»Diener von Königen und nicht Diener von Dienern« Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden

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Herallsgegeben von Heinrich Meier

YOSEF HAYIM YERUSHALMI

»Diener von Königen und nicht Diener von Dienern« Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden

Vortrag gehalten in der Carl Friedrich von Siemcns Stiftung am 19. Oktober 1993 Der Abend wurde geleitct von Professor Dr. Knut Borchardt Mitglied des Vorstands der Carl Friedrich von Siemens Stiftung

Zu den Abbildungen Die Umschlagvorderseite gibt im Allsschnitt das mittlere Motiv, die Umschlagriickseite die Abbildllng der gesamten illllminierten Seite zum >Buch Esthel'( wieder - eine der 150 A1iniatllren alts der >Glfmbertlfs-Bibel(, die im 12. jahrlJ/fndert im Salzbllrger Scriptorill1l1 entstanden ist. Die Motive zeigen (V.l.Il.1:): König Ahasver läßt sich vorlesen _ Mm'dochai Zll Pferd im Triumph mit vier Begleitern, an der Spitze Haman- Esther (liegend), vor ihr Ahasvel; der Haman greifen läßt. Universitätsbibliothek Erlangen-Niimberg

Inhalt Yosef Hayim Yerushabni

Vorwort ......................... . .......

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»Diener von Königen und nicht Diener von Dienern« Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden . .............................. .

.. dA Uber en utor .............. · .... · ............ 57 »Thelnen« Eine Privatdruckreihe der earl Friedrich von Siemens Stiftung. . . . . .. 59

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Vorwort

Ich möchte der earl Friedrich von Siemens Stiftung für die freundliche Einladung zu diesem Vortrag danken, dem ersten, den ich in Deutschland gehalten habe. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Heinrich Meier, dem Geschäftsführer der Stiftung. Er hat den Fremden mit so liebenswürdiger und umsichtiger Gastlichkeit aufgenommen, daß wir in kürzester Zeit zu Freunden wurden. Herzlich danken möchte ich auch meinem Freund Dr. Wolfgang Heuss, der ebenfalls dazu beitrug, mell1en Aufenthalt in München so angenehm zu gestalten; er hat drei meiner Bücher kompetent übersetzt und war sofort bereit, auch die vorliegende Übersetzung zu übernehmen. Am Text des Vortrags, den ich am 19. Oktober 1993 vor einem erlesenen und aufmerksamen Publikum halten durfte, habe ich für diese Veröffentlichung nichts geändert. Lediglich ein Anmerkungsapparat wurde beigefügt, um manche Punkte genauer herauszuarbeiten und neben den Quellen, auf die ich mich stütze, auch weiterführende Literatur nachzuweisen. Yosef Hayim Yerushalmi

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YOSEF I-IAYIM YERUSHALMI

»Diener von Königen und nicht Diener von Dienern« Einige Aspekte der politischen Gescbicbte der Juden

Als ich mich 1986 in Budapest mit der hervorragenden Sammlung hebräischer Manuskripte der Akademie der Wissenschaften beschäftigte, machte ich die Bekanntschaft eines ungarischen Wissenschaftlers, der sich als Tibetologe erwies. Ich war so beeindruckt, daß ich unwillkürlich sagte: »Sie können wirklich Tibetisch? Das ist ja fabelhaft!« Er lächelte und gab augenzwinkernd zurück: »Selbstverständlich. Aber mein eigentliches Spezialgebiet sind zwei tibetische Dialekte. Außerhalb Tibets gibt es dafür nur noch einen weiteren Fachmann; er ist also der einzige, der meine Arbeit kritisch beurteilen kann!« Ich gestehe, daß ich beim Nachdenken über ein Thema für den heutigen Abend mehr als einmal an diesen glücklichen Tibetologen dachte und versucht war, mich in irgendeinen fernen Winkel der jüdischen Geschichte zu flüchten, in dem ich vor Kritik fast ebenso sicher gewesen wäre wie ei·. Doch eine innere Stimme gebot mir, mich bei diesem Anlaß weder ins Exotische noch ins bloß Antiquarische zurückzuziehen. Daher gehe ich das Wagnis ein, im knapp bemessenen Rahmen eines einzelnen Vortrags ein umfängliches Thema anzuschneiden, das ich für das Verständnis bestimmter wesentlicher Aspekte der jüdischen Geschichte für entscheidend halte. Es handelt sich um das Phänomen, das ich vorläufig als »Royal Alliance«, als Königsbündnis, 9

D

bezeichnen möchte. ':- Wie sah dieses Königsbündnis in der konkreten Wirklichkeit aus, was waren seine theoretischen Grundlagen, wie wurde es mythologisch überhöht, welche Folgen hatte es jeweils für das Schicksal der Juden?

I Im Exil erkannten die Juden anscheinend sehr bald, daß ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen letzten Endes weder der unberechenbaren Gunst ihrer nichtjüdischen Nachbarn noch der Willkür der örtlichen Obrigkeit anvertraut werden konnten. Naheliegenderweise bemühten sie sich also darum , unter die einheitliche Gerichtsbarkeit der höchsten erreichbaren Regierungsgewalt zu gelangen. Voraussetzung für das Überleben eines in alle Winde zerstreuten Volkes waren eine möglichst beständige Rechtssicherheit und die Herstellung einer Interessengemeinschaft mit den herrschenden Mächten, die diese Rechtssicherheit am ehesten bieten konnten. Nur so ließ sich die für die Ausübung der jüdischen Religion und die Wahrung der elementaren Grundlagen jüdischer Kultur entscheidende Autonomie der Gemeinden und ihrer internen Rechtsprechung sichern. Die Juden bemühten sich, anders gesagt, um direkte vertikale Bündnisse, selbst wenn sie dafür manchmal die Entfremdung niedrigerer Instanzen in Kauf nehmen und auf horizontale Bündnisse mit anderen Teilen oder Schichten der Bevölkerung verzichten mußten. Ich spreche von einem Phänomen, das schon Hannah Arendts wachem Blick nicht entging. Im zweiten Kapitel von The Origins 0/ Totalitarianism heißt es im Zusammenhang mit dem Eintritt der Juden in die Neuzeit: »... die .,. Der Vedasser hat diese Übersetzung des von ihm geprägten Ausdrucks autorisiert.

Juden hatten keine politische Tradition oder Erfahrung.. :. Ihr geringes politisches Wissen oder ihr traditionelles polItlsches Verhalten gingen zurück auf Erfahrungen im Römischen Reich, als sie sozusagen von den römischen Soldaten beschützt wurden, und später im Mittelalter, als sie von einer weit entfernten weltlichen oder kirchlichen Obrigkeit Schutz vor der Bevölkerung und der lokalen Macht erbaten und auch erhielten. Aus diesen Erfahrungen hatten sie irgendwie den Schluß gezogen, daß Abhängigkeit von der Obrigkeit, insbesondere von der höchsten Autorität, für sie günstig sei, während niedere Behörden und vor allem das aemeine Volk gefährlich seien ... «1 b Da es Hannah Arendt in ihrem Buch ausschließlich um die Neuzeit geht, fällt diese Aussage entsprechend knapp aus. Im Kern völlig zutreffend, bedarf sie in zwei Punkten doch der Modifikation: Daß die Juden »keine politische Tradition oder Erfahrung« hatten, ist, wie ich zu zeigen hoffe, einfach nicht wahr. Und bei der Feststellung, sie hätten aus ihrer historischen Erfahrung »irgendwie« den genannten Schluß gezogen, läßt das eingeschobene Adverb vermuten, die Schlußfolgerung sei fast zufällig gewesen und man hätte auch zu einem anderen Ergebnis kommen können. Das aber wissen wir nicht. Alle Indizien deuten vielmehr darauf hin, daß die Vorliebe der Juden für vertikale Bündnisse im jeweiligen historischen Kontext politisch äußerst realistisch, wenn nicht gar unvermeidlich war. Gehen wir in medias res, und zwar nach Alexandria im ersten Jahrhundert. Dort hatte die große blühende jüdische Gemeinde seit alters her weitreichende Privilegien, die es 1 Hannah

Arendt, The Origins 01 Totalitm-iallism (New York 1954). Der ~assus ist hier aus dem amerikanischen Original (2. Auf!. [New York 1958] S. 23) ubersetzt, von dem Arendts eigene Übersetzung in Elemenle ulld Urspriinge totaler Hen'schaft (Frankfurt 1955), S. 39 teilweise abweicht.

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wachsam zu schützen galt. Mit welcher Gruppe in der Stadt hätten die Juden ein horizontales Bündnis schließen können? Aufgrund ihres Monotheismus standen sie, so assimilie~·t ~ie auch waren, in unüberwindlichem Gegensatz zur heldl11scl:en griec~lischen Bevölkerung - eine Spannung, die durch wirtschaftlIChe Rivalitäten oft noch verstärkt wurde. Die nicht hellenisierten einheimischen Ägypter hatten nicht einmal ~~e Kraft, sich gegen ihre eigene Deklassierung und Unterdruckung zur Wehr zu setzen. Für andere ethnische ~rupp.en in Alexandria gab es keinen vernünftigen Grund, sich mit den Juden zusammenzutun. Unter diesen Umständen überrascht es kaum, daß die Juden von Alexandria Rom als letzte Instanz für die Garantie ihrer Rechte betrachteten. 1 Ein Beispiel mag zur Verdeutlichung genügen. Im Jahre 38 u. Z. setzte der griechische Mob alles daran, die Juden dazu zu zwingen, Bildnisse des Kaisers in den Synagogen von Alexandria aufzustellen. Dies scheiterte Zwar am heftigen jüdischen Widerstand, führte aber zu einem Pogrom. Auch wenn Flaccus, der örtliche römische Präfekt, vielleicht nicht selbst dahintersteclne rührte er jedenfalls keinen Fingei; um die Ausschreitung:n zu been-

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fl~lo stellt in u

der

Leg~tio ~d Gailllll

(xxxvi, 280) charakteristischerweise fest, die

':11 sel,en Immer pbdokmsares gewesen und bezeichnet den Kaiser trotz seiner

~ntIpatllle .I?egen Caligula als ,·Retter" und "Wohltäter«. Seit der römischen • I obel u~g. Agyp:ens Im Jahre 30 v. u. Z. war eine der Hauptguellen antijiidischer FCl?dseltgk:lt bel den ,nUll selbst ullterworfenen "Gricchen.( von Alexandria die dIe Juden selen Rom gegen~ber. loyal, und im Kaiserreich die vorgebli, che. ~eg~nsLIgung d.er Juden durch dIe rom Ischen Kaiser. Wie leicht die starken antI:om,~chen Gefuhle der hellel1lslerten ägyptischen Nationalisten auch im AntlsemltlsnHls Ausdruck finden konnten belegen bel'spI'''lllaft d' I .r I " le sogenannten

Memun~,

t Je Pagan Jl1artyrs, die an den Tod der alexandrinischen Patrioten im Rom erinnern. Siehe Salo \'7. Baron, A Social al1d Religiolls Hist01 , of tbe Je,,:'s, 1: uberarb. Aufl. (New York 1951-83) [im folgenden: SRH], Bd. S. 190. DIe el haltenen Texte der "Acts« smd 111 'TZ", Acts o.r tl-' n 11 . _. . ., l'JI.. 'J Je: ragt1ll j artyrs: Acta Ale.,alldlI1101lI1Il, hrsg. und ubers. von Herbert A. Musurillo (Oxford 1954) .1_ cls

0)

I~ampf gegen

1,

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den. Also machte der bedeutende jüdische Philosoph Philo sich mit führenden Mitgliedern der Gemeinde auf den Weg nach Rom, um sich beim Kaiser über Flaccus zu beschweren und den Rechten wieder Geltung zu verschaffen, welche die römischen Kaiser den Juden früher zugesichert hatten. Unglücklicherweise saß damals gerade Gaius Caligula auf dem Thron, der die jüdische Delegation erst eine Zeitlang schikanierte, bevor er schließlich wenigstens ihren Mindestforderungen nachgab. 3 Die ganze Episode ist einerseits em Sonderfall, weist andererseits aber exemplarische Elemente auf. Ein Sonderfall nicht nur, weil Caligula geisteskrank war, sondern weil der Vasall~llstaat Judäa danl,' f J d d' . lItern und In Ihren Städten und Dörfern leb. .CI l le . LI eil, Je auf ihren 120-39 sowie neuerdin d' I . ten. SIehe Baron, SRH, Bd. 16 S L d' j gs le 1ervon agende Monogra I . M ' . or s ews. Magnatc-Jewisb RelatiU/;s in tbc Polis!- p lIe von . J. Rosman, Tbc J-LltlJllalllall COl/[monwealtb dlll'lng tbc 18tb CCl1tll1)' (C b'd m I Ib . am n ge, Massachusetts 1990) '-I b wec 1se eZlehung zwischen dei J i d d . 1V an eachte, daß die en Grundl d . d d d 1 Ul en un em König entsprach d f'.' lcrren er zWischen den J u en t1n Verhältnissen oft vorteilhafter . ~tn UI dIe Juden Unter den polnischen verziclltete der polnische wal. osman stellt S. 39 zutreffend fest : ,.1539 . "b d' onlg zugunsten der AdlIge f d' 11 Itelt u er le luden auf de L" d .' d n au le vo e Gericlltsbar. 0 . .' n an el elen es Adels so d· ß . '''d' I eInes rtes, der PrIvateigentum ci Adl' ' . a. eIn JlI lSC ler Bewohner i f I' nes Igen war seIne H ,. d . l e acto a s semen König ansal ' A ß d ..'. n CII n 0 er seme Herrin d . I J i ' L ' U . er em uberSledclte . d ert vle e Ul en aus freien Stücken in G e b' d' I n seit em 16, Jahrhun.. Die Grundherren begegneten d I d lete,. le so chen Grundherren gehörten __ I f I' I en U en mit Tolera z 'l . sc 1a t Je le Chancen was die M I '1 . d . n uneI b aten 11nen wirtL" d . d ,. e 1nelt er Juden d lZ b . I , an ereien er Grundherren und . 11 . ' u ewog SIe 1 auf den dein .. (S.4I). ,Zwal vor a em III den Kleinstädten, anzusie-

1(" .

' . 34 Eine. knappe und treffende Analyse der Zw Spalllen hefert Baron SRH Bd 3 S 36 ~ngsbelvehrung Im westgotischen Portugal wurde oft' erzählt. ;. I" -3 9. DIe Geschichte der Zwangstaufe in . ' le 1e u. a. A1 exandro HerClI D . est II beIec:mento da InqllisiC;äo em P01"t1l gaL (Liss b 1 ano, a ongem e Meyer Kayserling, Gescbicbte der JI d . .a on 1854-59), Bd. I, S. 118-30; Maria Jose Pimenta Ferro Tavares I eil 111 P01'tl/gal (LeIpZIg 1867), S. 129-39; 1982), S. 483-500, , Os judells em Portl/galllo sem/o XV (Lissabon

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Nachdem England im Jahre 1290 den Anfang gemacht hatte, wurden die Juden aus einem Land nach dem anderen vertrieben, eine Entwieldungskette, die l492 mit der Vertreibung aus Spanien ihren Höhepunkt, aber nicht ihr Ende erreichte. Bezeichnenderweise konnte keines dieser Ereignisse die Dynamik des jüdischen Verständnisses des Königsbündnisses selbst grundlegend verändern, Nirgendwo in Europa war das jüdische Bündnis mit der Krone im Mittelalter für beide Seiten fruchtbarer, dauerte es länger oder funktionierte es auf mehr Ebenen als in Spanien. Nirgendwo anders begünstigten die Umstände im gleichen Maß den Aufstieg einer so mächtigen und großen Schicht jüdischer Höflinge, die im Dienst des Königs öffentlich Macht ausübten. Und nirgendwo in der hebräischen Literatur des Mittelalters findet man eine artikuliertere Darstellung des Königsbündnisses als in Salomo Ibn Vergas Schevet Yehuda (Das Zepter Judas). Selbst aus Spanien vertrieben, bemüht sich Ibn Verga in diesem Werk, welches eine historische Chronik mit erdichteten Gesprächen verbindet, alle Katastrophen der jüdischen Geschichte bis hin zur Vertreibung zu verstehen, indem er über die herkömmliche Kategorie der göttlichen Strafe hinausgeht und erstmals ha-sibbah ha-tiv'it - den »natürlichen Grund« heranzieht. In diesem Sinne ist Schevet Yehuda ein vorweggenommener erster Versuch einer soziopolitischen Analyse jüdischer 5

Lebensbedingungen im ExiU In Ibn Vergas Augen sind die Könige und alle ihre Würdenträger stets eifrige Beschützer der Juden gegen die 35 Die Standardausgabe besorgte Azriel Shochat: Sefe,' Sbevet Ye/J/ldab (Jerusalem 1947), mit einer Einleitung von Yitzhak Baer. Den hebräischen Text mit vollständiger deutscher Übersetzung bietet M. Wiener, Das Bucb Scbevet je/J/lda (Hannover, 1856, Neudruck 1924).

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Übergriffe des Pöbels. Wenn die Juden· nicht gerettet werden, liegt das nicht an mangelndem königlichen Willen, sondern an der Hartnäckigkeit und Macht des vulgus. Im Europa des Mittelalters war dies freilich oft genug der Fall, und einige Beispiele, die Ibn Verga anführt, lassen sich auch aus anderen Quellen belegen. Manchmal greift er aber Zur Ausschmückung oder freien Erfindung, um seine These zu untermauern. Daß die Juden dem König gehören und daß diese Beziehung ein gemeinsames Interesse zwischen ihnen begründet, ist ein immer wiederkehrendes Hauptthema. Wenn z. B. Gonzalo Martfnez de Oviedo Alfons XI. rät, die Juden zu vertreiben, widerspricht der Erzbischof von Toledo vehement: »So daß er zu Gonzalo also sprach: Hat man Dich desshalb zum Rathe des Königs ernannt, damit Du ihm einen Rath gebest, der Deiner ganzen Familie Zur Schande gereicht? Denn wahrlich die Juden sind ein Schatz für den König, ein trefflicher Schatz, und Du willst sie vernichten und verlangst, dass der König etwas thue, was sein Vater nie gethan, Du bist nicht sowohl ein Feind der Juden, als vielmehr des Königs.,,36 Natürlich kann letzten Endes selbst Ibn Verga nicht völlig ignorieren, daß Könige manchmal aus eigenem Antrieb gegen Juden vorgingen. Er sieht allerdings in diesen Fällen - es sind tatsächlich nur wenige - seltene Abweichunge~l :~n der Norm. Überzeugt, daß es den Königen pnnzipiell um die Herrschaft des Gesetzes und die Bewahrung ihrer Juden geht, ist Ibn Verga immer bereit, im Zweifelsfall die für den König günstigere Deutung zu

36 Wiener, Das Bucb Scbevet Jebuda, S. 63 (Ed. Shochat, Kap. 10, S. 54).

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wählen. Wenn ein König aus dieser Rolle zu fallen scheint, läßt Ibn Verga es sich angelegen sein, nach mildernden Umständen zur Erklärung dieser Abirrung zu suchen. »Denn im Allgemeinen,« schreibt er, »waren die Köni~e Spaniens und Frankreichs, der Adel, die Gelehrten und dIe Angesehenen des Landes Freunde der Jude~, und der Ha~s zeigte sich nur bei dem Pöbel, welcher dIe Juden ben.eldete.«37 Er schreckt auch nicht davor zurück, gelegentlIch die spanischen Juden selbst dafür zu kritisieren, .daß sie durch ihr eigenes arrogantes Verhalten dem - gleIchwohl völlig unverhältnismäßigen - Judenhaß im Volk Vorschub geleistet hätten. An einer Schlüsselstelle - den Juden. droht, wenn sie sich nicht bekehren, eine nicht näher bezeIchnete Vertreibung - lesen wir folgendes: »Nachdem dieser Beschluss des Königs schriftlich abgefasst worden war, begaben sich die Juden, als sie hiervon Kund.e erhalten hatten, zu einem der königlichen Fürsten, der Ihnen sehr geneigt war, wie überhaupt in Spanien die Jud~n be.i den Königen, Fürsten, Gelehrten und Kennern WIe. bel den angesehenen Männern sehr beliebt waren und dIe Verfolgungen nur durch einige aus dem Pöbel veranlasst :or~en sind, welche vorgaben, dass durch die Juden, weIl d:ese nämlich in das Reich gekommen wären, die N ahrungsmmel theurer geworden seien, wie auch dadurch, .das.s ~iese~ben den Erwerbszweig ergriffen hätten, welchen SIe bIS Jetzt I11l~e hatten. Zum Theil wurden die Verfolgungen auch durch dIe Geistlichen veranlasst, welche, um ihre Heiligkeit darzuthun und dem Volke zu zeigen, dass sie die christliche Religion zu ehren und zu erheben trachteten, sich täglich in

37 Ebd., S. 91 (Ed. Shochat, Kap. 24, S. 70).

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harten Aeusserungen gegen die Juden vernehmen liessen .

v~n den anderen christlichen Körperschaften aber wurdel~ dIe Juden so geachtet . 111 . Ihrem . , , aI s wenn SIe e'Igenen L an d e 1 .. gewo 1l1t hatten u.nd waren bei ihnen sehr beliebt, wie dies den alten Leuten 111 Spanien bekannt war.«3S

Verga war keineswegs der einzige, der an se111en Grundmerkmalen festhielt. Natürlich kannten die Juden gute und' böse Könige ebenso wie gute und korrupte Führer in den eigenen Reihen, aber den Glauben an das Königtum an sich und an die absolute Notwendigkeit einer organisierten

Die Tendenz. derartiger Passagen liegt auf der Hand.

jüdischen Führung gaben sie nie auf. Es ist eine bedeutsame

Schevet Jehuda. zeIgt durchgehend " daß Ib n Vi· I el ga se 1r wohl

historische Tatsache, daß nach 1492 in den Flüchtlings-

wu ß te, daß dIe Konstellation der Kräfte TI1I't d d' d . . " enen es Ie J u en JeweIls zu tun hatten, überall anders wal" TT'" d A' 1 " " . .L\.011lge un nsto cratle SOWIe Päpste und höherer Klerus einerseits die Massen un~ der niederere Klerus andererseits. Erstere s~ien den . r Juden Im 'all geme111en wo11' 1 ges111nt, letztere eher feind-

;e ~g. Bes~nders stark sei die Spannung hinsichtlich der u. en zWIschen dem König und den Massen. Die Köni e selen zwar stet s gewi'11 t, d'Ie J u d en zu schützen würdeI1 b g _ ft '1 . , a el o von I l~-en eI~enen Untertanen daran gehindert. An dIes~r E111schätzung hält Ibn Verga unerschütterlich fest. Er geht uberhaupt nicht darauf ein daß d' Vi 'b d ' Ie ertrei ung es Jahres 1492 auf einer grundlegenden Änderung der Haltung der Krone beruhte R I' '.. . d 1 . . e IglOser F"anattsmus und Ju en 1.aß Im Volk waren dermaßen angewachsen, daß sich auch dIe Krone dem nicht mehr entziehen konnte N' 1 aber 1 .1 d . IC 1tS, , auc 1 gar 11lC 1tS eutet darauf hin daß d TT'" b" d . '" ' as J.'>..011lgs un 111S an SIch 111 e111e Sackgasse geraten und die spanische Krone zu der Auff~.ssung gel.angt wäre, sie brauche die Juden nicht mehr und konne aus Ihrer Verbannung profitieren.39 Im Schevet Yehuda nimmt das . b"un d ms . Zwar , K"omgs manchmal nahezu mythiscI1e D'ImenSlOnen . an, doch Ibn 38 Ebd., S. 177 (Ed. Shochat, Kap. 44, S. 1l7f.). 39 ~ine detailliertere Analyse von Ibn Vergas Auff . _...... SIch in Y H. Yerushalll1l' , 1.][ -rZ 'L' b 11 assung des diR I~onIgsbundnIsses findet IS Oll j ' {[ssacre or 1506 I "Shebet YeIJlldah., (Cincinnati 1976). ~ all We oya Image ill the

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gemeinden des ottomanischen Reiches die sephardischen Führer aus der Zeit vor der Vertreibung nicht abgelehnt und die türkischen Sultane jetzt als Retter gepriesen wurden.

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Welche Lehren zogen die Juden aus ihren Erfahrungen im _.Mi~~~!;ti1:~l:~·~;~ 'Wurde Bestandteil ihrer kollektiven Mentalität? Zum einen, daß in einer unvollkommenen Welt :vertikale Bündnisse für sie im allgemeinen günstiger waren. Voraussetzung dafür war, daß sie sich ihren Herrschern als nützlich erwiesen. Zum anderen, daß man, sollte der Herrscher sie irgendwann nicht mehr für nützlich halten,

d~~hDipiomatie

und

EinflußI;al~I~~- ~~d gegeb~~~~1f;lls

al;ch durch glatte Bestechung ein allzu hartes DeJcl~e!lnanch­ ill'~11~och abwenden konnte. Und schließlich: Wenn alles

nichts fruchtete, so war das Schlimmste, wozu der Staat im

Mittelalter fähig Wa1~ die Zwa;~g~t4!-tfe (historisch eine Ausnahme) oder die Vertreibung. Beides war schrecklich genug. Aber Massenmord gab es im Mittelalter nicht. Kein

40 Zum Weiterbestehen des Höflingsideals und der sephardischen Führung nach der Vertreibung aus Spanien siehe Haim Hillel Ben-Sasson, .. Dor goley Sefarad 'al 'atzmo« [Die Generation der aus Spanien Vertriebenen über ihr Schicksal], Ziol1 Gerusalem), 26 (1961), bes. S. 28-34. Besonders weit getrieben wird die Idealisierung der ottomanischen türkischen Sultane in der Chronik von Elias Capsali aus Kreta, Seder ' Eliyahll Zllta, hrsg. v. Aryeh Shmuelevitz, Shlomo Simonsohn und Meir Benayahu, 3 Bde. Gerusalem 1976-83). Capsali bedient sich einer messianischen biblischen Sprache und sieht die Sultane als Ebenbilder des Perserkönigs Kyros des Großen, der den Juden die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft ermöglichte.

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I I

mittelalterlicher König hatte ihn je verfügt, kein Papst je gutgeheißen. Judenmo!~d war, wenn er vorkam, nie von g~11z_()ben angeordnet w~rc!~;~:Flil:diese Überz~ug~g gib-t es kein beredteres Zeugnis als Isaak Aran1aS Kommentar zum dritten Kapitel des Buches Esther. Dort überredet Haman, ein Feind der Juden, König Ahasveros dazu, die Vernichtung der Juden anzuordnen. »Und die Schreiben wurden gesandt ... , man solle vertilgen, töten und umbringen alle Juden, jung und alt, Kinder und Frauen.« Arama kommentiert dies entgegen der klaren Bedeutung des Bibeltextes : »... die Verfügung, >man solle [sie] vertilgenvertilgen, töten und umbringen