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German Pages 295 Year 2001
GEORGE TURNER
Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit
Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht Herausgegeben von Frank-Rüdiger Jach und Siegfried Jenkner
Band 7
Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit Zur Geschichte der Hochschulreform im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Von
George Turner
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Turner, George:
Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit : zur Geschichte der Hochschulreform im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts I George Turner.Berlin: Duncker und Humblot, 2000 (Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht ; Bd. 7) ISBN 3-428-10332-7
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1433-0911 ISBN 3-428-10332-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Seit den sechziger Jahren gibt es in der Bundesrepublik eine Debatte um die Universitäten, die bis heute anhält. Kritik an der konkreten Situation, Reformvorstellungen, Änderungen, Unzufriedenheit mit deren Folgen, erneute Kritik, Reform der Reformen etc. bestimmten die Hochschulpolitik und stiften Verwirrung in der Öffentlichkeit. Mit dieser Darstellung soll eine Übersicht versucht werden über (oft weit zurückliegende) Ursprünge und aktuelle Anlässe der Reformen, über ihre Akteure und deren Vorstellungen. Viele Namen sind vergessen, manches Konzept besaß die Qualität einer Sternschnuppe. Es gab aber auch respektable Ansätze, die sich politisch nicht verwirklichen ließen. Einiges erschien von Zeit zu Zeit wieder, gelegentlich in neuem Gewand. Das heutige Unbehagen äußert sich vor allem im Blick auf die lange Studiendauer, das hohe Durchschnittsalter der Absolventen, die große Zahl der Studierenden, die Überfüllung in einzelnen Studiengängen und den (angeblich) fehlenden Praxisbezug. Durch neue Probleme wie die nach der Wiedervereinigung entstandenen oder mit der Vollendung der Europäischen Union zusammenhängenden wird die Situation zusätzlich belastet. Abhilfe soll vor allem eine Deregulierung im Hochschulwesen schaffen; mehr Wettbewerb zwischen den einzelnen Hochschulen und bessere Möglichkeiten für Experimente werden angestrebt. Man fragt sich allerdings, was eigentlich in den letzten dreißig Jahren in und mit den Hochschulen geschehen ist? Wer den ZickZack-Kurs der Hochschulpolitik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begreifen, wer manche Ungereimtheit verstehen will, die das Ergebnis von Kompromissen war, wer sich ein eigenes Urteil über die vielfältigen Aspekte dieser Frage bilden möchte, der kann das nur, wenn er die unterschiedlichen Interessenlagen in diesem Gewirr von Entwürfen erkennt und dabei die eigentlichen Aufgaben der Hochschule nicht aus dem Blick verliert. Der Verfasser hat sich seit Mitte der sechziger Jahre mit Fragen der Hochschulpolitik beschäftigt. Aus Gründen der Vollständigkeit wurde deshalb auch auf eigene frühere Äußerungen Bezug genommen. Unverzichtbare Hilfsmittel waren der jeweils wöchentlich erscheinende Dienst für Kulturpolitik der Deutschen Presseagentur (dpa) und der von der WRK/HRK herausgegebene PressespiegeL Nur so war es möglich, Positionen und Gegebenheiten zu berücksichtigen, die sich in der gängigen Literatur nicht finden. Sofern Zeitungsartikel unter dem Namen des Autors erschienen sind, ist im Literatur-Verzeichnis auf die Wiedergabe im Pressespiegel hingewiesen, bei Presseberichten erfolgt der
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Vorwort
entsprechende Hinweis ggf. in den Fußnoten, vorausgesetzt, die entsprechenden Veröffentlichungen sind im Pressespiegel der WRKJHRK abgedruckt. Für die Mitarbeit danke ich Herrn Referendar Stefan Kaufmann, der aus der Sicht des 1969 Geborenen Fragen gestellt und wesentlich an der Vorbereitung des Manuskripts mitgewirkt hat, ebenso Frau Brigitte Tross, die als langjährige Lektorin für Zeitgeschichte Betrachtungen aus anderem Blickwinkel anstellen konnte. Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Konrad Stahlecker, früherer Kanzler der Universität Hohenheim, der die Arbeit durch vielfältige Anregungen bereichert hat sowie Frau EIfriede Hallmann und Herrn Markus Münstermann für die technische Unterstützung. Stuttgart, im Juli 2000
George Turner
Inhaltsübersicht Vorwort...... . ..... . ........................................... . ...................... . .. . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . .. . . .. . . .. . . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . .. . .. . . . . . . .. .. .. .. . . . .. .. . . . . . . . . . .. . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .. . . ..
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I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Die Probleme und ihre Behandlung- ein Schlingerkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 111. Ergebnis . . . . . . . . . .. .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . .. . . . . . . 272
Literatur-/Quellenverzeichnis ............. .. ....................... .. ........... .. ..... .. . 274 Veröffentlichungen des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Namensregister .. . . . .. . ............. . . . .. . . . ... ... . . . ... .. . . ... . . . ......... . ..... . ...... . .. 292
Inhaltsverzeichnis I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Die "goldenen" Fünfzigerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . 14 2. Die Ausbildungsrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Vom Reformkonsens zur Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Reformpolitik unter Stabilitätszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 5. Bewältigung der Überlast- die Kraftakte des letzten Jahrzehnts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Die Probleme und ihre Behandlung - ein Schlingerkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hochschulexpansion und Öffnung der Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Chancengleichheit/Öffnung der Hochschulen/Untertunnelung............. . . b) Akademikerbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abitur und Hochschulzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . .. . . . . . .. ... .. .. . . a) Oberstufenreform/Studierfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dauer der Schulzeit.. . .. . ... . .. . ................. . ...... . .............. . .. . . ... c) Numerus clausus/ Auswahlverfahren . . .. . .. .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. .. . . . . .. .. . . . d) Hochschulzugang für Berufstätige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Demokratisierung/Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gruppenuniversität/Drittelparität/Verfasste Studentenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Strukturierung des tertiären Bereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesamthochschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fachhochschulen/Berufsakademien/PädagogischeHochschulen . . . . . . . . . . . . c) Strukturreform/Konzentration ............... . ..... . .. . . . ............. . ...... . 5. Studienreform/Organisation des Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Studieninhalte/Praxisbezug . . .. . . . .... . .... . . . . . ............ . .. . ...... . . . .... . b) Studienzeitverkürzung/Entrümpelung/Freischuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Neustrukturierung/Kurzstudiengänge/lntemationalisierung .. . ... . .. .... .. . . . 6. Ausbildungsförderung ...... . . . . . .. . ........................ . ....... . ...... . . . . .. . . 7. Hochschulfinanzierung .... .. . . . . ................. . ................. . ...... . ...... . a) Bildungsausgaben/Staatliche Mittelzuweisung/Drittmittel .. .. . . . .. . . . . . .. . . . b) Studiengebühren/Kostenbeteiligung von Studierenden . . . .. ........ . . . .... . .. 8. Wettbewerb zwischen den Hochschulen .. . . . . . ... .. . . . . . . ................ . . .. ... . . a) Wettbewerb und Ranking .. . . . . . . . .. .. . ... . ... . .. . . . . . ... . . ...... . . . . . .... . . ... b) Evaluation der Lehre und Qualitätssicherung . .... . . . ... . .. . ... . . . . . . . . .. .. . .. 9. Hochschulökonomie/Globalhaushalt ............. . ....... . .. . ........... . . . .. .. . .. a) Flexibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelverwendung/Mittelverteilung .......... . .......... . . . . .......... . .. .. . . . 10. Hochschulautonomie/Leitungsstrukturen ...... . .... . . . . . ..... .. ...... . . . .... . .... a) Verhältnis von Hochschule und Staat . . . . . ... . . . .. .. . .. . .. ... ... ... . . . .. ...... . b) Reform der Leitungsstrukturen/Hochschulmanagement .. . ......... . . . .. . ....
30 31 31 37 41 41 52 60 67 72 72 88 92 92 97 108 111 111 121 129 141 169 169 175 188 188 196 200 200 209 213 213 219
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Inhaltsverzeichnis II. Privathochschulen/Eliteuniversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Privathochschulen .... .. . . . . ...... . .... . ........ ... . . . . .... . . . .... . .. . .... ... .. b) Eliteuniversität ........ . . . ............. . .... . ....... . .......... . .......... . .... 12. Besoldungs- und Dienstrecht ........................... . ................ . ...... ... a) Vergütungssystem/Beamtenstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Personalstruktur/Nachwuchsförderung ...... . ... . ............................
233 233 245 248 248 261
III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Literatur-/Quellenverzeichnis ... ... ................... . .. ... . . ........... . .. ... .... .. ... 274 Veröffentlichungen des Autors (soweit auf sie verwiesen wurde) ........... . ...... ... 288 I. Bücher . ...................... .... ..................... ... .................... .. . ... 288 2. Zeitschriftenaufsätze, Beiträge in Sammelbänden, Zeitungsartikel (chronologisch) ............ . . . . . ................. .. . .. . . . ................ . .. . . . . . .. 289 Namensregister ..................... .. . .................... .... . ................ . ... .... . . 292
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. abgedr. Abs. AG ASTA BA B.A. BAföG Bd. BOA BOI BFW BeriHG BGBI. BLK BVerGE BW bzw. CHE ders. DGB d.h. DHV DIHT DÖV DSW dpa DUZ ebda e.V. EWG f. ff. FAZ FH Fn FR fzs GEW HambHG
am angegebenen Ort abgedruckt Absatz Aktiengesellschaft Allgemeiner Studentenausschuss Berufsakademie Bachelor of Arts Bundesausbildungsförderungsgesetz Band Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Bund Freiheit der Wissenschaft Berliner Hochschulgesetz Bundesgesetzblatt Bund/Länder-Kommission Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Baden-Württemberg beziehungsweise Centrum für Hochschulentwicklung GmbH (Gütersloh) derselbe Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt Deutscher Hochschulverband Deutscher Industrie- und Handelstag Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Studentenwerk Deutsche Presse-Agentur Deutsche Universitätszeitung ebenda eingetragener Verein Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende fortfolgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fachhochschule Fußnote Frankfurter Rundschau freier Zusammenschluß von Studentinnenschaften Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hamburgisches Hochschulgesetz
12 HB HIS Hrsg. hrsgg. HRK lAB i.v.m. KMK LHG LHO MittAB MittHV MPI m.w.N. n.c./N.C. No./Nr. o.ä. OECD
Phys.Bl.
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s. StZ
sz
u.a. UGBW
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vgl. VOP WamS WissR WRK z.B. Zit. zit. z.T.
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Abkürzungsverzeichnis Handelsblatt Hochschul-Informations-System GmbH (Hannover) Herausgeber herausgegeben Hochschulrektorenkonferenz (seit 5.11.90 anstelle von WRK) Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs-Forschung der Bundesanstalt für Arbeit (Nümberg) in Verbindung mit Kultusministerkonferenz Landeshochschulgesetz Landeshaushaltsordnung Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Mitteilungen des Hochschulverbands Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit weiteren Nachweisen numerus clausus Nummer oder ähnliches Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Physikalische Blätter Seite siehe Stuttgarter Zeitung Süddeutsche Zeitung unter anderem/anderen Universitätsgesetz Baden-Württemberg von vergleiche Verwaltung, Organisation, Personal: die Zeitschrift für erfolgreiches Verwaltungsmanagement Welt am Sonntag Wissenschaftsrecht Westdeutsche Rektorenkonferenz (seit 5.11.90 HRK) zum Beispiel Zitat zitiert zum Teil Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (Dortmund)
I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland Die in der Hochschuldiskussion geäußerte Kritik offenbart eine Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die heutige Hochschule zehrt von der Tradition, entspricht ihr aber nicht mehr. 1 Klischees und Idealvorstellungen bestimmen ein Urteil, für das eigentlich Klarheit vonnöten ist: über Intention und Entwicklung der Universität und über die Stationen ihres Weges. Die Humboldtsche Neugründung der Universität Berlin im Jahr 1812 war damals Ausdruck preußisch-protestantischer Kritik an einem mehr oder minder schulmäßigen Lehr- und Lernbetrieb im Zeitalter der Aufklärung. Sie wurde das Vorbild des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Idee der Universität bedeutet den Übergang von der doctrina zur Forschung oder, wie Wilhelm v. Humboldt es definiert hat: den Übergang zur "Wissenschaft, die noch nicht ganz gefunden ist". 2 Als mit der Universität zutiefst verbunden wurde begriffen, "an Forschung teilzunehmen". 3 Das aber war nicht gleichgesetzt mit Vorbereitung für einen Beruf, in dem Wissenschaft zur Anwendung gelangte, sondern meinte "Bildung". Grundwerte dieser Universitätsidee waren die Freiheit der Studiengestaltung und die Einsamkeit der forschenden Arbeit. Es galt als selbstverständlich, diese Werte als Vorbildung für Berufe fruchtbar zu machen, aber nicht in der Weise, dass die Universität ausgerichtet sein sollte als "Berufsschule" , die nur den Fachmann hervorbringt. Ausbildung für Berufe hat fraglos auch die klassische Universität betrieben. Doch galt ihr dies als Teilaspekt, im Extremfall als Nebenprodukt der eigentlichen wissenschaftlichen Bemühungen.4 Die Fortentwicklung der Humboldtschen Universität war auf eine Einrichtung für die bürgerliche Elite gerichtet. In unserem Jahrhundert versuchte zuerst die Weimarer Republik, allen Teilen der Bevölkerung den Zugang zur Universität zu ermöglichen. Der Stand der Akademiker wurde damit das legitime Ziel all derer, die sich ihrer geistigen Anlage und Neigung nach das Studium zutrauten.5 Eil wein, Die deutsche Universität vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 1992, S. 261. Gadamer, Die Idee der Universität- gestern, heute, morgen - in: Die Idee der Universität, 1988, S.2f. 3 a.a.O., S. 3. 4 Schluchter, Auf der Suche nach der verlorenen Einheit. Anmerkungen zum Strukturwandel der deutschen Universität, in: Sozialtheorie und soziale Praxis. Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag (1971 ). Mannheimer Sozialwissenschaftliche Studien, Bd. 3, S. 257 (265). 5 Gadamer, S. 6f. 1
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I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland
Niemand zweifelt heute daran, dass die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft intensiver sind denn je zuvor. 6 Für unsere gegenwärtige Situation ist es nicht unwichtig, dass dem Nachdenken über Wissenschaft bis in die sechziger Jahre hinein dies keineswegs selbstverständlich war. Repräsentanten der Universitäten betonten damals, und auch noch später, dass Wissenschaft ihren Zweck allein in sich selbst trage, insbesondere in Gestalt der nur der reinen Erkenntnissuche verpflichteten Grundlagenforschung. Soweit es Reaktionen auf die ideologische und machtpolitische Indienstnahme der Wissenschaft während des "Dritten Reichs" von 1933 bis 1945 waren, ebenso auf die Entwicklung in der späteren DDR, erschien dies immerhin verständlich. 7 Während im sowjetischen Einflussgebiet Deutschlands das Bildungswesen dem "Aufbau des Sozialismus dienen" sollte und bis zum Ende der DDR im Sinn des Klassenkampfes instrumentiert und zentral organisiert wurde,8 begannen die Deutschen in der damaligen Bundesrepublik, eine ihnen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus vertraute Gesellschaft und deren Institutionen in ihren wesentlichen Zügen wiederaufzubauen.9 Das Herkömmliche hatte seine Chance. 10 Bewusst wurde an Humboldt angeknüpft. Die ersten Schritte vollzogen sich unter Aufsicht der drei westlichen Besatzungsmächte, deren Modelle ihren eigenen Erfahrungen entsprachen, 11 ohne ein einheitliches Programm. Jedoch ist für die spätere Entwicklung von Bedeutung, dass den Ländern für fast zwei Jahrzehnte in "Wiederaufnahme föderalistischer Traditionen" 12 die Zuständigkeit für das Bildungswesen allein übertragen wurde. Der Bund erhielt erst 1969 begrenzte Kompetenzen, zu einer Zeit, als die öffentliche Debatte um die Universitäten längst eingesetzt hatte.
1. Die "goldenen" Fünfzigerjahre Lange Zeit waren die deutschen Universitäten berühmt für ihre hervorragenden akademischen Leistungen, ihre Autonomie (trotz der Finanzierung durch den Staat), ihren elitären Charakter und die außergewöhnliche Machtstellung auf Lebenszeit berufener Professoren, der Ordinarien. Jede Disziplin bewegte sich in die Nachkriegsweit in der Mitte dieses Jahrhunderts mit jener Vielfalt der Ansätze, Methoden, Doktrinen hinein, der sich weitgehend in der Zeit vor dem "Dritten Reich" gebildet hatte. Neben der Vielfalt in den Fächern wirkte im Umkreis der einzelnen Lehrstühle das durchaus noch erfolgreiche Bestreben der Ordinarien, ihre Studenten 6 s. dazu Turner, Die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft der Zukunft, in: Ulmensien- Schriftenreihe der Universität Ulm, Bd. I, 1988, S. 29 ff. 7 s. dazu Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, 1997, S. 14ff.; Turner, Sozialistische Bildung, made in DDR, Die Welt v. 30. 1.90, S. 8. 8 Führ, Bildungswesen, S. 2. 9 s. dazu Turner, Hochschulreformpolitik. Versuch eine Bilanz, in: Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament) v. 21.1.84, S. 24, m. w. N. 1o so Ellwein, S. 239. 11 Führ, Bildungswesen, S. 202; Turner, Hochschulreformpolitik, a. a. 0. 12 Führ, a. a. 0., S. 4, 203.
I. Die ,.goldenen" Fünfzigerjahre
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im Sinn der wissenschaftlichen Auffassungen zu prägen, die sie für die allein angemessenen hielten. Tatsächlich gelang es ihnen vielfach, durch ihre Vorlesungen, Seminare und Veröffentlichungen jene Studenten nachhaltig zu beeinflussen, die sich auf das Studium bei ihnen einließen oder einlassen mussten. Die Strenge war meist größer als die Liberalität; aber es gab beides. 13 Natürlich merkten damals schon viele, dass die Institutionen und die geistigen Grundlagen der deutschen Universität auf schwankendem Boden ruhten. Dennoch sind in jener Zeit noch einmal zwei Generationen im Geist der alten deutschen Universität geformt worden: die Kriegsgeneration, die das Bild der Studentenschaft bis in die fünfzigerJahrehinein bestimmte, und die ersten Jahrgänge der Nachkriegsgeneration. Die Ausbildung in den überkommenen Formen war allerdings nur deshalb möglich, weil die Zahl der Studenten überschaubar blieb. Aber auch zu jener Zeit zeichnete sich das Massenphänomen bereits ab. Überfüllte Hörsäle und ein zu geringer Bücherbestand in den Bibliotheken wurden als Beeinträchtigung beim Studium empfunden. Die durchschnittliche deutsche Universität oder Technische Hochschule in der ersten Hälfte der fünfzigerJahrehatte zwischen 4000 und 6000 Studenten. München, die größte Universität, zählte 1950/51 rund 11000 Studierende, Heidelberg etwa 4000. An den höheren Schulen machten 1950 nur rund 3 Prozent eines Jahrgangs das Abitur. Die Bildungsgehalte waren im wesentlichen dieselben. Auch in diesem Bereich war es der letzte Zeitabschnitt, in dem ein einigermaßen homogenes Wissen nach weitgehend einheitlichen Lehrplänen von annähernd gleichwertig ausgebildeten Lehrern vermittelt wurde. Die vergleichsweise breite Allgemeinbildung, mit der die Studenten zum Studium kamen, hatte immerhin noch ein gewisses Interesse an einem (akademisch fundierten) studium generale zur Folge. Geistig rege Studenten haben sich damals oft nicht auf ein reines Fachstudium beschränkt. Manche bewegten sich eine Zeitlang bei jenen Professoren, die über ihre Disziplin hinaus wirkten und deren es an den meisten Universitäten einige gab.I4 Die überschaubaren Größenordnungen an den Universitäten in den frühen und mittleren fünfzigerJahrenermöglichten durchaus ein lebendiges interdisziplinäres Gespräch, gekennzeichnet durch intensive Bemühungen um die Klärung von Grundsatzfragen und eine überall noch ziemlich stark traditionelle Orientierung. Kaum eine Spur von Traditionsbruch war festzustellen, allerdings Merkmale von einseitiger Fachbezogenheil und von institutioneller Schwerfalligkeit. Eine Diskussion etwa um die Stellung der Universität und ihrer Mitglieder in der Zeit nach 1933 fand nicht statt. Die Professoren blieben bei solchen Themen "zugeknöpft". Es blieb späteren Studentengenerationen überlassen, danach zu fragen, was einzelne wäh13 Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1957, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.2, 1981, S.417. 14 Schwarz, S.418f. mit Beispielen.
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I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland
rend der Zeit des Nationalsozialismus getrieben haben, gepaart mit Unverständnis darüber, warum nicht schon früher Antworten eingefordert worden seien. Ohne dass es den Gelehrten und Studenten jener Jahre bewusst war, erlebten sie damals die "Abendröte der alten deutschen Universität". 15 2. Die Ausbildungsrevolution "Das Mandarinenturn der deutschen Ordinarien" ging mit den fünfziger Jahren zu Ende. 16 Vereinzelt schonausgangsjenes Jahrzehnts, vor allem aber am Anfang der sechziger Jahre wurden in der Bundesrepublik kritische Stimmen laut, welche auf gewisse Unzulänglichkeiten, unter anderem bei den Lehrmethoden, und auf die oligarchische Verfassung der Universitäten hinwiesen. Beobachter der Entwicklung wussten damals schon, dass eine Entscheidung zu fallen war, ob in Zukunft die vorhandenen Universitäten und Technischen Hochschulen ausgebaut oder neue Einrichtungen gegründet werden sollten. 17 Allgemein bekanntgeworden - und häufig genug missverstanden - ist der Warnruf des Pädagogen Georg Picht vom "Bildungsnotstand", 18 der dies mit wirtschaftlichem Notstand gleichsetzte. Picht prophezeite ein rasches Ende des eingetretenen wirtschaftlichen Aufschwungs, wenn qualifizierte Nachwuchskräfte fehlten, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten könne. Die Zahl der Abiturienten sei das geistige Potential eines Volkes, und von diesem geistigen Potential seien in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die politische Stellung abhängig. Aus dem im Vergleich zu anderen Industrienationen geringeren Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik leiteten neben Picht auch weitere Kritiker eine nachrangige, unterwertige Rolle der Bildung auf der nationalen Prioritätenliste ab. 19 Den quantitativen Mangel sah man darin, dass es zu wenige Abiturienten, zu wenige Lehrer und überfüllte Hochschulen gäbe. 20 Als qualitativ unzureichend galten das "veraltete" Bildungssystem, worunter die innere Verfassung der Hochschulen verstanden wurde, überlange Studienzeiten21 und die scharfe soziale Auslese beim Zugang zu einer höheren Ausbildung.22 so Schwarz, S. 420. Schwarz, S.417. 17 s. näher Ellwein, S. 244 ff. 18 Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, 1964. 19 so Edding, Internationale Tendenzen in der Entwicklung der Ausgaben für Schulen und Hochschulen, in: Kieler Studien (Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel), 1958, S.23. 20 ders., Bildung und Politik, in: opuscula, (1965) 25, S. 15: s. auch Anrich, Die Idee der deutschen Universi~t und die Reform der deutschen Universitäten, 1962. 21 Dahrendorf, Bitdung ist Bürgerrecht, 1965, S. 102 f. 22 Hamm-Brücher/Edding, Ansätze zum bildungspolitischen Umdenken, in: Reform der Reform, 1973, S.81. 15
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2. Die Ausbildungsrevolution
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Solche Überlegungen mussten auch in der Öffentlichkeit Anklang finden: Die Berufszugehörigkeit spielte bei der Schichtenzuordnung und damit bei Ansehen und Prestige eine wesentliche Rolle; mit der Ausbildung waren in der Regel Berufsund Einkommensstatus verbunden. Vor allem die Ausbildung trat als statusbestimmende Determinante wieder voll in ihre Funktion ein. Die rund zwei Prozent erwerbstätiger Deutsche mit Universitätsabschluss gehörten sowohl nach subjektiven wie nach objektiven Maßstäben zur Oberschicht und zur oberen Mittelschicht.23 Zwar war die deutsche Gesellschaft seit der Zeit des Kaiserreichs für begabten und leistungswilligen Nachwuchs aus unteren Schichten bis zu einem gewissen Grad offen. So umfasste die Oberschicht auch eine Gruppe sozialer Aufsteiger. Insgesamt rekrutierte sie sich aber überwiegend aus den eigenen Reihen oder aus der benachbarten Mittelschicht von Angestellten, Beamten und besser situierten Selbständigen. Die Kinder aus den oberen Schichten absolvierten, wenn möglich, ebenfalls ein Universitätsstudium. Die sogenannte Bildungsbarriere für Kinder aus der Arbeiterschaft war einer breiten Öffentlichkeit bis dahin noch nicht als Politikum erschienen. Fachleute hatten sich dieser Frage aber bereits Mitte der fünfziger Jahre angenommen.24 Die große Ausbildungsrevolution, die Mitte der sechziger Jahre zu einem Zentralthema der Innenpolitik wurde, ist von den Bildungsspezialisten unterschiedlicher ideologischer Herkunft zehn Jahre lang vorbereitet worden. Es ist falsch, wenn behauptet wird, erst der kulturrevolutionär wirkende Studentenprotest habe auf die Mängel des deutschen Hochschulsystems aufmerksam gemacht und damit die Reformpolitik erzwungen und eingeleitet.25 Tatsächlich sind z. B. die Arbeiten des 1957 von Bund und Ländern für die Hochschulen eingerichteten Wissenschaftsrats mit den Empfehlungen zur Reform der Hochschulen fünf bis zehn Jahre älter als der Höhepunkt des Studentenprotests im Jahr 1968. Die längst fällige Reform war allerdings so überfällig geworden, dass sie in Revolution ausarten musste. 26 Im Nachhinein ist oft spekuliert worden, dass die Umsetzung der Positionen des Verbands Deutscher Studentenschaften (VDS) Ende der fünfziger Jahre unter der Führung von späteren Top-Managern wie Lennings und Gassert dazu hätte beitragen können, später erhobene extensive Forderungen und deren Verwirklichung zu verhindern. Schwarz, S.403. Schwarz, S. 404. 25 Lübbe, Die Universität im Geltungswandel der Wissenschaften, in: Die Idee der Universität, 1988, S. 124, spricht in diesem Zusammenhang von einem universitätshistorischen Mythos, der in Publizistik und Politik seine Gläubigen hat; ders., Gruppenuniversität Revision eines ,.Demokratisierungsprogramms", in: Symposium ,.Gruppenuniversität", Forum des Hochschulverbands, Heft 26, Sept. 1981. 26 Eigen, Die deutsche Universität- Vielfalt der Formen, Einfalt der Reformen, in: Die Idee der Universität, 1988, S. 92f. 23
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2 Turner
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I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland
Auffällig ist das Fehlen von Bildungspolitikern in den Parlamenten und Parteien Ende der fünfziger Jahre. Von elf amtierenden Kultusministern gehörten fünf nicht den Parlamenten eines Landes an. Auch die Zahl der Parteilosen unter ihnen (drei) war bemerkenswert. Bis dahin hatte es in keinem anderen Ressort Minister gegeben, die parteilos waren. Auch Bundeskanzler Brandt entschied sich 1969 bei der Besetzung seines ersten Kabinetts für den parteilosen Hochschulprofessor Hans Leussink als Minister für Bildung und Wissenschaft. Und eine weitere Besonderheit war festzustellen: die Zahl "landfremder", also aus einem anderen Bundesland Berufener.27 Hierin mag ein Grund liegen, dass es an der Möglichkeit fehlte, erkannte Notwendigkeiten auch durchzusetzen. Die Bildungspolitik war nicht so fest in die Parlaments- und Parteiarbeit eingefügt, dass ihre Anliegen mit Priorität behandelt wurden. Der fehlende Rückhalt von Experten der Bildungspolitik in Parlament, Kabinett oder Partei konnte erst durch das Echo in der öffentlichen Meinung ausgeglichen werden. Die Zeit einer scheinbar definitiven Entideologisierung war vor allem unter Intellektuellen und Studenten einem neuen Bedürfnis nach ideeller Kritik und veränderten Wertvorstellungen gewichen. "Wie ein Fieber" brach die Reformdiskussion aus. 28 Die Kritiker gingen über die pragmatische Politikauffassung der bundesrepublikanischen Aufbaugeneration hinaus. Indem sie diese anklagten, stellten sie zugleich ein Vakuum an Zukunftsvorstellungen fest und brandmarkten eine unzureichende "Bewältigung der Vergangenheit", die sie rigoros und demonstrativ einforderten. Immer spürbarer trat dies in der belletristischen Literatur und in den Sozialwissenschaften hervor sowie im neuen Ton eines Generationskonflikts, der sich in stürmisch anwachsenden Studenten- und Jugendprotesten äußerte. 29 Auf diesem Hintergrund sind auch Aussagen von damaligen Regierungsmitgliedern zu werten wie die: ,,Bildungsfragen sind ... Machtfragen, Interessenfragen, Klassenfragen ... Bei der Demokratisierung unseres Bildungswesens geht es letztlich um Klasseninteressen".30 Die sich formierende außerparlamentarische Opposition (APO), an sich eine antiparlamentarische Bewegung, besaß ihre maßgebliche Kraft im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SOS), von dem sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands schon 1961 getrennt hatte. Sie war im Westteil der alten Reichshauptstadt Berlin entstanden31 (wo Studierende wegen des Berlin-Status der geteilten Stadt keinen Wehrdienst leisten mussten) und wurde vor allem durch ihre antiamerikanischen Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam allgemein bekannt. Ihr s. dazu näher Eschenburg, Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, 1964, S. 81 ff. Führ, Bildungswesen, S. 204. 29 Bracher, in: Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.4, 1984, S. 10. 30 so v. Dohnanyi, vgl. Bulletin der Bundesregierung Nr. 148, S. 1475, 16.11 . 1973. 31 Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.4, 1984, S.374f. 27
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2. Die Ausbildungsrevolution
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Ziel war die Revolutionierung der bestehenden Gesellschaft. Auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit - 1967/68 - griff diese Bewegung über die Universitäten hinaus auf Staat und Gesellschaft über, zog sich allerdings schon bald darauf wieder in die Hochschulen zurück, nachdem ihre Offensive gescheitert war. 32 Der Rückzug des SDS in die Universitäten setzte ein, weil sein Ausfall auf die Straße, anders als im Frankreich des Mai 1968, mit einem völligen Debakel geendet hatte. Nunmehr ging in den Universitäten ein Vorgang weiter, mit dem versucht wurde, diese mit freilich unterschiedlicher Intensität zu Ausgangsstätten für die zukünftige Revolution beziehungsweise zu Spielwiesen enttäuschter Revolutionäre "umzufunktionieren". So lautete ein zuerst in der einschlägigen Terminologie benutzter, dann aber auch in den allgemeinen Sprachgebrauch eingehender Begriff der Zeitenwende. Das Ziel, den liberalen Staat als angeblichen Interessenwaller des Kapitals und der Repression zu zerschlagen, hatte die APO nicht erreicht. Gelungen war es ihr indessen, mannigfachen politischen und sozialen Wandel von nicht geringem Ausmaß in Gang zu bringen, der zu weitgehenden Veränderungen im öffentlichen und individuellen Bewusstsein führte. Dieser Vorgang wurde von einem erstaunlich anpassungsfahigen - von den Revolutionären der ersten Stunde überschätzten - politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System kanalisiert und integriert, bürokratisiert und kommerzialisiert. Seine Folgen wirken eigenständig oder sekundär in vielerlei Formen weiter. 33 Ein wichtiges Resultat jener stürmischen Entwicklung war zweifellos, dass die alte Universität als europäische Bildungsanstalt auf der Strecke blieb und unter dem konzentrierten Zugriff von Revolutionären und Bürokraten zerbrach. Die außerparlamentarische Opposition hatte ein Machtvakuum an der Universität aufgedeckt, das nun die Staatsverwaltung mit ihren Mitteln füllte.34 Die traditionelle Wissenschaftsuniversität, sachlich einseitig, aber politisch wirksam als "Ordinarienuniversität" angeklagt, und ihre Exponenten reagierten verunsichert und mit einer gewissen Hilflosigkeit. Die Auseinandersetzungen zeigten auch in erschreckendem Maße die Distanz zwischen Universität und Öffentlichkeit.35 Aber es ist nicht zu verkennen, dass die Funktion der Hochschule in der Gesellschaft sich ebenso verändert hatte wie diese Gesellschaft selbst.36 Sieger blieb in dieser Entwicklung auf längere Sicht die Bürokratie, deren überproportionale Stärke die durch Satzungen verordnete Schwäche der reformierten 32 Hildebrand, a. a. 0 .; Nachhutgefechte bildeten Versuche, mit sog. Volks-Unis den Dialog zwischen Wissenschaft und Arbeitnehmern zu eröffnen, vgl. K. Adam, Brüder zur Sonne, FAZ
V.
29.5.1980. 33 Hildebrand, S. 375. 34 Ellwein, S . 15. 35 36
Führ, Bildungswesen, S. 205 f. mit Hinweis auf Ruegg. Ellwein, S. 253.
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I. Zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland
Universitäten noch erheblich vervielfachte.J? Die heutige Hochschule ist unmittelbar und distanzlos Einrichtung des Staates.38 Das entspricht dem Trend der Modeme und ist deshalb kaum verwunderlich. Aber es ergibt sich daraus keine leitende Idee und schon gar keine von humaner Bildung.39
3. Vom Reformkonsens zur Konfrontation Ein neues Gebilde entstand: die "Gruppenuniversität", in der Begriffe wie Mitbestimmung, Demokratisierung und Transparenz die zentrale Rolle spielen sollten. Das betraf die Verfassung der Hochschulen- durch stärkere Beteiligung der Nichtordinarien, des Mittelbaus, der Studierenden und der sonstigen Mitarbeiter.40 Fakultäten wurden in Fachbereiche umorganisiert, eine stärkere Differenzierung der einzelnen Wissensgebiete führte weg vom alten (heute wieder erstrebten) Ideal der interdiziplinären Forschung.41 Eine quantitative Ausweitung des höheren Bildungswesens wurde in Gang gesetzt. Dazu gehörten solche Aktionen wie "Student aufs Land", um Bildungsreserven zu wecken und zu mobilisieren. Damit sollte auch das viel zitierte katholische Mädchen vom Land erreicht werden. Eindeutig und offenbar unwiderruflich hatte der Trend eingesetzt, dass unabhängig von der demographischen Entwicklung der jeweilige Jahrgangsanteil an Schülern höherer Schulen wuchs und die Mehrheit der Abiturienten auch ein Studium aufnehmen wollte.42 In der Expansion des Hochschulwesens dokumentieren sich zwei säkulare internationale Trends: die "Demokratisierung" im Sinne der Öffnung der Sekundar- und Hochschulbildung sowie die Verwissenschaftlichung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.43 Zu den Konsequenzen der sog. Demokratisierung gehörten flankierende Maßnahmen wie z. B. finanzielle Förderung.44 Auch gebot die Konkurrenz zum anderen deutschen Staat, den Zugang zur Hochschule "sozial" zu ermöglichen.45 Die strukturelle Reformierung zielte darauf ab, Gesamthochschulen einzuführen und eine Verkürzung des Studiums zu erreichen. Dabei wurde die Frage nach dem "Sinn des Studiums" gestellt.46 Weitere Schlagworte lauteten: neue Lehrkörperstruktur, Modemisierung und Stärkung der Hochschulselbstverwaltung. 37 so Hildebrand, S. 453 f.; s. auch Kocka, Hoffnungen der Reform- Sieg der Bürokratie, in: Glaser (Hrsg.), Hochschulreform- und was nun?, 1982,5. 122 (139f.); H. W. Pahl kennzeichnet die 1970 beginnende Phase als "Bürokratisierung, Verrechtlichung und Repression", zit. bei Ellwein, S. 359. 38 s. ausführlich Ellwein, S. 257 ff. 39 so Ellwein, S. 254. 40 Ellwein, S. 253. 41 Führ, Bildungswesen, S. 205 f. 42 Eilwein, S. 250. 43 so Führ, Bildungswesen, S. 204. 44 Führ, a. a. 0. 4S Eil wein, S. 253. 46 Eil wein, a. a. 0.
3. Vom Refonnkonsens zur Konfrontation
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Zur Erreichung dieser Ziele sollte der Bund zum ersten Mal eine Grundsatz- und Rahmenkompetenz für das gesamte Bildungswesen erhalten, die es ihm ermöglichte, die gesamtstaatlichen Strukturdaten für die Entwicklung in quantitativer, qualitativer, finanzieller und organisatorischer Hinsicht festzulegenY Die dafür nötige Grundgesetzänderung erfolgte 1969 noch zur Zeit der Großen Koalition von CDU/ CSUundSPD. Die Beweggründe für die Reform beruhten nicht zuletzt auch auf ökonomischen Überlegungen. Standen bereits in den fünfzigerJahrenwegen der zu beobachtenden Engpässe Fragen des Bedarfs an hochqualifizierten Arbeitskräften im Vordergrund des Interesses, so beschäftigte man sich später, motiviert von der Ost/West-Auseinandersetzung beider Wirtschaftssysteme, mit dem Problem einer ökonomisch orientierten Bildungspolitik, deren Ziel es sein sollte, die bis 1970 vorgegebenen Wachstumsraten zu erreichen. Wirtschaftliches Wachstum wurde als Bedingung und Resultat der Kulturpolitik verstanden.48 Stärker betonte demgegenüber vor allem Dahrendorf den individuellen Ansatz des Bürgerrechts auf Bildung.49 Die vielfaltigen Forderungen trafen auf eine breite Zustimmung und wurden zum größten Teil auch politisch, mit im Lauf der Zeit veränderten Mehrheiten, umgesetzt. Die wichtigsten Beispiele dafür sind: - Das Abkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines Wissenschaftsrats ( 1957) für den Hochschulbereich; - das Verwaltungsabkommen über die Errichtung des deutschen Bildungsrats (1965) für den Schulbereich; - die Einführung des neuen Hochschultyps Fachhochschule (1968) durch einen Staatsvertrag der Länder; - die Ergänzung des Grundgesetzes (1969) durch Art. 74 Nr. 13 Abs. l Nr. Ia, Art. 9la, Art. 9lb u. a. mit der Ermöglichung der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau; - das Hochschulbauförderungsgesetz (1969); - die Schaffung der Bund/Länder-Kommission (BLK) für die Bildungsplanung und Forschungsförderung ( 1970); - das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) 1971 mit dem Anspruch auf individuelle Ausbildungsförderung für eine der Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung, wenn dem Auszubildenden die erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen; 47 s. dazu die in den vorausgehenden Anmerkungen genannten Autoren Edding, Dahrendorf und Hamm-Brücher; weitere Hinweise bei Turner, Hochschulreformpolitik, S.25, Fn.l6-19. 48 OECD, Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderrahmen, 1973, S.9. 49 Dahrendorf, S. 23.
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sowie einige Jahre später unter schon veränderten Vorzeichen - das Hochschulrahmengesetz (HRG) von 1976, u. a. mit den Aufgaben der Neuordnung des Hochschulwesens (§ 4), der Errichtung von Gesamthochschulen (§ 5), der Studienreform (§ 8), der Schaffung einer neuen Personalstruktur (§§ 36ff.) und Vorgaben für die Organisation und Verwaltung(§ 58) sowie die Hochschulplanung (§ 67f). Die Bildungspolitik der sechziger Jahre vor der Studentenrevolte war maßgeblich von zwei Kultusministern geprägt worden, die der CDU angehörten: Paul Mikat in Nordrhein-Westfalen und Wilhelm Hahn in Baden-Württemberg. Die gängigen Forderungen aber waren Gemeingut der fortschrittlichen Bildungspolitiker aller Parteien.50 Irgendwelche Reformen wollten Ende der sechziger Jahre nahezu alle.51 In Brandts Regierungserklärung des ersten sozial-liberalen Koalitionskabinetts 1969 stand die Bildungspolitik an der Spitze der Reformen.52 Dies bedeutete keinen Einschnitt, sondern vielmehr die Bestätigung eines laufenden Prozesses. Das Pathos des (vermeintlichen) Neuanfangs erhöhte allerdings den Erwartungsdruck. Vor allem aber förderte die noch wachsende Bewertung der Bildungsreform als Grundlage der Gesellschaftsveränderung die parteipolitische Polarisierung und Ideologisierung der Bildungspolitik.53 Aus dem anfänglich zu beobachtenden Zusammenraufen wurde immer mehr ein Auseinanderstreben der Bildungspolitiker von Regierung und Opposition. Es hatte allerdings einige Zeit gedauert, ehe die Bildungsdiskussion eindeutig parteipolitisch kanalisiert war. Zu Anfang hatten Wissenschaftler die Auseinandersetzung bestimmt. Die Politik schien ihnen hilflos ausgeliefert, was neueste pädagogische und didaktische Erkenntnisse betraf. Nicht zuletzt die Selbstzerfleischung der Sozialwissenschaften brachte die Politik wieder in den Vordergrund. Parallel zur allgemeinen politischen Polarisierung machte man die Hochschulen auch verstärkt zum Objekt parteipolitischen Streits im einzelnen. Dies wurde am deutlichsten in den Ländern, wenn es um die Einschätzung von Entwicklungen und Vorhaben an bestimmten Institutionen ging. Die Auseinandersetzungen um die Universitäten Konstanz54 und Heidelberg55 zu Anfang der Siebziger Jahre sind Beispiele dafür. Breit diskutierte man in der Öffentlichkeit auch die Verhältnisse an den Universitäten in Berlin, Bremen, Harnburg und Marburg. ' 0 Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969-1974, in: Bracher/Jäger/Link, Republik im Wandel 1969-1974,. Die Ära Brandt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.5/l, 1986, S.130. " Böning, Hochschulreform-Illusion und Wirklichkeit, in: Mitteilungen des Hochschulverbands (MittHV) 1979, S.133. '2 Jäger, Bd. 5/1, S. 129. ' 3 Jäger, a. a. 0., S. 130. ' 4 s. dpa- Dienst für Kulturpolitik v. 9.10., 13.11., 20.11. und 11.12.1972. " dpa v. 20.11., 27 .11., 1l.l2. und 18.12.1972.
4. Reformpolitik unter Stabilitätszwang
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Die Abkehr vom Konsens56 in der Bildungspolitik vollzog sich in einem Hin und Her zwischen Vorstößen der sozialliberalen Mehrheit auf Bundes- und Länderebene einerseits und dem Ausbau der Gegenpositionen auf beiden Ebenen durch CDU und CSU andererseits. Dabei trugen die Versuche der Bundesregierung, ihre neuen Mitwirkungsmöglichkeiten im Bildungsbereich, u. a. in der Bund/Länder-Kommission, offensiv wahrzunehmen, dazu bei, die Konsensgrundlagen des bildungspolitischen Aufschwungs zu gefährden. Die Bildungspolitik wurde zu einem der Politikbereiche, die es mit anderen und in Konkurrenz dazu "zu verkaufen" galt. Dies führte zur Akzentuierung von "Expansion", "Modemisierung", "Strukturreform" und "Demokratisierung" als bildungspolitische Ziele der sozial-liberalen Koalition. Aber besonders die Überlegungen der beiden "politischen Grundwellen" der "weltweiten Bildungsreform-Debatte" - Demokratisierung der Strukturen und Ausbau der Hochschulen - war nicht ohne GefahrY Die CDU/CSU-Opposition betonte demgegenüber zunehmend die Grenzen der FinanzierbarkeiL Die Schärfe der Auseinandersetzung in den Jahren 1970-1973 beruhte wesentlich auf einer von Regierung und Opposition bewusst betriebenen Konfrontation ideologischer Art.58 Wenn es trotzdem immer wieder ein Aufeinanderzugehen gab, war dies ein Jahrzehnt lang, von Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre im wesentlichen ein Verdienst der "Bürokraten", nämlich Böning für den Bund, Kleiner für die Seite der sog. A-Länder (d. h. SPD-regiert) und Piazolo für die B-Länder (CDU-regiert).s9 4. Reformpolitik unter Stabilitätszwang Der Modemisierungsschub hatte seinen Höhepunkt in den frühen siebziger Jahren erreicht. Die Hochschulen erfuhren bis zum Jahr 1975 einen beachtlichen Ausbau. Das wissenschaftliche Personal war bereits zwischen 1961 und 1971 verdreifacht worden und hatte im Jahr 1975 im Verhältnis zur Zunahme der Studienanfänger eine vergleichbare Größenordnung erreicht. Die Stellen an wissenschaftlichen Hochschulen und Kunsthochschulen insgesamt stiegen in dieser Zeit von 131.000 auf 188.000. Die Entwicklung der sonstigen Ausgaben für den Hochschulbereich
s6 Als Vertreter einer Konsenslinie galten die Kultus- bzw. Wissenschaftsminister und späteren Ministerpräsidenten ihrer Länder Vogel (Rheinland-Pfalz) und Rau (Nordrhein-Westfalen). s1 Führ, Bildungswesen, S. 204. 58 Hüfner/Naumann/Köhler/Pfeffer, Hochkonjunktur und Flaute: Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1967-1980, 1986, S. 202. Ob es Anfang des neuen Jahrhunderts vielleicht zu einem "Abschied von der Ideologie" kommt, muss abgewartet werden, vgl. Schlicht, Der Tagesspiegel v. 28.1.2000, S. 34. 59 Böning war Ministerialdirektor, später Staatssekretär im zuständigen Bundesministerium, Kleiner und Piazolo waren Amtschefs der betreffenden Länderministerien.
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entsprach dieser Tendenz. Die Ausgaben insgesamt wurden von 1970 bis 1975 verdoppelt.60 In den siebziger Jahren entstanden 400.000 neue Stellen in Staat und Wirtschaft für Akademiker.61 Der Personalzuwachs in Wissenschaft und Forschung ist im Rahmen des öffentlichen Dienstes ohne Beispiel.62 Diese Entwicklung war zum einen die Folge einer verstärkten Aufmerksamkeit für das Bildungswesen; vor allem aber war sie eine zwingende Konsequenz aus dem Anstieg der Studienanfanger-und Studentenzahlen. Kritisch muss man dazu allerdings auch feststellen, dass sich die qualifiziert Ausgebildeten ihren Bedarf selbst schafften.63 Die Reformpolitik fand ihre Grenze in der Stabilitätspolitik. Dies deutete sich bereits früh, 1970n I, an.64 Nicht einkalkulierte Ereignisse, wie z. B. die Ölkrise des Jahres 1973 führten zu einer Verknappung der Geldmittel auch an den Universitäten. Zugleich wurden die Abhängigkeiten und Anfalligkeiten der modernen Industriegesellschaft und ihres Wohlstands deutlich. 65 Seit der Mitte des Jahrzehnts machte sich eine Stagnation der Ausgaben beim Hochschulbau, bei Personalstellen und im Sachmittelbereich bemerkbar. Die zunehmende Knappheit der öffentlichen Mittel und eine veränderte Prioritätensetwog zum Nachteil des Bildungssektors ließen die Veränderung der Rahmenbedingungen deutlich erkennen. Der schrittweise Stimmungswandel setzte sich bis zum Ende der siebziger Jahre immer deutlicher fort. Verschiedene Folgen der Expansions- und Reformphase riefen Kritik und Ernüchterung hervor.66 Die knapper gewordenen Finanzmittel waren gelegentlich ein willkommener Anlass, als überzogen eingestufte Reformvorhaben zu bremsen oder rückgängig zu machen. Ein entscheidendes Signal ging von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 zum niedersächsischen Vorschaltgesetz aus. Dabei ging es um die Frage, ob die Professoren durch die Neuregelung der Zusammensetzung der Kollegialorgane, Kommissionen und Ausschüsse an den wissenschaftlichen Hochschulen des Landes Niedersachsen Quellen dazu bei Turner, Hochschulreformpolitik, S. 26 Fn. 24-30. Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1974-1982, in: Jäger/Link, Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd.5/ll, 1987, S.l6. 62 Eilwein, S. 257. 63 Adam, Schulpflicht für die Wirtschaft, FAZ v. 2. 7.1980. 64 Jäger, Bd.5/ll, S.47. 6S Jäger, a. a. 0 ., S. 109. 66 Habermas, Die Idee der Universität- Lernprozesse, in: Die Idee der Universität, 1988, S. 147. H. sah in der Krise der öffentlichen Haushalte das wesentliche Rezessionsphänomen der Bildungsplanung, nicht so sehr in einer Neuorientierung der Bildungspolitik durch von ihm so genannte Neokonservative. 60 61
4. Reformpolitik unter Stabilitätszwang
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bzw. die Mitwirkung von Vertretern der verschiedenen Gruppen von Hochschulangehörigen in diesen Organen in ihren Rechten aus Art. 5 Abs. 3 GG auf funktionsgerechte Mitsprache verletzt sind.67 Die veränderte politische und wirtschaftliche Großwetterlage erschütterte die Fortschrittsgläubigkeit und Wissenschaftsorientierung der sechziger Jahre. Nach der Aufschwungphase und der Hochkonjunktur zwischen 1967 und 1970 folgte die Phase der sozial-liberalen Euphorie und des reformerischen Aktivismus von 1969 bis 1974, schließlich der Versuch der technokratischen Akkomodation 1974 bis 1980: insgesamt ein Bildungskonjunkturzyklus.68 Eines der Zeichen für die Ernüchterung im politischen Bereich war - nach dem Rücktritt Brandts im Mai 1974 - die Besetzung des Bundeskabinetts durch den Nachfolger Helmut Schmidt. Sogenannte intellektuelle Hochflieger wie die Minister Ehmke und v. Dohnanyi mussten zu Gunsten der Vertreter der Mitte des politischen Spektrums wie Matthöfer und Rohde weichen. Damit kam eine Abkehr von ideologischen, visionären Höhenflügen zum Aus