uns selbst her vertraut sind mit dem Phänomen des Hingerissenwerdens. Aus der Perspektive eines Beobachters sehe ich immer nur jemand anderen als agens seiner (bisweilen im Affekt ausgeführten) actiones. Jemand geht auf zwei Leute zu und redet sie an. Nur, wenn ich frage: Wie wäre es, wenn ich selbst derjenige wäre, der da auf das Paar zutritt, wird mir mein Status als agens und die Auslegung meines Tuns als actio suspekt. Nur, wenn ich nach dem Binnenaspekt der herbeigespielten fiktiven Situation frage, geht mir ihr Sogcharakter auf. Wenn ich stattdessen auf der Perspektive eines Beobachters beharre, der jemanden auf zwei Leute zugehen sieht, ist der Sogcharakter von Anfang an verdeckt. Wir müssen uns aber beim Lesen gar nicht eigens fragen: Wie wäre es, wenn ich selbst … ?, sondern wir verstehen unmittelbar das Zeugnis von der Situiertheit, das der Erzähler gibt. Wir vollziehen beim Lesen unmittelbar den Binnenaspekt dieser herbeigespielten fiktiven Situation nach. Deshalb kann uns die literarisch fingierte Situation etwas über unsere je-eigene Situiertheit sagen. Und deshalb auch können wir überhaupt einander vom Hier, Jetzt und So erzählen. Wir konfrontieren jetzt, zur weiteren Verdeutlichung, den situativen Sog mit dem komplementären Phänomen der situativen Hemmung, das uns folgende, ebenfalls aus einem Text Dostojewskijs (der Ausführlich zur Problematisierung der Aktiv-passiv-Dichotomie vgl. das dritte Kapitel.
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Situation und Ereignis
Erzählung Die Sanfte) entnommene Passage herbeispielen soll. Der Erzähler spricht hier über die Begebenheit, die zu seinem unrühmlichen Abgang aus dem Soldatenberuf führte. Er war im Theater, es war Pause, man stand beisammen und unterhielt sich. Es fallen despektierliche Worte über den Hauptmann seines Regiments; er tut nichts. So wird es dann herumerzählt und zum Zeichen seiner Feigheit genommen. Er wehrt sich gegen die Vorwürfe, zieht sich stolz und gekränkt aus seinem Regiment zurück, wird Pfandleiher und erzählt irgendwann seinem Hausmädchen von der Situation, die für ihn ein allüberschattendes biographisches Gewicht erlangt hat: Ich schilderte ihr, daß ich damals am Büfett in der Tat feige gewesen sei, und zwar wären sowohl mein Charakter als auch mein ewiger Argwohn daran schuld: die Situation hätte mich damals verwirrt und ebenso das Büfett; verwirrt hätte mich ferner auch dieses: wie es wohl sein würde, wenn ich plötzlich vorträte und ob es nicht komisch wirken würde? Meine Feigheit bezog sich nicht auf das Duell, sondern darauf, daß ich lächerlich wirken könnte […] (61). 23
Die Hemmung ist – prima facie im Gegensatz zum Sog – eine Unterbrechung des Tuns, eine Art zur Untätigkeit verurteilender Lähmung. Aber diese Unterbrechung geschieht dadurch, dass eine primäre Verhaltensrichtung von einer zweiten widerlaufenden durchkreuzt wird: Was, wenn ich das da Geschehende falsch einschätze? Wenn es unangemessen ist, vorzutreten? Die Hemmung ist der Einbruch der das Tun unterbrechenden Reflexion. Gehemmt zu sein bedeutet sich zu fragen: In welcher Situation bin ich eigentlich? Wie verhalte ich mich also angemessen? Hemmung ist das Hin-und-her-Gerissenwerden zwischen verschiedenen Richtungen des Tuns. Der Gehemmte bleibt also nur qua Jemand (d. h. aus der Perspektive des Dritten neben Situation und Situiertem) scheinbar untätig. Der Binnenaspekt der Hemmung ist ein Hin-und-Her-Gerissenwerden zwischen Möglichkeiten, sich in einer Situation zu verhalten; Zaudern ist als Schwanken zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens nichts anderes als Gehemmtsein: In der Relativierung einer Verhaltensmöglichkeit durch eine andere erfährt die erste eine Hemmung Aus dem Russischen von Johannes von Guenther. Interessanterweise gebrauchen beide Übersetzer den Ausdruck ›Situation‹, während im russischen Original in keiner der beiden Passagen das direkte Äquivalent situacija steht: Beide Übersetzer machen ausdrücklich, was Dostojewskij nicht eigens benennen muss, um es darzutun – ich verdanke diesen Hinweis Natalia Lakman.
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Die Annäherung an das Phänomen der Situation
und werde ich in den Zwist dieser Möglichkeiten gezogen. Noch der pure theoretische Zweifel hat dies an sich, dass eine zweite, der ersten widerlaufende Möglichkeit die erste relativiert. Die situative Hemmung erfasst unmittelbar die Mehrdeutigkeit des So. In unserem Beispiel schwankt Dostojewskijs Erzähler zwischen den zwei entgegengesetzen Möglichkeiten, hervorzutreten oder an sich zu halten. Weshalb aber schwankt er? Weil das So, das sich ihm darbietet, mehrdeutig und damit auch die Frage nach dem angemessenen Verhalten offen bleibt. ›Was genau geschieht da gerade eigentlich‹ ? ›Wie ist das, was ich da sehe, zu nehmen‹ ? oder kurz: ›In welcher Situation bin ich hier und jetzt?‹ Mehrdeutigkeit ist nichts, was erst die theoretische Reflexion auftut, indem sie die Vorurteile der Tagtäglichkeit problematisiert, sondern gehört wesentlich schon zu jedem Verhältnis zur je-eigenen Situation. Nur ist unsere gewöhnliche Weise, mit ihr umzugehen, die, ihrer nicht zu achten, die Situation hinter uns und ihre Mehrdeutigkeit unbeachtet stehen zu lassen. Nur was einen beobachtenden Dritten angeht, bleibt der Gehemmte untätig, reglos, gelähmt. Wir selbst dagegen erfahren die zaudernde Gehemmtheit als Bewegung des Hin-und-Her-Gerissenwerdens zwischen konfligierenden Deutungen des So und den ihnen jeweils entsprechenden Verhaltensweisen. Der Figur des revidierten Irrealis entspricht hier die eines irrealen Optativs, dessen allgemeine Formulierung lautet: ›Ich hätte … sollen/wollte eigentlich …, aber in der Situation …‹. Die Hemmung ist der Einbruch der Reflexion, der Rückbeugung auf sich selbst. In der Hemmung hat sich die Reflexion noch nicht ausgebildet zur thematisch-expliziten Reflexion, die ihr Thema differenzierend zur Klarheit bringt, sondern ist als einbrechende erst in ihrem Anfangsstadium: in der Ungeschiedenheit der Verwirrung. ›Was tun?‹, ›Wie sich verhalten?‹ – die Verwirrung ist gekennzeichnet durch die Verlegtheit einer Verhaltensrichtung; das Sich-Werfen in eine Verhaltensmöglichkeit erstarrt in der Rückbeugung auf es, d. h. in der (nicht notwendigerweise thematisch-expliziten) Frage: ›Ist das, wozu ich hier und jetzt im Begriff bin, das angemessene Verhalten?‹ Der Gehemmte ist verlegen – verlegen darum, eine Richtung des Verhaltens einzuschlagen: Er zaudert, d. h. schwankt zwischen möglichen Richtungen. Besser sagen wir allerdings nicht: ›der Gehemmte‹, sondern: ›wir je selbst, insofern wir vertraut sind mit dem Phänomen der Hemmung‹. Denn situativen Sog und situative Hem48 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Situation und Ereignis
mung – Situation tout court – müssen wir gemäß dem eigenen methodischen Anspruch, der jetzt eigens zu thematisieren ist, deskriptiv so in den Blick bekommen, wie wir selbst sie je an uns selbst erfahren.
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Die Methode der Untersuchung
Erfahrung und Ontologie Existieren, so soll im Folgenden entwickelt werden, bedeutet Situiertheit: Nicht anders denn als unausgesetzt in je-dieser Situation finden wir uns selbst, solange wir existieren. Was meint aber hier die Rede davon, dass wir uns selbst finden? Wie ist es, sich – in dem hier intendierten Sinne – zu finden? Es ist immer schon jetzt gerade so, da ich zurückkommend auf mich selbst artikuliere, wie es ist, ich selbst zu sein. Dem entnehmen wir zunächst, dass das Zurückkommen-aufsich-selbst viel eher den Charakter eines ›Jetzt, da …‹ denn eines ›Ich denke‹ bzw. ›Ich denke: …‹ hat; darüber hinaus bemerken wir, dass zum Existieren der Situierten die Möglichkeit gehört, dergestalt auf sich selbst zurückzukommen: Diese bildet einen Grundzug des Existierens, den es zu explizieren gilt. Zunächst aber ist das erste, was der Ordnung des Wissens nach über das Existieren zu sagen ist: Existieren heißt Erfahren. Erfahren ist das Gewinnen von Vertrautheit mit dem, was ist. Diese Vertrautheit ist aufbewahrt in der Sprache, die wir über das, was ist, sprechen. Die gewonnene Vertrautheit mit etwas kommt in meinem Sprechen von ihm zu Wort. Mehr noch: Vertrautheit mit dem Seienden als solchem wäre ohne Sprechen vom Seienden gar nicht denkbar. Dass Erfahren ein Vertrautwerden mit dem Seienden ist, heißt, dass wir uns erfahrend die Gewohntheit dessen, was um uns ist, erwerben und ebenso die gewohnten Weisen mit ihm umzugehen. Routine und Überdruss am ad nauseam Gewohnten und Gewöhnlichen können sich überhaupt nur insofern einstellen, als Erfahren immer ein Vertrautwerden mit dem Seienden ist. Wir wohnen, indem wir erfahrend hineinwachsen in die Welt, deren Vertrautheit wir – im Laufe der Zeit, d. h. im Verlaufe unseres Erfahrens – gewinnen. Existieren ist, insofern es erfahrend die Gewohnheit des Seienden gewinnt, ein Wohnen. 50 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Erfahrung und Ontologie
›Wohnen‹ selbst bedeutet über das bloße Irgendwo-Wohnhaftigsein hinaus: sich aufhalten unter vertrautem Seienden. 24 Sprechend halten wir uns in der Vertrautheit des Seienden. Weil die Vertrautheit so wesentlich zum Wohnen gehört, deshalb ist eine Aussage wie etwa ›Ich wohne in Heidelberg.‹ viel idiomatischer als ›Ich wohne in Deutschland.‹, wogegen sich das Sprachgefühl deshalb sträubt, weil ›Deutschland‹ als Umkreis des Wohnens zu weit und damit zu unvertraut ist: Vertraut bin ich mit dem Nahen. Der Umkreis des Nahen fällt einerseits nicht zusammen mit dem Radius dessen, was räumlich in geringer messbarer Distanz zu uns vorfindlich ist, andererseits schließt er es als Umgebung des tagtäglichen Aufenthalts ein. Für Heidegger hat eben dieser Aufenthalt inmitten des Vertrauten immer den Menschen als Menschen ausgezeichnet; so heißt es in dem 1951 gehaltenen Vortrag Bauen Wohnen Denken – chronologisch also lange nach Sein und Zeit, aber inhaltlich in enger Verwandtschaft zu den dortigen Darlegungen: »… ›ich bin‹, ›du bist‹ besagt: Ich wohne, du wohnst. Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist […] das Wohnen (2000, 149).« Ist aber ›Erde‹ in diesem Zitat zu lesen als: ›der Planet Erde‹ ? Ja, insofern das vertraute Nahe um mich ist, der ich leiblich an ein Hier und Jetzt gebunden bin: Ich stehe und gehe auf der Erde oder dem künstlichen Überzug, der sie (auch hier in Heidelberg) zu großen Teilen bedeckt. Nein, wenn man daran die Vorstellung des im All schwebenden Erdballs und einer extraterrestrischen Perspektive auf ihn und daran wiederum die Perspektive eines Blicks von Nirgendwo knüpft, der die Welt in ihrer Gesamtheit vor sich haben könnte, wie derjenige, der aus genügend großer Entfernung den blauen Planeten als einen Gegenstand vor sich hat. Denn ›ich existiere‹ heißt: ›Ich wohne in der Welt‹ und ›in der Welt wohnen‹ : ›inmitten des Vertrautem, d. h. unter Gewohntem sein‹. Insofern Erfahren ein Prozess, d. h. in seiner Diachronie, seinem Verlauf zu beschreiben ist, müssen wir von allem Gewohnten sagen, dass es einmal auch das Ungewohnte, das Neue gewesen sein muss. Erfahrung ist gerade der Prozess, in dem das Neue – mit der Zeit – zum Vertrauten wird. Dieser Prozess vollzieht sich, sofern und solange ich existiere. Zur Vertrautheit gehört ihr anfängliches Stadium der Vgl. Sein und Zeit: »›ich bin‹ besagt […]: ich wohne, halte mich auf bei … der Welt als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des ›ich bin‹ […] bedeutet wohnen bei …, vertraut sein mit … (54).«
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Die Methode der Untersuchung
Neuheit des Fremden. Dass Neues und Fremdes überhaupt da ist, als neu und fremd auftritt, ist der immer wieder neu sich vollziehende Anfang der Erfahrung, das anfängliche Stadium der Vertrautheit. Die prozessuale Verfasstheit der Erfahrung liegt darin, dass in ihr das Neue zum Vertrauten wird – selbst wenn diese Vertrautheit vielleicht nicht über das Anfangsstadium der relativen Unvertrautheit hinausgelangt. Es lässt sich mit Bezug auf den Prozess des Vertrautwerdens nicht von einem Stadium der Vollkommenheit sprechen. Wir könnten nicht sagen, wann etwas vollkommen vertraut ist – so, dass es vertrauter nicht werden könnte. Das Neu-und-neu des Erfahrens verbietet es, von Vollendung oder Vollendetheit zu sprechen: Jedem Vertrauten bleibt es vorbehalten, in Zukunft neu und in ungewohnter oder sogar nie gekannter Weise aufzutreten. Vertrautheit ist immer nur relative Vertrautheit, da von ihr kein Stadium der Vollkommenheit ausgesagt werden kann. Anders gesagt gehört zu aller Vertrautheit wesentlich die Unvertrautheit, d. h. die Unantizipierbarkeit zukünftigen Auftretens. Jetzt, da dies hier so auftritt, ist die Vertrautheit des Seienden durchwirkt mit der Unvertrautheit (Mehrdeutigkeit) dessen, was da gerade so ist. Die Vertrautheit des Seienden kann, solange Erfahren geschieht, d. h. verläuft, keine vollkommene sein. Und wäre sie einmal vollkommen, müsste das Erfahren selbst aufgehört haben, dann müsste der Tod schon die je-eigene Existenz geendet haben. Sobald das Unvertraute des Neuen nicht mehr in sie hineinsteht, ist auch keine Vertrautheit mehr: Solange ich existiere, erfahre ich das Neu-und-neu dessen, dem ich mich hier und jetzt gegenüber finde. Es wurde bereits der Zusammenhang von Vertrautheit und Sprache angesprochen; diesen drücken wir anders auch so aus: Reflexion ist Artikulation der Erfahrung und gehört ursprünglich zu ihr. Erfahren ist, soweit wir selbst mit ihm vertraut sind, reflexives Erfahren. Über schlechthin präreflexives Erfahren, etwa das eines Kleinkindes, können wir nur extrapolativ etwas sagen, ebenso über das (vermeintlich) schlechthin nicht-reflexive Erfahren eines Tiers: Vertraut sind wir mit solch einem Erfahren vor dem Eintritt in das ontogenetische Stadium der Reflexivität deshalb nicht, weil die Vertrautheit mit uns selbst qua Erfahrenden nur so weit reicht wie die Reflexion selbst. Sofern wir es überhaupt reflexiv fassen können, ist Erfahren eben reflexives Erfahren – unbesehen, ob im Einzelfall ausdrücklich auf es reflektiert wird oder nicht. 52 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Erfahrung und Ontologie
Auch indem wir, wie es etwa hier gerade geschieht, das Erfahren selbst eigens thematisieren, zeugen wir von seiner reflexiven Verfasstheit. Sofern ich erfahre, erfahre ich auch mich selbst als Erfahrenden. Reflexiv artikuliere ich, wie es ist, ich selbst zu sein. Ich artikuliere meine eigene Vertrautheit mit mir selbst, zu der, wie zu aller Vertrautheit, die Unvertrautheit des Neu-und-Neu gehört: Ich erfahre mich selbst neu und neu – jeweils jetzt, da es wieder und wieder so ist, in dieser Situation zu sein. Die Reflexivität ist daher nicht gleichbedeutend mit totaler Transparenz: Die reflexive Verfassung des Erfahrens gewährleistet keine erschöpfende Offenlegung und durchgängige Bestimmtheit der Erfahrung. Im Gegenteil erschließt erst sie deren Mehrdeutigkeit: Die Ungewissheit, wie das je Erfahrene zu nehmen sei, entsteht erst durch den Einbruch der Reflexion, die das primäre Verhalten hemmt, indem sie die Unvertrautheit des je Erfahrenen erschließt, dessen So mehrdeutig bleibt. Allerdings gebrauchen wir ›Reflexion‹ landläufig in zweierlei Sinne, weshalb an dieser Stelle eine kurze Klärung des hier intendierten Sinnes vonnöten ist: Wir sprechen zunächst davon, dass wir auf etwas reflektieren und meinen dann, dass wir es ausdrücklich thematisieren und zwar nicht nur flüchtig, sondern in entschiedener Zuwendung zu ihm: Dass etwas auffällt und die Aufmerksamkeit fesselt, ist der Anfang, wenn auch noch nicht selbst der Vollzug der Reflexion (in diesem Sinne nennt Platon [Theaitetos, 155 d] das Staunen den Anfang der Philosophie – ein Anfang allerdings, bei dem sie doch keinesfalls stehen bleiben darf, sondern über den sie immer wieder hinausdrängen muss). Weiterhin gebrauchen wir Reflexion in einem engeren Sinne als Rückwendung des Reflektierenden auf sich selbst. Reflexion ist dann keine Zuwendung zu etwas, sondern zu mir selbst, zu dem, von dem ich im Unterschied zu allem anderen nicht sage: ›… ist‹, sondern: ›ich bin‹. In den hier zu entwickelnden terminologischen Sinn des Begriffs gehen beide Momente ein: ›Reflexion‹ heißt im Folgenden das ausdrückliche Zurückkommen auf mich selbst als Erfahrenden, das ausdrückliche Thematisieren des eigenen Erfahrens. Das impliziert allerdings gerade keine Abkehr vom Erfahrenen, so als mache mich die Reflexion dafür blind, dass ich inmitten von solchem existiere, über das ich sage: ›… ist …‹ : »Wenn wir uns, wie man sagt, auf uns selbst besinnen, kommen wir im Rückgang auf uns von den Dingen her, ohne den Aufenthalt bei den Dingen je preiszugeben (Heidegger 2000, 159).« Reflexion ist die Thematisierung meiner selbst als im Verhältnis zum je Erfahrenen begriffen. Die Reflexion 53 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Methode der Untersuchung
schließt als Rückwendung auf mich die Dinge nicht aus, sondern ausdrücklich mit ein. Die Reflexion erst thematisiert sie als das Wozu meines Verhältnisses zu ihnen. Uns geht – um Husserl zu paraphrasieren – in der Reflexion nichts von der Welt verloren, sondern wir gewinnen die Welt ausdrücklich als das im Erfahren vor uns Kommende. Reflexion ist als der rückbezügliche Modus der Erfahrung, die Rückbeugung des Erfahrens auf sich selbst, die keine Abkehr vom Erfahrenen bedeutet, sondern im Gegenteil ausdrückliches Thematisieren des Erfahrenen als solchem: Auf etwas reflektierend, artikulieren wir – verlautbarend oder in foro interno – die Erfahrung, die wir mit etwas gemacht haben. Egal, worauf wir im Einzelfall reflektieren, die Reflexion betrifft dabei immer auch unser Erfahren selbst: Reflexion ist immer Rekursion des Erfahrens auf sich selbst; reflexiv erfahren wir unser eigenes Erfahren eigens und ausdrücklich. Insofern, als unser Erfahren reflexiv verfasst ist, nennen wir das, was wir als auf eine Weise seiend erfahren, ›seiend‹, insofern sagen wir: ›Im Erfahren kommt das vor uns, was ist.‹ Die Reflexivität des Erfahrens bedingt, dass dieses von Anfang eine ontologische Dimension an sich hat; die Erfahrung artikuliert sich und damit das erfahrene Seiende: »[es] gehört […] zur Erfahrung selbst, dass sie die Worte sucht und findet, die sie ausdrücken (Gadamer 1986, 421).« Die Artikulation des Seienden setzt eine Auffassung dessen voraus, was ›Sein‹ selbst bedeutet: Die Bedeutung des Verbs bestimmt die Bedeutung des von ihm gebildeten Partizips. 25 In diesem Sinne ist die reflexive Erfahrung als solche immer schon ontologisch oder zumindest proto-ontologisch. Die Erfahrung artikulierend gebrauchen wir den Ausdruck ›Sein‹, sagen wir ›sein‹ auf vielerlei Weise. Es ließe sich von Ontologie im Stadium ihrer Latenz sprechen: In diesem Stadium ist die Ontologie keine Metasprache – wobei ich darunter hier alle Sprachen verstehe, die sich aus der Normalsprache heraus auf eine Ebene erheben, von der aus sie sich als terminologisch rigorose Revision der tagtäglichen, ›vorwissenschaftlichen‹ Redeweise zur Normalsprache ins Verhältnis setzen, indem sie eine sie korrigierende terminologische Rede ausbilden. Die tagtägliche Rede und das wisAllerdings kann es, wenn die heideggersche ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem nicht bedacht wird, zu einem Gebrauch von Sein als Kollektivsingular kommen; Sein ist dann τὰ ὄντα, das Seiende im Ganzen bzw. schlicht das, was ist. So wird das Verb verkehrterweise vom Partizip her gedacht.
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Erfahrung und Ontologie
senschaftliche Sprechen sind Proto-Ontologien, d. h. Sprachen vom Seienden, die nicht in der Absicht gesprochen werden, Sein und Seiendes als solches zu explizieren. Diese Konzeptionen bleiben solange implizit, wie nicht eine philosophische Ontologie, der es um das Sein und das Seiende als solches zu tun ist, sie expliziert, d. h. sie auswickelnd und entbreitend zur Expliziertheit bringt. Die Ontologie als Teildisziplin der Philosophie ist die, die ihr Latenzstadium hinter sich gelassen hat; reflexives Erfahren überhaupt ist stillschweigend ontologisch – d. h. ontologisch, ohne explizit zu thematisieren, was ›Sein‹, was ›seiend‹ heißt. Philosophische Ontologien sind Explizierungen (entbreitendes Ausdrücklichmachen) dieser im tagtäglichen Sprechen – diesseits von philosophischem Interesse – implizit bleibenden Proto-Ontologien. Das bedeutet: Ontologien sind irreduzibel. Eine Ontologie greift nicht das einfach Seiende auf, um es erst in die Sprache zu überführen, sondern die Erfahrung des Seienden ist selbst immer schon ontologisch, weil das Seiende artikulierend. 26 Als Sprechen vom Seienden und vom Sein – von dem, was ist oder nicht ist und davon, dass es ist oder nicht ist und was bzw. wie es ist, gesetzt, dass es ist – ist die alltägliche Rede proto-ontologisch, d. h. enthält schon die Möglichkeit ihrer Ausformulierung zum expliziten Sprechen über Seiendes und Sein als solches. Philosophische Ontologien sind Ausbuchstabierungen unseres Sprechens vom Sein. Sie geben eine explizite Antwort auf die Fragen: Was heißt seiend? Was heißt Sein? Sie sprechen so nicht mehr vom Seienden, ohne es als solches zu thematisieren, sondern über das Seiende als solches, indem sie es selbst zum Thema machen, es als eine philosophische Problematik entbreiten. Qua Sprachen über das Seiende als solches explizieren sie, was es heißt, wenn wir von etwas sagen, es sei, sei irgendetwas oder sei irgendwie. Insofern sind philosophische Ontologien auch Metasprachen in dem eben skizzierten Sinne. Sie arbeiten die der Normalsprache inhärenten Auffassungen von ›Sein‹ und ›seiend‹ heraus, indem sie sie zur Ausdrücklichkeit bringen. In philosophischen Ontologien kommen Sein und Seiendes in einer Sprache über sie ausdrücklich zu Wort: Dieses
Wenn man mit Hegel die »das gemeine Thun im wirklichen Leben begleitende Sprache […] bewußtlos natürlich und naiv (1951, 558)« nennen kann, so deshalb, weil diese sich ihrer proto-ontologischen Verfasstheit nicht bewusst ist. Vgl. hierzu auch das heideggersche Begriffspaar ›ontologisch‹ – ›vorontologisch‹ (Sein und Zeit, 12 ff.).
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Die Methode der Untersuchung
›über‹ ist nicht das eines Übergriffs der Sprache auf das an sich nichtsprachlich verfasste Sein und Seiende: Ontologien greifen nicht über auf nichtsprachliches Seiendes, sondern zurück auf das tagtägliche Sprechen vom Seienden. Längst scheint es indes angezeigt, dass wir uns über unseren Gebrauch von ›Sprache‹ erklären, dass wir sagen, was uns denn hier eine Sprache – zudem eine Sprache über das Seiende – ist. Dass dies bisher verabsäumt wurde, hat einerseits seinen (nach meinem Dafürhalten: guten) Grund darin, dass so ›etwas‹ wie eine Sprache, gesetzt, wir dürfen Sprache überhaupt als ein Etwas und verschiedene Sprachen als verschiedene Etwas auffassen, dass so etwas wie eine Sprache, das wir nicht einmal unbefangen ein Etwas nennen dürfen, sich bündiger Fassung und Festzurrung verweigert. Andererseits lässt sich über das hiesige Konzept der Sprache folgendes sagen: Zunächst geht es uns um Sprachen über … (z. B. das Sein und das Seiende) – von den zunächst paradigmatischen, da am einfachsten fassbaren Sprachen, den Nationalsprachen, sagen wir nicht sie seien Sprachen über … : das Deutsche, das Englische etc. sind Sprachen tout court. Deutsch und Englisch bilden als zwei Sprachen zwei systemische Ganzheiten, innerhalb derer jeweils bestimmte Sätze generiert werden können. Die verschiedenen Disziplinen der Sprachwissenschaft beschreiben einzelne Sprachsysteme unter phonetischen, morphologischen, syntaktischen etc. Gesichtspunkten und vergleichen die einzelnen Systeme hinsichtlich dieser Aspekte. Die operationale (generative) Geschlossenheit der Sprachsysteme ist gemeint, wenn hier von Ontologien als Sprachen die Rede ist: Streng durchgeführt durchherrscht eine bestimmte Konzeption von Sein alles gemäß ihr Beschriebene; so macht sie ein Sprachganzes aus (wie in anderem Sinne auch die Nationalsprachen). Eine Sprache über das Sein ist daher ein Rahmen, innerhalb dessen, d. h. zu dessen intrinsischen konzeptuellen Bedingungen das Seiende Ausdruck findet. Die Nationalsprachen sind ineinander übersetzbar: Gibt es ein Analogon dieser Übersetzbarkeit hinsichtlich der Sprachen, auf die wir hinauswollen? Was im Rahmen der einen dieser Sprachen gesagt werden kann, kann in gewissem Sinne auch im Rahmen der anderen gesagt werden. Nur in gewissem Sinne allerdings, in einem anderem Sinne nicht: Das Gesagte erfährt eine ursprüngliche Differenzierung durch seine sprachliche Fassung. Was je gesagt wird, ist dadurch, dass es gesagt und so gesagt wird, immer schon differenziert: Die Situation ist immer schon differenziert in ihre ursprüngliche Gestalt und 56 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Erfahrung und Ontologie
die der Lage. Wir sind ursprünglich und immer schon differenziert in die Gestalt der Person und die des Situierten. Das Übersetzen ist ein binnensprachliches Geschehen: Wir übersetzen zwar in die eine Sprache, aber dann aus einer anderen und nicht in die Sprache schlechthin. Aus dem Gesagten folgt also nicht, es gebe etwas der Sprache Voraufgehendes, das dann sprachlich differenziert würde: Die ontologische (deskriptive) Differenziertheit des Seienden ist irreduzibel. Als eine Sprache über das Seiende ist eine Ontologie niemals dessen neutrales Medium, in dem das Seiende konserviert ist wie das Insekt im Bernstein, sondern mit der Festlegung auf eine Ontologie – eine Sprache über das Seiende als solches – geben wir vor, was überhaupt als seiend angesprochen werden kann, indem wir eine Auslegung von ›sein‹ und ›seiend‹ vorgeben. So ist es zu verstehen, wenn z. B. Sellars von Ontologien als Rahmen (frameworks) spricht: Im Rahmen dieser Sprache über das Seiende bedeutet ›Sein‹ dies, im Rahmen jener jenes, wodurch erst festgelegt wird, was überhaupt auf welche Weise als ›seiend‹ angesprochen werden kann. Jede Sprache, die Sein und Seiendes ausdrückt, unterdrückt durch ihre Ausdrucksweise mögliche andere Konzeptionen des Seienden und des Seins. 27 In diesem Lichte ist das Sprachdenken des späten Heideggers zu verstehen, für das ein charakteristischer Satz lautet: »Der Mensch gebärdet sich, als sei er Bildner und Meister der Sprache, während sie doch die Herrin des Menschen bleibt (2000, 148).« Nicht der Mensch wendet die Sprache auf das Seiende – darunter auch auf sich selbst – an, wie auf etwas, das einfach vorläge, um dann sprachlich ausgedrückt zu werden, sondern der Ausdruck der Sprache ist primordinal: Er gewährt überhaupt erst die Vertrautheit mit dem Seienden. Wenn es also oben hieß, die Sprache verwahre die Vertrautheit des Seins bzw. bewahre sie auf, war dabei nicht an das Verwahren im Sinne des Konservierens gedacht, denn Konserviertes und Konservierendes verhalten sich zueinander so, dass jenes diesem voraufgeht: Im Falle von Ausgedrücktem und Ausdruck herrscht indes keine solche Vorgängigkeit jenes vor diesem. Im Folgenden sollen zwei solcher konzeptueller Rahmen unterschieden und gegeneinander abgehoben werden. Nur im Rahmen
Vgl. z. B. Time and the World Order (594 ff.) und Foundations for a Metaphysics of Pure Process (53). Ein ähnlicher Gebrauch des Ausdrucks findet sich bei Strawson (24).
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Die Methode der Untersuchung
einer von ihnen ist die Situation als solche, d. h. in ursprünglicher Gestalt; im Rahmen der anderen kann sie nur als Lage oder Ereignis sein. Nur im Rahmen der einen bin ich als Situierter, im Rahmen der anderen ist anstelle meiner die Person JB. Hierin liegt auch der Grund, warum die methodischen Ausführungen in der Abfolge der Kapitel den sachhaltigen Erörterungen nicht voranstehen: Die Methode ist hier kein auf einen indifferenten Stoff zur Anwendung gebrachtes begriffliches Instrumentarium, das zu diesem Zweck schon bereitläge, sondern die Situation lehrt uns selbst die Methode ihrer adäquaten Beschreibung, d. h. die Sprache, in der wir sie konzeptualisieren müssen. Was ist aber die der Situation gemäße Sprache? Die Situation ist immer diese und als solche immer flüchtig: Jede einzelne Situation verläuft nur in einem Horizont vergangener und zukünftiger Situationen. Jede Situation ist sowohl zur Vergangenheit als auch zur Zukunft hin offen. Keine Situation ist eine in sich geschlossene Einheit, sondern es ist immer schon diese Situation geworden, ohne dass ein Bruch oder eine Fuge zwischen ihr und der voraufgegangenen Situation zu verzeichnen gewesen wäre; ich bin immer schon in je-dieser Situation. Als je-diese ist die eine Situation einzeln in der Art der Unwiederholbarkeit und Unvertretbarkeit. Nur ich bin in meiner Situation und meine Situation ist immer nur diese, in der ich hier und jetzt bin bzw. die hier und jetzt um mich ist. Alle Situationen, die ich von anderen aussage, sind relativ zu mir nur Ereignisse. Alle Situationen, die man aufgrund bestimmter Eigenschaften oder ausgeübter Funktionen von sich aussagt – die ich von mir so wie von dir, so wie unterschiedslos von jedem von uns aussage – sind nur Lagen, d. h. bestimmte Konstellationen von Umständen, die eine typische Situation definieren. Jeder, der mir hinreichend gleicht, kann ebenso wie ich in die Lage geraten, in der ich zufällig bin. Wir müssen also Sorge tragen, uns selbst – den aussagenden Einzelnen, der wir je selbst sind – nicht aus unserer Sprache über das Seiende auszutilgen: Wir müssen die atypische, die jeweils allein-meinige Situation in den Blick bekommen. Wir dürfen nicht als Niemand von Nirgendwo über die Situation sprechen, denn die Situation ist eben der einem solchen Niemand notwendig verborgene Binnenaspekt, dass es hier und jetzt so ist. Wir dürfen die Situiertheit nicht von der Warte eines Beobachters beschreiben; sie fordert, von innen artikuliert zu werden: Als Situierte und aus der Vertrautheit mit dem Phänomen der Situation müssen wir von ihr sprechen. 58 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Erfahrung und Ontologie
Verdeckt bleibt uns der Binnenaspekt der Situation dann, wenn das Seiende als das von einem Beobachter wahrheitsgemäß 28 Konstatierbare gefasst wird, d. h. als der Bestand der Welt und die Welt selbst als Gesamtheit des tatsächlich Bestehenden zu einem Zeitpunkt. Die der Verdeckung zugrundeliegende Ontologie kann deshalb eine quantitative oder summative heißen: ›Seiend‹ heißt in ihrem Rahmen das, was die Menge des als bestehend, d. h. tatsächlich gegeben Verzeichen- oder Konstatierbaren um den Wert eins vergrößert. Das Seiende ist im Rahmen einer quantitativen Ontologie die Gesamtheit der Bestandsstücke, ein Seiendes, ein Bestandsstück, ist ein Einzelposten im Gesamtinventar des Bestehenden. ›Sein‹ bedeutet im Rahmen der quantitativen Ontologie: ›Bestehen‹, d. h. wahrheitsgemäße Konstatierbarkeit. Vom Bestehenden kann wahrheitsgemäß gesagt werden, es sei. Zum Bestand der Welt gehören unter anderem Personen, Subjekte, die durch bestimmte Eigenschaften als Exemplare dieser Kategorie ausgewiesen, durch andere innerhalb dieser individuiert sind. Die zeitliche Verfasstheit dieses Bestandsganzen liegt darin, dass jedes Bestandsstück im Wandel ist, d. h. zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Eigenschaften aufweist. Personen, so etwa Strawson, haben ›Bewusstseinszustände (states of consciousness)‹, die sie je von sich selbst aussagen und anderen Personen zuschreiben; 29 diese beginnen, dauern an und enden, sind allerdings für ihre Dauer selbst Bestandsstücke des Gesamtbestands – als welche sie freilich ontologisch sekundär sind gegenüber den Personen, die sie haben. Sie machen den Wandel der Person aus, von der sie je wahrheitsgemäß ausgesagt werden können. Die Reihung der Ereignisse ist nichts anderes als Wandel der Eigenschaften dessen, was je als bestehend konstatiert werden kann: »[…] außer sich wandelnden Dingen und Personen gibt es keine Ereignisse (Sellars 1981a, 43).« 30 Dies ist der quantitative ontologische Ansatz, den Nagel in das Bild des Blicks von Nirgendwo gefasst hat. Er hat dabei völlig richtig gesehen, dass ich im Rahmen solch einer Ontologie nicht bin, sondern dass anstelle meiner die Person JB ist. Eben dies – so meine These – ist der Sinn des
Zur Wahrheitsproblematik vgl. unten Kap. 5. »Each of us distinguishes between himself and states of himself on the one hand, and what is not himself or a state of himself on the other (87).« Vgl. S. 90 zu ›states of consciousness‹. 30 »[…] there are no events in addition to changing things and persons.« 28 29
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Die Methode der Untersuchung
in seiner ganzen ontologischen Tragweite begriffenen heideggerschen Man: Das Man ist eine Sprache über den Einzelnen, in der dieser nur als ein Jemand unter anderen figuriert, weil der, der sie spricht, sich selbst als dieser jenige aus seinem eigenen Sprechen austilgt. ›von Nirgendwo‹ heißt: als niemand über die Welt als All des Bestehenden oder Tatsächlichen zu sprechen; das ist gleichbedeutend damit, sich selbst nur als einen indifferenten Jemand, d. h. als Teil des Gesamtbestands fassen zu können. Der Bestand ist das von einem Blick von Nirgendwo Erblickte und von ihm allein zu Erblickende. Indem ich zu den konzeptuellen Konditionen der quantitativen Ontologie spreche, tilge ich aus meiner Konzeption, dass ich unausgesetzt in je-dieser unwiederholbaren und unvertretbaren Situation bin; dass es immer so ist, jetzt hier zu sein: Ich tilge die Phänomenalität selbst. Es geht hier infolgedessen darum, eine Ontologie der Phänomenalität zu entwerfen, eine Konzeption des Seienden als solchem vom Standpunkt des Situierten und der Situiertheit aus. Wir entwickeln sie in Abhebung gegen ihren ontologischen Widerpart, d. h. gegen die quantitative Ontologie des von Nirgendwo konzipierenden Niemand.
Quantität und Phänomenalität als ontologische Grundmöglichkeiten Es geht uns im Folgenden also darum, zwei ontologische Grundmöglichkeiten gegeneinander zu halten, um dadurch eine von beiden, die phänomenale Ontologie, gegen die quantitative Ontologie ins Relief zu setzen, sie in Abhebung gegen diese zu konturieren. Letztere hat also vor allem methodisches Interesse: Das innerhalb einer phänomenalen Ontologie Beschriebene hat sein Gegenstück in der Ontologie der Quantität. Was etwa im Rahmen jener die Situation ist, ist zu den Bedingungen der quantitativen Ontologie beschrieben die Lage. Was in jener als Situierter zu beschreiben ist, ist in dieser die Person. Und so hat alles Phänomenale sein quantitatives Schema. 31 Die Gegenüberstellung der Phänomene und ihrer quantitativen Schemata ge-
Es ließe sich also der numerischen Differenz zweier Einzelner eine deskriptive Differenz gegenüberstellen: Das numerisch eine und selbe ist z. B. dadurch deskriptiv binnendifferenziert, dass es in zwei ontologischen Rahmen beschreibbar ist.
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Quantität und Phänomenalität als ontologische Grundmöglichkeiten
schieht dabei immer zu dem Ende, jene beschreibend sehen zu lassen. Deshalb geht es in den Ausführungen zur quantitativen Ontologie nicht darum, eine bestimmte Schule der philosophischen Tradition zu kritisieren oder gegen einzelne in der Tradition vorgetragene Lehren zu streiten, obwohl sich das Ausgeführte doch immer als Kritik verschiedener Ansätze und Lehren lesen lässt – nur ist diese Auseinandersetzung mit einzelnen faktisch vertretenen Positionen nicht die leitende Absicht in der Darstellung der quantitativen Ontologie. Heidegger gewinnt den Begriff des Bestands aus dem des Bestellens: Der Bestand ist das auf eine Funktion abgestellte Seiende, das Seiende, insofern es dazu bestellt werden kann, eine bestimmte Wirkung an einem anderen zu zeitigen: Qua Bestandsstück kann etwa der Fluss dazu bestellt werden, die Turbine anzutreiben. Diese Wirkung ist insofern bestellbar, als sie vorhersagbar und deshalb auch programmierbar ist. Das Bestellen ist ein Vorstellen (Konzipieren) des Seienden, das darin aufgeht, dieses aufeinander abzustellen; das aufgeht im Ausschreiten der Möglichkeiten, dieses Seiende an einem anderen eine bestimmte Wirkung tun zu lassen – es auf diese Wirkung zu programmieren –, um diese Wirkung dann selbst wieder auf eine Funktion abzustellen: Die Turbine treibt das Kraftwerk, das Kraftwerk produziert Strom etc. pp. Dass dabei der Fluss strömt, diese Eigenschaft des Flusses, macht ihn bestellbar dazu, eine Turbine anzutreiben; dass diese sich infolgedessen bewegt, macht sie wiederum geeignet, einen Generator anzutreiben: Die Eigenschaften des Seienden disponieren es dazu, in bestimmten Kontexten eine bestimmte Funktion auszuüben. Eigenschaften sind Dispositionen zu bestimmten Funktionen: Die Personen, die zu einem Zeitpunkt im Gesamtbestand zu verzeichnen sind, fungieren zu diesem Zeitpunkt aufgrund bestimmter Eigenschaften ihrer auf unterschiedliche Weise in unterschiedlichen Lagen. Seiendes von der Art des Flusses und der durch ihn angetriebenen Turbine und das in ihn gebaute Wasserkraftwerk sind in ihren Dispositionen durch die Naturgesetze determiniert und daher auf bestimmte – vorhersagbare und deshalb programmierbare – Wirkungen zu bestellen. Durch das Kombinieren zweier Bestandsstücke lässt sich eine Wirkung erzeugen. Diese Wirkung ist wiederhol- und daher neu und neu abrufbar: »Das Wesensmerkmal kausaler Eigenschaften«, so Sellars, ist »ihre analytische Verbindung mit hypothetischen Konditionalsätzen; dass etwas wasserlöslich ist, bedeutet, dass es, wenn es ceteris paribus in Wasser getaucht würde, sich auflösen würde 61 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Methode der Untersuchung
(1981a, 37).« 32 Das Wissen um diese analytische Verbindung der kausalen Dispositionen mit Bedingungen, unter denen sie abzurufen, d. h. auf das Tun einer Wirkung einzustellen sind, bedeutet die Macht, kausales Wirken hervorzurufen. Das primäre Erzeugnis der Technik sind keine Artefakte und keine verschiedenen Technologien, sondern programmierbare Wirkungen: Die technische Neuerung besteht darin, eine neue Wirkung zu erzeugen: Technische Neuerung ist Ausweitung der Macht, des Machenkönnens, dass … Indem es in einen kausalen Zusammenhang mit anderem Seienden gestellt wird, wird das Seiende darauf eingestellt, eine bestimmte Wirkung zu tun. Jede steuernde und überwachende Funktion, die ein Mensch innerhalb solcher durch eine bestimmte Zusammenstellung und Anordnung bestimmter Bestandsstücke erzeugbarer Zusammenhänge ausüben kann, ist beschreibbar als eine bestimmte Menge an Aufgaben, mit denen er sich konfrontiert finden kann; diese erfordern bestimmte Kenntnisse darüber, wie diese Aufgaben zu bewältigen sind. Wer das korrekte Funktionieren eines Wasserkraftwerks zu überwachen und sicherzustellen hat, muss in bestimmten Lagen (angesichts bestimmter Aufgaben) zu bestimmten Reaktionen in der Lage sein. Technik ist Macht über die Kausalität selbst, die Indienstnahme des Kausalitätsprinzip durch das programmierte und überwachte Erzeugen kausaler Wirkungen. Technik bedeutet die Programmierbarkeit kausaler Abläufe. Heidegger hat selbst auf die mögliche Missdeutung seiner Technikkonzeption hingewiesen, die darin läge, die Technik als ein Mittel aufzufassen, das der Mensch für seine Ziele einsetzt. Diese Auffassung würde bedeuten, dass man die Technik selbst technisch dächte, d. h. dass man an sie nur den Maßstab anlegt, den sie selbst an das Seiende anlegt (vgl. 1994, 58). Die Technik, in dem allumfassenden Sinne, den Heidegger intendiert, ist eine Auffassung des Seienden im Ganzen, in der es möglich ist, mit dem Seienden in der Art des Bestellens-zu … und Abstellens-auf … zu verfahren. Die Technik setzt als Bedingung ihrer Möglichkeit eine Sprache – eine Ontologie – voraus, in deren Ausdruck das Seiende hinsichtlich seines Potenzials, in bestimmten Zusammenhängen auf bestimmte Weise zu fungieren bzw. eine bestimmte Wirkung zu zei»The essential feature of causal properties is their ›iffyness‹ – their analytic connection with subjunctive conditionals. Thus, for an item to be water soluble is for it to be such that, ceteris paribus, if it were in water, it would be dissolving.«
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tigen, zum Vorschein kommt: Deshalb müssen wir an die Technik einen ontologischen Maßstab anlegen und nicht den, den die Technik selbst an das Seiende anlegt. Es macht dabei keinen grundsätzlichen Unterschied, ob ein makroskopisches Bestandsstück wie der Fluss, der ein Wasserkraftwerk antreibt, als Beispiel fungiert oder etwa die Energiegewinnung aus der Spaltung des Atomkerns. 33 Ob wir es mit den Teilchen der Mikrophysik oder aber mit den mittelgroßen Dingen zu tun haben spielt m. a. W. für die Sprache, in der sie konzipiert werden, keine Rolle. Dergestalt ist die Technik das in Kausalzusammenhänge stellende Abstellen des Seienden auf eine Funktion und setzt als solche eine bestimmte Sprache über das Seiende voraus. Diese ermöglicht das für die Technik charakteristische Stellen und heißt deshalb: ›das Gestell‹ (oder ›Ge-stell‹, wie Heidegger anfangs auch schreibt). Dieses ist deshalb die »Versammlung des Stellens«, weil alles Stellen des Seienden sich nur in ihrem Rahmen vollziehen kann (ebd., 32). Heidegger, der den Begriff des Bestands bekanntermaßen in seiner Spätphase entwickelt hat, hat in dieser Spätphase ebenso bekanntermaßen sein Denken nicht mehr derart ausbuchstabiert, wie es etwa in Sein und Zeit oder auch in Die Grundbegriffe der Metaphysik noch geschah. Deshalb hat er das Gestell auch nicht grundsätzlich ontologisch gefasst; m. a. W. liegt sein Hauptaugenmerk nicht darauf, dass das Gestell eine Sprache ist, sondern auf seiner Interpretation als Stadium der ›Seinsgeschichte‹. Er unterlässt deshalb eine ontologische Ausbuchstabierung des Gestells, die neben der neuen seinsgeschichtlichen Fragestellung nur noch von sekundärem Interesse ist. Umgekehrt sei hier von Heideggers seinsgeschichtlicher Problematik abgesehen und die ontologische Problematik verfolgt. Die Auffassung des Seienden als Bestand ist eine quantitative Konzeption dieses Seienden. Eine solche verfährt atomistisch: Sie analysiert das als Gesamtheit alles Seienden gefasste Sein in seine logischen Atome, die numerisch einzelnen Bestandsstücke. Unter diesen herrscht eine bestimmte ontologische Gewichtung: Dinge und Personen – Substanzen –, so die in der Tradition vorherrschende Variante, haben einen ontologischen Primat vor den Eigenschaften, die sie haben und den Ereignissen, die sich an ihnen vollziehen. Es hat Die mikrophysikalische Reformulierung der makroskopischen Bestandsstücke, in der diese selbst wieder aus Molekülen, Atomen, Elementarteilchen ist ontologisch konservativ, d. h. verbleibt im Rahmen der Bestandsontologie.
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Versuche gegeben, diese Gewichtung umzudrehen: Sellars, der einerseits wie zitiert den ontologischen Primat der Substanzen betont, hat versucht, eine Ontologie absoluter Prozesse zu skizzieren, d. h. eine Sprache, in der die ontologische Gewichtung von Ding und Ereignis umgekehrt wird. 34 Dies sind allerdings nur zwei Varianten der quantitativen Ontologie: Die Aufgabe einer Substanz- zugunsten einer Prozessontologie bedeutet per se keinen Sprung aus dem Rahmen der Quantität. Dieser Atomismus betrifft sowohl den Gesamtbestand, der als kategorial gegliederte Menge aller Bestandsstücke gefasst wird, als auch das einzelne Bestandsstück, das als Menge seiner Eigenschaften ausgelegt wird. 35 Es spielt, was den ontologischen Ansatz angeht, keine Rolle, ob das einzelne Bestandsstück, dabei als ›Träger‹ seiner Eigenschaften oder bloßes ›Bündel‹ ihrer gedeutet wird; es ist mit anderen Worten gleichgültig, wie hoch man den Substanzbegriff ontologisch hängt: Beide Auslegungen des Seienden als Substanz (logisches Individuum) – diejenige, die den Substanzbegriff stark macht ebenso wie ihr Widerpart – bewegen sich im Rahmen der quantitativen Ontologie. Sellars’ Entwurf einer prozessualen Ontologie beruht darauf, das, was wir zunächst und zumeist (im ›manifest image‹) für das basale Seiende halten, als Aggregat prozessualer Partikularien aufzufassen. Aber dieser alternative Ansatz zur klassischen Substanzontologie spricht letztlich dieselbe Sprache über das Seiende wie diese: die der Summativität, der Quantifizierbarkeit des Seins. Die quantitative Ontologie konzipiert Sein als Bestehen und das Seiende im Ganzen als Gesamtzahl alles Bestehenden (der Bestandsstücke), als Gesamtbestand des wahrheitsgemäß Konstatierbaren; das einzelne Seiende ist das numerisch einzelne Bestandsstück, das die Menge des Gesamtbestands um ein Element vergrößert. Ein Element aus der Menge des Gesamtbestands zu entfernen, verändert nur die Whiteheads Process and Reality wäre in diesem Kontext selbstverständlich ebenfalls als prominentes Beispiel zu nennen. Zu Sellars’ Versuch vgl. ausführlich unten, Kap. 4. 35 Der ontologische Gebrauch des Mengenbegriffs bedarf vermutlich der Abhebung gegen den der mathematischen Mengenlehre – eine ontologische Quasi-Axiomatisierung des Mengenbegriffs müsste vor allem drei solcher Axiome aufstellen: Erstens sind, was die Ontologie angeht, nicht alle Elemente von Mengen selbst wieder Mengen: Der Gesamtbestand ist einerseits als Menge von Eigenschaftsmengen beschreibbar; andererseits sind die Eigenschaften als Elemente der mengenmäßig gefassten Bestandsstücke selbst nicht wieder Mengen. Zweitens sind alle ontologisch relevanten Mengen finite, abzählbare Mengen; drittens enthält keine von ihnen sich selbst. 34
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Größe dieser Menge. Darüber hinaus zeitigt es auf die restlichen Partikularien keine Wirkung. Die Summanden des als Gesamtsumme des Bestehenden gedeuteten Seins stehen zueinander nur in der extrinsischen Relation, eben Teil des Gesamtbestands zu sein. Widerspricht das dem eben beschriebenen Charakterzug des Bestellens als Aufeinander-Abstellen des Seienden? Als solches muss das Bestellen doch an den Relationen zwischen Seiendem interessiert sein. Das ist richtig; allerdings gewährt erst die Atomisierung des Seienden in intrinsisch unverbundene Bestandsstücke deren freie Kombinierbarkeit. So gewährt sie dem programmierenden Bestellen erst die totale Ausweitung seines Spielraums: Wenn nichts von sich aus verbunden ist, so steht es frei, es jedwede Verbindung eingehen zu lassen. Insofern ist auch der ontologische Atomismus radikaler als die physikalische Atomisierung des Seienden: Die Atome der Physik wechselwirken, während die Bestandsstücke qua Eigenschaftsmengen wahrhaft summativ gedacht werden: Das Fehlen eines Bestehenden (einer Eigenschaft eines Bestehenden) hat auf den Rest des Bestands (den Rest der Eigenschaften eines Bestehenden) keine Auswirkung. 36 Die Bestandsstücke sind nur dadurch extrinsisch aufeinander bezogen, dass sie zusammen den Gesamtbestand ausmachen, so wie die Eigenschaften (kausalen Dispositionen) eines Bestandsstücks nur extrinsisch dadurch aufeinander bezogen sind, dass sie vom numerisch Selben prädizierbar sind. Das Bestandsstück vergrößert das Gesamtinventar um den Wert eins. Eine Eigenschaft seiner vergrößert die Summe seiner Eigenschaften um eben diesen Wert. Das Auszeichnende der quantitativen Ontologie liegt in der Präzision, die ihre Begrifflichkeit erlaubt. Was numerisch dargestellt wird (als Summe von Eigenschaften eines Bestandsstücks, als Summe aller Bestandsstücke oder als Summe aller Bestandsstücke samt der Summen ihrer jeweiligen Eigenschaften), ist dadurch in seiner Beschaffenheit und somit auch hinsichtlich seiner Dispositionen zum Zeitigen bestimmter Wirkungen in bestimmten Zusammenhängen fixiert, was wiederum die für die Technik konstitutive Wiederholbarkeit, Abrufbarkeit und Programmierbarkeit dieser Wirkungen gewährleistet. Wohl bedeutet das Fehlen einer Eigenschaft das Fehlen einer kausalen Disposition eines Seienden – aber diese Dispositionen sind ja nichts anderes als die Eigenschaften selbst, fallen ja mit ihnen zusammen.
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Die Ontologie ist nach dem oben Gesagten nichts, was erst die Philosophie an das Sein, an das Seiende heranträgt: Phänomenale und quantitative Ontologie bestimmen – im vorphilosophischen Stadium ihrer Latenz – unser tagtägliches Sprechen über das Seiende, das wir erfahren. Wir trennen im vorphilosophischen Sprachgebrauch nicht, was hier ausdrücklich als zwei verschiedene Sprachen über das Seiende aufgezeigt werden soll. Begünstigt durch ihr Implizitbleiben, kommt es in der tagtäglichen Rede zu vielfältigen und als solche nicht deklarierten Synkretismen beider: Wir springen in der tagtäglichen Rede zwischen den Rahmen, ohne dieses Springens eigens zu achten. 37 Hier sollen quantitative und phänomenale Ontologie als zwei distinkte Rahmen gefasst werden – es soll streng geschieden werden zwischen dem, was nur im Rahmen der einen, und dem, was nur im Rahmen der anderen Sprache über Seiendes und Sein gesagt werden kann. Es soll das wechselseitige Ausschlussverhältnis beider Sprachen hervortreten, das darauf beruht, dass ihr jeweiliger Ausdruck unterdrückt, was nur in der jeweils anderen seinen Ausdruck finden kann.
Die Phänomenalität Ich will – schon weil es offensichtlich sein dürfte – nicht verhehlen, dass die Idee einer phänomenalen Ontologie einerseits aus der Beschäftigung mit den untereinander durchaus heterogenen philosophischen Ansätzen entstanden ist, die man unter dem Rubrum ›Phänomenologie‹ zusammenfasst und dass andererseits unter diesen Ansätzen der des Heideggers von Sein und Zeit in seiner Bedeutung für die hiesige Konzeption besonders hervorzuheben ist. Meine Idee ist, dass ein phänomenologischer Ansatz darin bestehen muss, eine Sprache über Sein und Seiendes auszubilden, die den methodischen Ansprüchen der Phänomenologie gerecht wird. Unter diesen Ansprüchen steht an erster Stelle derjenige der Treue zum Phänomenalen. Husserl hat diesen Anspruch in anderen Worten als ›Prinzip aller Prinzipien‹ der Phänomenologie ausgedrückt: […] am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›IntuitiEin Synkretismus ist ja gerade keine Amalgamierung, kein Verschwimmen in eins, sondern gekennzeichnet durch das Nebeneinander des Disparaten und auch Widersprüchlichen.
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Die Phänomenalität
on‹ originär (sozusagen in seiner leibhaftigen Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen (1976, 51; Sperrungen entfernt – JB).
Darf man in ihm aufgrund solcher Formulierungen einen Anhänger der These sehen, die Sellars als ›Mythos des Gegebenen‹ beschrieben hat? Das ginge m. E. an seinen eigenen philosophischen Intentionen vorbei: Der Mythos des Gegebenen – die als Mythem gebrandmarkte These, die Welt drücke dem passiv-rezeptiven Bewusstsein ihre kategoriale Struktur auf wie der Stempel dem Wachs (vgl. Sellars 1981a, 12) – ist eine in den Rahmen der Bestandsontologie gehörende These: Ihr liegt zugrunde eine Auffassung des Seienden als Gesamtbestand, der kategorial gegliedert ist in die zwei verschiedenen Seinsbereiche des Bewusstseins und der Außenwelt um es herum, in Person und Ding, Subjekt und Objekt, Reales und Mentales, Geist und Natur etc., von denen sich dann noch der dritte Bereich (man kennt Freges Formulierung) des Idealen oder Begrifflichen, des Logischen scheiden lässt. Bewusstsein und Außenwelt, die eine Person und der Rest des Bestands, der mit ihr nicht identisch ist, bilden zwei Seinsbereiche oder – nominalistisch gesprochen – zwei Typen, die jeweils unter sich eine bezifferbare Mannigfaltigkeit (Vielheit und Diversität) von Token begreifen: So lassen sich die Token unterscheiden als zwei Bereichen (Kategorien, Klassen) zugehörig. Diese Auffassung verzeichnet voneinander unterschiedene Sachbereiche im Inventar dessen, was ist, gesteht auch die Heterogenität dieser Bereiche zu, steht aber dennoch nicht davon ab, sie als irgendwie aufeinander bezogenes Bestehendes zu konzipieren. Daraus erwächst dann in der Philosophie u. a. das sog. Leib-Seele-Problem, d. h. die Frage, wie die zwei selbst eingeführten Bestandsregionen sich zueinander verhalten, wobei ›Leib‹ dann nurmehr den neutral beschreibbaren Körper jemandes bedeutet, den man auf der Seite der Außenwelt verortet, weshalb sich eine explanatorische Lücke auftut zwischen ihm und der Seele, wobei ›Seele‹ dann nurmehr das Sich-Einstellen mentaler Zustände, das Vorkommen von Token des Typs ›Mentales‹ meint. 38 Zur ›explanatory gap‹ vgl. Thompson (2007), besonders S. 222 f.: »The problem is that physical accounts explain the structure and function of a system as characterized from the outside, but a conscious state is defined by its subjective character as experienced from the inside. Given this difference, physical accounts of structure and function seem insufficient to explain consciousness.«
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Die Methode der Untersuchung
Gerade dieser methodische Schritt war es, den Husserl nicht vollziehen wollte: Derlei theoretische Überformung soll dadurch abgewehrt werden, dass wir zurückgehen auf die ›original gebende Anschauung‹ bzw. auf die in ihr sich präsentierenden Phänomene. Und was lehrt uns diese Anschauung im Fall des Bewusstseins und seines Außerhalb? Dass sie eine ursprüngliche Einheit bilden, d. h. nicht anders sind denn als begriffen im Verhältnis zueinander. Die Phänomenalität ist diese diachrone Einheit, das verlaufende Verhältnis von Bewusstsein und dem, was sich ihm präsentiert, so dass diese beiden gleichsam systemisch gedacht werden, d. h. nicht als selbständiges und ontologisch nur akzidentell mit anderem Sein interagierendes Sein, sondern als Teil eines prozessualen Ganzen, der nicht außerhalb dieses Ganzen gedacht werden darf – nicht außerphänomenal. Wenn man deshalb sagen kann, Husserl lehre die Bewusstseinsimmanenz der Welt und seine Konzeption könne insofern ein Idealismus heißen, dann muss dazu gesagt werden, dass dieser kein Standard- oder besser kein unqualifizierter Idealismus ist: keine standardidealistische Konzeption zweier Seinsbereiche Natur und Geist, von denen ersterer den ontologischen Primat beanspruchen dürfe (etwa dergestalt, dass alles Seiende ›letztlich Bewusstseinsinhalt‹ sei) und die dann vielleicht im Dritten, der Sprache, symbolisch zusammenkommen, letztlich aber zwei unterschiedene Typen sind, aufgrund deren Unterschieds die vorkommenden Token zwei Bereiche des Seienden ausmachen. Husserl formuliert seine Immanenzthese in den Ideen wie folgt: Also wird es klar, daß trotz aller in ihrem Sinne sicherlich wohlbegründeten Rede von einem realen Sein des menschlichen Ich und seiner Bewußtseinserlebnisse in der Welt und von allem, was irgend dazu gehört in Hinsicht auf ›psychophysische‹ Zusammenhänge – daß trotz alledem Bewußtsein in ›Reinheit‹ betrachtet als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang zu gelten hat, als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann; der kein räumlich-zeitliches Draußen hat und in keinem räumlich-zeitlichen Zusammenhange darinnen sein kann, der von keinem Dinge Kausalität erfahren und auf kein Ding Kausalität üben kann […] (1976, 105).
Husserl lehrt eine Methode, deren oberste Prämisse lautet: Nur qua uns in der je-eigenen Erfahrung (›Anschauung‹) Gegebenes ist das Seiende zu thematisieren. Dieser Idealismus konstituiert sich also nicht in einer These über die Prävalenz einer der beiden Seinsberei-
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che, sondern in einer methodischen Forderung. Wo Husserl der Primat des Bewusstseins von einem methodischen zu einem ontologischen gerät, da wird er seiner eigenen methodischen Leitlinie untreu: Indem ich mich dessen enthalte, die Welt als absolut zu setzen, gewinne ich sie als im reflexiven Leben vernommene Welt, kurz als Phänomen und Husserl kann mit Recht sagen: »Die Welt ist für mich nichts als das, was durch mich existiert und Geltung hat in einem Cogito.« Aber dann postuliert Husserl dogmatisch, dass die Welt »in mir und aus mir erst ihren Sinn, ihre Geltung findet und bezieht: Ihren ganzen, ihren universalen und speziellen Sinn und ihre Seinsgeltung hat sie ausschließlich aus solchen cogitationes« (Ricœur 1955, 58). 39
Husserls ›Dogmatik‹ beginnt da, wo seine Thesen nicht mehr phänomenal ausweisbar sind: Da, wo sein methodischer Idealismus in einen ontologischen umschlägt; da, wo die Phänomenalität zurückgeführt wird auf die ›Konstitution‹ und ›Sinngebung‹ des Bewusstseins, womit ein ontologischer Primat des Bewusstseins behauptet ist. Die Grenze, die eine phänomenologische Beschreibung nicht überschreiten darf – mehr noch: von der sie sich fernzuhalten hat –, ist die kategoriale Abgrenzung des Bewusstseins und dessen Außerhalb. Husserl lehrt, solange er seinen Idealismus als methodischen recht versteht, das Abstehen von ihrer Scheidung zugunsten der Beschreibung ihrer Einheit (der Phänomenalität). Er hat das als Änderung der ›Einstellung‹ beschrieben, was deshalb eine mehr als unglückliche Formulierung ist, da sie viel zu kurz greift: Denn darin liegt, dass es einer neuen Sprache über die Phänomenalität bedarf, in der diese neue ›Einstellung‹ sich artikuliert. 40 Wenn Husserl ›Gegebenheit‹ sagt, vom ›Gegebenen‹ spricht, sagt er ganz anderes als die Vertreter der These vom mythischen Status des Gegebenen: Er spricht in einer anderen Sprache über das Seiende, wobei – so meine These – er sein eigenes Unterfangen selbst nicht adäquat als Entwurf einer Sprache gefasst hat. Er entwirft nämlich eine Variante der phänomenalen Ontologie, ohne sich der onto»En m’abstenant de poser le monde comme monde absolu, je le conquiers comme monde perçu dans la vie réflexive, bref je le gagne comme phénomène; et Husserl peut légitimement dire que ›le monde n’est pour moi que ce qui existe et vaut par ma conscience dans un pareil Cogito.‹ Mais voici que Husserl pose dogmatiquement que le monde »trouve en moi et tire de moi son sens et sa validité: Ihren ganzen, ihren universalen und speziellen Sinn hat sie ausschließlich aus solchen cogitationes.« 40 Zur Unterscheidung von ›natürlicher‹ und ›phänomenologischer‹ oder ›transzendentaler‹ Einstellung vgl. die §§ 30 und 31 der Ideen (1976, 60 ff.). 39
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Die Methode der Untersuchung
logischen Konsequenzen seines Tuns im vollen Umfang klar zu sein – weshalb es nicht erstaunlich ist, dass sein Schüler Heidegger mit Sein und Zeit dann gerade in diese Lücke stieß. Der Mythos des Gegebenen andererseits ist ebenso wie der Interpretationismus, den Sellars ihm entgegensetzt, eine im Rahmen der Bestandsontologie aufgestellte und verfochtene These: Beiden liegt zugrunde eine Auffassung von ›Sein‹ als ›All dessen, was besteht‹ ; beide gliedern dieses All in die zwei Seinsbereiche des Realen und des Mentalen und entwerfen je ein Modell davon, wie diese zwei aufeinander bezogen sind. 41 Diese beiden Modelle schließen sich insofern aus, als das eine die kategoriale Struktur der Welt als vom Bewusstsein passiv empfangen auffasst, während das andere, von Sellars propagierte, sie der Aktivität und Spontaneität des Vernehmenden zurückführt – weshalb für Sellars selbst die Frage, »ob sie [die Welt] eine kategoriale Struktur hat«, letztlich unentschieden bleibt (1981a,12). 42 Fest steht: Wir haben die kategoriale Struktur der Welt, insofern wir ontologisch, d. h. Weltbilder bildend, in der Welt fungieren. Unbeschadet ihrer Opposition liegt also beiden Modellen die nämliche Ontologie zugrunde. Der methodische Grundsatz der Treue zum Phänomenalen fordert dagegen das Abstehen vom Modellieren, vom Aufstellen nicht an der Phänomenalität ausweisbarer Thesen überhaupt. Deshalb liegt die Einhaltung dieses methodischen Prinzips darin, eine der Phänomenalität angemessene Sprache zu sprechen bzw. – da eine solche nicht einfach verfügbar ist – erst zu entwerfen. Phänomenologie, so meine These, ist die Aufgabe einer Ontologie der Phänomenalität.
›Phänomen‹ Eine Ontologie der Phänomenalität fasst das Seiende auf als: die Phänomene. Sein heißt: φαίνεσθαι, erscheinen, sich zeigen oder wie ich stattdessen sagen möchte: sich gestalten. Das Seiende ist das sich je so Wiesing hat in Das Mich der Wahrnehmung diese Kritik geführt: Dem Mythos des unmittelbar Gegebenen einen Mythos der Mittelbarkeit entgegenzusetzen, greift insofern zu kurz, als auch diese primäre Vermittelung ein Mythem bleibt: Auch sie ist phänomenal nicht ausweisbar (vgl. 40 ff.). Zum Modellbegriff vgl. ebd. 17 ff. 42 »[…] if it has a categorial structure« – gemäß Sellars’ Sprechabsicht in seinem eigenen Text wäre hier zu übersetzen: ›[…] wenn sie denn eine kategoriale Struktur hat.‹ 41
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Die Phänomenalität
Gestaltende, in einem Wort: das Jeweilige. Phänomen ist alles, was sich – je jetzt gerade – so gestaltet. Ich ziehe diese Redeweise deshalb vor, weil sie stärkeren Ton auf die diachrone Verfasstheit des Phänomens legt; das Phänomen ist das Entgegenwährende: das sich im Währen seiner Gegenwart je so Gestaltende. Das einzelne Phänomen ist dadurch, dass es sich hier und jetzt so gestaltet, unter allem anderen individuiert als das, was gerade Sache ist. Wir nähern uns dem, was hier unter ›Sache‹ verstanden ist, über Heideggers Auslegung des lateinischen Ausdrucks ›res‹ im Aufsatz Das Ding: »Das römische Wort res nennt das, was den Menschen in irgend einer Weise angeht. Das Angehende ist das Reale der res. Die realitas der res wird römisch erfahren als der Angang (2000, 177).« Interessant ist diese Stelle nicht vor allem deshalb, weil Heidegger in ihr einmal keinen griechischen sondern einen lateinischen Ausdruck für sein Denken fruchtbar macht, sondern wegen ihrer Übersetzung des Substantivs ›res‹ durch ein substantiviertes Partizip: die res ist das Angehende. Was bedeutet diese Übersetzung des Substantivs in ein Partizip? Eine res ist nicht irgendetwas im Sinne eines Bestandsstückes, sondern das, was je gerade Sache ist als solches – was sich in dieser Situation je so gestaltet. Was Sache ist, partizipiert ebenso am Sich-Gestalten wie ich, dem mir das Jeweilige Sache ist. Das Sich-soGestalten des Jeweiligen, die Phänomenalität selbst, ist gegenüber ihren Partizipienten das Ursprünglichere, ontologisch Primäre: Beide sind nur von ihr her, was sie sind, und nicht außerhalb ihrer zu denken. Die Konzeption von sein als φαίνεσθαι will dabei nicht nahelegen, esse sei percipi, in dem Sinne, dass nur je das sei, was aktuell vernommen wird. Sie entspringt dem methodischen Grundsatz der Treue zum Phänomenalen: Wir thematisieren das Seiende in dem Maße, in dem es uns erscheint und in dem wir folglich mit ihm vertraut sind. Uns ist es um die Artikulation der erfahrend erworbenen Vertrautheit mit dem Seienden zu tun: Phänomenologie ist Erfahrungswissenschaft, d. h. Artikulation der Vertrautheit mit den Phänomenen. Sie ist deshalb gerade nicht Erfahrungswissenschaft im Sinne der sog. empirischen Wissenschaften. Es ist eben die diesen zugrunde liegende Konzeption von Erfahrung – die Sprache, in der sie über die Erfahrung handeln – gegen die hier eine alternative Sprache der Erfahrung ins Feld geführt werden soll. Diese soll das Seiende genuin als Phänomen fassen, d. h. gemäß dem Zeugnis der je-eigenen Vertrautheit mit ihm konzipieren. Der Phänomenologie ist es als Er71 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Methode der Untersuchung
fahrungswissenschaft um das Erfahren des Einzelnen zu tun – aber nicht um das eines indifferenten Einzelnen, sondern um das dieses Einzelnen, der wir je selbst sind. Die Empirie im Sinne der empirischen Wissenschaften ist dagegen ein Modell des Erfahrens, das dieses – bildlich gesprochen – konzipiert als Gegebenheit der Welt für einen Blick von Nirgendwo. Das Bild auslegend, sagen wir: Empirie ist das Erfahren eines Beobachters. Ein solcher ist durch seine Distanzwahrung zum Beobachteten charakterisiert: Der Beobachter bleibt seinem eigenen Blick außen vor (deshalb ist ›von Nirgendwo‹ gleichbedeutend mit: ›als Niemand‹). Der Blick von Nirgendwo ist das Bild eines Erfahrens, das eine absolute Distanz wahrt, so dass es die Welt selbst als bezifferbaren Gesamtbestand des Seienden vor sich haben kann. Dieser scheinbar absoluten Ausweitung des Blickwinkels bleibt dabei doch ein toter Winkel: ›Blick von Nirgendwo‹ bedeutet ein selbst-loses Erfahren, eines das sich selbst ganz ausgetilgt hat aus der Sprache, die es über das Seiende spricht. Aus dem dergestalt konzipierten Erfahren ist ausgemerzt die Phänomenalität: das Hier, Jetzt und So des situativen Entgegenwährens des Jeweiligen. Es gilt daher, die Erfahrung als Phänomenalität hervortreten zu lassen gegenüber der quantitativ als Empirie aufgefassten Erfahrung, welcher Auffassung die Sprache des Bestands zugrunde liegt. 43 In einem Sinn dieses zweideutigen Begriffs sind die Phänomene die Sachen: das, was sich in je-dieser Situation je so gestaltet. Wir müssen die partizipiale Verfasstheit des sich je jetzt je so Gestaltenden, bedenken: Phänomen ist das, was im Geschehen seines Sich-Gestaltens je so ist und was nicht außerhalb des Verlaufs dieses SichGestaltens gedacht werden kann. Eine Ontologie der Phänomenalität ist eine Konzeption, in der das Hier, Jetzt und So, die Phänomenalität, insofern operativ ist, als ›seiend‹ im Rahmen ihrer heißt: ›sich (hier und jetzt) je so gestaltend‹ und ›sein‹ : ›sich je so gestalten‹. Das einzelne Phänomen ist individuiert durch seine Jeweiligkeit, d. h. als das gerade Gegenwärtige, dem Situierten Entgegenwährende. ›PhänoWir dürfen hier deshalb nicht fragen: ›erfahren wir empirisch oder phänomenal?‹, weil das Erfahren immer die Zweideutigkeit an sich hat, empirisch und phänomenal konzipierbar zu sein. Ist das aber so zu verstehen, dass wir die an sich ontologische neutrale Erfahrung nur nachträglich empirisch oder phänomenal ›interpretieren‹ ? Nein: Es handelt sich hier nicht um eine nachträgliche Interpretation, die erfolgen, aber auch ausbleiben könnte: Das Seiende ist allerdings sowohl außerhalb des Rahmens der Phänomenalität als auch außerhalb des Rahmens der Quantität denkbar; aber nicht außerhalb der ontologischen Rahmung überhaupt.
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Die Phänomenalität
men‹ ist der allgemeine Ausdruck für das sich in je-dieser Situation je so Gestaltende. Wie hängen die Sachen mit der Situation zusammen? Die Einheit der einen (je-diesen) Situation ist phänomenal eine thematische: Ich bin in dieser Situation, während und solange als dies Sache ist. Sobald anderes Sache ist, ist die Situation unversehens auch schon eine andere geworden. Ich sitze und bin ins Schreiben vertieft: Sache ist in dieser Situation, was durch meine Finger auf den Bildschirm fließt; jetzt, da es klingelt oder die Tür schlägt und ich mich frage, wer es sein könnte, bin ich schon in einer anderen oder: ist diese Situation schon eine andere geworden bzw. ist eine andere Situation diese. Im Verlauf der Situation gestaltet sich das Jeweilige; die Situation ist das Sich-je-so-Gestalten des Jeweiligen hier und jetzt. Sie ist das Verhältnis zum Jeweiligen, in dem situiert wir existieren: Angesichts des Jeweiligen bin ich in je-dieser Situation, nämlich – immer schon – begriffen im Verhältnis zu ihm. Die verlaufende Situation ist das diachron begriffene Verhältnis, in dem das je Gegenwärtige, sich je-so gestaltend, entgegenwährt. Zur Jeweiligkeit der Sachen gehört die Mehrdeutigkeit dieser; es kann im Ungewissen bleiben, was je-jetzt gerade eigentlich Sache ist. Die Sachen drängen sich auf: Sie müssen nicht evoziert werden, sie bedürfen nicht der identifizierenden Nennung, um jeweilig zu sein. Dass ich nicht weiß, was Sache ist – dass ich hin-und-hergerissen bin in der Reflexion auf das So des Jeweiligen – macht die betreffende Sache nicht weniger drängend. Das So des Jeweiligen fixiert dieses nicht, das So bedeutet nicht durchgängige Bestimmtheit, sondern im Gegenteil schöpft jedes artikulierende Bestimmen aus dem So, ohne es je zu erschöpfen. Thema einer Ontologie der Phänomenalität ist erstens das Jeweilige als solches, die Phänomene, zweitens deren Jeweiligkeit selbst. Das Jeweilige soll als solches, d. h. in seiner Jeweiligkeit beschrieben werden. Diese Absicht bedingt einen zweiten Gebrauch von ›Phänomen‹ : Ontologisch soll die Jeweiligkeit des sich je jetzt gerade je so Gestaltenden allgemein beschrieben werden. Es gilt, herauszuarbeiten, was alle Phänomene qua Phänomene – was das Seiende als Seiendes – ausmacht. Diese Allgemeinheit ist nicht die einer Typik, obwohl Phänomenologie auch so verfahren kann: Gewiß, das Bewußtseinsleben ist im Fluß, und jedes cogito ist fließend, ohne fixierbare letzte Elemente und letzte Relationen. Aber im Fluß herrscht
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Die Methode der Untersuchung
sehr wohl eine ausgeprägte Typik. Wahrnehmung ist ein allgemeiner Typus, Wiedererinnerung ein anderer Typus […] – dergleichen sind allgemeine, scharf ausgeprägte Typen, die sich wieder ebenso besondern zum Typus Raumding-Wahrnehmung und Typus Wahrnehmung eines Menschen, des psychophysischen Wesens (Husserl 1950, 20).
Im Sinne einer solchen typologischen Phänomenologie wäre das Phänomen der Phäno-Typ, d. h. das Einzelne beschrieben in seinen allgemeinen Charakteren, die es zum Exemplar, Token, eines bestimmten Typs machten. Die Beschreibung extrahiert aus den Sachen, den Phänomenen im einen Sinne, die Phäno-Typen, d. h. die Phänomene im zweiten Sinne. Wir folgen hier stattdessen Heideggers Interpretation des genuin phänomenologischen Phänomenbegriffs: »Der phänomenologische Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden (1979, 35).« Wir folgen ihm auch darin, dass Phänomenologie als ›Methodenbegriff‹ die genuine Methode der Ontologie darstellt (ebd.). Es gilt, am Seienden in phänomenologischer Beschreibung dessen Sein aufzuweisen: Es geht, wenn es um das Jeweilige geht, um die Seinsart der Jeweiligkeit selbst: um das, was die Phänomene als solche bestimmt. Jenes soll an diesen expliziert, d. h. beschreibend entfaltet werden. Für dieses Explizieren gilt die Forderung der Treue zum Phänomenalen. Es gilt, nicht an der Phänomenalität vorbei zu konzipieren: nicht in eine Ontologie des Bestands abzugleiten bzw. uns etwelcher Thesen über das Bestehende zu enthalten. Stattdessen soll der Binnenaspekt des Entgegenwährens beschreibend zu Worten gebracht werden. Das Entgegenwährende ist das, womit wir im Verlaufe der Erfahrung vertraut werden. Jedes Jeweilige lehrt uns über die Jeweiligkeit selbst. Nur deshalb sind wir auch mit dieser vertraut und können sie artikulieren, d. h. eine Ontologie der Phänomenalität entwerfen. Wir zeugen deshalb, indem wir überhaupt eine solche ausbilden, schon von dieser Vertrautheit. Ontologische Reflexion ist Artikulation der Vertrautheit mit dem Seienden als solchem. Die quantitative Ontologie ist insofern defizient, als sie die Sachen aus der Nähe der Vertrautheit mit ihnen abschiebt in das indifferente Bestehen von neutral formulierbaren Gegebenheiten, die wiederum Konstellationen neutral konstatierbarer Bestandsstücke sind; 44 diese sind ihrerEine ähnliche Kritik formuliert bereits Husserl in der Krisis, wenn es dort heißt: »In der […] naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir der Lebenswelt – der in unserem konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt – […]
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Die Phänomenalität
seits die Summe ihrer Eigenschaften. Etwas besteht zu einem Zeitpunkt oder besteht nicht, eine Eigenschaft kann zu einem Zeitpunkt wahrheitsgemäß von ihm ausgesagt werden oder nicht. Eine quantitative Ontologie hält sich die Sachen auf Distanz: Sie verharrt im Nirgendwo, von dem aus der Binnenaspekt der Situation – dass sich in ihr das Jeweilige je so gestaltet – verborgen bleiben muss. Deshalb kennt sie das Sich-so-Gestalten nicht, deshalb fasst sie ›sein‹ bloß als ›bestehen‹ im Sinne wahrheitsgemäßer Konstatierbarkeit und Beschaffenheit (die darin liegt, dass an den primären Bestandsstücken Eigenschaften bestehen). Nur im Rahmen einer quantitativen Ontologie kann die Frage diskutiert werden, ob es möglich sei, einen Weltzustand zu einem Zeitpunkt vollständig auszusagen, d. h. den Gesamtbestand vollzählig deskriptiv zu erfassen. Dass solch eine komplette Beschreibung eines Weltzustands faktisch nicht ins Werk zu setzen ist, ist dabei zweitrangig gegenüber ihrer Denkbarkeit. Phänomenologie ist dagegen ontologisches Zeugen davon, wie es ist, unausgesetzt im Verhältnis zum Jeweiligen begriffen zu sein: Ein Zeugen von der Situation als solcher und der eigenen Situiertheit (es deutet sich hier im Übrigen an, was erst weiter unten ausgeführt werden wird: Auch Wahrheit ist abhängig vom ontologischen Rahmen, in dem sie ausgesagt wird; auch die Wahrheit hat m. a. W. ein phänomenales und ein quantitatives Schema). Ontologische Dignität kann ein Zeugen von der eigenen Situiertheit dann für sich reklamieren, wenn die Allgemeinheit seiner Formulierung es anderen Situierten prinzipiell nachvollziehbar macht. Seine mögliche Allgemeinheit liegt in dieser prinzipiellen Nachvollziehbarkeit: Eine Sprache der Situiertheit als solcher ist de jure allen Situierten verstehbar (womit freilich über Gelingen oder Nichtgelingen des Nachvollzugs de facto noch nichts gesagt ist). Was eine solche Konzeption im Einzelnen entwickelt, hat seitens des Rezipienten seinen Prüfstein in der Vertrautheit damit, wie es ist, situiert zu sein: Es ist durch Rekurs auf die je-eigene Vertrautheit mit dem Jeweiligen nachvollziehbar und damit kritisierbar. Die Allgemeinheit, um die es einer phänomenalen Ontologie zu tun ist, ist nicht die schlechte Allgemeinheit des Man, sondern die Nachvollziehbarkeit von Beiträgen zu einem Diskurs, den wir, als Situierte, ein wohlpassendes Ideenkleid an, das der sogenannten objektiven wissenschaftlichen Wahrheiten (1954, 51).«
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Die Methode der Untersuchung
über die je-eigene Situiertheit führen können. Dieses Wir kann deshalb das phänomenologische heißen: Was ich phänomenologisch – im Rahmen einer Ontologie der Phänomenalität – herausarbeite, das ist dir prinzipiell verständlich, insofern du selbst vertraut bist mit dem betreffenden Phänomen. Wenn im Folgenden von ›uns‹ gesprochen wird, wenn es heißt: ›wir …‹, so ist dies immer im Sinne dieses phänomenologischen Wir zu lesen – ebenso wie der bisherige Gebrauch von ›wir‹, den man nur unzureichend als bloßen Bescheidenheitsplural, als altertümelndes rhetorisches Stilmittel auffassen würde. Ich kann dir gegenüber davon zeugen, wie es ist, in je-dieser Situation zu sein, oder auch davon, wie es ist, situiert zu sein. Zeugen ist das Gegenstück zum Sprechen als Niemand von Nirgendwo. Zeugen ist das Sprechen von je-dieser Situation aus der Situation selbst; ontologisch gefasst ist es das Sprechen als Situierter von der eigenen Situiertheit. Das Zeugen – und nur es – artikuliert den Binnenaspekt der Situation, d. h. artikuliert einen Sinn von Situation, in dem der Begriff nicht mit dem der Lage synonym ist.
Das Zeugen und das phänomenologische Wir Im Gegensatz zum beobachtenden Konstatieren ist die Sprache der phänomenalen Ontologie also die eines Zeugens. Sie zeugt von der Phänomenalität. Der Grundsatz der Treue zum Phänomenalen bedeutet: Das Zeugen soll die Phänomenalität nicht revidieren. 45 Im Rahmen der Bestandsontologie modellieren wir primäre und sekundäre Partikularien – einerseits Personen und Dinge, andererseits die Eigenschaften dieser bzw. den Wandel hinsichtlich der Eigenschaften. Wenn wir sagen: ›das Einzelne ist das numerisch eine Bestandsstück, das beschreibbar ist als Menge seiner Eigenschaften‹, dann setzen wir ein Modell des Einzelnen an die Stelle seiner phänomenalen Gestalt. Wir revidieren dann unsere je-eigene Vertrautheit mit ihm, indem wir es als Bestehendes nur verzeichnen bzw. protokollieren, welche Beschaffenheit zu einem Zeitpunkt von ihm prädizierbar ist, d. h. welche Eigenschaften ihm zu diesem Zeitpunkt zukommen. Die quantitative Ontologie ist eine Revision der Phänomenalität, ihre Dieser Redeweise eignet – eingedenk aller sonstigen Differenzen – durchaus eine große Affinität zu Strawsons Unterscheidung deskriptiver und revisionärer Metaphysiken (vgl. 9 ff.).
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Die Phänomenalität
Verkennung und Ersetzung durch ein an ihre Stelle gesetztes Modell. Der Streit, ob solch ein Modell konsistent ist oder ersetzt werden sollte durch ein anderes, ist nur im Rahmen einer Ontologie des als bestehend Verzeichenbaren auszutragen. Was aber bedeutet es, von etwas zu zeugen? Zeugen von … ist das Sprechen eines Zeugen über das Wovon seines Zeugnisses. Er legt von diesem Zeugnis ab, indem er es so beschreibt, wie er es erfährt. Tut er dies nach bestem Wissen und Gewissen, ist er ein redlicher Zeuge. Nur ein redlicher ist ein guter Zeuge, einer, der das Wovon seines Zeugnisses so sagt, wie er selbst es erfuhr. Denn dass ein Augenzeuge schwerer wiegt als zehn vom Hörensagen, bedeutet, dass Zeugenschaft nur dann eine echte ist, wenn sie aus eigener Erfahrung der Sache spricht: »Der Zeuge ist in das Geschehen verwickelt, von dem er Zeugnis ablegt. Er spricht von einem Ereignis her, wenn er über dieses spricht (Waldenfels 2007, 46).« Der Zeuge spricht m. a. W. vom Binnenaspekt des Ereignisses. Das einen Zeugen charakterisierende Erfahren ist endoskop, im Gegensatz zum exoskopen Erfahren eines Beobachters in dem hier entwickelten terminologischen Sinne des Ausdrucks (dem nicht widerspricht, dass wir im Einzelfall davon reden mögen, ein Zeuge habe ein Geschehen beobachtet). Der Zeuge siedelt am einen Ende eines Spektrums, an dessen anderem Extrem die bloße Aufzeichnungsapparatur rangiert: Überwachungsapparate sind zuverlässiger als jeder lebendige Zeuge; da sie nicht verstehen, vor allem aber auch nicht unter dem leiden, was sie registrieren, dokumentieren sie hemmungslos und schonungslos alles, was ihrem Programm entspricht. Bei Zeugen, die in das verwickelt sind, was sie bezeugen, sieht es anders aus (ebd., 45).
Die neuesten technischen Möglichkeiten der Aufzeichnung multiplizieren die Möglichkeiten des faktischen Beobachtens. 46 Mag aber das Beobachten sich der raffiniertesten Beobachtungstechnik bedienen, niemals erfährt es das Hier, Jetzt und So, das nur bezeugbar, niemals Insbesondere wäre hier zu nennen die Asynchronie eines Beobachters, der zuvor aufgezeichnete Daten auswertet und daraus ein Bild des Beobachteten konstruiert. Ein zeitversetzter Beobachter bringt sich zusätzlich zu seiner räumlichen Ferne auch noch in zeitliche Distanz zum Beobachten. Eine solche temporale Distanz eines Beobachters ist kein neues Phänomen, hat aber, was seine faktische Umsetzung angeht, durch rezente technische Neuerungen sicherlich einen Ruck getan. Vielleicht ließe sich sagen, das Bestandsdenken sei jetzt durch die Technik der Erhebung von Metadaten aus elektronisch hinterlassenen Datenspuren einen Schritt weiter, was die faktische Umsetzung der Idealvorstellung eines epistemisch omnipotenten Beobachters angeht.
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Die Methode der Untersuchung
beobachtbar ist – von dem sich nur zeugen lässt. In diesem Sinne ist das Hier, Jetzt und So privat. Es ist dies allerdings nicht in dem pejorativen Sinne, den vor allem Wittgensteins Gebrauch des Ausdrucks geprägt hat: Ich muss nicht so etwas wie eine ›Privatsprache‹ entwerfen, um über das Hier, Jetzt und So zu sprechen. ›So‹ ist ein Ausdruck der wesenhaft nicht privaten Normalsprache. Die Ontologie der Phänomenalität ist eine aus der Normalsprache entwickelte Begrifflichkeit, in der die Erfahrung der je-eigenen Situiertheit zu Worten kommen soll. Wir können von unserer eigenen Einzelnheit zeugen: Wir können beschreiben, wie es je für uns selbst ist, dieser jenige zu sein. Insofern dieses Zeugen einen ontologischen Anspruch hat bzw. den Anspruch erhebt, eine (philosophische) Ontologie zu sein, muss seine Sprache eine allgemeine sein. Oben wurde – im Zusammenhang mit dem heideggerschen Man – bereits die Unterscheidung einer guten und einer schlechten Allgemeinheit eingeführt. Wir bestimmen diese Unterscheidung jetzt wie folgt: Die schlechte Allgemeinheit ist die Sprache über den Situierten, die seine situierte Einzelnheit in ihrem Ausdrücken unterdrückt, es aus ihrem Beschreiben tilgt. Das Man ist deshalb das Signum dieser Sprache, weil das Indefinitpronomen ›man‹ uns formalgrammatisch die Möglichkeit bietet, uns selbst so anzusprechen wie alles andere: ›man ist …‹ statt ›ich bin …‹. Die schlechte Allgemeinheit ist das exkludierende Aufheben der je-eigenen Einzelnheit in einer Sprache, die das Sein als Bestehen auslegt und das Seiende als Gesamtbestand. Die gute Allgemeinheit soll diese Einzelnheit dessen, der je sagt: ›ich bin‹ inkludierend aufheben, nämlich aufbewahren. ›Blick von Nirgendwo‹ ist ein Bild für den der quantitativen Ontologie eigenen Zugang zum Seienden: Sie schiebt es weg von sich in die Indifferenz des Bestands, so als müsse es nur neutral konstatiert werden, um ontologisch erfasst zu sein; so, als sei von ihm nicht zu zeugen. Das liegt daran, dass ein Zeugnis von … nur in der ersten Person abzulegen ist (der Zeuge sagt: ›ich sah, hörte etc.‹) und die quantitative Ontologie diese grammatische Person nur dem Buchstaben, nicht dem Geiste nach kennt, insofern für sie das Erfahren eines Niemand von Nirgendwo maßgeblich ist. Das hier in Rede stehende Zeugen ist ein ontologisches Zeugen. Es zeugt davon, dass ich bin und wie es ist, ich zu sein. Um ontologische Dignität zu besitzen, muss es aber wie gesagt meine Einzelnheit auch in gewisser Weise transzendieren: Die Frage, wie es ist, ich zu sein, muss allgemein – nicht etwa anekdotisch – beantwortet werden. Dass ich unausgesetzt 78 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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jetzt hier bin, dass es dabei unweigerlich so ist, ist eine allgemeine Formulierung meines einzelnen Seins. Und nur die Einzelnheit derer, die sagen: ›ich bin‹ ist je-meine. Jemeinigkeit ist der elementare Charakterzug der Einzelnheit, die sich selbst als solche erfährt und die deshalb hinausgeht über den Status eines numerisch einzelnen Bestandsstücks, das einen Posten im Gesamtinventar der Welt ausmacht. 47 Jemeinigkeit charakterisiert die reflexiv verfasste Einzelnheit; die desjenigen einzelnen, der sich selbst erfährt als das Jeweilige erfahrend – die des Situierten, der sagt (artikuliert): ›ich bin‹. Das ontologische Zeugen ist das genuine Sprechen von der situierten Einzelnheit, die sich selbst als solche erfährt: Diese Einzelnheit will das Zeugen explizieren, d. h. deskriptiv entfalten. Damit dieses Entbreiten ein Sehenlassen je meiner Einzelnheit sein kann, muss es sich an einen anderen wenden: Ich lege dir, wir legen einander Zeugnis ab von … ; das Zeugen wendet sich also an andere, die berufen sind, das Zeugnis verstehend zu prüfen. Und diese anderen können das Zeugnis nur prüfen durch Rekurs auf die eigene Erfahrung. Prüfstein des Zeugnisses ist in einem Doppelsinne die eigene Erfahrung: erstens als Erfahrung des Zeugens und seines Sprechens und zweitens als die selbst gemachten Erfahrungen, vor deren Hintergrund das vom Zeugen abgelegte Zeugnis kritisierbar ist. Das Zeugen ist nur möglich, insofern der kritische Nachvollzug des Zeugnisses möglich ist: Nur innerhalb eines Wir kann das Zeugen geschehen. Das hier in Rede stehende Wir heißt deshalb das phänomenologische, weil es die Gemeinschaft derer bezeichnet, die einen Diskurs über die Phänomene führen können. Nur innerhalb des phänomenologischen Wir ist das Zeugen von der Phänomenalität möglich. Damit mein Zeugen von der Phänomenalität als solcher sich an dich richten kann, müssen wir beide mit der Phänomenalität vertraut sein. Die Prüfung des Zeugnisses geschieht im Nachvollzug meines Sprechens über die Phänomenalität als solche durch Dich. Mein ontologisches Zeugnis von der Phänomenalität als solcher fordert dich also auf zum Nachvollzug seiner. 48 In diesem Sinne spricht Wiesing von der PhäZur ›Jemeinigkeit‹ vgl Sein und Zeit, § 9: »Das Seiende, dessen Sein zur Analyse steht, sind wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines (41).« 48 Agambens Beitrag zum Problem der Zeugenschaft und die an ihn anknüpfende Debatte dreht sich eben um die Frage nach Möglichkeit und Unmöglichkeit des Nachvollzugs; darum, ob es etwa für das Zeugnis von der Lagererfahrung so etwas wie Nachvollzug bei Nicht-Zeugen geben könne (vgl. 8 f.). 47
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Die Methode der Untersuchung
nomenologie als ›Protreptik‹ (vgl. 92 ff.). Phänomenologie ist ein Aufruf zum Nachvollzug; phänomenologisches Beschreiben hat seinen eigensten Tendenzen nach nicht die Absicht, die Phänomene (etwa durch Rückführung auf ihre Ursache) zu erklären, sondern die, dem Rezipienten explizit zu machen, womit dieser aus eigener Erfahrung schon vertraut ist. Es fordert den Rezipienten auf, selbst in den Zirkel einzusteigen, der für sein eigenes Sprechen konstitutiv ist, da es nur auf die eigene Erfahrung rekurriert. 49 Eben deshalb kann die phänomenologische Beschreibung gerade nicht beliebig sein: Sie findet ihre Kritik im Nachvollzug ihrer durch denjenigen, der in dem von der Phänomenalität abgelegten Zeugnis angesprochen ist. Der Begriff des So markiert die Grenze der Allgemeinheit, in der sich diese Einzelnheit aussprechen lässt; das Äußerste, was ich darüber sagen kann, wie es ist dieser jenige zu sein, ist: Es ist unausgesetzt so, jetzt hier zu sein. Die Reflexion muss dieser Unhintergehbarkeit des So jederzeit eingedenk bleiben, wenn sie der Einzelnheit des Reflektierenden wirklich die Treue halten will. Das So ist die nicht erschöpfend in Allgemeinheit aufzulösende talitative Singularität jedieser Situation. Dass es hier und jetzt so ist, ist phänomenal das Letzte, was wir über die eigene Situation und uns als Situierte sagen können. Das Zeugen bekundet dieses So, es arbeitet sich am So ab, indem es es zu Worten bringt, ohne Hoffnung darein setzen zu dürfen, jemals das letzte Wort über es zu sprechen. Indem wir von der Vertrautheit mit der Situation zeugen, zeugen wir auch davon, dass zu ihr die Unvertrautheit gehört: Das So lässt stets mehr als eine Deutung zu; ja, es fordert die unausgesetzte Revision seiner durch sein stetes Neu-und-neu. In der Reflexion wird das So selbst zum Thema. Aber die Reflexion legt dieses So nicht fest auf ein Wie, sondern artikuliert die Sache selbst wieder so. Die Reflexion auf das So bleibt genauso mehrdeutig wie es selbst, sie kann selbst wieder prinzipiell unzählige Deutungen hervorbringen, ohne dass sich sagen ließe, damit sei eine Situation ausgedeutet (erschöpfend gedeutet). Nur zu den Bedingungen der quantitativen Ontologie lässt sich eine vollständige Situationsbeschreibung denken als vollständige Aufzählung aller Umstände und aller ihnen korrelierenden ›mentalen Zustände‹ Zur Zirkelhaftigkeit des Verstehens vgl. Sein und Zeit, vor allem S. 152 f. – »[…] in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ›empfinden‹, heißt das Verstehen von Grund aus missverstehen (ebd.).«
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Die Phänomenalität
bzw. ›Handlungen‹ der Person in diesen Umständen. Zu diesen Bedingungen fassen wir die Situation allerdings auch nur als Lage, kommen wir niemals über die typische Situation hinaus zur Situation selbst. Eine Beschreibung, die die Phänomenalität nicht schon im Ansatz verfehlen will, muss die Idee einer durchgängigen numerischen Bestimmtheit des Seienden ausdrücklich fernhalten.
Das So Die Phänomenalität ist das Sich-je-so-Gestalten des Jeweiligen. Es ist phänomenal immer so, jetzt hier zu sein. Das So ist dergestalt Ausdruck der Faktizität: Es ist phänomenal in je-dieser Situation so und nicht anders, d. h. das Jeweilige gestaltet sich in ihr so und nicht anders. Im Rahmen einer Bestandsontologie 50 sind zu jedem Zeitpunkt beliebig viele Zustände eines Dings oder einer Person denkbar: Jedes Bestehende ist zu einem Zeitpunkt irgendwie beschaffen; ihm kommt wahrheitsgemäß eine bestimmte Anzahl an Prädikaten zu. Es ist durch eine bestimmte Menge an Eigenschaften vollständig beschrieben. Die qualitas (Das Irgendwie-Beschaffensein) jedes Bestandsstücks ist im Rahmen einer quantitativen Ontologie seine Beschreibbarkeit durch eine endliche Menge an Prädikaten. Im Rahmen einer Ontologie der Phänomenalität müssen wir sagen: Wir sind unausgesetzt in je-dieser Situation, in der sich das Jeweilige je so und nicht anders gestaltet. Das So ist nicht zu einem Zeitpunkt konstatierbar, weil es die Zuständlichkeit nicht kennt. Es ist radikal diachron verfasst: Es währt, indem es sich vollzieht. Das So ist ein Prozess, den wir schon verfehlt haben, sobald wir die Sprache der Zuständlichkeit, des Bestehens, sprechen. Das So währt, indem das Jeweilige entgegenwährt: sich in seinem Entgegenwähren je so gestaltet. Deshalb entspricht der quantitativen qualitas des Bestandsstücks phänomenal die talitas dessen, was je jetzt gerade Sache ist. 51 Im So liegt die Faktizität je-dieser einzelnen Existenz: Weil ich Der unbestimmte Artikel soll anzeigen, dass es divergierende Varianten der Bestandsontologie gibt. ›Im Rahmen einer Bestandsontologie‹ heißt also: im Rahmen aller Variationen der Sprache des Bestands. 51 Woraus ersichtlich wird: Der wahre Gegenbegriff zu ›Quantität‹ ist nicht ›Qualität‹, denn ontologisch setzt die Qualität die quantitative Verfasstheit des qualitativ irgendwie Bestimmten selbst voraus, sondern die Talität, das nur holistisch zu fassende So des Jeweiligen. 50
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Die Methode der Untersuchung
existiere, ist es so. ›Weil‹ ist dabei in einer Weise zu lesen, die sich andeutet in dem heute obsoleten Sinn der Konjunktion, in dem sie mit unserem heutigen ›während‹ synonym war. In dieser Lesart drückt ›weil‹ die Synchronie des Zusammen, nicht das Nacheinander von Ursache und Wirkung aus. Dieses Zusammen weist im Gegensatz zum Ursache-Wirkung-Verhältnis die Symmetrie wechselseitiger Implikation auf: ›Weil‹ heißt hier: Eines nicht ohne das andere und nur während seiner. 52 Insofern begründet das eine wechselseitig das andere: begründet es aber nicht in der Art einer voraufgehenden Ursache, aus der her es in seinem Dass und dem Wie seiner Beschaffenheit zu erklären wäre. Meine Existenz ist als diese bestimmt gegenüber deiner, seiner, ihrer etc. – und Gleiches gilt für alle Existenzen, gegen die meine bestimmt ist: Auch weil du existierst, ist es so, und für jeden einzelnen Situierten gilt das Nämliche. In diesem Sinne bilden die Situierten ein Wir, innerhalb dessen die Situiertheit zu Worten kommt. Dabei bleibt die Frage nach Gleichheit und Ungleichheit zweier So – dass wir mein und dein So überhaupt dergestalt als zweie gegenüberstellen dürfen einmal zugestanden – offen und muss offen bleiben. Das So ist un-gleich in dem starken Sinne der Un-gleichheit, die schon ein gegeneinanderhaltendes Bestimmen des Grades von Gleichheit und Nicht-Gleichheit ausschließt. Wenn ich vom So spreche, so kann ich dieses nicht vergleichend deinem gegenüberstellen und dasselbe gilt von dir. Hier möchte sich die Frage erheben, ob wir also eine Art Solipsismus vertreten bzw. uns unversehens in eine solipsistische Konzeption manövriert haben – allerdings vertreten wir, sofern es uns um das Ausbilden einer Sprache für die Phänomenalität zu tun ist, gerade keine solipsistische Position. Vielmehr interessiert uns phänomenal die solipsistische Skepsis gar nicht: Denn diese meldet doch an, es sei nicht gewiss, ob im Bestand der Welt, zu dem ich selbst gehöre, außer mir noch anderes Seiendes zu verzeichnen ist, das wie ›Weil‹ wird im Folgenden immer in diesem terminologischen Sinne gebraucht – wenn einmal der ursächlich-begründende Sinn intendiert ist, wird dies durch Hinzufügen eines ›deshalb‹ angezeigt. Zur Asymmetrie von Ursache und Wirkung ist zu sagen, dass diese nicht das schiere Voraufgehen der Ursache vor der Wirkung bedeutet – wie ja Kant auch bemerkt, dass das Sich-Erhitzen des Ofens dem Sich-Erwärmen des Zimmers nicht zeitlich voraufgeht (vgl. KrV, B 248). Die Asymmetrie liegt darin, dass die Ursache das Eintreten der Wirkung bedingt, nicht aber umgekehrt die Wirkung die Ursache (auf ein warmes Zimmer folgt nicht notwendig [d. h. mit Naturnotwendigkeit] ein erhitzter Ofen, wohl aber auf den erhitzten Ofen ein erwärmtes Zimmer).
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Die Phänomenalität
ich eine Person ist. Phänomenal dagegen gehe ich mit dem anderen so um, er so mit mir; phänomenal verstehe ich je jetzt so, was du gerade sagst; phänomenal zeigt sich mein So-Verstehen deines Sprechens in meiner Antwort, die du wieder je so verstehst (vgl. unten, Kap. 5). Der Solipsismus hat im Rahmen einer Ontologie der Phänomenalität nicht das Zeugnis der Vertrautheit mit den anderen Situierten und deren ›Mitsein‹ (Heideggers Ausdruck) für sich. Deshalb ist er in diesem Rahmen von vorneherein keine haltbare Position. ›Ich bin‹ heißt phänomenal: Unausgesetzt gestaltet sich das Jeweilige je so. Die diachrone Verfasstheit des So ist der Grund seiner Unzerlegbarkeit, der Grund dafür, dass es nicht summativ durch eine Aufzählung seiner Teile oder Aspekte zu fassen ist: Das So ist nicht das zu einem Zeitpunkt feststellbare Bestehen von Umständen, die jemandes Lage definieren, sondern qua Binnenaspekt der Situation das Sich-so-Gestalten dessen, was je Sache, d. h. in je-dieser Situation thematisch ist. Das So lässt sich nicht summativ fassen, nicht als Menge an Umständen darstellen: Eine getreue Beschreibung seiner muss es in seiner prozessualen Ganzheit belassen. Das So ist totum, nicht compositum, d. h. nicht die Summe verschiedener für sich bestehender Umstände, die zu einem Zeitpunkt zusammentreten, sondern das hiesig-jetzige Sich-so-Gestalten der Sachen: Die quantitative Ontologie ist ein Atomismus, insofern sie das Bestandsstück als Summe der an ihm bestehenden Eigenschaften und den Gesamtbestand als die quantitativ größte und deshalb qualitativ reichste Summe denkt. Eine phänomenale Ontologie, wie sie hier entworfen wird, ist ein holistischer Ansatz: Das Jeweilige lässt sich nicht phänomengetreu als finite Menge von Eigenschaften darstellen, es ist nur in der Ganzheit seines Sich-so-Gestaltens zu beschreiben. Der Baum, vor dem ich stehe, ist phänomenal – seinem Sich-so-Gestalten nach – nicht die Summe seiner Eigenschaften. Ich kann ihn als dergestalt summativ verfasst modellieren, aber dann basiert meine Beschreibung seiner nicht darauf, dass und dass er mir so entgegenwährt: Denn eine bestimmte Summe von Eigenschaften besteht nur zu einem Zeitpunkt. Solche Eigenschaften vernehmen wir aber niemals am Phänomen selbst. Ich sehe, dass die Krone des Baumes sich im Wind bewegt; ich sehe keinesfalls, dass sie zu tx diese Position einnimmt und zu ty jene. Die Einheit des einen Baumes ist phänomenal keine Summe an Eigenschaften, sondern das un-zählige (nicht auf eine Zahl zu bringende) So seiner Gestalt, einer Gestalt, die niemals statisch verfasst ist, sondern prozessual und deshalb verbal wieder83 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Methode der Untersuchung
zugeben ist: als Sich-so-Gestalten. Das Substantiv ›Gestalt‹ und die Substantivierung des Verbs ›sich gestalten‹ fallen hier also in eins: Das liegt daran, dass eine Gestalt sich niemals abbilden lässt auf einen Zeitpunkt, da diese Abbildung sie entstellt zu einem irgendwie beschaffenen Bestandsstück, das zu tx relativ zu einer Person Objekt ist, was dieser wiederum den Status des objektivierenden Subjekts verleiht. Eine Sprache, die so etwas wie Zeitpunkte überhaupt zulässt, kann die Gestalt nur entstellen. Getreu artikuliert ist diese nur als immer schon begonnen habendes und sich in das Kommende erstreckendes Währen eines Sich-Gestaltens, des Darbietens eines So. Das Auszeichnende der quantitativen Ontologie liegt darin, dass sie die durchgängige Bestimmtheit des in ihrem Rahmen Konzipierten erlaubt: Sie erlaubt es, das Seiende hinsichtlich seiner Eigenschaften (der Prädikate, die ihm wahrheitsgemäß zukommen) als veridisch fixiert zu konzipieren. Im Rahmen der Quantität ist ein Punkt denkbar, an dem eine Beschreibung erschöpfend ist, nämlich dann, wenn eine Beschreibung alle wahrheitsgemäß vom Beschriebenen auszusagenden Prädikate enthält. Das numerisch als Summe von Eigenschaften eines Bestandsstücks, als Summe aller Bestandsstücke oder als Summe aller Bestandsstücke samt ihrer jeweiligen Eigenschaften Beschriebene ist in seiner Beschaffenheit und damit in seiner Disposition zum Zeitigen bestimmter Wirkungen in bestimmten Zusammenhängen feststellbar. Nur das als Bestandsstück hinsichtlich seiner Eigenschaften festgestellte Seiende kann darauf gestellt werden, eine bestimmte Wirkung zu zeitigen: Die Feststellung seiner kausalen Dispositionen macht, zusammen mit der Feststellung der Bedingungen, unter denen sie abrufbar sind, sein Wirken programmierbar: Es ist auf diese Wirkung einstellbar. Dagegen müssen wir die nichtdurchgängige Bestimmtheit der Phänomenalität in unserem Entwurf einer phänomenalen Ontologie positiv würdigen: Unsere Begrifflichkeit muss widerspiegeln, dass die Phänomene in ihrem Sich-Gestalten nicht letztgültig bestimmt sind. Das So der Phänomene bleibt mehrdeutig und unterliegt deshalb in der iterier- und re-iterierbaren Reflexion prinzipiell neu und neu der Revision. Das So ist ebenso bestimmt wie mehrdeutig: Diese zwei Charakteristika schließen sich nicht aus. Das So ist insofern bestimmt, als es immer gebunden ist an je-diese Situation: So, Hier und Jetzt gehören ursprünglich zusammen. Ich gehe jetzt diese Straße entlang: mit meiner Bewegung längs der Häuserzeile, entfaltet sich mir neu-und-neu zu meiner Linken dieses Haus, dieses Stück Gartenzaun, Rasenfläche, 84 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Phänomenalität
tut sich um mich mir neu und neu die Gegend auf, in der ich unterwegs bin, in dieser Richtung, dorthin unterwegs oder ziellos. ›Hier‹ und ›Jetzt‹ meinen phänomenal nicht einen Zeitpunkt und eine Raumstelle, sondern die Gegend, in der ich gerade dorthin oder ziellos unterwegs bin. Das So meint phänomenal das Sich-Gestalten der durchlaufenen Gegend, das bestimmt ist als dieses, d. h. unwiederholbar Einziges, da gebunden an die Einzigkeit dieser Gegend, die mir hier und jetzt so entgegentritt (wenn diese Einzigkeit auch unter der Gewohntheit und Gewöhnlichkeit der Gegend in ihrer Unwiederholbarkeit verdeckt bleiben kann). Diese Bestimmtheit als hiesig-jetziges schließt nicht aus, dass das So dabei unfixiert bleibt, dass die Offenbarkeit dessen, was sich je so gestaltet, das von ihm Verborgene in sich birgt: Ich sehe nicht in das von außen leer aussehende Haus hinein; ich sehe dem mir Entgegenkommenden an, dass er so schaut, sich so benimmt und bewegt: Ich sehe dabei nicht die Situation, in der er ist, nicht den ganzen Horizont an kommenden und gewesenen Situationen, in dem dieser andere Situierte dazu gekommen ist, hier und jetzt an mir vorbeizulaufen, wie ich dorthin unterwegs oder ziellos. Ich lasse den Entgegenkommenden an mir vorbeigehen; ich sehe nicht, ob das flüchtige So, das mir seine Gestik, Mimik, seine Bewegungen darboten, sich in der Folge bestätigt, das So bleibt mit dem Vergehen der Situation, dass ich hier und jetzt an diesem Mitsituierten vorbeigehe, unerschöpft stehen. Diese Unerschöpftheit geht hier nicht bloß auf die Kürze und Oberflächlichkeit der Begegnung zurück, denn egal, wie in- und extensiv ich mich einer Sache neu-undneu zuwende: Sie wird zwar reicher und reicher dadurch, aber niemals schlechthin eindeutig. Ihre Deutung bleibt revidierbar. Im Rahmen der Quantität machen die Eigenschaften des Bestandsstücks in ihrer Summe seine Beschaffenheit aus. Jedes Einzelne ist in Abhängigkeit von seinen Eigenschaften ein irgendwie beschaffenes Irgendetwas. Unter den Eigenschaften sind solche, die über seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung, Klasse, Kategorie entscheiden, d. h. die entscheidend dafür sind, um was es sich bei dem betreffenden Einzelnen handelt; andere Eigenschaften individuieren es unter allen Exemplaren derselben Gattung. Die haecceitas des Einzelnen schnurrt im Rahmen der quantitativen Ontologie zusammen zur qualitativen Einzelnheit dessen, das Eigenschaften aufweist, die sie von allem anderen unterscheiden. Von den Bestandsstücken lassen sich wahrheitsgemäß bestimmte Eigenschaften prädizieren. Die Prädikate, die einem Bestandsstück zukommen, beschrei85 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Methode der Untersuchung
ben es hinsichtlich dessen, was und wie beschaffen es ist. Der Streit darum, was und wie beschaffen etwas ist, ist der Streit darum, welche Prädikate ihm zukommen. Dass die Beschaffenheit des Bestehenden im Wandel ist, schlägt sich dergestalt nieder, dass diese Prädikate ein zeitliches Argument haben: Etwas hat zu tx diese und jene Eigenschaften, zu ty hat es gewisse Eigenschaften verloren, andere hinzugewonnen. Wie ist es aber phänomenal zu charakterisieren, dass das Jeweilige sich mir gestaltet? Gestaltet es sich dann derart als irgendetwas und irgendwie? Ich konstatiere nicht – jetzt, da ich hier vor diesem Baum stehe – eine Summe von Eigenschaften zu einem Zeitpunkt. Ich sehe ihn nicht vom Wind bewegt, indem ich seine Krone zum Zeitpunkt tx in dieser Stellung sehe zum Zeitpunkt ty in einer anderen. Ich sehe die Gestalt des Baums, dessen Krone im Wind wogt. Hier und jetzt gestaltet der Baum sich so: Der Baum qua Phänomen ist der Baum als sich hier und jetzt so Gestaltendes. Für eine Ontologie der Phänomenalität ist das Seiende nicht das zu einem Zeitpunkt als irgendwie beschaffenes Etwas im Bestand Verzeichenbare, sondern das Jeweilige, Sich-Gestaltende. Wenn zu tx eine Person auf ein Bestandsstück trifft, zeigt dieses sich ihr als irgendetwas und irgendwie beschaffen. Unzählige Möglichkeiten des Sich-Zeigens sind denkbar. Jetzt, wo diese Sache mir entgegenwährt, gestaltet sie sich so (nicht anders) – wobei ›jetzt‹ hier niemals einen Zeitpunkt meinen kann, sondern immer eine Zeitspanne: Diese Situation, in der dies Sache ist. Vom So kann ich nur in Beispielen sprechen. Ich kann beschreiben, dass es so ist, jetzt, da die Krone des Baumes sich im Wind bewegt; da feine Risse in der Rinde sich den Stamm entlang ziehen; da seine Äste merkwürdig gekrümmt sind etc. Ich kann auch anderen beschreiben, dass es so war, als seine Krone sich im Wind bewegte; immer können dann Rückfragen und Aufforderungen wie diese kommen: ›Beschreibe jenes Sich-Wiegen im Wind jenes Baums, von dem du erzählst, genauer.‹ ›Wie waren denn die Risse der Rinde genau?‹ ›Weshalb sind sie dir aufgefallen?‹ ›Wie war denn die Krümmung der Äste, die du als merkwürdig beschreibst, genauer?‹ ›Und wie meinst du eigentlich ›merkwürdig‹ hier?‹ Etc. pp. Dann müssen wir weitere Beschreibungen geben, dann würden wir dazu gebracht, die Sache und die Situation ihrer Jeweiligkeit in wachsender Komplexität zu beschreiben, dabei noch unseren Gebrauch der Worte, in denen wir das Jeweilige so beschreiben, selbst zu thematisieren – ohne dabei 86 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Phänomenalität
jemals einen Punkt vor Augen zu haben, an dem das So und die Worte, in denen wir das Jeweilige so beschreiben, vollständig erfasst wäre durch die Beschreibungen, die ich von ihnen gebe. Während es so war, dass …, war es immer auch so, dass … bzw. genauer gesagt so, dass … – im Aufstellen einer solchen Liste kämen wir niemals an den Punkt, wo wir sagen könnten, jetzt hätten wir die artikulierte Situation erschöpfend und vollständig erfasst. Das So ist un-zählig: nicht überabzählbar, sondern so verfasst, dass es sich der mengenmäßigen Erfassung überhaupt entzieht. Das So lässt sich deshalb nicht als endliche Menge dieser Beispiele beschreiben, weil es eine solche nur zu einem Zeitpunkt geben kann. Eine summativ verfasste Gesamtheit besteht zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sie als Menge einer bestimmten Mächtigkeit konstatieren. Der quantitativ konzipierten Qualität (dem Irgendwie-Beschaffensein zu einem Zeitpunkt) des Bestehenden entspricht phänomenal die Talität (das Sich-so-Gestalten) des Jeweiligen. Phänomenal hat es sich immer schon entschieden, wie diese Sache sich gestaltet: Sie gestaltet sich so. Und dieses wesenhaft mehrdeutige So ist flüchtig und nicht erschöpfend zu rekonstituieren. Im Rahmen der Quantität ist alles Bestehende bestimmt durch die Summe an Prädikaten, die ihm zu tx zukommen. Nur was dergestalt summativ verfasst ist, ist erschöpfend beschreibbar: Nur unter Annahme solch summativer Verfasstheit wird eine erschöpfende Beschreibung überhaupt denkbar. Denn nur dann lässt sich ein Kriterium dafür angeben, wann von deskriptiver Erschöpftheit gesprochen werden kann: wenn eben alle Eigenschaften aufgezählt sind. Wenn die Beschreibung der Eigenschaftsmenge gleichkommt, alle Eigenschaften aufzählt, dann hat sie diese Menge erschöpfend (zureichend) abgebildet. Phänomenal ist das Jeweilige bestimmt durch das eine ganzheitliche und flüchtige tale des Sich-Gestaltens, das auf keinen Zeitpunkt festgelegt werden kann und nicht in Zustände zu Zeitpunkten zerlegt werden darf, sondern ganzheitlich zu fassen ist, weil es nur in seiner Diachronie, der ungeteilten Bewegung des Sich-Gestaltens ist. Das So verläuft und ist nicht anders denn als verlaufend. Der Unterschied zwischen dem Einzelnen der quantitativen Ontologie, dem numerisch einzelnen Bestandsstück, und dem Jeweiligen, dem phänomenal Einzelnen, liegt darin, dass dieses nicht zu tx etwas und irgendwie ist: Es ist radikal diachron verfasst. Das Jeweilige ist im Sich-Gestalten begriffen, weil der Situierte im Sich-Verhalten begriffen ist und umgekehrt. Und genauso ist andersherum der Situierte nur der Sich-Verhaltende, sofern und solange als das Jeweilige 87 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Methode der Untersuchung
sich ihm je so gestaltet. Wieder gilt es, den verlorengegangenen Sinn der Konjunktion ›weil‹ mitzuhören: Weil ich mich verhalte, gestaltet sich das Jeweilige so. Ich bin aber nicht die Ursache dieses Sich-Gestaltens, sondern mich gibt es umgekehrt phänomenal nur, solange sich das Jeweilige je so gestaltet. Wir haben also den kausalen Sinn von ›weil‹ ganz aufgegeben und lesen die Konjunktion stattdessen als Ausdruck des Begriffenseins im Verhältnis zueinander: Verhalten und Sich-so-Gestalten sind in totaler Synchronie bewegt: Sie sind begriffen in der Bewegung ihres Verhältnisses, im Verlauf je-dieser Situation. 53 ›Weil‹ drückt in dieser Lesart keine Subordination von einerseits Verursacher und Ursache und andererseits Wirkung und Wirkung Erleidender mehr aus, sondern die Koordination zweier ontologisch gleichrangiger Momente: Während – und nur während – das eine das andere und umgekehrt. Die Konzepte des Verhaltens und des Verhältnisses, derer wir uns hier bedient haben, sind Thema des nächsten Kapitels.
Ich verstehe Syn- und Diachronie also nicht als Gegensätze: es gibt im Gegenteil synchrone Diachronie, nämlich das synchrone Verlaufen zweier Prozesse.
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Die Situation als Verhältnis
Erfahren Es war in den voraufgehenden Kapiteln schon vom Erfahren die Rede; dort hieß es: Erfahren bedeutet Wohnen in der Welt als Gewinnen von Vertrautheit mit dem Seienden. Sobald ich ausdrücklich sage: ›ich bin‹, habe ich mich schon in die Welt eingewohnt, d. h. bin ich schon erfahrend in sie und die Vertrautheit mit ihr hineingewachsen. Sobald ich gar die Aussage ›ich bin‹ philosophisch thematisiere, ist das Seiende um mich mir längst das Gewohnte geworden. Der Anfang meines Erfahrens liegt weit hinter mir. Ich wohne also in der Welt, insofern das Seiende um mich mit der Zeit – d. h. während meines Erfahrens – zum Vertrauten geworden ist. Wie aber ist ›Erfahren‹ darüber hinaus näher zu explizieren? Erfahren – so soll in diesem Kapitel entwickelt werden – vollzieht sich als Verhalten zum Jeweiligen: Ich erfahre je das, wozu ich mich verhalte. Die reflexive Verfasstheit des Erfahrens gründet darin, dass ich, während ich, mich zu ihm verhaltend, das Seiende erfahre, ich dieses Verhalten selbst erfahre. Es ist ein phänomenaler Charakterzug des Verhaltens, dass ich es selbst genauso erfahre, wie dasjenige, wozu ich mich je verhalte: Sehend oder denkend erfahre ich ebenso ursprünglich mein Sehen wie das Gesehene, ebenso ursprünglich mein Denken wie das Gedachte: Weil ich in der Welt wohne, wohne ich bei meinem Verhalten zum Jeweiligen. Dieses Wohnen-bei-mir-selbst bzw. beim eigenen Verhalten hat nicht den Charakter der ›inneren Wahrnehmung‹ im Gegensatz zur äußeren, welche begriffliche Unterscheidung Husserl von Kant ererbt hat: Originäre Erfahrung haben wir von den physischen Dingen in der ›äußeren Wahrnehmung‹, aber nicht mehr in der Erinnerung oder vorausblickenden Erwartung; originäre Erfahrung haben wir von uns selbst und unseren Be-
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Die Situation als Verhältnis
wusstseinszuständen in der sog. inneren oder Selbstwahrnehmung, nicht aber von anderen und von deren Erlebnissen […] (1976, 11).
Diese Ausdrucksweise ist unglücklich aus zwei Gründen: Erstens weil sie nahelegen könnte, dass die Wahrnehmung sich immer verdoppeln muss, um überhaupt Wahrnehmung zu sein: als müsste das äußerlich Wahrgenommene noch einmal im Inneren eigens als Bewusstseinszustand wahrgenommen werden, was die Frage aufwirft, ob denn diese zweite Wahrnehmung nicht ihrerseits wieder der Wahrnehmung bedürfe. Ich will keine Position in dieser Frage beziehen, sondern diese Redeweise überhaupt vermeiden; dies vor allem aus dem zweiten Grund, der schwerer wiegt als der erste, nämlich die Trennung von Innen und Außen wie sie hier vorgenommen wird: Auf der einen Seite das Bewusstsein als die Sphäre innerer (d. h. privater, der Beobachtung verhehlter) Zustände, auf der anderen die Sphäre all dessen, das relativ zu dieser Innensphäre das Äußere ist und mit ihr in irgendeiner Art von Wechselbezug steht: Im Bestand sind dann so etwas wie ›innere (mentale) Episoden‹ zu verzeichnen, denn, was besteht, ist kategorial gegliedert in das Innen des Mentalen und das Außerhalb dieser Innensphäre. Weiter kommt man nicht umhin, anzuerkennen, dass irgendeine Art von Wechselbezug stattfindet: Ihn delegiert man im Rahmen der Bestandsontologie an die erwähnten inneren Episoden, die mentalen Ereignisse oder Bewusstseinszustände. Husserls Philosophie ist getragen von einer bestimmten Auffassung des Verhältnisses von Bewusstsein und seinem Außerhalb: Er suspendiert (›klammert ein‹, wie er selbst sagt) das Außerhalb des Bewusstseins zugunsten der Immanenz dieses Außerhalbs im Bewusstsein qua Erlebnis oder eben Bewusstseinszustand. Husserl sucht den Ausgang aus einem Ansatz, dessen Sprache er dabei nicht umhin kann zu übernehmen: Darin liegt sowohl das Verdienst wie auch die Unzulänglichkeit seines Entwurfs der Phänomenologie; darin liegt, dass die erste Formulierung der Phänomenologie den Diskurs der korrigierenden Reinterpretationen fordert. 54 Phänomenologie ist – wie gesagt – eine Aufgabe. Phänomenal muss ich mich zum eigenen Verhalten nicht wieder eigens verhalten, um bei ihm zu sein, denn ich wohne immer schon bei ihm. Erst die Reflexion ist als Artikulation dieses Wohnens-beimir-selbst ein Verhalten zum eigenen Verhalten, aber keinesfalls bin Wie Lyotard vollkommen zu Recht sagt, ist Husserl, was die Phänomenologie angeht, immer zu geben, was seines ist: angefangen zu haben (vgl. 7).
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Erfahren
ich erst durch sie bei ihm. Waldenfels’ Frage: »Bin ich schlechthin selbstvergessen, solange ich nicht reflektierend auf mich zurückkomme (1971, 95)?« ist eine rhetorische, deren implizierte Antwort lautet: nein! Ich bin auch, solange ich nicht ausdrücklich auf mein Verhalten reflektiere (es artikuliere), bei ihm – so ursprünglich wie ich in der Welt bin. Diese Gleichursprünglichkeit drücken wir aus, indem wir dem Wohnen in der Welt ein Wohnen beim eigenen Verhalten beistellen: Unser eigenes Verhalten ist keinesfalls Ungewohntes, es ist uns sogar im gewissen Sinne das Gewohnteste überhaupt, denn wir sind vertraut mit ihm, solange wir zurückdenken können und noch länger. Ich kann deshalb artikulieren, wie es ist, zu sehen oder zu denken, weil ich als Sehender, als Denkender ebenso vertraut bin mit Sehen und Denken wie mit dem, was ich je sehe oder denke. Im Modus der Reflexion thematisiert das Verhalten sich selbst: Die Reflexion artikuliert die Vertrautheit mit dem eigenen Verhalten. Diese Vertrautheit ist die Ressource, aus der eine phänomenale Ontologie ihre Beschreibungen schöpft. Näher geht es in den folgenden Abschnitten 1) um das Verhalten selbst, 2) um die Zwiefalt von Verhalten und Sich-Gestalten, 3) um die Welt als Horizont des Verhaltens und 4) um die diskursive und transitive Bewegtheit des Verhaltens durch die Sachen.
Verhalten Der Verhaltensbegriff hat dadurch, dass er als Übersetzung für das englische ›behaviour‹ dient und mit diesem synonym gebraucht wird, im philosophischen Sprachgebrauch eine semantische Verengung erfahren. So können von ›Verhalten‹ zweierlei Präpositionalphrasen abhängen: Ich verhalte mich sowohl zu … als auch gegenüber … Nur letzteres hat eine Entsprechung im Englischen ›to behave (oneself) towards …‹ Verhalten gegenüber jemandem oder etwas – behaviour towards somebody or something – ist immer an den Tag gelegtes Betragen. Jemand benimmt sich irgendwie gegenüber jemandem oder angesichts von etwas. ›Benehmen‹, nicht ›Verhalten‹, ist eigentlich die deutsche Entsprechung zu ›behaviour‹. ›Benehmen‹ und ›behaviour‹ sagen wir typischerweise von jemand anderem als uns selbst aus. Wir sehen, wie jemand sich gibt, wie er auftritt, und sprechen es als sein Benehmen an. Insofern ist es nur konsequent, dass ›behaviour‹ zum Zentralbegriff einer Psycho91 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
logie wurde, die nur noch von solchem an den Tag gelegten und deshalb beobachtbaren Benehmen handeln wollte. Verhalten zu … sagen wir aber ebenso von uns selbst aus wie von anderen. Und wenn wir sagen, dass wir uns so oder so zu etwas verhalten, dann meinen wir damit nicht, dass wir ihm gegenüber ein bestimmtes Benehmen an den Tag legen: Beobachtbarkeit mag ein Kriterium für das englische behaviour und zumal für dessen behavioristischen Gebrauch sein, es ist keines für das Verhalten als Sich-Verhalten-zu … Dieses erfahren wir im Gegenteil nur originär als das eigene: primär weiß ich, wie es ist, sich zur Welt zu verhalten, weil ich mich selbst zur Welt verhalte, nicht weil ich andere beobachten würde, die sich zur Welt verhalten (einmal davon abgesehen, dass Beobachten selbst schon ein Verhaltensmodus ist 55). Der phänomenale Charakter des Verhaltens tritt hervor in Sätzen wie ›Er verhielt in seiner Bewegung‹ oder ›Sie verhielt auf dem Treppenabsatz‹. ›Verhalten‹ in diesem Sinne bedeutet, irgendwo anzuhalten und sich dann dort aufzuhalten. Entsprechend verstehen wir das Sich-Verhalten-zu … als ein Sich-Aufhalten beim Wozu des Verhaltens. Mich zu etwas verhaltend verweile ich bei ihm. Und das Wozu des Verhaltens ist mir, weil ich mich zu ihm verhalte, gegenwärtig. Das Wozu des Verhaltens ist das Jeweilige. Verhalten ist Sein-beiden-Sachen. Heidegger hat den Begriff des ›Verhaltens zu …‹ in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik in einem Sinne gebraucht, der dem hiesigen eng verwandt ist, was sich bereits daran zeigt, dass dort wie hier ›Verhalten‹ als Explikat für ›Erfahren‹ dient. Bei Heidegger heißt es dann im Zusammenhang einer Unterscheidung von Mensch und Tier, die Struktur des »etwas als etwas« sei »dem Tier von Grund auf verschlossen (397).« Und weiter: Nur wo überhaupt Seiendes als Seiendes offenbar ist, da besteht die Möglichkeit, dieses und jenes bestimmte Seiende als dieses und jenes bestimmt zu erfahren – erfahren im weiteren Sinne, der über die bloße Kenntnis hinausgeht: Erfahrungen mit ihm machen (ebd.).
Nur der Mensch erfährt, denn nur ihm ist das Seiende offenbar als …, d. h. bestimmt als dieses und jenes. Damit wird die Sprachlich-
Insofern ›Beobachten‹ die Zugangsart zum Seienden ist, die die quantitative Ontologie kennzeichnet, ließe sich sagen: Das Beobachten ist das sich selbst ignorierende Verhalten – dasjenige, das sich selbst überspringt zugunsten des Beobachteten.
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Erfahren
keit des Menschen, wie es schon traditionell geschah, zum Kriterium der Unterscheidung von Mensch und Tier. Nur wo Sprache – die Möglichkeit reflexiver Artikulation –, da geschieht ein Erfahren, wie wir als Menschen mit ihm vertraut sind. Die Möglichkeit der Reflexion bedingt ihrerseits die Möglichkeit einer Offenbarkeit von Seiendem als solchem, d. h. die Möglichkeit, das Seiende ontologisch ausdrücklich als Seiendes zu artikulieren. Ontologie ist die Interpretation des Seienden auf sein Sein. Dieses Sein – damit springen wir in die Terminologie von Sein und Zeit – ist differenziert in verschiedene Seinsarten: Das Ding, etwa ein Stein, ist vorhanden oder zuhanden, das Tier lebt, der Mensch existiert. 56 Diese Differenzierung soll einem Schichtenmodell des Seienden vorbeugen, laut dem man etwa sagen würde, das Tier sei Vorhandenes, das darüber hinaus noch lebt, der Mensch Lebendes, das darüber hinaus noch der Sprache mächtig sei: »Das Dasein ist […] ontologisch nie so zu bestimmen, daß man es ansetzt als Leben – (ontologisch unbestimmt) und als über dies noch etwas anderes (1979, 50).« Man setzte dann ein zunächst undifferenziertes Sein alles Seienden an, das sich dann, gemäß den verschiedenen Schichtungen, in denen es vorkommt, in die Bereiche des dinglichen, tierischen und menschlichen Seins gliedert. Diese machen im Rahmen einer Bestandsontologie drei Teilbestände des qua Bestehen ursprünglich homogen konzipierten Seins aus: Es sind im Gesamtbestand dessen, was ist, sowohl Menschen als auch Tiere als auch Dinge zu verzeichnen. 57 Diese drei Seienden bestehen gleichermaßen. Die Bestandsontologie nivelliert das Seiende auf den undifferenzierten Charakter bloßen Bestehens, d. h. wahrheitsgemäßer Konstatierbarkeit. Menschen (Personen) sind genauso wie Dinge und Tiere als Bestandteile des Gesamtbestands zu protokollieren. Alle Variationen dessen, was hier als ›Schichtenmodell‹ bezeichnet wurde, fußen letztlich auf dieser ontologischen Leitentscheidung für ein auf das bloße Bestehen nivelliertes Sein: Das Seiende ist dann das Bestehende, die bezifferbare Mannigfaltigkeit der Bestandsstücke. Die Vielheit des Bestehenden ist kategorial gegliedert, etwa in die Klassen des DingVgl. § 10 (50): »Leben ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation; sie bestimmt, was sein muß, daß so etwas wie Nur-noch-leben sein kann. Leben ist weder pures Vorhandensein, noch aber auch Dasein.« 57 Eine strukturell ähnliche Kritik eines Schichtenmodells findet sich in Der Ursprung des Kunstwerks in Bezug auf das Verhältnis von Ding, Zeug und Werk. Vgl. den Abschnitt ›Das Ding und das Werk‹, 11 ff. 56
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Die Situation als Verhältnis
lichen, Tierischen und Menschlichen; für jede dieser Kategorien lassen sich dann (prinzipiell) Kriterien angeben, die über die Zugehörigkeit zu ihr entscheiden. Solche Kriterien lassen sich ausformulieren zu Prädikaten, die jeweils allein den Dingen, den Tieren oder den Menschen zukommen können. Andere Prädikate jedoch haben Tiere und Menschen mit den Dingen gemein: Von allen ist Ausgedehntheit, physisches Bestehen aussagbar. Lebendigkeit dagegen unterscheidet Tier und Mensch vom Ding; weiter unterscheidet der Mensch sich vom Tier laut der klassischen Bestimmung durch seine Sprachlichkeit, schleift aber ontologisch sowohl die Materialität der Dinge wie die Animalität der Tiere mit sich. Heideggers Ansatz ist dagegen: Die Seinsart des Menschen, die Existenz, unterscheidet ihn so ursprünglich von Tier und Ding, dass kein Schichtenmodell, das ihn hervorgehen lässt aus Materiellem und Animalischem, ihn je adäquat erfassen würde. Das verbal gefasste Sein des Menschen, seine Art da zu sein – zu der die Möglichkeit der Reflexion gehört, die Möglichkeit, sich selbst zu finden, jetzt, da es so ist, hier zu sein – unterscheidet das Seiende, das wir den Menschen nennen, ursprünglich von Ding und Tier. Die Ausgedehntheit des Menschenleibs ist daher nicht gleichzusetzen mit der der leblosen Körper, die Lebendigkeit des Menschen nicht mit der des Tiers, sondern beide müssen aus seiner spezifischen Seinsart heraus begriffen werden. Weiter heißt es: Schließlich, wo Offenbarkeit von Seiendem als Seiendem, da hat die Beziehung zu diesem notwendig den Charakter des Sich-darauf-Einlassens im Sinne des Sein- und Nicht-sein-Lassens dessen, was begegnet. Nur wo solches Seinlassen, da ist zugleich die Möglichkeit des Nichtseinlassens. Eine solche Beziehung auf etwas, die durchherrscht ist von diesem Seinlassen von etwas als Seiendem, nennen wir […] das Verhalten (397).
Dass ich mich an diese Sache kehre und bei ihr verweile, dass ich mich von jener anderen abkehre (und sie so, was mich angeht, nicht sein lasse), dass ich auf diese Sache immer wieder zurückkomme, jene andere bald vergesse, bedeutet: Ich lasse mich auf erstere in höherem Grade ein als auf jene andere. Das Sich-Einlassen auf eine Sache bedeutet die Einnahme einer Haltung zu ihr, die innerhalb des Spektrums von begeisterter Zuwendung und trockenem Übergehen rangiert. In Sein und Zeit wird das Nämliche gesagt, wenn es vom Dasein heißt, es sei ›ent-fernend‹ (Ferne aufhebend), d. h. habe »eine wesenhafte Tendenz auf Nähe (105; Sperrungen entfernt – JB)«: Der Mensch strebt nach dem Wissen, indem er nach der näheren Kennt94 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Erfahren
nis, der weitergehenden Vertrautheit mit dem strebt, was ihn als für ihn relevant und bedeutend angeht (damit ist keinesfalls ausschließlich, nicht einmal primär, ein Streben nach Erkenntnis im Sinne wissenschaftlicher Forschung gemeint, obwohl sich dieses Streben zu solcher Forschung ausbilden kann). 58 Dass neben dem Bedeutenden und Relevanten andere Sachen dergestalt angehen, dass sie kalt oder unbeeindruckt lassen, ist ein defizienter Modus desselben Angegangen- und Betroffenwerdens vom Jeweiligen. 59 ›Ich verhalte mich zu den Sachen‹ heißt also: Ich lasse mich in unterschiedlicher Intensität von ihnen angehen. Der Angang der Sachen wird weiter unten eigens thematisiert werden; für jetzt halten wir fest, dass das Verhalten – als das durch Hinwendung zu … und Abkehr von … bestimmte Seinbei-den-Sachen – die Weise ist, auf die wir reflexiv erfahren. Ich verhalte mich dabei sowohl zu den Sachen, indem ich sie gebrauche oder mit ihnen hantiere, sie mit der Hand greife, mit dem Arm bewege etc. als auch, indem ich sie sehe, sie erinnere, über sie nachdenke etc. Jedes Zutunhaben oder Beschäftigtsein mit …, jedes Inanspruchgenommensein von … ist Verhalten zum Jeweiligen – egal, ob es leiblich-zugreifend oder rein vernehmend ist. Überhaupt lässt sich das Verhalten phänomenal nicht unterteilen in physische und psychische (epistemische, kognitive) Bestandteile. Das Phänomen des Verhaltens erlaubt uns diese Scheidung in die Seinsbereiche des Physischen (Materiellen, Realen), Psychischen (Mentalen, Geistigen) nicht; genauso wenig lässt sich am Verhalten jemals ein ›propositionaler Gehalt‹, als Domäne des Logischen aussondern: Jetzt, da ich am Tisch sitze und schreibe, ist genauso Sache die Tastatur, auf der meine Finger tippen, wie das, was ich schreibe, d. h. was sich in den Worten auf dem Bildschirm artikuliert. Beides sind Momente einer Gegenwart, d. h. ursprünglich eingebunden in die thematische Ganzheit der Situation, in der ich bin. Während ich mich denkend zu den Sachen verhalte, die ich niederschreibe, verhalte ich mich leiblich zur Tastatur, auf der meine Finger tippen, zur Tischplatte, auf der meine Unterarme dabei ruhen. All dies ist in dieser Situation gleichHeidegger wendet sich ja, wie Odo Marquard bemerkt, gerade gegen »die Abstraktheit eines philosophischen Ansatzes […], der den Menschen nur als Subjekt des Wissenschaftstreibens in Anschlag bringt, als einen, der nur mit Gegenständen in exakten Messverfahren zu tun hat (75).« 59 Vgl. Heidegger: »Auch jenes, was uns, wie wir sagen, nichts angeht, geht uns auf seine Weise sehr an. Denn das Gleichgültige geht uns daraufhin an, dass wir ständig an ihm vorbeigehen und es liegen lassen (1994, 24).« 58
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Die Situation als Verhältnis
ursprünglich Sache. Und selbst, wenn ich aufhöre zu tippen, wenn ich nur noch sitze und denke, bleibe ich dabei leiblich und wahrnehmend in verhaltensmäßigem Kontakt zur physischen Umgebung. Das Verhalten lässt auch als bloßes Grübeln über die abstraktesten Sachverhalte den Leib nicht hinter sich. Es lässt sich also am Verhalten kein physiologisch beschreibbarer Vorgang und ein diesem koordinierter kognitiver (informationsverarbeitender) Prozess unterscheiden: Wenn ich die Straße hinabgehe und ohne darüber nachzudenken, einem Hindernis ausweiche, lässt sich dieses Verhalten zur Umgebung phänomenal nicht scheiden in motorisch-effektorische und sensorisch-kognitive Komponenten. Hinsichtlich des Verhaltens darf die Unterscheidung von ›physisch‹ und ›psychisch‹ (›real‹ und ›mental‹) gar nicht getroffen werden, selbst wenn man dann in einem zweiten Schritt den Zusammenschluss beider zur psychophysischen Verfasstheit beteuert. Alle Komponentenmodelle des Verhaltens bleiben deshalb bloße Modelle, weil sie nicht das Zeugnis der Vertrautheit mit dem je-eigenen Erfahren als Verhalten zu … für sich haben. Deshalb sind sie im Rahmen einer phänomenalen Ontologie allesamt unzulässig.
Verhalten und Sich-so-Gestalten Verhalten und Sich-so-Gestalten vollziehen sich nur als Momente einer Zwiefalt. Mit diesem aus dem späten Heidegger entlehnten Begriff meinen wir im Folgenden eine Einheit, die nicht durch eine Zusammenfügung zweier hervorgeht, sondern im Gegenteil elementarer ist als ihre je für sich genommenen Momente, die ohne ihr jeweiliges Gegenstück nur Bruchstücke sind, da herausgebrochen aus ihrem ursprünglichen Beieinander. 60 Solch eine Zwiefalt bilden das Verhalten zum Jeweiligen und dessen Sich-so-Gestalten: Sie vollziehen sich nur in vollkommener Synchronie zueinander als zwei Momente einer prozessualen Ganzheit. Anders ausgedrückt sind ›Verhalten‹ und ›Sich-so-Gestalten‹ nur zwei Formulierungen des einen Verhältnisses, die eine von der Seite des Situierten, die andere von der des Jeweiligen her: Weil ich sie sehe, gestaltet sich die gesehen-werdende Sache, weil ich sie denke die gedacht-werdende. Und weil sich das Jeweilige mir gestaltet, sehe oder denke ich es. Das ›weil‹ 60
Zum Begriff der Zwiefalt bei Heidegger vgl. den Aufsatz Moira (2000, 235 ff.)
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in dem oben explizierten terminologischen Sinne ist also ein Ausdruck der Zwiefalt. Mein Verhalten zum Jeweiligen ist das, was geschieht, während ich bei diesem Jeweiligen verweile. Und während meines Verhaltens zu ihm gestaltet es sich mir, d. h. geschieht seine ›Offenbarkeit‹ : Aber wie steht es mit dieser Offenbarkeit des Seienden? Ist sie gleichsam ein Gewächs, das das Seiende selbst hervortreibt? Ist die Offenbarkeit des Seienden eine inhaltliche Eigenschaft desselben, so, wie Härte zum Stein gehört, Wachstum zum Lebendigen, Rechtwinkligkeit zum Viereck? Wenn wir über irgendein vorgelegtes Seiendes aus irgendwelchem Gebiet Auskunft geben sollen, dann werden wir doch, wenn wir dieses Seiende noch so eingehend erforschen, nie auf den Gedanken kommen, die Offenbarkeit des Seienden als Eigenschaft desselben zu nennen. Wir werden nicht nur nicht auf den Gedanken kommen, sondern gar nicht auf diese Offenbarkeit stoßen. Sie ist uns also in diesem Sinne unbekannt, weil am Seienden als Seienden nicht vorfindlich […] Aber wir sprechen doch von der Offenbarkeit des Seienden. Mithin ist die Offenbarkeit solches, was mit dem Seienden selbst geschieht. (2010, 405 f.)
Mit dem Seienden geschieht seine Offenbarkeit. Mit dem Seienden geschieht das Sein als φαίνεσθαι: Wo überhaupt Seiendes, da ist auch Sich-Gestalten. Das Geschehen der Offenbarkeit – ›Unverborgenheit‹ sagt Heidegger zumeist – ist nun kein Fortschritt zu totaler Transparenz: »Das Aufgehen (aus dem Sichverbergen), dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst (2000, 279)«, wie er das Heraklit-Fragment Nr. 123 übersetzt: Jede Weise, auf die das Jeweilige sich gestaltet, bedeutet das Nicht anderer möglicher Weisen, auf die es sich gestalten könnte. Von der Unverborgenheit ist daher das Nämliche zu sagen wie oben von der Vertrautheit. Auch sie ist immer eine relative, da von ihr kein Stadium der Vollkommenheit ausgesagt werden kann. Das Sich-so-Gestalten in dieser Situation legt das Sich-Gestaltende nicht darauf fest, wie es sich in Zukunft gestalten wird, sondern es bleibt ihm vorbehalten, sich in kommenden Situationen neu und anders zu gestalten. Genauso wenig bedeutet Offenbarkeit oder Unverborgenheit durchgängige Bestimmtheit des Offenbaren bzw. Unverborgenen: Zum So des Sich-Gestaltenden gehört im Gegenteil die Mehrdeutigkeit, die Unauflösbarkeit in absolutes Wissen und volles Durchschauen. Wenn im Folgenden davon die Rede ist, dass das Jeweilige sich im Verhalten gestaltet, dann drückt das kein räumlich oder sonst wie geartetes Enthaltensein aus, sondern die vollkommene Synchronie 97 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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und mutuale Dependenz von Verhalten und Sich-Gestalten. Die Präposition ›in‹ ist hier zu lesen als Korrelativum zur terminologischen Konjunktion ›weil‹. Dass sich das Jeweilige im Verhalten je so gestaltet heißt: Während und nur während ich mich zu dieser Sache verhalte, gestaltet sie sich mir so und nur während sie sich mir so gestaltet, verhalte ich mich zu ihr – sobald sie sich mir nicht mehr gestaltet, kann auch nicht mehr von einem Verhalten zu ihr gesprochen werden. Keines von beiden ist ohne das andere oder außerhalb seiner, d. h. vor oder nach ihm. Verhalten und Sich-Gestalten sind deshalb ontologisch gleichrangig. Das Verhalten ist nicht das Antezedens des SichGestaltens: Ich bewirke oder verursache nicht durch mein Verhalten, dass das Jeweilige sich gestaltet. Umgekehrt wird das Verhalten nicht dadurch bewirkt, dass eine Sache mich affiziert. Denn wie vermöchte ich eine Verursachungsbeziehung zwischen diesen beiden (egal in welcher Richtung) phänomenal auszuweisen? Wenn ich mich daran halte, wie ich selbst mein Sehen oder Denken erfahre – wie kann ich dann behaupten, das Sehen eines Jeweiligen gehe ihm qua Gesehenwerdendem vorauf, das Denken dem Gedacht-werdenden? Ich könnte im ersteren Falle vielleicht sagen, der gesehene Gegenstand müsse schon existiert haben, bevor er in mein Sichtfeld gekommen sei. Aber erstens erfahre ich auch dann nichts von Verursachung und – grundsätzlicher – konzipiere ich zweitens das Gesehene dann als Bestandsstück, das mir kontingenterweise zu einem Zeitpunkt sinnfällig wird: Qua Phänomen, d. h. qua Jeweiliges, Sich-Gestaltendes ist das Gesehene nur im wahrnehmenden Verhalten zu ihm. So gibt es phänomenal keinen Anhalt, das Antezedieren des einen vor dem anderen zu behaupten: Verhalten und Sich-Gestalten vollziehen sich nur als Zwiefalt beider. Die Zwiefalt entsteht nicht durch Fügung eines aus zweien, sondern umgekehrt durch die Auffaltung eines in zwei. Sie ist eine Einheit, die nicht aus der Verknüpfung zweier Einzelner hervorgeht, sondern aus der sich nur deskriptiv Momente herauslösen lassen, die ursprünglich zusammengehören und nicht außerhalb dieses Zusammen denkbar sind. Es gilt, die vollkommene Synchronie von Verhalten und Sich-so-Gestalten in der ganzen Spannweite ihrer Implikationen zu begreifen: Als Momente ihrer Zwiefalt sind Verhalten und Sich-Gestalten nicht wie Ursache und Wirkung in Reihe zu schalten und so voneinander zu trennen. Verhalten und Sich-Gestalten sind zwei Formulierungen eines Geschehens, zwei Momente eines Prozesses. Über ihre Zwiefalt hinaus ist weder ein Verhalten noch ein Sich-Gestalten. Diese Zwiefalt von 98 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Verhalten und Sich-Gestalten ist das Verhältnis. ›Ich erfahre‹, ›Ich wohne in der Welt‹ heißt: Ich bin unausgesetzt begriffen im Verhältnis zu je-dieser Sache, zum Jeweiligen. Verdeutlichen wir diese Zusammenhänge anhand des Beispiels einer einfachen Aussage wie: ›Ich stehe vor einem Baum.‹ Diese Aussage wäre im Rahmen der Bestandsontologie wie folgt zu explizieren: JB, der unter den basalen Individuen in die Klasse der Personen gehört, befindet sich in hinreichend geringer Distanz zu einem anderen solchen basalen Individuum, das allerdings einer anderen Klasse dieser Individuen angehört. Der Klassenunterschied liegt unter anderem darin, dass JB der Baum gegeben ist (er ihn als bestehend konstatiert), nicht aber JB dem Baum. JB ist relativ zu dem Baum ihn vernehmendes Subjekt. Der Baum ist relativ zu JB und seinem Subjektstatus Objekt, objektiviert dabei aber nicht umgekehrt JB, denn er ist keine Person. Personen sind basale Individuen, die relativ zu anderen als Subjekte, d. h. als objektivierend beschrieben werden können. Die Person JB weist dann zu allen Zeitpunkten, zu denen von ihr wahrheitsgemäß gesagt werden kann, der Baum sei ihr gegeben, den entsprechenden Wahrnehmungszustand auf – und zwar zu allen Zeitpunkten den nämlichen, denn JB wechselt laut seiner Aussage, er stehe vor dem Baum, nicht den Standpunkt relativ zu ihm. Man könnte hier von eine inerten Episode sprechen, denn es geschieht hier nichts: JB und der Baum verharren voreinander. Wenn ich dagegen genuin als Situierter sprechen will, d. h. vom eigenen Erfahren, von der Phänomenalität, dann muss ich sagen, dass sehr wohl etwas geschieht, während ich einfach nur vor dem Baum stehe und er vor mir: Er gestaltet sich mir, weil er vor mir steht. Während ich ihn anschaue, geschieht mit ihm seine Unverborgenheit, d. h. er wird mir weiter und weiter entborgen: Ich sehe zuerst nur Stamm und Blätter, erst nach einer Zeit sehe ich am Stamm die Struktur der Rinde, die Risse und Furchen, die sie durchziehen, erst nach einer Zeit erkenne ich das Astwerk durch das Blattwerk hindurch. Je länger ich vor ihm verweile, desto deutlicher, genauer, detaillierter sehe ich ihn; je länger ich vor ihm verhalte, desto weiter spinnt sich mein Sehen seiner im Denken fort. Während ich vor ihm bin, geschieht fortlaufend sein Sichso-Gestalten. Die Gestalt, die er mir darbietet, modifiziert sich fortlaufend, während er Thema meines Verhaltens ist. Angenommen nun, ich gehe an dem Baum vorbei: Ich sehe ihn rechterhand im Augenwinkel verschwinden, während linkerhand mein Blick auf einen anderen Baum fällt. Es geschieht hier kein Bruch, es gibt hier keine 99 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Fuge zwischen diesen zwei Jeweiligen. Das Sich-Gestalten des einen geht nahtlos über in das des anderen. Phänomenal ist tatsächlich alles im Fluss. Mit dieser Aussage drücken wir die Kontinuität des SichGestaltens aus: unausgesetzt gestaltet sich neu und neu das Jeweilige, ohne dass dabei eine Lücke zwischen den einzelnen Jeweiligen entstände, ohne dass eine Schwelle anzugeben wäre zwischen dem SichGestalten des einen und dem des nächsten. ›Im Fluss‹ bedeutet hier also: begriffen in einer ungeteilten Bewegung.
Die Welt Über den Situierten als Sich-Verhaltenden ist einiges zu sagen, das wir für das übernächste Kapitel aufheben. Schon jetzt kann allerdings folgendes gesagt werden: Ich bin als Verhaltender phänomenal nicht ursprünglicher als mein Verhalten. Dieses ist nicht rückführbar auf mich als sein Urheber. Jede Reflexion meiner auf mich selbst gelangt nur zu mir als im Verhalten begriffen: Mein Verhalten ist reflexiv nicht hintergehbar in Richtung auf mich selbst in einem Stadium, das dem des Mich-Verhaltens logisch oder zeitlich voraufginge. Phänomenal herrscht vielmehr eine Symmetrie von Sich-Verhaltendem und Verhalten: Jener nicht ohne dieses und vice versa. Diese Ursprünglichkeit (Unhintergehbarkeit) des Verhaltens ist der Grund der Ursprünglichkeit (Unhintergehbarkeit) der Welt. Sofern ich existiere, vollzieht sich mein Verhalten und gibt es folglich ein Wozu dieses Verhaltens, d. h. die Welt als Mannigfaltigkeit dessen, wozu ich mich je verhalten habe, mich jetzt verhalte und verhalten werde. Die Welt kommt nicht zu mir noch hinzu, indem ich mich ihr irgendwann zuwende. Ich muss das Verhältnis zur Welt nicht eingehen und niemals geht dieses Verhältnis auf meine eigene Initiative zurück: Sofern ich existiere, existiere ich als in ihm situiert. Ich kann die Welt von mir nicht wegdenken; sie gehört zu meinem Sein. Ich bilde phänomenal keine Enklave in der Welt, deren Grenzen in beide Richtungen passiert werden müssten, damit ich Zugang zum Jeweiligen finden könnte und es zu mir: Eine solche bildet nur die Person, die zu tx Bestandsstück der Welt ist und zugleich ein anderes Bestandsstück objektiviert. Das ist der Sinn von Heideggers Einspruch dagegen, dass Kant in unserem Weltverhältnis ein Skandalon gesehen hat: »[…] so bleibt es« – wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt – »immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das 100 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Dasein außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es jemandem einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis entgegenstellen zu können (B XL, Anm.).« Der Skandal, so widerspricht Heidegger, »besteht nicht darin, daß dieser Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden (1979, 203)«, denn dieses ›Dasein außer uns‹ ist doch das, was sich in unserem Verhalten zu ihm je so gestaltet. Und als Jeweiliges gehört es uns ebenso ursprünglich zu wie das Verhalten – so ursprünglich, dass von ihm nicht zu abstrahieren ist. Es kommt aber deshalb zur Abstraktion von ihm, weil das ursprüngliche Zusammen von Situiertem und Jeweiligem in je-dieser Situation nicht gesehen wird, weil man eine Sprache spricht, die in ihrem Ausdruck dieses ursprüngliche Zusammen unterdrückt, wodurch dann erst das Problem entsteht, wie eine Person mit dem Dasein außerhalb ihrer zusammenkomme, wodurch sich dann erst die Frage erheben kann, ob das Jeweilige vielleicht eine bloße in unserem eigenen Innern erzeugte Illusion sei. Wollen wir phänomengetreu sprechen, dann müssen wir sagen: Was Kant als ›Dasein außer uns‹ beschreibt, ist das phänomenal ursprüngliche Um-mich des Jeweiligen in je-dieser Situation. Ich bin mit mir selbst nur vertraut als in der Welt, d. h. als inmitten des Jeweiligen existierend. Ich kenne mich selbst nicht anders denn als begriffen im Verhältnis zum Jeweiligen; durch dieses ist bei einer Beschreibung meiner selbst nicht zu kürzen: Eine Beschreibung meiner selbst darf es nicht zurückführen auf ein in mir selbst zu verortendes Apriori der Jeweiligkeit. Die Welt ist selbst schon ein Apriori. Dasein ist ›in-der-Welt-sein‹ – ›ich bin da‹ heißt: ›ich bin in der Welt‹. Heideggers Kritik an Kant in Sein und Zeit läuft letztlich darauf hinaus: Kant hat den apriorische Status der Welt übersehen. Er hat die Welt als aposteriorisches Resultat einer Synthesis gedeutet und nur den Prinzipien dieser Synthesis (der Spontaneität der Begriffe und der Rezeptivität mit ihren Anschauungsformen) den Status der Apriorizität zugebilligt: Das kantische Apriori ist gleichsam zu eng gefasst. 61 Halten wir uns dagegen an den phänomenalen Befund, dann ›Welt‹ ist für Kant die ›kosmologische Idee‹ des ›Ganzen aller Erscheinungen‹ – das Ganze dessen m. a. W., das in räumlich-zeitlicher Ordnung und Synthesis emergiert. Diese Welt ist insofern unendlich, als in ihr ein unendlicher Regress der Naturnotwendigkeit von Bedingtem zum Bedingendem herrscht; also solche ist sie aber auch nur »potentialiter unendlich (Sperrung von mir – JB)«, insofern »der Regressus in ihr […] niemals vollendet [ist]. (KrV, B 445 f.)«
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müssen wir davon abstehen, Verhalten und Sich-so-Gestalten als ein Zusammenspiel von Person (Subjekt) und dem Restbestand außer ihr selbst (Objekt) zu modellieren; damit klammern wir auch die Problematik aus, inwieweit das objektivierende Subjekt als Ursprung der Objekte zu denken ist bzw. inwieweit umgekehrt die Objektivität auf die Affektion des Subjekts durch Bestehendes zurückgeht. Denn Stellung lässt sich in dieser Frage nur beziehen durch ein Modell des Wechselbezugs von Person und Restbestand, in dem eben jene als Subjekt, dieser aber als All der möglichen Objekte fungiert. Ein Grundgedanke – ich gehe soweit zu sagen: der eine Grundgedanke – der Philosophie Heideggers, der sich über die Kehre hinweg durchhält, den seine Philosophie m. a. W. durch ihre Kehre mitträgt und hinsichtlich dessen also eine Kontinuität zwischen Frühund Spätwerk herrscht, ist in der Konzeption der Welt als Apriori operativ: Das Apriori wird, anders als bei Kant und Husserl, nicht mehr im Horizont von Synthesis und Konstitution gedacht, nicht mehr auf das Fungieren subjektiver oder lebendiger Spontaneität und Rezeptivität zurückgeführt. Das Sein des Seienden, das Anwesen des Anwesenden (die Präsenz und das Sich-Präsentieren, die Gegenwart und das Entgegenwähren des Seienden), dessen »Hervorwähren in die Unverborgenheit (2000, 243)« ist elementar und nicht zu hintergehen in Richtung auf synthetisierende Spontaneität oder konstituierende Lebendigkeit. 62 Aus diesem Grundgedanken heraus vollzieht sich die Kehre zum Ansatz beim Sein: Sie ist eine Umkehr der traditionellen (und noch in Sein und Zeit, wenn auch widerwillig, übernommenen) Weise, das Verhältnis von Mensch und Seiendem zu denken, nämlich vom Sein her; dieses Denken lässt dabei den Menschen niemals hinter sich: Das Sein braucht den Menschen – als seinen ›Hüter‹, seinen ›Hirten‹, denn nur durch den Menschen kommt das Seiende zur Sprache; dieser baut dem Sein dergestalt ein Haus, indem er es zu Wort kommen lässt, wobei, wie oben bereits angemerkt, darin nicht er der Bauherr ist, sondern umgekehrt die Sprache ›Herrin‹ bleibt (vgl. 1976, 331).
In Was heißt Denken? findet sich folgende These: »Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken […] Der Forscher braucht immer neue Entdeckungen und Einfälle, sonst gerät die Wissenschaft ins Stocken und ins Falsche. Der Denker braucht nur einen einzigen Gedanken (31).« Das nimmt sich unter diesem Gesichtspunkt aus wie eine Projektion, da es in der Allgemeinheit, in der es formuliert ist, zwar zweifelhaft ist, Heideggers eigenes Denken aber treffend beschreibt.
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Die These von der Apriorizität der Welt in Sein und Zeit erscheint im Spätwerk als die These von der Apriorizität des Seins – beide meinen dasselbe: Das Um-mich und Mir-Gegenüber des Seienden, sein Anwesen, Sich-mir-Präsentieren ist irreduzibel. Wir verfolgen das jetzt noch etwas weiter, indem wir auf die Konzeption des ›An-sich‹ in Sein und Zeit eingehen: Das an sich Seiende ist dort nicht mehr wie für Kant die hypothetische Seinsform der Dinge über ihr Erscheinen, ihre Gegenständlichkeit hinaus: Das An-sich des Seienden ist das ›Ansichhalten‹ des Zuhandenen (vgl. 75). Das Zuhandene ist, grob gesprochen, das Seiende des alltäglich mit ihm umgehenden Gebrauchs, das in Sein und Zeit die Auszeichnung erfährt, als paradigmatisch für das Seiende zu fungieren, das wir nicht selbst sind (das weder von der Seinsart des Daseins noch der des Tiers ist), sondern mit dem wir in Gebrauch und Hantieren zu tun haben, mit dem wir umgehen: ›Zunächst und zumeist‹ – um es in Heideggers eigener Wendung zu sagen – ist das Seiende uns zuhanden, da wir es alltäglich in mannigfaltiger Weise zu einem bestimmten Zweck gebrauchen. Vom Zuhandenen gilt nun: Es ist ursprünglich und immer schon da, anwesend, in dem erfüllten Sinne der Anwesenheit als Sich-Zeigen, Sich-Präsentieren. Die erfüllte Anwesenheit des Seienden ist nicht rückführbar auf Synthesis oder Konstitution dessen, dem es anwesend ist. Das Zuhandene, das sich immer schon zeigt, zeigt sich allerdings zunächst in einer für es charakteristischen »Unauffälligkeit, Unaufdringlichkeit, Unaufsässigkeit«: Die privativen Ausdrücke wie Unauffälligkeit, Unaufdringlichkeit, Unaufsässigkeit meinen einen positiven phänomenalen Charakter des Seins des zunächst Zuhandenen. Diese ›Un‹ meinen den Charakter des Ansichhaltens des Zuhandenen, das, was wir mit dem An-sich-sein im Auge haben […] (ebd.).
Wir achten für gewöhnlich nicht des Sich-Zeigens dessen, was sich um uns herum immer schon ganz selbstverständlich zeigt; wir überspringen das Sich-Zeigen zugunsten des Sich-Zeigenden. Diese Nichtbeachtung ist von der Seite des Nichtbeachteten her beschrieben dessen An-sich-Halten; vielleicht verfallen wir deshalb in der Philosophie darauf, dieses Sich-Zeigen im Subjekt, in Vollzug von Synthesis und Konstitution fundieren zu wollen. Dies aber ist unzulässig: Mit dem Zuhandenen hat es a priori sein Bewenden bei … – nicht wir beleihen es damit: Es gehört a priori in den einen Horizont, indem es ›be-deutet‹, d. h. auf anderes verweist, in Abhebung 103 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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gegen das es dieses spezielle Zuhandene ist (vgl. ebd., 87): »Die Bedeutsamkeitsbezüge, welche die Struktur der Welt bestimmen, sind … kein Netzwerk von Formen, das von einem weltlosen Subjekt einem Material übergestülpt wird (ebd., 366).« Die Differenz der Individuen, der Token verschiedener Typen, setzt eine ursprüngliche Geeintheit ihrer voraus: die Welt als den einen Horizont, in dem sie sich voneinander abheben, und den Kant idealistisch missverstand als das Bewusstsein, in dem die Vorstellungen zusammenstehen. Dass es mit dem Zuhandenen sein Bewenden hat bei … bedeutet: Jedes Zuhandene (das Seiende überhaupt, so wie es tagtäglich begegnet) gehört von ihm selbst her in den einen Horizont des Seienden, der die Welt ist. Es verweist zum einen auf anderes Seiendes, zum anderen auch auf seine eigene Funktion (sein ›umzu‹): Mit dem Hammer – das Paradebeispiel in Sein und Zeit – hat es seine Bewandtnis beim Hämmern, er verweist auf diese Funktion genauso wie auf den Nagel, die Wasserwaage, das aufzuhängende Bild etc. Das Seiende um uns herum gehört a priori zusammen. Nicht stiften wir Relationen zwischen dem Seienden: Das Bewenden, das es je mit dem Zuhandenen hat, ist phänomenal nicht auf eine Stiftung unsererseits zurückzuführen. Zuhandenheit ist einerseits ein Verhältnisbegriff: Als Zuhandenes wird Seiendes aus seinem Bezug zum Dasein konzipiert. Andererseits ist dieses Verhältnis nicht einseitig auf das aktive Fungieren des Menschen gegründet – warum aber nicht? Was motiviert Heidegger dazu, sich in dieser Sache gegen Kant und Husserl zu wenden? Welchen Grund kann er vorweisen? Keinen, so glaube ich, als das einfache Zeugnis des je-eigenen Erfahrens selbst; keinen außer dem Verweis darauf, dass von solcher Fundierung deshalb nicht die Rede sein darf, weil diese Rede nicht das Zeugnis der je-eigenen Vertrautheit mit dem Seienden für sich hat. Heidegger war als Denker vor allem eines: beharrlich. Er beharrt auf dem einfachen (elementaren) phänomenalen Befund: Das (verbal als Anwesen gedachte) Sein ist das Apriori. 63 Sein Werk ist der wiederholte Versuch, dieses Apriori als solches zu Wort kommen zu lassen: »Es gibt Sein […] (1969, 5)« – aber nicht indem der Mensch sich das Sein vorgibt, es vor sich stellt als seinen Gegenstand, es objektiEin Grund, dass man gerade an Heideggers Begrifflichkeit Anstoß nimmt, dürfte in der Spannung liegen, die zwischen diesem Einfachen und der vermeintlichen Extravaganz der heideggerschen Begriffsbildung liegt: »[…] erlangt es nicht nach kleineren Wörtern als Sie überhaupt besitzen?« heißt es in Elfriede Jelineks Totenauberg (10).
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viert. Die in Rede stehende denkerische Beharrlichkeit ist nicht die Sturheit – der man ihn dann aus anderen Gründen häufig geziehen hat – desjenigen, der sich auf einen Standpunkt versteift und sich (noch ein typischer Vorwurf) hinter einer opaken und willkürlichen Begrifflichkeit verschanzt: Sie ist ein Festhalten am Grundgedanken, die Phänomenalität in ihr Recht zu setzen, aufgrund dessen seine Philosophie für diese Arbeit Vorbildcharakter hat. Dass ich erfahrend in der Welt wohne, bedeutet im Rahmen einer Ontologie der Phänomenalität: Die Welt ist der Horizont des Verhaltens. Ein Horizont ist phänomenal dadurch gekennzeichnet, dass seine Grenzen niemals zu erreichen sind. Über die Welt hinaus dringt das Verhalten nicht, nur in ihr bewegt es sich. Alles Jeweilige ist in der Welt jeweilig: in einer un-zähligen Mannigfaltigkeit dessen, was je Sache war und sein wird. Die als Gesamtbestand summativ gedachte Welt mag sehr groß sein, sie ist doch endlich, d. h. auf eine Zahl zu bringen. Die phänomenal als Horizont des Verhaltens gefasste Welt ist unendlich und deshalb un-zählig. Phänomenal ist die Welt niemals als Summe auf einen Zeitpunkt abzubilden, es kann keine ›Zustandsbeschreibung‹ ihrer geben, weil niemals ein Gesamtzustand ihrer auszumachen wäre, sondern während ich mich verhalte, verhalte ich mich in ihr, wobei mein Verhalten sie niemals ganz erschließt: Die Welt bleibt für mich während der begrenzten Zeitspanne, die ich in ihr wohne, offen, d. h. unabgeschlossen; solange ich in der Welt wohne, hält sie mir das Neue bereit und entlässt es in seine Jeweiligkeit: Die Welt ist zur Zukunft offen. Und ich war immer schon in der Welt, sobald ich überhaupt dazu kam, zu sagen: ›ich bin‹ oder gar dazu, diese Aussage philosophisch zu thematisieren. Die Welt ist also auch nach der anderen Zeitrichtung, zur Vergangenheit hin, offen. Sie war immer schon um mich, solange ich überhaupt von mir selbst sagen konnte: ›ich bin‹. Dieser in beide Zeitrichtungen offenen Unendlichkeit der Welt korrespondiert die Endlichkeit je-meines Erfahrens. Diese ist eine zweifache: 1) eine raum-zeitliche Bindung an das Hier und Jetzt und 2) eine epistemische, die nicht nur darin liegt, dass ich im Sprechen über die Welt fallibel, irrtumsanfällig bin, sondern vor allem auch darin, dass mein Sprechen über die Welt zwar immer aus je-dieser Situation schöpft, diese aber dabei niemals erschöpft: Das So bleibt mehrdeutig, sooft ich zurückkomme auf es. Situiertes Erfahren ist deshalb endlich, weil es das an das Hier, Jetzt und So gebundene Erfahren ist. Die situierte Endlichkeit soll im folgenden Kapitel aus den Phä105 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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nomenen der Gebürtlichkeit und Sterblichkeit her weiter expliziert werden; zunächst ist festzuhalten, dass die Endlichkeit meines Erfahrens als solche bestimmt ist gegenüber der Unendlichkeit der Welt. Ebenso ist die Unendlichkeit eines Erfahrens nur in Abhebung gegen eine als endlich gefasste Welt zu fassen, so dass sich folgender Chiasmus von Endlichkeit und Unendlichkeit ergibt: Endlichkeit des Erfahrens – Unendlichkeit der Welt Unendlichkeit des Erfahrens – Endlichkeit der Welt Die Unendlichkeit des Erfahrens ist ebenfalls zweifach bestimmt als 1) raum-zeitliche Unendlichkeit, d. h. Allgegenwart und 2) epistemische Unendlichkeit, d. h. Allwissenheit bzw. Infallibilität. Die Welt kann genau dann als endlich gedacht werden, wenn sie als Korrelat eines allgegenwärtigen, allwissenden Erfahrens gedacht wird. Die im Rahmen der Bestandsontologie als endlich konzipierte Welt setzt den Blick von Nirgendwo auf sie schon voraus. Die Quantität ist nicht zufällig die Sprache, in der sich der Blick von Nirgendwo artikuliert: Er erlaubt es, die Welt als endlich zu denken; sie wird als endliche gedacht, indem sie – stillschweigend – als Gegenüber eines solchen Blicks gedacht wird. Die quantitative Ontologie erlaubt es, den Aufbau der endlichen Welt atomistisch-summativ zu begreifen. So löst die Sprache der Quantität löst die Endlichkeitsthese des Blicks von Nirgendwo ein; als endliche ist die Welt quantitativ festlegbar, als endliche fügt sie sich der Sprache der Quantität. Ebenso ist die Annahme einer Vielzahl möglicher Welten nur im Rahmen der Bestandsontologie ein legitimer theoretischer Zug: Phänomenal ist die einzige Welt der Horizont, in dem alles Jeweilige ist. ›Welt‹ ist phänomenal ein Singularetantum. Eine Vielzahl von als große Individuen aufgefassten Welten kann es nur geben, insofern ein in keiner dieser Welten verharrender Beobachter, der dabei zu allen diesen Welten Distanz wahrt, die einzelnen Welten gegeneinander hält. Die Welt als Horizont des in je-dieser Situation je so vor mich Kommenden, der Phänomene, ist niemals derart vor mir, dass ich sie gegen andere abheben könnte: Ich bin nur in der Welt und darum nur in einer. Alle Welten, die ich als mögliche konzipiere, sind phänomenal nicht die Welt, insofern ich nicht in ihnen existiere, sie nicht der Horizont meines Verhaltens sind. Mögliche Welten sind Szenarien, die sich in der einen Welt, in der situiert ich existiere, entwerfen lassen.
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Erfahren
Diskursivität und Transitivität des Verhaltens Die Zwiefalt von Verhalten und Sich-Gestalten lässt sich von ihren beiden Momenten her in zwei äquivalenten Aussagen formulieren: ›Im Verhalten gestalten sich die Sachen‹ und: ›Das Verhalten bewegt sich in den Sachen‹. Weil sich die Sachen im Verhalten je so gestalten, durchmisst das Verhalten die Sachen: Verhalten und Sachen sind unentwirrbar ineinander. Es lassen sich zwei Modi der Bewegung des Verhaltens in den Sachen unterscheiden: Sie vollzieht sich sowohl diskursiv, durch eine Sache, als auch transitiv, übergehend von einer Sache zur nächsten. Das Verhalten durchläuft das Jeweilige: Derweil gestaltet sich dieses und gestaltet sich um, solange es Sache, d. h. Thema des Verhaltens ist – solange ich bei ihm verweile. In der Gegenwart des Jeweiligen verläuft dessen So. Das So des Jeweiligen ist nicht auf einen Zeitpunkt abzubilden, deshalb niemals ein Zustand zu einem Zeitpunkt, sondern immer schon in Neu- und Umgestaltung begriffen, weil das Verhalten es durchläuft. Indem das Verhalten sie durchläuft, gewinnen die Sachen Gestalt; eine Gestalt, die stets in dem Sinne flüchtig ist, dass sie offen bleibt für Modifikation und Revision. Das So des Jeweiligen modifiziert sich selbst, während ich mich zu ihm verhalte. Das bedeutet gerade nicht, es widerlege sich dauernd und zeige überhaupt keine Stabilität; es bedeutet: Das Jeweilige wird mir auf dem Grunde seines jeweiligen Schon-unverborgen-Seins weiter entborgen, während es mir das Jeweilige ist. Das, woran ich mich immer wieder kehre, wird mir so im Laufe meines Verhaltens zu ihm weiter und weiter entborgen: Im Verhalten zu ihr erwerbe ich auf dem Grunde der schon erworbenen Vertrautheit der Sache ihre nähere Vertrautheit, die eingehendere und umfassendere Kenntnis ihrer. Dazu kann gehören, dass die Sache im Laufe wiederholter Hinwendung zu ihr immer unvertrauter im Sinne von problematischer, verworrener, unverständlicher wird: Insofern dieses Unvertrautwerden zum Neu-und-neu des So gehört, ist diese Entfremdung aber selbst eine Phase im Prozess ihres Vertrautwerdens. So liegt etwa eine höhere Vertrautheit darin, die Rätselhaftigkeit und Undurchdringlichkeit einer Sache erkannt und gewürdigt zu haben, während gerade der bloß oberflächlichen Bekanntschaft häufig alles klar und deutlich zu sein scheint. 64 Solange ich mich bei einer Sache aufhalte, bewege 64
Deshalb auch kann Sokrates (Menon, 84a) das Eingeständnis des Sklaven, verwirrt
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Die Situation als Verhältnis
ich mich in ihr und durch sie. In dieser Bewegung entfalten sich die Sachen oder – was dasselbe ist – breitet das Verhalten sie aus bzw. wickelt aus, was in ihnen liegt: Beide Formulierungen drücken das diachron verfasste Verhältnis aus; diese vom Verhalten, jene vom Wozu des Verhaltens her. Der andere Modus der Verhaltensbewegung ist die transitio innerhalb der Sachen: Was jetzt Sache ist, hat aus der Gegenwart verdrängt, was vorher Sache war, und wird seinerseits wieder von anderem abgelöst werden. Dieser Übergang von Sache zu Sache geschieht bruchlos. Die Sachen folgen einander phänomenal nicht wie diskrete Glieder einer Kette, bilden keine Reihe je verschiedenen Zeitpunkten zugeordneter Elemente, sondern was je Sache ist, ist im Fluss, da vom Verhalten durchlaufen. Deshalb geht das Sich-Gestalten einer Sache fugenlos über in dasjenige der nächsten: In einem Prozess, einer ungeteilten Bewegung gestaltet sich das, was je Sache ist und verfließt, indem das Verhalten fließend zur nächsten Sache übergeht. Sobald ich diese Bewegung arretiere, indem ich die Sachen missverstehe als Bestandsstücke, die zu zwei aufeinander folgenden Zeitpunkten jeweils relativ zu mir Objekte sind, d. h. meinen ›Bewusstseinsinhalt‹ bilden, in meinem Bewusstsein ›intentional inexistieren‹, habe ich schon den ontologischen Rahmen verlassen, in dem allein die Sachen in ihrem phänomenalen Fluss-charakter offenkundig sind. Die transitive Bewegtheit des Verhaltens durch die Sachen erschließt die Welt originär als dessen Horizont: Das Verhalten bewegt sich in einer Mannigfaltigkeit der Sachen, indem es von einer zur anderen übergeht und dabei immer in der Welt verbleibt. Die Welt ist phänomenal der Horizont dieser un-zähligen Mannigfaltigkeit, über den das Verhalten nicht hinausdrängt, an dessen Enden es nie gelangt. Die Sachen sind das Jeweilige: das Singuläre im Sinne des sich je jetzt je so Gestaltenden. Eine Sache ist dadurch individuiert, unter all den relativ vertrauten Sachen, in der un-zähligen Mannigfaltigkeit dessen, was sich je gestaltet hat und gestalten wird, die gegenwärtige zu sein. Was Sache ist, währt je jetzt gerade entgegen. Während ich hier sitze und schreibe, sind sowohl Tastatur und Bildschirm je auf ihre Weise Sache. Was in meinem Blickfeld um mich zu sein, dahingehend deuten, die Wiedererinnerung mache Fortschritte (»ἐστιν […] βαδίζων ὅδε τοῦ αναμιμνῄσκεσθαι«): Denn »vorher glaubte er […] zu wissen (ᾣετο […] εἰδέναι)«, worüber er jetzt hinaus ist, wo er es nicht weiß und sich darüber im Klaren ist.
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Erfahren
herum ist, ist Sache, die Teetasse neben mir, die brennende Lampe, etc. Sache ist auch, was ich schreibe, was ich artikuliere, indem es durch meine Finger auf den Bildschirm fließt. Jetzt, da ich durch ein lautes Geräusch vor dem Fenster abgelenkt werde, und mich frage, was das Geräusch verursacht hat, ist mein Verhalten schon zu dieser Sache übergegangen, ohne dass ich dabei eine Schwelle zwischen der einen und der anderen Sache erfahren hätte. Die Sachen folgen einander nicht in der sauberen – aber sterilen – Abfolge diskreter Gegenstände in meinem Bewusstsein, worin sie als ebenfalls verschiedenen Zeitpunkten zugeordnete Bewusstseinszustände repräsentiert werden. Hinsichtlich der Sachen ist die Reinlichkeit der nackten Zeitpunkte – der sich partes extra partes folgenden Zustände – nicht zu haben. »[…] kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen?«, fragt Wittgenstein: »Ist nicht das Unscharfe oft das, was wir brauchen (1984, 280)?« Die Begriffe der Situation, der Sache, des Verhaltens sind alle je auf ihre Weise unscharf: Zwei Situationen lassen sich nicht – durch Angabe des Zeitpunkts ihres Umschlags – scharf voneinander abgrenzen; ebenso wenig ist im einzelnen genau zu sagen, wann das Verhalten von einer zur nächsten Sache übergeht, oder was noch zur einen Sache, was bereits zur anderen gehört; auch das Verhalten hat die Unschärfe an sich, dass es sich nicht zerlegen lässt in eine Multiplizität von Verhaltungen, die einander voraufgehen und folgen oder sich zeitlich überlagern. Von ›Verhalten‹ bilden wir keinen Plural. Ein Verhalten ist deshalb nicht als quantitativer Singular zu lesen, d. h. nicht als Ausdruck numerischer Einzelnheit, sondern qualitativ: Ein Verhalten an den Tag zu legen bedeutet, sich irgendwie zu verhalten. Sofern es uns nicht um die Qualität geht, sondern um die Talität je-dieser Situation, geht es uns auch um je-dieses Verhalten, d. h. das Sich-so-und-nicht-andersVerhalten zum Jeweiligen, dem als zweites Moment der Zwiefalt dessen Sich-so-und-nicht-anders-Gestalten ursprünglich zugehört: Ich sehe diese Sache so, weil sie sich mir so gestaltet. Und in eins gestaltet sich mir diese Sache so, weil ich sie so sehe (unbesehen, ob ich unter ›Sehen‹ hier das Blicken der leiblichen Augen oder aber so etwas wie ›Auffassen‹, ›eine Einstellung haben zu‹ meine, etwa wie ich in einer Diskussion sagen könnte: ›ich sehe diese Sache aber so, dass …‹.) Die Unschärfe aller dieser Grundbegriffe einer phänomenalen Ontologie ist nicht die Vagheit unzureichend definierter Begriffe und nicht das vieldeutige Schillern unzureichend geklärter, sondern diese Unschärfe gibt getreu die Unschärfe der Phänomenalität wieder. Wenn ich 109 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
frage, wie es ist, im Verhältnis zur Welt situiert zu sein, d. h. mich unausgesetzt zum Jeweiligen zu verhalten, dann darf die Antwort darauf nicht eine Reinlichkeit der Präzision vortäuschen, die nur ihr eigenes Werk ist, die nur ihre Sprache den Phänomenen aufzwängt. Verhalten und Jeweiliges kennen keine Zustände und Zeitpunkte. Verhalten und Sich-Gestalten sind niemals auf einen Zeitpunkt abzubilden – oder besser: Niemals vermag eine Sprache über Verhalten und Sich-Gestalten, die sie dergestalt atomisiert, sie getreu wiederzugeben. Es liegt im Rahmen einer phänomenalen Ontologie eine höhere Genauigkeit darin, keine Exaktheit zu suggerieren, wo die Phänomene selbst eine solche nicht hergeben.
Medialität Der phänomenale Grundzug des Verhaltens ist, dass es sich nicht in die Dichotomie von Aktivität und Passivität einpassen lässt. Ich erleide mein Verhalten nicht vonseiten eines anderen, der oder das es bei mir bewirken würde. Es geschieht als meine Hin- und Abkehr von den Sachen, die von diesen vielleicht sollizitiert oder herausgefordert aber doch nie kausal determiniert wird. Es ist demnach nicht rückführbar auf die Initiative eines anderen, dessen actio (Wirken) ich passiv als das Vorkommen meines Verhaltens an mir erlitte. Es ist genauso wenig rückführbar auf meine eigene Initiative: Ich wirke phänomenal mein Verhalten nicht durch synthetisierende oder sinngebende Leistungen, ich stehe niemals an seinem Anfang, sondern es vollzieht sich immer schon – immer schon, sobald ich reflexiv auf mich selbst zurückkomme, indem ich das Wohnen bei meinem Verhalten artikuliere. Die Reflexion dringt nicht hinter das Verhalten, sie darf, wenn sie der Phänomenalität keinen Zwang antun will, nicht vorgeben, hinter diesem den Prozess seiner Genese aufspüren zu können. Eine der Phänomenalität getreue Sprache muss Verhalten und Sich-so-Gestalten als unhintergehbares Letztes und unableitbares Erstes, als ungewirkt, anerkennen. Ich nenne solches Geschehen, das weder aktiv noch passiv genannt werden kann, da es relativ zu dieser Unterscheidung die Mitte hält: medial. Wie aber ist die These, ich sei nicht der Urheber (aktiver Initiator) meines Verhaltens in phänomenaler Ausweisung zu begründen? Die Mindestbedingung, um mit Recht von mir sagen zu können, ich stünde als solch ein aktiver Initiator hinter meinem Verhalten oder 110 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
ich erlitte es seitens eines anderen, wäre, dass ich an mir erfahren könnte, wie ich aus einem Stadium des Nicht-Verhaltens in ein Verhalten übergehe bzw. wie sich der Übergang von einem zum anderen Verhalten vollzieht: Ich müsste den Anfang des Verhaltens erfahren können. Solch eine Erfahrung eines Anfangs impliziert phänomenal dreierlei: 1) das Noch-nicht des noch nicht Angefangenhabenden, d. h. die Erfahrung, dass es noch nicht ist, vorliegt oder geschieht. 2) Den Umschlag von Nicht-sein zu Sein, Nicht-Vorliegen zu Vorliegen, Nicht-Geschehen zu Geschehen. 3) das Sein, Vorliegen, Geschehen des Angefangenhabenden. Erst die Gesamtheit dieser drei Momente macht phänomenal die volle Erfahrung eines Anhebens aus. Um wirklich das Anfangen eines Vorgangs zu erfahren, müssen wir die Zeit, die seinem Einsetzen unmittelbar voraufgeht als sein Bevor erfahren können: Wir erfahren den Anfang eines Fußballspiels, da wir sehen, wie die Spieler sich aufgestellt haben, zwei von ihnen am Mittelpunkt stehen, um den Anstoß auszuführen, wie der Schiedsrichter an seiner Brusttasche nestelt und die Pfeife zum Mund hebt, etc. Wir erfahren also die Zeit vor dem Fußballspiel nicht als indifferente Zeitspanne sondern als das unmittelbare Bevor eines Fußballspiels. In dieses Noch-nicht hinein ertönt der Anpfiff, womit wir diesen als Anfang des Spiels erfahren, d. h. als Grenzscheide zwischen seinem Noch-nicht und seinem Verlaufen. Das eigene Verhalten gibt sich niemals schon in seinem unmittelbaren Bevor preis: Es hat immer schon angehoben, verläuft immer schon – jetzt, da ich mich selbst reflexiv ausdrücklich erfahren kann als mich gerade so Verhaltender. Das Jeweilige ist Jeweiliges, weil ich mich zu ihm verhalte und ich verhalte mich zu ihm, weil es das Jeweilige ist. Dieses symmetrische ›weil‹ ist nur möglich, lässt sich widerspruchsfrei denken nur innerhalb eines Kontinuums, in dem es keinen Anfang und kein Ende gibt: Das Modell eines Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem entweder zuerst das Objekt affiziert und das Subjekt seine Affektion erleidet oder das Subjekt konstituiert und das Objekt diese Konstitution erleidet, kann uns – gesetzt, dass wir uns unter den Anspruch der Treue zum Phänomenalen stellen – niemals zufriedenstellen, denn es kommt niemals ohne theoretische Konstruktionen aus. Wir erfahren weder uns selbst noch das uns Gegebene als dergestalt einen Anfang unserer Bezogenheit setzend: Sobald wir feststellen können, etwas sei uns jetzt gerade, zu diesem Zeitpunkt, gegeben, währt der Bezug zu 111 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
ihm schon. Der Grund, dass man genötigt ist, den Wechselbezug von Subjekt und Objekt dergestalt artifiziell beginnen zu lassen, ist der, dass Situierter und Jeweiliges im Rahmen der Bestandsontologie ihrer ursprünglichen Begriffenheit im Verhältnis beraubt sind: Die Sprache der Bestandsontologie unterdrückt in ihrem Ausdruck des Seienden die ursprüngliche Situiertheit, deshalb kann sie den Situierten nicht als solchen ausdrücken, sondern anstelle seiner nur die Person. Man denkt dann das Verhältnis von Person und Welt als deriviert, d. h. fasst es so auf, als hebe es zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort auf Initiative eines der beiden Interaktionspartner an, die kraft dieser Interaktion als Subjekt und Objekt aufeinander bezogen sind. Wenn ich mich selbst als Subjekt fasse, das einem Objekt gegenübersteht (›Ich stehe hier vor diesem Baum.‹) und mich frage, ob ich selbst dieses Verhältnis initiiert habe oder aber der Baum es initiiert hat, dann vergesse ich, dass, sobald mir der Gedanke kommt, wem oder was in unserem Bezug der Status eines Prinzips zukommt, sich dieses Verhältnis schon vollzieht; dass dieser Gedanke selbst schon unserem Verhältnis (der Situation, hier und jetzt diesem Baum gegenüberzustehen) emaniert bzw. eine Gestaltung seiner ist. Der Phänomenalität denken wir deshalb getreu, wenn wir anfangslos denken. Unser Verhältnis zum Jeweiligen wird nicht von uns ab ovo initiiert, sondern it has been happening: Was unser Verhalten anbelangt, ist der Anfang immer schon geschehen. Nur das, dessen Anfangen ich erfahre, kann wiederum phänomenal beschreibbar sein als die Wirkung einer Ursache. Die Erfahrung des Anfangs ist phänomenal die notwendige Bedingung einer kausalen Beschreibung. Ich sehe, wie der Stein fliegt, die Glasscheibe trifft, diese zerbricht. Ich erfahre den Anfang der zerbrochenen Scheibe, den Anfang dessen, dass sie zerbrochen ist, den Anfang ihres Zerbrechens: Hier erfahre ich Kausalität. Ich erfahre keinesfalls dieselbe Kausalität hinsichtlich meines Verhaltens und kann eine solche gar nicht erfahren, da es phänomenal anfangslos ist. Die phänomenale Anfangslosigkeit des Verhaltens liegt darin, dass ich es nicht anders fasse denn als verlaufend. Mein Verhalten vollzieht sich immer schon. Immer schon – sobald das Wohnen bei mir ausdrücklich wird in einem reflexiven Erfassen dessen, dass ich mich gerade so verhalte. Die Reflexion ist als Artikulation des Wohnens-bei-sich das ausdrückliche Verhalten zu einem anderen Verhalten: Sie unterbricht dieses Verhalten und macht es selbst zu ihrem Thema. Als Unterbrechung eines primären Verhaltens ist die Reflexion notwendig asyn112 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
chron zu diesem: Das Verhalten, worauf ich reflektiere, has been going on, sobald es zum Worauf einer Reflexion wird. Mein eigenes Verhalten erfasse ich reflexiv nur im present perfect progressive. Das eigene Verhalten hat für die Reflexion auf es weder Anfangs- noch Endpunkt: ontogenetisch nicht, da ich schon seit ich denken kann und länger noch im Verhältnis zur Welt begriffen war; nicht transzendental, da die zu einem gegebenen Zeitpunkt einsetzende Reflexion auf ein eigenes Verhalten dieses nur als schon im Vollzug befindlich erschließen kann: Die Reflexion auf ein eigenes Verhalten ist selbst wieder ein Verhalten – ein gegenüber dem, worauf ich je reflektiere, neues Verhalten, das folglich niemals synchron zum von ihm reflektierten Verhalten ist, sondern dieses höchstens unterbricht. Ist diese Asynchronie der Reflexion aber überhaupt maßgeblich? Sagten wir nicht, dass wir vor und unabhängig von aller Reflexion auf unser Verhalten dieses ursprünglich erfahren im Wohnen bei ihm? Tatsächlich scheint eher das Wohnen bei sich, die unmittelbare Erfahrung des eigenen Verhaltens, für die Frage, ob wir den Anfang des Verhaltens erfahren, maßgeblich zu sein: Allein, auch das Wohnen beim eigenen Verhalten erfährt in seiner vollkommenen Synchronie mit dem Verhalten nicht dessen Anfangen, weil dazu nach dem oben Gesagten die Erfahrung des unmittelbaren Bevor des Anhebens gehört. Das Verhalten ist phänomenal anfangslos und deshalb a fortiori phänomenal antezedenslos. Ich sehe die Ursache dessen, dass die Scheibe zerbricht: Sie ist ganz, während der Stein auf sie zufliegt, er trifft sie, sie erfährt die Wirkung seines Auftreffens, sie zerbricht. Die kausale Wirkung des fliegenden Steins schafft den Übergang von ganzer zu zerbrochener Scheibe: Sie ist deren Anfang. Wo aber war der Anfang dessen, dass ich den Stein fliegen sah? Der Anfang dessen, dass der Stein sich gestaltet als zufliegend auf die Scheibe, als sie treffend, als vom Aufprall abgelenkt zu Boden fallend? Mein Sehen bewirkt phänomenal nicht sein Sich-Gestalten, sondern ist gleichbedeutend mit ihm: Sobald ich überhaupt sehe, gestaltet das Gesehene sich schon je so. Dieses Immer-schon des Verhaltens und des korrelativen Sich-Gestaltens ist so auch der Grund dafür, dass weder Verhalten noch Sich-Gestalten uns erfahrbar wären als kausal durcheinander bewirkt. Phänomenal bilden Verhalten und Sich-Gestalten eine Zwiefalt: Sie sind zwei Momente eines Prozesses, die nur in vollkommener Synchronie zueinander sind, was sie sind. Keines geht dem anderen vorauf, keines affiziert oder erleidet Affektion. (Der Einwand, es gelte auch für das Zerbrechen, dass wir es nicht anfangen sehen, weil es für 113 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
unsere Augen faktisch zu schnell geschehe, ist richtig, nur können wir dieser Unzulänglichkeit durch technische Hilfsmittel – Aufzeichnung, verlangsamtes Wiederabspielen – abhelfen. Wir können unser Verhalten selbst nicht in dieser Weise aufzeichnen. Die Unfähigkeit, das Anfangen des Zerbrechens zu erfahren, kann behoben werden, indem wir unser Verhalten technisch aufrüsten. Die Unmöglichkeit, das Anfangen des Verhaltens selbst zu erfahren, ist eine prinzipielle; ihr können wir nicht in dieser Weise beikommen). Ein Anfang kann nur im Verhalten sein: Nur das, was sich im Verhalten gestaltet, können wir als anfangend erfahren. Das Verhalten selbst gibt uns kein Anfangen preis. Es vollzieht sich immer schon. Aristoteles hat diesen Sachverhalt einmal so ausgedrückt: »[…] er sieht und zur selben Zeit: er hat gesehen, er denkt und: er hat gedacht, er vernimmt und: er hat vernommen.« 65 Diese Perfekta sind zu verstehen im Sinne des englischen present perfect in seinem verlaufenden Aspekt (present perfect progressive bzw. continuous). Nie vermöchte ich zu erfahren, wie ich aus dem Nicht-Denken von etwas in das Denken seiner gelange, sondern ›Ich denke‹ heißt phänomenal: I have been thinking, ich bin schon im Denken begriffen, ohne dass ich sagen könnte, wie ich in es hineingelangt bin. Die Anfangslosigkeit des Verhaltens ist am Denken vielleicht am deutlichsten abzulesen, auch deshalb soll es weiter unten als paradigmatisches Verhalten thematisiert werden. Phänomenal ist der Grundzug des Verhaltens der, dass ich mich immer schon verhalte und sich synchron dazu das Jeweilige immer schon gestaltet. Die Reflexion fasst das Verhalten nur als sich schon vollziehend, da auch das Wohnenbei-sich nur beim sich vollziehenden, niemals beim anhebenden Verhalten wohnt. Die Reflexion spricht sich formal aus in der Hypotaxe ›ich denke, dass …‹ Jeder Gedanke kann formal als abhängig von diesem überge»[…] ὁρᾷ ἄμα καὶ ἑώρακε, φρονεῖ καἱ πεφρόνηκε, νοεῖ καἱ νενόηκεν … (Metaphysik Θ 6, 1048b, 23 f.)« – es zeigt sich hier wieder, dass die Oberfläche der Ausdrucksweise trügerisch sein kann: Dass diese Verben in der dritten Person Singular stehen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir dieses Immer-schon des Denkens und Sehens je nur an uns selbst erfahren. Terminologisch ist anzumerken, dass die aristotelische Unterscheidung von Bewegung (κίνησις) und Tätigkeit (ἐνέργεια) hier keine Rolle spielt: So sind für Aristoteles Sehen und Denken gerade keine Bewegungen. Allerdings wird man diese Unterscheidung doch so verstehen müssen, dass Tätigkeiten mehr sind als bloße Bewegungen, ohne dadurch aufzuhören, auch Bewegungen zu sein, d. h. ohne schlechthin ihres prozessualen Charakters verlustig zu gehen. (vgl. ebd. 1048b18–34)
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Medialität
ordneten ›Ich denke‹ aufgefasst werden. Auch die komplette Phrase ›Ich denke, dass …‹ kann ihrerseits wieder einem ›Ich denke‹ subordiniert werden. Über diesen formalen Charakter hinaus hat die Reflexion den phänomenalen Charakter der Nachträglichkeit, sie ist ein ›Nachgewahren‹ (vgl. Husserl 1959, 89): Ihr epimetheischer Charakter bedingt, dass ihr Worauf sich immer schon vollzieht, sobald sie es ausdrücklich thematisiert, indem sie es artikuliert. Ihre Artikulation unterbricht das artikulierte Verhalten – womit nicht gesagt ist, sie breche es ab; ein Verhalten, das von der Reflexion auf es unterbrochen wird, endet deswegen nicht notwendig: Es wird Thema eines neuen Verhaltens. Deshalb hieß es oben, das ›jetzt, da …‹ sei das eigentliche Signet der Reflexion: Dass ich denke, erfasse ich reflexiv nur so, dass ich jetzt, da ich mich fasse als denkend bzw. dies denkend, das Denken schon verläuft. Dieses im Wohnen beim eigenen Verhalten erfahrene Immer-schon des Verlaufs ist die äußerste Gestalt der Abständigkeit von sich selbst – sprachlichen Ausdruck findet diese Abständigkeit darin, dass die Reflexion ihr Worauf nur im present perfect progressive fasst; daran, dass der formale sprachliche Ausdruck der Reflexion, das ›ich denke‹ bzw. ›ich denke, dass …‹ phänomenal zu lesen ist als I have been thinking … bzw. I have been thinking that … Dass das ›ich denke‹ »alle meine Vorstellungen begleiten können (Kant, B 132)« muss, bedeutet, ich kann den propositionalen Gehalt jedweder Vorstellung (›Der Berg ist steil.‹) als abhängigen Nebensatz der Ich-denke-Vorstellung darstellen (›Ich denke, der Berg ist steil.‹): Jedes der unendlich iterierbaren ›ich denke‹, denen ich einen Gedanken unterordnen kann, erfasst diesen als schon gedacht werdenden und lässt sich selbst wieder – asynchron – als schon gedacht werdender Gedanke fassen, nämlich durch das nächste ›Ich denke‹ (ich denke, dass ich denke, dass ich denke etc., dass …). Das ›Ich denke‹, ließe sich sagen, ist das Gegenteil dessen, was in Austins Sprechakttheorie ein ›performativer‹ Sprechakt heißt, i. e. das Gegenteil einer sprachlichen Äußerung, durch die erst die erwähnte Tätigkeit vollzogen wird: Es drückt ein notwendig asynchrones, nachträgliches Erfassen einer Vorstellung als eigene aus, es konstatiert ein schon Geschehendes, es unterbricht dieses Geschehen, um es als vom ›ich denke‹ Sagenden abhängiges Geschehen darzustellen. Dergestalt ist es der formale Ausdruck der Reflexion und diese selbst ist ein sekundäres Verhalten zu einem primären eigenen Verhalten. 66 66
Hier ist vielleicht der Ort, daran zu erinnern, dass unter ›Reflexion‹ hier nur die
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Die Situation als Verhältnis
Die Reflexion dringt nicht über das Verhalten hinaus, nicht hinter es zurück, wo ich mir dann rein als Ich – gereinigt vom bloß akzidentellen Verhalten zum Jeweiligen – aufgehen könnte. Ich stehe von mir selbst gleichsam nicht weit genug ab, um mich dergestalt in den Blick bekommen zu können: Die ›Diastase‹ – um es mit einem Ausdruck von Waldenfels zu sagen – zwischen mir qua Reflektierendem und mir qua reflektiertem Sich-Verhaltenden, die sich in der Reflexion auftut, gewährt mir keinen Blick von außen auf ein Ich, das sich verhält. 67 Phänomenal gibt es, was mich selbst angeht, die Person JB nicht. Denn damit es sie geben könnte, müsste ich die reflexive Diastase zwischen mir und mir zu einer nach dem Vorbild der Differenz zwischen mir und dir bzw. ihm, ihr etc. modellierten schlechthinnigen Differenz von mir und mir vergrößern können: Dann könnte ich phänomenal über mich so sprechen, wie ich über alles andere spreche, von dem ich sage: ›… ist …‹ Die Person JB tritt für mich – der ich JB bin – erst mit der Sprache des Bestands auf den Plan. Und dass ich mich selbst im tagtäglichen Sprechen wie auch ontologisch als Person JB konzipieren kann, von der ich, wie von allem anderen, sage ›JB ist …‹, ist Beweis für die ontologische Möglichkeit einer Sprache, die je-mein situiertes Erfahren revidiert zugunsten eines Modells des Erfahrens, das Nagel in das Bild des Blicks von Nirgendwo gefasst hat: einem desituierten Erfahren, dem alles in drittpersonaler Perspektive gegenüber ist, dem deshalb sogar die Welt in ihrer Gesamtheit gegenüber sein kann. Die Anfangslosigkeit des Verhaltens ist der Grund seines FlussCharakters; niemals vermöchte ich die Fuge anzugeben zwischen dem Verhalten zu einer Sache und dem Verhalten zur nächsten: Ich erfahre nicht, wie das eine Verhalten endet und das nächste anhebt. Das Verhalten ist phänomenal binnenunbegrenzt, kein compositum vieler einzelner Verhaltungen, sondern ein prozessuales totum in vielerlei Modi. Man könnte diese Position einen ›prozessualen Monismus‹ nennen: Sich-Verhalten und Sich-Gestalten sind Momente eines Prozesses (von dessen Eigenart das nächste Kapitel handeln wird). In der
Selbstreflexion zu verstehen ist: Nicht alles Denken ist in diesem Sinne Reflexion, denn nicht alles Denken artikuliert ein eigenes Verhalten. ›Der Berg ist steil‹ ist artikulierendes Verhalten, ›Ich denke, der Berg ist steil‹ darüber hinaus auch reflexives. 67 Zum Begriff der ›Diastase‹ bei Waldenfels, vgl. z. B. Bruchlinien der Erfahrung, S. 174 f.
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Medialität
Bewegung des Verhältnisses geschehen Sich-Verhalten und Sich-Gestalten in anfangsloser Synchronie zueinander. Deshalb bin ich qua Mich-Verhaltender phänomenal nicht ursprünglicher als mein Verhalten. Mich als ursprünglicher denn mein Verhalten, als seine aktive Ursache zu konzipieren, verbietet mir der phänomenale Befund, dass ich selbst es nicht als anfangend erfahre, sondern immer schon als sich vollziehend. Ich bin mit mir selbst nur vertraut als Mich-immer-schon-Verhaltender; wohnend bei meinem Verhalten bin ich doch nie an seinem Anfang, sondern immer schon in ihm begriffen. Phänomenal bin ich Situierter: der im Verhältnis Begriffene, der sich nicht anders kennt denn als dergestalt situiert. Ich kann also mein Verhalten im Rahmen einer phänomenalen Ontologie weder konzipieren als Aktivität – als actio die rückführbar ist auf mich als ihr agens, noch als Passivität – als passio, deren patiens ich bin und die auf die actio eines anderen agens als mich zurückgeht. 68 Die phänomenale Sachlage berechtigt nicht zu dieser Konzeption am Leitfaden der Dichotomie von aktiv und passiv. Phänomenal vollzieht sich das Verhalten medial. Es hält die Mitte zwischen Aktivität und Passivität. Zu jedem Zeitpunkt kann ich von ihm nur sagen: It has been going on, es vollzieht sich schon und wird sich vollziehen in einem ungeteilten prozessualen Kontinuum, in dem es weder Ursache noch Wirkung ist, sondern Moment einer prozessualen Ganzheit, das sich nur in vollkommener Synchronie mit deren anderem Moment, dem Sich-Gestalten des Jeweiligen, vollziehen kann. Im Gegensatz zum aktiv Verursachten oder passiv Erlittenen liegt das Verhalten phänomenal jenseits kausaler Zusammenhänge; folglich zwängt man es nur um den Preis einer entstellenden Zurichtung in das Schema der Kausalität.
Vgl. Descartes, Les passions de l’Ame: »[…] tout ce qui se fait ou qui arrive de nouveau, est generalement appellé par les philosophes une Passion au regard du sujet auquel il arrive, & une Action au regard de celuy qui fait qu’il arrive. En sorte que, bien que l’agent et le patient soient souvent fort differens, l’Action & la Passion ne laissent pas d’estre tousjours une meme chose, qui a ces deux noms, à raison des deux divers sujets ausquels on la peut raporter (4).« Mit Sellars gesprochen: Aktiv und passiv »form a contrastive pair, each member of which depends for its meaning on its relation to the other (1981a, 10).«
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Die Situation als Verhältnis
Die Sprache Humboldt hat in der Einleitung zum Kawi-Werk vorgetragen, was als seine ›energetische Sprachauffassung‹ bekannt geworden ist: Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes … Sie selbst ist kein Werk (ergon), sondern eine Thätigkeit (energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen (LVII).
Damit ist er einerseits der Phänomenalität der Sprache nahegekommen: Diese ist phänomenal artikulierendes Verhalten zu einem Jeweiligen. Sprache ist phänomenal in den Bewegungen des Sprechens, Sprechen-Hörens, Schreibens, Lesens und Denkens. 69 Deshalb verfehlt Humboldt andererseits die Phänomenalität der Sprache, weil er sie nur als den artikulierten Laut versteht, der den Gedanken ausdrückt, ihm dergestalt physisches Sein verschafft – als bestünde die Sprache darin, dass ein nicht sprachlicher Gedanke artikuliert würde, wo wir Denken phänomenal selbst nur erfahren als ein Artikulieren. Denkend artikuliere ich lautlos, sprechend artikuliere ich verlautbarend; sowohl Denken als auch Sprechen sind artikulierendes Verhalten. Phänomenal vollzieht sich Sprache da, wo wir sprechen, sprechen hören, schreiben, lesen oder denken. Dies sind phänomenal die Modi der Sprache. Die These, dass die Sprache darüber hinaus eine Entität sein muss, auf die dieses Verhalten zurückgreift, mag im Rahmen einer Bestandsontologie Geltung beanspruchen, phänomenal ist sie nicht zu belegen, da die Vertrautheit damit, wie es ist, auf die genannten Weisen sprachlich zu sein, die Sprache niemals als eine solche Entität hat: Sprache ist phänomenal durch und durch prozessual verfasst. Sie ist phänomenal nur die neu und neu sich vollziehende Genesis der Artikulation in ihren verschiedenen Modi. Ich kann freilich die Grammatik und das Vokabular der einzelnen Sprachen zusammentragen und auch untereinander vergleichen – aber auch das geschieht im Rahmen einer wiederum sprachlichen Konzeption von Sprache: Nur innerhalb der Sprache tout court lassen sich die
Auch etwa in der des Sprechen-Sehens, wenn der Sonderfall der Gebärdensprache in Betracht gezogen wird oder der des fühlenden Lesens im Falle von Braille.
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Medialität
einzelnen Sprachen beschreiben, nur innerhalb der Sprache konstituiert sich der in morphologischer, syntaktischer, phonetischer, semantischer etc. Hinsicht aufgefasste Gegenstand der Sprachwissenschaft (den wir nicht vorschnell mit der Sprache schlechthin identifizieren dürfen). Die Möglichkeit bündiger Darstellung und Zusammenfassung einzelner Sprachen berechtigt nicht dazu, diese als dem Sprechen vorgängige Entitäten anzusetzen. 70 Und setzt man eine Sprache oder die Sprache überhaupt als dem artikulierenden Verhalten vorgängig an, ist der Überschritt in das durch die je-eigene Erfahrung nicht mehr zu deckende Operieren mit einer reinen ens rationis bereits getan; man modelliert dann die Sprache, indem man die phänomenale Sachlage revidiert: Die Sprache muss doch als Entität zugrundeliegen, damit wir sprechen können. Evans bspw. setzt solch eine Entität also vielleicht zu Recht an. 71 Nur, dass diese Berechtigung sich auf den Rahmen der Bestandsontologie beschränkt, denn ihr liegt schon eine bestimmte Auffassung dessen zugrunde, was überhaupt eine ›Entität‹ genannt werden darf, was ›seiend‹ heißen kann: Im Rahmen einer phänomenalen Ontologie ist nicht, was nicht an der Phänomenalität selbst den Ausweis seines Seins finden kann. Die Sprache mag also modellierbar sein als dem Sprechen vorgängiger Fundus an Ausdrucksmöglichkeiten: Aber gesetzt, dass wir vom Modellieren abstehen wollen, ist die so aufgefasste Sprache ein non-ens.
Denken Dass Denken und Sprechen dasselbe (artikulierendes Verhalten) in verschiedener (lautloser und verlautbarender) Gestalt sind, ist in der Tradition alles andere als unerhört. Die Figur der ›inneren Rede‹ ist nichts weniger als ein philosophiegeschichtlicher Topos, der seinen locus classicus in der im ›Sophisten‹ vorgetragenen Charakterisierung der ›δίανοια‹ als ›δίαλογος ἄνευ φωνῆς‹ hat (vgl. 263 e). 72 In – relativ Das gilt natürlich auch für meinen eigenen Versuch, mich oben über den hiesigen Gebrauch von ›Sprache‹ zu erklären (vg. Kap. 2). 71 Vgl. 1982, S. 67: »One will […] regard the utterances of individual speakers of the language as exploitations of a linguistic system which exists independently of anyone’s exploitation of it.« 72 Vor allem Gadamer hat sich dieser Auffassung von Denken emphatisch angeschlossen: »Denken heißt, sich etwas denken. Und sich etwas denken heißt, sich etwas sagen (1986a, 200).« Vgl. aber auch Husserl: »[Es] soll darauf nicht ankommen […], ob die 70
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Die Situation als Verhältnis
dazu – jüngster Zeit hat Sellars in eigentümlich zirkulärer Weise das Denken durch das Sprechen und umgekehrt das Sprechen durch das Denken charakterisiert. »Es gibt«, sagt er, »einen Bereich ›innerer Episoden‹, zu Recht ›Gedanken‹ genannt, die nicht sprachlich, aber in entscheidenden Hinsichten, sowohl syntaktischen als auch semantischen, sprachlichen Strukturen analog sind […] (1981b, 326).« 73 »In der Sphäre des Mentalen ist [daher] die Sprache das Erste in der Ordnung des Wissens (in the domain of the mental, language is the first in the order of knowing) (ebd.).« Sie ist der Königsweg zum Verständnis dieses Bereiches, zum Verständnis des mentalen Geschehens, insofern im Mentalen »linguistische Aktivität (linguistic activity)« – über ihr empirisches Fungieren als »Kommunikationsmittel (means of communication)« hinaus – auftritt als »Medium, in dem wir denken (medium in which we think) (ebd., 327; Sperrung entfernt – JB).« Die Sprache in diesem Sinne, »ehrliches, offenes, spontanes verbales Verhalten (candid, spontaneous overt verbal behavior)«, nennt Sellars »Laut-heraus-Denken (thinking-out-loud) (ebd.)«. Dieser Begriff von Sprache ist wie der hier entwickelte ein verbaler. Nur, dass Sellars das Sprechen nicht anders denn als Aktivität auffassen kann, da ihm ein zureichender Begriff von Phänomenalität bzw. besser noch ein philosophisches Interesse für die Phänomenalität überhaupt abgeht. Sprechen, Laut-Heraus-Denken, ist jedoch in seiner Phänomenalität begriffen nicht Aktivität, sondern vollzieht sich wie alles dergestalt begriffene Verhalten medial. Die angesprochene Zirkularität in Sellars’ Charakterisierung liegt darin, dass einerseits das Denken ein Analogon der spontanen Rede sein soll, andererseits diese Rede selbst als eine Art Denken – verlautbarendes Laut-Heraus-Denken – gefasst wird. Das ist insofern nicht viziös, als es sich hier weder um eine Definition von Denken oder Sprechen handelt, in der das Definiendum unerlaubterweise schon vorausgesetzt wäre. Sellars charakterisiert lediglich zwei Phänomene, mit denen wir schon im Vorhinein vertraut sind, durch das Rede wirklich geredet, also in kommunikativer Absicht an irgendwelche Personen gerichtet ist, oder nicht … in der einsamen Rede begnügen wir uns normalerweise mit vorgestellten anstatt mit wirklichen Worten (2009, 37).« In gleichsam umgekehrter Blickrichtung formuliert Merleau-Ponty: »L’orateur ne pense pas avant de parler, ni même pendant qu’il parle; sa parole est sa pensée (219).« 73 »There is a domain of ›inner episodes‹ properly referred to as ›thoughts‹, which are not linguistic – though they are analogous in important respects, syntactic and semantic, to linguistic structures […]«
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Medialität
jeweils andere, so dass er eine erlaubte Voraussetzung macht, da er nichts schlechthin Unbekanntes voraussetzt. Er setzt in seiner zirkulären Charakterisierung auf die Vertrautheit mit den Phänomenen des Sprechens und Denkens. Diese ist es, die uns Einstieg in diesen Zirkel gewährt, der dergestalt ein hermeneutischer ist: Wir wissen, wie es ist, zu denken und zu sprechen. Deshalb können wir NichtTriviales über Denken und Sprechen aussagen, indem wir sie chiastisch durcheinander charakterisieren. Warum aber, wenn also Denken Sprechen und umgekehrt Sprechen Denken ist, schreckt Sellars davor zurück, diese schlechthin zu identifizieren? Warum fasst er sie nur als Analoga auf? Er selbst sieht sich in Übereinstimmung mit der »klassischen Sicht«, die er selbst nicht weiter spezifiziert, deren These sich aber aus seiner eigenen Grundstellung rekonstruieren lässt (326). Sie dürfte lauten wie folgt: ›Sprache hat wesentlich physische Gestalt, ist Schall oder Schriftzeichen. Nur Benehmen (Verhalten im Sinne des Behaviorismus) kann sprachlich heißen. Die mentalen Episoden, die sich in foro interno, der Beobachtbarkeit entzogen, vollziehen, sind eo ipso keine sprachlichen Episoden.‹ Mag diese Sicht die ›klassische‹ sein 74 – woher nimmt sie das Recht, die Sprache als wesentlich beobachtbar aufzufassen? Warum kann nur Sprache sein, was von einem externen Beobachter konstatierbar ist? Die Sprache hat eine rein phänomenale Gestalt: das Denken. Denkend bin ich, ebenso wie im Sprechen, artikulierend bei einem Jeweiligen – nur das dieses sein Artikulieren verlautbart, jenes nicht. Denken ist ebenso Sprache wie Sprechen Sprache ist: ein seine Sache artikulierendes Verhalten.
Die Artikulation Heidegger hat in seiner Auslegung des πεφατισμένον im parmenideischen Lehrgedicht ganz zwanglos ›Denken‹ und ›Sagen‹ wie folgt einander angenähert:
Vielleicht dürfte sie aufgrund der berühmten Passage aus Aristoteles’ Hermeneutik (16a3 ff.) so heißen: »ἔστι μὲν οὖν τὰ ἐν τῇ φωνῇ τῶν ἐν τῇ ψυχῇ παθημάτων σύμβολα, καὶ τὰ γραφόμενα τῶν ἐν τῇ φωνῇ.« Im Anschluss hieran ließe sich sagen, die Sprache komme erst mit den sinnfälligen Erkennungsmarken (den σύμβολα) der παθήματα τῆς ψυχῆς ins Spiel.
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Das νοείν ist darum seinem Wesen nach, und nie erst nachträglich oder zufällig, ein Gesagtes. Allerdings ist nicht jedes Gesagte notwendig schon auch ein Gesprochenes. Es kann auch und muß bisweilen ein Geschwiegenes bleiben. Alles Gesprochene und Geschwiegene ist je schon ein Gesagtes. Nicht aber gilt das Umgekehrte (2000, 248).
In Heideggers Terminologie, die von der hiesigen zunächst abweicht, ist das Gesprochene ein verlautbartes Gesagtes, das Sprechen ein verlautbarendes Sagen, wogegen das Denken ein schweigendes ist. In der hier entwickelten Terminologie sagen wir: Sprechen vollzieht sich als verlautbarendes und schweigendes Artikulieren des Jeweiligen. »Doch in welchem Sinne«, fragt Heidegger, ist ein Sprechen verstanden, das durch φάσκειν und φάναι benannt wird? Gilt hier das Sprechen nur als die Verlautbarung (φωνή) dessen, was ein Wort oder Satz bedeuten (σημαίνειν)? Wird hier das Sprechen als Ausdruck eines Inneren (Seelischen) gefasst und so auf die beiden Bestandstücke des Phonetischen und Semantischen verteilt? Keine Spur davon findet sich in der Erfahrung des Sprechens als φάναι, der Sprache als φάσις. In φάσκειν liegt: anrufen, rühmen, rühmend nennen, heißen; all dies jedoch nur deshalb, weil es west als Erscheinenlassen. […] Φάσις ist die Sage; sagen heißt: zum Vorschein bringen (ebd., 249).
Egal ob ich mir etwas sage oder anderen, ob ich es schriftlich oder mündlich sage, das Sagen artikuliert das je Gesagte, d. h. legt es aus – wobei Auslegen sowohl Entbreiten, Entfalten bedeutet als auch gestaltendes Sehenlassen (αποφαίνεσθαι) des Entfalteten. 75 Sprechen und Sagen sind also für Heidegger letztlich eins, wodurch seine Terminologie wieder mit der hiesigen konvergiert: Sagen ist heraussprechendes oder an sich haltendes, verlautbarendes und stilles Artikulieren: ist Sprechen und Denken. Dagegen erscheint die Artikulation im Rahmen der Bestandsontologie als das Verketten von Wörtern, die selbst Buchstabengebilde sind. Ein Sprecher bildet diese Verkettungen durch Gebrauch seiner Sprechwerkzeuge; die so entstehenden sprachlichen Gebilde sind ›funktional verknüpft‹ mit mentalen Episoden (Sellars) bzw. ›Ausdruck des Gedankens‹ (Humboldt). Wir hören jemanden sprechen; Das ist vor allem in Sein und Zeit unter Rückgriff auf die aristotelische Bestimmung des λόγος αποφαντικός ausgeführt (vgl. 32 f.) – die Kontinuität des heideggerschen Früh- und Spätwerks ist unter anderem auch daran abzulesen: das frühe (dann als Leitbegriff aufgegebene) ›Phänomen‹ und ein in einem späten Text ins Zentrum rückender wie ›φάσις‹ sind von einem Stamm.
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Medialität
wir sehen dabei (zumindest in Teilen) die Bewegungen seiner Sprechwerkzeuge: Er bildet Wörter, Phrasen, Sätze etc. Syntaktisch gesehen verkettet er Wörter, phonetisch gesehen stößt er Lautgebilde aus. Die semantische Dimension, dass diese Gebilde Zeichencharakter haben, etwas Bestehendes bezeichnen, gehört genauso wie das Denken in das, was Sellars den Bereich des Mentalen nennt und was man mit Humboldt die Sphäre des Geistes nennen könnte. Denken und Bedeutung sind gleichermaßen Bewusstseinsinhalte. Deshalb kann das Bedeuten im Rahmen der Bestandsontologie nur als die ›Inhaltsseite‹ des sprachlichen Zeichens erscheinen: In den physiologisch-anatomisch beschreibbaren Bewegungen der Sprechwerkzeuge, im als Schall beschreibbaren Sprechen ist Bedeutung geborgen – und der Beobachtung dabei in gewissem Sinne verborgen: das Bedeuten der Wörter gehört im Rahmen der Bestandsontologie genauso in die Verborgenheit des inneren Forums wie das Denken. Gemäß unserer Methode fragen wir nach der Phänomenalität der Artikulation: Wie ist es, ein Jeweiliges zu artikulieren? Zunächst so, dass sich die Artikulation keinesfalls darin erschöpft, Lautgebilde (oder Schriftgebilde) nach gewissen Regeln zu verketten. Genauso herrscht zwischen den einzelnen Wörtern nicht bloß die extrinsische Relation, dass ich sie eben miteinander verknüpft habe, so als griffe ich sie wie Glasperlen aus einer Schachtel und zöge sie zu einer Kette auf. Die Wörter folgen einander nicht partes extra partes, als diskrete und dabei gegeneinander indifferente Einheiten, sondern bilden eine ursprüngliche Ganzheit. Das eine Wort bedeutet nur im Verbund mit den anderen Wörtern, bildet mit ihnen also ein semantisches Ganzes, das ursprünglicher ist als das einzelne Wort. Diese Ganzheit stiften nicht die syntaktischen Regeln, die phänomenal nicht positiv die Abfolge der Wörter bestimmen, sondern nur negativ und formal bestimmte Abfolgen als agrammatisch ausschließen. Ich merke im Sprechen oder Schreiben, dass ich gerade gegen eine grammatische Regel verstoßen habe und korrigiere mich im Nachhinein: Aber diese Regeln leiten und bestimmen phänomenal nicht das Artikulieren. Positiv bestimmt wird die Abfolge der Wörter durch das je Ausgesagte bzw. Aufgeschriebene, das ich das Wort (Plural: Worte) nennen möchte. Dieses eint von vorneherein die aneinandergereihten Wörter, die dergestalt einander niemals als diskrete und intrinsisch voneinander unabhängige Einheiten folgen oder voraufgehen. Die im Wort gereihten Wörter sind dadurch ursprünglich geeint, dass sich in ihrer Abfolge, in der Bewegung der Artikulation, die artikulierte Sache ge123 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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staltet. Wir müssen die Zweideutigkeit von ›Wort‹ beachten, die in den zwei Pluralen des Wortes zum Vorschein kommt: Neben den einzelnen Wörtern, den Lemmata des Wörterbuchs, die selbst zum Bestand der Welt gehören, gilt es, die Phänomenalität der Worte zu denken. Die Worte sind prozessual verfasste Wörterganzheiten, und als solche die artikulierte (gegliederte) Gestalt der Sachen. Ein Wort (Plural: Worte) ist somit keine quantitative Einheit, deshalb lässt sich z. B. auch nicht sagen, aus wie vielen Worten ein Text besteht (wohl aber zählt z. B. mein Textverarbeitungsprogramm mit, aus wie vielen Wörtern ein Text, den ich schreibe, besteht, und zeigt mir diese Anzahl an). ›Wir denken‹, ›wir sprechen‹ heißt: Die Sachen gestalten sich in Worten, d. h. artikuliert. Die Worte evozieren nicht die Sachen, noch weniger referieren sie bloß auf sie: Die Worte sind die Sachen in artikulierter Gestalt. Diese artikulierte Gestalt der Sachen nenne ich das Konzept. Konzepte sind in Worten sich gestaltende Sachen. Wir sagen mit Absicht ›Konzept‹ statt ›Begriff‹, um auf einen phänomenalen Charakterzug ihrer hinzuweisen: »Ein Begriff drängt sich auf, das darfst Du nicht vergessen.«, heißt es im zweiten Teil der ›Philosophischen Untersuchungen‹ (537). Das Konzipieren ist phänomenal ebenso sehr ein Empfangen, wie es ein Setzen ist, es ist genauso aktiv wie es passiv ist und deshalb genauso wenig als actio wie als passio aufzufassen: Es hält die Mitte zwischen beiden. Die sich als Denken, Sprechen und Schreiben vollziehende Bewegung der Artikulation, entfaltet die Sachen als Konzepte, d. h. allgemein. Die Konzepte sind die Sachen in allgemeiner Gestalt. Die Bedeutung der Worte liegt darin, dass sie je-diese Sache so sagen. Die Worte bedeuten das So-sein dessen, das sie artikulieren. Dabei fixieren sie nicht die Mehrdeutigkeit des So, sondern sind selbst wieder mehrdeutig, d. h. der Auslegung bedürftig, weshalb Montaigne sagen konnte, es sei ein größeres Geschäft, die Auslegungen auszulegen als die Sachen selbst (vgl. 385). 76 Konzepte sind keine Partikularien, keine Individuen wie Personen oder Dinge. Konzepte sind das sich in den Worten Gestaltende, wenn wir denken, sprechen, sprechen hören, lesen oder schreiben. Man vergleiche, was Evans in der folgenden Passage über das Denken bzw. Gedanken sagt: »Il y a plus affaire à interpreter les interpretations qu’à interpreter les choses, et plus de livres sur les livres que sur autre sujet […]«
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Ich ziehe es vor, die Art und Weise, in der Gedanken strukturiert sind, nicht dergestalt zu erläutern, als seien sie aus distinkten Elementen zusammengesetzt, sondern sie auffassen als Ausübung verschiedener begrifflicher Fähigkeiten. So macht jemand, der denkt, dass John glücklich ist und dass Harry glücklich ist, bei diesen zwei Gelegenheiten von einem begrifflichen Vermögen Gebrauch, nämlich dem ›Besitz des Begriffs des Glücklichseins‹ (1982, 101). 77
Evans wird insofern der phänomenalen Sachlage gerecht, als er die nicht dingliche Verfasstheit der Konzepte betont: Diese sind nicht in Analogie zu den realen Partikularien zu begreifende logische (sprachliche) Partikularien, denen in Analogie zu den Eigenschaften des Realen semantische Merkmale zukämen, sondern die Möglichkeiten des Denkens. Die Konzepte gleichen nicht Werkzeugen, derer wir uns von Zeit zu Zeit bedienen, die aber unabhängig von diesem Bedienen bestehen; wir operieren nicht mit Konzepten wie wir mit Werkzeugen hantieren. Konzepte sind nur in der Bewegung des Konzipierens: Konzepte gibt es nur, weil das Denken in seine Möglichkeiten dringt. Allerdings entlassen wir die empfangenen Konzeptionen, indem wir uns sprechend an andere richten, indem wir sie aufschreiben oder in anderer Weise festhalten, in eine gewisse Unabhängigkeit von uns. So kann dann der Schein entstehen, es gäbe die Konzepte als bereitliegende Womit eines Operierens wie die Werkzeuge für das Hantieren mit ihnen bereitliegen. Unter dem Eindruck dieser irreführenden Analogie verfehlt Evans andererseits die Phänomenalität der Denkmöglichkeiten, indem er sie als besessene Vermögen deutet, von denen wir von Zeit zu Zeit Gebrauch machen, denn phänomenal gehen meine Denkmöglichkeiten ihrer Aktualität nicht vorauf. 78 Ich vermöchte in mir oder außerhalb meiner keinen Fundus bestehender Denkmöglichkeiten aufzufinden, die insgesamt mein Denkvermögen ausmachen: Denkmöglichkeiten sind über die Bewegung ihrer Aktualität hinaus phänomenal nichts. 79 Das Konzept des Glücklichseins – um in den Worten von Evans’ Beispiel zu reden – ist phänomenal nur »I should prefer to explain the sense in which thoughts are structured, not in terms of their being composed of several distinct elements, but in terms of their being a complex of the exercise of several distinct conceptual abilities. Thus someone who thinks that John is happy and that Harry is happy exercises on two occasions the conceptual ability which we call ›possessing the concept of happiness‹.« 78 Vgl. zur Phänomenalität der Möglichkeit das nächste Kapitel. 79 Der ›logische Raum‹ als gedachter Gesamtbestand aller dieser Möglichkeiten ist ein nur im Rahmen der Bestandsontologie zu entwerfendes Modell. 77
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in der Bewegung der Gedanken, in denen sich mir John oder Harry als glücklich gestalten, in denen ich sie als glücklich konzipiere. Und auch wenn ich das Konzept des Glücklichseins selbst thematisiere, so nur im Vollzug eines Verhaltens zu ihm. Wir sprechen und denken phänomenal nicht in Wörtern sondern in Worten, d. h. in Konzepten. Konzepte sind die sich in Worten gestaltenden Sachen. Deshalb denken und sprechen wir in Konzepten, sofern wir überhaupt Worte machen und machen keine Worte, ohne zu konzipieren. Wie das Verhalten überhaupt sich phänomenal nicht scheiden lässt in psychologische und physiologische Komponenten, so lässt auch das Denken als artikulierendes Verhalten sich phänomenal nicht zerschlagen in einen ›psychischen Akt‹, und eine mit ihm einher gehende ›logische Operation‹ oder einen ›realen Vollzug‹ und einen ›idealen Gehalt‹ – phänomenal gibt das Denken uns keinen Anhalt für solch eine Trennung, da logische Verhältnisse nie anders sind denn im Vollzug des Denkens. Zuletzt sind die Worte nicht atomistisch aus den Einzelwörtern aufgebaut, sondern sind in ihrer diachronen Verfasstheit die Bewegung des Konzipierens dessen, das ich sage, höre, denke, schreibe oder lese.
Das cogitatur-Theorem Das Denken kann deshalb Paradigma der Phänomenalität des Verhaltens überhaupt sein, weil es reine Phänomenalität ist: Denken ist das Unbeobachtbare. Einer als Beobachtung gedeuteten Erfahrung bleibt das Denken im Innern des Beobachteten verborgen. Nur im Wohnen bei mir selbst erfahre ich das Denken. Denken kenne ich nur als mein Denken oder als: ›ich denke‹. Wir sehen Rodins Denker sein Denken nicht an (bzw. sähen es ihm, wenn er denn dächte, nicht an); wir sehen die stilisierte Darstellung der Außenansicht eines Denkenden. Wir erkennen die Haltung der Plastik als ›Denkerpose‹. 80 Man hat andere äußerliche Züge des Denkens beschrieben: Es gibt Platons be-
Plastik oder Skulptur? Ich verlasse mich auf jemanden, der sich besser auskennt als ich und der mich freundlicherweise noch darauf hinwies, dass der Denker seinen rechten Unterarm auf seinen linken Oberschenkel stützt – eine Haltung, in der sich der Leib (vermittels eines Ziehens in der rechten Schulter) penetranter meldet, als der Kontemplation zuträglich sein kann.
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rühmte Darstellung der Geistesabwesenheit des gedankenversunkenen Sokrates (vgl. Symposion, 220 c ff.). Es ist beinahe trivial, ausdrücklich zu sagen, dass wir in solchen Darstellungen nicht das Denken selbst sehen. Das Denken überhaupt sehen wir nicht. Es hat keine beobachtbare Gestalt. Beim Denken wohnen wir nur: Wie es ist zu denken, damit ist jeder nur vertraut, sofern er selbst denkt; ich, sofern ich denke, Du, sofern du ebenso von dir sagen kannst: ›ich denke‹, er, sie etc. aus dem nämlichen Grund. Das Denken ist nicht als Vorgang im Bestand der Welt konstatierbar. Der Versuch, es in den Bestand zu integrieren, kann es nur entstellend als Abfolge von Bewusstseinszuständen fassen. Das Sprechen hat eine solche beobachtbare Gestalt; in dieser ist es bspw. Thema der Sprechakttheorie: Das Sprechen wird dort in seiner Performanz gefasst und ausgelegt als verbales Handeln, das – wie alles Handeln – diese und jene Wirkung zeitigt. Die Sprechakttheorie fußt stillschweigend auf der Bestandsontologie, auf dem Modell vieler aufeinander handelnd einwirkender Jemande, und fokussiert in diesem Bereich das verbale Handeln – das Wirken durch Sprache – der einzelnen Handelnden. Diese werden konzipiert als sprachliche (Sprechakte vollziehende) Akteure. Vom Denken können wir deshalb nicht sagen, es bestehe im Vollzug von Denkakten, wie es vom Sprechen gesagt worden ist, weil das Denken im Gegensatz zum Sprechen keine beobachtbare Gestalt hat: Es ist reine Phänomenalität und von ihm ist nur zu zeugen. Eben deshalb ist es irreführend, vom Denken als einer ›geistigen Tätigkeit‹ zu sprechen. Wir können sagen, dass Denken wesentlich eine Tätigkeit des Operierens mit Zeichen ist. Diese Tätigkeit wird mit der Hand ausgeführt, wenn wir schreibend denken; mit dem Mund und Kehlkopf, wenn wir sprechend denken; und wenn wir denken, indem wir uns Zeichen oder Bilder vorstellen, kann ich dir kein Agens, das denkt, angeben (Wittgenstein 1970, 23).
Phänomenal vollziehen sich sowohl Sprechen als auch Denken medial, d. h. in der Unbestimmtheit von Ursache und Wirkung, von aktivem und leidendem Part. Aber das Sprechen hat darüber hinaus beobachtbare Gestalt, während das Denken von seiner Eigenart her ganz außerhalb der Bestandsontologie liegt und nur um den Preis einer Zurichtung und Entstellung zu so etwas wie mentalen Zuständen oder Episoden in diese integrierbar ist. Am Sprechen bestehen beobachtbare und phänomenale Gestalt nebeneinander her: Ich erfahre mich selbst als sprechend, so wie ich andere Sprecher beobachten kann und umgekehrt andere mich als sprechend erfahren. Deshalb 127 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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kann ich als Sprechender unter Sprechenden mein eigenes Sprechen so wie dasjenige jedes anderen verstehen als Vollzug von im Bestand verzeichenbaren Sprechakten. Das Denken lässt sich nicht dergestalt als Akt fassen: Es ist reine Phänomenalität und deshalb reine Medialität, die, wie oben ausgeführt, den Grundzug des in seiner Phänomenalität begriffenen Verhaltens ausmacht. Entsprechend konturieren wir die Medialität des Verhaltens schärfer, indem wir sie am Denken – dem Phänomenalen par excellence – aufweisen. Wir greifen dazu zurück auf Lichtenbergs Protest gegen das cogito: Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zuviel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis (412).
Cogito, das ist für Descartes das erste in der Ordnung des Wissens, das, woran nicht zu zweifeln ist: Ich denke – und nicht ein anderes für mich. 81 Ist dies letztere aber das, was Lichtenberg behauptet, wenn er behauptet, es – nicht ich – dächte? Keinesfalls: Das cogitatur-Theorem (das der Aphoristiker Lichtenberg selbst niemals in eine ausgearbeitete Theorie integriert hat), zielt nicht auf ein anderes, das anstelle meiner dächte. Das ›es‹ ist vielmehr absolut zu lesen, eben gleich demjenigen in ›es blitzt‹ : als rein logisches Subjekt, das wir aus sprachpraktischen Bedürfnissen mitsagen und in diesem Sinne ›postulieren‹ müssen. 82 Denken, so lautet die These, ist bloßes Geschehen, nicht subjektrelativ. Rückt damit das Denken in die Nähe des bloßen Naturereignisses, wie eben denen, dass es blitzt oder donnert oder regnet? Wer, wenn nicht ich, soll denn denken, wenn ich denke? Damit aber wäre, wie gesagt, Lichtenbergs originäre Intention verkannt, denn seine These lautet nicht: Es – ein weiter unbestimmtes Etwas – denkt; es geht ihm um den phänomenalen Befund, den James einmal so formuliert:
Vgl. Descartes’ zweite Meditation: »Nunquid est aliquid deus […], qui mihi has ipsas cogitationes immittit? Quare vero hoc putem, cum forsan ipsemet illarum author esse possim (2008, 46 f.)?« Gemessen an der Forderung nach allumfassendem Zweifel ist Descartes sich an dieser Stelle bemerkenswert sicher. 82 »[…] Sätze wie ›es regnet‹ oder ›hier riecht es merkwürdig‹ [sind] durchaus vollständig und sinnvoll, obwohl sie keinen Gegenstand bezeichnen, von dem das Regnen oder ein Geruch ausgesagt wird. Das Subjekt eines solchen Satzes ist nur ein rein formaler Platzhalter, den uns allein die grammatischen Regeln aufzwingen. (Sohst, 21 f.)« 81
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Medialität
Könnten wir im Englischen sagen ›es denkt‹, so wie wir sagen ›es regnet‹ oder ›es geht ein Wind‹, würden wir die Sachlage höchst einfach und mit einem Mindestmaß an Unterstellung angeben. Da wir es nicht können, müssen wir einfach sagen: Das Denken vollzieht sich (224 f.). 83
Phänomenal, d. h. gemäß dem Zeugnis unserer Vertrautheit mit dem Denken, vollzieht dieses sich so, dass mir Gedanken kommen. Qua Konzipieren lässt das Denken sich sowohl aktivisch als Artikulation des Jeweiligen formulieren wie auch passivisch als Empfangen dieser Artikulation: dass ich denke, bedeutet, dass Gedanken mir kommen. Und ›mir kommt ein Gedanke‹ bedeutet wiederum: Ich denke ein Jeweiliges irgendwie. ›Ein Gedanke‹ ist also so wenig wie ›ein Verhalten‹ als quantitativer Singular zu lesen, sondern einen Gedanken zu haben heißt, eine Sache irgendwie zu konzipieren. Phänomenal ist es nicht nur ein Gedanke, den wir in je-dieser Situation denken, sondern immer jeweils dieser: Phänomenal denken wir jeweils in dieser Situation diese Sache so – artikulieren uns in diesen Worten über sie, sagen sie so. Und weil wir dies tun, gestalten sich in unseren Worten die artikulierten Sachen je so. Meine Gedanken, obwohl sie doch allein meine sind, kommen mir. Sie kommen dabei nicht von mir oder aus mir, sind nicht durch mich oder als von mir vollzogen, sondern das Denken vollzieht sich: Es denkt. Und zwar vollzieht es sich als das Kommen von Gedanken. Das cogitatur-Theorem behauptet dabei nicht, diese Gedanken kämen von irgendwoher aus der Welt, so wie die Funkwellen in den Empfänger: Ihr Kommen ist ein Kommen sui generis, denn die Gedanken kommen ex nihilo. Sie verbergen das Woher ihres Kommens: »[…] aus dem Dunkeln des Verstandlosen […]«, sagt Schelling, »erwachsen erst die lichten Gedanken (73)« – wie aber, wenn diese Rede vom Dunklen (Unkenntlichen, Geheimnisvollen, Undurchschaubaren) nur eine appropriative Weise ist, von dem zu sprechen, was noch viel geheimnisvoller und unkenntlicher ist als das Dunkle? Von dem Nichts nämlich, aus dem phänomenal die Gedanken kommen? Eine appropriative und zudem palliative Weise, denn das Nichts ist nicht nur geheimnisvoller als das Dunkle, sondern auch unvergleichlich schroffer, insofern dieses zu Spekulationen über das in ihm Verbor»If we could say in English ›it thinks‹ as we say ›it rains‹ or ›it blows‹, we should be stating the fact most simply and with a minimum of assumption. As we cannot, we must simply say that thought goes on.« – James hätte m. E. noch besser formulieren können: Thought has been going on.
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gene einlädt, während jenes jede Spekulation im Keim erstickt. Wie, wenn wir uns davon, dass am Anfang des parmenideischen Lehrgedichts der Wagen schon in Bewegung ist, dass das Anfahren des Wagens am ›äußeren‹ Anfang (im ersten Vers) schon in unserem Rücken liegt, etwas sagen lassen sollten? Dies nämlich, dass der Anfang des Denkens immer schon unverortbar hinter uns liegt? 84 Denken ist kein Akt des Denkens, sondern phänomenal das Kommen von Gedanken. Und die Ankunft der Gedanken ist dadurch ausgezeichnet, dass jeder sie nur als sich selbst kommend erfährt, ich sie nur als Kommen meiner Gedanken, du sie nur als dasjenige deiner etc. Dass ich mein Denken doch sinnvollerweise mir zuschreiben muss, dass ich denke, ist richtig, aber diese Zuschreibung sagt mir noch wenig über die Phänomenalität des Denkens, wenig darüber, wie es ist zu denken. Das cogitatur-Theorem streitet auch gar nicht gegen diese Zuschreibung. Im Gegenteil, es setzt sie unbefragt voraus. Es geht darüber hinaus, dass ich es bin, der meine Gedanken denkt und fragt: Wie ist es, meine Gedanken zu denken? Es antwortet: So, dass ich ihr Kommen als absolut erfahre und so, dass sie in ihrem Kommen ihr Woher verbergen. Wollen wir der Phänomenalität getreu sprechen, dann ist die Aussage ›Ich denke‹ deshalb ›schon zuviel‹, wie Lichtenberg sich ausdrückt, weil ich mein Denken, sofern ich mit ihm vertraut bin, nicht als von mir vollzogen kenne. Das cogitatur-Theorem will die Phänomenalität gegen das Cartesische cogito in ihr Recht zu setzen, denn dieses lehrt mich nichts darüber, wie es ist zu denken: »[…] man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt. Wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf […] (Nietzsche, 375).« Dies muss sich freilich den philologischen Einwand gefallen lassen, ob denn klar sei, dass das, was uns als Anfang des Lehrgedichts überkommen ist, ursprünglich auch seinen Anfang darstellte. Diels, der einerseits bemerkt, dass wir »im Beginne […] das Gespann bereits in vollem Lauf [finden] (8)«, bemerkt andererseits, dass wir »die urkundliche Fassung […] erst dann kennen lernen [werden], wenn künftige Ausgrabungen im Μουσεῖον von Velia das Gedicht des Eleaten in Stein gegraben ans Tageslicht bringen sollten (27).« So müssen wir damit vorsichtig sein, Parmenides als Autorität, den Anfang des Lehrgedichts als autorativen Beleg für unsere These zu reklamieren – allein dürfte die pure Berufung auf eine Autorität zu den Bedingungen der Forderung nach Treue zum Phänomenalen sowieso nichts zählen. Gesetzt selbst, Parmenides habe einen Anfang des Lehrgedichts geschrieben, in dem vom Aufzäumen der Pferde, vom Anrollen des Wagens die Rede war: Der uns überkommene Anfang kann – unabhängig davon, ob wir Parmenides’ Autorität für sie beanspruchen dürfen – nur deshalb die Pointe der Anfangslosigkeit enthalten, weil das Phänomen des Denkens uns diese Anfangslosigkeit offenbart.
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Medialität
Die Medialität des Denkens kommt darin zum Vorschein, dass sowohl die aktivische Formulierung ›ich denke‹ als auch die passivische Formulierung: ›Gedanken kommen mir‹ jeweils ihr Recht haben und gleichzeitig jeweils einzuschränken sind. ›Ich denke‹ (und niemand und nichts anderes für mich), wie Descartes ganz richtig sagt; aber ich fungiere phänomenal nicht als Denkakte vollziehende res cogitans – insofern ist Lichtenbergs Einspruch recht zu geben. Gedanken kommen mir, aber sie vollziehen sich dabei nicht wie konstatierbare Ereignisse, die kausal zusammenhängen: Sofern hinsichtlich ihrer Genese überhaupt von Kausalität gesprochen werden kann, lässt sich nur sagen, dass sie ihre kausale Genese verbergen. Sie sind immer schon, sobald sie kommen. Mein Denken exemplifiziert dergestalt die phänomenale Anfangslosigkeit meines Verhaltens: Gedanken sind nur als Kommende, vor ihrem Kommen sind sie phänomenal nichts; und ihr Kommen ist phänomenal ein Letztes, der absolute Prozess der Ankunft ex nihilo, der nicht rückführbar auf ein agens, deshalb nicht actio ist; und der nicht passio sein kann, weil ich meine Gedanken so wenig als von anderem denn mir selbst erwirkt erfahre – relativ zu dem ich den ontologischen Status eines patiens innehätte – wie als von mir erwirkt. Das ›Ich denke‹ ist phänomenal angemessen formuliert ein ›I have been thinking‹ : Jetzt, da ich mich entweder schlechthin als Denkenden fasse oder als diesen Gedanken denkend, denke ich immer schon schlechthin oder denke ich immer schon diesen Gedanken.
Die Diskursivität des Denkens Das medial gefasste Verhalten – auch das explizieren wir jetzt beispielhaft am Denken – ist phänomenal charakterisiert durch seine Intuitivität. Wittgensteins Satz über das Sich-Aufdrängen der Begriffe wurde oben bereits zitiert. Er ist nicht im Abstrakten gesprochen, sondern ganz konkret auf je-diese Situation zu beziehen, wo sich im Denken dieser Sache dieser Begriff und nicht ein anderer aufdrängt: Diese Artikulation dessen, was gerade Sache ist, drängt sich mir auf. So sage ich die Sache, so denke ich sie: So und nicht anders kommt sie mir zu Wort; Die Sache drängt in diesen Worten in artikulierte Gestalt. In ganz ähnlichem Sinne sagt Gadamer: »… das Fragen ist mehr ein Erleiden als ein Tun. Die Frage drängt sich auf. Es läßt sich ihr nicht länger ausweichen und bei der gewohnten Meinung verharren 131 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
(1986, 372).« Wir transponieren das dergestalt in die hier entworfene Sprache, indem wir sagen: Die Gedanken als begriffliche Artikulationen (Konzepte) der Sachen treffen ein; sie kommen mir. Das Denken bewegt sich durch seine Sache, indem neue Konzeptionen ihrer sich aufdrängen, die voraufgehende modifizieren, verwerfen oder im Gegenteil bekräftigen etc. Das so verstandene Einfallen charakterisiert Gedanken überhaupt, nicht nur die ›Einfälle‹ und ›Intuitionen‹, die man in den Gegensatz setzt zum diskursiven Denken. Das Einfallen der Gedanken steht nicht im Gegensatz zu ihrer Diskursivität, sondern charakterisiert im Gegenteil auch das diskursive Denken: Alle Gedanken, auch diejenigen, die diskursiv aufeinander aufbauen, kommen ex nihilo. Das Einfallen der Gedanken charakterisiert die Bewegung des diskursiven Denkens als solche. Nehmen wir das Beispiel des Rechnens, das Thema von Ziffer 364 der ›Philosophischen Untersuchungen‹ ist: Jemand macht eine Berechnung im Kopf. Das Ergebnis verwendet er, sagen wir, beim Bauen einer Brücke, oder Maschine. – Willst du sagen, er habe diese Zahl eigentlich nicht durch Berechnung gefunden? Sie sei ihm etwa, nach Art einer Träumerei, in den Schoß gefallen? Es mußte doch da gerechnet werden, und ist gerechnet worden. Denn er weiß, daß und wie er gerechnet hat (395 f.).
Wir wollen nicht sagen, Rechnen sei ein träumendes Mir-in-denSchoß-Fallen von Rechenergebnissen. Wir wollen sagen, dass ›ich rechne‹ phänomenal zu explizieren ist als: ›es geschieht rechnendes Verhalten.‹ (›Es musste … gerechnet werden‹, sagt Wittgenstein). Ich rechne bspw. im Kopf 547 + 681 und zerlege der Einfachheit halber die Rechnung in simple Teilrechnungen, rechne also zuerst 547 + 600: Wie komme ich von dort zur Zahl 1147? Was tue ich, um zu ihr zu gelangen? Und was habe ich getan, um jenen ersten Schritt der Zerlegung zu vollziehen? Niemand anderes als ich vollzieht für mich diese Rechenschritte – was aber tue ich, um sie zu vollziehen? Wie vollziehe ich sie? Ich kann es nicht sagen. Weil ich sie nicht ausführe, sondern sie phänomenal viel eher für mich geschehen als durch mich, indem ein Ergebnis jäh als das richtige aufleuchtet (und ich so das richtige Ergebnis intuiere). In gewissem Sinne weiß ich also durchaus nicht, wie ich gerechnet habe; ich weiß es in dem Sinne, dass ich etwa sagen kann: Ich bin so vorgegangen, dass ich zuerst 547 + 600 gerechnet habe etc., ich weiß es in dem Sinne nicht, dass ich sagen könnte, wie ich vorgegangen sei, um von dort zur Zahl 1147 zu kommen. 132 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
Die Diskursivität des Verhaltens ist qua Bewegung in den Sachen selbst in dem angezeigten Sinne intuitiv verfasst: Es ist ein Intuieren dessen, dass sich diese Sache so gestaltet. Wir versuchen jetzt, diese Diskursivität am Denken eigens aufzeigen. Zum denkenden Verhalten zum Jeweiligen gehört das Festhalten dessen, dass es sich so gestaltet. In gewissem Sinne sind Gedanken durchaus nicht wie Blitze, die aufzucken und spurlos vorbeigehen, sondern das Denken hält fest, was sich je so gestaltet. Erinnernd auf etwas zurückzukommen, ist als Verhalten zu einem Behaltenen nur möglich aufgrund dieses primären Festhaltens. Insofern das Denken ein Festhalten des Gedachten ist, gestaltet sich das Gedachte nicht nur je so, sondern verhält es sich mit ihm auch je so. Und dies nicht deshalb, weil es als ein – in Analogie zu den stofflichen Gebilden konzipiertes – feinstoffliches (ideales) Gebilde irgendwo aufbewahrt würde, um von dort abrufbar zu sein, sondern insofern, als das Verhalten bei ihm verhält, bei ihm bleibt. Wir verhalten durch die Zeit hindurch bei den Sachen, indem wir zurückkommen auf ihr mehrdeutiges So, d. h. indem wir die Sache neu und neu artikulieren, indem wir, wieder und wieder zu ihr zurückkehrend und bei ihr verhaltend, sie neu und neu zu Wort kommen lassen. Erinnern ist also kein Abrufen eines auratischen Bestehenden, sondern ein Zurückkommen auf die erinnerte Sache. Erinnerung ist die Treue zur Sache, das Nicht-Übergehen des Vergangenen als vergangen, sondern im Gegenteil das Verhalten bei ihm, das sich vollzieht als neu-und-neues Zurückkommen auf es. Das Festhalten des Denkens spricht sich aus in einem detemporierten: ›es verhält sich so mit …‹ Sache des Denkens im emphatischen Sinne sind die überzeitlichen konzeptuellen Verhältnisse: Sofern wir im emphatischen Sinne des Wortes denken, denken wir – um Evans’ Beispiel noch einmal aufzugreifen – nicht, dass John oder Harry gestern glücklich war oder heute glücklich ist oder morgen glücklich sein wird, dass es sich also so verhielt, verhält oder verhalten wird. Dass John glücklich ist, lässt sich niemals in einem detemporierten ›es verhält sich so, dass John glücklich ist.‹ festhalten. Es verhält sich jetzt so, dass John glücklich ist, sobald er es nicht mehr ist, wird gelten (wahr sein), dass es sich so verhielt, dass John glücklich ist, bevor er glücklich war, galt: ›es wird sich so verhalten, dass John glücklich ist.‹ Nur rein konzeptuelle Verhältnisse lassen sich dergestalt detemporiert festhalten. Solch ein Verhältnis ist berührt in der Frage: Wie ist es, glücklich zu sein?, von der wir unmittelbar ahnen, sobald wir sie stellen, dass sie uns vor eine unabschließbare 133 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
artikulative Aufgabe stellt, oder auch in der Aussage: ›Glücklichsein ist ein Bewusstseinszustand.‹ Jeder merkt, dass wir mit diesen zwei Aussagen auf die zwei ontologischen Grundmöglichkeiten von phänomenaler und quantitativer Sprache hinweisen: Ontologie ist Denken im emphatischen Sinne. Denken in diesem Sinn heißt nicht: artikulieren, was gestern geschah, was jetzt geschieht oder was morgen geschehen wird; im emphatischen Sinne denkend artikuliere ich nicht etwas, das sich zu einem Zeitpunkt irgendwo zutrug, zuträgt oder zutragen wird. Das Denken im emphatischen Sinne bewegt sich losgelöst von der Bindung an solche bestandsmäßig konstatierbare Einzelnheit: »Und so verhält es sich in der Philosophie überhaupt: Das Einzelne erweist sich immer wieder als unwichtig […] (Wittgenstein 2001, 36).« Dergestalt ist das Denken nicht bloße Repräsentation des Einzelnen, wie in Evans Beispiel, kein bloßes Wiedergeben dessen, dass John oder Harry glücklich ist, sondern reines Konzipieren. Solch rein konzeptuelles Verhalten, Denken im emphatischen Sinne, ist Bedingung der Möglichkeit von so etwas wie Ontologie überhaupt: Konzipiert, d. h. in Worten, ist das Einzelne sowohl als modelliert wie auch als phänomenal getreu artikuliert. Modellieren des Einzelnen bedeutet: Es – seine Phänomenalität revidierend – ontologisch zu entwerfen als Partikulare, z. B. als Person, der zu einem Zeitpunkt verschiedene mentale Zustände zukommen; die Abfolge mentaler oder realer Zustände ist das im Rahmen der Quantität ad extremum zugespitzte Ereignis, das die Abfolge der Zustände ausmacht. Von solchen Zuständen zu tx kann es, folgt man etwa Carnap, prinzipiell vollständige Beschreibungen geben. Hier geht es nicht darum, im Problem der Kohärenz dieser deskriptiven Vollständigkeitsthese Position zu beziehen. Vielmehr geht es um die Bedingungen, unter denen dieses Problem überhaupt formuliert werden kann: Eine vollständige Beschreibung kann nur eine sein, die die endliche Allklasse des Seienden in seinem jeweiligen Zustand abbildet durch eine endliche Menge an Sätzen, die in ihrer Gesamtheit jede intrinsische und relationale Eigenschaft jedes Bestandsstücks aussagen. Solche Zustände korrelieren immer bestimmten Zeitpunkten, sind immer Zustände zu tx. Die Ereignisreihe ist dann die Reihe der auf ihre Idealität hin zugespitzten Ereignisse, der Zustandsumschläge. So ergibt sich eine determinierte Abfolge von Weltzuständen. Unterlässt man die Zuspitzung der Ereignisse und konzipiert sie als Realia, sekundäre Bestandsstücke, dann herrscht der Kausalnexus, nach dem jedes Er134 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
eignis einerseits verursacht von … andererseits selbst Ursache eines anderen ist. Eine phänomenale Ontologie fordert dagegen den Nachvollzug der Phänomenalität in Konzepten, d. h. das artikulierende Sehenlassen der Phänomenalität selbst. Die Begrifflichkeit einer phänomenalen Ontologie bindet sich selbst an die Phänomenalität zurück, indem sie sich unter das Diktat der Treue zu ihr stellt. Sie fordert von sich selbst, dem Phänomenalen im Konzipieren die Treue zu halten. Sie operiert dabei rein konzeptuell, d. h. sie bewegt sich in den Verhältnissen des Allgemeinen. Ich spreche ontologisch nur von mir, insofern ich als Situierter zu beschreiben bin. Diese Beschreibung ist allgemein, insofern sie für alle gilt, die das phänomenologische Wir ausmachen. Wenn anders wir sagen können, dass wir denken, während wir faktisch Ontologie ›treiben‹, müssen wir auch sagen, dass wir ›denken‹ dabei in einem emphatischen Sinne gebrauchen, den Heidegger am Anfang des Vortrags Was heißt Denken? ausstellt, wenn es dort heißt: »Die Philosophen sind ›die‹ Denker, so heißen sie, weil das Denken sich eigentlich in der Philosophie abspielt (4).« Dieses Denken erst ist die pure, von der Bindung an das Einzelne losgelöste »Bewegung in Begriffen«, als die Hegel das Denken einmal beschreibt (1951, 159). Eine Ontologie der Phänomenalität versteht sich dabei als konzeptueller Nachvollzug der Phänomenalität und hat daher auch den Anspruch der eigenen Nachvollziehbarkeit: Ihr ist es darum zu tun, die Phänomenalität in einer Weise nachzuvollziehen, die sie selbst für andere nachvollziehbar macht. Die Diskursivität des Denkens beruht darauf, dass es festhält und behält, was sich in ihm gestaltet. Es behält das Behaltene als das, mit dem es sich je so verhält. Deshalb gehört die Schriftlichkeit so eng zum Denken, deshalb vollzieht sich der philosophische Diskurs im Medium der Schrift: Das schriftliche Dokumentieren ist ein Festhalten, das sein Festgehaltenes auf Papier oder sonst ein Speichermedium bannt. Es gibt ihm beobachtbare Gestalt: in der Materialität der Schriftzeichen auf dem Papier oder der irgendwo abgelegten, gespeicherten Daten. Die Finger, die sich über die Tastatur bewegen, die Hand, die den Stift führt, transponieren die Worte ›in Echtzeit‹, d. h. synchron in die Gestalt der Schriftzeichen auf dem Bildschirm oder dem Papier. Während ich hier sitze und schreibe, sind mein Schreiben und mein Denken eins: Schreiben ist ein sich in die Materialität bannendes Denken. Die fertige Niederschrift, die Tatsache, dass die in der 135 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
Tradition gedachten Gedanken uns schriftlich überkommen sind, verdeckt dann häufig den phänomenalen Charakter der Schrift: Schreiben ist Denken, dessen Worte in die Bewegungen der den Stift führenden, die Tastatur bedienenden Hand auf das Papier, den Bildschirm fließen. Das diskursive Denken ist eine festhaltende Bewegtheit durch die jeweilige Sache: Es verhält sich so mit … und darauf aufbauend denke ich die Sache weiter. Dergestalt entwickelt das Denken seine Sachen. Wird das detemporierte ›es verhält sich so‹ schriftlich festgehalten – ›niedergelegt‹, wie die Sprache sehr ausdruckstark sagt – und dann, und eventuell sogar noch nach langer Zeit, rezipiert, so kann sich der Anschein aufdrängen, es handele sich bei der festgehaltenen Einsicht um ein Philosophem, ein Teil dessen, was uns als Bestand der philosophischen Tradition überkommen ist. Aber ›Einsicht‹ ist ein Verbalsubstantiv und bezeichnet das Geschehen, dass dasjenige, worin je Einsicht gewonnen wird, sich so gestaltet und dass dieses Sich-Gestalten artikulierend festgehalten wird. Eine überkommene philosophische Einsicht ist für uns nur eine solche im Nachvollzug ihrer: nur indem wir selbst Einsicht nehmen in die je artikulierte Sache, indem wir sie im Nachvollzug ihrer zu Worten kommen lassen. Gedanken entstehen aus Gedanken: Das Denken zeugt das Denken; es entlässt seinen eigenen Fortgang aus sich selbst. 85 Es ist – um es mit einem Ausdruck der Systemtheorie zu sagen – ›operational geschlossen‹. Das bedeutet nicht, es sei schlechthin abgeschlossen gegen anderes. Es ist im Gegenteil sogar wesenhaft offen für anderes und alles findet sich in ihm reflektiert. Es bedeutet, dass die Bewegung der diskursiven Entwicklung und Entfaltung des Denkens keines von außen hinzutretenden Momentes bedarf, das diese Entwicklung anstößt. Die ›Inspiration‹ des Denkens durch äußere Anlässe (Newton und die Legende vom Apfelfall) ist kein solcher Anstoß, sondern geschieht so, dass das Denken sich in seiner Eigenbewegung des Eindrucks bemächtigt. Und der Unterschied zwischen einem seminalen Gedanken, der ein Werk oder eine Theorie in nuce enthält (dass sich ein solcher Gedanke jemals ausmachen lasse, einmal zu»ψυχῆς εστι λόγος ἑαυτὸν αὔξων.« (Heraklit, Frg. 115) – und indem die Worte sich selbst unausgesetzt vermehren, vergrößern sie die Sachen, werden die Sachen in ihnen reicher und intrikater. Im Sich-Vermehren der Worte tut sich die Abgründigkeit der Sachen auf: Je weiter das Denken die Sache ausschreitet, desto weiter ihre Grenzen (Diels 1912, 100).
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Medialität
gestanden), und den folgenden Gedanken, die ihn ausfalten und entwickeln, ist nicht, dass ich in ersterem Falle passiv empfange, was mir inspirativ eingegeben wird, während ich in letzterem aktiv die Konsequenzen und Implikationen des einmal Eingehauchten und damit in meinen Besitz Übergegangenen ausarbeite. Wohl bauen die weiteren Gedanken auf dem zukunftsträchtigen ersten auf und gibt dieser jenen die Richtung vor – aber dieser innere Zusammenhang des Denkens ist allein noch kein hinreichender Beleg dafür, dass sich ein aktives Eingreifen des Denkenden in sein Denken vollzieht: Actio ist nur das, dem die passio eines anderen korrespondiert. Spreche ich von mir selbst als aktiver Initiator meines Denkens, dann konzipiere ich die Diastase zwischen mir (qua Verhalten) und mir (qua Sich-Verhaltendem) nach dem Muster der Differenz zwischen mir und dir oder ihm etc. Zwischen mir und meinem Denken besteht nicht die Differenz zweier numerisch Einzelner, sondern im Denken erfahre ich meine Abständigkeit von mir selbst darin, dass die Gedanken ex nihilo in mich einfallen. Der Gedanke, der nicht den Anfang eines Gedankengangs ausmacht, sondern zu denen gehört, die jenen ausbilden, fällt nicht weniger ein, ist nicht weniger empfangener als jener – das Denken sucht und findet selbst seine Wege. Und jeder Gedanke auf diesem Weg ist dabei Einfall ex nihilo – auch der Gedanke, der aus anderen folgt, stellt sich dergestalt ein, zusammen mit der Erkenntnis, dass er aus ihnen folgt: Das Heureka (nicht zufällig ein Perfekt) gehört zu jedem Gedanken; nur, dass wir an dieses Kommen ex nihilo so gewöhnt sind, dass es uns nur noch auffällt, wenn uns ein außergewöhnlicher Gedanke kommt, einer, der etwa die vermeintliche Lösung eines lange bearbeiteten Problems darstellt. Die Gedanken kommen als Worte über eine Sache, insofern wir bei dieser Sache verhalten. So erst erfahren wir sie wirklich. Erfahren wäre kein Gewinnen von Vertrautheit, wenn wir nicht bei dem Erfahrenen verhalten würden, nicht auf es zurückkämen, sondern je nur für das nächste Andrängende offen wären. Gerade das denkende Verhalten bei der Sache, er-fährt 86 sie sich, gewinnt die Vertrautheit mit Das ›er-‹ in ›erfahren‹ müssen wir lesen wie z. B. in ›erspielen‹ (Die Mannschaft spielte um den Pokal – die Mannschaft erspielte sich den Pokal): Es macht ein Erfolgswort aus den Verben, mit denen es Komposita bildet. Vgl. dazu Heidegger: »Erfahren heißt nach dem genauen Sinn des Wortes: eundo assequi: Im Gehen, unterwegs etwas erlangen, es durch den Gang auf einem Weg erreichen (1959, 169 f.).« Durch die Bewegung in ihr gewinnt das Erfahren die nähere Vertrautheit der Sache.
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Die Situation als Verhältnis
ihr, indem es sich in den Verflechtungen und Verästelungen ihrer Binnenbezüge bewegt. Das Denken fährt in die Sache und erschließt sie so – das eben ist Erfahren, das im Denken eine seiner hohen Ausbildungen erhält. Wie phänomenal alles Verhalten vollzieht sich diese diskursive Bewegtheit medial; weder als actio nach als passio, d. h. ohne dass hinsichtlich ihrer ein agens oder patiens, eine Verursachung oder das Erleiden einer Wirkung ausgemacht werden könnte: Das Verhalten ist phänomenal kein Einwirken auf die Sachen; umgekehrt erleidet es nicht deren Wirkung. Weil ich denke, gestalten sich mir die Sachen des Denkens, verhält es sich mit ihnen so. Weil die Sachen sich artikuliert gestalten, denke ich. Wir müssen diese Prozessualität in beiden ihrer Momente als unbewirkt hinnehmen – wie wir auch das Denken als unbewirkt durch den Denkenden hinnehmen müssen: Die Beziehung zwischen cogitator und cogitare, zwischen Sich-Verhaltendem und seinem Verhalten, ist nicht die eines agens zu seiner actio, eines Tätigen zu seiner Tätigkeit. Ich kann den Verhaltenden nicht trennen von seinem Verhalten, ihn nicht vor und unabhängig von seinem Verhalten denken: Ich kann tätig sein oder nicht; ich kann mich nicht nicht zur Welt verhalten. Verhalten muss beschrieben werden als etwas, das nicht ich vollziehe, sondern das sich vollzieht und das dabei trotzdem nicht schlechthin unpersönlich ist wie ein Naturereignis. Medialität bedeutet demnach auch Unbestimmtheit: Medial ist das, was weder Aktivität noch Passivität ist, was zwischen diese Extreme fällt. Wir müssen diese Unbestimmtheit positiv annehmen, sie würdigen als Charakteristikum der Phänomenalität, anstatt sie dem Satz vom Grunde zu unterwerfen, der nur im Rahmen einer Bestandsontologie den Rang eines Prinzips beanspruchen kann. Phänomenal gibt es grundloses, unbewirktes Geschehen: Die unausgesetzte Genesis und Regenesis des So, entfaltet in die zwei synchronen Momente von Verhalten und Sich-so-Gestalten. Die diskursive Bewegung des Denkens fügt sich nicht dem Schema der Kausalität. Gedanken folgen einander nicht kausal, sondern z. B. inferenziell: Es verhält sich so mit …, also auch so. Das Schließen geschieht im Rückgriff auf das Gedachte, in dessen Entfaltung und Fortentwicklung. Das Denken artikuliert, hält fest, schreibt auf, was je seine Sache ist: Das Denken geht in Worten fort. Jeder Gedanke, der eine Sache betrifft, ist eine Konzeption dieser Sache und korrigiert, modifiziert, erweitert voraufgehende Konzeptionen. Das Denken baut auf sich selbst auf: So baut es an seinen Konzeptio138 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
nen. Jede Konzeption einer Sache entwickelt die Implikationen voraufgehender Konzeptionen; es macht diese Implikationen explizit. Dergestalt entwickelt es die Sache selbst. So vollzieht sich der Fortschritt, der Progress des Denkens: nicht kausal, sondern rekursiv, d. h. die Implikationen des schon Gedachten im Zurückkommen auf es entwickelnd, ausarbeitend, auseinanderlegend. Das ist Konzipieren. In diesem Sinne sagt Gadamer: Plato hat das Wesen des Denkens völlig richtig erkannt, wenn er es den inneren Dialog der Seele mit sich selber nennt, einen Dialog, der ein beständiges Sich-Überholen, auf sich selbst und auf seine eigenen Meinungen und Ansichten zweifelnd und einwendend Zurückkommen ist. Und wenn etwas unser menschliches Denken kennzeichnet, dann ist es eben dieser unendliche und nie endgültig zu führende Dialog mit uns selber (1986a, 200).
Jeder Gedanke, der eine bestimmte Sache betrifft, ist eine Konzeption dieser Sache und affirmiert oder negiert, modifiziert oder korrigiert voraufgegangene Konzeptionen ihrer. Jede Konzeption einer Sache entwickelt (entbreitet, entfaltet: expliziert) die Implikationen ihrer Vorgänger. Das Denken schreitet fort, indem es auf sich selbst zurückkommt. Dabei ist der Schluss nur ein Modus dieser Rekursion unter anderen. Das Denken, das sich zu einer phänomenalen Ontologie konkretisiert, schließt nicht in diesem Sinne, sondern treibt die Deskription der Phänomene zu immer weiter gehender Explikation, ohne dabei ein Stadium der vollkommenen Expliziertheit vor Augen zu haben oder die Hoffnung hegen zu können, in ein solches zu gelangen.
Vor- und Nichtsprachlichkeit Heidegger hat in sein Handexemplar von Sein und Zeit folgende Marginalie eingefügt: »Unwahr. Sprache ist nicht aufgestockt, sondern ist das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da (442).« Lesen wir, um diese Anmerkung zu verstehen, den Passus, auf den sie sich bezieht: Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie ›Bedeutungen‹ erschließen kann, die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren (87).
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Einer der Hauptzüge des Denkens, in das die Kehre Heidegger geführt hat, findet sich in dieser Selbstverbesserung vorweggenommen: Die Sprache tritt im Spätwerk auf als das Geschehen des Lichtens bzw. als prozessualer Aspekt der als Unverborgenheit gedeuteten Wahrheit, d. h. als das Geschehen der Entbergung, in dem das Seiende dem Menschen erscheint oder vorgelegt wird, so dass es vorliegen, für ihn da sein kann: in der Parmenides-Auslegung – wie gesehen – als φάσις, mit Heraklit als λόγος: »Wir müssen lernen, das Wesen der Sprache aus dem Sagen her zu denken und dieses als vorliegenLassen (λόγος) und als zum-Vorschein-Bringen (φάσις) (2000, 250).« Dergestalt kommt die Sprache nicht mehr – wie die von Heidegger selbst revidierte Passage aus Sein und Zeit es noch nahelegt – an irgendeinem Punkt zum prinzipiell nichtsprachlichen Erfahren hinzu, als würde das selbst nicht intrinsisch sprachliche Erfahren in sprachliche Gestalt überführt werden, sondern dann gewährt erst die Sprache das Erfahren überhaupt. Alles, sofern es überhaupt da (anwesend) ist, ist dann πεφατισμένον bzw. λεγόμενον. »Die Sprache spricht« kann es dann nur noch heißen, da unter diesen Bedingungen von der Sprache selbst nicht mehr gesagt werden kann, sie sei, da man sie damit einem Seienden angliche (1959, 12). Die Sprache steigt im Spätwerk in den Rang einer Chiffre des Seins auf, sie wird nicht nur gleichrangig mit Begriffen wie ›Wahrheit‹, sondern es wird die Wahrheit (als Unverborgenheit des Zum-Vorschein-Kommenden) in ihrem prozessualen Aspekt – ihrem verbal verstandenen ›Wesen‹ (›Walten‹) nach – selbst ›Sprache‹ genannt: Nur im Geschehen der Sprache kann Seiendes überhaupt sein, kann das je Anwesende anwesen: ›Sprache‹ fungiert dann als Titel für das Anwesen selbst, als Erscheinen des je Erscheinenden (es wird ersichtlich, dass die hier vorgetragene verbale Auffassung der Sprache im heideggerschen Sprachdenken gründet). Ist aber die Frage nach Sprachlichkeit und Nicht-Sprachlichkeit, nach der Möglichkeit nicht sprachlicher Erfahrung überhaupt so zu entscheiden, dass wir dabei entweder dem frühen oder dem späten Heidegger in ihr Recht geben können? Ich stehe im Wald vor einem Baum: Dieser gestaltet sich mir derweil, ich sehe die Rissigkeit der Rinde, ihre mir unzähligen Furchen und Kerben, die ich beschreibend nicht adäquat gegeneinander abzuheben vermöchte und die doch alle unterschiedlich, Einzelnes inmitten der unendlichen (un-zähligen) Mannigfaltigkeit sind. Ich sehe die schon kahlen unteren Äste, die ich mit den Augen in ihre dünnsten Verzweigungen verfolgen kann, 140 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
wobei ich nicht mehr sicher sehe, ob sie noch seine sind oder die des Baumes neben ihm, die in ihn überhängen (die Sachen fließen ineinander); ich sehe die Krone, an der noch dünn das bunte Herbstlaub hängt, ich sehe, wie der Wind in sie fährt, höre sie rauschen, aber eigentlich nicht sie, sondern alle Bäume zusammen etc. pp.: All das kann ich doch sehen und hören – ohne, dass ich es zu denken oder gar vor mich hin zu sagen bräuchte. Andererseits ist es doch jederzeit möglich, dass ich dazu komme, das Gesehene und Gehörte zu artikulieren: Alles ›bloß Sinnfällige‹ ist zumindest potentiell artikuliert. Aber wie verhalten sich artikulierter und nicht artikulierter Baum zueinander? Und wie soll ich ihr Verhältnis beschreiben, wenn nicht artikulierend, d. h. wenn nicht durch ein Beispiel wie das eben gegebene? Ich erzähle, hieß es oben, durch ein Beispiel nicht von dieser Situation, sondern spiele die Situation überhaupt herbei. Ich habe also ein Beispiel gemacht: einen sinnfälligen Baum herbeigespielt. Der Baum, von dem ich spreche, ist (zugegeben) das reine Konzept eines Baumes. In der Wortsprache (d. h. der Wortesprache, nicht der Wörtersprache) gestaltet sich Seiendes rein konzeptuell. Losgelöst von jeglicher Bindung an ein zum Bestand gehöriges Vorbild, das sprachlich abgebildet würde, erfahren wir es in den Worten als Konzept. Die Wortesprache ist damit ebenso Bedingung der Möglichkeit einer phänomenalen Ontologie wie ihres ontologischen Widerparts. Die Sprachauffassung des frühen und späten Heideggers unterscheiden sich also insofern, als jene ›Sprache‹ in einem engeren Sinne als Wortesprache deutet, in der sich Konzeption, Begriffs-Bildung vollzieht, während diese die Sprache im weiteren Sinne als das versteht, was das Sich-Gestalten des Jeweiligen (das Anwesen des Anwesenden) gewährt. Ob dies tatsächlich schon Sprache heißen kann, oder ob erst die Wortesprache diesen Titel verdient, ist in den Grenzen der Heidegger-Exegese ein Streit darum, welchem Begriff von Sprache man sich anschließt – was ist nun aber darüber hinaus phänomenal über Sprachlichkeit und Nichtsprachlichkeit zu sagen? Nun, sobald ich die nicht sprachliche Erfahrung, das bloße Sehen oder Hören explizit zu fassen versuche, kann ich nicht anders, als zu artikulieren. Sofern ich denke: ›jetzt sehe, jetzt höre ich dies‹, artikuliere ich schon. Ich kann artikulierend also nur nach einem Vorher des Artikulierens fragen. Vorsprachlichkeit ist phänomenal nur negativ als das, was schon in Sprachlichkeit umgeschlagen ist, sobald ich es thematisiere. Es gibt die wortlose Versunkenheit in ein Schauen (allerdings auch, siehe den platonischen Sokrates, die Worte machende 141 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situation als Verhältnis
Versunkenheit ins Denken) – aber sobald ich die Wortlosigkeit explizit fassen will, sobald ich sage oder denke: ›ich sehe …‹ ist sie schon den Worten gewichen: […] wie wir im realen Schreiten den Fuß […] jeweils kurz vom Boden heben, um sogleich wieder zum Boden zurückzukehren, so können wir uns auch vom Inhalt einer Anschauung jeweils in Gedanken ein wenig entfernen – indem wir einen seiner Aspekte zum Thema eines Wahrnehmungsurteils machen – und sogleich wieder aus dem Diskurs ins Anschauen zurückkehren. Wir lösen uns etwa aus gedankenverlorenem Anschauen, indem wir urteilen: »Die Abendglocken läuten« oder: »Es fängt an zu regnen.« Aber durch diese Wahrnehmungsurteile kommen wir eben auch wieder auf das zurück, was sich uns sinnlich präsentiert, kaum daß wir einen einzelnen Zug aus seiner unendlichen Mannigfaltigkeit hervorgehoben und eigens sehen gelassen haben. (Koch 2006, 70).
Unendlich (nicht bezifferbar) ist die Mannigfaltigkeit dessen, was ich in je-dieser Situation am Sich-so-Gestaltenden artikulierend abheben kann; und sobald ich dies da ausdrücklich (›eigens‹) so sehe, sobald also diese Mannigfaltigkeit in dieser Hinsicht explizit thematisch wird, vollzieht sich schon die Sprache als Artikulation des Jeweiligen: ohne Sprache keine Vertrautheit mit dem Seienden und seinem Sein. Die reflexive Rückwendung auf das eigene Verhalten ist prinzipiell immer möglich: Immer kann mein Verhalten die Richtung nehmen, mein eigenes Verhalten zu seiner Sache zu machen. Und sobald dies geschieht, geschieht es nicht anders denn artikulierend. Das Präreflexive ist in der Reflexion auf es nur das Negative, das, was schon nicht mehr ist, sobald Reflexion geschieht. Es hat immer schon umgeschlagen von Sprachlosigkeit zur Sprachlichkeit: Ich finde mich dann jäh in der neuen Situation, dass ich mich und mein Verhalten in der Situation, in der ich eben noch engagiert war, selbst thematisiere. Phänomenal müssen wir also auf die endgültige Klärung der Frage verzichten, ob Sprachlichkeit oder Vorsprachlichkeit, Wort oder Wortlosigkeit, einen ontologischen Primat vor dem anderen innehaben. Ich artikuliere nicht immer: aber wie bekomme ich dieses Nicht-Artikulieren reflexiv in den Blick? Nur artikulierend. Wortlosigkeit und Wortemachen sind zwei gleichrangige Verhaltensmodi. Artikulierendes und nicht artikulierendes Verhalten sind gleichursprünglich: Das Artikulieren verstummt bisweilen in mir; es gehört phänomenal ursprünglich zu unserem Artikulieren, dass es auch stumm bleiben kann. Ich kann eine Straße entlanggehen und dabei weder in Gedanken verloren sein noch die Umgebung ausdrücklich 142 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Medialität
wahrnehmen, so dass ich später gar nicht sagen könnte, wie eigentlich die Umgebung aussah, durch die ich gegangen bin oder an was ich dachte, als ich so ging. Ich merke jäh, dass ich schon eine Weile die Straße hinabgehe (that I have been walking down …) und so hat schon wieder die Stummheit umgeschlagen in die Artikuliertheit der Worte: In jede stumme Phase hinein hebt wieder und wieder das Artikulieren an und wieder und wieder läuft es aus in Stummheit.
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Existenz und Prozessualität: Zeit
Existenz Wenn hier bisher von ›Existenz‹ die Rede war, stützte sich dies – wir sagten es bereits – auf Heideggers Umprägung des überkommenen Existenzbegriffs: [E]xistentia besagt nach der Überlieferung ontologisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart, die dem Seienden vom Charakter des Daseins wesensmäßig nicht zukommt. Eine Verwirrung wird dadurch vermieden, daß wir für den Titel existentia immer den interpretierenden Ausdruck Vorhandenheit gebrauchen und Existenz als Seinsbestimmung allein dem Dasein zuweisen (1979, 42).
›Nur das Dasein existiert‹ heißt: Nur dasjenige Seiende, ›das wir je selbst sind‹, existiert. Ich existiere, du existierst, ein Tisch oder ein Stuhl sind nur vor- bzw. zuhanden; ›Existenz‹ ist ein Gegenbegriff zu ›Vorhandenheit‹ und ›Zuhandenheit‹ zumal. Auch was ›nur lebt‹, wie Heidegger sich ausdrückt, das Tier oder auch die Pflanze, wird aus dem, was existiert, ausgeschlossen (vgl. oben, Anm. 58). Wir schließen daran an, indem wir sagen: Nur dasjenige Seiende existiert, das sagen kann: ›ich bin‹ und das folglich artikulieren kann, wie es ist, es selbst zu sein. ›Dasein‹ ist jeweils ein ›Ich bin da‹. Die Allgemeinheit von ›Dasein‹ ist damit keine generische, denn ›ich‹ ist keine Kategorie, die uns alle zusammenfasste. Ich bin kein Fall von ›ich‹ : Ich bin niemals das Ich, wir niemals die Ich, weil ich von mir nicht so spreche, wie von allem anderen, von dem ich sage: ›… ist …‹ : Ich ist nicht, ich bin – ›das Ich‹, ›das Selbst‹ sind aus philosophischer Not geborene Redeweisen, die aber doch durch diese Not noch lange nicht gerechtfertigt sind. 87 Dagegen möchte man einwenden, ob wir uns hier zu Vgl. etwa Husserl: »Die These und Synthese wird, indem das reine Ich den Schritt und jeden neuen Schritt aktuell tut; es selbst lebt in dem Schritte und ›tritt‹ mit ihm ›auf‹. Das Setzen, Daraufhinsetzen, Voraus- und Nachsetzen usw. ist seine freie Spon-
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Existenz
sehr an den bloßen Wortlaut, die bloße Nominalisierung klammern, die doch solange nicht viziös sein muss, wie man dies nicht cartesisch zu einer ontologischen Reifizierung des Ich zur res cogitans überspitze. Auch Heidegger gebraucht in Sein und Zeit den Ausdruck des ›eigentlichen Selbst‹ im Unterschied vom ›Man-selbst‹ und es findet sich dort auch die Rede davon, das eigene Selbst »in sich handeln« zu lassen (288; Sperrungen entfernt – JB). Und Heidegger werden wir weder als Cartesianer noch etwa als einen Bündeltheoretiker des Selbst à la Hume ansetzen dürfen. Nur: Es muss in der schieren Redeweise, der bloßen – ontologisch vermeintlich noch unbelasteten – Nominalisierung des Personalpronomens der ersten Person bzw. des Demonstrativums ›selbst‹ schon liegen, was die überspitzende Ausdrucksweise dann überspitzt. Gerade für Heidegger und gerade bei Heideggers Sensibilität für die ontologischen Voraussetzungen unserer Ausdrucks- und Redeweisen stellt die Rede von dem Selbst eine Kompromissbildung dar. Erzwungen wird dieser Kompromiss – so ließe sich vermuten – durch die Anforderungen der Eigentlichkeitslehre: Heidegger braucht den Begriff des Selbst, um die Unterscheidung von (uneigentlichem) Man-selbst und eigentlichem Selbst zu machen; darum gebraucht er ihn. Vielleicht hätte er ihn ontologisch nicht gebrauchen mögen, wenn sein Begriff von Ontologie nicht derart weit gewesen wäre, dass diese auch individualethische Erörterungen über den Unterschied von eigentlichem und uneigentlichem Existieren in sich aufnehmen konnte (so wie auch die Wahrheitsproblematik in Sein und Zeit als ontologische Problematik aufgefasst ist). 88 Denn selbst, wenn man keine viziöse Überspitzung einer nicht
taneität und Aktivität; es lebt in den Thesen nicht als passives Darinnensein, sondern als Ausstrahlungen aus ihm als einer Urquelle von Erzeugungen (1976, 281).« Hier wird Husserl seiner eigenen methodischen Forderung nach dem Abstehen von phänomenal unausweisbaren Thesen untreu, denn phänomenal ist niemals das Ich, sei es ein reines oder unreines. 88 Die Rede von ›Individualethik‹ in Zusammenhang mit der Eigentlichkeitslehre in Sein und Zeit muss damit leben, dass immer gesagt werden kann, sie habe Heideggers eigene Beteuerungen, nichts als ›Fundamentalontologie‹ im Sinne zu haben, gegen sich. Stützen kann sie sich auf Passagen wie diese am Ende des § 53, wo es heißt, dass das Dasein »Zeugnis gibt von einer möglichen Eigentlichkeit seiner Existenz, so zwar, daß es diese nicht nur als existenziell möglich bekundet, sondern von ihm selbst fordert (267).« Wo von einer an sich selbst ergehenden Forderung nach eigentlicher Existenz die Rede ist, da kann die Rede von Individualethik zumindest nicht ganz abwegig sein.
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sachgerechten Redeweise unterstellen darf, bleibt das Bedenken hinsichtlich ihrer valide: Wie könnten wir auch die in § 55 erhobene Kritik Heideggers an solch einer Redeweise der Tradition (der von den drei Seelenvermögen) affirmieren, wenn wir drei Paragraphen weiter nicht bereit sind, den nämlichen Einwand geltend zu machen (vgl. 271 f.)? Das läuft darauf hinaus, zu sagen: Dass das Bedenken gegen die Nominalisierung von ›ich‹ als Spitzfindigkeit oder bloßer Streit um Worte abgetan werden kann, benimmt dem Bemühen um eine ontologische konsequente Unterscheidung von ›ich bin‹ und ›… ist‹ nicht seine Berechtigung. Ebenso wie das Indefinitpronomen ›man‹ die konzeptuelle Möglichkeit einer Einreihung meiner selbst unter das, von dem ich sage ›ist‹, anzeigt, so indiziert die Nominalisierung der Pronomina die ontologische Möglichkeit einer Maskierung der oder des Situierten, der oder die ich jeweils selbst bin, als die Person …, die wie alles andere ist, d. h. besteht. Gesetzt, dass wir den Anspruch haben, unsere Sprache möge den Phänomenen die Treue halten, kann es so etwas wie einen bloßen Streit über Worte oder Laxheit in den Worten und Strenge in den Sachen gar nicht geben, da jeder Streit über die Worte, in der sich die Phänomene gestalten, eo ipso ein Streit um die Phänomene (die Sachen) selbst ist. Von ›Dasein‹ lässt sich kein Plural bilden: Der Ausdruck identifiziert keine durch bestimmte Kriterien definierte Kategorie von Seiendem; ein Dasein ist kein Individuum, das eine Kategorie exemplifiziert. Dasein ist immer dieser jenige, als der ich je selbst da bin (existiere) und der beschreiben kann, wie es ist, da zu sein: Da ich mich in meinem ›ich bin da‹ explizit fasse, ist es immer schon so, jetzt hier zu sein. Das So ist der Binnenaspekt des Daseins: ›Ich bin da‹ bedeutet immer auch: Es ist so, jetzt hier zu sein. Es ist dagegen nicht so, dieser Tisch oder jener Stuhl zu sein; es mag zwar so sein, dieser Hund oder jene Katze zu sein, aber dieses So kommt nicht zu Worten, bleibt unartikuliert. Die existenziale Wendung der Phänomenologie entspringt keiner Laune; sie ist vielmehr eine Konsequenz des phänomenologischen Ansatzes selbst. Das sich je so gestaltende Jeweilige gestaltet sich während und nur während der Existenz; weil ich existiere, gibt es die Phänomene und weil es die Phänomene gibt, existiere ich. (Diese Aussage muss jeder von uns – jeder, der sagt: ›ich bin‹ – je selbst vollziehen. Denn ›der bzw. die Situierte‹ bin ja je ich selbst, allgemein gefasst). Die Existenz ist der Bereich der Phänomenalität. Über das Vorher der Geburt und das Nachher des Todes können wir phänome146 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz
nal nichts sagen: Wir sind mit uns selbst nur vertraut als zwischen Geburt und Tod bewegt. Deshalb lässt sich im Rahmen einer phänomenalen Ontologie von einem vor- oder nachexistenziellen Stadium nicht sprechen. Nur solange ich existiere, währt mir Jeweiliges entgegen und kommt durch mich zu Worten. Sofern aber wir ko-existieren, d. h. sofern durch dich ebenso die Phänomenalität zu Worten kommt wie durch mich, bilden wir das phänomenologische Wir, innerhalb dessen es einen Diskurs über die Phänomene und auf ontologischem Niveau einen Diskurs über die Phänomenalität als solche geben kann. Die Frage: ›wie ist es zu … ?‹ ist der genuine fragende Ansatz der phänomenalen Ontologie. Wie es ist zu …, liegt außerhalb des Kompetenzbereichs der Bestandsontologie, denn es ist die Frage nach dem Binnenaspekt dessen, was sich vom absoluten Außerhalb des Nirgendwo aus nur in seinem Bestehen und seiner Beschaffenheit konstatieren lässt: Dergestalt lässt sich von Nirgendwo etwa konstatieren, dass JB sich zu tx in dieser oder jener Lage befindet, in diese oder jene Umstände geraten ist. Der Binnenaspekt dagegen ist nur aus der Perspektive dessen auszusagen, der sich im reflexiven Zurückkommen auf sich selbst immer jetzt hier und mit dieser Sache konfrontiert findet und der sich selbst nicht als Person JB anspricht, sondern der ›ich‹ sagt, indem er beschreibt, wie es ist zu … Es ist unausgesetzt so, jetzt hier zu sein. Dies macht deshalb den – der Binnenperspektive des Situierten selbst korrelierenden – Binnenaspekt der Situation aus, weil es einem Beobachter verborgen bleibt. Es macht einen Unterschied, ob ich sage: ›Ich bin da‹ oder ›JB ist da‹, denn mit letzterer Aussage reihe ich mich ein unter alles andere, was ich in der dritten Person anspreche. Das situierte So ist von niemand anderem deskriptiv einzuholen als von dem, dem es so ist, jetzt hier zu sein. Von Nirgendwo bleibt das So verborgen: Von ihm lässt sich nur zeugen. Dass es je so ist, in je dieser Situation zu sein, darüber lässt sich von Nirgendwo nichts sagen. ›Blick von Nirgendwo‹ ist ein Bild für das Modell eines desituierten, d. h. aperspektivischen, nicht perspektivisch endlichen Erfahrens; dieses entsteht aus einer Abstraktion von der je-eigenen Situiertheit. In einer Beschreibung von Nirgendwo setzen sich das pure Dass und Was dessen, was sich je als bestehend konstatieren lässt, an die Stelle des situativen So des Jeweiligen. Ein als Blick von Nirgendwo beschreibbares Erfahren kann die Autorität beanspruchen, jede endliche Perspektive zu revidieren, denn es erfüllt das Desiderat der Objektivität: Bei ihm ist von den Störfaktoren der 147 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Endlichkeit und Fehlbarkeit abstrahiert, die für das perspektivische Erfahren kennzeichnend sind. Der Blick von Nirgendwo ist das Ideal eines in Vollendung konservativen Erfahrens, das die Objektivität des Erfahrenen notwendigerweise wahrt, da es nicht aus einer endlichen Perspektive heraus geschieht. Die Fehlbarkeit des Subjekts dagegen bedeutet: Es kann die Objektivität wahren, kann sich hinsichtlich ihrer aber auch irren. Der Blick von Nirgendwo ist das dem endlichperspektivischen Erfahren vorgehaltene Ideal, das den Maßstab vorgibt, an dem die von Personen (Subjekten) getroffenen Aussagen sich messen lassen müssen. Die hier vorgetragene Kritik an diesem Ideal zielt nicht darauf, die Möglichkeit solcher Objektivität infrage zu stellen. Ihre Stoßrichtung ist die, dass dieses Erfahren nicht das unsere ist und dass, wenn unsere eigene Erfahrung zu Worten kommen soll, die Beschreibung gegenüber diesem Ideal auf der Faktizität unserer jeeigenen endlichen Perspektive beharren muss. Der Blick von Nirgendwo und die Sprache, in der er sich artikuliert, sind gegenüber unserem je-eigenen situierten Erfahren revisionär: Dass durch uns das Sein zu Worten kommt, ist ebenso Bedingung der Möglichkeit, unsere Situiertheit auszudrücken, wie davon, sie im Ausdrücken unserer selbst zu unterdrücken. Das Beharren auf der je-eigenen, endlichen Perspektive ist ontologisch keinesfalls so selbstverständlich, wie es zunächst klingen mag, denn sehr wohl kann der Versuch unternommen werden, den Binnenaspekt des So in eine Beschreibung von Nirgendwo zu integrieren: Er lässt sich dann ontologisch gegenüber dem konstatierbaren Bestand abwerten, indem es zur über ihm ›supervenienten‹ ›subjektiven Realität‹ erklärt und so als ein Teilbestand unter anderen in die Sprache der Quantität integriert wird. Diese Realität der subjektiven Erfahrung, zu der dann so etwas wie die ›Bewusstseinszustände‹ der Personen gerechnet werden, kann dergestalt als unwesentlicher Zusatz zur Objektivität des von Nirgendwo erfahrenen Seienden gelten. Dagegen ist zu sagen, dass eine Beschreibung der Phänomenalität grundsätzlich nicht von Nirgendwo zu leisten ist. Vom So lässt sich nur zeugen; die Phänomenalität ist im Rahmen einer quantitativen Ontologie beschreibend nicht einzuholen, sie lässt sich einer in ihrem ontologischen Ansatz quantitativen Weltbeschreibung nicht integrieren, sondern verlangt ihre eigene Sprache. Von Nirgendwo – unter Abstraktion vom eigenen Existieren – fassen wir die Existenz nur als Reihe von Ereignissen, die zu einem Zeitpunkt mit der Geburt beginnt und zu einem späteren mit dem 148 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Eintritt des Todes endet. Geburt und Tod einer Person sind dabei selbst nur zwei Ereignisse, die im ihnen gegenüber indifferenten Maßsystem der Zeit zwei verschiedenen Zeitpunkten zugeordnet sind. Die Geburt einer Person öffnet eine Ereignisreihe, deren Elemente alle von der betreffenden Person abhängen. Damit kommt die Person ontologisch in den Rang des Kontinuierlichen, durch die Zeit Beharrenden, als dessen Wandel sich die Ereignisse vollziehen. Alle in dieser Reihe gereihten Ereignisse vollziehen sich an einer Person: Sie machen Mannigfaltigkeit und Wandel der Akzidenzialität aus gegenüber der kontinuierlichen Selbigkeit der Substanz, an der sie sich vollziehen. Die Konzeption der Zeit, die dieser Auffassung der Person zugrunde liegt, ist die der quantitativen Ontologie: Das einzelne Bestandsstück wechselt seine Eigenschaften; die Ereignisreihe besteht selbst darin, dass es Bestandsstücke gibt, die Eigenschaften haben und verlieren, d. h. zu tx andere Eigenschaften haben als zu ty oder tz. Dies sind die primären Bestandsstücke: Partikularien, die durch ihren eigenen Wandel hindurch kontinuierlich die numerisch einen und selben bleiben. Die einzelnen Ereignisreihen sind sekundäre Bestandsstücke, die ontologisch von den primären Bestandsstücken abhängen. Ihre Summe macht den Wandel des Bestandsganzen aus. Zu einem Zeitpunkt lässt sich von einer Person eine bestimmte Summe von Prädikaten wahrheitsgemäß aussagen, zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Summen dieser Prädikate: Darin besteht im Rahmen der Bestandsontologie die Veränderung, die sich an ihnen vollzieht. Die gerade Rede von Ereignissen, so etwa ›a running of Socrates takes place‹ ist dergestalt die sekundäre gegenüber der obliquen Rede von ihnen, die den Umweg über Personen oder Dinge nimmt: ›Socrates runs‹ (vgl. Sellars 1981a, 39). Es ist an dieser Stelle lehrreich, dem Gedankengang Sellars’, dem diese Beispiele entstammen, in einigen Schritten zu folgen. Vorgetragen hat er ihn in dem bereits zitierten Foundations for a Metaphysics of Pure Process, das in drei aufeinander aufbauende Vorlesungen gegliedert ist. Die zweite, ›Naturalism and Process‹, enthält Überlegungen zur relativen ontologischen Gewichtung von Dingen/Personen und Ereignissen. Erstere haben, was unser Sprechen über das Seiende angeht, tatsächlich insofern den Primat, als wir von Veränderung als vom Wandel des Kontinuierlichen sprechen: »[…] Rede über Ereignisse ist eine Art Rede über Dinge im Wandel. Über Dinge und Personen im Wandel hinaus gibt es also keine Ereignisse (43; Sperrung ent-
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fernt – JB).« 89 Zumindest das nächste Weltbild der Alltäglichkeit (das sog. ›manifest image‹) ist »ein Rahmen, in dem die primären Objekte durch den Wandel überdauern (a framework, in which the primary objects endure through change) (53).« Andererseits scheint es prima facie Gegenbeispiele gegen diesen Satz zu geben, nämlich in Gestalt der Rede über Ereignisse wie ›es blitzt‹ (Lichtenberg macht sich das ja, wie gesehen, zunutze). Sellars ist von dieser Aussage weniger beeindruckt: Nur innerhalb des manifest image ist dies gerade Ereignisrede, denn die Aussage ›es blitzte‹ ist im Weltbild der Wissenschaft etwa reformulierbar als Elektronenaustausch zwischen Wasserteilchen in verschiedenen Aggregatzuständen: »Elektronen übersprangen die Lücke (electrons jumped across the gap) (48)«, so dass man also auch hier im primären ontologischen Dinge-vor-Ereignis-Rahmen verbleibt. Jetzt aber »[i]st es Zeit, dass wir einen alternativen Rahmen in Betracht ziehen (It is time that we consider an alternative framework.) (53).« Diese Revision des Rahmens ruht auf der Prämisse, dass »ein Rahmen […] ersetzbar ist durch den anderen, eliminierbar zugunsten des anderen. Gerechtfertigt wäre diese Ersetzung durch die größere explanative Kraft des neuen Rahmens (55).« 90 In diesem alternativen Rahmen lässt sich ein prozessual gewendeter logischer Atomismus formulieren, eine Sprache, die das zunächst ontologisch primäre Seiende – Dinge und Personen – rekonzeptualisiert als »Bündel absoluter Prozesse (bundles of absolute processes) (87)«. Kausale Relationen werden dann nicht mehr an Dingen/Personen und ihren Eigenschaften festgemacht, sondern sind Relationen zwischen prozessualen ›Mustern‹ ; es heißt dann nicht mehr: »Wenn x φ wäre, wäre x ψ (55)«, also bspw.: ›Wenn x wasserlöslich wäre, dann würde x sich auflösen, wenn es ins Wasser getaucht würde.‹ Es heißt dann: »Wenn ein Muster Pi […] wäre, dann wäre ein Muster Pj […] (If there were a pattern Pi […] there would be a pattern Pj […]) (54).« Der alternative Rahmen, den Sellars skizziert, ist eine Ontologie der absoluten bzw. reinen Prozessualität. Im Rahmen dieser Sprache ist das primäre Seiende nicht mehr das Kontinuierliche, an dem der Wandel sich vollzieht: »Jäh
»[…] talk about events is a way of talking about things changing. Thus there are no events in addition to changing things.« 90 »one framework is […] replaceable by the other – eliminable in favor of the other. The replacement would be justified by the greater explanatory power of the new framework.« 89
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sehen wir, dass die Welt, die wir konstruieren, eine ist, in der jede basale Sachlage durch Verben und Adverbien ausgedrückt wird […] Es gibt keine Objekte: Die Welt ist ein verlaufendes Geflecht von Verläufen (56 f.).« 91 Das allerdings »verpflichtet uns nicht zu der absurden Ansicht, alles wandele sich unausgesetzt in allen seinen Aspekten: Es gibt Konstanten im Fluss (we are not committed to the absurd view that everything always changes in all respects. There are constancies in the flux) (57).« Die angesprochenen ›Muster‹, als die wir in dem alternativen Rahmen Dinge/Personen rekonzipieren, sind solche prozessualen Konstanten: Es wiederholen sich Verläufe desselben Typs, so bestehen Dinge und Personen fort. Die Welt einer »wahrhaft heraklitschen Ontologie (truly Heraclitean ontology) (ebd.)« ist nicht, wie Platons »augenzwinkernde (with tongue in cheek) (ebd.)« Darstellung Heraklits nahelegte, »die Sphäre dessen, was immer wird und niemals ist (the domain of that which becomes and never is.) (58).« Zwar »fordert das Im-Verlauf-Sein absoluter Prozesse die Idee kontinuierlichen Anfangens und Endens (the ongoingness of absolute processes requires the idea of continuous coming to be and ceasing to be) (59)«, es wäre aber ein Fehler »die Kontinuität dieses Anhebens und Aufhörens gleichzusetzen mit der mathematischen Kontinuität einer kontinuierlichen Folge instantaner Entitäten (to equate the continuity of this coming to be with the mathematical continuity of a series of instantaneous entities) (ebd.).« Prozesse bestehen nicht aus kleineren prozessualen Einheiten, bestehen nicht letztlich aus instantanen prozessualen Entitäten – solche instantanen Prozesse sind keine »Bausteine der Welt, sondern […] entia rationis, zugeschnitten auf die entia rationis der Zeitpunkte (ebd.)« 92, denen sie korrespondieren. Als Fazit ergibt sich zunächst: Eine Welt, deren logische Atome letztlich absolute Prozesse sind, ist das Korrelat einer Sprache über sie, die die implizite ontologische Gewichtung von Dingen und Personen einerseits und Ereignissen, Prozessen andererseits revidiert. So zugerüstet, kommt Sellars nun auf die erste der drei Vorlesungen zurück. Dort geht es – in prima facie entwicklungspsychologischer »Suddenly we see that the world we have been constructing is one in which every basic state of affairs is expressed by the use of verbs and adverbs […] There are no objects. The world is an ongoing tissue of goings on.« 92 Je verschiedenen Zeitpunkten korrelierte instantane Phasen eines Prozesses »are not to be construed as building blocks in the world, but rather as entia rationis tailored to fit the entia rationis which are instants.« 91
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Blickrichtung – zunächst um kindliche Farbbegriffe: Wenn Junior ›… ist rot‹ sagt, dann »hat das Kind eine Erfahrung, auf die er konzeptuell reagiert (the child has an experience and is conceptually responding to it) (6)«, indem er den Begriff ›… ist rot‹ bildet und dann auch gebraucht. Dieser Begriff steht anfangs noch nicht in Opposition zu ›… scheint rot‹. Der kindliche ›Ur-Begriff‹ enthält noch nicht die Unterscheidung von rotem Objekt und der bloßen Sinneserfahrung von rot (die auf Lichtverhältnisse zurückgehen kann, in denen etwa ein weißes Objekt rot zu sein scheint). Die sensorische Episode des Rot-Sehens ist noch nicht gegen die Röte des als rot Gesehenen abgehoben. Erst, »[w]enn das Kind […] den Begriff des Erfahrens, oder sollen wir sagen des Gewahrseins, hat, kann das Kind eine Rotfläche als erfahren auffassen bzw. – um zum Kern der Sache zu kommen – als gewahrtes Objekt (12).« 93 Sellars lässt dann die »Laienkinderpsychologie (armchair child psychology) (16)« hinter sich; nicht ohne zu versichern, dass die bisherige Untersuchung »von Anfang an eine Projektion konzeptueller Analyse in einen genetischen Rahmen war (was from the beginning a projection of conceptual analysis into a genetic frame) (ebd.).« Es heißt dann: »[…] wenn ein Objekt S rot scheint […], hat S eine Erfahrung, die an sich so ist wie die, ein rotes Objekt zu sehen ([…] when an object looks red to S […], S has an experience which is intrinsically like that of seeing a red object) (16).« In dem gerade entworfenen alternativen Rahmen lässt sich nun das je gewahrte rote Objekt (die Erfahrung eines roten Rechtecks dort drüben) rekonzeptualisieren als Exemplar einer Klasse von absoluten Prozessen der Art ›es rötet dort drüben rechteckig‹. Dieses rechteckige Röten superveniert über einem anderen Prozess, dem Bestehen eines physikalischen Körpers dort, wo es rötet: So heißt es dann, um Sellars’ bekannteres, da extravaganteres Beispiel aufzugreifen: »Es gibt zwei Objekte an dem Ort, den der rosa Eiswürfel einnimmt: (a) ein rosa Würfel (b) ein würfelförmiges Ganzes, bestehend aus H2O-Molekülen (plus etwas Anilinfarbe) (71).« 94 Dieser Prozess scheint im Falle des roten Rechtecks auf den ersten Blick ein inerter
»If […] the child also has a the concept of experiencing, or, shall we say, awareness, […] the child can conceive of an expanse of red as being experienced, or, to get to the heart of the matter, as an object of awareness.« 94 »There are two objects in the region occupied by the pink ice cube: (a) a cubical volume of pink; (b) a cubical whole of consisting of molecules of H2O (plus some aniline dye).« 93
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zu sein; das ist er aber nur, weil wir z. B. die mikrophysikalischen Prozesse, die sein beobachtbares Bestehen ausmachen, zunächst nicht beobachten können. Halten wir uns dagegen an den rosa Eiswürfel, so ist uns die Prozesshaftigkeit dessen Bestehens zunächst viel evidenter, wenn wir ihn uns bei einer Temperatur vorstellen, die es uns erlaubte, sein Schmelzen zu beobachten. Es sind jedoch in dem alternativen – dem manifest image explanativ überlegenen – Weltbild sowohl das Bestehen des physikalischen Objekts und das Röten, das wir sehen, gleichermaßen als absolute Prozesse zu beschreiben. Genau dann, wenn es das Muster gibt: ›Es besteht (zu tx an der Raumstelle sx) ein Eiswürfel, an dem rosa Anilinfarbstoff haftet‹, dann gibt es, unter bestimmten Bedingungen, nämlich relativ zu sensorischem Bewusstsein, das Muster ›es rosarötet dort drüben eiswürfelig‹. Letztere Episode ist die Wirkung auf das Zentralnervensystem, die der Eiswürfel plus Farbstoff verursacht: Der Zustand rosawürfelig zu empfinden, der […] als Zustand einer Person aufgefasst wurde, wird jetzt als zusammengesetzter Zustand aufgefasst, dessen eines Element ein Zustand des sensorischen Bewusstseins ist, während das andere ein physikalischer2 Zustand des ZNS ist (78). 95
Es ergibt sich ein »Emergenter (oder Holistischer) Materialismus (Emergent [or Wholistic] Materialism) (79)«: »Ihm gemäß ist rosawürfelig zu empfinden 96 ein Zustand, σ, des physikalischen Systems, der korreliert ist mit (aber nicht reduzibel auf) den komplexen physikalischen Zustand, σp des Systems (ebd.)«, wobei das in Rede stehende System jemandes Körper ist (vgl. 81). Während nun die Objekte der zeitgenössischen neurophysiologischen Theorie aufgefasst werden als aus Neuronen bestehend, die aus Molekülen bestehen, die aus Quarks bestehen, … – die alle physikalische2 Objekte sind – könnte eine ideale Nachfolgertheorie, die im Rahmen absoluter Prozessualität formuliert wäre […] gewisse ›Objekte‹ ihrer (z. B. Neuronen im visuellen Kortex)
»The state of sensing a-cube-of-pinkly, which […] was construed as the state of a person, is now construed as a composite state, one element of which is a state of the sensorium, the other being a physical2 state of the CNS.« Physikalische2 absolute Prozesse sind solche, »which suffice to constitute what goes on in non-living things and insensate organisms (85).« 96 ›Empfindungen‹ (sensings) sind dabei zu verstehen als reine sensorische Zustände, die noch nicht das Gewahrsein des Vernommenen als etwas sind. Die Ineinssetzung dieser zwei wäre Ausdruck des Mythos des Gegebenen. Vgl. zu dieser Unterscheidung die erste Vorlesung, S. 11 ff. 95
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konzipieren als prozessuale Komplexe, die σ-ings als ihre Elemente enthalten und insofern verschieden sind von rein physikalischen2 Prozessen (86). 97
So lassen sich Personen, zumindest, was ihre sensings angeht, reformulieren als »Bündel absoluter Prozesse«, wobei einige dieser Prozesse physikalisch, andere qualitativ (ihrem sensorischen Gehalt nach) zu beschreiben sind. Die Gemeinsamkeit der hiesigen Konzeption mit Sellars’ alternativem prozessualen Rahmen liegt darin, dass es auch uns darum zu tun ist, eine Sprache für absolute – ontologisch nicht auf Kontinuierlichem aufruhende – Prozessualität zu entwerfen. Die Unterschiede werden deutlich am jeweiligen Gebrauch von ›absolut‹. Sellars gebraucht ›absolut‹ synonym mit ›rein (pure)‹. Reine Prozessualität ist dabei solche, die ontologisch nicht sekundär ist gegenüber Personen und Dingen, sondern aus der umgekehrt Dinge und Personen aufgebaut sind. Eine Sprache der reinen Prozessualität konzipiert Substanzen als Prozessbündel, so dass sich damit das normalsprachliche Verhältnis umkehrt und Dingrede jetzt auf Ereignisrede reduzibel ist: ›Außer prozessualen Mustern gibt es keine Dinge/Personen‹, muss es dann in Umkehr des Primats der Substanzen heißen. Die relative ontologische Gewichtung von Substanz und Ereignis, die Umkehr dieser Gewichtung zum Vorrang dieser vor jener ist dabei keine Bewegung aus der Sprache des Bestands hinaus. Wenn hier dagegen Situiertheit als die Erfahrung absoluter Prozessualität gedeutet werden soll, dann ist die hier in Rede stehende Absolutheit eine ganz andere als die, die Sellars intendiert und ist nur unter grundsätzlich anderen ontologischen Voraussetzungen als denen Sellars’ zu beschreiben: Wir erfahren sie in den verschiedenen Modi der uns einbegreifenden Bewegtheit ohne Beweger, die wir existierend an uns selbst erfahren: Ich zu sein (als dieser Einzelne zu existieren) impliziert die Erfahrung absoluter, mich einbegreifender Prozessualität. Letztlich ist es diese Einbegriffenheit, von der wir zeugen, wenn wir davon reden, in einer Situation zu sein (nur dass wir dieses Zeugnis gewöhnlich überhören). Um das Phänomen der Einbegriffenheit in absolute Prozessualität hervortreten zu lassen, wenden wir uns zunächst dem Phänomen »[…] whereas the objects of contemporary neuro-physiological theory are taken to be neurons, which consist of molecules, which consist of quarks, … – all physical2 objects – an ideal successor theory formulated in terms of absolute processes […] might so constitute certain of its objects (e. g. neurons in the visual cortex) that they had σ-ings as ingredients, differing in this respect from purely physical2 structures.« 97
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der Existenz zu und fragen: Was ist im Rahmen einer phänomenalen Ontologie über die bisher erfolgten Charakterisierungen hinaus grundsätzlich zur Existenz zu sagen? Der phänomenale Grundzug der Existenz ist der, dass jeder von uns nur ist als inmitten seiner jeweiligen Existenz; ich in meiner, du in deiner, jeder von uns jeweils in seiner bzw. ihrer. Da ich mich reflexiv mir selbst zuwende, finde ich mich immer schon inmitten meiner Existenz vor. Die Existenz reicht zurück in die Vergangenheit, zu meiner Geburt und streckt sich in die Zukunft, nach dem Offenen (Unbestimmten) dessen hin, was je auf mich zukommen wird. Der Tod markiert das Ende dieser Zukünftigkeit, so wie die Geburt den Anfang meiner Vergangenheit markiert: Dazwischen verläuft die Existenz. Der Existierende ist der in den Verlauf der Existenz Einbegriffene. Die angesprochene absolute Prozessualität erfahren wir demnach in der gerichteten Bewegung des Existierens: Qua Existierende kommen wir von der Geburt her und gehen auf den Tod zu. Existieren heißt phänomenal: Begriffensein in einer einbahnig gerichteten Bewegung zwischen Geburt und Tod. Die Zeitspanne des Zwischens, das Währen unseres gerichteten Bewegtseins, ist der Bereich der Phänomenalität, von der wir folglich nur dann in gemäßer Weise handeln, wenn wir als Existierende – eingedenk unseres Existierens – von ihr handeln. Qua Existierende ist unser Bereich das Zwischen von Geburt und Tod und unser Sein die Bewegtheit zwischen diesen beiden Extremen der Existenz.
Geburt und Tod als Extreme der Existenz Wollen wir uns und unser je-eigenes ›ich bin da‹ ontologisch zu Worten kommen lassen, dann müssen wir uns selbst als inmitten der jeeigenen Existenz thematisieren. Jetzt, da ich sage: ›ich bin da‹, spreche ich immer schon aus der Mitte meiner Existenz – und von dir, ihm etc. gilt dasselbe. Dass wir dabei auf mannigfaltige (und noch zu klärende) Weise in die jeweils andere Existenz ›hineinstehen‹, benimmt dieser These nichts von ihrer Gültigkeit. Dass meine Existenz nicht abgeschlossen ist gegenüber dir, ihm, ihr, sondern dass du, er, sie in ihr vorkommst bzw. vorkommt, bedeutet nicht, dass die jeweilige Existenz nicht für jeden von uns allein meine wäre. Im Verlauf jemeiner Existenz begriffen sind wir gerichtet bewegt zwischen ihren zwei Extremen: der Geburt und dem Tod. Als Extreme haben diese zwei den phänomenalen Charakter der Ferne. Inmitten der Existenz 155 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz und Prozessualität: Zeit
sind uns ihre zwei Extreme – auf je eigene Weise – fern. Wir behandeln die beiden Extreme der Existenz nacheinander, ohne dass dadurch eine relative Gewichtung ihrer angedeutet werden soll. Wir beginnen dabei (wie es naheliegt oder gar nicht anders sein könnte) mit dem Anfang der Existenz. 1)
Vergangenheit: Geburt
›Ich bin geboren‹ : Das Thematisieren der Gebürtlichkeit, die Rede von der eigenen Geburt spricht nicht im Präsens, sondern in einer Form, die in der Fachterminologie der Grammatik ›Zustandspassiv‹ oder ›-perfekt‹ heißt: Wir sprechen über die eigene Geburt nur als vergangen, nehmen andererseits aber diese Vergangenheit in der Präsensform des Hilfsverbs zurück: Ich bin geboren. Solange ich überhaupt bin, bleibe ich geboren. Weil ich bin, bin ich geboren; weil ich geboren bin, bin ich. Eine Pointe der Analyse der Zeitlichkeit des Daseins in Sein und Zeit ist der Vorrang einer Zeitmodalität (einer ›zeitlichen Ekstase‹, sagt Heidegger), nämlich der Zukunft. Ohne hier in die Details und Implikationen dieser These einsteigen zu wollen, will ich darauf hinweisen, dass dieser Vorrang zusammenhängt mit dem ontologischen Gewicht des Todes in Heideggers Konzeption: Der Tod – das äußerste Zukünftige – verleiht eben durch seine Eminenz auch dieser Zeitmodalität ihren Vorrang (was wiederum mit der Eigentlichkeitslehre zu tun hat, über die ich hier nichts weiter sagen will). Wenn er nun die meiner Ansicht nach mit Tod und Sterblichkeit vollkommen gleichrangigen Phänomene der Geburt und Gebürtlichkeit ebenso ausführlich gewürdigt hätte, wenn er die Vergangenheit ebenso ursprünglich aus der Geburt verstanden hätte, wie er die Zukunft aus dem Tod her verstanden hat, wenn er den äußersten Anfang der Existenz ebenso gründlich analysiert hätte wie ihr äußerstes Ende, vielleicht wäre er in der Frage des Primats einer Zeitmodalität vor der anderen vorsichtiger gewesen. 98 Es gibt jedenfalls zunächst keinen Grund, Zukunft vor Vergangenheit, Vergangenheit
Es gibt Passagen in Sein und Zeit, die eine Gleichwertigkeit von Geburt und Tod nahelegen möchten, etwa: »[…] der Tod ist […] formal genommen nur das eine Ende, das die Daseinsganzheit umschließt. Das andere ›Ende‹ aber ist der Anfang, die ›Geburt‹ (373)« – die faktische Prävalenz des Todes liegt in seiner ungleich zentraleren Rolle im Ganzen der Theoriebildung. Feicks Index zu Sein und Zeit verzeichnet unter ›Geburt‹ drei, unter ›Tod‹ 35 Textstellen (vgl. 33 f., 90 f.).
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Existenz
vor Zukunft oder auch die Gegenwart vor beiden anderen Modalitäten auszuzeichnen. Ich existiere – jetzt, da ich reflexiv zurückkomme auf mich selbst – zu den Bedingungen meiner Gebürtlichkeit und werde, solange ich überhaupt existiere, zu diesen Bedingungen existieren. Merleau-Ponty hat diese eigentümliche Zeitstruktur der eigenen Geburt sehr scharf gesehen: Das Geschehnis meiner Geburt ist nicht vergangen, es ist nicht wie ein Geschehnis der objektiven Welt ins Nichts gesunken, es zeichnete Kommendes vor; nicht wie eine bestimmte Ursache ihre Wirkung vorbereitet, sondern so, wie sich eine Situation, die einmal eingetreten ist, sich unausweichlich auf eine oder die andere Weise entwickeln muss (468). 99
Mit der Geburt öffnet sich um uns die weiteste unserer Situationen: Mit der Geburt werden wir in die Bewegung der Existenz gesetzt. Sobald ich geboren bin, bin ich schon in den Verlauf der Existenz eingelassen, begreift dieser Verlauf mich ein, wird zum Verlauf meiner selbst. Will ich also genuin von meiner eigenen Geburt sprechen, dann muss ich sagen: Mit der Geburt bin ich in die weiteste aller meiner Situationen gesetzt worden. Denn von mir selbst spreche ich genuin nur aus der Mitte meiner Existenz: fern von meiner Geburt. Da ich zu denen gehöre, die das phänomenologische Wir ausmachen, ist mir meine Geburt fern, ohne dass ich sie dabei schlechthin hinter mir lassen könnte, d. h. ohne dass ich die Bedingungen der Gebürtlichkeit, zu denen ich existiere, jemals suspendieren könnte. ›ich bin geboren (worden)‹ bedeutet: Ich habe das Frühstadium meiner Existenz durchlaufen, das anhob mit der Geburt und mir jetzt fern ist; mir als einem, der – nach und nach – seine frühe Art des Erfahrens hinter sich gelassen hat, indem er hineingewachsen ist in das Stadium der Reflexivität, die, wie oben beschrieben, den Grundzug unseres Erfahrens bildet (dasjenige derer, zwischen denen Diskurse stattfinden, z. B. der über Phänomene). Diese erste Phase der Existenz bildet ihre Vorgeschichte. Geschichtlich ist die Existenz insofern, als die erfahrend gewonnene Vertrautheit mit der Welt zu Worten kommt. Im geschichtlichen Stadium der Existenz sind wir mehr oder minder ausdrücklich mit den Stadien der eigenen Biogra»L’évènement de ma naissance n’est pas passé, il n’est pas tombé au néant à la façon d’un évènement du monde objectif, il engageait un avenir, non pas comme la cause détermine son effet, mais comme une situation, une fois nouée, about it inévitablement à quelque dénouement.«
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phie vertraut. Diese zeichnet sich phänomenal allerdings durch eine eigentümliche Fragmentarizität aus: Die Vertrautheit mit der eigenen Vergangenheit bewahrt nicht ein kontinuierliches Bild des Vergangenen auf. Sie ›hat‹, sofern ich überhaupt so sagen darf, nur Fragmente ihrer, die sich, was die jüngste Vergangenheit anbelangt, vielleicht noch zu einem einigermaßen kohärenten Bild fügen lassen, gegen ihren Anfang hin jedoch spärlich werden. Besser sagte ich: sie kommt nur fragmentarisch (in Splittern) zu Bild oder zu Wort, gegen ihren Anfang hin versiegen Bild und Wort ganz. Ricœur hat als Grundzug der ›ipse-Identität‹, d. h. der Identität derer, die reflexiv auf sich selbst zurückkommen können, da sie diastatisch verfasst sind, d. h. beim eigenen Verhalten wohnen, die ›Narrativität‹ ausgemacht (vgl. 1996, 167 ff.): Die Geschichte derer, die sagen: ›ich bin‹, wird bewahrt im Erzählen ihrer, wobei ›Erzählen‹ hier so weit zu fassen ist, dass darunter jegliches Wiedererstehenlassen von Vergangenem in ein So des Sich-Gestaltens (indem ich es erinnernd so erzähle) verstanden ist. ›Narrativität‹ heißt m. a. W. nicht nur, dass ich mich erzählend an andere wende, sondern auch, dass ich für mich (still erinnernd) die Vergangenheit in Splittern wiedererstehen lasse bzw. dass in meinem Verhalten meine Vergangenheit (vergangene Situationen, mein vergangenes Verhalten in ihnen) wiederersteht – die Medialität des Verhaltens bringt es mit sich, dass die aktivische wie die passivische Formulierung jeweils ihr Recht haben und durcheinander in ihrem jeweiligen Recht einzuschränken sind. Die Vergangenheit ersteht wieder im Erzählen von ihr, und zwar dergestalt, dass sie im Verhalten zu ihr wieder und wieder phänomenale Gestalt erlangt, ohne dabei jemals auf eine solche Gestalt festlegbar zu sein. Die Vertrautheit mit der eigenen Geschichte ist eine fragmentarische und verliert sich zum Anfang der Existenz hin. Umso weiter wir ontogenetisch zurückgehen, umso ferner wird uns unsere eigene Geschichte, so dass unsere früheste Geschichte zunächst viel eher von anderen erzählt werden kann als von uns selbst. 100 Eine der über die Grenzen der Disziplin hinaus interessantesten Implikationen der psychoanalytischen Forschung ist die Problematisierung der Idee des Anfangs der Existenz: Meine Vorgeschichte beginnt strenggenommen nicht zu dem Zeitpunkt, wo ich den Mutterleib verlasse (oder welchen Zeitpunkt man sonst als den der Geburt ansetzen möchte), sondern inkludiert die Geschichte und Vorgeschichte meiner Eltern und eben deshalb (meine Eltern sind selbst und bleiben die Kinder ihrer Eltern) die der Eltern meiner Eltern etc. Es ist eine grundlegende Prämisse der psychoanalytischen Forschung, dass die Geschichte meiner Eltern zu meiner eigenen gehört, insofern ich
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Existenz
Als das eine Extrem je-meiner Existenz ist je-meine Geburt nicht das zu einem Zeitpunkt konstatierte und in die Geburtsurkunde eingetragene Entbundenwerden aus dem Mutterleib eines Wesens, das, wie andere auch, etwa durch die Initialen JB bezeichenbar ist. Als solch konstatierbares Ereignis ist die Geburt vergangen. Phänomenal vergeht die Geburt nicht dergestalt: Phänomenal bin ich geboren, d. h. existiere ich, solange ich überhaupt existiere, zu den Bedingungen meiner Gebürtlichkeit (meines Geborenseins): Der Anfang meiner Existenz ist mir fern, er liegt im Dunkel meiner Vorgeschichte, im wortlosen Stadium der Existenz. Das bedeutet: Jetzt, da ich sage: ›ich bin …‹, jetzt, da ich gar diese Aussage selbst ontologisch thematisiere, habe ich schon eine Geschichte hinter mir. Es ist dazu gekommen, dass ich jetzt hier und in dieser Situation bin. Es führt ein Weg von meiner Geburt hierhin, wo ich jetzt so bin. Diesen Weg dürfen wir nicht missverstehen als den angelegten Weg, der die Richtung einer Bewegung vorzeichnet, sondern als den, den die Bewegung selbst erst bahnt. Der Weg der Existenz ist die Spur ihrer Bewegung. Das reflexive Verhalten behält die eigene existenziale Bewegtheit als Weg. Der Weg, den wir behalten und sprechend artikulieren, ist die Geschichte der Bewegung des Existierens. Es liegt dabei ein Missverhältnis vor zwischen der Kontinuität dieses Wegs und der Fragmentarizität, in der allein wir von ihm erzählen können. Je-meine Vergangenheit bewahrt sich vor mir selbst ihre Unverfügbarkeit: Sie lässt sich nicht nach Belieben gegenwärtig machen, sondern gewährt uns nur Splitter von sich. Jetzt, da ich nicht nur sage: ›ich bin da‹, sondern diese Aussage selbst zum Thema einer Ontologie mache, habe ich schon einen Weg in meiner Familiensituation anfange, zu dem zu werden, als der ich mich dann – später, d. h. im geschichtlichen Stadium der Existenz – selbst erfahre und reflexiv fassen kann. Eine zweite grundlegende und unabhängig von spezifisch psychoanalytischer Begrifflichkeit formulierbare Grundthese Freuds ist die von der Bedeutung der Vorgeschichte für die einzelne Biographie. Genuin psychoanalytische Begrifflichkeit kommt erst in den ätiologischen Modellen zum Tragen, die das Entstehen bestimmter psychischer Leiden im Rückgang auf die Vorgeschichte erklären. Unabhängig von dieser Begrifflichkeit ist der phänomenale Grundzug der Vorgeschichte ihre Ferne zu uns, den schon lange in das Stadium von Reflexion und Artikuliertheit Eingetretenen. Die langwierige Arbeit an den Anfängen und der Vorgeschichte, der sich jeder Patient (und jeder Analytiker beginnt ja selbst als Patient, insofern er in seiner Ausbildung eine Lehranalyse durchläuft) stellen muss, zeugt vielleicht am eindringlichsten davon, dass unsere Geburt und Vorgeschichte uns fern, in dieser Ferne jedoch keinesfalls nichts sind, sondern unabweisbar zur je-eigenen Geschichte gehören.
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Existenz und Prozessualität: Zeit
hinter mir – und bin weiterhin in der Bewegung begriffen, deren Spur mein Weg ist. Immer schon habe ich mich – auf mich selbst zurückkommend – vorgefunden als so geworden. 101 Die gerichtete Bewegung zwischen Geburt und Tod ist auch der Prozess des biographischen Werdens: Ich kann von mir sagen, ich sei nicht mehr derjenige, der ich damals/als Kind/als Zwanzigjähriger war, ohne dass ich dabei meinte, ein numerisch anderer zu sein (dieses gewordene ImWerden-Sein ist für die ipse-Identität konstitutiv). Ich meine dann: Ich bin nicht mehr so, wie ich damals war. Ebenso kann ich von mir sagen, ich werde in fünf, zehn, zwanzig Jahren nicht mehr so sein, wie ich jetzt bin. Der so-Gewordene bleibt als so-Seiender im Werden: »Das Dasein muss als es selbst, was es noch nicht ist, werden, das heißt sein (Heidegger 1979, 243).« Ich bin mein So-Werden, indem je-diese Situation so verläuft. Ich kann dabei zu keinem Zeitpunkt das So meines Seins erschöpfend zu Worten bringen, nicht erschöpfend sagen, wie ich denn jetzt bin oder damals war. Solch eine erschöpfende Beschreibung meiner selbst ist denkbar nur unter der ontologischen Voraussetzung, dass ich dabei eine summativ fassbare Beschaffenheit aufweise, d. h. erschöpfend zu beschreiben bin durch eine bestimmte Summe an Eigenschaften, die ich zu einem Zeitpunkt aufweise. Nur von der Person JB ist eine solche additiv zur Vollständigkeit zu treibende Beschreibung denkbar: Die Personen sind wie alle Partikularien bestimmt durch die Menge an Prädikaten, die ihnen zu tn zukommen. Ich kann dann von mir sagen: JB hat zu tn diese und jene Eigenschaften (ist in diesem und jenem summativ verfassten Gesamtzustand); nur unter dieser Bedingung kann ich prinzipiell annehmen, dass eine komplette Aufzählung meiner Eigenschaften zu einem Zeitpunkt möglich ist (dass von mir ein Gesamtzustand aussagbar ist, der einem beliebigen Zeitpunkt tn korreliert). Dergestalt modelliere ich mich selbst als die Person JB. Ich kann mir selbst deskriptiv die Maske der Personalität anlegen – eine die Phänomenalität meiner Einzelnheit kaschierende Maske, hinter der verborgen bleibt, wie es ist, als ich selbst zu existieren: dass es unausgesetzt so ist, jetzt hier zu sein und dass sich von dieser Situiertheit zeugen lässt. Das
Es ist im Rahmen einer phänomenalen Ontologie nicht darüber zu streiten, in welchem Maße ich schon bei der Geburt ein beschriebenes Blatt bin, welche pränatalen Voraussetzungen mein Werden bedingen und wie diese sich zu den postnatalen Bedingungen dieses Werdens verhalten. M. a. W. ist die Debatte über nature vs. nurture zu den konzeptuellen Konditionen der Bestandsontologie zu führen.
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Existenz
Zeugen setzt die Phänomenalität in ihr Recht. Wie ist es zu existieren? So, dass ich – einbegriffen in den Verlauf meiner Existenz – immer schon bewegt bin zwischen den Extremen der Existenz; einerseits geworden, andererseits Werdender finde ich mich nicht anders denn als im Verlauf einer gerichteten Bewegung zwischen Geburt und Tod, die dabei fern bleiben. Diese Bewegtheit bringt es mit sich, dass ich über jeden Zeitpunkt, zu dem ich mich ansetzen könnte als Person JB in diesem Zustand, mit jenen Eigenschaften, immer schon hinweggeglitten bin. Ich weiß phänomenal nicht einmal, was ein solcher Zeitpunkt sein soll; a fortiori erfahre ich keine Zeitpunkten korrelierende Zustände an mir. Das ist der Sinn der These: Phänomenal ist alles im Fluss. Dass ich zu den Bedingungen meiner Gebürtlichkeit existiere, erfahre ich darin, dass ich mich immer schon vorfinde als dieser SoSeiende, als Geworden-im-Werden-Begriffener, dessen So ihn immer schon auf seine biographische Vergangenheit zurückverweist, auf die Geschichte seiner Genese, die sich gegen den Anfang der Existenz hin in der Wortlosigkeit ihrer Frühphase verliert. Mein So ist gewordenes; ich bin mit meinem früheren Werden, das jetzt, da ich auf mich zurückkomme, meine Gewordenheit ausmacht, nur fragmentarisch vertraut. Umso weiter ich zurückgehe in der eigenen Ontogenese, umso ferner wird es mir: Das Extrem dieser Ferne markiert die Geburt als Anfang des existierenden Werdens. Diese Ferne haben aber Geburt und Frühzeit nicht schlechthin für sich: Jede Situation, in der ich eben war, ist mir jetzt, da ich auf sie zurückgekommen bin, zwar zeitlich sehr nah, aber dabei doch in dem Sinne fern, dass ich ihr So unrekonstituierbar vergangen ist und narrativ bzw. deskriptiv unerschöpflich bleibt. Geburt und Frühzeit exemplifizieren auf das Schärfste das Scheitern der Deskription, das – weniger drastisch – jede vergangene Situation aufweist. Nicht nur der Weg vor mir liegt im Ungewissen (da er noch nicht gebahnt ist); auch der, den ich hinter mir gelassen habe, steht niemals auf Abruf zur Verfügung, sondern nur als fragmenthafte Spur in je-diese Situation herein. 2)
Zukunft: Tod
Im Gegensatz zur perfektivischen Rede von der Gebürtlichkeit vollzieht sich die Rede von der eigenen Sterblichkeit nur als futurische: ›Ich werde sterben.‹ Solange ich existiere, ist mein Tod zukünftiger. Darin liegt seine phänomenale Ferne: Vom fernen Anfang der Exis161 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz und Prozessualität: Zeit
tenz her, bin ich existierend bewegt hin in das Offene der Zukunft, das der Tod schließen wird. Der Tod ist das letzte Zukünftige – das, worauf ich niemals zurückkomme, da er die existierende Bewegtheit unterbindet, in der begriffen ich allein im Verhalten auf etwas zurückkommen kann. Der Tod tritt nicht ein, um seinerseits vom nächsten Kommenden verdrängt zu werden: Er endet das Neu-und-neu des Erfahrens. 102 Vom Tod kann es kein Sprechen aus Erfahrung geben, denn er bleibt, solange wir sind, noch nicht eingetretener. Solange ich existiere, werde ich sterben. Sobald der Tod eintritt, existiere ich schon nicht mehr, bin ich erstarrt zu etwas nicht mehr Existierendem, d. h. meine Bewegtheit zwischen den Extremen der Existenz ist mir genommen, so dass ich als lebloser Körper nur noch durch andere bewegt werden kann, von ihnen befördert werden muss und insofern einem Ding gleiche. Heidegger hat sich um eine Unterscheidung des nicht mehr Existierenden von dem von vorneherein Leblosen bemüht (vgl. 1979, 238); hier genüge der Hinweis darauf, dass mit dem Tod umgegangen, dieser von den noch Lebenden bewältigt werden muss: Wir wissen um die Unfassbarkeit des Todes als irreversiblem Stillstand der existenzialen Bewegtheit; die Tendenz zur Abkehr von ihm, die schon Aristoteles diagnostiziert hat, ist ein abwehrendes Verhalten zu der erdrückenden Größe dieses letzten Zukünftigen. 103 Die phänomenale Ferne des Todes begünstigt diese Tendenz noch: Wir gewinnen, solange wir existieren, nicht seine Vertrautheit, er bleibt unerfahren und daher ungreifbar, das Paradox einer letzten Erfahrung, die nicht mehr zu Worten kommt, da sie gleichbedeutend sein wird mit dem endgültigen Verstummen unserer Worte. 104 Daraus kann schnell eine Haltung zur philosophischen Thematisierung des Dass der Tod jederzeit nahe sein kann, benimmt ihm seine phänomenale Ferne nicht, denn die Nähe, von der die Rede ist, wenn wir sagen: ›Ich könnte nächste Woche/morgen/in zwei Stunden sterben‹, ist geringe auf der Zeitlinie abzutragende Distanz zwischen dem Jetzt und dem Zeitpunkt des Todes: Anders gesagt spricht diese Aussage zu den Bedingungen der quantitativen Ontologie. Phänomenal bleibt der Tod auch Momente vor seinem Eintreten noch fern. 103 Rhetorik 1382a: »[…] ἴσασι […] πάντες ὅτι αποθανοῦνται, ἀλλ’ ὅτι οὐκ ἐγγύς, οὐδὲν φροντίζουσιν.« 104 Dies scheint mir einer der Gründe dafür zu sein, dass Derrida die Schrift und den Tod zusammendenken konnte: Über das Verstummen unserer Worte hinaus, tragen wir in der archivierten Schrift zu einem Diskurs bei, der die Existenz jedes einzelnen ihn Führenden überspannt. Vgl. La voix et le phenomène, S. 104 »[…] l’absence totale du sujet et de l’objet de l’énonciation – la mort de l’écrivain ou/et la disparition des objets qu’il a pu décrire – n’empêche pas un texte de ›vouloir-dire‹.« 102
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Existenz
Todes erwachsen, die glaubt, diese als eine Art schwarzer existenzialistischer Romantik belächeln zu dürfen, sie schlimmstenfalls als Effekthascherei abtun zu können, als ginge es in dieser Thematisierung darum, sich mit dem Pathos des Todes selbst zu veredeln oder als nehme man ihn zum Anlass für ein absichtlich vage gehaltenes, sich in Andeutungen des Tiefsinns ergehendes Raunen. Im Gegenteil: Vom Tod ist mit der größten Sachlichkeit zu sprechen, indem sein phänomenaler Charakter – unser je-eigenes Verhältnis zu ihm – in phänomenologischer Beschreibung dargetan wird. Nichts, was hier über Geburt, Tod und ihr Zwischen ausgeführt ist, ist geheimnisvoll. Existieren ist die gerichtete Bewegung zwischen den zwei fernen Extremen der Existenz und diese deshalb ein interregnum: das Zwischen von Noch-nicht und Nicht-mehr, das jeder von uns jeweils allein als ›meines‹ ansprechen kann, wie auch seine Extreme jeweils nur je-meine sind. Die einbahnig gerichtete Bewegung des Existierens manifestiert sich darin, dass ich mich immer schon in je-dieser Situation finde, in der sich je-diese Sache je so gestaltet. Im Durchgang durch die Situationen, in denen ich je gewesen bin, die jemals als diese gerade verlaufende um mich waren, habe ich wohnend in der Welt die Vertrautheit des Jeweiligen erworben, wohnend bei mir die Vertrautheit mit mir selbst als mich zum Jeweiligen Verhaltenden. Diese Vertrautheit mit mir selbst ist nicht vollkommen, zu ihr gehört, wie zu aller Vertrautheit, die Unvertrautheit meiner selbst. Ich kann von mir nur sagen: Ich bin so – ich existiere als so geworden-werdend. Weder kann ich ins Letzte sagen, wie ich bin, noch wie ich so geworden bin. Das Letzte, was ich jetzt, da ich auf mich selbst zurückkomme, sagen kann, ist: ›ich bin so.‹ Darüber hinaus muss ich sagen: Ich war schon in der Bewegung meiner Existenz begriffen, fand mich schon in der Mitte meiner Existenz – d. h. fern von ihren Extremen –, sobald ich in das reflexive Stadium der Existenz eingetreten war. Solange ich überhaupt vertraut bin mit mir selbst, habe ich immer schon existiert. Phänomengetreu spreche ich mich als Situierter erstens nur in der Verlaufsform aus, denn die Existenz streckt sich nach der Zukunft: Dass ich existiere, impliziert, dass ich existieren werde. Ich existiere in einer gerichteten Bewegung nach der Zukunft hin; zweitens verlangt die Existenz, dass wir von ihr in einer Weise sprechen, die sich durch das englische present perfect andeuten lässt, das eine Gegenwart ausdrückt, die ein Kontinuum mit der Vergangenheit bildet: Dass ich existiere, impliziert, dass ich existiert habe. Nicht anders 163 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz und Prozessualität: Zeit
denn in der Mitte unserer Existenz (d. h. als so-geworden-werdend) finden wir uns qua Situierte, sofern wir reflexiv auf uns selbst zurückkommen. Die Aussage ›Ich existiere‹ ist phänomenal also zu präzisieren als ›I have been existing‹ : Unser Existieren findet seinen Ausdruck in der Verlaufsform des englischen present perfect progressive. Die Existenz ist für die je-eigene Vertrautheit mit ihr anfangslos, sie vollzieht sich immer schon. Die Existenz ist phänomenal ebenso unendlich wie die Welt; beiden ist die spezifische Unendlichkeit des Horizonts zu eigen: eine Unendlichkeit, die nur in Bezug auf einen Endlichen denkbar ist, um den und für den sie unendlich, nämlich von ihm nicht auszuschreiten, in ihrem Umfang nicht zu durchmessen ist. Die horizonthafte Unendlichkeit der Welt liegt darin, dass alles Jeweilige in ihr ein solches ist. Die Welt ist alles, was je Sache sein kann. Sie ist die un-zählige, da nicht auf eine Zahl zu bringende Mannigfaltigkeit aller Sachen, die dadurch zu einer Mannigfaltigkeit geeint sind, dass das Verhalten sich in ihnen bewegt, übergeht von einer zur anderen. Die horizonthafte Unendlichkeit der Existenz liegt darin, dass ihre Enden fern bleiben: Solange ich überhaupt bin, bin ich in ihrer Mitte, d. h. bewegt zwischen ihren fernen Extremen. Diese Bewegung ist die Zwiefalt von Sich-Verhalten zu … und Sich-so-Gestalten des Jeweiligen. Von hier wird deutlich, wie sich die phänomenale Unendlichkeit der Welt zu derjenigen der Existenz verhält: Im Verlaufe der Zwiefalt bin ich bewegt durch die Welt, ohne, solange ich existiere, an ein Ende ihrer zu stoßen. Ich spreche immer von der Welt und aus der je-eigenen Existenz: Jene hole ich niemals als Ganze in mein Sprechen ein, diese währt immer schon und vollzieht sich, sobald und solange ich überhaupt spreche. Das Jeweilige durchlaufend und von ihm zu Neuem übergehend, bleibe ich in der Welt, solange ich in der Bewegung des Existierens bleibe: Die Endlichkeit dieser Bewegung (sie hebt an mit der Geburt und endet mit dem Tod) bringt es mit sich, dass die Welt, in der sie sich vollzieht, unendlich sein muss. So erfährt der oben aufgestellte Chiasmus von Endlichkeit und Unendlichkeit seine nähere Begründung aus den Bedingungen der Gebürtlichkeit und der Sterblichkeit, unter denen die Situierten existieren.
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Zeit
Zeit Die phänomenal begriffene Zeit als situativer Prozess Mit der Thematisierung der Existenz als Zwischen von Geburt und Tod sind wir ausdrücklich zur Frage nach der Zeit gekommen. Es geht jetzt also darum, die Zeit im Rahmen einer phänomenalen Ontologie zu konzipieren: Es geht um die Zeitlichkeit des Situierten und die des Jeweiligen; es geht darum, zu verstehen, wie diese beiden letztlich Momente der Zeitlichkeit überhaupt sind. Gemäß unserer Methode tun wir dies in Abhebung gegen die quantitative Zeitdeutung. Was ist die spezifische Zeitlichkeit des Bestandes? Inwiefern ist sowohl das einzelne Bestandsstück der Welt wie auch die Welt als Gesamtbestand zeitlich verfasst? Insofern, als jede Aussage über ein Bestehendes oder den Bestand im Ganzen ein zeitliches Argument hat: Jedes Prädikat kommt einem Bestehenden während einer Zeitspanne zu, d. h. zu einer finiten Menge von Zeitpunkten. So spiegelt das Konstatieren des Bestehenden dessen Wandel wider: Jede Partikulare ist zu einem Zeitpunkt bestimmt als diese Menge an Eigenschaften, zu einem anderen als jene. Sie ist zu jeweils verschiedenen Zeitpunkten in jeweils verschiedenen Zuständen. Einige dieser Zustände können exklusiv von den personalen Partikularien prädiziert werden: Diese sind Strawsons ›P-Prädikate‹, auf denen die differentia specifica der Personen innerhalb der Klasse der Partikularien (primären Bestandsstücke) beruht. Wir haben es hier allerdings nur formal mit einer Definition nach dem klassischen Schema zu tun; eine solche wäre deshalb zirkulär, weil wir, um den Ausdruck ›P-Prädikate‹ überhaupt zu verstehen, doch schon wissen müssen, was Personen sind. Strawsons Bestimmung setzt auf unsere Vertrautheit damit, dass wir je selbst eines der Seienden sind, die sich im Rahmen der Bestandsontologie als Personen beschreiben lassen. Dass z. B. ›denkt angestrengt nach‹ oder ›geht spazieren‹ P-Prädikate sind, ist nicht aus dem Begriff der Person deduzierbar, sondern rekurriert darauf, dass wir diese Prädikate in bestimmter Weise gebrauchen und mit diesem Gebrauch vertraut sind. Wir sagen sie von uns selbst aus. Die anderen Partikularien, von denen wir sie außerdem aussagen, gehören in dieselbe Klasse basaler Partikularien wie wir: Die Phänomenalität selbst gewährleistet die Aussagekraft von Strawsons Bestimmung. Es zeigt sich hier wie so oft, dass die grundlegenden Einsichten nicht definitorisch zu formulieren, sondern charakterisierende sind, d. h. Artikula165 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz und Prozessualität: Zeit
tionen unserer Vertrautheit mit der Phänomenalität. Um diese ist es Strawson allerdings in der Folge nicht zu tun: Er personifiziert das Seiende, das wir je selbst sind, d. h. konzipiert es in der Maske der Personalität. Dergestalt wird es zum partikularen Bestandsstück der Welt, das Teil der endlichen Menge des zu einem gegebenen Zeitpunkt Bestehenden ist, innerhalb dieser in die Teilmenge der personalen Partikularien gehört und wiederum innerhalb dieser individuiert ist durch Eigenschaften, die nur von ihm wahrheitsgemäß prädizierbar sind. Die Rede von der haecceitas, der individuellen Differenz der Einzelnen bedeutet im Rahmen der Bestandsontologie nur: Es gibt für jede Partikulare Eigenschaften, die sie zu jedem Zeitpunkt von allen anderen Partikularien derselben Klasse unterscheiden. Welche Konzeption der Zeit liegt aber einer solchen Konzeption der Person zugrunde? Die Zeit ist hier gedacht als Abfolge von Zeitpunkten, deren Intervall variabel ist, da es von der je angelegten Maßeinheit abhängt. Von nirgendwo kann ich die Differenz von tx und ty als beliebig klein oder groß festlegen, ich muss sie nicht einmal spezifizieren. Die lineare Reihung der Zeitpunkte ist das metrische System, das der Abfolge der Ereignisse korreliert. Die Zeit ist dann, in Sellars’ Worten, eine »quasi-theoretische Entität, deren kleinste Teile letztlich Zeitpunkte sind (quasi-theoretical entity, the ultimate particulars of which are moments)«: ›Quasi-theoretisch‹ ist sie insofern, als sie es erlaubt, die sich als Wandel des Kontinuierlichen vollziehenden Ereignisreihen formalisiert darzustellen als Abfolge von Zuständen zu Zeitpunkten (1962, 551). So lässt sich die Abfolge der Ereignisse beziffern, indem diese auf ein durch zeitliche Einheiten getaktetes Maßsystem bezogen werden, indem eine Skala an sie angelegt wird. Im »metrischen Rahmen (metrical framework)« der Zeit ist von der Einzelnheit des jeweiligen Ereignisses abstrahiert (ebd., 552). Es ist dann reduziert auf seine Korrelation mit einer Menge von Zeitpunkten, die sein Anfangen, Dauern und Enden beschreiben. Das Bestehen von Ereignissen ruht ontologisch auf dem primär Bestehenden – Personen, Dingen – auf: Sie sind der Wandel in den Eigenschaften dieser. Als Maßsystem erlaubt die Zeit die Bezifferung des Wandels, seine Darstellung als Differenz zweier Mengen von Eigenschaften zu zwei Zeitpunkten. Die Zeit vergeht, während Dinge und Personen im Wandel ihrer Eigenschaften begriffen sind. Es vergeht dabei aber nur die Zeit des jeweiligen Ereignisses, das definiert ist durch die Menge an Zeitpunkten, die sein Anfangen, Andauern und Enden beschreiben. Jeder Zeitpunkt durchläuft die Gegenwart, 166 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Zeit
die quantitativ die Grenzscheide zwischen Zukunft und Vergangenheit ausmacht; jedes Ereignis und damit jeder einem Ereignis korrelierte Zeitpunkt kommt aus der Zukunft, passiert die Gegenwart und vergeht in die Vergangenheit. Qua an die Reihung der Ereignisse angelegte Skala vergeht die Zeit selbst dabei nicht: Sie ist vielmehr das kontinuierliche Maßsystem von Werden und Vergehen, das Bleibende, an dem der Wandel allein zu messen und zu beziffern ist. Sie ist als ›modale‹ Zeit die Ordnung der Ereignisse nach den Modi der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Darüber hinaus lässt sich eine ›Lagezeit‹ konzipieren, d. h. eine in der die Lage jedes Ereignisses durch den Zeitpunkt seines Eintretens bestimmt ist, d. h. zu anderen Ereignissen in den Relationen des früher als …, später als … oder gleichzeitig mit … steht. 105 Darin, dass wir die modale Zeitordnung relativ zu einer Person hintergehen können hin auf eine Zeitordnung, die rein durch die relative Lage zueinander der Ereignisse bestimmt ist, d. h. in der von der personalen Gebundenheit an Hier und Jetzt abstrahiert ist, wird augenfällig, dass wir uns den Blick von Nirgendwo zu eigen machen können – wir zeugen jedoch bereits davon, dass wir ihn uns zu eigen gemacht haben, indem wir uns selbst nur als Person … ansetzen, die gegen die anderen Exemplare ihrer Klasse bestimmt ist durch die jeweilige Menge an Prädikaten, die auf sie zutrifft. Der Tendenz zur Abstraktion von der raumzeitlichen Gebundenheit entspricht die Tendenz zur Formalisierung des zeitlichen Ablaufs, hin zur Zuspitzung des Ereignisses auf die Folge eines Zustands zu ty auf den anderen zu tx. Die Diachronie der zur Abfolge der Zustände zu Zeitpunkten formalisierbaren Ereignisreihe ist dergestalt quantitativ aufgefasst nur mehr das Sich-Vergrößern der Summe aufeinander folgender Zeitpunkte. Phänomenal – so sagen wir zunächst negativ-abwehrend – ist die Zeit nicht das ›Maß der Bewegung‹. Wie konturieren wir aber positiv die phänomenal begriffene Zeit? Heidegger hat auf folgende ordinary-language-Unterscheidung von ›Jetzt‹ und ›Gegenwart‹ hingewiesen: Wir lesen z. B. irgendwo die Mitteilung: ›In Anwesenheit zahlreicher Gäste wurde das Fest gefeiert.‹ Der Satz könnte auch lauten: ›Im Beisein‹ oder ›in Gegenwart‹ vieler Gäste. ›Modal-‹ und ›Lagezeit‹ sind Ausdrücke Schmitz’. Seine Unterscheidung entspricht der heute geläufigeren Unterscheidung von ›A-Reihe‹ und ›B-Reihe‹.
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Existenz und Prozessualität: Zeit
Gegenwart – kaum haben wir sie für sich benannt, denken wir auch schon Vergangenheit und Zukunft, das Früher oder Später im Unterschied zum Jetzt. Allein die vom Jetzt her verstandene Gegenwart ist durchaus nicht das gleiche wie Gegenwart im Sinne der Anwesenheit der Gäste. Wir sagen denn auch niemals und können es auch nicht sagen. »Im Jetzt zahlreicher Gäste wurde das Fest gefeiert. (1969, 10 f.)« Wir variieren jetzt sein Beispiel, um die Phänomenalität der Zeit hervortreten zu lassen: Wir können sagen: ›Im Verlauf des Abends wurde das Fest immer fröhlicher‹, nicht jedoch: ›Im Vergehen des Abends wurde das Fest immer fröhlicher‹. Woran aber liegt das? Daran, dass ursprünglich nur der vom Fröhlicher-Werden des Festes berichten kann, der an ihm teilnahm und also zugegen war, als es sich dergestalt entwickelte: Nur der, der in das Ereignis des Festes selbst involviert war und vom Binnenaspekt dieses Ereignisses zeugen kann. Unter seiner Binnenbeschreibung ist das Ereignis keine Einheit des Wandels, die selbst wieder in Einheiten des Maßsystems ›Zeit‹ beschreibbar ist. Von innen beschrieben nimmt das Ereignis diesen Verlauf: Jetzt, da es meine Situation ist, an diesem Fest teilzunehmen, erfahre ich es als so verlaufend, nicht als vergehend. Im Anschluss an diese in der Normalsprache vorgebildete Unterscheidung heben wir die phänomenal begriffene Zeit gegen die linear vergehende Zeit der quantitativen Ontologie ab, indem wir sie als verlaufende charakterisieren. Das phänomenale Schema der Zeit ist die Kurrenz des Jeweiligen, dessen Sich-so-Gestalten, dem ein Sich-so-Verhalten des Situierten zu ihm entspricht. Was je Sache ist, kommt in die Gegenwart, nachdem anderes Sache war, und vergeht zugunsten der Gegenwart eines anderen, das dann Sache sein wird. Dieses Werden und Vergehen vollzieht sich als Zwiefalt von Sich-so-Verhalten zum Jeweiligen und dessen Sich-so-Gestalten. Es ist deshalb auch vom Verhalten her beschreibbar als dessen discursus und transitio innerhalb der Welt (des Horizontes aller Sachen). Zeit ist phänomenal das Sich-soGestalten des Jeweiligen in je-dieser Situation; indem je-diese Situation verläuft, verläuft phänomenal die Zeit. Sellars hat insofern zu Recht die vergehende Zeit als ›quasi-theoretisch‹ beschrieben (freilich ohne sie dabei als solche in Frage zu stellen): Die Konzeption der Zeit als durch verschieden große Einheiten getaktetes Maßsystem ist ein der verlaufenden Zeit übergestülptes Artefakt. Sie ist ein Modell der Zeit, das deren Phänomenalität revidiert. Die verlaufende Zeit ist die 168 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Bewegung zwischen den zwei Extremen der Existenz, in der jeder von uns qua Situierter begriffen ist. Existieren heißt: Getragenwerden von dieser Bewegung vom einen Extrem der Existenz auf das andere zu. Die jeweilige Einbegriffenheit in diese von uns selbst niemals angestoßene Bewegung ist die ursprüngliche Situiertheit. Das situierte In-sein ist das Begriffensein im Verlaufen der Zeit, die Bewegtheit zwischen Geburt und Tod. Die Zeit ist phänomenal nicht das Maß der Bewegung, sondern selbst schon die ursprünglichste Bewegung überhaupt, der situative Prozess. Alle Bewegungen, in denen begriffen wir uns erfahren, sind Modi dieses Prozesses, Ausgestaltungen, in die er sich verlegt. Die Bewegung der Zeit trägt uns zu auf das, was uns so für eine Weile gegenwärtig wird, und an ihm vorbei auf Neues zu. Wir erfahren dieses Getragensein darin, dass wir uns immer schon in je-dieser Situation finden, sobald wir reflexiv auf uns selbst zurückkommen. Jede Situation, in der wir je sind, ist eine Phase dieses Prozesses. Anders als die Glieder einer Kette sind diese Phasen keine diskreten Einheiten, aus denen der Prozess sich zusammensetzt, sondern umgekehrt Modulationen dieses einen Prozesses. Sie parzellieren den Prozess nicht, sie sind die Mannigfaltigkeit, in die er selbst sich auffaltet und deshalb nicht seine Elemente. 106 Was anfangs also als Unschärfe des Situationsbegriffs gegenüber dem des Ereignisses aufstieß, findet jetzt daraus seine Begründung, dass jede Situation eine Phase in der unausgesetzten Automodulation des situativen Prozesses ist: Zu welchem Zeitpunkt die vorige Situation vorbei war und die jetzige anfing, zu welchem die bisherige Situation vorbei sein und die neue beginnen wird, das lässt sich deshalb nicht scharf festlegen, weil Situationen sich nicht als voneinander abgegrenzte Teilstücke zum Ganzen des situativen Prozesses addieren, sondern qua Phasen seines Verlaufs Gestaltungen seiner selbst sind, in die er sich verlegt. Wie die Bewegungen der Augen über das Farbspektrum nicht den Zeitpunkt des Umschlags vom Sehen der einen Farbe zu dem der anderen erfasst, so lässt sich auch von der Situation, in der wir selbst sind, nicht angeben, zu welchem Zeitpunkt die vorige Situation in sie überging und zu welchem Zeitpunkt sie selbst in die kommende übergehen wird. Das liegt an dem Verhältnis, in dem wir uns zu unserer eigenen Situation befinden: Wir sind in ihr, sie hat, sofern sie überNur in diesem und niemals im mereologischen Sinne lässt sich dann mit Finke sagen: »Nicht die Einzelsituationen sind in der Gesamtsituation enthalten, sondern die Gesamtsituation ist in den Einzelsituationen enthalten (246).«
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haupt ist, schon begonnen und noch nicht aufgehört. Wir erfahren sie nur als um uns verlaufend. Deshalb gilt: Phänomenal ist alles im Fluss. Die Modulationen des situativen Prozesses sind ein Übergehen, das keine Übergänge kennt. Der situative Prozess ist binnenunbegrenzt: Er hat keine Übergänge, er ist selbst das Immer-schon-Verlaufen je-dieser Situation, in welche die vorherige Situation übergegangen ist und die wiederum in die nächste übergehen wird. Situiertheit bedeutet: In-sein im situativen Prozess, das als Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen ein Sein bei diesem Jeweiligen ist: Ein verweilendes Aushalten bei ihm, das sich vollzieht als Hinwendung zu dieser Sache und Abkehr von jener. In eins gestaltet sich mir das Jeweilige dabei je so. So ist der situative Prozess deskriptiv auffaltbar in die Zwiefalt von Verhalten und Sich-Gestalten, niemals aber ein compositum dieser beiden. Ich kann den situativen Prozess von mir selbst (d. h. vom Situierten) her und umgekehrt vom mir Jeweiligen her artikulieren: Dies sind nur zwei Hinblicknahmen auf das eine. Alle Beschreibungen seiner von einem Moment der Zwiefalt her beschreiben nur eine Dimension seiner als eines ursprünglich Ganzen. Ich existiere niemals anders denn als situiert, d. h. als begriffen im Verhältnis zum Jeweiligen. Ich bin immer schon in dieser Situation: Es verläuft immer schon diese Phase des situativen Prozesses, in der diese Sache sich so gestaltet.
Die Zeitlichkeit des Situierten – die Zeitlichkeit des Jeweiligen Wie aber ist dieses prozessual verfasste Verhältnis – der situative Prozess selbst – zu charakterisieren? Wie erfahren wir ihn je selbst? Er ist das Her-vor-Bringen des Jeweiligen 107, das aufseiten des Her-vor-Gebrachten (besser: des Her-vor-Gebrachtwerdenden) ein Sich-so-Gestalten, aufseiten des Situierten ein Sich-so-Verhalten ist. Das Hervor-Bringen des situativen Prozesses ist also in eins ein Bewegen des in ihm Situierten zu einem Verhalten. So erhellt, dass er sowohl vom Situierten wie auch vom Jeweiligen her beschreibbar ist; so erhellt auch, warum jede Beschreibung, die entweder den Situierten oder das Jeweilige als Prinzip des Verhältnisses ansetzt, ihn verfehlen Ich wähle diese Schreibweise, um die kausalen Anklänge, die der normalsprachliche Begriff des Hervorbringens hat, auszuschließen. ›Her-vor-Bringen‹ heißt: ›vor mich und in ein Sich-so-Gestalten bringen‹.
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muss: Das Verhältnis lässt sich nicht auf ein Prinzip gründen, Phänomenal vermag keines der beiden im Verhältnis zueinander Begriffenen die Last einer solchen Prinzipiierung zu tragen. Sowohl Situierter als auch Jeweiliges sind nur als einbegriffen in den einen situativen Prozess, sie sind nur als immer schon im Verhältnis zueinander begriffen. Insofern der situative Prozess unausgesetzt zu einem Verhalten bewegt, Verhalten selbst aber diskursive und transitive Bewegung durch die Sachen ist, sofern das Verhalten also von einer Sache zur nächsten übergeht, ist der situative Prozess auch ein Hin-weg-Nehmen des Jeweiligen zugunsten eines neuen Jeweiligen, das seinerseits wieder von ihm hin-weg-genommen werden wird – dadurch, dass ein anderes Jeweiliges her-vor-kommt: Ohne Hin-weg-Nehmen kein Her-vor-Bringen: Jenes ist die Bedingung dafür, dass neu und neu das Jeweilige aufgehen kann in das So des SichGestaltens. Woher das Jeweilige seinen Aufgang in die Gegenwart hat, dahin geht es auch unter. Das Jeweilige ist das in je-dieser Phase des situativen Prozesses je so Her-vor-gebracht-Werdende. Sein heißt phänomenal φαίνεσθαι: Gestalt gewinnen im mir-Entgegenwähren. Ich, dem mir das je Entgegenwährende Gestalt gewinnt, ist dabei immer dieser jenige, der sagt: ›ich bin‹ – darin liegt die Allgemeinheit dieser Aussage über mich. Sie betrifft meine Einzelnheit, aber fasst nicht meine zufälligen Bestimmungen auf, d. h. zählt nicht die Eigenschaften auf, die mich als ein Individuum einer bestimmten Klasse von Individuen ausweisen und andererseits meine individuelle Differenz innerhalb ihrer ausmachen. Dies setzte eine quantitative Konzeption der haecceitas voraus. Die Aussage: ›Mir gestaltet sich das Jeweilige je so‹ drückt eine Erfahrung aus, die jeweils ich mit mir selbst mache; sie drückt meine Vertrautheit damit aus, wie es ist, ich zu sein – drückt sie aus auf eine Weise, in der von meiner quantitativ durch Angabe von Eigenschaften fixierbaren Einzelnheit ganz abgesehen ist: Sie zielt auf eine Einzelnheit jenseits der bloß quantitativ begriffenen Einzelnheit, d. h. der numerischen und qualitativen Individuierbarkeit eines Bestandsstücks. Diese ›mehr‹ als numerische, ›mehr‹ als quantitative Einzelnheit ist diejenige derer, die sagen: ›ich bin‹. Diese sind immer dieser oder diese jenige, der oder die damit vertraut ist, wie es ist er oder sie selbst zu sein. Diesjenigkeit ist die Einzelnheit derjenigen, die je bei sich selbst wohnen und daher reflexiv auf sich zurückkommen können. Diesjenigkeit ist die Einzelnheit, die um sich weiß: Wir sind vertraut mit uns selbst als diese jenige, der oder die wir nun mal sind und allein sein können. 171 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Die Zeitlichkeit des Situierten ist also das unausgesetzte Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen, das jeder von uns nur je an sich selbst erfährt. Jemandes Verhalten ist relativ zu mir immer das Benehmen einer Person: Wir sehen, wie dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten ein je verschiedenes Benehmen an den Tag legt. Die Person bleibt dabei dieselbe, ihr Benehmen ist jeweils ein anderes. Wir finden hier eine Bestätigung des proto-ontologischen Primats der Ding- oder Personenrede: Die Erfahrung des Seienden um uns herum legt diese ontologische Gewichtung nahe. Die Artikulation dieser Erfahrung bleibt jedoch naiv, wenn sie nicht beachtet, dass jeder von uns sich dabei selbst als erfahrend erfährt (ich bin, weil es so ist, jetzt hier zu sein) und dass darin die Forderung liegt, das ›ich bin‹, und das ›… ist‹ der Phänomene in die Ontologie hinüberzuretten. Wie ist es zu erfahren? So, dass sich unausgesetzt das Jeweilige je so gestaltet, weil ich zu je-diesem Verhalten zu ihm bewegt werde. Auf diese Weise bin ich phänomenal zeitlich. Meine Zeitlichkeit ist daher auch immer die des Jeweiligen: Indem mich der situative Prozess zu jediesem Verhalten zum Jeweiligen bewegt, bringt er dieses so her-vor. Dieser Prozess kann deshalb das Phänomen aller Phänomene heißen, weil er die Seinsweise der Phänomene als solcher, das φαίνεσθαι der φαινόμενα ausmacht: Er ist die Phänomenalität selbst. Er ist daher nicht gegenwärtig, sondern als das, in dessen Bewegung nur ein Entgegenwähren der Phänomene sein kann, umwärtig: Wir finden uns nicht vor ihm, unser Verhältnis zu ihm ist das eines In-seins. Wir lassen also in der deskriptiven Bewegung vom Gegenwärtigen auf das Umwärtige nicht die Phänomenalität hinter uns, sondern bekommen sie erst als Ganze zu Gesicht. Die Umwart ist nichts anderes als die Gegenwart des Jeweiligen. Wir fundieren also nicht etwa die Gegenwart auf ihr, indem wir sie etwa formal als ›Bedingung der Möglichkeit‹ der Gegenwart verstehen. Wir entdecken, dass sie ursprünglich zur Gegenwart gehört und genauso ursprünglich die Gegenwart zu ihr: Uns ist das Jeweilige gegenwärtig, weil wir situiert sind; und wir sind situiert, weil uns Jeweiliges entgegenwährt. Gegenwart und Umwart sind, was sie sind, nur als eines: als je-diese Situation, in der dies sich so gestaltet. Unsere Situiertheit im situativen Prozess bringt es mit sich, dass dieser keinem jener Prozesse vergleichbar ist, die wir vor uns haben können, deren Verlaufen uns entgegenwähren kann: Der Wind, der im Herbst ein welkes Blatt vor sich her treibt, lässt sich vielleicht als ein das Blatt in sich begreifenden und so tragenden Prozess beschrei172 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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ben – aber wir erfahren ihn niemals als so-her-vor-bringend-zu-diesem-Verhalten-bewegend. Der situative Prozess findet kein Analogon unter dem, was je entgegenwährt und dann in der Sprache der Quantität ontologisch zum Gegebenen, d. h. objektiv Feststellbarem entstellt wird. Er ist das Entgegenwähren des Gegenwärtigen, das Sich-so-Gestalten des Jeweiligen in je-dieser Situation; er ist in eins das Bewegen des Situierten zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen. Verhalten und Sich-so-Gestalten sind nicht zwei gegenstrebige, da aufeinander zu gerichtete Bewegungen, sondern die Zwiefalt eines Prozesses. Der situative Prozess ist eine Bewegung, die sich deskriptiv auffalten lässt in die zwei Momente von Sich-Verhalten und Sich-soGestalten; diese kommen so in den Anschein, sie seien zwei verschiedene Bewegungen, von denen dann erklärt werden müsse, wie sie sich aufeinander beziehen. Das aber bedeutet schon eine Entstellung des phänomenalen Befunds: Verhalten und Sich-so-Gestalten sind ursprünglich ineinander, kommen nicht kontingenterweise zusammen wie ein objektiviertes Bestandsstück und eine objektivierende Person, die so relativ zu ihm in den Rang eines Objekts kommt. Qua Bestandsstück sind Person und das von ihr objektivierte Bestandsstück dabei zwei in ihrem Dass und Was konstatierbare Partikularien. Setzt man diese zu einem Zeitpunkt in Wechselbezug zueinander stehenden Bestandsstücke als die elementare ontologische Tatsache an, hat man den situativen Prozess als Zwiefalt von Sich-Verhalten und Sichso-Gestalten schon übersprungen. Dieses Überspringen des situativen Prozesses kennzeichnet die quantitative Ontologie: Sie unterdrückt ihn in ihrem Ausdruck des Seienden. Das Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten ist dabei nur der Oberflächengrammatik nach Passivität gegenüber dem situativen Prozess: Wir sind relativ zu ihm keine patientes wie wir es relativ zu anderen Agenzien oder Akteuren und deren actiones sind. Er übt keine kausale Wirkung auf uns aus: Wir vermöchten nicht, ihn als voraufgehende Ursache unseres Verhaltens aufzuweisen. Verhalten und situativer Prozess vollziehen sich in vollkommener Synchronie zueinander, denn jenes ist nichts anderes als ein Moment dieses Prozesses, das nur deskriptiv gegen sein Komplement – das Sich-so-Gestalten des Jeweiligen – abzuheben ist. Das Verhalten ist neben dem Sich-so-Gestalten die eine phänomenale Gestalt des situativen Prozesses. Wir erfahren uns selbst als in diesen Prozess einbegriffen, indem wir uns selbst erfahren als uns zum Jeweiligen verhaltend. Wir erfahren das Jeweilige als einbegriffen in den situativen Prozess, 173 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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indem wir es als sich je so gestaltendes Wozu des Verhaltens erfahren. In Verhalten und Sich-so-Gestalten manifestiert sich der situative Prozess. Unter ›Manifestation‹ wird im Folgenden verstanden ein Verhältnis zweier Phänomene, dessen Ausdruck das symmetrische ›weil‹ ist: Das eine nicht ohne das andere und nur während seiner und umgekehrt. Die Manifestation ist ein Verhältnis wechselseitiger Durchdrungenheit von Phänomenen, so dass die Erfahrung des einen eo ipso ein Erfahren des anderen ist. Situierter und situativer Prozess manifestieren einander: Dass ich mich selbst erfahre im Wohnen bei mir und in der Welt bedeutet, dass ich darin auch den situativen Prozess erfahre. Wir erfahren unser eigenes Verhalten als medial, d. h. als weder aktiv verursacht, noch als passiv erlitten. Phänomenal ist es anfangsloses Immer-schon-Sein-in-der-Welt als Begriffensein im Verhältnis zum Jeweiligen. Phänomenologisch ist daher die Genese des Verhaltens nicht kausal durch Angabe seiner Ursache zu beschreiben; das Verhalten ist nicht durch Rekurs auf ein ihm voraufgehendes Antezedens zu erklären. Der situative Prozess ist kein solches Antezedens, sondern vollzieht sich als das Verhalten des Situierten: In diesem Verhalten und im komplementären So des Jeweiligen gewinnt er unausgesetzt aufs Neue phänomenale Gestalt und ist nichts anderes als das neu-und-neue Gewinnen dieser Gestalt. Die Situierten manifestieren den situativen Prozess. Sie weisen ihn an sich auf und vermögen deshalb je an sich selbst ihre Einbegriffenheit in den situativen Prozess abzulesen – allerdings nur an sich selbst, nur durch Thematisierung des eigenen Begriffenseins im Verhältnis. Diese Einbegriffenheit haben wir, solange wir reflexiv mit dem eigenen Erfahren vertraut sind, an uns selbst erfahren. Sie ist also ebenso gewohnt wie die Welt, in der wir wohnen: Weil wir in der Welt wohnen, wohnen wir dem situativen Prozess inne. Gleichursprünglich in der Welt und beim eigenen Verhalten wohnend, erfahre ich mich in der Anfangs- und Antezedenslosigkeit dieses Verhaltens als dem situativen Prozess innewohnend. Denn eine in der beschriebenen Weise anfangs- und antezedenslose Bewegung wie die des Verhaltens ist niemals rückführbar auf eine Ursache: Sie ist nur zu beschreiben als Manifestation einer um mich währenden, mich in sich begreifenden Prozessualität, d. h. einer, die in meinem Rücken schon angehoben hat und verläuft, indem sie mich von der fernen Geburt her auf den fernen Tod zu bewegt. Der situative Prozess verursacht das Verhalten nicht, deshalb erklärt der Ansatz bei ihm es 174 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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auch nicht. Wir tauschen das Bemühen um ein kohärentes Modell möglichst exakter und weitreichender explanativer Kraft gegen das Bemühen um eine der phänomenalen Sachlage getreue Beschreibung, die nicht erklären will, warum, sondern explizieren, wie – wie es ist, als sich unausgesetzt zur Welt verhaltend zu existieren. 108 Dass dieser Prozess zunächst unvertraut ist, liegt nicht daran, dass es eines geübten Erfahrens oder gar so etwas wie der Grenzerfahrung einer unio mystica bedürfte, um ihn zu sehen, sondern daran, dass wir zunächst keine Sprache für ihn haben, dass eine solche erst zu entwickeln ist. Ontologisch vertraut sind wir mit unserer Erfahrung nur insofern, als wir eine Sprache für sie haben. Deshalb ist auf dem Unterschied von quantitativer und phänomenaler Ontologie zu bestehen: Der Situierte muss sich selbst in einer dieser Selbstheit gemäßen Sprache artikulieren, einer Sprache, die es ihm erlaubt, sich selbst genuin als Situierten zu fassen. Denn eine Erfahrung, die ihre Sache in einer sie entstellenden Sprache ausspricht, ist eben keine Erfahrung dieser Sache mehr, sondern eine Erfahrung desjenigen, wodurch sie ihre Sache je verdeckt. Finden wir keine Sprache für uns selbst als Situierte, so sind wir als solche uns selbst verborgen: Unsere Situiertheit liegt nicht zur Versprachlichung vor, sie braucht eine ihr getreue Sprache, um uns überhaupt vorliegen zu können. Die hier entworfene phänomenale Ontologie ist eine Sprache, in der sich die immer schon sprachlich verwahrte Vertrautheit damit, wie es ist, ich selbst zu sein, getreu explizieren lässt. Die Artikulierbarkeit dieses Wie des Ich-Seins macht die ursprünglich proto-ontologische Verfasstheit der Situierten aus, d. h. die Möglichkeit der Ausbildung philosophischer Ontologien. In diesem Sinne ist Existieren ein ex-sistere, ein Hinausstehen aus dem situativen Prozess: Er kann selbst Thema werden oder aber von einer quantitativen Ontologie verkannt werden kann. Allerdings bleibt auch das Verhalten, dass sich deskriptiv zu ihm ins Verhältnis setzt oder aber ihn ignoriert, von ihm bewegt: Nur getragen von ihm selbst vollzieht sich die Bewegung auf die deskriptive Metaebene, auf der er eigens zum Thema werden kann. Dass wir insofern aus ihm herausstehen, als wir ihn selbst thematisieren können, bedeutet also nicht, dass wir ihn jemals hinter uns lassen könnten. Wir unterscheiden hier also explanatives und explikatives Beschreiben und verstehen unter letzterem ein beschreibendes Entfalten der Phänomene, das diese, sie entbreitend, vorlegt und so erst explizit sehen lässt.
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Die Zeit ist phänomenal der absolute, den Situierten in sich einbegreifende situative Prozess, der als Verlauf der Existenz die Bewegung zwischen Geburt und Tod ist. Er heißt deshalb absolut, weil er nicht hintergehbar, nicht rückführbar ist, sondern eine an mir erfahrene Bewegtheit meiner selbst, die als elementar hingenommen werden muss. Ich erfahre sie als die unzählige Mannigfaltigkeit der Bewegungen, in denen ich unausgesetzt existiere: leiblich bewegt an diesen Ort, weg von jenem oder aber hier ruhend, dort etwas betrachtend; mich dieser Sache nähernd und sie greifend, jene weglegend, allfälligen anderen Anwesenden dabei in den gestisch-mimischen Bewegungen meines Leibs offenbar; denkend diese Sache durchlaufend oder übergehend zu jener; sprechend dies sagend, nicht jenes, über diese Sache sprechend, jene verschweigend oder außer Acht lassend. All diese Bewegungen sind Ausgestaltungen des situativen Prozesses, der durch mich, den Situierten, phänomenale Gestalt gewinnt: Die Situation, in der ich bin, gestaltet sich in den Bewegungen meines Leibs, meines Denkens, meines Sprechens – in allen Modi meiner verhaltensmäßigen Bewegtheit. Und auf mich zurückkommend komme ich nur zum Einbegriffenen dieses Prozesses. Näher komme ich an mich selbst nicht heran. Ich vermöchte nicht, den situativen Prozess in Richtung auf Bedingungen seiner Möglichkeit zu hintergehen. Er ist nicht transzendentalphilosophisch zurückzuführen auf ein Subjekt, das ihn durch Synthesis oder Konstitution in sich entspringen lässt. Der phänomenale Befund gibt mir keinen Anhalt für diese Rückführung: Ich kann mich selbst nur modellieren als in Synthesis oder Konstitution fungierend. Ich kann, soweit es in der Philosophie möglich ist zu beweisen, vielleicht die Notwendigkeit eines solchen Modells zur Erklärung der Erfahrung dartun oder es kann sich seine relativ zu konkurrierenden Modellen größere explanative Kraft erweisen. 109 Ich kann nur nicht behaupten, dabei zu explizieren, wie es für mich selbst ist zu erfahren. Wir erfahren die Zeit phänomenal als Bewegtheit zwischen den zwei Extremen der Existenz. Diese Bewegtheit verbleibt dabei immer Vgl. Kant in der Vorrede zur B-Auflage der KrV über »Copernicus […], der, als es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und die Sterne dagegen in Ruhe ließ (XVI; Sperrung von mir – JB).« Kant nun will, »was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen (XVII).« Er will ein Modell der Anschauung, das diese besser erklärt als bisherige.
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in deren Mitte, fern von Geburt und Tod. Die Zeit ist phänomenal das binnenunbegrenzte Strömen, einbegriffen in welches ich meine existenziale Trajektorie beschreibe, den Weg bahne, der als Spur meiner Bewegtheit die unausgesetzt fortgeschriebene Geschichte meiner Ontogenese ist. ›Ich existiere‹ heißt: Bewegt zwischen Geburt und Tod bin ich inmitten des Jeweiligen, dabei unausgesetzt begriffen im Verhältnis zu ihm. Wie aber beschreiben wir die Phänomenalität des Verhältnisses selbst? Wie ist es, unausgesetzt in ihm begriffen zu sein? So, dass das Jeweilige mir entgegenwährt, indem es sich je so gestaltet. Das Verhältnis erfahren wir von innen – d. h. qua in es Begriffene – als die Gegenwart des Jeweiligen.
Gegenwart Die spezifische Zeitlichkeit der Situierten ist phänomenal charakterisiert durch das In-eins von Verhalten und Sich-so-Gestalten: Phänomenal erfahren wir die Zeit als die in die zwei Momente von Verhalten und Sich-Gestalten auffaltbare Bewegung des situativen Prozesses, in die wir einbegriffen bleiben, solange wir existieren; und sofern Verhalten und Sich-so-Gestalten die zwei Momente einer Zwiefalt sind, ist die Zeitlichkeit der Situierten auch die des Jeweiligen. Die Situierten existieren nicht anders denn als sich je so verhaltend zu … : Ihnen hat sich immer schon eine Gegenwart geöffnet, deren phänomenaler Grundzug das Entgegenwähren des Jeweiligen ist. Und nur sofern Situierte sind, vollzieht sich Gegenwart als das Entgegenwähren des Jeweiligen. Die Gegenwart des Jeweiligen bedarf der Situierten. In diesem Sinne sind die Situierten die primär Gegenwärtigen. Nur im Verhältnis zu ihnen gestaltet sich das Jeweilige, indem es entgegenwährt: Sie sind das Gegenüber, das alles Entgegenwähren braucht, um ein solches sein zu können. Daraus folgt allerdings nicht, dass die Situierten im Sinne einer Transzendentalphilosophie oder gar eines Konstruktivismus als die Gegenwart des Jeweiligen prinzipiierend aufzufassen sind. Wenn wir dergestalt ein transzendental aufgefasstes oder konstruktivistisch auf sein Gehirn reduziertes Subjekt als aktives Prinzip der Gegenwart denken, dann sperren wir uns gegen den phänomenalen Befund, der sagt: ›Ich vermöchte das Entgegenwähren des Jeweiligen nicht zu hintergehen in Richtung auf ein es wirkendes Prinzip.‹ Wir können freilich transzendentalphilosophische oder konstruktivistische Modelle entwerfen 177 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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– phänomenal ausweisen lassen diese sich nicht. Ich habe die Gegenwart nicht, ich habe an ihr teil: Und immer hat an ihr auch anderes teil, das mich transzendiert, immer ist die Gegenwart weiter als ich selbst, nie fülle ich sie vollständig aus, immer sind Jeweiliges und ich ontologisch gleichrangige Mitgegenwärtige, niemals wirke ich vorgängig das Entgegenwähren des Jeweiligen: ›Gegenwart‹ drückt das Verhältnis aus. Die Gegenwart geht niemals auf mich zurück, sondern so gleichursprünglich wie ich an ihr teilhabe, hat das je Entgegenwährende an ihr teil. Die Gegenwart impliziert die Alterität, sie ist ein Ausdruck für das Gegenüber von einem und anderen. Deshalb verwehrt sie es uns, uns selbst als ihr Prinzip rein (d. h. von allem Nichtprinzipiellen gereinigt) freizulegen. Gegenwärtig werden wir uns selbst nur als begriffen im Verhältnis, nur als in den und durch die Sachen bewegt. Die Gegenwart lässt sich phänomengetreu nur beschreiben als verlaufendes Verhältnis von Situiertem und Jeweiligem. Die Gegenwart des Jeweiligen ist in eins die Umwart des situativen Prozesses. Als in den umwärtigen situativen Prozess einbegriffen, sind die Situierten dem Jeweiligen gegenüber. Entsprechend thematisieren wir die Gegenwart 1) hinsichtlich des Entgegenwährenden, des Jeweiligen 2) hinsichtlich des umwärtigen Prozesses, in dessen Verlauf allein es dieses Entgegenwähren geben kann und gibt. 1)
Das Jeweilige
Im Rahmen einer Ontologie des Bestands ist das Gegenwärtige entweder der Gegenstand, (das einer Person je gegebene Bestandsstück) oder aber der Sachverhalt als Gegenstandskomplex (die einer Person zu einem Zeitpunkt gegebene Konstellation von Bestandsstücken). Mag man etwa mit Searle dafür halten, dass »[d]er Gehalt der visuellen Erfahrung […] immer einer ganzen Proposition äquivalent ist (The content of the visual experience […] is always equivalent to a whole proposition) (1983, 40)« – diese Alternative verbleibt im Rahmen der quantitativen Ontologie. Die Fragen, ob Gegenständen oder Sachverhalten der Rang elementarer Konstituenten der Welt zukommt, ob Sachverhalte überhaupt wie die Bestandsstücke bestehen oder aber nur relativ zu den Subjekten sind, die sie vernehmen oder beschreiben, sind Binnenkonflikte der quantitativen Ontologie, d. h. innerhalb ihrer auszutragen. Gegenstands- und Sachverhaltsontologien liegt die nämliche Ontologie zugrunde: Personen, die ihrerseits selbst Teil des Bestands sind, unterhalten intentionale Relationen zu 178 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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anderen Bestandsstücken des Gesamtbestands bzw. treffen Aussagen über diesen. Insofern sind sie Subjekte, die den Bestand objektivieren, d. h. zu Objekten oder Gegenständen machen, die als solche in Bezug auf die sie objektivierenden Personen ›intentional inexistieren‹ bzw. zu Gegenständen von Aussagen werden. Wie beschreiben wir im Rahmen einer phänomenalen Ontologie das Jeweilige bzw. wie heben wir es gegen den Gegenstand (oder den Gegenstandskomplex) ab? Das Jeweilige, hieß es, ist das, was gerade Sache ist. Allein durch die Substitution des Ausdrucks ›Gegenstand‹ bzw. ›Objekt‹ durch den der Sache ist freilich noch nichts gewonnen. Wir müssen die Sachen darüber hinaus beschreibend von den Gegenständen abheben und beginnen mit einem grammatikalischen Hinweis: Wir können sagen: ›Die Sache (ist die), dass …‹ aber nicht: ›Der Gegenstand (ist der), dass …‹ und noch weniger: ›Das Objekt (ist dasjenige), dass …‹. Gegenstände sind Designatoren von Namen und wir identifizieren sie durch Nennung ihres jeweiligen Namens. Gegenstände sind z. B. Tisch, Stuhl, Lampe; wir ergänzen die Nennung ihres Namens deiktisch, indem wir im Sprechen über einzelne Gegenstände von dieser Lampe hier, jenem Stuhl dort etc. sprechen. Weiter nennen wir ›Gegenstände‹ in der Normalsprache zunächst nur derlei Dinge, die wir handhaben, d. h. deren Abmessungen relativ zu denen unseres Leibs es uns erlauben, sie in leiblicher Bewegtheit zu bewegen: Den Stift über das Papier führend, das Blatt Papier wendend oder zurechtlegend, den Stuhl verrückend etc. handhaben wir diese Gegenstände. Wenn z. B. an einem Gerät ein zum Schutz gegen zufälliges Betätigen versenkter Resetknopf zu drücken ist, fragen wir jemanden nach ›einem spitzen Gegenstand‹, um uns zu behelfen. Schon ein Kraftfahrzeug würden wir nicht mehr in diesem Sinne einen Gegenstand nennen, erst recht nicht ein Gebäude oder ein Grundstück, die aber zum Beispiel Gegenstand eines Kaufvertrags sein können. Bisweilen ist sogar jemand Gegenstand von jemand anderes Liebe oder Bewunderung. Vollends kann quasi alles Gegenstand einer Aussage, Untersuchung oder Abhandlung sein. Darin liegt dann allerdings schon eine gewisse Spannung, denn schnell wird zum strittigen Punkt, was noch zum Gegenstand einer Abhandlung gehört und was nicht, was noch Teil seiner ist, was nicht mehr und also einen Exkurs oder eine Abschweifung von ihm darstellt. Dieser Streit kann freilich auch hinsichtlich des Handhabbaren entstehen, insofern denkbar ist, dass wir uns täuschen und urteilen, etwas, das sich dann als Teil des einen Gegenstands herausstellt, sei Teil eines anderen. Es deutet sich 179 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz und Prozessualität: Zeit
aber in der Rede vom Gegenstand einer Abhandlung eine Universalisierung des Gegenstandsbegriffs an, die der philosophische Sprachgebrauch vollendet, indem er sich berechtigt fühlt, alles und jedes Gegenwärtige überhaupt als eine Art Gegenstand aufzufassen. So weitet man aber nur den – als Ausdruck für die von uns zu handhabenden Dinge tauglichen – normalsprachlichen Begriff des Gegenstands in einer Weise aus, dass man ihn zum Paradigma des Gegenwärtigen überhaupt erklärt; und dazu taugt er nicht. Die Philosophie hat den Begriff des Gegenstands formalisiert zu einem Ausdruck für jedwedes Gegenüber. Man spricht dann etwa von ›mentalen‹, ›idealen‹ oder ›epistemischen‹ Objekten, von ›Denk-‹ oder ›Begriffsgegenständen‹, die man in Gegensatz setzt zu denen, die wir über die verschiedenen Sinnesmodalitäten erfahren und die man in Abhebung gegen die Konkretion des Sinnfälligen als ›abstrakte Objekte‹ fasst. Im Rahmen einer phänomenalen Ontologie meldet sich Unbehagen an diesem Vorgehen. ›Gegenstand‹ oder ›Objekt‹ sind phänomenal kein angemessener Ausdruck für das Gegenwärtige überhaupt: Dieses hat als solches nicht den finiten und gegen das Benachbarte abgegrenzten Charakter der paradigmatischen Gegenstände. Die Lampe steht auf dem Tisch, die Umrisse ihres Fußes markieren die Linie, wo sie, die Aufliegende, beginnt und der Tisch, die Auflage, endet. Auch der Gegenstand eines Vertrags ist dergestalt fest umrissen. Wenn man vom Gegenstand einer Untersuchung oder Abhandlung spricht, suggeriert man zumindest eine solche Wohlumrissenheit, die freilich nur Schein sein mag. Das Gegenwärtige als solches jedoch ist phänomenal kein derart finites und wohlbegrenztes numerisches Einzelnes. Da es uns um Treue zum Phänomenalen zu tun ist, wenden wir, frei nach Wittgenstein, gegen denjenigen, der vom Gegenwärtigen überhaupt als Gegenstand spricht, ein, er müsse seine Rede einschränken auf bestimmtes Gegenwärtiges von der Art von Tisch, Stuhl, Lampe. 110 Der Gegenstand ist das numerisch einzelne Bestandsstück, eine finite Partikel des Gesamtbestands, der eine Person intentionale Inexistenz und sprachlichen Ausdruck verleiht, indem sie sich von ihr affizieren lässt und sie vernimmt; phänomenal hat das Gegenwärtige als solches durchaus nicht den Charakter des Finiten und Abgegrenzten. Es kann nicht durch deiktisch unterstützte Nennung eines Namens identifiziert werden, sondern nur durch eine Beschreibung. Sache ist das sich 110
Ich variiere Ziffer 3 der ›Philosophischen Untersuchungen‹ (vgl. 239).
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je so gestaltende Jeweilige. Das Sich-so-Gestalten fassen wir nicht durch bloße Namensnennung, sondern propositional, d. h. indem wir das So der Sache beschreiben. Die phänomenal begriffene Gegenwart ist nicht die Gesamtheit der zu einem Zeitpunkt vernommenen Bestandsstücke, sondern das wesentlich diachrone Sich-so-Gestalten des Jeweiligen in je-dieser Situation. Dieses So erfahren wir als unzählig, d. h. nicht als finite Summe einzelner und nebeneinander her bestehender Aspekte: Das So ist nicht die Summe von Aspekten zu einem Zeitpunkt und deshalb nur holistisch zu beschreiben als offener Verlauf eines Sich-so-Gestaltens. Während ich hier sitze und schreibe, sind Stuhl, Tisch und Lampe phänomenal nicht da als drei diskrete Einheiten, die abzählbar nebeneinander her bestehen: Die Lampe gestaltet sich in dem Licht, das sie wirft, während ich hier sitze und schreibe; der Tisch gestaltet sich, indem er meine ihm aufliegenden Unterarme stützt, so wie die Lehne des Stuhls den Rücken. Qua Jeweiliges sind Tisch und Lampe mehr als z. B. der aus Birne, Schirm, Fuß etc. zusammengesetzte Gegenstand der Lampe oder der aus vier Füßen und einer Platte zusammengesetzte Tisch: Qua Jeweiliges ist jetzt die Sache die, dass der Tisch meine Unterarme stützt, die Lampe ihr Licht auf das Papier wirft, das seinerseits auf dem Tisch liegt und noch leer oder beschrieben ist. An den Sachen lassen sich Gegenstände aussondern: An der Sache, dass die Lampe mir leuchtet, während ich schreibe, lassen sich z. B. die Lampe, der Stift, ich als der Schreibende, deskriptiv abheben. Das, was wir als Gegenstand z. B. von den Personen abheben, ist das handhabbare Bestandsstück, diese Lampe hier vor mir, dieser Stuhl auf dem ich sitze, die ich beide, auf sie zeigend, individuieren könnte unter allen Bestandsstücken der Welt, da es scharf umrissen ist vom Restbestand, ein logisches Atom. Die Sache dagegen – selbst diese einfache Sache, dass die Lampe mir brennt, ist dagegen so weit, wie sie in meinem Durchlaufen ihrer wird. Die Sachen sind offen, non-finit, sie sind so weit, wie ich sie diskursiv mache. Was zur Sache, dass die Lampe mir leuchtet, gehört, das kommt allein darauf an, wie weit ich in sie vordringe, wie weit ich sie im Verhalten verfolge. Und an welchem Punkt ich im Verfolg ihrer zu einer anderen Sache übergehe, wo die Grenze zwischen Sache und Sache verläuft, das ist niemals derart präzise bestimmt wie die Grenze zweier Gegenstände. Das Sich-so-Gestalten je-dieser Sache zerfällt nicht in einen Gegenstand und das Ereignis seines Sich-so-Gestaltens (die leuchtende Lampe nicht in den Gegenstand der Lampe und das Ereignis ihres 181 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Leuchtens). Sie sind eins. Nur im Rahmen der quantitativen Ontologie, wo wir das Ganze nur summativ (das totum nur als compositum) denken können, zerbrechen wir die ursprüngliche Ganzheit der Sache in die zwei Komponenten des Gegenstands und des Ereignisses. Aus dem Zusammenhang der Sache gesondert sind Tisch, Lampe, Brennen der Lampe etc. Bruchstücke, Fragmente des ursprünglichen Ganzen der Situation, dass ich hier sitze und schreibe, während die Lampe mir leuchtet. Gegenstände (das Handhabbare) sind phänomenal Derivate der Situation: Sie ist, wiewohl das Komplexere, ontologisch ursprünglicher als diese einfachen Gegenstände. Wenn wir nun beginnen, die Situation aus den Gegenständen als ihren vermeintlichen Elementen aufzubauen, wenn wir also sagen: ›Es gibt Personen, denen Bestehendes entgegensteht, d. h. die relativ zu ihm Subjekte sind und es relativ zu ihnen Objekt‹, dann sprechen wir eine Sprache über das Seiende, in der dieses so entborgen ist, dass dabei die Situation, wir selbst als Situierte verborgen bleiben: ›Das Aufgehen, dem SichVerbergen schenkt’s die Gunst.‹ – indem das Seiende uns ontologisch aufgeht als zu einem Zeitpunkt Bestehendes, verbirgt sich uns die jeeigene Situiertheit. Das Wechselspiel von Ent- und Verbergung beginnt aber niemals erst in den Worten, so als liege zunächst das Seiende schlicht vor als das, was es ist, und werde dann erst durch die Artikulation mehrdeutig: Als Sich-je-so-Gestaltendes ist das Seiende dasjenige, was mir in seiner Entborgenheit auch verborgen bleibt. Die Gegenwart des Jeweiligen bedeutet niemals dessen vollkommene Transparenz: Jedes So des Sich-Gestaltens ist gleichbedeutend mit dem Nicht anderer So; jedes So des Sich-gestaltens bleibt mehrdeutig, d. h. offen für verschiedene, auch widersprüchliche Explikationen. Sache ist – um zu unserem Beispiel zurückzukehren – in der Situation, dass ich hier sitze und schreibe, gar nicht primär Lampe, Stuhl oder Tisch: Sache ist, was ich artikuliere, indem es über meine Finger auf das Papier oder den Bildschirm fließt. Der Prozess des Schreibens selbst hält das Sich-so-Gestalten dessen fest, das gerade Sache, Thema des Schreibens ist. Das Schreiben bannt das So des Jeweiligen in die Gestalt der geschriebenen Worte, in den Text. Das Schreiben dokumentiert, dass sich mir das, worüber ich je schreibe, so und nicht anders gestaltet. Was uns, nachdem und evtl. noch lange nachdem das Schreiben zu Ende gekommen ist, als das Artefakt eines Textes entgegentritt, entsteht in der festhaltenden Bewegung der Artikulation. Merleau-Ponty schreibt in der (und über die) Phänomenologie der Wahrnehmung: 182 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Dieses angefangene Buch ist nicht irgendein Verbund von Vorstellungen, es ist für mich eine offene Situation, die ich auf keine komplexe Formel brächte und in der ich blind meinen Weg suche, bis sich mir, durch ein Wunder, Gedanken und Worte von selbst fügen (427). 111
Die Gedanken und Worte fügen sich zu einem Text. Das heißt doch: Die Sache des Textes gestaltet sich in Worten, weil ich in der Situation bin, an ihm zu schreiben. Der dokumentierten Gestalt dieses Prozesses, dem fertigen Text, sehen wir diese Genesis nicht an, wir nehmen ihn etwa als einen überkommenen Kulturgegenstand, wobei er doch ursprünglich die Bewegung der Artikulation ist, in der er entsteht. ›Offen‹ nennt Merleau-Ponty die Situation des Schreibens deshalb zu Recht, weil die in ihr artikulierte Sache offen ist, d. h. nicht finit, sondern in Fortentwicklung, Gestaltung und Umgestaltung begriffen. Dass er das Sich-Fügen der Worte einem ›Wunder‹ vergleicht, ist keine lose Redeweise, sondern hebt darauf ab, dass das Wunder Ausdruck der Gnade ist, die dem Menschen gewährt wird, auf die er aber keinen Anspruch hat: So kommen mir beim Schreiben die Worte oder versagen sich. Jetzt geht die Lampe neben mir jäh aus: Ich sehe hin und sehe den Glühdraht der Birne verlöschen. Die Sache ist jetzt die, dass meine Lampe verlischt – mit allen Implikationen, die dies mit sich bringt, etwa dass ich ohne Licht nicht weiterarbeiten kann, dass ich eine andere Lampe brauche, mich um Ersatz kümmern muss, eventuell an diesem anderen Ort weiterarbeiten kann etc. Es greift jetzt, was Heidegger als ›Auffälligkeit, Aufdringlichkeit, Aufsässigkeit‹ dessen beschrieben hat, das nicht mehr tut, wie es soll, das sich als widerspenstig gestaltet, da es seinen Dienst versagt, seine Dienlichkeit nicht mehr erfüllt. 112 Das Verhalten durchläuft jetzt die Implikationen dessen, dass die Glühbirne durchgebrannt ist, d. h. es bewegt sich jetzt in dieser Sache. In eins entfaltet sich diese in der – meinem Durchlaufen ihrer entsprechenden – Bewegung ihres Sich-so-Gestaltens. Es gilt, das, was je Sache ist, in der Kurrenz seines Entgegenwährens zu fassen. Als situativer Prozess ist die Zeit, von der Seite des Jeweiligen her beschrieben, das Verlaufen dessen Sich-so-Gestaltens. Wir müs»Ce livre commencé n’est pas un certain assemblage d’idées, il constitue pour moi une situation ouverte dont je ne saurais donner la formule complexe et où je me débats aveuglément jusqu’à ce que, par miracle, les pensées et les mots s’organisent d’eux-mêmes.« 112 Vgl. oben Kap. 3. 111
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sen, um dieses Verlaufen deskriptiv einzuholen, die Gegenwart in ihrer Diachronie beschreiben, d. h. davon abstehen, sie auf einen Zeitpunkt zu reduzieren, zu dem bei einer Person ein intentionaler Gesamtzustand herrscht, der die Summe der einzelnen zu diesem Zeitpunkt gegebenen Bestandsstücke, der Gegenstände, abbildet. Ebenso dürfen wir nicht im Sinne einer Transzendentalphilosophie ein Subjekt ansetzen, durch das Verbindung in die Gegenstände kommt, so dass diese in Konstellationen, Sachverhalten auftreten, in denen sie zusammenhängen. Die Gegenwart je-dieser Sache ist phänomenal die Zeitspanne, in der sie sich je so gestaltet. Die einzelne Situation ist als thematische Einheit das Sich-so-Gestalten je-dieser Sache; sie ist eine Phase der Gegenwart. Indem die Situierten im Verhalten die Sachen durchlaufen und von ihnen zu anderen übergehen, finden sie sich unausgesetzt neu in je-dieser Situation. Die Sachen sind im Gegensatz zu den finiten Gegenständen offen; das So des Jeweiligen moduliert, während ich es durchlaufe: Da ich es phänomenal nicht als finite Summe von Aspekten zu einem Zeitpunkt erfahre, sondern als diachron offen, ist es nicht summativ als Kompositum von Elementen zu beschreiben. Das So ist nur als Sich-Gestalten des unausgesetzt in Umgestaltung begriffenen Jeweiligen – niemals fait accompli sondern, solange es währt, fait en s’accomplissant. Wir ergänzen jetzt unsere Aussage über die Zeit als situativen Prozess, in dessen Verlauf einbegriffen die Situierten zwischen den Extremen der Existenz bewegt sind, dahingehend, dass wir sagen: Diese Bewegung verbleibt in der Gegenwart. Wir existieren, insofern wir bewegt sind aus der Vergangenheit, deren fernes Extrem die Geburt bildet, in die Zukunft, an deren fernem Ende der Tod steht, dabei in der Gegenwart verbleibend. 113 Phänomenal bildet, was man als die drei Modalitäten der Zeit unterscheidet, das eine Kontinuum je-dieser Situation: In ihr gibt es keine Zeitpunkte, da keinen Stillstand; in ihr gibt es nur die unausgesetzte Bewegung in die Offenheit des Kommenden, die Schleppe des Gewesenen hinter sich. In der Gegenwart verbleiben wir, weil wir im Verhältnis zum Jeweiligen begriffen bleiben. Die Gegenwart ist steter Übergang in ein neues Noch-nicht,
Vgl. Husserl: »Zur lebendig strömenden Gegenwart selbst gehört immerfort ein Gebiet unmittelbar bewusster Vergangenheit, bewusst im unmittelbaren Nachklang der soeben versunkenen Wahrnehmung; ebenso ein Gebiet der unmittelbaren Zukunft, der als soeben kommend bewussten, der das strömende Wahrnehmen sozusagen zueilt (1959, 149; Sperrungen entfernt – JB).«
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jede Sache, die sich je so gestaltet, bleibt dabei unfertig, d. h. offen für Umgestaltung, für Modulationen ihres So. Und als transitus in das Noch-nicht, lässt die Gegenwart stetig ein Nicht-mehr hinter sich: Sie ist die unausgesetzte Genese und Re-Genese des So. 2)
Die Umwart
Das Sich-so-Gestalten des Jeweiligen vollzieht sich phänomenal anfangslos: Was je Sache ist, ist immer schon in Bildung und Umbildung seines So begriffen. Genauso anfangslos vollzieht sich das zweite Moment der Zwiefalt, das Verhalten: Ich bin immer schon begriffen im Mich-Verhalten-zu … In dem phänomenalen Charakter der Anfangslosigkeit von Verhalten und Sich-Gestalten manifestiert sich der situative Prozess: Einbegriffen in ihn bin ich immer schon in je-dieser Situation, sobald im Verhalten zu ihm das Jeweilige sich je so gestaltet. Einbegriffen in ihn bin ich bewegt zwischen den zwei fernen Extremen der Existenz. Im Sich-Verhalten des Situierten, im korrelativen Sich-Gestalten des Jeweiligen manifestiert sich der situative Prozess. Er begreift sowohl den Situierten als auch das ihm je Entgegenwährende in seinen Verlauf ein; er manifestiert sich an Jeweiligem und Situiertem, indem er jenes je so her-vor-bringt und es wieder hin-weg-nimmt, was in eins ein Bewegen des Situiertem zu je-diesem Verhalten ist. Dergestalt ist der Situierte diskursiv und transitiv bewegt durch die Sachen. Situierte und Sachen weisen, je auf ihre Weise, die Situation an sich auf. Allerdings bedingt die Perspektive der quantitativen Ontologie (der Blick von Nirgendwo) eine Entstellung von Situierten und Sachen zu Personen und Gegenständen (primären Bestandsstücken) und Ereignissen (sekundären Bestandsstücken), die den Wandel der Eigenschaften jener ausmachen. Daher bedarf es der alternativen Ontologie der Phänomenalität: Sie setzt Situierte und Sachen in ihr Recht. In der Umwart des situativen Prozesses währt das je Entgegenwährende entgegen. Die Umwart manifestiert sich in der Anfangslosigkeit der Gegenwart: darin, dass das Jeweilige immer schon entgegenwährt, d. h. ich immer schon begriffen bin im Verhältnis zu ihm – jetzt, da ich dies schreibe, je jetzt, da das Jeweilige sich je so gestaltet. Umwart ist deshalb die Seinsart des einbegreifenden situativen Prozesses, weil dieser sich nicht vor mir abspielt, kein Gegenüber ist wie das Jeweilige, sondern sein Verlaufen meine eigene diskursivtransitive Bewegtheit durch das Jeweilige. Er ist absolut, weil ich ihn 185 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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nie als angestoßen, initiiert erfahre, sondern nur als schon während. Das zur Situiertheit gehörige In-sein markiert dieses Verhältnis des Situierten zum situativen Prozess: Sobald der Situierte, auf sich selbst zurückkommend, seine eigene Situiertheit zu Worten kommen lässt, hat der situative Prozess schon begonnen und währt weiter, d. h. ist er um den Situierten. Sobald ich mich in dieser Situation finde, hat sie begonnen und verläuft: Jede Phase des situativen Prozesses ist ebenso um mich wie er als Ganzer immer schon um mich war. Der situative Prozess hat begonnen und währt weiter: Deshalb gehört zu je-dieser Situation (jeder Phase seiner) immer ein Horizont von kommenden und gewesenen Situationen (voraufgehenden und folgenden Phasen) – keine Situation ist phänomenal die erste und keine die letzte. Darin liegt die horizontale Tiefe der Gegenwart. Diese ist nach beiden Richtungen offen: Aus der Vergangenheit her bin ich, im Zwischen von Geburt und Tod verbleibend, bewegt in die Zukunft. Die drei Modalitäten der Zeit bilden phänomenal ein prozessuales Kontinuum. Situiert verbleiben wir in der durch und durch diachron verfassten Gegenwart, in der Bewegung von einem fernen Extrem der Existenz her zum anderen hin. Die Gegenwart ist das Entgegenwähren des Jeweiligen. Das Jeweilige ist, was in der un-zähligen Mannigfaltigkeit dessen, was je Sache war und sein wird, individuiert ist durch das So, das es jetzt gerade darbietet, indem es sich gestaltet. Primär gegenwärtig sind die Situierten: Gegenwart gibt es nur relativ zu ihnen. 114 Aber sie wirken die Gegenwart nicht, sie finden sich, sobald sie sich reflexiv sich selbst zuwenden, immer schon dem Entgegenwähren des Jeweiligen gegenüber. In der Anfangslosigkeit des Entgegenwährens manifestiert sich das Umwähren: Das Währen jenes Prozesses, der uns immer schon inmitten der Mannigfaltigkeit hält, die er entfaltet, indem er sich neu und neu in sie auffaltet, und der uns durch diese Mannigfaltigkeit trägt. Im Währen dieses Prozess beschreibt jeder von uns seine existenziale Trajektorie; er vollzieht sich als neu-und-neues Auffalten der Mannigfaltigkeit all dessen, was je entgegenwährt und zugunsten von neuem Entgegenwährenden vergeht. Dieses Auffalten der Mannigfaltigkeit ist ein Her-vor-Bringen und Hin-weg-Nehmen des sich je so Gestaltenden. Daher ist das So des Jeweiligen flüchtig und das artikulierende BehalDie Sachen zu zählen, zu denen ich mich verhalten habe, verhalte und verhalten werde, das vermöchte nur eine Art laplacescher Dämon – der selbst nichts anderes ist als eine Variation über das Thema des Blicks von Nirgendwo.
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ten das dokumentierende Festhalten eines Flüchtigen. 115 In der Umwart des situativen Prozesses faltet neu und neu das So des Jeweiligen sich auf. Der Fluss-Charakter des situativen Prozesses liegt erstens in seiner Kontinuität, Binnenunbegrenztheit, und zweitens in unserer Immersion in ihm. Wir dürfen uns im Bild des Flusses also keinen Fluss vorstellen, vor dem wir stehen, dem wir in seinem Strömen zusehen; es geht um ein Strömen, das uns selbst trägt. Wir erfahren es – unser In-sein im situativen Prozess – als unausgesetztes Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen, dem dessen Sich-jeso-Gestalten korreliert. Das Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen ist keine passio, da nicht durch die actio etwelchen agens verursacht: Ich erleide mein Verhalten nicht passiv. Umgekehrt ist das Äußerste, das ich von mir selbst phänomenal sagen kann: Ich kann nicht anders, als mich unausgesetzt zu verhalten zu … Deshalb bin ich immer schon in der Welt, d. h. bei dem, was je Sache ist. Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Verhalten selbst initiierte, dass ich mich durch irgendeine Art von Aktivität selbst in die Welt brächte. Dazu gehörte wohl, dass ich die entsprechende actio auch nicht ausführen könnte, mich jenseits der Welt in der Schwebe halten könnte, ohne in sie einzutreten. 116 Phänomenal fasse ich mich selbst niemals bar meiner Bezogenheit auf das Jeweilige. Und ich komme deshalb nicht dergestalt hinter mich selbst als schon begriffen im Verhalten zu … zurück, um mich dort als in sich ruhendes, den Weltbezug initiierendes agens zu fassen, weil ich mich selbst nie außerhalb je-dieser Situation, d. h. außerhalb des Verhältnisses konzipieren kann, wenn meine Konzeption meiner selbst der Erfahrung, wie es ist, ich selbst zu sein, die Treue halten will. Ich vermag die Diastase zwischen mir (qua Sich-Verhaltendem) und mir (qua bei meinem Verhalten Wohnender) nicht zu schließen durch Rückführung des Verhaltens auf mich als seine es aktiv wirkende Ursache. Deshalb muss ich sagen, ich werde zu meinem Verhalten bewegt, in einem Bewegtwerden, das keine passio gegenüber der actio irgendeines agens ist, sondern ein Mitgenommenwerden vom Lauf der Zeit selbst, dessen phänomenale Gestalt der Flüchtig ist gerade das, was zu seiner Dauer eines solchen Festhaltens bedarf, was ohne dieses schlicht vergehen würde. 116 Selbst im traumlosen Schlafen reißt mich ein hinreichend lautes Geräusch in meiner Nähe aus meiner scheinbaren Bezugslosigkeit zur Welt: Auch dieses ist keine vollständige Bezugslosigkeit, meine Verwobenheit mit der Welt ist auch in solchen Situationen nicht entflochten. 115
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Fluss des ständig sich modifizierenden Verhaltens-zu … und des korrelativen Sich-so-Gestaltens ist. Der situative Prozess hält mich immer schon in der Welt: Er ist der Fluss, in dessen Strömen ich auf das Jeweilige zu existiere, indem ich es durchlaufe und übergehe zu Neuem, so dass ich unausgesetzt Jeweiliges hinter mir lasse. Dieser Fluss, in dem phänomenal alles Seiende ist, ist nicht der im Bestand der Welt als Wandel des Bestehenden verzeichenbare kausale Nexus. Am Leitfaden der Kausalität kommt der situative Prozess überhaupt nicht in den Blick: Das Verhältnis zur eigenen Situation ist nicht nach dem Beispiel des Verhältnisses zu einem situativ her-vor-kommenden Jeweiligen zu denken. Nur relativ zu einem solchen kann ich agens und patiens sein und umgekehrt nur ein solches mir gegenüber patiens und agens. Der situative Prozess ist umwärtig. Er ist das eine, das die ganze Mannigfaltigkeit der Phänomenalität ist, da er sie in Her-vor-Bringen und Hin-weg-Nehmen des Jeweiligen neu und neu auffaltet. Das In-sein, das sich hier nach und nach zu artikulieren versucht, ist auch das Ineinander von Situiertem und Jeweiligem, das Ineinander von uns und den Sachen: Ich bin, solange ich mich selbst als existierend beschreiben kann, immer schon in den Sachen bewegt; und immer schon währen sie umgekehrt mir in meinem Verhalten zu ihnen entgegen. Das Verhältnis bedarf keiner Initiierung – weder durch mich, noch durch jemand anderen oder etwas anderes als mich: Es währt immer schon. Es ist im Währen begriffen, solange ich existiere. Es ist der situative Prozess, in den einbegriffen Situierter und Sache so ursprünglich beieinander sind, dass es weder ohne die Sachen die Situierten, noch ohne Situierte die Sachen gibt. Beide sind, als einbegriffen in den einen situativen Prozess, untrennbar ineinander verschlungen.
Möglichkeit Heidegger deutet die Tragweite des Möglichkeitsbegriffs in Sein und Zeit an, wenn er sagt: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit (38).« In ihrer ganzen Tragweite entbreitet erscheint die Möglichkeit dann als das ontologische Charakteristikum des Daseins als solchem: »Die Möglichkeit […] ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins (143 f.).« Allerdings ist er m. E. eine volle Ausformulierung jenes eminenten ontologischen Ranges der Möglichkeit schuldig geblieben. Wir knüpfen deshalb an 188 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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seine Ausführungen an und fragen unserer Methode gemäß nach der Phänomenalität der Möglichkeit. Wir unterscheiden sie dabei zunächst von Option und Denkbarkeit. Optionen haben wir phänomenal überall da, wo das So einer Sache mehrdeutig bleibt und deshalb die Frage entsteht, wie diese aufzufassen, zu nehmen sei, was angesichts ihrer zu tun sei. Es liegen dann bestimmte Optionen vor, in eine derer das Verhalten sich wirft oder zwischen denen es zaudernd schwankt. 117 Optionen sind verhaltensimmanent: Nur im Verhalten zu den Sachen gibt es Optionen des Umgangs mit ihnen. Die Denkbarkeit steht als praktische Denkbarkeit in engem Zusammenhang mit der Option: Insofern es denkbar ist, dass es sich mit dem Jeweiligen auf diese oder jene Weise verhält (insofern dieses also mehrdeutig bleibt), tun sich verschiedene Optionen des Umgangs mit ihr auf. Die Mehrdeutigkeit der Sachen ist die praktische Denkbarkeit, dass es sich mit einem Jeweiligen auf diese oder jene Weise verhalten könnte. Die theoretische Denkbarkeit ist die logische Modalität der Möglichkeit, die als solche den Modalitäten der Wirklichkeit und der Notwendigkeit gegenübersteht. Als diese Modalität steht die Möglichkeit durchaus nicht unbedingt höher als die Wirklichkeit. Sie steht sogar in dem Sinne explizit niedriger, dass sie deren notwendige aber noch nicht hinreichende Bedingung ist (alles Wirkliche ist eo ipso auch möglich, umgekehrt aber nicht alles, was möglich ist, wirklich). Das modallogisch Mögliche ist das, was in sich widerspruchsfrei gedacht werden kann: »Was denkbar ist, ist auch möglich«, sagt Wittgenstein in der ›Logisch-philosophischen Abhandlung‹ (17 [3.02]); ›denkbar‹ aber ist ›das Logische‹ (vgl. ebd. [3.03]). Die »logische Form« ist deshalb die »Form der Wirklichkeit (16 [2.18])«, weil »etwas Logisches nicht nur-möglich sein [kann]. Die Logik handelt von jeder Möglichkeit und alle Möglichkeiten sind ihre Tatsachen (11 [2.0121])« und die Welt die Gesamtheit »der Tatsachen im logischen Raum (ebd. [1.13])«. »Das einzelne ist unwichtig, aber die Möglichkeit des Einzelnen gibt uns jedes Mal einen Aufschluss über das Wesen der Welt (24)«, lautet der bereits zur Hälfte zitierte Satz 3.3421 der LPA, in dem unter ›Möglichkeit‹ die theoretische Denkbarkeit intendiert ist: »Die Logik handelt von allen Möglichkeiten (11 [2.0121])«, d. h. von allem, was denkbar ist und deshalb den logischen Raum mit ausmacht. In diesem Sinne fallen dann die Grenzen der Logik mit den Grenzen der Welt zusammen (vgl. 67 [5.61]). 117
Vgl. oben (Kap. 1) zur situativen Hemmung.
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Die praktische Denkbarkeit betrifft im Unterschied zur theoretischen gerade die – nach Wittgenstein philosophisch irrelevante – Einzelnheit je-dieser Sache: Es möchte sich mit ihr so oder so verhalten, entsprechend kann ich mich so oder so verhalten, entsprechend habe ich verschiedene Optionen des Verhaltens zu ihr. Phänomenal ist die Möglichkeit ein anderes als Option und Denkbarkeit. Sie ist die Weise, auf die je-dieses Verhalten zum Jeweiligen verläuft. Dass ich mich in dieser Situation so und nicht anders zu dieser Sache verhalte, dass sich in eins damit dieses Jeweilige so und nicht anders gestaltet, ist eine Möglichkeit meiner. Diese Möglichkeit liegt nicht vor wie die Option, sie ist nicht das denkbare Bestehen eines mit der logischen Form konformen Bestandsstücks, sie ist die Bewegung des Sich-so-Gestaltens des Jeweiligen im Verhalten zu ihm – und über diese Bewegung hinaus: nichts. Die Möglichkeit liegt nicht in einem gedachten logischen Raum vor, sie liegt nicht zur Aktualisierung bereit, sondern ist selbst nichts als die Bewegung ihrer Aktualität. Möglichkeit ist deshalb, wie zitiert ›die ursprünglichste letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins‹, weil das Dasein »solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt (Heidegger 1979, 179)« – deshalb, weil Existieren eine Bewegung ist, die sich manifestiert in allen Weisen, auf die das Dasein je ist. Aus diesem Grunde sind »die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere … nicht vorhandene Eigenschaften eines … vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das (ebd., 42).« Ich bin in jeder Phase meiner Existenz nur die Möglichkeit meiner, die sich als mein Verhalten in je-dieser Situation vollzieht. Der Situierte ist in je-dieser Situation je-diese Möglichkeit seiner selbst (und nichts anderes als diese Möglichkeit), die sich vollzieht als Zwiefalt von Sich-Verhalten und Sich-so-Gestalten des Jeweiligen. Die Situierten haben also ihre Möglichkeiten nicht, so wie sie bisweilen Optionen haben: Sie sind in je dieser Situation als die Sich-so-Verhaltenden diese Möglichkeit ihrer. Es hat sich in je-dieser Situation von allen denkbaren Wie des Sich-Verhaltens und zugehörigen Sich-Gestaltens immer schon dieses So abgeschieden, das jetzt aktual ist. Nur dieses So ist die Möglichkeit in ihrer Aktualität als Bewegung. Denkbarkeit und Option bestehen ihrer Aktualität vorauf – niemals die Möglichkeit. Die Möglichkeit ist als solche nur im Vollzug ihrer Aktualität. Die aktuale Möglichkeit, die eine spontane situative Bildung ist, habe ich nicht, ich bin sie, indem ich mich so zum Jeweiligen verhalte. So manifestiert sich darin, dass ich jetzt nichts als diese Möglichkeit mei190 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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ner bin, die Situation: Ich erfahre meine Einbegriffenheit in den situativen Prozess darin, dass ich mich nie anders finde denn im Verlauf je-dieser Möglichkeit meiner und dass diese Möglichkeiten über die Bewegung ihrer Aktualität hinaus nichts sind. Ich existiere immer schon im Verlauf dieser Möglichkeit meiner. Ich vermag das Verlaufen der Möglichkeit nicht auf einen Anfang und Ursprung zurückzuführen: Ebenso wenig, wie ich die Diastase vergröbern darf zu einer Differenz in Analogie zur Differenz von mir und dir, darf ich sie verschwinden lassen in der phänomenal niemals positiv auszuweisenden Einzahl eines ersten Prinzips. Das Prinzip – soweit wir überhaupt so sagen dürfen – ist das Verhältnis; damit ist nicht nur die Vielzahl irreduzibel, sondern vor allem auch die Un-Zahl des So in je-dieser Situation. Je-diese Möglichkeit ist eine spontane Bildung, insofern sie keine bloße Aktualisierung einer prä-aktualisiert schon bestehenden Möglichkeit ist, sondern über ihre Aktualität hinaus nichts ist. Inwiefern steht also die Möglichkeit phänomenal höher als die Wirklichkeit? Insofern eben als am Dasein keine Eigenschaften festzustellen sind, sondern ausschließlich Möglichkeiten, ihm mögliche Weisen zu sein. Alle Charakteristika, die man zu einem Zeitpunkt an mir abheben mag, setzen ontologisch schon die Stilllegung der Existenz, d. h. die Abstraktion von ihrem Verlaufscharakter, voraus. Allen ›Charaktereigenschaften‹, die zu einem Zeitpunkt vermeintlich wirklich an mir/der Person JB bestehen (wahrheitsgemäß von mir/ihr zu prädizieren sind) und mich dergestalt in der Gesamtheit meiner Wirklichkeit ausmachen, kann ich im selben Atem, in dem ich sie von mir aussage, durch mein Verhalten hohnsprechen: Die Situierten entziehen sich, solange sie existieren, der Feststellung, denn solange bleiben sie die Aktualität ihrer Möglichkeiten. Ich bin in je-dieser Situation niemals dadurch bestimmt, dass ich diese und jene Eigenschaften habe, sondern dadurch, dass ich mich so und nicht anders verhalte: Ich bin in je-dieser Situation nur die Möglichkeit, in die ich mich immer schon geworfen habe. Es ist ohne weiteres denkbar, dass ich jetzt gleich die Frau anspreche, die mir auf der Straße entgegenkommt. Damit ist noch nichts darüber gesagt, ob es mir auch möglich ist. Dass es mir möglich ist, erweist sich dann, wenn ich nicht einfach vorbeigehe. Die situative Hemmung ist unter diesem Gesichtspunkt der mit mir selbst ausgetragene Zwist um die Möglichkeit. Gehemmt zu sein bedeutet, dass sich in eins mit der Möglichkeit eines Verhaltens seine Unmöglichkeit aufgetan hat: Im Zaudern erfahren wir das 191 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Nebeneinander von Möglichkeit und Unmöglichkeit. Zaudernd verharre ich am Rande der Möglichkeit, wie ich am Rande einer Wasserfläche verharre, ohne zu springen: Zaudernd kann ich mich immer noch aus der Möglichkeit zurückziehen, ohne nass geworden zu sein. Deshalb hat der Begriff der Möglichkeit zur Bestimmung des Daseins höheren Wert als der der Wirklichkeit. Heidegger expliziert, da er ›Wirklichkeit‹ in Sein und Zeit nicht terminologisch gebraucht, nicht weiter, was er in der zitierten Passage unter ›Wirklichkeit‹ versteht. Wir interpretieren also frei aber nicht grundlos (wir machen Gebrauch von der Freiheit, die die Offenheit des Wirklichkeitsbegriffs in Sein und Zeit uns lässt), indem wir ›Wirklichkeit‹ verstehen als das von Nirgendwo wahrheitsgemäß konstatierbare Bestehen eines zu einem Zeitpunkt irgendwie beschaffenen Seienden. Diese Beschaffenheit selbst liegt im Bestehen bestimmter am Seienden deskriptiv abhebbarer Eigenschaften. Das so konzipierte Seiende ist eben das Bestandsstück, das die Summe des Gesamtbestands um den Wert eins erhöht. Die quantitative Ontologie fasst die Einzelnheit als pure numerische Singularität der Partikulare auf. Eine Teilmenge der Partikularien machen die in P-Prädikaten beschreibbaren Personen aus. Der phänomenale Begriff der Einzelnheit ist dagegen nicht primär numerisch gedacht: Phänomenal bin ich einzeln in der Weise des alleinmeinigen So-und-nicht-anders-Seins, d. h. dergestalt, dass sich immer schon diese Möglichkeit meiner vollzieht, dass ich immer schon im Vollzug dieser Möglichkeit meiner existiere. Oben wurde Evans zustimmend zitiert mit dem Satz, dass Begriffe (Konzepte) Möglichkeiten des Denkens sind. Das bedeutet: Begrifflich (konzeptuell) gestaltet sich das, was je Sache ist, artikuliert. In den Worten sprechen die Sachen. Damit wir in Worten über die Sachen miteinander sprechen können, dazu müssen die Sachen von sich selbst aus zu uns sprechen, d. h. die artikulierte Gestalt des Wortes annehmen. Dass der Mensch die Rede hat heißt phänomenal: Die Sachen nehmen die artikulierte Gestalt der Worte an. Sie können zu Wort kommen. Das wortemachende Verhalten ist das Sich-so-Artikulieren dessen, wovon je die Rede ist. Die Medialität des Verhaltens bedingt, dass sowohl die Formulierung: ›ich artikuliere diese Sache so‹ als auch die Formulierung: ›diese Sache artikuliert sich so‹ jeweils ihre Berechtigung haben und sich jeweils in ihrem Recht einschränken. Es ist eine Möglichkeit unseres Wortemachens, dass wir in ihm uns selbst Sache werden und dabei unsere eigene Situiertheit verkennen können. Ich kann eine Sprache über mich sprechen, aus der ich 192 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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selbst qua dieser jenige ausgetilgt bin. Darin liegt die Maskierung durch den Personenbegriff: Ihm inhäriert eine Konzeption des Einzelnen als numerisch einzelnes Bestandsstück (partikulares Teil) des Gesamtbestands, das durch seine Eigenschaften erstens in eine Klasse fällt und zweitens innerhalb dieser individuiert ist. Der durch seine Eigenschaften beschriebene Einzelne ist zu jedem Zeitpunkt dadurch bestimmt, dieser numerisch eine zu sein und dabei eine Summe an Eigenschaften aufzuweisen. Die Maskierung des Situierten als personale Partikulare ist eine ontologische Möglichkeit der Situierten selbst. Die Situierten können ihre Diesjenigkeit unterdrücken, indem sie sich selbst als Personen ausdrücken: Ich so wie du – so wie er und sie etc. – sind jeweils eine Person. Wir alle sind zu den verschiedenen Zeitpunkten unseres Bestehens als Person individuiert als die Einzelperson …, indem wir Eigenschaften aufweisen, die uns in ihrer Summe von allen anderen Personen unterscheiden. Diese zweifach summative Bestimmung (synchron summativ als Menge von Eigenschaften zu einem Zeitpunkt und diachron als verschiedene, jeweils einem Zeitpunkt zugeordnete Eigenschaftsmengen) sagt uns in all ihrer numerischen Präzision nichts darüber, wie es ist, selbst zu existieren. Ich existiere, indem sich immer schon je-diese Möglichkeit meiner vollzieht. Anders als die Optionen sind diese Möglichkeiten autoenergetisch, d. h. bedürfen zu ihrer Aktualität nicht meiner Initiative: Sie vollziehen sich immer schon als je-dieses Verhalten zum Jeweiligen und dabei nicht als passio gegenüber der actio eines personalen oder dinglichen Akteurs. Ich selbst existiere als das Sich-Vollziehen dieser Möglichkeiten: Nur insofern, als ich immer schon im Vollzug dieser Möglichkeit meiner begriffen bin, kann ich mich überhaupt zu Optionen und Denkbarkeiten verhalten. Es könnten sich mir bezüglich einer Sache ganz andere Optionen auftun. Ich könnte überhaupt an ganz anderes denken als an das, woran ich gerade faktisch denke: Ich denke aber nun mal an diese Sache, verhalte mich so zu ihr. Sie könnte sich in meinem Denken anders gestalten, aber sie gestaltet sich so. Reflexiv auf mich selbst zurückkommend finde ich mich immer schon im Vollzug je-dieser Möglichkeit meiner – nicht anders als begriffen in der Bewegung ihres Sich-Vollziehens. Ich bin, soweit die reflexive Vertrautheit mit mir selbst Zeugnis davon geben kann, wie es ist, zu existieren, nichts anderes als das unausgesetzte Sich-Vollziehen je-dieser Möglichkeit meiner. Über die Einbegriffenheit in diese Bewegung hinaus bin ich nichts. Ich habe mich deshalb immer schon in diese Option oder Denkbarkeit geworfen oder bin hin 193 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Existenz und Prozessualität: Zeit
und her gerissen zwischen diesen Optionen und (praktischen) Denkbarkeiten, weil meine Seinsweise die Möglichkeit ist. Ich bin in dieser Situation diese Möglichkeit meiner selbst, ich habe sie nicht bloß; ich habe noch weniger ein ›Vermögen‹, über das ich verfüge (wie vermöchte ich phänomenal hinter den sich-vollziehenden Möglichkeiten solch ein Vermögen aufzuweisen?). Optionen habe ich vielleicht verfügbar und disponiere über sie; niemals Möglichkeiten. Der situative Prozess hat mich, den Situierten, immer schon aufgefaltet in die Unzahl meiner sich je jetzt gerade vollziehenden Möglichkeiten: Dergestalt manifestiere ich ihn an mir, weise ich ihn an mir auf. Sooft ich zurückkomme auf mich, bin ich nichts anderes als die sich vollziehende Möglichkeit dieses Verhaltens zum Jeweiligen; letzteres vollzieht sich dabei als das eine Moment der Zwiefalt nur zusammen mit der Möglichkeit dieses Sich-so-Gestaltens. Meine Möglichkeiten sind die un-zähligen Spielarten meines Verhaltens, in dessen Verlaufen ich mich je schon begriffen finde. Der ontologisch eminente Rang der Möglichkeit liegt also darin, dass ›Möglichkeit‹ die diachrone Verfasstheit, die Unrast der Existenz, die zum situierten Sein gehört, beschreibt: Oben wurde das Sein-imVerhältnis als Wohnen, d. h. Sein inmitten des Gewohnten in der vertrauten Welt expliziert. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass zu dieser Vertrautheit die Unvertrautheit gehört, insofern es allem Vertrauten vorbehalten bleibt, in einem neuen So auf mich zuzukommen; nicht nur in irgendwann denkbarerweise eintretenden Situationen, sondern auch und vor allem in dieser Situation, also jetzt, da sich dies Vertraute so gestaltet. Jetzt, da sich diese Möglichkeit meiner vollzieht – sich vollzieht als diachron verfasste Zwiefalt von Verhalten und So des Jeweiligen – ist die Unvertrautheit imminent, bin ich unmittelbar mit ihr konfrontiert. Dass das Dasein Möglichsein ist (wir übersetzen: Dass sich situiertes Existieren vollzieht als diachrone Zwiefalt von Verhalten und Sich-Gestalten) bedeutet, dass existieren auch in dem Sinne ein ex-sistere ist, dass wir existierend hinausstehen aus der Vertrautheit des Gewohnten und hinein in die Unvertrautheit des Neuen. Die Neuheit dessen, das sich in dieser Situation so gestaltet, ist dabei keine radikale Neuheit. Radikale Neuheit wäre das Aufgehen einer Welt bei der Geburt, d. h. im Anfang einer Existenz, radikale Neuheit ist das Eingesetztwerden eines Situierten in den situativen Prozess. Wir sprechen aus der Mitte der Existenz, aus ihrem Verlauf: Solange wir zurückdenken können, verlief die Existenz schon und sie 194 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Zeit
verläuft weiter als gerichtete Bewegtheit auf das Neue hin. Radikale Unvertrautheit läge in der Neuheit einer neuen Welt, die bei der Geburt eines Situierten aufgeht: In der Mitte der Existenz ruht die Unvertrautheit des Neuen auf der schon erworbenen Vertrautheit des Gewohnten auf – und macht, dass die Vertrautheit des Gewohnten stets offen und unabgeschlossen bleibt. Deshalb ist von der Vertrautheit kein Stadium der Vollkommenheit auszusagen.
195 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
Das situierte Miteinander Der methodische Vorrang der ersten Person Singular Wenn wir in diesem Abschnitt den Situierten ausdrücklich ins Zentrum der Untersuchung rücken, wird als erstes die Frage nach dem situierten Miteinander laut, die freilich schon von Anfang an latent im Raum steht, spätestens seit den zwei literarischen Beispielen am Ende des ersten Kapitels, in denen es ja jeweils um Situationen dieses Miteinanders ging. Es herrscht eine Analogie zwischen dem Verhältnis der einzelnen Situierten zueinander und dem der einzelnen Situationen: Es gibt die einzelne Situation nur inmitten anderer Situationen, jede Phase des situativen Prozesses nur unter anderen Phasen, d. h. im Ganzen der Existenz, aus deren Mitte wir als Situierte nur sprechen können. Genauso existiert der einzelne Situierte nur unter anderen, sind wir selbst seit dem fernen Anfang unserer jeweiligen Existenz nur im Miteinander mit den anderen dieser jenige, der wir je selbst sind. Ich bin ich in Abhebung dagegen, dass du (relativ zu mir) du bist. Du sagst ebenso von dir ›ich bin‹, wie ich es von mir sage. Wir meinen damit jeweils dasjenige Seiende, an dem uns die Situation in ihrer ursprünglich prozessualen Gestalt allein abzulesen ist. Sobald du diese Aussage triffst, er oder sie sie trifft, wird in ihr einem anderen Situierten dieser privilegierte methodische Status zugesprochen. Du hebst durch den Gebrauch von ›ich‹ einen anderen Situierten heraus als ich, er oder sie – einen anderen allerdings, der eben genauso wie ich, er oder sie beschreibbar ist als Situierter bzw. Situierte: Darin liegt die Allgemeinheit der hier vorgetragenen Beschreibung von Situation und Situiertheit. Es wurde bereits zu Anfang auf die folgende Asymmetrie hingewiesen: Ich kann anders über meine Situation sprechen als über deine, 196 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
seine oder ihre. Dies kannst ebenso du von dir und überhaupt jeder Situierte von sich selbst sagen. Nur an mir und meinem Verhalten erfahre ich die Situation in ihrer ursprünglich prozessualen Gestalt. Das Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen erfahre ich originär nur an mir selbst. Damit bist du und ist dein Verhalten keineswegs als ontologisch sekundär gegenüber mir bzw. meinem Verhalten abgetan, sondern nur ein methodischer Vorrang meiner behauptet: Deine Situation ist für mich nicht in ursprünglicher Gestalt da, sondern nur in deinem Verhalten, soweit dieses mir zugänglich ist. 118 Konzentriert sich diese Beschreibung aber dergestalt nicht doch über Gebühr auf mich selbst bzw. – da sie doch auf ihre Weise auch allgemein spricht – auf ›den Einzelnen‹ ? Lässt sie das situierte Miteinander, entgegen aller Beteuerung, nicht doch hintan fallen oder marginalisiert es zumindest? Ist die Darstellung damit nicht zumindest tendenziell solipsistisch? Zur Solipsismusproblematik ist vor allem zu sagen, dass es zu trennen gilt zwischen einem wohlverstandenen oder methodischen und einem irrigen oder ontologischen Solipsismus: Ersterer bedeutet nichts anderes, als dass jeder von uns die Phänomenalität nur artikulieren kann im Rückgang auf sich selbst und das je eigene situierte Erfahren. Das eigene Erfahren ist die einzige Ressource der phänomenalen Ontologie, der Rahmen, in dem die Beschreibung verbleiben muss, wenn sie den Phänomenen wirklich die Treue halten will. Der methodische Solipsismus sagt also: Je nur in der Reflexion, d. h. im Zurückkommen auf sich selbst, ist die Phänomenalität, ist die Situation als Phänomen aller Phänomene (als die Umwart, in der das Jeweilige entgegenwährt) zu beschreiben. Nur je aus uns selbst qua situierten Erfahrenden darf unsere Beschreibung schöpfen. Deshalb ist ihr methodischer roter Faden die Frage ›Wie ist es zu?‹ Der ontologische Solipsismus ist eine skeptische Position im Rahmen der quantitativen Ontologie, deren Grundthese ist: Es gibt nur ein Seiendes, von dem gewiss ist, dass es eine Person ist. Es mag sehr wahrscheinlich sein – sagt ein skeptischer Solipsist –, dass es Was dein, sein oder ihr Verhalten angeht, besitzt das Substanz-Akzidens-Schema eine gewisse unmittelbare Evidenz: Du bleibst durch jedes Verhalten (Benehmen), das du an den Tag legst, hindurch der eine und nämliche. Es liegt nahe, dich als agens deines Benehmens aufzufassen. Zur Auslegung des je an sich selbst erfahrenen Verhaltens taugt das Begriffspaar Substanz und Akzidens dagegen nicht: es impliziert einen ontologischen Vorrang jener vor diesem, den ich, was mein eigenes Verhalten angeht, phänomenal nicht beanspruchen kann.
118
197 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
mehr als eine Person gibt, aber sicher ist nur, dass es eine gibt. Es mag im Rahmen der quantitativen Ontologie schwierig sein, den solipsistischen Zweifel auszuräumen; dass es im Rahmen der Phänomenalität – d. h. dem Zeugnis der eigenen Erfahrung nach – keine haltbare These sein kann, es möchte nur einen Situierten geben, soll sich aus den folgenden Beschreibungen des situierten Miteinanders ergeben. Zunächst ist wie gesagt der einzige Vorrang vor den anderen Situierten, den ich beanspruchen kann – den es allerdings entschieden festzuhalten gilt –, eben ein methodischer: Nur an mir selbst erfahre ich die Situation in ihrer ursprünglich prozessualen (umwärtigen) Gestalt. Und nur durch Rekurs auf deine Vertrautheit mit der Situation in ihrer ursprünglichen Gestalt, die du nur an dir gewinnen kannst, so wie jeder sie nur an sich selbst gewinnen kann, ist es dir (ihm, ihr etc.) prinzipiell möglich, nachzuvollziehen, was ich an mir selbst entwickle. Unsere geteilte Vertrautheit mit Situation und Situiertheit stiftet das phänomenologische Wir, innerhalb dessen ich allgemein beschreibbar bin als Situierter – allgemein deshalb, weil du es ebenso bist (und er und sie es ebenfalls sind). Insofern ist mein methodischer Vorrang jeweils meiner: Jeder von uns kann ihn je von sich selbst aussagen. Dieser Vorrang gründet allein darin, dass je-mein InSein in je-meiner Situation diese von allen Situationen, die wir anderen bloß zuschreiben, abhebt: Jeder von uns ist jeweils nur in der Situation, die er oder sie als ›meine‹ anspricht, und erfährt die Situation genuin nur im In-sein in ihr. Deshalb konzipieren wir die Situation nur dann phänomengetreu, wenn wir uns dabei je selbst ausdrücklich als das methodisch privilegierte Seiende verstehen und dieses Verständnis auch in unserem Konzipieren operativ ist. Was ist also unter dem Vorbehalt dieser methodischen Asymmetrie zum anderen und über das Verhältnis zum anderen zu sagen?
Unsere Situation: Die Perspektive der zweiten Person 1)
Die Berührung
Wenn wir uns für den Moment die Terminologie von Sein und Zeit zu eigen machen, können wir sagen: ›Der andere‹ – der faktisch doch immer begegnet als du, er, sie, ihr und sie (Plural) und mit dem bzw. denen zusammen ich ein Wir bilde –, ist unter all dem in der Welt begegnenden Seienden ausgezeichnet durch sein ›Mitsein‹. Was aber 198 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
zeichnet das Mitseiende aus vor Zuhandenem und Vorhandenem zumal? Wir haken – scheinbar weit vor der Analyse des Mitseins – ein im § 12, bei der ersten Explikation des »Seins bei der Welt«: Das Beisammen zweier Vorhandener pflegen wir […] sprachlich bisweilen so auszudrücken: ›Der Tisch steht ›bei‹ der Tür‹, ›der Stuhl ›berührt‹ die Wand.‹ Von einem ›Berühren‹ kann streng genommen nie die Rede sein und zwar nicht deshalb, weil am Ende immer bei genauer Nachprüfung sich ein Zwischenraum zwischen Stuhl und Wand feststellen lassen läßt, sondern weil der Stuhl grundsätzlich nicht, und wäre der Zwischenraum gleich Null, die Wand berühren kann. Voraussetzung dafür wäre, dass die Wand ›für‹ den Stuhl begegnen könnte (55).
Der Stuhl ist nicht bei der Wand, der Hammer nicht beim Nagel (um weiteres in Sein und Zeit paradigmatisches Zeug aufzugreifen): Der Stuhl berührt die Wand nicht, der Hammer nicht den Nagel. Was heißt es aber, den Hammer zu berühren? Wie ist es, ihn zu berühren? Das wissen wir, sofern wir schon einmal einen Hammer in der Hand gehalten und in ihr seine Schwere, die Textur seines Griffs gespürt haben. Wenn wir dies ob unserer eigenen Vertrautheit mit der Welt wissen, wissen wir auch, dass dieses Berühren den Griff des Hammers genauso ursprünglich erschließt, wie etwa das Sehen seiner Maserung: Das So des Hammers liegt nicht allein in dessen visueller Gestalt; es übergreift die Trennung der verschiedenen ›Sinnesmodalitäten‹. Es ist phänomenal ein Jeweiliges, das sich gleichzeitig visuell, taktil und auditiv so gestaltet – jetzt, da der Hammer, den ich mit der Hand führe, den Nagel trifft. ›Ich berühre etwas‹ heißt: Mein Leib empfängt das Sich-so-Gestalten des berührten Jeweiligen in der ursprünglichen Einheit dessen, was man dann in die verschiedenen Weisen der Sinnlichkeit scheidet. ›Mein Leib‹ ist dabei nichts anderes als ich selbst, der ich mich nicht anders finde denn als inkarniert. Ich berühre das Jeweilige, indem mein Leib an es rührt, meine Bewegung zu ihm hin sich im physischen Kontakt mit ihm vollendet. Der Leib ist die inkarnierte Möglichkeit leiblichen Verhaltens. Allerdings ist damit der berührende Situierte noch nicht zureichend abgehoben von einer Person, die zu tx an einer Stelle ihres Körpers in Nulldistanz zu einem Gegenstand gerät, so dass diese Charakterisierung phänomenal noch unzulänglich ist. Wie also ist das Berühren genuin phänomenal zu charakterisieren? Wenn die Sache die ist, dass es ein Bild aufzuhängen gibt, dann bewege ich mich in dieser Sache, indem ich den Hammer halte, ihn in 199 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
der Hand liegen fühle, ihn führe, sein Auftreffen auf den Nagel höre. Meine Handinnenseite berührt dann den Griff des Hammers. In eins berührt dann auch der Griff des Hammers meine Hand. Das von mir Berührte gibt mir meine Berührung zurück. Berühren bedeutet berührt zu werden – zur Berührung gehört die unmittelbare Erwiderung ihrer durch das Berührte: Was ich berühre, das erwidert meine Bewegung hin zu ihm. Es entgegnet mein Berühren seiner. Es berührt auch mich, weil ich es berühre. Die Möglichkeit der Berührung ist auch die Möglichkeit des Berührtwerdens. Deshalb berührt der Hammer niemals den Nagel, wohl aber die Innenseite meiner Hand, wenn er in ihr liegt. Die Berührung ist phänomenal die vom Jeweiligen unmittelbar (instantan) erwiderte Bewegung meines Leibs. Das Berühren des Hammers (genetivus subiectivus) ist dabei gegenüber meinem Berühren seiner abkünftig. Dass der Hammer meine Hand berührt, wenn er in ihr liegt, aber niemals den Nagel, auf dessen Kopf er auftrifft, bedeutet: Mein Leib beleiht erst den Hammer mit seinem Mich-Berühren. So gelangen wir zur ausdrücklichen Formulierung einer Unterscheidung, die in Heideggers Erläuterungen beschlossen liegt, aber von ihm nicht expliziert wird. Dasein, heißt es in Sein und Zeit, ist ›In-der-Welt-sein‹, das Zeug (Zuhandenes) ist dagegen ›innerweltlich‹, d. h. auf andere Weise in der Welt als Dasein. Wir heben jetzt folgenden Aspekt dieses Unterschieds heraus: Das Dasein berührt das Innerweltliche und wird in eins damit von ihm berührt. Ich rühre den Hammer an, berühre ihn (egal ob ich ihn dabei greife oder aber nur mit der Fingerspitze antippe): Dies lässt sich scheinbar adäquat beschreiben als infinitesimale Verringerung des Abstands bis zum physischen Kontakt. In dieser Beschreibung, deren ontologische Filiation augenscheinlich sein dürfte, ist die Berührung tatsächlich nichts anderes als der Nullpunkt des Abstands, der Zeitpunkt des Kontakts, zu dem die Distanz von Hand und Hammer auf den Wert null zusammengeschrumpft ist. Dass das Berühren phänomenal anderes ist – dass zu ihm das Erwidern der Berührung gehört, das wird besonders deutlich an der Berührung des oder der anderen Situierten. Die Zweideutigkeit dieses Genitivs ist dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern Anzeige der Erwiderung, die zur Berührung gehört: mein Berühren deiner ist in eins dein Berühren meiner. Aufbauend hierauf fragen wir – jetzt in loserem Zusammenhang zu Heideggers Überlegungen – nicht nach dem Berühren ›des anderen‹, sondern nach dem Berühren deiner, um auf diesem Wege etwas über das situierte Mitsein, die Ko-existenz der Situierten zu erfahren. 200 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
›Ko-existenz‹ bedeutet zunächst: Es gibt Situationen, die unsere sind, die ich und du jeweils als unsere ansprechen, weil wir beide gemeinsam in ihnen sind. Jetzt, da du da bist, wo zuvor nur ich war, ist meine Situation unsere geworden. Eines gilt es entschieden festzuhalten: Wir erfahren in unserer Situation nicht die neutrale Andersheit des oder eines anderen, sondern du verhältst dich mir gegenüber so. Ko-existieren bedeutet primär nicht drittpersonale Alterität eines oder einer anderen. Sie vollzieht sich in der zweiten Person als deine oder eure Anwesenheit. Hier und jetzt ist nicht primär ein anderer, sondern bist du bzw. seid ihr da. Jetzt, da du hier bist, wo auch ich bin, ist meine Situation unsere geworden. 119 Freilich würde ein detachierter (unserer Situation außen vor bleibender) Beobachter, der unser Miteinander verfolgt, feststellen, dass JB und XY hier unter diesen und jenen Umständen miteinander ›interagieren‹, wobei jeder dieser Personen jeweils eine dem Beobachtenden erkennbare oder aber dunkel bleibende Funktion ausübt (etwa: JB fungiert in dieser Situation als Prüfling, XY als Prüfer). Der Beobachter spricht nicht mehr wie wir in der zweiten Person, sondern in der dritten Person Plural. Diese ist jedoch nicht der primäre Modus des Sprechens über die Ko-Situiertheit: Primär bist da du in unserer Situation. Unsere Situation ist gegenüber meiner dadurch ausgezeichnet, dass sich nicht mehr nur das Jeweilige je so gestaltet, sondern dass darüber hinaus du in ihr begegnest. In unserer Begegnung gewinnt unser beider Verhalten die neue Dimension, ein Verhalten gegenüber dir zu sein. Beide verhalten wir uns jeweils gegenüber dir. Von deiner Warte ist dein Verhalten gegenüber mir: mein Verhalten gegenüber dir; denn schließlich sagst du dein Verhalten von dir als ›meines‹ aus, so wie selbst es von meinem aussage. Unsere Situation ist dabei nicht ein komplexes Aggregat zweier einfacher Situationen. Meine und deine Situation machen nicht mereologisch-summativ die Teile des Kompositums ›unsere Situation‹ aus. Es treten nicht zwei einzelne Situationen zusammen, sondern sowohl meine als auch deine Situation sind umgeschlagen zu unserer. Die Ambiguität dieser Rede von ›unserer‹ Situation ist zu beachten: Wenn ich von unserer Situation spreche, spreche ich in einem Sinne nicht von derselben Situation, von der du sprichst, wenn du von unserer Situation sprichst. Ich rede über die Situation, in der du mir Das gilt auch noch für die Modifikationen unserer Situation, die durch die technischen Möglichkeiten der Telekommunikation entstehen.
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201 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
begegnest, du redest über diejenige, in der ich dir begegne. Diese zwei Situationen sind nicht zwei Elemente eines komplexen Gebildes; sie addieren sich nicht zu unserer Situation. Wenn wir uns begegnen, treten nicht zwei einfache Situationen zu einer komplexeren zusammen, sondern deine und meine Situation schlagen jeweils um zu unserer, die gegenüber beiden völlig neu und aus ihnen nicht ableitbar ist. Im anderen Sinne spreche ich unsere Situation an als die, in der du (und niemand anderes) mir (und niemand anderem) begegnest. Genauso sprichst du sie an als die, in der ich dir begegne. Wir binden uns dergestalt im Reden von unserer Situation einerseits an jeweils dich, behalten uns aber andererseits vor, diese unsere Situation von meiner und deiner zu unterscheiden: Ich kann mich in unserer Situation zurückziehen auf allein-meine (wobei das Phänomen des Rückzugs aus unserer in meine Situation weiterer Explikation bedarf – vgl. dazu unten den nächsten Abschnitt). In unserer Situation ist unser beider So-Verhalten zur Sache in eins ein Verhalten gegenüber dir. Verhalten zur Sache und Verhalten gegenüber dir sind in unserer Situation nicht voneinander zu trennen: Darin liegt die Unableitbarkeit unserer Situation, das unabweisbar Neue an ihr, das sie anderes sein lässt, als eine Summe zweier Situationen, die jeweils ›meine‹ sind (die du und ich jeweils als ›meine‹ ansprechen). Mein Verhalten zum Jeweiligen, darin dieses sich je so gestaltet, ist in unserer Situation in eins ein Sich-so-Verhalten gegenüber dir; dasselbe gilt von deinem Verhalten. Das Ganze unseres jeweiligen Verhaltens in unserer Situation ist nicht zu zerschlagen in die zwei Bestandteile des Verhaltens-zur-Sache und des Verhaltens-gegenüber-dir. Aus dem Ganzen des So in unserer Situation lassen sich phänomenal keine Verhaltenskomponenten voneinander scheiden, denn diese Unterscheidung bringt uns nicht näher an das Ganze des Phänomens heran, sondern führt uns von ihm weg zum summativ-atomistisch verfassten Bestandsstück. Unsere Situation ist die, in der du dich mir gegenüber je so verhältst. In unserer Situation ist das Sich-so-Gestalten des Jeweiligen erweitert um die Dimension, dass du dich dabei auch mir gegenüber je so verhältst und in eins ich mich dir gegenüber je so. Du bist jeweilig nicht nur in der Weise des Sich-so-Gestaltens, sondern indem du dich mir gegenüber je so verhältst: Du begegnest in unserer Situation. Begegnen als du ist die primäre Weise, in der andere Situierte gegenwärtig sind. Du bist dadurch von den Sachen unterschieden, dass mein Verhältnis zu dir eine Wechselseitigkeit aufweist, der das 202 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
Verhältnis zu den Sachen ermangelt: Du verhältst dich mir gegenüber je so, ich erwidere dieses Verhalten mir gegenüber, indem ich mich dir gegenüber so verhalte (es deutet sich hier schon der eben herausgestellte phänomenale Charakter der Berührung an). Das verhaltensmäßige Einander-Erwidern – vorgreifend sei es gesagt – geschieht auch in Worten, bedarf aber ihrer nicht notwendigerweise und ist längst schon im Gange, wenn wir das erste Wort aneinander richten. Unsere Situation ist phänomenal dadurch gekennzeichnet, dass wir uns in ihr zu einer Sache verhalten. Unsere Situation bedeutet Teilen eines Verhaltens zum Jeweiligen. Eines Verhaltens, in das sowohl mein als auch dein Verhalten eingehen, ohne dass es als Summe meines und deines jeweils für sich genommenen Verhaltens zu erklären wäre. Denn ohne die Stimulation meines Verhaltens durch deines, ohne dass du dich jetzt so zur gemeinsamen Sache verhältst (so über sie sprichst) und dich dabei in eins mir gegenüber so verhältst, wäre mein Verhalten nicht dieses, das es in unserer Situation ist. In unserer Situation gehen ich und du ein in gemeinsames Verhalten zu dem ein, was uns jetzt Sache ist. Merleau-Ponty: In der Erfahrung des Gesprächs bildet sich zwischen dem anderen und mir ein gemeinsamer Boden, mein Denken und seines ergeben ein einziges Geflecht, meine Worte sind ebenso wie die meines Gesprächspartners veranlasst durch den Stand der Diskussion und schreiben sich ein in ein gemeinsames Tun, deren Schöpfer keiner von uns beiden ist. […] Einwände meines Gesprächspartners entreißen mir sogar Gedanken, von denen ich nicht wusste, dass ich sie hatte, so dass, wenn ich ihm meine Gedanken borge, er umgekehrt mir zu denken gibt (1976, 412). 120
In unserer Situation ist mein Verhalten zu dem, was uns je Sache ist, in eins ein Verhalten dir gegenüber. Dass ich mich so über das äußere, was uns gerade Sache ist, ist niemals davon ablösbar, dass ich es eben dir gegenüber äußere. Genauso ist dein Verhalten in unserer Situation ein Verhalten mir gegenüber. In unserer Situation spiegelt sich mein Verhalten in deinem: dass du mein Verhalten dir gegenüber so erfährst, dass erfahre ich reluzent aus deinem Verhalten mir gegen»Dans l’expérience du dialogue, il se constitue entre autrui et moi un terrain commun, ma pensée et la sienne ne font qu’un seul tissu, mes propos et ceux de l’interlocuteur sont appelés par l’état de la discussion, ils s’insèrent dans une opération commune dont aucun de nous n’est le créateur. […] L’objection qui me fait l’interlocuteur m’arrache des pensées que je ne savais pas posséder, de sorte que, si je lui prête des pensées, il me fait penser en retour.«
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203 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
über; umgekehrt gilt das Nämliche. In unserer Situation bin ich, sofern mein und dein Verhalten – sich dabei gegenseitig spiegelnd – eine gemeinsame Sache durchlaufen. In der Spiegelung meines Verhaltens in deinem erfahre ich mich als dein Gegenüber: Ich erfahre, dass du mich so erfährst. Genauso erfährst du in meinem Verhalten gegenüber dir die Spiegelung deines Verhaltens mir gegenüber. Dass ich dir dein Verhalten so spiegele, du mir meines so, das macht auf elementarer Ebene unser situiertes Zusammenspiel aus, das deshalb mit einem von Heidegger in einem anderen Kontext und zu anderen Ende geprägten Begriff das Spiegelspiel heißen kann (vgl. 2000, 178 f.). Jenseits und unbesehen aller Rollen, die wir spielen, oder Funktionen, die wir ausüben können, und unabhängig davon, in welcher Konstellation wir uns begegnen, geschieht zwischen uns das Spiegelspiel unseres Verhaltens zu- und gegenüber einander. Unser Einander-Berühren beginnt mit dem Einsatz des Spiegelspiels zwischen dir und mir: Berührung und Erwiderung gehören in ein iteriertes und re-iteriertes Spiegeln, das sich vollzieht, solange wir in unserer Situation sind. Im Vollzug des Spiegelspiels erwidern wir unser Einander-Berühren, weil wir uns berühren: Berührung und Erwiderung bilden die Zwiefalt von Verhalten und Gegenwärtigem, insofern nicht nur ein Jeweiliges gegenwärtig ist, sondern darüber hinaus du gegenwärtig bist (dieser oder diese Ko-situierte gegenwärtig ist). Meine Berührung deiner ist in eins deine Berührung meiner: Von dir berührt zu werden bedeutet, diese Berührung so unmittelbar zu erwidern, dass zwischen beide kein Keil zu treiben ist. Nur im ontologischen Rahmen der Quantität kann die als Wirkung einer Wirkursache gedeutete Berührung ihrer – als Gegenwirkung des diese Wirkung Erleidenden verstandenen – Erwiderung vorgeschaltet werden als Z1: ›A berührt B‹, der das Eintreten von Z2: ›B erwidert diese Berührung‹ determiniert. Berührung und Erwiderung folgen einander nur im Rahmen der quantitativen Ontologie als zwei Ereignisse, d. h. zwei sekundäre Bestandsstücke, die sich an zwei primären Bestandsstücken (Personen) vollziehen, als Verursachung und Erleiden eines physischen Kontakts, der insofern eine Wechselwirkung darstellt, als die den Kontakt verursachende Person selbst den Kontakt der anderen erleidet. In eins berührst du mich und erwidere ich deine Berührung: Deine Berührung meiner manifestiert meine Berührung deiner und umgekehrt: Weil ich dich berühre, berührst du mich. Ich werde von 204 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
dir berührt, indem du dich mir gegenüber so verhältst. Weil du dich mir gegenüber so verhältst, spiegele ich dir dein Verhalten mir gegenüber darin, dass ich mich dir gegenüber so verhalte. Die Manifestation ist demnach – wie oben beschrieben – kein bloßes Aufscheinen des manifestierten einen am oder im manifestierenden anderen, sondern die wechselseitige Durchdrungenheit voneinander zweier Phänomene, aufgrund derer das eine ohne das jeweils andere undenkbar ist: Mein So-Verhalten in dieser unserer Situation ist undenkbar ohne deines und umgekehrt. In solch einem Verhältnis wechselseitiger Durchdrungenheit stehen ich und du in unserer Situation. In unserer Situation bin ich so ursprünglich du relativ zu dir, der du selbst ›ich‹ sagst, wie ich mich selbst erfahre als dieser jenige, der ›ich‹ sagt: Denn Spiegeln bedeutet, den Grad meiner Aufgerührtheit (das Frappiert- oder im Gegenteil das Ungerührtsein) von deinem Verhalten mir gegenüber unmittelbar (in eins damit, dass du mich berührst) sehen zu lassen. Dir gegenüber lasse ich unmittelbar sehen, dass mich dein Verhalten mir gegenüber so berührt, mich in dieser Weise und zu diesem Grade aufrührt. Diese Erwiderung ist selbst wieder eine Berührung deiner, deren Erwiderung wiederum eine Berührung meiner ist. 121 Dies ist gemeint mit der wechselseitigen Durchdrungenheit meiner und deiner in unserer Situation: Mein Verhalten gegenüber dir manifestiert dein Verhalten gegenüber mir und umgekehrt. Unser beider Verhalten gegenüber einander ist dabei nicht in aktive (spontane) und passive (rezeptive) Komponenten zu zerlegen: Dass ich dir in dieser unserer Situation so zuhöre, konzentriert bin oder abgelenkt, offen für das, was du sagst oder aber skeptisch-voreingenommen, ist genauso ein Verhalten dir gegenüber wie mein eigenes Sprechen zu dir: Genauso wie dieses spiegelt es mein So-Berührtsein von deiner Anwesenheit und ist als ein solches Spiegeln wiederum ein Berühren deiner (genetivus objectivus). Darin, dass ich dir in leiblicher Aufgerührtheit erwidere, dass du dich mir gegenüber so verhältst, beginnt unser Einander-Berühren, das sich im Aufeinandertreffen oder Ineinander-Verschlungensein unserer Leiber vollendet. Der Handschlag, die Umarmung zur Begrü-
Ist das ein viziöser Progress ins Unendliche? Zumindest für die Konzeption, meine ich, ist er das nicht, da er sich ja in der Echtzeit unseres situierten Miteinanders vollzieht: So bricht er ab, wenn wir auseinandergehen, wenn unsere jeweiligen Situationen nicht mehr in dem Sinne unsere sind, dass eben wir zwei uns jetzt miteinander zur gemeinsamen Sache verhalten.
121
205 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
ßung – das erste Aufeinandertreffen der Handinnenflächen, das flüchtige oder innige Aneinander-Verharren der Leiber –, kurz das Begrüßungsritual ist in der Situation unseres Aufeinandertreffens nur dann der Anfang unseres Einander-Berührens, wenn dabei die Berührung in dem engen Sinne der vollendeten Berührung genommen wird. Die Berührung im weiten Sinne der einander wider-undwider-gespiegelten leiblichen Aufgerührtheit von deinem Verhalten mir gegenüber hat phänomenal immer schon begonnen, ohne dass jemals zu entscheiden wäre, wer von uns das Spiel initiiert, auf wen von uns es zurückgeht: Dergestalt tritt die oben herausgestellte Anfangslosigkeit des Verhaltens in unserer Situation zutage. Das Spiegelspiel beginnt weder in oder bei mir, noch bei oder in dir, weder hebt es durch mich an noch durch dich; es hat mit unserer Situation immer schon angehoben und wir finden uns in unserer Situation immer schon als in ihm begriffen. Das Immer-schon der Situation zeigt sich vielleicht am drastischsten in der leiblichen Aufgerührtheit, in der wir uns unmittelbar einander je so zeigen. So wie unser Miteinander in der Wortsprache ›nur‹ seine Ausformulierung erfährt, aber immer schon begonnen hat, sobald das erste Wort fällt, hat die Berührung schon begonnen, sobald es zu so etwas wie ›Tuchfühlung‹ kommt. Das unwillkürliche Berührtsein von der Anwesenheit des anderen Situierten ist die einzig denkbare Widerlegung der solipsistischen Skepsis, denn sie erstickt deren schieres Aufkommen im Keim: Damit, dass wir immer schon im Spiegelspiel begriffen sind, sobald du da bist, zeugen wir beide davon, dass die solipsistische Skepsis in der Erfahrung deiner gar nicht aufkommt. Damit, dass ich nicht anders kann, als von dir so berührt zu werden, wenn du da bist, zeuge ich davon, dass ich unser Zusammensein als ein symmetrisches Gegenüber von dir und mir erfahre, das ein anderes als mein Verhalten zu den Sachen ist. Damit habe ich in meinem Verhalten die ontologische Solipsismusthese immer schon widerlegt – lange bevor ich sie aufstelle. Zu jeder Situation gehört, dass eben dies Sache ist, jetzt, da ich zurückkomme auf mich selbst; zu unserer Situation gehört, dass eben du mir begegnet bist und wir in ihr sind – in dieser unserer Situation, die verschieden ist erstens von jeder voraufgehenden oder kommenden Situation, die unsere war oder sein wird, und zweitens von jeder Situation, die zwei andere Situierte von sich als ›unsere‹ aussagen können. Das Gegenstück zu dieser Einzelnheit jeder einzelnen Situation, die immer jeweils diese unter vergangenen und kommenden 206 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
Situationen ist, liegt darin, dass eben ich es bin, dem dies Sache ist oder dem du begegnest. Das Jeweilige bzw. der oder die Begegnende ist mir nur jeweilig bzw. begegnet mir nur im Verlauf meiner Existenz, d. h. in je-dieser Phase des situativen Prozesses. Jede Situation ist nur als Zwiefalt dessen, dass einerseits gerade dies Sache ist, gerade du begegnest und dass andererseits gerade ich es bin, dem in dieser Phase meiner Existenz gerade dies Sache ist, dem gerade du begegnest. Dass das Jeweilige sich so gestaltet, dass du dich mir gegenüber so verhältst, ist einerseits nicht zu trennen von meinem Verhalten zu ihm bzw. gegenüber dir, andererseits nicht zurückzuführen auf es. Mein Verhalten manifestiert ebenso das Jeweilige, wie dieses mein Verhalten manifestiert. Mein Verhalten dir gegenüber spiegelt ebenso dein Verhalten, wie dein Verhalten meines spiegelt. Die Zwiefalt ist das Zusammen des miteinander Verschlungen-, Verwachsen-, Verwobenen, so dass sich keines von beiden vom anderen trennen lässt, ohne beiden Gewalt anzutun: Wir dürfen die Zwiefalt von Verhalten und Jeweiligem bzw. Begegnendem nicht antasten; hinsichtlich ihrer muss unsere Beschreibung Behutsamkeit walten lassen, um phänomengetreu zu bleiben. 2)
Die Wechselrede
In unserer Situation ist mir die gemeinsame Sache ebenso ursprünglich in meinen Worten da, wie sie mir in deinen verlautbarten Worten da ist. 122 Du artikulierst unsere Sache so, auch ich artikuliere sie so. Tritt dann aber das eine So in zwei auseinander? Dass sich hier eine Diskrepanz auftun kann, dass im Diskurs die Phänomene des Widerspruchs, der Kontroverse, des wechselseitigen Unverständnisses auftreten, mag auf den ersten Blick nahelegen, hier könne von zwei divergierenden So – meinem und deinem – gesprochen werden. Ebenfalls können wir uns doch auf die phänomenale Vertrautheit von Fällen berufen, in denen ich es so meine, aber nur so sagen kann, wobei letzteres So dann relativ zu ersterem insofern defizitär ist, als es ihm nicht gerecht wird, ihm nicht adäquat ist. Tun sich in solchen
Ich sehe dir freilich – ohne dass du dazu Worte machen musst – an, dass du so zur gemeinsamen Sache stehst: Schon die Miene, die du machst, weil ich so über unsere Sache spreche, kann mir deine Haltung zu unserer Sache verraten. Wir beschränken uns in diesem Abschnitt auf das Wortemachen, ohne dass dadurch eine Abwertung des Wortlosen intendiert ist.
122
207 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
Fällen also phänomenal Zweiheiten der So auf? Beweist die Denkbarkeit einer Diskrepanz zwischen dem So der Sache und dem So meines Sie-Artikulierens eine Differenz zweier So? Beweist die Diskrepanz zwischen dem So meiner Artikulation unserer Sache und dem So, das sie dir darbietet, die Differenz von meinem und deinem So? Kümmern wir uns zunächst um die erste dieser zwei Diskrepanzen: Die unterstellte Trennung von So-Meinen und So-Artikulieren ist phänomenal nicht haltbar: Wenn ich merke, dass ich dir in unserer Situation nicht zureichend erläutern kann, dass sich mir unsere Sache so gestaltet (nicht etwa deshalb, weil du nicht verstehst, sondern deshalb, weil ich selbst merke, meine Worte versagen angesichts der Sache, weil ich es so meine aber nur so sagen kann), dann merke ich darin, dass mir die Sache selbst noch verborgen bleibt hinsichtlich dessen, worauf an ihr meine Worte zielten und das sich ihnen dabei entzog. Wenn ich etwas an einer Sache nicht in mein Wortemachen über sie einholen kann, dann treten phänomenal nicht zwei So auseinander, sondern dann manifestiert sich darin meine Unvertrautheit mit der Sache, die, wie oben beschrieben, zu jeder Vertrautheit gehört. Darin, dass ich kein Worte finde, die der Sache gerecht würden, offenbart sich die Verborgenheit der Sache selbst: Es offenbart die Sache etwas von der Unvertrautheit, die sich in jeder Vertrautheit verbirgt. Wenn ich es so meine, aber nur so sagen kann, dann scheint darin die Unvertrautheit (Verborgenheit) der gemeinten Sache auf. Weil die Sachen sich gestalten, halten sie an sich: Deshalb bleibt ihr So mehrdeutig, solange das Erfahren aus ihm schöpft. Was ist zur zweiten denkbaren Diskrepanz zu sagen? In unserer Situation verhalte ich mich in der Weise zu unserer Sache, dass diese mir nicht nur in meinem artikulierenden Verhalten, sondern ebenso ursprünglich in deinen Worten entgegentritt. In unserer Situation werde ich auf die Mehrdeutigkeit der Sachen gestoßen: Du artikulierst sie so, ich sie so, ohne dass dadurch zwei So auseinanderklaffen oder zur Deckung kommen könnten. Es ist also phänomenal auch hier keine Spaltung des So in zwei zu verzeichnen, sondern das So der Sache selbst wird mir in deinen Worten als mehrdeutig aufgezeigt, insofern deine Worte eben eine andere Deutung ihrer entfalten. Das kann nun nicht bedeuten, dass wir beide dergestalt in unsere jeweilige Deutung verstrickt wären, dass wir sie nur sozusagen pro forma austauschten, ohne dass sich unsere jeweiligen Deutungen dadurch modifizierten. Diesen Extremfall des Aneinander-Vorbeiredens dürfen wir keinesfalls zum paradigmatischen Fall unserer Wechselrede über 208 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
eine gemeinsame Sache erklären. Täten wir es, dann wäre gar nicht zu sehen, zu welchem Ende wir überhaupt einen Diskurs führen, eine Sache bereden sollten: Wenn wir nicht glauben würden, unser Zeugen von der Phänomenalität könne nachvollzogen werden, dann müssten wir die Phänomenalität gar nicht bereden (was wir faktisch doch tun) und könnten keinen ontologischen Diskurs über sie teilen. Dein Artikulieren unserer Sache kann mir aufzeigen, dass die Sache weiter und reicher ist, als ich sie in meinem Verhalten zu ihr mir erschlossen hatte. Dazu müssen wir uns gegenseitig verstehen. Allerdings dürfen wir uns dieses gegenseitige Verstehen nicht zu vereinfachend vorstellen als prinzipiell vollendbar in einer Deckungsgleichheit von so etwas wie meinen und deinen jeweiligen epistemischen Zuständen. Die Annahme einer solchen Kongruenz, die Annahme eines vollendeten Einander-Verstehens, in dem das von mir Gesagte und das von dir Verstandene zur Deckung gebracht sind, verbietet schon der phänomenale Befund, dass ich das So des Jeweiligen niemals erschöpfend artikuliere. Die Mehrdeutigkeit des So löst sich in der Artikulation niemals in durchgängige epistemische Bestimmtheit, d. h. Eindeutigkeit auf – freilich nur dann nicht, wenn wir nicht von vorneherein das Ganze der Situation, in der sich diese Sache so gestaltet und du dich mir gegenüber so verhältst, aufgeben zugunsten eines artifiziell begrenzten Kontexts, d. h. zugunsten einer Sprache, in der methodisch vom Ganzen der Situation abstrahiert wird. Insofern mein Artikulieren des So dir überhaupt etwas sagen kann, ist es selbst wieder der Artikulation bedürftig: mich sprechen hörend gestaltet sich dir unsere Sache. Du hörst, ich sage sie so: Du verstehst mich so (fasst so auf, was ich sage). Unsere Situation, darin dergleichen wie ein Diskurs überhaupt nur statthaben kann, verläuft als dieses Wechselspiel meines und deines Artikulierens. Insofern keiner von uns beiden artikulierend erschöpft, was er je artikuliert, sondern unsere Artikulation ebenso offen (der verstehenden Artikulation bedürftig) bleibt wie das Artikulierte, findet dieses Wechselspiel weder in epistemischer Erschöpftheit der Sache noch in epistemischer Kongruenz meines und deines Verhaltens zu ihr seinen Abschluss, sondern bleibt ohne letztes Wort. Abschließbar ist ein Diskurs über eine Sache nur durch bestimmte selbstgesetzte Einschränkungen. Diese können ad hoc und stillschweigend gebildete sein – etwa wenn wir es im Gespräch bei einer bestimmten Artikulation der Sache belassen, sie nicht weiter verfolgen, sondern zu einer anderen Sache übergehen. Sie können 209 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
aber auch methodischer Natur sein: Dem Diskurs über eine Sache kann eine bestimmte Sprache auferlegt werden, die den Sachen diese Abgeschlossenheit aufzwingt. Eine solche ist in vorzüglicher Weise die Mathematik als Sprache der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Insofern diese sich in mathematischen Gleichungen artikuliert, macht sie ihre Aussagen quantifizier-, d. h. in Zahlenverhältnissen darstellbar. Die Zahl unterscheidet sich darin vom Konzept, dass sie das, was durch sie gesagt wird, festlegt auf einen Wert. Dergestalt ist die Zahl ebenso wie die durch sie fixierte Größe eindeutig: Die Zahl legt das durch sie Ausgedrückte auf einen Wert fest und macht es so zur verrechenbaren Größe. Die Worte dagegen artikulieren ihre Sache immer nur so und bleiben dabei mehrdeutig, d. h. offen für weitere Explikation (Auslegung als entfaltendes Auseinanderlegen). Die Mathematik ist deshalb die dem desituierten Beobachter auf den auratischen Nicht-Leib geschneiderte Sprache, weil sie den Anspruch letzter epistemischer Autorität einlöst, der im Modell des Blicks von Nirgendwo liegt: Die quantitative Ontologie konzipiert das Seiende als finite Menge von Eigenschaften. Die mathematisierte Sprache der Naturwissenschaft vollendet diese Konzeption, indem sie es erlaubt, die Eigenschaften selbst in Zahlen darzustellen. So kommt die qua Eigenschaftsmenge numerisch verfasste Partikulare auch hinsichtlich jeder dieser Eigenschaften zur Festgelegtheit des Bezifferten. Die physikalische Beschreibung ist nicht deshalb exakt, weil sie empirisch überprüfbar ist; sie kann nur experimentell überprüft werden, insofern sie in der Sprache der Mathematik formuliert ist, insofern also der ausgesagte Sachverhalt als Verhältnis mathematischer Größen beschrieben wird. Nur solche Aussagen sind nachrechenbar und ihre Wahrheit im Experiment durch Messung überprüfbar. Die angewandte Mathematik der Naturwissenschaften drückt das, worüber sie spricht, aus als Größen und als Relation von Größen, d. h. letztlich als das Verhältnis von Zahlenwerten zueinander. Deshalb lassen sich ihre Aussagen über das Wirken ihres Worüber nachrechnen, deshalb lässt sich auch der Versuch unternehmen, dieses Wirken vorauszuberechnen. Diese Festgelegtheit des Werts gegenüber der Mehrdeutigkeit des Konzepts ist allerdings erkauft mit einer Abstraktion von all dem, was nicht auf einen Wert zu bringen ist. In diesem Sinne sagt Heidegger: »Mathematik ist nicht strenger als Historie, sondern nur enger hinsichtlich des Umkreises der für die relevanten existenzialen Fundamente (1979, 153)«. Was du mir in unserer Situation sagst, ist niemals einzufrieden in die Grenzen des auf einen Wert zu Bringen210 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
den. Selbst gesetzt, wir sprächen über mathematische Verhältnisse und bewegten uns also innerhalb des artifiziellen Kontextes, den die Sprache der Mathematik uns eröffnet, so vollzöge sich auch in diesem Gespräch – und uneinholbar für es, sofern es sich nur in den Grenzen der Mathematik bewegt – das Spiegelspiel unseres Verhaltens gegenüber einander. In deinen Worten gestaltet sich das Jeweilige so; darin, dass du so zu mir sprichst, spiegelst du mein Verhalten dir gegenüber. Unentscheidbar bleibt, ob zwischen unser beider Verhalten zur gemeinsamen Sache Kongruenz herrschen kann, ob mein So-Verstehen und dein So-Meinen sich jemals ›decken‹, was nur solange phänomenal plausibel scheint, wie wir das Ganze unserer Situation, in der ich es so sage und du es so verstehst, außer Acht lassen. Wir lassen dieses Ganze mindestens solange außer Acht, wie wir uns an Aussagen über sinnliches Vernehmen halten, wie sie sich zuhauf in den philosophischen Beispielen solcher Aussagen finden, die sich nicht nur durch ihre Simplizität auszeichnen (›Die Wand ist weiß‹), sondern vor allem auch dadurch, dass in ihnen das Ganze der Situation, in deren Verlauf solch eine Aussage vielleicht fällt, schlicht ignoriert ist. Setzt man diesen Grenzfall der Situationsarmut an, dann lässt sich freilich auch vorstellen, dass wir beide denselben epistemischen Zustand aufweisen, wenn du sagst: ›Die Wand ist weiß.‹ und ich dies verstehe. Wir beide sind dabei freilich ontologisch schon angesetzt als zwei Fälle von Personen, denen jeweils epistemische Zustände zukommen: Der Selbst-Losigkeit der Person (ich bin nicht selbst die Person JB, denn die Person JB ist) entspricht die Situationsarmut, in der sie konzipiert wird. Es bleibt dann von der situiert erfahrenen Reichheit und deskriptiven Unerschöpflichkeit des So nur noch ein zugeschriebenes Wie des ›Erlebens‹ im Sinne eines ›Erlebnisses‹ von ›qualia‹, das jemand ›hat‹, während er dieses oder jenes Benehmen an den Tag legt. Die Wechselrede, in der ich wieder artikuliere, dass ich dich so verstanden habe, und du wiederum so darauf antwortest, ist phänomenal niemals zu beschreiben als ein Fortschritt hin zu epistemischer Deckungsgleichheit meines und deines Verhaltens: Das So ist nicht aufzulösen in erschöpfendes Wissen seiner. Solch ein Transparentismus ist möglich nur unter Voraussetzung eines epistemisch und perspektivisch unendlichen – eines de-situierten – Erfahrens. Nur unter Voraussetzung des Blicks von Nirgendwo, nur im Rahmen der quantitativen Ontologie des Bestands ist denkbar, dass jemand alle Prädikate, die auf ein Bestandsstück zutreffen, weiß. Dabei ist die Einschränkung des Wissens auf prädikatives Wissen um das Wahrsein 211 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
einer Aussage methodisch kein zufälliger Schritt: Wissen kann genau dann in dieser Weise prädikativ aufgefasst werden, wenn gilt, dass es atomistisch darstellbar ist als Menge wahrer Sätze über dasjenige, worüber man je etwas weiß. Nur dann ist auch vorstellbar, dass unser wechselseitiges Einander-so-Verstehen im Sprechen über die gemeinsame Sache sich in der vollkommenen Übereinstimmung beider vollendet. Der Verlauf unserer Situation ist kein verengendes Zulaufen auf die Deckungsgleichheit unseres Einander-Verstehens. Mein und dein Sprechen erweitern im Gegenteil einander, treiben sich – wo ein echtes gemeinsames Durchlaufen einer Sache gelingt – gegenseitig übereinander hinaus; da, wo es uns gelingt, sachlich zu werden, da gestaltet sich mir die in unserer Wechselrede stehende Sache in größerem Reichtum und weiteren Horizonten als es ohne dich möglich wäre.
Die situative Symptomatik – zweite und dritte Person Gegen die Beschreibung der Berührung und ihrer Erwiderung im voraufgehenden Abschnitt möchte sich folgender Einwand erheben: Müssen wir nicht anerkennen, dass die beschriebene Unmittelbarkeit des Erwiderns bei uns (denen, die das phänomenologische Wir bilden) gehemmt ist? Ist die schutzlose Offenheit, mit der wir unserem Gegenüber unsere Berührtheit bekunden, nicht etwas, das wir schon als Kinder nach und nach abgelegt haben? Ist das Kaschieren je-meiner unmittelbaren leiblichen Offenheit für dich in unserer Situation nicht ein Verhalten, das wir alle in dem Stadium, in dem wir das phänomenologische Wir bilden, bereits erworben haben? Konspirieren ich und du nicht stillschweigend in der Unterdrückung dieser Offenheit, indem wir nicht nur besorgt sind, unsere eigene Aufgerührtheit nicht sehen zu lassen, sondern darüber hinaus Sorge tragen, diese Aufgerührtheit beim jeweils anderen gar nicht erst aufkommen zu lassen? Ob wir diese Besorgnis, einander nicht zu nahe zu treten, eigens anzeigen, indem wir in der Anrede das Pronomen der zweiten Person ersetzen durch die Höflichkeitsform der dritten Person Plural, oder nicht: Wir sind charakterisiert durch die (vielleicht dürfte man sagen: graduell verschiedene) Zurückgehaltenheit unser leiblichen Offenbarkeit füreinander in unserer Situation – wobei diese Zurückhaltung die leibliche Aufgerührtheit von deinem Verhalten mir gegenüber doch niemals ganz unterdrückt. 212 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
Tatsächlich müssen wir dieses Phänomen in unsere Beschreibung einholen, um dem Phänomen des situierten Miteinanders in höherem Grade gerecht zu werden – besonders, da die situative Hemmung hier von Anfang an eine Rolle spielte. Die Hemmung, hieß es oben, begründet das Zaudern; dieses selbst ist jetzt näher zu bestimmen als das Verhalten der situativen Symptomatik: In unserer Situation kann ich zu dem Verhalten bewegt werden, mich nicht mehr in unmittelbarer Spiegelung deines Verhaltens zu unserer Sache zu verhalten, sondern vielmehr dein Verhalten mir gegenüber selbst explizit zum Thema zu machen. Wenn ich dich dann offen danach frage, wieso du dich mir gegenüber so verhältst, mache ich unser Verhalten gegenüber einander selbst zu unserer Sache. Das als situative Symptomatik zu kennzeichnende Verhalten dagegen bezieht dich nicht in sich ein, sondern schließt dich aus, indem es die Frage nach dem Wieso nicht mehr an dich stellt, sondern unausgesprochen lässt als Frage: Wie kommt es, dass er/sie sich mir gegenüber so verhält? Dieses Verhalten ist ein Sprung heraus aus unserer Situation, ein Rückzug aus ihr in meine Situation, aus der ich dich vor mir beobachte und mich frage, in welcher Situation er bzw. sie gerade ist, dass er/sie sich so mir gegenüber verhält. Dieses Verhalten kommt dem Abbruch unserer Situation gleich: Inmitten unserer Situation kann ich mich zurückziehen auf meine. So jäh wie meine Situation unsere werden kann, so jäh kann unsere meine werden. Das Verhalten der situativen Symptomatik schließt dich aus, lässt dich nicht teilhaben an ihm: Es wendet sich nicht an dich, ist kein Verhalten gegenüber dir, sondern ein Verhalten zu ihm/ihr und seinem/ihren Verhalten mir gegenüber. Als solches steht es zwischen dem Verhalten zu einem Jeweiligen und dem Verhalten gegenüber dir. Es vollzieht einen Übergang aus der Perspektive der zweiten in die der dritten Person. Das Phänomen der situativen Symptomatik ist das Phänomen eines Perspektivensprungs. Was wir hier beschreibend als Umschlag der Perspektive der zweiten Person in die der dritten andeuten, ist phänomenal der Abbruch unserer Situation, der sich in meinem oder deinem Verhalten vollzieht: Weil ich mich in meine Situation zurückziehe oder du dich zurückziehst in deine Situation, wird mein oder dein Verhalten gegenüber dir bzw. mir zu einem Beobachten dessen, wie er/sie sich (jeweils) mir gegenüber verhält und zur Frage der Symptomatik: Wie kommt es, dass er/sie sich mir gegenüber so verhält? Was spricht sich aus in dem, was ich als sein/ihr Benehmen vernehme? Oben wurde die These aufgestellt und beschreibend er213 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
läutert, dass die Vertrautheit des Vertrauten immer eine relative und revidierbare ist, dass also zu aller Vertrautheit die Unvertrautheit des Vertrauten gehört. Das Verhalten der situativen Symptomatik zeugt von der Unvertrautheit deiner: Du bleibst immer auch er oder sie, der oder die bei mir die Frage ›wie-so?‹ aufwirft. Die Sachen halten an sich, weil sie sich gestalten – du hältst dich zurück, weil du mich berührst. Das ›wie-so?‹ der situativen Symptomatik erfährt die Mehrdeutigkeit unserer Situation: Sie ist als Verhalten ein Fahren in die verschiedenen denkbaren Erklärungen dafür, dass sich diese Sache jetzt so gestaltet, dass du dich mir gegenüber gerade so verhältst. Sie ist der fahrige Versuch, die denkbaren Erklärungen des So und die Breite der denkbaren Reaktionen auf es zu erschöpfen: Gerade sie erfährt darin aber nur die Unerschöpflichkeit des So, das darin liegt, dass dein Verhalten gegenüber mir immer das Geheimnis deiner Perspektive bergen wird, dass Geheimnis eines anderen, der relativ zu mir du ist, da er selbst ›ich‹ sagt: Wie kommt es, dass du dich mir gegenüber so verhältst? Das muss eine offene Frage bleiben – schon deshalb, weil weder du noch ich vermöchten, diese Frage, wenn sie an uns selbst gerichtet würde, erschöpfend zu beantworten. Die Fahrigkeit der situativen Symptomatik ist die hektische Verwirrung angesichts der Unauslotbarkeit dessen, dass du dich mir gegenüber so verhältst. Die situative Symptomatik ist als Spielart des gehemmten Zauderns Ausdruck der Gelähmtheit durch die Mehrdeutigkeit dessen, was sich in je-dieser Situation je so gestaltet, durch die Mehrdeutigkeit deines Verhaltens in unserer Situation. Sie ist die Möglichkeit des gehemmten Hin-und-Her-Gerissenseins zwischen den praktischen Denkbarkeiten und damit den Optionen des Verhaltens, das sich nicht in eine ihrer werfen kann. Der ontologische Perspektivensprung Seine deskriptive Bedeutung erhält das Phänomen der situativen Symptomatik dadurch, dass es den ontologischen Perspektivensprung vorzeichnet. Die Bewegung dieses Sprungs ist nicht die von einer Perspektive in eine andere, sondern führt in die Aperspektivität überhaupt, in das Nirgendwo eines epistemisch unendlichen Erfahrens. ›Ontologisch‹ ist dieser Sprung insofern zu nennen, als er sich äußert in einer Sprache, in der die Welt als Allklasse des Seienden figuriert, als finite und prinzipiell (denkbarerweise) zu beziffernde Menge aller 214 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
selbst als Eigenschaftsmengen beschreibbaren primären Bestandsstücke. Evans gibt einmal das Beispiel einer Situation, in der ein Subjekt ein Objekt nicht von allem anderen unterscheiden kann. Nehmen wir etwa an, ein Subjekt habe an einem bestimmten vergangenen Tag, kurz zwei ununterscheidbare Stahlkugeln gesehen, die am selben Punkt aufgehängt waren und um diesen rotierten. Er glaubt jetzt nichts über eine Kugel, das er nicht auch über die andere glauben würde. Dies ist sicher eine Situation, in der das Subjekt keine der Kugeln von allem anderen unterscheiden kann, da er sie ja nicht von ihrer Schwesterkugel unterscheiden kann (90). 123
Den ontologischen Sprung in die Perspektive des Blicks von Nirgendwo haben wir dann getan, wenn wir sagen, die Person, die subjektiv davon überzeugt ist, über eine der Kugeln zu sprechen, sei objektiv korrigierbar bzw. die Person, die subjektiv davon überzeugt ist, von einer der beiden Kugeln zu sprechen, spreche objektiv über gar nichts, da sie über etwas aussage, das sie nicht identifizieren, d. h. von allem anderen unterscheiden könne. Evans Beispiel impliziert nun natürlich genau dies: Dass die Person fehlbar ist in ihrer Meinung, über etwas zu sprechen, da sie doch objektiv (d. h. gemäß der letzten epistemischen Autorität, dem Blick von Nirgendwo) dieses vermeintliche Etwas gar nicht unterscheiden kann von allem anderen. Nur zu den Bedingungen des Blicks von Nirgendwo, zu den Bedingungen eines aperspektivischen, epistemisch unendlichen Erfahrens lässt sich die Unverborgenheit als eine totale denken: Nur einem Blick von Nirgendwo kann das Seiende rest- und vorbehaltlos unverborgen sein. Dem situierten Erfahren dagegen gibt es die Unverborgenheit des Jeweiligen nur unter dem Vorbehalt, das jedes Unverborgensein mit neuer Verborgenheit einhergeht: Das Ganze je-dieser Situation, das Ganze noch der unbedeutendsten und flüchtigsten Situation ist zu reich für unser deskriptives Erfassen und zu weit für eine erschöpfende Auslegung ihrer. Das situative So ist nicht aufzulösen in eine Anzahl von Prädikaten, die objektiv auf es zutreffen. Das So jeder einzelnen Situation gibt eine unabschließbare deskriptive »… in which a subject does not have the capacity to distinguish an object from all other things. Suppose, for instance, that on a certain day in the past, a subject briefly observed two indistinguishable steel balls suspended from the same point and rotating about it. He now believes nothing about one ball which he does not believe about the other. This is certainly a situation in which the subject cannot discriminate on of the balls from all other things, since he cannot discriminate it from its fellow.«
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215 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
Aufgabe: Dass wir faktisch schnell mit der gerade verlaufenen Situation abschließen, dass uns die Unerschöpflichkeit des So nicht bekümmert, bedeutet nur unser Kapitulieren vor ihrer Reichheit, ihrer epistemischen Unerschöpflichkeit. Es ist eine schöne Pointe von Nagels Bild, dass es nur vom Blick spricht und den Blickenden dieses Blickens ausschließt. So wie Nagels Bild den Blickenden zugunsten des Blicks, so unterdrückt die quantitative Ontologie den Blick zugunsten des in den Blick Genommenen, der Welt qua Bestandsganzem. Der Blick von Nirgendwo ist charakterisiert durch die deskriptive Austilgung seiner selbst als ein Blicken. Er setzt deskriptiv beim Bestehenden an, ohne zu fragen, unter welchen Bedingungen etwas überhaupt bestehen kann – er kann sich selbst nicht thematisieren: Er müsste dann seine eigene Verfasstheit (aperspektivisch, epistemisch unendlich) positiv bestimmen, die aber nur negativ in Abhebung von der je-eigenen Perspektivizität und epistemischen Endlichkeit bestimmbar ist. Wenn der Blick von Nirgendwo (das Ideal epistemischer Unendlichkeit) an die Denkfiguren von Allwissenheit und Allgegenwart gemahnt, wenn es also ein szientistisches Erbe des christlichen Gottesgedankens gibt, so kann das Verhältnis von Erbe und Erbschaft seitens jenem nur ein schwieriges, ungern eingestandenes sein, da er doch sein primäres Selbstverständnis aus dem Gegensatz seines Weltbilds zu jedem in irgendeiner Art ›religiös geprägten‹ gewinnt. Tatsächlich konstituiert sich die Sprache der Quantität gerade im Übergehen ihrer eigenen Perspektive, dem eigenen Woher ihres Sprechens: ›… von Nirgendwo‹ bedeutet: unter Austilgung des eigenen Woher, unter Austilgung je-dieser Situation, aus der heraus jeweils ich selbst mich als dieser jenige artikuliere. Blick von Nirgendwo ist ein Bild für das Ideal der Aperspektivizität, eines desituierten (nicht an ein Hier und Jetzt gebundenen) Erfahrens, dem nicht das Jeweilige ein deskriptiv unerschöpfliches So darbietet, sondern dem Bestandsstücke gegeben sind, die sich seinem Blicken in ihrem An-sich enthüllen, weshalb eine Anzahl wahrer Sätze jedem Aussagen über sie voraufbesteht. Während der traditionelle Gottesgedanke zu philosophischen Hypothesen über Gott als Wesen zwang, tilgt der Blick von Nirgendwo sich selbst als Blicken und tilgt damit a fortiori jede Thematisierung eines blickenden Wesens. Die quantitative Ontologie, die Sprache, in der sich der Blick von Nirgendwo artikuliert, konstituiert sich gerade in dieser Selbst-losigkeit, in der Aussparung des Blickens zugunsten dessen, was vermeintlich diesseits jedes Blickens einfach besteht. 216 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Das situierte Miteinander
›Bestehen‹ heißt: konstatierbar sein, d. h. bereitliegen für ein kontingentes Feststellen. Die quantitative Ontologie beginnt beim Bestehenden als der endlichen Gesamtzahl der numerisch einzelnen Bestandsstücke: Damit hat sie ihre eigene Voraussetzung (die Ansetzung eines aperspektivischen und epistemisch unendlichen Erfahrens) schon stillschweigend übergangen. Der szientistische Transparentismus liegt ontologisch gesehen darin, dass über jedes Bestandsstück zu jedem einzelnen Zeitpunkt bestimmte Tatsachen bestehen, dass es eine finite Menge wahrer Sätze über sie gibt: Die Bestandsstücke sind an sich etwas und irgendwie beschaffen. Dieses An-sich ist das der Objektivität, die denkbar ist allein unter der Voraussetzung des Blicks von Nirgendwo (vgl. dazu unten den Abschnitt ›Wahrheit‹). Im Zuge seiner ›Explikation‹ logischer Termini beschreibt Carnap »das semantische System S (semantical system S) (1948, 1)«, das ›Designatoren‹ für die Subjekt- und die Prädikatstelle von Sätzen zur Verfügung stellt. Es werden verschiedene Varianten dieses Systems durchgespielt, von denen die erste, S1, die »geläufigen Junktoren (customary connectives) (ebd., 3)«, enthält und in dem die geläufigen zwei Quantoren für ›Individuenvariablen‹ genutzt werden. Damit enthält S1 dann, als probate Argumente der Variablen, »deskriptive Konstanten […] individueller und prädikativer Art. (descriptive constants […] of individual and predicate types) (ebd., 3 f.)«, wobei die Prädikate n Stellen aufweisen, d. h. durch n Individuenkonstanten zu sättigen sind. Sätze mit gesättigten Prädikaten heißen ›Atomarsätze‹. Dann gilt: Eine Klasse von Sätzen in S1, die für jeden Atomarsatz entweder diesen Satz oder seine Negation enthält, aber nicht beide, und keine anderen Sätze, heißt eine Zustandsbeschreibung in S1, da sie offensichtlich eine komplette Beschreibung eines möglichen Zustands des Universums der Individuen gibt, hinsichtlich aller Eigenschaften und Relationen, die im System durch Prädikate ausgedrückt werden (ebd., 9). 124
Und weiter: »Es gibt eine und nur eine Zustandsbeschreibung die den tatsächlichen Zustand des Universums beschreibt; es ist diejenige, die »A class of sentences in S1, which contains for every atomic sentence either this sentence or its negation, but not both, and no other sentences, is called a state-description in S1, because it obviously gives a complete description of a possible state of the universe of individuals with respect to all properties and relations expressed by the system.«
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217 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
alle wahren Atomarsätze enthält und die Negation aller falschen (ebd., 10).« 125 Die hier von Carnap ausgesprochene Voraussetzung der quantitativen Ontologie ist die prinzipielle (denkbare) Vollständigkeit eines Gesamtinventars, einer klassifizierenden – die Allklasse des Bestehenden in Unterklassen ausdifferenzierende – Beschreibung. Diese Voraussetzung setzt aber selbst wieder den Blick von Nirgendwo voraus, zu dessen Bedingungen allein die Welt ein endliches Bestandsganzes sein kann. Dass sie es für die Personen faktisch nicht ist (das eine komplette Weltbeschreibung faktisch undurchführbar wäre), ist der zweifachen Endlichkeit der Personen geschuldet, deren Perspektive sie erstens raum-zeitlich auf Ausschnitte der Objektivität festlegt und sie zweitens epistemisch zur Fallibilität hinsichtlich dessen verdammt, wie es sich objektiv verhält. Was aber ermöglicht diesen ontologischen Sprung? Was ermöglicht diese Bewegung des ontologischen Perspektivenwechsels? Die Bewegtheit des Begriffenseins im situativen Prozess selbst. Bewegt von seiner Umwart allein können wir überhaupt im Verhalten die Welt konzipieren – unter anderem als finites Bestandsganzes. Wir stehen insofern aus dem situativen Prozess hinaus, als wir ihn selbst beschreibend thematisieren können. Wir können ihn aber phänomenal niemals hinter uns lassen. Die quantitative Ontologie ist gekennzeichnet durch dieses die Phänomenalität überspringende Hinter-sich-Lassen der Situiertheit. Diese äußert sich darin, dass wir uns selbst als Personen auffassen können, die unter anderem Bestehenden bestehen und zusammen mit ihm die verschiedenen Klassen und Unterklassen des Seienden bevölkern. Der Selbstkonzeption als Person, als Seiendes, über das ebenso wie über alles andere gesagt wird: ›ist‹ oder ›ist …‹, d. h. ›besteht‹ und ›besteht als irgendwie beschaffenes numerisch Einzelnes‹, liegt ontologisch zugrunde die Konzeption der Welt als finites Bestandsganzes; dieser wiederum liegt zugrunde der Sprung in das Nirgendwo einer desituierten Deskription, wo wir vermeintlich die eigene Situiertheit hinter uns gelassen haben – die dieses Hinter-sich-Lassen so weit treibt, dass sie die Frage nach dem ihr eigenen Aussagen gar nicht stellt. Der Blick von Nir-
»There is one and only one state-description which describes the actual state of the universe; it is that which contains all true atomic sentences and the negations of those that are false.«
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Der Situierte selbst
gendwo übergeht, da wo er am reinsten zur Durchführung kommt, am selbstverständlichsten sich selbst. Es ist ein Zwiespalt in unserem je-eigenen Verhältnis als Situierte zu unser je-eigenen Situation: Wir stehen aus ihr hinaus, lassen sie aber niemals hinter uns. Dieser Zwiespalt ermöglicht einerseits die phänomenale Ontologie als artikulierendes Verhalten zur umwärtigen Situation selbst. Nur bewegt in der Umwart der Situation wird das Verhalten zu einem Herausstehen aus ihr, das sich zum Verhältnis selbst ins Verhältnis setzt. In eins aber ermöglicht dieser Zwiespalt auch das ontologische Überspringen der Situation hin zu einer als Bestandsganzen konzipierten Welt. Der Zwiespalt im Verhältnis ermöglicht damit in eins seine ontologische Ent- und Verdeckung: Immer ist die Verborgenheit der Preis der Unverborgenheit.
Der Situierte selbst Berührung und Treff: ich Wir wollen in diesem letzten Abschnitt ausdrücklich das Verhältnis von Situiertem und Situation thematisieren. Aus dem voraufgehenden Abschnitt halten wir fest: Die phänomenale Ontologie ist der Versuch, sich zum Verhältnis selbst in ein beschreibendes Verhältnis zu bringen, oder kurz das Verhältnis zum Verhältnis. Eine phänomenale Ontologie ist ein deskriptiver Ansatz, der unter dem Anspruch steht, dem Verhältnis – mit dem wir vertraut sind, insofern wir je selbst nicht anders sind denn als in ihm begriffen – selbst zu entsprechen, d. h. es getreu zu artikulieren. So, wie wir es je selbst und an uns selbst existierend erfahren, soll das Verhältnis in unserer Beschreibung zu Worten kommen. Das erste, was wir dabei über uns selbst sagen können: Wir existieren als immer schon im Verhältnis Begriffene (Situierte). Über ein schlechthinniges Jenseits des Verhältnisses, das angefangen hat mit der Geburt und enden wird mit dem Tod, können wir phänomenal nichts sagen. Wir stehen aus dem Verhältnis heraus, insofern wir uns zu ihm selbst ins Verhältnis setzen (eine Ontologie der Situiertheit ausarbeiten). Allerdings lassen wir es dabei keineswegs hinter uns, winden uns keinesfalls aus ihm hinaus, insofern das verlaufende Verhältnis selbst uns die Möglichkeit des Hinausstehens aus ihm erst verstattet. Die quantitative Ontologie ist eine Sprache, in deren Rahmen wir die je-eigene Situiertheit in dem 219 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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Sinne deskriptiv tilgen können, dass wir sie aus unserem Beschreiben ausklammern; in anderem Sinne zeugen wir allerdings dadurch, dass wir überhaupt eine Ontologie ausbilden von der je-eigenen Begriffenheit im situativen Prozess (wie durch jedes andere Verhalten auch). Es sei zunächst an diese drei Ergebnisse der voraufgehenden Kapitel erinnert: 1) Jeder und jede von uns erfährt sich selbst, weil er/sie das Jeweilige erfährt. Das Erfahren des Jeweiligen ist in eins ein Erfahren seiner selbst: Ich wohne gleichursprünglich in der Welt und bei mir. Das bedeutet, ich habe für mich selbst phänomenale Gestalt. Die Diastase von mir und mir liegt darin, dass ich beim eigenen Verhalten zur Welt wohne. 2) Das Verhältnis ist die Zwiefalt von Verhalten und Jeweiligem: Nur als im Verhältnis zum Jeweiligen begriffen darf ich mich thematisieren, wenn ich phänomengetreu von mir selbst sprechen will, d. h. nur in den Grenzen dessen, was durch Verweis auf meine eigene Vertrautheit mit dem jeweils eigenen sich-verhaltenden Existieren ausweisbar ist. 3) Mein Verhalten manifestiert das Jeweilige, so wie dieses mein Verhalten manifestiert. Verhalten und Jeweiliges bilden die Zwiefalt des sich gegenseitig Manifestierenden. Die Zwiefalt selbst manifestiert in ihrem Verlauf den situativen Prozess, in dessen Bewegung begriffen sie sich entfaltet als das Verhältnis von Situiertem und dem sich je so Gestaltenden. Das bedeutet: Ich selbst manifestiere als Situierter den situativen Prozess und umgekehrt manifestiert er – mich. Dass ich mich in dieser Situation so verhalte, ist Manifestation dessen, dass ich so bin, ohne dass ich dieses So dabei erschöpfend zu Wort brächte. Wenn es um das Verhältnis von mir und meiner Situation geht, geht es um zwei Einzelne. Wir gehen deshalb zurück auf die im ersten Kapitel bereits diskutierte Problematik der Einzigkeit je-dieser Situation und der Einzelnheit des Situierten, um so den Einstieg in die Frage nach dem einzelnen Situierten, der jeweils ich bin, zu gewinnen. Je-diese Situation ist erstens einzig, insofern sie unwiederholbar sind. Der situative Prozess verläuft einbahnig gerichtet zwischen Geburt und Tod: Keine seiner Phasen wiederholt sich. Mag Routine die Neuheit jeder einzelnen Situation beinahe komplett verdecken und uns blind machen für die Neuheit jeder Situation – es kann doch nur 220 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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im Laufe des situativen Neu-und-neu zu einer solchen Abstumpfung kommen. 126 Mögen wir auch ›Muster‹ unseres Verhaltens diagnostizieren, mögen wir more psychoanalytico den Ursprung dieser Muster in der frühesten Kindheit suchen und dann sogar davon sprechen, jemand wiederhole zeit seines Lebens die immer selben ›Verhaltensmuster‹ – nichts, was wir dann sagten, spräche gegen die Neuheit jeder Situation, in der wir diese Muster vermeintlich repetieren. Im Gegenteil können wir gar nicht behaupten, jemand zeige immer aufs Neue dasselbe Muster, ohne dabei das situative Neu-und-Neu zugrunde zu legen – wir verlegen (verdecken) dies Zugrundegelegte allerdings, indem wir die Neuheit aus einem solchen Muster erklären, d. h. sie auf Bestehendes zurückführen. Unabhängig davon, ob eine solche Erklärung theoretisch haltbar oder therapeutisch wirksam ist, sie verstellt den Blick darauf, dass genuine Neuheit niemals durch die Produktivität vorgängig bestehender Muster zu erklären ist. Die Erklärung des Verhaltens als Repetition einmal erworbener Muster gleicht den Verlauf der Existenz dem Ablaufen eines Programms an, das in Abhängigkeit von einerseits festgelegten Grundeinstellungen und andererseits jeweils kontingentem Input einen bestimmten Output generiert. Es hat immer schon von jener in diese Situation umgeschlagen; und jetzt, da ich auf diese Situation reflektiere, ist sie schon jene geworden, bin ich schon in einer neuen umwährenden Situation, in der die voraufgehende Situation selbst zur Sache (Gegenwärtigem) geworden ist. Sobald ich sie – zurückkommend auf meine Situiertheit – artikuliere, ist sie nicht mehr als umwährende, sondern als Gegenwärtiges im Umwähren einer neuen Situation. Die Situation ist originär nicht rekonstituierbar. Das erinnernde Zurückkommen auf eine vergangene Situation hebt deshalb die Unwiederholbarkeit der Situation nicht auf. Da keine Situation eine vergangene wiederholt, ist auch keine Situation aus der Kenntnis vergangener Situationen in ihrem Verlauf vorwegzunehmen. Genauso wie sie unwiederholbar ist, ist die Situation unprogrammierbar. Unwiederholbarkeit und Unprogrammierbarkeit machen allerdings nur das eine Moment der Einzigkeit der einen Situation aus; Implizit rekurriert auch Kripkes wittgensteinscher Skeptiker von Anfang an auf das situative Neu-und-neu: Der Addition-Quaddition-Skeptizismus heftet sich ja gerade an die Neuheit jedes einzelnen Gebrauchs von ›+‹ – an die Neuheit dieser Situation, in der ich jetzt hier 68 + 57 rechne (vgl. 7 ff.).
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das andere liegt darin, dass die eine Situation nur ist als Situation dieses Situierten. Die Situation manifestiert in ihrer flüchtigen Einzigkeit die Einzelnheit des Situierten, dessen Situation sie ist. Meine Situation manifestiert mich (um die Allgemeinheit dieser Aussage deutlich zu machen, sagen wir stattdessen auch: Je-diese Situation manifestiert immer diesen jenigen). Mein So-Sein findet seinen einzigen Ausdruck darin, dass ich mich in je-dieser Situation so verhalte. Ich bin mit mir selbst nur vertraut als meine Situation manifestierend: Auch mir selbst manifestiere ich mich neu und neu darin, dass ich mich in dieser Situation so zu dieser Sache, so gegenüber dir verhalte – jede Situation sagt mir selbst etwas über mich selbst. Die Frage, wie ich bin, kann als Beispiel nur je-diese Situation nehmen, in der ich mich je so verhalte. Hier wird deutlich, dass wir unser je-eigenes So-Sein, das wir in der unzähligen Mannigfaltigkeit je-dieser Situation erfahren, niemals auf ein letztgültiges Wie hin übersteigen. Wie ich bin, kann ich nicht erschöpfend sagen; dass ich so bin, das sagt mir neu und neu die Situation, in der ich mich finde. An mir gewinnt meine Situation phänomenale Gestalt, weil ich im Verlauf der Situation, in der seiend ich mich je erfahre, phänomenale Gestalt gewinne. Über diese situative Gestalt meiner selbst hinaus kann ich phänomenal nichts von mir sagen. Das ist der Grund, warum ich nicht phänomengetreu von mir selbst sagen kann, ich fungiere etwa im Sinne einer Transzendentalphilosophie als rezeptiv-spontaner Grund der Phänomenalität. Die Phänomenalität kann nicht begründet, nicht auf Elementareres gegründet und zurückgeführt werden. Sie kann nur zu Worten gebracht werden. Das Letzte, was ich allgemein und phänomengetreu über mich sagen kann, ist: ›Ich bin so‹ bzw. ›es ist so, ich zu sein‹. Der Phänomenbegriff, hieß es oben, überspannt die sachhaltige Unterscheidung von Ding und Ereignis: Ein Phänomen ist der Stift sowie das Schreiben mit dem Stift. Ein Phänomen ist aber auch der Schreibende selbst, ich, der ich mich selbst erfahre als z. B. hier und jetzt schreibend im Zimmer am Tisch zu sitzen: Es ist so, jetzt zu schreiben, einen Stift zu gebrauchen. Es ist so, dabei mich selbst zu erfahren als dieser jenige, der da hier sitzt und schreibt. Qua Situierte erfahren wir uns als immer schon begriffen im Verhältnis zum Jeweiligen. Und begriffen im Verhältnis zum Jeweiligen sind wir, zeit unserer Existenz, so gewordene Werdende, d. h. kommen aus der Vergangenheit her und sind in die offene Zukunft bewegt. Es muss phänomenal unentschieden bleiben, ob wir in diesem Werden zu dem werden können, der wir ›eigentlich‹ sind, oder ob 222 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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und wie die Existenz so zu gestalten sei, dass wir zu diesem werden. Wir sind mit uns selbst nur vertraut als geworden-werdend: Begriffen im situativen Prozess existieren wir. In dieser Kargheit ist hier der Ausdruck ›Werden‹ zu nehmen: Es ist mit ihm nichts über ein Potenzial und dessen mehr oder minder vollkommene Ausschöpfung ausgesagt. Als Werdender bleibt der Situierte in allen Phasen des situativen Prozesses der eine. Aber dieser eine ist er nur als manifestiert in den un-zähligen Situationen, in denen es je so ist. Die zeitliche Verfasstheit der Situierten liegt darin, dass ihre Einzelnheit sich nur diachron, d. h. in der Einzigkeit je-dieser Situation und in der Un-Zähligkeit der kommenden und gehenden Situationen manifestiert. Dass ich so bin, das manifestiert sich in der Zwiefalt von Verhalten und Sich-so-Gestalten. Dass ich so bin, erfahre ich, indem ich mich selbst erfahre als mich in je-dieser Situation je so zum Jeweiligen verhaltend. Meine haecceitas liegt phänomenal darin, dass ich mich zu diesem Jeweiligen so (und nicht anders) verhalte. In diesem So-und-nicht-anders des Verhaltens erfahre ich mich selbst als Nun-mal-so-Seiender. Ich hätte mich ganz anders verhalten können. Ich merke, dass ein anderer sich zu einer Sache ganz anders verhält als ich; aber mein Verhalten nimmt diese Richtung und keine andere. Mein Verhalten hat sich in diese Möglichkeit geworfen: Das Jeweilige gestaltet sich so. Das So-Sein des einzelnen Situierten, hieß es, ist phänomenal un-gleich in dem starken Sinne der Inkommensurabilität. Die Ungleichheit der So bedeutet nicht ihre Verschiedenheit, sondern dass der Grad ihrer Verschiedenheit durch Vergleich nicht zu ermitteln ist, dass zwei So nicht gegeneinander zu halten sind: Der Schmerz des anderen und seine Wut haben für ihn niemals exakt denselben Sinn für ihn wie für mich. […] wenn ich auch […] an diesem Schmerz, dieser Wut teilhaben kann, sie bleiben doch die Wut und der Schmerz meines Freundes Paul: Paul leidet, weil seine Frau gestorben ist oder er ist wütend, weil man ihm seine Uhr gestohlen hat, ich leide, weil Paul Schmerzen hat, ich bin wütend, weil er wütend ist, die Situationen sind nicht deckungsgleich. Und wenn wir schließlich gemeinsam ein Projekt angehen, ist dieses gemeinsame Projekt nicht nur eines, es bietet sich mir und Paul nicht unter denselben Gesichtspunkten dar, wir hängen weder gleich stark an ihm noch in derselben Weise, einfach weil Paul Paul ist und ich ich bin (Merleau-Ponty, 414). 127 »Le deuil de l’autrui et sa colère n’ont jamais exactement le même sens pour lui qui pour moi. […] si je peux […] participer à ce deuil, à cette colère, ils restent le deuil, la colère de mon ami Paul: Paul souffre parce qu’il a perdu sa femme ou il est en colère
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Merleau-Ponty artikuliert hier den Zweifel – den ich durchaus teile –, dass mein und dein So (wenn einmal so geredet werden darf) sich jemals gleichen können. Es ist aber darüber hinaus auf der Unentscheidbarkeit der Frage nach Gleichheit und Ungleichheit des So zu insistieren: Das So ist phänomenal gerade dadurch charakterisiert, dass mein und dein So nicht gegeneinander abzugleichen sind. Allerdings können wir uns über das So verständigen. Wenn es für dich so ist, traurig zu sein, kannst du sagen: ›Ich bin traurig.‹ und wenn es für mich so ist, dass du traurig bist, sage ich etwa: ›Ich sehe es dir an, dass du traurig bist.‹ Beide artikulieren wir dann das So in der Weise des Sprechens darüber, dass es so ist, in unserer jeweiligen Situation zu sein. Allein, das Sprechen über das So artikuliert nicht erschöpfend, woraus es schöpft: Wenn du mir sagst: ›Ich bin traurig.‹, wenn du mir sogar dein Traurigsein beschreibst, artikulierst du niemals ins Letzte, wie es dir jetzt gerade ist, traurig zu sein. Ein dergestalt erschöpfendes Wie ist artikulierend überhaupt nicht zu haben, wenn es uns wirklich um die ganze Situation geht und wir sie nicht aus methodischen Gründen künstlich auf bestimmte Aspekte einschränken. Das So ist artikulierend nur herbeizuspielen, nicht als Ganzes vorzulegen: Vom So lässt sich nur in Beispielen sprechen. Und mir über deine Traurigkeit sprechen kannst du nur, insofern du mich dabei verweist auf meine eigene Vertrautheit mit dem Worüber deines Sprechens. Ich verstehe dein Sprechen aufgrund geteilter Vertrautheit mit der je artikuliert-verlautbarten Sache. Allerdings möchte man an dieser Stelle einwenden: Es muss doch immerhin denkbar sein, dass ein anderer Situierter dasselbe So erfahre wie ich. Gerade unsere Konzeption hat dieser Denkbarkeit doch in gewissem Sinne Raum geschaffen, indem sie darauf bestand, dass zwei So nicht zu vergleichen seien. Dass ein Vergleich nicht ins Werk zu setzen ist, schließt doch Übereinstimmung nicht aus, sondern nur das Feststellen ihrer. Wie können wir dann behaupten, unser jeweiliges So mache unsere Einzelnheit aus? Wie können wir dann behaupten, das situative So-und-nicht-anders bzw. das Nun-mal-so des Situierten, das sich darin manifestiert, machten die Erfahrung parce qu’on lui a volé sa montre, je souffre parce que Paul a de la peine, je suis en colère parce que Paul est en colère, les situations ne sont pas superposables. Et si enfin nous faisons quelque projet en commun, ce projet commun n’est pas un seul projet, et il ne s’offre pas sous les mêmes aspects pour moi et pour Paul, nous n’y tenons pas autant l’un que l’autre, ni en tout cas de la même façon, du seul fait que Paul est Paul et je suis moi.«
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genuiner Einzelnheit aus? Ich kann allerdings einen Doppelgänger meiner selbst modellieren, von dem ich dann auch annehmen kann, er habe die qualitativ selben epistemischen Zustände, sogar dieselben Erlebnisse wie ich. Allein steht und fällt nur die – zu den Bedingungen der quantitativen Ontologie – als numerische Singularität konzipierte Einzelnheit mit der Denkbarkeit oder Undenkbarkeit eines Doppelgängers. Phänomenal liegt meine Einzelnheit darin, dass das So des Jeweiligen mich trifft. Getroffen vom So des Jeweiligen bin ich immer schon in je-dieser Situation: Ich finde mich so angegangen vom Jeweiligen. Du magst in unserer Situation ganz ähnlich vom Jeweiligen angegangen sein (auch wenn der Grad dieser Ähnlichkeit unbestimmbar ist). Nie kannst du mein oder ich dein So-Angegangensein für den jeweils anderen übernehmen. Kein Doppelgänger könnte es mir abnehmen, vom So des Jeweiligen getroffen zu werden. Phänomenal liegt meine Einzelnheit in der Unvertretbarkeit meiner Situiertheit durch andere: Nur ich kann in meiner Situation sein, nur du in deiner, denn keiner kann einem anderen die je-eigene Getroffenheit vom So des Jeweiligen abnehmen. Wohl kann meine und deine Situation unsere sein, wenn wir uns gegenüber einander je so verhalten. Ich sehe dir in unserer Situation vielleicht unmittelbar an, dass du so getroffen bist vom Jeweiligen; umgekehrt magst du mir dies ansehen. auch spiegeln wir in unserer Situation einander unsere Berührtheit von jeweils deinem Verhalten gegenüber mir. Dergestalt nehme ich teil an deinem So und du an meinem. Aber diese Teilnahme geht nicht bis zur jeweiligen Getroffenheit vom So; ich bin vielmehr wiederum so getroffen davon, dich so getroffen zu sehen und vice versa. 128 Das So des Jeweiligen trifft immer nur mich. Meine Einzelnheit liegt phänomenal darin, dass ich der bin, der sich von dieser Sache unvertretbar so angegangen findet. Ich bin dieser jenige, d. h. der, der jetzt von dieser Sache so getroffen ist. Das So des Jeweiligen trifft immer den Einzelnen, trifft jeweils mich, ist wesentlich allein meines und kann niemand anderes sein. Das existierende Seiende, das ›im Wurf bleibt‹, solange es existiert, d. h. das zeit seiner Existenz im Beschreiben seiner je-eigenen
Vgl. Fuchs: Wenn wir jemandem etwa seine Scham ansehen, so ist das, »was wir wahrnehmen, […] eben nur leiblich ausgedrückte Scham, nicht das Schamgefühl, von dem der andere subjektiv betroffen ist. Das eigene Erleben angesichts der Beschämung eines Anderen ist eher das der Peinlichkeit, und gegenüber einem Leidenden Mitleid (245; Sperrungen sowohl entfernt als auch hinzugefügt – JB).«
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existenzialen Trajektorie begriffen ist, ist phänomenal nicht die zu einem Zeitpunkt durch die Summe ihrer Eigenschaften individuierte personale Partikulare. Als Situierter bin ich vielmehr dadurch bestimmt, dass es in je-dieser Situation je so ist, dieser jenige zu sein, der ich nun mal bin. Der dergestalt Situierte kann sich selbst als Person konzipieren, indem er zu den Bedingungen der die Welt als summarischen Gesamtbestand konzipierenden Ontologie denkt. Der Unterdrückung der eigenen Situiertheit korrespondieren dabei die Möglichkeiten des deskriptiven Zugriffs auf das Seiende, den die Sprache der Quantität bietet. Ebenso unterdrückt die phänomenale Beschreibung in ihrem Ausdruck die mögliche quantitative Gestalt des Seienden. Angang und Treff des Jeweiligen entspricht aufseiten des Situierten dessen unabwälzbares Angegangen- und Getroffenwerden. Dem Verhältnis eignet ein pathisches Moment: Im Verhalten zum Jeweiligen bin ich immer schon so von ihm getroffen. Emotionales Betroffensein von einem Jeweiligen ist nur möglich auf dem Grunde dieser ursprünglichen Offenheit für Angang und Treff der Sachen, auf dem Grunde der ursprünglichen pathischen Verfasstheit des Verhaltens. In Situationen, in denen wir einen emotionalen Schlag einstecken müssen, ist das Getroffensein auf sein schmerzhaftes Extrem getrieben. Gerade in solchen Situationen regt sich die Hiobsfrage: ›Warum ich?‹ ›Warum trifft es mich?‹ Das Getroffensein vom Jeweiligen wird in Situationen emotionaler Betroffenheit schmerzhaft deutlich. Das Treffen ist aber phänomenales Charakteristikum des So und dessen, was je so angeht, überhaupt: Es eignet auch demjenigen, das weit weniger intensiv trifft als die Hiobspost und deshalb hinsichtlich seines Treff-Charakters unauffällig und unbeachtet bleibt. Genauso kann ich im Verhalten gegenüber dir nicht anders als dir mein So-Berührtsein von deinem Verhalten mir gegenüber zu spiegeln: Mein Verhalten dir gegenüber lässt als inkarniertes in Mimik und Gestik unmittelbar meine Berührtheit von deinem Verhalten mir gegenüber sehen. Meinem unvertretbaren Getroffenwerden vom So des Jeweiligen entspricht das ebenso unvertretbare Berührtwerden von dir in unserer Situation. 129 Das berührte Berühren, das EinanDas Verbergen dieser Berührtheit ist ein Verhalten, das sich der Leib im Laufe der Zeit aneignet – bisweilen so vollkommen, dass nicht klar ist, ob von einer Fähigkeit zum Verbergen oder von einer Unfähigkeit zum Zeigen der Berührtheit zu sprechen ist. Vgl. oben zur situativen Symptomatik.
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der-wider-und-wider-Spiegeln des So je meiner leiblichen Aufgerührt davon, dass du dich mir gegenüber so verhältst, ist das pathische Moment meines Verhaltens gegenüber dir bzw. unseres Verhaltens gegenüber einander. Zum So-Getroffensein vom Jeweiligen, zu deiner Berührung, wenn du dich mir gegenüber so verhältst, gehört, dass ich nicht ins Letzte klären kann, weshalb ich gerade so getroffen bin von dieser Sache, weshalb deine Anwesenheit mich in dieser Weise aufrührt. Im Verhalten zu je-dieser Sache bleibt deren verlaufendes So mehrdeutig, sofern keine Unverborgenheit ohne Verborgenheit ist. Verhalten ist immer auch ein Hinnehmen des So. Jede Empörung und Rebellion gegen eine Sache, gegen das Verhalten eines anderen mir gegenüber setzen dieses ursprüngliche Hinnehmen ihres So schon voraus. Indem ich mich empöre über eine Sache oder dein Verhalten mir gegenüber, habe ich sie bzw. es schon als empörend hingenommen. Gehemmtsein, ließe sich unter diesem Gesichtspunkt sagen, ist als Verwirrtsein von der Mehrdeutigkeit eine vergebliche Rebellion gegen die Hinnahme des So überhaupt: So ist sie der fahrige Versuch, sich angesichts der Mehrdeutigkeit dessen, was gerade Sache ist, zu entwirren. Die Situierten können sich selbst als Person konzipieren (dies gehört zu ihren konzeptuellen Möglichkeiten), indem sie zu den Bedingungen der die Welt als summarisch darstellbaren Gesamtbestand konzipierenden Ontologie denken. Der Unterdrückung der eigenen Situiertheit korrespondieren dabei positiv die Möglichkeiten des deskriptiven Zugriffs auf das Seiende, den die Sprache der Quantität bietet (ebenso unterdrückt die phänomenale Beschreibung in ihrem Ausdruck die mögliche quantitative Gestalt des Seienden). Phänomenal bin ich schon deshalb nicht eine Person oder die Person …, weil eine oder die Person ist, aber ich, wenn ich von mir selbst spreche, das Pronomen der ersten Person und die entsprechende Verbform mitsagen muss. Ich bin; die Person JB ist. Diesjenigkeit ist die spezifische Einzelnheit derer, die sagen: ›ich bin‹. Die Person JB ist einzeln in der Weise des Einzelfalls von …, d. h. als einzelne unter anderen Personen, als Exemplar einer Kategorie basaler Partikularien unter anderen Exemplaren dieser Kategorie. Andererseits – um dem Einwand ausdrücklich zu begegnen – sagen wir doch selbst: Der oder die Situierte ist. Dann aber intendieren wir eine Allgemeinheit, die gegen die nivellierende (meine Diesjenigkeit austilgende) Allgemeinheit der Person bestimmt ist als eine, die je-meine Diesjenigkeit ontologisch 227 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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bewahrt, d. h. sie getreu zu Worten bringt. Die schlechte Allgemeinheit der Person liegt darin, dass über sie, genauso wie über jedes Bestandsstück, gesagt werden kann, sie bestehe. Die Personen verschwimmen ontologisch mit dem nicht personalen Seienden zu einem Gesamtbestand, innerhalb dessen sie eine Klasse von Bestehendem ausmachen: Über sie wird wie über alles andere geurteilt: ›ist‹ und ›ist …‹. In der quantitativen Sprache über das Seiende, in der ich mich selbst nur als die Person JB konzipieren kann, ist meine ursprüngliche Einzelnheit verloren, meine je-eigene Endlichkeit, die ich als Diesjenigkeit existierend an mir selbst erfahre; verloren ist die Reichheit all dessen, was sich nur am Leitfaden des ›ich bin‹ beschreibend herausarbeiten (und am Leitfaden des ›der/die Situierte ist …‹ allgemein explizieren) lässt. Verloren ist das Getroffen- und Berührtwerden, verloren ist das So je-dieser Situation. Person und Situierter sind nicht vereinbar. Diese Unvereinbarkeit können wir nicht nachträglich abmildern oder gar aus der Welt schaffen, indem wir der Person ein ›Erlebnis‹ des Getroffen- und Berührtseins zuschreiben. Die Selbst-Losigkeit der Person heben wir dadurch nicht auf. Denn unbeschadet dieser Nachbesserung unterschlagen wir doch immer noch, dass ich je selbst unabwälzbar getroffen und berührt werde: Die Selbst-Losigkeit der Person …, die ist, d. h. die ich nicht bin, machen wir nachträglich nicht rückgängig. Person und Situierter gehören zwei verschiedenen Sprachen an. Es kann keine unierte Theorie geben, die den Situierten auf die Person zurückführt. Nagel hätte also stärker formulieren können, als er es tut: Ich bin nicht in der Welt der Personen, d. h. in der quantitativ als Bestandsganzes gedachten Welt.
Handeln und Freiheit Wenn wir uns selbst als Situierte beschreiben, dann müssen wir dem phänomenalen Befund Rechnung tragen, dass wir dabei auch Handelnde sind. Wir müssen beide Konzepte deskriptiv in Einklang bringen. Vielleicht müssen wir uns sogar darüber erklären, dass wir die Situierten nicht primär als ›handelnde‹ Wesen ansetzen, sondern die Beschreibung der Situiertheit am Phänomen des Verhaltens-zu … aufgezogen haben. Zumindest scheint doch im Rahmen der Quantität ›… handelt‹ tatsächlich eines der P-Prädikate par excellence zu sein, da es die spezifische Differenz der Personen innerhalb der Klasse der 228 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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basalen Partikularien angibt: Personen sind die einzigen unter diesen, die handeln. Sofern wir handeln, entspringt unser Tun Absichten oder Zwecken. Zwecke und Absichten ausbilden und unterhalten können wir insofern, als wir die Zukunft zu antizipieren vermögen: Ich handle in der Absicht zu …, das heißt aus einer Absicht heraus. Ich habe es, indem ich handle, abgesehen auf eine direkte oder mittelbare Konsequenz dieser Handlung. Da ich die Konsequenzen verschiedener Handlungen antizipieren kann, kann ich zwischen verschiedenen Handlungen wählen. Ich habe Optionen des Handelns. Darin liegt die Freiheit des Handelnden: Handlungen sind Ereignisse, die einerseits zwar kausale Wirkung auf die Welt zeitigen, andererseits aber diesen Kausalzusammenhang transzendieren, insofern sie selbst nicht (zumindest nicht ohne Weiteres) als von diesem determiniert zu beschreiben sind. In diesem Sinne hat Kant von einer ›Kausalität aus Freiheit‹ gesprochen: Was ich handelnd tue, zeitigt einerseits eine kausale Wirkung, ist andererseits aber, was sein eigenes Entstehen angeht, nicht problemlos in einen bloß kausalen Nexus von Ereignissen zu integrieren (vgl. 1998, B 472 ff.). Handelnde sind wir, insofern wir selbst nicht in den umfassenden Kausalzusammenhang der Natur einzuordnen sind. Als Handelnde sind wir diesem gegenüber frei. Dieser negativen Freiheit korrespondiert als positives Moment die Freiheit der Initiative; beide Momente sind in unserem Begriff der Handlungsfreiheit mitgedacht. Ich verursache aus einer Absicht heraus eine Veränderung der Welt. Ich initiiere damit diese Veränderung. Inwiefern aber ist diese Beschreibung vereinbar mit der hier vorgetragenen, die in der Behauptung gipfelte, der Situierte werde zu seinem jeweiligen Verhalten bewegt? Negieren wir damit das positive Moment der Freiheit, die freie Initiative? Führen wir hinterrücks eine neue Gestalt des Determinismus ein? Denn die Freiheit meines Handelns soll doch darin liegen, dass ich zu einem gegebenen Zeitpunkt Optionen habe, unter denen ich kraft meines Vermögens zur Initiative frei wähle und in Absehung auf die ich kraft desselben Vermögens bestimmte Veränderungen der Welt bewirke. Mag diese Freiheit auch durch Umstände eingeschränkt sein, die ein bestimmtes Handeln nahelegen, mögen diese Umstände auch derart sein, dass sie ein bestimmtes Handeln nahezu unumgänglich machen: Wer könnte bestreiten, dass wir der phänomenalen Sachlage nach – wenn nicht immer, dann zumindest bisweilen – zwischen Optionen wählen? Und dass dadurch unser Verhalten, als frei initiiertes, zum Handeln 229 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
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wird? Wie verträgt sich das mit der Behauptung: ›Das Seiende, das wir je selbst sind, ist zu beschreiben als Situierter oder Situierte, d. h. als situativ zu je-diesem Verhalten Bewegter oder Bewegte‹ ? Behaupten wir damit nicht, wie befürchtet, eine Art Determinismus? Zunächst ist hier – wie überall – die Differenz der ontologischen Rahmen zu berücksichtigen. Absicht, Initiative, Freiheit haben ein quantitatives Schema, das in seinen Grundzügen wie folgt lautet: ›zu tx bewirkt die Person XY in der Absicht zu …, diese und jene Veränderung dieser und jener Bestandsstücke.‹ Die Aussage, dass wir zu unserem Verhalten bewegt werden, kann in diesem Rahmen freilich nur als Determinismus erscheinen. Es ist aber eine im ontologischen Rahmen der Phänomenalität getroffene Aussage. Dass wir einen Determinismus zu unseren ontologischen Prämissen gar nicht behaupten können, erhellt daraus, dass ein solcher nur im Rahmen einer quantitativen Ontologie überhaupt eine theoretische Alternative sein kann. Determinismus (Naturnotwendigkeit) bedeutet die Notwendigkeit des Eintretens eines Zustands, gesetzt, dass ein bestimmter anderer Zustand herrscht. Der Determinismus setzt die Reihung der Zeitpunkte voraus, deren Nacheinander der Nexus determinierender und determinierter Zustände des Bestandsganzen ist. Der situative Prozess determiniert nicht in dieser Weise das Verhalten. Wir fassen das Verhältnis von situativem Prozess und Verhalten des Situierten stattdessen, wie beschrieben, so auf, dass jener sich in diesem manifestiert. Am Situierten und in dessen Verhalten gewinnt die Situation selbst phänomenale Gestalt. In diesem Sinne braucht die Situation den Situierten, daher gibt es keine Situation ohne Situierten und daher ist die Einzigkeit jeder Situation an die Einzelnheit des jeweiligen Situierten gebunden. 130 Die Manifestation ist von der Determination insofern verschieden, als sie nicht das Voraufgehen eines verursachenden und Resultieren eines verursachten Ereignisses ist (nicht das Folgen eines Zustands auf den anderen), sondern das Ineinander von Manifestiertem und Manifestierendem, dergestalt, dass das Manifestierte immer auch das Manifestierende ist und das Manifestierende das Manifestierte. Der Sinn von ›weil‹, den wir hier versucht haben gegen den kausalen abzuheben, ist der manifestative: Das eine weil das andere und vice versa; eines nicht ohne sein anderes und nur In ähnlichem Sinne hat Heidegger gesagt, das Sein brauche den Menschen – freilich ohne darin den Nachdruck in der Weise auf den einzelnen Menschen zu legen, wie es hier geschieht (vgl. z. B. 1994, 71).
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solange als dieses. Ein solches Verhältnis ist das der wechselseitigen Manifestation zweier, die erst in der Wechselseitigkeit ihres Ineinander phänomenale Gestalt gewinnen. Der situative Prozess begreift den Situierten ein in seinen Verlauf. Er ist relativ zu ihm umwärtig. Der Situierte findet sich phänomenal immer schon in je-dieser Situation, d. h. in je-dieser Phase des situativen Prozesses. Die Situierten existieren, insofern dieser Prozess sich vollzieht als einbahnig gerichtete Bewegung von der Geburt zum Tod. Die phänomenale Gestalt dieser Bewegung ist die Zwiefalt von situiertem Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten und Sich-so-Gestalten des Jeweiligen. Im Sich-so-Gestalten des Jeweiligen und im Verhalten zu ihm manifestiert sich die Situation selbst: Verhalten und Sich-Gestalten manifestieren die Situation. Als Sich-Verhaltender, dem sich das Jeweilige je so gestaltet, manifestiert dieser jenige Situierte, der je ich selbst bin, die Situation, in der er je ist. Diese ist deshalb an ihm, an seinem Verhalten und am Sich-so-Gestalten des Jeweiligen beschreibend aufzeigbar (seinen Kanon erhält dieses beschreibende Aufzeigen aus der Maxime der Treue zur Phänomenalität). Am Situierten manifestiert sich die Situation: Jeder Situierte erfährt an sich selbst den situativen Prozess. Dieser manifestiert sich in seinem Verhalten, ist dabei aber nicht unabhängig vom Verhalten feststellbar als es determinierend oder kausal verursachend. Deshalb ist eine phänomenale Ontologie nur aus der eigenen Situation heraus zu vollziehen: Nur indem wir uns zu unserer je-eigenen Situiertheit ins Verhältnis setzen, bekommen wir die Phänomenalität ontologisch in den Blick. Phänomenal ist das Verhältnis von Situation und Situiertem also kein kausales, sondern das der Manifestation. Trotzdem bleibt die Frage, ob der Situierte in dem Sinne frei genannt werden darf, dass er aus sich heraus frei initiiert, wenn er doch, wie wir behaupten, nicht anders kann, als die Situation zu manifestieren. Die Antwort auf diesen Einwand verlangt es, die bereits angesprochenen ontologischen Grundlagen dieser Auffassung der Initiative-aus-sich weiter zu explizieren. Sie ruht auf der Konzeption des Handelnden als Person und damit auf der quantitativen Ontologie: Personen fungieren als wirkende Initiativzentren von Veränderungen im Bestand, zu dem sie selbst gehören. Sie verantworten bestimmte Änderungen des Bestehenden. Dass sie dabei frei sind, d. h. nicht kausal determiniert sind und initiativ fungieren, ist ein Grund dafür, dass diese Verantwortung ethisch und juridisch gefasst werden kann, dass deontisch an die Personen appelliert werden kann. Dass Personen ihr Handeln zu verant231 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
worten haben, ist eine ethische Konsequenz ontologischer Verhältnisse, was einmal mehr die Verwobenheit der philosophischen Subdisziplinen untereinander belegt. ›Handeln‹ ist im Rahmen der quantitativen Ontologie solcher Wandel des Bestehenden, den Personen frei aus sich heraus initiieren, der deshalb auf Personen und ihre Aktivität zurückgeht. Diese personale Handlungsfreiheit beruht darauf, dass Personen fähig sind, ihre Handlungen und deren Folgen zu antizipieren. Personen bezwecken entweder bestimmte Änderungen des Bestehenden oder nehmen sie in Kauf. Darauf fußt etwa in Hegels Rechtsphilosophie die Zurechenbarkeit auch der Affekthandlung (1986, 226). Wenn wir nun davon sprechen, zu unserem Verhalten bewegt zu werden, dann negieren wir damit nicht die Freiheit der Handlung. Allerdings bleibt zu fragen: Was macht denn phänomenal eine Handlung aus, worin liegt phänomenal die Freiheit des Handelns? Und wie hängt das Handeln mit dem Verhalten zusammen bzw. worin unterscheidet es sich von ihm? Die Beantwortung dieser Fragen muss ihre Richtung aus der methodischen Leitfrage: ›Wie ist es zu … ?‹ erhalten. Wir fragen dann nach dem phänomenalen Schema der Handlung, das von dem eben umrissenen quantitativen Schema zu unterscheiden ist. Zunächst ist ›Verhalten‹ gegenüber ›Handeln‹ der weitere Begriff: Alle Handlungen sind ein Verhalten, längst nicht alles Verhalten ein Handeln. Eine Handlung nennen wir nur jenes Verhalten, das antizipierbar ist. Dass ich gerade in die Mensa, die Bibliothek gehe, ist eine Handlung – ich will etwas essen, benötige die und die Bücher. Dass meine Gedanken zu dieser Sache schweifen, während ich den Universitätsplatz überquere, das würden wir deshalb keine Handlung nennen, weil wir es nicht in eine teleologische Erklärung einzuordnen vermöchten. Bergson hat in einem Beispiel auf diese Verschiedenheit von antizierbarem und nicht antizipierbaren Verhalten hingewiesen: Versuchen Sie einmal, sich heute die Handlung vorzustellen, die Sie morgen ausführen werden, sogar wenn Sie wissen, was Sie tun werden. Ihre Vorstellungskraft zeigt ihnen vielleicht die auszuführende Bewegung; aber was sie denken und empfinden werden, während Sie sie ausführen, davon können Sie heute nichts wissen […] Gesetzt also, dass Sie wissen, was sie morgen tun werden, werden Sie von diesem Tun nur die äußere Konfiguration vorhersehen (2013, 10 f.). 131 131
»Essayez, en effet, de vous représenter aujhourd’hui l’action que vous accomplirez
232 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Der Situierte selbst
Als Handlung konzipieren wir unser Verhalten dann, wenn wir es aus einem antizipierten Zweck zu erklären versuchen. Dies ist keinesfalls die einzige, nicht einmal die vorrangigste Gestalt des Verhaltens. Wir sind phänomenal nicht vor allem dadurch ausgezeichnet, dass wir handeln. Wir handeln phänomenal dann, wenn wir uns antizipativ zu Handlungsoptionen verhalten. Wir lassen uns dabei durch eine Absicht zu einer Handlung motivieren. Dieses Sich-Motivieren-Lassen ist dabei – und das ist letztlich der Grund, warum Initiative und situative Bewegtheit vereinbar sind – selbst schon ein Verhalten, zu dem wir situativ bewegt werden. So etwas wie Motive bildet sich überhaupt erst im Verhalten und nur im Verhalten gewinnen diese Motive ihr jeweiliges Gewicht. Das Motiviertwerden zu … ist selbst schon ein Modus des situativen Bewegtwerdens zu je-diesem Verhalten. Das Vermögen zur Initiative steht nur dann im Widerspruch zu diesem Bewegtwerden, wenn es quantitativ konzipiert wird, d. h. zu den Bedingungen einer linear als Reihe gedachten Zeit: Eine Person initiiert durch ihr Handeln eine Veränderung in der Welt qua Bestandsganzes. Die Handlung trifft auf einen Zustand des Bestehenden und verändert ihn. Diese Veränderung geht zurück auf die freie Initiative der handelnden Person: Diese beabsichtigt sie oder nimmt sie in Kauf. Sie ist damit auch für ihr Handeln verantwortlich. Die quantitative Konzeption der Initiative setzt die Reihung der Zeitpunkte voraus: Zu t1 herrscht Zustand Z1, zu t2 Zustand Z2. Ursache dieser Veränderung ist ein Ereignis, das von einer Person in Antizipation einer Wirkung aktiv initiiert wird und damit eine Handlung ist. Die betreffende Person ist der Akteur (das personale agens) dieser Veränderung. Schränken wir uns aber in diesen Ausführungen nicht erstens recht willkürlich auf einen ›dezisionistischen‹ Begriff von Handeln und Freiheit ein und setzen zweitens eine Art von ›Kompatibilität‹ von Freiheit und Naturdeterminismus voraus? Ignorieren wir dabei nicht von vorneherein kurrente Alternativen zu diesen Modellen, die doch zumindest – methodische Sorgfalt scheint es zu gebieten – erwähnt, diskutiert und verworfen gehörten, die zumindest gegenüber
demain, même si vous savez ce que vous allez faire. Votre imagination évoque peutêtre le movement à executer; mais de ce que vous penserez et éprouverez en l’exécutant vous ne pouvez rien savoir aujhourd’hui […] Donc, à supposer que vous sachiez ce que vous ferez demain, vous ne prévoyez de votre action que sa configuaration extérieure;«
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Die Situierten
dem Modell, dem wir den Vorrang einräumen, als defizitär aufzuzeigen sind? Wenn wir so vorgehen, mögen wir uns immerhin in Sicherheit wiegen, die Grundspielbedingung im ›Spiel der Gründe‹ zu erfüllen. Nur würden wir darüber die eigene methodische Grundforderung des Abstehens vom Modellieren vergessen. Es ist uns nicht darum zu tun, ein dezisionistisches oder kompatibilistisches Modell gegen andere zu verteidigen, denn damit trügen wir einen Binnenkonflikt der quantitativen Ontologie aus. Es geht darum, zu zeigen, dass die Handlung, sofern wir mit diesem Phänomen vertraut sind und diese Vertrautheit aussprechen, in den Zusammenhang der Phänomene Antizipation, Entscheidung, Motivation, Absicht gehört – und dass diese Phänomene insgesamt den Außenaspekt dessen ausmachen, was von innen (in der Situation dessen oder deren, von dem oder der gesagt werden kann, er oder sie handle) die Zwiefalt von Verhalten und Sich-so-Gestalten des Jeweiligen ist. ›Handlung‹ ist ein Ausdruck für die Außenseite des Verhaltens. Deshalb ist der Handlungsbegriff vor allem juristisch bzw. rechtsphilosophisch interessant: Juristische Beurteilung erfolgt immer ›von außen‹, nämlich durch einen unbeteiligten Dritten. Die Tathandlung verweist auf die Tatherrschaft des Handelnden: Sie ist ihm zuschreib- und deshalb juridisch zurechenbar. Das gilt deshalb auch für die ›Affekthandlung‹, weil auch derjenige, der sich seinem Affekt überlässt, zu dem Zeitpunkt, wo er sich ihm hingibt, um deren Folgen weiß. Er weiß, in Hegels Worten, »daß in solchem Benehmen solches liegt (1986, 228).« Antizipation ist möglich, deshalb sind wir auf sie hin zu verpflichten. In dem durch Antizipation gekennzeichneten Diskurs über Handlungen – das ist es, was als Pointe Bergsons aus der zitierten Passage hervorzuheben ist – nehmen wir den Sich-Verhaltenden in seinem Außenaspekt, nämlich als Handelnden. So können wir dann auch uns selbst in unserem Außenaspekt konzipieren als Jemand unter Jemanden, als personale Partikulare unter anderen. Die je-eigene Existenz schließt die Ko-existenz des situierten Miteinanders ein: In deiner Anwesenheit modifiziert sich mein Verhalten zum Verhalten gegenüber dir. Eine derivative Modifikation dieses Gegenübers ist der detachierte (unberührte) Beobachter, der mir – von außen – ein bestimmtes Handeln zuschreibt: ›JB geht in die Mensa.‹ – und genauso gebe ich dir Auskunft: ›Ich gehe in die Mensa.‹ In dieser Aussage ist alles getilgt, was jetzt, da ich die Straße zur Mensa hinuntergehe, zwar da ist, aber nicht ableitbar aus der Absicht, die ich verfolge, wie 234 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Der Situierte selbst
man sie verfolgt, indem ich eben in die Mensa (oder in die Bibliothek, zum Kopieren, in die Sprechstunde) gehe. Wenn jede Handlung auch ein Verhalten ist, aber nicht umgekehrt jedes Verhalten ein Handeln, dann kann in der Frage nach der Phänomenalität der Freiheit nicht mehr die Freiheit der Handlung gemeint sein, sondern dann steht die Frage nach der Freiheit des Verhaltens. Diese liegt darin, dass sich das Verhalten weder dem Schema der Teleologie, der zweckmäßigen Initiative, noch dem der Kausalität (bzw. der Naturnotwendigkeit) fügt. Freiheit ist phänomenal nicht die Fähigkeit zu zweckmäßiger Initiative, d. h. dazu, zu einem Zeitpunkt eine zweckgemäße Veränderung des Bestands zu bewirken. Das phänomenale Schema der Freiheit ist das unausgesetzte Sich-Bilden und Umbilden des So: das unablässige Bewegtwerden zu je-diesem Verhalten zum Jeweiligen. Freiheit ist die neu und neue Emergenz ex nihilo der Zwiefalt von Verhalten und Sich-Gestalten. Diese ist weder irgendwie programmierbar noch unter Voraussetzung eines bestimmten Weltzustandes notwendig eintretend. Die Genese und ReGenese des So ist nicht kausal oder teleologisch zu erklären: weder aus antizipierten Zwecken, noch aus kausalen Wirkursachen. Sie fügt sich weder in das eine noch in das andere quantitative Schema – sie ist die Phänomenalität selbst. Grundlos und unverursacht hat sich immer schon das So des Jeweiligen gebildet bzw. ist es immer schon in Bildung und Umbildung begriffen. Im So des Jeweiligen ist ungeschieden die Kontingenz (Okkasionalität) der Gegenwart eben dieser und nicht einer anderen Sache, der Begegnung mit eben dir und keinem anderen, und der Essenzialität meines Verhaltens zu ihr, meines Verhaltens zu dir und gegenüber dir – ohne dass je eine von aller Kontingenz geschiedene Essenz meiner freizulegen wäre. Die phänomenale Grundlosigkeit des Verhaltens ist also nicht die des Zufälligen. Dass es in je-dieser Situation so ist, ist niemals bloß zufällig, sondern enthält immer das essenzielle Moment, dass ich es bin, dem es so ist. Die gemeinte Grundlosigkeit ist die der Ununterschreitbarkeit dessen, das nicht auf ein elementareres Prinzip zu gründen, nicht aus einer voraufgehenden Ursache zu erklären ist. Frei bildet sich neu und neu das Verhalten zum Jeweiligen. Dieses mein Verhalten setzt mich selbst frei. In meinem Verhalten trete ich nicht nur der Welt entgegen, sondern mir selbst, insofern ich bei mir selbst wohne: ich erfahre mich selbst als die Welt Erfahrenden. Ich wohne ebenso ursprünglich bei meinem eigenen Verhalten zum Jeweiligen wie ich in der Welt wohne, die den Horizont der vom Ver235 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
halten durchlaufenen und übergangenen Sachen bildet. In meinem Verhalten komme ich selbst als Situierter ins Freie: Ich selbst werde in meiner Situiertheit manifest. Das Verhalten ist die freie (weder teleologisch noch kausal abzuleitende) Freisetzung meiner selbst als Diesjeniger, der ich bin und zu sein habe. Ich weiß, dass ich so bin, ohne dabei dieses So-sein erschöpfend artikulieren, deskriptiv fixieren zu können: Ich selbst bleibe mir nicht weniger mehrdeutig als das Jeweilige überhaupt. Die Freiheit ist phänomenal die freie (unableitbare) Freisetzung meiner selbst im Verhalten zum Jeweiligen. Darin, dass es so ist, jetzt hier zu sein, bin ich selbst manifest. Und darüber hinaus kann ich ontologisch von mir selbst nichts sagen.
Wahrheit Es geht hier nach eigener Auskunft darum, in Abhebung gegen ihren Widerpart, die Sprache der Quantität, eine Ontologie der Phänomenalität zu entwickeln. So mag es zunächst erklärungsbedürftig scheinen, warum wir dabei auch auf die Wahrheitsproblematik zu sprechen kommen. Wahrheit ist doch viel eher Thema der Logik, der Semantik, der Erkenntnistheorie als Thema der Ontologie? Gesetzt es verhalte sich so, dann sind zumindest Logik und Semantik (und vielleicht auch Epistemologie) Ekstasen der Ontologie: In diesen Disziplinen steht die Ontologie in dem Sinne über sich hinaus, dass sie ihr eigenes Sprechen (Aussagen) ausdrücklich zu ihrem Thema macht. Hinausstehen bedeutet aber noch kein Hinter-sichLassen; die Bewegung der Ekstase vollzieht sich innerhalb der Entwicklung einer Ontologie. Im Entwerfen einer Sprache über das Seiende werden wir, ohne es zwingen zu müssen, auf das Wahrheitsproblem gestoßen: Insofern eine Ontologie sich selbst durchsichtig werden muss, um in methodischer Strenge formuliert zu werden, gehört die Thematisierung der Wahrheit unabweisbar zur Entwicklung einer Ontologie. Es wurde im zweiten Kapitel auf die intrikate Verflochtenheit von Beschreibung und Methode hingewiesen. Es zeigte sich diese Verflochtenheit durch die ganze Arbeit hindurch darin, dass ›inhaltliche‹ und ›methodologische‹ Darlegungen zwanglos ineinander griffen, dass die Ausarbeitung der Beschreibung gleichbedeutend war mit der Ausarbeitung ihrer Methode: Im Wahrheitsproblem kulminiert die Methodenreflexion. 236 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Wahrheit
Wir nehmen zum Ausgang Heideggers Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsphänomen in Sein und Zeit. An dieser Auseinandersetzung lassen sich zunächst zwei Stoßrichtungen unterscheiden. Die destruktive Stoßrichtung zielt ab auf die Freilegung der verschütteten Fundamente der aus der philosophischen Tradition überkommenen Konzeption der Wahrheit als ›Übereinstimmung‹ oder ›Korrespondenz‹, ›adaequatio intellectus et rei‹. 132 Die kreative Stoßrichtung von Heideggers Auseinandersetzung mit der Wahrheit verfolgt die nochmalige Fundierung jener freigelegten Fundamente. Sie bleibt hier ausgeklammert. Heidegger versucht also, die verschütteten Fundamente der Wahrheit als Übereinstimmung zwischen Aussagen und dem Worüber des Aussagens freizulegen. Zu diesem Worüber ist zunächst zu sagen, dass es für Heidegger immer das ausgesagte Seiende selbst ist und keine Vorstellung eines Seienden. Das Aussagen wird nicht repräsentational gefasst, d. h. sein Bezug zum Seienden wird nicht gedacht als durch eine mentale Repräsentation vermittelt (vgl. 1979, 217 f.). Die Frage ist dann: »Wann wird im Erkennen selbst die Wahrheit phänomenal ausdrücklich?« Und die Antwort: Dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist. Die Selbstausweisung sichert ihm seine Wahrheit. Im phänomenalen Zusammenhang der Ausweisung muß demnach die Übereinstimmungsbeziehung sichtbar werden (ebd., 217).
Das Erkennen weist da aus, d. h. Wahrheit ist phänomenal da, wo eine Aussage sich als wahr erweist, d. h. als dem Ausgesagten adäquat. Das richtige, adäquate Aussagen über das Seiende setzt nun dessen Erscheinen, Sich-Darbieten voraus. 133 Jeder, der die Wahrheit als Übereinstimmung von Aussage und ihrem Worüber ansetzt, setzt eo ipso schon voraus, dass das Seiende den Aussagenden erscheint. Eine Aussage wie: ›Das Bild an der Wand hängt schief‹ kann nur als dem ausExplizit thematisiert wird die selbstgestellte »Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie« im § 6, der eben diese Überschrift trägt. 133 In Kochs Terminologie ist dies das ›phänomenale Moment der Wahrheit‹. In einem sehr universalen Sinne des Wortes ist also alles Seiende Phänomen, auch die Bestandsstücke, insofern sie in irgendeinem Sinne vernommen werden. Dieser deflationäre Phänomenbegriff ist allerdings von dem hier terminologischen zu unterscheiden: Bestandsstücke erscheinen kontingenterweise, während es für die Phänomene der Phänomenologie konstitutiv ist, zu erscheinen. Um keine Verwirrung zu stiften, gebrauchen wir für jenen deflationären Phänomenbegriff den Ausdruck ›Erscheinung‹. 132
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Die Situierten
gesagten Seienden adäquat oder inadäquat ausgewiesen werden, insofern dieses sich selbst darbietet als schiefhängend oder nicht (vgl. ebd., 217 f.). Das Erscheinen des Seienden ist die unabdingliche Ressource des Aussagens über es: Die Aussage zeigt auf, sie ist der Logos in seinem apophantischen Modus; sie kann dem Seienden adäquat sein, dann ist sie richtig; sie ist ihm aber nicht notwendigerweise adäquat, kann also auch falsch sein. Formal treffen wir die Wahrheit also da an, wo wir Aussagen über erscheinendes Seiendes treffen, mit denen wir darauf prätendieren, Wahres über dieses Seiende zu sagen, wobei wir freilich im selben Atem volens-nolens die Möglichkeit des Irrtums zugestehen. 134 Koch nennt dies das ›Faktum der Wahrheit‹ (vgl. 2006b, 11 ff.): Wir erheben mit unseren Aussagen Wahrheitsansprüche. Nur ist dieses ›Wir‹ noch insofern zweideutig, als wir dabei die Personen oder aber die Situierten sein können. Auch ist dieses Schema der Wahrheit bisher, wie gesagt, erst ein formales. Wir müssen es entformalisieren, indem wir es jeweils innerhalb der zwei ontologischen Grundmöglichkeiten formulieren und so konkretisieren. Dadurch erfährt es also eine Gabelung in ein phänomenales und ein quantitatives Schema. Beide sind insofern verwandt, als dasselbe formale Schema für sie bestimmend bleibt, während die divergierenden ontologischen Bedingungen der zwei Sprachen über das Seiende als solches die Ausbildung zweier Variationen des formalen Schemas bedingen.
Das quantitative Schema der Wahrheit Personen erheben Wahrheitsansprüche über die Bestandsstücke. Sie tun dies deshalb zu Recht, weil das Bestehende ihnen erscheint. Personen beobachten den Bestand und treffen auf dieser Basis Aussagen über ihn: Sie sind darin allerdings fallibel (irrtumsanfällig), insofern sie mit epistemischer und raum-zeitlicher Endlichkeit geschlagen
Wir sehen, dass es ontologisch neutrale Aussagen gibt: solche, die in beiden Rahmen getroffen werden können. Die formale Bestimmung der Wahrheit ist ein Fall solcher neutraler Aussagen. Wer eine ontologische neutrale Aussage trifft, gibt damit noch nicht zu erkennen, in welchem ontologischen Rahmen er sich bewegt. Dies zeigt sich erst, sobald er eine nicht neutrale Aussage trifft, d. h. eine, gegen die sich im Rahmen einer der beiden Ontologien Widerspruch erhebt.
134
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Wahrheit
sind. Ihr Erfahren ist nicht vollendet konservativ. Es bleibt immer denkbar, dass sie die Bestandsstücke nicht so erfahren, wie sie an sich sind, und dass dieser Fehl sich in falschem Aussagen äußert. Dieses An-sich ist nun nicht dasjenige der kantischen Dinge an sich (die sich durch Nicht-Erscheinen auszeichnen), denn das Seiende erscheint doch. Dieses An-sich ist die Objektivität des Seienden. Die Wahrheitsansprüche der Personen sind objektive. Ihr Aussagen prätendiert darauf, das Seiende adäquat, d. h. in seiner Objektivität wiederzugeben: Es erhebt den Anspruch, zutreffend oder richtig zu sein. Personen treffen in ihrem Aussagen entweder die Objektivität des Bestandsstücks, über das sie aussagen, oder nicht: Ihre Aussagen sind richtig oder falsch. Personen schreiben Bestandsstücken (intrinsische und relationale) Eigenschaften zu (›x ist …‹); Personen subsumieren Bestandsstücke aufgrund bestimmter Eigenschaften unter bestimmten Kategorien (›x ist ein Fall von …‹). sie schreiben also einerseits dem Seienden Eigenschaften zu, andererseits schreiben sie dieses Seiende bestimmten Kategorien zu: Sie sagen, was etwas ist und wie es (intrinsisch und relational) beschaffen ist. Die geglückte Zuschreibung, die richtige Aussage, bringt sich dadurch in die Übereinstimmung mit dem Ausgesagten, dass sie ihm nur Eigenschaften zuschreibt, die es objektiv besitzt, es nur Kategorien zuschreibt, in die es objektiv gehört. Das Bestandsstück ist dabei selbst das Kriterium für Richtigkeit und Falschheit der Aussagen über es (ihr ›Wahrmacher‹). Ob wir richtig von ihm aussagen, entscheidet sich allein an der Objektivität dieses Bestandsstückes. Wie aber kann das betreffende Bestandsstück dergestalt als Wahrmacher von Aussagen über es fungieren? Unter welcher Bedingung ist überhaupt denkbar, dass Bestandsstücke so fungieren? Unter der, dass, sobald sich je eine Person aussagend auf sie beziehen, schon objektiv bestimmt ist, was und wie beschaffen sie sind. Das Bestandsstück ist eine Eigenschaftsmenge, deren Umfang zu jedem Zeitpunkt objektiv fixiert ist. Deshalb ist jede Aussage, die eine Person zu einem gegebenen Zeitpunkt über es trifft, entweder richtig oder falsch. Diese scharfe Umgrenztheit der Bestandsstücke verhindert freilich nicht, dass unter Personen, die widersprüchliche Aussagen über eines von ihnen treffen, Streit entstehen kann. Sie ist vielmehr eine Voraussetzung dieses Streits, der nur deshalb entsteht, weil beide Parteien prätendieren, nicht etwas Beliebiges und Willkürliches über es zu sagen (dann müsste man nicht streiten, sondern könnte sich gegenseitig reden lassen, was und wie man wollte), son239 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
dern Richtiges, das ihm Widersprechendes deshalb ausschließt, weil es die Objektivität dessen, worüber es aussagt, für sich hat. Das An-sich der Objektivität bedeutet nicht schlechthinnige Unabhängigkeit vom Erfahren. Objektivität bedeutet Unabhängigkeit vom Erfahren jeder einzelnen Person oder jeder Gruppe von Personen. Wäre das Seiende nicht dergestalt unabhängig vom Aussagen der Personen, dann wäre der Prüfstein der Wahrheit ihrer Aussagen allein die Verifikation oder Falsifikation ihrer Aussage durch andere Personen. Dann wäre aber in den (denkbaren) Fällen, in denen die Personen ob ihrer epistemischen Endlichkeit nicht zur Verifikation oder Falsifikation einer Aussage in der Lage sind, diese Aussage weder wahr noch falsch. Dann wäre die Verifikation durch andere Personen der Wahrmacher von Aussagen, die Personen über das Seiende treffen. Damit aber würde man die Wahrheit, wenn nicht in das Belieben der Personen stellen, so doch abhängig machen von ihrer epistemischen Endlichkeit: Man gäbe dann die Objektivität der Wahrheit und damit diese selbst auf (in Kochs Terminologie gesprochen gäbe man den ›realistischen Aspekt‹ der Wahrheit preis). Aussagen über den Bestand sind jedoch unabhängig davon, ob sie verifizier- oder falsifizierbar sind, wahr oder falsch. Die Verifikation macht nicht die Wahrheit der Aussage: Sie stellt sie nur fest. Das endliche Erfahren der Personen kann einerseits nicht maßgeblich sein für die Objektivität des Seienden: Endliches personales Erfahren vermag die objektive Festlegung des Seienden nicht zu leisten. Andererseits ist das Seiende aber objektiv festgelegt, eine umgrenzte Menge an Eigenschaften. Wenn ihm diese Festgelegtheit nicht durch das endliche Erfahren der Personen zukommt, so kommt sie ihm genauso wenig schlechthin an sich und durch sich selbst zu; bestünden die Bestandsstücke schlechthin an sich, wären sie in sich verschlossen, epistemisch undurchdringlich, dann wären sie auch nicht objektiv etwas und irgendwie beschaffen, dann wären sie nicht bestimmt als eine Eigenschaftsmenge, sondern blieben überhaupt unbestimmt. Dann aber könnte sich an ihnen weder die Richtigkeit noch die Falschheit von Aussagen über sie erweisen. Die Voraussetzung der Konzeption der Bestandsstücke als zu jedem Zeitpunkt objektiv fixierte Eigenschaftsmengen ist das Ideal eines unendlichen Erfahrens. Die Unendlichkeit dieses Erfahrens ist erstens eine raumzeitliche: Es inkludiert jedes Bestandsstück zu jedem Zeitpunkt seines Bestehens. Seine Unendlichkeit ist zweitens eine epistemische: Es erfüllt das Desiderat vollendeter Konservativi240 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Wahrheit
tät, es wahrt notwendigerweise die Objektivität des Erfahrenen, die das personale Erfahren nur denkbarerweise wahrt. Dieses Erfahren ist das eines Beobachters von Nirgendwo. Nur der Blick eines solchen Beobachters erschließt die Welt als finites Bestandsganzes und nur sein Blick sieht im Hinblick auf das Seiende niemals fehl. Nur das unfehlbare und allgegenwärtige Erfahren solch eines epistemischen Ideals vermag die veridische Festlegung des Seienden zu leisten, die in der Wahrheit als Richtigkeit mitgedacht ist. Die Perspektive des Blicks von Nirgendwo ist charakterisiert durch die Zwiespältigkeit, dass wir sie uns einerseits zu eigen machen können, andererseits diese Aneignung insofern unvollendet bleibt, als wir unsere je-eigene Endlichkeit damit nicht aufheben. Deshalb bleibt das vollendete Blicken von Nirgendwo ein Ideal. Es ist als Ideal bestimmt gegen die Faktizität des je-eigenen Erfahrens, zu dem perspektivische und epistemische Endlichkeit unaufhebbar gehören. Was die aussagenden Personen betrifft, kann also zum Beispiel eine Aussage über die Beschaffenheit eines Bestandsstücks zu einem zukünftigen Zeitpunkt unentscheidbar sein. Unbeschadet dieser Unentscheidbarkeit aber ist sie objektiv richtig oder falsch: Es bestehen hinsichtlich jedes Bestandsstücks zu jedem Zeitpunkt seines Bestehens objektive, d. h. vom subjektiven Aussagen unabhängige Tatsachen – in der Konzeption der Bestandsstücke ist mitgedacht deren Gegebenheit für ein ideales Erfahren, dem sie ihre Objektivität verdanken. Denn ohne dieses Ideal ist Objektivität nicht denkbar: Dass jede – auch eine von Personen nicht verifizier- oder falsifizierbare – Aussage per se richtig oder falsch ist, ist denkbar nur unter Annahme eines Kriteriums, an dem sie sich unabhängig von ihrer Verifizieroder Falsifizierbarkeit durch Personen in die richtigen und die falschen scheiden. Es bestehen hinsichtlich jedes Bestandsstücks objektive Tatsachen. Diese sind die richtigen Sätze über das betreffende Bestandsstück, die unabhängig davon bestehen, dass Personen (Subjekte) sie in ihrem Aussagen realisieren. Die Tatsachen sind von der Art der Aussagen: »Aussagen der Form: ›Es ist eine Tatsache, dass p‹, wobei p für einen Satz steht, sind synonym mit: ››p‹ ist eine wahre Aussage […]‹ (Sellars 1962, 539).« Die Übereinstimmung, die in der Wahrheitsbeziehung gedacht ist, ist also keine Übereinstimmung der Aussage mit dem Bestandsstück, über das ausgesagt wird: Es ist eine Übereinstimmung zwischen einer Aussage und einer der Tatsachen, die hinsichtlich eines Bestandsstücks bestehen. Es wäre auch 241 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
gar nicht einzusehen, wie eine Aussage mit einem Bestandsstück selbst übereinstimmen sollte, denn die Übereinstimmungsbeziehung setzt doch eine grundlegende Gleichartigkeit dessen voraus, was übereinstimmt. Aussagen und Tatsachen sind in der Weise gleichartig, dass eine Übereinstimmung Ersterer mit Letzteren vorliegen kann: Die richtige Aussage stimmt hinsichtlich ihres propositionalen Gehalts mit einer Tatsache überein. Tatsachen sind die wahren (zutreffenden) Sätze über ein Bestandsstück. Die Menge der Tatsachen hinsichtlich eines Bestandsstücks ist die Menge der wahren Sätze über es. Aussagen werden von Personen getroffen, die sich in diesem Aussagen in die Übereinstimmung mit den unabhängig von ihren Aussagen, d. h. objektiv, bestehenden Tatsachen bringen können. Die Tatsachen aber bestehen jedem subjektiven Aussagen vorauf: Es gibt unabhängig von diesem subjektiven Aussagen wahre Sätze über dasjenige, worüber Personen Aussagen treffen. Diese wahren Sätze können nun ontologisch nicht in der Luft hängen, sondern müssen einem Erfahren korrespondieren, das sich in ihnen artikuliert – artikuliert, ohne sich in Aussagen zu realisieren, weshalb es ein Ideal bleibt. Dieses Ideal ist der Blick von Nirgendwo in seiner ontologisch grundsätzlichsten Formulierung als aperspektivisches, epistemisch unendliches Erfahren, das sich artikuliert in den wahren Sätzen, die es über das betreffende Erfahrende gibt, das diese Artikulation jedoch niemals in Gestalt einer getroffenen Aussage über es vollzieht: Aussagen treffen nur Personen. Das ideale Erfahren des Blicks von Nirgendwo verlautbart sein Erfahren nicht. Es gibt sich nur darin zu erkennen, dass jedes Mal, wenn Personen Aussagen über Bestandstücke treffen, diesem Aussagen Tatsachen voraufbestehen, gemäß denen sich die von Personen getroffenen Aussagen in richtige und falsche gliedern. Was objektiv eine Tatsache ist, ist gesetzt als nicht subjektiv gesetzt. Das subjektive Setzen einer These – das Treffen einer Aussage – über ein Bestandsstück setzt nicht, dass die ihm zugeschriebenen Prädikate ihm objektiv zukommen. Etwas als eine Tatsache anzusetzen bedeutet, es anzusetzen als unabhängig vom personalen Meinen bestehend: unabhängig von diesem und dabei nicht unbestimmt, sondern diesseits jeden subjektiven Meinens objektiv bestimmt. Die Objektivität des Bestehenden bedeutet seine veridische Fixiertheit: An der Objektivität eines Bestehenden entscheidet sich, ob das subjektive Aussagen über es richtig oder falsch ist. Es gibt unabhängig vom subjektiven Meinen eine Anzahl richtiger Sätze über das Bestehende und eo ipso auch eine Anzahl falscher – je nachdem, ob meine Aussage einen 242 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Wahrheit
richtigen Satz realisiert (eine Tatsache aussagt) oder nicht, ist sie richtig oder falsch. Was also eine objektiv richtige Aussage darstellt, entscheidet sich daran, welche Tatsachen der Aussage voraufbestehen. Dass die Tatsachen den subjektiven Aussagen der Personen voraufbestehen bedeutet: Sie sind für jedes Aussagen einer Person über ein Bestandsstück konstitutiv. Das Bestehende ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass ihm zu einem Zeitpunkt eine bestimmte Menge an Prädikaten zukommt. Die Bestandsstücke sind, was und wie beschaffen sie je sind, in Abhängigkeit der Tatsachen, die hinsichtlich ihrer bestehen: Das primäre Bestehen der Bestandsontologie ist das Voraufbestehen (dem subjektiven Aussagen) der Tatsachen. Das Bestehen (die Konstatierbarkeit) der einzelnen Bestandsstücke ist diesem gegenüber sekundär, wiewohl es zunächst eher in die Augen springen mag. Alles Sprechen über ein Bestandsstück hat sich von vorneherein unter den Anspruch der Objektivität gestellt, d. h. unter die Prämisse, dass, unabhängig davon, ob wir sie subjektiv aussagen oder intersubjektiv verifizieren können, eine bestimmte Menge wahrer Sätze über das betreffende Bestandsstück bestehen. Die Bestandsstücke sind durch die Tatsachen über sie veridisch fixiert: Es ist bestimmt, welche Aussagen über es Ausdruck von Wissen oder zumindest richtigem Meinen über sie darstellen. Keine Person kann diese Festlegung leisten – sie ist nur zu leisten von einem als aperspektivisch und epistemisch unendlichen gedachten Erfahren. Die Objektivität des Bestehenden setzt den Blick von Nirgendwo voraus. Aber haben wir dies schon zureichend dargetan? Warum soll denn so etwas wie der Blick von Nirgendwo überhaupt notwendig sein für Objektivität? Ist diese nicht schon damit gesetzt, dass wir, sobald wir Wahrheitsansprüche erheben, diese Objektivität beanspruchen – und darin ›unsere eigene Fallibilität mitbeanspruchen‹ (vgl. Koch 2006b, 14)? Wozu noch die Einführung einer ›Entität‹ (man wird mir zugestehen, dass dies höchstens mangels eines besseren Wortes gesagt ist) wie der des Blicks von Nirgendwo? Was bedeutet es denn, die eigene Fallibilität zu beanspruchen? Wenn das Wahrheit beanspruchende Aussagen immer mitbeansprucht, fallibel zu sein, so setzt es die veridische Fixiertheit seines Worüber voraus: Denn diese ist Bedingung der Möglichkeit dessen, dass jeder Aussage ein von dem subjektiven Meinen, das sich in ihr ausspricht, unabhängiger Wahrheitswert zukommt. Der Blick von Nirgendwo ist wiederum die Voraussetzung dieser objektiven veridischen Festgelegtheit des Seienden. 243 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
Natürlich legt schon das Bild des Blicks keine Entität nahe, sondern ein Geschehen: Der Blick von Nirgendwo ist das zum Ideal der Selbst-Losigkeit des Überpersonalen und damit zu Infallibilität und Standortlosigkeit bzw. -freiheit potenzierte Erfahren, wobei unter ›Selbst-Losigkeit‹ hier das methodische Überspringen seiner selbst verstanden ist: Der Blick von Nirgendwo ist als Ideal negativ bestimmt gegen das perspektivisch-fallible Erfahren der Personen bzw. Situierten: Er ist ein nur in Abhebung von der Endlichkeit konzipierbare unendliche Erfahren. 135 Aperspektivität und Infallibilität sind Negationen unseres je-eigenen Erfahrens: Sie sind die Negation der Phänomenalität überhaupt. Sofern wir uns diese Negation zu eigen gemacht haben, sofern wir zu dieser Bedingung – der Durchstreichung der Phänomenalität – sprechen, sprechen wir selbst von Nirgendwo, wodurch wir das Seiende als idealiter (d. h. von den endlichen Personen nicht einzuholen) objektiv bestimmt denken. So gewinnen wir die Objektivität (veridische Fixiertheit) des Seienden, So gerinnen wir im selben Atem zur Person …, hinsichtlich derer zu einem Zeitpunkt eine endliche Menge an Tatsachen besteht, wie sie hinsichtlich jedes Bestandsstücks bestehen. So verlieren wir den ursprünglichen Reichtum dessen, dass sich das Jeweilige in je-dieser Situation je so gestaltet.
Das phänomenale Schema der Wahrheit Machen wir ein eigenes Beispiel bzw. nehmen wir ein in der Tradition der Philosophie gebrauchtes Beispiel und wenden es neu: Wir beschreiben, dass dieser hier und jetzt ins Wasser gehaltene Stock (und nicht etwa ein in einem Klassenraum zu Demonstrationszwecken in ein Wasserglas gehaltener Teelöffel o. Ä.) sich in seinem Gebrochenwerden durch das Wasser so gestaltet: Eine solche Beschreibung müsste ausdrücklich eine Beschreibung dieser Situation sein; dabei wären nicht nur die jetzt gerade herrschenden Licht- und Windverhältnisse, die Bewegung der Wasserfläche einzubeziehen, sondern vor allem wäre die Situation in ihrem Verlauf wiederzugeben. 136 Die Vgl. oben (Kap. 3) über den Chiasmus von Endlich- und Unendlichkeit. »schwimmende Hölderlintürme« – In Celans Gedicht Tübingen, Jänner spiegelt sich der am Neckar stehende Hölderlinturm in dessen bewegter Oberfläche, seine Gestalt gerät in der Bewegung der Wasseroberfläche ins Schwimmen. Die Pointe
135 136
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Wahrheit
Gebrochenheit des Stocks wäre diachron zu beschreiben als sein verlaufendes Sich-Krümmen, das sich unter der Bewegung der Wasserfläche im Wind unausgesetzt modifiziert, also keinen Zustand der optischen Gebrochenheit ausmacht, sondern in seinem Währen zu beschreiben ist. Für eine solche Beschreibung ist es irrelevant, dass wir etwa wissen, der Stock ist eigentlich gerade, die Brechung wird verursacht durch den Eintritt des Lichtes in ein optisch dichteres Medium: Eine solche Beschreibung bewegt sich nicht weg vom Phänomen hin zu einer Erklärung seiner, sondern verhält bei ihm und seinem Sich-so-Gestalten: Eine solche Beschreibung hält dem Phänomen die Treue. Dann bewegen wir uns jenseits der Alternative eines richtigen oder falschen Urteils über den Stock. Uns ist es dann nicht mehr um die Objektivität des Stocks zu tun, sondern um sein Sich-so-Gestalten, seine Phänomenalität. Uns ist es dann um den Stock qua Phänomen zu tun. Wir haben die Frage nach der Objektivität des als Bestandstück gefassten Stocks ›ausgeklammert‹, ›inhibiert‹ (Husserl): Wir beschreiben solange Phänomene, bewegen uns solange im Rahmen der Phänomenalität, wie wir in unserer Beschreibung die Objektivität des Beschriebenen in der Schwebe halten, denn solange halten wir uns außerhalb des Rahmens der Quantität. Über Phänomene fällen wir keine richtigen oder falschen Urteile, Phänomene entdecken wir, indem wir sie beschreiben, in hohem oder geringem, in höherem oder geringeren Grade. Unsere Beschreibung ist unserer Erfahrung des Stocks in dieser Situation – seinem So – in höherem oder geringerem Maße treu. Entsprechend sagen wir in verschiedenem Grade Wahres über das Phänomen, so dass unser Aussagen sich nicht mehr in das Schema der durch eine Kluft getrennten Wahrheitswerte richtig und falsch einordnen lässt. Die Beschreibungen einer phänomenalen Ontologie sind in dem Grade phänomengetreu, in dem sie das beschriebene Phänomen offenlegen, d. h. das, was sich uns in unserer Erfahrung seiner so gestaltet, hinsichtlich dieses Sich-so-Gestaltens zugänglich machen. ›Ontologisch‹ sind ihre Beschreibungen insofern, als sie nicht das einzelne So dieses Jeweiligen (etwa dieses Stocks)
hierbei ist, dass die Wasserspiegelung (wie für uns hier die optische Krümmung des Stocks durch das Wasser) ›nur‹ ein Beispiel für das ist, was sich – unbeachtet – mit jedem Jeweiligen als solchem vollzieht: Seine Gestalt ist im Fluss, sein So flüchtig. Insofern hat auch die pluralische Rede von schwimmenden Türmen ihre Folgerichtigkeit (2005, 133).
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Die Situierten
thematisieren, sondern das Sich-so-Gestalten des Jeweiligen überhaupt – insofern, als sie die Phänomenalität der Phänomene thematisiert. Es wird hier ganz deutlich, dass die Unterscheidung von Phänomen und Bestandsstück keine ›reale‹, sondern eine ontologische (deskriptive) ist, d. h. eine der Sprache, in der das Seiende als Seiendes artikuliert wird. Es herrscht eine von der heideggerschen verschiedene ontologische Differenz zwischen Phänomen und Bestandsstück. Das Sich-so-Gestalten des ins Wasser gehaltenen Stocks ist in der Sprache der Quantität nicht einzuholen. In diesem Rahmen besteht der Stock, der unter die primären Bestandsstücke gehört, und es bestehen an ihm die sekundären Bestandsstücke seiner Eigenschaften. In diesem Rahmen verliert er die Eigenschaft der Ungekrümmtheit nicht, indem er ins Wasser gehalten wird: Er und das Wasser gehen keine Kausalverbindung ein, die als ihre Wirkung ein materiales, nicht bloß optisches Brechen des Stocks zeitigen würde. Qua Bestandsstück ist der Stock gerade, erscheint aber aufgrund der Nichtstandardbedingungen, die herrschen, als gebrochen. Qua Phänomen (im terminologischen Sinne des Ausdrucks) geht der Stock darin auf, sich so zu gestalten: Wir klammern die Erklärung dieses Sich-Gestaltens aus, wodurch wir positiv es selbst gewinnen, unsere Beschreibung für es öffnen. Dieses Sich-Gestalten ist epistemisch nicht fixiert: Seiner Beschreibung bestehen keine Tatsachen vorauf, mit denen die Beschreibung sich in die Übereinstimmung bringen könnte. Das So des Sich-Gestaltens ist epistemisch zu dem Grade erschlossen, in dem die Beschreibung es artikulierend zu Worten bringt und damit in den Diskurs derer, die das phänomenologische Wir bilden. Dass einer Beschreibung im Rahmen der phänomenalen Ontologie keine Tatsachen voraufbestehen bedeutet dabei nicht, dass sie willkürlich und mutwillig ›alles behaupten‹ kann. Sie ist innerhalb des phänomenologischen Wir kritisierbar aufgrund der je-eigenen Vertrautheit mit dem Beschriebenen. Wenn wir beschreiben (artikulieren), dass der Stock sich als gekrümmter so gestaltet, dann streiten wir nicht gegen die Erklärungen, die im Rahmen der Bestandsontologie für dieses Phänomen gegeben werden. Wir zeigen vielmehr, dass es eine Sprache gibt, in der anders über ihn zu sprechen ist und dass diese Sprache zu ontologischer Dignität gebracht werden kann. Wir widersprechen keiner im Rahmen der Quantität getroffenen Aussage, wir widersprechen der Sprache der Quantität, indem wir auf das hinweisen, was in ihr nicht einhol246 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Wahrheit
bar ist: Das Sich-so-Gestalten ist nur in der Zwiefalt mit unserem Verhalten getreu zu beschreiben; es vollzieht sich nur als das Verlaufen je-dieser Situation und ist ontologisch nur fassbar im Ganzen dieses Verlaufens. Alle Versuche, das So in den Rahmen der Quantität zu zwängen, sind zum Scheitern verurteilt. Sagte man etwa: ›An dem Stock besteht zu tx die relationale Eigenschaft, einer Person, (d. h. relativ zu ihr) gebrochen zu erscheinen‹, so wäre damit schon die Entstellung des So zu einem sekundären Bestandsstück getan: Das So ist dann nur noch eine über eine bestimmte Zeitspanne (Zeitpunktmenge) hinweg bestehende Eigenschaft eines primären Bestandsstücks – der Eigenschaft, relativ zu einer Person, der es zu einem Zeitpunkt gegeben ist, optisch gebrochen zu erscheinen. Ein und dasselbe Seiende ist also Phänomen und Bestandsstück – je nachdem, in welchem Rahmen es artikuliert wird. Und jenseits der Rahmen ist es: nichts. Nicht ist zuerst das Seiende und wird dann im einen oder anderen Rahmen zur Sprache gebracht: Die Ontologie ist irreduzibel. Wir können alles Seiende außerhalb jedes einzelnen der zwei Rahmen denken: aber dann nur im jeweils anderen, nicht außerhalb der Sprache überhaupt. Wenn wir vom Seienden sprechen, es konzipieren, auffassen, denken etc., wenn wir uns auf welche Weise auch immer zu ihm verhalten, so geschieht das bereits im Rahmen einer Ontologie. Egal, in welchem Rahmen wir sprechen: Situierter und Person fungieren in beiden als ontologischer Faktor: Da es Personen und Situierte gibt, gibt es das Seiende nicht außerhalb des Rahmens der Sprache, eines Rahmens, der binnenunterteilt ist in die zwei ontologischen Rahmen der Quantität und Phänomenalität. Gäbe es so etwas wie Personen oder Situierte nicht, so gäbe es Seiendes außerhalb des Rahmens der Sprache. Da es sie aber gibt, ist die Sprache weder unter- noch überschreitbar. Es ist also jedes im Rahmen einer Ontologie der Phänomenalität beschriebene Seiende auch im Rahmen der Quantität beschreibbar: es herrscht kein realer sondern ein deskriptiver Unterschied zwischen Phänomen und Bestandsstück. Der Unterschied der Rahmen zeigt sich erst, wenn wir ernst machen mit der heideggerschen ontologischen Differenz, wenn wir das vom Seienden unterschiedene Sein denken: Das Sein der Phänomene ist ihr φαίνεσθαι, ihr Sich-so-Gestalten in je-dieser Situation; das Sein der primären Bestandsstücke ist ihr Bestehen (traditionell: existentia) und ihre Beschaffenheit (essentia), die darin besteht, das an ihnen sekundäre Bestandsstücke (Eigenschaften) bestehen, hinsichtlich derer sie im Wandel sind (Ereig247 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
nisse). Die Unterscheidung von Phänomen und Bestandsstück ist deshalb im eminenten Sinne eine ontologische, weil das Sein selbst das discrimen beider abgibt. Am Seienden allein, etwa dem Stock, ist diese Unterscheidung nicht zu treffen. Im Rahmen der phänomenalen Ontologie ist das Sprechen über das Seiende ein Zeugen von der Phänomenalität. Solch ein Zeugnis – eine Aussage der phänomenalen Ontologie – ist in dem Grade wahr, in dem sie ein Phänomen, mit dem wir unabhängig von ihr schon vertraut sind, getreu offenlegt. Eine wahre Aussage der phänomenalen Ontologie misst sich dabei nicht einfach unserer Vertrautheit mit dem jeweiligen Phänomen an, sondern erweitert sie, indem sie das Phänomen in einem Grade freilegt, in dem es uns bisher verborgen war. Eine Aussage der phänomenalen Ontologie ist in dem Grade wahr, in dem durch sie das, mit dem wir unabhängig von ihr schon vertraut sind, so zu Worten kommt, dass wir in größere Nähe zu dem betreffenden Phänomen gelangen (die Tautologie ist zwar immer richtig, aber niemals in dem Sinne wahr, dass sie uns die Nähe der Phänomene gewährt). Die Aussage der phänomenalen Ontologie entfaltet das Phänomen: Sie legt frei, was in unser je-eigenen Vertrautheit mit dem Phänomen – noch unentfaltet – schon lag. Wir geben damit nicht die zweiwertige Logik auf, erweitern die wahr-falsch-Dichotomie nicht zu einer Trichotomie. Wir reformieren die Dichotomie zu einem Kontinuum, an dessen einem Ende die totale Verdecktheit (Verschüttung) und an dessen anderem die totale Entdecktheit (Freigelegtheit) stehen – immer dessen eingedenk, dass diese Enden irreale Grenzfälle darstellen. Entdecktheit und Verdecktheit sind relative Größen, während richtig und falsch absolute Größen darstellen, getrennt voneinander durch die Kluft der Negation. Die richtige Aussage schließt ihre Negation als falsch aus; p und ~p widersprechen einander dergestalt, dass die Annahme des einen dem Verwerfen der anderen gleichkommt. Die richtige Aussage berichtigt die falsche. Die in höherem Grade entdeckende Aussage verbessert die relativ zu ihr verdeckende Aussage, ohne sie zu verwerfen oder als falsch auszuschließen: Sie lässt sie hinter sich als Stufe, über die sie hinausgestiegen ist. Deshalb ist das Zeugen in besonderem Maße angewiesen auf die Redlichkeit des Zeugen; genauso ist es aber angewiesen auf die Redlichkeit dessen, der das Zeugnis kritisch rezipiert. Die Wahrheit des wahren Zeugnisses, die kritische Entscheidung über den Grad der Wahrheit seitens dessen, an den das Zeugnis sich richtet, sind denk248 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Wahrheit
bar nur unter Annahme der Redlichkeit des Zeugenden sowie des vom Zeugnis Angesprochenen: Wenn Wahrheitsansprüche über Phänomene erhoben werden (wenn wir den Anspruch erheben, durch unser Sprechen unsere Vertrautheit mit den Phänomenen zu erweitern), dann können wir uns nicht – wie im Falle der Bestandsstücke bzw. wie im Rahmen der quantitativen Ontologie – auf die objektive Festgelegtheit stützen, denn die Phänomene verwehren gerade diese objektive Fixierung. Die Phänomen sind das, wovon sich nur zeugen lässt. Unser Sprechen über Phänomene ruht nicht auf der Objektivität dessen, worüber es spricht. Und doch können wir den Anspruch erheben, Wahres über Phänomene zu sagen. Wir können es, insofern als wir dabei redlich sind, d. h. unsere Rede durch Verweis auf die jeeigene Vertrautheit mit dem in Rede stehenden phänomenal ausweisen können. Sowohl das Freilegen der Phänomene als auch sein Nachvollzug müssen dabei die Anstrengung auf sich nehmen, der Phänomenalität die Treue zu halten, d. h. redlich zu sein: Dies ist die notwendige Bedingung eines ontologischen Diskurses über Phänomene. Die Redlichkeit des Zeugen verbürgt dabei freilich noch nicht die offenlegende Kraft seines Zeugnisses, ebenso wenig wie die Redlichkeit des Rezipienten sicherstellt, dass der Nachvollzug des Zeugnisses gelingt – aber ohne die Bereitschaft zu dieser Redlichkeit ist ein Diskurs zwischen ihnen gar nicht denkbar. Allerdings ließe sich einwenden, dass sich doch Beispiele finden lassen für die Situation völlig verdeckende Aussagen. Etwa: ›Es gibt Situation ohne Situierte.‹ Hier sehen wir bald, dass diese Aussage, indem sie den Situierten ins Spiel bringt, freilich ohne ihn angemessen zu würdigen, eine entdeckende Kraft hat: Sie kann als Einstieg dienen in einen Diskurs, ein verhaltensmäßiges Durchlaufen des Phänomens. Sie gibt ihrer Negation: ›Es gibt keine Situation ohne Situierte‹ sogar das Stichwort. Aber was, wenn wir exempli gratia mutwillig eine irreführende, gar absurde Aussage treffen, wie ›Situationen spielen sich nur innerhalb von Automobilen ab‹ ? Auch dann gilt, dass wir, unbeschadet dessen, was wir über die Situation sagen, schon den Einstieg in das Durchlaufen ihrer getan haben – indem wir nur anfangen, über die Situation zu sprechen, indem wir sie ins Spiel bringen als Worüber einer Aussage über sie. Schon daran, dass wir Worte von ihr machen, zeigt sich, dass das Phänomen der Situation uns immer schon entdeckt ist, mag diese Entdecktheit so vorläufig und roh bleiben, wie es nur geht, »sich hart an der Grenze einer 249 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Die Situierten
bloßen Wortkenntnis bewegen« (Heidegger 1979, 5) – es wird diese Grenze eben niemals erreicht oder gar unterschritten. Schwerwiegender, da grundsätzlicher, ist der folgende Einwand: Sind nicht zwei der beispielhaften Aussagen schlicht falsch? Und trifft nicht jeweils ihre Negation zu? Gewiss können wir dies sagen: Nur dass dann mit richtig und falsch nicht mehr die Dichotomie zutreffender (der Objektivität adäquater) und falscher (die Objektivität verfehlender) Aussagen gemeint ist. Falsch und richtig werden in den zwei Rahmen nicht univok gesagt. Deshalb führen wir für die ›Richtigkeit‹ und die ›Falschheit‹, die sich im Rahmen der phänomenalen Ontologie aussagen lassen, die beschreibenden Ausdrücke ›verdeckend‹ und ›entdeckend‹ ein. Die zwei als Beispiele angeführten Aussagen sind jeweils verdeckender als ihre jeweiligen Kontradiktionen: Aber nicht, weil eine mit den objektiven Tatsachen übereinstimmt (denn solche gibt es hinsichtlich des Phänomens der Situation nicht), sondern nur, insofern wir auf die je-eigene Vertrautheit rekurrieren und im zweiten Falle darauf hinweisen, dass es uns leichtfällt, Beispiele von Situationen zu geben, die sich nicht im Inneren eines Automobils vollziehen, im ersten aber den, der behauptet, es gäbe Situationen ohne Situierte, aufforderten, uns das Beispiel einer solchen Situation zu geben, und seinen Versuch, uns eines Beispiel zu geben, aufgrund unserer je-eigenen Vertrautheit mit dem Phänomen der Situation als gelungen oder gescheitert einstufen. ›Verdecken‹ und ›entdecken‹ beschreiben die Wahrheit, die sich über Phänomene aussagen lässt, getreuer als das Gegensatzpaar ›richtig‹ und ›falsch‹ : Sie legen das phänomenale Schema der Wahrheit in höherem Grade frei. Richtigkeit und Falschheit, wie sie im Rahmen der quantitativen Ontologie gesagt werden, setzen die Objektivität dessen voraus, dem die richtige Aussage adäquat ist, die falsche nicht. Diese adaequatio ist eine Übereinstimmung mit der Tatsächlichkeit, mit einer oder mehreren der Tatsachen, die hinsichtlich eines Bestandsstücks bestehen. Das Bestehen dieser Tatsachen ist dabei nicht selbstverständlich: Denn es gibt die Möglichkeit, ein kantisch verstandenes An-Sich der Dinge zu konzipieren, das die Tatsächlichkeit überhaupt verwehrt. Über Dinge an sich können wir keine richtigen oder falschen Aussagen treffen, was unser gesamtes Erheben von Wahrheitsansprüchen überhaupt ad absurdum führen würde: Warum sollte es dann so etwas wie einen Diskurs über die Richtigkeit und Falschheit von Aus-
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Wahrheit
sagen überhaupt geben, warum sollten wir dann auf diesen Diskurs Zeit und Anstrengung verwenden? Weder die Bestandsstücke noch die Phänomene sind Dinge an sich. Der Unterschied zwischen ihnen ist: Nur von Bestandsstücken kann so etwas wie Objektivität ausgesagt werden. Bestandsstücke sind veridisch festgelegt durch die Tatsachen über sie. 137 Die Tatsachen bestehen unabhängig davon, ob sich je ein personales Aussagen mit ihnen in die Übereinstimmung bringt oder nicht. Phänomene dagegen sind nicht dergestalt festgelegt: Ein Phänomen ist uns in dem Grade entdeckt, in dem unsere Aussagen (unsere Worte) es freilegen. Diese Worte sind in dem Grade wahr, in dem sie phänomengetreu sind. Sie sind umso phänomengetreuer, umso näher sie uns an das Phänomen bringen, umso reicher das Phänomen in ihnen entbreitet ist, wobei nicht zu sagen ist, wann die volle Entbreitung erreicht ist, wann die Nähe keine nähere mehr sein kann. Im Rahmen der phänomenalen Ontologie getroffene Aussagen, im Rahmen ihrer gemachte Worte sind in höherem oder niederem Grade wahr, wobei der Gradmesser ihrer Wahrheit das Maß der Treue ist, die sie dem Phänomen halten. Was im Rahmen der quantitativen Ontologie der Gegensatz der zwei sich wechselseitig ausschließenden Wahrheitswerte richtig und falsch ist, ist im Sprechen über Phänomene das Kontinuum zwischen totaler Verdecktheit und totaler Entdecktheit, die im faktischen Vollzug dieses Sprechens nicht vorkommen. Wir bewegen uns im Sprechen über Phänomene immer zwischen diesen Enden. Immer darum bemüht, die Beschreibung entdeckender zu machen, haben wir keine Vollendung dieser Entdecktheit vor Augen. Oben hieß es, die Sprache bewahre die Vertrautheit des Seienden: Die Worte, die wir im Rahmen einer phänomenalen Ontologie machen, sind umso wahrer umso bewahrender sie sind: umso getreuer sie die Phänomene beschreibend in die Ontologie hinüberretten. Inwieweit ist in unseren Worten die Phänomenalität der Phänomene treu bewahrt? So fragen wir more phaenomenologico nach der Wahrheit.
Vgl. Koch (2006a, 333): »Ansichsein im starken, absoluten Sinn, d. h. die Seinsart von Dingen an sich (die im Grunde eine Privation ist, weil sie prinzipielle epistemische Unzugänglichkeit einschließt), geht den Dingen in Raum und Zeit […] ab, nicht aber Ansichsein in einem schwächeren, relativen Sinn, d. h. Objektivitität, denn sie existieren unabhängig von unseren je bestimmten subjektiven Akten und Zuständen, und wir können uns bezüglich ihrer irren.«
137
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Die Situierten
Die epistemische Endlichkeit der Personen ist die der Fallibilität, der Denkbarkeit eines falschen Aussagens. Die epistemische Endlichkeit der Situierten vollzieht sich als unendliche Arbeit am So – unendlich, solange die Worte sich revidieren; unendlich, da keine Entborgenheit ohne Verbergung.
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Konklusion
Wir können die Situation auf zwei Weisen ansprechen: 1) können wir sagen: XY ist in der Situation, dass … und damit meinen: Diese Person ist in die Umstände geraten, dass …, d. h. findet sich konfrontiert mit den für sie relevanten Sachverhalten, dass … Wir können die Person objektiv und unabhängig von ihrem Wissen konzipieren als in den Umständen, dass … Unter dieser Bedingung kann dann das Wissen der Person um ihre objektive Situation (Lage) vermeintliches Wissen sein, die Person kann sich hinsichtlich der Umstände, in denen sie objektiv ist, irren. Dann klaffen eine subjektive und eine objektive Situation auseinander. Allein dadurch, dass man die Situation dergestalt an die Subjektivität, das Erleben des Subjekts bindet, und so zur Unterscheidung von subjektiver und objektiver Lage kommt, hat man allerdings ontologisch noch keinen Schritt weg von der Lage hin zur ursprünglichen Situation getan: Denn die Subjektivität, die man als konstitutiv ansieht für die Situation, ist doch als solche noch von der Objektivität her verstanden als Denkbarkeit des Irrtums – das subjektive Erleben der Umstände kann abweichen von der Objektivität dieser Umstände (Jemand wähnt sich in Heidelberg in einer Stadt am Rhein, ist jedoch in einer Stadt am Neckar). Die Unterscheidung von subjektivem Erleben der Umstände und objektiv bestehenden Umständen ist noch nicht die ontologisch relevante Unterscheidung, sondern eine Binnenunterscheidung im Rahmen der Quantität. Den Schritt in die ontologisch alternative Weise, die Situation anzusprechen, haben wir getan, wenn wir 2) sagen: Ich finde mich unausgesetzt in dieser Situation, sooft ich darauf zurückkomme, wie es ist, ich selbst zu sein. Die Frage ›Wie ist es zu … ?‹ ist deshalb die Leitfrage der phänomenalen Ontologie, weil sie nur am Leitfaden des ›ich bin‹ zu entwickeln ist. Zu beantworten ist sie nur unter Rekurs auf die je-eigene Situiertheit, d. h. darauf, dass wir uns nicht anders finden denn als jeweils in dieser 253 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Konklusion
Situation, sobald wir ausdrücklich zurückkommen auf uns selbst – jetzt, da es so ist, hier zu sein, d. h. da sich diese Sache im Verhalten zu ihr so gestaltet. Die Frage nach dem Wie terminiert einerseits immer in einer Beschreibung, dass es so und nicht anders sei, andererseits generiert das So jeder Beschreibung, insofern es mehrdeutig bleibt, neue Fragen nach dem Wie – dergestalt löst die Artikulation das situative So niemals in ein erschöpfendes Wie auf. Artikulation ist phänomenal unendliche Arbeit am So – eine Arbeit, die deshalb unvollendet bleiben muss, weil sie durch das So ihres Artikulierens neue Fragen nach dem Wie generiert, deren Beantwortung das Spiel von So und Wie fortführt. Das liegt daran, dass die Artikulation selbst in den situativen Zusammenhang gehört, sich nicht anders vollziehen kann denn als artikulierendes Verhalten zu einem Jeweiligen, das sich in diesem Verhalten neu und neu so gestaltet, d. h. situativ neu und neu so hervor-gebracht und situativ wieder hin-weg-genommen wird. Deshalb hat die Frage ›Wie ist es zu … ?‹ einerseits ihre ontologische Berechtigung gegenüber dem puren ›Was ist … ?‹ einer Deskription, die sich selbst – ihr eigenes Beschreiben – auf das schlicht Bestehende hin überspringt, andererseits ihre neu und neu gezogene Grenze im So. Daraus folgt der gradierte Charakter der Wahrheit von Aussagen über Phänomene: Sofern wir Phänomene beschreiben, stehen unsere Aussagen niemals im Bezug zur Objektivität des Beschriebenen (den einschlägigen, unserem Aussagen voraufbestehenden Tatsachen), an dem sich unsere Aussagen in die richtigen und falschen scheiden. Sofern wir Phänomene beschreiben, sagen wir sie je so und wirft unsere Beschreibung neue Fragen nach dem Wie auf. Es gibt deshalb zwar Fälle, in denen wir beurteilen können, ob eine Aussage das in Rede stehende Phänomen in höherem Grade entdeckt als eine andere; es gibt aber nicht den Fall, dass eine Aussage über ein Phänomen dieses in seinem So fixiert, ohne dabei weitere Fragen nach dem Wie aufzutun. Die Mehrdeutigkeit des So tut sich zum Beispiel darin auf, dass die Situation die Lage sein kann, dass ich, wenn ich ›Situation‹ sage, nicht univok spreche, sondern in diesem Sprechen immer schon die Situation als in ursprünglicher Gestalt oder als Lage konzipiere. Darin liegt: Immer schon ist eine Konzeption von ›Sein‹ operativ in meinem Sprechen, immer schon ist mein Sprechen proto-ontologisch, das Sein stillschweigend als Bestehen oder Sich-Gestalten konzipierend. In Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen dieser zwei Kon254 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Konklusion
zeptionen von Sein beschreiben wir, wenn wir die Situation beschreiben, sie entweder in ursprünglicher Gestalt oder als Lage. Dergestalt ergibt sich der in der Einleitung angesprochene Zirkel von methodischer und sachlicher Fragestellung: Die Unterscheidung von Situation und Lage stößt uns auf die ontologische Differenz von Bestehen und Sich-Gestalten – aber das nur deshalb, weil wir dadurch, dass wir den Unterschied von Situation und Lage entwickeln, schon von dieser Differenz zeugen. In der Ausarbeitung dieser Differenz treffen wir in der Sprache eine Binnenunterscheidung zweier Sprachen, die wir als die phänomenale und die quantitative kennzeichnen. Indem wir über diesen Unterschied sprechen oder schreiben, setzen wir schon die Sprache überhaupt voraus: Indem wir zwischen phänomenaler und quantitativer Ontologie unterscheiden, setzen wir die eigene proto-ontologische Verfasstheit voraus. Indem wir sprechen (schreiben), zeugen wir, unabhängig davon, was wir sagen oder wie wir sprechen, davon, dass wir sprechen (schreiben) – was trivial ist, aber deshalb noch lange nicht in seiner grundsätzlichen ontologischen Bedeutung erfasst sein muss: Ich bin je selbst immer der oder die, der oder die sagt (schreibt), dass …, nämlich dass dies so ist, es sich mit dieser Sache so verhält. Egal wie wir sprechen (indifferent dagegen, dass wir je jetzt gerade so sprechen): Sprechend zeugen wir davon, dass wir sprechen. Unsere Binnenunterscheidung zeigt also – gemäß ihrer Methode – den Unterschied zweier Sprachen auf und weist dabei an sich ihre eigene sprachliche Verfasstheit auf. Das primäre Thema der Ontologie ist die Sprache. Das Seiende kann überhaupt nur unter Voraussetzung der Sprache ihr Thema sein, nur insofern nämlich, als es konzipierbar, d. h. artikulierbar ist. Das Ausbilden einer Ontologie ist daher ein selbstrekursives Unterfangen: Es nährt sich ausschließlich vom eigenen Sprechen, es artikuliert letztlich sein eigenes Artikulieren, es zeugt letztlich davon, dass es artikuliert (spricht, schreibt, denkt). So müssen wir Wittgensteins im ersten Kapitel zitierten Satz lesen: Dass die Beispiele die Nahrung der Theorie darstellen, bedeutet nichts anderes, als dass das ontologische Konzipieren nicht anders sein kann denn als zehrend von der eigenen proto-ontologischen Verfasstheit des Konzipierenden: Wir geben selbst die Paradigmen vor, an denen sich unsere Theoriebildung vollzieht. Es zeigt sich in der ontologischen Rekursion auf die eigene proto-ontologische Verfasstheit die Diastase zwischen mir und mir, die 255 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Konklusion
verschieden ist von der Differenz zwischen mir und dir: Ich wohne, da ich bei meinem Verhalten überhaupt wohne, beim eigenen Sprechen (Denken) über das Seiende, deshalb kann ich dieses Sprechen (Denken) selbst beschreiben – ohne darin je die Sprache überhaupt hintergehen zu können. Ich vermag die Diastase zwischen mir und mir nicht zu schließen, ich müsste mich sonst als den Ursprung meines Sprechens (aktiven Urheber meines Verhaltens) erfahren und phänomenal ausweisen können. Darin, dass wir die Diastase phänomenal nicht zu schließen vermögen, bekundet sich unsere Situiertheit, d. h. dass wir nicht anders existieren denn als einbegriffen in von uns selbst nicht angestoßener Prozessualität, von deren Bewegung getragen wir gerichtet bewegt sind zwischen Geburt und Tod. Die Bewegung meines Artikulierens nimmt, wie die Verhaltensbewegung überhaupt, phänomenal nicht ihren Ausgang von mir. Da ich nicht sagen kann, ich stünde als ihr aktiver Urheber an ihrem Ursprung, muss ich sagen: Ich werde zu meinem Verhalten bewegt, da aber genauso wenig wie ich jemand oder etwas anderes an ihrem Ursprung zu verorten ist, ist dieses Bewegtwerden keine Passivität gegenüber der Aktivität eines anderen. Der Grundzug der quantitativen Ontologie ist die Ausschaltung der Sprache als ontologischer Problematik. Man erhält dann eine saubere Trennung der Aufgabengebiete zwischen Logik und Ontologie, indem man die zu einem semantischen System formalisierte Sprache als Gegenstand Ersterer, das Seiende als Gegenstand Letzterer ansetzt. Phänomenal vollzieht sich unser Sprechen (Denken, Schreiben) aber niemals anders denn als (diskursive und transitive) Bewegung in den Sachen und sind wir, sooft wir auf uns selbst zurückkommen, niemals anders in den Sachen bewegt denn als sprechend (denkend, schreibend). Eine Ontologie der Phänomenalität kann die Sprache niemals als formalisierbaren logischen Bestand (à la Carnap etwa als Bestand an Prädikaten und Individuenkonstanten, durch die sie zu sättigen sind) ansetzen und vom ontologischen Bestand abscheiden, d. h. von den Bestandsstücken, die bestimmt sind durch die Tatsachen (objektiv wahren Sätze), die hinsichtlich ihrer gelten. Wir sprechen (denken, schreiben) heißt phänomenal: wir konzipieren ein Jeweiliges je so, wobei das Konzipieren sowohl einer aktivischen Formulierung fähig ist als behauptendes Setzen dessen, dass es sich mit dem je Konzipierten so verhalte, als auch einer passivischen, laut der wir denkend (sprechend, schreibend) das So des Bedachten, Besprochenen, Beschriebenen empfangen. Die Medialität 256 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Konklusion
des Verhaltens, die dessen phänomenalen Grundzug bildet, kommt eben darin an den Tag, dass sowohl aktivische wie auch passivische Formulierung jeweils ihr Recht haben und sich wechselseitig in ihrem Recht einschränken. Das liegt daran, dass alles Verhalten phänomenal eine Ausgestaltung des situativen Prozesses ist, der im Verhalten des Situierten phänomenale Gestalt gewinnt. Deshalb können die Situierten sowohl mit Recht sagen: ›Ich denke …‹ als auch: ›Mir kommt der Gedanke, dass …‹ Im Medialen offenbart sich unsere Einbegriffenheit in absolute uns selbst bewegende Prozessualität. Am Denken (und damit auch am Sprechen und Schreiben), hieß es oben, ist die Medialität des Verhaltens am deutlichsten abzulesen. Das bedeutet: Die Sprache ist der höchste Ausdruck der Situiertheit. Im Sprechen (artikulierenden Konzipieren als Setzen und Empfangen) können wir uns je selbst in unserer eigenen Situiertheit Thema werden. Deshalb ist ein Zeugen von der eigenen Situiertheit ein Zeugen davon, wie es ist, sich selbst zu erfahren als denkend (sprechend, schreibend) – und hierin liegt der einzige, aber entscheidende Vorrang, den die ontologische Grundmöglichkeit einer Sprache der Phänomenalität vor ihrem quantitativen Widerpart hat: Eine quantitative Ontologie weicht der Situiertheit aus, indem sie die Sprache in ihrer ursprünglichen prozessualen Gestalt überspringt, indem sie überhaupt überspringt, wovon sich nur zeugen lässt, nämlich dass es je hier und jetzt so ist. Blick von Nirgendwo ist deshalb ein Bild für die quantitative Ontologie, weil diese Ausdruck einer Perspektive ist, aus der je-mein In-Sein in allein-meiner Situation nicht Thema werden kann; aus der die Einbegriffenheit in den situativen Prozess – in dessen Bewegung begriffen wir unsere je-eigene existenziale Trajektorie beschreiben – deshalb nicht Thema werden kann, weil diese deskriptive Perspektive sich gerade im Überspringen meiner selbst als Situiertem konstituiert. Durch die ontologische Grundmöglichkeit der quantitativen Ontologie zeugen wir davon, dass wir unsere je-eigene Situiertheit tilgen können zugunsten einer desituierten Deskription, die Nagels Bild als ein Blicken von Nirgendwo gestaltet – ›von Nirgendwo‹ heißt also: ›unter Abstraktion von der je-eigenen Situiertheit hier und jetzt‹, womit ebenso von der Dimension der Phänomenalität abstrahiert ist, d. h. davon, dass es nie anders als so ist, jetzt hier zu sein. Aus dieser Perspektive ist anstelle unserer selbst, die wir je von uns selbst sagen: ›ich bin‹, die Person …, wodurch die Diesjenigkeit der Situierten zur selbst-losen Einzelheit eines in die Klasse der Per257 https://doi.org/10.5771/9783495813850 .
Konklusion
sonen gehörenden Individuums entstellt wird. Denn sobald ich mich selbst ansetze als die Person …, über die – wie über alles – geurteilt wird, sie sei und sei …, habe ich mich selbst qua Diesjenigen (sich selbst immer schon in dieser Situation Findenden) schon übersprungen und bleibe als solcher: niemand. Daher ist die desituierte Deskription ›von Nirgendwo‹ immer auch eine Deskription ›als Niemand‹ : Eine Deskription, in der mein Ich-selbst-Sein-und-Sein-Müssen, je jetzt, da ich mich in dieser Situation finde, in der diese Sache sich so gestaltet, übergangen ist, so dass von meiner Diesjenigkeit nur die individuelle Differenz der Partikulare bleibt, die durch Tatsachen, die hinsichtlich ihrer bestehen, einerseits als Person ausgewiesen ist, andererseits unter den Personen individuiert ist als die Person … Die ontologische Alternative von Phänomenalität und Quantität ist also die Alternative zweier grundlegender Hinblicknahmen auf das Seiende, in Abhängigkeit von denen es uns als die Phänomene oder als Bestand entgegenblickt. Wir erblicken darin, wie das Seiende uns entgegenblickt, immer auch unsere eigene Perspektive, denn wir blicken niemals anders auf es als denkend (sprechend, schreibend). Umgekehrt vollzieht sich das Bedenken, Besprechen, Beschreiben niemals anders denn als Hinblicknahme auf das Bedachte, Besprochene, Beschriebene. Es drängt uns einerseits, Blicken und Denken zu unterscheiden; wir bekommen andererseits ohne Rekurs auf das Blicken weder das Denken in den Blick noch gelingt es uns, das Blicken zu denken ohne Rekurs auf das Denken, sofern Blicken das Geschehen ist, in dem uns etwas irgendwie (dies hier so) entgegenblickt. Es drängt uns, diese Unterscheidung zu machen, da uns die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Denken, von sensorischem und konzeptuellem Bewusstsein in mannigfachen Formulierungen überkommen ist – zuletzt ist es phänomenal aber das eine So, dem solche Unterscheidungen gliedernd beizukommen suchen, ohne seine Ganzheit je zur Gänze in die Eindeutigkeit des Wohlgeschiedenen aufzulösen: »Vernunft ist Sprache, λόγος. An diesem Markknochen nage ich und werde mich darüber zu Tode nagen«, schreibt Hamann 1784 an Herder (151). Der Markknochen wird dadurch nur reicher, dass die Sprache als Sprechen, Denken, Schreiben ein Geschehen ist, in dem das Seiende uns Sprechende, Denkende, Schreibende anblickt, weil wir es erblicken – so anblickt, weil wir so sprechen, so denken, so schreiben.
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