Hegels sittlicher Staat: Bedeutung und Aktualität 9783412217488, 9783412223458


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Hegels sittlicher Staat: Bedeutung und Aktualität
 9783412217488, 9783412223458

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Bernd Rettig

HEGELS SITTLICHER STAAT Bedeutung und Aktualität

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung nach einer Idee von Andreas und Alexander Rettig. Korrektorat: Dr. Meinrad Böhl, Leipzig Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22345-8

Vorbemerkung

Was ich zeigen will: Hegels „Rechtsphilosophie“ verliert, je tiefer man sie auslotet, was man ihr oft nachsagt: ihren konservativen oder gar reaktionären Ruch. Sichtbar wird ein Weltbild, das an der Erhaltung der Natur orientiert ist und heute mit „grün“ zu umschreiben wäre. Was Hegel zum Gegenstand seiner Dialektik von Staat und Gesellschaft macht, ist das Verhältnis der Naturen: der „organischen“ Natur und jener „produzierten“ Natur, die als „bürgerliche Gesellschaft“ Gestalt annimmt. Dieses Verhältnis ist aus dem Lot; die bürgerliche Gesellschaft hat in den zurückliegenden 200 Jahren alles getan, sich absolut zu setzen. Die Gewichte haben sich stetig zu ihren Gunsten verschoben. Die „organische“, die primäre Natur ist aus dem Staats- und Rechtsbegriff der Moderne so gut wie verbannt. Zugleich sind die früheren Schutz- und Korrekturmechanismen in Gestalt der freien Konkurrenz, des Marktes, allgemeiner: der „unsichtbaren Hand“, weitgehend zur Seite gedrängt. Die Natur ist zum Objekt der Ausbeutung degradiert. Sie ist ohne Schutz und ohne Fürsprecher. Aber sie bedarf beider. Dringend. Denn ungebremst treiben wir auf unsere Selbstvernichtung zu. Der schon erreichte Grad ihrer Zerstörung spricht für sich und zwingt zum Handeln. In ihrem und unserem Interesse müssen wir zu einem ausgewogenen Verhältnis beider Naturen zurückfinden. Die Frage, auf die ich daher versuche eine Antwort zu finden, ist, wer nach Auflösung des feudalen Gemeinwesens, wer nach Scheidung der bis dahin durch „Blut und Boden“ miteinander verschweißten Elemente zum Interessenvertreter der Natur berufen ist. Meine These dazu: Hegel entdeckt zusammen mit der „bürgerlichen Gesellschaft“ den „Konstitutionalismus“. Dieser ist erkannter und in die Praxis überführter „objektiver Geist“ und nicht der „feudale Pferdefuß“, mit dem sich Hegel bei seinem preußischen Dienstherrn bezahlt machen will. Er bedeutet Aufnahme beider Naturen in den Staatsbegriff. Er ist der notwendige Kompromiss, über den ihre Beziehung aufeinander nunmehr praktisch gestaltet wird. Das Konstitut überspannt die aus dem Zerfall hervorgehenden Subsysteme „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“. Hegels sittlicher Staat ist also mehr und anderes als nur Repräsentanz der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr „Not- und Verstandesstaat“, der nur der (Teil-) Staat der „produzierten“ Natur ist, versteht es allerdings, sich als der „ganze“ Staat auszugeben. Ihn gilt es durch eine Repräsentanz der „organischen“ Natur

6

|  Vorbemerkung

zu ergänzen. Erst beide zusammen ergeben den „sittlichen“, den durch das „Konstitut“ geprägten bzw. charakterisierten Staat; jenen Staat beider Naturen, den Hegel als „konstitutionelle Monarchie“ bezeichnet. Wie kam es zu der vorbezeichneten Fehlentwicklung? Mir scheint es so zu sein: Der Prozess, der vom feudalen Gemeinwesen zur bürgerlichen Gesellschaft führt, ist eine „Aufhebung“, d. h. ein Vorgang, über den nach dialektischen Maßstäben zu urteilen ist. Aus ihm gehen zwei Hälften hervor, die von einem „Dritten“, einer geistig zu erschließenden Wirklichkeit, überspannt werden: vom „objektiven Geist“ und seiner „irdischen“ Repräsentanz, dem „sittlichen“ Staat. Wir jedoch haben uns darauf versteift, in ihm eine Transformation zu sehen: ein einfaches Übergehen vom feudalen Gemeinwesen zur bürgerlichen Gesellschaft. England ist für Hegel das Beispiel einer Transformation. Dieser Weg verliert die „organische“ Natur und deren Repräsentanz aus den Augen; er führt dazu, dass sich die bürgerliche Gesellschaft absolut setzt; er führt dazu, dass bürgerliche Gesellschaft und Staat in eins gesetzt werden; er führt zum „Gesellschaftsstaat“. England wird zum Modellstaat des Liberalismus. Es wird aber ebenso vom Marxismus als solcher anerkannt, d. h. als die fortschrittlichste Staatsform im Rahmen der kapitalistischen Ordnung. Das englische Modell ist inzwischen in aller Welt, auch in Deutschland, mehr oder weniger gut „nachgebaut“ worden. Hegel indes lehnt es ab und setzt ihm ganz bewusst seine „konstitutionelle Monarchie“ entgegen; sie ist für ihn die Lehre, das „vernünftige Ergebnis“ der Revolution. Die an England orientierte Entwicklung hat den Schein der Stabilität für sich. Der dortige Staat ist mit seiner Gesellschaft weitgehend „im Reinen“. Aber auch er ist ein Staat gegen die „organische“ Natur – und bezog daraus in der Vergangenheit den Großteil seiner Stabilität. Dieses „Gegen“ ist ein Mangel, ein Defizit, der/das zu Hegels Zeiten und noch lange danach in geringerem Maße zu Buche schlägt als heute. Damals wirkten die Schutzmechanismen der „unsichtbaren Hand“ zu ihren Gunsten. Sie kompensierten das Fehlen einer politischen Repräsentanz für sie wenigstens zum Teil. Das wird mit der Tendenz zum „Planstaat“ ab der Wende zum 20. Jahrhundert grundlegend anders. Er bündelt und potenziert die zerstörerischen Kräfte, ohne dass der Natur dieser Schutz jetzt noch zur Seite stünde. Mehr denn je ist daher heute der Staat als ihr Interessenvertreter gefordert; der „sittliche“ Staat Hegels. Aber es sieht weltweit eher so aus, als verstärke sich die Tendenz zum reinen „Gesellschaftsstaat“.

Vorbemerkung  |

Die deutsche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in besonderem Maße tragisch, konfliktreich und zum Schaden vieler Nationen, auch der deutschen, verlaufen. Das hängt durchaus auch mit der – im Verhältnis zum angloamerikanischen Raum – anderen Staatsauffassung und -entwicklung zusammen. Ein falsch verstandener Hegel hat zum Beispiel die deutsche Theorie und Praxis anfällig für autoritäre bzw. totalitäre Lösungen gemacht, indem seine Dialektik der Naturen in die bürgerliche Gesellschaft verlegt, zu deren Dialektik gemacht worden ist, wodurch aus Hegel ein Hobbes und wodurch der „sittliche“ Staat zum „Leviathan“ wird. Zu Theoretikern dieses modernen Leviathans wurden W. I. Lenin und C. Schmitt. Lenins „Syndikatsstaat“ entsteht anstelle eines „Kommunestaates“. Und bei C. Schmitt verdrängt alsbald der „totale“ Staat seine ohnehin lauen Bekenntnisse zur Weimarer Republik. Dieses Zurück zu Hobbes verkürzt und verfälscht Hegel, indem dessen dialektische „Grundpaarung“: die Dialektik der Naturen, in die bürgerliche Gesellschaft und die „Produktion“ zur tonangebenden, zur „übergreifenden“ Seite erklärt wird. Auf dieser Basis entstehen Gesellschaften und Staaten, die die negativen, gegen die „organische“ Natur gerichteten Seiten extrem verstärken und potenzieren. Das im Unternehmen anzutreffende Regime wird – selbstverständlich nicht eins zu eins, sondern in mehr oder weniger abgeschwächter und gebrochener Gestalt – in den gesellschaftlichen Raum übertragen. „Betriebsstaaten“ entstehen; Staaten, die nach Art eines Betriebes „aufgezogen“ sind und die nicht über das Recht handeln, sondern über die „Direktion“. Ideologisiert mit „Volk“ und mit „Proletariat“ ergibt sich daraus eine „Volkheitsdiktatur“ à la „Drittes Reich“ bzw. eine „Diktatur des Proletariats“ à la DDR. Das sind die Extreme. Aber jeder heutige „Gesellschaftsstaat“ ist längst auf dem Weg zum „Betriebsstaat“. Die Annäherung an ihn erfolgt schleichend, tendenziell. Sie verbirgt sich hinter den herkömmlichen Begriffen und Instituten. Diese haben längst schon bedeutsame Inhaltswandel erfahren und sind insoweit, in der Diktion Hegels, „unwahr“ geworden. So zeigen uns die Gesetzesinflation und die modernen Entwicklungen des Vertrages zum Beispiel an, dass Gesetz und Vertrag schrittweise durch den Befehl substituiert werden. Der „Betriebsstaat“ ist der Feind der „organischen“ Natur. Er ist die offene Kampfansage an sie. Er ist der Staat, der den „totalen“ Krieg gegen sie führt. Und wir sind dabei, diesen Krieg zu gewinnen. Einen Staat nach hegelscher Manier zu errichten, wird nicht leicht sein. Die Aufnahme der primären Natur in den Staatsbegriff bedeutet eine Beschneidung

7

8

|  Vorbemerkung

der Positionen, die die bürgerliche Gesellschaft derzeit einnimmt. Da wir alle deren Mitglieder sind, werden damit auch die Rechte und Möglichkeiten eines jeden von uns beschnitten, soweit diese auf Kosten der Natur gehen. P. S.: Gewissermaßen „nebenbei“ geht es mir als jemandem, der mit der marxschen Lehre groß geworden ist (und lange brauchte, sie aus kritischer Distanz zu sehen), um die Frage, ob Marx/Engels, indem sie „System“ und (dialektische) Methode trennen, das gesamte Koordinatensystem ausgehebelt haben, in das Hegel seine Dialektik hineinstellt. Aus jener Dialektik der Naturen, die ich dort abgehandelt sehe, wird daraus bei ihnen die in die bürgerliche Gesellschaft verpflanzte Dialektik von Produktion und Zirkulation. Sie enthält, nüchtern bzw. ökonomisch betrachtet, die Option für den „Betriebsstaat“. Das „System“ verortet die dialektische Methode. Wird es verworfen, wird Letztere ortlos gemacht. Klug und bis heute gültig sind die Worte, die Betty Heimann 1927 zu den Versuchen fand, „System“ und „Methode“ zu trennen: „Es bildete sich die Ansicht heraus, man könne den Gehalt der Hegelschen Schriften aus ihrer Form herauslösen wie einen süßen saftigen Kern aus einer harten bitteren Schale.“ Aus ihrem Koordinatensystem gelöst, wird, wie gerade auch die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert zeigt, die dialektische Methode zur „Mehrzweckwaffe“ (Topitsch) – und ihr Gebrauch kann schnell „von Hegel zu Hitler“ führen. Oder auch von Hegel zu Stalin. Ich bedanke mich herzlich bei Professor Gerhard Lingelbach. Er hat mir über Jahre hinweg mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ohne seine Anregungen, Hinweise und vor allem: ohne seinen motivierenden Zuspruch wäre die Arbeit erst sehr viel später oder vielleicht auch gar nicht fertig geworden. Ich bedanke mich auch bei meinem Kollegen und Partner Dr. Hans Peter Richter, mit dem ich viele der in der Arbeit aufgeworfenen Einzelfragen im Rahmen der „Vergangenheitsbewältigung“ diskutiert habe. Hilfreich war auch der Besuch der Vorlesung, die Professor Klaus Vieweg zu Hegels „Rechtsphilosophie“ hielt. Meinen Söhnen Andreas und Alexander danke ich für die Umsetzung meines Anliegens in eine adäquate Einbandgestaltung. B. R.

Inhalt

Siglen ............................................................................................................ 13 Abkürzungen ................................................................................................ 16 Einleitung Die Tragödie des Sittlichen („Die Tragödie im Sittlichen“. Hegels Naturrechtsaufsatz aus heutiger Sicht) ............................................. 19 Kapitel I Vom „Gemeinwesen“ zu „Staat“ und „bürgerlicher Gesellschaft“ ............... 48

I.1 Aufhebung oder Transformation?

(Der Zusammenhang von „System“ und „Methode“) ....................... 48

I.2 Wege und Sonderwege zum modernen Staat .................................... 55

I.2.1 „Seht nach England herüber …“ (England im Urteil von Hegel und Marx) ................................................................................. 55 I.2.2 Gegenstand lebhaften Interesses: Die politische Organisation Englands . . .................................................................................. 62 I.2.3 Englischer Sonderweg – Erklärungsversuche .............................. 65

I.3 Deutschland nach dem Sturz der Monarchie

(Abkehr vom kontinentalen und Annäherung an das angloamerikanische Staats- und Gesellschaftsmodell) .. .................... 80

I.4 Exkurs: Das Übergehen der Familie „in ein anderes Prinzip“

(Von der „Wirtschaftsfamilie“ zur „Unternehmung“) ....................... 87

Kapitel II Recht ohne Mitte – Das BGB im Spiegel der „Rechtsphilosophie“ ................ 97

Vorspruch ..................................................................................................... 97

II .1 Antiquiert und unsozial. Das BGB und seine frühen Kritiker . . ........ 101 II .2 Der Ausgangspunkt bei Hegel: Der Mensch als „Eigentum

seiner selbst und gegen andere“ .......................................................... 107

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|  Inhalt

II.2.1 Die Person – Das lebendig gemachte „Dingliche“ .. ....................... 107

II .2.2 „Schief und begrifflos“: Römisches Recht und bürgerliche

Gesellschaft (Die „Anstatt“-Person des römischen Rechts) ............ 114

II .2.3 Alles Recht ist Sachenrecht .......................................................... 121 II .2.4 Das Problem des „Willens“ . . ........................................................ 126

II .3 Die Trennung der „Person“ vom „Ich“ (Oder: Jede Person ist

„juristische“ Person) .. ........................................................................... 129

II .4 Die Überführung des „abstrakten“ in „konkretes“ Recht .................. 138 II .4.1 „Reich der Gesetze“ und „gesetztes“ Recht .................................... 138 II .4.2 „Im Verhältnis von Institutionen und Pandekten“ stehend:

Naturrecht und positives Recht ................................................... 144

II .5 Exkurs: „Die Produktion greift über.“ Der dialektische

Rechtsbegriff bei Marx ....................................................................... 153

Kapitel III Verwirklichungsform des „objektiven Geistes“: Hegels konstitutionelle Monarchie ............................................................... 166

Vorspruch ..................................................................................................... 166 III .1 Der Ausgangspunkt: Die drei Wirklichkeiten des objektiven Geistes

(Das in „Staat“ und „Gesellschaft“ geschiedene „Gemeinwesen“) .... 169

III .2 „Endstaat“ konstitutionelle Monarchie .............................................. 177 III .3 Speziell: Marx kontra Hegel ............................................................... 182 III .4 Von ihnen kann „nur historischerweise die Rede sein“: Hegel zu

„Volk“ und „Demokratie“ .................................................................... 187

III .5 Näher betrachtet: Hegels dualistische Staatskonstruktion ................ 196 III .5.1 Die konstitutionelle Staatsform .................................................. 196 III .5.2 „Doppelte Organisation“ versus Gewaltenteilung (am Beispiel

der Legislative) .......................................................................... 201

III .5.3 Vermittlung und Mitte: Die Regierung ...................................... 206

III .6 Der „schwerste Begriff für das Räsonnement …“: Der Monarch ..... 209 III .6.1 Der letzte „Freie“ . . ...................................................................... 209 III .6.2 Der Monarch im Unterschied zum Diktator ............................... 218

Inhalt  |

Kapitel IV Der Seichtigkeit des Gedankens am nächsten liegend: Die Verwechslung des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft (dargestellt am Beispiel [Schicksal] der Weimarer Republik) . . ............................................................. 221

IV .1 Pro oder kontra Konstitutionalismus? Die WRV zwischen „Staat“

und „Gesellschaft“ ............................................................................... 221

IV .2 Aus dem Hut gezaubert: „Volk“ und „Demokratie“ im Nachkriegs-

Deutschland . . ....................................................................................... 230

IV .2.1 Unter fremder Flagge: Der „Volksstaat“ ...................................... 230 IV .2.2 Das doppelte Volk („Gemeinschaftsvolk“ und „Gesellschaftsvolk“) . 245

IV .3 Zwischen Demokratie und Freiheit: Begriffskonfusion im Lichte

des Methodenstreits ............................................................................ 254

IV .4 Wer ist Hüter der Verfassung? (Kelsen – Schmitt:

Die Kontroverse des Jahres 1931) .. ..................................................... 264

IV .5 Die Verabschiedung „Weimars“ . . ........................................................ 271 IV .5.1 Eine „metaphysische“ Wende: Von Kant zu Hegel

(Die Verfälschung Hegels durch den Neuhegelianismus) .............. 271

IV .5.2 Triumph des Irrationalen: Von „Volk“ zu „Volkheit“ und

„Volkheitsdiktatur“ . . .................................................................... 275

IV .6 Zeitsprung: Lehren aus „Weimar“. Die Verfassungsfrage nach 1945 . 283 Kapitel V Außerhalb der Sittlichkeit: Der „Gesellschaftsstaat“ als „Betriebsstaat“ ..... 299

V.1 Die ökonomische Basis des „Betriebsstaates“: Der „konzentrierende

Austausch“ ........................................................................................... 299

V.2 „Bloß der Standpunkt wird verrückt …“ (Ausgangspunkt

„Produktion“) ................................................................................... 306

V.3 Von innen nach außen gewendet: Der von der „Produktion“

her entwickelte Staatsbegriff . . ............................................................. 315

V.4 Vom „Gesetzesrecht“ zum „gesetzlosen“ Recht ................................. 326

V.4.1 Wegfall des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“ ......................... 326 V.4.2 Eine Differenzierung: „Gesetzesstaat“ und „Rechtsstaat“ . . ........... 330 V.4.3 Das Gesetz als „Plan und Wille“ ................................................. 339 V.4.4 Die Wandlung des Vertragsbegriffs (Der „Plan-“ und „Befehlscharakter“ des Vertrages) ................................................. 347

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12

|  Inhalt

V.5 „Frontwechsel bei der Betrachtung der Einzelpersönlichkeit“: Die „Rechtsstellung“ ........................................................................... 352 V.6 Das Gliederungsprinzip des „gemeinschaftsmäßigen“ Rechts: Die „konkrete Ordnung“ . . ................................................................... 367 V.7 Der Betriebsstaat in Perfektion: Die Sowjetunion unter Stalin ........ 376 Ausblick: Hat der sittliche Staat eine Chance? .. ............................................. 387

Literaturverzeichnis ..................................................................................... 395 Register ......................................................................................................... 421

Siglen

1. Hegel MM

Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. VRph G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie (4 Bde.), Edition K.-H. Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. VNSW Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (Nachschrift Wannenmann), hg. von Becker, Bonsiepen u. a., Hamburg 1983. VPhW Vorlesungen über Philosophie und Weltgeschichte (Nachschriften der Vorlesungen 1822/23), Bd. 12, hg. von Ilting, Brehmer, Seelmann, Hamburg 1996. VPhG Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (MM 12). JRPh Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/06), in: Gesammelte Werke VIII ( Jenaer Systementwürfe III), Hamburg 1976. SdS System der Sittlichkeit, Hamburg 2002. Rph Grundlinien der Philosophie des Rechts (MM 7). /Anm. Anmerkung zum jeweiligen Paragrafen. /Zus. mündliche Zusätze zum jeweiligen Paragrafen. /e. N. eigenhändige Notizen zum jeweiligen Paragrafen. RphK Rechtsphilosophie, Ausgabe H. Klenner, Berlin 1981. Rph-A unbekannte Nachschrift der Vorlesung 1821/22 (Nachschrift Kiel), hg. von H. Hoppe, Frankfurt a. M. 2005. WdL Wissenschaft der Logik, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1990–1994. WdL (B) Lehre vom Begriff. WdL (W) Lehre vom Wesen. WdL (S) Lehre vom Sein. NR Naturrechtsaufsatz, in: MM 2. DS Differenzschrift, in: MM 2. Phän. Phänomenologie des Geistes, in: MM 3. LS Landständeschrift, in: MM 4. Enz. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (MM 8–10). RB Reformbill-Schrift, in: MM 11.

14

|  Siglen

2. Karl Larenz RuS Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart (2. Aufl.), Berlin 1935. HDW Hegels Dialektik des Willens und das Problem der juristischen Persönlichkeit, in: Logos 20 (1931), S. 196 ff. RsR Rechtsperson und subjektives Recht, in: Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935, S. 225 ff. WV Die Wandlung des Vertragsbegriffes, in: DR 1935, S. 488 ff. NP Neubau des Privatrechts, in: AcP 145 (1939), S. 91 ff. 3. Lenin W AW

Werke, Berlin 1956 ff. Ausgewählte Werke in drei Bänden, Berlin 1965.

4. Marx/Engels MEW Werke in 40 Bänden, Berlin 1956 ff. AS Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1951 ff. GR K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953. 5. Carl Schmitt PR Politische Romantik, München, Leipzig 1919. D Die Diktatur (6. Aufl.), Berlin 1994. PT Politische Theologie (6. Aufl.), Berlin 1993. RK Römischer Katholizismus und politische Form (2. Aufl.), Stuttgart 2002. GL Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (2. Aufl.), München, Leipzig 1926. VL Verfassungslehre (6. Aufl.), Berlin 1983. H Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931. HP Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930. LL Legalität und Legitimität, Berlin 1932. SBV Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1934. A Drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934. L Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938.

Siglen  |

Lage N PuB VA SGN

Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, in: C. S., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954 (3. Aufl.), Berlin 1958, S. 386 ff. Nomos der Erde (4. Aufl.), Berlin 1997. Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939 (3. Aufl.), Berlin 1993. Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958. Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, Berlin 1995.

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Abkürzungen

AcP Archiv für die civilistische Praxis AöR Archiv für öffentliches Recht ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie DJZ Deutsche Juristische Zeitschrift DÖV Die öffentliche Verwaltung DR Deutsches Recht DRW Deutsche Rechtswissenschaft DuR Demokratie und Recht DVBl Deutsches Verwaltungsblatt DZfPh Deutsche Zeitschrift für Philosophie HJ Hegel-Jahrbuch HS Hegel-Studien HZ Historische Zeitschrift JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts JZ Juristenzeitung KJ Kritische Justiz NJ Neue Justiz (DDR) NJW Neue Juristische Wochenschrift SW Sowjetwissenschaft (Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge) (DDR) StuR Staat und Recht (DDR) VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WiWi Zeitschrift Wirtschaftswissenschaft (DDR) WR Zeitschrift Wirtschaftsrecht (DDR) ZADR Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht ZDK Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie ZgStW Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht (Österreich) ZHR Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht ZPhF Zeitschrift für philosophische Forschung ZRG (GA) Zeitschrift Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung)

Abkürzungen  |

Weitere Abkürzungen ABGB Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) ALR Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten BGB Bürgerliches Gesetzbuch (Kaiserreich–BRD) BVG Bundesverfassungsgericht (BRD) CC Code Civil (Frankreich) GG Grundgesetz (BRD) WRV Weimarer Reichsverfassung WSA Wiener Schlussakte von 1820 W-G-W Formel für den Austausch Ware gegen Geld in der „einfachen Warenproduktion“ G-W-G Formel für den Austausch in der kapitalistischen Warenproduktion

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Einleitung: Die Tragödie des Sittlichen („Die Tragödie im Sittlichen“. Hegels Naturrechts­ aufsatz aus heutiger Sicht) Hegels Naturrechtsaufsatz kann auch als Abhandlung über die zwei Naturen angesehen werden:

•• über die „organische“ bzw. „physische“ Natur, der der Mensch als Naturpro-

dukt angehört und die seine Grundnatur ist. Als Glied dieser Natur ist er in der „Gemeinschaft“ organisiert; •• über die „unorganische“, die „mechanisch“ geprägte Natur, die als Produkt menschlicher Arbeit zur Ersteren hinzutritt. Sie ist künstliche, sie ist „produzierte“, sie ist die „entäußerte“ Natur. Der Zusammenschluss der produzierten Teile (Dinge), einschließlich der Produzenten, erfolgt in der „Gesellschaft“; •• über das „Verhältnis der organischen zur unorganischen Natur“.1 Das Verhältnis der Naturen ist ein dialektisches Verhältnis, was heißt: Beide Naturen werden als „begriffene“2 Naturen in einem „Dritten“, als dessen „Momente“, zusammengeschlossen. Dieses „Dritte ist „selbst eine Natur“3; sie ist die „geistige“, die „sittliche“4 Natur. In ihr ist die „Äußerlichkeit und Endlichkeit“ ihres Daseins überwunden. Sie ist die „Aufhebung des Auseinander“5. Sie stellt die mit dem feudalen Gemeinwesen verloren gehende Einheit wieder her. Der Mensch ist Produkt der einen und Produzent der anderen Natur. Daraus ergibt sich sein „Schicksal“: jener Dauerspagat zwischen ihnen. Er kann es nur 1 2

3 4 5

Hegel, NR, S. 487; ders., Phän., S. 196; ders., SdS, S. 64. Im Sinne von nur „logisch“, nicht auch „gestalthaft“ existierend! Der Begriff ist für Hegel ein geistig zu erschließender/zu umgreifender Teil des Ganzen. Er abstrahiert von allen „Verunreinigungen“, die der konkreten Gestalt anhaften und zu Fehlinterpretationen verleiten. Er bezieht sich auf das reine Wesen. Die Dialektik von Begriff und Gestalt ist in den Paragrafen der „Einleitung“ breit dargestellt, aber sie wird auch in den folgenden Abschnitten immer wieder am konkreten Beispiel exemplifiziert, z. B. in § 141 Rph. § 257 Rph-A. Weiter vorn (§ 146) spricht Hegel von der „familiären“ bzw. „familiär“ gemachten Natur, deren Sein „von konkreterer Wahrhaftigkeit als die Natur“ und „höher als das Sein der Natur“ zu veranschlagen ist. Hegel, NR, S. 457. § 381/Zus. Enz.; hierzu auch: M. Quante, Die Natur: Setzung und Voraussetzung des Geistes, in: Merker/Mohr/Quante (Hg.), Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 81 ff.

20

|  Einleitung

meistern, wenn er einen Standpunkt bezieht, vom dem aus beide Naturen6 in den Blick kommen. Das ist der Standpunkt der dritten, der „sittlichen“ Natur, der Standpunkt des „objektiven Geistes“. Ich sehe hierin ein „grünes“ Weltbild angelegt, dessen Konsequenzen für „Staat“ und „Recht“ Hegel in seiner „Rechtsphilosophie“ ausführt. Hinter der „Rinde“ eines konservativen, vielen gar reaktionär erscheinenden Staatsbegriffs wird gerade für uns Heutige das bislang verborgene Wesen sichtbar; das „Bleibende“, wie Hegel sagt.7 Es besteht darin, die „organische“, die primäre Natur vor der anderen, der „produzierten“ Natur in Schutz zu nehmen. Hinter der feudal anmutenden Fassade zeichnen sich also die Konturen eines hochmodernen Staates ab; eines Staates, der sich als Repräsentant dieser dritten Natur und damit als Mittler der beiden anderen versteht. Maß- und respektvoller Umgang mit der primären Natur; ihr Schutz vor einer losgelassenen, hemmungslos Raubbau an ihr treibenden bürgerlichen Gesellschaft als Aufgabe des Staates – das sah damals, noch dazu in der von Hegel gewählten institutionellen Verkleidung, nach Rückwärtsgewandtheit aus. Verständlich, dass seine Staatsphilosophie sowohl von liberaler wie auch von marxistischer Seite verworfen wurde. Galt die bürgerliche Gesellschaft doch als das Fortschrittliche schlechthin. War doch Produzieren „auf Teufel komm raus“, war doch unlimitierter Naturverbrauch Ausdruck bürgerlicher Freiheit und Quelle ihrer Glücksverheißung. Heute, angesichts einer akut bedrohten Schöpfung, zeigt sich uns Hegels Anliegen in einem anderen Licht. Der dem jüngeren Naturrecht zugrunde liegende Naturbegriff – er ist gegen das bereits in heller Auflösung befindliche, längst obsolet gewordene feudale Gemeinwesen gerichtet – geht von der künstlichen, von der „produzierten“ Natur aus, die in der „bürgerlichen Gesellschaft“ Gestalt gewinnt. Sie wird zum Bezugspunkt; von ihr aus wird jetzt der Mensch begriffen, wird seine Subjektivität entwickelt. Zugleich wird die eigentliche Natur zum reinen Objekt degradiert. Sie wird „entgeistet“, sie wird entsubjektiviert. Was wiederum heißt: Sie verschwindet „für uns“8 als politische Größe. Die Entfremdung tritt in die Welt; sie wird als Thema jetzt offenkundig. Sie wird Dauergast. Der im Feudalismus über „Blut und Boden“ hergestellte Zusammenhang weicht einer Polarisierung in Politisches und Ökonomisches, Sittliches und Rechtliches, Staat 6 7 8

Mithin: beide („produzierte“ und „produzierende“) Menschen! § 112/Zus. Enz. § 381 Enz.; „für uns“ in der Bedeutung von „wir ignorieren sie als solche“. Vgl. dazu M. Quante und seine Analyse des § 381 Enz. (Die Natur …, a. a. O.).

Die Tragödie des Sittlichen  |

und Gesellschaft, Mensch und Person. Die „produzierte“ Natur tritt hervor, emanzipiert sich, macht sich selbstständig, „besondert“ sich, wie Hegel sagt, wird tonangebend und – um auf den wesentlichen Punkt zu kommen, um den diese Arbeit zentriert ist –: sie gibt sich fortan als die wahre und einzige Natur aus. Und weiter: Sie schafft es, fortan im Fokus einer Wissenschaft zu stehen, die sich bewusst dafür entscheidet, ihren Gegenstand auf das empirisch Wahrnehmbare zu verkürzen, die sich bewusst als Reflex dessen ansieht, was einen „Schatten“ wirft. Jahrzehntelang ringen sie miteinander, die beiden Naturen. Eine „heillose Verwirrung“ herrscht. Dann erst ist der Kampf entschieden. Als der Nebel sich lichtet, ist der bis dahin herrschende, „ins Transzendente hineinragende Naturbegriff … verdrängt“. An seine Stelle tritt „am Ende des 17. Jahrhunderts der neue physikalische Naturbegriff“.9 Eine „Entkopplung“ und eine „Umkehrung“.10 Sie erfasst auch die beiden „Gestalten“ der bisherigen „Einheits“-Natur: „Gemeinwesen“ und „Mensch“. Aus dem Blick gerät dabei die „Gemeinschaftlichkeit“, diese zwar vorhandene, aber sinnlich nicht wahrnehmbare, nicht quantifizierbare, nicht den „mechanischen“ Gesetzen und Prinzipien unterfallende Größe, über die der Mensch der „organischen“ Natur zugeordnet ist. Sie wird aus den „physischen“, darunter: den juristischen Wissenschaften „ausgemustert“ und dem „Metaphysischen“ zugeordnet. Die „produzierte“ Natur und der „produzierte“ Zusammenhang treten an ihre Stelle; sie werden die alleinigen Gegenstände der modernen Wissenschaft.11 Damit ist das alte Menschenbild vom Sockel gestoßen. Der Mensch wird, unter Ausschluss seiner eigentlich primären Natur, unter Negierung derselben, neu interpretiert, mehr noch: Er wird als „Person“ neu erfunden und vom Boden der „produzierten“ Natur aus definiert. Das ist die Geburtsstunde des „Robinson“, des „Papageno“, des „vereinzelten Einzelnen“, des „Maschinenmenschen“.12 In der Diktion Hegels: Der akzidentielle, der durch die Ökonomie, der durch das Eigentum begründete Mensch, die „Person“ beherrscht die Tagesordnung und 9 V. Rüfner, Der Begriff der Natur innerhalb des Naturrechts, in: ARSP 34 (1940), S. 40 ff. (S. 62). 10 O.  v.  Gierke, Johannes Althusius (7. Aufl.), Aalen 1981, S.  108, spricht von „Vertauschung“; die „Entkopplung“ ist für Marx (GR, S. 402) die „Scheidung bisher verbundner Elemente“; s. dazu die anschauliche Darstellung bei E. Angermann, Das Auseinandertreten von „Staat“ und „Gesellschaft“ im Denken des 18. Jahrhunderts, in: E.-W. Böckenförde (Hg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 109–130; s. auch: M. Riedel, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts“, in: ZPhF 1962, S. 203–230. 11 S. dazu: J. Ritter, Person und Eigentum, in: L. Siep (Hg.), Klassiker auslegen. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, S. 62. 12 Vorwegnahmen der „bürgerlichen Gesellschaft“, wie Marx (GR, S. 1) schreibt.

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verdrängt den „ganzheitlichen“ Menschen. Der sittliche Mensch geht verloren; die „Sittlichkeit“ als „Beweger aller menschlichen Dinge“, wie Hegel sagt13, dieses dem Menschen von der Natur mitgegebene Regulativ, wird um ihre Bedeutung gebracht. Sie wird als vom Ganzen gelöste, amputierte Größe in das Innere der Person verbannt, dort „eingehaust“ bzw. „weggeschlossen“ und heißt in dieser Fortsetzung „Moral“. Das zentrale Regulativ ist damit vom Sockel gestürzt, tritt seinen Platz ab an das Recht und findet sich selbst als Nachgeordnetes, als „Herabpotenziertes“ wieder: als Moralität. Die sittliche Beziehung wird ersetzt durch die Rechtsbeziehung. Das ist die Stunde des Vertrages: Er ist die „Form eines … untergeordneten Verhältnisses“, das sich „in die absolute Majestät der sittlichen Totalität“ erst eindrängt, sich bald aber absolut setzt und „die Idee und absolute Majestät vernichtet“.14 Eine Umwertung findet statt. Was vorher positiv war: die „Verhältnisse der ‚natürlichen Sittlichkeit‘“15, die Gemeinschaft und der in ihr zum Ausdruck kommende Naturzusammenhang, „die noch ungetrennte substanzielle Einheit“, wie Hegel formuliert16, ist nun negativ. Das Positive wird jetzt in der aufgelösten substanziellen Einheit, in der bloß äußerlichen, Atome zusammenführenden Rechtsbeziehung gesehen. „Man sieht“, schreibt Hegel, „dass das Verhältnis des Naturrechts und der Moral sich auf diese Weise umgekehrt hat, dass nämlich der Moral nur das Gebiet des an sich Negativen zukommt, dem Naturrecht aber das wahrhaft Positive.“17 So wie die Moral zur organischen, so gehört das Naturrecht zur unorganischen Natur. Der Überschwang, das emphatische Bekenntnis zu „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ ist lediglich zur Gesellschaft herübergenommene „schöne“ Erinnerung, ist „schale Träumerei eines Naturglücks“.18 Atavismen, Irrtümer, die sich zeigen, wenn das Naturrecht „positiv“ gemacht werden soll. Die Französische Revolution ist die Probe aufs Exempel. Ein „furchtbarer“ Mörser!19 Alle Prinzipien, alle Erwartungen, die sich mit dem Naturrecht verbinden, geraten 13 Hegel, NR, S. 438. 14 Ebd., S. 518. 15 H. Kimmerle, Staatsverfassung als „Konstituierung der absoluten sittlichen Identität“ in der Jenaer Konzeption des „Naturrechts“, in: Lucas/Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 141. 16 § 273 Rph. 17 Hegel, NR, S. 505. 18 § 475/Anm. Enz. 19 Hegel, LS, S. 507. – Zu beachten: Hier urteilt Hegel über den „bloß gesellschaftlichen“ Standpunkt, wenn er von „falschen Rechtsbegriffen“ und von „Vorurteilen über Staatsverfassungen“ spricht.

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auf den Prüfstand, werden zur Hälfte bestätigt und zur Hälfte als Illusionen enttarnt. Die Revolution beginnt mit „gemeinschaftlich“ gemeinter „Freiheit“, „Gleichheit“, „Brüderlichkeit“ und endet in der Profanität: der Freiheit des Eigentums, dem Recht auf ökonomische Ungleichheit, dem „unbrüderlichen“ Einzelnen. Sie beginnt beim Menschen und endet bei der Person.20 Das Blutbad während der Jakobinerdiktatur steht für diesen Zwiespalt, für dieses Missverständnis, für diese Konfusion; der Terror ist der vergebliche Versuch, zu retten, was nicht zu retten ist. Okkupiert die künstliche Natur den Platz der organischen, okkupiert das mit ihr verbundene Recht den Platz des Sittlichen, so geschieht den Letzteren „Unrecht“. Und nur die beschriebene Verschiebung, Umkehrung und Umwertung schützt das Naturrecht davor, nicht als „Naturunrecht“21 angesehen zu werden. So aber tritt das Gegenteil ein: Das Recht setzt die Sittlichkeit, die „Person“ den Menschen, die ökonomisch determinierte Freiheit die sittliche Freiheit ins Unrecht.22 Das Mittelalter geht zu Ende. Im Schoße der feudalen Gemeinwesen sind neue, kapitalistische Strukturen und Verhältnisse herangereift. Sie drängen ans Licht; die beiden noch miteinander, ineinander verwobenen Naturen lösen sich voneinander, treten in die „Differenz“. Die empirisch fassbare Dinge-Welt sondert sich ab, „besondert“ sich, bildet „ein Allgemeines“23, das später den Namen „bürgerliche Gesellschaft“ tragen wird. Dieses Allgemeine wird als das Wesen des Menschen angesehen. Sein früheres Allgemeines wird gegen das jetzige, das bloß formelle, ausgetauscht, im Übrigen aber ins Metaphysische abgeschoben. Es gerät als Sein aus dem Blick. Die Folge: „Gewohnheit“ und eine „falsche Philosophie“ machen „unsichtbar, worauf unsere ganze Existenz beruht“.24 Eine „Entfesselung“ findet statt. Und da es die feudalen, als veraltet und als Hindernis jedweden weiteren Fortschritts angesehenen Gespinste sind, von denen sich die unorganische Natur befreit, ist sie von vornherein nicht nur mit 20 Dazu auch der junge Marx: Zur Judenfrage, in: MEW 1, insbes. S. 366. 21 Hegel, NR, S. 506. – Genau anders herum urteilt, wer aus der Sicht der „Umkehrung“, also der „produzierten“ Natur argumentiert. Exemplarisch hierfür ist J. Ritter. Er schreibt: „Wo Freiheit im Recht der Person auf Sachen wirklich ist, da sind alle im Naturzustand des Menschen und in der Ordnung der Natur begründeten Formen von ‚Herrschaft‘ zum Unrecht geworden.“ (Eigentum und Person, a. a. O., S. 66.) 22 Der junge Marx beschreibt in seinem Aufsatz zum „Holzdiebstahl-Gesetz“ diese Umkehrung, er zeigt dort, wie aus Sitte, wie aus sittlich geprägtem Gewohnheitsrecht im Wege der Gesetzgebung (Un-)Recht gemacht wird (vgl. MEW 1, S. 109–147). 23 Hegel, NR, S. 484. 24 § 268/Zus. Rph.

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der Aura des Neuen, sondern auch des rundum Positiven umgeben. Am Ende dieser Differenzierung steht alles auf dem Kopf; alles wird vom anderen Ende her gesehen. Wurde vorher eine „Urgemeinschaftlichkeit“ zugrunde gelegt, so ist es jetzt eine „Urindividualität“ und, von ihr abgeleitet: die „Urrechte“ Freiheit und Eigentum, die an den Anfang gesetzt werden und die eigentlich ein Recht meinen: Freiheit des Eigentums. Oder das von A. Smith verkündete „Naturrecht auf wirtschaftliche Freiheit“. Jetzt zählt nur noch diese Gegenwelt; sie ist der Maßstab. Zur Herrschaft gekommen, wird sie „zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung“, zur nicht hinterfragten „Naturbasis“ der bürgerlichen Gesellschaft. Das bloß „vermeinte Vernünftige“25 wird zur Basis gemacht. „Mensch“, „Familie“, „Staat“, aber auch „Freiheit“ und „freier Wille“ werden ganz einseitig von dorther, aus dieser nicht nur verengten, sondern auf den Kopf gestellten Sicht „begriffen“. „Bestimmtheiten“ werden „abgesondert“ und „fixiert“26 und geraten in den Blick neu entstehender empirischer Wissenschaften: der politischen Ökonomie und der „positiven“ Rechtswissenschaft. Von dorther, also einseitig, zweckorientiert, werden sie zu „mechanischen“ Größen umdefiniert und als solche idealisiert und ahistorisiert. „Bestimmtheiten“ sind also für Hegel ideologisch „verunreinigte“, durch schlechte Philosophie „verderbte und verkehrte“ empirische Fakten, „festgewordene Verkehrtheit der Anschauung“.27 Zu dieser mechanischphysikalischen Begriffswelt gehört auch der „Wille“, der „freie Wille“, mit dem die vereinzelten Einzelnen angeblich ausgestattet sind und der, ausgeübt, den gesellschaftlichen Zusammenhang herstellt. Ihre andere, „organische“ Seite, ihre in der Gemeinschaft verankerte Natur, ihre nicht der Ökonomie und dem Recht unterworfene, ihre sittliche Gestalt wird ignoriert, wird verunstaltet, wird, aus dieser Sicht gesehen, zur Spukgestalt. Der Mensch wird ersetzt durch die „Person“, die nun als Akzidens der „produzierten“ Natur und der Sache in die Welt tritt. Sie steigt zum „wirklichen“, zum alleinigen Menschen auf. Aber alle Verklärung hilft nicht darüber hinweg, dass sie sich, von der Seite der „organischen“ Natur aus gesehen, als „der völlige Verlust des Menschen“28 darstellt. Der „völlige Verlust des Menschen“ wiederum

25 § 258/Anm. Rph. 26 Hegel, NR, S.  440; „Bestimmtheiten“ wie z.  B.: die „Zirkulation“, die „Produktion“ oder das „Volk“. 27 Ebd., S. 452 f. 28 MEW 1, S. 369 (Zur Judenfrage) u. S. 390 (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).

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steht im Zusammenhang mit dem Verlust der „Menschengemeinschaft“; das Volk ist damit „aufgelöst“.29 Diese bloße Umkehrung, gekoppelt mit einer Verengung des Gegenstandsbereiches der Philosophie, (ver-)birgt nach Hegel den zentralen Mangel: Ein an sich Negatives wird damit positiv gemacht. Das Fehlen der Sittlichkeit wird damit „gleichsam als ein Positivum“ ausgegeben.30 Auf lange Sicht verhängnisvoll wird sich auswirken, dass die organische Natur zugleich jeden „Fürsprecher“ bzw. Repräsentanten verliert. Ja, dass sie ins Unrecht gesetzt wird. Dass sie mit „Unfreiheit“ verbunden wird.31 Wer sie verteidigt, wer sie gegen die „produzierte“ Natur aufbietet, wird bestenfalls als Romantiker, wird von den Liberalen als Reaktionär, wird von Marx/Engels – etwa im Falle eines Rodbertus, auch: eines Lassalle – als „Staatssozialist“ abgetan. Folgerichtig wird Hegel von ganz unterschiedlichen, weit auseinanderliegenden philosophischen Standpunkten, soweit sie den Standpunkt der unorganischen Natur und (damit) der bloßen Umkehrung vertreten, mit dem Verdikt „Reaktionär“ versehen. So verwerfen Marx/Engels, ebenfalls vom Boden der Gesellschaft (und besonders: der Produktion) ausgehend, den Hegel des „Systems“, den Metaphysiker, und schließen sich diesem Verdikt insoweit an. Und für den lebensphilosophisch geprägten O. Spengler ist Hegel ein „Staatsdenker von so starkem Wirklichkeitssinn, wie die neuere Philosophie keinen zweiten aufweist“ – wenn man seine „Metaphysik beseitigt“.32 Ebenso folgerichtig wird er von diesen beiden Seiten her nur insoweit vereinnahmt und brauchbar gemacht, wie es der eigenen Doktrin entspricht.33 Die „organische“ Natur als Bezugspunkt des Philosophierens wird zur „metaphysischen Kopie des Lebens“, wird zur „imaginierten Realität“ erklärt.34 Mit ihr: der organische, der sittliche (und damit soziale) Mensch. Die in der organischen Natur verankerte, jetzt um ihren Halt gebrachte Sittlichkeit wird in das Innere der Person verbannt, wo sie als „Moral“ ihr Dasein fristet. „Moral“ 29 Vgl. § 302 Rph sowie F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Frankfurt a. M. 2010, S. 182, der dort Hegel einschlägig zitiert. 30 MM 3, S. 28. 31 Beispielhaft hierfür: J. Ritter, Person und Eigentum, a. a. O., S. 55 ff. (bes. S. 65). 32 Zitiert bei: J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt a. M. 1965, S. 87, Fußnote 9. 33 Protagonisten: J. Ritter für die eine Richtung; G. Lukacs für die andere; vgl. dazu: R.-P. Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, in: HS 9 (1974), S. 209 ff. H. Schnädelbach (System und Geschichte. Über eine Grenze des Hegelianismus, in W. Welsch/K. Vieweg (Hg.), Das Interesse des Denkens, Paderborn 2003, S. 220) spricht nicht zu Unrecht von „scheibchenweiser Vereinnahmung“. 34 R. Haym, Hegel und seine Zeit, Leipzig 1927, S. 200.

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ist also die um ihr Wesen gebrachte Sittlichkeit. Eine Seinskategorie ist jetzt Bewusstseinskategorie; mithin eine andere, geringere Qualität. Hegel meint dazu: Da die Vertreter des „Fürsichseins“ den Begriff „Sittlichkeit“ zur Bezeichnung dieser neuen Qualität nicht „missbrauchen konnten“, nahmen sie das Wort „Moralität“ zur Bezeichnung, das zwar die Sittlichkeit anklingen lässt, das sich aber als ein mehr „gemachtes Wort … nicht so unmittelbar seiner schlechteren Bedeutung widersträubt“.35 Von zentraler Bedeutung ist, dass damit auch die Pflicht aus der Welt geschafft ist; die Pflicht, die in erster Linie nicht zu verstehen ist als Pflicht einer „Obrigkeit“ gegenüber, sondern als Verpflichtung gegenüber der Natur.36 Wir stehen vor der „Privation der Natur“37; die Natur wird unisono als „Produziertes“ begriffen, als eine Ansammlung von Dingen. Das „Reich der ökonomischen Beziehungen“38 tritt die Herrschaft an. Die „Gegennatur“. Ihr Bauprinzip ist die „Atomistik“. In ihr hat sie ihre (eigene) Wirklichkeit – so wie die organische Natur in der „Organik“ die ihre hat. Kategorisch erklärt Hegel: Einer Philosophie, die sich derart vorbehaltlos in den Dienst dieser „produzierten“ Natur stellt oder stellen lässt, „muss daher … alle Bedeutung abgesprochen werden“.39 Philosophisch gipfelt diese „Umkehrung“ im transzendentalen Idealismus Kants; er bezeichnet den „Kulminationspunkt“.40 Schelling ist es, der sie wieder relativiert. Er führt den Menschen in die eigentliche Natur zurück. Er stellt (gegenüber Fichte) klar, dass der Mensch Bestandteil der „organischen“ Natur ist, dass diese Natur nicht bloß Objekt ist und als solches einem Subjekt zu- und untergeordnet ist, sondern dass sie ebenso „Geistiges“ ist wie der Mensch „Materielles“ und dass der Mensch 35 Hegel, NR, S. 504. 36 Vgl. § 261 Rph. 37 Dazu ausführlich: M. Riedel, Zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 84 ff. Zum gleichen Vorgang, in einen allgemeineren Rahmen gestellt, der junge Marx in der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ (MEW 1, insbes. S. 279). Mit ihr ist „das Fundament einer künftigen rein individualistischen Wirtschaftslehre gelegt“ (O. v. Gierke, Althusius, a. a. O., S. 115). 38 MEW 21, S. 300. 39 Hegel, NR, S. 437. H. Marcuse (Vernunft und Revolution, Neuwied 1962, S. 63): „Hegel greift die Naturrechtslehre an, weil sie, wie er sagt, alle gefährlichen Tendenzen rechtfertigt, die darauf abzielen, den Staat den antagonistischen Interessen der individualistischen Gesellschaft unterzuordnen.“ D. Bauer (Hegels Aufklärung der Aufklärung, in: Hegels Phänomenologie des Geistes, hg. von K. Vieweg u. W. Welsch, Frankfurt a. M. 2008, S. 486, Fußnote 17) weist darauf hin, dass Hegel die Aufklärung, vor allem in ihrer französischen und englischen Fassung, „immer als eine negative, kritische, sogar z. T. zerstörerische Bewegung charakterisierte“. 40 Hegel, NR, S. 437.

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seine Subjektivität nicht gegen sie, sondern aus ihr erlangt. Hegel führt diesen Gedankengang weiter, leistet die „Umwertung des Naturzustandes in die Idee der sittlichen Natur“, wie F. Rosenzweig, bzw. in die „Idee des Ganzen“, wie der junge Marx formuliert.41 Er kehrt nicht zum Ursprung zurück, sondern gestaltet das Verhältnis beider Naturen um in eine Dialektik, in der der organischen Natur, in der der Sittlichkeit der Primat eingeräumt ist. Damit ist der „Mensch“ wiederhergestellt. Aber auf neue Weise: als der in diese Dialektik integrierte, darin verankerte, in direktem Bezug zu ihr stehende Mensch. Auch das stößt bei seinen liberalen und auch marxistischen Kritikern auf entschiedene Ablehnung. Für sie ist die wiederhergestellte Sittlichkeit nichts anderes als ein feudales Relikt, das dem Neuen, das der „bürgerlichen Gesellschaft“ den Weg verstellt. Und Hegel, der den aus ihr folgenden Sachverhalten, einschließlich jener auf der Ebene des Staates, ihre „ontologische und sittliche Erstrangigkeit zurück[gibt]“42, muss sich bis heute gefallen lassen – selbst von jenen, die in ihm einen philosophischen Wegbereiter und Verbündeten sehen sollten43 –, insoweit als Reaktionär, als Apologet des preußischen Staates bezeichnet zu werden. Was ihm also als Verdienst anzurechnen ist, wird ihm von dieser Seite als Angriff auf den Menschen, als „moralische Perversion“ angekreidet.44 41 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 187 (Hervorhebung von mir). Sofort nach dem Erscheinen der „Rechtsphilosophie“ schreibt Hinrichs aus Heidelberg an Hegel, dass mit diesem Werk „die Juristen aus ihrem Traum von sogenannten Urrechten und Urstaaten mit einmal aufgeschreckt wurden“ (zitiert bei: W. R. Beyer, Norm-Probleme in Hegels Rechtsphilosophie, in: ARSP 50 [1964], S. 564). K. Marx noch ganz hegelisch: „Wenn aber die früheren philosophischen Staatsrechtslehrer aus den Trieben, sei es des Ehrgeizes, sei es der Geselligkeit, oder zwar aus der Vernunft, aber nicht aus der Vernunft der Gesellschaft, sondern aus der Vernunft des Individuums den Staat konstruierten: so die ideellere und gründlichere Ansicht der neuesten Philosophie aus der Idee des Ganzen. Sie betrachtet den Staat als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eigenen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht.“ (MEW 1, S. 104.) 42 W. Kersting, Politik und Recht, Weilerswist 2000, S. 408. 43 Beispielhaft die Position K.-M. Meyer-Abichs (Naturordnung und Menschenrecht, in: Tilman Evers [Hg.], Schöpfung als Rechtssubjekt [Hofgeismarer Protokolle, Nr. 269], Hofgeismar 1990, S. 23) zu Hegel. Er behauptet von ihm, dieser negiere die Natur bzw. vertrete den Standpunkt, dass auf sie keine „Rücksicht zu nehmen sei, in einer besonders extremen, für die weitere Entwicklung aber durchaus charakteristischen Form“. Das wird der hegelschen Philosophie in keiner Weise gerecht! (S. dazu meine Ausführungen im Schlussteil dieser Arbeit.) 44 So E. Tugendhat (Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.  M. 1979); dagegen mit überzeugender Begründung L. Siep in zwei Aufsätzen: Kehraus mit Hegel?, in: ZPhF 1981,

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Beide Naturen sind inkompatibel; beide Prinzipien schließen sich gegenseitig aus. Ihre Bewegung ist die „des absoluten Widerstreits“.45 Von großer Bedeutung ist ihre höchst unterschiedliche Dynamik. Die organische Natur ist relativ träge, ihre Entwicklung vollzieht sich auf langsamen Bahnen, was mit sich bringt, dass sie und alles, was mit ihr verbunden ist, auch an „Staat“ und „Recht“, mit Konservatismus, mit Reaktion gleichgesetzt werden. Die andere, die „produzierte“ Natur hingegen ist hochdynamisch, was sie mit der Aura des Fortschrittlichen umgibt. Hegel, der sie beide ins Verhältnis setzt und ihre unterschiedliche Dynamik vermittelt, scheint damit all denen recht zu geben, die meinen, dass er sich dem Fortschritt entgegenstemmt. Aus der Sicht der zur Herrschaft gelangten „produzierten“ Natur sieht es so aus, als werde „eine starre Hinterwelt dem bewegten lebendigen Diesseits entgegengesetzt“46. Ein solches Urteil war schon immer falsch, war aber damals insofern verständlicher, als die bürgerliche Gesellschaft den aufsteigenden Ast der Geschichte verkörperte. Aber der „Wendepunkt, von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft abwärts geht“47, ist längst erreicht und überschritten, sodass es heute unverzeihlich ist, Hegel angesichts einer dramatisch fortgeschrittenen Naturzerstörung immer noch von dieser Warte aus zu beurteilen. Im Gegenteil: In den Blick muss jener Hegel rücken, der die „organische“, die primäre Natur zum Gegenstand seiner Philosophie macht und sie gegen die „produzierte“ in Schutz nimmt. Das ist der Hegel des „Systems“ und des „objektiven Geistes“.48

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S. 518 ff., und: Was heißt „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphilosophie?, in: HS 17 (1982), S. 75 ff. Hegel, NR, S. 495. F. Tönnies übersetzt diesen philosophischen Befund ins Soziologische und unterscheidet von daher ein „gemeinschaftliches“, auf die „organische“ Natur Bezug nehmendes und ein „gesellschaftliches“, auf die „produzierte“ Natur Bezug nehmendes Recht. Auf diese Unterscheidung bezogen, schreibt er: „Hingegen ist das gesellschaftliche Naturrecht immer unfähig gewesen, gemeinschaftliche Verhältnisse zu verstehen und zu konstruieren.“ (Hegels Naturrecht, in: Schmollers Jahrbuch 1932, S. 85.) S. Marck (Hegelianismus und Marxismus, Berlin 1922, S. 12) mit Blick auf den Marxismus. MEW 21, S. 268. R.-P. Horstmann, Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: L. Siep (Hg.), Klassiker auslegen …, a.  a.  O., S.  193  ff. (97  f.). Im „System“, das ist meine zentrale These, hat Hegel den Hauptanwendungsfall einer dialektischen Beziehung, das Verhältnis der beiden Naturen, abgehandelt. Das „Grundverhältnis“. Wer sich also vom „System“ verabschiedet, verliert dieses „Grundverhältnis“ aus dem Blick und, dazu kommen wir noch, sucht es anderswo. So wird aus dem Verhältnis der Naturen bei Marx z. B. das Verhältnis von Produktion und Zirkulation. Der vorliegenden Arbeit liegt daher die zentrale These Hegels zugrunde, dass „das Wahre nur als System wirklich … ist“.

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Wer sich also vom „System“ und vom „objektiven Geist“ verabschiedet (und das tun die auf Liberalismus und Marxismus gestützten Auffassungen gleichermaßen), verabschiedet sich vom Staat Hegels und damit von jenem Staat, der die Belange der „organischen“ Natur vertritt und als Korrektiv der „produzierten“ Natur entgegenwirkt. Die Folge ist ein Zustand, der insofern „staatlos“ zu nennen ist, weil er nur den „Not- und Verstandesstaat“ kennt und akzeptiert. Der Systemgedanke, urteilt Pawlik, ist der „Stachel im Fleisch einer jeden politischen Philosophie, die sich im Licht ihrer vermeintlichen Metaphysikfreiheit sonnt“49. Angriffe auf das „System“, verbunden mit einem Wetteifer darum, den „liberalen“ Hegel aufzufinden, ziehen sich daher von Marx über Haym bis heute „unter wechselnden Vorzeichen und in immer neuen Varianten“50 wie ein roter Faden durch die Hegelliteratur. Aber nochmals: Wird das „System“ über Bord geworfen, wird damit Hegels Philosophie um die Essenz gebracht, um ihren „provokatorischen Gehalt“51, um das „Treibende“, das „in der Totalitätsschau“ liegt.52 Das wesentliche Verhältnis, das Hegel im Verhältnis der beiden Naturen zueinander sieht, gerät aus dem Blick, wird ersetzt durch ein solches, das innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gesucht, gefunden und zum Ausgangspunkt gemacht wird. Hegel ist, in kritischer Auswertung der theoretischen Postulate des Naturrechts sowie der praktischen Ergebnisse der Französischen Revolution, lediglich darum bemüht, die zur Seite geschobene Natur wieder in ihre Rechte einzusetzen und zugleich ihr Verhältnis zu der anderen, der künstlichen Natur, die er ja keineswegs verwirft, sondern als neues, weiteres Sein sieht und anerkennt, zu bestimmen. Dazu gehört, dass er einen Staat entfaltet, in dem sie beide repräsentiert sind. Das ist sein „sittlicher“ Staat.53 Da die – für Hegel primäre – „organische“ Natur a-kapitalistisch ist, muss nicht verwundern, dass dies auch für seinen Staat gilt. Das zeigen schon die Elemente, aus denen Hegel ihn konstruiert, die, oberflächlich gesehen, der feudalen „Mottenkiste“ zu entstammen scheinen. Das ist befremdlich in einer Zeit, zu der die „bürgerliche Gesellschaft“ als der „letzte Schrei“ gilt – auch für den jungen Marx, der Hegel 49 M. Pawlik, Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen, in: Der Staat 41 (2002), S. 186. 50 H.-Chr. Lucas, „Wer soll die Verfassung machen, das Volk oder wer anders?“ – Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin, in: Lucas/Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie …, a. a. O., S. 176. 51 M. Pawlik, Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen, a. a. O. 52 E. Kaufmann, Hegels Rechtsphilosophie, in: Ders., Gesammelte Schriften III: Rechtsidee und Recht, Göttingen 1960, S. 289. 53 Vgl. H. Kimmerle, Staatsverfassung …, a. a. O.

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im Zusammenhang seines „Monarchen“ der „Missgeburt“ des „Majorats“, der „Korporationen“ eines „mittelaltrigen Standpunkts“ und einer „zoologischen Anschauungsweise“ bezichtigt.54 Die „produzierte Natur“ ist eine Anhäufung von Dingen. Als Unorganisches sind sie an sich tot. Sie wollen aber lebendig sein, wozu sie sich an den Menschen ketten, seine Lebendigkeit zu der ihren machen. „Da der Sache die Subjektivität abgeht“55, muss sie sich diese erschaffen und auf sie ihre mechanistisch-atomistische Dingnatur übertragen. Im Zuge dessen ersteht mit dieser Natur der Mensch ein zweites Mal; der nach ihrem Bilde geformte, umgepolte Mensch heißt „Person“. Sie ist der „produzierte“ Mensch, sie ist „Personifikation“ des „Dings“; als „Maschinenmensch“, als verlebendigtes Ding, das dessen „Atomistik“ teilt, verleiht die Person dieser mechanistisch-atomistischen Natur Leben, macht sie zum „geselligen“ Atom. Sie ist insofern Antimensch, als sie nicht gemeinschaftlich ist und auch nicht sein kann. Aus diesem Grunde, so Hegel, ist sie „kein Teil des Volkes und darum entweder Tier oder Gott“56. Als Novität, als ökonomisches Erfordernis dieser Zeit macht die „Person“ Schlagzeilen, steht sie im Mittelpunkt. Was nach dem Hegel des „Naturrechtsaufsatzes“ (seine Stellung zur „bürgerlichen Gesellschaft“ ist – wie noch ausführlich gezeigt wird – wesentlich differenzierter) eigentlich als das „absolut Unmenschliche“ zu sehen ist57, wird idealisiert, wird dem „organischen“ Menschen vorgeschaltet, wird zum Menschlichen schlechthin erklärt. Aber wie gesagt: Die „Sache“ emanzipiert sich – nicht der Mensch. Die Menschenrechtserklärung des Jahres 1789 bezieht sich im Kern also auf die lebendig gemachte Sache; deren Rechte werden darin erklärt. Und die Revolution kommt ja auch nicht zur Ruhe, ehe dieser Sachverhalt klargestellt ist. Mit der Person ist das „Vertragsdenken“ verbunden. Es kommt auf, weil „historisch das isolierte Individuum vor die Gemeinschaft gestellt und zugleich logisch alle Gemeinschaft aus dem Individuum hergeleitet wurde“58. Dieser idealisierte und „vorgeschaltete“ (Teil-)Mensch, dieses Kunstprodukt prägt das Menschenbild der Aufklärung; von ihm aus gelangt das Naturrecht zu seinen zeitlosen Postulaten, zu seinen „wesenlosen Gedankendingen“.59 54 55 56 57 58 59

MEW 1, S. 311 u. S. 319. § 42/Zus. Rph. Hegel, NR, S. 505. C. Schmitt, GL (7. Aufl., Berlin 1991), S. 74. O. v. Gierke, Althusius, a. a. O., S. 96. Hegel, NR, S. 509.

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Auf der Ebene des „Allgemeinen“ ersteht eine „Staatsperson“, die das Gemeinwesen verdrängt und es zu ersetzen sucht: der „Not- und Verstandesstaat“. Er ist das personifizierte Allgemeine der „produzierten“ Natur. Er ist „rein“ von jedem organischen Beiwerk. Er enthält nichts, was anders wäre als die „produzierte“ Natur. H. Kelsen erklärt ihn daher 80 Jahre nach Hegels Tod in seiner „Reinen Rechtslehre“ zu einem Staat, der nichts anderes ist als Funktionär der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Staat, der nicht nur vom Monarchen, sondern auch vom „Volk“ gelöst ist. Solchem Purismus setzt Hegel sein „konkretes“ Denken entgegen60, das nicht den einen Staat durch den anderen ersetzt, sondern jeden von ihnen „als das notwendige Andere“ des anderen erkennt. Beide (Teil-) Staaten sind also Momente des konkreten Staates, d. h. seiner „konstitutionellen Monarchie“. Der Konstitutionalismus, so meine These, ist daher nicht nur Quintessenz der hegelschen Staatsphilosophie, sondern: er ist das Prinzip des modernen Staates. Er ist die philosophische Antwort auf die (s. o.: „problemreiche“) bürgerliche Gesellschaft. Er vermittelt „Organisches“ und „Unorganisches“. Er korrigiert den „Alleinvertretungsanspruch“ der bürgerlichen Gesellschaft im Interesse der „organischen“ Natur. Er ist die philosophisch-juristische Antwort auf die Existenz jener (dritten) Ebene von Wirklichkeit, in der „organische“ und „produzierte“ Natur zusammengeführt und vermittelt sind. Im „System“ verankert Hegel die Dialektik der Naturen; die „dialektische Grundpaarung“, wie ich formulieren möchte. Mit dem „System“ beendet Hegel die von ihm kritisierte Einseitigkeit und „Umkehrung“. Dem Plädoyer der Aufklärung für die „produzierte“ Natur hält Hegel also die Existenz zweier Naturen entgegen, die jetzt im Rahmen der neuen, höheren Ebene, der des „objektiven Geistes“, fortbestehen. Vom Standpunkt der „produzierten“ Natur aus mag es scheinen, dass Hegel damit „hinter die Intention der Aufklärung“ zurückfällt61. Richtig ist, dass er die „Halbheit“62 ihres Standpunktes überwindet. Die Resultate der Revolution bestätigen ihn. Er schöpft aus dem, was diesem „Mörser“ standgehalten hat. Im „System“ bringt Hegel also die Wahrheit des neuen Ganzen zur Geltung. Er zeigt darin jene Qualität, die aus der Aufhebung des feudalen Gemeinwesens entsteht. Es wie F. Engels damit abzutun, Hegel sei, den Gepflogenheiten seiner Zeit nachkommend, „genötigt“ gewesen, „ein System zu machen“63, wird der Sache nicht gerecht und läuft darauf hinaus – 60 61 62 63

§§ 80, 119 Enz. J. Habermas, Nachwort, in: G. W. F. Hegel, Politische Schriften, Frankfurt a. M. 1966, S. 366. § 31/Anm. Rph. MEW 21, S. 268. Ähnlich P. Vogel (Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz von Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1925, S.  127): Er ist der

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zusammen mit der von liberaler Seite in vielfältiger Variation vorgetragenen Akkommodationsthese –, die hegelsche Philosophie um einen Großteil ihres Gehalts zu bringen.64 Mit dem „System“ schafft Hegel einen neuen Rahmen für das, was nach dem Zerfall des feudalen Gemeinwesens zur Schattengestalt, zur „trüben Ahnung“, zu einem „sich verunwirklichenden Abstraktum“65 geworden ist. Er fixiert darin dessen neue Wirklichkeit. Für jene, die als real nur das empirisch Nachweisbare ansehen, die nur Entitäten akzeptieren, ist dies ein „Hokuspokus“, der zu einer „Traumwelt“ (Haym), zu einer „erschlichenen Realität“ (Stahl) und zur Blindheit gegenüber den „schöpferischen Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts“ (Plenge) führt. Hegels System wird daher nahezu geschlossen zugunsten einer Seite, der der bürgerlichen Gesellschaft, verworfen. Steht also im Mittelpunkt der Aufklärung die „produzierte Natur“ und die von ihr hervorgebrachte „Person“, so korrigiert Hegel und stellt richtig: Der Mensch ist mehr als nur „Person“. Ebenso ist der Staat mehr als der von der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebrachte „Not- und Verstandesstaat“. Hegel setzt also das „beiseite“ Gestellte66 wieder in seine Rechte ein; rückverwandelt es aus einer Sollenskategorie in eine Seinskategorie, setzt es als deren „äußerliche Notwendigkeit und ihre höhere Macht“67 vor die bürgerliche Gesellschaft. H. Kelsen, für den der Staat eine bloße Sollenskategorie ist, die er in der bürgerlichen Gesellschaft auf- bzw. untergehen lässt, kann am besten beurteilen, von welcher Tragweite das ist: „Indem Hegel den … Gegensatz des Sollens zum Sein negiert, der tatsächlichen Entwicklung die Verwirklichung des Wertes für Meinung, dass Hegels Schüler bloß dessen Metaphysik zu streichen brauchten, um im Marxismus zu sein. 64 G. Dulckeit dazu: „Während Hegel das System als Wahrheit begriffen hat, während ihm also nur die Ganzheit und Einheit der Wirklichkeit Ausgangspunkt und Ziel aller philosophischen Überlegung war, während jeder Teil des Systems so nur als dialektisches Moment in der ständigen Bewegung und Bewegtheit und damit in der ewigen Ruhe und Klarheit des Ganzen Sinn und Wert hatte, vermochte die Folgezeit nicht mehr in dieser Ganzheitsbetrachtung zu denken. Sie zerbrach daher auch bei Hegel die lebendigen Glieder der dialektischen Bewegung in tote Teile, denen sie nun einen eigenen Wirklichkeitswert zuzuschreiben sich genötigt sah.“ (Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, Berlin 1936, S. 15.) 65 Hegel, NR, S. 446; § 180/Anm. Rph – in Bezug auf die Familie. M. Pawlik (Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen, a. a. O.) dazu: „Das spekulativ-ontologische Fundament von Hegels Rechtsphilosophie ist den meisten seiner Nachfolger und erst recht seinen Kritikern zutiefst fremd geworden.“ 66 § 2/Anm. Rph. 67 § 261 Rph.

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immanent erklärt, verfolgt er eine durchaus konservative, gegen allen Umsturz [des Staates; B. R.] gerichtete Tendenz.“68 Die „produzierte“ Natur ist das Schicksal der organischen Natur. Die bürgerliche Gesellschaft ist das Schicksal des Gemeinwesens. Die „Person“ ist das Schicksal des Menschen. Die „Tragödie im Sittlichen“ beginnt.69 Der Mensch wird seiner eigentlichen Natur entrissen und ihr entfremdet. Und nicht nur das: Als „Person“ wird er zu ihrem Feind. Damit zu seinem eigenen Feind. Am Ende dieser Entwicklung, dieser Auflösung des „Natur“-Ganzen stehen die „Entmenschung“ des Menschen, das „allgemeine Unglück“ und der „Tod des sittlichen Lebens“. Der ehemals sittliche Zusammenhang und Zusammenhalt wird abgelöst durch „eine abstrakte[,] ins Ungeheure sich treibende Willkür“70, deren zerstörerischer Gehalt durch das Recht lediglich geglättet und gemildert wird. Das ist eine Einschätzung, die – im Lichte der jüngeren Entwicklung – aktueller nicht sein könnte. Die „produzierte“ Natur beruht auf einer Logik der Zerstörung und Selbstzerstörung. Die Dinge ergreifen Besitz vom Menschen. Er wird „ökonomisiert“ und – im Zusammenhang damit – „verrechtlicht“; er wird zugemüllt und asozialisiert. Die Ware-Geld-Beziehung ersetzt die menschliche Beziehung. Beide Naturen (und ihre „Freiheiten“) ergänzen sich also nicht, sondern stehen sich feindlich, antagonistisch gegenüber. Die „produzierte“ Natur ist negative Aufhebung der Natur. Sie ist der „große Leviathan“. Sie verkörpert das Unsittliche. Abgekoppelt von der „organischen“ Natur, mausert sie sich zur Unnatur und das mit ihr entstehende Recht zum Naturunrecht; dies deshalb, „weil es den … Begriff der Sittlichkeit … unmöglich macht“71. Schon Platon sah die Gefahr, die von der „produzierten“ Natur ausgeht. Sein Ausweg: Er ignorierte sie, verbannte sie aus seinem System, behandelte sie als Unwirkliches – so wie wir heute, aus individualistischer Weltsicht heraus, das „Ganze“ ja ebenfalls als Unwirkliches behandeln. Obzwar falsch, war das damals verzeihlicher und folgenloser. Aber heute, wo sie sich absolut gesetzt hat? Zwar ist sie notwendig, ist als Notwendiges unser „Schicksal“. Aber sie wird dann und insoweit zur Gefahr, wie sie dahin drängt, wie sie dahin tendiert, Selbstzweck zu sein. Beide Naturen als 68 H. Kelsen, Sozialismus und Staat, Leipzig 1923, S. 8. 69 Hegel, NR, S. 495. H. Glockner kommentierend zur Tragödie: „Sie besteht darin, dass die sittliche Natur ihre unorganische Natur als ein Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüberstellt.“ (Hegel, 2. Bd., Stuttgart 1940, S. 331.) S. auch F. Rosenzweig (Hegel und der Staat, a. a. O., S. 190 ff.) und seine Ausführungen dazu, wie in Hegel die „Idee des Schicksals“ heranreift. 70 § 357 Rph. 71 R.-P. Horstmann, Über die Rolle …, a. a. O., S. 220.

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ein Ganzes gesehen, ist die „produzierte“ Natur jener Teil, der stets „auf dem Sprunge [ist], aus dem Gleichgewicht zu treten“, der „maßlos“ ist, der „seine Grenze nicht erkennt, sondern vielmehr die Tendenz haben muss, sich als ein Ganzes und Absolutes zu konstituieren“.72 Bezogen auf die Antike heißt es bei Hegel, dass die „selbständige Entwicklung der Besonderheit“ bei Negierung des Allgemeinen dort zum „hereinbrechende[n] Sittenverderben“ führte und „der letzte Grund des Untergangs derselben“ war. Und zur sich bahnbrechenden „Atomistik“ äußert er sich so: „Die Besonderheit für sich ist das Ausschweifende und Maßlose, und die Formen dieser Ausschweifung selbst sind maßlos.“73 Alles Frühere ist durch sie auf den Kopf gestellt und entwickelt sich vom anderen Ende her. Das Zerstörerische, das Unsittliche und Unvernünftige gewinnt die Oberhand. Das „Böse“ geriert sich als das „Gute“, das Unsittliche als Sittliches, die (Bewegungs-)Freiheit der Dinge geriert sich als Freiheit überhaupt.74 Die Schlussfolgerung, die Hegel daraus zieht, ist, dieses Zerstörerische durch die „Macht der Allgemeinheit“75 zu beschränken. Denn außer Kontrolle geraten, wird es zum Krebsgeschwür, zum Krebsschaden. Bleibt es ungezügelt und kommt es nicht zu einer Umkehr, ist der Anfang vom Ende eingeläutet. *** Kommen wir auf Marx zu sprechen. Für ihn ist die bürgerliche Gesellschaft der moderne menschliche Lebenszusammenhang. Sie ist ihm das Ganze. „An die Stelle, die bei Hegel der Staat einnahm, tritt bei Marx die Gesellschaft“, fasst Rosenzweig den Unterschied zusammen.76 Auf sie überträgt er Hegels dialektische Methode. Das hebt ihn aus dem damaligen liberalen Mainstream heraus. Das sowie seine vertieften 72 § 195 RphK (Nachschrift Griesheim); Hegel, NR, S. 519. 73 § 185/Zus. Rph. 74 Dazu Marx in der „Heiligen Familie“: „Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit, weil die scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums, welches die zügellose, nicht mehr von allgemeinen Banden und nicht mehr vom Menschen gebundene Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente, wie z. B. des Eigentums, der Industrie, der Religion etc., für seine eigne Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist.“ (MEW 2, S. 123.) 75 § 185 Rph. 76 § 185 Rph; F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 469. Die Abnabelung von Hegel durch Wegorientierung von dessen Staat und Hinwendung zur Gesellschaft ist gut dargestellt bei U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze und politische Organisation, Berlin 1973, S. 69 ff.

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Einsichten in die ökonomischen Vorgänge ermöglichen es ihm, die bürgerliche Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Aber der grundsätzliche Unterschied zu Hegel und die grundsätzliche Gemeinsamkeit mit dem Liberalismus bleiben: Beide sehen im „System“ und in der darin eingeschlossenen Dialektik der Naturen den gleichermaßen idealistischen wie feudalen Pferdefuß seiner Philosophie und verwerfen es. Es führe dazu, dass „das Produzierende, die Gesellschaft, als das Produkt ihres tatsächlichen Produkts, ihres Staates und Rechts, gesetzt wird“, heißt es dazu bei H. Klenner.77 Das Problem ist aber: Indem Marx Hegel „vom Kopf auf die Füße stellt“, um ihn als Philosophen der „Gesellschaft“ fruchtbar zu machen, halbiert er ihn. Mehr als hundert Jahre später sind es (von marxistischer Seite) G. Lukacs78 und W. R. Beyer79, auf bürgerlich-liberaler Seite J. Ritter und K.-H. Ilting80, die den Hegel der bürgerlichen Gesellschaft und damit den „liberalen Hegel“ betonen bzw. zu finden bestrebt sind. Mit Recht ist dagegen eingewandt worden, dass dies Vereinnahmungsversuche durch „Rettung Hegels gegen Teile seiner eigenen Theorie“ sind.81 Dass dies „apologetische Bemühungen“ sind82, die darauf hinauslaufen, heutige politisch-gesellschaftliche Zustände mit Hegel zu legitimieren. Sie werden Hegel und seiner Philosophie nicht gerecht. Die „Halbierung“ rächt sich. Sie lässt Marx zurückfallen auf eine Philosophie, die den Ausgangspunkt in einer „Bestimmtheit“ sucht. (Dazu ausführlich in den nachfolgenden Kapiteln!) Daraus ergeben sich folgenschwere theoretische, politische und später: praktische Unterschiede und Konsequenzen, die nicht 77 H. Klenner, Der Grund der Grundrechte bei Hegel, in: M. Buhr/J. D’Hondt/H. Klenner, Aktuelle Vernunft. Studien zur Philosophie Hegels, Berlin 1990, S. 259. 78 Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1954. 79 Dieser Autor ist besonders eifrig dabei, Hegel zu einem „Liberalen“ zu machen. Überall interpretiert er Hegel so lange gegen den Strich, bis dieser so „liberal“ ist wie kein Zweiter. Ein Lenin hätte ihm gewiss vorgehalten, aus Hegel partout einen „Dutzendliberalen“ machen zu wollen. 80 J. Ritter, beginnend mit: Hegel und die französische Revolution. Ritters Schrift ist von der Philosophie der DDR aus diesen Gründen positiv aufgenommen worden, wie z. B. die Besprechung seiner Arbeit durch M. Buhr (Deutsche Literaturzeitung 11 [1958], Sp. 987 ff., auch in: Der Übergang von Fichte zu Hegel, Berlin 1965, S. 8 f.) belegt. W. R. Beyer nennt die Schrift „den gelungenen Startschuss“ zum Thema „Hegel und die Revolution“. An gleicher Stelle wendet er sich gegen J. Habermas, der seiner Meinung nach „in aller Frankfurter Leutseligkeit“ den Ansatz Ritters „verkleinert“ habe (W. R. Beyer, Der Stellenwert der französischen Juli-Revolution von 1830 in Hegels Denken, in: DZfPh 1971, S. 628). K.-H. Ilting, Einleitung, in: VRph 1. 81 R.-P. Horstmann, Über die Rolle …, a. a. O., S. 209 f. 82 H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle Monarchie – Bemerkungen zu Hegels Konzeption des Staates aus verfassungsgeschichtlicher Sicht, in: E. Weisser-Lohmann/D. Köhler (Hg.), Verfassung und Revolution (HS, Beiheft 42), Hamburg 2000, S. 195.

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unwesentlich das Schicksal des realen Sozialismus bestimmt haben. Anhand des Problems der „Entäußerung/Entfremdung“ sollen sie hier nur angedeutet werden. „Entfremdung“ heißt für Hegel: Der Mensch wird durch die „produzierte“ Natur der/seiner eigentlichen Natur entfremdet. Da er aber ein „produzierendes“ Wesen ist, da er also produzieren muss, ist die Entfremdung sein Schicksal. Sie ist „Dauergast“. Der Mensch kann nicht anders, als die ihm in die Hände gelegte Schöpfung umzuarbeiten, zu verbrauchen, unentwegt „Dinglichkeit“ zu erzeugen. Das unterscheidet ihn vom Tier. Das Problem ist daher nicht, dass er produziert, sondern wie er produziert. Maßvoll und vernünftig, im ausgewogenen Verhältnis der Naturen. Oder maßlos und unvernünftig, im Sinne von Zerstören, im Sinne von Verbrauchen, im Sinne der Bereicherung um jeden Preis. Das Schicksal ist daher mit Korrekturinstanzen verknüpft: dem sittlichen Staat und – für den Zeitraum der freien Konkurrenz – Markt und Konkurrenz. Ihre Aufgabe ist es, für die ständige Rückkopplung zur organischen Natur zu sorgen. Sie haben die hergestellten Tauschwerte ständig infrage zu stellen unter den Gesichtspunkten: Wahrt ihre Produktion die Interessen der organischen Natur? Werden sie tatsächlich gebraucht? Haben sie emanzipatorischen Wert? Befriedigen sie echte, menschliche Bedürfnisse? Marx meint dazu interpretierend: Das Thema habe bei Hegel „zugleich oder gar hauptsächlich die Bedeutung, die Gegenständlichkeit aufzuheben, weil nicht der bestimmte Charakter des Gegenstandes, sondern sein gegenständlicher Charakter für das Selbstbewusstsein das Anstößige und die Entfremdung ist“. Nicht (nur) das Privateigentum sei bei ihm ursächlich für die Entfremdung, sondern: der Gegenstand an sich sei „ein Negatives“.83 Marx selbst steht auf der Seite der unorganischen Natur. Sie ist für ihn die menschliche Natur. „Aber der Mensch ist nicht nur Naturwesen“, schreibt er, „sondern er ist menschliches Naturwesen. … Weder die Natur – objektiv – noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden.“84 Die „Vergegenständlichung“ ist ihm folglich nicht Ursache der Entfremdung. Und weiter folgt daraus, dass er die Gesellschaft nicht in ihrer ganzen Problematik, dass er sie nicht als Gegennatur sieht. Er ordnet ihre Negativität vielmehr allein dem Privateigentum zu. Er verengt gegenüber Hegel den Blick, kann damit aber zugleich eine – wenn auch 83 MEW, Erg.-Bd. 1, S.  580 (Ökonomisch-philosophische Manuskripte [Hervorhebung bei Marx]). 84 Ebd., S. 579 [Hervorhebung bei Marx]. Bekanntlich hat der reale Sozialismus nie einen eigenständigen Bedürfnisbegriff entwickelt. Er hechelte vielmehr zeit seines Lebens dem westlichen Konsumdenken hinterher, wenn auch erfolglos.

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trügerische – Lösung anbieten: Abschaffung des Privateigentums.85 Anders als der Liberalismus, der blind gegenüber der „Entfremdung“ ist, der stattdessen „Freiheit“ sieht, beruht sie für Marx also auf dem Aspekt kapitalistischen Produzierens, der sich als Trennung der Produzenten vom Eigentum an Produktionsmitteln, der sich als „Ausbeutung der Lohnarbeiter“ darstellt. Vereinfacht gesagt: (Nur) das Privateigentum sowie das mit ihm verknüpfte Ausbeutungsverhältnis „verunreinigen“ die bürgerliche Gesellschaft. Werden sie beseitigt, entfällt damit der Boden der Entfremdung; die bürgerliche wird zur Gesellschaft „frei assoziierter“ Produzenten, wird zur „sozialistischen“ Gesellschaft. Da diese „planmäßig“ produziert, sich also frei macht von den „natürlichen“ Begrenzungen des Produzierens in Gestalt von „Markt“ und „Konkurrenz“, geht diese gesellschaftsinterne Lösung im Endeffekt zulasten der Natur. Was also Liberalismus und Marxismus eint, was sie zu „Brüdern“ macht (wenn auch feindlichen), ist ihre Antihaltung zur organischen Natur; sie ist hier und dort Objekt – Objekt der Ausbeutung. An den praktischen Folgen für die Natur hätte sich also auch dann nichts geändert, wäre anstelle des „realen“ ein „marxistischer“ Sozialismus praktiziert worden. Dem Marxismus liegt also, wie auch dem Liberalismus, jenes extrem anthropozentrische, die „Entfremdung“ aufgreifende und legitimierende Weltbild zugrunde, das die „organische“ Natur, philosophisch begründet, auf den Platz eines auszubeutenden Objekts verweist.86 Der skizzierte Unterschied kann in seiner Konsequenz für die „Staatsfrage“ nicht hoch genug veranschlagt werden.87 Marx sucht die Lösung in der Vermenschlichung der „produzierten“ Natur. Er will „an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen“, in der der Gegensatz Kapitalist – Lohnarbeiter aufgehoben ist.88 Diese Assoziation definiert sich von der „Produktion“ her. In der Realität führt sie zum „Betriebsstaat“ im Sinne Max Webers und auch W. I. Lenins. Den in Richtung auf „betriebliche“ umgewan85 H. Marcuse (Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 218) anerkennend: „Marx war der erste, der Ursprung und Sinn dieser Entfremdung erklärte; Hegel hatte kaum mehr als eine allgemeine Vorstellung von ihrer Bedeutung.“ 86 Vgl. dazu: K. Heinz, Eigenrechte der Natur, in: Der Staat 1990, S. 415 ff., sowie die dort angegebene Literatur. 87 Dazu ausführlich: G. Lukacs, Der junge Hegel, S. 656 ff.; T. I. Oiserman, Die Entfremdung als historische Kategorie, Berlin 1965, bes. S. 42 ff.; H. Ley, Vom Bewusstsein zum Sein. Vergleich der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx, Berlin 1982, S. 43–67. 88 MEW 4, S. 182. Nicht nur, aber auch an der Lösung dieser Aufgabe ist der „reale Sozialismus“ gescheitert. Unter anderem deswegen, weil sie unlösbar ist. Dass und wie er sich, mehr noch seine sozialdemokratischen Nachfahren, dabei „verheddert“, ist sehr anschaulich bei H. Kelsen (Sozialismus und Staat) dargestellt!

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delten gesellschaftlichen Beziehungen steht ein Staat zur Seite, der sich als „Direktionszentrale“ versteht. Umgeben von der Aura des „Ganzen“, bildet er sich im 20. Jahrhundert zum einen – auf der Basis vieler Betriebe – als pluralistische, zum anderen – auf der Basis eines Betriebes – als totalitäre Staatsform heraus. Die Staatsfrage ist damit scheinbar gelöst: Der politische Staat, für Marx/ Engels der unterdrückende „Klassenstaat“, erübrigt sich; er stirbt ab. Was aber bleibt (und von Engels in dem Aufsatz „Von der Autorität“ plastisch beschrieben wird), ist die nun in den gesellschaftlichen Raum freigesetzte „Autorität“ der betrieblichen Prozesse. Eine Autorität, die „um vieles tyrannischer“89 ist als jene, die bislang von dem nun außer Kurs gesetzten bürgerlichen „Not- und Verstandesstaat“ ausging. Diese „Betriebsstaat“-Lösung setzt sich in Bezug auf Staat und Recht mit einer asynchronen Entwicklung in Verbindung: Das Recht als Instrument einer „gesellschaftlichen“ Steuerung tritt zurück; es weicht der Weisung als dem adäquaten Instrument des zur „Direktionszentrale“ umgeformten Staates. Die sozialistische, allgemeiner: die „verbetrieblichte“ Gesellschaft ist also, was ihre Leitungsinstrumentarien anbelangt, an dem Inneren der Unternehmung orientiert. Die Praxis hat inzwischen diese Lösung, wo sie auf die Spitze getrieben war, zusammen mit dem „realen Sozialismus“ widerlegt. Sie ist damit jedoch nicht aus der Welt, wenn auch die Entwicklungen in Richtung auf den „Betriebsstaat“ in der westlichen Welt sehr viel verdeckter verlaufen. Überall bleibt Hegel in „Antinomien“ stecken, wenn es um das Verhältnis Staat und Gesellschaft geht, begnügt „er sich mit dem Schein der Auflösung“, kritisiert der junge Marx.90 Bis heute ein oft wiederholter Vorwurf. M. Riedel sieht in dieser „Ratlosigkeit“ einen zentralen Mangel seiner Philosophie91 und steht insoweit im Einklang mit der marxistischen Auffassung, die meint, Hegel lasse diese Antinomie stehen, „weil seine Dialektik hier zum Stillstand gelangt

89 MEW 18, S. 306 (F. Engels, Von der Autorität). 90 MEW 1, S. 279. 91 M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft und Staat, Neuwied, Berlin 1970, S. 74. Hegel eine solche „Ratlosigkeit“ zu „bescheinigen“ oder auch – einen „Zahn schärfer“: „Unvermögen“ –, hat eine lange Tradition, die von Marx über Haym und P. Vogel in die Zukunft reicht. Bezogen auf unser Thema „Arbeit“ und das bereits konstatierte Stehenbleiben Hegels bei der entfremdet durchgeführten Arbeit, heißt es bei H. Freyer: „Man hat diese Grenze in Hegels Philosophie des objektiven Geistes seit langem bemerkt; hat sie bald als unbegreifliches Versagen des großen Realisten und Kenners seiner Zeit empfunden, bald als flachen Einwand gegen ‚wirklichkeitsferne‘ Spekulation überhaupt ausgespielt.“ (H. Freyer, Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1921, S. 59.)

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ist“92. Zutreffender scheint mir R.-P. Horstmann zu urteilen, der „gerade die Bestimmung der Differenz in den Prinzipien der jeweiligen Form des Ganzen“ als Bedingung dafür ansieht, „dass der Begriff des Staates überhaupt erst angemessen explikabel ist“.93 Und hinzuweisen ist darauf, dass Rosenzweig hier eine Reaktion auf einen in der Wirklichkeit anzutreffenden, unverrückbaren, schicksalhaften Befund sieht. Dann wäre Hegel also nicht „ratlos“ aus Unvermögen. Er kann die Antinomie nicht auflösen, jedenfalls nicht anders als in der bereits von Marx als „äußerlich“ und „bürokratisch“ gerügten Manier.94 Deshalb, weil der Befund, der ihr zugrunde liegt, nur so – äußerlich – überwindbar ist. Für ihn ist das Dasein des Menschen eine Tragödie, deren Gegenstand die „Bewegung des absoluten Widerstreits dieser zwei Naturen“95, mithin: das „Schicksal“ ist. Mit diesem Schicksal muss er leben und zurechtkommen. Lösungen, die die Sehnsucht nach Harmonie, nach einem „Vereinigungspunkt“96 befriedigen, hat Hegel nicht parat. Aus seiner Sicht gibt es sie auch nicht. Wer sie parat hat, muss sich sagen lassen, dass es Scheinlösungen sind. Dazu da, die Tragödie in eine Komödie umwandeln. „Schattenbilder von Gegensätzen oder Scherze von Kämpfen mit einem gemachten Schicksal und erdichtete Feinde“97 treten an die Stelle der Realität. Die Komödie vertuscht das Schicksal, indem sie „die zwei Zonen des Sittlichen so voneinander ab[trennt], dass sie jede rein für sich gewähren lässt, dass in der einen die Gegensätze und das Endliche ein wesenloser Schatten, in der anderen aber das Absolute eine Täuschung ist“. Aber: „[D] as absolute Verhältnis ist … im Trauerspiel aufgestellt.“98 Hegels Philosophie läuft also auf „Domestizierung“ der unorganischen Natur hinaus. Dazu bedarf es eines Staates, der nicht nur ihr, sondern beiden Naturen verpflichtet ist. Eines Staates, der, weil er beide Naturen vertritt, insoweit Staat „gegen die bürgerliche Gesellschaft“ ist.99 Für viele ist das unbefriedigend. Hegels Rechtsphilosophie 92 G. Mende, Hegel und die Französische Revolution – Die Entwicklung seines philosophischen Denkens in Jena, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der FSU Jena 1972, S. 17. 93 R.-P. Horstmann, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 212. 94 H. Marcuse (Vernunft und Revolution, a.  a.  O., S.  165) dazu: „Eine in der Tat merkwürdige Versöhnung. Es gibt kaum ein anderes philosophisches Werk, das schonungsloser die unversöhnlichen Widersprüche der modernen Gesellschaft aufdeckt oder das verstockter erscheint, weil es sich bei ihnen beruhigt.“ 95 Hegel, NR, S. 495. 96 M. Gessmann, Hegel, Freiburg 2004, S. 141. 97 Hegel, NR, S. 496. 98 Ebd., S. 499. 99 MEW 1, S.  252. Die Kritik, die hier Marx an Hegel übt, steht also in einem anderen Licht, sobald man von zwei Naturen ausgeht.

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fehle die „verheißungsvolle Färbung“ früherer Philosophien, heißt es bei Marcuse, und nehme die „Form von Niedergang und Versagung“ an.100 Beide Ansätze, der von Marx: Vermenschlichung der bürgerlichen Gesellschaft, und jener Hegels, der sie als „Schicksal“101 verstanden haben will, stehen sich also gegenüber. Ersterer will sein Ziel durch Umwälzung ihres Teilbereichs „Produktion“ erreichen. Das führt ihn aber näher an das Naturrecht Kants und Fichtes heran als an Hegel (und mag auch die spätere Spaltung des Marxismus in die – Kant zugeneigte – sozialdemokratische Richtung und in den Leninismus, dessen praktischer Vollzug zum hobbesschen „Leviathan“ führt, begünstigt haben). Da ein Schicksal nicht beseitigbar ist, zeigt Hegel daher auch nur, wie mit ihm umzugehen ist. Das führt ihn zum Konstitutionalismus. Dieser ist die notwendige Folge der Existenz und des Gegenübers der Naturen. Mit Eintritt der bürgerlichen Gesellschaft in die Geschichte wird also nicht der absolutistische Staat bloß durch den zu ihr gehörigen „Not- und Verstandesstaat“ ersetzt, sondern ein Staat ausgebildet, der beide Naturen repräsentiert und in dem die vorgenannten Staatsformen lediglich als „Momente“ fortexistieren. Als Staat der Moderne ist sein Staat weder der Staat Rousseaus noch der Hallers. Sein Staat widersteht allen Verschiebungen nach der einen oder anderen Seite. Er ist oft totgesagt worden. Trotzdem ist er aktuell; aktueller denn je, denn er gewinnt in dem Maße an Bedeutung, wie das zerstörerische Potenzial der unorganischen Natur anwächst und gleichzeitig die Gesellschaft ihre selbstregulierende Kraft einbüßt. **** Die bürgerliche Gesellschaft ist nichts Statisches; sie ist „kein fester Kristall“102, sondern unterliegt einem ständigen „Strukturwandel“.103 Die Kräfte des „organisierten“ Kapitalismus suchen das labile Gleichgewicht zur Zeit der freien 100 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 166. 101 Vgl. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a.  a.  O., S.  191. Er bezeichnet dort die „Idee des Schicksals” als einen der Zentralbegriffe der hegelschen Philosophie. 102 MEW 23, S. 16. 103 Kein Zufall also, dass genau in dem Zeitpunkt, da die tragenden Größen: Markt und Konkurrenz, verloren gehen, die „Geschichtlichkeit“ der bürgerlichen Gesellschaft die „Zeitlosigkeits“These ablöst. S. dazu aus philosophischer Sicht grundlegend: J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962; aus juristischer Sicht: E.-W. Böckenförde (Hg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, Einleitung, S. XII, sowie sein dort (S. 395 ff.) abgedruckter Aufsatz: Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart.

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Konkurrenz zu überwinden, drängen dazu, sich absolut zu setzen. Mit Erfolg – weshalb in der Gegenwart mehr denn je gilt, was Hegel damals sagte: Die „produzierte“, die sekundäre Natur muss unter Kuratel der „natürlichen“, der ersten Natur stehen. Ihre Tendenz zur Zerstörung und Selbstzerstörung, ihre „gefährlichen Zuckungen“ bedürfen des „Gewalt habenden Gesetzes“.104 Es muss Aufgabe des Staates sein, „die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten“105. Hegel geht mit dieser Forderung über die klassische Nationalökonomie hinaus, die diese Leitung der „unsichtbaren Hand“ überlässt. Zwar sieht auch er die Interessen der „organischen“ Natur durch sie vertreten. Aber das macht die „mit Bewusstsein vorgenommene Regulierung“ nicht entbehrlich. Noch dazu, da ja die Korrektur durch den „naturgesetzlichen Prozess“ erst im Nachhinein erfolgt und im „organisierten“ Kapitalismus auf mannigfache Weise ausgehebelt wird. Es bedarf einer „allgemeinen Vorsorge und Leitung“. Keineswegs darf die Gewerbefreiheit „von der Art sein, dass das allgemeine Beste in Gefahr kommt“, zitiert E. Kaufmann aus § 236/Zus. Rph.106 Die (Fort-)Existenz der bürgerlichen Gesellschaft steht und fällt mit Erhalt oder Untergang der „primären“ Natur. Hierauf bezieht sich Hegels Staatsphilosophie. Deshalb muss sein Staat gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft das Höhere sein und bleiben. Kurzzeitig, in der Phase der „freien Konkurrenz“, ist die bürgerliche Gesellschaft weitgehend befähigt, sich selbst zu regulieren. In dieser Zeit tritt der Staat hinter das Recht zurück. Aber Lauf der Dinge ist, dass „Markt“ und „Konkurrenz“ ausgehöhlt werden und dem „organisierten“ Kapitalismus, dem ökonomischen und politischen Pluralismus zum Opfer fallen. Mit der Folge, dass „durch diese Dialektik … die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben“ wird.107 Dabei büßt sie ihre sittliche Kraft ein und geht ins Unsittliche über. Hegel im „Naturrechtsaufsatz“: Das Negative, die „produzierte“ Natur, „das System der sogenannten politischen Ökonomie“ wirft sich auf, erhebt sich über die organische Natur. Die Folge? Krankheit und Tod drohen, „wenn ein Teil sich selbst organisiert und sich der Herrschaft

104 § 236 Rph; Hegel, JRPh, S. 236 ff. Zur Gewerbefreiheit: Sie darf sich nicht auf alles und jedes erstrecken. Bereiche und Bedürfnisse, die „gemeinsames Interesse sind“, bedürfen der „Aufsicht und Vorsorge der öffentlichen Macht“ (§ 235 Rph). 105 § 537 Enz. (Hervorhebung von mir); s. auch §§ 261 ff. Rph, deren großes Thema die Sicherung der Natur vor dieser Gegennatur durch deren „sittliche Durchdringung“ ist (s. dazu die Ausführungen in Kapitel III). 106 E. Kaufmann, Hegels Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 294. 107 § 246 Rph.

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des Ganzen entzieht“108. Dem ist entgegenzuwirken: „Was seiner Natur nach negativ ist, muss negativ bleiben und darf nicht etwas Festes werden.“109 Ein Schutzwall muss her. „Um zu verhindern, dass es sich nicht für sich konstituiere und eine unabhängige Macht werde, ist es nicht genug, die Sätze aufzustellen, dass jeder das Recht habe zu leben, dass in einem Volke das Allgemeine dafür sorgen müsse, dass jeder Bürger sein Auskommen habe und dass eine vollkommene Sicherheit und Leichtigkeit des Erwerbs vorhanden sei; dieses Letzte, als absoluter Grundsatz gedacht, schlösse vielmehr eine negative Behandlung des Systems des Besitzes aus und ließe es vollkommen gewähren und sich absolut festsetzen.“110 Noch dazu, da (bzw. wenn) diese Menschenrechte von der Person her entwickelt sind und als „Menschenrecht des Privateigentums“111 auf die Welt kommen. Als Rechte also, die von der unorganischen Natur und ihrem Derivat, der Person, für sich reklamiert und gegen die organische Natur, gegen die von dort ausgehende Pflicht bzw. Verpflichtung dem Ganzen und Sittlichen gegenüber ins Feld geführt werden. Dieser Natur müssen daher Zügel angelegt werden, ihr „Emporschießen in Beziehung auf die Quantität und die Bildung zu immer größerer Differenz und Ungleichheit, als worauf seine Natur geht“, muss beobachtet, wenn nötig, unterbunden werden.112 ***** Hegel ist der Letzte, dem es gelingt, das „Ganze“, verstanden hier als die dialektische Einheit der zwei Naturen, auf den Begriff zu bringen. Ein „Riesengeist“, der solches „mit ungeheurer Sachlichkeit“ leistet.113 Mit ihm endet die metaphysische Philosophie. Was ihm nachfolgt, darunter der Marxismus, leidet an ideologisch verbrämter Einseitigkeit.

108 Hegel, NR S. 517. H. Klenner weist darauf hin, dass Hegel „Krankheit und Anfang des Todes überall dort“ sieht, „wo sich ein Teil der Oberhoheit des Ganzen entzieht“ (Rechtsleere. Verurteilung der Reinen Rechtslehre, Berlin 1972, S. 29). 109 Hegel, NR, S. 483. Ch. Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1983, S. 573: „Hegel zufolge kann die bürgerliche Ökonomie nicht aufgegeben werden. Ihre Tendenz zur Auflösung muss vielmehr durch Unterordnung unter die Forderungen der letztlich gültigen Gemeinschaft, des Staates, in Zaum gehalten werden.“ 110 Hegel, NR, S. 483. 111 MEW 1, S. 364 (Hervorhebung bei Marx). 112 Hegel, NR, S. 483. 113 H. Glockner, Hegelrenaissance und Neuhegelianismus (HS, Beiheft 2) (3. Aufl.), Bonn 1984, S. 287.

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Das Zeitalter der Philosophie ist beendet; jenes der Ideologien bricht an. Wer jetzt doch noch ganzheitliche Ansätze verfolgt, tut das vom Boden der „Gesellschaft“ aus. Ideologien verklären ein „halbes Ganzes“ zum Ganzen. „Mobilitätsstrategien“ werden entwickelt, wie Ch. Taylor formuliert.114 Die folgenreichsten: der Marxismus und der Nationalismus. „Proletariat“ und „Volk“ werden in jene Leere geworfen, die mit Verlust des Ganzen entsteht. Solche Pseudoganzheiten verfälschen Hegel, soweit sie auf ihn gestützt werden. Hier wird der „Produktionsstandpunkt“ kultiviert und zur ökonomisch-politischen Einheit „Diktatur des Proletariats“ zusammengefasst. Dort wird diese Einheit hergestellt über die Betonung irrationaler115, „lebensphilosophisch“ untermauerter Gemeinschaftskonzeptionen, die unter Wiederbelebung des mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft irreversibel „aufgelösten“ Volkes zur „Volkheitsdiktatur“ des „Dritten Reiches“ führt. Ökonomischer Kern beider Diktaturen ist die nach Art eines Unternehmens umgestaltete bürgerliche Gesellschaft, die aus dem bisherigen „Not- und Verstandesstaat“ einen „Betriebsstaat“ formt. Dieser repräsentiert nicht eine „Klasse“ oder das „Volk“, sondern die „wesentlichen Sphären der Gesellschaft“.116 Der „Betriebsstaat“ ist einer der idealen Typen Max Webers.117 Er ist aber auch in dem „nach Art des Syndikats“ organisierten Staat Lenins und im „totalen Staat“ C. Schmitts angesprochen. Er versteht sich von der „Produktion“ her. Der heutige Staat trifft sich mit ihm in einem Grad an Vergesellschaftung, in einem Stand der Produktivkraftentwicklung, der bereits weit jenseits der freien Konkurrenz und der ihr entsprechenden juristischen und staatlichen Verhältnisse und Institutionen gelegen ist. Er ist geprägt durch den Drang, die objektiv und zugunsten der „organischen“ Natur wirkenden Schutzmechanismen, das „Reich der Gesetze“, auszuhebeln und beiseitezuschieben. Unter diesem Gesichtspunkt wird der „unerhörte[n]“, „leider“ mit Entrechtung des Einzelnen gepaarten ökonomischen „Effizienz“118 des Nationalsozialismus, manchmal auch 114 Ch. Taylor, Hegel, a. a. O., S. 597. 115 C. Schmitt (GL, S. 77 ff.) unterscheidet zwischen „rationalistischer“ Diktatur (als solche sieht er die „Diktatur des Proletariats“ an) und einer Diktatur auf Grundlage einer „Irrationalitätsphilosophie“ (Zentralbegriff: der „Mythos“). Als markanten Vertreter führt er den Franzosen George Sorel an. Den italienischen Faschismus sieht er als Form der irrationalen Diktatur. 116 § 311/Anm. Rph. 117 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen 1972, S. 30 u. S. 825. 118 Ein Beispiel dazu: Im Vergleich zu 1932 (= 100 %) stieg der Umsatz der Daimler Benz AG auf 659 % im Jahre 1938 (s. H. Mauersberg, Deutsche Industrien im Zeitgeschehen eines Jahrhunderts, Stuttgart 1966, S. 434). Heute verlocken bereits wesentlich geringere Zuwächse zu Produktionsverlagerungen in alte und neue Diktaturen. Wer weiß, was unsere Autoindustrie alles in

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der (kurzzeitigen!) sowjetischen Entsprechung gedacht. Und heutige „Betriebsstaaten“ werden gerne in Anspruch genommen, um nach dorthin die Produktion zu verlagern. Diesem Typus ist also wesenseigen, dass er eine „Bestimmtheit“ der bürgerlichen Gesellschaft, die „Produktion“, herausgreift und von ihr aus den Staat entfaltet. Der sowjetische Staatskapitalismus unter Stalin kam ihm besonders nahe. Im Nationalsozialismus ist diese Seite ebenfalls vorhanden, wird aber überlagert durch eine irrationale „völkische“ Gemeinschaftlichkeit. Mit Hegel hat der „Betriebsstaat“ nichts zu tun. Dieser wäre in seinen Augen vielmehr ein „negativ Absolutes“.119 Resultat nicht einer „verständigen“ Entwicklung, sondern Resultat einer Ungeduld, die auf die Spitze treibt und beim Entgegengesetzten endet.120 Er liegt ebenso außerhalb des „Konkreten“ und „Wahren“, wie ein heutiger Staat, der glaubt, die bürgerliche Gesellschaft sich selbst überlassen zu dürfen, und damit verkennt, dass sie mehr denn je zur Auflösung tendiert und deswegen „durch Unterordnung unter die Forderungen der … Gemeinschaft, des Staates, in Zaum gehalten werden“ muss.121 Beide Extreme wären für Hegel „unwahre“ Staaten. Indem das dialektische Innenverhältnis, auf dem sie beruht, Schritt für Schritt zugunsten einer Seite: der Produktion, der (mit ihr verbundenen) Größen „Direktion“ und „Plan“ außer Kraft gesetzt wird, entzieht sich die bürgerliche Gesellschaft dem „Sittlichen“. Sie formiert sich zu einer Gestalt, mit der eine neue Qualität von Staat und Recht in Verbindung steht. Grundzüge dieser neuen Gestalt sind:

•• Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird ersetzt durch eine der innerbetrieblichen Art;

•• die Dialektik von Gebrauchs- und Tauschwert wird zugunsten des Tauschwerts verschoben; in den Vordergrund tritt die Produktion abstrakter Gebrauchswerte; der Gebrauchswert verliert seine Korrektivfunktion; •• die die bürgerliche Gesellschaft früher prägende Anarchie wird abgelöst durch den „Plan“ (der nicht „Bewusstheit“ verkörpert, sondern „Willkür); •• das echte, auf das „Reich der Gesetze“ Bezug nehmende Gesetz wird zunehmend denaturiert durch die „Maßnahme“;

Kauf nähme, verspräche ihr jemand glaubhaft die damaligen Profite und Umsätze. S. auch: W. v. Simson, Die Deutschen und ihr Rechtsstaat, in: Der Staat 1982, S. 97 (bes. S. 97 u. S. 105). 119 Hegel, NR, S. 459. 120 Vgl. dazu: § 80/Zus. Enz. 121 Ch. Taylor, Hegel, a. a. O., S. 573.

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•• der Wirkungsraum des Vertrages wird ersetzt durch die „Direktion“; •• die Nationalökonomie wird zur Betriebsökonomie. (Wobei „ersetzen durch …“ nicht quantitativ, nicht mengenmäßig zu verstehen ist, sondern als „umwandeln“ des einen in das andere.) „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist“, heißt es bei Marx.122 Der per Revolution „künstlich“ (1917 und/oder 1933) herbeigeführte Umschlag führt quasi über Nacht vom einen zum anderen Zustand, von der „bürgerlichen“ zur „totalen“ Gesellschaft; der in der Zukunft liegende „Endzustand“ der unorganischen Natur wird über sie antizipiert und „gegenwärtig“ gemacht. Wir sollten aber die Augen nicht davor verschließen, dass alle modernen Industriegesellschaften sich tendenziell auf ihn zu bewegen. Das Problem aber ist, dass unterhalb des Umschlags, potenziert durch ein individualistischpositivistisches Weltbild, die Deutung, die Einordnung der Prozesse auf mannigfache Schwierigkeiten stößt. Den im Aufsteigen Begriffenen fehlt eben noch der Überblick, den der Gipfel bietet. Die Andeutungen auf das „Höhere“ sind dann aber nicht mehr so oder so oder noch anders interpretierbar, wenn das „Höhere“, auf das sie zugehen, bekannt ist. Einen Riecher hierfür hatte Keynes. Er erkannte, was die deutsche Kriegsplanwirtschaft, das faschistische Italien und das bolschewistische Russland an Allgemeingültigem, an Zukünftigem auch für die anderen Gestaltungen der „produzierten“ Natur enthalten und vorleben; was sie der in der Krise befindlichen bürgerlichen Gesellschaft zu sagen haben. Er scheut sich nicht, davon zu lernen.123 Der reale Sozialismus, der mit besonderer Konsequenz „totaler“ („Betriebs“-) Staat war und die Struktur und die Prinzipien der Unternehmung zur Staatsverfassung erhob, sollte daher als das erkannt und genutzt werden, was er nach seinem ruhmlosen Austritt aus der Geschichte auf jeden Fall geblieben ist: eine 122 Marx, GR, S. 26. 123 J. M. Keynes, On Air. Der Weltökonom am Mikrofon, Hamburg: Murmann Verlag 2008, Abdruck in der FAZ vom 19.2.2009, S. 13: „Es liegt eine neue Idee in der Luft. … Genannt wird sie Planung – staatliche Planung, etwas, wofür wir noch vor fünf Jahren im Englischen nicht einmal ein gebräuchliches Wort hatten.“ Keynes steht für jene Art von „Planung“, die mit dem heutigen, schon längst an seine Grenzen gestoßenen Staatsschuldensystem in Verbindung steht. Durch Vorwegnahme der Zukunft ist auf diese Weise für einige Jahrzehnte die Glücksverheißung der bürgerlichen Gesellschaft eingelöst worden. Leidtragende: Die in dieser Zeit hemmungslos geplünderte Natur und die uns nachfolgenden Generationen, denen die „Rechnung“ hierfür präsentiert werden wird, die also diese Vorwegnahme werden teuer bezahlen müssen.

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einzigartige Erkenntnisquelle! Seine Theorie und Praxis ist enger mit dem Heute verwandt, als wir zugeben wollen. Sein Untergang ist Resultat einer völligen Missachtung des Sittlichen. Er kann aber kein Anlass zu hämischer Freude sein, er hat nicht zum „Ende der Geschichte“ geführt, weil unser heutiges System ebenso, wenn auch in einer verdeckteren Form, auf die Entsittlichung zusteuert. Er markiert eher den Anfang vom Ende. Der reale Sozialismus war nichts anderes als das schwächste Kettenglied einer prinzipiell (ökonomisch, politisch, staatlich-juristisch) einheitlichen Welt. Er endet als ein aus dem Feld geworfener Mitbewerber, dessen Schicksal das Unsrige lediglich antizipiert. Er war deswegen schwach, stand deswegen auf tönernen Füßen, weil er (wie C. Schmitt) dem Extrem huldigte, weil er auch die Reste der Konkurrenz, des Marktes, der Anarchie rigoros beiseiteschob, sich damit deren korrigierender und stabilisierender Wirkung begab und ungebremst und unkontrolliert auf den ökonomischen und politischen Kollaps zutrieb. Begreifen wir ihn als (modellhaft) auf die Spitze getriebenen Kapitalismus und sezieren wir ihn und seinen Staat unter diesem Aspekt, so ergeben sich Aufschlüsse auch auf seine – im Hinblick auf den (formalen) Vergesellschaftungsgrad – „niederen“ bzw. davorliegenden Phasen, d. h. auf unser Heute. Auch das „Dritte Reich“ ist – wie schon erwähnt – trotz seiner Andersartigkeit in vielen und nicht unwesentlichen Bereichen unter diesem Aspekt ergiebig. Begreift man es mit E. Fraenkel als „Doppelstaat“124, so sollte man sehen, dass dessen verbrecherische Irrationalität im Politischen von nicht unbedeutenden Teilen der Wirtschaft als ökonomisch segensreich angesehen wurde und es für sie auch war. Die Wirtschaft in den Blick genommen, führt also auch von ihm ein unübersehbarer Weg zum Heute.125 Von beiden Extremen ist es also möglich, jenen Staat und jenes Recht auf den Begriff zu bringen, der/das sich, diesmal im Gewand von „Freiheit“ und „Demokratie“, unterhalb der Extreme, sich ihnen aber tendenziell annähernd, immer machtvoller und sichtbarer aus dem Unterholz erhebt, aber mit dem vom philosophischen Positivismus bereitgestellten Rüstzeug nicht aufgespürt werden kann, wohl auch nicht aufgespürt werden soll. Ihr gemeinsames Merkmal ist die „Unsittlichkeit“ – zu verstehen als bedingungsloses Bekenntnis zum „Produktionsprinzip“. 124 E. Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt a. M. 1974, insbes. die Ausführungen auf S. 203 ff. zu den ökonomischen Grundlagen des Dritten Reiches, die grundsätzlich diejenigen sind, die die Weimarer Republik und später die BRD prägen. 125 S. dazu: H. Dreier, Rechtszerfall und Kontinuität. Zur asynchronen Entwicklung von Staatsrecht und Wirtschaftssystem in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Der Staat 2004, S. 235 ff.

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Wir driften auf den totalen Gesellschaftsstaat zu, der, von „Großaktionären“ beherrscht, sich als deren „Selbstschutzanstalt“126 versteht bzw. von ihnen so verstanden wird. Mit ihm kann die Menschheit nicht überleben. Daher dringend gesucht: der sittliche Staat. Der Staat, der die Interessen beider Naturen vertritt. Der Staat, der mehr ist als „bürgerliche Gesellschaft“ und „Person“. Der Staat, der nicht ihr Spielball und Handlanger ist, sondern der den Mut hat, „in jedem Notfall, wo die Existenz des Ganzen kompromittiert ist, vollkommen tyrannisch zu verfahren“127. In der Philosophie Hegels ist er angelegt; seine „Rechtsphilosophie“ handelt von ihm. Er ist kein feudales Relikt; er ist aktueller denn je. Das Nachstehende versteht sich daher als ein Plädoyer für einen längst Totgesagten.

126 W. Kersting, Politik und Recht, a. a. O., S. 407. 127 Hegel, JRPh, S. 259 – zitiert bei W. Kersting, Politik und Recht, a. a. O., S. 428.

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Kapitel I Vom „Gemeinwesen“ zu „Staat“ und „bürgerlicher Gesellschaft“ I.1 Aufhebung oder Transformation? (Der Zusammenhang von „System“ und „Methode“) Hegels Ausgangspunkt ist das feudale Gemeinwesen. Über Zünfte und Korporationen, über ein tief gestaffeltes System von Privilegien und Abhängigkeiten, kurz: über „Blut“ und „Boden“ sind in ihm „Organisches“ und „Unorganisches“ miteinander verschweißt und zur Einheit verbunden. Doch nun ist seine Zeit vorbei. Die Revolution bricht diese Einheit auf. Sie vernichtet „alle historischen Verbände, welche unter dem ancien regime sich zwischen das Individuum und die Staatsgewalt drängen[,] vollständig“128. Sie befreit das darin gefangene „Unorganische“ von seinen Fesseln, setzt jene „produzierte“ Natur frei, die Hegel später „bürgerliche Gesellschaft“ nennen wird. Dieser Natur gelten alle Sympathien der Aufklärer. Sie und ihre Freiheit werden ihr Gegenstand. Anders Hegel. Er stellt den Untergang des Gemeinwesens nicht infrage. Dessen historische Mission ist beendet. Kein Weg führt zu ihm zurück. Die Befreiung der „produzierten“ Natur ist unumkehrbar. Und doch ist das für Hegel nur die halbe Wahrheit, oder, wie er es ausdrückt, „eine Annäherung an sie“, „eine moderne Halbheit“129, weil die Entwicklung nur verfolgt und interpretiert wird auf dieser einen Ebene. An die Stelle der bisherigen „Einheitsnatur“ scheint die bürgerliche Gesellschaft zu treten. Eine Gestalt scheint die andere abzulösen. Er begnügt sich nicht mit diesem Schein. Das feudale Gemeinwesen verklammerte schließlich zwei Naturen. Also fragt er: Was geschieht mit der anderen? Welches Schicksal erleidet sie? Welche politische Bedeutung kommt ihr jetzt zu? Auch die „organische“ Natur steht ja nun außerhalb des früheren „Gemeinwesens“. Aber im Unterschied zur „produzierten“ bleibt sie jetzt als politische Größe unbeachtet – eine Folge dessen, dass nur an die „Äußerlichkeit der Erscheinung“ angeknüpft wird, um diese für seine „Substanz … zu nehmen“.130 Wer 128 G. Jellinek, Die Entwicklung des Ministeriums in der constitutionellen Monarchie, in: Grünhuts Zeitschrift für öffentliches und privates Recht 10 (1883), S. 311. 129 § 31/Anm. Rph. 130 § 258/Anm. Rph. „Äußerlichkeiten“ wie: Militarismus, zentraler, mit dem Absolutismus verknüpfter bürokratischer Apparat. Für beides bestand in dem „militärisch relativ gesicherten und

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so vorgeht, warnt er, verliert zwangsläufig aus dem Auge, was für ihn zu den Koordinaten seines „Systems“ gehört. „Begrifflich“ gesehen, geschieht dies: Auf der Ebene der „Einzelheit“ zerfällt der (feudale) Mensch131 in a) das moralische „Subjekt“, dem das „abstrakte Gute“, und b) die juristische „Person“, der das „abstrakte Recht“ zugrunde liegt. „Der“ Mensch bleibt nur noch als „Leiblichkeit“ erhalten, als das Zuhause für sein „ungeteiltes äußeres Dasein“, als die „reale Möglichkeit alles weiter bestimmten Daseins“.132 Auf der Ebene der „Besonderheit“ zerfällt die bisher tonangebende Wirtschaftsfamilie in a) die bürgerliche Kleinfamilie und b) die Unternehmung. Zugleich weitet sich die „Oikos-Ökonomie“ zur Nationalökonomie. Auf der Ebene des Allgemeinen zerfällt das feudale Gemeinwesen in a) den „substanzhaften“ Staat133 und b) die bürgerliche Gesellschaft. Dabei geht das „Volk“ verloren und wird reduziert auf den engeren Begriff der „Nation“.134 politisch früh zentralisierten Inselstaat“ kein politisches Bedürfnis (O. Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen I: Staat und Verfassung, Göttingen 1962, S. 365). 131 S. dazu: §§ 35/Zus., 105, 190/Anm. Rph. 132 § 47 Rph. 133 Also nicht nur die bürgerliche Gesellschaft tritt jetzt in die Geschichte ein, sondern auch der Staat. Darauf weist C. Schmitt (Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, in: Ders., VA, S. 375 ff.) hin. Erst jetzt, mit Zerfall des feudalen Gemeinwesens, tritt der Staat auf, tritt in der Gestalt des absolutistischen Staates in die Geschichte ein. Es führt von daher zu falschen Ergebnissen, wenn der Begriff „Staat“ (oder auch der Begriff „Gesellschaft“) von hier aus nach „hinten“ verlagert wird und zur Charakterisierung z. B. der antiken Gemeinwesen herangezogen wird. 134 Entschieden wendet sich Hegel daher gegen die herrschend gewordene Meinung, dass nunmehr das Volk an die Stelle des Verlorenen zu setzen sei. „Als ob das Volk das Ganze wäre“, rügt er. Nur „ein Kunstgriff des bösen Willens“ macht es dazu (VPhG, S. 67).

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Die ehemaligen Ausgangsgrößen „Mensch“, „Familie“ und „Volk“ werden zu „Allgemeinbegriffen“, denen eine politische Bedeutung abgeht. Da der „Zerfall“ in Wahrheit eine „Aufhebung“ ist, ein Vorgang, der das Gemeinwesen nicht lediglich vernichtet, sondern es auf neuer Grundlage wiederherstellt, konzentriert Hegel sich auf die Frage, welche Gestalt es jetzt annimmt. Seine Antwort: Das „Wiederherstellen“ erfolgt nun, da es „seine Unmittelbarkeit verloren“ hat135, im Geistigen. Eine „Welt der Freiheit“ ersteht, die ebenso Wirklichkeit ist, wie es die des untergegangenen feudalen Gemeinwesens war. Auch in ihr werden beide Naturen, die der „Zerfall“ scheinbar zu Totalitäten macht und die sich scheinbar „für sich konstituieren“, zusammengeschlossen. Sie sind darin als „relative Totalitäten“ anerkannt und werden insoweit Momente eines Begriffs, der zusammen mit ihnen „offenbar“ wird. Dieses Offenbargewordene, diese Wirklichkeit des „objektiven Geistes“136 birgt die neue Gestalt. Als selbstständige Realität137 liegt sie seiner „Rechtsphilosophie“ zugrunde; ohne sie ist diese nicht zu verstehen. Meine These, die ich von Hegel her formuliere, ist also die: Bei einer bloßen Ersetzung des „Gemeinwesens“ durch die bürgerliche Gesellschaft gerät eine der beiden Naturen aus dem Blick, und zwar jene, die ich durchweg als „organische“ oder „primäre“ bezeichne. Und damit das „Naturprinzip“, wie Hegel formuliert. Die Folge: Soweit der Staat daran gekoppelt war, scheint er nun substanzlos und überflüssig geworden zu sein; scheint er „in der Luft“ zu hängen. Die bürgerliche Gesellschaft setzt nur eine Natur fort, mithin: auch nur den auf sie bezogenen Staatsteil. Während die Philosophie der Aufklärung diesen Bruch mit der „primären“ Natur abgesegnet hat, vereinigt Hegel nun beide Naturen, „Produktionsprinzip“ und „Naturprinzip“, in seinem „objektiven Geist“. Dieser ist „Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit“.138 „Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts“, sagt er. Das Aufgehobene ist „ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit“ – oder, wie wir auch sagen können: seine „Gestalt“ – „verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist“139. Dieses mittelbar gewordene Gemeinwesen nimmt die politische Gestalt „konstitutionelle Monarchie“ an. 135 Hegel, WdL (S), S. 101. 136 Seinen Studenten erläutert er: Auf dieser Ebene setzt sich das Gemeinwesen fort. Nicht mehr auf die alte Weise, über „Blut“ und „Boden“, sondern auf eine Weise, „die Geist ist, von den Individuen empfunden oder gewusst“ (§ 157 Rph-A). 137 Vgl. § 141 Rph. 138 Hegel, WdL (S), S. 41. 139 Ebd., S. 101; s. hierzu auch: N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, II. Teil: Hegel, Berlin, Leipzig 1929, S. 174.

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Zur „Aufhebung“ gelangt nur, wer historisch und logisch zugleich vorgeht. Zu ihr gelangt hingegen nicht, wer den zu untersuchenden Prozess nur „logisch“ oder nur „historisch“ betrachtet. Dann ist ein falsches Ergebnis vorprogrammiert; der „Zerfall“ wird End- und Ausgangspunkt. Deutlicher: seine Erscheinungsformen. Dass das Zerfallene auf neue Weise zusammengeführt wird, entzieht sich solcher Betrachtung. Die Folge: Da die Repräsentanz der zur Seite geschobenen Natur, der Monarch, jetzt funktionslos geworden scheint, wird er zum „feudalen Restposten“ erklärt. Der Staat scheint insoweit seine Geltung zu verlieren. Was bisher einen Grund hatte, scheint nun „grundlos“ zu existieren und wird als „Überständiges“, als feudales Relikt angesehen. Mit „Grund“ existiert nun nur noch jener Staat, der sich als Geschäftsführung der „produzierten“ Natur versteht – der „Not- und Verstandesstaat“. Die „Gesellschaft“ zum Maßstab gemacht, ist Hegels Staat (und jeder wirkliche Staat, der ihm ähnelt) nun ohne Legitimation. Aus liberaler wie auch aus marxistischer Sicht wird er folglich als „Störgröße“, als „Zwangsjacke“, als „Machtstaat“140 angesehen und verworfen. Er ist jetzt ganz einfach „ein Staat zu viel“.141 Wir sind bei seiner Methode142. Hegel stellt sie uns in der „Vorrede“ und in den einleitenden Paragrafen seiner „Rechtsphilosophie“ vor. Das zentrale Begriffspaar, das uns dort begegnet, ist jenes von „Begriff“ und „Gestalt“, den „zwei Seiten“143 jeder Wirklichkeit. Deutet man den „Zerfall“ des feudalen Gemeinwesens als bloße Transformation der „Gestalt“, wird der geistig zu erschließende „Begriff“ (hier: der Begriff der „produzierten Natur“144) übersehen bzw. ignoriert. Damit geht das Verständnis für die Tragweite des mit dem „Zerfall“ verbundenen geschichtlichen Wendepunktes verloren. Wenn also nur der „Gestaltwandel“ Beachtung findet, ist damit der Weg geebnet, das Wesen 140 H. Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Leipzig, Berlin 1921, S. 65. 141 Führt man diesen Staat auf seinen Grund zurück, ergibt sich daraus notwendig eine andere Bewertung des „Bonapartismus“. Er wird dann sichtbar als in seinem Wesen verkannter, zur Durchsetzung von Sonderinteressen missbrauchter bzw. instrumentalisierter Konstitutionalismus, dessen Grund statt in der „organischen“ Natur in den noch nicht in Richtung Bourgeoisie und Proletariat aufgelösten Teilen des (ehemaligen) Volkes gesehen wird – z. B. in den „Parzellenbauern“, auf die sich der zweite Bonaparte stützte (vgl. MEW 8, S. 198). 142 Von ihr sagt er, dass sie in seinem Kompendium „das Leitende ausmacht“ (Rph, S.  12 [Vorrede]). 143 § 1/Zus. Rph. 144 Für Hegel der „Anfangspunkt“ einer wissenschaftlichen Betrachtung des Rechts, da er „das Resultat und die Wahrheit von dem ist, was vorhergeht“, und dem Beweis dessen dient, was jetzt die Novitäten des Rechts ausmacht (§ 2 Rph).

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dieser „Gestalt“ zu verkennen. Gewonnen wird eine „wesenlose Erscheinung“145, deren begriffliche Seite ersetzt wird durch das „Gefühl und die Vorstellung der Menschen“.146 Mit der Folge, dass bei „dieser Methode … das, was allein wissenschaftlich wesentlich ist[,] … beiseite gestellt“ wird.147 Und am Ende steht, dass Staat und bürgerliche Gesellschaft miteinander verwechselt werden. Einmal wird übersehen, dass das Recht als Derivat der „produzierten“ Natur lediglich Regulativ für diese Teilordnung sein kann. Zum anderen gerät die zur Seite gestellte „organische“ Natur als politische Größe aus dem Blick. Die Dialektik aus dem Feld zu werfen, sie als Erkenntnismittel ungenutzt zu lassen, bedeutet also, „den Wald vor Bäumen nicht zu sehen“148. Nur noch die bürgerliche Gesellschaft und ihr „Not- und Verstandesstaat“ scheinen legitimiert zu sein. Ein Vorgang, der tatsächlich dreidimensional zu sehen ist, wird „platt“ gemacht, stellt sich, betrachtet von der Seite seiner Erscheinungen, dar als linear verlaufender Prozess, als bloße Ersetzung des einen durch das andere. Profiteur ist die „produzierte“ Natur, die dadurch als die einzige Existenzweise des Menschen erscheint. Und eine Korrektur oder gar Heilung tritt nicht ein, wenn nun an die Stelle der zur Seite geschobenen Natur das „Volk“ gesetzt wird, weil damit lediglich der Schein eines Ganzen errichtet wird. Es bleibt dabei: Die eigentliche, die primäre Natur wird „rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf[,] als Macht für sich anerkannt zu werden“.149 Ändert sich das nicht, ist das der Anfang von ihrem Ende. Die eng mit seinem „System“ verbundene Begriffsdialektik Hegels wird bekanntlich vom Marxismus als „Begriffshuberei“ verworfen.150 Für ihn ist die „wirkliche Welt“ das, was jeweils aus „Natur und Geschichte“ in Erscheinung tritt – als Sklavenhalterordnung, als feudales Gemeinwesen, als bürgerliche Gesellschaft. Die „logische“, auf den Begriff bezogene Seite der Dialektik, kritisiert als „Selbstbewegung des Begriffs“ und „ideologische Verkehrung“151, ist damit beiseitegeschoben. Zur Begründung liest man bei Engels, dass damit die Fokussierung der dialektischen Methode auf die „Untersuchung der Dinge als gegebener fester Bestände“152 zugunsten einer Orientierung an dem Entwick145 § 1/Anm. Rph. 146 § 2/Anm. Rph. 147 Ebd. 148 Rph, S. 14 (Vorrede). 149 Marx, GR, S. 313. 150 S. dazu: MEW 21, S. 291–306 (hier bes. S. 293). 151 Ebd., S. 292. 152 Ebd., S. 294.

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lungsprozess beendet ist. Aber für Hegel bilden das Logische und das Historische eine Einheit! Nur beide führen zur Wahrheit und zur Wirklichkeit. Am Beispiel des feudalen Gemeinwesens: In ihm sind, letztmalig in der Geschichte, beide Naturen in einer (politischen) Gestalt zusammengeschlossen. Aber „begriffslogisch“ betrachtet, begleiten beide den Menschen/die Menschheit vom ersten bis zum letzten Tag und machen sein/ihr Schicksal aus. Die bürgerliche Gesellschaft, die aus ihm hervorgeht, setzt jedoch nur eine dieser beiden Naturen fort, die „produzierte“; sie ist deren „Gestalt“. Die Frage, was aus der anderen Natur wird, welche (politische) Gestalt sie annimmt, kommt nicht auf. Sie ist nicht mehr Gegenstand der jetzigen „Gesellschaftswissenschaften“. Soweit der Marxismus die dialektische Methode übernimmt, nutzt er sie als „historischen Materialismus“ lediglich zur „Aufklärung“ der Verhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und, davon getrennt, als „dialektischen Materialismus“, zur Aufklärung der Natur. So bereinigt, wird die dialektische Methode zwar „unser bestes Arbeitsmittel und unsere schärfste Waffe“153 bei der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Aber der Preis ist hoch und besteht darin, dass – im Einklang mit dem Positivismus der bürgerlichen Wissenschaft – die primäre Natur vollständig aus dem Bereich des Politischen herausgedrängt und zum bloßen Objekt der Gesellschaft degradiert wird. Was für Hegel die Dialektik zweier Naturen ist, wird für den Marxismus eine „Dialektik von Produktion und Zirkulation“, die später der Ausgangspunkt eines von der „Produktion“ dominierten „Betriebsstaates“ wird. Hätte Hegel ein Urteil zu fällen, würde er sagen: Der Marxismus ist eine Philosophie, die „Bestimmtheiten“154 in den Mittelpunkt stellt. Allerdings andere als die bürgerliche Philosophie, sodass Plattformen entstehen, von denen aus zwei sich konkurrierend gegenüberstehende Haupttypen von „Gesellschaftsstaat“ begründet werden: der liberale, um „Volk“ und „Zirkulation“ zentrierte „Parlamentsstaat“ und der marxistische, um „Proletariat“ und „Produktion“ zentrierte „Betriebsstaat“. „Aufhebung“ oder „Transformation“? Erstere führt zur dualen, beiden Naturen gerecht werdenden Staatskonstruktion Hegels bzw. zu praktischen Lösungen, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts vorherrschend werden. Letztere führt

153 Ebd., S. 293. 154 F. Rosenzweig (Hegel und der Staat, a.  a.  O., S.  186) charakterisiert solches Philosophieren wie folgt: Eine „vereinzelte Gegebenheit, sei es ein Zustand, sei es ein menschlicher Trieb oder Wunsch, [wird] aus der Fülle des Wirklichen herausgehoben und von diesem festen Punkt aus das Gebäude errichtet“.

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in England155, deutlicher noch: in den USA zu einer politischen Organisation, der das deutsche, mehr noch: das hegelsche Verständnis von „Staat“ fremd ist.156 Für Hegel ist die konstitutionelle Monarchie der Staat der Moderne. England hingegen schlägt spätestens seit 1688 einen „Sonderweg“ ein, den O. Hintze 1911 so schildert: „Die Gesellschaft hat hier gleichsam den alten monarchischen Staat verschlungen; sie hat sich selbst politisiert …, sie ist zur ‚political society‘ geworden, mit der Krone als dekorativem Element.“157 Grundfalsch, diesen Weg zu übernehmen. Denn dabei bleibt der Staat auf der Strecke. Der „Willkür“, charakteristisch für die bürgerliche Gesellschaft, ist Tür und Tor geöffnet. Gerade auch das „erschreckende englische Anschauungsmaterial“, in das Hegel sich vertieft, „belehrt“ ihn über die „Selbstregulierungsunfähigkeit“158 einer bürgerlichen Gesellschaft, der der „sittliche Rahmen“ fehlt, und ist wichtiger Anstoß für seinen „Konstitutionalismus“. Für Marx hingegen ist England der Fortschritt schlechthin. Und Deutschland ist es, das am Feudalismus klebt und einen Sonderweg beschreitet, der in puncto „Staat“ durch einen „Bonapartismus“ bzw. „Scheinkonstitutionalismus“159 charakterisiert ist. Was sonderbar anmutet: Hegels Denken ist Höhepunkt einer Philosophie, von der kaum jemand sagt – auch Marx/Engels nicht –, sie sei ein philosophischer „Sonderweg“.160 Die Gültigkeit seiner Ergebnisse sehe ich nirgends grundsätzlich infrage gestellt. Heute noch weniger als in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Schon von daher lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob es richtig ist, einem 155 Vgl. hierzu: E. Vollrath, Hegels Wahrnehmung Englands (HS, Beiheft 35), Bonn 1995, S. 191 ff. Vollrath benutzt die Begriffe „Aufhebung“ und „Transformation“ nicht. Aber er schildert plastisch die Ergebnisse, die aus einer Sichtweise resultieren, der einmal „Aufhebung“, ein andermal „Transformation“ zugrunde liegt. Er spricht stattdessen von der Apperzeption der politischen Organisation unter dem Aspekt „Staatsgesellschaft“ (Hegel) bzw. „Zivilgesellschaft“ (bei den Engländern). 156 Bis heute ergibt sich daraus, dass „der Assoziationsraum eines deutschen Juristen beim Hören des Wortes ‚Staat‘ ein jedenfalls teilweise anderer ist als der einer amerikanischen Kollegin, die das Wort ‚state‘ hört“ (Chr. Möllers, Der vermisste Leviathan, Frankfurt a. M. 2008, S. 9). 157 O. Hintze, Das monarchische Prinzip …, a. a. O., S. 364. 158 W. Kersting, Polizei und Korporation in Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, in: HJ 1986, S. 373 f. 159 Vgl. dazu F. Engels, Zur Wohnungsfrage, in: MEW 18, S.  259. Selbst die Tatsache, dass der preußisch-deutsche Staat des 19. Jahrhunderts mehr „Sozialität“ praktiziert als der englische, gereicht ihm nicht zum Vorteil. Engels (ebd., S. 258): „Ein solcher Staat kann allerdings manches, was ein Bourgeoisstaat nicht kann; von ihm kann man auch auf sozialem Gebiet ganz andere Dinge erwarten.“ Trotzdem aber, wer von solcher „Sozialität“ aus urteilt: „Das ist die Sprache der Reaktionäre.“ 160 S. dazu: L. Siep, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt 1992, S. 15.

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ihrer Teile, der Staatsphilosophie, den Ruch einer „Irrlehre“ anzuhängen. Warum sollte Hegel ausgerechnet hier „irren“? Noch dazu, wenn mittlerweile feststeht, dass seine „konstitutionelle Monarchie“ nicht eine „Erfindung“ ist, mit der er sich bei seinem preußischen Dienstherrn bezahlt machen wollte, sondern seit ca. 1806 fester Teil seines „Systems“ war.161 Nachstehend soll anhand der Sichtweisen von Hegel und Marx auf England der Unterschied zwischen Hegel einerseits und dem Liberalismus und auch dem Marxismus andererseits gezeigt werden.

I.2 Wege und Sonderwege zum modernen Staat I.2.1 „Seht nach England herüber …“ (England im Urteil von Hegel und Marx) K. A. Varnhagen von Ense am 26.12.1826: „Des Professors Hegel Ansehen in England nimmt noch immer zu; die Ministerien glauben in seiner Philosophie eine ganz legitime staatsdienerische, preußische zu besitzen und zu handhaben. Wie viel Freiheit, Konstitutionssinn, Vorliebe für England in dieser Richtung lebt und wirkt, ahnden sie nicht.“162

„Seht nach England herüber“, empfiehlt Marx dem Franzosen Bastiat, der, wie viele andere seiner Zeit, eine ahistorische Vorstellung von „Wirtschaft“ entwickelt und im Rahmen dessen zum Beispiel die „Staatseinmischung“ ablehnt. Der Amerikaner Carey, ein Zeitgenosse Bastiats, tut dies zwar auch, aber ihm werden „mildernde Umstände“ zugebilligt. Denn während der Franzose die „Staatseinmischung“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ablehnt, endet „Carey …, dessen Ausgangspunkt die amerikanische Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat [ist], … mit dem Postulat der Staatseinmischung“163. Ersterer dagegen starrt auf die – staatsfreie – „freie Konkurrenz“, erhebt damit einen Augenblick zum Dauerzustand, idealisiert ihn, will ihn für ewig festgeschrieben wissen. Beide gehen „gleich unhistorisch und antihistorisch“ an die 161 S. auch dazu: Ebd., S. 287. 162 Zitiert bei: N. Waszek, Auf dem Wege zur Reformbill-Schrift, in: Politik und Geschichte (HS, Beiheft 35), Bonn 1995, S. 177. 163 Marx, GR, S. 845. Emanzipation der dortigen bürgerlichen Gesellschaft vom englischen Staat: An dessen Stelle wird ein durchaus gleichartiger amerikanischer Staat gesetzt, wenngleich ohne König. Die Emanzipation führt also nicht zu einer prinzipiell anderen Staatsform, sondern knüpft eng an die englische an.

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Sache heran.164 Bastiat, weil er den „römischen“ Staat als den Staat begreift, welcher der bürgerlichen Gesellschaft adäquat ist, und diesen dazu noch dem feudalen gegenüberstellt. Carey, weil dieser überhaupt nicht zurückschaut und sich allein auf den gegebenen Staat bezieht, der allerdings (und das macht den Unterschied aus) in den USA sofort als kapitalistischer Staat zur Entstehung gelangt. Von Bedeutung ist aber, dass der US-Verfassung ein „merkantiler“ Kapitalismus zugrunde liegt, nicht jener der „freien Konkurrenz“.165 Das führt zu jeweils anderen Folgen des Ahistorismus. Denn dieser Sonderfall gewährleistet von vornherein die Bewegung des Kapitals „innerhalb [von] Bedingungen, die keinen aufgelösten Vorstufen angehören, sondern seine eigenen Bedingungen sind“166. England ist der Maßstab. Für Marx ist es das fortgeschrittene Land. Am dort erreichten ökonomischen und politischen Niveau führt kein Weg vorbei. In puncto Modernität wird es aus seiner Sicht nur übertroffen von den USA. Von hier zum Kommunismus führt der direkte Weg. Wie die Liberalen auch, akzeptiert er nur die bürgerliche Gesellschaft als Seinsform. Der Staat ist als „Überbau“ ihr Bestandteil – und nicht eine außer ihr liegende Größe. Der „Gesellschaftsstaat“ ist der zeitgemäße Staat. Was für Hegel als bloßer „Not- und Verstandesstaat“ lediglich „Teilstaat“ ist, eingebettet in den eigentlichen, den sittlichen, den politischen Staat und diesem untergeordnet, ist für ihn der ganze Staat. Damit ist der für Hegel wesentliche Staat als feudales Relikt verworfen. Im Unterschied zum Liberalismus geht er mit Hegel aber davon aus, dass mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft das Volk als politische Größe „aufgelöst“ ist – aufgelöst in die jetzt tonangebenden „Stände“, bei ihm: in die „Klassen“. Und er teilt (folglich) auch dessen Auffassung, dass die Demokratie nur noch „historischerweise“ von Interesse ist und keine Staats- bzw. Herrschaftsform der Moderne sein kann.167 Und Hegel? Wie sieht er England? 164 Ebd., S. 848. 165 C. J. Friedrich (Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1953, S. 571) weist auf den vorliberalen, „merkantilen“ Charakter der US-amerikanischen Verfassung hin: „[D]en Vätern der amerikanischen Verfassung [schwebte] ein ganz bestimmtes Gesellschaftsideal vor, und es handelt sich dabei nicht einfach um eine freie Marktwirtschaft, sondern wenigstens bis zu einem gewissen Grade um eine merkantilistisch gelenkte Wirtschaft.“ 166 Marx, GR, S. 544. 167 Deshalb seine Kritik an der „Volksstaat“-Illusion des Gothaer Programmentwurfs der SPD, überhaupt an der „alten, weltbekannten demokratischen Litanei“, die „bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei“ ist (MEW 19, S. 29).

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Unbestritten ist, dass dieses zeit seines Lebens für ihn „der Zielpunkt lebendigen Interesses“ ist.168 Schließlich sind die dortigen ökonomischen Verhältnisse jenen Deutschlands weit voraus. Längst hat sich dort jene bürgerliche Gesellschaft etabliert, die sich in Deutschland erst Bahn zu brechen beginnt. Und erst das Studium der englischen Ökonomen befähigt ihn dazu, sie auf den Begriff zu bringen. Aber es ist wiederum sein spezifischer philosophischer Ansatz, der es ihm ermöglicht, sie in einer Weise zu erfassen, die sich weit über ihr Verständnis im Ursprungsland England erhebt. Obwohl auch Marx/Engels die englische politische Ökonomie und die deutsche idealistische Philosophie zu ihren Quellen rechnen, besteht ein großer Unterschied darin, wie beide Größen zusammengeführt werden. Weil Hegel von zwei Seinsformen ausgeht, dessen eine, die primäre, die „organische“ Natur, sich im politischen Staat zu „erkennen“ gibt, dessen andere in der bürgerlichen Gesellschaft Gestalt annimmt, Marx/Engels hingegen nur Letztere anerkennen, sind die Weichen in je andere Richtung gestellt. Für Hegel ist die bürgerliche Gesellschaft ein Subsystem, das in ein höher stehendes und übergreifendes System eingeordnet ist. Sie ist notwendig, aber doch nachgeordnet. Die uneingeschränkte Bejahung, für die der Liberalismus steht, aber auch die eingeschränkte Bejahung durch den Marxismus (progressiv bis zur „Ablösungsreife“) teilt er nicht. Aus der Perspektive des Übergreifenden zeigt er ihr Janusgesicht, nähert er sich ihr in Kenntnis ihrer beiden Seiten: fortschrittlich und unvermeidbar zum einen – destruktiv und gefährlich zum anderen. Und bezogen auf den jetzt notwendigen Staat: Dieser ist Staat beider Naturen; er vermittelt den Antagonismus, der zwischen ihnen steht. Er kann deshalb nicht bloß „Not- und Verstandesstaat“ sein und er kann und darf auch nicht „absterben“. Zwar sind Smith, Say, Stewart, Ricardo seine „ökonomischen“ Lehrmeister. Aber während die bürgerliche Gesellschaft jenen das Ganze ist, ist sie für Hegel nur die Hälfte des Ganzen. Das unterscheidet sie. Von hier aus erklären sich die überall deutlich werdenden „gemischten“ Gefühle, die Hegel gegenüber England hegt. Dort ist die bürgerliche Gesellschaft dabei, sich absolut zu setzen. Der Staat verkümmert dort zum reinen Gesellschaftsstaat. Die „organische“ Natur und mit ihr: der politische Staat werden dort um ihre Bedeutung, damit: um ihre Korrektivfunktion gebracht. Vorgänge, die einen Liberalen froh machen, nicht jedoch Hegel. Er sieht darin eine fehlerhafte, ja hochproblematische

168 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 511.

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Entwicklung. Sie ist die Quelle jener „Anglophobie“169, die ihm nicht wenige seiner Interpreten bescheinigen. Und nicht mangelnde Sachkunde leitet ihn. Seine Reformbill-Schrift ist mit „einer höchst respektablen Detailkenntnis“ geschrieben, gesteht Haym, gestehen auch heutige Autoren170 zu. Jedoch aus der Sicht eines, dem „der lebendige Prozess der Freiheit nichts, … die geordnete, wenn auch unfrei, polizeilich geordnete Freiheit Alles ist“171. Ein preußischer Hinterwäldler also, der sich ein Urteil über die Moderne anmaßt. Ein Staatsphilosoph, der sich bei seinem Dienstherrn bezahlt machen will. Wie Haym muss es eigentlich jeder sehen, der vom Boden der bürgerlichen Gesellschaft her urteilt. So auch Marx. Auch er äußert sich zu den englischen „Staatszuständen“ an vielen Stellen sehr kritisch, spricht zum Teil die gleichen Missstände an wie Hegel.172 Aber bei ihm wird immer deutlich, dass er sie dennoch als die unvergleichlich moderneren und auch besseren ansieht, dass ihm nichts ferner liegt, als sie mit den preußischen auf eine Ebene zu stellen. Gemessen an Haym, an Marx/Engels, urteilt Hegel „vom anderen Ende“ her. Nahezu zwangsläufig ist bei ihm eher negativ, was jene positiv veranschlagen. Das englische Recht, kritisiert er, ist in seiner Entwicklung sich selbst überlassen, weshalb es zu einem „weitschichtigen Wust“, zu einem „Augiasstall“ verkommen sei. „England ist … auffallend in den Institutionen wahrhaften Rechts hinter den anderen zivilisierten Staaten Europas … zurückgeblieben“. Viel „Pomp und Lärm“ werde dort um die formelle Freiheit gemacht, während es an „vernünftige[m] Recht“ fehle.173 „Wenig Tiefe der Grundsätze“ sei zu finden.174 Eine „wissenschaftliche Bearbeitung“ fehle. Deshalb sei es auch nicht zu Kodifikationen à la ALR und ABGB gekommen, mit deren Hilfe es den kontinentaleuropäischen Fürsten gelungen sei, „solche Prinzipien wie das Beste des Staates, das Glück ihrer Untertanen und den allgemeinen Wohlstand, vornehmlich aber das Gefühl einer an und für sich seienden Gerechtigkeit zu dem Leitstern ihrer legislatorischen Wirksamkeit zu machen“175. 169 Die er übrigens mit Kant und Rousseau teilt – wenn auch, wie wir noch sehen werden, aus anderen Gründen. 170 S. dazu: W. Steinmetz, Erfahrung und Erwartung als Argumente in Hegels Reformbill-Schrift und in der parlamentarischen Debatte in England, in: Politik und Geschichte, a. a. O., S. 137. 171 R. Haym, Hegel und seine Zeit, Leipzig 1927, S. 456 f. 172 Vgl. z. B. MEW 8, S. 336 ff., 342 ff., 351 ff. 173 Hegel, RB, S. 90 u. S. 104. An anderer Stelle: England sei ein Land, das „in der bürgerlichen und peinlichen Gesetzgebung, dem Rechte und der Freiheit des Eigentums … gegen die andern gebildeten Staaten Europas am weitesten zurück[liegt]“. 174 Ebd., S. 102, 105. 175 Ebd., S. 89.

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Vor einem weitgehend aphilosophischen Hintergrund, auf pragmatische Weise, in Abertausenden Einzelschritten, unter Nutzung der feudalen Formen und Institutionen wandelt sich das feudale Gemeinwesen Englands um in eine bürgerliche Gesellschaft. Mit einem König an der Spitze, dessen Rechte in einem schleichenden Prozess auf die bürgerliche Gesellschaft übergehen. Im Ergebnis kommt es zu einem Verlust an „Staat“, der für Hegel hochproblematisch, für Marx/Engels (und mit ihnen die Vertreter des Liberalismus) aber folgerichtige Übereinstimmung zwischen ökonomischer Basis und staatlich-juristischem Überbau ist. Und weil die Ökonomie modern ist, muss nach der Konzeption der Letzteren auch der politische „Überbau“ Englands modern sein. Der preußische Staat, später: das Deutsche Kaiserreich ist für sie hingegen „nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Besatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“.176 Distanziert, von „der Position des überlegenen Beobachters“177 urteilt Hegel. Zeigt Licht und Schatten. Wägt durchaus sorgfältig ab. Aber am Ende wird dem Leser doch klar, dass das Negative, das Bedenkliche der englischen Entwicklung überwiegt. England wird gewogen und für zu leicht, zu wenig „monarchisch“ befunden. Nicht der König und eine von ihm eingesetzte Exekutive regieren dort, sondern: „Das Parlament regiert, wenn es auch die Engländer nicht dafür ansehen wollen.“178 Aus seinem Mund ein schlimmer Vorwurf. Nach dem Hinweis auf Wahlbetrug durch Bestechung und Stimmenkauf: „Aber auch das heißt Freiheit bei ihnen, dass man seine Stimme verkaufen und dass man einen Sitz im Parlament sich kaufen könne.“ Und was jetzt geplant ist, macht die Sache nicht besser, führt England keineswegs an die konstitutionelle Monarchie heran. Das Gegenteil ist der Fall. Denn was ist mit der Bill gewollt? Die weitere Entmachtung des Monarchen und „die endgültige Verlagerung des Machtzentrums in das Unterhaus“.179 Angezielt ist die Reduzierung der Krone und der mit ihr verbundenen Institutionen auf reine Folklore, auf die Repräsentation eines für tot erklärten Seins. Angezielt ist der – wenige Jahre später dann auch erreichte – „grundlegende politische Systemwechsel“180, der das „Tischtuch“ mit der konstitutionellen Monarchie endgültig durchtrennt. Angezielt ist jener Zustand, den Hegel im Zusatz zu § 258 Rph als den schlimmsten aller Fälle ansieht: die 176 Marx, MEW 19, S. 29. 177 W. Steinmetz, Erfahrung und Erwartung …, a. a. O., S. 127. 178 Hegel, VPhG, S. 602 f. 179 E. Vollrath, Hegels Wahrnehmung Englands, a. a. O., S. 196. 180 M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 177.

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Verwechslung der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat, die Reduktion des Staates und seiner Aufgaben auf Sicherung und Schutz des Eigentums. Der Monarch wird beschränkt auf das ehrende Gedenken an das Frühere, jetzt zu den Akten Gelegte. Die Monarchie wird entmachtet; sie wird als Korrektiv der bürgerlichen Gesellschaft vom Sockel gestoßen. Ch. Taylor kommentiert: „Die Engländer haben ihre Monarchie … entscheidend geschwächt. Sie ist machtlos gegenüber dem Parlament, das der Kampfplatz von privaten Interessen ist. Es gibt keine Hoffnung auf Abhilfe. Das ist der Grund für Hegels Pessimismus.“181 Im heutigen Politologendeutsch: Die dortige „Zivilgesellschaft organisiert ihre politische Verfassung selbst. Sie setzt sich jedenfalls nicht dem Staat als der herrschaftskategorial verfassten Machtordnung gegenüber und entgegen, sondern verfasst sich politisch, sofern sie eben selbst darüber bestimmt, durch wen und wie sie regiert werden soll.“182 Gerade deshalb aber scheint England für Hegel das „Paradigma einer in der Auflösung befindlichen Gesellschaft“ zu sein.183 Der englischen Zivilgesellschaft stellt er daher sein „Konzept der ‚Staatsgesellschaft‘“ entgegen.184 Es steht für die eingebundene und gegen die losgebundene bürgerliche Gesellschaft. Wie weit seine Position von jenen der damals agierenden englischen Politiker entfernt ist, macht Steinmetz mit folgender Bemerkung deutlich: „Hätte Hegel als Redner an der Reformbill-Debatte im Parlament teilgenommen, wäre seine Position mit Sicherheit die exzentrischste in diesem an Exzentrikern nicht armen Kreis gewesen.“185 Hegel reiht Mangel an Mangel. Unter der Rubrik „Verwandlung eines politischen Rechts in einen Geldwert“186 zeigt er, wie, über die Magna Charta, über die Bill of Rights, der Monarchie ihre angestammten Rechte Schritt für Schritt abgetrotzt und abgekauft worden sind. Schon ist sie so gut wie „leergekauft“. Ihre originären Rechte und Zuständigkeiten sind bereits privatisiert und noch weiterer Privatisierung ausgesetzt. Sie ist damit zu einem Repräsentanten herabgesunken, 181 Ch. Taylor, Hegel, a.  a.  O., S.  595. O. Brunner (Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte [3. Aufl.], Göttingen 1980, S. 160) charakterisiert die Lage so: Während der Regierungszeit Georg des V. (1910–1936) wurden „fünf Kaiser, acht Könige und fünfzehn kleinere Dynastien gestürzt … Gesichert erscheint die Monarchie heute … nur in Nordwesteuropa: in Großbritannien, in Skandinavien, den Niederlanden und Belgien. … Sie kann nur bestehen durch die Beschränkung auf repräsentative und formale Funktionen und den Verzicht auf die tatsächliche Ausübung der Regierungsgewalt.“ 182 E. Vollrath, Hegels Wahrnehmung Englands, a. a. O., S. 196 f. 183 Ch. Taylor, Hegel, a. a. O., S. 593. 184 E. Vollrath, Hegels Wahrnehmung Englands, a. a. O., S. 197. 185 W. Steinmetz, Erfahrung und Erwartung …, a. a. O., S. 129. 186 Hegel, RB, S. 88.

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der nichts mehr zu repräsentieren hat. Ihre Rechte sind in „gesellschaftliche“ Hände gelegt. Der Bock ist zum Gärtner gemacht. Sie kann, wenn es darauf ankommt, ihrer „historischen Mission“ nicht nachkommen. Es sei dadurch zu dem jetzigen Zustand gekommen, dass „die Regierungsgewalt in den Händen derjenigen liegt, welche sich im Besitz so vieler einem vernünftigen Staatsrecht widersprechender Privilegien befinden“187. Noch sei der Umbildungsprozess zum „Gesellschaftsstaat“ in vollem Gange. Aber was ist zu sehen? Das geplante Gesetz stoppt ihn nicht etwa oder kehrt ihn gar um, „dass das monarchische Element der Verfassung eine Erweiterung von Macht bekommen sollte“. Im Gegenteil: Sein Einfluss wird durch das Gesetz „noch geschwächt“.188 Alles steuert auf eine Monarchie zu, in der „die Krone das denkbar geringste Maß realer Macht hat“189. Auf England kommt zu, was zu Hegels Bedauern die Franzosen gerade gewonnen haben: der „Bürgerkönig“. Es sei dabei, sich dem gleichen „falschen Prinzip“ zu unterwerfen und preiszugeben, was es sich bisher „mit großen Anstrengungen … [zu] erhalten“ gewusst habe.190 Und das, obwohl schon jetzt die „Schwäche der monarchischen Macht“ Ursache der genannten Missstände ist. Sie ist verantwortlich für die maßlose Verarmung großer Teile der Landbevölkerung gerade im Ergebnis ihrer politischen Befreiung. Die Monarchie hat „über jenen Übergang nicht wachen können“191 – und das Parlament könne und wolle die Monarchie insoweit nicht ersetzen, wie sich gezeigt habe. Also ist „keine Macht vorhanden, um bei dem enormen Reichtum der Privatpersonen ernstliche Anstalten zu einer erklecklichen Verminderung der ungeheuren Staatsschuld zu machen“192, geschweige denn für eine Umverteilung zugunsten der verarmten Bevölkerungsteile zu sorgen. Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Während Marx/Engels im Einklang mit den Vertretern des Liberalismus auch in der politischen Verfassung Englands ein Vorbild sehen, war diese „für Hegel kein Spiegel für die in Deutschland noch zu verwirklichenden Zustände“193. Parlamentarismus englischer Art? Nein, danke! Was Hegel favorisiert, ist ein Mitspracherecht der Stände 187 Ebd., S. 90. 188 Ebd. 189 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. Aufl.), Berlin 1929, S. 680 – bezogen auf den Zustand Anfang des 20. Jahrhunderts. 190 Hegel, VPhG, S. 601. 191 Hegel, RB, S. 101. 192 Ebd., S. 93. 193 W. Steinmetz, Erfahrung und Erwartung …, a. a. O., S. 137.

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im Rahmen einer landständischen Vertretung – ein himmelweiter Unterschied. Das ganze Vorhaben, meint er, zeige in die falsche Richtung. Was er anstatt der geplanten Ausweitung des Stimmrechts den Engländern empfiehlt, ist die Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie. Denn wohin führt der eingeschlagene Weg? Was ist zu befürchten? Er deutet es im letzten, auf Weisung des preußischen Königs nicht mehr gedruckten Teil seiner ReformbillSchrift an: Für so verfehlt hält er das mit der Reform-Bill Bezweckte, dass er eine Revolution für denkbar hält. Aber eine, deren Auslöser ein Übermaß an bürgerlicher Gesellschaft ist.194

I.2.2 Gegenstand lebhaften Interesses: Die politische Organisation Englands Nach Hegels Tod wird auch in Deutschland zum Maßstab, was anderswo, besonders in England und den USA, bereits an „Staat“ real existiert: der „Gesellschaftsstaat“. Es gehört bald zum wissenschaftlichen Standard, dass die deutschen Verhältnisse mit denen Englands, später auch mit denen der USA verglichen werden. Immer häufiger fallen diese Vergleiche nachteilig für Deutschland aus. Bald ist es Mode, das als das „vollendetste Beispiel des modernen Staates“195 anzusehen, was für Hegel als gefährliche Verirrung galt. Für die Zeit um 1845 konstatiert F. J. Stahl: „Die vorherrschende oppositionelle Richtung der Zeit ist nun in Deutschland bewusst oder unbewusst, gegen das monarchische Prinzip gekehrt.“ Orientierungspunkt sei England. Dort werde „das Ideal“ gesehen.196 Es bürgert sich ein, von der „konstitutionellen Monarchie“ als veralteter, ja reaktionärer Staatsform, als Staatsform des Übergangs zu reden, sie als „deutschen Sonderweg“ anzusehen. Die Stimmen, die dagegenhalten, verlieren mehr und mehr an Gewicht. Unaufhaltsam scheint auch die deutsche Entwicklung auf jenen „Gesellschaftsstaat“ zuzutreiben, der in den USA in reiner Form errichtet ist. Immer mehr wird die „Grenzlinie“, die Art.

194 Ein K. Marx, ein R. Haym könnte ihm empört zugerufen haben, was J. Habermas 1966 (Nachwort, a. a. O., S. 365) zu Papier bringt: „In Frankreich wird das Wahlrecht demokratisiert, in England steht eine Wahlrechtsreform vor der Tür.“ Und Hegel? Er „schließt … sein Pamphlet gegen die englische Reformbill mit der beschwörenden Warnung vor der Macht des Volkes und einer Opposition, die verleitet werden könnte‚ im Volke ihre Stärke zu suchen und dann statt einer Reform eine Revolution herbeizuführen“. 195 Marx in der „Deutschen Ideologie“, in: MEW 3, S. 62. 196 F. J. Stahl, Das monarchische Prinzip, in: Ders., Staatslehre, Berlin 1910, S. 224 f.

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57 WSA gesetzt hat, erreicht, überschritten und zu seinen Gunsten neu abgesteckt.197 Parallel dazu erfährt Hegels Staatsphilosophie massive Bedeutungsverluste, ja, wird rundweg zum „monströsesten Gebilde“ der Staatsphilosophie erklärt.198 Der „Gesellschaftsstaat“ zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Und warum sollte nicht auch für Deutschland gut sein, was sich in England oder, noch deutlicher: in den USA bewährt hat? Was spricht gegen eine Übernahme? Eine lebhafte Diskussion setzt ein, deren Beiträge sich in der Idealisierung der englischen Verhältnisse zu übertreffen suchen. Sie wird sichtbar in den Arbeiten R. v. Gneists (unter dem Stichwort „Selfgovernment“199), J. Redlichs (unter dem Stichwort „Demokratie“200) sowie F. Adickes’ (der für die Reorganisation der deutschen Justiz nach dem Vorbild der englischen plädiert).201 Und auch G. Jellinek leistet einen wichtigen Beitrag, indem er die religiös fundierte Demokratieauffassung der US-Amerikaner in Deutschland verbreitet. Überhaupt die USA: Sie entstehen sofort, ohne Zwischenstufe, als der Staat der per Kolonisation in die neue Welt verpflanzten bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind von Geburt an „eine völlige Umkehrung des Prinzips“202, „eine völlige Neukonstituierung von Herrschaft“.203 Der Bruch mit dem feudalen Gemeinwesen wird dort vollständig und sichtbar vollzogen, während er in England verdeckt wird durch den Fortbestand der Krone. Warum also nicht sie, die es doch in höherem Maße als England sind, zum Vorbild nehmen? Stahl jedenfalls 197 Vgl. dazu: H. Boldt, Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, in: E.-W. Böckenförde u. a., Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte (Der Staat, Beiheft 10), Berlin 1993, (insbes.) S. 156 f. Für C. Schmitt (Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Hamburg 1934, S.  8) etwa bildet die Bitte Bismarcks um Indemnität (1866) den Punkt, von dem ab sich mit innerer Logik die „geistige Unterwerfung des preußischen Soldatenstaates“ unter die bürgerliche Gesellschaft vollzieht. (Vgl. dazu die kritische Stellungnahme von F. Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, in: HZ 151 (1935), S. 528 ff.) 198 Prantl in Bluntschli-Brater, Deutsches Staatswörterbuch V, Art. ‚Hegel und die Hegelianer‘ zitiert bei H. Heller, Hegel …, a. a. O., S. 201 f. 199 R. v. Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgerichte in England (3. Aufl.), 1871. 200 J. Redlich, Englische Lokalverwaltung, Leipzig 1901. 201 F. Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, Berlin 1906. 202 L. v. Ranke in einem Vortrag vor König Maximilian von Bayern, zitiert bei E. Fraenkel, Das richterliche Prüfungsrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: JöR NF 2 (1953), S. 39. 203 W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, in: Der Staat 28 (1989), S. 374. Sie kommt zwar nicht zum Tragen. Aber Stier-Somlo entwirft 1919 für das neue, nachkaiserliche Deutschland aus seiner Sicht: für die „Vereinigten Staaten von Deutschland“ eine daran orientierte Verfassung (vgl. F. Stier-Somlo, Die Vereinigten Staaten von Deutschland, Tübingen 1919).

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sieht einen Widerspruch darin, dass die Gegner des monarchischen Prinzips nur das englische, also das „zweitbeste“ Modell eines „Gesellschaftsstaates“ in den Blick nehmen. Er spricht es nicht offen aus. Aber zwischen den Zeilen ist zu lesen, dass er die Orientierung an England für eine Taktik hält, die eine offene Brüskierung der deutschen Monarchen vermeiden soll. Schließlich ist England, wenn auch längst nicht mehr tatsächlich, so doch noch immer formaljuristisch ebenso konstitutionelle Monarchie wie die deutschen Staaten. Der Vergleich mit England soll zeigen, dass der Spielraum, der der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland eingeräumt ist, noch sehr weit ausgedehnt werden kann, ohne dass die Monarchie infrage gestellt ist. Es geht um Abkehr vom monarchischen Prinzip zugunsten des Parlamentarismus oder – für eine andere Fraktion – zugunsten des „Volksstaates“, ohne die Monarchie infrage zu stellen.204 Den eigentlichen Vergleich ziehen die liberalen Kollegen der Zunft also mit den USA. Der Not gehorchend, oder besser: Um des „lieben Friedens“ willen wird ihr Kampf für den „Gesellschaftsstaat“ aber zunächst über den Vergleich der deutschen Staatszustände mit jenen Englands ausgetragen. Der Blick nach dort tarnt sich also als harmloser Vergleich des einen monarchischen Zustandes mit dem anderen, verbirgt also, dass der schnörkellose „Parlamentsstaat“ ins Auge gefasst ist. Dass die Diskussion nicht schärfere Formen annimmt, dass der Gesellschaftsstaat nicht konsequenter eingefordert wird, hängt nicht unwesentlich mit der sich beschleunigenden Entwicklung des Kapitalismus besonders nach der Gründung des Kaiserreiches zusammen. Sie nimmt den Manchester-Liberalen so manchen Wind aus den Segeln. Deutschland zieht, wirtschaftlich gesehen, nach. Es überholt Frankreich, nähert sich England an. Was könnte, so gesehen, ein „Parlamentsstaat“ besser machen? Außerdem entgeht es dem kritischen Blick nicht, dass sich jetzt, ab Mitte des 19. Jahrhunderts, in England auf breiter Front ein Abschied vom Selfgovernment vollzieht. Schien es bisher eine „Gesellschaft ohne Staat“ zu sein, so bilden sich jetzt auch dort Strukturen heraus, die dem modernen „Betriebsstaat“ wesenseigen sind und sich hier wie dort als unverzichtbar erweisen. Betrachtet unter dem Gesichtspunkt „Sozialstaat“, zeigen diese neueren Entwicklungen, dass der frühere Zustand auch in England unhaltbar geworden ist und von daher kein Vorbild mehr sein kann. Was die Einrichtung eines den Bedürfnissen der modernen Wirtschaft entsprechenden öffentlichen Bildungssystems, einer Sozialversicherung, einer Armenfürsorge angeht, dient 204 Für die „Volksstaat“-Fraktion: F. Naumann, Der Kaiser im Volksstaat, Berlin-Schöneberg 1917, insbes. S. 18 ff.

jetzt eher Deutschland als Vorbild.205 Das alles versöhnt mit der eigenen politischen Verfassung. Das alles dämpft jene, die das englische Modell favorisieren. Erst die Zeit ab 1916 führt zu einer beschleunigten Erosion des monarchischen Prinzips. Je mehr sich der Krieg hinzieht und sich die Niederlage abzeichnet, umso mehr verliert es in der Bevölkerung, aber auch in der Wissenschaft an Rückhalt.206 Niederlage und Revolution tun ein Übriges; fast ohne Widerstand bricht es in sich zusammen. „Volksstaat“ plus Kaiser – das ist nun auch für F. Naumann keine Option mehr.

I.2.3 Englischer Sonderweg – Erklärungsversuche a) Objektive Faktoren England hat das Glück, sich als Gemeinwesen auf einer Insel etablieren zu können; es entsteht als „Land ohne Staat“207. England gehört zu Europa und ist doch auch wiederum weit genug weg von ihm, um von den spezifisch kontinentalen Problemen berührt zu werden. Sehr früh gibt es eine inselumfassende Zentralgewalt. Damit entfällt, was den Staaten, die auf dem Kontinent entstehen, das Gepräge zu geben scheint: der nach außen gerichtete Machtapparat in Gestalt von Militär208, von Zollstationen, von Grenzposten, die sich als Notwendigkeiten aus der oft willkürlichen Grenzziehung ergeben. England hingegen profitiert von den natürlichen Grenzen und von dem Schutz, den das Meer bietet.209 Auf dem Kontinent muss die den Staat konstituierende Landfläche formiert und anerkannt werden – Vorgänge, die in England durch die Insellage entbehrlich bzw. abgekürzt werden. Kurzum: Vieles von dem, womit später der Staat geradezu identifiziert wird, was zu berechtigen scheint, ihn auf „Machtapparat“ 205 J. Hatschek, Das Staatsrecht des vereinigten Königreichs Großbritannien-Irland, Tübingen 1914, S. 2: „Das war ja auch die tiefe Tragik, dass gerade jenes Land, welches am frühesten die neue Menschenspezies des arbeitenden Proletariers sah, also am frühesten eine sozialpolitische Gesetzgebung nötig gehabt hätte, einer zentralen Verwaltungsmaschine vollständig entbehrte.“ 206 Anschaulich dargestellt bei: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: 1914–1954, S. 61 ff. 207 O. Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1925, S.  34  – dort weiter: „In England ersetzte die Insel den organisierten Staat“. 208 O. Koellreutter (Die politischen Parteien im modernen Staat, Breslau 1926, S. 84) verweist darauf, dass es eine der ersten gesetzgeberischen Maßnahmen des zur Macht gelangten Parlaments war, das stehende Heer als Machtfaktor der Krone abzuschaffen. Er kommentiert: „Ein Verbot des ‚Militarismus‘, das sich der damals unangreifbare Inselstaat sehr wohl leisten konnte.“ 209 Dazu anschaulich: O. Hintze, Das monarchische Prinzip …, a. a. O., S. 364 f.

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zu verkürzen, fällt in England weg. Denkt man an Preußen, so wird hier ein Unterschied sichtbar, der, nicht nur aus englischer Sicht, dazu verleitet, dieses Gebilde als aus der Armee emporgestiegenes Staatswesen anzusehen.210 Aus allgemeinerer Sicht: Die Besonderheiten, die den kontinentalen Staat charakterisieren, treten in den Vordergrund und werden schließlich als sein Wesen angesehen. In England, wo sie fehlen, scheint es daher keinen Staat zu geben. Bedeutsam ist, dass die Engländer die Glücksverheißung „ihrer“ bürgerlichen Gesellschaft 200 Jahre lang, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, nicht unmaßgeblich auf Kosten fremder Natur und deren Bewohner realisieren. An die „Landnahmen“ in Nordamerika, in Australien, in Indien, in Afrika sei erinnert. Dass sie ein ganz wesentliches Ventil sind, die sozialen Spannungen, die die bürgerliche Gesellschaft erzeugt, zu mildern, sieht bereits Hegel211 und ist im Übrigen wohl auch unbestreitbar. Als „Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes“ nutzt England sein „absolutes Recht“, dem gegenüber „die Geister der anderen Völker rechtlos“ sind.212 Der Kolonialismus wird erst aufgeben, als er als Quelle solcher Glücksverheißung nicht mehr sprudelt. Deutschland hat diese Möglichkeit nicht. Zumal Preußen muss mit einer kargen Natur auskommen. Da dieses Ventil also nur in bescheidenem Maße zur Verfügung stand, musste sozialen Spannungen daher von vornherein durch eine Sozialpolitik entgegengearbeitet werden, die ihren Ausgang im Staat nimmt. Später versucht Deutschland zwar ebenfalls, sich am Kolonialismus zu beteiligen. Aber dieser hat da bereits seinen Zenit überschritten. Außerdem ist es aus Sicht der bürgerlichen Gesellschaft ein gewaltiger Unterschied, der Unterschied von „erlaubt“ und „unerlaubt“, ob das Land seinen indianischen oder schwarzen Bewohnern „genommen“ wird oder einem Ebenbürtigen. Die Versuche Deutschlands, die bereits erfolgten „Landnahmen“ zu seinen Gunsten zu revidieren, sind im Unterschied dazu also klare Verletzungen des Völkerrechts, führen zu zwei verheerenden Kriegen und zu zwei ebenso verheerenden Niederlagen. Auch das ist von Bedeutung: In England spitzt sich der Feudalismus nicht zum Absolutismus zu, d. h. zu einer geschichtlichen Phase, in der sich das 210 Man denke an C. Schmitt (Staatsgefüge …, a.  a.  O.), der aus Preußen einen „Soldatenstaat“ macht, indem er die Dialektik der beiden Naturen bzw. von Staat und bürgerlicher Gesellschaft verkürzt auf eine Mechanik von „Soldat“ und „Bürger“. 211 S. §§ 246 ff. Rph und VPhG, S. 107–114. 212 § 345 Rph. Im Begriff der bürgerlichen Gesellschaft ist also enthalten, „dass zivilisiertere Nationen andere, welche ihnen in den substanziellen Momenten des Staats zurückstehen[,] … als Barbaren mit dem Bewusstsein eines ungleichen Rechts und deren Selbständigkeit als etwas Formelles betrachten und behandeln“ (§ 351 Rph).

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vielfach gegliederte und abgestufte feudale Gemeinwesen zu den Antipoden „Staat“ und „Gesellschaft“ verdichtet. Es bleibt bei einer aristokratisch geprägten „Feudalmonarchie“213, die einerseits zwar den „Übergang der Besonderheit zur Allgemeinheit“ leistet, andererseits aber „die ganze Masse von Privatverbindlichkeiten und Rechten …, die aus dem Mittelalter überliefert worden“214 sind, bestehen lässt. Aus den feudalen Vertretungsorganen, die die Macht des Königs begrenzten, gehen die Organe des bürgerlichen Repräsentativstaates hervor215, indem sie im Laufe der Zeit „etwas weniger aristokratisch und etwas mehr plutokratisch“ werden.216 Was an „Staat“ bereits vorhanden ist, wird von dieser Umwandlung erfasst und kommt sofort als „Government“, als Exekutivorgan der „society“217 zur Ausbildung. Wie F. Tönnies218 es sieht: Eine feudal-ständische Gesellschaft wird zur bürgerlich-ständischen, deren Mitte ein großbürgerlich dominierter Parlamentarismus ist. Und vom Recht her gesehen: Ein feudal geprägtes Common Law wandelt sich – ohne den Umweg „Rom“ – zum Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Während der für den Kontinent typisch werdende Absolutismus das feudale Gemeinwesen in die Pole „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“ überführt, wird es in England geschlossen bzw. ungeteilt in eine bürgerliche Gesellschaft transformiert. Die Monarchie wird im Zuge dessen mehr und mehr ausgehöhlt. Und was jetzt, mit der Reformbill, kommen soll, bedroht auch noch deren letzte substanziellen Reste.219 Längst ist der Parlamentarismus unumkehrbar geworden. Bereits die Revolution von 1688 schafft „das Übergewicht des Parlaments über die Krone“220. Von temporären Rückschlägen abgesehen, saß seither „auf dem Throne … ein König von 213 § 273/Anm. Rph. 214 Hegel, VPhG, S.  508; s. dazu: G. Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, in: Lucas/Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie …, a. a. O., S. 421 (S. 428). 215 C. Schmitt, Staatsstreichpläne Bismarcks und Verfassungslehre, in: Ders., VA, S. 31: Ein Prinzip, die „Adels-Demokratie“, geht „in langsame[m] Wachstum … in das andere“ Prinzip über. 216 S. Low, Die Regierung Englands, Tübingen 1908, S. 169. 217 W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1915–1848, Stuttgart 1962, S. 208. 218 Vgl. F. Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus, in: Schmollers Jahrbuch 1927, S. 176 f. 219 Für G. Jellinek beginnt das Zeitalter des reinen „Parlamentsstaates“ in England mit dem Rücktritt der Regierung Melbourne am 30. August 1841 (s. G. J., Allgemeine Staatslehre, a. a. O., S. 702, Fußnote 1). 220 O. Hintze, Das monarchische Prinzip …, a. a. O., S. 363 – wenngleich sich dieser Parlamentarismus über Jahrzehnte hinweg darstellt als „ein oligarchisches Cliquenregiment“ bzw. als „virtuos gehandhabtes Korruptionssystem“ (ebd.).

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der Gnade des Parlaments“.221 Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass zu keinem Zeitpunkt eine „Festschreibung“ erfolgt. Theoretisch verbleiben der Krone alle ihre Rechte. Aber graue Theorie ist es, wenn Stahl 1846 dazu anmerkt: „Ein englischer König von persönlicher Energie könnte im Notfall“ also zum monarchischen Prinzip zurückkehren.222 Ein „Staat“ in kontinentaleuropäischem Sinne kam vor diesem Hintergrund nicht zur Ausprägung. „Noch heute“, so H. Ehmke, fehle im Englischen dieser Begriff „im Sinne unserer positivistischen Terminologie“223. Aber was Ehmke als positiv heraushebt, hat einen (für Hegel: gewaltigen!) Haken: Das Pendant zur bürgerlichen Gesellschaft, der politische Staat, geht verloren. Die sich auf dem Kontinent freisetzenden Größen „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“ bleiben in England im „Gemeinwesen“ eingebettet und bilden bis Mitte des 17. Jahrhunderts ein „duales oder elliptisches System mit zwei Brennpunkten[,] aus denen die wirkliche Macht ausgeübt wird“224. Englands Weg zur kapitalistischen Ordnung umschifft geistige und tatsächliche Perioden und Entwicklungen, die dem übrigen Europa ihren Stempel aufdrücken. Nur ein schwacher Abglanz davon macht sich dort breit. Ein Sonderweg, der den – den Idealen der Aufklärung verpflichteten – Kontinentaleuropäern, auch Hegel, so manches Rätsel aufgibt.225 Da die absolutistische Phase fast vollständig ausgespart bleibt, kann sich jener „Monarch“ nicht herausbilden, dem in Hegels Staatsphilosophie die Repräsentanz des „Naturprinzips“ übertragen ist. In England wird also ein schwacher „feudaler“ König in einen noch schwächeren, politisch entmachteten „bürgerlichen“ König überführt. Für Hegel ist das ein grundsätzlicher Mangel; für ihn ist das „starke Königtum“ unverzichtbar. Von dieser Plattform her „weist er die Zurückgebliebenheit Englands“ hinter den „Einrichtungen des Kontinents, insbesondere der deutschen Staaten, noch spezieller Preußens“ nach.226 Für die Engländer wiederum, deren politische Organisation „Produkt einer langen geschichtlichen Entwicklung“ ist, nicht „Ergebnis abstrakter Theorien“227, und die mit diesem Produkt 221 C. Bornhak, Die Entwicklung der konstitutionellen Theorie, in: ZgStW 51 (1895), S. 599. 222 F. J. Stahl, Das monarchische Prinzip, a. a. O., S. 225. 223 H. Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 244. 224 E. Vollrath, Hegels Wahrnehmung Englands, a. a. O., S. 194. 225 Vgl. A. Wirsching, Das Problem der Repräsentation im England der Reform-Bill und in Hegels Perspektive, in: Chr. Jamme/E. Weisser-Lohmann (Hg.), Politik und Geschichte (HS, Beiheft 35), 1995, S. 122. 226 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 514. 227 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a. a. O., S. 708 f.

Vom „Gemeinwesen“ zu „Staat“ und „bürgerlicher Gesellschaft“  |

die politisch und ökonomisch führende Nation geworden sind, mag es schwer, auf der Basis ihres aphilosophischen Pragmatismus vielleicht sogar unmöglich sein, in Hegels „konstitutioneller Monarchie“ das bessere oder gar: das unumgängliche Modell zu sehen. Das Fehlen der absolutistischen Periode ist zwar ein häufig genanntes Merkmal der englischen Geschichte. Aber Schlussfolgerungen daraus sind bislang nur unzureichend gezogen worden. Während auf dem Kontinent die Polarisierung in „Staat“ und „Gesellschaft“ zur Antwort auf die Frage zwingt, wie, über welche dritte Größe sie überwunden oder wenigstens domestiziert werden kann, drängt sich den Engländern diese Frage nicht auf, weil die Polarisierung hier von dem äußerlich erhalten bleibenden Gemeinwesen verhüllt wird. Auf dem Kontinent hingegen treten sie ans Licht: der politische Staat und die entpolitisierte bürgerliche Gesellschaft. Hegel schildert in § 157 Rph aus allgemeinerer, in § 260 Rph aus speziellerer Sicht, was geschieht: Das „Gemeinwesen“ wird nicht umgeformt in die bürgerliche Gesellschaft, sondern zerfällt in die relativ selbstständigen Subsysteme „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“. Letzteres ist geprägt durch die „Rechtsverfassung“ und durch einen Staat, der nur „äußerliche Ordnung“ ist. Das hier verloren gehende „Gemeinwesen“, die „Substantialität“, wie Hegel sagt, wird jedoch auf der neuen Ebene wieder zurückgewonnen in der konkreten Gestalt einer „Staatsverfassung“. Die Gemeinwesen antiker wie feudaler Prägung – für ihn noch „unvollkommene“ Staaten, Staaten, „in denen die Idee des Staats noch eingehüllt ist und wo die besonderen Bestimmungen derselben nicht zu freier Selbständigkeit gekommen sind“228 – sind jetzt durch diese „besonderen Bestimmungen“ ersetzt. Im Absolutismus stehen sie sich eine logische Sekunde lang229 unverbunden gegenüber, ehe sie durch das Konstitut zu neuer Einheit zusammengeschlossen werden. Der Staat tritt also erst als absolutistischer Staat in die Geschichte ein.230 Aber das Gleiche gilt für die bürgerliche Gesellschaft; auch sie nimmt für sich einen „Absolutismus“ in Anspruch. Es dauert eine Zeit, ehe beide Seiten ihre Relativität erkennen und – indem sie sich „in den Standpunkt des Relativen“231 228 § 260/Zus. Rph. 229 Die sich individuell lange, durchaus über Jahrzehnte, hinziehen kann! 230 Es ist C. Schmitt (Der Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, in: Ders., VA, S. 375 ff.), der herausarbeitet, dass der Staat keineswegs so alt ist, wie bisher angenommen wurde. Die antiken „Staaten“ (Athen, Rom) waren Gemeinwesen, also Formen der politischen Organisation, die über „Blut und Boden“ auf zwei Naturen beruhten. Auch der Feudalismus ist, politisch gesehen, nicht „Staat“, sondern „Gemeinwesen“. 231 § 157 Rph.

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schicken – sie auch akzeptieren. Ein erneuter Zusammenschluss beider besiegelt diese Erkenntnis. Hegel dazu in § 260 Rph: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“232 Mit der konstitutionellen Monarchie tritt ein Staat auf den Plan, dessen Wesen es ist, „dass das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen. … Nur dadurch, dass beide Momente in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisierter anzusehen.“233 Der absolutistische Staat ist eine Gestalt der „organischen“ Natur. Wo er fehlt, gerät diese Dimension, gerät die „Substantialität“234 aus dem Blick. Der Weg für den reinen Gesellschaftsstaat ist frei. Für Hegel so ziemlich das schlimmste Szenario. Sein Anliegen es ja, die zerstörerische Macht der bürgerlichen Gesellschaft zu zügeln – durch „Gewaltenteilung“ zwischen dem sittlichen und dem „Not- und Verstandesstaat“. Hier liegt der Unterschied zu Marx/Engels, zum Liberalismus generell. Beide preisen die englischen, noch mehr: die amerikanischen Verhältnisse und sehen in ihnen das Fortschrittliche schlechthin. Marx/ Engels speziell unter dem Gesichtspunkt des von hier aus direkteren Übergangs zu einer sozialistischen Gesellschaft. Dem hält Hegel entgegen: „Viele der neueren Staatsrechtslehrer haben es zu keiner andern Ansicht vom Staate bringen können.“235 England umgeht das „Zeitalter der Staatlichkeit“.236 200 Jahre lang fehlt dort der „substanzhafte“ Staat kontinentaleuropäischer Prägung. Aus den gezeigten Gründen sehen es die Engländer nicht für notwendig an, über ihn und seine Bedeutung nachzudenken. Was an „Staat“, was an „Recht“ entsteht, bildet sich dort in einem kontinuierlichen Prozess der „Austauschung“ und des „Inhaltswandels“ der feudalen Struktur und Begrifflichkeit heraus.237 Als „Staat“ wird 232 Hervorhebung bei Hegel. 233 § 260/Zus. Rph. 234 § 157 Rph. 235 § 182/Zus. Rph. 236 C. Schmitt, Der Staat als ein konkreter …, a. a. O., S. 376. 237 S.  dazu: E. Angermann, Das Auseinandertreten von „Staat“ und „Gesellschaft“ im Denken des 18. Jahrhunderts, in: E.-W. Böckenförde (Hg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 109 ff.; T. Mayer-Maly, Die Wiederkehr von Rechtsfiguren, in: JZ 1971, S. 1. Auf durchaus gleicher Ebene liegt, was A. Weber 1925 konstatiert: dass in England eine „Adelsdemokratie“ in eine „Demokratie des Großbürgertums“ umgewandelt wird (vgl. A. Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Berlin, Leipzig 1925, S. 140 f.).

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jenes „Selfgovernment“ genommen, das aus Sicht Hegels eben bloß „Notstaat“ ist. Was darüber hinaus an „Staat“ existiert, scheint ihnen „grundlos“ zu existieren. Was Hegel auf seinen „Grund“ zurückführt, auf die „organische“ Natur, erscheint ihnen als feudales Relikt, tauglich nur noch als Staffage des „Notstaates“. Eine Angleichung der kontinentalen und der englischen Zustände in puncto „Staat“ wird erst Ende des 19. Jahrhunderts sichtbar, ab einem Zeitpunkt also, wo die „bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben“238 wird und in den „organisierten Kapitalismus“ übergeht. Aber Vorsicht! Was sich jetzt zeigt, sowohl hier als dort, ist ein Staat ganz neuen Typs. Was jetzt aufkommt, ist der „Betriebsstaat“, der sowohl dem englischen „Selfgovernment“ wie auch der deutschen konstitutionellen Monarchie ein Ende bereitet. b) Subjektive Faktoren In England stand der Umschlag des feudalen Gemeinwesens in „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“ in seiner wichtigsten Phase nicht unter „Beobachtung“ einer adäquaten Philosophie. Niemand machte sich dort zum Lehrmeister der Praxis. Mit Abstrichen gilt dies auch für Frankreich. In Deutschland hingegen vollzieht sich der gleiche Prozess, weil er sich dort so spät vollzieht, unter den Augen einer Philosophie, der bereits die Erfahrungen der Französischen Revolution zur Verfügung stehen. 239 Hinzu kommen:

•• Die Rezeption des römischen Rechts, auf dem Kontinent verknüpft mit der

Ausbildung absolutistischer Strukturen, schlug um England einen Bogen. Es fehlt also der Bruch mit der Rechtstradition, der die kontinentale Rechtsentwicklung bis heute prägt. Wie im Falle des Staates: In England bleibt 200 Jahre lang verdeckt, was die Rezeption zutage fördert: die „Entzweiung“. Die Folge: Im Case Law geht der Unterschied von jus und lex, von „abstraktem“ und „konkretem“, von „begriffenem“ und „gestaltetem“ Recht verloren. 238 § 246 Rph. 239 M. Wundt, Staatsphilosophie. Ein Buch für Deutsche, München 1923, Vorrede, S. IV f., macht auf folgende Diskrepanz aufmerksam: Während Leibniz, Kant, Fichte und Hegel, welche die „tiefsten Wahrheiten“ zum Staat zutage fördern, unbeachtet bleiben, machen die politischen Denker Westeuropas – er nennt Grotius, Hobbes, Locke und Rousseau –, „die alle Gedanken nur bis zu einer bestimmten Grenze“ entwickeln und unbeachtet lassen, „was über diese hinaus liegt“, Furore. Tonangebend werden also Philosophien, die einseitig den Standpunkt der „produzierten“ Natur gegen den der anderen vertreten.

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•• Früher als auf dem Kontinent löst in England die „produzierte“ Natur das

Gemeinwesen und die „Person“ den Menschen ab. Zugleich wird dort die Entwicklung zum neueren Naturrecht nicht mit vollzogen. Es bleibt bei dem älteren, thomistisch geprägten Naturrecht, dessen „Natur“ das ungeteilte Gemeinwesen und der ungeteilte Mensch ist. Ohne dass deren Zerfall um England einen Bogen geschlagen hätte, wird dort mit der alten Begrifflichkeit weitergearbeitet. Eine Folge: Das Recht, das zusammen mit der „Person“ auftritt, wissenschaftlich gesehen also „Personenrecht“ ist, heißt bei ihnen weiterhin „Menschenrecht“.240 •• Der Kampf für die bürgerliche Gesellschaft wird in England nicht als Kampf für die (deren) Freiheit ausgetragen, sondern ist dort ein Kampf der Engländer für die aus der Feudalzeit überkommenen „Freiheiten“. Das zeigt sich besonders in den amerikanischen Kolonien: Die dortigen Kolonisten führen einen Kampf um ihre „Freiheiten“, nicht aber (wie die Franzosen) um die Freiheit.241 Der Unterschied wird deutlich, wenn man sieht, dass von diesem Freiheitsverständnis ganz selbstverständlich die Sklaven und die Indianer nicht erfasst werden.242 •• Der ausgeprägte, nicht „kopflastige“ Pragmatismus der Engländer, der die Tat in den Vordergrund stellte, nicht das Nachdenken über sie. Also Common Sense statt Philosophie.243 Viele Zufälle greifen helfend ein. So führt zum Beispiel der Umstand, dass die aus Deutschland „bezogenen“ Könige der Landessprache unkundig sind und deshalb den Sitzungen des Kabinetts nicht beiwohnen, sehr bald zu einem „Gewohnheitsrecht für alle Zeiten …, dass der Monarch erst von den bereits gefassten Beschlüssen des Cabinets Kenntnis erhält“244. 240 S. dazu die überzeugende Darstellung bei J. Habermas, Theorie und Praxis (4. erw. Aufl.), Frankfurt a. M. 1972, S. 89–114 (Naturrecht und Revolution). 241 S. dazu: O. Vossler, Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, München, Berlin 1929 (dort z. B. S. 58). 242 G. Jellinek (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte [3. Aufl.], München, Berlin 1919, S. 70): „Trotz des Satzes, dass alle Menschen von Natur frei und gleich seien, wurde die Abschaffung der Negersklaverei damals nicht durchgesetzt. An Stelle des ‚man‘ steht in den Sklavenstaaten der ‚freeman‘“. 243 J. Habermas (Theorie und Praxis, a. a. O., S. 92) in Bezug auf die USA: „Der Berufung auf Philosophie entspricht in Amerika die Berufung auf den Common sense.“ Das gilt auch für England. Hegel dagegen vertraut weder dem Common Sense noch Theorien, die „nebulose Gebilde“ (VPhG, S. 58) in die Welt setzen. 244 G. Jellinek, Die Entwicklung, a. a. O., S. 328.

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Blicken wir auf die Rechtsentwicklung: Für sie gilt, dass „keiner der politischen Faktoren, welche auf dem Kontinent die Systematisierung der Rechtsbegriffe herbeiführten und das richterliche Ermessen auf ein Minimum beschränkten, … in England vorhanden [war], wenigstens nicht mehr seit der Mitte des 17. Jahrhunderts“245. Während der kontinentale Absolutismus sich mit der verstärkten Rezeption des römischen Rechts und der Monopolisierung der Gesetzgebung beim Staat verband, wandelte sich in England das feudale Recht, gehandhabt von einem aus der bürgerlichen Gesellschaft erwachsenen und mit ihm fest verbundenen Richterstand, von Fall zu Fall, im fließenden Übergang, ohne scharfe Zäsuren, zum bürgerlichen Recht. „Öffentlich“ und „privat“ bilden in England eine untrennbare Gemengelage und bleiben es, während sie auf dem Kontinent auf „römische“ Art geschieden und gegenübergestellt werden. Mit all dem, was um England einen Bogen schlägt, verband sich für die Kontinentaleuropäer geradezu ein logischer Zwang, das feudale Recht durch das römische zu ersetzen, ja generell: die ganze bürgerliche Gesellschaft aus „Rom“ abzuleiten bzw. dort geistig zu verankern. Und aus praktischen Gründen verlockend war dieser Weg außerdem, weil so scheinbar mühelos ein der Warenproduktion adäquates Recht zu gewinnen war. Aus diesem logischen und praktischen Aspekt heraus musste es „dem Mittelalter gegenüber als das Recht der entstehenden industriellen Gesellschaft geltend gemacht werden“, schreibt Marx.246 Musste? England zeigt, dass es auch anders geht. Anders und langfristig besser. Deswegen, weil das „Logische“ nicht deckungsgleich ist mit dem Historischen. Marx deutet den „Pferdefuß“ selbst an, der mit dieser Rezeption verbunden ist: „Die antike Welt“, schreibt er, „produzierte eine Freiheit und Gleichheit von ganz entgegengesetzte[m] und wesentlich nur lokalem Gehalt.“247 Sie basierte auf dem Sklaven und schloss die wichtigste Ware, die Ware „Arbeitskraft“, daraus aus. Mehr als äußerlich konnte die Übereinstimmung daher nicht sein. England gerät jedenfalls nicht an den „schwierigen Punkt“, wo „die Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten“, wie Marx in Bezug auf die kontinentaleuropäische Entwicklung schreibt. Es greift nicht zum römischen Recht; es kommt mit dem feudalen Recht aus. Ja, 245 O. Kahn-Freund, Einleitung und Anmerkungen in: Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, Stuttgart 1965, S. 12; s. auch: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl.), Göttingen 1967, S. 496 ff. 246 Marx, GR, S. 916. 247 Ebd.

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es zeigt sich, dass dieses langfristig, über die „freie Konkurrenz“ hinweggesehen, die brauchbarere, weil flexiblere Grundlage für die Belange der bürgerlichen Gesellschaft abgibt als das römische. Die „Kontinuität der gerichtlichen Präzedenzfälle“ und die „respektvolle Beibehaltung der feudalen Gesetzesformen“248 erweisen sich somit als die entscheidenden Vorteile, als es den Übergang zum „organisierten“ Kapitalismus zu meistern gilt. Denn gerade sie, die „feudalen Elemente“, ermöglichen den Anschluss, wenn der Kapitalismus nach der Phase des „Kontraktes“ erneut zum „Status“ tendiert. In Gestalt der nie „zu den Akten“ gelegten feudalen Rechtsinstitute steht das nun benötigte juristische Instrumentarium bereit. Anders in Deutschland und überhaupt auf dem Kontinent: Dort setzt das an „Rom“ orientierte Recht jene neuen ökonomischen und politischen Phänomene zunächst einmal ins Unrecht.249 248 MEW 22, S. 304. 249 O. v. Gierke versucht zu einer Zeit, als sich die „freie Konkurrenz“ bereits zu verabschieden beginnt und die Mängel eines Rechts „römischen“ Typs offen zutage treten, für Deutschland theoretisch nachzuvollziehen, was in England die Rechtspraxis hervorbrachte. Von daher muss nicht verwundern, dass die Engländer sein Anliegen besser verstehen, seine Ergebnisse höher schätzen als die deutschen Landsleute. Sein Anliegen im Umriss: Er sucht nach Lösungen, die die „kollektiven Tatbestände“, teils noch von früher her bestehend und teils schon hervorgebracht vom Kapitalismus seiner Zeit, adäquat erfassen. Das römische Recht als Recht einer einfachen Warenproduktion bietet sie nicht. Sein Ausgangs- und Endpunkt ist der Einzelne; die „Unternehmung“ als kollektiver Produktionsort ist ihm unbekannt. Die durch „objektive Assoziation“ hervorgebrachten kollektiven Sachverhalte werden darin nur als Aggregation Einzelner, als Willensverhältnis zweier Personen erfasst, nicht als Person für sich. Um weiterzukommen, greift Gierke daher auf das beiseitegeschobene juristische Instrumentarium, auf die Rechtsfiguren zurück, die sich mit der feudalen Rechtstradition verbinden. Er greift auf die darin erfasste „Zwischenlage“ zurück, rechnet sie gewissermaßen in die Zukunft fort und versucht damit theoretisch jene „Austauschung“ ihres Inhalts zu leisten, die in England über Hunderte von Jahren durch die Rechtsprechung besorgt wird. Er nimmt damit jene Dimension der bürgerlichen Gesellschaft in den Blick, die außerhalb des römischen Rechts liegt. Die Bewahrung feudaler Elemente und Wesenszüge im englischen Recht erweist sich also als enormer Vorteil, als es darum geht, den „organisierten“ Kapitalismus des 20. Jahrhunderts juristisch zu meistern. Denn der an „Markt“ und „freie Konkurrenz“ klebende Staats- und Rechtsbegriff des kontinentalen Liberalismus kann die neuen Phänomene nur so erfassen, wie er auch die feudalen Phänomene erfasst: rein negativ. Der Bruch nach „hinten“ wird zum Bruch nach „vorn“. Anders im angloamerikanischen Raum: Dort bietet gerade die virulente Feudalität die Möglichkeit, sich jenen neuen Phänomenen, die auf dem Kontinent unter dem Gesichtspunkt des „Verfalls“ und des „Neo-Feudalismus“ diskutiert werden, ganz unbefangen als „Auswüchse einer an sich gesunden Entwicklung“ zu nähern (E. Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie. Referat auf dem 45. Dt. Juristentag, Bd. II/B, S. 5 ff. [S. 9]).

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Das feudale Recht ist in England also Ausgangspunkt des bürgerlichen Rechts.250 Anders in Deutschland, wo unter dem Einfluss der Aufklärung und des Naturrechtsdenkens die Entwicklung des feudalen Rechts abgebrochen wird und wo später die Historische Schule gerade jene Jahrhunderte aus der Betrachtung ausblendet, in denen, wie in England, sich die Verschmelzung des „reinen“ römischen Rechts mit dem germanischen zum gemeinen Recht vollzieht.251 Noch hilfreicher ist, dass in England auch die bisherigen politischen Größen: „Mensch“, Volk“, „Demokratie“, transformiert werden. Am Ende sind diese zwar auch in England „aufgelöst“ und „historisch“ geworden. Aber weil der Schein dem widerspricht, werden sie als die politischen Grundbegriffe auch der neuen Zeit angesehen und nicht als das, was sie nun sind: nichtssagende, ja irreführende Allgemeinbegriffe. „Organische“ Begriffe werden also weiterhin zur Bezeichnung „unorganischer“ Sachverhalte genutzt. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr zentrales Prinzip, die „Freiheit“, werden mit „Volk“ und „Demokratie“ umschrieben. Und das Mitglied dieser Gesellschaft, auf dem Kontinent die „Person“, bleibt dort weiterhin der „Mensch“. Durchweg wird das Neue falsch deklariert. Was aber zählt, ist das Ergebnis: Am Ende steht England jedenfalls als „Demokratie“ da, als eine Staatsform also, die laut Hegel spätestens mit Geburt der bürgerlichen Gesellschaft Geschichte geworden ist. Elemente des „naturwüchsigen“ werden für das „produzierte“ Gemeinwesen dienstbar gemacht; „Gemeinschaft“ (und ihr Recht) wird kontinuierlich in „Gesellschaft“ (und ihr Recht) umgeformt. „Unterminierung der alten englischen Institutionen und die ihr zum Grunde liegende fortwährende Revolutionierung der englischen Gesellschaft vermittelst der großen Industrie“, beschreibt Engels den Vorgang.252 Von Anfang an sind die Gerichte darin eingebunden. Ihre Aufgabe ist es, der Praxis konkrete, passgenaue Lösungen bereitzustellen.

Hier wie dort die gleichen Phänomene. Auf dem Kontinent aber eine „Interessenverbandsprüderie“ (Fraenkel), eine Vogel-Strauß-Politik ihnen gegenüber, während in England die Möglichkeit besteht und genutzt wird, mithilfe der feudalen Elemente „das Beste“ daraus zu machen – bis dorthin, sie der „Demokratie“ zuzuschlagen. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum O. v. Gierke, dessen an das germanische Recht anknüpfende „Genossenschaftslehre“ in Deutschland kaum Einfluss auf die Praxis nahm, in England reüssiert; und zwar zu einem Zeitpunkt, wo mit dem „organisierten“ Kapitalismus auch dessen politischer Ausdruck, der Pluralismus, aufkommt (E. Fraenkel, Der Pluralismus …, a.  a.  O.). Gierke steigt dort zu dessen Vordenker auf, während in Deutschland seine Arbeiten weitgehend unbeachtet bleiben. 250 O. Kahn-Freund, Einleitung, a. a. O., S. 12: „Von allen wichtigen Rechtsgebieten Europas war England das einzige, das aus dem Mittelalter mit einem Common Law … hervorging.“ 251 S. dazu: H. Kantorowicz, Was ist uns Savigny?, in: Recht und Wirtschaft 1 (1911/12), S. 49. 252 MEW 8, S. 210.

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Und sie wurde gemeistert. Von Fall zu Fall. Auf empirische, oft von Zufällen begleitete Weise. Ohne vorschnelle Generalisierung. Der Richter fragt vor seiner Entscheidung: Was hat man früher getan? Wie wurde der Fall damals entschieden? Wie das zu verstehen ist, erklärt der Ökonom Bernhard in Bezug auf das Wettbewerbsrecht so: „Die alten individuellen Rechte, Wildgänse zu jagen, einen Schauspieler auszupfeifen oder in wilder Ehe zu leben, sind im angloamerikanischen Recht ursprünglich verwandt mit den rechtlichen Regelungen des Wettbewerbs und der Absprachen zwischen Unternehmern.“ Dieser „erdigen Wurzeln“ schämten sich zwar die Ökonomen und zögen gerne „eine angesehenere und ehrwürdigere Ahnenschaft“ vor. Jedoch (und zum Trost): „[A]uch viele vortreffliche Pflanzen wachsen auf Mist!“253 Wie es Otto Kahn-Freund sieht: In England „war die Vereinheitlichung des Rechts das Werk der mittelalterlichen Monarchie, und zwar weitgehend mit Hilfe der Tätigkeit der ‚Common-Law‘Gerichte.“ Eine Tatsache, deren „historische Bedeutung nicht stark genug betont werden“ könne.254 In England wird das Recht der bürgerlichen Gesellschaft also durch die Praxis hervorgebracht, während es auf dem Kontinent eine „Kopfgeburt“ ist. Diese theorieferne Entwicklung enthebt England vieler Probleme. Eine ungeschriebene Verfassung ist immer wirklich und, wenn man so will: sie ist immer auf dem neuesten Stand. Alles bleibt dort vage und unscharf – und damit offen für neue, bedarfsgerechte Interpretation. Anders „auf dem Festlande“, wo die Begriffe „mit der modernen mathematischen Schärfe gefasst“ werden.255 Der dortige Eifer fehlt hier. Beispiel „bürgerliche Gesellschaft“: In England längst in voller Blüte, wird sie in Deutschland, durch Hegel, auf den Begriff gebracht – noch bevor sie dort zur vollen Ausbildung kommt. Aus deutscher Sicht: ein einziges Durcheinander, ein Drunter und Drüber von Alt und Neu, von „feudal“ und „kapitalistisch“. Ein Inbegriff „logischer Unmöglichkeiten“, ein Bild voller Wildwuchs oder – wie Engels formuliert – voller „juridischer Konfusion“.256 Und die Engländer sind zufrieden damit. Sie lernen nicht vom Kontinent. Etwa deshalb nicht, weil ihnen der „Nationalstolz“ verwehrt, „die Fortschritte, welche andere Nationen in der Ausbildung

253 R. C. Bernhard, Wettbewerb, Monopole und öffentliches Interesse, Stuttgart 1963, S. 1. Diese „erdigen“ bzw. feudalen Wurzeln des angloamerikanischen Rechts erklären m. E. auch den in den USA geborenen umweltpolitischen Ansatz, die Natur über sog. „Eigenrechte“ mit den Mitteln des Rechtsstaates schützen zu wollen (s. dazu im Schlussteil dieser Arbeit). 254 O. Kahn-Freund, Einleitung, a. a. O., S. 12. 255 Ebd. 256 MEW 37, S. 415 (F. Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson).

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der Rechtsinstitutionen gemacht, zu studieren und kennenzulernen“?257 Oder eher deshalb, weil ihr praktischer Sinn sie an diesen „logischen Unmöglichkeiten“ und an der Dynamik, die sie bergen258, festhalten lässt? Pragmatismus und Utilitarismus statt Theorie! Der revolutionäre Eifer der Franzosen ist den Engländern ebenso fremd wie die Kopflastigkeit der Deutschen. Engels 1852 dazu: „Mag diese eigentümlich methodische Entwicklung Englands auch momentan, wie 1848 und früher von 1793 an, den momentan siegreichen Revolutionären des Kontinents manchmal im Wege sein, so hat sie doch im Grunde weit mehr revolutionären Inhalt als alle diese kontinentalen, vorübergehenden Kämpfe zusammen genommen.“259 Mindestens ist damit erklärt, warum die dortigen Theoretiker nie in jene Zwickmühle gerieten, sich nie in jene Widersprüche hineinmanövrierten, wie das ihren deutschen Kollegen widerfuhr und wie das die deutsche Staats- und Rechtspraxis über weite Teile des 20. Jahrhunderts hinweg prägt. Die englische Entwicklung steht also „im stärksten Gegensatz zu den Staaten des europäischen Kontinents, wobei es … keinen Unterschied macht, ob der europäische Staat eine Republik wie Frankreich oder ein monarchischer Beamtenstaat wie das Preußen des 19. Jahrhunderts ist“260. Wer von der „Gesellschaft“ her denkt, für den muss die englische Entwicklung Vorbild sein. Noch mehr dann, wenn man „dynamisch“ denkt. Dort wird mit dem Vorhandenen „gearbeitet“, praxisnah; das bürgerliche Recht erwächst direkt aus dem feudalen Recht, wie auch der Parlamentarismus aus der ständischen Vertretung. Von Fall zu Fall entsteht das neue Recht durch Uminterpretation „gemeinschaftlicher“ in „gesellschaftliche“ Formen. Was zählt, ist das praktische Bedürfnis. Die Kopflastigkeit, der theoretische Überschwang, das Modellhafte – all das, was das Naturrecht so „schön“ aussehen lässt, schöner als das englische Recht – fehlt und kann sich daher auch nicht zu jener Hypothek auswachsen, die insbesondere die deutsche Staats- und Rechtsentwicklung belasten wird.261 Nicht dieses ständige Zurückrudern, dieser ständige Korrekturbedarf, dieses ständige Abschiednehmen: vom 257 Hegel, RB, S. 104. 258 Eine Dynamik, die sich ein O. v. Gierke auch für die deutsche Rechtsentwicklung gewünscht hätte. (Vgl. dazu: H. Thieme, Was bedeutet uns Otto von Gierke?, in: De iustitia et iure, Festgabe für U. v. Lübtow, Berlin 1981, S. 407 ff. [S. 413].) 259 MEW 8, S. 209. 260 C. Schmitt, H, S. 13. 261 E. Fraenkel, Der Doppelstaat, a. a. O., weist an verschiedenen Stellen (z. B. S. 35, 50 f.) auf die „schwerwiegenden Konsequenzen“ hin, die diese ganz andere Entwicklung mit sich gebracht hat – bis hin zur nationalsozialistischen Staats- und Rechtsvariante.

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theoretischen Überschuss, vom idealistischen Überschwang, um den Anschluss an die Profanität der bürgerlichen Gesellschaft herzustellen. Dieser Pragmatismus scheint bis heute die Quelle zu sein, aus der eine höhere Akzeptanz der bürgerlichen Gesellschaft erwächst. Es scheint so, als würden die Engländer nicht (oder doch sehr viel weniger als die Deutschen) von dem Gefühl geplagt, mit dem Kapitalismus einen Verlust erlitten zu haben und noch zu erleiden. Sie haben weniger „theoretische Flausen“ im Kopf und vermissen daher auch weniger. Für sie ist die bürgerliche Gesellschaft „konservative Lebensform“, wie Marx bemerkt.262 Daraus erklärt sich eine ungleich größere Standfestigkeit der dortigen staatlichen Strukturen gegenüber Versuchen, sie zu revolutionieren. Jedenfalls waren sie zu keiner Zeit Gegenstand theoretischer Kämpfe, die mit jenen in Deutschland und Frankreich auch nur annähernd vergleichbar wären. Überall Missstände, über die der Franzose, der Deutsche, noch mehr: Hegel nur mit dem Kopf schütteln kann. Ämterkauf und Bestechung bei den Wahlen zum Parlament: gang und gäbe. Und doch, so muss er einräumen, ist es „dieser ganz vollkommen inkonsequente und verdorbene Zustand“263, der der bürgerlichen Gesellschaft, bisher jedenfalls, am besten gerecht zu werden scheint. Irritiert nimmt er zur Kenntnis: „[D]ie englische Verfassung hat sich bei der allgemeinen Erschütterung“ – er meint die Französische Revolution – „behauptet.“ Weshalb ist das trotz ihrer feudalen Herkunft so? Weil die „englische Verfassung so ganz eine Verfassung der Freiheit schon gewesen“, weil „jene Grundsätze in ihr schon realisiert“ waren? Weil sich die Engländer nicht von „abstrakte[n] und allgemeine[n] Prinzipien“ leiten ließen, die „ihnen leer in den Ohren liegen“?264 Dort die Transformation feudaler Staats- und Rechtsinstitute in solche der bürgerlichen Gesellschaft. Verknüpft damit, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht hinterfragt oder bloßgestellt wird. Hier Theorien, die zwar die Defizite der bürgerlichen Gesellschaft aufdecken, trotzdem aber die Wirklichkeit nur höchst unzulänglich abbilden. Wunschbilder. Geprägt durch den „Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und der idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen“.265 In Deutschland, wo besonders überschwänglich gedacht, wo besonders „theoretisiert“ wird, zieht die Historische Schule die „Reißleine“, kehrt sich vom Naturrecht ab und wendet sich „Rom“ zu. Aber auch damit wird das richtige Maß verfehlt. 262 MEW 8, S. 122. 263 Hegel, VPhG, S. 538. 264 Ebd., S. 536 f. 265 Marx, GR, S. 916.

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England geht einen Weg, bei dem das eine, das feudale Element, Stütze des anderen, des bürgerlichen Elements, ist und bleibt. Es entsteht kein Bruch, keine Entgegensetzung. Eigentlich müsste dieser Weg Hegel gefallen, weil hier der Übergang nicht durch schlechte Theorie begleitet und verunklart wird. Tut es aber nicht, denn aus seiner Sicht stehen diesen unbestreitbaren Vorteilen, dieser scheinbaren Schlüssigkeit, die für die liberalen deutschen Kreise England zum Vorbild werden lassen, ernste, ja schwerwiegende Mängel entgegen. Das ernsteste Manko: das Fehlen der Sittlichkeit. c) Versuch einer Zusammenfassung Eine „begriffslogische” Aufklärung der Natur gelangt zu zwei Naturen, der „organischen” und der „produzierten”. Im feudalen Gemeinwesen haben sie ihre letzte gemeinsame Gestalt. Danach treten sie auf dem Kontinent auseinander und gewinnen als „Staat” und (bürgerliche) „Gesellschaft” je eine selbstständige Gestalt. Anders in England. Dort formt sich das feudale Gemeinwesen „im Stück” zur bürgerlichen Gesellschaft um. Zeichen dafür, dass dabei eine Natur, die „organische”, verloren geht, ist das Fehlen der Gestalt „Staat”. Ein Staat bildet sich dort erst mit dem „organisierten Kapitalismus” heraus, also Ende des 19. Jahrhunderts. Allerdings hat er mit dem Staat Hegels nichts gemein, da er aus der Umformung des „Not- und Verstandesstaates” zum „Betriebsstaat” erwächst. Noch deutlicher wird der Unterschied zur kontinentaleuropäischen Entwicklung, wenn man die USA in den Blick nimmt. Diese entstehen sofort als bürgerliche Gesellschaft. Zur Ausbildung gelangt auch dort nur ein „Government” genannter „Not- und Verstandesstaat”, der sich erst im Rahmen des „organisierten Kapitalismus” zu einem „Betriebsstaat” umbildet. Hegels Staatsphilosophie ist hingegen dadurch charakterisiert, dass dort die beiden jetzt getrennten Naturen im „objektiven Geist” zu einem Ganzen neuer Art zusammengeführt sind. Die Organisationsform, die daraus folgt, ist seine konstitutionelle Monarchie. In England – und noch mehr in den USA – fallen aufgrund der aufgezeigten Besonderheiten, die ihre Entwicklung begleiten und charakterisieren, „Begriff ” und „Gestalt” nicht in dem Maße auseinander wie auf dem europäischen Kontinent. Beide scheinen dort vielmehr idealtypisch ineinander zu liegen – was dazu führt, dass Engländer und Amerikaner kein Bedürfnis verspüren bzw. entwickeln, über den Unterschied nachzudenken. Anders auf dem Kontinent. Dort wird der Unterschied von „Begriff ” und „Gestalt” unübersehbar, fordert zum Nachdenken darüber heraus und wird daher Gegenstand philosophischer Forschung. Die

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Suche nach dem „Begriff ” führt die dortige Philosophie, besonders die Philosophie Hegels, zu zwei Naturen. Sie sind für Hegel der „Anfangspunkt” einer wissenschaftlichen Betrachtung des Rechts und des Staates. Aber die Dialektik von Begriff und Gestalt ist objektiver Natur. Die Notwendigkeit, über sie nachzudenken und die Entwicklung auch „begrifflich” zu fassen, wird also durch die englische und amerikanische Sondersituation nicht beseitigt. Sie nur anhand der „Gestalt” nachzuvollziehen, führt auf die Dauer zu einem verengten, positivistisch geprägten Weltbild, dem die „begriffliche” Seite der Wirklichkeit fremd bleibt. Der englische Weg bringt mit sich, dass die Begriffe des (feudalen) Gemeinwesens – gerade auch die juristischen – in die bürgerliche Gesellschaft hinübergezogen werden, dort fortleben und deren spezifische Begriffe überlagern. Dargestellt an einem Beispiel: Die Franzosen des Jahres 1789 verstehen die „Menschenrechte” von der „produzierten Natur” her, also als Personenrechte. Die US-Amerikaner dieser Zeit hingegen verstehen ihre „Menschenrechte” vom (feudalen) Privileg her. Freiheit bezieht sich für Erstere auf die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft, während Letztere darunter den Erhalt und den Ausbau ihrer „Privilegfreiheiten” verstehen. Der Unterschied zeigt sich darin, dass der Freiheitsbegriff der Franzosen generell ist und daher auch dem Sklaven zugute kommt, während der Freiheitsbegriff der Amerikaner am Sklaven vorbeigeht. Im Ergebnis ist es so, dass die Zäsur, die die Geburt der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, nicht oder jedenfalls nicht ausreichend in den Blick kommt. Die Herausnahme der „organischen” Natur aus dem „Bereich des Politischen”, als vom Staat auch weiterhin zu Repräsentierendes, wird nicht als Verlust gesehen, sondern als Gewinn.

I.3 Deutschland nach dem Sturz der Monarchie (Abkehr vom kontinentalen und Annäherung an das angloamerikanische Staats- und Gesellschaftsmodell) Zum Zeitpunkt der Novemberrevolution von 1918 war Hegels Staatsphilosophie längst außer Kurs gesetzt. Über Jahrzehnte war sie, synchron zum Niedergang der deutschen Staatsrechtslehre überhaupt,266 kleingeredet, war sie zu etwas Zeitbezogenem, war sie zu etwas spezifisch Deutschem gemacht worden. Für 266 S. dazu: O. v. Gierke, Die Grundbegriffe des deutschen Staatsrechts, Tübingen 1915, bes. S. 84 ff.

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H. Heller ist 1919 Hegels Staat eine Art luft- und wasserdicht abgeschlossener Caisson, der nichts aus sich herauslässt, „auch keine Art von Gesellschaft“.267 Diese habe sich daher ebenfalls als Staat organisieren müssen, aber als ein unvollkommener. Dies lege folgende Lösung nahe: Die Umklammerung sprengen, den „Machtstaat“ beseitigen – und die bürgerliche Gesellschaft ist „frei“. Mit ihr: ihr Staat, der „Gesellschaftsstaat“. Oder Hegel diente, auch von dieser Seite um seine Dialektik gebracht, einem Rümelin, einem Rössler dazu, den Schwerpunkt nach der anderen Seite zu verschieben, in Richtung auf den absolut regierenden Monarchen.268 Gegensätzliche Sichtweisen, die schon bald nach Hegels Tod zur Spaltung in Links- und Rechtshegelianer geführt hatten. Es scheint also so zu sein, wie Taylor schreibt: „Die Geschichte widersprach jedoch Hegels Hoffnungen nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern in Bezug auf die Entwicklung der modernen Welt. Tatsächlich festigte und verbreitete sich die liberale Dreiheit von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität sehr schnell.“269 Scheinbar ist also folgerichtig, aus marxistischer Sicht: „gesetzmäßig“, was geschieht: die Beendigung des „Nebeneinander[s] sachlich unvereinbarer Inhalte“.270 Es sieht also so aus, als ob sich Deutschland mit der Gründung der Weimarer Republik endlich von einem „Missstand“271 befreit, als es den Konstitutionalismus durch einen „volksstaatlich“272 durchsetzten Parlamentarismus ersetzt. Man ist sich nun einig darin, wie die Periode von 1815–1918 zu bezeichnen ist: als Übergang von einem Aggregatszustand, dem „monarchischen“, zum anderen, dem „demokratischen“. Jene englische und französische Auffassung trägt den Sieg davon, die besagt, dass das monarchische System „als ein unvollkommenes Entwicklungsstadium der wahren Repräsentativverfassung“ anzusehen ist.273 So wird es damals gesehen und so ist es im Grunde bis heute herrschende Meinung. Einer der wenigen, die Zweifel haben, ist E.-R. Huber, für den „der Konstitutionalismus für seine Zeit eine stilgerechte Lösung der deutschen 267 H. Heller, Hegel, a. a. O., S. 65. 268 Vgl. dazu: K. Polak, Der Niedergang der Staatswissenschaft in Deutschland, in: NJ 1948, S. 39. 269 Ch. Taylor, Hegel, a. a. O., S. 596. 270 C. Schmitt, VL, S. 32. 271 Insoweit wird die WRV in beiden deutschen (Nachfolge-)Staaten positiv bzw. als „Errungenschaft“ gewertet. (Vgl. dazu: Chr. Gusy, Eine gute Verfassung mit schlechtem Image: Die Weimarer Reichsverfassung, in: Recht und Politik 2/2009, S. 74 ff.; K. Polak, Die Weimarer Verfassung. Ihre Errungenschaften und Mängel, Berlin 1952; G. Riege, Die Weimarer Verfassung im Spannungsfeld zwischen Novemberrevolution und Faschismus, in: NJ 1989, S. 346 ff.) 272 S. dazu: F. Naumann, Der Kaiser im Volksstaat, a. a. O., S. 22. 273 O. Hintze, Das monarchische Prinzip …, a. a. O., S. 360.

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Verfassungsfrage gewesen ist“274. Nicht unberechtigt kritisiert H. Boldt daran, dass diese „abweichende Beurteilung … auf einer nicht zeitgenössischen, anachronistischen Interpretation“ beruht.275 Was wohl besagen soll: Huber zieht aus dem Fakt, dass die konstitutionelle Monarchie in Deutschland immerhin rund 100 Jahre relativ reibungslos funktioniert hat, den Schluss, dass sie deshalb nicht bloß ein „Zwischenstadium“ gewesen sein kann. Und dieses Faktum allein erklärt tatsächlich wenig. Aber wenn er an anderer Stelle auf die hegelsche „Staatsmetaphysik“ und deren „legendäre Entstellung“ verweist276, zeigt er damit, dass er darin den Schlüssel für ein tieferes Verständnis der konstitutionellen Monarchie sieht. Und auch Boldt ist sich keineswegs sicher und hält es für „eine bis heute höchst umstrittene Frage“, ob die „konstitutionelle Monarchie als bloße Übergangserscheinung gedeutet werden darf“.277 Orientiert am angloamerikanischen System und verknüpft mit dem spezifisch deutschen „Volksstaats“-Gedanken wird mit der WRV eine Verfassung erarbeitet und in Kraft gesetzt, die einen doppelten Bruch bedeutet: mit der deutschen philosophischen Tradition und mit der deutschen Praxis.278 Als Kompromissgestalt stellt sie auch jene zufrieden, die „Volk“ und „Gesellschaft“ als Verschiedenes betrachten und im „Volksstaat“ den Konstitutionalismus fortgesetzt sehen. Ein Trugschluss, wie sich bald zeigen wird. Eine unglückliche, folgenreiche Kombination. Denn „Weimar“ scheitert nicht zuletzt an diesem Mix aus „Volksstaat“ und „bürgerlicher Gesellschaft“, auf den man sich rasch einigt und der scheinbar die Mitte abdeckt. Aber gegen diese Mitte hätte Hegel sich entschieden verwahrt. Mit „historisch“ gewordenen Größen kann der moderne Staat nicht begründet werden, hätte er gesagt. In „Volk“ hätte er eine Spukgestalt gesehen, die im besten Fall ohne Bedeutung bleiben würde, im schlimmen Fall aber Demagogen als Trojanisches Pferd dienen wird. Und es zeigt sich ja auch sehr bald, dass, angeheizt durch die desaströsen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, bei „Volk“ der Hebel angesetzt wird, um „Weimar“ zu demontieren und durch den „völkischen“ Staat zu ersetzen. Nach diesen Erfahrungen war es für die Verfechter der angloamerikanischen Lösung ein geradezu glücklicher Umstand, dass nach 1945 die westlichen 274 E.-R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, Stuttgart 1988, S. 11. 275 H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, S. 264. 276 E.-R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte III, a. a. O., S. 4. 277 H. Boldt, Von der konstitutionellen …, a. a. O., S. 153. 278 Im Kern durchaus richtig, wenn O. Spengler (Preußentum und Sozialismus, a.  a.  O., S.  55) kritisiert, dass in einer schwierigen Zeit die Geschichte über Bord geworfen und zur Unzeit ein Modell übernommen wird, das in England in den Jahrhunderten verankert ist.

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„Besatzungsmächte den Verfassungsrahmen von hoher Hand abstecken“279, sodass das anbefohlene GG für die geplante Westrepublik von vornherein und eindeutig auf die Belange der bürgerlichen Gesellschaft zugearbeitet ist und im Windschatten des Besatzungsregimes, ohne Beteiligung des Volkes, in Kraft gesetzt werden kann. Die konsequente Verwirklichung des „Gesellschaftsstaates“ bringt unbestreitbar Ruhe und politische und wirtschaftliche Stabilität mit sich. Und auch dies: Die Glücksverheißung der bürgerlichen Gesellschaft erfüllt sich in einem für Deutschland bisher beispiellosen Maße – wenn auch auf Kosten der „organischen“ Natur. In den Folgejahren ist die Staats-, vor allem aber: die jetzt mehr und mehr an ihre Stelle tretende Verfassungsrechtswissenschaft emsig bemüht, das GG „heimisch“ zu machen und es mit jenem Teil der deutschen Tradition zu verbinden, der den „Gesellschaftsstaat“ favorisiert. Pionierarbeit leisten dabei zwei Rückkehrer aus dem angloamerikanischen Exil: E. Fraenkel und G. Leibholz. Die jüngere Generation ist mit H. Ehmke und E.-W. Böckenförde daran beteiligt. Ersterer greift mit seiner Anfang der 1960er Jahre erschienenen Arbeit zum Thema „staatliche Wirtschaftslenkung“ auf die USA-Entwicklung zurück, der er die Bedeutung eines „historischen Tests“ zumisst.280 Seine Leistung besteht darin, die korporatistisch geprägte Integrationslehre R. Smends, die sozialdemokratisch geprägte Auffassung H. Hellers und das US-amerikanische Modell zusammenzuführen. Das Ergebnis fasst Böckenförde wie folgt zusammen: „Staat und Gesellschaft sind also nicht zwei je geschlossene, voneinander isolierte Verbände oder Gemeinwesen, der Staat ist vielmehr die politische Entscheidungseinheit und Herrschaftsorganisation für eine Gesellschaft …; er steht in notwendiger und mannigfacher Wechselbeziehung mit dieser, ohne darum aufzuhören, von ihr organisatorisch und funktional unterschieden und gesondert zu sein.“281 Die Betonung liegt auf „für“; Herrschaftsorganisation für die Gesellschaft. Im Gegensatz zum hegelschen Staat, der als Staat für beide Naturen konzipiert ist und sich von daher gegen die bürgerliche Gesellschaft richtet, wenn und soweit diese sich absolut 279 R. Grawert, Reich und Republik – Die Form des Staates von Weimar, in: Der Staat 1989, S. 486. 280 Durch Rückgriff auf den angloamerikanischen Gemeinwesenbegriff und dessen wichtigster Implikation: Staat verstanden als Government, den Gegensatz von Staat und Gesellschaft überwinden. 281 E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft, S. 406 f. Ein Wort zu ihm: Er ist einerseits Schmitt-Schüler und durch dessen Dezisionismus geprägt. Andererseits rezipiert er die sozialdemokratische Staatslehre Hellers. Beide Quellen bestärken ihn darin, in der konstitutionellen Monarchie eine Übergangslösung zu sehen. Ähnlich wie K. Marx beurteilt er sie als eine Erscheinungsform des „Bonapartismus“.

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setzen will. „Staat“ und „Gesellschaft“ unterscheiden sich für Ehmke also wie „government“ und „civil society“. Das kommt der Aussage nahe, dass Staat und Gesellschaft sich wie eine Geschäftsführung zu ihrer Gesellschaft verhalten. Damit ist der Staat auf den gesellschaftsinternen Staat reduziert; auf den Staat, der für Hegel als „Not- und Verstandesstaat“ nur ein Teilstaat ist. Mit ihm zieht „Identität“ ein. Staat und Gesellschaft sind vereinigt. Alles ist jetzt in schönster Ordnung. Wenn Staat und Gesellschaft auch jetzt noch unterschieden werden, geschieht das auf Basis dieser prinzipiellen Übereinstimmung. Nur „teil-identisch“ sind beide, weil der Staat jetzt zwar Teil der Gesellschaft ist und sein Handeln von dorther bestimmt wird, aber er als deren „Überbau“ zugleich etwas anderes und insoweit: Nicht-Identisches ist. Wie H. Heller – durchaus mit Blick auf Marx – formuliert und wie später die Runde machen wird: Der Staat wird zu einer „politischen Wirkungseinheit“282, die, selbst ihr Teil, auf die Gesellschaft zurückwirkt. Was der Staat nun nicht mehr ist, wird von Böckenförde so beschrieben: Er ist keine „substanzielle Einheit“, kein „Gemeinwesen“, keine „Verbandspersönlichkeit“ mehr, die neben der bürgerlichen Gesellschaft bzw. ihr gegenübersteht. Er kann „also nicht unabhängig von menschlichen Personen gedacht werden, die im eigentlichen Sinne seine ‚Träger‘ sind, d. h., die den organisierten Handlungs- und Wirkungszusammenhang, als der er sich darstellt, durch ihr planendes, entscheidendes, ausführendes Handeln aktualisieren und verwirklichen. Diese menschlichen Träger kommen indessen selbst aus der Gesellschaft“.283 Die „organisierte Wirkeinheit“ ist also der endgültig aus seinem Bezug zur „organischen“ Natur herausgelöste Staat. Aus dem Staat für beide Naturen ist der Staat für die „produzierte“ Natur geworden. Wenn beide trotzdem nicht identisch sind, so deshalb, weil „immer die Möglichkeit und Gefahr“ besteht, dass eine bestimmte Schicht oder Gruppe der Gesellschaft „die staatlichen Herrschafts- und Entscheidungspositionen nicht nur im Sinne der notwendigen allgemeinen Angelegenheiten, sondern auch (oder primär) zugunsten partikulärer, gesellschaftsgruppenmäßiger Ziele handhaben und aktualisieren“. Wollte man diese Gefahr leugnen, wäre man „im totalen System“; dort „fallen Staat und Gesellschaft ineinander“.284 282 H. Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 228 ff.; ders., Genie und Funktionär in der Politik, in: Probleme der Demokratie (Schriftenreihe Politische Wissenschaft, H. 10), Berlin-Grunewald 1931, S. 58. 283 E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung, a. a. O., S. 405 f. 284 Ebd., S. 406 f.

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Auch hier wieder die Übersetzung ins prosaische Gesellschaftsrecht à la BGB und seiner Nebengesetze285: Es besteht die Gefahr, dass der oder die Hauptgesellschafter oder auch die auf diese oder jene Weise zu ihren Geschäftsführern gemachten Personen die bürgerliche Gesellschaft an sich reißen. Beispiele dafür gibt es zur Genüge. Es müssen also „Sperrklauseln“ bzw. Kontrollinstanzen zum Schutz der Minderheitsgesellschafter oder der Gesellschafter überhaupt eingebaut werden.286 Der Staat spiegelt also die Beteiligungsverhältnisse, d. h. den konkreten Anteil der Mitglieder an ihr nicht eins zu eins wider. Deshalb (und aus weiteren Gründen) sind Staat und Gesellschaft auch weiterhin nicht identisch. Die Abkehr vom Rest des „deutschen Sonderweges“ durch Umbau des „Machtstaates“ zum „Government“ geht rasch voran. Motor ist das Bundesverfassungsgericht. Es wird zum Zentrum einer neuen Form des staatsrechtlichen Positivismus: des „Verfassungsgerichtspositivismus“.287 Einem Gericht, „dessen Erkenntnisse … als Theorieersatz akzeptiert und dessen Deutungen des Grundgesetzes als Verfassungsrecht kanonisiert“ werden288, obliegt nun, die neue Verfassung mit Leben zu füllen. Aus fast jeder Entscheidung geht der Gesellschaftsstaat gestärkt hervor. Schnell geraten die Reste des „substanzhaften“ Staates in die Defensive und werden gegen null verkleinert. Der rechtswissenschaftliche Mainstream begleitet diese Entwicklung. Die Entscheidungen des Gerichts werden fast alleiniger Maßstab bei den Fragen: was ist „Staat“?, wie viel „Staat“ ist notwendig? – und deren Beantwortung. Nur wenige kriti285 H. Heller (Hegel …, a. a. O., S. 84) weist darauf hin, dass das Naturrecht „den Staat fast jeder privatrechtlichen Vereinigung gleichgesetzt … und sein Rechtsstaatsideal soweit vorgetrieben [hat], dass der durch die Macht gesetzte Unterschied zwischen Staat und privatrechtlicher Gesellschaft völlig verwischt war“. Ein gegenwärtiger Autor, W. Heun (Der staatsrechtliche Positivismus …, a. a. O., S. 368, Fußnote 11) weist darauf hin, dass „vielfach … der Begriff der Verfassung auf deren Funktionen reduziert [wird], was eine Verfassung kaum noch von einer Vereinssatzung abhebt“. 286 Das Problem der Verselbstständigung des Managements gegenüber ihrer Gesellschaft bzw. ihren Aktionären durch den Typus des raffgierigen, in puncto persönliche Bereicherung über alle Stränge schlagenden Managers hat im Bereich des privaten Gesellschaftsrechts die „Corporate Governance“, ein Bündel vertrauensbildender Spielregeln zum Zusammenwirken von Aktionären und Geschäftsführung, auf den Plan gerufen. Wichtig scheint mir zu sein, dass der Zusammenhang hier wie dort der gleiche ist: Die prinzipielle Identität zwischen Gesellschaft und Geschäftsführung schützt nicht vor solchen Verselbstständigungstendenzen. Oftmals ist es doch so: Je größer und damit anonymer die Gesellschaft ist, umso selbstherrlicher agiert die Geschäftsführung. 287 M. Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, Stuttgart 2001, S. 20. 288 M. Jestaedt, Bespr. von: Chr. Möllers, Der vermisste Leviathan, in: AöR 2009, S. 122.

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sche Stimmen – und diese meist aus dem Lager der alten Garde – begleiten diese Entwicklung. E. Forsthoff gehört zu ihnen. Er sieht, dass ein guter Teil des traditionellen Staates „zu den Akten“ gelegt und aus dem Gegenstand der Staatsrechtswissenschaft verdrängt ist. Letztere verliert damit ihren „logischen Bezugspunkt“, kritisiert er, was sie zwinge, diesen durch „unpolitische, surrogatäre ideologische Hypostasierungen“ zu ersetzen.289 Sie schrumpfe bei dieser einseitigen Orientierung zur „Rechtsstaatswissenschaft“.290 Schon Anfang der 1960er Jahre ist der Staat so weit umgebaut, dass besagte „alte Garde“ – Leute, die schon in Zeiten mit deutlich mehr „Staat“ aktiv waren – ihn nicht mehr wiedererkennt und das „Ende des Staates“ gekommen sieht.291 Mithilfe ihrer Besatzungsmächte beendet die BRD also endgültig den „deutschen Sonderweg“, zieht die Lehren aus dem Weimarer „Volksstaat“-Experiment und bringt den politischen Staat zum „Absterben“. Ihr gelingt damit jenes Kunststück, an dem der reale Sozialismus scheitert. Vehikel des „Umbaus“ sind die Grundrechte. Früher verstanden als Abwehrrechte gegenüber dem Staat, werden sie jetzt durch „Ausklammerung des Staatsbegriffs“ aus ihnen und „Verlagerung der Grundrechtsgeltung in den gesellschaftlichen Bereich“292 zu absoluten Werten bzw. zu Personenrechten erhoben. Damit sind der Zwang und dessen inhaltliche Seite: die Pflicht (dem „Ganzen“ gegenüber), jene Grundsäulen des alten Staates, aus der Welt geschafft. Scheinbar. Denn richtig ist nur, dass der politische, der gegen die bürgerliche Gesellschaft im Sinne einer Eindämmung ihrer (selbst-) zerstörerischen Kräfte gerichtete Zwang in den Hintergrund tritt, während gleichzeitig der ökonomische Zwang zur vorherrschenden Zwangsform wird; er ist die Zwangsform der Gegenwart, noch mehr: der Zukunft.293 Freilich, der Staat bekommt ein zunehmend „zivileres“ Gesicht, wenn er „Wirtschaftsstaat“ wird. Das könnte nur dann erfreulich sein, wenn er sich als solcher mindestens auch als Interessenvertreter der „organischen“ Natur verstünde. Das ist nicht, jedenfalls vollkommen unzureichend der Fall. Kennzeichnend ist vielmehr die weitere Verselbstständigung des „produzierten“ Gemeinwesens, gepaart mit wei289 E. Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in: Der Staat 1963, S. 386. 290 E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, S. 46. 291 E. Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat, a. a. O., S. 392: „Die Situation des modernen Staates ist“ jetzt „die, dass er kein Staat mehr ist“. 292 Ebd., S. 393. 293 Dazu C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Ders., PuB, S. 79: „Die ökonomisch funktionierende Gesellschaft wird … Mittel und Wege finden, einen Störer außerhalb ihres Kreislaufs zu stellen und ihn auf eine nicht gewaltsame, ‚friedliche‘ Art unschädlich zu machen, d. h. konkret gesprochen, ihn nötigenfalls verhungern zu lassen.“

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terer Unterjochung der Natur und weiterer „Entmenschung“ der „produzierten“ Verhältnisse und Zusammenhänge. Der Staat als Korrektiv, der Staat als Faktor der Sittlichkeit wird im Zuge dieser Entwicklung zu Grabe getragen. Seine Bedeutungsverluste werden jeden Tag augenfälliger. Immer sichtbarer wächst aus dem Unterholz ein Staat neuer Güte heraus: der unverfälschte „Gesellschaftsstaat“. Seinem Wesen nach ist er international, asozial und unsittlich, zusammengefasst: naturzerstörend. Zurück zum „deutschen Sonderweg“: Wie, wenn er eine Schimäre wäre? Wenn das Bewusstsein jener seiner Zeitgenossen nicht trügt, die in ihm „keineswegs … eine reaktionäre Verzögerung“ sehen, sondern „eine ernsthafte, in vielem überlegene und bessere Alternative zu den westeuropäischen parlamentarischen Demokratien, zur parlamentarischen Monarchie Englands und vor allem auch zur parlamentarischen Republik Frankreichs“.294 Und wenn man weiter berücksichtigt, dass im 19. Jahrhundert „der monarchische Konstitutionalismus die typische Regierungsform nicht allein Deutschlands war“295. Wie also, wenn wir in ihm den „Normalfall“ zu sehen haben? Wenn eher die englische, noch mehr: die amerikanische Entwicklung der „Sonderfall“ ist? In Hegels Philosophie hat er jedenfalls einen festen Grund. Allerdings müsste man sich entschließen, „die legendäre Entstellung der Hegelschen Staatsmetaphysik wegzuräumen“, also in seinem System mehr zu sehen als nur „eine kolossale Fehlgeburt“296, mehr als „Akkommodation“ oder „metaphysischen Hokuspokus“. Wäre die These vom „deutschen Sonderweg“ falsch, wofür neuere Forschungsergebnisse297 sprechen, ergäbe sich die Anschlussfrage: War es dann nicht falsch, ihn aufzugeben?

I.4 Exkurs: Das Übergehen der Familie „in ein anderes Prinzip“ (Von der „Wirtschaftsfamilie“ zur „Unternehmung“) Tausend Jahre nach „Rom“ zerfällt das über „Blut“ und „Boden“ gebundene Gemeinwesen in zwei Teile, die sich zunächst „als Totalitäten für sich konstituieren“298. Da dieser Vorgang aber eine „Aufhebung“ ist, wird das Aufgehobene nicht zu nichts, sondern bleibt im Geistigen aufbewahrt. Und es 294 H. Boldt, Von der konstitutionellen …, a. a. O., S. 161. 295 M. Kirsch, Monarch und Parlament …, a. a. O., S. 393. 296 MEW 19, S. 206. 297 S. dazu die soeben genannte Arbeit von M. Kirsch. 298 § 141/Anm. Rph.

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verbleibt als Dach für diese „relativen Totalitäten“299, für „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“. Nehmen wir auf der Ebene der „Besonderheit“ die „Wirtschaftsfamilie“ in den Blick: Auch sie zerfällt

•• unter „Verlust der Sittlichkeit“300 zur „Unternehmung“ und •• in die auf „Liebe“301 gegründete Kernfamilie. Und auch hier ist es so, dass sie nun das „Geistige“ bildet, über das die Zerfallsprodukte weiterhin verbunden sind. In beiden, in der „Unternehmung“ und in der „Restfamilie“, lebt sie also fort, gewinnt in ihnen eine neue „selbständige Realität“302. Wenn Hegel dazu sagt, dass sie jetzt „in ein anderes Prinzip“ übergeht, bedeutet das zuallererst, dass das „Ökonomische“ ausgelagert wird und auf die Seite der bürgerlichen Gesellschaft wechselt. Zurück bleibt auf der Ebene des „Organischen“ die ökonomisch entkernte, jetzt um die „Liebe“ zentrierte bürgerliche Kleinfamilie. Aber die bürgerliche Gesellschaft selbst ist ja nicht produzierende Einheit, sondern bildet nur den Rahmen für sie. Die Produktion findet im Unternehmen statt; Letztere konstituiert sich aus jenen „unorganischen“ Elementen, die die frühere „Wirtschaftsfamilie“ freisetzt. Bei Hegel jedoch findet sie keine Erwähnung – was ihm den Vorwurf eingetragen hat, dass er „die Produktion von der Zirkulation her begreift“303 bzw. dass er bei der Zirkulation stehen bleibt. Wie steht es damit? „Ausgelagert“ werden jene Größen, die dem jetzigen „Produzieren“ zugrunde liegen: Arbeit und Kapital. Nicht der Mensch tritt aus ihr heraus, sondern der Teil von ihm, der verdinglichtes Arbeitsvermögen geworden ist. Letzteres ist jetzt als sein „Äußerliches“ erkannt, anerkannt und in der „Person“ lebendig gemacht. Da zum Produzieren auch Produktionsmittel, umfassender gesagt: Kapital notwendig ist, wird auch dieses „ausgelagert“. Wichtiger aber ist, dass das Kapital als angehäufter Reichtum, als Kaufmannskapital in der bürgerlichen Gesellschaft bereitsteht und nun hinzutritt. Beide Größen, Arbeitsvermögen und 299 § 141 Rph. 300 § 181 Rph. 301 § 158 Rph. 302 § 181 Rph. 303 A. Arndt/W. Lefevre, System und System-Kritik. Zur Logik der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel und Marx, in: HJ 1986, S. 14.

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Kapital, zwei Hälften eines Ganzen, werden im Wege „objektiver Assoziation“304 zusammengeführt und konstituieren das Unternehmen. Wenn man so will: Die Familie wird auf „unorganischer“ Basis neu begründet. Zwei Hälften, die je nur unterschiedliche Formen von „Arbeit“ verkörpern – „lebendige“ und „vergegenständlichte“ – und die je für sich nichts bewirken können, finden in einem „höheren Dritten“, im „Unternehmen“, eine neue, adäquate Heimat. Bedeutsam dabei: Diese „objektive Assoziation“ ist kein Austausch. Soweit sie solcher zu sein scheint, ist dies ein „täuschender Schein“.305 Das „Produzieren“ löst sich von der Familie ab, emanzipiert sich, wechselt auf die andere Seite, institutionalisiert sich dort. Damit ist die bürgerliche Gesellschaft komplett. Das „Haus“ als „Leib der einfachen Gemeinschaft“306 ist ersetzt durch die „Unternehmung“, die „Leib“ der Gesellschaft ist. Ein denkwürdiges, schicksalhaftes Ereignis und gegenüber „Rom“ jene große Veränderung, die Hegel in die Worte fasst: „Die selbständige Entwicklung der Besonderheit ist das Moment, welches sich in den alten Staaten als das hereinbrechende Sittenverderben und der letzte Grund des Untergangs derselben zeigt.“307 Missverständlich aber, wenn er formuliert: „Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt.“308 Denn sie schiebt sich zwar zwischen beide, spaltet sie auf und verdoppelt sie. Aber der Satz wäre richtiger (und auch vollständiger), wenn er lautete: „Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen den Menschen und die Familie tritt.“ Denn auch der Mensch wird ja verdoppelt. Eine Hälfte, seine „Leiblichkeit“, bleibt „organisch“, während sein Arbeitsvermögen verdinglicht wird und als Verdinglichtes Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft. Das lässt den Eindruck entstehen, als löse die bürgerliche Gesellschaft selbst die Familie als wirtschaftende Einheit ab. Aber wie das bisherige „Gemeinwesen“ nur der Rahmen war, in dem die Familie agierte, so ist jetzt die bürgerliche Gesellschaft nur der Rahmen für die Unternehmung. Es ist und bleibt jedenfalls ungenau, „Übergang der Familie in die bürgerliche Gesellschaft“ so zu verstehen, als ersetze Letztere die Familie als ökonomische Einheit.309 Korrelierende Begriffe sind nicht Familie und bürgerliche Gesellschaft – sie liegen auf unterschiedlichen Ebenen –, sondern Staat und 304 Marx, GR, S. 484. 305 Ebd., S. 368. 306 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1991, S. 156. 307 § 185/Anm. Rph. 308 § 182/Zus. Rph. 309 Wie das bei K. Roth (Freiheit und Institutionen in der politischen Philosophie Hegels, Rheinfelden, Freiburg, Berlin 1989, S. 145) anklingt, wenn er formuliert, dass diese Auslagerung in

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bürgerliche Gesellschaft; den Staat muss die Letztere „als ein Selbständiges vor sich haben“310, um selbst Totalität sein zu können. Entscheidend ist also, dass die Wirtschaftsfamilie übergeht „in ein anderes Prinzip“ – was heißt: Sie findet sich im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft wieder und konstituiert sich dort als „Unternehmung“. Und jetzt erst ist die bürgerliche Gesellschaft „vollständig“. Denn zu den Momenten der „Einzelheit“ und der „Allgemeinheit“ ist nun das Moment der „Besonderheit“ hinzugetreten. Jenes „Ur-Teil“ also: das zunächst aus dem Blick geratene gemeinschaftliche Produzieren. Die Unternehmung ist also jene neue „Eine Person“, die an die Stelle der früheren Wirtschaftsfamilie tritt. Ihre Konturen bleiben bei Hegel unscharf.311 Er umschreibt sie allenfalls mit Wendungen und Bildern. Nur undeutlich zeigt sich bei ihm, dass das ehemalige, jetzt zur „Person“ gewordene Glied der Familie seine Tätigkeit im Unternehmen fortsetzt, und zwar mehrheitlich nicht als Kapitalist, sondern als Lohnarbeiter. Das Unternehmen ist, wie vordem die „Wirtschaftsfamilie“, „Person“ und duldet daher in seinem Inneren keine weiteren Personen. Während der Arbeitszeit ist also die Personalität ihrer Glieder – und zwar unabhängig von ihrer Stellung – suspendiert. Die hierarchischen Verhältnisse innerhalb der Wirtschaftsfamilie setzen sich in ihr fort. Im Unterschied also zur bürgerlichen Gesellschaft, wo die „Person“ agiert, agiert hier das „Glied“. Dort steht der Betreffende „im Recht“ – hier, im „rechtsfreien Raum“, unterliegt er der „Direktion“. Das sieht Hegel nur im Umriss. Eher entsteht der Eindruck, als würde der aus der Familie Ausgeschiedene jetzt selbst Produzent sein, als reihe er sich – was ja im Einzelfall vorkommt! – selbst in die gesellschaftliche Arbeitsteilung ein. Das entspräche dem Modell der einfachen Warenproduktion. Regelfall aber ist, dass er nur vom Glied der familieninternen zum Glied der innerbetrieblichen Arbeitsteilung wird. Wer bisher unter der Fuchtel des „Hausvaters“ stand, steht jetzt unter dem Kommando des Kapitals und seiner Funktionäre. Dieses Defizit an ökonomischer Kenntnis, welches Hegel oft genug „angekreidet“ worden ist,312 muss in seiner Zeit, besonders angesichts der zurückgebliebenen deutschen Verhältnisse, nicht verwundern. Verwunderlich aber ist, dass es bis heute in Darstellungen zur bürgerlichen Gesellschaft nur ungenügend zur Sprache gebracht wird. Obgleich dort, in der Unternehmung, eine „transfamiliale Sphäre“ erfolgt, die Hegel später „‘bürgerliche Gesellschaft‘ zu nennen pflegte“. 310 § 182/Zus. Rph. 311 Vgl. dazu: H.-C. Schmidt am Busch, Arbeit zwischen Marx und Hegel, in: DZPh 49 (2001), S. 757 ff. 312 Zum Beispiel auch durch G. Lukacz, Der junge Hegel, S. 684 ff.

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die „Musik“ spielt; auch die politische. Ausgespart ist damit auch etwas Generelleres: die „Besonderheit“. Sie steht bis heute im Schatten. Mit der Folge, dass diese offene Flanke dazu ausgenutzt wird, Hegel liberalistisch zu deuten und überall dort mit der Paarung „Individuum“ und „Gesellschaft“ zu hantieren, wo längst die „Besonderheit“ als eigenständige Qualität hinzugetreten und tonangebend geworden ist. (Wir werden [im Kapitel V] noch sehen, dass diese Ebene der „Besonderheit“, zur Zeit der freien Konkurrenz punktuell auf die Unternehmung begrenzt, mehr und mehr von der bürgerlichen Gesellschaft Besitz ergreift und sie deformiert. In den Extremfällen „Drittes Reich“ und DDR geht das so weit, dass das innerbetriebliche Regime nahezu vollständig auf den gesellschaftlichen Raum erstreckt wird, was zum „Betriebsstaat“ führt.) Freilich, der Blick auf die Unternehmung ist auch deshalb verstellt, weil sie nicht eins zu eins aus dem „Unorganischen“ der Familie hervorgeht. Denn wie schon angedeutet: Die Kapitalseite der Unternehmung erfährt eine ungeheure Ausdehnung dadurch, dass das in der Zirkulationssphäre angehäufte Kapital hinzutritt und die bisherigen engen Maßstäbe des Produzierens kolossal ausweitet. Der Fall, dass sich der aus der Wirtschaftsfamilie ablösende Teil direkt zur Unternehmung konstituiert, kommt zwar vor, ist aber die Ausnahme. Marx meint dazu: „Es steht dem nicht im Wege, dass bei der Auflösung der Zünfte einzelne Zunftmeister sich in industrielle Kapitalisten verwandeln; indes ist der Kasus rar und so der Natur der Sache nach. Im ganzen geht das Zunftwesen unter, der Meister und der Gesell, wo der Kapitalist und der Arbeiter aufkommt.“313 Die Anerkennung des Arbeitsvermögens als Ware, mithin: als etwas Produziertes, mithin: als etwas Selbstständiges außerhalb des Menschen, erweist sich somit als die entscheidende Veränderung gegenüber „Rom“; sie führt zur bürgerlichen Gesellschaft wie zum „Unternehmen“. Aber wer produziert die Arbeitskraft? Die Frage führt uns zur Familie, jetzt: zur auf „Liebe“ gestützten Kleinfamilie zurück. Liebe hin, Liebe her. Ökonomisch hinterfragt, ist und bleibt auch die Kleinfamilie Produktionsstätte. Nur ist sie jetzt auf ihr „Kerngeschäft“ reduziert: auf die Produktion von Arbeitskraft. Auf die „Urproduktion“. Beide Hälften der Familie: die Kleinfamilie und die Unternehmung, sind daher unter das „Produzieren“ zu fassen; die „Produktion“ ist ihr Gemeinsames. Die Erzeugung von Kindern ist also jetzt, nach Separierung der Arbeitskraft vom Menschen, 313 Marx, GR, S. 405.

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ebenso unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten wie die Herstellung so profaner Produkte wie Auto und Kühlschrank. Allerdings spricht Hegel in diesem Zusammenhang nicht von „produzieren“, sondern von „formieren“. Aufgabe der Familie ist es, durch Erziehung, durch „Zucht“, wie er sagt, den erzeugten Nachwuchs zur Arbeitskraft zu formieren. Die in den Kindern angelegte Möglichkeit, in Gestalt ihres Arbeitsvermögens später die „Form der Sache“ – einer möglichst wertvollen Sache – anzunehmen, ist in „Wirklichkeit“ umzusetzen. Dazu ist das „bloß Sinnliche und Natürliche“ in ihnen „auszureuten“. Denn: „Was der Mensch sein soll“, nämlich „Arbeitskraft“, „hat er nicht aus Instinkt, sondern hat er sich erst zu erwerben“.314 Je größere Anforderungen an die Arbeitskraft gestellt werden, eine desto langwierigere und auch teurere Angelegenheit ist dieses „Formieren“. Die Familie ist damit zunehmend überfordert. Ihre Anstrengungen müssen daher ergänzt werden durch die bürgerliche Gesellschaft. Mit bereitgestellten Kindergärten, Schulen und Universitäten, mit finanzieller Unterstützung aller Art hat sie ihren Beitrag zu leisten. Die Subventionierung dieser „Urproduktion“ folgt also den gleichen ökonomischen Kriterien, denen auch die Subventionierung der „profanen“ Produktion folgt. Wenn man denn den Begriff dafür gebrauchen will: dieser Beitrag zur Herstellung, Unterhaltung und Bereithaltung von Arbeitskraft, moderner ausgedrückt: von „Humankapital“, fällt unter „Sozialstaat“. Hegels bürgerliche Gesellschaft unterscheidet sich daher vom liberalistischen Modell auch dadurch grundsätzlich, dass er sie insoweit als „allgemeine Familie“315 begreift, der ein Teil der Rechte und Pflichten der jetzigen Kernfamilie übertragen sind. Er sieht also von vornherein Einrichtungen vor – abgehandelt unter den Überschriften „Polizei“ und „Korporation“316 –, denen diese Beihilfe zur „Urproduktion“ auferlegt ist, die insoweit also Funktionen der ehemaligen Familie übernehmen. Das fertige Produkt „Arbeitsvermögen“ wird in die bürgerliche Gesellschaft entlassen, betritt dort als „Person“ den Markt, verkauft sich dort an das Unternehmen, wird dort Teil des modernen „Produzierens“. Das „Übergehen“ in die bürgerliche Gesellschaft ist also ein Zwischenschritt, der weitergedacht werden muss; es endet erst in der Unternehmung. Das Dasein des „Haussohnes“ oder des Knechtes setzt sich in ihr als Dasein des Lohnarbeiters fort. Der Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ zieht also nach sich, dass nun zwei ehemals ineinander liegende Produktionsweisen getrennt sind: 314 § 57 u. § 174 Rph. 315 § 239 Rph. 316 Informativ dazu: W. Kersting, Polizei und Korporation …, a. a. O., S. 373 ff.

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•• die Produktion der Arbeitskraft; •• die Produktion materieller Güter, die größtenteils dem Erhalt der Familie dienen und nur bei Überschüssen verkauft bzw. getauscht werden.

Beiden ist gemeinsam, dass sie „Kollektivität“ erfordern. Nur Mann und Frau gemeinsam erzeugen das Kind. Und die Unternehmung wird nur deshalb zur produzierenden Einheit, weil in ihr „Arbeit“ und „Kapital“ zusammengeführt sind. Je für sich bringen sie es zu nichts. In der Ehe und in der Unternehmung werden also die Gegensätze überbrückt bzw. aufgehoben. Beide sind sie daher „höhere Dritte“. Hegel versteht die Wirtschaftsfamilie als „selbständige konkrete Person“, als „allgemeine und fortdauernde Person“. Als solcher ist ihr „festes Eigentum“ zugeordnet, ist sie im Besitz „bleibenden und sicheren … Vermögens“; „gemeinsames Eigentum“, das vom „Hausvater“ nur verwaltet wird.317 In ihrem Inneren ist (folglich) die „Personalität“ ihrer Mitglieder aufgehoben; sie sind also nur außerhalb der Familie „Personen“. Das ist auf die Unternehmung übertragbar. Auch sie ist „rechtliche Person“. Ihr ist Vermögen zugeordnet, das die Grundlage ihrer „Personalität“ ist.318 Nicht Marx (wie man meinen könnte) knüpft hieran an und zieht daraus Schlüsse, sondern Rodbertus für die sozial-ökonomische und Otto von Gierke für die juristische Seite. Ihre spezifischen Konsequenzen daraus werden im Falle des Ersteren von Marx/Engels als „Preußischer Staatssozialismus“ verworfen. Die Beurteilung Gierkes wäre mit Sicherheit noch negativer ausgefallen, obwohl er – wie noch zu zeigen sein wird – mit seiner „Genossenschaftslehre“ nichts anderes sagen will, als dass die „produzierten“ menschlichen Zusammenhänge, zum Beispiel in Gestalt der Unternehmung, eigenständige Wesenheiten sind. Er zieht damit den juristischen Schluss aus dem auch von Marx erkannten „produzierten Gemeinwesen“319. Beide stehen sich also in der Sache näher, als es scheint. Nicht der Kapitalist steht dem Proletarier gegenüber. Sondern: Beiden steht das Unternehmen als „das wahre Gemeinwesen“ gegenüber.320 In ihrem Inneren agieren beide, Lohnarbeiter und Kapitalist, nicht als Personen, sondern als unselbstständige Glieder der Person „Unternehmung“ – wenn beide auch einem ganz unterschiedlichen Status 317 §§ 169, 170, 171 Rph. 318 S.  dazu: D. Suhr (Staat, Gesellschaft, Verfassung von Hegel bis heute, in: Der Staat 1978, S. 391 ff.), der die Unternehmung als „Ausübungsgemeinschaft“ bezeichnet. 319 Marx, GR, S. 399. 320 Ebd., S. 396 (Hervorhebung bei Marx).

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unterliegen. Gleiche, d. h. Personen, sind sie nur als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, also außerhalb der Unternehmung. Was Hegel also entdeckt, ist das (kollektive) Produzieren in der überindividuellen Einheit „Unternehmung“. Sie meint er, wenn er von „Besonderung“ spricht. In ihr sind die „Extreme“: lebendige und vergegenständlichte Arbeit, zur „Einheit zusammengeschlossen.“321 Vergliche man es mit dem biologischen Vorgang der Zellteilung, so ergäbe sich: Die vormalige produzierende Einheit, die Wirtschaftsfamilie, teilt sich auf in zwei Personen, die künftig getrennte Wege gehen und getrennte Aufgaben zu erfüllen haben. Die „Unternehmung“ beendet das behäbige, übersichtliche, naturverträgliche, das „sittliche“, das gebrauchswertorientierte Produzieren. „Produktion“ ist jetzt vom anderen Ende her organisiert: Sie ist tauschwertorientiert; hergestellt werden Waren, die sich erst auf dem „Markt“ als Gebrauchswerte beweisen müssen. Dynamik zieht ein. Problem aber: Mit ihr verbindet sich der Drang, ihre Grenze zu verkennen, „sich als ein Ganzes und Absolutes zu konstituieren“322. Diese Dynamik ist gefährlich, wenn sie außer Kontrolle gerät; sie bedroht dann die Existenz der Schöpfung. Wir stehen vor dem ökonomischen „Sündenfall“ bzw. vor der „Tragödie des Sittlichen“, wie Hegel sagt. Das Ökonomische emanzipiert sich, was heißt: Es entzieht sich der „Sittlichkeit“; seine „sittliche Bestimmung [ist] aufgehoben“323. Nicht mehr der Mensch ist jetzt Zweck der Produktion, sondern der Reichtum.324 Die Unternehmung und ihre selbstständige Entwicklung sind anzuerkennen. Kein Weg führt daran vorbei. Sie ist das „reelle Praktische“, sie bildet zusammen mit der bürgerlichen Gesellschaft das „System der Realität“.325 Aber Hegel bleibt dabei, dass das „Verhältnis der organischen zur unorganischen Natur“ nicht umgekehrt werden dürfe.326 Der Tendenz des „Unorganischen“, tonangebend zu werden, ja sich absolut zu setzen, muss also entgegengewirkt werden. Es muss in einer besonderen Sphäre eingegrenzt werden. Nur dort darf es „freigelassen“ werden, nur dort darf es sich „in seiner ganzen Länge und Breite ausdehnen“.327 Er bringt sie zwar nicht auf den Begriff: Aber die „Unternehmung“ ist in seinem „System der Bedürfnisse“ umschrieben und vorbereitet. Insofern leistet 321 Hegel, WdL (B), S. 109. 322 Ebd., S. 519. 323 § 181/Zus. Rph. 324 Vgl. Marx, GR, S. 387. 325 Hegel, NR, S. 489. 326 Ebd., S. 487. 327 Ebd., S. 492.

Vom „Gemeinwesen“ zu „Staat“ und „bürgerlicher Gesellschaft“  |

Hegel mehr, als die einschlägige Wissenschaft – man kann sagen: bis heute – zustande bringt. An diese Leistung anzuknüpfen ist ein Auftrag an die nachfolgenden Generationen. Schon deswegen, weil die bis heute bestehende Lücke zwischen dem „Individuum“ und der „Unternehmung“ mir der Ort einer zeitgemäßen Privatrechtstheorie zu sein scheint. Ihr zentrales Subjekt wäre die Unternehmung; diese wäre richtigerweise als „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“ anzusehen – in höherem Maße jedenfalls als der einzelne Mensch. Die Kunstfigur „juristische Person“ verfälscht insofern die Sachlage, weil sie die „Unternehmung“ zum bloßen Derivat der „natürlichen Person“ macht. Ihr Ausgangspunkt ist also, dass die Realität der Unternehmung zunächst „von einem dogmatischen Individualismus bestritten [wird], der nur die Wirklichkeit einzelner Menschen“ als Personen gelten lässt328, um dann über die Fiktion „Person“ zu werden. Sie ist jedoch Person aus sich heraus, muss also nicht erst zu einer solchen gemacht werden. Auch Marx nähert sich ihr nur vom Ökonomischen her; er umreißt sie mit dem Begriff „objektive Assoziation“. Sein „römisch“ geprägtes Rechtsverständnis hindert ihn aber, daraus einen Schluss zu ziehen, der an Hegel anknüpft329. Anders O. v. Gierke, der mit seinem „genossenschaftlichen“ Ansatz die Unternehmung als originäre „Verbandsperson“330 zu erkennen vermag und ihr damit das ihr „Gebührende zuteil“ werden lässt.331 Folgte man dem philosophischen Ansatz Hegels, der ökonomischen Darstellung eines Marx, der „Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit“ eines Gierke, so ergäbe sich: Die Unternehmung wäre die spezifische, sie charakterisierende Person der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Hauptperson. Durch sie unterscheidet sie sich von „Rom“ und von der einfachen Warenproduktion. Noch deutlicher gesagt: Das, was „juristische Person“ genannt wird, ist die natürliche Person der bürgerlichen Gesellschaft. Sie müsste im Mittelpunkt des BGB stehen. „Rom“ konnte nicht fortschreiten zu ihr. Dort gehören Produktion und Austausch unterschiedlichen Naturen an, dort stehen sie sich zusammenhangslos, ja feindlich gegenüber. Eine unsichtbare Wand trennt sie. Die Folge für das Recht: Es konstituiert sich auf der Basis dieser nur um den Austausch zentrierten, vorbürgerlichen Gesellschaft. Was ihm fehlt, ist die Rückkopplung zum Produzieren, zur anderen Welt! Das Recht knüpft nicht an das „Aneignen“ an, sondern an das fertige, austauschbereite Produkt. Das ökonomische und (damit) 328 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925, S. 92. 329 S. dazu Kapitel II.5. 330 O. v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Berlin 1902, S. 10. 331 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O.

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juristische Denken beginnt gewissermaßen erst hinter dieser Grenze. Der Eigentumsbegriff ist deswegen, weil abgekoppelt vom Aneignen, abstrakt und auf das fertige Produkt fixiert. Das erklärt, warum die Begriffe des römischen Rechts so gestochen scharf ausfallen: Sie werden nicht „verunreinigt“! Sie scheinen für die Ewigkeit geschaffen zu sein, weil die Zirkulationssphäre als ein sauber von der Produktion abgetrennter, als ein relativ stabiler, adynamischer Bereich erscheint. Mehr konnte „Rom“ nicht leisten. Der so gefasste Eigentumsbegriff ist der konkret-historische der römischen Gesellschaft. Anders jetzt: Weil die bürgerliche Gesellschaft die Einheit zweier Sphären ist, die in Rom durch eine Mauer voneinander getrennt sind, kann der römische Eigentumsbegriff nicht auch jener der bürgerlichen Gesellschaft sein. Das ist ein Punkt, der uns noch beschäftigen wird. Hier nur so viel: In puncto „Zirkulation“ knüpft die bürgerliche (Rechts-)Ordnung scheinbar an „Rom“ an. In puncto „Produktion“ jedoch nicht; hier geht sie aus den feudalen Verhältnissen hervor. Und nur insofern, mit dieser Einschränkung, kann die bekannte Aussage von Marx gelten bzw. verstanden werden, wonach das römische Recht als das Recht einer Waren produzierenden Gesellschaft für den Kapitalismus reklamiert werden musste. Aushilfsweise gewissermaßen. Denn mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft als dieser Einheit von Produktion und Zirkulation wird zum einen eine ihr adäquate „Sphäre des Rechts konstituiert“332, zum anderen ein spezifischer, konkret-historischer Staat, der „Not- und Verstandesstaat“ Hegels, der „Vertragsstaat“ des Naturrechts, der Staat, der die Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft betreibt.

332 Hegel, NR, S. 484.

Kapitel II Recht ohne Mitte – Das BGB im Spiegel der „Rechtsphilosophie“ Vorspruch Seit Jena verfolgt Hegel das Ziel, das herrschend gewordene Verständnis von „Naturrecht“ abzulösen durch ein solches, das „Recht“ nicht nur als Produkt und Instrument der „produzierten“ Natur ansieht. Im Unterschied zu den beiden Modellen, die er in § 258 Rph anspricht: dem Rousseaus und dem Hallers, ersetzt er nicht das Recht der einen durch das Recht der anderen Natur, sondern führt beide in der „Sittlichkeit“ auf neue Weise zusammen. Also nicht die eine oder andere Art von „Naturrecht“. Vielmehr: ein Recht – sittliches Recht –, das beide Arten und ihre Einseitigkeit überwindet.333 Das tief gestaffelte, verschachtelte System der Privilegien und Abhängigkeiten, über das sie bisher verschränkt waren, dieses feudale „Mischrecht“, ist jetzt nach den zwei Polen hin generalisiert bzw. „zugespitzt“334, die für die beiden Naturen stehen: „Staat“ und „Gesellschaft“. Damit ist das feudale Recht als Recht einer „Einheitsnatur“ aufgehoben. Es wird damit aber nicht zu nichts. Denn aufgrund ihrer völlig anderen Struktur, „atomistisch“ die eine, „organisch“ die andere, verteilen sich die Rechte der „produzierten“ Natur auf ihre Atome, die Personen, während das „Recht“335 der „organischen“ Natur unaufgeteilt bleibt. Der sittliche Staat, als Aufhebungsprodukt neue Qualität von Staat, ist nun berufen, dieses „Recht“ als Pflicht gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Mitgliedern geltend zu machen und durchzusetzen. Er wird insoweit als Treuhänder dieser Natur tätig. Das führt zu einer dualistischen Konstruktion. Der übergreifende Gesichtspunkt, dem darin Ausdruck verliehen ist, ist 333 Unbestritten: Das führt zu einem „für Juristen ungewöhnlichen Rechtsbegriff“, zu einem solchen, der von dem „der Rechtswissenschaft völlig abweicht“ (W. Schild, Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosophie, in: ZÖR 1978, S. 29 u. S. 31) – was bis heute, m. E. zu Unrecht, mehrheitlich (auch von Schild) so interpretiert wird, dass Hegel und nicht der gängige Rechtsbegriff „danebenliegt“. 334 Das Thema der „Spitze“ bzw. der „Zuspitzung“ erläutert Hegel seinen Studenten anhand der Problematik, die in § 141 Rph angesprochen ist (Übergang der Moralität in die Sittlichkeit) – s. § 141 Rph-A. 335 Wenn man diesen Begriff, der zur „produzierten“ Natur gehört, hier zur Verdeutlichung gebrauchen will.

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der: Der Bestand der „organischen“ Natur muss dauerhaft gesichert bleiben. Die Freiheit der „produzierten“ Natur muss dort ihre Grenze haben, wo die andere Natur durch sie in Gefahr gerät. Unter diesem Gesichtspunkt bestimmt Hegel in § 29 Rph die Grenzen des Rechts. Er setzt sich mit Kants Formel auseinander, wonach die „Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür, dass sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“, den modernen Rechtszustand charakterisiere. Das ist ungenügend, weil nur auf die Belange der „produzierten“ Natur bezogen. Die Beschränkung, die darin ausgesprochen ist, ist nicht umfangreich, ist nicht „substanziell“ genug.336 Denn sie bezieht sich nur auf die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft untereinander. Sie verhindert nur die Selbstzerstörung der „produzierten“, nicht aber die Zerstörung der anderen Natur. Sie ist also auf eine Weise ausgesprochen, die das Vernünftige darin „nur als beschränkend für diese Freiheit“ erscheinen und ihren Charakter als „immanent Vernünftiges“ untergehen lässt. Sein Anliegen daher: Die Einschränkung der Willkür durch das Vernünftige ist als das Positive zu zeigen. „Vernünftiges“ Recht muss von vornherein den Bereich aufzeigen, der außerhalb der „produzierten“ Natur liegt. Er liegt damit auch außerhalb des Rechts; über ihn kann somit mit dessen Mitteln nicht verfügt werden. Das gilt für die „organische“ Natur; sie hat keine Rechte und braucht das Recht nicht. Das bedeutet aber nicht, dass sie bloßes Objekt, dass sie der Sklave der „produzierten“ Natur ist. Vielmehr steht sie über ihr und ihrem Recht. Sie ist mehr und sie ist wichtiger als diese beiden. Das Recht, gesehen als juristisches Instrument der Aneignung, hat sich also zu beschränken auf die „produzierte“ Natur. Hier kommt der Staat ins Spiel. Dieser hat als Repräsentant des „Naturprinzips“ die „Rechtsgrenze“ sicherzustellen. Die primäre Natur ist nicht Rechtsobjekt. Das ist durch das sittliche Recht sicherzustellen. Nicht in der Weise, dass ihr „Rechte“ zuerkannt werden, sondern durch Formulierung einer Pflicht337 ihr gegenüber, der das „Gesetz“ Geltung zu verschaffen hat. Das „gesetzte“ Recht ist bei Hegel also Recht, das von der Existenz zweier Naturen ausgeht und es auf die „produzierte“ Natur beschränkt. Anders als Haller rückverwandelt er das Recht der „produzierten“ Natur jedoch nicht in das Recht einer imaginären Gemeinschaft, sondern er integriert den Schutz der primären in das Recht der „produzierten“ Natur. Das geschieht in 336 Vgl. dazu N. Hartmann, Die Philosophie …, a. a. O., S. 316 f. 337 Unter diesem Gesichtspunkt ist m. E. die – die gesamte „Rechtsphilosophie“ durchziehende – Dialektik von Recht und Pflicht zu sehen. Besonders deutlich äußert er sich in § 260/Anm. Rph dazu.

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den Abschnitten, die die „Sittlichkeit“ zu ihrem Gegenstand haben.338 Zunächst aber stellt er dar, was aus dem Zerfall des einheitlichen feudalen Gemeinwesens hervorgeht: ein abstraktes Recht und eine abstrakte Moralität. Das „abstrakte“ Recht gehört als „abstrakte Subjektivität“339 zur „produzierten Natur“. Es rankt sich um die zentralen Größen „Eigentum“, „Wille“ und „Person“. Es knüpft an das an, was über Tausende von Jahren „dinghaft“ und „äußerlich“ geworden ist. Auf breiter Front gewinnt es erstmals in Rom und im römischen Recht Gestalt. Was sich der „Verdinglichung“ entzieht, ist der anderen Seite, der Moralität, zugeordnet. Bei dieser grundsätzlichen Trennung bleibt es; sie gehört zum „Schicksal“. Aber bei Hegel wird sie dadurch relativiert, dass beide, das „abstrakte“ Recht und die „abstrakte“ Moralität, in der Sittlichkeit aufgehoben und zu deren „Momenten“ herabgesetzt werden. Er lässt also nicht zu, dass sie sich „als Totalitäten für sich konstituieren“, sondern relativiert ihre Totalität, indem er sie beide einem „Dritten“, der Sittlichkeit, unterstellt.340 Das nach innen verlegte, in der „Person“ verkapselte „Moralische“ steht für die Verdrängung der primären Natur aus dem Rechtsbegriff. Wie aber das Recht über das „Dinghafte“ hinausgreifen muss, wenn es darum geht, Leben und Gesundheit zu schützen, so muss es auch das Allgemeine der einzelnen „Biologie“, die primäre Natur, vor Beschädigung und Zerstörung schützen.341 Um das zu erreichen, muss der Anschluss an sie hergestellt werden. Was oberflächlich als eine Rückbindung des Rechts an den Staat erscheint, ist also, wenn man tiefer blickt, eine Rückbindung an die primäre Natur. Das jüngere Naturrecht, von Hegel als „abstraktes Recht“ referiert, leistet diese Aufgabe nicht. Nur der Standpunkt der „produzierten“ Natur kommt in ihm zur Geltung. Dessen Relativität findet in ihm keinen Ausdruck. Es ist Recht, das die „organische“ 338 Schon an § 29 Rph wird deutlich, dass Hegels Philosophie den weit geeigneteren Ausgangspunkt für die seit Mitte der 1980er Jahre lebhaft geführte Diskussion zu einem ökologischen Umbau von Staat und Recht bzw. zu den „Eigenrechten“ der Natur abgibt als die Philosophie Kants. Da Kant von einer Natur, der „produzierten“, ausgeht, müssen deren Verhältnisse auf die primäre Natur übertragen, muss diese Natur entweder im Ganzen oder im Einzelnen (als Tier, als Baum, als Berg) „personalisiert“ werden, um am Recht partizipieren zu können. 339 Vgl. § 141/Anm. Rph. 340 Ebd. – zu lesen in Verbindung mit Erläuterungen in § 261/Anm. Rph. 341 Wie die Paragrafen des Strafgesetzbuches Leben und Gesundheit des einzelnen Menschen schützen, um den Bestand der „Person“ zu sichern, so hat der Staat das Allgemeine des Menschen, die „primäre“ Natur, zu schützen  – nicht zuletzt, um die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft durch sich selbst zu verhindern.

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Natur und die Pflicht ihr gegenüber aus seinem Begriff ausblendet und insoweit „unwahr“ ist. Eine Berechtigung hat es jedoch als logischer Ausgangspunkt bzw. als Zwischenergebnis: „weil wir eben das Wahre in Form eines Resultates sehen wollen und dazu wesentlich gehört, zuerst den abstrakten Begriff selbst zu begreifen. Das, was wirklich ist, die Gestalt des Begriffes, ist uns somit erst das Folgende und Weitere, wenn es auch in der Wirklichkeit das erste wäre.“342 „Konkretes“ Recht finden wir also erst dort, wo nicht nur „[i]ch das Recht und ein anderer die Pflicht gegen dasselbe“ hat, sondern wo die Pflichten als „Verhältnisse zur substanziellen Sittlichkeit“ eine Einheit mit den Rechten bilden. Die Verpflichtung gegenüber der/dieser Natur ist eine Verpflichtung mir selbst gegenüber. Denn „ihr Dasein“ ist auch „das Dasein meiner Freiheit“.343 Es ist bezeichnend, dass aber gerade dieser Abschnitt der „Rechtsphilosophie“, der das Recht noch ganz „abstrakt“, also „unwahr“ bzw. „unmoralisch“344 zeigt: also so, wie es von der „produzierten“ Natur und ihrer Willkürfreiheit geboren wird, die weitaus größte Akzeptanz bei den Vertretern der juristischen Wissenschaft findet. Es ist jedoch ein Irrtum, wenn J. Ritter345 (und mit ihm viele andere) meint, im Abschnitt „Abstraktes Recht“ werde das Privatrecht abgehandelt. Diese Überschrift ist nicht ohne Grund gewählt. Sie zeigt an, dass das „abstrakte“ Recht nur die Ausgangsstation, „die 1ste Weise seines Seins“ ist, von der der Weg zum konkreten Recht führt.346 Und für Letzteres gilt: „Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben“.347 Das „abstrakte“ Recht muss die Stufe der Relativierung durchlaufen, was auch heißt: der Positivierung, um am Ende „konkretes“ Recht zu sein. Zur konkreten Gestalt wird das „abstrakte“ Recht also erst im Reich des Sittlichen; dort also, wo Hegel das „Gesetz“ (und hernach: den Staat) abhandelt. Dort (im Rahmen der „Positivierung“!) trifft er die äußerst wichtige Unterscheidung von „Recht“ und „Gesetz“. „Gesetztes“ Recht 342 § 32/Zus. Rph. 343 § 155 u. § 155/e. N. Rph (Hervorhebung bei Hegel). 344 Zu Recht hält W. R. Beyer (Die Grenzen des philosophischen Rechts bei Hegel, in: HJ 1967, S. 106) der herrschenden Meinung entgegen, diese sehe das Naturrecht als „ethisches Regulativ für das positive Recht“ an. Das sieht Hegel deutlich anders, ja geradezu umgekehrt. 345 Person und Eigentum, a. a. O., S. 61. 346 In der Mitschrift (Rph-A, S. 58 [zu § 34 Rph]) heißt es: „Das Abstrakte ist der Gedanke zunächst, der in sich nicht unterschieden und bestimmt ist. Wenn der Gedanke als Abstraktheit existiert, so ist er in der Weise der Unmittelbarkeit; in sich ist das Recht konkret, aber die 1ste Weise seines Seins ist die Unmittelbarkeit.“ 347 § 141/Zus. Rph.

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ist für ihn sittliches Recht; Recht, das über die „Gestaltung“ Anschluss an den „objektiven Geist“ und damit an das „Naturprinzip“ gewinnt.

II.1 Antiquiert und unsozial. Das BGB und seine frühen Kritiker Als Otto von Gierke am 5. April 1889 in Wien seinen Vortrag „Die soziale Aufgabe des Privatrechts“ hielt, wurde im kaiserlichen Deutschland gerade der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches diskutiert (bzw. gefeiert), der später, unwesentlich abgeändert, Gesetz wurde. Der Redner aber widmete sich weniger der Leistung, die mit ihm vorgelegt wurde, sondern der Fehlleistung. Er sprach von dem, „was eine Privatrechtsordnung der heutigen Welt leisten soll“, im Entwurf aber offenblieb.348 Offen blieb viel – nach Gierke der Großteil dessen, was hätte geregelt werden müssen. Der Entwurf fällt in eine Zeit schlimmsten Positivismus. Der „Rechtsbegriff [ist] durch die Rechtsformel ersetzt“, charakterisiert sie Gierke349. „Die metaphysische Periode ist wie abgeschlossen, wie in einem Meere versunken; die empiristische Flut hat alles verschlungen.“350 Nach dem Tode Hegels setzt er ein: dieser „Verfaulungsprozess des absoluten Geistes“.351 Rasch gerät das „Ganze“ aus dem Blick. Hegels Rechts- und Staatsphilosophie? Schon für E. Gans, der noch am pietätvollsten mit ihr umgeht, ist sie ein zeitbezogenes Produkt. Spätestens ab 1840 gilt: Ihre Zeit ist um. Sie gehört der Geschichte an.352 Der „objektive Geist“ Hegels wird ersetzt durch den nebulösen „Volksgeist“ Savignys. Es ist die Stunde der Historischen Rechtsschule; der Entwurf ist maßgeblich ihr Werk. Jahrzehntelang hatten ihre Vertreter das seit Justinian überlieferte römische Recht um- und umgegraben, hatten es von allen byzantinischen und feudalen Missbildungen und „Verunreinigungen“ befreit, hatten aus dem Recht des schon untergehenden Imperiums das „reine“ Recht, das Recht der Stadt Rom destilliert und es dem „Dorfrecht“ gegenübergestellt, von dem sie sich umstellt sahen.353 An „Rom“ waren sie gewachsen: Der Geist scharfer Begriff348 O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, S. 5. 349 O. v. Gierke, Grundbegriffe des Staatsrechts, Tübingen 1915, S. 87. 350 E. Kaufmann, Kritik der Neukantischen Rechtsphilosophie, in: Ders., Gesammelte Schriften III, a. a. O., S. 181. 351 MEW 3, S. 17. 352 Dazu: M. Riedel, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts“, S. 203 ff. 353 S. dazu: H. Kantorowicz, Was ist uns Savigny?, a. a. O., S. 47 ff.

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lichkeit, strenger Logik war (von dort) über sie gekommen, hatte sie in seinen Bann geschlagen, hatte sie nun in die Lage versetzt, ein juristisches Meisterstück zu schaffen. Dem römischen Senat vorgelegt, hätte dieser (mit Ausnahme der Einbeziehung des Sklaven in den Personbegriff ) darin gut und gerne ein zeitgemäßes Gesetzeswerk erkennen können. Würdig, die von der Entwicklung überholte, unzeitgemäß gewordene Zwölftafelgesetzgebung zu ersetzen. Dankbar war auch das deutsche Vaterland. Endlich lag sie vor! Zwar volksfremd formuliert. Zwar an eine Juristenkaste adressiert. Trotzdem aber eine Kodifikation, die, eng juristisch bzw. „begriffslogisch“354 gesehen, ihresgleichen suchen konnte. Zu früheren Zeitpunkten hatte die Historische Rechtsschule sich einer Kodifikation verweigert, um „krankes“, „unfertiges“, „unlogisches“ Recht zu verhindern. Es ist nicht der „Beruf der Zeit“, ein Gesetzbuch zu machen, schreibt Savigny, der die Schule stiftet, 1814. Das preußische ALR und das österreichische ABGB scheinen ihn darin zu bestätigen. Zu wenig atmen sie ihm römischen Geist. Zu sehr schlägt ihm aus ihnen der Geist der Aufklärung entgegen, der ebenfalls nicht der Geist Savignys ist. Von daher sollte man annehmen, dass ihm der CC als am römischen Recht orientiertes Gesetzeswerk nahesteht. Weit gefehlt. „Unkunde“ des römischen Rechts, wirft er dessen Verfassern vor.355 Stümperei. Ein Vorwurf, der grob ungerecht ist und wohl nur verdecken soll, dass es der revolutionäre Geruch ist, der vom CC ausgeht und dem seine Ablehnung gilt. Hegel sprach von einem Schimpf, den man der deutschen Nation und ihren Juristen antat, indem man ihnen die Fähigkeit absprach, ein Gesetzbuch zu erarbeiten.356 Wahr aber ist, dass Deutschland, was die Ausprägung kapitalistischer Verhältnisse angeht, weit hinter Frankreich zurückliegt. Von daher war die Zeit für eine Kodifikation mindestens dann noch nicht reif, wenn man diese „Reife“ am Zustand „freie Konkurrenz“ festmachen will.357 Savigny ist also mindestens so weit recht zu geben, dass nicht jede Zeit den „Beruf“ zur Kodifikation hat. Frankreich war bereits in den vermeintlich stabilen „Endzustand“ „freie Kon354 Auch dazu H. Kantorowicz (Was ist uns Savigny?, a.  a.  O., S.  77  ff.) unter Hinweis auf den Zusammenhang von Historismus und Begriffsjurisprudenz. 355 F. C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Hattenhauer, Thibaut und Savigny, S. 84: verderblich für Deutschland, da „in den Zustand der Revolution“ hineinführend. 356 § 211 Rph. 357 F. C. v. Savigny, Vom Beruf …, a. a. O., S. 72. Er unterscheidet eine „jugendliche“, eine „mittlere“ und eine „sinkende“ Zeit. Nur die „mittlere“ Zeit sei überhaupt geeignet für das Kodifizieren. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Kodifikation des bürgerlichen Rechts bietet sich aus vielen Gründen nur in der Phase (und für sie!) der freien Konkurrenz an; sie ist „mittlere“ Zeit.

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kurrenz“ eingetreten. Wenn dort also das Bedürfnis nach einer Kodifikation bestand, musste das nicht auch in Deutschland gelten, das von ihr noch weit entfernt war und wo sich folglich das Recht der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht zum Begriff verfestigt hatte. Was bringt dieses „römisch“ geprägte Gesetzbuch? Generell gesagt, eine Orientierung an einer Form von Warenproduktion und -austausch, die nicht kapitalistische Warenproduktion und -austausch ist. Von daher wird mit dem BGB eine Kodifikation vorgelegt, die in einem gesellschaftlichen Niemandsland angesiedelt ist und der deshalb der Bezug zu den konkreten wirtschaftlichen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft fehlt. „Rom“ ist im BGB lediglich quantitativ fortgeschrieben; unbeachtet bleibt darin der qualitative Unterschied zum Heute. Die „Väter“ des BGB scheinen geradezu stolz zu sein, so viel „Rom“ wie möglich daraus sprechen zu lassen. Als Gierke seinen Vortrag hielt, hatte Deutschland gerade einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung hinter sich. Begünstigt durch die Einheit, durch den 5-Milliarden-Goldregen aus Frankreich, hatte es in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur gleichgezogen, sondern hatte Frankreich überholt, war nahe an England. Die „freie Konkurrenz“ wurde bereits verabschiedet, der Übergang zum „organisierten Kapitalismus“ war im vollen Gange. Das prägt diese Zeit. Das ist auch der Hintergrund, den Gierke in seinem „genossenschaftlichen“ Ansatz verarbeitet. Spätestens jetzt, angesichts der sich allenthalben zeigenden „kollektiven“ Tatbestände, musste klar sein, dass diese neue Lage nicht mehr von einem Privatrecht „römischen“ Typs, von einem Recht, das sich von Person zu Person hangelt, erfasst werden konnte. Und doch wurde ein Entwurf vorgelegt, der auf ein obsolet gewordenes Ideal, nicht aber auf real existierende gesellschaftliche Zustände Bezug nahm. Heraus kam eine „abstrakte Schablone, romanistisch, individualistisch, verknöchert in toter Dogmatik“358. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie konkret existierten und sich täglich fortentwickelten von ihrem Ursprung, der „freien Konkurrenz“, wurden darin nur partiell, statisch abgebildet; nur insoweit sie (noch) in die Schablone passten. Schon gar nicht wurde ihr bereits einsetzender Zerfall thematisiert. Was darüber hinausragte, wurde abgeschnitten, blieb (vermeintlich als Teil der Vergangenheit) unberücksichtigt. Zentrales Theorem blieb die Idee der ungeteilten Herrschaft der Person über die ihr von der Privatrechtsordnung zugewiesene Rechtssphäre. Damit war zwar der absolutistische Staat, damit waren die Verhältnisse und Strukturen des „feudalen Monopols“ aus dem Privatrecht 358 O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe …, a. a. O., S. 16.

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verbannt. Mit ihnen aber auch die Verhältnisse und Strukturen des „modernen Monopols“. Beide, Unternehmung und Staat, ragen in diese heile Welt des „freien Willens“ nur hinein, kommen darin vor, soweit sie am Austausch teilnehmen; sie finden dort Unterschlupf als Sonderfall des „Individuums“, als „Kaufmann“ und als „Fiskus“. Ihr Inwendiges, ihre „Kollektivität“ kommt nicht zur Sprache, von ihr wird weiterhin abstrahiert. Außen vor bleibt die Unternehmung. Als originäre Wesenheit und damit: Person wird sie nicht wahrgenommen. Stattdessen wird sie in die Figur der „juristischen Person“ gepfercht, wird sie in ein „künstliches Individuum“ verwandelt, wird reduziert auf eine als „Mensch ausstaffierte Vogelscheuche“359. Und außen vor bleibt auch der zentrale Vertragstyp der bürgerlichen Gesellschaft, der Arbeitsvertrag. In ganzen „acht, nach Umfang und Inhalt höchst dürftigen Paragraphen“ wird er im Entwurf abgetan, rügt A. Menger. Und das, „obgleich die ungeheure Mehrheit der Besitzlosen, ja die große Mehrheit der Nation“ auf die Lohnarbeit ihre Existenz gründet.360 Schon die Überschrift „Dienstvertrag“ zeigt, dass das Wesen der jetzt zu leistenden „Dienste“ grob verkannt wird.361 In einer Zwischenbilanz zum Wirken der Historischen Rechtsschule aus dem Jahre 1839 hält Bluntschli ihr entgegen: „Wie viel höher steht [hiergegen] das deutsche Recht!“ Kennt es doch keine absolute Herrschaft, sondern die „mannigfaltigen Abstufungen der Rechtsfähigkeit“362. Gerade die Feudalität des deutschen Rechts, an die Gierke anknüpft, um Anschluss an die Moderne zu gewinnen, wäre jetzt nützlich gewesen. Das geschah nicht. Mit der Folge, dass der juristische Ausdruck der neu aufkommenden Verhältnisse und Strukturen, da er nicht in die „abstrakte Schablone“ passte, außerhalb des „anerkannten“ Privatrechts blieb. Da sie aber real existierten und auf Dauer nicht ignoriert werden konnten, wurde ihr juristischer Ausdruck, soweit er abwich von den feierlichen Postulaten des BGB, dem öffentlichen Recht zugeschlagen. Bedeutende Rechtsmaterien, die im Kern Privatrecht sind, wie zum Beispiel das Sozialrecht, gerieten so dauerhaft aus dem Blick des Privatrechts. Andere Materien, wie das Arbeitsrecht und das Wettbewerbsrecht, entstehen als „selbst geschaffene Rechte“ der Wirtschafts- und der Arbeitswelt und erzwingen sich ihre Anerkennung als privatrechtliche „Sondermaterien“. Eine groteske Situation: Was den Kern des Rechts ausmacht, steht am Rande, wird als Störgröße in der heilen Welt 359 O. v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Berlin 1902, S. 6 f. 360 A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, Tübingen 1890, S. 104. 361 Dazu in den weiteren Teilen des Kapitels. 362 J. C. Bluntschli, Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen, in: Thibaut und Savigny (2. Aufl.), hg. von Hans Hattenhauer, München 2002, S. 287.

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des römischen Rechts angesehen. Das ist nicht folgenlos geblieben und macht einen guten Teil der heutigen, fast unentwirrbar gewordenen Probleme aus. In Wien selbst ist es der bereits zitierte Anton Menger, der den Entwurf aus („Katheder“-)sozialistischer Sicht einer grundsätzlichen Kritik unterzieht. Auch er sieht in dem Entwurf einen Rückschritt: gegenüber dem ABGB, dem ALR, dem Code Civil, denen er, allerdings recht plakativ, bescheinigt, vom „Geist einer hochherzigen, den Wahn des Augenblicks verachtenden Humanität“ beseelt zu sein.363 Ein wenig wird diese Aussage durch Savigny selbst erhellt, der zum ABGB kritisch anmerkt, dass dessen Verfasser „sich nicht an das Römische Recht“ gebunden haben, sondern „überall die natürliche Billigkeit walten lassen“.364 Savigny steht also auf dem Boden jener „kalten Logik“, die Menger dem BGB-Entwurf attestiert und die dieser umso mehr empfindet, als er, wie Gierke, von einer – in seinem Fall lassallisch oder rodbertisch geprägten – „organischen“ Position aus kritisiert. Jene Kodifikationen wahren den Anschluss an die „Sittlichkeit“, an die „Sozialität“; der Entwurf jedoch nicht. Das ist „moralisierende“, das ist „rückwärtsgewandte Kritik“, wird ihm von liberaler365 wie auch von marxistischer366 Seite vorgeworfen. Erschwerend kommt hinzu: War es zu Savignys Zeit, die auf die „freie Konkurrenz“ zusteuerte, auf einen Zustand, der noch am ehesten mit „Rom“ vergleichbar ist, noch entschuldbar, sich daran zu orientieren, ist das 1880 bereits völlig anders geworden. Jetzt hätte das aufgegriffen und zur Grundlage der Kodifikation gemacht werden müssen, was die bürgerliche Gesellschaft von „Rom“ unterscheidet. Das geschieht nicht. Auch jetzt noch, in einer „Zeit, wo die gesamte Eigentumsordnung schwankt und erzittert wie ein Schiff in der sturmbewegten See“367, wird einem bereits außer Kurs gesetzten Modell die Treue gehalten. Speziell zur „fehlenden Sozialität“: Die Ansichten Gierkes und Mengers gehen diesbezüglich weit auseinander. Ersterer hat die „kollektiven Tatbestände“ im Blick, die sich zu seiner Zeit herausbilden und zum „organisierten Kapitalismus“ verdichten. Sie will er sichtbar machen. Ihnen will er mittels feudaler Rechtsformen aus ihrer Illegalität heraushelfen und einen Platz in der Rechtsordnung verschaffen.368 Wenn er also die Worte „sozial“ und „Sozialrecht“ gebraucht, so in 363 A. Menger, Das bürgerliche Recht …, a. a. O., S. 8. 364 F. C. v. Savigny, Vom Beruf …, a. a. O., S. 100. 365 Vgl. dazu: F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, Stuttgart 1931, S. 227 ff. 366 Vgl. dazu den vorwiegend an A. Menger adressierten Aufsatz von F. Engels, Juristen-Sozialismus, in: StuR 1954, S. 390–406. 367 A. Menger, Das bürgerliche Recht …, a. a. O., S. 77. 368 S. dazu: H. Thieme, Was bedeutet uns Otto von Gierke?, a. a. O.

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der altdeutschen Bedeutung von „gesellig“. Mengers Wortgebrauch geht hingegen auf eine Deutung hinaus, die mit „wohltätig“ zu umschreiben wäre. Ihr Antiindividualismus ist also sehr unterschiedlich motiviert. Während Gierke daher für die Engländer ein Vorläufer pluralistischer Denkungsart ist, steht Menger eher einem romantisierten Staatssozialismus nahe. Aber dort, im Antiindividualismus, treffen sie sich. Er eint sie in ihrer Kritik. Beide zielen sie, wenn auch mit unterschiedlicher politischer Intention, auf das, was J. Binder 50 Jahre später, bezogen auf das Eigentum, konstatiert: „Während die Juristen der damaligen Zeit das Eigentum nur rein individualistisch auffassen konnten, was auch in der Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches in die Erscheinung trat, wissen wir heute, dass sie das Wesen des Eigentums als einer sozialen Einrichtung überhaupt nicht begriffen hatten.“369 Darin sind sie sich einig: Die Reduzierung auf nackte Logik, die strikte Verkürzung der gesellschaftlichen Beziehungen auf die Zweiseitigkeit geht an der neuen Wirklichkeit vorbei; solche Atomisierung verfehlt mit dem „Ganzen“ auch das „Soziale“. Der Rückbezug darauf fehlt dem BGB. Fälschlich und folgenreich werden stattdessen einheitlich zu bewertende Beziehungen und Verhältnisse – das ist noch immer die einfachste Lösung – je nach Nähe zum Staat dem öffentlichen Recht zugeschlagen. Soweit sie im Unternehmen spielen, bleiben sie überhaupt unbeachtet – jedenfalls so lange, bis der politische und gewerkschaftliche Kampf der Arbeiterbewegung ihre Beachtung erzwingt. Solange diese Rechte nicht als die Nachfolger eines ehemals einheitlichen Rechts, als Rechte „konkreter Ordnungen“ im Sinne C. Schmitts erkannt sind, treten sie als vermeintliche „Sonderrechte“ zwischen ein „abstrakt“ verstandenes privates und öffentliches Recht, vagabundieren gewissermaßen zwischen den Fronten, werden je nach Nähe zum Staat oder zum Unternehmen der einen oder anderen Art von Recht zugeschlagen. Fehlende Sozialität. Dafür Kultivierung einer statischen, inhaltsleeren juristischen Weltanschauung, die sich darin erschöpft, ein „abstraktes“ Recht zu einem Kodex zusammenzufassen. Statt an die konkreten sozialen und ökonomischen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft anzuknüpfen, statt ihrer Dynamik nachzuspüren, wird ein idealisiertes, um den „Sklaven“ bereinigtes Rom zugrunde gelegt. Mit dem Mantel der Historie wird der grundlegende Unterschied zwischen ihnen verdeckt, werden die die bürgerliche Gesellschaft charakterisierenden Novitäten „Lohnarbeit“ und „Unternehmen“ ignoriert. „Rom“ wird zur Gegenwart gemacht. Was neu ist, wird zur Ausnahme erklärt, entwickelt sich demzufolge außerhalb der juristischen Begriffswelt, bleibt insofern apokryph 369 J. Binder, System der Rechtsphilosophie (2. Aufl.), Berlin 1937, S. 40.

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und jedenfalls jahrzehntelang unerfasst, um sich dann erst eruptiv (und über die Stränge schlagend) Bahn zu brechen. Eine trügerisch zeitlose Regelung entsteht mit dem BGB. Resultat einer „logischen Utopie des Rechts“370 und Ausgangspunkt jener „Begriffsjurisprudenz“, gegen die R. Jherings wissenschaftlicher Kampf gerichtet ist.371 Eine „unheilvolle Wendung im deutschen Rechtsleben“ sieht Gierke eingeleitet.372 Zwar fördert die Beschäftigung mit „Rom“ die Grundbausteine des Rechts zutage, richtiger: die ewig-gültigen „Rechts-Atome“, hebt die logische Grundstruktur allen Rechts ins Licht. Das ist sicher ein bleibendes Verdienst der „Historischen Schule“. Aber dieser Irrglaube, damit den Schlüssel zum Recht aller Zeiten in der Hand zu haben! Recht, das man bloß neu zu arrangieren braucht, um es zeitgemäß zu machen! Auf diesem Hintergrund wird aus dieser „rein geschichtlichen Bemühung“ bald selbstzwecklose „Tüftelei“.373 Und wenn auch 1814 die Zeit nicht reif gewesen sein mochte: Als sie dann reif war, verstrich Jahrzehnt um Jahrzehnt, ohne dass etwas geschah.

II.2 Der Ausgangspunkt bei Hegel: Der Mensch als „Eigentum seiner selbst und gegen andere“ II.2.1 Die Person – Das lebendig gemachte „Dingliche“ Hegel gibt den §§ 34–103 der „Rechtsphilosophie“ die Überschrift „Das abstrakte Recht“. Philosophischer Ausgangspunkt374 ist dort die „produzierte“ Natur. Sie ist „abstrakte“ Natur, die nur als Begriff der spekulativen Logik375 existiert. Das Gleiche gilt für ihre Elemente „Eigentum“, „Person“ und „Vertrag“ und für das „abstrakte Recht“ generell. Auch sie sind auf dieser (begriffslogischen) Ebene nur „ein Totes“.376 „Lebendig“ bzw. „wirklich“377 wird diese „abstrakte“ Natur und werden auch ihre „Elemente“ erst, wenn/wo sie eine konkrete historische Gestalt 370 O. Kahn-Freund, Einleitung, a. a. O., S. 12. 371 S. dazu H. Kantorowicz, Was ist uns Savigny?, a. a. O., S. 77 f. 372 Gierke, Das Wesen …, a. a. O., S. 736. 373 H. Kantorowicz, Was ist uns Savigny?, a. a. O., S. 52. 374 „Anfangspunkt“, wie er in § 2 Rph formuliert. 375 Vgl. dazu seine Ausführungen in § 33 Rph, die seine „Einleitung“ abschließen. 376 § 141 Rph-A. 377 Durch „Verwirklichung“ des Begriffs des Rechts „zum Gegenstande“ gelangt Hegel zur „Idee des Rechts“ (§ 1 Rph); s. dazu: D. Scheltens, Hegels Rechtsphilosophie zwischen Begriff und Institution, in: Rechtstheorie 21 (1990), S. 47 ff.

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annehmen – zum Beispiel als bürgerliche Gesellschaft und als bürgerliches Recht. Hier zeigt Hegel also nur auf, wie sich die „Entzweiung“ des bisherigen Gemeinwesens auf der Ebene des Begriffs darstellt. Er zeigt das Recht als das Mittel, mit dem die Atome der „produzierten“ Natur „lebendig“ und „gesellig“ gemacht werden. Zur Verdeutlichung verweist Hegel auf das römische Recht, das von seiner logischen Struktur her dem bürgerlichen Recht direkt vorherzugehen scheint. Soweit dieses sich mit dem „abstrakten“ Recht deckt, ist es daher als „eine historische Vorausangabe“ bzw. als „Entwicklungsmoment der Idee“378 anzusehen. Als eine konkrete, aber vergangene Gestalt des „abstrakten“ Rechts kann es jedoch nicht das Recht der bürgerlichen Gesellschaft sein. Wer das übersieht, gelangt fast zwangsläufig zu dem Trugschluss, dass hier, auf dieser Ebene, das (Privat-)Recht der bürgerlichen Gesellschaft abgehandelt werde.379 Dieses tritt uns erst dort als „lebendiges“ Recht entgegen, wo es „sittlich“380 gemacht wird und „Gestalt“ annimmt. Aus dem Zerfall des Gemeinwesens gehen „zwei Menschen“ hervor. Der eine, die „Person“, gehört zur „produzierten“ Natur. Sie ist der Mensch im Zustand „geistloser Selbständigkeit“.381 Das moralische Subjekt hingegen ist bzw. bleibt Teil der „organischen“ Natur. Wie die „produzierte“ Natur Feind der „organischen“ Natur ist, ist die „Person“ Feind jenes Teils des Menschen, der der „organischen“ Natur angehört. Ein Antagonismus steht zwischen ihnen. Da das Aufgehobene „nicht zu nichts“ wird, ist zu fragen, was an seine Stelle tritt. Hegels Antwort: die „Idee des Menschen“, der Mensch als „sittliches“, als „geistiges“ Wesen. Gegenstand des „abstrakten“ Rechts ist die „Person“. Dabei ist bedeutsam, dass Hegel hier die Totalität „produzierte Natur“ als eine Person vorstellt. Ihre Binnenstruktur: also dass sie die „drei Momente, Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit“382, enthält, bleibt zunächst außer Acht. Sie ist Thema und Gegenstand der nachfolgenden Teile. Hier werden daher Rechtsfiguren und -begriffe, die „Institutionen“, vorgestellt, die für alle Ebenen und Momente der Totalität Geltung beanspruchen, insoweit also abstrakt sind. Diese drei: Eigentum, Person und Wille, sind die zentralen Gegenstände. Die Aussagen zu ihnen gelten für alle ihre Erscheinungsformen auf den drei Ebenen des Begriffs. Nicht die 378 § 33 Rph. 379 Exemplarisch hierfür: J. Ritter, Eigentum und Person, a. a. O. 380 Vgl. §141 Rph-A. 381 Hegel, Phän., S. 356. 382 Hegel, WdL (B), S. 32.

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„Mensch“-Person steht im Mittelpunkt, sondern die Person als das „vollkommen Allgemeine, Schrankenlose“.383 Da die „Person“ ohne das Eigentum nicht denkbar ist, stellt er in den §§ 488 ff. Enz. und §§ 34 ff. Rph klar: Die Person ist durch das Eigentum und für dieses konstituiert. Das ist abgrenzend gemeint und soll sagen: Die Person ist nicht durch ihre „Biologie“, durch ihr Menschsein charakterisiert. Sie ist ein davon Verschiedenes und Abgeschiedenes. Die Person tritt in die Geschichte ein, wenn das „Wissen seiner [selbst] als [eines] Gegenstandes“ vorhanden ist384, wenn also erkannt und anerkannt ist, dass jeder Mensch Eigentum in sich trägt. Personen als „verdinglichter“ oder „verdinglichbarer“ Teil des Menschen haben „nur als Eigentümer füreinander Dasein“385. Die Sache ist die „Substanz“ der Person; in der Person wird ein an sich Totes „lebendig“. Eigentum bildet sich durch „Formierung“ und „Anerkennung“ heraus. Drei Grundformen gelangen zur Entstehung: a) das Arbeitsvermögen – und mit ihm die „Menschperson“ auf der Ebene der Einzelheit; b) das Kapital – und mit ihm die Unternehmung auf der Ebene der Besonderheit; c) das Budget – und mit ihm die „Staatsperson“ auf der Ebene der Allgemeinheit. Die Person als das „Individuum des Austausches“386 macht das Eigentum „lebendig“. Beide, Person und Eigentum, bilden eine juristisch-ökonomische Einheit. Diese wird nicht hergestellt, indem zum Menschen eine äußerliche Sache – ein Kochtopf, ein Fahrrad, eine Werkzeugmaschine, allgemeiner: Eigentum im Sinne des § 903 BGB – hinzutritt.387 Beide liegen vielmehr ineinander. Denn es geht dabei um jenes Eigentum, das in jedem Menschen angelegt ist und durch „Formierung“ individuell ausgeprägt wird: um sein Arbeitsvermögen; (nur) dieses ist Privateigentum im ureigensten Sinne. Die bürgerliche Gesell383 Rph-A, S. 59 (zu § 35 Rph). 384 § 35/Anm. Rph (Hervorhebung bei Hegel). 385 § 40 Rph. 386 Marx, GR, S. 157. 387 Daher bereits im Ansatz falsch, wenn K. Larenz (Rechtswahrer und Philosoph. Zum Tode Julius Binders, in: ZDK 6 [1940], S. 13) seinem wissenschaftlichen Ziehvater J. Binder als Leistung attestiert, „das Eigentum als ein der Persönlichkeit zur Entfaltung ihrer Kräfte von der Gemeinschaft anvertrautes Gut“ erkannt zu haben.

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schaft ist „Arbeitsgesellschaft“. Ihren Mittelpunkt bilden die „Arbeit“ und der Mensch als „Arbeiter“. Schlüsselbegriff also: die „Arbeit“. Oder auch: das „Produzieren“. Von dorther sind „Person“ und „Eigentum“ zu entwickeln; sie sind „Produziertes“. Hegel entdeckt also, wie J. Habermas formuliert, „dass die Freiheit der Rechtspersonen und deren Gleichheit unter allgemeinen Gesetzen buchstäblich erarbeitet worden sind“388. Die bürgerliche Gesellschaft setzt dem als „Freier“ oder als „Sklave“ real existierenden Menschen ein Ende; dem Menschen „als Naturwesen“, wie Hegel sagt.389 Es geht ihm wie dem Volk: Er wird „aufgelöst“, wird (wie „Volk“) zum nichtssagenden Allgemeinbegriff. Wer jetzt noch vom „Menschen“ spricht, vertritt „den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen“ erscheint.390 Und er bleibt „unwahr“ unabhängig davon, ob er jetzt darin endet, dass jeder Mensch nun „frei“ ist. „Aufgelöst“ meint Hegel im Sinne von „aufgehoben“. Wie aus dem „Gemeinwesen“ die „relativen Totalitäten“ „Staat“ und „Gesellschaft“, so gehen aus dem „Menschen“ hervor: a) die (juristische) Person; b) das (moralische) Subjekt. Und wie „Staat“ und „Gesellschaft“ eingebettet sind in den „objektiven Geist“, sind es „Person“ und „Subjekt“ in die „Idee“ des Menschen. Der frühere Mensch ist jetzt „zwei Menschen“. Seine Ursprungsgestalt ist beseitigt. Ihrer „Natürlichkeit“ ist auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft ein Ende gesetzt durch die von der Sache her definierte und durch das Recht sanktionierte „Person“. Was von der „Natürlichkeit“ übrig bleibt, ist auf dem „Standpunkte der Bedürfnisse … das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt“. Nur hier kann noch „vom Menschen in diesem Sinne die Rede“ sein.391 Daraus ergibt sich, dass der Begriff des Rechts aus zwei Größen: „produzierte“ Natur und „Person“, zu schöpfen ist. Allerdings ist damit nur „abstraktes“ Recht gewonnen. Der Begriff eines Rechts also, das in allen historischen Verkleidungen des Rechts enthalten ist und seinen Kern bildet, ohne aber einer von ihnen ganz zu entsprechen. Wie es nicht das römische Recht sein konnte, kann es jetzt auch nicht das Recht der bürgerlichen Gesellschaft sein. Es wurde damals und wird heute konkret 388 J. Habermas, Theorie und Praxis, a. a. O., S. 134 (Hervorhebung von mir). 389 § 57/Anm. Rph. 390 Ebd. 391 § 190/Anm. Rph (Hervorhebung bei Hegel).

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gemacht in und durch die spezifische Gestalt, in der sich damals und in der sich heute das Gemeinwesen zeigt. Für die Person als ein „Produziertes“, was heißt: ein „Formiertes“ und über das Recht „Anerkanntes“, gilt: „Vom Subjekte ist die Person wesentlich geschieden.“392 Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist also der Mensch nur, soweit er „personifiziertes“ Eigentum ist. Wie gesagt: Das ist nicht so zu verstehen, dass „Mensch“ plus Eigentum gleich „Person“ ist. Sondern: Jener Teil des „aufgelösten“ Menschen, der „Eigentum“ sein kann, wird zur „Person“. Da das Eigentum am ganzen Menschen unwiderruflich der Vergangenheit angehört, kann damit nur jener Teil von ihm gemeint sein, auf den es damals wie heute ankommt: seine Arbeitskraft. Diese ist jetzt „eine für sich bestehende Äußerlichkeit“ 393 geworden, hat sich gegenüber dem Menschen als etwas „Unorganisches“ und „Äußerliches“ verselbstständigt und ist als solches erkannt und anerkannt. Das Verdinglichbare des Menschen hat die „Form der Sache“ angenommen und ist jetzt als solche Kern der Person. Der Mensch wird zum „Eigentum seiner selbst und gegen andere“.394 Ein hoch komplizierter, sich über Tausende von Jahren vorbereitender, jetzt zum Abschluss kommender Vorgang395, der die Sklaverei, der die Leibeigenschaft, diese plumpen Formen, sich in den Besitz des/dieses Dinglichen zu setzen, überflüssig macht. Hegel setzt sich mit ihm in den §§ 41 ff. Rph auseinander. Wie geht das? Was muss geschehen, damit mein Arbeitsvermögen zu Eigentum, damit das „Ich“ zur Person wird? Seine Antwort: „Ich“ werde zur Person, indem „ich meinem Willen Dasein durch das Eigentum gebe“. Was man wohl auch so ausdrücken kann: Indem ich mich selbst aneigne, indem ich meine körperlichen und geistigen Kräfte zu Arbeitsmitteln mache, wird dieser Teil von mir zu Eigentum und ich selbst werde zur „Person“. Dieses Eigentum ist für ihn ureigenstes Eigentum; Privateigentum. Eine Privatisierung des „Ich“ findet statt, soweit dieses als Arbeitsvermögen formiert ist. Ein Vorgang, der den Sklaven entbehrlich macht. Er fasst zusammen: „Dies ist die wichtige Lehre von der Notwendigkeit des Privateigentums.“396 Die zentrale Rolle der „Formierung“. Hegel äußert sich unter „Besitznahme“ dazu; Formieren ist eine Weise derselben. In § 56 Rph definiert er: „Durch die 392 § 35/Zus. Rph. 393 § 56 Rph. 394 § 57 Rph. 395 „Es hat ungeheure Zeit gedauert, dass der Mensch sich als Person und auch andere als Personen anerkannt hat.“ (§ 35 Rph-A; s. auch ebd. zu § 46.) 396 § 46/Zus. Rph (Hervorhebung bei Hegel).

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Formierung erhält die Bestimmung, dass etwas das Meinige ist, eine für sich bestehende Äußerlichkeit und hört auf, auf meine Gegenwart in diesem Raum und in dieser Zeit und auf die Gegenwart meines Wissens und Wollens beschränkt zu sein.“397 Soll heißen: Durch Formierung schaffe ich dauerhaftes Eigentum. Besondere Bedeutung gewinnt sie, wenn Gegenstände in Besitz genommen werden sollen, die keine „für sich bestehende Äußerlichkeit“ haben. Zum Beispiel der „Acker, den ich bebaue, wird dadurch formiert“. Sie führt dazu, dass das Arbeitsvermögen die „Form der Sache“ annimmt.398 Natürlich ist diese Selbstständigkeit, diese nunmehrige Existenz als Sache nur fiktiv und kann nur gedanklich vollzogen werden, weshalb der „Boden des Rechts … das Geistige“ ist.399 Das Formieren muss mit „Willen“ vorgenommen werden. Aber auch das reicht nicht aus, um das Formierte zu Eigentum zu machen. Es muss vielmehr von meinen Mitmenschen als solches anerkannt werden. Anerkennung = „Gelten im Bewusstsein“400. Eine Besitznahme, die nicht anerkannt wird, bleibt prekär. Die gegenseitige Anerkennung ist also die Voraussetzung, damit der Besitz zu Eigentum erstarkt, damit überhaupt Recht entsteht und Bestand hat.401 Formierung und Anerkennung sind also die Säulen, auf denen das Eigentum ruht. Von enormer Bedeutung ist, dass das verdinglichte Arbeitsvermögen pro Person eine konkrete Gestalt annimmt. „Kapitalisiert“ man es, führt jedes zu einem anderen Wert. Das ist der „Urgrund“ der Ungleichheit bzw. der Individualität der Person. Denn daraus folgt, dass die Personen nur darin „gleich“ sind, diese „Grundausstattung“ zu haben. Sonst aber sind sie „nicht nur gleich, sondern absolut ungleich“.402 Im Ergebnis ist es so: Die Formierung des Arbeitsvermögens als etwas Selbstständiges und seine gegenseitige Anerkennung beseitigen den „Sklaven“. Der Preis aber ist hoch. Ich bin nun der Sklave meiner selbst und gehe insoweit als Mensch verloren. Was ich nun bin, ist die „Person“. Als solche existiere ich fort, als solche bin ich das Individuum der bürgerlichen Gesellschaft. Begreift man Letztere als das neue „Ganze“, kommt der Verlust des Menschen, kommt das in der „Person“ angelegte Defizit nicht in den Blick. Mit der Folge, dass sich die Person als das „Hohe“ darstellt. Sieht man sie aber 397 Hervorhebung bei Hegel. 398 § 57 Rph. 399 § 4 Rph (Hervorhebung bei Hegel). 400 § 384 Enz. 401 Durchaus richtig, wenn man die bürgerliche Gesellschaft auch als ein „System wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse“ begreift. Vgl. dazu: A. Arndt/W. Lefevre, System und System-Kritik, a. a. O., S. 12. 402 § 49 Rph-A (a. a. O., S. 63).

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unter dem Aspekt, dass die bürgerliche Gesellschaft nur die Organisationsform der „unorganischen“ Natur ist, einer Hälfte des ursprünglichen „Ganzen“ also, und deswegen auch nur den „halben“ Menschen, seinen „unorganischen“ Teil, beherbergt, ist sie das „Niedrige“. Je nachdem also: „Die Person ist … in Einem das Hohe und das Niedrige.“403 Dazu Marx in den „Grundrissen“: „Nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur, und daher auch ihre Aneignung der Natur – bedarf der Erklärung oder ist Resultat eines historischen Prozesses, sondern die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital.“ Im Anschluss: „In dem Sklaven- und Leibeigenschaftsverhältnis findet diese Trennung nicht statt; sondern ein Teil der Gesellschaft wird von dem anderen selbst als bloß unorganische und natürliche Bedingung seiner eigenen Reproduktion behandelt.“404 Aussagen, die sich bereits bei Hegel finden, wenn er gegen die „römische“ und von dort weitertradierte Einteilung des Rechts in Personen- und Sachenrechte polemisiert. Sie hat für ihn ihre Grundlage in einem nicht zu Ende gedachten und wegen des „Sklaven“ nicht zu Ende denkbaren Begriffs der Person. Denn fälschlich wurde in „Rom“ die Person an den Status „frei“ gekoppelt. So, wie analog dazu der Sklave in den (Negativ-)Status einer „Sache“ gerückt wurde. Richtig dagegen sei, die „Person“ an die Sache zu koppeln. Was alles „Personenrecht“ zu „Sachenrecht“ mache. Den Römern aber ist dieser Fehler nachzusehen; sie konnten nicht anders. Aber jetzt? Statt ihn zu korrigieren, wird er, verpackt in „kantische“ Philosophie, übernommen und kultiviert. Bei dieser Sachlage muss jetzt, nach Konstituierung der „bürgerlichen Gesellschaft“ und der „Person“, näher erklären, wen er meint, wer vom „Menschen“ und von „Menschenrechten“ spricht. Für Hegel sind das Begriffe, die nun „unbestimmt“ geworden sind und vor denen er warnt.405 Den Menschen mit der Person zu identifizieren ist so falsch, wie ihn mit dem „Freien“ oder mit dem „Sklaven“ oder mit beiden zu identifizieren. Dahin kann nur noch gelangen, wer nicht von „Aufhebung“ ausgeht, sondern von „Transformation“. Für den gibt es jetzt auf 403 § 35/Zus. Rph. 404 Marx, GR, S. 389 (Hervorhebung bei Marx). 405 § 61 Rph-A. Es hätte also den Negersklaven und den Indianern Nordamerikas mehr geholfen, sie nicht bloß über die „Menschenrechte“ zu Menschen zu erklären, sondern sie in den Personbegriff aufzunehmen. Gerade das aber geschieht nicht. „Menschenrechtlich“ gesehen, waren auch sie Menschen. Aber das zivilrechtliche Institut der Sklaverei bleibt von dieser Aussage unberührt (vgl. dazu: G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a. a. O., S. 41).

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der Ebene des Gesamtsubjekts statt des Gemeinwesens die bürgerliche Gesellschaft und auf der Ebene des (Einzel-)Menschen nur noch die „Person“. Das ist eine zwar probate und dem Schein gerecht werdende Lösung bzw. Erklärung, aber sie verfehlt das Wesen. Sie geht daran vorbei, dass das an die Stelle des Aufgehobenen Tretende erst erobert werden muss. Die Römer maßten sich nicht an, ihr Recht auf den Begriff zu bringen. Und sie taten gut daran, denn wegen des Sklaven wäre es ihnen auch nicht gelungen. Jetzt aber dürstet es die Rechtswissenschaft nach dem Begriff. In „Übereinstimmung mit den vorhandenen Vorstellungen“ nach einem möglichst „schönen“ Begriff. In dessen Mitte wird das gestellt, was nicht mehr vorhanden ist: der Mensch. Aber: War „für das römische Recht keine Definition vom Menschen möglich“406, so gilt das auch jetzt. Möglich ist nun aber, nach Wegfall des „Sklaven“, eine Definition, die von der „Person“, also vom „halben“ Menschen ausgeht. Da das aber den Definierern nicht genug ist, sie „das Gefühl und die Vorstellung der Menschen“ zugrunde legen, wird das Ergebnis unwahr, d. h. geschönt. „Bei dieser Methode wird das, was allein wissenschaftlich wesentlich ist … beiseite gestellt“: die Auflösung des Menschen in „Subjekt“ und „Person“. In seinen handschriftlichen Notizen zu § 2 Rph spottet Hegel: „Gottlob, in unseren Staaten darf man die Definition des Menschen … an die Spitze des Gesetzbuches stellen, – ohne Gefahr zu laufen, auf Bestimmungen über Rechte und Pflichten des Menschen zu treffen, die dem Begriff des Menschen widersprächen.“

II.2.2 „Schief und begrifflos“: Römisches Recht und bürgerliche Gesellschaft (Die „Anstatt“-Person des römischen Rechts) Breit thematisiert Hegel in § 40/Anm. das „Schiefe“ und „Begrifflose“, das dem römischen Recht anhaftet, noch dazu, wenn man es vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft beurteilt. Grund für viele seiner Kritiker, zu sagen, er verstünde nichts davon. Das aber ist ein Vorwurf, der am ehesten auf die zurückfällt, die ihn am lautesten erheben. „Rom“ ist ein „organisches“ Gemeinwesen. Daran ändern auch die Elemente einer Warenproduktion nichts, die es zur Ausbildung bringt und die partiell sogar in den Vordergrund treten; sie machen nicht dessen Wesen aus. Das Eigentum bleibt überwiegend an die Gemeinschaft gebunden. Es emanzipiert sich nicht ihr gegenüber – was eine Definition von Eigentum und Eigentümer 406 Vgl. § 2/Anm. Rph (Hervorhebung bei Hegel).

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ebenso perikulös machen würde wie eine solche vom Menschen.407 Vor allem aber dies: Die Warenproduktion macht um die zentrale Ware der bürgerlichen Gesellschaft, die Arbeitskraft, einen Bogen. Sie bleibt gebunden im Menschen; sie ist noch nicht verdinglicht und als ein „Äußerliches“ von ihm anerkannt.408 Resultat ist der Sklave. Um seine Arbeitskraft in die Hand zu bekommen, muss er im Ganzen, als „ganzer“ Mensch gekauft und verkauft werden. Das ist auch der Grund, warum das Verhältnis des römischen Vaters zu seinen Kindern so zwiespältig ist. Ihm steht „von Rechts wegen“ deren Arbeitskraft zu, solange sie in der Familie leben. Weil die Arbeitskraft aber noch nicht als jenes „Äußerliche“ erkannt und anerkannt ist, ist er „nach der unrechtlichen und unsittlichen Bestimmung des römischen Rechts … im juristischen Besitze seiner Kinder“; d. h. gezwungen bzw. berechtigt, sie als „Sachen“ anzusehen.409 Jetzt aber emanzipiert sich die bürgerliche Gesellschaft und mit ihr der ehemals Unfreie, wobei sich diese Emanzipation auf die verselbstständigte Arbeitskraft bezieht. Sie ist das vom Menschen „unmittelbar Verschiedene und Trennbare“ geworden. Und weil ihr, wie jeder Sache, die „Subjektivität abgeht“410, drängt sie nach „Personifizierung“. Der Lohnarbeiter ist Person, weil er – im Unterschied zum Sklaven – jetzt „Hüter“ der Ware „Arbeitskraft“, mithin Eigentümer geworden ist. Die „Person“ ist also dazu da, ein „Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses“411 zum „lebendigen“ Teilnehmer am Rechtsverkehr zu machen. Verdinglichung des individuellen Arbeitsvermögens und „Personifizierung“ stehen also im untrennbaren Verbund. Dieser wird aber, soweit ich sehe, bisher von der Hegelforschung nur unzureichend thematisiert. Stattdessen wird ein lieb gewordener Begriff von Eigentum zugrunde gelegt, der (auf außerhalb des Menschen liegende) „Dinge“ verengt ist. Dadurch werden „Person“ und „Eigentum“, die – von der Arbeitskraft her betrachtet – die zwei Seiten desselben sind, zu Getrenntem und nur äußerlich Verbundenem. Hegels Eigentumsbegriff korrespondiert hingegen eng mit dem Begriff der „Ware“ – und zwar im weitesten Sinne. „Geistige Geschicklichkeiten, Wissenschaften, Künste, selbst Religiöses, Erfindungen usf.“ werden von ihm „anerkannten Sachen … gleichgesetzt“, sobald sie durch den Vorgang der Anerkennung „unter die Bestimmung von Sachen gesetzt werden“.412 Damit gelangt Hegel zu einem Begriff von Eigentum, der 407 § 36/Anm. Rph. 408 Vgl. §§ 41, 42/Zus., 67 Rph. 409 § 43/Anm. Rph. 410 § 42/Zus. Rph. 411 § 43/Anm. Rph. 412 Ebd.

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nicht ständig auf neue Grenzen stößt, der gewissermaßen auf Vorrat formuliert ist. Ihm gegenüber ist das, was das BGB hierzu zu sagen hat, hoffnungslos eng und begrenzt, so eng und begrenzt, dass die dortigen Regelungen ständig mit der Praxis kollidieren und durch sie korrigiert werden müssen. Ist die Arbeitskraft als Kern des Eigentumsbegriffs erkannt, muss von ihr aus auch die Person, muss von ihr aus das Recht überhaupt entwickelt werden. Zählen wir zum Eigentum lediglich Sachen im herkömmlichen Sinn (bzw. im Sinne der §§ 903 ff. BGB), bleiben wir bei einem Begriff stehen, der von der Peripherie her, der von einer handgreiflichen Sonderform her entwickelt ist. Die Folge: Wir hetzen dann dem Begriff hinterher, sichtbar daran, dass dieser ständig aktualisiert, umformuliert, sprich: ergänzt werden muss, sobald die Praxis neue Formen hervorbringt – zum Beispiel das „geistige“ oder das „wirtschaftliche“ Eigentum. Hegel spannt den Blick weiter. Er sieht, dass das „Arbeitsvermögen“ jenes Eigentum ist, das jeder Person zugrunde liegt. So ist wohl auch die vielfach (unter anderem von J. Ritter413) missverstandene Aussage in § 209 Rph zu verstehen. Jeder Mensch wird in der bürgerlichen Gesellschaft „als allgemeine Person aufgefasst …, worin Alle identisch sind“, weil jeder Mensch, „unorganisch“ betrachtet, Arbeitskraft ist. Völlig zurück tritt, ob „er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usw. ist“. Die „Person“ klebt also nicht an „organischen“ Besonderheiten, klebt nicht an einem besonderen Status, sondern muss in Bezug zum Grundlegenden, zum Allgemeinen gesetzt werden. Das ist die Arbeitskraft; sie ist jenes Eigentum, das allen Personen gemeinsam ist und Letztere daher allen Zufälligkeiten der Form entzieht. Die Schlussfolgerung also: Die „Person“ ist subjektiviertes, über sie „lebendig“ gemachtes Arbeitsvermögen. Dieser Schluss ist von Hegel als Erstem gezogen worden – was ihn bis heute aus der philosophischen Kollegenschaft heraushebt. Selbstverständlich kann die Arbeitskraft nicht wie ein Batzen Fleisch aus dem Menschen herausgeschnitten und kiloweise verkauft werden. Sie ist und bleibt unveräußerlich. Was ver- und gekauft wird, ist die zeitlich und sachlich beschränkte „Disposition“ über sie.414 Nur indirekt bleibt es dabei, dass der Käufer der Arbeitskraft den Menschen kauft. Dass der Vertrag, der die Veräußerung der Arbeitskraft zum Gegenstand hat, sich nur auf sie beziehen soll, nicht auf den ganzen Menschen, setzt etwas „Geistiges“ voraus: „das Moment der Anerkennung“. Die Vertragspartner müssen die Arbeitskraft als das „unorganische“

413 Hegel und die französische Revolution, a. a. O., S. 65. 414 Vgl. Marx, GR, S. 193 ff.

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Wesen des Menschen „erkannt“ und akzeptiert haben und sich deshalb gegenseitig „als Personen und Eigentümer anerkennen“415. Als „organisches“ Gemeinwesen auf Basis „organisch“ gebundenen Eigentums benötigt Rom die „Person“ eigentlich nicht bzw. kann sie auf dieser Basis nicht zur Ausbildung bringen. Andererseits erreichen Warenproduktion und Austausch einen solchen Umfang, dass die Römer nicht umhin können, „die Bestimmungen der juristischen Person, eben des Individuums des Austauschs“ zu entwickeln.416 Ein Zwiespalt; eine echte Notlage. Pragmatisch, wie die Römer sind, finden sie folgenden Ausweg: Um dem praktischen Bedürfnis gerecht zu werden, pfeifen sie auf die juristische Logik und Systematik und erklären den „Freien“, den Römer, zur Person. Der vom Getriebe und Geschiebe der Warenproduktion, der vom „Produzieren“ an sich Freigestellte, der „Freie“ wird so behandelt, als sei er ihr Teil. Was vom „Begriff“ her dem Sklaven zuzuordnen wäre: Die Qualität „Person“ wird stellvertretend – „anstatt“ – ihm zuerkannt. Damit wird ein Schein erweckt, der von den wirklichen Verhältnissen und Zusammenhängen wegführt bzw. sie verdunkelt. Der Weg zu dem beliebten Ausgangspunkt „Mensch“ ist geebnet. Hegel dazu: Indem der „Freie“, der privilegierte Römer, zusätzlich noch zur Person erklärt wird, wird „nur ein Stand, Zustand geschaffen … Das römische Personenrecht ist daher nicht das Recht der Person als solcher, sondern wenigstens der besonderen Person.“417 Das römische Personenrecht ist also „ständisches“, nicht bürgerliches Recht. Damit sind die Ebenen vertauscht; „Organisches“ und „Unorganisches“ werden „kunterbunt“ vermischt. Die Person, das Personenrecht, das von der Sache, vom Eigentum, vom „Unorganischen“ her zu definieren ist, wird vom „Freien“, vom „Organischen“ her entwickelt. Eine mühsame, eine pragmatische Konstruktion, die das Problem des Sklaven, richtiger: der noch ausstehenden Verdinglichung der „Arbeitskraft“, umschifft. Sie ist überflüssig, sobald die Arbeitskraft zum Handelsgut, zur Ware geworden ist und sich in der Person „lebendig“ macht. Im Rahmen der Rezeption wird all dieses „Schiefe und Begrifflose“ des römischen Rechts in die bürgerliche Gesellschaft verpflanzt. Obwohl nun die Arbeitskraft als Grundform des Eigentums anerkannt ist und von ihr der gerade Weg zur „Person“ führt, bleibt es dabei: Letztere wird weiterhin von der „Natürlichkeit“, d. h. „organisch“ begriffen. Der Fehler wird nicht berichtigt. Zwar ist jetzt auch der ehemalige Sklave „Person“. Aber in nämlicher Weise 415 § 71 Rph (Hervorhebung bei Hegel); ders., Phän., S. 145. 416 Marx, GR, S. 157. 417 § 40/Anm. Rph.

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wie der (nun ebenfalls ehemalige) „Freie“: in Gestalt eines ihm eingeräumten Status, der nicht mit seiner jetzigen Eigentümerschaft begründet wird, sondern zum Beispiel mit – außerhalb der „unorganischen“ Ebene liegenden – „Menschenrechten“. Das Privileg, der Status wird generalisiert. Äußerlich scheint damit das Manko des römischen Rechts ausgeräumt. Jedermann, jeder Mensch ist nun Person. Was wirklich geschieht, die Emanzipation des Eigentums, bleibt unbeachtet. Und ebenso bleibt unbeachtet, dass der Mensch, Herr wie Sklave, im Rahmen dessen nivelliert, reduziert wird auf verlebendigtes „Eigentum“. Hegel dazu: „kein Herr, kein Sklave – ebenso aber kein Sklave, kein Herr“.418 Die Person ist „aus dem Leben der sittlichen Substanz herausgetreten“.419 Sie ist der von seiner organischen Natur abgekoppelte Mensch, der damit „weder an ein reicheres oder mächtigeres Dasein des Individuums als eines solchen noch auch an einen allgemeinen lebendigen Geist geknüpft“ ist. Der auf die Person reduzierte Mensch ist „leere Eins“420. Im Unterschied zu jenem aus Fleisch und Blut ist er als „Person … das Leere; es ist nichts in ihr“421, was der organischen Natur entstammt. Die Person ist der „seines wirklichen individuellen Lebens beraubt[e]“ Mensch. Sie hat „ihre Substanz und Erfüllung außer ihr“; sie ist der Mensch in seiner „vollen Entleerung“.422 Sie ist gewissermaßen die Nulllinie, auf der der natürliche Unterschied eingeebnet ist. Sie ist „Erniedrigung des edlen Standes“ einerseits und „Aufhören der … Sklaverei“ andererseits.423 Fleisch und Blut bleiben als ein „Gleichgültiges“424 außer ihr. Sie bindet Lebendiges an Totes. Ihr Ausgangspunkt ist das Ding; erst das Haben „einer abstrakt äußerlichen Sache“ gibt ihr einen Inhalt.425 Nur „schlechte Philosophie“ dichtet dieser „Leere“ einen Inhalt aus Fleisch und Blut an. Das „Menschsein“ ist beendet. Die „Person“, im Verhältnis zum Menschen etwas Geringeres und Anderes, tritt die Herrschaft an. Falsch und unverzeihlich also, sie weiterhin 418 § 57/Zus. Rph. 419 Hegel, Phän., S. 355. 420 Ebd., S. 356. 421 § 37/Zus. Rph. In ihr ist die „Persönlichkeit … aus dem Leben der sittlichen Substanz herausgetreten“, ist die „leere Eins der Person“ geworden (Hegel, Phän., S. 355 f.). Ähnlich K. Marx (MEW 2, S. 127): Das Atom in Gestalt der „Person“ ist „die absolute Leere“; es ist „inhaltslos, sinnlos, nichtssagend“; s. auch: Marx, GR, S. 80, wo er von der „vollen Entleerung“ des Menschen infolge „Personwerdung“ spricht. S. auch: G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 40. 422 Marx, GR, S. 78; MEW 1, S. 355 (Zur Judenfrage); Hegel, Phän., S. 441. 423 Hegel, NR, S. 491. 424 § 37/Zus. Rph. 425 G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 40.

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an den Status „frei“, mithin an eine historisch erledigte Hilfskonstruktion zu knüpfen. Statt das Recht nun der „unorganischen“ Natur zuzuordnen, statt es als „Sachenrecht“ anzusehen, wird es „vermenschlicht“. Ein Antigemälde. Der Mensch, als Trugbild erkannt, macht den Blick frei auf ein Recht, dessen Ausgangspunkt die „Sache“ ist. Nur eben nicht irgendeine Sache, sondern die Hauptsache: die zur Ware, die zum selbstständigen Handelsgut gewordene, mithin als Eigentum anerkannte Arbeitskraft. Weil es aber um die menschliche Arbeitskraft geht, scheint es so, als stehe gerade jetzt der Mensch im Mittelpunkt. Das ist der Schein, den Hegel zur Seite schiebt. Der Mensch als solcher ist beseitigt; er ist aufgelöst zugunsten zweier selbstständiger Größen, zweier Arten des Selbstbewusstseins, wie Hegel sagt. Er ist jetzt „Herr und Knecht“ in einem.426 Überall stößt Hegel auf die Folgen des Nicht-zu-Ende-Kommens. Überall steht der Sklave im Weg und zeigt sich in den von Hegel herausgestellten Anomalien des römischen Rechts, zum Beispiel in dessen Gliederung in Personenrecht und Sachenrecht. Sie in die bürgerliche Gesellschaft zu übertragen, gibt es keinen Grund, ja potenziert den Fehler. Aber gerade das geschieht – in Deutschland mehr als anderswo. Vorsicht wäre also geboten gewesen. Mehr Vorsicht jedenfalls, als Savigny walten lässt, der im römischen Recht das Recht in seiner reinsten Gestalt sieht – die „Quelle“, die er dem Schiffer zu befahren zumutet, wie der junge Marx spottet427 – und es eins zu eins für die bürgerliche Gesellschaft zu übernehmen gedenkt. Ist also das römische Recht das „große Geschenk“ an uns, wie J. Ritter428 meint? Das sieht Hegel nicht so. Und seine Polemik gegen Hugo, die mehr als diesem Savigny gilt, macht das auch deutlich. Das römische Recht ist um den Sklaven zentriert. Um das damalige Hauptproduktionsmittel, mithin: um das wichtigste Eigentum. Das „wahrhaft Wesentliche, der Begriff der Sache“, nämlich das als selbstständiges, vom Menschen getrenntes Eigentum erkannte und anerkannte Arbeitsvermögen, kann in Rom „noch gar nicht zur Sprache“ kommen.429 Was die Historische Schule leistet, diese „rein geschichtliche Bemühung“, hat daher „in ihrer eigenen Sphäre ihr Verdienst und ihre Würdigung“, aber sie führt eben nicht zu einem Recht, das den jetzigen Verhältnissen genügt. Die Besinnung auf das römische Recht ist für Hegel daher eine doppelte Flucht: 426 S. dazu: Hegel, Phän., S. 145 ff. 427 MEW 1, S. 78. 428 J. Ritter, Person und Eigentum, S. 57. 429 § 3/Anm. Rph.

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eine Flucht vor der Anstrengung, das Recht der „produzierten“ Natur auf den Begriff zu bringen. Und eine Flucht vor dem positiven Recht, in dem der Begriff eine – wenn auch noch ungenügende – „Gestalt“ annimmt. Zu erwarten wäre, dass der jetzige Rechtsbegriff um die „Novitäten“ der bürgerlichen Gesellschaft zentriert wird. Sie müssten jetzt im Mittelpunkt stehen. Was aber geschieht? Der römische Notbehelf wird ohne Not übernommen und dogmatisiert. Die Verselbstständigung des Arbeitsvermögens müsste den jetzigen Begriff der „Person“ prägen. Tut es aber nicht. Hegel dazu: „Es kann nun nicht anders als verkehrt erscheinen, das Recht der besonders bestimmten Person vor dem allgemeinen Rechte der Persönlichkeit abzuhandeln.“430 Was besagen soll: Die eigentliche und allgemeine Person der bürgerlichen Gesellschaft ist jene, die wir als die – künstlich geschaffene – „juristische“ bezeichnen. Stattdessen wird ein Personbegriff kultiviert, der der bürgerlichen Gesellschaft nicht entspricht und sofort in ihrem Kernbereich, der Produktion, ergänzt, richtiger: korrigiert werden muss durch jene „juristische“ Person, die Gierke als „Vogelscheuche“ betitelt. Die prinzipielle Sachlage wird beschönigt und verfälscht: Statt mit dem „Arbeitsvermögen“, statt mit dem Produzieren im Unternehmen wird der jetzige Rechtsbegriff mit einem „Menschen“ verknüpft, der auf bloße Körperlichkeit, auf ein bloßes Zuhause für sein „ungeteiltes äußeres Dasein“ reduziert ist.431 Auf den Punkt gebracht: Der Mensch außerhalb seines Arbeitsvermögens ist keine Person; nur Letzteres macht ihn dazu. Das ist bedeutsam genug und wäre Grund, das römische Recht in diesem wichtigen Punkt zu berichtigen. Das geschieht nicht. Der Fehler wird nicht nur übernommen, sondern wegen des Ausgangspunktes „Mensch“ potenziert und ideologisiert. Lange vor Marx432 vermittelt Hegel also einen Eindruck davon, wie weit, formal-juristisch oder „logisch“ gesehen, Sklave und Lohnarbeiter auseinander sind und wie nahe sie sich stehen, bewertet man den Sachverhalt ökonomisch bzw. inhaltlichdialektisch. Tut man Letzteres, entfällt der Unterschied Sklave – Lohnarbeiter, wenn ich durch „die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit konkreten Zeit und der Totalität meiner Produktion … meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen“ mache. Das Eigentum des Lohnarbeiters an seiner Arbeitskraft wäre dann so weit ausgehöhlt, dass wegen des Umfangs des Gebrauchs durch den Kapitalisten davon

430 § 40/Anm. (Hervorhebung bei Hegel). 431 § 47 Rph. 432 Dieser dazu in den GR, S. 368.

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„nichts übrig“ bleibt.433 Sein Eigentum daran ist „leere Herrenschaft“434, die folglich auch die „Person“ des Lohnarbeiters zu einer „leeren“ Person macht. Ein 14-Stunden-Tag, im England Anfang des 19. Jahrhunderts üblich, dürfte also der Sklavenarbeit außerordentlich nahegestanden haben.

II.2.3 Alles Recht ist Sachenrecht Alles Recht ist Sachenrecht, fasst Hegel zusammen. Das „Sachenrecht ist das Recht der Persönlichkeit als solcher“435. Zur tradierten Einteilung in das eine oder das andere äußert er: Es liegt darin „vornehmlich die Verwirrung, Rechte[,] welche substanzielle Verhältnisse, wie Familie und Staat, zu ihrer Voraussetzung haben[,] und solche, die sich auf die bloße abstrakte Persönlichkeit beziehen, kunterbunt zu vermischen“436. Auf gut Deutsch: Die beiden Naturen werden „kunterbunt“ vermischt. Aber: Was bei den Römern wegen der unfertigen Verhältnisse verzeihlicher Notbehelf war, ist jetzt schlichtweg falsch. Begreift man die Person von der „Sache“ her, von der Sache „Arbeitsvermögen“, wird auch das aus dem römischen Recht übernommene Abstraktionsprinzip als spezifisch römische „Umgehungserfindung“ erkennbar. Nur weil die Person vom Status „frei“ her entwickelt ist, ist es nötig. Das Recht muss in Schuld- und Sachenrecht geteilt werden, weil die Person des römischen Rechts nicht von seinem Arbeitsvermögen her definiert ist, sondern von seinem Status „frei“. Der „Freie“ arbeitet nicht; sein Arbeitsvermögen ist ja ebenfalls noch nicht als „Eigentum von sich selbst“ erkannt und anerkannt. Er erbringt „Dienste“. Der „Dienst“ aber unterfällt nicht dem Eigentumsbegriff. Ein solcher ist als genereller Begriff auf dieser Basis ebenso wenig entwickelbar wie der der Person. Eigentum und Person fallen daher in Rom auseinander. Die Folge: Ein einheitliches Recht zerfällt in Schuld- und Sachenrecht. Zwei Vertragstypen, das Verpflichtungsgeschäft auf der einen Seite, das Veräußerungs- und Verfügungsgeschäft auf der anderen, sind notwendig, weil „Person“ und „Eigentum“ auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Die Person wird „organisch“, das Eigentum „unorganisch“ begriffen. Das Abstraktionsprinzip ist gewissermaßen der Adapter, über den beide Teile zusammengeführt werden. Formen des Eigentums: Fahrnis und Grundstücke, werden herausgepickt, stehen für 433 § 67 Rph. 434 § 62 Rph. 435 § 40/Anm. Rph. 436 Ebd.

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„Eigentum“, während die Grundform „Arbeitsvermögen“ unerkannt bleibt. In Rom mag dieses besondere Sachenrecht zusätzlich dazu dienen, klarzustellen: Dieses Eigentum ist noch gemeinschaftsgebunden. Es untersteht einen besonderen Status, der seiner Verkehrsfähigkeit Grenzen setzt. Grenzen, die dem Anspruch der späteren bürgerlichen Gesellschaft ebenso grundsätzlich widersprechen wie der Sklave. Der Code Napoléon verzichtet darauf, das Abstraktionsprinzip zu übernehmen, was dessen Verfassern durch Savigny den Vorwurf der „Unkunde“437 des römischen Rechts einträgt. Das stellt die Sache auf den Kopf. Bei der Kodifizierung war in erster Linie „Kunde“ der bürgerlichen Gesellschaft gefragt. Deren Belange mussten darin Eingang finden. „Unkunde“ des römischen Rechts bei „Kunde“ der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Regelungsbedarfs waren auf jeden Fall einer „Unkunde“ und „Kunde“ in umgekehrter Richtung vorzuziehen. Wenn man bedenkt, dass das BGB 90 Jahre nach dem Code verabschiedet wird und noch immer mehr die „römischen“ Verhältnisse im Auge hat als jene der bürgerlichen Gesellschaft, wird deutlich, in welchem Maße mit ihm eine Fehlleistung vorgelegt wird. Allenthalben zeigt sich die „deutsche Krankheit“, ein „absolut fertiges“ Produkt vorzulegen. Was dabei herauskommt, ist ein veraltetes, bereits bei Verabschiedung moralisch verschlissenes Gesetz, von dem seine Verfasser „in Misskennung der Natur endlicher Gegenstände“438 aber glauben, es sei der Weisheit letzter Schluss. Wie sehr sich die deutsche Rechtswissenschaft im „Abstraktionsprinzip“ festgefahren hat und sich darin wohlfühlt, wie sehr sie die Ergebnisse der römischen Juristen noch immer für zeitgemäß hält, zeigt sich selbst bei dem um ein Verständnis der hegelschen Position bemühten J. Binder. Dieser sucht in der „Rechtsphilosophie“ nach dem obligatorischen Vertrag. Aber seine Erwartung wird „schmerzlich enttäuscht. Denn weder die Obligation noch der Schuldvertrag haben in diesem System irgendeine Stelle.“439 Wohin man blickt: „Der Vertrag ist für Hegel ausschließlich Veräußerungs- oder Verfügungsgeschäft.“440 Was Leistung ist, wird von Binder als Fehlleistung interpretiert, wenn er sagt: Hegels „Kritik an den Vertragsschemata des römischen Rechts“ zeige nur, dass

437 F. C. v. Savigny, Vom Beruf, a. a. O., S. 88. 438 § 216/Anm. Rph. 439 J. Binder, Der obligatorische Vertrag im System der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Verhandlungen des 3. Hegel-Kongresses, Tübingen 1934, S. 45. 440 Ebd., S. 49.

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er ihnen „im Wesentlichen verständnislos gegenübersteht“.441 In Übereinstimmung mit ihm formuliert sein Schüler K. Larenz: „Hegel kennt den Vertrag … nur als dinglichen Vertrag, als Disposition des Willens über eine Sache, nicht als schuldrechtlichen Verpflichtungsvertrag, und seine Einteilung der Verträge kann uns aus diesem Grunde nicht genügen.“442 Das ist nicht nur die Ansicht dieser Neuhegelianer. Auch jene Fraktion, die den „liberalen“ Hegel favorisiert, hat die gleichen Schwierigkeiten, nur von der anderen Seite her. Was Hegel im Auge hat, ist indes dies: Der in Rom zur Person erhobene „Freie“ verspricht seinem Gegenüber „Dienste“. Diese sind nicht „Sache“. Dieser Unterschied war in Recht umzusetzen, um den „Freien“ vom „Sklaven“ abzuheben. Dazu dient das Abstraktionsprinzip. Der Dienstvertrag musste schuldrechtlichen Charakter tragen, um den zum „Dienst“ Verpflichteten weiterhin als „Freien“ anerkennen zu können. Auf der Ebene dieser „Anstatt“-Person und solcher Austausche bleibt das Recht „Personenrecht“. Erst wenn anstatt des „Dienstes“ die Arbeitskraft ver- und gekauft wird, unterfallen solche Verträge dem „Sachenrecht“; alles Recht ist jetzt „Sachenrecht“. Näher kommt G. Dulckeit, ebenfalls Binder-Schüler, den Intentionen Hegels, wenn er die Kritik seines Lehrers mit dem Hinweis darauf zurückweist, dass Hegel selbstverständlich nicht den römischen und noch „heute herrschenden juristischen Sach- und Eigentumsbegriff voraussetzt“, sondern „Sache und Eigentum … nach ihrer philosophischen Wahrheit“ begreift.443 Er wäre dem Anliegen Hegels noch näher gekommen, hätte er gesagt, dass dieses „philosophische“ Eigentum die „Wahrheit“ der bürgerlichen Gesellschaft ist. Der aus Rom übernommene Eigentumsbegriff wird hingegen dieser Wahrheit nicht gerecht, 441 Ebd. Dieses Unverständnis der hegelschen Position setzt sich bis in unsere Tage fort. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1978 meint W. Schild ( Juristisches Denken …, a. a. O., S. 8), dass die Vertragstheorie Hegels „für das heutige Recht unvollständig und fehlerhaft ist“. Als Beispiel aus noch jüngerer Zeit sei die Arbeit von Chr. Mährlein (Volksgeist und Recht, Würzburg 2000 [bes. S. 106]) genannt. Dort wird Hegels Rechtsphilosophie, darunter: das „abstrakte Recht“, an einer reichlich abgestandenen juristischen Vorstellungswelt gemessen. Im Ergebnis steht Hegel als einer da, dem die Umsetzung seines philosophischen Ansatzes „in der Rechtsphilosophie misslingt“. 442 K. Larenz, Hegel und das Privatrecht, in: Verhandlungen des 2. Hegel-Kongresses vom 18.– 21.10.1931 in Berlin, Tübingen 1932, S. 141. Larenz schließt sich damit Binder an, der Hegel von einer „gemeinschaftsmäßigen“ Position aus beurteilt und dessen Darlegungen zum Vertrag von daher für „ungenügend“ hält. Hegels System sei „insofern unvollständig“. Er habe „nicht begriffen, dass das Privatrecht ebenso für das System der Sittlichkeit von Bedeutung ist wie der Staat“ ( J. Binder, System …, a. a. O., S. 92 ff. [S. 93]). Dazu näher an anderer Stelle. 443 G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 98.

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da er den Begriff von der Peripherie her entwickelt, von jenen Sachen her, die außerhalb der Person gelegen sind.444 Hegel stellt indes das Arbeitsvermögen im weitesten Sinne in die Mitte. Eingeschlossen darin: die geistige Hervorbringung, das geistige Eigentum. Damit ist „Eigentum“ weiter und weit richtiger gefasst. Geht es immer um den Austausch von Eigentum, ist nur der Tausch „reeller Vertrag“, da nur hierbei „jeder das Ganze tut, Eigentum aufgibt und erwirbt“445. Die weite446 Auffassung von „Eigentum“ erklärt also, dass für Hegel der „Tausch Modell für das Vertragsrecht“ ist447 und er auch keinen Grund mehr darin sieht, einen Vorgang, der in jedem Fall auf Übertragung des Eigentums lauten soll, in zwei Arten von Vertrag zum Vollzug zu bringen. Bei Hegel wird daher „der Eigentumsübergang bereits durch die Übereinkunft des Vertrages bewirkt“. Ein separater „Schuldvertrag“ erübrigt sich.448 Hegel sieht also die Enge der juristischen Position und durchschaut ihren Grund. Seine Darstellung zum Beispiel in § 43 Rph zeigt es. Ob etwas „Dienst“ oder „Sache“ ist, ist nur durch den Vorgang der „Anerkennung“ voneinander getrennt. Es entspräche dem mit der bürgerlichen Gesellschaft erreichten Entwicklungsstand, den römischen Entweder-oder-Standpunkt aufzugeben und die „Dienste“ im umfassendsten Sinne als „Sachen“ anzusehen bzw. sie nun, wie er sagt, „unter die Bestimmung von Sachen“ zu setzen.449 Jeder „Geschicklichkeit“ ist das „äußerliche Dasein“ einer Sache450 zuzubilligen. Deshalb ist die Sache jetzt der einheitliche Vertragsgegenstand. Die Übernahme der römischen Position in die Neuzeit ignoriert also tausend Jahre ökonomischer Entwicklung; mithin tausend Jahre der „Formierung“ des Arbeitsvermögens zum Ding. Die römischen Juristen konnten die Person und das Eigentum nur von der Peripherie, von der Sonderform her erfassen. Trotzdem: Sie waren auf der Höhe ihrer Zeit. Sehr im Unterschied zu den Juristen der deutschen bürgerlichen Gesellschaft. Diese hätten nun Eigentum, Person und Vertrag von der Mitte aus, vom Arbeitsvermögen her definieren können und müssen. Als der jetzt zentrale Vertragstyp wäre dann der Arbeitsvertrag erkannt worden. Doch dieser wird bekanntlich erst auf Druck 444 Das nicht deutlich genug zu sagen, ist der kritische Einwand, den A. Blomeyer (Hegels „Abstraktes Recht“ und das gegenwärtige Privatrecht, in: ARSP 30 [1936/37], S. 431) gegen Dulckeit erhebt. 445 § 76/Zus. Rph. 446 Und von der Praxis längst bestätigte. 447 P. Landau, Hegels Begründung des Vertragsrechts, in: ARSP 59 (1973), S. 124. 448 G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 98 f. 449 § 43/Anm. Rph. 450 Ebd.

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der Praxis, insbesondere durch den Kampf der organisierten Arbeiterbewegung zur Kenntnis genommen. Die römischen Juristen sind entschuldigt. Die unentwickelten Verhältnisse nötigten ihnen „schiefe“ Begriffe auf. Sie konnten „Eigentum“ und „Person“ nur als voneinander Getrenntes sehen. So entsteht ein „Eigentum“, das außerhalb der „Person“, und eine „Person“, die außerhalb des Eigentums gelegen ist. Die Einsicht, dass „Person“ und „Eigentum“ nur verschiedene Daseinsweisen desselben sind, war ihnen objektiv versperrt. Hegel gewinnt sie. Und es wäre Aufgabe der juristischen Wissenschaft gewesen, ihm darin zu folgen, um das Recht auf die Höhe der Zeit zu heben. Da dies nicht geschieht, bleiben das Arbeitsvermögen und das Arbeitsrecht die großen Fehlposten des BGB. Auch sie fehlt in diesem Privatrecht: die „Unternehmung“. In Kapitel I wurde schon angesprochen, dass Hegel die Wirtschaftsfamilie als „Eine Person“ ansieht, der ein „bleibendes“ und „sicheres“ Vermögen zugeordnet ist.451 Deswegen ist sie eine „allgemeine und fortdauernde Person“. Das gilt nun auch für die Unternehmung; auch sie ist „Eine Person“. Auf sie geht das „Betriebskapital“ der ehemaligen Wirtschaftsfamilie über. Da dieses eine Form des Eigentums ist, die neben dem Eigentum der „Menschperson“ besteht, personifiziert es sich in der „Unternehmung“. Beide, Betriebskapital und Unternehmung, bedingen sich. Es steht also nicht im Belieben des Unternehmers, dieses Eigentum in eine juristische Person unseres Verständnisses einzuhausen oder nicht. Es personalisiert sich vielmehr objektiv, also unabhängig davon, ob eine rechtliche Regelung bereitgestellt ist oder nicht. Fehlt sie, bleibt die „Person“ des Unternehmens unerkannt und ungeregelt und ist das Recht insoweit „unwahr“. Dies aber offenzulegen, zöge Konsequenzen von erheblichem Gewicht nach sich. Deshalb ist das wohl bislang nicht geschehen. Die uns bekannte „juristische“ Person, diese „Vogelscheuche“, wie Gierke sie nennt, ist nur ein kümmerlicher Ersatz, installiert, um dem praktischen Bedürfnis wenigstens teilweise zu genügen. Denn es ist ein bedeutsamer Unterschied, ob die Unternehmung und andere „Gesamtpersonen“ als objektiver, unabhängig vom Willen der „natürlichen“ Person bestehender Befund anzusehen sind (und entsprechend anerkannt werden) oder ob sie erst durch deren Willen ins Leben treten. Es sind also ideologische Gründe bzw. handfeste ökonomische Interessen, aus denen heraus die Fiktion dem Anerkenntnis einer objektiv existierenden Gesamtperson vorgezogen wird. Das ganze individualistische Weltbild wäre infrage gestellt, ginge man von ihr ab. Sämtliche „Kollektivitäten“ des „orga451 §§ 162, 163/Anm., 169, 170 (plus Anm.), 171 Rph.

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nisierten“ Kapitalismus erschienen in einem anderen Licht, würde man sie als objektiv bestehende Größen nicht nur im Sinne der Ökonomie, sondern auch des Rechts betrachten bzw. anerkennen.

II.2.4 Das Problem des „Willens“ Am Anfang könnte stehen: „Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes er ist.“452 Der „Wille“ als Teil des Geistes ist hierin eingeschlossen; auch er hat in der Natur seine „Wahrheit“. Folglich teilt er das Schicksal des modernen Menschen, zwei Naturen anzugehören. Er tritt uns also als „zwei Willen“ und somit zwei „Wahrheiten“ entgegen. In § 33 Rph, der zum „abstrakten Recht“ überleitet, macht Hegel seine „begriffslogische“ Entwicklung sichtbar. Er zeigt, dass der zunächst einheitliche Willen jetzt auf dieser Ebene

•• als Wille der „produzierten“ Natur und ihrer Derivate „Eigentum“ und „Person“

und zum anderen

•• als Wille der „organischen“ Natur und des in ihr als „Subjekt“ zurück­ bleibenden Menschen

existiert. Logischer Ausgangspunkt ist also der in der „Einleitung“ abgehandelte Wille einer „Einheitsnatur“ und eines noch nicht in „Person“ und „Subjekt“ auseinandergetretenen „Einheitsmenschen“. Hegel nennt ihn den „unmittelbaren“ oder „natürlichen“ Willen. Er ist „nur erst an sich freie[r] Wille“, dessen „unmittelbar vorhandner Inhalt“ sind: „die Triebe, Begierden, Neigungen“.453 Im Unterschied zu ihm ist der „freie“ Wille, von dem das „abstrakte Recht“ handelt, ein von dieser Natur losgebundener Wille. Er ist „planender“, „im Dienst seines Privatinteresses“454 stehender Wille. Ein Wille, der seinen „Anfangspunkt“ in der frei gewordenen „produzierten“ Natur hat und sich folglich wie diese negativ gegen die andere Natur, damit auch: gegen die eigene „Leiblichkeit“ verhält. 452 § 381 Enz. (Hervorhebung bei Hegel). 453 § 11 Rph. 454 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 168.

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„Frei“ bezieht sich also auf den Umstand, dass dieser Wille sich frei gemacht hat von der „Ursprungsnatur“, und sagt folglich nichts darüber aus, dass auch dieser insoweit „freie“ Wille nur ein „gebundener“ Wille ist – nur eben gebunden an die „produzierte“ Natur. Der „freie“ Wille bildet sich in demselben mehrtausendjährigen Prozess heraus, der das Arbeitsvermögen zu Privateigentum formiert. Er ist das „lebendige“ Element, der Motor des verdinglichten Arbeitsvermögens. Beide sind als „Lebendiges“ und „Totes“ in der „Person“ zusammengeführt; in ihr haben sie ihr „Dasein“.455 Für Hegel ist das der „Wille“ des „abstrakten Rechts“456, für Marx ist es jener Wille, der in den Dingen „haust“.457 Der Wille also, der dem Handeln der „Person“ als der „lebendig“ gemachten Sache zugrunde liegt und die Interessen der „Dinge-Welt“ exekutiert. Ihre „Einheit und Wahrheit“ erfahren beide Teilwillen erst im sittlichen Willen, der „an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt“ ist. Er hat seine Grundlage im „objektiven Geist“ – im „Geist der Freiheit“ –; er ist also ein Wille, der „als Wille des Geistes“ beiden Naturen verpflichtet ist und hieraus wirkliche Freiheit bezieht.458 Der „freie“ Wille ist also nur frei, weil bzw. insoweit er sich vom Naturprinzip befreit hat. Er ist unfrei, weil er (stattdessen) an die „produzierte“ Natur und deren Derivate gekettet ist. Als ihr Teil ist er auf deren Interessen fixiert. Da erst „Person“, „Eigentum“ und „Wille“ zusammen eine handelnde, eine „produzierende“ Einheit bilden, ergibt sich: „Eine Handlung ist ein Zweck des Subjekts, und ebenso ist sie eine Tätigkeit, welche diesen Zweck ausführt; nur durch dies, dass das Subjekt auf diese Weise auch in der uneigennützigsten Handlung ist, d. h. durch sein Interesse, ist sein Handeln überhaupt.“ Und weiter: „Es kommt daher nichts ohne Interesse zustande.“459 Da der „Wille“ die Aufspaltung des „Ich“ in „Person“ und „Subjekt“ mit vollzieht, existieren zwei Willen, die so gegensätzlich sind wie die Naturen, in denen sie wurzeln. Das macht Hegel in den Paragrafen der „Einleitung“ (besonders §§ 5–7 Rph) deutlich. Bezogen auf den noch unzerrissenen, noch nicht „aufgelösten“ Menschen spricht er dort vom „Ich“ und vom „Ich“-Willen. Der Übergang zu den Teilwillen ist in § 6 unter dem Aspekt des „Übergehens“ des „Ich“ aus „unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung“ von „Person“ 455 § 33/Zus. Rph. 456 Vgl. dazu: H. Bij de Vaate/S. Griffioen, Die Natur in Hegels Philosophie des abstrakten Rechts, in: HJ 1990, S. 243–247. 457 S. MEW 23, S. 99. 458 § 151/Zus. Rph. 459 § 475 (plus Anm.) Enz.

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und „Subjekt“ geschildert. In dieser Doppelgestalt, als Subjekt und Person, „tritt Ich in das Dasein überhaupt“. Den Darlegungen in den §§ 34–40 liegt hingegen der Zustand der „Zerrissenheit“ zugrunde. Es geht jetzt nur noch um jenen Willen, der zur Person gehört. Dessen Quelle ist das nun „Gegenstand“, eigene Natur des „Ich“ gewordene individuelle Arbeitsvermögen. Denn: Sobald das Subjekt „ein Selbstbewusstsein von sich als vollkommen abstraktem Ich“ erlangt, wird es zur „Person“.460 Voraussetzung also, dass jemand „Person“ ist: das „Wissen seiner als Gegenstandes“. Und zwar als eines „mit sich rein-identischen Gegenstandes“461. Verbunden damit: „Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands.“ Der Inhalt des jetzigen Willens, also der beiden Teilwillen, ist erweitert gegenüber dem „Ich“-Willen; er ist „weiter als durch die Natur gegeben oder aus dem Begriff des Geistes erzeugt“. Das zum Gegenstand gewordene Arbeitsvermögen als Kern der Person und der daran geknüpfte Wille gehen also eigene Wege. Beide „natürlichen“ Willen können nicht unterschiedlicher und gegensätzlicher sein, wie am Beispiel des Vorstandsvorsitzenden eines Stromriesen gezeigt werden soll: Von ihm wird gesagt, dass er in seinem privaten Leben ein durch und durch „Grüner“ ist. Anders als Topmanager. Als solcher vertritt er knallhart die Interessen des Konzerns und war zehn Jahre lang erfolgreich darin, die Errichtung von Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee zu verhindern. Dass ein „an sich“ Grüner als Vollstrecker der Kapitalinteressen agiert, hat also mit dieser Teilung zu tun. Als moralisches „Subjekt“ und als ihr Teil lässt er sich von den Interessen der „organischen“ Natur leiten. Zum anderen ist er die davon streng unterschiedene „Person“, die, als ihr Teil, die Interessen der „produzierten“ Natur durchsetzt. Zwei „Willen“ und zwei konträre Handlungsebenen. Handeln einmal für den „Hausgebrauch“ und zum anderen für das „Geschäft“. Aus der Kammerdienerperspektive beurteilt, steht unser Mann als Subjekt und steht sein Subjektwille bzw. sein Subjekthandeln im Vordergrund. Das führt zu dem Urteil, dass er sich seiner Verantwortung für die erste Natur bewusst ist. Als Vorstandsvorsitzender aber, als für die Person „Stromriese“ Handelnder, ist er Interessenvertreter der „produzierten“ Natur. Was Hegel bei ihm vermissen würde, wäre das „Dritte“, der Zusammenschluss beider Willen zu einem „sittlichen“ Willen. Dieser wäre das „Konkrete und Wahre“.462

460 § 35/Anm. Rph. 461 Ebd. (Hervorhebung bei Hegel). 462 § 7/Anm. Rph.

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Bindeglied zwischen der „produzierten“ Natur und dem „Personwillen“ ist „das Reich der Bedürfnisse“. Hier wird dieser Wille formiert, hier wird die „Person“ konditioniert. Indem sich die „Person“ die objektiven Interessen dieser Natur zu eigen macht, wird sie mit all den materiellen Gütern belohnt, die sie zu bieten hat. Um auf unseren Mann zurückzukommen: Es bekäme ihm also schlecht, wenn er diese zwei grundverschiedenen Ebenen des Willens und des Handelns verwechseln würde. Er bliebe nicht oder nicht mehr lange auf seinem Posten und sähe sich gezwungen, künftig sein Arbeitsvermögen zu deutlich schlechteren Konditionen zu vermarkten.

II.3 Die Trennung der „Person“ vom „Ich“ (Oder: Jede Person ist „juristische“ Person) Ende des 19. Jahrhunderts und angesichts der neueren Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft (Stichwort: „organisierter“ Kapitalismus) wird die „Person“ erneut zum Tagesordnungspunkt. Namhafte Vertreter der Zunft äußern sich dazu. Unter ihnen: O. v. Gierke, J. Binder, H. Kelsen. Sie setzen sich zum Ziel, einen Begriff zu klären, der seit Savigny als geklärt galt. Feststehende Position war: „Person“ meint den Menschen; nur er, ein Wesen aus Fleisch und Blut, kann Person sein. Braucht man zweckmäßigkeitshalber die Person, um „kollektive Tatbestände“ abzugrenzen und einzuhausen, handelt es sich im Unterschied zu ihr um die „juristische“ Person. Der „Angriff“, der damals gestartet wird, ist gerichtet gegen das Dogma von der Identität von „Mensch“ und „Person“. Der „ungeteilte“ Mensch kommt auf den Prüfstand. Entgegengestellt wird ihm die These, dass die Person „im Rechtssinne … allemal ein künstliches, nicht lebendiges Subjekt“ ist.463 Savigny greift mit dem „Menschen“ aus einer Totalität das Moment der „Einzelheit“ heraus und verabsolutiert dieses. Und zwar jenes Moment, das unstreitig sowohl der einen wie der anderen Natur angehört, dass damit unstreitig auch „Person“ ist. Damit nicht genug. Während Hegel unterscheidet – in jenen Menschen, der „Person“ ist und als solcher im Rechte steht, und jenen Menschen, der Gegenstand der „Moralität“ ist und von ihm „Subjekt“ genannt

463 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 114.

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wird464 –, liegt bei Savigny ein „naiver Begriff des Menschen“465 zugrunde, der den Menschen ganz selbstverständlich, ausnahmslos und insgesamt der „organischen“ Natur zurechnet. Aber, so Marck für die Gruppe der Angreifer, die „individuelle Person [ist] keineswegs als ‚natürlich‘ im eigentlichen Sinne des Wortes zu bezeichnen. Sie ist vielmehr in ihrer geistigen Struktur dem Inbegriff des Natürlichen entgegengesetzt“.466 Das stimmt mit Hegel überein, der beide „Teilmenschen“ in der Sittlichkeit verklammert; die Sittlichkeit ist bei ihm jene „metaphysisch“ gewordene Größe, in der Recht und Moral aufgehoben sind. Damit sind die Weichen gestellt. Für Savigny, das ist die Folge seines Ansatzes, müssen sich die ethische Größe „Mensch“ und die Rechtsperson decken. Wo es sonst noch „Personen“ gibt, kann es sich daher nur um – aus dem praktischen Bedürfnis heraus – „fingierte“, um „juristische“ Personen handeln. J. Binder, der sich – damals noch Anhänger der kantischen Philosophie – mit ihm auseinandersetzt, dazu: „Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Auffassung der juristischen Personen als fingierter Rechtssubjekte nichts anderes als logische Konsequenz. Ist der Mensch als Träger einer ethischen Persönlichkeit Rechtssubjekt, so kann auch nur er ein wirkliches Rechtssubjekt sein, und mit der Tatsache, dass es eben doch juristische Personen gibt, können wir uns dann kaum anders als mit der Savignyschen Argumentation abfinden.“467 Fortschritt und Versagen lägen bei Savigny dicht beieinander. Den Fortschritt sieht Binder darin, dass dieser es unternimmt, „das ganze Privatrecht aus dem Gesichtspunkt der ethischen Persönlichkeit zu begreifen und so auf eine einheitliche Grundlage zu stellen“468. Dieser Fortschritt sei aber mit dem Fehler erkauft, zur „Unlösbarkeit“ des Problems der Person zu führen, weil diese „ethische“ Größe Mensch ihn auf eine metaphysische, außerjuristische Ebene führt.469 Vordringlich für Binder also: die Ablösung der „Person“ vom Menschen. Das soll über einen „Oberbegriff“ gelingen, der der „Person“ vorangestellt ist. „Dieser Oberbegriff ist der des Rechtssubjekts.“470 Darin ist enthalten die Ablösung der „rechtlichen Persönlichkeit“ von biologischen und psychischen Elementen, weil diese unvermeidlich 464 Vgl. § 105 Rph; § 190/Anm. Rph: „Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt“; überhaupt dort: der Unterschied von „Person“ und „Mensch“. 465 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 106. 466 Ebd. 467 J. Binder, Das Problem der juristischen Persönlichkeit, Leipzig 1907, S. 13. 468 Ebd., S. 14. 469 Ebd., S. 33. 470 Ebd., S. 32.

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zum Ergebnis führen, „dass nur der Mensch Person im Rechtssinn ist und dass etwas anderes als der Mensch … nicht rechtsfähig sein kann“471. Den „Schlüssel zur Lösung“ des Problems sieht er daher in dem Satz: „Was den Inhalt eines Rechts ausüben kann, kann Person sein.“472 Die Person wird für ihn „nach dem Wesen des Rechts bestimmt und [muss] deshalb relativ sein …; sie geht nicht vom Menschen, sondern vom Rechte aus“473. Binders Oberbegriff „Rechtssubjekt“ ist damit deutlich an Hegels im „abstrakten Recht“ entwickelter „Person“ orientiert. Im Gegensatz zu Savigny, der die Person mit dem Menschen identifiziert, also mit einer ihrer konkreten Gestalten, gewinnt Binder damit eine Ebene, die oberhalb der konkreten Gestalt gelegen ist. Der Weg ist eröffnet, von dort zu den verschiedenen originären Gestalten der Person zu gelangen. Noch pointierter formuliert Marck: Es gibt keine „natürliche“ Person; alle Personen sind künstlich, sind, so gesehen, Ergebnisse einer „Fiktion“. Für ihn „ist klar, dass nicht nur die Verbandsperson, in deren Theorie die Fiktionsauffassung ja eine so große Rolle spielt, einen fingierten Charakter beigelegt erhalten kann, sondern dass dies in gleicher Weise vom individuellen Rechtssubjekte gilt. … Das Subjekt ist individuell oder kollektiv in gleicher Weise künstlich.“ 474 90 Jahre nach Erscheinen der „Rechtsphilosophie“ veröffentlicht H. Kelsen die „Auftaktschrift“ zu seiner „Reinen Rechtslehre“.475 Darin zieht er einen Graben zwischen juristischer („Norm“-)Wissenschaft und den „Kausalwissenschaften“, entkoppelt „Sollen“ und „Sein“ und schafft so zwei qualitativ getrennte Ebenen. Sein hauptsächlicher Gegenstand ist der Staat. In Weiterführung der labandschen Ausholzung des „substanzhaften“ Staates geht es ihm darum, dem Empirismus, mit dem dies sukzessive geschieht, eine philosophische Grundlage zu geben. Der sittliche Staat Hegels und seine Erscheinungsform: die konstitutionelle Monarchie, sollen zugunsten der bürgerlichen Gesellschaft „philosophisch“ zur Seite geschoben werden. Kelsen will „Nägel mit Köpfen“ machen. Seine „Reine Rechtslehre“ will einen Prozess beschleunigen, der die als antiquiert angesehenen konstitutionellen Monarchien Österreichs und Deutschlands an die Moderne, d. h. an Vorbildstaaten wie England und die USA, heranführen soll. Ein Anliegen, das, vom Philosophischen her gesehen, frontal gegen Hegel und seinen Staat gerichtet ist. Also heraus mit allem aus dem Staatsbegriff, was 471 Ebd., S. 73. 472 Ebd. 473 Ebd., S. 146. 474 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 116 f. 475 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911.

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diesem an „Substanzhaftem“ noch anhaftet und für ihn juristisch unbeachtlich ist; er „bereinigt“ ihn. In der Konsequenz, mit der er dies tut, liegt die Leistung Kelsens. Er steigert den Kantianismus, indem er dessen „Ding-an-sich-Lehre“ auf die Rechtswissenschaft überträgt. Die „Reine Rechtslehre“ ist von daher „der radikalste Versuch[,] auf neukantischer Grundlage den reinen Rechtsformalismus durchzuführen“.476 Sie versteht sich als theoretischer Wegbereiter eines bedingungslosen bzw. „reinen“ Gesellschaftsstaates. Sie versetzt den Resten des „Organischen“ den Todesstoß. „Mensch“ und „Volk“, die wohl wichtigsten Fälle, sind damit verworfen und aus dem Begriff der Person gedrängt. Damit sind auch „Wille“ und „Mensch“ entkoppelt; der „Wille“ ist als „unorganische“ Größe entdeckt. Ein „Wille von ganz anderer Art“477 wird sichtbar, wie Binder 1907 erkennt. Ein „Wille“, der sich im Rahmen der „Formierung“ und „Anerkennung“ ausbildet. Kelsen verlegt seinen Ursprung in das Recht. Denn: „[E]in Wille, der nur konstruktiver Zurechnungspunkt für die Normen der Rechtsordnung ist, der gar kein Wille im psychologischen Sinne darstellt, kann ja nichts anderes als eben jene Rechtsordnung zum Inhalte haben“, interpretiert Marck ihn. Vielmehr fällt er „mit dem formalen Begriff der NormPerson restlos zusammen“.478 Das ist ein „erschlichenes“ Ergebnis, protestiert E. Kaufmann.479 „Erschlichen“ deshalb, weil die „entsubstanzialisierte“ Person und auch der „entsubstanzialisierte“ Wille am Ende ja doch wieder mit einer „Substanz“ verkoppelt werden. Wenn auch jetzt mit der „Unorganischen“. Die Substanz, die oberhalb der Linie gestrichen wird, wird nun durch „rationalistischen Logizismus“480, durch eine Drehung um 180 Grad unterhalb der Linie gefunden. Eine („organische“) Metaphysik wird durch eine andere, unerklärte („unorganische“) ersetzt. Kurz: Der Kampf gegen die Metaphysik endet auch bei Kelsen bei der Metaphysik. Hinter der Gleichsetzung mit dem Recht steht also die „produzierte“ Natur. Der „Rechtswille“ ist der vom „Ganzen“ abgelöste Wille. Seine „Substanz“ wird ausgetauscht. Er ist daher ebenso objektiv, wie die „produzierte“ Natur objektiv

476 E. Kaufmann, Kritik der Neukantischen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 193. Aus marxistischer Sicht bescheinigt ihm E. Paschukanis (Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Wien, Berlin 1929, S. 23) das „große Verdienst“, durch „seine unerschrockene Folgerichtigkeit die Methodologie des Neukantianismus … ad absurdum geführt“ zu haben. 477 J. Binder, Das Problem …, a. a. O., S. 21. 478 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 16. 479 E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 193 f. 480 Ebd., S. 29.

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ist. Der Wille hat gewissermaßen seinen Herrn gewechselt; er steht jetzt im Dienst der „produzierten“ Natur. Die „Elimination des Ich aus der Welt des Rechts“481 ist geleistet. Damit ist die vom „ethischen“ Menschen und seinem Willen abgeleitete „natürliche“ Person vom Sockel gestoßen. Sie ist „bereinigte“ bzw. „reine“ Person. Damit nicht genug: Kelsen „entsubstanzialisiert“ alle Personen: die der „Einzelheit“ (Mensch), die der „Besonderheit“ (Unternehmung) und die der „Allgemeinheit“ (Staat). Jede Person ist bei ihm bloßes Konstrukt aus Recht, ist „juristische“ Person – nicht mehr und nicht weniger. Die „Einheitsperson“ ist gewonnen, mit der – nach Bedarf – der Mensch, der Betrieb, der Staat „umhüllt“ wird. „Zugerechnet“ werden ihr, ebenfalls nach Bedarf, spezifische Rechte und Pflichten, die sie von den anderen unterscheiden. So entstehen: die „Mensch“-Person, die „Betriebs“-Person, die „Staats“-Person. Mit ihnen ist dem „Schiefen und Begrifflosen“ des überkommenen Personenrechts insofern der Garaus gemacht, als die „kunterbunte“ Vermischung von „Organischem“ und „Unorganischen“ durch eine Ebene ersetzt wird, die scheinbar weder „organisch“ noch „unorganisch“ ist. Lobend hebt Larenz482 hervor, dass bei Kelsen „der prinzipielle Unterschied zwischen der physischen und der juristischen Person fortfällt“. Richtig ist, dass Kelsen eine bürgerliche Gesellschaft ohne Kleider zeigt. Ihre Akteure sind nackt und bloß. Sie werden als Gebilde und Subjekte ohne organische Substanz gezeigt. „Volk“, „Mensch“, „Demokratie“ – Begriffe, in denen Staatsrechtslehrer gewöhnlich schwelgen, stehen bei ihm am Rande. Und eine außer ihnen liegende Größe, das Recht, nicht irgendein „freier Wille“, bestimmt, wie die Funktionäre: Mensch, Unternehmung, Staat, zu funktionieren haben. Das Recht bestimmt, wer „Person“ ist. Kelsen akzeptiert nicht, dass der Person ein außerhalb liegender Eigenwert zukommt. Für ihn sind insoweit alle Personen vom Recht erzeugt, sind „juristische“ Personen. Das ist der Punkt, der „Konstruktionspunkt“, wie Larenz dazu sagt.483 Eine logische Mittellinie, auf der sich Kelsen und Hegel treffen bzw. kreuzen. Allgemeiner gesagt: Beide treffen sich im Rahmen der Dialektik von Gegenständlichkeit und Beziehung, von „Substanz“ und „Relation“ auf der Ebene der Relation. Dort bleibt Kelsen stehen; er verbleibt bei einer „substanzlosen“ juristischen Konstruktion. Anders Hegel. Er verwirft zwar ebenfalls das „Organische“ als Substanz der Person, bleibt aber trotzdem nicht stehen bei dem von Kelsen kreierten Neutrum. Denn 481 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 83. 482 K. Larenz, HDW, S. 224. 483 Ebd., S. 217.

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er begreift ja die „Person“ als Akzidens des Eigentums, verleiht ihr mithin eine „Substanz“ – wenn auch eine „unorganische“. Seine „Person“ kommt dort bzw. in dem Moment auf, wo/wann sich das Arbeitsvermögen als Eigentum emanzipiert, was zugleich heißt: personifiziert. Mittels des Rechts wird etwas Unorganisches, etwas Totes lebendig gemacht. Für Hegel stehen also Verdinglichung des Arbeitsvermögens, „Person“ und Ausbildung eines dies „anerkennenden“ Rechts in untrennbarem (Ursache-Wirkungs-)Zusammenhang. Kelsen hingegen trennt Ursache und Wirkung und verkehrt sie. Er sieht das rechtliche Resultat als den Ausgangs- und Endpunkt. „Person“ ist bei ihm, wer vom Recht dazu bestimmt wird, wem die Qualität „Person“ zugerechnet wird. Marck kritisiert: „In bewusster und keine Konzessionen kennender Einseitigkeit soll sich bei ihm die juristische Methode von jeder Beimischung sowohl metaphysischer wie empirisch-soziologischer Bestandteile freihalten.“484 Ein Zwischenergebnis können wir so formulieren: Gemeinsam ist Kelsen und der Binder-Gruppe, dass sie die Person vom Menschen ablösen, sie mithin auf eine breitere Basis stellen. Allerdings dringen sie nicht zum Standpunkt Hegels vor, dass diese breitere Basis das „Unorganische“ in Gestalt des Eigentums ist. Speziell die Leistung der Binder-Gruppe wird konterkariert dadurch, dass die Substanz der Person aus dem „Organischen“ statt aus dem „Unorganischen“ gewonnen wird. Damit ist ein Weg beschritten, ist eine Grundlage geschaffen, der/die nach der „Machtergreifung“ des Jahres 1933 geradewegs zum „völkischen Geist“ führen wird. Was Kelsen leistet, geht über Kant hinaus. Letzterer lässt „seinen“ Staat bekanntlich vom Volk ausgehen. Für Kelsen hingegen hat sich „Volk“ erledigt; darin gleicht er Hegel. Was er also als „Staat“ im Auge hat, ist der unverfälschte, der „reine“, aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geborene „Not- und Verstandesstaat“. Er vollbringt damit etwas, wovor Hegel485 dringend warnt: Er verwechselt den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft; er identifiziert beide. Die „Ding-an-sich-Lehre“ ist auf die Spitze getrieben bzw. auf einen Gegenstand angewandt, auf den Kant sie jedenfalls nicht bezog. Typisch deutsch, dieser Versuch, den „deutschen Sonderweg“ zu beenden. Typisch deutsch deswegen, weil er hochgradig „kopflastig“ ist und unter Benutzung der kantischen Philosophie den „empirischen Behandlungsarten“ des Staates mit reinem Rechtsformalismus ein Ende setzt. Kelsen besticht durch seine Konsequenz und durch die Logik seiner Argumentation, was ihn ja auch 484 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 7. 485 In § 258/Anm. Rph.

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zu durchaus wichtigen Teilwahrheiten führt. Von daher deutet nur der erste Anschein auf jene „merkwürdige“ Konstruktion, die nicht wenige seiner Kollegen in seiner Lehre erblicken. Sie erscheint in einem anderen Licht, wenn man sich sein generelles Anliegen vor Augen führt, wenn man sieht, dass er partiell „hegelisch“ argumentiert. Wie dieser löst er den Willen vom „Ich“. Während Hegel aber zu zwei Willen gelangt, die an je eine „Substanz“ gebunden sind, generalisiert Kelsen den „unorganischen“ Willen. Wie er es auch mit dem Staat macht: Er lässt ihn im Recht aufgehen. Er liefert damit eine Lösung, die das Entweder-Oder: Abkehr vom „organischen“ und Hinwendung zum „unorganischen“ Willen, umgehen will. Scheinbar! Denn auch seine Lösung führt nur dazu, dass das eine durch das andere ersetzt wird. Auch darin gleichen sich Hegel und Kelsen: An ihnen scheiden sich die Geister. Letzterer erfährt massive Kritik aus fast allen Lagern. Plädiert er doch weder für den „substanzhaften“ Staat der konservativ geprägten Staatslehren, noch für den „Klassenstaat“ des Marxismus, noch für den neoständischen Staat des italienischen Faschismus. Und was sein Demokratieverständnis anlangt: Nun, auch das lässt sehr zu wünschen übrig. Was er zeigt, ist „ein merkwürdiges Bild vom Staate“.486 Ein Staat ohne Eigenleben und ohne Wärme. Nichts Anheimelndes haftet ihm an. Es ist schwer, sich mit ihm zu identifizieren. Dennoch, die Kritiker verkennen seine Leistung. Und am meisten dann, wenn sie die „Reine Rechtslehre“ als bloße „formal-logische Spiegelfechterei“ ansehen.487 Oder noch ärger: als „Ausgeburt eines fremdrassigen, wurzellosen Intellektualismus“488. Denn so weit Kelsen das „Seiende“ verwirft, verwirft er es doch nur in seiner Gestalt als „Organisch-Seiendes“. Nicht in den Blick kommt es ihm als „Unorganisches“, als „produzierte“ Natur. Dieses Sein bleibt gewissermaßen „ungeschoren“. Die „Reinigungsarbeit“ ist damit, nüchtern betrachtet, nur zur Hälfte geleistet. Aber gerade das weist Kelsen, der sich scheinbar aus allem heraushält, als einen – wenn auch unerklärten – Parteigänger des reinen Gesellschaftsstaates aus. J. Binder konvertiert Mitte der 1920er Jahre von Kant zu Hegel und wird zu einem Haupt des sogenannten „Neuhegelianismus“. Von dieser neu gewonnenen philosophischen Heimat aus äußert er sich wiederum zur „Person“. Folgende Verschiebung seiner Position von 1907 tritt ein; sein Schüler K. Larenz referiert: Damals unternahm Binder den Versuch, „den Begriff der Person von 486 S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff …, a. a. O., S. 18. 487 E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre …, a. a. O., S. 43. 488 C.-H. Ule (Herrschaft und Führung im nationalen Reich, in: Verwaltungs-Archiv 45 (1940), S. 193 ff. [S. 201]) in seiner Habilitationsschrift.

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der Realität des Menschen als psycho-physisches Wesen abzulösen“, wenn dieser Versuch auch weniger radikal ausfiel als jener H. Kelsens.489 Jetzt wendet er gegen die Auffassung Savignys und Windscheids, dass nur der (willensbegabte) Mensch „Person“ sein und darüber hinaus nur von „fiktiven Personen“ gesprochen werden könne, ein: „[A]ber auch die sogenannten juristischen Personen … [sind] Person in demselben Sinne wie der einzelne Mensch.“ Jedes soziale Gebilde verdankt „als Wirklichkeit der Vernunft und des sittlichen Willens … seine Existenz, Persönlichkeit und Rechtsfähigkeit nicht erst der Anerkennung oder Verleihung durch die Rechtsordnung, sondern ist von vornherein juristische Person und Rechtssubjekt“490. Larenz selbst lässt ebenfalls keinen Zweifel daran, dass es „überindividuelle Willenseinheit[en]“ gibt, „Gesamtpersonen“491, die objektiv, also unabhängig vom Einzelwillen und von der Einzelperson und auch unabhängig davon existieren, ob sie von der Rechtsordnung als solche anerkannt worden sind oder nicht. Das Problem sei aber: Sie passen nicht in das individualistische Weltbild, das nur die natürliche, am Einzelmenschen haftende Person und deren Willen akzeptiert. Folglich erweitert er die Substanz der Person, das „Ich“, zu der umfassenderen Größe „Geist“. Seine Person wird also nicht vom „Ich“, sondern vom „Geist“ getragen. Damit ist eine Plattform gewonnen, die partiell mit jener Kelsens übereinstimmt. Sie unterscheiden sich aber darin, dass bei Letzterem „Konstruktionspunkt“ der „Person“ das Recht ist, bei Larenz dagegen jener „Geist“. Und sie unterscheiden sich weiter darin, dass Larenz seinen Geist „organisch“ versteht, Kelsens „Reine Rechtslehre“ aber gerade das „Organische“ ausmerzen will. Die Folgen daraus werden deutlich, wenn Larenz sich – wie auch schon Binder492, und ihm in dessen Kritik folgend – mit Gierke auseinandersetzt. Positiv an dessen „realer Verbandspersönlichkeit“ sei, dass Gierke – wie Kelsen – nicht zwischen der „natürlichen“ und der „juristischen“ Person unterscheide. Seine „tiefere Auffassung“ gegenüber Kelsen zeige sich jedoch darin, dass er seinen Personen eine „Substanz“ zuordne. Dann aber der „Schönheitsfehler“: Gierke arbeite mit dem „Bild“ (des „Organismus“) und nicht mit der Dialektik.493 Und weiter: Es sei „einer der stärksten Mängel der Gierkeschen Korporationslehre, dass sie zwischen dem Staat und den Vereinigungen des Privatrechts … keinen prinzipiellen Unterschied machen kann, da er sie beide als ‚Organismen‘ 489 K. Larenz, HDW, S. 220 f. 490 J. Binder, System …, a. a. O., S. 44 f. 491 K. Larenz, HDW, S. 209, 211. 492 J. Binder, Das Problem …, S. 20 f. 493 K. Larenz, HDW, S. 231: Gierke bleibe „bei dem Bilde des Organismus stehen“.

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betrachtet.“494 Verweilen wir bei diesem Satz. Denn er wirft darin die Frage auf, wie das Organismus-„Bild“ Gierkes zu interpretieren ist: „Organisch“ oder „unorganisch“? Sie wird indirekt von der englischen Rechtswissenschaft, direkter von R. Höhn495 beantwortet. Letzterer arbeitet für das „Dritte Reich“ heraus, dass Gierke seine Personen, einschließlich des Staates, „unorganisch“, mithin „liberalistisch“ begreift. Als „letztlich liberalistisch“ wird ihm deshalb der Zugang zum „Dritten Reich“ verwehrt. Gierke ist ein „gesellschaftlicher“ Denker, der die Novitäten der bürgerlichen Gesellschaft mit Bildern umschreibt/illustriert, die der Gemeinschaft entstammen. Das ist der Grund, warum er in England, wo ähnlich bildhaft gedacht wird, als „Vater des Pluralismus“ angesehen wird, d. h. als „Vater“ jener bürgerlichen Gesellschaft, die durch den „organisierten Kapitalismus“ geprägt ist. Das „Bild“, das Gierke gebraucht, entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als Versuch, neu aufgetretene „unorganische“ Sachverhalte zu illustrieren. Und so hat Binder Gierke in seiner Schrift von 1907 auch verstanden. Denn darin übersetzt er, wie wir schon sahen, dessen Oberbegriff „Organismus“ mit „Rechtssubjekt“. Larenz aber bemüht sich um eine Auflösung des „Bildes“ zur „organischen“ Seite hin. Das aber ist ein Irrweg. Er führt letztlich zu einer Auffassung, die die Person zum Ableger des „objektiven Geistes“ macht und ihre Qualität, Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, verkennt. 1931 unterscheiden sich die Standpunkte von Kelsen und Larenz darin, dass Ersterer die Person aus dem objektiven Recht, Larenz sie aus dem „objektiven Geist“ herleitet. Da Larenz aber seinen „objektiven Geist“ „gemeinschaftsmäßig“ versteht und ihn dieser nur wenige Jahre später zu der – unter nationalsozialistischen Vorzeichen entwickelten – Lehre von der „Rechtsstellung“ führen wird, ist es richtig, wenn La Torre496 hervorhebt, dass sie sich bei allen grundsätzlichen Unterschieden dort treffen, wo es um die subjektiven Rechte geht. Diese werden nämlich beide Male „geschluckt“: das eine Mal von diesem „objektiven Geist“, das andere Mal vom „objektiven Recht“. Aus der Zuordnung zum „Geistigen“ wird also sehr schnell eine Plattform, von der aus die koordinierten Personen nunmehr in eine „Personenpyramide“ umgedeutet werden, an deren Spitze der Staat, „völkisch“ gesehen: der „Führer“ steht. Gerade diese spätere Entwicklung

494 Ebd., S. 238. 495 R. Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, Hamburg 1936. 496 M. La Torre, Der Kampf wider das subjektive Recht. Karl Larenz und die nationalsozialistische Rechtslehre, in: Rechtstheorie 23 (1992), S. 370.

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zeigt also, dass sein Ansatz (auch der Binders!) falsch und insoweit anfällig für das bereits vor der Tür stehende „Völkische“ ist.

II.4 Die Überführung des „abstrakten“ in „konkretes“ Recht II.4.1 „Reich der Gesetze“ und „gesetztes“ Recht Bislang waren wir beim „abstrakten“ Recht und damit auf der Stufe des Begriffs, auf der uns das Recht noch vollkommen „ungestaltet“, als Derivat der „produzierten“ Natur entgegentritt. Was in „Rom“ nur „halb fertig“ war und deswegen von den römischen Juristen nicht auf den Begriff gebracht werden konnte, ist nun „fertiggestellt“. Eigentum und Person, diese zentralen Größen, treten uns jetzt als Resultate des „Formierens“ und der „Anerkennung“ in ihrer klaren, endgültigen, von allem „Organischen“ bereinigten Gestalt entgegen. Ein tausendjähriger Prozess ist zum Abschluss gekommen. Eine neue Qualität ist erreicht, die darauf wartet, in einem historisch neuen Typ von Gemeinwesen „Gestalt“ anzunehmen. Das „abstrakte Recht“, jener „im Schatten der Logik“497 ausgeführte Teil von Hegels „Rechtsphilosophie“, muss also „positiv“ gemacht werden, damit es „wirkliches“ und „praktizierbares“ Recht wird. Diese Überführung aus der Theorie in die Praxis findet statt, wo die „Rechtsphilosophie“ von der „Sittlichkeit“ handelt. Und weiterhin hat dieses Herstellen der „Einheit des Begriffs und seines Daseins“498 zu tun mit dem Thema „Gesetz“ und „Gesetzesstaat“. Wie vor ihm zum Beispiel Montesquieu greift auch Hegel den mit der bürgerlichen Gesellschaft aufkommenden naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff auf und überträgt ihn auf einer bislang unerreichten philosophischen Höhe499 auf die neuen, „produzierten“ gesellschaftlichen Verhältnisse. Gegenüber seiner im „Naturrechtsaufsatz“ vertretenen Position wird dabei eine bedeutsame Verschiebung sichtbar. Sie zeigt sich darin, dass er damals das, was er später als „bürgerliche Gesellschaft“ bezeichnen wird, als das „Unsittliche“ betrachtete, es jetzt aber zum „Sittlichen“ zählt. Dieser Sinneswandel erklärt sich aus dem Lernprozess, den Hegel in den zurückliegenden 18 Jahren durchgemacht hat. Er hat sich in die Werke der englischen Ökonomen vertieft. Er versteht nun die 497 J. Habermas, Theorie und Praxis, a. a. O., S. 133. 498 § 143 Rph-A. 499 Vgl. dazu auch: A. v. Bogdandy, Hegels Theorie des Gesetzes, Freiburg, München 1988.

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Wirkungsweise von Konkurrenz und Markt, er erkennt hinter dem „Wimmeln von Willkür“500 die „unsichtbare Hand“ – und sieht darin das zwischen die „Naturen“ geschobene und sie vermittelnde „Reich der Gesetze“. Und nun erst ist er in die Lage versetzt, die bürgerliche Gesellschaft auf den Begriff zu bringen. Diese ist nicht identisch mit der (unsittlichen) „produzierten“ Natur. Sie ist vielmehr eine versittlichte Gestalt derselben. So verhält es sich auch mit dem Recht. Auch dieses ist Derivat der „produzierten“ Natur und ist damit wie diese der vorgegebene Ausgangspunkt der Rechtswissenschaft.501 Aber das gilt nur für die „abstrakte“, für die „begriffslogische“ Seite, der für sich gesehen keine Wahrheit zukommt. Andererseits ist das „abstrakte“ vom „konkreten“ (und das heißt: vom positiven) Recht nicht durch eine chinesische Mauer getrennt. Sie sind, bildlich gesprochen, wie „Seele und Leib“502 und bilden als solche eine Einheit. Oder mit den Worten G. Dulckeits: Das konkrete Recht ist Recht, dem der „gestaltete Begriff“503 zugrunde liegt. Die Darstellung der „Rechtsphilosophie“ nimmt also ihren Gang von der „produzierten“ Natur zu deren konkreter Gestalt, der „bürgerlichen Gesellschaft“. Sie führt vom „abstrakten Recht“ zum Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Das „Reich der Gesetze“ ist für Hegel der „Geist“, der den Zusammenhang der jetzt verselbstständigten Naturen und ihrer spezifischen Interessen vermittelt.504 Er spricht von dem das System der Bedürfnisse „regierenden Verstand“505, dem Smith, Say und Ricardo auf die Spur gekommen sind. Die „unsichtbare Hand“ ist es, die den Produzenten ein bestimmtes individuelles Verhalten aufzwingt. Hegel vergleicht sie mit den Gesetzen, die das Planetensystem regieren, überhaupt mit den Naturgesetzen. Aber er stellt klar, dass „die Autorität“ dieser „sittlichen Gesetze … unendlich höher“ ist.506 Wer sie verletzt, riskiert ökonomische Nachteile. Wer dauerhaft gegen sie verstößt, dem droht der Ruin. „Unsichtbare Hand“ und „objektiver Geist“ stehen also für das Hineinwirken des Naturprinzips in die bürgerliche Gesellschaft. „Das Ausschweifende und 500 § 189/Anm. u. Zus. Rph. 501 § 2 Rph: „Der Begriff des Rechts fällt daher seinem Werden nach außerhalb der Wissenschaft des Rechts, seine Deduktion ist hier vorausgesetzt, und er ist als gegeben aufzunehmen.“ (Hervorhebung bei Hegel.) 502 § 1/ Zus. Rph; vgl. D. Scheltens, Hegels Rechtsphilosophie …, a. a. O., S. 48. 503 G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 18. Dulckeit greift damit die „Gestaltungen“ des Begriffs, ausgehend von den „abstrakten Formen“, hin zum „konkret Wahren“, auf, wie in § 32 u. § 32/Zus. Rph dargestellt. 504 Vgl. § 182/Zus. Rph. 505 § 189/Anm. Rph. 506 § 146/Anm. Rph.

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Maßlose“507, das mit ihr in die Welt tritt, findet darin eine Gegenwehr bzw. Korrekturinstanz. Sie sorgt dafür, dass das „Zerstörerische“ im Zaum gehalten wird. Sie steht dem schrankenlosen Produzieren im Wege. Sie erzwingt die Beachtung der Belange der „organischen“ Natur. 1802 noch ohne Verständnis des Markt- und Konkurrenzmechanismus, sieht Hegel nun, dass es dieser ist, der den „Blut-und-Boden-Zusammenhang“ ablöst und nunmehr an dessen Stelle die beiden Naturen vermittelt. Ein außerhalb der „produzierten“ Natur liegender Maßstab ist damit „gesetzt“. Er wirkt als Bindeglied, als „Puffer“, als Korrektiv. Vom „Reich der Gesetze“ führt also ein direkter, wenn auch nicht geradliniger Weg zum „gesetzten“, d. h. „gestalteten“ Recht. „Was gesetzmäßig ist, [ist] die Quelle der Erkenntnis dessen, was Recht ist.“508 Die Rechtsordnung ist also das mehr oder weniger geglückte Ergebnis, das „Ansichsein“ der Gesetzmäßigkeit in das „Gesetztsein“ des positiven Rechts zu überführen.509 Das aus dem „Reich der Gesetze“ gewonnene Recht ist aus diesem Grunde beschränkendes Recht; mit ihm ist die scheinbar verlorene Sittlichkeit510 gerettet. Auch Kant sieht die Notwendigkeit der „Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür, dass sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“.511 Aber das bezieht sich auf die Willkür der Einzelnen, nicht auf die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes und auf deren Willkür gegen die „organische“ Natur. Letztere ist bei ihm „ausgeblendet“; ist „Ding an sich“. Das genügt Hegel nicht, wie Hartmann512 hervorhebt. Er will mehr als nur eine Regelung, die lediglich die Selbstzerfleischung verhindert, sonst aber auf der Ebene des „abstrakten“ Rechts verbleibt. „Das Reich der Gesetze“ sowie die davon abgeleiteten „gesetzten“ Gesetze vermitteln513 also; sie stellen die Belange der „organischen“ Natur für den Fall sicher, dass sie von den Akteuren der bürgerlichen Gesellschaft ignoriert werden. Oder auch für den Fall, dass die Repräsentanzen der beiden Naturen als Korrektive versagen – etwa, weil der Monarch „übel gebildet“ ist. Es wirkt als „letzte Instanz“, gewissermaßen als Notbremse.

507 § 185/Zus. Rph. 508 § 212 Rph; aber auch schon Zusatz 2 zur Vorrede (MM 7, S. 15 ff.). 509 Ebd. 510 Vgl. § 181/Zus. Rph. 511 Zitiert bei N. Hartmann, Die Philosophie …, a. a. O., S. 316. 512 Ebd. 513 Das ist gut herausgearbeitet bei W. Schild, Das Gericht in Hegels Rechtsphilosophie, in: Überlieferung und Aufgabe. FS für Erich Heintel zum 70. Geburtstag, Bd. 2, Wien 1982, S. 267–294.

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Marx wird diese „Kette“, an die die bürgerliche Gesellschaft gelegt ist, den „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ nennen – eine Schlüsselkategorie bei ihm. Die Betonung liegt auf „naturgesetzlich“; geschützt wird die „organische“ Natur.514 Hier treffen sich Hegel und Marx. Doch die Bewertung kann kaum unterschiedlicher sein. Für Hegel ist das „Reich der Gesetze“ ein Bollwerk des Sittlichen; seine Existenz und sein Wirken machen die bürgerliche Gesellschaft „sittlich“. Anders Marx: Für ihn ist der „naturgesetzliche Gesamtprozess“ Ausdruck der die bürgerliche Gesellschaft und ihren Produktionsprozess beherrschenden Anarchie. Die Konkurrenz ist Erscheinungsform der „inneren Gesetze des Kapitals“, der „Zwangsgesetze dem einzelnen Kapital gegenüber“.515 Diesen Gesetzen ist der Boden entzogen, sobald eine proletarische Revolution das Kapitalverhältnis zerschlagen hat. Kommunistisches Produzieren ist frei von Anarchie. Der Markt- und Konkurrenzmechanismus steht nicht mehr im Wege. Marx, der das „System“ Hegels verwirft, sucht und findet „sein“ dialektisches Hauptpaar in der bürgerlichen Gesellschaft. Er sieht es im Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung – ein Gegensatz, der für ihn nicht „Schicksal“, sondern revolutionär auflösbar ist. Geschieht Letzteres, ist damit die Quelle des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“ verstopft. Seine juristische Kehrseite, das bürgerliche Recht bzw. die Rechtsgesetze, verlieren an Boden, werden außer Kurs gesetzt, sterben ab. „Bewusstes“, „planmäßiges“, im doppelten Sinne „gesetzloses“ Produzieren ist nun möglich. Das „Bollwerk“ zwischen den Naturen ist beseitigt. Der Zugriff der Produzenten auf die „organische“ Natur und ihre Ressourcen wird durch nichts mehr gestoppt. Alle Bedürfnisse können nun befriedigt werden. Für Hegel ist das schlimmster Eudämonismus auf Kosten der Natur. Was Marx im Blick hat und mit „Bewusstheit“ gleichsetzt, ist für ihn also etwas „Geistloses“, ist eine „Planmäßigkeit“, die bloß „Willkür“ ist.516 Es ist die „Besonderheit“, die sich jetzt absolut setzt, die sich anschickt, der „organischen“, der eigentlichen Natur den Garaus zu bereiten. Wenn eine so zu verstehende „Planmäßigkeit“ danach drängt, den gesellschaftlichen Raum zu erobern, muss ihr im Interesse der „organischen“ Natur Ein514 Er steht im Gegensatz zu den von der realsozialistischen Wissenschaft herausgefundenen „gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten“. Das sind Gesetze gegen die „organische“ Natur. Ihre „bewusste“ Beherrschung tritt an die Stelle des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“. Ausdehnung der „Besonderheit“ ins Maßlose ist das Ziel. (S. dazu U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., insbes. S. 124 ff., sowie die Auseinandersetzung mit dieser Problematik in Kapitel V dieser Arbeit.) 515 Marx, GR, S. 371, 450, 638. 516 Dazu ausführlich in Kapitel V.

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halt geboten werden. „Naturnotwendigkeit und Willkür“517 – das sind also die zwei Prinzipien, die sich in den Haaren liegen. Jene verkörpert für Hegel das „Allgemeine“ und „Sittliche“, während Marx sie für das „blind Wirkende“, das „Unbewusste“, das „Unplanmäßige“ hält. Die „Willkür“ hingegen verweist auf die Tendenz der „Besonderheit“ zur (Selbst-)Zerstörung. Um nicht das Ganze (und damit sich selbst!) zu gefährden, muss sie daher durch die Allgemeinheit beschränkt, mithin auf das „Naturnotwendige“ verwiesen werden.518 Das Gemeinsame zwischen Hegel und Marx ist also, dass beide das Recht mit dem „Reich der Gesetze“ verknüpfen. Aber für Marx sind der „naturgesetzliche Gesamtprozess“ und folglich auch das aus ihm resultierende Recht etwas Negatives. Sein Anliegen ist es, Ersteren durch „Planmäßigkeit“ zu ersetzen. Da damit dem Recht der Boden entzogen ist, stirbt es ab. Anders Hegel: Sein „Reich der Gesetze“ ist Quelle der „Sittlichkeit“. Das Recht bleibt bei ihm notwendiger Bestandteil des sittlichen Staates. Wie die Gesetze der Physik, wirken auch die ökonomischen Gesetze und Prinzipien unabhängig vom Willen und Wollen der Handelnden. Sie sind obwaltender, die Exzesse, das „Zerstörerische“ gerade rückender „Geist“. Über diese besondere Weise: „blind wirkend“519, ist auch die bürgerliche Gesellschaft geistbeseelt. Es ist ein Geist, der sich versteckt hält, der, zum Beispiel in Gestalt der Krise, nur korrigierend eingreift, der sich nur zeigt, wenn die zerstörerischen Potenziale überhandnehmen und das Ganze gefährden. Die „unsichtbare Hand“ Ricardos, das „Reich der Gesetze“ Hegels, der „naturgesetzliche Prozess“ bei Marx: Alle drei verweisen darauf, dass die „organische“ Natur auch weiterhin ihren Einfluss geltend macht und ihre „Oberhoheit“ realisiert. Akteure der bürgerlichen Gesellschaft, die diese Gesetze missachten, etwa weil sie Produkte herstellen, die nicht gebraucht werden, werden vom Markt gemaßregelt. Was sich also aus der insoweit gemeinsamen Sicht des einzelnen Kapitals und auch des Marxismus den Produktivkräften als Hindernis entgegenstellt520, als Sand im Getriebe, bedeutet für Hegel Zügelung und Einschränkung des Unsittlichen 517 § 182 Rph. 518 § 182/Zus. Rph: „Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch die Besonderheit ihr Wohl befördert.“ 519 MEW 20, S. 253 (Anti-Dühring). 520 Engels dazu: „Solange ihr aber fortfahrt, auf die jetzige unbewusste, gedankenlose, der Herrschaft des Zufalls überlassene Art zu produzieren, solange bleiben die Handelskrisen, und jede folgende muss universeller, also schlimmer als die vorhergehende [werden], muss eine größere Zahl kleiner Kapitalisten verarmen und die Anzahl der bloß von ihrer Arbeit lebenden Klasse in steigendem Verhältnisse vermehren“ (MEW 1, S. 515).

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auf ein (natur-)verträgliches Maß. Das ist eine völlig andere, konträre Beurteilung des gleichen Sachverhalts! Der in der „Rechtsphilosophie“ Verwendung findende Gesetzesbegriff ist in der „Wesens-Logik“ näher dargestellt.521 Die dortigen Ausführungen522 zeigen, dass Hegel „Gesetz“ und „Gesetztsein“, zusammengefasst zum „Reich der Gesetze“, als eine gesonderte Ebene zwischen Wesen und Erscheinung ansieht. Über das „Gesetz“ tritt „der erscheinenden Welt … die an sich seiende Welt gegenüber“.523 Das Gesetz reflektiert die „gesetzte“, die „fest“ gewordene Erscheinung. Hegel sagt: „Das Reich der Gesetze ist der ruhige Inhalt der Erscheinung.“ Es „enthält nur den einfachen, wandellosen … Inhalt der existierenden Welt.“524 Wobei das Gesetz nicht alles von ihr reflektiert, sondern nur ihr Typisches bzw. Wesentliches; das bei all ihrem Wandel Stabile und Bleibende. Das Gesetz erfasst also nur einen Teil der Erscheinung, nämlich dessen „positive Wesentlichkeit“.525 Was das Gesetz nicht erfasst, schildert er so: die sich „verändernde Existenz, die Bewegung des Übergehens in [das] Entgegengesetzte, des sich Aufhebens und des Zurückgehens in die Einheit. Diese Seite der unruhigen Form oder der Negativität enthält das Gesetz nicht.“ Daher ist die „Erscheinung … gegen das Gesetz die Totalität, denn sie enthält das Gesetz, aber auch noch mehr, nämlich das Moment der sich selbst bewegenden Form“.526 Er hebt hervor, dass der mit dem Wesen in enger Beziehung stehende „Gesetzeswille“ gegen die erscheinende Welt gerichtet ist. Damit sind „Wille“ und „Gesetz“ im Zusammenhang genannt. Das erinnert an Kelsen. Aber Hegel meint hier natürlich nicht das juristische Gesetz, sondern das Naturgesetz im weitesten Sinne. „Wille“ des Fallgesetzes ist, dass ein Gegenstand, der Erdanziehung folgend, von oben nach unten fällt. Der „Wille“ des ökonomischen Wertgesetzes ist es unter anderem, dass sich nur solche Produkte auf dem Markt behaupten, sprich: verkaufen lassen, die einen Gebrauchswert haben. Der Gebrauchswert ist also das Wesen der Erscheinung „Ware“. Auf dem ökonomischen Terrain vertreten also Markt und Konkurrenz das „Reich der Gesetze“. Sie sind insofern Vollzugsorgane des „Wesens“. Die „erscheinende (Waren-)Welt“ wird von ihnen nur bestätigt, wenn sie mit dem „Wesen“ Kontakt hält. Je enger dieser Kontakt, desto besser. Vom „Wesen“ her 521 S. dazu: A. v. Bogdandy, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 63 ff. 522 Hegel, WdL (W), S. 127–148. 523 Ebd., S. 127. 524 Ebd., S. 132 (Hervorhebung bei Hegel). 525 Ebd., S. 133. 526 Ebd., S. 132.

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gesehen, geht es bei der Produktion von Produkten nicht um den Tauschwert, sondern um den Gebrauchswert. Von dem „Wesenswillen“ dieser (ökonomischen) Gesetze führt der Weg – auch wenn es nicht immer ein gerader Weg ist!527 – zu den juristischen Gesetzen, von denen Kelsen meint, dass sie den „Willen“ enthalten, die aber nur den Willen der ökonomischen Gesetze transportieren. Die juristischen Gesetze spiegeln also – mehr oder weniger gut bzw. genau – Inhalt und „Anliegen“ der ökonomischen wider. Letztere sind für Hegel „das andere der Erscheinung“. Er sieht in ihnen gewissermaßen den unsichtbaren, metaphysischen Teil der Ersteren. Dieses „andere“ wiederum ist der gemeinsame Inhalt gleichartiger Erscheinungen; dieser wird vom Gesetz reflektiert. Daraus ergibt sich bereits, dass nicht alle Zeiten der gesellschaftlichen, der ökonomischen Entwicklung auch Zeiten der „Gesetze“ sind. „Sturm-und-Drang“-Zeiten, Zeiten revolutionärer Umwälzungen, generell: Zeiten der „Auflösung der Erscheinung“ entziehen sich dem Gesetz, sind gewissermaßen „gesetzesfeindlich“, zeigen sich im Extremfall „gesetzlos“.

II.4.2 „Im Verhältnis von Institutionen und Pandekten“ stehend: Naturrecht und positives Recht Da Hegel auch in der „Rechtsphilosophie“ gegen die „bisherigen Behandlungsarten des Naturrechts“ antritt, muss nicht verwundern, dass er darin einen Begriff vom „Recht“ entwickelt, der sich von den „gängigen“ Vorstellungen fundamental unterscheidet und ihm auch noch heute den „Verdacht“ einbringt, dass seine „Rechtskonzeption die normativ-kritische Instanz des Naturrechts preisgibt zugunsten einer Verklärung der bestehenden politischen Institutionen“.528 Das verkennt aber, dass es Hegels Anliegen ist, den damals geläufigen und noch heute vorherrschenden Rechtsbegriff durch eine Pflicht zur Natur zu versittlichen. Die Gesamtanlage der „Rechtsphilosophie“ ist davon geprägt. Bereits die „Einleitung“ steckt voller Hinweise darauf. Breit wird dort jene Dialektik von

527 Hegel weist in einem Zusatz zur „Vorrede“ (MM 7, S. 16) hin auf den Widerstreit dessen, „was ist, und dessen, was sein soll, des an sich seienden Rechts, welches unverändert bleibt, und der Willkürlichkeit der Bestimmung dessen, was als Recht gelten solle“. F. Engels (MEW 18, S. 269 [Zur Wohnungsfrage]) macht auf die wissentlichen und unwissentlichen Fehler/„Verfälschungen“ aufmerksam, die bei der „Übersetzung“ der ökonomischen Gesetze ins Juristische auftreten. 528 E. Weisser-Lohmann, Rechtsphilosophie als praktische Philosophie, München 2011, S. 124.

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„Begriff“ und „Gestalt“ thematisiert, auf die er später immer wieder zurückkommt.529 In sie ist gerade auch der nachfolgende Abschnitt, das „Abstrakte Recht“, eingebettet, der, stünde er allein, nicht wenigen Hegelinterpreten als Darstellung des Rechts genügen würde. Das wird jedoch durch die „Einleitung“ und die nachfolgenden Teile nicht nur infrage gestellt, sondern ausgeschlossen. Wie ist es? Wer nach dem Zerfall des feudalen Gemeinwesens in zwei Naturen nur noch mit einer Natur, der „produzierten“, weiterarbeitet, für den sind damit Ausgangs- wie Endpunkt fixiert. Und es ist klargestellt, dass die „organische“ Natur außerhalb des Rechtsbegriffs liegt. Anders Hegel. Die Überschrift lautet nicht ohne Grund „Abstraktes Recht“. Und er lässt diesem Teil nicht ohne Grund einen Teil folgen, der die Überschrift „Abstrakte Moralität“ tragen könnte. Da der „Zerfall“, aus denen diese beiden Teile hervorgehen, in Wahrheit eine „Aufhebung“ ist, werden beide Teile in der „Sittlichkeit“ zusammengeführt. Die Pointe530 liegt also darin, dass das „abstrakte Recht“ als der „Rechtsstandpunkt“ der absolut gesetzten „produzierten“ Natur jetzt auf der Ebene der „Sittlichkeit“ korrigiert und erweitert wird.531 Praktisch vollzogen wird das durch die „Gestalten“ der Sittlichkeit, also durch „bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“, im Wege der Schaffung positiven Rechts. Erst dieses „positiv“ gemachte Recht ist das konkrete Recht. Und nun wird auch klar, warum Hegel sich gegen die „Vorstellung oder gar Forderung“ wehrt, aus dem philosophischen (Natur-)Recht und dessen systematischer Entwicklung ein „positives Gesetzbuch, d. i. ein solches, wie der wirkliche Staat eines bedarf“, zu schmieden. Als Recht bloß der „produzierten“ Natur kann es nicht „positiv“ gemacht werden, ohne die „organische“ Natur und damit auch den Menschen daraus zu verbannen. Beide wären damit rechtlos gemacht und zum Objekt allgemeiner Ausbeutung degradiert. Es gäbe der „Person“ das Recht, sie sich anzueignen, ohne mehr beachten zu müssen, als dass ihre Willkür nicht mit jener der anderen Personen kollidiert. Diese Einschränkung, für Kant „Hauptmoment“ des Rechts, ist für Hegel entschieden zu wenig. Er erneuert vielmehr über den „objektiven Geist“ die ehemalige Verstrickung beider Naturen. Er ersetzt das auf „Blut und Boden“ beruhende 529 §§ 211–214 Rph. Er verweist dort auf die Paragrafen der „Einleitung“ als jene Stellen, die aufzeigen, „wo das Recht positiv werden“ und die Arbeit der Philosophen in die Arbeit der Juristen übergehen muss. 530 Was ich hier als „Pointe“ bezeichne, wird in § 31 Rph als „Methode“, als das „bewegende Prinzip des Begriffs“, als Aufzeigen von Entwicklung, als „immanentes Fortschreiten“ vorgestellt. 531 Das positive Recht ist also mehr und anderes als nur das „verwirklichte abstrakte Recht“, wie J. Habermas Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971, S. 133 [Hervorhebung bei ihm] meint.

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Gemeinwesen durch eines, das sich erst durch geistige Anstrengung erschließt. Das „abstrakte Recht“ verweist also nur auf die logischen Ausgangspunkte, auf das (Vor-)Gegebene: auf die „produzierte“ Natur, auf das Eigentum, auf die „Person“. Dann erst, in den nachfolgenden Abschnitten, ist das „konkrete“ Recht dargestellt. Damit sind die Konturen umrissen. Und an sich ist damit auch die Streitfrage beantwortet, wo denn nun, in welchem Teil der „Rechtsphilosophie“, der Rechtsbegriff Hegels zu finden ist. Aber die Diskussion hierzu ist bis heute nicht abgeschlossen. Als Binder, Larenz und Busse ab 1925 daran gehen, den hegelschen Privatrechtsbegriff zu rekonstruieren, ist für sie das „Abstrakte Recht“ die erste Station. Birgt dieser Abschnitt den gesuchten Begriff ? Sie werden dort nicht „fündig“. Was sie dort dargestellt sehen, sind „Einzel“-Werte, wie: Eigentum, Person, freier Wille, Vertrag, die das „Ganze“ des hegelschen Rechtsbegriffs nicht erkennen lassen. Binder findet damals heraus, „dass es in der Sphäre des abstrakten Rechts kein Schuldrecht und keinen obligatorischen Vertrag gibt“532. Ja, dass darüber hinaus die gesamte „Rechtsphilosophie“ keine Privatrechtstheorie enthalte. Sie sei dort nur angelegt, aber nicht ausgeführt. Das sei ein „auffälliger Mangel“.533 Seine Erklärung dafür: Das „abstrakte Recht“ sei rein „negativ“. Es stehe außerhalb des Systems der Sittlichkeit. Worauf Hegel aber abziele, sei: der sittliche Staat, das sittliche Recht. Hegels (Privat-)Rechtsbegriff müsse daher dort gesucht werden, wo Hegel die „Sittlichkeit“ abhandelt – bei der Familie und bei der bürgerlichen Gesellschaft. Das „abstrakte Recht“ sei hingegen ein „dürftiger Inbegriff von Kategorien“534, der, für sich betrachtet, der Rechtsphilosophie Hegels in keiner Weise gerecht werde. Das ist richtig beobachtet und doch falsch interpretiert. Insofern nämlich, als der Fortgang der hegelschen Darstellung vom „abstrakten“ zum „konkreten“ Recht übersehen wird. Wenn Binder der Neigung der Kollegenschaft, das „abstrakte Recht“ als den „brauchbaren“ Teil der „Rechtsphilosophie“ anzusehen, mit der „gegenteiligen“ Neigung entgegentritt, es „zu den heute überholten zeitbedingten Teilen seiner Rechtsphilosophie“ zu erklären535, zeigt er also nur von der „anderen Seite“ her das gleiche Unvermögen, beide: „abstraktes“ und „konkretes“ Recht, in ihrer Einheit zu sehen. 532 J. Binder, Der obligatorische Vertrag, a. a. O., S. 48. 533 Ebd., S. 50. 534 J. Binder, Das System der Rechtsphilosophie Hegels, in: Ders./M. Busse/K. Larenz, Einführung in Hegels Rechtsphilosophie, Berlin 1931, S. 88. 535 K. Larenz, RsR, S. 229.

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War es für Binder 1931 „eine vollkommene und unbegreifliche Verkennung des Grundgedankens der Rechtsphilosophie Hegels“, dessen „abstraktes Recht“ zum Kern seiner Privatrechtsauffassung erklären zu wollen536, so lebt, beginnend mit J. Ritter und seiner Entdeckung des „liberalen Hegel“, die Neigung hierzu wieder auf. Das „abstrakte Recht“ ist dieser Meinung nach Beleg dafür, dass „Hegels Rechtsphilosophie … gerade nicht jenen kollektivistischen Charakter [trägt], der ihr oft zugeschrieben wurde, sondern … im Ausgangspunkt individualistisch“ ist.537 Ritter selbst zentriert Hegels Rechtsphilosophie folglich um die Begriffe Eigentum und Freiheit538 – wie er meint, im Sinne des „abstrakten Rechts“. Beide Entweder-oder-Standpunkte werden der „Rechtsphilosophie“ nicht gerecht. Differenzierter und damit richtiger urteilt hingegen G. Dulckeit. Im Unterschied zu den beiden genannten Gruppen stellt er „abstraktes“ und „konkretes“, „unsittliches“ und „sittliches“ Recht nicht beziehungslos nebeneinander, sondern hebt hervor, dass „abstraktes Recht“ und „Moralität“ nur „notwendige Stufen in der dialektisch-logischen Entfaltung des Rechtsbegriffs“ sind. Beide sind „abstrakte, unwirkliche Momente des Rechts“, die erst im Sittlichen zu „konkretem“ und „wirklichem“ Recht werden.539 Auch Flickinger merkt zu den Bemühungen, das „abstrakte Recht“ als die hegelsche Privatrechtstheorie auszugeben, kritisch an, dass man dann aber die „eigentümlich gegenläufige Darstellungsbewegung“ zu erklären hat, die das „abstrakte Recht“ auf der einen Seite und die Ausführungen zur „bürgerlichen Gesellschaft“ auf der anderen kennzeichnet.540 Wenn er in diesem Zusammenhang auf § 2 Rph verweist: „Der Begriff des Rechts fällt daher seinem Werden nach außerhalb der Wissenschaft des Rechts, seine Deduktion ist hier vorausgesetzt und er ist als gegeben aufzunehmen“, und wohl sagen will, dass hierin die Einbettung des Rechts in die Sittlichkeit, ja seine Zugehörigkeit zu ihr angesprochen ist, so ist ihm zuzustimmen.541 In § 33 Rph verstärkt und präzisiert Hegel: „Wenn wir hier vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht[,] das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die 536 J. Binder, Das System …, a. a. O., S. 85. 537 P. Landau, Hegels Begründung des Vertragsrechts, a. a. O., S. 119 f. 538 Vgl. J. Ritter, Person und Eigentum, a. a. O., S. 55 ff. 539 G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 20. 540 H.-G. Flickinger, „Das abstrakte Recht Hegels“  – Hegels Kritik des bürgerlichen Rechtsbegriffs, in: ARSP 1976, S. 532. 541 Ebd., S. 533.

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ebenfalls hierher gehören, weil der Begriff die Gedanken der Wahrheit nach zusammen bringt.“542 Im „Naturrechtsaufsatz“ ist diese Aussage insoweit vorweggenommen, als Hegel dort den „philosophischen“ Rechtsbegriff, „der in der Idee des Ganzen über den Teilen steht“543, einem Rechtsbegriff gegenüberstellt, in dem „das Ganze aufgelöst aufhört, ein Ganzes und etwas Reelles zu sein“, und „dadurch völlig seine Wahrheit verliert“.544 Jetzt sagt er deutlicher, dass im philosophischen Rechtsbegriff Begriff und Gestalt, „abstraktes“ und „konkretes“ Recht zusammengeführt sind. Das bisherige „Naturrecht“ hingegen knüpft an die „atomistische“ und „unsittliche“ Grundstruktur an; es verabsolutiert und verewigt sie. Kritisierend merkt er an: „Dass das Naturrecht oder das philosophische Recht vom positiven verschieden ist, dies darein zu verkehren, dass sie voneinander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Missverständnis; jenes ist zu diesem vielmehr im Verhältnis von Institutionen und Pandekten.“545 Gemeint ist damit, dass das „abstrakte“ Recht als die Darstellung der Institutionen der nur „abstrakt“ vorhandenen „produzierten“ Natur: Eigentum, Person, freier Wille, in konkretes Recht überführt werden muss, wie es ja auf der Ebene der „Sittlichkeit“ auch geschieht. Dort werden die Institutionen des „abstrakten“ Rechts in einen Prozess eingebunden, relativiert, korrigiert und „verlebendigt“. Erst hier, auf der Ebene der „Gestalten“, finden sie ihre „Wahrheit“. Und auch umgekehrt: Das positive Recht hat die Grunddaten der „Institutionen“ zur Kenntnis zu nehmen bzw. als Ausgangspunkte zu berücksichtigen. Die Korrektur erfolgt also beiderseits. Die Stelle aufzeigen, „wo das Recht positiv werden muss“. Das ist dort, wo „das Recht als Gesetz“ auftritt.546 Man kann in dieser Dialektik von (abstrakter) Institution und ihrer Verwirklichung im positiven Recht durchaus einen Anwendungsfall der berühmt-berüchtigten Sentenz sehen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Positives Recht ist „gesetztes“ und als solches das „Reich der Gesetze“ mehr oder weniger genau widerspiegelndes Recht. Wird dieser Zusammenhang gekappt bzw. ignoriert, 542 § 33/Zus. Rph. 543 Hegel, NR, S. 519. 544 Ebd., S. 516. 545 E. Weisser-Lohmann (Rechtsphilosophie …, a.  a.  O., S.  123  f.) fragt zur zitierten Passage: „Sind die Institutionen nur der erste Teil des amtlichen Lehrbuches, dem die Ausführung in den Pandekten folgt, oder kommt den in den Institutionen formulierten Grundsätzen eine überpositive Stellung zu, die als kritische Instanz gegen das positive Recht fungiert?“ Eine Frage, die bis heute überwiegend – wohl auch von der Verfasserin – zugunsten des „Naturrechts“ und (damit) gegen Hegel beantwortet wird. 546 § 3/Anm. Rph sowie Überschrift vor § 211 Rph.

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wird also das Recht vom (Natur-)Gesetz gelöst, wird das Recht „unwahr“ – weil es dann nicht mehr die Interessen beider Naturen berücksichtigt, sondern nur noch die der „produzierten“. Die Bindung an das (Natur-)Gesetz ist für das sittliche Recht also existenziell. Wird sie gelöst – und das geschieht in den modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts –, geht das Recht als Gestalt des Sittlichen verloren. Ein wichtiger Hinweis in § 211/Zus. Rph, der das Verhältnis jener „Naturgesetze“, denen die bürgerliche Gesellschaft folgen muss, zu den „Rechtsgesetzen“ beleuchtet, lautet so: „Die Sonne wie die Planeten haben auch ihre Gesetze, aber sie wissen sie nicht: Barbaren werden durch Triebe, Sitten, Gefühle regiert, aber sie haben kein Bewusstsein davon.“ Im Gegensatz dazu muss das „Recht … denkend gewusst werden, es muss ein System in sich selbst sein, und nur als solches kann es bei gebildeten Nationen gelten.“ Und in § 212 sagt er, dass das, was gesetzmäßig ist, die Quelle der Erkenntnis dessen ist, was „Recht“ bzw. was „rechtens“ ist. Was wohl heißen soll, dass das Naturgesetz erkannt und als „Erkanntes“ zu „Recht“ gemacht, d. h. „gesetzt“ werden muss. Dieser Vorgang ist in den §§ 211–214 der „Rechtsphilosophie“ näher dargestellt. Bedeutsam ist, dass Hegels Rechtsbegriff sich nicht aus der „gewöhnlichen“, aus der „bloßen Verstandeslogik“ erschließt. Mit ihr ist der konkrete Begriff nicht zu fassen, weil ihr „das Dialektische und Vernünftige“ fehlt. Sie bleibt dort bei der einfachen, formellen Einheit stehen, wo es gilt, die „Einheit unterschiedener Bestimmungen“ aufzugreifen.547 Hegels konkretes Recht erklärt sich daher aus einer dialektischen Beziehung, deren einer Pol außerhalb der Sphäre des abstrakten Rechts gelegen ist. „An sich“, „abstrakt“, repräsentiert das Recht die „abstrakte Allgemeinheit“ der bürgerlichen Gesellschaft und ist insoweit ohne Bezug auf das Ganze. Aber (und hierauf liegt die Betonung): Die bürgerliche Gesellschaft ist nur relativ selbstständig gegenüber dem Ganzen; im Übrigen ist und bleibt sie Teil von ihm. Übertragen auf das Recht: Auch dieses wird erst vollständig, wenn es versittlicht wird. Das „abstrakte“ Recht als der reine, unverfälschte Ausdruck der „produzierten“ Natur und ihrer „Freiheit“ ist gewissermaßen nur „halbes“ Recht. Es ist die logische Voraussetzung des „konkreten“ Rechts. Im Interesse des Ganzen muss sich dieser reine, unverfälschte juristische Ausdruck „Verfälschungen“ gefallen lassen. Das geschieht im Rahmen der „Positivierung“. Da seine Meinung aber der landläufigen entgegengesetzt ist, bringt ihn das in den Verdacht, dass dieser Rückbezug zum Sittlichen antiliberal und reaktionär ist. Einwendungen wie die des jungen Marx scheinen dann vollauf berechtigt zu sein. Von seiner „gesellschaftlichen“, mithin libera547 § 82 Enz.

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len Position aus hinterfragt er Hegels Behauptung, dass der Staat „gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft … eine äußerliche Notwendigkeit und ihre höhere Macht ist, deren Natur ihre Gesetze, sowie ihre Interessen untergeordnet und davon abhängig sind“. Er merkt an: „Unter der ‚äußerlichen Notwendigkeit‘ kann nur verstanden werden, dass ‚Gesetze‘ und ‚Interessen‘ der Familie und der Gesellschaft den ‚Gesetzen‘ und ‚Interessen‘ des Staats im Kollisionsfall weichen müssen, ihm untergeordnet sind, ihre Existenz von der seinigen abhängig ist oder auch sein Wille und seine Gesetze ihrem ‚Willen‘ und ihren ‚Gesetzen‘ als eine Notwendigkeit erscheint!“548 Je weniger man versteht, dass für Hegel der Staat eine Gestalt der Sittlichkeit ist und nicht bloßer „Machtapparat“, desto antiliberaler, ja reaktionärer muss er aus „gesellschaftlichem“ Blickwinkel erscheinen. Aber: Das von Hegel gemeinte Ganze ist „höhere Macht“ gegenüber den (Sonder-) Interessen der bürgerlichen Gesellschaft. Es macht das „Sittliche“ gegen sie geltend; dieses ist eine Notwendigkeit, „die gegen das innere Wesen der Sache angeht“, um dieses zu „modifizieren“.549 Bei dieser „Modifikation“ des „reinen“ juristischen Ausdrucks der bürgerlichen Gesellschaft geht es nicht nur um die Reaktion auf „empirische Kollisionen“, wie Marx hervorhebt (und worunter er wohl individuelle Verstöße gegen das Recht versteht), sondern es geht um das wesentliche „Verhältnis dieser Sphären selbst“550. Soll heißen: Das Wesen des hegelschen Rechtsbegriffs wird durch sie bestimmt. Insoweit die bürgerliche Gesellschaft durch solche „Modifikationen“ beeinflusst, die Willkür ihrer Mitglieder beschränkt wird, gewinnt das Recht instrumentalen Charakter, wird es Instrument zur Einflussnahme des Ganzen auf sie. Diese Funktion des Rechts ist für Hegel unverzichtbar. Klar ist aber auch, dass dies allen, die einen „gesellschaftlichen“ Standpunkt vertreten, pure Reaktion ist. Dem jungen Marx sind jedenfalls in fast jedem Satz seiner Kommentierung die „gemischten Gefühle“ anzumerken, die er hat. Anders 85 Jahre später bei Binder & Co. (und anders auch bei den ihnen nachfolgenden realsozialistischen Kollegen), für die die Instrumentalität des Rechts etwas Selbstverständliches ist. Aber wie schon gezeigt: Ihre Ansätze leiden darunter und diskreditieren sich dadurch, dass sie die Dialektik der Naturen auf einen Gegensatz von „Volkheitsdiktatur“ bzw. „Diktatur des Proletariats“ und bürgerlicher Gesellschaft verkürzen, diese Diktaturen also zu „sittlichen“ verklären. Das macht sie 548 MEW 1, S. 204. 549 Ebd. 550 Ebd.

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fundamental falsch. Trotzdem wird aber die Entgegnung darauf, die Versuche J. Ritters und anderer, das „abstrakte Recht“ als das der bürgerlichen Gesellschaft gemäße Recht auszugeben, nicht richtiger. Auch sie sind „apologetische Bemühung“.551 Beizutreten ist hingegen G. Dulckeits Verlangen, die Aussagen des „abstrakten Rechts“ in das „System“ einzuordnen und im Systemzusammenhang zu untersuchen.552 Sähe man den Rechtsbegriff Hegels im „abstrakten Recht“ niedergelegt, stünden wir vor der Frage, wie die nachfolgenden Abschnitte zu erklären sind. Ein Zusammenhang wäre nicht ohne Weiteres herstellbar. Was dem „abstrakten Recht“ folgt, wäre eine neue Geschichte. Vielfach wird auf „Rom“ hingewiesen. Aber so sehr die dortige Darstellung an „Rom“ erinnert, ist das – siehe oben! – mit Vorsicht zu genießen. Das konkrete Recht Roms ist nicht das „abstrakte“ Recht der „Rechtsphilosophie“. Nur das ist richtig: Hegel knüpft an das römische Recht an, soweit in ihm bereits der Begriff entwickelt wird. Er knüpft an die wissenschaftliche Leistung der römischen Juristen an – nicht an das positive Recht. Er übernimmt nicht die Gestalt des römischen Rechts, weil ihm klar ist, dass diese und die Gestalt des bürgerlichen Rechts inkompatibel sind. Freilich, zu Hegels Zeiten wird die Fehlinterpretation seines „abstrakten Rechts“ durch die Zeit begünstigt, die der Abfassung der „Rechtsphilosophie“ nachfolgt. Auch Deutschland nähert sich der „freien Konkurrenz“. Eine Zeit, die an „Rom“ erinnert. Denn „Rom“ liegt ein historischer Typ von Ökonomie zugrunde, der scheinbar dort endet, wo – logisch, jedoch nicht auch wirklich – der „Freie-Konkurrenz-Kapitalismus“ beginnt. Wird dieser Trugschluss in das Recht übernommen, besteht im Falle einer Kodifizierung die Gefahr, dass die Regelung im Kernbereich (siehe Eigentum, siehe Person!) tausend Jahre hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Aber auch zum Zeitpunkt der „freien Konkurrenz“ ist das Recht allenfalls unter „logischen Gesichtspunkten“ mit dem römischen Recht kompatibel. Und das nicht einmal in den wichtigen Bereichen. Tatsächlich ist und bleibt Letzteres das Recht eines fremden Volkes, einer vergangenen Epoche und – nicht zuletzt – einer historisch erledigten Form von Ökonomie. Werfen wir einen Blick auf die Lösung, die Savigny findet. (Auch) er sieht, dass das „philosophische“, das rein „logisch“ begründete Naturrecht nicht oder jedenfalls nur in Teilen positivierbar ist. Der von ihm gesuchte Ausweg: Abkehr vom „logischen“ und Hinwendung zum „historischen“ Standpunkt – was der Hinwendung zu „Rom“ entspricht. Im römischen Recht sieht er den „logischen“ 551 H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle Monarchie, a. a. O., S. 195. 552 Vgl. G. Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt, a. a. O., S. 15.

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und den „historischen“ Standpunkt vereinigt; darin sieht er also den praktikablen und bereits praktizierten Teil des Naturrechts. Deshalb sein Bestreben, das „reine“ römische Recht zurückzugewinnen und an die Stelle des (feudalistisch „verfälschten“) gemeinen Rechts, noch mehr: an die Stelle des von ihm missbilligten absolutistischen „Kunstrechts“ – etwa in Gestalt des ALR – zu setzen. Hegels positives Recht hingegen hängt mit dem „Gesetz“ als erkannter, in „Recht“ umgesetzter „Gesetzmäßigkeit“ zusammen. Es liegt damit auf einer Ebene, die weder die Vertreter des Naturrechts noch Savigny im Blick haben. Da die Juristen seiner Zeit den Empirismus auf ihr Panier geschrieben haben, spricht Hegel ihnen die Befähigung ab, in dieser Frage weiterzukommen, d. h. den „verrückten Standpunkt“ gerade zu rücken. Dazu müsste die Rechtswissenschaft sich bequemen, einen metaphysischen, einen philosophischen Standpunkt einzunehmen. Nur von dorther wäre der Anschluss an das „Sittliche“ herzustellen, nur von dorther wäre die „reichere und wahrere Bedeutung“553 zu gewinnen, die seinen Rechtsbegriff prägt. Anders als das BGB, das sich an einer „einfachen“ Warenproduktion festhält, an einem „Rom“ ohne Sklaven, wird also bei Hegel allenthalben das Gespür für den historisch neuartigen ökonomischen Hintergrund und die Auseinandersetzung mit dem Neuen sichtbar. Indem er das „Arbeitsvermögen“ in die Mitte stellt, gelangt er zu einem grundlegend anderen Eigentums- und Rechtsbegriff. „Oikos“ und „Sklave“ liegen in Rom außerhalb desselben. Notwendig wäre jetzt, das „Produzieren“ und das „Arbeitsvermögen“ darin aufzunehmen. Das geschieht nicht. Die Unternehmung, die jetzige zentrale Einheit, ist im BGB kein Thema. Ebenso wenig auch das zentrale Verhältnis, jenes zwischen Lohnarbeit und Kapital. Indem die an Savigny und dessen Schule orientierten „Väter“ des BGB all dies auslassen, erarbeiten sie ein Produkt, das zum bloßen Remake des römischen Rechts gerät. Die „rein geschichtliche Bemühung“554 ist also unzureichend. Die dabei gefundenen „Abstrakta“ können zwar für die Konstruktion eines „römischen“ wie auch eines „bürgerlichen“ Rechts dienstbar gemacht werden. Für sich sind sie aber mit keinem dieser Rechte identisch. Folglich warnt Hegel davor, dass „die geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung … zur Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt wird“555. Formuliert man aus ihnen ein Gesetzbuch, könnte das Ergebnis „BGB“ heißen; gewonnen wäre also eine Kodifikation, die charakterisiert ist durch Zeit- und Ortlosigkeit, durch 553 J. Binder, Der obligatorische Vertrag, a. a. O., S. 50 f. 554 § 3/Anm. Rph. 555 Ebd. (Hervorhebung bei Hegel).

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den Panlogismus der Naturrechtsauffassung. Ein Robinson läge zugrunde, der in seinen Rechten, in seiner Willkür nur durch die Rechte, durch die Willkür eines anderen Robinson beschränkt ist, der aber nicht auch eingebunden ist in eine sittliche Verpflichtung gegenüber dem Ganzen. Demgegenüber meint Hegel, dass die Rechte des Einzelnen nur in der Beschränkung gegeben sind, die sie durch das Ganze (und damit: das Sittliche) erfahren. „Beschränkung“ korreliert mit dem Begriff der „Pflicht“; die Einbeziehung der Pflicht, der Pflicht dem Ganzen gegenüber, in den Rechtsbegriff unterscheidet Hegel also bis auf den heutigen Tag von den Positionen des Naturrechts, aber auch von deren positivistisch-liberalistischen Nachläufern.556 Unter Verwendung der Kategorien des „abstrakten“ Rechts wäre nun aus den konkreten Verhältnissen der neuen Gesellschaft, aus der Ganzheit dieser Verhältnisse ein konkretes Recht zu schöpfen gewesen. Im BGB geschieht dies nicht; ihm liegt damit ein einseitiger, ein „unwahrer“ Rechtsbegriff zugrunde. Aus Hegels Sicht wäre er als dessen Grundleiden anzusehen.

II.5 Exkurs: „Die Produktion greift über.“ Der dialektische Rechtsbegriff bei Marx Eine eigenständige Abhandlung zum Recht hat Marx nicht hinterlassen. Sein Hauptaugenmerk galt seit Ende der 1840er Jahre dem Ökonomischen. Darin hat er sich „vergraben“, werfen ihm einige vor. Nur einzelne Bemerkungen zum Recht flankieren sein Hauptwerk. Ein anderes Bild zeigt sich, wenn man in die Suche nach seinem Rechtsbegriff die „Grundrisse“ einbezieht, jene sehr viel breiter angelegte, der Selbstverständigung dienende Ausarbeitung aus den Jahren 1857/58. Im realen Sozialismus sind sie aus juristischer Sicht so gut wie nicht erschlossen worden. Grund dürfte sein, dass sich dort ein Rechtsbegriff zeigt, der nicht recht passen will zu jenem Satz im „Kommunistischen Manifest“, wonach das Recht „nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist“.557 Die Darstellung in den „Grundrissen“ ist „hegelischer“558 als dort und auch 556 L. Siep, Vernunftrecht und Rechtsgeschichte, in: Ders., Klassiker auslegen, a. a. O., S. 20: „Hegel … fasst bereits den Begriff ‚Recht‘ weiter als diese [scil. die Historische Rechtsschule; B. R.], und auch weiter als der Gegenpart, das Vernunftrecht.“ Und zwar, weil er im Rechtsbegriff zum einen die „moralischen und sozialen Ansprüche“, zum anderen die „ökonomischen Bedingungen“ berücksichtige. 557 MEW 4, S. 477. 558 „Philosophischer“, wie H. Marcuse (Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 387) sagt.

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„hegelischer“ als im „Kapital“ – was sich unter anderem darin zeigt, dass die Ausbildung der ökonomischen Grundlagen des Kapitalismus, bei Hegel gefasst unter „Formierung“, und der parallel laufende Prozess der „Anerkennung“, d. h. der juristischen Umhüllung und Sicherung des Formierten, stärker in ihrer Einheit gesehen und dargestellt werden. Was Marx aber grundlegend von Hegel unterscheidet, ist, dass aus seinem Staats- und Rechtsbegriff, wie er auch in den „Grundrissen“ sichtbar wird, das „Naturprinzip“ eliminiert ist. Beide sind Dialektiker. Während aber Hegel die Dialektik in das „System“ einbindet und sie als Dialektik der Naturen versteht, verwirft Marx mit dem „System“ auch das „Naturprinzip“, sodass er nur mit jener („produzierten“) Natur weiterarbeitet, die als „bürgerliche Gesellschaft“ Gestalt annimmt. In ihr sucht er die beiden Pole einer jeden dialektischen Betrachtung und findet sie in „Produktion“ und „Zirkulation“. Mit diesem Begriffspaar klärt er ihr „Inneres“. Darin besteht seine Leistung. Diese isolierte Handhabung der dialektischen Methode verbindet sich aber mit der Gefahr, sie in ihr „direktes Gegenteil“559 zu verkehren. Zwar kommt ihm mit „Produktion“ und „Zirkulation“ jene Dialektik in den Blick, die Hegel zu seiner Zeit aufgrund der unentwickelten deutschen Verhältnisse noch nicht adäquat zu erfassen vermochte. Aber da er jene Seite verwirft, von der aus Hegel zum „Naturprinzip“ und zum sittlichen Staat vorstößt und über die er das abstrakte Recht „konkret“ macht, verlagert Marx den Schwerpunkt seines philosophischen Ansatzes hin zum „Produktionsprinzip“. Staat und Recht konkret gemacht, folgen aus ihm der nach Art des Unternehmens gestaltete Staat und ein Recht, das von der unternehmensinternen „Direktion“ geprägt ist. Das ist ein Unterschied, der umso schwerer wiegt, als die um sein „Produktionsprinzip“ gruppierten „frei assoziierten Produzenten“ und der „Kommunestaat“ sich im praktischen Vollzug als Utopie erweisen. Der Weg vom „abstrakten“ zum „konkreten“ Recht führt bei Hegel zur Sittlichkeit. Über sie korrigiert er das „abstrakte“ Recht und macht er es „wahr“ und „wirklich“. Die Korrekturinstanz bei Marx ist hingegen die „Produktion“. Sie findet in der „Unternehmung“ statt – in einem Bereich, der – wie die Sittlichkeit – außerhalb des Rechts liegt. Gemeinsam ist ihnen also, dass ihr „gestaltetes“ Recht zwischen den Polen (abstraktes) Recht und Nicht-Recht gelegen ist. Dennoch ist der Unterschied zwischen ihnen gewaltig. Denn Korrekturinstanz ist das eine Mal das „Sittliche“, das andere Mal das „Unsittliche“. Da die „Produktion“, für sich gesehen, nicht auf dem Prinzip „Recht“ beruht, sondern auf „Direktion“, wird dieser Bezugspunkt für Marx zugleich die Quelle seiner 559 MEW 23, S. 27.

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„Absterbethese“. Und tatsächlich begegnet uns das „Absterben“ im realsozialistischen Experiment – und zwar in der Variante eines sich der „Direktion“ beugenden, sich in Richtung „Direktion“ umwandelnden Rechts. Man denke an Paschukanis, der, anknüpfend an die im Oktober 1917 einsetzende Entwicklung, das Recht der frühen Sowjetunion unter Berufung auf Marx als bereits abgestorbenes Recht, als „Nicht-Recht“ charakterisiert. Die dort nach Art eines einzigen Unternehmens umgestaltete bürgerliche Gesellschaft kennt nur die „Direktion“; den „Befehl“, wie C. Schmitt formuliert. Der privatrechtlich gestaltete Bereich der Zirkulation wird weitgehend durch eine Distribution ersetzt, die vom Staat beherrscht wird. Insofern erfüllt sich die „Absterbethese“ von Marx – wenn auch auf andere und unerfreuliche Weise. In der Sowjetunion zeigt sich jedenfalls sehr bald, dass der „frei assoziierte Produzent“ ausbleibt und eine bloß formale Vergesellschaftung die „Direktion“ zum Staatsprinzip erhebt. Das „echte“ Recht wird durch ein „Direktionsrecht“ abgelöst, das erst „sowjetisches“, später „sozialistisches“ Recht genannt wird.560 Das „Übel“ wird nicht reduziert, sondern potenziert. „Die Produktion greift über“561, stellt Marx heraus. Dort, auf der Produktion, liegt der Schwerpunkt; auch der Schwerpunkt des Rechts. Folglich beginnt für ihn die „wirkliche Wissenschaft“, auch die vom Recht, „erst, wo die theoretische Betrachtung vom Zirkulationsprozess zum Produktionsprozess übergeht“562. Denken von der „Produktion“ her. Was deren Wesen ausmacht, was deren „Inneres“ ist, muss sich auch im Recht widerspiegeln und es „konkret“ machen. Dieses „Innere“ aber ist die „Direktion“; der Oberbefehl über den Produktionsprozess. Die „Macht asiatischer und ägyptischer Könige oder etruskischer Theokraten … ist in der modernen Gesellschaft auf den Kapitalisten übergegangen“563. Der auf Blutsbanden beruhende Zustand im früheren „Haus“ wiederholt sich also im Unternehmen. Nur, dass hier nicht das „Blut“, sondern das Kapital vermittelt. Das ist seine Grundkonstruktion. Am nächsten käme man dem Wesen des bürgerlichen Rechts also, wenn man vom Austausch von Lohnarbeit und Kapital ausgeht. „Der eigentlich schwierige Punkt“ ist für Marx „aber der, wie die Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten. Also 560 Wir wissen, wie es Paschukanis, der nicht früh genug bereit war, darin – im „Sowjet-Recht“ – die neue Qualität von Recht zu sehen, erging: Er wurde erschossen. 561 Marx, GR, S. 20. 562 MEW 25, S. 349. 563 MEW 23, S. 353.

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z. B. das Verhältnis des römischen Privatrechts … zur modernen Produktion.“564 Wie nähert er sich ihm? Wie lautet seine Antwort? Er verweist darauf565, dass es zwei qualitativ verschiedene Zirkulationsformen gibt, ausgedrückt in den Formeln: W-G-W und G-W-G. Der Austausch nach der Formel W-G-W steht für die „einfache Warenproduktion“, wie Rom sie kennt. Der Austausch nach der Formel G-W-G steht für die jetzige, für die „konkrete“, für die kapitalistische Warenproduktion. Ihnen steht aber nur ein Recht zur Seite, noch dazu das „römische“! Das ist überhaupt nur möglich (nicht zu verwechseln mit „richtig“), weil die Rechtsform, allgemeiner: die juristische Logik als „bloße Verstandes-Logik“566 davon abstrahiert, ob der Austauschvorgang der Formel „W-G-W“ folgt oder der Formel „G-W-G“. Die unterschiedliche Qualität von einfacher und kapitalistischer Warenproduktion wird verdeckt, wird „plattgemacht“. Die Rechtsform spiegelt lediglich eine „umgekehrte Reihenfolge derselben zwei entgegengesetzten Prozesse, Verkauf und Kauf“567, wider. Was eine dialektische Betrachtung sichtbar machen würde, den qualitativen Unterschied, bleibt im Verborgenen. Die „freie Konkurrenz“, „Lieblingszustand der Nationalökonomie“, wie Marx spottet.568Alles ist hier fein säuberlich sortiert. Produktion ist Produktion. Zirkulation ist Zirkulation. Und dazwischen eine scheinbar zeitlos gültige, feste Grenze, die zugleich „Freiheits“- und Rechtsgrenze ist. Klar, dass die Verlockung groß ist, den ganzen Kapitalismus, das ganze Produktionsverhältnis von dorther zu entwickeln. Denn nur dort stehen sich „Zirkulation“ und „Recht“ einerseits und „Produktion“ und „Direktion“ andererseits unvermittelt und unverrückt gegenüber. Jedes hat auf ewig seine eigene Sphäre. Wenn aber klar ist, dass die „freie Konkurrenz“ nur ein Durchgangspunkt569 ist, eine „logische Sekunde“, und der Kapitalismus dort nicht anfängt und dort nicht stehen bleibt – was dann? Dann ist ein (Privat-)Recht „römischen“ Typs spätestens obsolet, wenn der „Durchgangspunkt“ durchschritten ist, wenn das „latent Enthaltene“ ans Licht tritt. Spätestens jetzt wird die Unrichtigkeit offenbar und praktisch evident.

564 Marx, GR, S. 30. 565 MEW 23, 4. Kapitel (S. 161 ff.). 566 § 82 Enz.: „Verstandes-Logik” = Logik, der das „Dialektische und Vernünftige” fehlt. 567 MEW 23, S. 170. 568 MEW, Erg.-Bd. 1, S. 488. 569 J. Habermas, Strukturwandel, a. a. O., S. 160: „[D]ie Periode zwischen 1775 und 1875 erscheint aus der Perspektive der Gesamtentwicklung des Kapitalismus nur als ‚vast secular boom‘“. Für Marx ist sie Durchgangspunkt vom „feudalen“ zum „modernen“ Monopol (MEW 4, S. 163).

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„Römisches“ Recht und Recht der bürgerlichen Gesellschaft decken sich in einer (theoretischen, fiktiven) Nulllage. Nur dort. Nicht einmal dort. Nur dort deshalb, weil in ihr die „Mittelglieder“ – in der Diktion Hegels: das „wahrhaft Wesentliche“ – der Zirkulationsform G-W-G scheinbar egalisiert sind und scheinbar unbeachtet bleiben können. Mit den „Mittelgliedern“ sind jene zentralen Größen gemeint, die der römischen Gesellschaft abgehen: Kapital, Lohnarbeit und vor allem: die Unternehmung, in der Lohnarbeit und Kapital produktiv zusammengeführt sind. Kurzum: Die Momente der „Produktion“ sind aus dem Blick gerückt. Das „Produzieren“ steht außerhalb des Rechts; es geschieht im rechtsfreien Raum. Das ist die gerne von „Rom“ übernommene Botschaft; das Vermächtnis des römischen Rechts. Indem Marx diese Dimension sichtbar macht, diese Verbindung zur „Produktion“ und zur Unternehmung herstellt, geht er weit über den liberalistischen Standpunkt hinaus. Aber ist damit schon der „schwierige Punkt“ erledigt? Eher nicht. Aber da er sich in den Folgejahren auf das Ökonomische konzentriert, lässt er ihn unaufgelöst und umschifft ihn. Er vollzieht die Ausbildung der „Person“ nur insoweit nach, wie dies für seine Theorie notwendig, richtiger wohl: nützlich ist. Der Lohnarbeiter muss bei ihm nur deshalb „Person“ werden, weil er sonst seine Arbeitskraft nicht verkaufen könnte. Der Kapitalist muss ihn als „Person“ anerkennen, weil er nicht den Menschen, sondern nur dessen Arbeitskraft kaufen will. Aber weil der Proletarier „doppelt frei“ ist, weil er ja frei von Produktionsmitteleigentum ist, ist er gewissermaßen eine „unechte“ Person. Sein wesentliches Merkmal ist, dass er „Mensch“ ist und im Rahmen seiner „historischen Mission“ als solcher berufen ist, seine Menschlichkeit auf die ganze Gesellschaft zu übertragen – eine These, die zumindest das realsozialistische Experiment nicht bestätigt hat. Mir scheint also, dass bei Marx der Lückenschluss fehlt. Offen bleibt die bei Hegel eindeutige Aussage, dass das in jedem Menschen angelegte Arbeitsvermögen Eigentum ist und sich als solches in der „Person“ subjektiviert. Das eigentliche, die „Person“ ausmachende Privateigentum ist dieses Eigentum am Arbeitsvermögen. Damit ist der Exklusivität widersprochen, die Marx der Lohnarbeit wie auch dem Eigentum an Produktionsmitteln beimisst. Der Denkprozess, der den §§ 41 ff. der „Rechtsphilosophie“ zugrunde liegt, wird von Marx nicht nachvollzogen. Er übernimmt daher den römischen Notbehelf, die an den Status „frei“ geknüpfte „Person“, in die jetzt aus den genannten Gründen der Lohnarbeiter einbezogen ist. Eigentum und Person bleiben getrennt – eine Trennung, die für Marx notwendiger Teil seiner Lösung wird.

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Beide, Hegel und Marx, verlassen den Standpunkt des Liberalismus. Denn dieser hält sowohl die „Produktion“ als auch die „Sittlichkeit“ aus dem Rechtsbegriff heraus. Beide sind für ihn „Dinge an sich“, die allenfalls am Rande Erwähnung finden. Aus ganz unterschiedlichen Gründen ist das für beide, Hegel und Marx, fundamental falsch. Bleiben wir bei Marx: Das Reduzieren des Rechts auf eine reine Zirkulationsgröße führt zu einem Rechtsbegriff, der das „Dynamische“, der das „Bestimmende“, der das „Konkrete“ der kapitalistischen Produktionsweise verfehlt. Solange halbwegs „freie Konkurrenz“ herrscht, fallen die Mängel dieser Konzeption nicht weiter ins Gewicht. Sichtbar falsch und folgenreich wird sie jedoch, wenn die „freie Konkurrenz“ durch den „konzentrierenden Austausch“570 abgelöst wird, d. h. durch eine Zwischenform, die nur über eine dialektische Betrachtung sichtbar wird. „Kollektive Tatbestände“ zeigen sich, die mit aller Interpretationskunst nicht mehr in das liberal-individualistische Konzept gezwängt werden können. Jahrzehntelang werden sie an ihrem äußeren Bild gemessen und unter „Neofeudalismus“ verbucht, ehe man dem angloamerikanischen Beispiel folgt und sie nunmehr dem „Pluralismus“ zuschlägt. Wenn das „Konkrete“ verfehlt wird, bleibt die rechtliche Regelung in „Abstrakta“ stecken und gelangt nicht zu „einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“. Statt „vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen“, wird, so Marx, nach immer „dünneren Abstrakta“ gesucht. Dieser Weg führe zu „sehr einfache[n] Bestimmungen, die in flachen Tautologien breitgeschlagen werden“; die „konkretere Rechtskategorie“ hingegen werde verfehlt.571 Das „Konkrete“ und dessen Gestalt ist also für beide der Maßstab dafür, inwieweit der enge Horizont der juristischen Denkweise überwunden wird. Die Handhabung der dialektischen Methode führt dorthin. Über sie werden Recht und konkrete soziale Sachverhalte auf eine Weise verknüpft, die sich „bloßer Verstandeslogik“ entzieht. Die „rein geschichtliche Bemühung“ jedenfalls ist unzureichend. Und ganz und gar falsch wird es, wenn sie „zur Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt wird … [, die] das wahrhaft Wesentliche, [den] Begriff der Sache“ verfehlt.572 Das Wesen des bürgerlichen Rechts ist nicht in Rom zu finden, könnte man Hegels Ausführungen in § 3 Rph zusammenfassen. Das römische Recht ist nur eine Gestalt des mit der „produzierten“ Natur verbundenen „abstrakten“ Rechts. Mit „Rom“ ist sie 570 Dazu Näheres in Kapitel V. 571 MEW 23, S. 170. 572 § 3 Rph.

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untergegangen. Mit den aus „rein geschichtlicher Bemühung“ gewonnenen „Abstrakta“: Freiheit, Gleichheit, Person, Eigentum usw., ist der Sache also nicht gedient. Es geht um konkrete Freiheit, um konkrete Gleichheit; es geht um das konkrete Eigentum und um die konkrete Person. Der konkrete Begriff wird immer relativiert durch sein Gegenteil. „Alles, was irgend ist, das ist Konkretes, somit in sich selbst Unterschiedenes und Entgegengesetztes.“573 Die „Freiheit“ wird also eingeschränkt durch eine konkrete Form von Herrschaft. Die Gleichheit der Austauschenden wird relativiert durch die in der Produktion herrschende Ungleichheit. Das Recht wird eingeschränkt durch die Pflicht. Das Gegenteil, die Kehrseite muss Bestandteil des Begriffs sein, soll dieser „wahr“ sein. Freiheit des einen und Unfreiheit des anderen. Juristische Gleichheit und ökonomische Ungleichheit. Die Person des Lohnarbeiters zum Beispiel ist davon geprägt, dass er Glied der im Unternehmen stattfindenden Produktion ist. Insofern ist der „Sklave“ im „Lohnarbeiter“ aufbewahrt, wie N. Hartmann es sieht, nicht etwa vernichtet; er hat lediglich seine Unmittelbarkeit verloren, er ist zu einem untergeordneten, keineswegs aber bedeutungslosen Moment geworden.574 Freilich, über diese Nähe zu ihm darf der gewichtige Unterschied nicht übersehen werden: Die Erhebung des Lohnarbeiters zur Person, seine Aufnahme in die Gesellschaft, eröffnet ihm die Möglichkeit der Umkehrung des Herr-Knecht-Verhältnisses, so selten sie in der Praxis auch vorkommen mag. Indem er Person ist, gleicht er jenem einfachen napoleonischen Soldaten, der ja bekanntlich auch den Marschallstab im Tornister trug. Wie die Erdformationen ihre Leitfossilien haben, nach denen sie bestimmt werden bzw. bestimmbar werden, so weisen auch die Gesellschaftsformationen Leitkategorien, Leitverhältnisse auf. Die Kategorien „Lohnarbeit“, „Kapital“, „Unternehmen“ prägen daher den Kapitalismus mehr als die abstrakteren Kategorien „Geld“ und „Ware“. Das Produzieren im „Unternehmen“ prägt ihn mehr als der jetzt auch noch vorhandene einfache Warenproduzent. Das Problem ist: Was in „Rom“ war, existiert auch heute noch. Aber nicht mehr als „Bestimmendes“. Auch die bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts reichende Sklavenarbeit in den Südstaaten der USA führt nicht dazu, dass dort „römische“ Verhältnisse herrschen, selbst wenn die dortigen Baumwollplantagen den Vergleich zu den römischen Latifundien nahelegen. Sie stehen sich ökonomisch nahe. Und doch sind sie durch tausend Jahre voneinander getrennt: Lohnarbeiter und Sklave. Kreist das Recht immer nur um die in „Rom“ gefundenen, für „Rom“ typischen 573 § 119/Zus. Enz. 574 Vgl. N. Hartmann, Die Philosophie …, a. a. O., S. 174.

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Grundfiguren, wird immer nur an diesen Bau angeflickt, so wird das Ergebnis umso falscher, je weiter wir uns von „Rom“ entfernen. Hegel zusammenfassend: „Es geschieht der geschichtlichen Rechtfertigung, wenn sie das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechselt, dass sie dann bewusstlos das Gegenteil dessen tut, was sie beabsichtigt.“575 Wenn 70 Jahre später C. Schmitt gegen die „Gespensterwelt von Allgemeinbegriffen“ polemisiert und fordert, „dem Recht der konkreten Wirklichkeit zum Siege [zu] verhelfen“576, dann wiederholt er, was Hegel und Marx lange vor ihm zum Ausdruck brachten. Die Vereinbarkeit von römischem Recht und kapitalistischem Produktionsverhältnis beruht für Marx auf zwei Voraussetzungen: a) Obwohl klar ist, dass das römische Recht „einem Gesellschaftszustand entspricht, in welchem keineswegs der Austausch entwickelt war“, musste es „dem Mittelalter gegenüber als das Recht der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft geltend gemacht werden“, weil es die „Bestimmungen der juristischen Person, eben des Individuums des Austausches“ bereits entwickelt hat.577 b) Die Vereinbarkeit ist auf die „freie Konkurrenz“ beschränkt. Nur in dieser Phase spielt der qualitative Unterschied zwischen den beiden Austauschformen keine oder doch nur eine geringe Rolle. Tritt das in der Zirkulationsform G-W-G „latent Enthaltene“ offen zutage – und das ist der Fall, wenn die Entwicklung auf den „organisierten“ Kapitalismus zugeht –, dann erschöpft sich diese Brauchbarkeit. Was zutage tritt, ist das Prinzip der „Produktion“. Denn es ist ja die Bestimmung dieser Zirkulationsform, sich als kapitalistischer Produktionsprozess zu konstituieren. So wie der Geldbesitzer die „Kapitalistenraupe“ verkörpert, so verkörpert diese Zirkulationsform die „Raupenform“ des kapitalistischen Produktionsprozesses. Die „Schmetterlingsentfaltung“ zum industriellen Kapital nimmt also ihren Ausgang im Geldkapital und in der ihm entsprechenden Zirkulationsform, vollendet Marx das Bild.578

575 § 3 Rph. 576 C. Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, in: DR 1934, S. 225, 227. 577 Marx, GR, S. 157. 578 MEW 23, S. 181.

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Das bleibende Verdienst der römischen Juristen: die bei der Zersetzung des Gemeinwesens zutage tretenden „Grundbausteine“ der „produzierten“ Natur katalogisiert und kategorisiert zu haben. Verdienstvoll auch die Wiedererweckung des römischen Rechts durch die oberitalienischen „Rezeptionisten“ des Hochmittelalters: Ihre Aufgabe war es, die in den Städten inselhaft aufkommende Warenproduktion gegen die ringsum bestehenden feudalen Verhältnisse abzugrenzen und zu verteidigen. Das römische Recht als das „erste Weltrecht einer warenproduzierenden Gesellschaft“579 war hierzu gut geeignet; es wurde daher „dem Mittelalter gegenüber als das Recht der entstehenden industriellen Gesellschaft geltend gemacht“.580 Und doch: Es war nur ein Notbehelf, eine bequeme, eine besonders in Oberitalien naheliegende Lösung für den Augenblick, dort und für den Zeitraum, in dem das Kaufmannskapital herrschte, für die vorindustrielle Zeit. Ein Notbehelf mit Pferdefuß: Wie eine verschwenderische Natur dazu führen kann, dass die eigene Bemühung nicht ausgebildet oder eingeschläfert wird, so kann die Übernahme des römischen Rechts die Bemühung um das originäre Recht der eigenen Gesellschaft einschläfern. Und hat es auch! Anders als England entscheidet sich Kontinentaleuropa dafür, juristisch von „Rom“ zu leben. Eine vermeintliche Abkürzung wird dadurch zum Umweg, sogar zur Sackgasse, weil sie den Blick auf den qualitativen Unterschied verstellt. Jedenfalls ist es ein Trugschluss, zu meinen, dass die damalige Brauchbarkeit des römischen Rechts dessen Brauchbarkeit für die zu sich selbst gefunden habende bürgerliche Gesellschaft belegt. Im Gegenteil: Als diese sich konstituiert, ist das römische Recht abgemeldet – auch als Notbehelf. Werfen wir einen Blick auf die Historische Rechtsschule. Ihre Besinnung auf das römische Recht versteht sich vor dem Hintergrund jener Realitätsfremdheit, jenes theoretischen Überschwangs und Überschusses des Naturrechts, der/ die „Freiheit“ mit „Gleichheit“ und „Recht“ mit „Gerechtigkeit“ verwechselt. Bekanntlich muss viel Blut fließen, ehe sich der Nebel lichtet und klar ist, dass aus all den Schlagwörtern der nicht-ökonomische Gehalt zu streichen ist, dass „Freiheit“ als Freiheit des Privateigentums und Gleichheit lediglich als Gleichheit gleicher Quantitäten Tauschwert zu verstehen ist.581 Aber dieses revolutionäre Pathos reicht aus, um Savigny zurückschrecken zu lassen. Er verwirft es daher, schiebt es beiseite582, weil er es generell für nicht „positivierbar“ hält – in den 579 Marx/Engels, AS II, S. 363. 580 Marx, GR, S. 916. 581 Dazu H. Kelsen (Sozialismus und Staat, S. 8): „Diese Schule richtet ihre Spitze bewusst gegen die ethisch-politische Spekulation des Naturrechts und ihren Hang zu Utopien.“ 582 Vgl. K. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, Berlin 1935, S. 106.

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Versuchen der Französischen Revolution, es „positiv“ zu machen, sieht er sich bestätigt. Auch Hegel kritisiert das Naturrecht, aber er verwirft es nicht. Die Erfahrungen der Französischen Revolution wie auch die Werke der englischen ökonomischen Klassiker auswertend, stellt er vielmehr klar, dass es als Recht der Gegennatur nur „abstraktes“ Recht ist: also Recht, das durch die Existenz der anderen, der primären Natur relativiert und konkretisiert wird. Und Marx? Das Dargelegte lässt erkennen, dass er gegen das römische Recht und dessen Übernahme durch die bürgerliche Gesellschaft weniger und weniger Prinzipielles einzuwenden hat als Hegel. Insofern steht er näher bei Savigny.583 Worin sich Marx von Savigny jedoch unterscheidet, ist, dass er das Naturrecht, das „abstrakte“ Recht über die Dialektik von Produktion und Zirkulation „konkret“ macht. Savigny hingegen bleibt auf der Ebene des Begriffs stehen. Das Besondere bei ihm: Sein „abstraktes“ Recht ist das römische Recht. Dieses weigert er sich, „konkret“ zu machen, d. h. es einer „Gestalt“ zuzuführen. Er verwirft das „gemeine“, d. h. feudalistisch „verunreinigte“, römische Recht. Noch mehr aber die aufklärerisch geprägten Kodifikationen des ABGB und des ALR; sie sind ihm keine Grundlage einer gesamtdeutschen Kodifikation. Sein ganzes praktisches Handeln ist geprägt von diesem Ignorantentum.584 Ersterem fehle „die scharfe, individuelle Auffassung der Begriffe“; die Abstraktheit des römischen Rechts sei ihm verloren gegangen. Und der Geist der Aufklärung, der die beiden Kodifikationen prägt, ist ebenfalls nicht der Geist Savignys. „Rom“ ist ihm das Nonplusultra. Was gibt es Besseres als dieses über Hunderte von Jahren erfolgreich praktizierte Recht? „Rom“ ist für ihn der Ausweg aus der Sackgasse namens „Naturrecht“. „Rom“ ist für ihn der Weg der Rechtswissenschaft als von der Philosophie, insbesondere von der Philosophie der Aufklärung getrennter Spezialwissenschaft. Über „Rom“ will er den Anschluss an die Belange der bürgerlichen Gesellschaft schaffen. Bald wird es so sein, „dass die Rechtswissenschaft – die offizielle, an den Universitäten gelehrte Rechtswissenschaft – die

583 Noch deutlicher wird das bei F. Engels. Dieser vertritt, etwas vereinfacht gesagt, den Standpunkt, dass das Recht Roms auch das Recht der kapitalistischen Gesellschaft ist, dass es „das reine“ Privatrecht ist, an dem „alle späteren Gesetzgebungen nichts Wesentliches … zu bessern vermochten“ (MEW 21, S. 397). 584 Dazu H. Kantorowicz (Was ist uns Savigny?, a. a. O., S. 51): „Savigny war es, der … es durchsetzte, dass nicht das preußische, sondern das gemeine Recht zur Grundlage des Rechtsstudiums gewählt wurde. Ein Vorgang von größter Tragweite.“

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Naturrechtslehre fallen“ lässt.585 Dass er dafür sorgt, dass auch das ALR nicht zum Gegenstand der Juristenausbildung wird, ist bereits gesagt worden. Die „Unkunde“ des römischen Rechts, ein „Verdammungsurteil“586 über die Verfasser des CC, ein Vorwurf aber auch an die eigene Rechtswissenschaft, muss als Begründung herhalten. Fleißige Arbeit ist zunächst einmal nötig, um sie zu beseitigen. Erst muss das römische Recht wiederhergestellt werden. Aber wie gesagt: Das artet aus zur „rein geschichtlichen Bemühung“. Eine Kodifikation ist damit auf die lange Bank geschoben. Einig ist sich Marx mit Savigny darin, dass der für Hegel wichtige, ja zentrale Bereich des Sittlichen auszublenden ist. Aus seiner „produktionsbezogenen“ Sicht muss die dortige Verankerung des Rechts als Ausfluss einer reaktionären, einer „gestrigen“ Haltung erscheinen. Marx würde also die Kritik eines Gierke, auch eines Menger am BGB in diesem Punkt, der sie mit Hegel verbindet, nicht teilen; er würde sie als rückwärtsgewandt ablehnen. Etwa so, wie F. Tönnies, der dieser Kritik bescheinigt: „Sie war aber zum großen Teil mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft gerichtet, also wider den Geist des Gesetzbuches als eine[s] allzu modernen … individualistischen … Rechtes“. Sie enthalte eine „merkwürdige Zweischneidigkeit“, die sich darin zeige, dass Gierke „auf der einen Seite den kapitalistischen Charakter des im Entwurfe vorgelegten echten Privatrechts rügt, auf der anderen aber auch, dass das Gesetzbuch die Uniformität des Privatrechts, das Prinzip abstrakter Rechtsgleichheit allzu weit führe: dass er also die Reste des feudalen Rechts erhalten wissen will“.587 Und doch: Das wird Gierke nicht gerecht. Denn auch er vertritt mit seiner Genossenschaftslehre einen „gesellschaftlichen“ Standpunkt, mithin eine liberale, antifeudale Position. Was ihn aber vom damaligen Mainstream unterscheidet, ist, dass er die bürgerliche Gesellschaft, auf deren Boden er steht, ihr Recht, nicht vom Individuum her entwickelt, sondern von jenen produzierten und produzierenden kollektiven Gebilden, die gerade zu seiner Zeit beginnen, aus dem kapitalistischen Unterholz emporzusteigen. Insofern – das sagten wir schon an anderer Stelle – steht Gierke Marx nahe, weil er die Unternehmung als „transpersonale Person“ anerkennt. Es ist also grob ungerecht, Gierke den „feudalen Pferdefuß“ anzuhängen. Die Aufnahme seiner Genossenschaftslehre in England, wo sie als Grundlegung des Pluralismus erkannt und anerkannt ist, zeigt das Gegenteil. 585 H. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (2. Aufl.), Charlottenburg 1928, S. 40. Er ergänzt: An die Stelle der Naturrechtsideologie tritt nun eine andere: „die Ideologie der historischen Rechtsschule“. 586 S. dazu: H. Thieme, Savigny und das Allgemeine Landrecht, in: DJZ 1935, S. 221. 587 F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, a. a. O., S. 227 ff.

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Dort wird gesehen und gewürdigt, dass er eine hochmoderne Konzeption entwickelt, die allerdings in ein „altdeutsches“ Gewand gekleidet ist. Gierke ist von daher mindestens insoweit kompatibel mit dem Marx der „Grundrisse“, wie sie beide auf die produzierten „Kollektivitäten“ bzw. „Wesenheiten“ hinweisen. Der Marx des „Kapital“ wiederum scheint mir Savigny näherzustehen als Hegel oder auch Gierke. Was Marx von allen dreien unterscheidet, ist jedoch, dass er die „bürgerliche Gesellschaft“ weiter fasst, sie nicht vor den Fabriktoren enden lässt, dass er die Unternehmung und die dort herrschenden Verhältnisse darin einbezieht. Sein Rechtsbegriff greift die dortigen Verhältnisse auf und spiegelt sie wider. Das Recht ist von der „Direktion“ her zu bestimmen. Hier ist seine Leistung zu sehen. Von hier aus wird eine Rechtsentwicklung verstehbar, die vom Sittlichen wegführt und das „abstrakte“ Recht in die Gegenrichtung führt und dort „konkret“ werden lässt – in der „Direktion“. Hierin ist Marx Hegel voraus, der diese Ebene nur im Umriss erkennt. Ganz zu schweigen von Gierke, der sie zwar zum Gegenstand seines „Genossenschaftsrechts“ macht, aber eher zur Verklärung als zur Aufklärung der innerbetrieblichen Zustände beiträgt. Insgesamt wird deutlich, dass Marx der Historischen Rechtsschule nähersteht als Hegel. Dieser steht zu ihr in Fundamentalopposition. Marx und Savigny hingegen eint der „gesellschaftliche“ Standpunkt, die Verkürzung des Rechts durch ihn.588 Vom rein Wissenschaftlichen her lässt sich die Bewertung Savignys (Reaktionär!) durch Marx also nicht begründen. Sie dürfte daher eher auf den Politiker, auf den Gesetzgebungsminister, auf den Urheber oder Miturheber der Zensurgesetzgebung, allgemeiner: auf sein „schneidendes Contra zur Aufklärung, Revolution, Demokratie, Republikanismus, Liberalismus, Kommunismus, Bauern- und Judenemanzipation“589 gemünzt sein. Für beide ist Hegels Rechtsbegriff unannehmbar, weil er in einem Bereich ankert, der für sie im „Metaphysischen“ liegt. Aus all diesen Gründen kann man annehmen, dass Marx am BGB weniger (und anderes) kritisiert hätte als Hegel. Der Schwerpunkt seiner Kritik läge darauf, dass mit dem BGB eine Kodifikation vorgelegt wird, die sich auf eine „einfache“, nicht aber eine kapitalistische Warenproduktion bezieht. 588 Zum Rückgriff Savignys auf das römische Recht schreibt H. Klenner (Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 99, 105, 107): Er trug damit entscheidend dazu bei, „dass das feudale Mischrecht Deutschlands allmählich in den Hintergrund rückte und eine der kapitalistischen Warenproduktion und -zirkulation alles in allem gemäße Zivilrechtsordnung entstehen konnte“. Als dessen „intellektueller Vater“ habe Savigny dafür gesorgt, dass „alles in allem“ mit dem BGB ein Gesetzbuch vorgelegt wurde, das „den ökonomischen Bedürfnissen des Bürgertums normativen Ausdruck verlieh“. 589 H. Klenner, Deutsche Rechtsphilosophie …, a. a. O., S. 93.

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Das macht das BGB zeitlos, verweist es damit aber zugleich an den Rand des Geschehens. Die „richtige Fassung des Gegenwärtigen“, damit der „eigentlich schwierige Punkt“, ist mit dem BGB verfehlt! Bildlich gesprochen: Im BGB wird zur Scheibe gemacht, was, geometrisch gesehen, eine Kugel oder – laut L. Raiser590 – eine Ellipse ist. Das BGB ist eine auf 2400 Paragrafen erweiterte Fassung des „abstrakten Rechts“. Ein wenig Vorsatz wird zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Denn dem Nachweis von „Freiheit“ und „Gleichheit“ ist es selbstverständlich dienlicher, jenen „Utopismus“ walten zu lassen, der den „Unterschied zwischen der realen und der idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen vermag.“591

590 L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, Berlin, New York 1971, S. 22. 591 Marx, GR, S. 916.

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Kapitel III Verwirklichungsform des „objektiven Geistes“: Hegels konstitutionelle Monarchie Vorspruch Beim Recht ging es Hegel darum, das von ihm als „abstraktes Recht“ erkannte Recht der „produzierten“ Natur, das neuere „Naturrecht“, durch Einbeziehung auch der Belange der primären Natur „konkret“ und „positiv“ zu machen. Wie ist es beim Staat? Mit den Vertragstheoretikern geht er davon aus, dass aus dem Zerfall des feudalen Gemeinwesens der moderne Staat hervorgeht. Aber die Ansichten darüber, was den „modernen“ Staat kennzeichnet, gehen weit auseinander. Da für die Ersteren „Natur“ nur die „produzierte“ Natur ist, verlagern sie den Ursprung ihres „Vertragsstaates“ nach dorthin. Er geht aus dem „Willen“ der Mitglieder dieser Natur hervor. Das führt zum „Maschinenstaat“ als Form des reinen „Gesellschaftsstaates“. Anders Hegel. Er tritt der „Entwertung des Staatsbegriffs“592 durch das Vertragsdenken entgegen. Dieses wird seinem Staat nicht gerecht, weil es zu einem Staat führt, der im Bunde mit dem „abstrakten“ Recht, mithin der „produzierten“ Natur steht593, während die andere, die „primäre“ Natur daraus ausgegrenzt wird. Den Staat so zu sehen, ihn hierauf zu reduzieren, bedeutet, ihn der „Willkür seiner Bürger“ auszuliefern, ihn zu „privatisieren“.594 Hegel behält die „organische“ Natur im Auge, also jene, die den Vertrag, ja: die das Recht nicht kennt und auch nicht braucht, weil sie „eine ursprüngliche, substantielle Einheit zur Grundlage ihrer Verhältnisse hat“.595 Er fragt, was mit ihr geschieht. Hält sein System offen für sie. Sein Ausgangspunkt: Das bisherige Gemeinwesen wird nicht ersetzt durch das Vertragssystem, sondern differenziert sich sowohl in dieses als auch in eine Sphäre, „der ein objektives, notwendiges, von der Willkür und dem Belieben unabhängiges Verhältnis“ zugrunde liegt.596 Was heißen soll: Was jetzt an die Stelle des Gemeinwesens tritt, muss auch weiterhin Repräsentant der 592 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 289. 593 § 75/Anm. u. Zus. Rph. 594 Interpretiert H. Boldt (Hegel und die konstitutionelle Monarchie, a. a. O., S. 196 f.) ihn. 595 Hegel, LS, S. 505 (Hervorhebung bei Hegel). 596 Ebd.

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Interessen beider Naturen sein. Da in Deutschland der Zerfall des Gemeinwesens mit der Auflösung des Reiches zusammenfällt, verdeutlicht Hegel daran, wie es weitergeht: Die Reichslehen erlangen jetzt Souveränität. Sie werden zu dem, was das Reich selbst nicht zu werden vermochte: zu „Staat“ und „Gesellschaft“. Zwei relative Totalitäten konstituieren sich, die von einer dritten Größe überwölbt sind. Sähe man es rein quantitativ, so käme zu den zwei Naturen, repräsentiert durch „Staat“ und „Gesellschaft“, lediglich jene dritte hinzu, die Rosenzweig als die „sittliche Natur“ interpretiert. So aber, quantitativ, wird der Vorgang von Hegel nicht gesehen. „Mit dem Übergange eines Landes aus seiner Reichslehenschaft in einen Staat ist die vorherige, durch eine dritte Zwischen- und Obergewalt vermittelte Selbständigkeit der beiden Seiten und damit auch das ganze Vertragsverhältnis hinweg gefallen.“597 Mit anderen Worten: Das Privatrechtsverhältnis zwischen Fürst und Untertan weicht einem Verhältnis mit völlig anderem Charakter, weil der neu entstehende Staat „Staat“ im Sinne von „Not- und Verstandesstaat“ und Staat im Sinne von gestaltetem „objektivem Geist“ ist. Er ist jetzt zum einen Geschäftsführung der zugleich ins Leben tretenden bürgerlichen Gesellschaft und zum anderen Repräsentant der „organischen“ Natur. Bliebe es jetzt beim Vertragsverhältnis, würde der Staat lediglich privatisiert und damit um sein Wesen gebracht. Er wäre nur „Not- und Verstandesstaat“, dessen Oberhaupt der Monarch (als „Repräsentationsmonarch“) sein kann, aber nicht muss. Verlierer wäre die „organische“ Natur. Sie stünde jetzt außerhalb des Politischen und wäre zum bloßen Objekt gemacht – zum für alle Mitglieder der Gesellschaft zugänglichen Ausbeutungsobjekt. Dem „Vertragsstaat“ stellt Hegel seinen Vernunftstaat entgegen. Das ist ein Staat, in dem beide Naturen repräsentiert sind und als „relative Totalitäten“ respektiert werden. In ihm übernimmt der früher absolut regierende Monarch die Funktion eines Repräsentanten der „organischen“ Natur und daneben noch jene des „Repräsentationsmonarchen“. Da die Vermittlung der Interessen der sich antagonistisch gegenüberstehenden Naturen nur bürokratisch erfolgen kann, entsteht mit diesem Staat, rein äußerlich gesehen, ein Haufen von Institutionen und Apparaten, ein bürokratischer Überbau, der scheinbar nur „Herrschaftsund Unterdrückungsinstrument“ ist. Für Hegel ist das eine Fehldeutung. Er stellt nicht die Auflösung des feudalen Gemeinwesens und die Geburt der bürgerlichen Gesellschaft infrage. Aber er beharrt darauf (und spricht es in § 260 Rph aus): Sowohl die Subjektivität der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer 597 Vgl. ebd.

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Mitglieder gehört zum modernen Staat als auch die Subjektivität der anderen Natur, die dazu aber von den Mitgliedern der Gesellschaft als ihr eigener substanzieller Geist erkannt und anerkannt werden muss. Beide Naturen bilden also weiterhin eine Einheit. Das Gemeinwesen ist nicht endgültig aus der Welt. Aber es existiert weder als feudale Fessel noch durch den Vertrag, sondern ist jetzt über den „objektiven Geist“ hergestellt und sichtbar gemacht.598 Und es bleibt dabei, dass die primäre Natur auch jetzt die primäre ist. Sie ist nicht bloßes Objekt; sie behält mit ihrer Subjektivität ihre „Geistigkeit“. Wie in den Rechtsbegriff, so ist sie daher auch in den Staatsbegriff einzubeziehen. Aus der Sicht einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich als alleinige Natur ansieht, ist das unannehmbar. Und der Staat, der eine solche Aufteilung exekutiert, kann für sie nichts anderes sein als ein „Machtstaat“. Wer dem Staat nur eine Natur zugrunde legt, können wir daraus als Lehre entnehmen, korrigiert diesen Fehler nicht dadurch, dass er ein dialektisches Verhältnis von Staat und Gesellschaft herstellt, indem er statt der anderen Natur das „Volk“ oder aber Momente, die der bürgerlichen Gesellschaft selbst angehören, wie Polizei, Korporationen oder – im Falle des Marxismus – die „Klassen“, an deren Stelle setzt. Das sind „Ersatzvornahmen“. Ihr Nutznießer ist die „produzierte“ Natur, die sich in allen Fällen gewissermaßen mit sich selbst zu legitimieren und zu korrigieren sucht. Ein Scheingegenüber wird zur Basis des politischen Staates gemacht, dessen Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft, dessen Wesen als bloßer „Not- und Verstandesstaat“ damit lediglich verdeckt wird. Die jetzige Einheit der Naturen sieht Hegel in der konstitutionellen Monarchie hergestellt. Der Konstitutionalismus ist für ihn erkannter, von den Repräsentanten der einen wie der anderen Natur anerkannter und in der Verfassung niedergelegter (= „gesetzter“) objektiver Geist.

598 S. dazu: E.-W. Böckenförde, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel, in: Der Staat 1982, S. 481 ff.

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III.1 Der Ausgangspunkt: Die drei Wirklichkeiten des objektiven Geistes (Das in „Staat“ und „Gesellschaft“ geschiedene „Gemeinwesen“) Er wird gelobt als „Erfinder“ der bürgerlichen Gesellschaft. Und er wird getadelt für seinen Staat.599 Hegels Staatsphilosophie? War nicht von Anbeginn klar, dass sie nicht in die moderne Welt passt? Sprach R. Haym nicht bereits das letzte Wort zu ihr?600 Verlor sie nicht spätestens den Boden unter den Füßen, als Deutschland seinen „Sonderweg“ beendet, den Konstitutionalismus zu den Akten legt und auf jenen Parlamentarismus einschwenkt, der für Hegel eine „unmögliche Verfassungsform“ war?601 Ungemein modern hier, geradezu hoffnungslos altmodisch, ja reaktionär dort. „Monarch“, „Stände“, „Korporationen“, „Majoratsherren“ – wie passen sie zu seiner bürgerlichen Gesellschaft? Die Irritation geht so weit, dass wegen dieser „ungenießbaren Brocken“, überhaupt: wegen ihres „Staatsteils“ seine ganze „Rechtsphilosophie“ als „gescheitert“ erklärt wird.602 Gewiss, ein extremer, aber nicht seltener Standpunkt. Die meisten Autoren wählen einen anderen Weg. Um seine Rechtsphilosophie nicht generell verwerfen zu müssen, wird dieser unangenehme, vermeintlich unbrauchbare Teil der Akkommodationsthese unterstellt und unterschieden in den „philosophischen“ (und brauchbaren) und in den „politischen“ (unbrauchbaren) Hegel. Ein Verfahren, das schon der junge Marx wählte. Diese Differenzierung ist in den nachfolgenden Jahrzehnten unzählige Male modifiziert und verfeinert worden. Bis heute wird sie für ein probates Mittel gehalten, sich der unangenehmen, störenden Teile zu entledigen. Und Hegel selbst? Er war nie um eine Korrektur bemüht. Das wird ihm von der einen Fraktion so ausgelegt, als habe er es nicht gewollt – was ihm den Ruf eines Apologeten des preußischen Staates und Reaktionärs einbringt. Eine andere Fraktion meint, vermeintlich zu seinen Gunsten, er habe es nicht 599 Informativ dazu: H.-Chr. Lucas, „Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders?“ – Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin, in: Ders./Pöggeler, Hegels Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 175–220. 600 R. Haym, Hegel und seine Zeit, a. a. O., S. 387: „Die Hegelsche Rechtsphilosophie liefert für sich selbst und für das ganze System den Beweis der zeitlichen Beschränktheit und der Hinfälligkeit.“ 601 Vgl. dazu: E.-R. Huber in seiner Besprechung von C. Schmitts „Positionen und Begriffe“ in: ZgStW 101 (1941), S. 18 ff. 602 A. Arndt/W. Lefevre, System und Systemkritik, a. a. O., S. 15; G. Göhler/K. Roth, Der Zusammenhang von Ökonomie, Recht und Staatsgewalt. Hegels philosophische Begründung in der gegenwärtigen Diskussion, in: ZPhF 35 (1981), S. 505.

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gekonnt, er sei „ratlos“ gewesen, er sei einer „Aporie der Vermittlung“603 erlegen. Folgerichtig sind in der ausufernden Literatur zur hegelschen Philosophie – auch zu der des Rechts – Versuche, seine Staatsauffassung zu reaktualisieren, darin „notorisch ausgespart“.604 Seine „Staatsphilosophie“ dient heute bestenfalls als „Steinbruch“. Ich teile solche Einschätzungen nicht. Mit K. Vieweg605 halte ich die Staatsphilosophie Hegels für hochaktuell. Die Krise unserer Zivilisation, die auch eine Krise des Staates ist, drängt geradezu danach, uns ihrer zu erinnern. Hegel hinterlässt uns nicht nur eine philosophische, bis heute gültige Definition der „bürgerlichen Gesellschaft“, sondern ebenfalls, und zwar komplementär dazu, auch die des Konstitutionalismus. Aber indem seine Philosophie um das „System“ bereinigt wird – und das ist fast durchweg der Fall –, gerät die darin untergebrachte dialektische „Grundpaarung“, das Verhältnis der Naturen, aus dem Blick. Eine „Verdrängung des universellen Gehalts“ seiner Staatsphilosophie ist die Folge.606 Damit ist beiseitegeschoben, was Hegels Staatsphilosophie so aktuell macht, und jener „flachen“, zeitbezogenen Interpretation Vorschub geleistet, die suggeriert, dass der moderne Staat sich in jenem Teilstaat erschöpft, der allein aus der „produzierten“ Natur und aus dem („abstrakt“ verstandenen) Recht hervorgeht, also in dem von Hegel „Not- und Verstandesstaat“, von uns „Rechtsstaat“ genannten Staat. Als ob der Staat „jetzt … ganz von vorne“ zu erfinden wäre607, hält Hegel dieser Anmaßung entgegen. Die Option für die „produzierte“ Natur ist verknüpft mit der Entscheidung, die primäre Natur und damit auch: ihre Repräsentanz politisch für tot zu erklären. Was dieser Option an staatlichen Institutionen und Funktionen also entgegensteht, ist damit der Boden entzogen und existiert nun ohne legitimierenden Grund. Es wird abgeschafft oder wird, soweit das nicht geschieht, als „feudaler Zopf“, als „Relikt“, als reine Staffage in die Moderne übernommen. Zum Beispiel die Monarchie: Sie überlebt nur dort, wo sie sich unter „Verzicht 603 M. Riedel – am deutlichsten in seiner Schrift „Bürgerliche Gesellschaft und Staat“, Berlin, Neuwied 1970, S. 69 ff. 604 A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, S. 10. 605 K. Vieweg, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012, S. 30 ff. 606 A. v. Bogdandy, Hegel und der Nationalstaat, in: Der Staat 30 (1991), S. 534; ähnlich L. Siep (Praktische Philosophie …, a. a. O., S. 285), der begründet herausarbeitet, dass der „‘restaurative‘ Ton der Grundlinien weitgehend die Oberfläche betrifft“, während „in den Prinzipien … Hegel kein obrigkeitsstaatlicher“ Denker ist. 607 Rph, S. 15 (Vorrede) (Hervorhebung bei Hegel).

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des Herrschers auf die wesentlichen Funktionen der älteren Monarchie“608 der parlamentarischen Regierungsweise unterordnet. Aber für Hegel ist die Herausnahme der primären Natur aus dem Staatsbegriff höchst unvernünftig. Und nicht nur das. Der so gewonnene Staat, für uns der „Rechtsstaat“, kehrt sich gegen die „primäre“ Natur, wird für diese zum „Unrechtsstaat“.609 Aber diese Natur bleibt, was sie immer war: der Ursprung; der des Menschen und auch der „produzierten“ Natur. Sie schutzlos zu machen, ist nicht nur unvernünftig, sondern auch „unrechtlich“. Er optiert daher für den Standpunkt der Vernunft; über ihn kommt ihm das nun in Vernunftgestalt fortexistierende Gemeinwesen in den Blick. Er gewinnt damit eine allgemeinere, eine philosophisch tiefer liegende Ebene, einen Begriff von Wirklichkeit, in der die empirischen Befunde „bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“ eingelagert sind. In der konstitutionellen Staatsform, für Hegel: in der „konstitutionellen Monarchie“, nimmt sie Gestalt an. Ein Kontrastprogramm. Was aus Sicht der von ihm kritisierten Philosophien unerkannt bleibt und in seiner empirischen Gestalt als etwas zutiefst Überflüssiges, Störendes und Parasitäres anmutet, gewinnt bei ihm einen festen Boden. Die vielen „guten Gründe“, es zum „Machtstaat“ zusammenzufassen, fallen weg. Was Hegel also liefert, ist die philosophische Begründung, warum ein Staat, der nur Staat der bürgerlichen Gesellschaft ist, unzureichend ist und nicht der moderne Staat sein kann. Er plädiert für einen Staat, in dem auch die Interessen der jetzt im Schatten stehenden primären Natur repräsentiert sind. Doch wie finden sie zusammen, wie wird ihre Einheit hergestellt – ohne dass der gerade gesprengte direkte, „naturwüchsig“ hergestellte Bezug restauriert wird? Es fällt uns schwer, Hegels Antwort darauf zu akzeptieren: über die Vernunft. „Der Geist hat Wirklichkeit“, bemerkt er in § 156/Zus. Rph – und zwar in der Vernunft seiner „Akzidenzien“, d. h. der Individuen. Und er hat Wirklichkeit vor allem auch in der „konstitutionellen Monarchie“, deren Aufgabe es ist, das jetzt getrennte „Organische“ und „Unorganische“ zu vermitteln. Vernunft. Diese ist mehr als nur der Verstand, mit dem wir zweifellos reichlicher gesegnet sind als mit ihr. Denn leider ist es nicht so, dass sich die technischtechnologische Reife der Menschheit paart mit einem verantwortungsvollen, zukunftsorientierten Verhalten gegenüber der Natur. Zwischen beiden klafft offensichtlich eine Lücke. 608 O. Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte (3. Aufl.), Göttingen 1980, S. 161. 609 S. dazu Rph, S. 15 (Vorrede), wo er zum Ausdruck bringt, dass das Recht der „produzierten“ Natur, „so göttlich es ist“, sich „in Unrecht verkehrt“, wenn es für sich gesehen, wenn es verabsolutiert wird.

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Die Vernunft führt uns zum „objektiven Geist“. Materialistisch interpretiert, ist er das Gemeinwesen in seiner neuen, „aufgehobenen“ Gestalt. Wird er ignoriert, wird er nicht als Wirklichkeit verstanden, sondern als Spukgestalt abgetan, bleibt „der Anschluss der bürgerlichen Gesellschaft an den Staat bei Hegel eigentümlich ‚lückenhaft‘“610; die „Vermittlung“, die über ihn erfolgt, wird übersehen – und es scheint, als blieben die zwei Naturen, als blieben Staat und bürgerliche Gesellschaft unvermittelt. Folge ist, dass ein außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft liegender Staat unerklärbar wird. Soweit er trotzdem existiert, kann er nichts anderes sein als ein feudales Relikt. Als notwendiger Staat erscheint jetzt nur, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegen ist. Jener Staat also, den Hegel „Not- und Verstandesstaat“ nennt. Wie „produzierte Natur“, wie „abstraktes Recht“ ist „objektiver Geist“ Begriff – also eine logische Ausgangsgröße, die Wirklichkeit erst gewinnt in einer konkreten Gestalt. In seinem Fall ist das die konstitutionelle Monarchie oder, allgemeiner gesehen: die konstitutionelle Staatsform. Dieser neuen Wirklichkeit obliegt es nun, den im feudalen Gemeinwesen über „Blut“ und „Boden“ hergestellten Zusammenhang der Naturen auf neue Weise zu organisieren. Nur eine logische Sekunde611 lang ist der Antagonismus nach „Vertilgung der realen Organisation“ in Freiheit gesetzt und stehen wir vor dem „System der in seine Extreme verlorenen Sittlichkeit“, vor der „Selbständigkeit der freigewordenen … Momente“. Tatsächlich ersteht eine neue Einheit, in der jenes, das bisher, im antiken und feudalen Gemeinwesen, „körperlich“ verklammert war, jetzt „geistig“ zusammengeführt ist.612 Der Konstitutionalismus ist somit erkannter und in „Gestalt“ überführter „objektiver Geist“. Er vermittelt die beiden Naturen, er vermittelt „Staat“ und „Gesellschaft“, er vermittelt die beiden unterschiedlichen Arten von „Freiheit“. Jede Natur behält ihre Bedeutung und ihr Recht. Ein Schicksal ist nicht beseitigbar. Versuche, es trotzdem zu tun, laufen auf Lösungen hinaus, die in dieser oder jener Form mit Gewalt und Unterdrückung verbunden sind – wie die Jakobinerdiktatur, wie die „Blut-und-BodenPolitik“ im „Dritten Reich“, wie auch der reale Sozialismus zeigt. Hegel setzt ihnen seinen „objektiven Geist“ entgegen. Dieser sagt, wie mit dem Schicksal umzugehen ist. Er ist der Schlüssel zum Konstitutionalismus. Die Orientierung an ihm sichert die Existenz der Schöpfung. Über ihn wird das „Gemeinwesen“ 610 H. Ottmann, Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel. Überlegungen zur Logik ihrer Vermittlung, in: HJ 1986, S. 345; seiner Darstellung sehe ich mich ansonsten sehr nahe. 611 Die sich auf dem Kontinent allerdings zum Zeitalter des Absolutismus ausweitet! 612 Hegel, Phän., S. 436; § 184 Rph.

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aufgehoben und bewahrt. Hegel bleibt mit diesem Konzept „irdischer“ bzw. materialistischer als vor ihm zum Beispiel Fichte oder nach ihm K. Marx: Er setzt auf den Überlebenswillen der Menschheit, der dazu zwingt, dem „objektiven Geist“, d. h. dem von der Vernunft gebotenen Gemeinwesen, Rechnung zu tragen und „Freiheit“ zu leben im Sinne einer Meisterung des Schicksals. Deshalb muss die bürgerliche Gesellschaft den Staat, diesen Staat, „als etwas Selbständiges vor sich haben“.613 „Objektiver Geist“ ist ein „ganz zentraler“, um nicht zu sagen: „der“ zentrale Begriff der hegelschen Philosophie, urteilt Hartmann.614 Er führt uns zu einer dritten Ebene von Wirklichkeit, die vom Staat, Hegels Staat, als beide Naturen vermittelnde Größe repräsentiert wird. Ein Zusammenhang, der uns, wie A. Honneth bemerkt, „inzwischen vollkommen unverständlich geworden“ ist.615 Aber ich denke, wir sind nicht unfähig oder zu dumm, den „objektiven Geist“ zu rekonstruieren, sondern: wir wollen es nicht. Denn auf der Hand liegt, dass ein solcher Versuch Ergebnisse zeitigt, die unser jetziges Denken und Handeln grundlegend infrage stellen. „Wesenslogisch“ argumentiert: Das „Schicksal“ bezieht sich auf die Verdoppelung des Menschen in ein Naturwesen und in ein produziertes Wesen. Beide „Teilwesen“ prägen ihn, machen den „ganzen“ Menschen, machen das Ideal „Mensch“ aus. Auf die Antike bezogen: „Freier“ und „Sklave“, zugeordnet ganz unterschiedlichen Sphären: der Polis die einen, jenem Bereich, der 2000 Jahre später „bürgerliche Gesellschaft“ wird, die anderen. Beide ergeben den idealen Menschen. Was aber wird aus dem „Freien“, was aus dem Sklaven, sobald sich die bürgerliche Gesellschaft etabliert? Hegel drückt es so aus: „[M]it dem Aufhören der Freiheit hat notwendig die Sklaverei aufgehört.“616 In der „Person“ finden beide, der „Freie“ wie der „Sklave“, ihr Ende. Daran ändert nichts, dass bestimmte Personen auch von der bürgerlichen Gesellschaft privilegiert werden. Die Abwesenheit der „Freien“ steht also für ein Allgemeineres: für den Verlust

613 § 182/Zus. Rph. 614 N. Hartmann, Die Philosophie …, a. a. O., S. 298. 615 A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, a. a. O., S. 12; er hält es darüber hinaus für „ratsam, den Text [der Rechtsphilosophie; B. R.] eher als eine Art von Steinbruch glänzender Einzelideen zu behandeln, anstatt den vergeblichen Versuch einer Rekonstruktion der integralen Theorie als solcher anzustreben.“ (Ebd.) 616 Hegel, NR, S. 491.

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der natürlichen Freiheit. Eine andere Art von „Freiheit“, die der „produzierten“ Natur, tritt an ihre Stelle. Hegel nennt sie „Willkür-Freiheit“.617 Der Monarch ist von jener Umwandlung der „Freien“ in „Personen“ ausgenommen. Für ihn gilt, was für die hegelsche Staatskonstruktion insgesamt gilt: „Das unmittelbare Sein der Dinge wird hier gleichsam als eine Rinde oder als ein Vorhang vorgestellt, hinter dem das Wesen verborgen ist.“ Woraus folgt: Sie sind nicht das, „als was sie sich unmittelbar erweisen“. Zu fragen ist nach dem „Bleibenden“ – und das „ist zunächst das Wesen“.618 Zum „Wesen“ des Monarchen befragt, lautet Hegels Antwort: Er ist das Subjektive eines Objektiven. Er ist Repräsentant der „organischen“ Natur. Und die konstitutionelle Monarchie ist die Antwort auf die bürgerliche Gesellschaft, die die vollständige Emanzipation der „produzierten“ Natur mit sich bringt. Sie ist also nichts anderes als eine geschichtliche Gestalt, in der, mit der beide Naturen auf neue Art miteinander verknüpft sind. Sie ist dualistisch konstruiert. Sie besteht aus zwei „Staatshälften“, die je eine der Naturen repräsentieren. Aber sie erschöpft sich nicht darin, sie ist darüber hinaus ihnen gegenüber ein „höheres Drittes“. So wie die beiden Naturen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen, auch: unterschiedlich dynamisch sind619, so liegen auch den beiden „Staatshälften“ unterschiedliche, ja gegensätzliche Prinzipien zugrunde. Wer das beachtet, steht nicht „vor unlösbare[n] Rätsel[n]“620, die uns Hegel mit seiner Staatskonstruktion aufgibt. Ein Rätsel bleibt sie jedoch jenen, die nur eine Natur in Ansatz bringen. Denn das führt einmal zu jenem rückwärtsgewandten „Organismus“, dessen Staat „Absolutismus“ in moderner Form verkörpert, oder zum „Not- und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft – also zu Staatsformen, deren jede für sich defizitär ist. C. Schmitt spricht das Problem an, wenn er schreibt: „Eine besondere Schwierigkeit der Verfassungslehre des bürgerlichen Rechtsstaates liegt darin, dass der bürgerlich-rechtsstaatliche Bestandteil der Verfassung sogar heute noch mit der ganzen Verfassung verwechselt wird, obwohl er in Wahrheit sich nicht selbst genügen kann, sondern zu dem politischen Bestandteil nur hinzukommt.“621 Das bleibt in aller Regel unbeachtet, wäre 617 § 179 Rph: „[D]urch dies Auseinanderfallen [entsteht] die Freiheit für die Willkür der Individuen“. 618 § 112/Zus. Enz. = MM 8, S. 232. 619 Die „produzierte“ Natur ist hochgradig dynamisch; die „organische“ Natur ist im Vergleich dazu eher träge, ja erscheint als etwas „Festes“ (vgl. § 81/Zus. Enz.). 620 G. Göhler/K. Roth, Der Zusammenhang …, a. a. O., S. 507. 621 C. Schmitt, VL, S. XII (Vorwort).

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aber zu beachten. Und was ist mit den Ungereimtheiten und Widersprüchen aus solchen Entweder-oder-Standpunkten? Sie werden mit der „Methode der Fiktionen und Ignorierungen“ überdeckt.622 Hegel korrigiert den „Alleinvertretungsanspruch“ der bürgerlichen Gesellschaft. „Dem Eigenrecht der Gesellschaft“ steht bei ihm „ein Eigenrecht des Politischen“ gegenüber.623 Aber er verabsolutiert weder das eine noch das andere. Beide Naturen, beide Arten von „Freiheit“ müssen sich per echtem Kompromiss arrangieren. Sie müssen eine Ehe eingehen: Natur mit Natur; politischer Staat mit bürgerlicher Gesellschaft. Zwei zu „Halbstaaten“ herabgestufte Größen: absoluter Monarch und „Not- und Verstandesstaat“, müssen sich zum Staat der Moderne zusammenraufen. Er ist dem Schicksal zur Seite gestellt, mit ihm wird es beherrschbar. Freilich, die konstitutionelle Monarchie ist von daher ein äußerst widersprüchliches, ein schwierig und ständig neu auszubalancierendes Gebilde. Jedoch ist sie mehr als eine bloße „Zwischenform“. Mittler also: das Konstitut. Geschrieben oder ungeschrieben. Darüber werden beide „Staatshälften“, beide „Naturen“ miteinander verbunden und voneinander abgegrenzt. Darin werden die auf sie jeweils entfallenden Aufgaben und Funktionen festgeschrieben. Das „Fundamentalprinzip“624 der modernen Welt ist geboren. Für Hegel ist es so und bleibt es dabei: Der moderne Staat ist „konstitutioneller“ Staat. Er ist Folge des „Schicksals“, das mit Geburt der bürgerlichen Gesellschaft offenbar wird. Aus seiner Sicht ist er die logische Konsequenz der Scheidung in „Politisches“ und „Ökonomisches“, in „Öffentliches“ und „Privates“, in „Moral“ und „Recht“. Er ist Erscheinungsform des „objektiven Geistes“. Jeder moderne Staat ist daher konstitutioneller Staat. Aber der Grad, in dem er das ist, hängt nicht unwesentlich davon ab, ob der Konstitutionalismus „erkannt“ ist oder nicht. Ist er es nicht, wird er insofern also negiert bzw. ignoriert, führt das zur Deformation des Staates in Richtung auf den bloßen „Notstaat“. Dass sich daraus neue Aspekte bei der Bewertung des „deutschen Sonderweges“ ergeben, ist bereits gezeigt worden. Der deutsche Staat des 19. Jahrhunderts wäre danach positiver zu sehen. Er wäre nicht länger als „feudales Relikt“, sondern als der „Normalfall“ zu beurteilen. Einen „Sonderweg“ hätten dann zum Beispiel die USA beschritten. 622 Ebd. – Darin sind sich die Antipoden Schmitt und Kelsen übrigens einig: dass mit Fiktionen gearbeitet wird, um Ergebnisse zu zeitigen, die auf andere Art nicht zu erlangen sind. 623 H. Ottmann, Bürgerliche Gesellschaft …, a. a. O., S. 344. 624 O. v. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts, Tübingen 1915, S. 92.

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Wenn Hegel sich also gegen die herrschende Naturrechtsdoktrin wendet, so deshalb, weil er sich zum Fürsprecher der jetzt zur Seite geschobenen Natur macht. Mit seinem „System“ korrigiert er, dass sie als politische Größe vergessen gemacht wird. Er betont die nicht auflösbare, „schicksalhafte“ Einheit beider Naturen. Dort ist mithin der zentrale Konflikt, wenn man so will: das dialektische Grundverhältnis, in dem sich die menschliche Existenz verwirklicht, verortet. Zutreffend verweist N. Hartmann daher auf den grundlegenden, ja zwingenden Zusammenhang, der zwischen dem „objektiven Geist“ und dem „System besteht: Der „objektive Geist“ führt zum „System“; das „System“ ist „deutlich auf die Lehre vom objektiven Geist hin angelegt“.625 Verwirft man es, wird damit der zentrale Begriff des „objektiven Geistes“ nicht nur verdunkelt, sondern unverstehbar. Der Dualismus der Naturen gerät aus dem Blick und wird durch andere „Dualismen“ ersetzt, die in die bürgerliche Gesellschaft hineinverlagert oder aus ihr entnommen werden. Als Beispiel sei genannt: die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung, beim Übergang von der „freien Konkurrenz“ zum „organisierten“ Kapitalismus, dem Verständnis der Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ zugrunde gelegte Dialektik von „Produktion“ und „Zirkulation“. Tonangebend in ihr: die „Produktion“; sie „greift über“, wie Marx sagt. Äußerlich haben wir das gleiche Bild wie bei der Dialektik der Naturen: Eine Seite ist die dominierende. Ist dies aber die „Produktion“, sind wir beim „Betriebsstaat“ M. Webers, beim „Syndikatsstaat“ Lenins, beim „Wirtschaftsstaat“ C. Schmitts. Weit folgenreicher: die irrationale Dialektik von „Volk“ und bürgerlicher Gesellschaft, in der eine für Hegel „aufgelöste“ Größe in den Mittelpunkt gestellt und über einen „Führer“ gegenwärtig gemacht wird. Beide Male wird der Dualismus Staat – Gesellschaft aufgegriffen und in das Innere der bürgerlichen Gesellschaft verlagert. Aus dem „objektiven Geist“ wird „Willkür“. Politisches Resultat ist in beiden Fällen die Diktatur. Philosophisch gesehen, ist das eine Abkehr von Hegel und eine Hinwendung zu Hobbes und seinem „Maschinenstaat“. Hobbes und Locke! Beide Engländer greifen die schon damals in England zur Ausbildung kommende bürgerliche Gesellschaft auf, machen sie zu ihrem Thema. Locke, indem er aus ihr den Bereich der Zirkulation, des Warenverkehrs herausgreift und verabsolutiert und so und dort die „Freiheit“ findet. Hobbes, indem er jene andere, im Schatten stehende Sphäre, die „Produktion“, in den Blick nimmt und dort auf den „Befehl“ stößt. Der eine (Locke) wird so zum Stammvater der Demokratie und des „Rechtsstaates“, der andere (Hobbes) wird 625 N. Hartmann, Die Philosophie …, a. a. O., S. 299.

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zu dem der Diktatur. Beide formulieren nichts weiter als den „Gesellschaftsstaat“ – nur vom jeweils anderen Pol her. Fasst man also „liberales“ Denken als „gesellschaftliches“ Denken auf, sind beide, Locke und Hobbes, auch Stammväter des Liberalismus. Und auch Marx gehört von daher zu den Liberalen. Dialektisch gesehen, wäre es immerhin richtiger, würde das bürgerliche Recht und der bürgerliche Staat von beiden Bereichen her entwickelt. Denn eine chinesische Mauer zwischen ihnen existiert nicht. Im Gegenteil: Die relativ scharfe Scheidung zur Zeit der „freien Konkurrenz“, die diesen Eindruck erweckt, weicht, wie bereits angedeutet und wie im Weiteren noch ausführlich dargestellt, einem „Grenzabbau“, der von der „Produktion“ ausgeht – mit entsprechenden Folgen für Staat und Recht. In unserer Zeit der Doppelnamen würde man sagen können: All dies wird widergespiegelt in der Philosophie Hobbes-Lockes. Betrachten wir den Vorgang unter dem Aspekt „Recht und Moral“: Die aufs frühere Ganze bezogene Sittlichkeit wird halbiert, existiert in der halbierten Form fort – zum einen als Recht, zum anderen als Moral. Das hat auf der Ebene des Staates eine Entsprechung. Sie besteht in der Abkehr vom „substanzhaften“, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegenen Staat. Was bleibt, ist der durch das Recht geprägte „Not- und Verstandesstaat“. Er versteht sich als „Geschäftsführung“ der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat ist damit eingeebnet; er ist auf „Gesellschaft“ reduziert.

III.2 „Endstaat“ konstitutionelle Monarchie „Konstitutionelle Monarchie“ besagt, dass sich der Schwerpunkt verlagert hat. Nicht mehr der Monarch, sondern der „Staat ist [nunmehr] die Wirklichkeit des Göttlichen“.626 Oder wie es C. Schmitt interpretiert: „[N]icht mehr das Monarchische, sondern das Konstitutionelle [ist jetzt] die Hauptsache“.627 Sie ist eine echte Kompromissgestalt; sie vermittelt das „Schicksal“. Nach Demokratie, Aristokratie und Monarchie, diesen „organischen“ Staatsformen, die mit Zerfall des einheitlichen Gemeinwesens „historisch“ geworden sind, ist nun die „Endform“ erreicht. Es gibt keine Steigerung über den „Vernunftstaat“ hinaus. Gleichwohl stellt er sich nicht von selbst ein. Er muss erkannt und hergestellt werden. Das ist von nun an die ständige Aufgabe. Hegel in § 273 Rph: Der Vernunftstaat ist diejenige Staatsform, „in welcher die substanzielle 626 Hegel, VRph 4, S. 670 (Nachschrift Griesheim). 627 C. Schmitt, VL, S. 200.

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Idee die unendliche Form gewonnen hat“. Mit ihm endet, was Marx die „Vorgeschichte“ nennt. Mit ihm beginnt die eigentliche Geschichte. Hegel behält im Blick, was gern als „Metaphysika“ zur Seite geschoben wird. Für ihn bleibt es „Wirkliches“ bzw. „Substanzhaftes“. Und nicht nur das: Es bleibt erhalten als der Träger des Sittlichen, als Träger dessen, was den Menschen ausmacht. Nach jahrelangem Ringen ist um 1815 herum insoweit Klarheit geschaffen, als nun jede der beiden Seiten erkennt, dass nur ein Kompromiss weiterhilft. Die Zeit der absoluten Monarchen ist abgelaufen. Und auch der totale Gesellschaftsstaat, wie er in Frankreich aufzurichten versucht wurde, ist gescheitert. Beide sind in der Revolution und durch sie „gemörsert“, haben sich als „unwahr“ erwiesen. Das ist der Boden für die „konstitutionelle Monarchie“. Sie bildet die Mitte zwischen den beiden Naturen, vermittelt sie zugunsten einer dritten, der sittlichen Natur. In ihr sind die „historisch“ gewordenen Staatsformen „aufgehoben“, sie existieren nun fort als „Momente“ des jetzigen, des modernen Staates. Hegel erfindet sie ebenso wenig wie die bürgerliche Gesellschaft. Er bringt beide lediglich auf den Begriff. Der Konstitutionalismus ist also Hegels philosophische Antwort auf das praktische Resultat der Revolution. Wie F. Rosenzweig es sieht: 1802 für ihn noch ein leeres Wort, ist er jetzt, 1820, zum Wesen des Begriffs „Verfassung“ vorgedrungen.628 Ohne an dieser Jahreszahl kleben zu wollen: Hegel „entdeckt“ den Konstitutionalismus; er arbeitet sich zu ihm vor, wie er sich und indem er sich zur „bürgerlichen Gesellschaft“ vorarbeitet. Im Unterschied zu den Vertretern des Liberalismus – und später auch: von Marx/Engels – sieht er in ihm nicht jene Zwischenform, die die absolute Monarchie auf den Parlamentarismus überleitet.629Als Teil des „Schicksals“ ist er vielmehr von nun an dessen ständiger Begleiter. Er ist die letzte Staatsform; er ist „Endpunkt der Geschichte“.630 Von daher ist es viel zu eng, ihn als „deutschen Sonderweg“, als spezifisch deutsche „Zwischenlösung“ aus politischer „Zurückgebliebenheit“ heraus anzusehen. Er ist mithin auch nicht Ergebnis eines „dilatorischen Formelkompromisses“. Er ist allgemeingültig. Seine Ausführungen in der „Reformbill-Schrift“ zeigen deutlich, dass Hegel in England den „Sonderweg“ sieht. Eine bloße Umkehrung findet dort statt; das Vorzeichen ändert sich. Ihr Charakter als „Aufhebung“ bleibt unbeachtet. Die Ursa628 Vgl. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 407. 629 F. Engels charakterisiert den preußisch-deutschen Konstitutionalismus der Jahre 1866  ff. als „Schein-Konstitutionalismus“, der als solcher eine „Auflösungsform der alten absoluten Monarchie“ sei (Engels, Zur Wohnungsfrage, in: Marx/Engels, AS I, S. 571). 630 E. Weisser-Lohmann, Rechtsphilosophie …, a. a. O., S. 32. Sie referiert hier die Standpunkte von L. Strauss und C. Schmitt, die gegen diese „Endstaat“-Konzeption Hegels halten.

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chen hierfür sind bereits benannt worden. Bloß zu sagen, die feudale werde durch die bürgerliche Gesellschaft abgelöst, greift also zu kurz und ignoriert das jetzige „Fundamentalprinzip“, die Teilung in „Staat“ und „Gesellschaft“. Aber an einem Staat festzuhalten, der nicht nur Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft ist, wird ihm von fast allen Seiten verübelt. Marx merkt kritisch an: Die konstitutionelle Monarchie hebt den Gegensatz nicht auf, sondern mache ihn „zu einem ‚gesetzlichen‘, ‚fixen‘ Gegensatz“.631 Von hier zum Urteil: „Zwischenlösung“, „Sonderweg“, ist es nicht weit. Übersehen wird dabei, dass das vorhandene dialektische Verhältnis in der Praxis die Gestalt des politischrechtlichen Kompromisses annimmt. Hegel lebt im Zeitalter der Monarchien. Daher muss nicht verwundern, dass für ihn der moderne Staat die konkrete Gestalt „konstitutionelle Monarchie“ annimmt. Und nicht nur das: Aus dem Primat der „organischen“ Natur ergibt sich für ihn das „monarchische Prinzip“, d. h. ein Übergewicht des Monarchen gegenüber den Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft. Aber unabhängig vom „Monarchen“: Was er wirklich entdeckt, das Allgemeinere im „monarchischen Konstitutionalismus“, ist, dass er als „Monarchen“ ansieht, wer objektiv und subjektiv in der Lage ist, die „organische“ Natur zu repräsentieren. Das konnte in der Antike auch das Volk sein, nicht jedoch in der Moderne, da mit Geburt der bürgerlichen Gesellschaft das Volk „aufgelöst“ ist. Gegen eine „konstitutionelle Demokratie“ sprechen im Übrigen die Erfahrungen der Französischen Revolution. Sie beginnt mit konstitutioneller Monarchie und endet mit ihr. Der „Revolutionskessel“ (Rosenzweig) selbst verwirft ihre demokratische, rousseauistische Phase als unrealistisch. Hegel akzeptiert die Revolution daher auch nur insoweit, als sie die konstitutionelle Monarchie gebiert bzw. „bestätigt“. Und generell hat er ja gegen die Demokratie den Einwand vorzutragen, dass das Wissen darum, „was den Staat ausmacht, … Sache der gebildeten Erkenntnis und nicht des Volkes“ ist.632 Ein Standpunkt, den Hegel durchgängig vertritt. Diese Aussage führt zwar weg vom Volk, verweist aber nicht zwangsläufig auf den Monarchen, von dem er ja weiß, dass dieser – und nicht nur im Einzelfall – „übel gebildet“ sein kann. Eher verweist sie auf eine Instanz, die an und für sich, von ihrer objektiven Stellung her, hier: ihrer Nähe zur „organischen“ Natur her dem „Geist“ dieser nahesteht und von daher berufen ist, ihn zu repräsentieren. Der Gedanke an die Weisen Platons, an Fichtes Ephorat kommt auf.

631 MEW 1, S. 252. 632 Hegel, VPhG, S. 91.

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Der Monarch von Gottes Gnaden liegt Hegel also ferne.633 Da es ein Wesensmerkmal der konstitutionellen Monarchie ist, dass das „Regieren“ einer dritten, außerhalb des Monarchen und der bürgerlichen Gesellschaft gelegenen und relativ verselbstständigten Kraft, der „Regierung“, übertragen ist, wird ohnehin das Zufällige am Monarchen eingedämmt, wird seine Subjektivität verkleinert. Es reicht aus, wenn der Monarch dem Grunde nach weiß, für was er steht, was er repräsentiert. Er darf deshalb kein „Bürgerkönig“, im weiteren Sinne: kein Cäsar, kein Napoleon, im noch weiteren Sinne: kein von der bürgerlichen Gesellschaft emporgebrachter Diktator sein; er darf sich nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft „gemein“ machen.634 All das erinnert an die marxistische Auffassung vom Proletarier, die ja die gleiche Quelle hat. So wie für Hegel der Monarch, so steht für Marx der Proletarier außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – was ihn über deren Sonderinteressen erhebt, was ihn im Rahmen seiner „historischen Mission“ befähigt, ein übergreifendes, allgemeines Interesse zu verfolgen: die Befreiung des Menschen. Monarch und Proletarier bleiben frei von der Umwandlung des Menschen in Personen, sie bleiben Menschen. Allerdings ist diese Argumentation weitaus schlüssiger, soweit sie sich auf den Monarchen bezieht. Denn der Proletarier vollzieht die Umwandlung zur „Person“ ja sehr wohl mit. Auch seine Existenz als Person ist auf das Eigentum gegründet, auch wenn es „nur“ das Eigentum an der eigenen Arbeitskraft ist. Das verändert seine Interessenlage prinzipiell. Sie ist zwar nicht identisch mit der des Kapitalisten, aber sie ist ebenfalls eine „gesellschaftliche“. Auch er verliert die „organische“ Natur aus dem Blick. Eine erfolgreiche proletarische Revolution, wie sie Marx im Auge hat, ändert also nichts daran, dass die „organische“ Natur weiterhin einem Feind gegenübersteht, der auf ihren Verbrauch, auf ihre Zerstörung hinarbeitet, selbst wenn innerhalb der Gesellschaft infolge der Revolution eine Umgruppierung des gesellschaftlichen Reichtums erfolgt. Der „Monarch“ Hegels wird also durch den Proletarier bzw. durch eine „Diktatur des Proletariats“ nicht ersetzt. Und aus den bereits genannten Gründen ist er ebenso nicht zu ersetzen durch das 633 Vgl. dazu: M. Wolf, Hegels staatstheoretischer Organizismus, in: HS 19 (1985), S.  170. Das verkennt (z. B.) V. Hösle (Der Staat, in: Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, hg. von Chr. Jermann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 201), wenn er schreibt, die Anlage des hegelschen Staates deute „nur auf eine Präsidialdemokratie, nicht auf eine Monarchie“. 634 Das erklärt Hegels Unzufriedenheit mit dem Ausgang der Julirevolution in Frankreich und mit der Entwicklung in England, wie er sie in der Reformbill vorgezeichnet sieht. Alles deutet in die falsche Richtung, nämlich auf Abkehr von der konstitutionellen Monarchie. Er verhehlt nicht, dass er Preußen auf besserem Wege sieht.

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„Volk“. Damit entfallen zwei praktizierte Varianten einer Ersetzung des Monarchen. In einem Fall, bei der „Diktatur des Proletariats“, hat inzwischen die Geschichte ihr Urteil gefällt. Zur „konstitutionellen Demokratie“ wird noch ausführlich vorzutragen sein. Wir sehen, dass Hegel „mit dem zweipoligen Raster: ‚liberal, naturrechtlich‘ hier und ‚monarchisches Prinzip‘ dort … nicht einzufangen“ ist.635 Zu ihm gelangt aber zwangsläufig, wer sich mit der Trennung in Staat und Gesellschaft als dem „Schicksal“ nicht „anfreunden“ kann. Gegen das bis in die heutige Zeit tradierte Urteil Hayms, er habe den „Monarchen“ aus Servilismus seinem letzten Dienstherrn, dem preußischen König, auf den Leib geschrieben, spricht doch schon, dass Hegel bereits in der „Verfassungsschrift“ (bei kritischer Grundhaltung gegenüber Preußen!), und seither ununterbrochen, die konstitutionelle Monarchie als die Staatsform der Moderne vorstellt.636 Schon um 1800 herum ergibt sie sich ihm als Lehre der Revolution. Der Staat, dieser Staat markiert seither den „Wendepunkt“ seiner Staatsauffassung.637 Etwas später, aber lange vor seiner Berliner Zeit siedelt L. Siep638 den Übergang zur konstitutionellen Monarchie an: „Dass eine solche Einheit von Monarchie und ‚Konstitution‘ Grundlage des vernünftigen Staates ist, war Hegels feststehende Konzeption seit dem Ende seiner Jenaer Zeit (1806).“ Ähnlich O. Pöggeler: „Heute zeigt ein Blick in die rechtsphilosophische Vorlesung, die Hegel im Winter 1817/18 in Heidelberg hielt, dass Hegel längst vor der Übersiedlung nach Preußen dem Majorat im Blick auf die englischen Lords und die französischen Pairs eine politische Funktion gab; Hegel beginnt mit der fürstlichen Gewalt, weil er in der Rechtsphilosophie immer mit der Unmittelbarkeit des Zu-eigen-Habens und des Beschließens anfängt.“639 Er verweist auf Carové, einen Hegelschüler aus der Heidelberger Zeit, der mit seiner Nachschrift der Vorlesung 1817/18 den Beweis erbringt, „dass Hegel in Heidelberg noch entschiedener als in Berlin sich zur konstitutionellen Monarchie bekannte“640. Das macht es jenen schwer, 635 D. Suhr, Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie, in: Rechtstheorie 5 (1974), S. 180. 636 S. dazu: H. Heller, Hegel …, a. a. O., S. 111, insbes. auch Fußnote 25. Ganz ähnlich urteilt K. Larenz, der, gemessen an seiner politisch-ideologischen Grundhaltung, ein ganz anderer Typ von Hegelianer ist, in seiner „Erdmann“-Schrift aus dem Jahre 1940 (Hegelianismus und preußische Staatsidee, Hamburg 1940, S. 12 ff.). 637 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 119. 638 L. Siep, Hegels Theorie der Gewaltenteilung, in: Lucas/Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 387. 639 O. Pöggeler, Hegels Begegnung mit Preußen, in: Lucas/Pöggeler (Hg.), Hegels Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 313. 640 Ebd., S. 315.

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die, auf der Suche nach dem „liberalen Hegel“, den Hegel des „Monarchen“ unter Akkommodationsverdacht stellen und sich berechtigt sehen, ihn insoweit aus der Wertung zu nehmen. Monarch und konstitutionelle Monarchie sind jedoch feste und unverzichtbare Elemente seiner Staatsphilosophie und als solche „direkt mit den Grundbegriffen seines Gesamtsystems verbunden“641. Und als solche hat er sie bereits im Gepäck, als er in Berlin eintrifft.

III.3 Speziell: Marx kontra Hegel Marx, der sich in vieler Hinsicht zu ihm bekennt, der bei aller Kritik die Größe Hegels nie aus dem Auge verliert, kündigt 1842 an, Hegels „konstitutionelle Monarchie“ „als ein[..] durch und durch sich widersprechende[s] und aufhebende[s] Zwitterding[.]“ zu enttarnen und zu bekämpfen.642 Als er das Vorhaben dann ausführt, geizt er nicht mit Kraftausdrücken: „Gruselkabinett“, gefüllt mit mittelalterlicher Gerätschaft; „Missgeburten“, wie die „Majoratsherren“; triefend vor obrigkeitlichem Sinn. Und diese Servilität! „Wirklich ekelhaft“. Dabei bleibt er; eine Korrektur nimmt der spätere Marx nicht vor; auch seine Nachfolger nicht.643 Seine Kritik belehrt noch heute über das damals vorherrschende Staatsverständnis. Hegel einerseits. Der Liberalismus sowie auch der spätere Marxismus andererseits. Die dualistische Position dort. Und die Attacke gegen sie, die deutlich macht, weshalb Hegels Staat bis auf den heutigen Tag all jenen als Störgröße gilt, die den Staat nur von der bürgerlichen Gesellschaft her sehen wollen oder können. Marx’ Text beginnt mit der Analyse dessen, was Hegel unter den §§ 260 ff. als das „innere Staatsrecht“ abhandelt. Das „ganze Mysterium der Rechtsphilosophie“ sei dort „niedergelegt und der Hegelschen überhaupt“.644 „Mysterium“ ist ihm alles, was den Staat für Hegel zum „Irdisch-Göttlichen“, zum Ausfluss des „Substanziellen“ und des „Sittlichen“ macht. Wie ein roter Faden durchzieht der Kampf mit und gegen diesen „Mystizismus“ die gesamte Abhandlung.

641 L. Siep, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 387. 642 MEW 27 (Brief an Ruge vom 5.3.1842). 643 Zum Schaden des Marxismus, wie M. J. Siemek (Was ist der Marxismus Hegel schuldig?, in: HJ 1986, S. 171 ff.) mit einigem Recht behauptet. 644 MEW 1, S. 208.

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Und wenn diese bei § 311 abbricht, wird an dem Seufzer „O Jerum!“ deutlich, wie sehr die Lektüre ihn entnervt hat.645 Marx müht sich um ein Verständnis, kann es aber beim besten Willen nicht aufbringen. Er ist ein junger, feuriger Liberaler. Hegel dagegen ist weder feurig noch liberal. Als was zeigt er sich? Als ein Schwabe, der hin und her rechnet, der sich krümmt und windet, der ständig relativiert, der nie richtig „Farbe“ bekennt, der immer versucht, Unvereinbares vereinbar zu machen. Worauf stößt er also? Auf einen Typen, der mehr als unpassend ist für eine Zeit, die auf die Revolution zudriftet. Er hingegen hat einen klaren Standpunkt: Die bürgerliche Gesellschaft ist Fortschritt gegenüber dem feudalen Gemeinwesen. Und sie ist das jetzige „Ganze“. Folglich gibt es keinen Grund, den Staat außerhalb zu suchen. Als eine von ihr abstammende, sie „zusammenfassende“646 Größe teilt er alle ihre Eigenschaften. Von daher setzt er sich kritisch mit den Schlussfolgerungen auseinander, die Hegel in § 262 Rph aus der „Besonderung“ des bisherigen Gemeinwesens zu „Familie“ und „bürgerlicher Gesellschaft“ zieht. Soweit er sich zuvor zu ihr geäußert hat647, tat er das aus der Sicht der sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft. Dort ging es ihm um deren „Befreiung“. „Besonderung“ = Emanzipation = Freiheit. Hier aber, in § 262, fragt Hegel, auf wessen Kosten diese Freiheit geht. Wer ist der Verlierer? Welche Folgen ergeben sich aus ihr für das zur Seite Geschobene? Wie ist diesen Folgen zu begegnen? Für Hegel sind das die zentralen Fragen. Es sind Fragen, die sich nicht stellen, wenn die bürgerliche Gesellschaft als das neue „Ganze“ angesehen wird. Die „produzierte“ Natur emanzipiert sich. Das bedeutet „Freiheit“ für die bürgerliche Gesellschaft und ihre Mitglieder. Hegel sieht und anerkennt sie auch. Aber sie ist ihm nicht „Freiheit“ schlechthin. Sie ist nicht die alleinige und auch nicht die primäre. Seine Freiheit ist die in § 260 näher dargelegte „konkrete“ Freiheit. Das ist eine Freiheit, die beide Naturen anerkennt und zugrunde legt. Sie ist als „konkrete Freiheit“ jene des „objektiven Geistes“ und der Sittlichkeit. Sie ist „vernünftige“ Freiheit. Sie ist aber denen unakzeptabel, für die allein die bürgerliche Gesellschaft „menschliche“ Natur ist. Dazu hat Marx eine völlig andere Auffassung. Als Liberaler ist er Parteigänger der bürgerlichen Gesellschaft. Und das bleibt er auch später, als er den „Klassenstaat“ für sich entdeckt, wenn 645 H.-G. Deggau (Die „Unkritik“ des jungen Marx, in: Rechtstheorie 8 (1977), S. 177 ff.) hat nicht ganz unrecht, wenn er meint, Marx liefere mit dieser Arbeit keine Kritik, sondern eine „Unkritik“ im Sinne einer Kritik, die noch nicht recht weiß, wohin sie führen soll. 646 S. dazu Marx, GR, S. 28 f. 647 Im Zweiten Abschnitt („Die bürgerliche Gesellschaft“), §§ 182–256.

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man „liberalistisch“ weiter fasst, nämlich in diesem Sinne: Einnahme eines nur gesellschaftlichen Standpunktes. Die nahezu zwangsläufige Folge: Hegels Staat erscheint ihm als gesellschafts- und damit freiheitsfeindliche Einrichtung. Es muss für ihn falsch sein, wenn dieser in § 261 Rph unmissverständlich erklärt: Der Staat ist „äußerliche Notwendigkeit“. Er ist gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft „höhere Macht“. Denn der bürgerlichen Gesellschaft Grenzen zu setzen, steht für Marx dem Staat nicht zu. Jedenfalls nicht diesem Staat. Wenn Grenzen, dann keine von außen, sondern solche, die von innen gesetzt sind – später wird er die „Grenzzieher“ benennen: Proletariat und „Diktatur des Proletariats“. Die hegelsche Lösung ist für ihn eine Flucht und ein Versagen vor der (neuen) Wirklichkeit. Was soll es heißen, wenn Hegel den Begriff – des Staates, des Menschen – in der bürgerlichen Gesellschaft nicht erfüllt sieht? Doch nichts anderes, als dass Hegels Begriffe vor der Wirklichkeit stehen bleiben, dass er bei einer idealen „Begriffsexistenz“ verbleibt, die ihn nötigt, ein Einheitliches doppelt zu sehen: die Gesellschaft als „Staat“ und „Gesellschaft“, den Menschen als „Person“ und „Subjekt“. Und weiter nötigt ihn das, „Staat“ und „Gesellschaft“ mit einer dritten Größe zu überspannen: der „konstitutionellen Monarchie“. Diese sei aber, so Marx, keine Lösung des Widerspruchs, sondern nur deren „Schein“ und als solcher nichts als plattester Empirismus.648 Man kann es drehen und wenden, wie man will: Hegels Staat ist „gegen die bürgerliche Gesellschaft“ konzipiert. „Der Gegensatz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft ist also fixiert; der Staat residiert nicht in, sondern außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.“649 Das ist konsequent formuliert, sieht man die bürgerliche Gesellschaft als das „Ganze“. Für Hegel ist sie das jedoch nicht. Die übergeordnete Größe, zu der sie als ein nur relativ Selbstständiges gehört, muss im Blick bleiben, muss in ihrer Definition aufscheinen. Vor allem aber dies: Nur ihre relative Selbstständigkeit macht sie erträglich; nur sie rechtfertigt ihre Einordnung in das „System der Sittlichkeit“. Jeder Begriff von ihr, der das unberücksichtigt lässt, ist deshalb „unwahr“. Aber die Bereitschaft seiner liberalen Kritiker, dies zu verstehen, ist nicht sonderlich ausgeprägt, kann wohl von ihnen auch nicht erwartet werden. Denn diese Einordnung steckt ja gerade die Grenzen ab, zeigt an, dass die bürgerliche Gesellschaft Teil eines Größeren, Umfassenderen ist. Dass sie Zweck und nicht Selbstzweck ist. Nach der Doktrin aber ist sie grenzenlos. Ist sie sich 648 MEW 1, S.  279  ff.; vgl. dazu die Ausführungen bei K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, in: Ders., Sämtliche Schriften 4, Stuttgart 1988, besonders S. 187–195. 649 MEW 1, S. 252.

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selbst Zweck. Kennt sie nichts anderes als sich. Prinzipiell teilt Marx diesen Ausgangspunkt. Wenn er auch – im Unterschied zu Hegel einerseits und zu den Vertretern des Liberalismus andererseits – meint, dass ihr zerstörerisches und selbstzerstörerisches Prinzip durch eine interne Kraft, das aufkommende Proletariat, in der Zukunft erledigt werden wird. Da also außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nichts existiert, kann der Staat nur ein Teil von ihr sein. Für den Liberalismus ist er eine Geschäftsführung im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder. Für Marx ist er, bevor er „abstirbt“, Instrument der Herrschaft erst der Bourgeoisie, dann des Proletariats. Damit ist Hegels Staat verworfen. Unerkannt bleibt auch bei Marx, dass Hegel die Aufgabe des Staates darin sieht, die Belange beider Naturen zu wahren. Seine Abschaffung hieße, der „produzierten“ Natur Tür und Tor zu öffnen. Konkurrenz und Markt, beide von Hegel als die Bollwerke des Sittlichen verstanden, gerieten sehr bald in Gefahr, durch eine „Planmäßigkeit“ ersetzt zu werden, die von Hegel als „Willkür“, vom späteren Marx dagegen als Ausfluss der „Bewusstheit“ gesehen wird. Ungehemmtes Produzieren, grenzenlose Entwicklung der Produktivkräfte. Reichtum für alle. Aber: auf Kosten der Natur. Die an materiellen Gütern orientierte Glückseligkeit, die schon der frühe Liberalismus als Trost für die „Unbilden“ und Verluste, für die soziale Kälte der bürgerlichen Gesellschaft und für die Reduzierung des Menschen auf die Person in Aussicht stellt, wird also auch vom Marxismus übernommen. Es darf in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, dass der reale Sozialismus zeit seines kurzen Lebens nie einen eigenständigen Bedürfnisbegriff entwickelt hat, sondern immer dem der „benachbarten“ Gesellschaft hinterherhetzte – wenn auch erfolglos. Angesichts dieser Gemeinsamkeit sollte nicht verwundern, dass sich der junge Marx mit Hegel nicht weniger schwertut als wir Heutigen. Dass ihm das außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Liegende als „Mystizismus“ erscheint. Er versucht Hegel in „Prosa“ zu fassen; formuliert: „Die Familie und die bürgerliche Gesellschaft sind Staatsteile. Das Staatsmaterial ist unter sie verteilt …. Die Staatsbürger sind Familienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft.“650 Aber was soll das besagen? Was sind sie nun? Ist die „Besonderung“ damit aufgehoben? Sein Standpunkt: „Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staates; sie sind die eigentlich Tätigen“. Aber: „[I]n der Spekulation“, bei Hegel, „wird es umgekehrt.“ Dort sind sie bloß „versubjektivierte“, bloß empirische Ausgestaltung der Idee.651 650 Ebd., S. 206. 651 Ebd.

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Dieser Herabstufung, dieser Relativierung hält Marx entgegen: „Sie sind das Treibende.“ Sie sind das „Bestimmende“.652 Zu § 281 bemerkt er: Hegels Staat (verstanden als Repräsentant der organischen Natur) verhalte sich zu den Sphären der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft als „höhere Macht“. Der Staat sei ihren Gesetzen und Interessen übergeordnet. „Sie leben in der ‚Abhängigkeit‘ von ihm.“ Er repräsentiert ihnen gegenüber die „äußerliche Notwendigkeit“ der organischen Natur, eine „Notwendigkeit, die gegen das innere Wesen der Sache angeht“.653 Wobei als „inneres Wesen“ zu verstehen sind: Egoismus, Zügellosigkeit, Naturvernichtung. Also Familie und bürgerliche Gesellschaft führen zum Staat – was heißen soll: Nicht die Ersteren sind abgeleitet, sondern der Staat. Nicht Erstere gehen aus dem Staat hervor, sondern der Staat aus ihnen. Ergo stellt Hegel die Dinge auf den Kopf. Mit seinem Pochen auf den Staat nimmt er der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft die eigene Wirklichkeit, reduziert sie auf „Zugeteiltes“, macht „Daseinsweisen des Staates“ aus ihnen, erklärt die Bedingung zum Bedingten. Sein Kommentar zeigt es: Für Marx ist die bürgerliche Gesellschaft nicht „Schicksal“, nicht „naturalistische“, sondern historische Größe, die, wenn die Zeit reif ist, vom Proletariat „erobert“ und menschlich umgestaltet wird.654 Schon jetzt erklärt er kategorisch: „Der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft sind von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft.“655 Noch ist das „gewöhnlicher“ Liberalismus. Ein paar Jahre später aber wird er bei seinem „Klassenstaat“ sein. Kommen wir auf § 262 Rph zurück. Marx stößt sich an dem Wort „Geist“. Warum lässt Hegel hier einen „Geist“ aufleben, den er doch scheinbar weiter vorne, bei der Abhandlung der bürgerlichen Gesellschaft, gerade begraben hat? Ist er eine Folge seiner Metaphysik, seines Systems? Er ist sich sicher: Hier zeigt sich die „zwiespältige Natur“ der ganzen Konstruktion; der idealistische Pferdefuß. Es gelingt ihm nicht, zu sehen, dass die Dialektik von Geist und bürgerlicher Gesellschaft einen ausgesprochen materialistischen Hintergrund hat und mit ihm die Dialektik der beiden Naturen angesprochen ist. Und immer wieder die strapazierte „Aporie der Vermittlung“. Was tut dieser Hegel? Rings um das Verhältnis Staat – Gesellschaft zeigt er Antinomien auf. 652 Ebd., S. 207. 653 Ebd., S. 204. 654 S. dazu: F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 468 f. 655 MEW 1, S. 401.

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Ohne eine einzige aufzulösen. Darauf aber käme es schließlich an. Was bietet Hegel stattdessen? Nichts weiter als eine bürokratische Lösung. Einerseits: „In der ‚Unterordnung‘ und ‚Abhängigkeit‘ hat Hegel die eine Seite der zwiespältigen Identität weiter entwickelt, und zwar die Seite der Entfremdung innerhalb der Einheit.“656 „Aber andererseits“, lässt er Hegel weitersprechen, „ist er ihr immanenter Zweck und hat er seine Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses der Individuen, darin, dass sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte haben.“ (§ 261 Rph.) Bitte schön, da haben wir es: „Hegel stellt hier eine ungelöste Antinomie auf. Einerseits äußerliche Notwendigkeit, andrerseits immanenter Zweck.“657 Wie man es auch dreht und wendet: „In doppelter Hinsicht ist diese Entwicklung merkwürdig.“658 Der Staat als „Zwittergestalt“. Warum beharrt Hegel auf ihm? Weil er Gefangener seines „Systems“ ist? Weil er sich seinem Brotherrn verpflichtet sieht? So wird noch heute gefragt.

III.4 Von ihnen kann „nur historischerweise die Rede sein“: Hegel zu „Volk“ und „Demokratie“ „Wie viele schwer vereinbare Dinge setzt eine demokratische Regierung voraus!“ ( Jean-Jacques Rousseau659)

„Volk“ und „Monarch“, „Demokratie“ und „Monarchie“ sind die Gegensatzpaare der Revolution. Volks- statt Fürstensouveränität heißt die Losung. Für Hegel sind das „verworrene Gedanken“, denen er entgegenhält: Das Volk ist „aufgelöst“! „Demokratie“ ist daher für ihn keine aktuelle Staatsform. Im Gegenteil. Sie gehört unwiderruflich der Geschichte an; sie ist nicht wiederherstellbar. Selbst wenn dies wünschenswert wäre. Demokratie, Aristokratie, Monarchie sind „notwendige Gestaltungen in dem Entwicklungsgange, also in der Geschichte des Staates. … Deswegen ist es oberflächlich und töricht, sie als einen Gegenstand der Wahl vorzustellen.“660 Die Aufspaltung des feudalen Gemeinwesens 656 Ebd., S. 204. 657 Ebd. 658 Ebd., S. 205. 659 J.-J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Drittes Buch, Viertes Kapitel. 660 § 544 Enz.; Hegel, VPhG, S. 65.

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in „Staat“ und „Gesellschaft“ beendet die Zeitalter eindimensionaler Staatlichkeit und erledigt die „organischen“ Staatsformen der „alten“ Welt. Ein Zurück zu ihnen ist unmöglich. Und was die Souveränität anbelangt: Hegel spricht von „dem unentwickelten Zustande, in welchem die Formen der Demokratie und Aristokratie [nur] möglich sind“661. Dieser Zustand und damit: die „alte Einteilung der Verfassungen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie“662 ist beendet. Die Verfassung ändert sich nun: Das Zeitalter des Konstitutionalismus bricht an. Jetzt noch die Souveränität an das Volk oder an den Monarchen zu knüpfen, ist also für Hegel gleichermaßen falsch, weil beide nur Repräsentanten des jetzigen Gemeinwesens sein können. „Als ob das Volk das Ganze wäre“, sagt er. Nur ein „Kunstgriff des bösen Willens“ macht es dazu.663 Damit ist klargestellt: „Volk“ und „Monarch“, Volkssouveränität und Fürstensouveränität sind keine Gegensatzpaare; die Entwicklung verläuft von „Volk“ und „Volkssouveränität“ zu Monarch und „Fürstensouveränität“ – nicht umgekehrt! Die jetzige Zäsur verweist alle Staatsformen, die auf der „ungetrennte[n] substanzielle[n] Einheit“, auf einem ungegliederten, „organisch“ geprägten Gemeinwesen beruhen, in die Geschichte. Demokratie, Aristokratie und auch die (bisherige) Monarchie – sie gehören jetzt „allesamt der Vergangenheit an“664. Müßig die Frage, „welche die vorzüglichste unter ihnen wäre“.665 Keine entspricht dem, was jetzt notwendig ist. Das „absolute Band des Volks, das Sittliche“, ist zerrissen. „Nunmehr ist das Volk keine Größe mehr, die eine eigenständige Vergemeinschaftung leistet“, interpretiert Bogdandy. Und der Grund: „Diese Entwicklung fällt mit dem triumphalen Einzug eines neuen Begriffs zusammen: dem der bürgerlichen Gesellschaft.“666 Der Schwerpunkt hat sich verlagert: Wie die „Person“ den Menschen, wie das Recht die Sittlichkeit ablöst, so lösen jetzt die Stände bzw. Klassen das Volk ab. Genereller: Die bürgerliche Gesellschaft „löst es auf“, wie Hegel sagt.667 Ein Vorgang, der irreversibel ist. Das „Volk“ ist nicht beliebig wiederherstellbar. Die

661 § 279 Rph. 662 § 273/Anm. Rph. 663 Hegel, VPhG, S. 67. 664 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 412. 665 § 273/Anm. Rph. 666 A. v. Bogdandy, Hegel und der Nationalstaat, a. a. O. S. 519. 667 Hegel, SdS, S. 78; angedeutet in § 302 Rph.

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Entwicklung folgt dem tönniesschen Theorem: Sie geht von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ – nie umgekehrt.668 „Volk“ und „Demokratie“ sind an das „Gemeinwesen“ geknüpft und gehen mit diesem unter. Sie verschwinden deshalb aber nicht aus der Welt, sondern bleiben als inhaltlos gewordene Allgemeinbegriffe erhalten. Volk „aufgelöst“ bedeutet: Es existiert nur noch als „unbestimmtes Abstraktum“, „das in der bloß allgemeinen Vorstellung Volk heißt“.669 Als solches wird es allerdings zur Allzweckwaffe, von der die unterschiedlichsten Regime der Welt gerne Gebrauch machen. „Denn jede Faktion des Volkes kann sich als Volk aufwerfen“670, wie es ja dann auch in der Französischen, in der Russischen und eigentlich in allen Revolutionen der Moderne geschieht. Eine echte politische Bedeutung kommt dem Begriff weiterhin nur nach außen zu – in der Bedeutung von „Nation“, als abgrenzender Begriff zu anderen Völkern.671 Aber nach innen bleibt es dabei: „Volkssouveränität als im Gegensatze gegen die im Monarchen existierende Souveränität genommen“ (= „der gewöhnliche Sinn, in welchem man in neueren Zeiten von Volkssouveränität zu sprechen angefangen hat“) „gehört … zu den verworrenen Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zugrunde liegt.“672 Marx interpretiert: „Die Volkssouveränität ist hier also die Nationalität. … Ein Volk[,] dessen Souveränität nur in der Nationalität besteht, hat einen Monarchen.“673 Mit „Volk“ kann man nun keinen Staat mehr begründen.674 Wer es trotzdem versucht, verdeckt wissentlich oder unwissentlich, was tatsächlich zugrunde liegt. Beispiel Französische Revolution: Damals identifizierte sich die revolutionäre Bourgeoisie ganz selbstverständlich mit „Volk“ und klassifizierte die errichtete 668 Vgl. F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, a. a. O., S. 14; ders., weniger eindeutig, in: Hegels Naturrecht, in: Schmollers Jahrbuch 1932, S. 71 ff. Dort (auf S. 81) findet sich folgender Satz: „Ausdrücklich entscheidet er [scil. Hegel!; B. R.] sich antidemokratisch, wenn er die Volkssouveränität zu den verworrenen Gedanken rechnet, denen die ‚wüste Vorstellung des Volkes‘ zugrunde liege“. Aber ist Hegel „Antidemokrat“, bloß weil er sagt, dass die Demokratie der Geschichte angehört und nicht beliebig wiederholt werden kann? 669 § 279/Anm. Rph (Hervorhebung bei Hegel). 670 Hegel, VPhG, S. 61. 671 Vgl. § 279 Rph: „Volkssouveränität kann in dem Sinn gesagt werden, dass ein Volk überhaupt nach außen ein Selbständiges sei und einen eigenen Staat ausmache …“ (Hervorhebung bei Hegel). 672 § 279/Anm. Rph. 673 MEW 1, S. 240. 674 Dazu A. v. Bogdandy, Hegel und der Nationalstaat, a. a. O., S. 520: „Daraus folgt, dass der Begriff des Volkes in der entwickelten Philosophie des Geistes nicht geeignet ist, die Grundlage des Staatsbegriffs im modernen, nachrevolutionären Staat zu sein.“

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Bourgeoisieherrschaft als „Volksherrschaft“. Das Gleiche hundert Jahre später: Ganz selbstverständlich identifiziert der Marxismus das Proletariat und die ihm nahestehenden Klassen und Gruppen mit „Volk“. Aber „Kapitalist“ und „Proletarier“ sind, je für sich oder auch zusammen, nicht das „Volk“. An ihnen wird hingegen sichtbar, dass das „Volk“ in einen anderen Aggregatszustand übergegangen ist. Wie die „Person“ an die Stelle des Menschen, so sind die Stände und Klassen an die Stelle des Volkes getreten. Zwar pflegt eine Ansammlung von Personen weiterhin „das Volk genannt zu werden“, aber als solche, mag sie noch so groß sein, ist sie für Hegel nicht „Volk“ im Sinne einer politischen Größe, sondern „vulgus“.675 Als bloße Menge kann sie objektiv keinen Staat konstituieren. „Das Volk, ohne seinen Monarchen und die eben damit notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse, die kein Staat mehr ist und der keine der Bestimmungen, die nur in dem in sich geformten Ganzen vorhanden sind – Souveränität, Regierung, Gerichte, Obrigkeit, Stände und was es sei –, mehr zukommt.“676 Als solche „formlose Masse“ kann es lediglich Objekt der/einer Souveränität sein, was Hegel in der Unterscheidung von „Souveränität nach innen“ – sie steht ausschließlich dem Monarchen zu – und jener „nach außen“ – das Recht einer Nation gegenüber anderen auf Selbstbestimmung – zum Ausdruck bringt.677 Substanzielle, ungeteilte, „wahre“ Demokratie ist für Hegel in der Moderne ein Ding der Unmöglichkeit. So urteilt auch Marx. Bezogen auf Robespierre, Saint-Just und andere, schreibt er: Sie und ihre Partei gingen unter, „weil sie das antike realistisch-demokratische Gemeinwesen … mit dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat … verwechselten“678. Da Letzterer auf (Eigentums-)„Freiheit“ als dem zentralen und historisch auf der Tagesordnung stehenden „Menschenrecht“ und damit auf ökonomische Ungleichheit ausgerichtet gewesen sei, echte Demokratie aber auf „Gleichheit“ aus sei, musste diese Verwechslung, diese Konfusion, in den Terror münden. „Tragisch“, „diese Täuschung“, Demokratie und Gleichheit zu verlangen, wenn Freiheit und Ungleichheit gefordert sind! Aus all diesen Gründen hat sich für Hegel spätestens mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft die Demokratie erledigt. Die antike Demokratie hat den Sklaven zur Voraussetzung. Nur weil diese, die Mehrheit der Bevölkerung, nicht zum „Volk“ zählten, war sie möglich. Und 675 § 544 Enz. 676 § 279 Rph (Hervorhebung bei Hegel). 677 § 278 Rph. 678 MEW 2, S. 129.

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auch dann funktionierte sie nicht sonderlich gut! Es bedurfte von Zeit zu Zeit solonischer Gesetze und Maßnahmen, um ein Mindestmaß an Homogenität herzustellen, ohne die Demokratie nicht funktionieren kann. Die „bürgerliche Gesellschaft“ setzt dem „Sklaven“ wie dem „Freien“ ein Ende und ersetzt sie durch die „Person“. Die „organische“ Natur ist damit „menschenleer“ gemacht. Einzig in ihr zurückgeblieben: der Monarch. Er ist „alle Menschen“, er ist „alle Menschen“ in „Einer Person“.679 Er steht außerhalb jener „besonderen Sphären“, die die bürgerliche Gesellschaft bilden.680 Was sich aus der Sicht des Sklaven als Befreiung darstellt, als Gewinn der „Person“, ist aus der Sicht der „Freien“ ein Verlust, der Verlust des Menschen. Alle logisch vor der Monarchie liegenden Staatsformen, besonders die Demokratie, sind damit unmöglich gemacht. „Mensch“ und „Volk“ – diese „organischen“ Größen – gehen also verloren. Letzteres liegt von nun an zwischen den Fronten, liegt zwischen den Polen „Staat“ und „Gesellschaft“, liegt gewissermaßen im Niemandsland. „Volk“ ist, was die „Souveränität nach innen“681 angeht, zu einem leeren Begriff geworden.682 Wie die antike und feudale Wirtschaftsfamilie in die moderne Kleinfamilie einerseits und in die Unternehmung andererseits zerfällt, zerfällt das Volk in Stände und Korporationen. Nur in diesen neuen Gestalten existiert es als politische Größe fort. Und nur dort findet sich jetzt folglich noch Demokratie: „Demokratie in den Ständen“683. Als Teile der bürgerlichen Gesellschaft bilden sie den „Übergang“ zum Staat und tragen insofern ambivalenten Charakter. In ihrer Gestalt findet gewissermaßen ein „Seitenwechsel“ statt. Das wiederum ist von entscheidender Bedeutung, um Hegels Einstellung zum modernen Parlamentarismus zu verstehen, dessen Schlüsselbegriff bekanntlich „Volk“ ist. Ist das Volk durch „Stände“ ersetzt, kann es auch nur eine Ständevertretung geben. Der Weg führt also von der Auflösung des Volkes zur „ständischen Vertretung“ und zum „Parteienstaat“. Von daher versteht sich, dass Hegels „Ideal … eine Ständeversammlung“ ist; dass er für die landständische und gegen die Repräsentativverfassung plädiert.684 Während Letztere vorgibt, das Volk zu repräsen679 § 542 Enz. 680 Hegel, VPhG, S. 65. 681 § 278/Anm. Rph. 682 Wir werden in den folgenden Kapiteln noch sehen, dass von nun an eine weitere Berufung auf „Volk“ entweder naiv oder demagogisch ist; objektiv steht hinter dem (jetzt noch) beschworenen Volk die Diktatur. 683 Hegel, SdS, S. 85. 684 R. K. Hocevar, Der Anteil Gentz’ und Hegels an der Perhorreszierung der Repräsentativverfassung in Deutschland, in: ARSP 1966, S. 128 u. S. 130.

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tieren, also etwas fiktiv Gewordenes685, zielt die landständische Verfassung auf die Vertretung realer, dem „Volk“ nachfolgender Größen. Der Unterschied ist wichtig. Seine politisch-praktische Bedeutung wird sich zu einer Zeit erweisen, in der das Volk künstlich wiederbelebt und zum Staat mobilisiert werden wird: im Deutschland der Jahre 1933 ff. Repräsentation des Gemeinwesens erst durch das Volk, dann, im Mittelalter, durch den Adel. Schließlich ist es der absolut regierende Monarch, der es repräsentiert und die „letzte Entscheidung“ trifft. Hegel verweist auf die antike Demokratie, wo die Götter angerufen wurden, um diese letzte Entscheidung zu gewinnen. Was damals deren Aufgabe war, ist also jetzt die des Monarchen. Auf die Parallele, die der Marxismus mit der „historischen Mission“ des Proletariats schafft, wurde bereits verwiesen. Oder Platon: Bei ihm sind es die Gelehrten, die dem Wesen nahestehen, die es „erkennen“ und die deshalb regieren sollen. Wenn der Monarch also nichts weiter weiß, das muss er wissen: Ich bin das Bindeglied zum Wesen; ich bin dessen Repräsentant. Das Volk aber? Platon, Hegel, Marx – so unterschiedlich sie denken, hierin sind sie sich einig: Das Volk kann nicht der Souverän sein. Es ist „geistlos“; es ist (deswegen) objektiv dazu nicht befähigt. Da hilft im Fall Hegels auch nicht, den Blick auf die „Landstände“und „Reformbillschrift“ zu werfen, weil er dort das Volk angeblich nicht nur weniger negativ als in der „Rechtsphilosophie“ dargestellt habe, sondern in ihm den „Träger der Revolution“ sehe.686 Gerne wird vergessen, dass Demokratie eine Herrschaftsform ist, die den Ausschluss großer Menschengruppen aus dem Begriff des Menschen zur Bedingung hat. Der Begriff besteht aus zwei Wortteilen: „demos“ und „kratein“. Er besagte in der Antike: Herrschaft der Freien, des damaligen Volkes, über die Sklaven. Übertragen auf die Moderne: Herrschaft des jetzt einzigen „Freien“, 685 Weshalb der moderne Parlamentarismus, wie C. Schmitt schreibt, nur mit der „Methode der Fiktionen und Ignorierungen“ (VL, S. XII [Vorwort]) begründet werden kann. 686 W. R. Beyer, Der Stellenwert der französischen Juli-Revolution von 1830 im Denken Hegels, DZfPh 1971, S. 641 – wobei er deutlich macht (s. S. 633), dass es nicht um das Volk schlechthin geht, sondern um das „organisierte“ Volk. Ähnlich in: Revolutionäre Rechtsphilosophie: Hegel – 1817. Lenin – 1917, in: Ders., Denken und Bedenken. Hegel-Aufsätze, Berlin 1977, S. 115: „All die Vorwürfe, die vielfach gegen Hegel erhoben werden, dies, dass er das Volk, ‚das nicht wisse, was es will‘[,] vernachlässige, zerfallen ins Nichts, wenn man sie den Zitaten aus der ‚Landständeschrift‘ gegenüberstellt.“ Aber er macht sofort eine bezeichnende Einschränkung: Dass sich nämlich die positive Aussage nur auf das erzogene Volk bezieht. Auf ein Volk, dem gesagt worden ist, ‚was es will‘.“ Beyer begreift damit im Grunde das Volk als „Volkheit“, d. h. zusammen mit einer Instanz, die dem Volk die „Einsicht“ voraushat. Er überträgt das „Vorhut“Denken des Marxismus vom Proletariat auf das Volk.

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des absoluten Monarchen, über die „Personen“. Da diese aber bloße „Akzidenzien“ sind, richtet sich diese „Leitung“, diese „Herrschaft“ nicht gegen den Menschen, sondern gegen die Sache. Was sich daraus ergibt: „Demokratie“ als organischer Begriff kann nicht einfach auf die andere Seite verlagert werden. Demokratie und bürgerliche Gesellschaft gehören nicht zusammen. Werden sie trotzdem zu einem Paar gemacht, wird lediglich die „Willkür-Freiheit“ der bürgerlichen Gesellschaft in „Demokratie“ umbenannt. Und wenn man diese „Demokratie“ dann auch noch – wie ja bereits häufig geschehen – auf die „Eine Person“ reduziert, resultiert aus dieser Verkürzung nicht der Monarch Hegels, sondern der Diktator. Selbstverständlich kann auch der Monarch zu einem gewöhnlichen Diktator degenerieren. Aber dann erfüllt er seine Aufgabe nicht und wird als solcher „unwahr“. Umgekehrt mag es Beispiele geben, wo ein aus der bürgerlichen Gesellschaft erwachsener Diktator zugunsten der organischen Natur gegen die Interessen der bürgerlichen Gesellschaft verstößt und aus dieser Sicht heraus „unwahr“ wird. Der Grundsatz wird dadurch nicht berührt. Demokratie ist an den Status „frei“ (im Sinne von: nicht auf das „Arbeiten“ reduziert zu sein) geknüpft. Wenn 2000 Jahre später jedermann Person ist, jedermann Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, Teil des „Produzierten“ ist, entfällt dieser Status. Die Kehrseite der Medaille aber: Jeder ist nunmehr „Person“, niemand ist mehr Mensch – bis auf den Monarchen; er hält die Stellung der „organischen“ Natur. Hegels Staatsbegriff zielt auf den unsichtbaren Kern der Erscheinungen, auf deren „Geist“. Der Staat ist insoweit erkannter und institutionalisierter Geist. Und wer kann ihn erkennen? Das Volk jedenfalls nicht. „Es ist unwahr, dass das Volk weiß[,] was ihm zum Besten dient, noch dies will. … [D]ie tiefste Einsicht ist nötig, um zu wissen was der Mensch, der vernünftige Wille will, eine Einsicht, die nicht im Volke als solche vorhanden ist.“687 Zugebilligt wird diese Einsichtsfähigkeit vielmehr dem Monarchen. Einwand: Kaiser Wilhelm II. als Repräsentant des Wesens, des Sittlichen? Es geht nicht um diesen, als Monarch im Sinne Hegels „unwahr“ gewordenen, Wilhelm. Es geht um das, was er hätte sein sollen. Es geht um die Institution. Es geht um die der organischen Natur verpflichtete Repräsentanz. Klarer Fall: Sie war durch diesen Monarchen schlecht repräsentiert. Aber wer repräsentiert sie jetzt? Wer repräsentierte sie überhaupt? Und wer macht es besser? Also nicht das Volk oder ein Teilvolk (Klasse) ist Träger der Souveränität. Das macht es allen schwer, die das „Völkische“ oder das „Klassenmäßige“ in 687 § 301 RphK (Nachschrift Griesheim).

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Hegels Philosophie entdecken wollen. Das erklärt ihr Misstrauen ihm gegenüber. Für die Demokratie ergibt sich daraus: Sie ist entweder direkt (identitär) – oder sie ist nicht. Eine Verbindung zum Parlamentarismus stellt Hegel nicht her. Letzterer hat mit „bürgerlicher Gesellschaft“ zu tun. Im Parlament sind die unterschiedlichen Klassen- und Gruppeninteressen repräsentiert. Eine „Volksvertretung“ ist es nicht. Hegel nennt „in Betreff auf die Demokratie der Griechen“ „drei Umstände“, die die von ihm behauptete Nichtwiederholbarkeit belegen: a) Demokratie setzt ein Höchstmaß an Homogenität voraus. Der Wille des einzelnen Menschen muss noch der objektive Wille, muss „noch der Geist des Volkes“ sein. Anders herum: „[W]enn das Objekt und Subjekt sich trenn[en]“, wenn der Wille des Einzelnen sich „in ein inneres Gewissen zurückgezogen [hat] und die Trennung eingetreten ist“, wenn die „Besonderheit des Willens“ gegeben ist, „dann ist der demokratischen Verfassung Moment vorüber“688. Die Ablösung der Sittlichkeit bzw. der „Tugend“ durch die Moral beendet damit die Demokratie. Hegel bezieht sich auf Montesquieu: „Bekanntlich gab er als Prinzip der Demokratie die Tugend an“. Weil diese aus der Welt sei, müssten Versuche, „Demokratie“ herzustellen, zwangsläufig misslingen. Zum Beleg führt er „das schöne Schauspiel“ an, das „England im siebzehnten Jahrhundert gegeben habe“. Es zeigte sich den „Anstrengungen, eine Demokratie zu errichten, als unmächtig …, da die Tugend in den Führern gemangelt habe“689. „Mensch“ und „Volk“ verschwinden als Anknüpfungspunkte. Sie werden abgelöst durch „Person“ und „bürgerliche Gesellschaft“. Lässt man den „Monarchen“ außen vor, gäbe es jetzt nur noch jenen Staat, der an „Person“, an „bürgerliche Gesellschaft“ und an „Freiheit“ anknüpft: den „Not- und Verstandesstaat“. Der „sittliche“ Staat wäre, mangels Anknüpfungspunkt, erledigt. b) Die Demokratie steht und fällt mit der Sklaverei. In der griechischen Antike war das für „Demokratie“ erforderliche Maß an Homogenität nur erreichbar, weil eine große Menschengruppe aus dem Begriff des Menschen ausgeschlossen war. Hegel dazu: „Mit dieser griechischen Sittlichkeit, der Demokratie, 688 Hegel, VPhW, S. 358 f. 689 § 273/Anm. – Übrigens ein Punkt, den 90 Jahre später Max Weber aufgreift, wenn er feststellt, dass zunehmend „matter-of-fact-men“ den früher immerhin noch anzutreffenden, sittlich geprägten Politikertyp ablösen (M. Weber, Das Verhältnis der Kartelle zum Staate, in: Ders., Wirtschaft, Staat, Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900–1912 [Gesamtausgabe I/8], Tübingen, S. 273).

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sehen wir … einen zweiten Umstand, die Sklaverei, verbunden und zwar notwendig.“690 Den gleichen Zusammenhang stellt Marx her: „Die Existenz des Staats und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich.“691 Teilhaber an der Demokratie zu sein, war also ein Privileg, war eine „Freiheit“, die auf der Diskriminierung, auf der Unfreiheit anderer fußte; der Sklave ermöglichte den „Freien“ und die Demokratie. Und trotzdem war die Ungleichheit unter den Freien bereits so weit fortgeschritten, dass diese Demokratie ständigen Zerreißproben ausgesetzt war und oft genug durch die Tyrannis ersetzt wurde. Hegel weist darauf hin, dass Platon und viele seiner Zeitgenossen deshalb mit guten Gründen auf die „Verdorbenheit der Demokratie und die Mangelhaftigkeit selbst ihres Prinzips“ verwiesen. Sie im Rahmen der Französischen Revolution herzustellen, scheiterte bekanntlich an der fehlenden Homogenität. Rousseau, so Marx, sah „in der großen Armut und in dem großen Reichtum nur ein Hindernis der reinen Demokratie“692. Die Jakobinerherrschaft war der Versuch, dieses „Hindernis“ mit Terror aus der Welt zu schaffen – der Ausgang ist bekannt. c) Die Größe des Staates. Hegel stellt heraus, „dass die demokratische Verfassung nur in Staaten von kleinem Umfang statthaben kann; … ein demokratischer Staat kann sich nicht weit ausbreiten“. Soll Demokratie nicht etwas „ganz [T]otes, [U]nlebendiges“ sein, muss gewährleistet sein, dass das „Bild der Interessen … lebendig an“ die Bürger kommt. „Dies kann nur in kleineren Staaten der Fall sein.“693 Schließlich weist er darauf hin, dass auch damals, als Demokratie noch möglich war, für die „letzte Entscheidung“ gewöhnlich eine jenseitige Instanz, die zuständige Gottheit, angerufen wurde. Das „Ich will“ wurde „aus ganz äußeren Erscheinungen genommen …, aus den Orakeln, aus den Eingeweiden der Opfertiere, aus dem Flug der Vögel pp“. Das Orakel ersetzt also, was das Volk auch damals nicht leisten konnte; es ist so notwendige Bedingung der griechischen Demokratie.694 Diese ist deshalb unentwickelt und macht später Staatsformen Platz, wo dieses „Ich will“ vom Orakel auf irdische Instanzen verlagert wird: Aristokratie, Monarchie. Da dieses „Ich will … in den moder690 Hegel, VphW, S. 362. 691 MEW 1, S 402. 692 Ebd.; Marx, GR, S. 156: Das „Gemeinwesen beruht auf dieser als existierender Unterlage“. 693 Hegel, VPhW, S. 363. W. Hasbach (Die moderne Demokratie [2. Aufl.], Jena 1921) erwähnt in diesem Zusammenhang die Kantone der Schweiz. 694 Hegel, VRph 4, S. 676 (Nachschrift Griesheim).

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nen Staaten nicht mehr in die Natur verlegt [ist], sondern in den Menschen, so kommt es einer besonderen Person zu“695. Auch hier wieder der Gedanke, dass die Monarchie lediglich eine höhere Stufe der Demokratie ist. Den logischen Endpunkt der Demokratie sieht Hegel jedenfalls im absolut regierenden Monarchen. In ihm spitzt sich die Demokratie zu; hier ist der „End“- bzw. Umschlagpunkt. Der absolute Monarch ist der letzte „Freie“; er bleibt übrig vom „Stand der Freien“.696 Demokratie ist der Staat in den „Kinderschuhen“. Die Antike kennt sie noch – aber schon nicht mehr durchgängig und nicht überall. Und jähe Umschläge in die Tyrannis sind durchaus inbegriffen. Rom endet in einem Kaisertum, das sich aus der Demokratie entwickelt und gewissermaßen ihre letzte Stufe ist. Ihm folgt logisch, nicht auch historisch, eine Staatsform nach, die schon das vereinigt, was in „Rom“ noch nicht vereinbar war: „organische“ und „unorganische“ Natur: die „konstitutionelle Monarchie“. Der junge Marx hatte zumindest ein Gespür für diesen Zusammenhang, wie seine Ausführungen im Zusammenhang seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ zeigen.697

III.5 Näher betrachtet: Hegels dualistische Staatskonstruktion III.5.1 Die konstitutionelle Staatsform Das „Gemeinwesen“ ist Tausende Jahre die Lebensform der Völker – und zwar in der genannten historischen Reihenfolge der Staatsformen. Dann das: Die in seinem Schoße gereifte „produzierte“ Natur beendet ihr apokryphes Dasein; sie wird als „bürgerliche Gesellschaft“ geboren. Alles verdoppelt sich: die Natur, der Mensch, die Familie, das Gemeinwesen selbst. Die Polarisierung „Staat“ und „Gesellschaft“ tritt in die Welt. Was bisher eine Einheit bildete, steht sich jetzt, im Absolutismus, antagonistisch, mithin unvermittelt gegenüber. Ein Kampf um die Vorherrschaft entbrennt. Auf dem Kontinent entscheidet zunächst der Monarch den Kampf für sich. In Frankreich dann die Umkehrung: Der absolute Monarch wird vom Thron gefegt. 695 Ebd. 696 Vgl. dazu: Hegel, NR, S. 489 f. 697 MEW 1, S. 315 f. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf das römische Privatrecht, das in der Kaiserzeit seine höchste Blüte erreicht und die seiner Rezeption in einer Zeit mit der vergleichbaren Herrschaftsform des Absolutismus.

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Anderthalb Jahrzehnte gelangt das andere Extrem zur Herrschaft. Dann erst der Sieg der Vernunft. Was aus ihm hervorgeht, was nun „erkannt“ ist, heißt „konstitutionelle Monarchie“. Der Monarch kehrt zurück; jedoch als „Verfassungsmonarch“. Ein grundlegender Wandel ist eingeleitet. Er beruht nicht auf der bloßen „Umkehrung“, sondern schafft eine Dauerlösung, die beide Naturen auf neue Weise unter einen Hut bringt. „Konstitutionalismus“ ist ein Zentralbegriff des Wiener Kongresses. Er findet Aufnahme in dessen Schlussakte von 1820, die in ihrem Art. 57 den Nachfolgestaaten des untergegangenen Reiches auferlegt, konstitutionelle Monarchien einzurichten. Eine Kompromissgestalt. Nicht wenige sehen darin nur die Quersumme aus „Volks-“ und „Fürstensouveränität“ bei Übergewicht des Monarchen. Für viele ist sie ein fauler Kompromiss – nur dazu da, den unvermeidlichen Übergang zum Parlamentarismus zu verzögern. Die Revolution ist damit nachhaltig korrigiert. Ströme von Blut scheinen umsonst geflossen zu sein, als sie in der Wiederherstellung des Königtums und in der Charte Constitutionelle von 1814 ausklingt. Aber wenn sie auch überwiegend als Rückschritt empfunden wird: Die jetzige Monarchie führt nicht in die Zeit vor 1789 zurück. Sie eröffnet in Deutschland ein neues Zeitalter – auch wenn das der eine oder andere Monarch nur schwer akzeptieren kann. Sie bestätigt die bürgerliche Gesellschaft. Sie korrigiert allerdings deren Anspruch auf Alleinherrschaft. Für Hegel ist der Konstitutionalismus die dritte Größe außerhalb und oberhalb der Naturen; er ist erkannter und in die Praxis überführter „objektiver Geist“. Die einfache Negation, die sich in der Herrschaft des absolut regierenden Monarchen wie in einer Herrschaft à la Jakobiner ausdrückt, ist damit gerade gerückt durch eine „Negation der Negation“. In der konstitutionellen Monarchie finden beide Naturen Aufnahme; sie werden darin ins Verhältnis gesetzt und von ihr repräsentiert. Das ist der Grund, warum Hegel, von vielen unverstanden, nicht zu ihren Kritikern gehört. Im Gegenteil, er bringt sie philosophisch auf den Begriff – wie er zu genau derselben Zeit auch die bürgerliche Gesellschaft auf den Begriff bringt. Schon richtig: Hegels Staatsauffassung steht quer zur Konzeption des jüngeren Naturrechts.698 Letztere unterstellt den Staat dem Oberbefehl der Gesellschaft und wird später, besonders unter dem Einfluss der US-amerikanischen Entwicklung, ganz im Zeichen der Begriffe „Volk“ und „Demokratie“ stehen. 698 Aus der insoweit gemeinsamen Sicht des Liberalismus und Marxismus bedeutet sie einen Rückfall „hinter die Intention der Aufklärung“ ( J. Habermas, Nachwort, a. a. O., S. 366); s. auch: H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle Monarchie, a. a. O., S. 175.

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Hegel und sein Staat hingegen werden immer mehr ins Abseits gedrängt. Wer philosophisch und praktisch die bürgerliche Gesellschaft favorisiert, wer sie als die alleinige Natur ansieht, sieht bei ihm nur die „Indolenz des alten Hegel“.699 Was bei ihm hochmodern ist, was der moderne Staat ist, bringt ihm aus dieser Sicht den Ruf eines Reaktionärs ein. Hegel beharrt darauf: Der Staat, will er jetzt seinem Begriff entsprechen, muss „konstitutioneller Staat“ sein. Der Konstitutionalismus ist zentral an das „Schicksal“ geknüpft, mit dem der Mensch geschlagen ist; er ist das Instrument, es zu meistern. Er ist „die Verfassung der entwickelten Vernunft“, der gegenüber „alle anderen Verfassungen … niedrigern Stufen der Entwicklung und Realisierung der Vernunft“ angehören.700 Er beruht auf einem echten, auf Dauer angelegten Kompromiss. Er ist nicht die „hinaus geschobene Entscheidung“, die C. Schmitt in ihm sieht.701 Das Wort „Monarchie“ täuscht im Übrigen: Der Monarch ist jetzt nicht mehr der Souverän. Staat und Monarch sind getrennt; die Souveränität liegt jetzt beim Staat.702 Der moderne Staat ist von daher nicht mehr monarchisch – so wie er auch nicht mehr aristokratisch oder demokratisch sein kann. Der Monarch ist also herabgestuft; er ist jetzt nicht mehr der Staat, sondern nur noch ein Moment desselben; er ist jetzt vor allem Repräsentant des „Naturprinzips“. Auf der anderen Seite steht ihm die ständische Vertretung als Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber. Unter dem Dach „konstitutionelle Monarchie“ sind die politischen Vertretungen der beiden Naturen vereint. Die „Rechtsphilosophie“ handelt also:

•• in den §§ 182–256 vom „Not- und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesell-

schaft, den „man häufig für den Staat angesehen“ hat703; •• vom Monarchen, der jetzt herabgestuft ist zum bloßen Repräsentanten der „organischen“ Natur; •• vom „sittlichen“ und jetzt „eigentlichen“ Staat, der beide Naturen überspannt und von dem Hegel sagt: „Aber der Staat ist erst das Dritte, die Sittlichkeit und der Geist, in welchem die ungeheure Vereinigung der Selbständigkeit der Individualität und der allgemeinen Substantialität stattfindet.“704 Dieses 699 J. Habermas, Nachwort, a. a. O., S. 365; für ihn ein Hegel, der jetzt „unterhalb des Niveaus der Weltgeschichte“ steht (ebd., S. 364). 700 § 542 Enz. 701 C. Schmitt, VL, S. 53 f. 702 § 278 Rph; dazu die Ausführungen bei F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 414 ff. 703 §§ 33/Zus., 183 Rph (Hervorhebung von mir). 704 § 33/Zus. Rph.

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„Dritte“ ist also der Schlüssel zur konstitutionellen Monarchie bzw. zum Konstitut. Zwei „Staaten“, die jeweils für sich nicht „ganzer“ Staat sein können, sondern nur „Gewalten“ eines dritten, jetzt übergreifenden Staates. Das ist bedeutsam. Mit „Gewaltenteilung“ ist diese Eigenart jedenfalls nur unpassend/unvollständig erfasst. Eher dies: eine „doppelte Organisation“705, die zwei scharf getrennte, inkompatible (Teil-)Staaten in einem (dritten) Staat verpackt bzw. verklammert. Sie ist als solche aber keineswegs jenes „Zwitterding“, das Marx vom Boden seines „nur gesellschaftlichen“ Ansatzes in ihr sieht und kritisiert. Durchaus richtig ist aber, wenn er hierin eine „bürokratische Lösung“ sieht. Deren negative Bewertung ist jedoch nicht angebracht. Man sollte sehen, dass mit ihr ein Antagonismus vermittelt wird. Das macht diesen „Bürokratismus“ unvermeidbar und stellt ihn in ein anderes Licht.706 Da die „organische“ Natur die primäre, die übergreifende, mithin: die wichtigere Natur ist, lässt Hegel keinen Zweifel daran, dass dem Monarchen im Rahmen dieser konstitutionellen Monarchie eine herausgehobene Position zukommt. Sie zeigt sich in einem Mehr an Rechten. In Geschäftsdeutsch: Die „organische“ Natur hält an diesem gemeinsamen Staat die Mehrheit der Aktien, mindestens also 51 Prozent. Wobei es bei einer „vollendeten Organisation“ der konstitutionellen Monarchie so ist, dass der Monarch sich weit zurücknehmen und sich darauf beschränken kann, „den Punkt auf das I“707 zu setzen. Eine „schwierige Kreuzung der Gedanken“, wie F. Rosenzweig708 meint. Sie steht der Akzeptanz dieser Konstruktion entgegen. Für Hegel aber ist sie die logische Konsequenz seiner Dialektik der Naturen. Und daher ist seine „konstitutionelle Monarchie“ auch nicht nur für Deutschland konzipiert, sondern als die Staatsform der Moderne. Hegel hat also keinen deutschen „Sonderweg“ im Auge! Das deckt sich mit jüngsten Erkenntnissen, die aufzeigen, dass der Konstitutionalismus den „verfassungshistorischen ‚Normalfall‘“709 verkörpert, dass er als „eine eigenständige, nicht den Über- und 705 MEW 1, S. 281. 706 Vgl. dazu seine Ausführungen ebd., S. 250 f. Er sieht hierin nur eine „Scheinlösung“; hergestellt werde über sie nur eine „bürokratische Identität“. S. dazu auch die Darstellung bei U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., S. 69 ff. 707 § 280/Zus. Rph. 708 L. Siep, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 413. 709 Unter Bezug auf M. Kirsch (Monarch und Parlament …, a. a. O.): H.-Chr. Kraus, Monarchischer Konstitutionalismus, in: Der Staat 43 (2004), S. 599 (mit der Einschränkung: Europa 19. Jahrhundert).

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damit auch den Untergang in sich tragende Form“ anzusehen ist.710 Sie hält in Deutschland immerhin bis 1918 vor und gibt eine Zeit ab, in der – laut Kirsch – „das dualistische Zusammenspiel von Monarch und Parlament im Legislativbereich“ hervorragend funktionierte.711 Man sollte auch sehen, dass Deutschland die schlimmsten Auswüchse der bürgerlichen Gesellschaft gerade in dieser Zeit erspart blieben und es die Reste dieses Dualismus waren, die die Basis für eine damals weltweit beispielhafte Sozialgesetzgebung abgaben. Aber noch wesentlicher scheint mir zu sein, dass auch die Abdankung des Kaisers, allgemeiner: die Abschaffung der Monarchie diesen Staatstyp keineswegs erledigt. Er bleibt vielmehr weiterhin aktuell, bis in die Gegenwart hinein, weil er nicht an die Monarchie gebunden ist, sondern an das hinter ihr Stehende, Allgemeinere und Fortdauernde: an den Dualismus der „Naturen“. Versuchen wir eine Zusammenfassung: Die „konstitutionelle Monarchie“ ist keineswegs eine spezifisch deutsche „Not-“ oder gar „Missgeburt“ – geschuldet der Unfähigkeit des deutschen Bürgertums, „klare Verhältnisse“ zu schaffen. Sie steht vielmehr in notwendigem Zusammenhang mit dem Dualismus, der mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft aufkommt. Mit E. Gans und M. Riedel formuliert: Sie ist der politische Ausdruck der „aus der Revolution ‚rückkehrenden‘ Epoche“712. Sie ist als Staatsform durch die Revolution „bestätigt“. Hegel bringt sie zusammen mit der bürgerlichen Gesellschaft auf den Begriff. Konstitutionalismus bedeutet:

•• Der moderne Staat muss Staat beider Naturen sein, wobei der „organischen“ Natur der Primat zukommt.

•• „Konstitut“ bezieht sich nicht bloß darauf, eine Verfassung zu haben (die ist, wie Hegel sagt, ohnehin vorhanden), sondern es geht um eine Verfassung, die den Antagonismus der beiden Naturen überbrückt. Mit ihm wird ein Staat „organisiert“, dessen Handeln den Interessen beider Naturen gerecht wird. •• Im Konstitutionalismus ist nicht auch der Monarch vorgegeben; dieser ist vielmehr durch eine vergleichbare Größe/Instanz substituierbar, die als Repräsentant der objektiven Interessen der „organischen“ Natur infrage kommt.

710 M. Kirsch, Monarch und Parlament …, a. a. O., S. 410. 711 Zitiert bei H.-Chr. Kraus, Monarchischer Konstitutionalismus, a. a. O., S. 617. 712 M. Riedel, Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ und das Problem ihres geschichtlichen Ursprungs, in: ARSP 1962, S. 560.

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III.5.2 „Doppelte Organisation“ versus Gewaltenteilung (am Beispiel der Legislative) Zwei sich antagonistisch gegenüberstehende Naturen, die, für sich betrachtet, je einen Staat ausbilden. Und jeder von ihnen wird Ausgangspunkt philosophischjuristischer Betrachtung, wird von den Anhängern Rousseaus einerseits und jenen Hallers andererseits zum alleinigen Staat erhoben. Im Gegensatz dazu führt Hegel beide Naturen in einer „Synthese der Entgegengesetzten“713 zusammen. Zur Gestalt geworden, trägt sie den Namen „konstitutionelle Monarchie“. Die beiden „Einzelstaaten“ sind darin nicht vernichtet, sondern zu „Momenten“ herabgestuft. Was das heißt, wird an der Figur des „Monarchen“ deutlich. Er, der vordem absolut regierte, findet sich in einer Doppelrolle wieder. Zum einen ist er als „herabgestufter“ absoluter Herrscher innerhalb dieser neuen Einheit der Repräsentant des „Naturprinzips“. Zum anderen wird er formelles Staatsoberhaupt und repräsentiert als solches das neue Ganze. Er ist jetzt „Verfassungs-Monarch“714 in diesem doppelten Sinne. Auf der anderen Seite wird jener Staat, den die Revolution zum „ganzen“ Staat erhebt, zur Repräsentanz der „produzierten“ Natur herabgestuft. Eine „doppelte Organisation“. Sie ist notwendig, weil der Antagonismus eine einheitliche Repräsentanz beider Naturen ausschließt. Nur jene Natur unterstellt, die als bürgerliche Gesellschaft Gestalt annimmt, ergibt das einen Staat, in dem die Legislative identisch ist mit unserem heutigen Parlament. Dieses gibt den politischen Ton an und steht an der Spitze. In Gesellschaften, in denen es noch einen Monarchen gibt, etwa in England, ist dieser an den Rand gedrängt; er ist dort keine selbstständige „Gewalt“ mehr, sondern bloßer „i-Punkt-Setzer“. Streicht man also aus der „doppelten Organisation“ eine Ebene, die der „organischen“ Natur, heraus, wird ihr um den „Monarchen“ zentrierter Teil zum Fremdkörper bzw. zum „logischen Fehler“, der der Auflösung des Dualismus im Wege steht. Die „produzierte“ Natur und ihre Gestalt, die bürgerliche Gesellschaft, sind „mechanistisch“ geprägt. Hegels sittlicher Staat aber, dieses über den „objektiven Geist“ fortgesetzte „Gemeinwesen“, ist „Organismus“.715 Wer das nicht beachtet, dem bleibt die ganze Konstruktion unverständlich. Nehmen wir Marx. „Aber eben diese organische Einheit ist es, die Hegel nicht konstruiert hat“, schreibt er. „Die verschiedenen Gewalten haben ein verschiedenes Prinzip. Sie sind dabei 713 B. Bourgeois, Der Begriff des Staates, in: L. Siep (Hg.), Klassiker auslegen …, a. a. O., S. 218. 714 H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle Monarchie, a. a. O., S. 175. 715 S. bes. § 269/Zus.

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feste Wirklichkeit.“716 Er akzeptiert nicht, dass Hegel diese „Einheit“ gerade deshalb nicht auf alte Weise herstellt, weil der Antagonismus entgegensteht. Sie zu wollen, würde also nur – wie Marx selbst formuliert – „zur Identität zweier feindlicher Heere“ führen.717 Es würde, anders gesagt, auf ein Entweder-Oder hinauslaufen: zur Identifizierung des Staates mit der einen oder der anderen Natur. Die Folge: eine „klein-deutsche“ Lösung! Welche Konsequenzen sich aus ihr ergeben, wird noch zu zeigen sein.718 Kennzeichen der „doppelten Organisation“ ist eine zweigeteilte Legislative, deren Teile je eine Natur repräsentiert. § 312 Rph zeigt das Bild einer aus zwei Kammern bestehenden Legislative. Eine Kammer ist um den Monarchen gruppiert. Die andere ist Vertretung der Stände. Die gemeinschaftliche Ausübung der gesetzgebenden Gewalt ist also ein Grundzug der konstitutionellen Monarchie.719 In dieser Konstruktion den „Beweis für Hegels liberale Einstellung“ zu sehen, wird zu Recht angezweifelt.720 Denn sie folgt anderen Grundsätzen als die äußerlich ähnliche Zweiteilung, wie wir sie zum Beispiel in den USA vorfinden. Dort folgt die Aufteilung in Senat und Repräsentantenhaus der bundesstaatlichen Gliederung, ist von daher eine Aufteilung auf horizontaler Ebene und – was wichtig ist – sie bezieht sich nur auf den „Not- und Verstandesstaat“.721 Anders Hegel: Sein Ausgangspunkt ist der Antagonismus der Naturen und die daraus folgende jederzeitige „Möglichkeit feindlicher Entgegensetzung“ von „fürstlich-monarchischem“ und „ständischem“ Prinzip.722 Hieraus ergibt sich bereits die prinzipielle Gliederung der Legislative in

•• den „legislativen“ Monarchen und •• eine ständische Vertretung. 716 MEW 1, S. 261 (Hervorhebung bei Marx). 717 Ebd., S. 253 (Hervorhebung bei Marx). 718 Ich denke, dass es die beschriebene „doppelte Organisation“ ist, die es erschwert bzw. ausschließt, Hegels Staat anhand seiner Lehre vom „Schluss“ adäquat darzustellen. Denn diese bezieht sich auf den Begriff und auf dessen „Inneres“; die Momente desselben werden in ihrer unterschiedlichen Funktion und Stellung innerhalb des Begriffs gezeigt. Hier aber geht es um die Begriffe „organische“ und „produzierte“ Natur und ihr Verhältnis zueinander – dies als Anmerkung zu K. Viewegs (Das Denken der Freiheit, a. a. O.) Versuch, den hegelschen Staat anhand der „Schlusslehre“ zu ergründen. 719 S. dazu die kritische Auseinandersetzung bei P. G. Hoffmann, Monarchisches Prinzip und Ministerverantwortlichkeit, Jena 1911, S. 23. 720 Zum Beispiel von R. K. Hocevar, Der Anteil …, a. a. O., S. 203. 721 Darauf weist bereits F. Tönnies (Demokratie und Parlamentarismus, a. a. O., S. 170 ff.) hin. 722 § 304 Rph.

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Wenn bei Hegel ein Modell à la USA anklingt, dann nur dort, wo es ihm um die Binnendifferenzierung der ständischen Vertretung unter Gesichtspunkten geht, die er in den §§ 305 und 308 anspricht: „Nähe“ oder „Ferne“ der einzelnen Stände zur „natürlichen Sittlichkeit“. So wird dem Stand der Grundbesitzer ein Sonderstatus eingeräumt723, weil er der „organischen“ Natur noch am nächsten steht. Stabilisierende Größe: das „mit dem Majorate“ belastete bzw. durch es geschützte „Erbgut“ und der darauf gestützte Stand, dem eine „feste, substanzielle Stellung zwischen der subjektiven Willkür oder Zufälligkeit der … Extreme“ zukommt.724 Und auch die besonders dynamischen und „naturfeindlichen“ Kräfte bzw. Stände der bürgerlichen Gesellschaft, ihre „bewegliche Seite“, erhalten innerhalb der ständischen Vertretung „eine konstituierte, eigentümliche Garantie“.725 Zum Bild der „doppelten Organisation“ gehören „Polizei“ und „Korporationen“ als jene Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft, die in England – zusammen mit der Judikative – das „Selfgovernment“ ausmachen. Sie werden von ihm dargestellt als „Übergänge“ der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat, als Zwittergestalten. Für H. Boldt (und nicht nur für ihn!) eine „merkwürdige Aufteilung“, aus der sich „merkwürdige Konsequenzen“ ergeben.726 Zwei Teilstaaten. Zusammengeführt werden sie in einem „Verfassungs-Monarchen“, der nicht (mehr) der Staat ist, aber als „Repräsentant des Naturmoments“ 727 (weiterhin) dessen zentrale „Figur“. Hinzu kommt, dass er formale Spitze des Staates, dass er Staatsoberhaupt ist. Diese Doppelstellung charakterisiert ihn und erklärt, warum er als der „schwerste Begriff für das Räsonnement“ vorgestellt wird (§ 279 Rph) und warum Hegel die „fürstliche Gewalt“ einmal (§ 275 Rph) als erste, einmal (§ 273 Rph) als letzte Größe in seiner Trias aufführt. Ein ganz anderes Schema. Ein ganz anderer Aufbau. Eine ganz andere Gewichtung. Und deshalb ein äußerst heikler Punkt. Feinfühlig geht L. Siep mit ihm um. Er zeigt, dass dieses „andere“, dieses Kontrastprogramm zum liberalen Weltbild, „offenbar auf der naturphilosophischen Herkunft des Organismusbegriffs und 723 Der so weit geht, dass er „das fürstliche Element in sich schließt“ (§ 305 Rph). 724 § 307 Rph. 725 Mir scheint in dieser Binnengliederung der ständischen Vertretung bereits das heutige Gliederungsprinzip der Parlamente, betrachtet vom Tatsächlichen her, antizipiert zu sein. Die Parteien beherrschen das Parlament und prägen den Parlamentarismus, nicht das Volk. Und hinter den Parteien stehen „Stände“ – in heutiger Sprache: „Klassen“, „Gruppen“, in Verbänden organisierte Sonderinteressen. 726 H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle Monarchie, a. a. O., S. 178 f. 727 MEW 1, S. 252.

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auf der Konzeption der Vermittlung von Natur und Geist im objektiven Geist bzw. im individualisierten Staat“ beruht.728 Hegel war sich dessen selbstverständlich bewusst; er weiß, dass er sich damit gegen die „gangbare Vorstellung“ wendet729, ja diese geradezu auf den Kopf stellt. Damit ist gezeigt, dass Hegel unter „Gewaltenteilung“ etwas grundsätzlich anderes versteht als Montesquieu oder gar wir Heutigen. Mit Blick auf England ist sie von Montesquieu eindeutig als ein Instrument entwickelt, die Macht des absolut regierenden Monarchen zugunsten der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft zu verkleinern, wenn nicht zu brechen. Konsequent durchgeführt, steht am Ende der auf die reine Repräsentativfunktion herabgestufte Monarch.730 Will man den Begriff überhaupt gebrauchen, ist zu beachten, dass Hegels Auffassung „quer zur staatsphilosophischen Tradition“ steht731 und aus liberaler Sicht nicht nur „merkwürdig“, nicht nur „bedenklich“, sondern unannehmbar ist. Nicht, dass Hegel sie völlig ablehnen würde. Aber er macht ihre Grenzen sichtbar.732 Der Staat ist „Organismus“. Und in dessen Natur liegt, „dass, wenn nicht alle Teile zur Identität übergehen, wenn sich einer als selbständig setzt, alle zugrunde gehen müssen“733. Also nicht der Organismus richtet sich nach der Gewaltenteilung, sondern die Gewaltenteilung richtet sich nach ihm. Wie es U. Thiele sieht: Hegel plädiert „für die organische Gewaltenteilungsart“, die sich dem „landläufigen, mehr oder minder … mechanistischen Denken“ entzieht.734 Der bedeutsame Unterschied ist der: „Aus dem Prinzip der organischen Totalität ergibt sich, dass jede besondere Gewalt nicht nur äußerlich von den anderen geschieden wird, sondern dass jede Gewalt die übrigen in sich wirksam hat und zwar so, dass einerseits die intervenierenden Staatsfunktionen ihren allgemeinen Zweck auch in der fremden Gewalt realisieren, dass aber andererseits die Art, wie sie das tun, von der speziellen Funktion der Gewalt abhängt, in deren Tätigkeit sie eingreifen.“735 Kurz gesagt: Erst das Wissen um die „organismische“ Struktur 728 L. Siep, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 418. 729 § 303 Rph. 730 Oder, im Falle der „Demokratie“, ein Volk, das in modernen Verfassungen vorneweggetragen wird, tatsächlich aber entmachtet ist. 731 L. Siep, Praktische Philosophie …, a. a. O., S. 241. 732 Zum Beispiel in § 300/Zus. Rph mit folgender Aussage: „Die Vorstellung von der sogenannten Unabhängigkeit der Gewalten hat den Grundirrtum in sich, dass die unabhängigen Gewalten dennoch einander beschränken sollen. Aber durch diese Unabhängigkeit wird die Einheit des Staates aufgehoben, die vor allem zu verlangen ist.“ 733 Ebd. 734 U. Thiele, Gewaltenteilung bei Sieyes und Hegel, in: HS 37 (2002), S. 148 f. 735 Ebd., S. 151 (Hervorhebung bei Thiele).

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enthüllt den „wahren Sinn“736 der Gewaltenteilung. Es verfälscht also Hegels Anliegen, wenn seine Trias unter der liberalen Lesart verbucht wird. Anders als diese, auf die Belange des „Not- und Verstandesstaates“ zugeschnittene Lehre ist die hegelsche „Trias“ (des § 273 Rph) am „sittlichen“ Staat orientiert. Sie ist also von qualitativ anderer Art und kann, laut Siep, „nur mit größter Vorsicht“737 unter Gewaltenteilung subsumiert werden. Wer sie auf Hegels Staat überträgt, ohne diesen Fakt im Auge zu behalten, gerät schnell auf falsche Gleise. Da es aber nicht nur diesen Staat gibt, ergeben sich bedeutsame Unterschiede und Einschränkungen. Sie zeigen sich bereits im Fehlen der Judikative. Grund hierfür ist, dass das Recht als Produkt der „produzierten“ Natur mit deren jeweils konkreten Gestalt, jetzt: der „bürgerlichen Gesellschaft“, verbunden ist. Die „Rechtspflege“ gehört also zu den Aufgaben, die „unmittelbar auf das Besondere der bürgerlichen Gesellschaft Beziehung“ haben und von daher Teil ihrer Selbstverwaltung sein müssen.738 Hegel handelt sie deshalb dort ab, sogar an herausragender Stelle, noch vor „Polizei“ und „Korporationen“. Wird das nicht beachtet, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Dann wird das Fehlen der Judikative in seiner Trias nicht selten zum Gegenstand der Kritik.739 Die Gewaltenteilung steht bei Hegel also im Schatten des „Organismus“. Während Montesquieu darauf abzielt, die monarchische „Einheitsgewalt“ zu parzellieren und den Monarchen insgesamt einer von der bürgerlichen Gesellschaft beherrschten Legislative unterzuordnen, dient das, was Hegel unter Gewaltenteilung versteht, dem Zweck, den Kompromiss zu exekutieren, der dem Konstitutionalismus zugrunde liegt. Verschiebungen dieses Gefüges – wir kommen in den Kapiteln IV und V auf solche zu sprechen – machen diesen Staatstyp „unwahr“. Die bedeutsamste, das 20. und 21. Jahrhundert prägende Verschiebung ist jene zur Alleinherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Die Weimarer Republik wird als ein Beispiel derart deformierter Staatlichkeit vorgestellt werden. Aber auch das nationalsozialistische „Dritte Reich“ sowie die Staaten des „realen Sozialismus“ sind besonders geartete Beispiele hierfür. In letzteren Systemen wird der Schwerpunkt nicht schlechthin zur bürgerlichen Gesellschaft verschoben, sondern das ihr innewohnende Moment der „Produktion“ 736 § 272/Anm. Rph. 737 L. Siep, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 387. 738 §§ 287, 288 Rph. 739 S. z. B. A. A. Piontkowski, Hegels Lehre von Staat und Recht und seine Strafrechtstheorie, Berlin 1960, S. 295: „Die Ausübung der Rechtsprechung ist von Hegel, wenn auch zum Schaden der Folgerichtigkeit seiner Darlegungen, nicht im Abschnitt vom Staat, sondern in dem Abschnitt von der bürgerlichen Gesellschaft behandelt worden.“

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wird, verbrämt bzw. ideologisiert durch eine behauptete „Vergemeinschaftung“, in den Vordergrund gerückt. Das zieht die Umbildung des „Not- und Verstandesstaates“ zum „Betriebsstaat“ nach sich.740

III.5.3 Vermittlung und Mitte: Die Regierung Sucht man nach einem Bild, das die organisatorisch-institutionelle Gestalt der konstitutionellen Monarchie zeigt, käme das nachstehende infrage: eine aufrecht stehende Ellipse, die „oben“ in der „organischen“, „unten“ in der „unorganischen“ Natur verankert ist. Ihr oberer Teil „beherbergt“ den Monarchen. Im unteren Teil findet die „ständische Vertretung“ Platz. Der bauchige Teil, der größte Raum also, ist der „Regierung“ vorbehalten. Die Zweiteilung in Staat und Gesellschaft weicht auf dieser Ebene einer Dreiteilung:

•• fürstliche Gewalt; •• Regierung; •• ständische Vertretung. Zwei Naturen = zwei Interessenlager. – Und nur eine Ebene, eine Instanz, auf der und über die das „Organische“ und das „Unorganische“, das „Feste“ und das „Bewegte“ vermittelt werden. Wer kann diese Aufgabe erfüllen? Wer ist in der Lage, den Interessenantagonismus zu vermitteln? Hegels Antwort: die „Regierung“.741 Sie ist die „Mitte“. Gebildet ist sie aus Elementen der einen wie der anderen Natur. Zum Beispiel „Polizei“ und „Korporationen“: Sie wer740 C. Schmitt macht sich, und zwar unter betonter Bezugnahme auf Hegel, zu seinem Theoretiker. (Auch der „reale Sozialismus“ ist ein Anwendungsfall des „Betriebsstaates“.) Die Größen der hegelschen Trias werden ausgetauscht: der Monarch gegen die (einzige) Partei und deren Führer/Führung; die bürgerliche Gesellschaft gegen ein imaginäres „Volk“ bzw.  – im „realen Sozialismus“  – eine nicht weniger imaginäre Arbeiterklasse. Bleibende Größe ist jeweils der Staat, verstanden jedoch weniger als „Regierung“ denn als Exekutivorgan. Unabhängig davon ist es von C. Schmitt aber richtig erkannt, wenn er diese „Dreigliedrigkeit“ alter wie neuer Art wie folgt beschreibt und einordnet: „Sie unterscheidet sich von dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen liberal-demokratischen Staatsschema von Grund auf, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Voraussetzungen und ihrer allgemeinen Grundsätze, sondern in allen wesentlichen Konstruktions- und Organisationslinien des konkreten staatlichen Aufbaues. Jeder wesentliche Begriff und jede bedeutungsvolle Einrichtung wird von dieser Verschiedenheit betroffen.“ (SBV, S. 11 f.) 741 Hegel, SdS, S. 62 ff.

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den abgehandelt sowohl in der „bürgerlichen Gesellschaft“ als auch unter „Staat“ – ganz entsprechend ihrer Doppelgestalt. Sie stellen den „Übergang“ dar; den Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat – Hegel sagt dazu: „Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine“742 –, wie man – von der anderen Seite her – von „Einwurzelung“ des Sittlich-Allgemeinen in das Besondere743 sprechen kann. Hegel selbst bezeichnet Letzteres als „Rückkehr des Sittlichen als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft“.744 Die Regierung exekutiert also den Kompromiss, der zugrunde liegt. Sie und ihre relative Selbstständigkeit gegenüber den beiden anderen Größen ist das herausragend Neue. Sie ist sowohl der einen wie der anderen Seite verantwortlich. Bezogen auf die Situation im Deutschen Kaiserreich: Diese doppelte Verantwortlichkeit barg eine „doppelte politische Selbständigkeit“ in sich, „indem vor dem Kaiser die Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichstag, vor dem Reichstag die Verantwortlichkeit gegenüber dem Kaiser geltend gemacht werden konnte“.745 Das macht die „Regierung“ zum zentralen Teil dieses Staatstyps. In ihr wird die „Vermittlung“ bewerkstelligt, d. h. praktische Politik betrieben. Ein mühsames Geschäft. Es ist leichter, nur für die eine oder die andere Seite zu regieren – was Versuche erklärt, die konstitutionelle Monarchie nach der einen oder anderen Seite zu verschieben. Die Vermittlungsarbeit der Regierung verbindet sich mit einem tief gestaffelten bürokratischen Apparat, dessen „lebendige“ Teile die auf die Regierung bzw. auf den Staat verpflichteten Beamten sind – ein Bild, das beim jungen Marx Anstoß erregt.746 Um „vermitteln, um „regieren“ zu können, muss sie gegen beide Seiten relativ verselbstständigt sein, muss sie mehr sein als nur die „Exekutive“ der einen oder anderen Natur.747 In Hegels Diktion: Die Regierung muss „sich als Weisheit der Verfassung darstellen“.748 Als solche vereinigt

742 § 289 Anm. Rph. 743 Aus „gesellschaftlicher” Sicht dazu kritisch Marx (MEW 1, S. 252): „Der ‚Staat‘ wird als ein dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft Fremdes und Jenseitiges von Deputierten dieses Wesens gegen die bürgerliche Gesellschaft geltend gemacht“. 744 § 249 Rph; R. Ottow, Die Lehre von den Korporationen in der Rechtsphilosophie Hegels, in: ARSP 87 (2001), S. 472. 745 C. Schmitt, Staatsstreichpläne Bismarcks, a. a. O., S. 30. 746 MEW 1, S. 242 ff. 747 S. dazu G. Jellinek (Die Entwicklung des Ministeriums, a. a. O., S. 304 ff.), der besonders anhand Englands und Frankreichs den Prozess schildert, der zu der „eigentümlichen Stellung“ der Regierung „zwischen Krone und Parlament“ führte. 748 Hegel, SdS, S. 63.

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sie in sich das „Gesetzgeben, Urteilen und Ausführen“749 – eine klare Aussage gegen die Gewaltenteilung; diese führt zu „Abstraktionen“, „denen keine eigene Realität“ zukommt.750 Zu ihren Aufgaben gehört es, der (selbst-)zerstörerischen Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzutreten, die zu jener extremen ökonomischen Ungleichheit führt, die auf der einen Seite den „Pöbel“, auf der anderen Seite den mit keiner „Leistung“ begründbaren Reichtum hervorbringt. Zum Beispiel durch „Erschwerung des hohen Gewinns“. Dazu setzt sie ihr die Festigkeit der „organischen“ Natur und ihrer Repräsentanten korrigierend entgegen.751 Überall stoßen wir auf Kompromiss- und Übergangsgestalten. „Der Clou der Hegelschen Lösung des Vermittlungsproblems zwischen Gesellschaft und Staat liegt … in der Abstufung der Übergänge; der Gegensatz soll entschärft oder moderiert werden durch den Einbau von Zwischenformen.“752 Die konstitutionelle Monarchie ist daher sowohl „organisch“ als auch „unorganisch“, „sittlich“ wie auch „unsittlich“ geprägt. Aus liberaler, rein „gesellschaftlicher“ Sicht muss sie sich, ähnlich wie für den jungen Marx, als „Missgeburt“ ausnehmen. Deswegen ihr Kampf, sie durch gesellschaftlich geprägte Strukturen und Institutionen zu ersetzen. Vermittlung eines Antagonismus. Das ist Marx, aber auch den Liberalen, zu wenig, weil zu nachteilig für die von ihnen favorisierte bürgerliche Gesellschaft. Und außerdem: Die Natur dieses Antagonismus wird von ihnen ja fehlinterpretiert – wenn er nicht überhaupt geleugnet wird. Hegel versteht die „Regierung“ als ein „Mittelding“, als den Diener zweier Herren. Die für sie tätigen Beamten sind für „Naturen“ tätig, die durch einen Antagonismus voneinander getrennt sind. Die zu leistende „Vermittlung“ ist nur über einen Bürokratismus möglich; die angestrebte Identität ist eine Identität der „Bürokratie“.753 Aus liberaler und auch aus marxistischer Sicht ist damit nur eine Scheinlösung erzielt, die ihnen nichts anderes als „eine bloße Akkommodation, ein Traktat, ein Geständnis des unaufgelösten Dualismus“ ist.754 Von daher verstehen sich die Versuche, über die Auswertung der verschiedenen Mitschriften seiner Vorlesungen ein „besseres“ Ergebnis, einen „liberaleren“ bzw. „gesellschaftsfähigeren“ Hegel zutage zu fördern – Versuche, die bis dahin gehen, die Umkeh749 Ebd., S. 72. 750 Ebd. 751 R. Ottow, Die Lehre …, a. a. O., S. 475. 752 Ebd., S. 474. 753 MEW 1, S. 250. 754 Ebd., S. 251 (Hervorhebung bei Marx).

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rung des Verhältnisses zugunsten der gesetzgebenden Gewalt zu erreichen, bis dahin also, dass der Monarch zum „untersten“ Punkt der Trias wird755. Das ist bisher eher misslungen. Die gefundenen Unterschiede sind nicht so bedeutsam, dass sie die Gesamtaussage bzw. die Grundstruktur verändern könnten. Sie zeigen eher einen Hegel, der in Auswertung der Revolution schwäbischgenau hin und her rechnet, der die „Für“ und „Wider“ abwägt, ehe er sich für eine konkrete Ausgestaltung des zugrunde liegenden Kompromisses ausspricht. Eine Schwankungsbreite ist darin ohnehin inbegriffen. Und dabei wird es auch bleiben. Wie es bei Siep dazu kommentierend heißt: „[D]er Staat muss gerade deswegen ‚monolithisch‘ sein, weil er seiner eigenen ‚unorganischen‘ Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft als des Spielraums der Besonderheit und ihrer bis zum Antagonismus gesteigerten Gegensätze gegenübersteht.“756

III.6 Der „schwerste Begriff für das Räsonnement …“: Der Monarch III.6.1 Der letzte „Freie“ Kein anderer Begriff hat ihm mehr den Vorwurf der Akkommodation eingetragen als dieser. Eine Störgröße erster Ordnung. Ein Gräuel für alle Sucher des „liberalen“ Hegel.757 Der wundeste Punkt seiner Staatsphilosophie. Beweise Hegel mit ihm doch, „dass er sich ganz auf die Seite der Restaurationspolitik Metternichs stellt“758. Bestätigt sein „Monarch“ nicht alle Vorbehalte gegen ihn? Setzt er sich mit ihm nicht selbst in Widerspruch? Und reicht es, wenn er seinen Studenten beschwichtigend sagt, dass der Monarch „nur Ja zu sagen, und den Punkt auf das I zu setzen“ hat? Was bezweckt Hegel mit ihm, fragt auch der junge Marx. Will er den „Eindruck des Mystischen und Tiefen“ erwecken? Er macht seinem Unmut Luft: „Hegel hat bewiesen, dass der Monarch geboren werden muss, woran niemand zweifelt, aber er hat nicht bewiesen, dass die Geburt zum Monarchen macht.“759 755 Informativ dazu: L. Siep, Hegels Theorie …, a. a. O., S. 413 f. 756 Ebd., S. 418. 757 S. dazu: H. Schnädelbach, Die Verfassung der Freiheit, in: L. Siep (Hg.), Klassiker auslegen …, a. a. O., S. 243 ff. 758 P. Becchi, Diskrepanzen in Hegels Theorie der fürstlichen Gewalt (1817–1820), in: HJ 1986, S. 395. 759 MEW 1, S. 235.

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Nicht der Staat werde von ihm als die höchste Wirklichkeit der Person, als die höchste soziale Wirklichkeit des Menschen angesehen, sondern ein einzelner empirischer Mensch. Damit mache Hegel den Monarchen zur „personifizierten“, zur „menschgewordenen Souveränität“. Mit der Folge, dass „auf der höchsten Spitze des Staates … also statt der Vernunft die bloße Physis“ entscheidet.760 „Es ist Hegel darum zu tun, den Monarchen als den Gottmenschen, als die wirkliche Verkörperung der Idee“761, als die Person darzustellen, „die den Staat in sich hat“.762 Das sei eine „Verkehrung des Subjektiven in das Objektive und des Objektiven in das Subjektive“.763 Jahrzehnte später wird H. Heller sagen, es sei die „eigentümliche Ansicht Hegels“, den Staat zu zerlegen „in einen Staat im engeren Sinne, der die Persönlichkeit des Monarchen und seinem Wesen nach Macht ist“, und in jene Sphäre, die „bürgerliche Gesellschaft“ genannt wird.764 Aber nicht nur diese beiden missverstehen Hegel und verwechseln seinen Staat mit dem Prügelstock. Es ist sein Los, unverstanden zu bleiben, wenn er in § 280 Rph, der sich dem Thema „Begriff“ und „Gestalt“ widmet, zum Ausdruck bringt, dass der „Monarch“ das Individuum der „Natürlichkeit“ ist – so wie die „Person“ individualisierte „produzierte“ Natur ist. Als ihr Individuum ist der Monarch mithin frei von den naturfeindlichen Sonderinteressen der „produzierten“ Natur. Insoweit existiert er „grundlos“ und von der Willkür der bürgerlichen Gesellschaft „unbewegt“.765 Der Hinweis auf die §§ 8 und 23 Rph verstärkt die Aussage: Der Wille des Monarchen wird von der „primären“ Natur „gesteuert“; er ist ihr Repräsentant; er vertritt ihre Interessen. Kurzum: Im „Monarchen“ gelangt das „Naturprinzip“ zur Gestalt – so wie die bürgerliche Gesellschaft und die „Person“ Gestalten der „produzierten“ Natur sind. Marx ist übrigens wenige Jahre nach seiner Kritik auf dem prinzipiell gleichen Weg, wenn er das Proletariat objektiv frei von allen Sonderinteressen sieht, in die die bürgerliche Gesellschaft ihre Mitglieder verstrickt, und sagen wird: Es muss, indem es von der Klasse „an sich“ zur Klasse „für sich“ wird, seine „historische Mission“ erkennen – was ja auch nicht heißt, dass jeder Proletarier zu einem Einstein werden muss. Übertragen auf den Monarchen: So „übel gebildet“ er im Einzelfall sein mag, er muss wissen, was seine „historische Mission“ ist. Er muss wissen, dass er die primäre Natur repräsentiert. 760 Ebd. (Hervorhebung bei Marx). 761 Ebd., S. 225. 762 Ebd., S. 240 u. S. 242. 763 Ebd., S. 240. 764 H. Heller, Hegel …, a. a. O., S. 64. 765 § 281 Rph.

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Es ist ein breiter Strom von Autoren und Arbeiten, die sich nun schon seit Jahrzehnten dem Anliegen verschreiben, Hegels Staatsphilosophie zu dem Zweck zu desavouieren, um damit eine Plattform für einen umso freieren Umgang mit ihr zu schaffen. Sie wird bereinigt und uminterpretiert. Der Tenor lautet dahin, dass Hegel die „korrekte“ Reihenfolge: Legislative, Regierung, Monarch, einfach umgekehrt habe, um seinem Dienstherrn, dem preußischen König, zu gefallen.766 Hegel in § 275 Rph: „Wir fangen mit der fürstlichen Gewalt an, das heißt mit dem Momente der Einzelheit, denn diese enthält die drei Momente des Staats als eine Totalität in sich. Ich ist nämlich zugleich das Einzelnste und das Allgemeinste.“ „Hier angelangt“, schreibt Koslowski, „unterläuft Hegel eine Inkonsequenz, die weniger mit seinem spekulativen System als mit dem preußischen Staat zusammenhängt: Statt die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Staatsgewalten und deren Verwaltung darzustellen, wird das monarchische Prinzip eingeführt.“767 Aber wie der junge Marx bereits erkannte: Der um den Monarchen zentrierte Staat ist als „Staat gegen die bürgerliche Gesellschaft“ konzipiert. Und dies aus gutem Grund. Die Kritik, die 1821 der dänische Kammer- und Justizrat von Thaden und 150 Jahre nach ihm Ilting, Hösle und andere üben: „Umpolung“ der Reihenfolge zugunsten der „fürstlichen Gewalt“ aus gewissermaßen „niederen“ Beweggründen, wäre verständlich (und auch richtiger), wenn unsere heutige Vorstellung von Gewaltenteilung und vor allem: von Parlamentarismus anzulegen wäre bzw. wenn diese auch Hegels Staatsphilosophie zugrunde läge. Wie aber schon dargestellt: Das ist nicht so! Was uns Hegel unter „Gewaltenteilung“ vorführt, ist etwas qualitativ anderes. Während unser Verständnis durch die Alleinherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft geprägt ist, ist das seinige vom Geist seiner Zwei-Naturenund Zwei-Staaten-Konzeption durchweht. Wenn Hegel also in § 273 Rph die „gesetzgebende Gewalt“ an erster Stelle nennt, so ist zu bedenken, dass diese 766 V. Hösle (Der Staat, a. a. O., S. 200 ff.) z. B. vertritt die Meinung, dass Hegel das Verhältnis der Gewalten bloß umgekehrt, quasi auf den Kopf gestellt habe – und zwar aus einem logischen Fehler sowie aus Akkommodation heraus. Er „berichtigt“ Hegel und stellt § 273 Rph, der die „legislative Gewalt“ zuerst nennt, dem § 275 Rph gegenüber, der den „Monarchen“ als erste Gewalt abhandelt. Damit glaubt er, den Hebel gefunden zu haben, mit dem Hegel in diesem Punkt vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann. Zweifelnd setzt H. Schnädelbach (Die Verfassung der Freiheit, a. a. O., S. 253) dieser Deutung entgegen, dass „ein nur der Krone und nicht etwa der gesetzgebenden Gewalt verantwortliches Kabinett“ in die andere Richtung zeige, nämlich dahin, dass der „Monarch“ keineswegs nur als i-Punkt-Setzer im Sinne des heutigen Bundespräsidenten gesehen werden dürfe. 767 S. Koslowski, Hegel als Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates?, in: ARSP 2008, S. 105.

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nicht einfach gleichgesetzt werden kann mit dem, was sie uns heute ist. Für Hegels „konstitutionelle Monarchie“ gilt vielmehr: „Die Volksvertretung ist … in der konstitutionellen Monarchie nur neben anderen ‚Staatsorganen‘ (wie Oberhaus, Krone) an der Gesetzgebung beteiligt, während es in der repräsentativen Demokratie in der Regel unter alleiniger Autorität die Gesetze beschließt.“768 Der Monarch ist also mindestens auch Gesetzgeber. Und da er der „Letztentscheider“ ist, sogar deren ausschlaggebender Teil. Das bestätigt die Aussage des § 300 Rph. In der gesetzgebenden Gewalt als Totalität, heißt es dort, sind zunächst die folgenden zwei Momente wirksam:

•• „das monarchische, als dem die höchste Entscheidung zu kommt“; •• „die Regierungsgewalt“. Hinzu kommt als Drittes „das ständische Element“. Ähnlich, vielleicht noch deutlicher, die Aussage in § 544/Anm. der „Enzyklopädie“: „Die Ständeversammlungen sind schon mit Unrecht als die gesetzgebende Gewalt in der Rücksicht bezeichnet worden, als sie nur einen Zweig dieser Gewalt ausmachen, an dem die besonderen Regierungsbehörden wesentlichen Anteil haben und die fürstliche Gewalt den absoluten der schließlichen Entscheidung hat.“ Der Monarch ist also ein zentraler Teil der „gesetzgebenden Gewalt“. Und er ist außerdem noch „fürstliche Gewalt“. V. Hösle sieht hierin „das eklatanteste Beispiel für einen Begriffsfehler[,] … für eine logisch unbegründete Abweichung vom eigenen Ansatz“. Der hegelsche „Monarch“ offenbare eine Argumentation, „die nicht anders als absurd zu bezeichnen“ ist, ja, die „geradezu an Scharlatanerie grenzt“.769 Moderater formuliert H. Kastner770 seine prinzipiell gleichen Einwände. Auch er spricht von einem „Argumentationsfehler“, von einer „Vermengung“ der Ebenen und glaubt mit Hösle und anderen, dass Hegel „sich – zumindest bis zu einem gewissen Grade – sicherlich jener Ambivalenz bewusst“ war. Und ist es denn nicht auch so? Wie anders, wie besser kann dieser „wunde Punkt“, diese „Unlogik“ erklärt werden als mit „Akkommodation“ oder, günstiger für Hegel, mit jener „List“? Auch K. Vieweg, der in seiner jüngst erschienenen Arbeit771 durchweg bemüht ist, Hegel „buchstäblich“ zu nehmen, 768 G. Leibholz, Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin, New York 1973 (Nachdruck der 3. Aufl. von 1966), S. 61. 769 V. Hösle, Der Staat, a. a. O., S. 201, 205. 770 H. Kastner, Noch einmal: Die Stellung des Monarchen, in: HS 43 (2008), S. 74 f. 771 K. Vieweg, Das Denken der Freiheit, a. a. O., S. 407 ff.

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äußert sich zum Monarchen, „dieser schwerste[n] theoretische[n] Hypothek“, „gegen den Buchstaben der Grundlinien“. Er findet folgende Erklärung: Mit Hösle sieht er darin einen „logischen Fauxpas“ erster Ordnung. Im Unterschied zu ihm entschuldigt er Hegel aber damit, dass dieser diesen logischen Bruch aus Zensurgründen „eingebaut“ habe. Gewissermaßen als „Wink mit dem Zaunpfahl“ und verbunden mit der Aufforderung an Leser zensurfreierer Zeiten, ihn in diesem Punkt richtigzustellen. Ähnlich D. Suhr, der wie folgt argumentiert: Misstrauisch-furchtsamer Typ, der Hegel gewesen sei, habe er sich in der heiklen Frage des „Monarchen“ verhalten wie einst Galileo Galilei vor der Inquisition und über den Einbau eines „logischen Schnitzers“ den aufmerksameren Lesern einen „Wink“ gegeben. Der Schlüssel zum Verständnis des „Winks“ sei in der Fußnote zu § 270 Rph versteckt, wo unter anderem dieser Hinweis auf Galilei und darauf, wie dieser sich aus der Affäre zog, gegeben ist.772 Tatsache ist jedenfalls: Wer Hegel der Akkommodation verdächtigt, findet sich durch die Figur des „Monarchen“ darin bestätigt. Aber diesem Verdacht steht der bereits erwähnte Umstand entgegen, dass Hegel seine Konzeption der konstitutionellen Monarchie nicht extra für den preußischen Dienstherrn „erfindet“. Sie liegt vielmehr durchgängig seinen Systementwürfen seit Jena zugrunde. Sie stammt also bereits aus „besseren Zeiten“; er bringt sie nach Berlin mit. Die Suche nach der „ursprüngliche[n] Auffassung Hegels zur fürstlichen Gewalt“, die mit der Edition der Vorlesungsmitschriften beginnt, zeigt zwar, dass das, was er zum „Monarchen“ sagt und schreibt, variiert: nach „links“ in Richtung auf den „parlamentarischen“, nach „rechts“ in Richtung auf den absolut regierenden Monarchen. Doch nicht so stark, dass man von „Umkehrung“ des Standpunktes sprechen könnte773; der Kern bleibt unberührt. Man sollte sehen, dass Hegel Neuland betritt und auf fertige Antworten nicht zurückgreifen kann. Man sollte auch sehen, dass er die bürgerliche Gesellschaft und das, was sich mit ihr verbindet, jetzt positiver bzw. liberaler beurteilt als im Naturrechtsaufsatz, wo er darin noch das „wilde Tier“ sieht. Der Monarch ist der Letzte aus dem „Stand der Freien“. Er ist nicht einbezogen in die Einebnung sowohl des Sklaven als auch des Freien zur „Person“. Jener „völlige Verlust des Menschen“774, der damit verbunden ist, macht vor ihm halt. Er wird nicht in die bürgerliche Gesellschaft hinabgestoßen; er geht nicht in den dritten Stand ein, auf den die ehemals „Freien“ und „Unfreien“ 772 D. Suhr, Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 175 f. 773 P. Becchi, Diskrepanzen …, a. a. O., S. 400. 774 MEW 1, S. 390.

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nivelliert werden. Er nimmt mithin nicht teil an der „Entäußerung“, die mit der bürgerlichen Gesellschaft einhergeht. Er steht außerhalb. Er steht darüber. Er bleibt freigestellt von „allem [mit der ‚Person‘ verbundenem] Inhalte“775. Er bleibt „Individuum der absoluten Sittlichkeit“.776 Der Status „letzter Mensch“ erhebt ihn zugleich zum Wesen des Menschen. Dieses wiederum ist eingehüllt in die Aura des „Göttlichen“. Was bei den alten Griechen deshalb außerhalb des Volkes, bei den Göttern gesucht wurde: die „letzte Entscheidung“, liegt jetzt bei ihm. Das „Moment der letzten Entscheidung“ ist in ihm irdisch gemacht. Das Außerhalb-Stehen befähigt ihn dazu, „ein allgemeines, dem Öffentlichen ganz gehöriges Leben“ zu führen777, befähigt ihn dazu, die „organische“ Natur zu repräsentieren. Ihm kommt zu, was in den griechischen Stadtstaaten Recht und Pflicht aller Freien war. Ein Gespür für seine „historische Mission“ zeigt sich bei O. v. Gierke, wenn er den Versuchen, ihn als „Amt“, als bloßes Staatsorgan zu interpretieren, entgegenhält: „Der Monarch erscheint nicht als ein gewöhnliches Staatsglied, das nur durch die Verfassung zu einem hauptsächlichen Organ des Staatslebens bestellt wird, sondern er erscheint als das Haupt des Staatskörpers, als ein von vornherein besonders qualifiziertes, schlechthin wesentliches, durch seine innere Natur zu hervorragender Tätigkeit für das Ganze berufenes Glied.“778 Die dem Monarchen in § 281 Rph „bescheinigte“ „grundlose Existenz“ macht ihn zur Individuation der „organischen“ Natur. Er ist daher „zugleich das Einzelnste und das Allgemeinste“.779 Die „Idee des von der Willkür Unbewegten“ macht seine Majestät aus. Das ist ernst zu nehmen. C. Cesa weist in seiner Auseinandersetzung mit Positionen, die das Verhältnis umkehren wollen, mit Recht darauf hin, „dass der der fürstlichen Gewalt zugedachte erste Platz vollständig vom theoretischen Standpunkte gerechtfertigt“ ist.780 Der Monarch ist als „Nicht-Person“ Repräsentant des „natürlichen Moments“.781 Das ist der springende Punkt. Er steht, wie 2000 Jahre vorher die freien Athener, außerhalb dessen, was jetzt „bürgerliche Gesellschaft“ heißt. Er ist freigestellt von ihren Existenzbedingungen. Er steht außerhalb ihres „Getriebes und 775 § 280 Rph. 776 Hegel, NR, S. 489. 777 Ebd. 778 O. v. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts, a. a. O., S. 120. 779 § 275/Zus. Rph. 780 C. Cesa, Entscheidung und Schicksal: die fürstliche Gewalt, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, S. 198 f. 781 Ebd., S. 202.

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Geschiebes“. Das befähigt ihn, sie objektiv zu sehen und ihr entgegenzutreten. Seine Einordnung in die in den §§ 273 und 275 Rph genannten Gewalten und die ihm darin zugedachten Plätze gehen daher völlig in Ordnung. Verständlich aber, dass dieser Monarch nicht zu begreifen, viel weniger noch: zu akzeptieren ist, wenn die bürgerliche Gesellschaft als das Ganze angesehen wird; dass er Kopfschütteln und Rätselraten auslöst, wenn man sich ihm auf dieser Basis nähert. Dann müssen Hegels Aussagen als „ambivalent“ erscheinen.782 Dann sind sie „eine schwierige Kreuzung der Gedanken“ bzw. von „eigentümlicher Zweideutigkeit“.783 Der Monarch bezeichnet „den obersten Punkt, wo es sich um die Erhaltung des Ganzen handelt“784. Er verkörpert „die drei Momente der Totalität“785; in ihm bricht sich das Ganze. Das ist der Grund, warum er „Letztentscheider“ ist. Der „räsonierenden Gescheitheit“ erschließt sich das selbstverständlich nicht. Sie „leugnet …, dass das Moment der letzten Entscheidung im Staate an und für sich … mit der unmittelbaren Natürlichkeit verbunden ist“786. Und diese Leugnung beruht ja wiederum darauf, dass die bürgerliche Gesellschaft als die einzige Natur angesehen wird.787 Der Monarch verkörpert „das Allgemeinste“ und damit zugleich das „Oberste“, nämlich die „organische“ Natur. Er ist „Mensch“ und repräsentiert als solcher die Gattung, die „Menschheit“. Von daher kann es, entgegen der Meinung v. Thadens, Iltings, Hösles, nicht falsch und kein „grober Schnitzer“ sein, wenn Hegel mit ihm seine Ausführungen zur inneren Verfassung beginnt. „Der Fürst ist, systematisch gesehen, der Ursprung der Staatstätigkeit – ‚erste Gewalt‘ – und zugleich, praktisch gesehen, nur der fast inhaltslose abschließende ‚formelle‘ 782 H. Kastner, Noch einmal …, a. a. O., S. 74: „Die Ambivalenz in Hegels Verortung des Monarchen besteht also darin, dass Hegel erstens die notwendige Repräsentation des Staats in Form seiner Souveränität unmittelbar mit der Einzelheit des vernünftigen Staats identifiziert, um so die anderen Gewalten aus der Vermittlung des Staatsoberhauptes ausschließen zu können, während er zweitens die Staatssouveränität als abstrakte und daher bloß allgemeine der zugrundeliegenden Idee des Staats als Organismus entwickelt.“ (Hervorhebung bei Kastner.) 783 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a.  a.  O., S.  413. Rosenzweig nähert sich der Sache sehr unvoreingenommen und mit größtem Verständnis, wie hinzugesagt werden muss! 784 Ebd., S. 174. 785 § 275 Rph. 786 § 280/Anm. Rph (Hervorhebung bei Hegel). 787 Marx/Engels kehren im „Kommunistischen Manifest“ diese Position lediglich um. Da ihre Natur die „produzierte“ Natur ist, steht ihr objektiv der Proletarier am nächsten. Das muss ihm bewusst gemacht werden; das Proletariat muss wissen, dass die „letzte Entscheidung“ bei ihm liegt.

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Wille, durch den der im Amtsweg … zustande gekommene Beschluss vollzogen wird.“788 Als Repräsentant der „organischen“ Natur muss er Teil der Legislative sein. Als Oberhaupt des Staates setzt er die „Regierung“ ein und trifft er die „letzte Entscheidung“. Er steht als Teil der Legislative am Anfang. Und ähnlich dem deutschen Bundespräsidenten steht er als „i-Punkt-Setzer“ am Ende. Er vereinigt also Funktionen auf sich, die mehreren Gewalten zuzuordnen sind. Das macht ihn zu einer besonderen, über die Gewalten unseres Verständnisses hinweggreifenden Gewalt. Der absolut regierende Monarch ist der Staat. Er steht an der Stelle, wo in der Antike alle „Freien“, wo im Mittelalter der Adel stand. Auf ihn reduziert sich „Volk“ und „Demokratie“. Mit ihm enden jene Staatsformen, die die „ungetrennte substanzielle Einheit“789 zugrunde liegen haben. Er ist gewissermaßen der „letzte Mohikaner“. Der konstitutionelle Monarch hingegen ist nicht (mehr) der Staat, sondern (nur) eines seiner Momente. Er nimmt eine Doppelfunktion ein. Zum einen tritt er auf als Repräsentant der „organischen“ Natur. Zum anderen ist er das formelle Oberhaupt des jetzigen Staates. Auf jeden Fall ist er als konstitutioneller Monarch nicht mehr Monarch von Gottes Gnaden; aus dem „Souverän“ ist ein Staatsorgan geworden.790 Damit ist er für Hegel der logische Ausgangspunkt des sittlichen Staates. Mit ihm beginnt der Staat; er ist nicht abgeleitet von ihm, sondern er ist „das schlechthin aus sich Anfangende“.791 Das ist nicht zufällig. Das hat diesen Hintergrund. Das ist durchaus keine Verwechslung, wie H. Heller792 meint – und in seiner Nachfolge viele andere. 788 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, a. a. O., S. 413. 789 § 273/Anm. Rph. 790 S. dazu: K. Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill, in: Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, S. 92. 791 § 279 Rph. 792 H. Heller, Hegel …, a.  a.  O., S.  110. Heller, dessen Arbeit darauf konzentriert ist, Hegel als Philosophen des „Machtstaates“ vorzuführen, hebt hervor, dass Hegel den Staat zunächst als „willensbegabten Organismus“, als „Staatspersönlichkeit“ vorstellt. Hiermit sei „klipp und klar gesagt, dass weder das Volk für sich noch aber auch der Herrscher den Staat ausmachen, sondern dass dieser eine, die beiden Momente umfassende, dritte reale Macht darstellt.“ (S. 103, 108.) Das führt dazu, dass Hegels Staat auch dann „Machtstaat“ bleibt, wenn man sich den Monarchen wegdenkt. – Was diese „Machtstaatstheorie“ nicht begreift: Dort, wo von „Staat“ die Rede ist, muss „Staat“ als „organische Natur“ gelesen/übersetzt werden. Nicht der Staat (und ein ihm zugeordneter abstrakter „Wille“) ist dann der bürgerlichen Gesellschaft als „Macht“ gegenübergestellt, sondern die „organische“ Natur steht der „produzierten“ Natur gegenüber. Und der Monarch ist Repräsentant der Ersteren; er ist der/ihr Staat. Wer nur eine Natur anerkennt, die „produzierte“, kann den hegelschen Staat nicht anders denn als „Machtstaat“ begreifen.

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Hegel, an die „Reflexionsphilosophen“ adressiert: „Der Begriff des Monarchen ist deswegen der schwerste Begriff für das Räsonnement, d. h. für die reflektierende Verstandesbetrachtung, weil es in den vereinzelten Bestimmungen stehen bleibt, und darum dann auch nur Gründe, endliche Gesichtspunkte und das Ableiten aus Gründen kennt.“793 Für den, der vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft denkt und Hegels Staatsphilosophie beurteilt (und nur wenige tun das nicht!), muss der Monarch inakzeptabel sein. Alle Heiligtümer unseres gegenwärtigen politischen Systems sind radikal infrage gestellt, würde man ihn so akzeptieren, wie er von Hegel gemeint ist. Ein goldener Mittelweg wurde jahrzehntelang darin gesehen, diesen Teil der „Rechtsphilosophie“ links liegen zu lassen, um „sich nicht weiter mit der inneren Verfasstheit des Staats in seiner Rechtsphilosophie beschäftigen zu müssen“.794 Was also liegt näher, als seinen „Monarchen“ weg- oder kleinzudiskutieren – zum Beispiel, indem er auf den bloßen „i-Punkt-Setzer“ oder gar auf „Folklore“ reduziert wird – wovon seit dem Erscheinen der „Rechtsphilosophie“, beginnend mit E. Gans795, kräftig Gebrauch gemacht wird. Hegel wendet sich gegen den Trugschluss, dass mit Parlament und Parlamentarismus unseres heutigen Verständnisses die Schöpfung zu bewahren ist, dass diese Aufgabe in deren „Zuständigkeitsbereich“ fallen könnte. Sie können das nicht leisten, weil sie ganz einseitig auf die Interessen der bürgerlichen Gesellschaft, mithin: der „Gegennatur“ fixiert sind. Es bedarf dazu vielmehr einer besonderen Instanz. Hegel schließt jedoch keineswegs aus, dass auch ein anderer, überhaupt: andere als der Monarch Repräsentant der „organischen“ Natur sein können. In der Nachschrift Griesheims zu § 279 Rph ist zu lesen: „Der Staat ist die Wirklichkeit des Göttlichen. … Ob also Unterschiede sind, ob ein Monarch sei oder nicht, ob es psychologisch wahrscheinlich sei, ob es für den Staat besser sei oder nicht – dies alles ist auszuschließen, wenn man philosophische Betrachtungen anstellen will.“796 Die Betonung liegt also nicht auf „Monarch“, sondern auf „Repräsentanz des Naturprinzips“. Der Monarch ist also durch Institutionen, durch Gremien, durch Persönlichkeiten substituierbar, durch die die Interessenvertretung der Natur sichergestellt ist. Nur diese Interessenvertretung ist verlangt – nicht auch der Monarch. Aktuelle Aufgabe wäre es also, der Frage nachzugehen, welche zeitgemäße Institution 793 § 279/Anm. Rph. 794 H. Kastner, Noch einmal …, a. a. O., S. 67. 795 S. dazu: J. Braun, Einführung, in: E. Gans, Naturrecht und Universalgeschichte, hg. von J. Braun, Tübingen 2005. 796 Hegel, VRph 4, S. 670.

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heute Hegels „Monarchen“ ersetzen könnte. Es ist an der Zeit, Hegel in dieser Hinsicht modern zu interpretieren und die heutigen Repräsentanten des „Naturprinzips“ ausfindig zu machen und in den Staat zu installieren. Statt am „Monarchen“ und am „Majorat“ zu kleben und zu mäkeln, sollte das Tiefere in ihnen erkannt und in unsere Zeit übertragen werden.

III.6.2 Der Monarch im Unterschied zum Diktator Wer Hegel als „Machtstaat“-Philosophen ansieht, missversteht ihn. Er wird dann zum „Reaktionär“ und sein „Monarch“ zum gewöhnlichen Diktator gemacht. Zugleich ist damit eine Basis geschaffen, von der aus Hegel „hochgerechnet“ wird. Je nach politischem Standort: zu einem Hitler oder zu einem Stalin. Tatsächlich aber führt seine Philosophie zu keinem von beiden. Denn Hegels „Monarch“ ist Repräsentant des „Naturprinzips“. Der neuzeitliche Diktator aber ist „Seelenführer“797 und -verführer, d. h. er repräsentiert die bürgerliche Gesellschaft im guten wie im schlechten Sinne. Er tritt auf, wo die bürgerliche Gesellschaft in der Krise steckt. Als „individuelle[r] Gewalthaber im Staate“ realisiert er die Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft, soweit sie sich mit den eigenen partikulären Zwecken decken.798 Hitler, Stalin, Pinochet und andere „Größen“ des 20. Jahrhunderts gehören zu ihnen. Aber nur wer für richtig hält, dass der Monarch nichts anderes ist als ein Diktator und die konstitutionelle Monarchie bloße Diktatur, stellt die Verbindung zu Hegel her. Sie gleichzuschalten, folgt jedoch beinahe zwangsläufig daraus, dass Hegels Dialektik der Naturen in die eine, in die „produzierte“ Natur verlegt wird. In Zeiten des Übergangs und in Krisenzeiten ist sie dann die Basis jenes Scheinkonstitutionalismus, den Marx im „18. Brumaire“ unter dem Namen „Bonapartismus“ als eigenständigen Typ einer „Bourgeoisieherrschaft“ erkannt hat. Er tritt gehäuft dort auf, wo die bürgerliche Gesellschaft im Werden ist, bzw. dort, wo sie in die Krise gerät. Dann sind es tatsächlich nur Fraktionen der bürgerlichen Gesellschaft, zumeist die „Übergangsklassen“, die, unter der falschen Flagge „Volk“, zur Grundlage einer Präsidialdiktatur werden.799 C. Schmitt schreibt 1919: „Es ist nicht dasselbe, wenn ein absoluter Monarch sagt, er selbst sei der Staat[,] und wenn ein Jakobiner so handelt, dass er tatsächlich sagen könnte: la patrie c’est moi. Der eine reißt den Staat in seine 797 C. Cesa, Entscheidung und Schicksal …, a. a. O., S. 202. 798 Hegel, VPhG, S. 45. 799 Vgl. Marx, MEW 8, S. 114 ff., bes. S. 144.

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individuelle Person und identifiziert den Staat mit sich; der andere unterschiebt sich mit seiner Person dem Staat; je mehr er selbst sein will, umso mehr muss er seine Privatperson verstecken und immer laut betonen, dass er ja nur der Funktionär des allein mächtigen und maßgebenden, überpersönlichen Wesens sei.“800 Warum nicht „dasselbe“? Laut Hegel sind Demokratie, Aristokratie und Monarchie Staatsformen, die „die noch ungetrennte substanzielle Einheit zu ihrer Grundlage“ haben. Sie treten geschichtlich in der genannten Reihenfolge auf; der Absolutismus ist demnach deren letzte. Die bürgerliche Gesellschaft setzt auch ihr ein Ende. Ein Zurück zu diesen Staatsformen wird unmöglich. Zeitgemäß ist nun der Konstitutionalismus. Die Frage aber, die in der bei Schmitt zitierten Stelle enthalten ist und die er dort zu verneinen scheint, lautet: Ist anstelle der konstitutionellen Monarchie auch eine konstitutionelle Demokratie möglich? Und wäre sie nicht besser und zeitgemäßer? Seine Antwort in der „Verfassungslehre“: „Die Prinzipien der bürgerlichen Freiheit können sich … mit jeder Staatsform [also auch mit der Demokratie!] verbinden, sofern nur die rechtsstaatlichen Schranken der staatlichen Macht anerkannt sind und der Staat nicht ‚absolut‘ ist.“801 Das sieht Hegel anders. Er hält es für „nicht passend, wenn in neuerer Zeit so viel vom demokratischen, aristokratischen Elemente in der Monarchie gesprochen“ wird. Denn „diese dabei gemeinten Bestimmungen, eben insofern sie in der Monarchie stattfinden, sind nicht mehr Demokratisches und Aristokratisches“.802 Genereller wird man sagen können: Diese „Elemente“ sind als Bestandteile einer konstitutionellen Staatsform nicht mehr Demokratisches oder Aristokratisches. Sie werden vielmehr umgeprägt und erlangen eine Qualität, die von der jetzigen Staatsform, also vom Konstitutionalismus bestimmt wird. Anders gesagt: Von ihnen bleibt nur noch der Schein des Demokratischen oder Aristokratischen übrig. Und hinter dem Schein der Demokratie steht als Wirklichkeit: a) für den Fall, dass Demokratie als „repräsentierte Demokratie“ verstanden und praktiziert wird, der Parlamentarismus; b) für den Fall, dass Demokratie „identitär“ verstanden und praktiziert wird, der Diktator bzw. die Diktatur.

800 C. Schmitt, PR, S. 50. Hätte er sich daran und an einiges mehr des damals Geschriebenen gehalten, wäre er kaum zum Befürworter und Lobpreiser der Diktatur eines A. Hitler geworden. 801 C. Schmitt, VL, S. 200 f. 802 § 273/Anm. Rph.

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Beide Male ist der Ausgangspunkt ein fiktives Volk und eine mithin ebenfalls fiktive Demokratie, hinter denen sich die Alleinherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft verbirgt. Sie sind, wie Hegel formulieren würde803, „Schleichwege“ zur Unsittlichkeit. „Schleichwege“ zur a) „totalen Gesellschaft“, b) zum „totalen Staat“.

803 Vgl. Hegel, NR, S. 463.

Kapitel IV Der Seichtigkeit des Gedankens am nächsten liegend: Die Verwechslung des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft (dargestellt am Beispiel [Schicksal] der Weimarer Republik) „Jahrhundertelang hat die große Maschine der modernen okzidentalen Rechtslehre vermittels der Begriffe ‚Vertrag‘ und ‚Vertretung‘ für die Beschränkung des politischen Verhältnisses auf das Rechtsverhältnis gearbeitet.“ (Gianfranco Miglio804)

IV.1 Pro oder kontra Konstitutionalismus? Die WRV zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ Der verlorene Krieg bringt das Aus für die Monarchie. Sie erfüllt ihren „Beruf“ nicht mehr. Sie hat sich „hoffnungslos diskreditiert“. Sie hat sich so belastet, „dass es heute unmöglich ist, für sie einzutreten“.805 So geschah es denn: Die „monarchische Flagge“ wurde gestrichen, die „alte Firma“ gelöscht806 – auf Dauer, denn die WRV stellt klar, dass der Übergang zur Republik endgültig ist. Wie es weiter geht? „Entweder wir werden hineingezogen in die russische Sowjeträte-Auffassung oder wir werden heran gegliedert an die westeuropäischamerikanische Form.“807 Entweder „Räteregierung“ oder „die Souveränität einer demokratischen Nationalversammlung“.808 Von den Spartakisten abgesehen, sind sich alle politischen Parteien und Gruppierungen sehr bald darin einig: keine 804 G. Miglio, Einleitung zur italienischen Ausgabe von „Der Begriff des Politischen“ (1971), abgedruckt in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, S. 278. 805 H. Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung (2. erw. Aufl.), Berlin 1923, S. 5, 10, 12; M. Weber, Deutschlands künftige Staatsform, in: Ders., Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920 (Gesamtausgabe I/16), Tübingen 1988, S. 101 f. H. Boldt (Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 266): „Wilhelm der II. hatte 1918 nicht nur sein eigenes, sondern das ‚royalistische Kapital‘ im Ganzen“ verwirtschaftet. 806 H. Preuß, Deutschlands …, a. a. O., S. 9. 807 F. Naumann im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung – zitiert bei: W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem (2. Aufl.), Stuttgart 1958, S. 11. 808 H. Preuß, Deutschlands …, a. a. O., S. 6.

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Diktatur des Proletariats nach russischem Vorbild! Um sie zu verhindern, muss gehandelt werden; es gilt zu retten, was zu retten ist. Neben den praktischen Maßnahmen zur Eindämmung der Revolution wird in die Debatte eingetreten. In ihr wird die Revolution zerredet. Rasch einigt man sich auf „Volk“ und „Demokratie“. Zwar sind das Begriffe, die sich damals wie heute durch „notorische Unschärfe“809 auszeichnen. Aber sie klingen gut. Und sie sind aus diesen beiden Gründen: weil sie gut klingen und weil sie so unscharf sind, bestens geeignet, dem Kompromiss zugrunde zu liegen, der in aller Eile ausgehandelt wird. Das kommt also heraus: der „Volksstaat“ sowie diese „wunderschöne, soziale, freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassung“.810 Der „Volksstaat“. Seit Jahrzehnten geisterte er durch die Programme etlicher kleinbürgerlicher Parteien, sehr zum Ärger eines K. Marx: auch durch die der SPD. Und nun? Liegen sie nicht zum Greifen nahe, „jene schönen Sächelchen“811, die sich um ihn ranken? Jene Meinung setzt sich jetzt durch, die im Monarchen jemanden sieht, der die Souveränität usurpiert, der sich dem Volk vorgeschaltet hat und ihm im Wege steht. Folglich wird er beiseitegeschoben. Nun also „Volk“ und „Demokratie“ statt „Monarch“ und „Monarchie“. Hegel hätte entschieden Verwahrung eingelegt. „Volk“ ist aufgelöst, hätte er gesagt. Es hat sein politisches Dasein längst zugunsten der „Stände“ beendet, in die es zerfallen ist. Und diese wiederum sind Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Die Geschichte verläuft nicht rückwärts. Auf etwas, das zum Phantom geworden ist, lässt sich kein Staat gründen. Politisch von Bedeutung ist „Volk“ nur noch als Größe des „äußeren Staatsrechts“; als Größe zur Bestimmung der „Souveränität gegen außen“.812 Nur in dieser Bedeutung: als Nation, als den „Nationalstaat“ legitimierendes „Staatsvolk“, hat es noch „Individualität“. Der Versuch, den „Volksstaat“ zu errichten, läuft also auf etwas Unmögliches hinaus. Was herauskommt, was als solcher ausgegeben wird, wäre aus Sicht Hegels also falsch deklariert. Er würde auf das verweisen, was er schon zu Fries gesagt hat, er würde von Demagogie, vielleicht auch von politischem Betrug sprechen. Hielte man sich an Hegel, wäre zu fragen gewesen: Wer repräsentiert jetzt die „organische“ Natur? Wer ersetzt den Monarchen? Welche vergleichbare Institution? So wird nicht gefragt. Hegel gilt nicht viel in dieser Zeit. Sein Dualismus 809 H. Dreier in dem von ihm herausgegebenen GG-Kommentar, Bd. II (Art. 20, Rd-Nr. 57). 810 G. Roellecke, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, in: NJW 1991, S. 2445. 811 MEW 19, S. 29 (Kritik des Gothaer Programms). 812 Überschrift über die §§ 321 ff. der „Rechtsphilosophie“.

Die Verwechslung des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft  |

der Naturen, der zum Konstitutionalismus führt, aber nicht zwangsläufig auch zum „Monarchen“, ist ausgeblendet. Sein Staat, der Staat als Vermittler, als Korrektiv der bürgerlichen Gesellschaft, ist zu Fall gebracht. Aus der Sicht C. Schmitts: „Weimar“ beendet die Periode echter Staatlichkeit. Was an „Staat“ nun noch besteht, ist eine „Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft“, ist eine „Geschäftsführung“, ist ein „Halbstaat“, ist ein „Gesellschafterstaat“, ist, kurzum, ein Staat, dem das „Politische“ fehlt. 813 Längst vergessen: die Warnungen vor ihm. Bedenken814 kommen kaum zu Wort. Ohnehin hätten sie in der jetzigen Situation kein Gehör gefunden. Dringlicheres stand an: die „Rettung“ Deutschlands vor der Diktatur des Proletariats. Zwei Wissenschaftler treten auf den Plan und bezeichnen mit ihren Theorien die Extrempositionen. H. Kelsen führt den staatsrechtlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts zu Ende. Dieser hat es bereits geschafft, den Staat weitgehend „auszuholzen“ und seine Substanz, die „organische“ Natur, hinter einer Nebelwand verschwinden zu lassen. Das wurde, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Juristengeneration zu Juristengeneration, so lange und so erfolgreich getan, bis von Hegels „konstitutioneller Monarchie“, soweit sie sich auf den „Monarchen“ bezieht, nur noch ein Skelett übrig blieb, bis der politische Staat auf „Wille“ und „Macht“, auf ein lästiges Übel, auf ein „Relikt“ verkürzt war. „ReinigungsArbeit“815 wurde geleistet. Kelsen nimmt die Schlussreinigung vor. Er destruiert und radikalisiert den Positivismus alter Art. Seine „Reine Rechtslehre“ „reinigt“ den Staat von jeglicher Substanz, von allem „Organischen“ – erst vom Kaiser, nun auch vom „Volk“. Er schiebt dieses Skelett, das so ganz ohne Notwendigkeit zu sein scheint, endgültig zur Seite. Was herauskommt, ist der „reine“, der wertfreie Gesellschaftsstaat, der Staat als Geschäftsführung, der Staat ohne Eigenwert. Seine Leistung also: eine „Staatslehre ohne Staat bzw. eine Rechtslehre ohne

813 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: PuB, S. 75-83 814 Zum Beispiel die A. Webers (Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Berlin, Leipzig 1925, S. 77 f.). Er verweist auf L. v. Stein als denjenigen, der schon frühzeitig dagegenhält, der „unter Leugnung der Realisierbarkeit des reinen modernen Staatsgedankens … zum Postulat der Retablierung des alten Legitimismus in der Gestalt eines auf die proletarische Masse gestützten sozialen Königtums“ gelangt. Nicht aus reaktionär-feudaler Ambition heraus, sondern weil er das Schicksal eines solchen Staates vor Augen hat, weil er ihn von der Seite seines „erneuten abhängig Werdens von sozialen und von wirtschaftlichen Kräften“ sieht, weil er die Gefahr seiner Auflösung durch die hinter und in ihm liegenden neuen Wirklichkeiten“ klar erkennt. 815 Vgl. M. Stolleis, Der Methodenstreit …, a. a. O., S. 6.

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Recht“816. Der Sturz der Monarchie und das „Danach“ scheinen ihn zu bestätigen: Auch in der Praxis scheint jener Staat zu verschwinden, den er gerade theoretisch zu Grabe getragen hat. Was von ihm übrig bleibt, kommt seiner Vorstellung recht nahe: ein zum Staat „verdicktes“ Recht, ein „substanzloser“, aus seiner „Grundnorm“ geschöpfter Staat. Mit ihm scheint der Endpunkt erreicht: der von allen „ethischen und philosophischen Grundlagen“ gesäuberte Staat.817 Jede Quelle außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist zugeschüttet. Der Staat Hegels ist damit endgültig für tot erklärt. Der andere ist C. Schmitt. Ähnlich einem Lenin analysiert er die Veränderungen, die die kapitalistische Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts ökonomisch und politisch durchgemacht hat. Am auffälligsten und am schwerwiegendsten: die „Wendung zum Wirtschaftsstaat“. „Organisierter“ Kapitalismus und dessen politischer Ausdruck: der Pluralismus, schaffen eine „völlig neue Situation“. Auf sie ist mit dem „totalen“ Staat zu reagieren. Das geschieht nicht. Stattdessen herrscht nun mit dem zur Beute des „pluralistischen Parteienstaates“ gewordenen Parlament „ein in sich selbst widerspruchsvolles, die eigenen Voraussetzungen seines Sieges verleugnendes Gebilde“.818 Installiert wird etwas, dessen ursprünglicher Charakter und dessen ursprüngliche Funktion bereits weitgehend verloren gegangen sind. Was mit „Weimar“ entsteht, ist eine Notgeburt, ist ein doppelter Kompromiss. Nicht lange, und er wird dazu sagen: ein fauler Kompromiss. Was ist „Weimar“? „Eine gute Verfassung mit schlechtem Image“?819 Oder „eine äußerst komplizierte Art des Selbstmordes“?820 Für Schmitt ist es ein verspäteter Sieg des Liberalismus. Ein Sieg des „Freie-Konkurrenz-Kapitalismus“ als dieser schon zu Grabe getragen ist. Ein Sieg des bereits durch die Französische Revolution praktisch widerlegten jüngeren Naturrechts. Ein unzeitgemäßer Sieg. „Weimar“ ist ein Staat, der mit dem Instrumentarium von gestern die Verhältnisse von heute erfassen will. Ein Staat, der sich als modern und zeitgemäß ausgibt, indem er sich „Volksstaat“ nennt. Ein Staat, der sich dort liberal zeigt, wo er es jetzt nicht mehr dürfte. Kurz: ein Staat, der „die Probleme 816 K. Sontheimer, Zur Grundlagenproblematik der deutschen Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, in: ARSP 1960, S. 42. 817 W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus …, a. a. O., S. 377 ff., S. 383 u. S. 385. Seine Lehre steht für die „rigorose Vertreibung aller politischen, philosophischen und anderer, nicht im engsten Sinn juristischer Überlegungen aus der Rechtslehre“. 818 C. Schmitt, H, S. 81, 86. 819 Chr. Gusy, Eine gute Verfassung …, a. a. O., S. 74. 820 Kommentiert P. Schneider (Ausnahmezustand und Norm, Stuttgart 1957, S. 164) C. Schmitt.

Die Verwechslung des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft  |

des industriellen 20. Jahrhunderts mit den Mitteln des 19.“ zu lösen sucht.821 Schmitt ist ein „Mann mit der politischen Nase eines Jagdhundes“.822 Klarer als seine Kollegen erkennt er die Fragen der Zeit. Radikaler als diese antwortet er darauf.823 Wie Lackmuspapier reagiert er auf die neue Situation, spürt ihr über das rein Fachliche hinaus nach. Erfasst ihre ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Aspekte. Er nimmt die Spur auf, erkennt: Das „Politische“ hat sich vom Staat getrennt. Die Weimarer Republik ist ein Staat, der nicht, jedenfalls nicht im zureichenden Maße Herr des Politischen ist. Trotz „Volk“ und „Demokratie“. Daraus ergibt sich die Frage, wer denn nun der neue Herr des „Politischen“824 ist. Und auch die, wohin es führt, wenn der Staat nicht mehr das Monopol daran hat. Fest steht zunächst nur, dass mit Abdankung des Kaisers die politische Macht an die bürgerliche Gesellschaft fällt, vernachlässigt man die wenigen Tage einer wirklichen „Räteherrschaft“. Denn sie bleibt „übrig“; sie übersteht die Revolution. Und mit ihr überlebt die ihr eigene ökonomische Ungleichheit, die laut Hegel einer der Gründe ist, warum „Demokratie“ nun nicht mehr möglich ist. Das zieht eine ganze Reihe von Fragen nach sich. Zwei davon sind diese: Setzt diese ökonomische Ungleichheit sich nicht ins Politische fort? Und ist das jetzige Wahlrecht der „gleichen Stimmen“ hiergegen ein ausreichendes Korrektiv? Fragen, denen sich C. Schmitt widmet. Wie Lenin, wie M. Weber hat auch er bald den „Betriebsstaat“ im Blick. Und wie die beiden auch, erkennt er, dass dieser Staat durch eine nach außen und ins „Politische“ gewendete „Unternehmensleitung“ geprägt wird. Um den Unterschied deutlich zu machen: War bei Hegel das Politische ein Derivat des Sittlichen, so ist es jetzt Derivat des Ökonomischen. Während aber Weber dieser „Einzelleitung“ das Korrektiv „Parlament“ zur Seite stellt (gesellschaftsrechtlich gesehen: der Geschäftsführung einen Aufsichtsrat!), verwirft Schmitt den Parlamentarismus. Dieser hat seine Zeit hinter sich. Er ist nur noch „Blickfang“, „Fassade“, hinter der die jetzt tonangebenden „Mächte“ ihre Herrschaft realisieren. Schmitt setzt auf den Reichspräsidenten. Er baut darauf (oder tut so), dass dieser „Einzelleiter“ direkt vom Volk gewählt ist, dass er also, anders als das Parlament, das Volk repräsentiert. Das entfernt Schmitt von Weber und rückt ihn dicht an Lenin 821 G. Miglio, Einleitung, a. a. O., S. 279. 822 K. Polak, Die Weimarer Verfassung, a. a. O., S. 46. 823 S. dazu: W. v. Simson, Carl Schmitt und der Staat unserer Tage, in: AöR 1989, S. 188 f. 824 – um die Fragestellung aufzugreifen, um die das staatsrechtliche Werk C. Schmitts zentriert ist; s. dazu: E.-W. Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 283–299.

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heran.825 Lässt man den Zusatz „des Proletariats“ beiseite, sind diese beiden sich einig: Es bedarf der Diktatur. Zwar ist es seit Hegel nicht neu, was C. Schmitt in seiner „Verfassungslehre“826 schreibt. Dass nämlich der „Not- und Verstandesstaat“, dass der reine „Gesellschaftsstaat“ für sich allein keinen Staat abgibt, dass er immer in Verbindung stehen muss mit dem anderen, für Hegel: dem eigentlichen, dem politischen Staat. Deswegen ist es zunächst einmal verdienstvoll, dass Schmitt das Thema anspricht. Aber er tut es auf der Grundlage seines philosophischen Dezisionismus. Und er optiert für den „totalen“ Staat. Außerdem für „Volk“ und für den „Mythos“. Die Lösung, die er sucht, liegt daher, objektiv gesehen, innerhalb der „produzierten“ Natur. Wie für Marx, wie für Lenin ist auch für ihn die „Produktion“ Quelle des jetzigen „Politischen“. Schmitt pocht auf die Verfassung. Schließlich wird ihrem Text nach die Politik, wird der politische Staat dem „Volk“ überantwortet. Über „Volk“ also bringt er die „Produktion“ in Stellung und macht deren Belange gegen „Weimar“ geltend. Von dieser Plattform aus stellt er „Weimar“ bloß und beginnt mit dessen Demontage. Der rote Faden, der sich durch seine Schriften zieht: „Das Politische kann nicht vom Staat … getrennt werden“.827 Das aber ist schon längst der Fall. Schmitt konstatiert einen „Polyzentrismus“ des Politischen. Mit ihm verbunden: eine „pluralistische Auflösung“ des Staates.828 Sie hat zur Folge, was vor ihm bereits H. Laski (auf den er sich auch bezieht) für England konstatierte: „dass der Staat nicht mehr souverän“ ist829, dass er, wie Hegel formuliert, nun „willenloser Mittelpunkt“830 geworden ist. Statt beim Staat monopolisiert zu sein, ist das Politische jetzt auf die „pluralistischen Kräfte“ zerstreut, d. h. auf jene „fest organisierte[n], durch den Staat … hindurchgehende[n] soziale[n] Machtkomplexe, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein.“831 Ihre Sorge gilt ihren partikularen Interessen, nicht den Interessen des Ganzen. „Mächte“ und „Kräfte“ haben das Sagen, die bisher nicht zum offiziellen „Bestand“ der 825 Das ist von Teilen der „Linken“ durchaus richtig erkannt worden und bildet daher die Basis des sog. Linksschmittianismus (s. dazu: M. Lauermann, Begriffsmagie. „Positionen und Begriffe“ als Kontinuitätsbehauptung, in: H.-G. Flickinger (Hg.), Die Autonomie des Politischen. Carl Schmitts Kampf um einen beschädigten Begriff, Weinheim 1990, S. 106). 826 C. Schmitt, VL, S. 125 ff. 827 Ebd., S. 125. 828 C. Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Kant-Studien 35 (1930), S. 30. 829 E. Fraenkel, Der Pluralismus …, a. a. O., S. 11. 830 Hegel, VPhG, S. 61. 831 C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Ders., VA, S. 71.

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bürgerlichen Gesellschaft gehörten bzw. die bisher im Schatten standen. Jetzt dominieren sie die moderne Ökonomie; indem sie sich die Parteien und das Parlament unterordnen, sie beide zu ihrem Sprachrohr machen, dominieren sie auch das Politische. Damit ist einerseits das Volk entmachtet. Andererseits sprengen sie auch den Rahmen der traditionellen bürgerlichen Gesellschaft, weil sie sich deren Verständnis von Staat und Recht entziehen. Überhaupt stehen sie außerhalb der traditionellen Begrifflichkeit. Daher nimmt die WRV von ihnen „als dem empirisch wirklichen Zustand, wie man ihn heute in den meisten industriellen Staaten beobachten kann“832, wenn überhaupt, nur am Rande Notiz, reagiert darauf mit der Methode „der Ignorierungen“, wie Schmitt immer wieder kritisch anmerkt. Der Staat ist auf das reduziert, was er nach Hegel nicht sein darf: reines „Instrument“ des jetzt dezentralisiert existierenden Politischen. Das macht ihn schwach, macht ihn zum Spielball, zum Erfüllungsgehilfen der bürgerlichen Gesellschaft und der sie jetzt dominierenden, politisch gewordenen ökonomischen „Mächte“ und „Kräfte“.833 „Weimar“ ist ein totaler (Gesellschafts-)Staat, wird Schmitt 1932 sagen. Aber einer aus Schwäche: Er ist nicht Herr, sondern Diener des Politischen. Mit diesem Urteil steht er nicht allein.834 Scheinbar ist Deutschland mit ihm im Westen angelangt. Doch ein bedeutsamer Unterschied bleibt: Engländer und Amerikaner haben den Umgang mit dem reinen Gesellschaftsstaat mehr als hundert Jahre lang „üben“ können. Sie haben ihn in der ihnen „eigenen realistischen Unbefangenheit … als Konsequenz der modernen demokratischen Entwicklung“ anerkannt.835 Und, was besonders wichtig ist: Mit ihrem nach „hinten“ und (damit) „vorn“836 geöffneten Common Law haben sie die jetzt 832 C. Schmitt, Staatsethik, a. a. O., S. 31. 833 Begriffe, die im Zentrum der Arbeit E. Rosenstocks „Vom Industrierecht“ (Berlin, Breslau 1926) stehen. Diese schon damals wenig beachtete und heute vergessene Arbeit ist ihrer theoretischen Güte wegen auch heute noch von großer Aktualität. Denn in ihr werden die ab der Jahrhundertwende tonangebenden ökonomischen „Neuheiten“ der bürgerlichen Gesellschaft einer juristischen Bewertung zugeführt, deren Niveau noch heute Bestand hat. 834 A. Weber (Die Krise …, a.  a.  O., S.  124), bezogen auf das verabschiedete Kaiserreich: „Ein Unheilstalent ohnegleichen“ hat dazugehört, „das beinahe unerschöpfliche Kapital dieser selbstständigsten Staatsexistenz der Erde in weniger als fünf Jahren nahezu gänzlich zu verschleudern. Aber das ist geschehen.“ Dabei hätte „Weimar“ angesichts der existenziellen Probleme, mit denen es von Anbeginn und jetzt verschärft konfrontiert ist, einen „ganzen“ (und „starken“) Staat gefordert, nicht diesen „halben“. 835 U. Scheuner, Politische Repräsentation und Interessenvertretung, in: DÖV 1965, S. 577. 836 Die also den feudalen Hintergrund ihres Rechts nutzen können, um die – aus deutscher Sicht – neofeudalen Phänomene, die sich mit dem „Pluralismus“ in Verbindung setzen, auffangen zu können.

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auftretenden – aus deutscher Sicht neofeudalen – Phänomene schrittweise, dem konkreten Bedarf entsprechend, in neodemokratische umgedeutet und als neue Demokratieformen willkommen geheißen und eingemeindet. Sie finden also mit der „pluralistischen Demokratie“ einen Weg, der zwischen der Ablehnung dieser neuen „Kräfte und Mächte“ durch Liberalismus und Totalitarismus liegt.837 In Deutschland aber werden sie ignoriert. Anders C. Schmitt. Er sieht sie als Größen, denen die „Pflicht zum Staat“838 entgegenzusetzen ist. Dies zu leisten, wäre bereits Aufgabe der Revolution gewesen. Ein Blick nach Osten bestätigt ihn: Lenin hat es besser gemacht. In Russland ist das Politische bei den Bolschewiki konzentriert; dort ist die Partei mit dem „Not- und Verstandesstaat“ zusammengeführt worden; dort tritt die Partei an die Stelle des Zaren. Ähnliches hätte auch in Deutschland geschehen müssen, wenngleich Schmitt dabei andere politische Kräfte im Auge hat als jene, die jetzt in Russland das Sagen haben. Es ist die Auseinandersetzung mit diesem Defizit – eingeschlossen der Blick nach Osten –, die Schmitt zum Dezisionisten macht. Vorher eher Hegel verpflichtet und mehr Hegelianer als so mancher, der sich so nennt, hängt er nun Hobbes an. Aber genauso gut könnte er Lenin anhängen, der in Russland gerade praktiziert hat, wie eine Revolution zu Ende geführt wird. In der Radikalität seines Denkens steht er jetzt jedenfalls in einer Reihe mit ihm und seiner Analyse des modernen Kapitalismus.839 Anders als bei Lenin bleibt jedoch seine weltanschauliche Basis unklar – was sich darin zeigt, dass er durchweg mit unklaren Begriffen, wie „Volk“, „Demokratie“ und „Mythos“, hantiert. Oder so gesagt: Während Lenin eine klar definierte Position bezieht und die zur politischen Macht gewordene „Arbeiterklasse“ in der „Diktatur des Proletariats“ mit dem Staat vereinen will, zielt Schmitt eine solche Vereinigung auf der Grundlage solcher vergleichsweise schwammigen Begriffe an. Was sie damit eint, ist, dass 837 E. Fraenkel, Der Pluralismus …, a. a. O., S. 10: „Als eine Theorie der autonomen Gruppenbildung steht der Pluralismus unter doppeltem Kreuzfeuer, unter dem Beschuss des Totalitarismus, weil er sich zum Prinzip der aktiven Mitwirkung autonomer Gruppen, und unter dem Beschuss des Liberalismus, weil er sich zum Prinzip der aktiven Mitwirkung autonomer Gruppen in dem Prozess der politischen Willensbildung bekennt.“ (Hervorhebung bei E. F.) 838 C. Schmitt, Staatsethik, a. a. O., S. 42. 839 Zum Beispiel in: Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus. Unzufrieden mit der Fehlleistung der deutschen Politik und auch der Staatsrechtswissenschaft blickt er nach Osten, „wo im roten Feuerschein der Revolution ein neuer Leviathan geboren wurde“. Und später blickt er nach Italien, wo ebenfalls ein neuer Staatstyp kreiert wird. Er ist beeindruckt von dem, was er hier wie dort sieht; sein bisheriges, traditionelles Denken wird dadurch „destabilisiert“ (R. Altmann, Analytiker des Interims, in: K. Hansen/H. Lietzmann (Hg.), Carl Schmitt und die Liberalismuskritik, Opladen 1988, S. 28).

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sie sich überhaupt um das „Politische“ verdient machen und damit, mindestens partiell, Hegel aufgreifen. Denn die Fragestellung nach dem „Politischen“ ist „hegelisch“.840 Aber sie erreichen Hegel nicht, bleiben gewissermaßen an der Schwelle seiner Staatsphilosophie stehen, weil sie beide innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft agieren, beide eine „Bestimmtheit“ in den Mittelpunkt rücken und von ihr aus theoretisieren. Die von ihnen angestrebte Lösung setzt lediglich Teile – unterschiedliche, entgegengesetzte Teile – der bürgerlichen Gesellschaft an die Stelle des untergegangenen politischen Staates. Im Prinzip also eine „Klassenlösung“, die von daher bei Marx (bei Lenin) und bei Hobbes (bei Schmitt) philosophisch verankert ist. Der sittliche, der von der „organischen“ Natur dominierte Staat Hegels wird von beiden verfehlt; beide bleiben unterhalb desselben, beide steuern auf eine (Gesellschafts-)Diktatur zu, auf den „Leviathan“. Lenin vertritt seinen Klassenstaat offen. Schmitt hingegen nutzt den „Volksstaat“ als Steilvorlage, um die WRV zu demontieren. „Mit großem Geschick“ spielt er deren „verschiedene Bestimmungen oder Teile … gegeneinander aus“, führt er sie als Ganzes „ad absurdum“.841 Er will Wirkung erzielen. Und da er sieht, dass der „stärkere Mythos im Nationalen“ liegt, wie ihm F. Tönnies842 1927 „bescheinigt“, entscheidet er sich für ihn; setzt auf das „Nationale“ und damit Irrationale, setzt auf „Volk“. Wenn er also gegen „Weimar“ und zugunsten von „Volk“ polemisiert, indem er den grundsätzlichen Unterschied von „Volk“ und „bürgerlicher Gesellschaft“ hervorhebt, mobilisiert er bereits das demagogische Potenzial seines Ansatzes. Hochproblematisch und gefährlich deshalb, weil er darauf seine Freund-Feind-Theorie stützt. Denn nur das in diesen Freund-Feind-Zusammenhang gestellte Volk ist für Schmitt ein politisches Volk. Will das Volk also seine verloren gegangene politische Bedeutung zurückgewinnen oder überhaupt politische Bedeutung gewinnen, muss es sich zur Freund-Feind-Unterscheidung bekennen. Insofern setzt die angestrebte Rückgewinnung des „Politischen“ eine Repolitisierung des 840 Vgl. dazu: L. Siep, Die Aktualität der praktischen Philosophie Hegels, in: W. Welsch/K. Vieweg (Hg.), Das Interesse des Denkens, Paderborn 2003, S.  191–204, bes. S.  200–204. Unter dem Gesichtspunkt des „Politischen“ untersucht J.-F. Kervegan die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Hegel und Schmitt ( J.-F. K., Politik und Vernünftigkeit. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Hegel, in: Der Staat 1988, S. 371–391). 841 K. Sontheimer, Zur Grundlagenproblematik …, a. a. O., S. 53 f. 842 F. Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus, a. a. O., S. 196; zwei Jahre vorher stellt R. Thoma (Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, in: Archiv für Sozialwissenschaft 53 [1925], S. 217) bereits die Sympathie C. Schmitts für die „Irrationalität des Mythischen“ fest.

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Volkes voraus, die im Grunde nur über Demagogie zu erreichen ist.843 Gegenüber Lenin führt Schmitt somit eine Diktaturvariante „im Köcher“, die sich auf das „politisch“ gemachte Volk stützt. Noch hat er das Visier nicht hochgeklappt. Aber nach der „Machtergreifung“ Hitlers zögert er nicht und stellt sich auf den Boden der jetzigen Tatsachen. Wird zum „Märzgefallenen“. Setzt nun auf die „Volkheitsdiktatur“; wird, wenigstens in den nächsten vier Jahren, deren eifriger Theoretiker.844

IV.2 Aus dem Hut gezaubert: „Volk“ und „Demokratie“ im Nachkriegs-Deutschland IV.2.1 Unter fremder Flagge: Der „Volksstaat“ Von der Präambel bis zum Schlussartikel 181 zieht sich „Volk“ durch den Text der WRV.

•• „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen …, hat sich diese Verfassung gegeben.“ (Präambel) •• „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Art. 1) •• „Der Reichstag besteht aus Abgeordneten des deutschen Volkes.“ (Art. 20) •• „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.“ (Art. 21)

Am Anfang steht das Wort. Ein unklares, zweideutiges Wort, auf das sich die politischen Akteure einigen.845 Ein Schlagwort. C. Schmitt greift es auf. In der gleichen Weise, wie Lenin das „Proletariat“, rückt er das „Volk“ in die Mitte. 843 S. dazu den Diskussionsbeitrag von R. Hepp (in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 308–314). Er zeigt auf, wie der „unscharfe“, „zwielichtige“ Begriff des Politischen von Schmitt zur „Verwandlung des ‚Volkes‘ qua ‚ethnische‘, ‚soziale‘ oder ‚kulturelle‘ Einheit in einen ‚Staat‘“ genutzt wird. Hepp polemisiert, nicht unberechtigt, gegen den Beitrag von Böckenförde, von dem er meint, dass er dazu dient, der schmittschen Verfassungslehre die „Zähne zu ziehen“. 844 S. dazu: J.-F. Kervegan, Politik und Vernünftigkeit, a. a. O., S. 374; er hebt hervor, dass Schmitt, ein exzellenter Hegelkenner, mit dieser Wendung zum „Volk“ den Abstand zur Denkweise Hegels vergrößert. „Sein Eintritt in die NS-Bewegung wird … die Gegensätzlichkeit zu Hegel verschärfen.“ Das wird uns noch näher beschäftigen. 845 G. Lenz in seiner Besprechung von H. Liermann, Das deutsche Volk, in: AöR 58 (1930), S. 450: „Denn wenige Kategorien bedürfen so dringend einer Klärung und sind doch auch wieder so schwer zu fassen wie diese.“ Das hat sich bis heute nicht geändert. W. Leisner fragt 2005, ob

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Beide sind Dezisionisten. Weil aber „Proletariat“ die realere Größe, „Volk“ eher ein „Mythos“ ist, ist der Dezisionismus des einen ein „rationaler“, der des anderen ein eher „irrationaler“.846 Lenin ist Marxist. Schmitt indes hängt einem G. Sorel an, dessen Philosophie „von außerordentlicher Leere und Vagheit“847 geprägt ist. Volk: Die WRV, auch das spätere Bonner Grundgesetz, beide nehmen in ihren jeweiligen Regelungen (Art. 20 und 21 WRV sowie Art. 38 Abs. 1 GG) darauf Bezug, um unter anderem gleichlautend zu sagen: Die zum Reichstag/Bundestag gewählten Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes“. „Aber“, hakt hier C. Schmitt ein: „Trotz des Art. 21 … ist der Abgeordnete nicht der Vertreter des ganzen Volkes, sondern der an Weisungen gebundene Parteifunktionär.“848 Was ist „Volk“? Man solle es der Wissenschaft überlassen, den Begriff auszufüllen, meinen einige der Akteure. Versuche dazu gibt es. Aber gerade der seriösere und dem Staatswesen „Weimar“ verbundenere Teil der Wissenschaft beißt sich daran die Zähne aus. Noch klüger sind die, die sich daran gar nicht erst beteiligen. 1929, nach vielen Versuchen, Klarheit zu gewinnen, herrscht noch immer Ratlosigkeit. H. Kelsen dazu: „Demokratie bedeutet Identität von Führer und Geführten, von Subjekt und Objekt der Herrschaft, bedeutet Herrschaft des Volkes über das Volk. Allein was ist dieses ‚Volk‘?“849 Noch heute wird so gefragt.850 Für die einen (zum Beispiel H. Preuß) wird der „Volksstaat“ ehrliches Anliegen. Andere mögen gewusst haben, dass mit ihm die Revolution am besten konterkariert werden konnte. Denn „Volk“ und „Volksstaat“ sind bestens geeignet, klare und unterschiedene Tatbestände zu vermischen und zu verwechseln. mit „Volk“ mehr gemeint ist „als ein demagogisch-verbaler Zurechnungspunkt, mehr als eine juristisch unverbindliche Proklamation“ (Das Volk, Berlin 2005, S. 18). 846 Vgl. dazu die Beiträge von G. Maschke (Die Zweideutigkeit der „Entscheidung“  – Thomas Hobbes und Juan Donoso Cortes im Werk Carl Schmitts) und E. Kennedy (Politischer Expressionismus: Die kulturkritischen und metaphysischen Ursprünge des Begriffs des Politischen von Carl Schmitt) in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, a.  a.  O., S.  193–221 u. S. 233–251. 847 G. Maschke, Die Zweideutigkeit …, a. a. O., S. 220. 848 P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, a. a. O., S. 161. 849 H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1929, S. 14. 850 F. Müller, Wer ist das Volk?, Berlin 1997. Auch E. Fraenkel fragt: Was ist heute „unter Volk eigentlich zu verstehen“? Und zur Demokratie: Fast jedes Regime berufe sich auf sie. Das sei Beleg dafür, „dass das Wort Demokratie als solches abgegriffen ist“, dass es ein Wort geworden ist, aus dem „keine klaren Vorstellungen mehr abzuleiten sind.“ (Deutschland und die westlichen Demokratien [erw. Ausg.], Frankfurt 1991, S. 278 f.) Zu E. Fraenkel und seinem „Gruppenvolk“ und seiner „pluralistischen Demokratie“ ausführlicher weiter unten (in Kapitel IV.6).

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„Organisches“ wird zu „Unorganischem“ und umgekehrt. Ein Vorgang, den Hegel in § 258 Rph beschreibt. Ein Unding wird kreiert: das „Gesellschaftsvolk“. Dazu da, „bürgerliche Gesellschaft“ und „Volk“ gleichzusetzen. Dazu da, Erstere hinter Letzterem zu verbergen, auch: um sie mit „Volk“ zu legitimieren. Eine Volksstaatsillusion, die sich auf „Konstruktionen und Fiktionen“851 gründet und zur Basis eines Scheinkonstitutionalismus wird. Mit „Volk“ wird ein Gegengewicht zur bürgerlichen Gesellschaft geschaffen, das keine „Wirklichkeit“ für sich hat. Der „Volksstaat“ ist in Wahrheit ein „Gesellschaftsstaat“. Und das Wahlrecht der „gleichen Stimmen“, auf das „Volk“ und „Volksstaat“ vorzugsweise gestützt werden? Max Adler, ein Vertreter jener zum „DemoLiberalismus“ (C. Schmitt) mutierten Sozialdemokratie, räumt ein: Kein noch so demokratisches Wahlrecht schafft eine Volksvertretung.852 Dazu sei der bürgerliche Demokratiebegriff einfach zu formal. Trotzdem sehen er und seine Genossen in der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts einen „Sieg der Demokratie“; sehen mit der quantitativen Ausdehnung des Parlamentarismus das Zeitalter der „Massendemokratie“ eingeläutet. Kritischer urteilt C. Schmitt: Der Parlamentarismus, mit dem sich „Weimar“ schmückt, gehört nicht zur Demokratie. Er ist Bestandteil der Gesellschaft, nicht des Volkes. „Die einstimmige Meinung von 100 Privatleuten ist weder Wille des Volkes, noch öffentliche Meinung.“853 In Hegels Diktion: Die Parlamentarier sind weder „Geschäftsführer des Weltgeistes“854 noch des Volkes; sie sind Vertreter gesellschaftlicher Gruppeninteressen. Diese Verwechslung, diese „grenzenlose Unterschiebbarkeit“855 wäre 75 Jahre früher nicht so tragisch gewesen. Denn da gab es ja das Gegengewicht: den Staat, den echten Staat. Aber heute? Schließlich zeigt die „bürgerliche Gesellschaft“, gemessen am Zustand vor hundert Jahren, ein deutlich anderes Gesicht. Eine Neuordnung des ihr zugehörigen „Not- und Verstandesstaat“ tut not – einschließlich seines Zubehörs „Parlament“, das für C. Schmitt zu „einer nicht mehr begreiflichen, veralteten Institution“ geworden ist.856 Nicht der „Markt“ und „Konkurrenz“ vor der Willkür der Marktteilnehmer beschützende Staat, nicht ein reaktiver, auf den Verstoß gegen „Marktgesetze“ „wartender“ und reagierender „Nachtwächterstaat“ wird gebraucht, sondern der aktiv einwirkende, der planende oder doch wenigstens mitplanende Staat 851 G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation …, a. a. O., S. 52. 852 M. Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, Darmstadt 1973, S. 197. 853 C. Schmitt, H, S. 13, 23. 854 Hegel, VPhG, S. 46. 855 C. Schmitt, H, S. 8. 856 Ebd., S. 21.

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ist das Ideal sowohl der Parteigänger des „organisierten Kapitalismus“ als auch jener einer „Diktatur des Proletariats“. Ein Staat also, der nach Grundsätzen organisiert ist und arbeitet, die das Innere der Unternehmung bestimmen; der „Betriebsstaat“ M. Webers. Mehr noch als durch Lenin und die Sowjetunion wird Schmitt durch das bestärkt, was in Italien zur Herrschaft gelangt ist. Die dortigen korporativen Lösungen haben es ihm angetan. Er wendet sich entschieden dagegen (und steht damit keineswegs allein!), das italienische Experiment als etwas absolut Antidemokratisches aufzufassen. So könne nur urteilen, wer die „Verschiedenheit von Demokratie und Liberalismus nicht nachdrücklich genug im Auge“ behält, wer diesbezüglich „noch nicht restlos auf die Konfusion des 19. Jahrhunderts verzichtet“.857 Lässt man diese hinter sich, macht man sich gedanklich frei von ihr, ergibt sich: Der Faschismus ist zwar antiliberal, was angesichts der Überlebtheit des Liberalismus ein Vorteil und kein Nachteil sei, aber nicht zwangsläufig auch undemokratisch. Was ist Demokratie? Wo gibt es sie? Bemühungen, ihrer in der Praxis aktuell bestehender Staaten „habhaft“ zu werden, sie empirisch nachzuweisen, gab es. C. Schmitt verweist auf W. Hasbach858 und dessen Werk. Aber dieser wird nicht recht „fündig“, auch andere, neuere Autoren nicht; sie liefern weniger den Beweis als den Negativbeweis – woran sich übrigens bis heute nichts geändert hat.859 Angesichts solch magerer, politisch unerwünschter Ergebnisse belässt es die Staatswissenschaft zunehmend dabei, die Demokratie als „gegeben“ vorauszusetzen, begnügt sich mit der Demokratiefiktion. Oder noch lieber das: Sie schließt sich dem „unorthodoxen“, richtiger wohl: dem die Erkenntnisse der klassischen Philosophie, auch die empirischen Befunde ignorierenden, insoweit unwissenschaftlichen Demokratiebegriff der Engländer und Amerikaner an, der aus „Liberalismus“ und „Demokratie“ „zusammengeworfen oder vermischt“ ist860 und überdies einen völlig anderen geschichtlichen Hintergrund hat. Die dortige unbefangene, trotzdem aber unrichtige Gleichsetzung von 857 C. Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates, in: Ders., PuB, S. 125. 858 W. Hasbach, Die moderne Demokratie (2. Aufl.), Jena 1921. 859 I. Maus (Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt 1994, S. 7 f. u. S. 28 ff.) hebt hervor, dass die gegenwärtige Diskussion zur Demokratie regelrecht auf dem Kopf steht. Rousseau und Kant, früher als Demokraten angesehen, werden jetzt als „aufgeklärt absolutistisch oder sogar ‚totalitär‘ verdächtigt“, während im Rahmen einer „Refeudalisierung des gegenwärtigen Demokratieverständnisses“ das feudale Widerstandsrecht der Barone gegen ihren König jetzt als „Demokratie“ gilt. 860 F. Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus, a. a. O., S. 173.

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Freiheit und Demokratie861 zieht magisch an. Sie in Deutschland „heimisch“ zu machen, ist das Bestreben von Jellinek & Co. Hiergegen tritt Schmitt an. Er wird nicht müde zu sagen, „dass Demokratie … und repräsentative parlamentarische Gesetzgebungs- und Regierungsform … unvereinbare Größen darstellen“862. Das ist nicht weit entfernt von dem, was auch H. Kelsen und F. Tönnies zu sagen haben. Eine andere Sache ist aber, dass er, vor allem aber: wie er diese „Demokratiequalle“ bekämpft. Er macht sich daran, ein Geheimnis zu lüften, das besser eines bleiben sollte, solange eine gesicherte Lösung nicht da ist. Er ruht und rastet nicht. „Immer wieder findet sich in neuen Wendungen und unter neuen Aspekten der Nachweis, dass Liberalismus und Demokratie nicht dasselbe, ja dass sie gegensätzlicher Natur sind, … und der Kampf richtet sich gerade gegen diese Verbindung gegensätzlicher Elemente und die damit hervorgerufene Verdunkelung und Verschleierung der wahren Situation.“863 Obzwar philosophisch keinen Augenblick richtig, hat diese Umdeutung für jenen Zeitraum, da das Bürgertum das Progressive an sich verkörpert und daraus legitimiert ist, für das ganze Volk, besser: für alle Klassen und Schichten zu sprechen, in die es sich aufgelöst hat, eine gewisse Berechtigung. Doch damit war Anfang des 20. Jahrhunderts Schluss. Trotzdem blieb es bei dieser Gleichsetzung, die seither nicht richtiger geworden ist und nur noch mit einem riesigen Propagandaaufwand behauptet werden kann. Längst täte es not, den Unterschied hervorzuheben. Das aber ließe eine zentrale Lebenslüge der modernen Gesellschaft offenbar werden. Besteht der Vorteil dieser Gleichsetzung doch darin, eine empirisch nachweisbare Größe, die „Freiheit“, dazu dienstbar zu machen, auch der Demokratie eine reale Existenz zu geben. Eine Existenz, die zum Glaubenssatz geworden ist, den viele Hüter der reinen Lehre meinen, gegen jeden Zweifel verteidigen zu müssen. Wie erwähnt: Die Umdeutung der „Freiheit“ in „Demokratie“ folgte der Abschaffung des Zensuswahlrechts auf dem Fuße. Dass aber der Übergang vom Wahlrecht für einige zum Wahlrecht für alle einen Vorgang, der grundsätzlich 861 S. dazu: W. Leisner, Demokratie. Selbstzerstörung einer Staatsform, Berlin 1978. Leisner verweist dort (S. 44) auf G. Jellinek, dessen Lehre „von der Religions- und Gewissensfreiheit als der hauptsächlichen Wurzel der amerikanischen Freiheitsrechte … die Überbewertung der ‚geistigen‘ Freiheiten als Grundlagen der Demokratie noch wesentlich verstärkt [hat]. So konnte es nun scheinen, als könne man die Eigentumsdiskussion aus der Demokratieentwicklung nahezu eliminieren, in der es doch stets vor allem um Meinungs- und Gedankenfreiheit gegangen sei. Doch dies war weder das Bild der älteren Demokratieformen, noch ist es das der neueren, ‚klassischen‘ parlamentarischen Demokratie.“ 862 P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, a. a. O., S. 161. 863 E.-R. Huber, Positionen und Begriffe (Bespr. C. Schmitt), a. a. O., S. 2.

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zur „Freiheit“ gehört, nicht plötzlich zu „Demokratie“ werden lässt, sollte eigentlich einleuchten. Parlament und Parlamentarismus sind liberale und damit „unorganische“ Einrichtungen und Errungenschaften. Sie werden durch diese bloß quantitative Erweiterung nicht „organisch“. Das erkannte bereits der junge Marx. In der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ weist er darauf hin, dass der Wegfall des Zensus lediglich ausdrückt, dass die „bürgerliche Gesellschaft sich [nun] erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst … erhoben hat“, mithin erst jetzt ein „philosophisches“ Verhältnis zur Art ihres Wählens gefunden hat.864 Dem Zensuswahlrecht lag eine enge, gewissermaßen „römische“ Auffassung von Eigentum zugrunde. Wir sahen schon, dass dieser „römische“ Eigentumsbegriff auf der politischen Ebene korrespondiert mit dem Status „frei“. Ihm steht der Status „unfrei“ gegenüber, der dem Sklaven auferlegt ist. „Wählen“ als ein an den Status „frei“ geknüpftes Privileg, widersprach von daher dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Auch wer nur Eigentümer seiner Arbeitskraft ist, ist „Person“ und muss daher wählen dürfen. Die Verallgemeinerung der Wahl führt also nicht über die bürgerliche Gesellschaft hinaus. „Person“ und „Eigentum“ werden lediglich ins Politische hinein richtiggestellt. Der Lohnarbeiter ist als Person und Staatsbürger akzeptiert. Gleichheit zieht ein; Gleichheit im Sinne des Freiheitsprinzips. Die bürgerliche Gesellschaft als „emanzipiertes Sklaventum“ beseitigt jeden privilegierten politischen Status, führt insofern zur Freiheit, macht aber gerade deswegen das an das Privileg „frei“ geknüpfte „antike realistisch-demokratische Gemeinwesen“ unmöglich.865 Die Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft stellt die Demokratie also grundsätzlich infrage, wischt auch ihre letzte Unterform, die absolute Monarchie, vom Tisch. Das jetzige Wählen hat nichts damit zu tun. Ergebnis der Wahl ist und bleibt die „Bourgeoisierepublik“, nicht die „demokratische Republik“.866 Eine „kolossale Täuschung“, diese Verwechslung. Tragisch und tödlich endend für so manchen, der ihr an den Wendepunkten der Geschichte erliegt, wie Marx am Beispiel Saint-Justs zeigt. Das Wählen (mit allem Drum und Dran) hat also mit „Volk“ und „Demokratie“ nichts oder nur wenig zu tun; es ist ein Vorgang, der zur bürgerlichen Gesellschaft gehört, unter die dortige Freiheit fällt und mit seinem „frei“ und „geheim“ durchaus dem privaten Gesellschaftsrecht folgt bzw. dort sein Vorbild hat. Aber gerade das, 864 MEW 1, S. 326. 865 MEW 2, S. 129 (Hervorhebung bei Marx); s. auch ebd., S. 123 f., wo Marx sich dieser „Umkehrung“ von „Demokratie“ zu „Freiheit“ widmet. 866 Vgl. F. Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus, a. a. O., S. 205.

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diese privatrechtliche Ausgestaltung, zerstört, „was zur Qualität des eigentlichen Volkes gehört: die elementare Einheitlichkeit“867, und führt zur „parteimäßigen, ideologischen Zerstückelung des homogenen Volkes“868. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass erst die politischen Kämpfe der ausgeschlossenen Massen diese Änderung herbeiführten. Das war beim Arbeitsrecht ebenso; auch dieses ist weitgehend Ergebnis des gewerkschaftlichen Kampfes der Arbeiterklasse, obwohl es zum bürgerlichen Rechtsbegriff gehört und lediglich einen – auch nach seinem Maßstab – unrichtigen Rechtsbegriff berichtigt. Das Gleiche bewirkt das „Wählen für alle“. Der vorher Ausgeschlossene, jetzt darin Einbezogene wählt nicht als Teil des Volkes, sondern als in die Reihen der Bourgeoisie Aufgenommenes, als Bourgeois. Aber wenn das auch nicht zur Demokratie führt: Es ist sehr geeignet, jenen „modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat“ zu begründen, der auf der „Freiheit“ beruht.869 Diese Kritik, hier vorgetragen von Marx und C. Schmitt, aber beliebig erweiterbar, leidet im Falle C. Schmitt daran, dass ein „Volk“ unterstellt wird, obwohl ein solches nicht mehr existiert. Schmitts Kritik wirkt von daher zwar schärfer und fundamentaler als jene von Marx, führt aber letztlich in die Irre bzw. ins Irrationale. Die WRV enthält einen im Entwurf von H. Preuß zunächst gar nicht vorgesehenen, breit angelegten Grundrechteteil – so breit angelegt, als müsse man sich auf alles gefasst machen, als müsse man sich vor diesem „Volksstaat“ in besonderem Maße schützen. Selbstverständlich findet sich hierfür eine Begründung. Und zwar die, dass nachgeholt werden müsse, was bisher, unter dem Kaiser, nicht realisiert werden konnte. Aber ist das der Grund? Ist das Grund genug? Schmitt wittert870, dass hier etwas nicht stimmt. Eher doch wohl so: Das ist Vorsorge. Vorsorge für den Fall aller Fälle. Für den schlimmen Fall, dass „Weimar“ doch zum „Volksstaat“ mutieren sollte. Vorsorge vor den Gefahren für Freiheit und Eigentum, die von der Volkssouveränität ausgehen könnten. Das ist nicht neu. Man denke an das Leveller-Agreement of the People von 1647, das einerseits Volkssouveränität proklamiert, andererseits deren Einschränkung durch die Grundrechte.871 Ein echter Volksstaat wäre also eine böse Überraschung für die bürgerliche Gesellschaft. Denn wie von J. Stahl bereits 60 Jahre zuvor zum Ausdruck gebracht: Der „Volksstaat“ wäre die absolute Verirrung. Viel gefährlicher 867 C. Schmitt, VL, S. 230. 868 P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, a. a. O., S. 149. 869 MEW 2, S. 129 (Hervorhebung bei Marx). 870 S.  dazu seine Abhandlung „Grundrechte und Grundpflichten“ in: C. Schmitt, VA, insbes. S. 194 ff. 871 Vgl. dazu: H. Klenner, Der Grund der Grundrechte bei Hegel, a. a. O., S. 254.

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als der monarchische Polizei- und Obrigkeitsstaat. Von daher versteht es sich, dass die Aufnahme des „Volkes“ in den Staatsbegriff sofort die Gegenreaktion hervorruft: die Verlagerung des Rechtsstaatsbegriffs auf den „Justizstaat“, die „Verfassungsumgehung“872, die Loslösung der Rechtsstaatsdoktrin von der Lehre vom Verfassungsstaat mit der Argumentation, damit den „Absolutismus der Parlamentsherrschaft“ zu brechen.873 Eine Absicherung der „Freiheit“ muss her, die weiter geht als zu Zeiten der konstitutionellen Monarchie. Die Widersprüche liegen offen zutage. Trotzdem bleiben sie unbeachtet. Oder richtiger: Sie werden beachtet, indem sie von der Politik und ihren juristisch geschulten Helfern mittels einer „gegensatzaufhebende[n] Begriffsbildung“874 zugedeckt werden. Das geht nicht lange gut. Bald zeigt sich, dass „Weimar“ die Erwartungen keiner Seite erfüllt. „Weimar“ ist so weit rückwärtsgewandt, so wenig wirklichkeitsbezogen, dass die beiden wesentlichen Quellen/Faktoren und Antipoden des „organisierten Kapitalismus“ und seiner politischen Ausdrucksform, des „Pluralismus“: Großkapital und organisierte Arbeiterklasse, sich gleichermaßen darin nicht wiederfinden. Beide haben Grund zur Klage, dass dieser Staat sie ausgrenzt, dass er nicht genug „ihr“ Staat ist. Auf das von der WRV sorgsam umschiffte Thema „Pluralismus“ wird verwiesen. „Weimar“ hat sich nicht für beide Seiten entschieden. Oder für eine von ihnen. Es hat sich vor einer Parteinahme gedrückt und sich stattdessen in die Vergangenheit und in einen „Demokratiebrei“ geflüchtet. Alles ist unklar und verschwommen. Klarheit tut not. Schmitt will sie schaffen und fordert: „Beides, Liberalismus und Demokratie, muss voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht.“875 Es müsse deutlich gemacht werden, dass „Weimar“ nicht auf „Freiheit“ und „Demokratie“ zugleich beruhen kann, wenn nicht mindestens hinzugesagt wird, dass es allenfalls eine konstitutionelle, eine durch die „Freiheit“ eingeschränkte Demokratie sein kann. Dieser Aufgabe verschreibt sich Schmitt. Er nimmt ernst, was in der Verfassung steht. Er analysiert die Worthülsen, die 872 C. Bilfinger, Verfassungsumgehung. Betrachtungen zur Auslegung der Weimarer Verfassung, in: AöR NF 11 (1926), S. 163. 873 Vgl. dazu: R. Meister, Das Rechtsstaatsproblem in der westdeutschen Gegenwart, Berlin 1966, S. 57. 874 F. Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration. 1949–1970, München 2004, S.  51; „gegensatzaufhebend“ ist hier nicht im Sinne der hegelschen Dialektik zu verstehen, sondern bezogen auf die „dilatorischen Formelkompromisse“, „gegensatzaufhebend“ hier also gemeint als „fauler“ Kompromiss. 875 C. Schmitt, GL, S. 13.

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sich um „Volk“ und „Volksstaat“ ranken, unterzieht sie einer Tiefenprüfung. Er arbeitet – unüblich für die Zunft, ja gegen den Trend, sie zu verdecken – die Unterschiede heraus: jene zwischen Volk und bürgerlicher Gesellschaft. Jene zwischen Demokratie und Freiheit. Jene zwischen Rechtsstaat und politischem Staat. Vielleicht anfangs wirklich nur im Dienst der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Klarheit wegen. Das führt ihn zu Einsichten, die jenen verschlossen bleiben, die die genannten Begriffe als einen „Einheitsbrei“ oder – was dem gleichkommt – in angelsächsischer Manier behandeln. Und gleichermaßen gilt das für die Lösungen, die er findet. Aber immer deutlicher nähert er sich dabei jener Strömung an, arbeitet ihr in die Hände, die im Rahmen einer „Volksstaat“Demagogie vorgibt, den „wahren“ Volksstaat anzustreben.876 Ein gefährlich‘ Ding, dieses „Volk“; wer damit hantiert, spielt mit dem Feuer, verschreibt sich zwar nicht dem Teufel, aber – wie C. Schmitt – dem „Irrationalismus“.877 „Weimar“ laviert zwischen den Fronten. Es bleibt an der Oberfläche. Gegensätzliches, qualitativ Verschiedenes wird zu Korrelierendem erklärt. Liberalismus und Demokratismus werden in einen Topf geworfen und zu einem Brei verquirlt. Faule Kompromisse prägen das Bild. E.-R. Huber drückt es in der Rückschau, auf dem vermeintlich sicheren Boden der tausendjährigen „völkischen“ Ordnung und bezogen auf die WRV, so aus: Sie „enthielt kein eigenes schöpferisches Prinzip, sondern kapitulierte, indem sie sich zum Liberalismus und zur Demokratie bekannte, vor den Ideen von 1789“878. Für völlig falsch hält er, dass in ihrem Mittelpunkt die Gesellschaft steht sowie all das, was sich um sie rankt: Parteien, Parlamentarismus, Wahlen etc. Der Staat bleibt „Organ der 876 Mit „Volk“ betritt Schmitt zugleich eine Plattform, die klassenüberhoben ist. Sein ideologischer Standort ist dadurch weitgehend verdeckt und täuscht, von „links“ betrachtet, mehr „antimarxistische Hegelstrategie“ (R. Mehring, Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundeinstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989, S. 20: „Schmitts antimarxistische Hegelstrategie ist die politische und ästhetische Kryptik des publizierten Werkes, aber nicht sein Glaube.“) vor, als sie wirklich ist – was erklärt, warum C. Schmitt, beginnend in Italien, ab den 1970er Jahren zunehmend von der Linken entdeckt wird. Und tatsächlich tragen Schmitt und sein Werk wesentlich zum Verständnis dessen bei, was im Dritten Reich, was aber auch in der Sowjetunion juristische Praxis wurde, ohne theoretisch je in dieser Klarheit dargelegt worden zu sein. Schmitts Werk verhilft daher noch im Nachhinein zum Verständnis auch der staats- und rechtstheoretischen Grundlagen des realen Sozialismus. Jeder, der sich mit deren Aufarbeitung befasst, ist früher oder später mit dieser Tatsache konfrontiert. 877 S. dazu die mit kritischem Unterton an C. S. gerichteten Ausführungen bei F. Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus, a. a. O., S. 194 ff. 878 E.-R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches (2. Aufl.), Hamburg 1939, S. 28.

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Gesellschaft“, rügt er.879 Schlimmer noch: Organ einer Gesellschaft, die in einer Gestalt wahrgenommen wird, die sie längst abgeworfen hat. Die Unfähigkeit dieser Republik, adäquat zu handeln, die ewige Abfolge „dilatorischer Formelkompromisse“, ihre Zerrissenheit, all das hat hierin seine Ursache. Dieser Staat ist ein Kunstwerk, erkennt Schmitt. Aber ein schlechtes. Alles an ihm ist widernatürlich, ist ohne Notwendigkeit, ja ist gegen das Notwendige gerichtet, ist „Halbdurchführung“ der auf der Tagesordnung stehenden Revolution880, ist entarteter, als „Demokratie“ maskierter Liberalismus. Dessen schon tot geglaubte Fiktionen feiern in „Weimar“ fröhliche Urständ. Darunter: das „Individuum“ und sein „freier Wille“. Das ist für Schmitt in allerhöchstem Maße wirklichkeitsfremd! Sind denn dem „freien Willen“ inzwischen nicht überall Stoppzeichen gesetzt? Muss er sich nicht überall, wo es wichtig ist, übermächtigen „Sachzwängen“ beugen? Disziplin, Ordnung, Rechnungsführung, Kontrolle – das sind die Kennzeichen des neuesten Kapitalismus und seines Staates. Siehe Lenin! Der hat es erkannt; der will sie in Sowjetrussland, dem sie fehlen, „sesshaft“ machen. Nicht Personen agieren mehr, geben den Ton an, sondern – wie Rosenstock, ein Autor dieser Zeit wirklichkeitsnah und plastisch formuliert – „Mächte und Kräfte“. Das Zeitalter der Institutionen, der Ordnungen ist zurückgekehrt. Sie stehen mit ihnen in Verbindung. Nicht von ungefähr verweist Schmitt, wenn er von seinem „totalen Staat“ spricht, auf die Herausbildung der absolutistischen Staaten im 16. und 17. Jahrhundert, die sich „gerade durch ihren gut funktionierenden bureaukratischen Apparat in charakteristischer Weise als ‚Staaten‘ von den Rechtsgemeinschaften des mittelalterlichen bloßen ‚Rechtsbewahrstaates‘ … abheben“881. Bald wird „Weimar“ von allen Seiten, von all jenen attackiert, die jenseits des „Leitbildes“, die aufseiten jener „Mächte“ und „Kräfte“ stehen, die jetzt das Sagen haben. Und ein noch gefährlicherer Feind erwächst ihm aus jenen Kräften, die „Volk“ ernst nehmen (oder dies vorgeben) und anstreben, den „Volksstaat“ in eine „Volkheitsdiktatur“ umzuwandeln. Entsprechend dem doppelten Mangel, an dem „Weimar“ leidet, treten folglich zwei große Gruppen auf den Plan: Zum einen jene Gruppe, die sich um den „ganzen“ Staat bemüht und dazu auch auf Hegel zurückgreifen wird. Zum anderen jene Gruppe, die zwar den „Gesellschaftsstaat“ akzeptiert, aber nicht jenen, der auf „Markt“ und 879 Ebd., S. 162. 880 Vgl. C. Schmitt, VL, S. 309 f.; mehr will die liberale Bourgeoisie nicht – und mehr will auch die zum „Sozial-Liberalismus“ degenerierte Sozialdemokratie nicht, wie Schmitt unter Bezugnahme auf L. v. Stein und K. Marx darstellt. 881 C. Schmitt, LL, S. 11.

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„freie Konkurrenz“ gegründet ist, sondern einen, der „Betriebsstaat“ im Sinne M. Webers ist, der, in marxistischer Terminologie, nicht von der „Zirkulation“, sondern von der „Produktion“ her zu begreifen ist. Auch diese Gruppe ist wiederum in zwei feindliche Lager gespalten. Lenin ficht für den vom Proletariat her begründeten „Betriebsstaat“, den er „Syndikatsstaat“ nennt und dessen politischer Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ ist. Und C. Schmitt? Auch er unternimmt es, den „Staat als Betrieb zu beschreiben“.882 Und für wen tut er das? Wohl doch für jene „Mächte“, die mit dem „organisierten Kapitalismus“ im Bunde stehen. Dafür spricht jedenfalls einiges.883 Nicht zu übersehen ist, dass sein wissenschaftliches Werk von Anfang an von jenen Wandlungen der bürgerlichen Gesellschaft geprägt ist, die auch Lenins Imperialismusanalyse zugrunde liegen. Beide erkennen gravierende, qualitative Abweichungen vom „Normalfall“ der bürgerlichen Gesellschaft, der sich ökonomisch um „freie Konkurrenz“ und politisch um „Parlamentarismus“ rankt. Was Lenin der Umschlag ins Monopol ist, ist für Schmitt der Umschlag des bisherigen „Nachtwächterstaates“ in den „totalen“ Staat. Beiden geht es also nicht schlechthin um den „Gesellschaftsstaat“, sondern um den aktuellen, um den, der aus der ihnen gemeinsamen, antizipierenden, noch dazu: ökonomisch geprägten Sichtweise heraus nur „Betriebsstaat“ sein kann. Es geht beiden um den zeitgemäßen „Not- und Verstandesstaat“; um den Umbau des jetzigen in einen solchen. Er kann nicht von ökonomischen Größen abgeleitet werden, die längst außer Kurs gesetzt sind: Markt, Konkurrenz, Gesetz. Er muss vielmehr von daher begriffen werden, was ihnen nachfolgt, was sich an deren Stelle setzt: „Betrieb“ statt Markt, „Plan“ statt Gesetz, „Mächte“ statt „Einzelner“. Und das Prinzip der „Direktion“, das, ins Politische übertragen, zur Diktatur führt. Vom Ökonomischen her gesehen, geht es also um den totalen Staat. Sein politischer Ausdruck ist die Diktatur. Für Lenin ist es die „Diktatur des Proletariats“. Schmitt, der mit „Volk“, richtiger wohl: dem Mythos „Volk“ argumentiert, steuert auf die „Volkheitsdiktatur“ zu. Noch ist Schmitt nicht so weit. Noch „spielt“ er mit „Volk“ nur; nutzt diese „Begriffshülse“; nutzt sie als Vorlage für seine „scharfe und schneidende Polemik“ 882 A. Adam, Rekonstruktion des Politischen, Weinheim 1992, S. 2. 883 Falsch wäre es m. E., C. S. zu unterstellen, er stehe sowohl den „Mächten“ wie den „Kräften“ neutral gegenüber. Während Lenin den totalen Staat für die „Kräfte“ will, will ihn Schmitt eher für die „Mächte“. J. Seifert, Theoretiker der Gegenrevolution – Carl Schmitt (1888–1985), in: Redaktion KJ (Hg.): Die juristische Aufarbeitung des Unrechtsstaates, Baden-Baden 1998, S. 365: „Es kommt bei Carl Schmitt darauf an zu fragen, gegen wen denkt er, für wen, in welcher Situation.“

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gegen das in „der Weimarer Verfassung … verwirklichte liberaldemokratische System“.884 „Volk“ dient ihm dazu, um „Weimar“ bloßzustellen, es ad absurdum zu führen. Aber er ist längst im Fahrwasser des „stärkeren Mythos“, der mit „Volk“ und „Führer“ im Bunde steht. Linke und rechte Diktatur unterscheiden sich nicht unbedeutend durch ihr Verhältnis zum Privateigentum. In der „linken“ Diktatur verschmelzen aufgrund des Staatseigentums an den Produktionsmitteln Ökonomisches und Politisches in ungleich höherem Maße miteinander. Die „rechte“ Diktatur bleibt in diesem wichtigen Punkt sehr viel stärker arbeitsteilig verfasst. Sie bietet deswegen, gemessen an ihrer Nachbarin, Vorteile und Nachteile. Allein aus der (zwar modifizierten) Weiterexistenz des Privateigentums, aus der daraus resultierenden Schwerpunktbildung hinsichtlich der politischen und ökonomischen Zuständigkeit ergibt sich die Notwendigkeit, ein Mindestmaß885 von dem fortzusetzen, was die frühere Gesellschaft und ihren Rechtsstaat gekennzeichnet hat. Unter der Überschrift „Starker Staat und gesunde Wirtschaft“ macht Schmitt Ende 1932 den deutschen Großindustriellen eine solche Variante des totalen Staates schmackhaft. „Der Staat soll wieder Staat werden“, fordert er. Und zwar „ein sehr starker Staat“, denn nur ein solcher könne die Gesundung der Wirtschaft ermöglichen.886 Er betont in diesem Zusammenhang und vor diesen Kreisen die in der WRV verankerten, um das Eigentum zentrierten Grundrechte887 und macht ihnen – seiner theoretischen Konzeption gemäß, dass „Freiheit“ und „Demokratie“ Verschiedenes sind – darüber das „Unvermeidliche“, die bevorstehende Diktatur, schmackhaft. Die Botschaft: Das zentrale, der „Freiheit“ zugrunde liegende Grundrecht, der Grundrechtskern gewissermaßen: das Eigentumsrecht, bleibt unangetastet, ja bleibt in der Diktatur besser und dauerhafter geschützt als in der instabilen Weimarer Republik.888 Ähnlich verfährt 884 R. Grawert, Reich und Republik, a. a. O., S. 485. 885 Ein „gewisses“ Maß – O. Koellreutter, Die politischen Parteien …, a. a. O., S. 33. 886 C. Schmitt, Starker Staat und gesunde Wirtschaft, am 23.11.1932 vor den Mitgliedern des sog. „Langnam-Vereins“ gehaltener Vortrag, abgedruckt in: Ders., SGN, S. 71 ff., bes. S. 77 ff.; s. auch E. Hennig, Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“, in: H.-G. Flickinger (Hg.), Die Autonomie des Politischen …, a. a. O., S. 136, der das Losungswort zitiert, das C. S. dort ausgibt: „Autorität von oben, Vertrauen von unten“. 887 S.  dazu die Aussprache zum Referat von E.-R. Huber (Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 51 ff.), bes. die Beiträge von Hennis, Maschke u. Huber. 888 Argumentationen dieser Art könnten den Hintergrund dafür abgeben, auf dem C. Schmitt in den 1970er Jahren in den USA rezipiert und in den dortigen Neoliberalismus à la Friedman „eingemeindet“ wird. S.  dazu: D. Haselbach, Die Wandlung zum Liberalen. Zur gegenwärti-

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dann ja auch Hitler; auch er versichert diesen Kreisen, dass sich der völkische Staat vor allem im politischen Raum „schadlos“ halten und dort im Interesse ungestörten Wirtschaftens für Ruhe und Ordnung sorgen wird – und lässt in der Aktion „Röhm“ Taten folgen. Diese Taten wiederum werden von C. Schmitt in der kleinen, berühmt-berüchtigt gewordenen Schrift „Der Führer schützt das Recht“ jener Klientel durchaus richtig als das erklärt, was sie sind: die Option des Führers für die „großkapitalistische“ Lösung889, die den zentralen Wert der bürgerlichen Gesellschaft, das Eigentum (wenn auch nicht das jüdische!), unangetastet lässt und schließlich in eine Staatsfigur einmündet, die scheinbar die Quadratur des Kreises meistert: in den „Doppelstaat“ E. Fraenkels, i. e. einen Staat, der im politischen Bereich vollkommen irrational ist, aber im Ökonomischen Kurs auf eine gesamtgesellschaftliche Rationalität nimmt. Immer wieder vergleicht Schmitt, stellt er gegenüber: 1848 – 1918.890 Was ist jetzt anders? Weshalb verbieten sich Lösungen à la 1848? Damals hatte der Liberalismus die Meinungsführerschaft; eine einheitliche Interessenlage des dritten Standes, verkürzt „Volk“ genannt, war noch hinreichend vorhanden. Das ihm zugrunde liegende Gesellschaftsmodell schien alternativlos. Und Liberalismus stand für „Freiheit“; „Freiheit“ war der Begriff der Zeit. Die Forderung nach Parlamentarisierung stand ganz in ihrem Zeichen. Dieser damalige Hintergrund fehlt nun. Er ist „längst entschwundene Situation“.891 Alles hat sich wegentwickelt von ihr. Indem das Wahlrecht auf die vorher ausgeschlossenen Volksteile erstreckt wird, wird scheinbar die bürgerliche Gesellschaft jetzt zum „Volk“ hin erweitert. Mangels anderer Kriterien wird diese Ausweitung, die rein quantitativ ist, als Qualitätswandel interpretiert, der die frühere bürgerliche Gesellschaft in ein „Gesellschaftsvolk“ überführt. Wo früher die Betonung auf „bürgerliche gen Schmitt-Diskussion in den USA, in: Carl Schmitt und die Liberalismuskritik, hg. von K. Hansen/H. Lietzmann, Opladen 1988, S. 119 ff. 889 Der italienische Historiker Delio Cantimori, der die deutsche Entwicklung nach der Machtergreifung unter faschistischen Gesichtspunkten beobachtet, fragt kurz vor dem Röhm-Putsch: „Welche werden die Lösungen sein, jene, die von den im wesentlichen intakten Kräften der Reichswehr, der Großindustrie und der Hochfinanz, der Agrarier angestrebt werden, oder jene, die von den Massen der jungen Hitlerianer heiß herbei gesehnt werden?“ (Zitiert bei: P. Schiera, Carl Schmitt und Delio Cantimori, in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 533.) 890 „Unbefangener Lektüre fällt auf, dass Schmitt immer wieder einen Kreis von Autoren nennt, die das verfassungsgeschichtliche Entscheidungsjahr 1848 reflektieren“ – Kierkegaard, Cortes, v. Stein, Tocqueville, Bauer, Proudhon, Marx, Engels, Bakunin (R. Mehring, Pathetisches Denken …, a. a. O., S. 18). 891 C. Schmitt, VL, S. XII (Vorwort).

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Gesellschaft“ und „Freiheit“ lag, liegt sie jetzt auf „Volk“ und „Demokratie“. Der „Volksstaat“ wird zur Losung. Was Schmitt abhebt von seinen Kollegen, ist, dass er nicht nur auf Staat und Recht starrt. Er hat alle gesellschaftlichen Verhältnisse im Blick. Er sieht den Umbruch im Bereich der Wirtschaft und erkennt dessen juristische Tragweite. Er sieht, dass es nicht nur um „eine quantitative Vermehrung“ geht. Was jetzt sichtbar wird, ist „eine qualitative Veränderung, ein ‚Strukturwandel‘“, der „alle Gebiete des öffentlichen Lebens“ erfasst.892 Das führt ihn zu Befunden, die außer ihm – verpackt in eine andere Terminologie – in vergleichbarer Qualität nur noch von Lenin erhoben werden. Von daher muss nicht erstaunen, dass sie auch in der Lösung: Diktatur, nahe beieinanderliegen.893 Die Unterschiede zum Mainstream springen ins Auge. Während dieser unverdrossen Lösungen produziert, die um „Markt“ und „Konkurrenz“ zentriert sind, also um mehr und mehr an Bedeutung verlierende Größen, lässt Schmitt diese fallen und schwenkt über auf das, was sie ablöst. Seine Lösung steht daher quer zu jenen, auf die die liberalen und sozialdemokratischen Kreise zu steuern. Erklärlich schon daraus, dass „Weimar“ für Schmitt eine „Fehlgeburt“, ein Anachronismus ist, während jene anderen, jene tonangebenden liberalen und sozialdemokratischen Kreise darin das sehen, was schon 1848 zur Debatte stand und nun endlich erreicht ist:

•• die Republik, verstanden als „Volksherrschaft“; •• das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Für ihn ist „Weimar“ ein „Notbau“, ein aus einer Zwangslage hervorgegangenes, auf sie zugeschnittenes „Provisorium“894, ein gigantischer „dilatorischer Formelkompromiss“, eine vertagte Tagesordnung. Überall werde die „Verwechslung“ sichtbar und die mit ihr verbundene fälschliche Zuordnung des Parlamentarismus zur Demokratie. Unermüdlich wiederholt er: Der Parlamentarismus gehört zur „bürgerlichen Gesellschaft“ – nicht zum „Volk“! „Weimar“ ist für ihn das, was für Lenin Russland unter Kerenski ist: ein Zwischenstadium, von dem aus die Revolution weitergetrieben werden muss, wenn es nicht Beute der Konterrevolution werden soll. „Weimar“ ist ein „heterogen zusammengesetzte[s] 892 C. Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat, in: Ders., PuB, S.  172; die gleiche Aussage ist bereits in der vier Jahre älteren Schrift „Der Begriff des Politischen“ (S. 78) enthalten. 893 E. Nolte (Carl Schmitt und der Marxismus, in: Der Staat 2005, S. 188) sieht eine „paradoxe Beziehung von Gegensätzlichkeit und Ähnlichkeit zu Schmitts eigenem Ausgangspunkt“. 894 C. Bilfinger, Verfassungsumgehung, a. a. O., S. 163; auch für O. Spengler ist „Weimar“ ein solcher „Notbau“ – geschaffen vor allem dazu, eine linke Diktatur abzuwenden.

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Gebilde“. Alles daran ist falsch und unvollendet. Das müsse erkannt, daraus müssten Konsequenzen gezogen werden. Es müsse gesagt werden, dass eine „Massen- und Menschheitsdemokratie keine Staatsform, auch keinen demokratischen Staat“ begründet895 – eine Aussage, mit der er nicht allein steht und die bestätigt wird. So von G. Leibholz, der formuliert: „Der klassische repräsentative Parlamentarismus ist nämlich im Grunde genommen nur die politische Ausdrucksform des gebildeten und besitzenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts, nicht aber eine Existenzform der Massen.“896 Was „Weimar“ also auf den Schild hebt, ist Liberalismus, nicht Demokratie. Solange die Monarchie bestand, mochte es angehen, beide Prinzipien zu verwechseln bzw. zu identifizieren. „Heute aber, nach dem gemeinsamen Siege, tritt der Gegensatz zutage und kann der Unterschied zwischen liberal-parlamentarischen und massendemokratischen Ideen nicht länger unbeachtet bleiben.“897 Völlig unangemessen und indiskutabel daher, wie die Staatsfrage auch jetzt noch behandelt wird: nämlich auf „alte Weise“. Schmitt setzt sich zur Aufgabe, diese „unklare Verbindung“ aufzuklären. Seine Verdienste dabei werden jedoch dadurch konterkariert, dass er bewusst Ergebnissen zusteuert, die sich das „Dritte Reich“ dienstbar machen kann. Letzteres für sich gesehen, hätte einer nachfolgenden Karriere in der BRD nicht unbedingt im Wege gestanden, wie die Beispiele Larenz und Maunz zeigen. Schwerer wiegt wohl, dass er mit der Aufklärung der „unklaren Verbindung“ ein Geheimnis lüftet, auf dem schließlich auch die heutigen Staatswesen gegründet sind.898 Immer wieder betont er: Die Zeit der Jellineks und der Preuß‘ ist vorbei. Und mit ihnen: das Zeitalter der „Neutralisierungen“. Was jetzt gefragt ist, ist Parteinahme. „Mächte und Kräfte“ beherrschen die jetzige bürgerliche Gesellschaft. Sie haben die bisher dort agierenden Größen herabstuft, sie technisiert, sind ihnen gegenüber das „höhere Dritte“. Schmitt verwendet andere Worte, andere Begriffe. Aber wie auf der anderen Seite Lenin, sucht er nach dem „Gesicht“ des jetzigen Staates, fragt, welche Aufgaben er zu erfüllen hat, 895 C. Schmitt, GL, S. 22. 896 G. Leibholz, Zur Theorie des Faschismus, in: ARSP 28 (1934/35), S. 571. Das ist eine Einschätzung, die nahe bei Lenin liegt, wenn man dessen Polemik gegen Kautsky näher betrachtet. 897 C. Schmitt, GL, S. 6. 898 Egal, welche Motivation Schmitt antrieb: Die Aufklärung des Unterschiedes von „Volk“ und „Gesellschaft“ ist auf jeden Fall ein Wert an sich – und wird ja auch so gesehen. C. Schmitts Erkenntnisse waren also dabei und waren hilfreich, als die „Väter des Grundgesetzes“ Lehren aus „Weimar“ zogen und durch einen konsequenten Schutz der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Volk allen denkbaren von ihm ausgehenden Gefahren in ihrem Werk entgegenarbeiteten. C. Schmitt hat sich also durchaus für beide Seiten verdient gemacht.

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was ihn von seinem Vorgänger unterscheidet. Im Kern schließt er sich Lenins Diagnose an: Umschlag der Konkurrenz ins Monopol. Wegfall der früheren Mechanismen der Selbstregulierung der bürgerlichen Gesellschaft. „Planung“ und „Führung“ – Begriffe aus dem Inneren der Unternehmung, in den Augen C. Schmitts: die „Zentralbegriffe“ des „heutigen staats- und verwaltungsrechtlichen Denkens“899 – rücken nach vorn, dringen in den öffentlichen Raum vor, werden zu politischen Forderungen, zu Kampfbegriffen sowohl der politischen „Linken“ als auch der politischen „Rechten“. Sie umreißen Sachverhalte, die zur gemeinsamen Schnittmenge aller antiliberalen, antiparlamentarischen politischen Gruppierungen gehören. Da sie nicht zu dem passen, was bisher unter „bürgerlicher Gesellschaft“ subsumiert wurde, weil sie der in ihrer Mitte stehenden „Freiheit“ zu widersprechen, ja entgegenzustehen scheinen, werden sie von den einen als „Neokorporatismus“, als „Neofeudalismus“ kritisch erwähnt und infrage gestellt, von der anderen Fraktion aber unter „Gemeinschaft“ als das Positive, Zukünftige und Höhere verbucht. „Gemeinschaft“ wird, nicht zuletzt wegen seiner Vieldeutigkeit, zum Schlüsselwort der nachfolgenden Jahre, wird „zum Halbgott erhoben“, wird zum „Zauberwort“.900 Sie überwölbt all die neuartigen „Kollektivitäten“, „Ordnungen“, „Wesenheiten“ im Sinne Gierkes wie auch im Sinne des Marxismus. Zugleich gerät in die Krise, was vorher tonangebend war: all jene politischen und juristischen Institutionen und Instrumentarien, die sich um den bisherigen „Not- und Verstandesstaat“ ranken. All das bedeutet: Die „liberalistischen“ Rezepte und Antworten auf die Staatsfrage haben sich erledigt. „Weimar“ aber geht an der neuen Realität vorbei. Zu dieser Erkenntnis gelangt, steuert Schmitt auf eine Alternative zu: auf die Diktatur.

899 C. Schmitt, Neubau des Staats- und Verfassungsrechts. Referat auf dem Deutschen Juristentag 1933, Berlin 1933, S. 250. 900 E. Fraenkel, Der Doppelstaat, a.  a.  O., S.  173; H. Dreier, Rechtszerfall und Kontinuität …, a.  a.  O., S.  255; W. Sombart, Deutscher Sozialismus, Berlin-Charlottenburg 1934, S.  232  ff. (S. 237). Eine „reinrassige“ Darstellung der nationalsozialistischen Auffassung bietet: A. Pfennig, Gemeinschaft und Staatswissenschaft, in: ZgStW 96 (1936), S. 299–318.

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IV.2.2 Das doppelte Volk („Gemeinschaftsvolk“ und „Gesellschaftsvolk“) Wen repräsentieren die Abgeordneten zum Reichstag? Wen repräsentiert der direkt gewählte Reichspräsident? Darauf versucht H. Liermann 1927 eine Antwort zu finden.901 Inspiriert von der tönniesschen Unterscheidung in „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, unterzieht er die auf „Volk“ Bezug nehmenden Textstellen der WRV einer „Tiefenprüfung“. Er findet zwei Arten „Volk“ heraus, die darin angelegt seien: „Gemeinschaftsvolk“ und „Gesellschaftsvolk“, „beseeltes“ und „unbeseeltes“ Volk. „Volk“ als Summe der Individuen, d. h. jenes „Volk“, das Hegel als Nation bzw. als Objekt des Staates gelten lässt. Und „Volk“ als überindividuelles Kollektiv-Ich; „Volk“ also, das selbst Subjekt ist. Problem allerdings sei: Ihr qualitativer Unterschied werde im Verfassungstext nicht kenntlich gemacht. Andererseits aber: „Auf der Unterscheidung zwischen Gesellschaftsvolk und Gemeinschaftsvolk beruht im Wesentlichen die Lösung der Probleme, die die Betrachtung des Volksbegriffs im Recht stellt.“902 Zur Bedeutung des Unterschiedes äußert er sich so: Das „Gemeinschaftsvolk“ als „Wesenheit“, als „beseelte, generationenübergreifende Volksgemeinschaft“, „als reale Gesamtpersönlichkeit auf genossenschaftlicher Grundlage“ sei als „etwas außerhalb und über“ dem Staat Stehendes903 zu verstehen. Das „Gesellschaftsvolk der Staatsbürger“ hingegen, „als vom Recht zusammengefasste Summe von Individuen“, ist „schon seiner Natur nach atomisiert, gemeinschaftslos und seelenlos“.904 Und es ist in Gruppen organisiert bzw. aufgeteilt, deren Interessen von Parteien vertreten werden. Das erinnert an Hegel, der in § 544 Enz. zwischen „populus“ und „vulgus“ unterscheidet. Wobei „vulgus“ sich auf die bloß aggregierten Atome, auf das „bloß vermeinte“ Volk bezieht. Folgenden Schluss zieht Liermann aus dieser Verdoppelung: Das „Gemeinschaftsvolk“ habe sein Zentrum und seine Vertretung im Staat, weshalb es nicht demokratisch, sondern „demozentrisch“905 verfasst sei. Hingegen sei das „Gesellschaftsvolk“ von den Parteien vertreten und deshalb demokratisch verfasst. Diese Verdoppelung des Volkes habe ihren Grund in der Verwechslung von Freiheit und Demokratie und führe zum wohl wundesten Punkte in der 901 Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichsstaatsrecht der Gegenwart, Berlin, Bonn 1927 – wie mir scheint, eine heute fast vergessene Schrift. 902 Ebd., S. 87. 903 Ebd., S. 32, 87, 139, 171. 904 Ebd., S. 87, 138. 905 Ein Begriff, der sehr an den von Lenin entwickelten Begriff des „demokratischen Zentralismus“ erinnert – und das nicht von ungefähr.

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Begründung des modernen Parlamentarismus. Denn das atomisiert bestehende „Gesellschaftsvolk“ (= das „Wahlvolk“) sei „unwiderruflich in einzelne Teile, in Parteien, auseinander gespalten“906. Es werde also nicht durch die Abgeordneten repräsentiert, sondern durch die Parteien. Und zwar durch Parteien, die nicht mehr jene des 19. Jahrhunderts sind, sondern solche, die mehr oder weniger eine Entwicklung zur „Partei neuen Typus“ durchlaufen haben.907 Eine Schimäre also – dieser angeblich nur seinem Gewissen unterworfene Abgeordnete. Jetzt ist er von seiner Partei abhängig, ist ihr rechenschaftspflichtig, ist an ihre Weisungen gebunden. Die angeblichen Volksvertreter sind Parteienvertreter. Vertreter ihrer Stände, wie Hegel formuliert hätte. Vertreter des „Gesellschaftsvolkes“, wie Liermann formuliert. Hätten die „Verfassungsväter“ diesem Befund Rechnung getragen, wäre Art. 21 WRV völlig anders zu formulieren gewesen. Mehr „Klarheit und Wahrheit“ wäre in den Text eingezogen. „Es würde nicht mehr die gehaltlose Fiktion auf dem Papiere stehen, dass der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sei“.908 Das „freie“ ist also in Wirklichkeit ein imperatives Mandat. Es ist gebunden an die Parteien, die ihrerseits Sprachrohr der „Kräfte“ und „Mächte“ des „organisierten“ Kapitalismus sind. Über sie werden die Interessen solcher Personen wahrgenommen, die selbst nicht wahlberechtigt sind: Banken, Großbetriebe der Industrie und des Handels. Das von der Volksrepräsentation abgeleitete „freie“ Mandat sowie die nur dem „Gewissen“ unterworfene Entscheidung des Abgeordneten hängen in der Luft, erweisen sich als Trugbilder. Nur über die Gleichsetzung von „Volk“ und „bürgerlicher Gesellschaft“, von „Demokratie“ und „Freiheit“ ist ein genehmeres Ergebnis erzielbar. Jedoch: Auf „ihrer Verwechslung und unrichtigen Gleichsetzung beruhen … zum größten Teil die Irrtümer und gewaltsamen Fiktionen, an denen die Geschichte des Volkes so reich ist“909. Wer den zentralen Satz der WRV: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 1), ernsthaft hinterfragt und ihm die Wirklichkeit gegenüberstellt, kommt, wie H. Liermann, bei der Beurteilung des auf Repräsentation beruhenden parlamentarischen Systems zu dem „erschreckende[n] Ergebnis“, dass Art. 21 eher

906 H. Liermann, Das deutsche Volk …, a. a. O., S. 87. 907 Dazu: S.  Neumann, Die deutschen Parteien, Berlin 1932, insbes. S.  98  ff. Neumann benutzt zwar nicht den Begriff „Partei neuen Typus“, aber er beschreibt die von der liberalen „Repräsentationspartei“ zur „absolutistischen Integrationspartei“ gewandelte moderne Partei durchaus in einer Weise, die es rechtfertigt, sie mit Lenin als „Partei neuen Typus“ zu bezeichnen. 908 F. Tönnies, Demokratie und Parlamentarismus, a. a. O., S. 205. 909 H. Liermann, Das deutsche Volk …, a. a. O., S. 138.

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auf Sand, nicht aber auf das Volk gebaut ist. Schließlich sei die Parlamentswahl eine Parteienwahl; schließlich sei die Volksvertretung eine Parteienvertretung.910 Der „unklare“ Volksbegriff der WRV wird zu einem der Hebel, mit dem „Weimar“ infrage gestellt wird. Und was die Väter dieser Verfassung allenfalls geahnt, aber nicht gewollt haben911, wird nun ins Licht gerückt. Liermann zeigt, dass den Regelungen zum Reichspräsidenten ein anderes Volk zugrunde liegt als jenen zum Reichstag – eine Erkenntnis, die sich im Hinblick auf Art. 48 Abs. 1 WRV als von außerordentlicher Bedeutung erweisen wird. Schmitt setzt hier an. Er spielt ein „Volk“ gegen das andere aus. Aber auch andere stoßen in diese Lücke vor, erkennen das Potenzial, das in ihr steckt. Auch J. Binder sieht nun den Satz „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“, in einem neuen Licht. Er sieht jetzt, dass sich „in die Ausgestaltung dieses Gedankens plötzlich ein anderes Prinzip [schiebt]: das autoritäre Führertum912“ und würdigt Schmitts Bemühungen als den „pikanten Versuch“, „eine autoritäre Regierung auf die Weimarer Verfassung mit ihren Prinzipien der Volkssouveränität zurückzuführen“.913 G. Leibholz bestätigt Liermann: Ja, das Repräsentationssystem befinde sich „gegenwärtig in einer schweren Krise“.914 Ja, die Kluft zwischen Verfassungsrecht und Rechtswirklichkeit bestehe. Ein „mit auffallender Deutlichkeit hervortretender Widerspruch“ tue sich auf; ein „Antagonismus“ zwischen Parteienherrschaft und „volksmäßig geeinter Staatsgemeinschaft“.915 Ja, die „Freiheit der Abgeordneten ist einer mehr oder weniger weitgehenden Abhängigkeit von den Parteiorganisationen und Fraktionen gewichen“916. Seine in der Verfassung postulierte „Entschließungsfreiheit“, immerhin zum „Wesen des parlamentarischen Repräsentationssystems“ gehörig, sei weitgehend Illusion.917 Ja, die gegenwärtige Praxis widerspreche „den Vorstellungen des liberal-parlamentarischen Repräsentationssystems“. Obwohl vom Verfassungstext nicht gedeckt,

910 Ebd.; auch zitiert bei G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, a. a. O., S. 56, Fußnote 2. 911 K. G. Hugelmann in seiner kritischen Besprechung der Schrift Liermanns: „Wenn dieser Gegensatz wirklich ein tragender Gedanke in der Weimarer Verfassung wäre, wäre es doch außerordentlich merkwürdig, dass fast überall, wie der L. ja selbst feststellt, nur das Gesellschaftsvolk in der Weimarer Verfassung in Erscheinung tritt, dass die Schöpfer der Verfassung allein dieses kennen, jenes nur dahinter ahnen.“ (ZÖR 9 [1930], S. 38.) 912 J. Binder, Der autoritäre Staat, in: Logos 22 (1933), S. 135. 913 Ebd. 914 G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, a. a. O., S. 98. 915 Ebd., S. 101. 916 Ebd., S. 98. 917 Ebd., S. 74 u. S. 213.

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sei die Praxis also geprägt durch „das sogenannte imperative Mandat“918. Wie umgehen mit diesem „erschreckenden“ Ergebnis? Leibholz hält nichts davon, das Problem über eine Verdoppelung des Volkes zu lösen. Der „Volksbegriff“ der WRV sei eindeutig, meint er. Man könne ihn nicht in ein (atomistisches) „Gesellschaftsvolk“ uminterpretieren, ohne eine wesensmäßige Verfälschung des in Art. 21 niedergelegten Repräsentationsprinzips in Kauf zu nehmen. „Denn in offenbarem Gegensatz zu dem von Liermann allerdings für bedeutungslos erklärten Willen des Verfassungsgebers kann dann nicht mehr von einer Repräsentation des Volkes, sondern nur noch von einer Vertretung der auch mit dem Gesellschaftsvolk nicht identischen Parteien gesprochen werden.“919 „Repräsentation“ oder „Vertretung“? Ein qualitativer Unterschied trennt sie. „Repräsentation“ ist ein im Religiösen920 wurzelnder Begriff, der Bezug nimmt auf „etwas nicht real Präsentes“921, auf etwas, was nicht für sich selbst sprechen kann. Im Unterschied dazu ist „Vertretung“ ein zivilrechtlicher Begriff, der aussagt, dass der Vertreter die Weisungen des Vertretenen – hier: der Partei – zu befolgen hat. „Volk“ kann nicht für sich selber sprechen, wohl aber die Partei. Auch Hegel verwendet den Begriff „Repräsentation“. Aber er ist bei ihm, wie §§ 309/Zus. und 311 Rph zeigen, sichtlich enger gefasst. Der Abgeordnete vertritt nicht „das Volk“, sondern einen/seinen Stand bzw. eine der „wesentlichen Sphären der Gesellschaft“. Er vertritt die Interessen, die in ihm „wirklich gegenwärtig“922, die „sein eigenes objektives Element“ sind. Dass er das Volk vertritt, ist hingegen für Hegel nichts weiter als ein „festes Vorurteil“.923 Was Leibholz also herausfindet (und was mit C. Schmitts Befund und mit Befunden in aller Welt übereinstimmt): dass die Verfassungslage in puncto Parlamentarismus von der Wirklichkeit nicht gedeckt ist. Dass sie lediglich juristische Fassade ist, dazu da, die heile Welt des 19. Jahrhunderts vorzuspiegeln. Diese 918 Ebd., S. 214. 919 Ebd., S. 57. 920 C. Schmitt, Soziologie des Souveränitätsbegriffes und politische Theologie, in: Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, S. 26: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ Mehr als für die anderen gilt das für die „Repräsentation“, die ursprünglich für die Vertretung Gottes durch die Kirche steht (s. C. Schmitt, RK, S. 31 ff.; s. auch die neuere, auf Schmitt kritisch Bezug nehmende Darstellung zur „Repräsentation“ von H. Hofmann [Berlin 1974]). 921 G. Leibholz, hier zitiert von A. Köttgen, Bespr. von: G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, in: AöR NF 19 (1930), S. 293. 922 § 311/Anm. Rph (Hervorhebung bei Hegel). 923 Hegel, VPhG, S. 67.

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„verfassungszerstörende Wandlung“924 in einen „demokratischeren“ Zustand ummünzen zu wollen, sei mehr als bedenklich und eigentlich nur zu begründen, wenn Grundbegriffe klassischen philosophischen Denkens ignoriert, verworfen oder uminterpretiert werden. Das behauptete „Mehr“ sei mit ihr durchaus verbunden. Aber nicht an Demokratie, sondern an Freiheit. Das sollte auch so ausgewiesen werden. Leibholz steht damals den Sachverhalten „Pluralismus“ und „Parteienstaat“ ähnlich kritisch gegenüber wie C. Schmitt. Beide eint, dass sie sie nicht der Demokratie zuordnen. Obwohl die Lösung des Dilemmas, das er beschreibt, ganz einfach wäre bei „Anerkennung des Parteienstaates bis in seine letzte Konsequenz“.925 Will heißen: bei Anerkennung des Parteienstaates als neuer, zeitgemäßer Demokratieform. Dazu kann er sich damals jedoch nicht durchringen. A. Köttgen dazu: „Die Bedenken Leibholz’ gegenüber einer solchen Lösung erscheinen ohne weiteres berechtigt, weil in einem konsequenten Parteienstaat in der Tat das Prinzip der Repräsentation endgültig verlassen wäre“.926 Lässt man das Wort „Volk“ beiseite, ist man also bei der Repräsentation à la Hegel, nämlich einer Ständevertretung durch entsandte Abgeordnete. Hegel spricht klar aus, um was es geht: um Gruppeninteressen. Um sicherzugehen, dass diese auch effektiv vertreten werden, empfiehlt Hegel in § 311 Rph die „Abordnung“ der Abgeordneten anstelle eines uneffektiven Wählens. Und wenn man an das System des Lobbyismus denkt, ist dieser Empfehlung seitens jener Gruppeninteressen, die sich das leisten können, auch längst Folge geleistet. Liermann beruft sich in puncto „Gemeinschaftsvolk“ auf F. Tönnies. Das ist aber insoweit falsch – oder zumindest problematisch –, als dieser klar herausstellt, dass die Entwicklung von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ geht, nicht (nie!) umgekehrt – auch dann nicht, wenn dies wünschenswert wäre. Und Tönnies würde auch nicht von Gemeinschaftsvolk im Unterschied zum Gesellschaftsvolk sprechen, sondern formulieren, dass das Volk eine Form der Gemeinschaft ist – ein soziologischer Befund, der sich mit der philosophischen Aussage bei Hegel: „Volk“ als Erscheinung der „organischen Natur“, deckt. Und auch damit, dass für Hegel ja auch mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft das Zeitalter der „substanziellen Einheit“, also der Gemeinschaft, zu Ende geht. Das Volk als politische Größe wird damit endgültig Geschichte. Die jetzige Wiederbelebung

924 C. Schmitt, Weiterentwicklung …, a. a. O., S. 214. 925 A. Köttgen, Bespr. Leibholz, a. a. O., S. 301. 926 Ebd.

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ist also künstlich und reaktionär zugleich.927 Das „Gesellschaftsvolk“ ist somit ein Widerspruch in sich. „Volk“ ist hier nur schmückendes und/oder tarnendes Beiwort. Notwendig, um zu „Demokratie“ zu gelangen. Denn die bürgerliche Gesellschaft, das sahen wir bereits, beruht auf dem Prinzip der „Freiheit“. Sie selbst ist demokratielos. Will man also die bürgerliche Gesellschaft „demokratisieren“, muss man „irgendwie“ das Volk ins Spiel bringen. Hält also das Begriffspaar „Gemeinschaftsvolk“ und „Gesellschaftsvolk“ einer näheren Betrachtung nicht stand, so liegt der Wert der Arbeit Liermanns doch darin, dass in ihr die im Text der WRV angelegte „Volkskonfusion“ richtig widergespiegelt ist. Er legt in ihr eine Quelle bloß, die für jene reichlich sprudelt, die der legalen Vorbereitung des „völkischen“ Staates Vorschub leisten.928 „Volk“ steht im Verfassungstext ganz oben, ganz vorne. Damit aber Schluss. Der Rest ist Schweigen. Wer es bricht, wer heute die Einlösung solcher Texte verlangt, sieht sich schnell „in die Ecken des Extremismus gedrängt“929. Und das nicht völlig unbegründet, wie das Lehrstück „C. Schmitt“ zeigt. Die Bezugnahmen auf „Volk“ in den modernen Verfassungen sind also rein plakativ. „Volk“ dient als Feigenblatt vor der Blöße des „Not- und Verstandesstaates“, von dem C. Schmitt mit Recht sagt, dass er allein einen Staat nicht konstituieren kann.930 Die WRV und auch das GG sind Beispiele hierfür. Und das ist wahrscheinlich noch das Beste für alle Beteiligten, umfassender: für den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft. Versuche, das bloß fiktionale Volk der Verfassungen Wirklichkeit werden zu lassen, es „lebendig“, d. h. politisch zu machen, können auch heutzutage nur ins Irrationale führen. Das „Dritte Reich“ ist hierfür Beispiel und Warnung zugleich. Das Dilemma der Moderne wird sichtbar. Einerseits ist es so, dass der moderne Staat mit dem „Volk“ nichts zu tun hat; er ist Repräsentant, Interessenvertreter der bürgerlichen Gesellschaft und der in ihr waltenden/ herrschenden ökonomischen Kräfte und ihrer Freiheit verpflichtet. Andererseits soll aber wohl gerade diese Tatsache im Verborgenen bleiben – und das gelingt

927 S. dazu: E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, a. a. O., S. 61 (unter Bezugnahme auf F. Tönnies). 928 G. Lenz (Bespr. Liermann, a. a. O., S. 452) äußert folgendes Bedenken: Ob Liermann nicht „unkontrollierbaren meta-juristischen Einflüssen“ den Zugang eröffnet, „deren Ausschaltung gerade der Zweck der Volksrepräsentation ist oder doch wenigstens sein sollte“. Tatsache ist, dass der doppelte Volksbegriff sich als eines der trojanischen Pferde erweisen wird, mit deren Hilfe „Weimar“ demontiert wird. 929 W. Leisner, Das Volk, Berlin 2005, S. 21. 930 C. Schmitt, VL, S. 204.

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über den Tarnbegriff „Volk“ am besten. Deshalb also: weiterarbeiten mit der Fiktion und mit all den Illusionen, die sich um „Volk“ und „Demokratie“ ranken. C. Schmitt entscheidet sich anders. Er beteiligt sich nicht an diesem Versteckund Verwechslungsspiel. Unablässig thematisiert er den Unterschied, die Kluft zwischen „Volk“ und „bürgerlicher Gesellschaft“, zwischen „Demokratie“ und „Freiheit“ – und nicht nur aus Gründen, die dem edlen Drang nach Erkenntnis verpflichtet sind. Anders als Kelsen, für den „Volk“ und „Demokratie“ ja ebenfalls Fiktionen sind, der aber weiß, welche Folgen es haben kann, wenn man sie gegen das Bestehende ins Feld führt, nimmt Schmitt „Volk“ und „Demokratie“ ernst (oder tut so!) und lässt sie bald jene Eigendynamik gewinnen, die ihn konsequent in eine Gegenposition zur bürgerlichen Gesellschaft, zum Rechtsstaat und zum Parlamentarismus führt. Er greift die „Worthülsen“ der Verfassung auf und führt sie gegen die Wirklichkeit ins Feld. Er bekämpft „Weimar“ mit den Fiktionen. Und so muss nicht verwundern, dass er auf eine schiefe, immer abschüssigere Ebene gerät, die ihn geradewegs in die Arme des „völkischen“ Staates treibt. Wie Schmitt zu beurteilen ist, hängt also wesentlich davon ab, wie sein Verhältnis zu „Volk“ und „Demokratie“ zu veranschlagen ist. Nimmt er „Volk“ ernst, will er, dass ihm die in der Verfassung eingeräumte Position als Souverän wirklich zukommt, müssten ihm „mildernde Umstände“ zugebilligt werden. Wusste er hingegen – wie sein Gegenspieler H. Kelsen –, dass „Volk“ eine bloße Fiktion ist (und warum sollte er das nicht wissen?), hinter der sich die bürgerliche Gesellschaft verbirgt, dann fielen solche „mildernden Umstände“ weg, weil dann klar wäre, dass „Volk“ für ihn nur ein Vehikel war, die Weimarer Republik vorzuführen und zu destabilisieren. Dann wäre Schmitt ein Demagoge. Dann wäre er einer, der einen unbefriedigenden, defizitären Zustand, der ein Übel mit dem noch größeren bekämpft. Unbestreitbar ist, dass es an Opportunismus bei ihm nicht fehlt. Und er ist machtorientiert. Zusammen mit seiner Fähigkeit, Probleme zu erkennen und sie theoretisch auf fassliche und wirksame Weise auf den Punkt zu bringen, macht ihn das zu einem gefährlichen Gegner der Weimarer Republik. Er steht nicht aufseiten derer, die jene unbefangene, ja gläubige Ineinssetzung von „Freiheit“ und „Demokratie“ kultivieren. Er demontiert die „Heiligtümer“. Er hinterfragt die „rund“, „gefällig“, ja religiös gefassten Begriffe. Aber auf eine Weise, die destruktiv wirkt und die Extreme bedient. Kein Wunder, dass er vornehmlich von „rechts“ und von „links“ aufgegriffen wird, während die „Mitte“ ihn eher meidet. Zunächst begnügt er sich damit, das bloß „Fiktive“ herauszuarbeiten. Meisterhaft, wie er es tut! Keiner kommt ihm darin gleich. Aber sein Ansatz und sein Ehrgeiz machen ihn anfällig für Versuche, zur wahren Demokratie, zum

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wahren Volksstaat zu kommen. Aus der Trennung von Freiheit und Demokratie filtert er seine Schlüsselerkenntnis: Ein Staatswesen kann unfreiheitlich, muss deshalb aber noch lange nicht undemokratisch sein. Und umgekehrt. Es kann „freiheitlich“ zugehen bei gleichzeitiger Abwesenheit der Demokratie. Es könnte verdienstvoll sein, was er herausarbeitet. Aber da er mit einem erfundenen Volk operiert, landet er nahezu zwangsläufig beim Führer. Denn um dieses Kunstvolk, diese „Volkheit“ zum Souverän zu machen, muss man sich über alles hinwegsetzen, was den Begriff „bürgerliche Gesellschaft“ prägt; man muss dazu rational-ökonomisch definierte Begriffe „biologisieren“. Was zugleich heißt: sie irrationalisieren. Diese „Leistung“ vollbringen die Ideologen der „völkischen Bewegung“, zu denen Schmitt zunächst nicht gehört, zu denen er dann aber aufschließt. Sie reißen Recht und Staat aus ihrer Verankerung in der Ratio und binden sie an die biologischen Werte „Blut“, „Boden“, „Rasse“. Der bisherige Gleichheitsmaßstab, die formale Gleichheit der Tauschwerte, wird ersetzt durch die „Artgleichheit“. Ein beispielloser, historisch einmaliger Vorgang wird in Gang gesetzt. Schmitt könnte sich auf Hegel stützen, der ja bürgerliche Gesellschaft und Volk klar unterscheidet und diesen Unterschied gegen alle „gang und gäben“ Vorstellungen von „Volkssouveränität“ verteidigt. Aber bei aller Nähe zu ihm und bei allem Verständnis für sein Werk: Schmitt ist kein Hegelianer.931 Er ist viel zu ungeduldig. Viel zu entscheidungsfreudig. Statt dessen Dialektik übernimmt er den hobbesschen Dezisionismus. Dieser, so glaubt er, führt schneller und direkter zum Ziel.

931 Vgl. H. Ottmann, Hegel und Carl Schmitt, in: HJ 1993/94, S. 19 ff. Aber man muss hinzusagen: Er hat profunde Hegelkenntnisse, die er auch einsetzt – und zwar durchweg in hegelscher Intention. Er ist mit Hegel enger „verwandt“ als mit jedem anderen Philosophen, Hobbes ausgenommen, auf dessen Dezisionismus er aber erst angesichts der Entscheidungslosigkeit, von der er sich in der Weimarer Republik umstellt sieht, zurückgreift (s. dazu J.-F. Kervegan, Politik und Vernünftigkeit, a. a. O., S. 374). Problematisch ist, was E.-R. Huber sagt, nämlich dass Schmitt nach der „Wende des Jahres 1933“ gewissermaßen „politisch korrekt“ von Hegel abrückt, als nun die „Volkheit“ an die Stelle des Staates rückt. Er nimmt also nicht teil am Neuhegelianismus und dessen spezifischer Verfälschung Hegels, die darin besteht, ihn „völkisch“ zu machen. Darin einen „Protest gegen Hegel“ zu sehen, geht an der Sache vorbei (vgl. dazu: E.-R. Huber, Positionen und Begriffe (Bespr. C. Schmitt), a. a. O., S. 8 ff.). Man sollte es Schmitt eher positiv anrechnen, dass er in seine eigene Wendung von „Staat“ zu „Volk“ nicht – wie z. B. die Gruppe um Binder – Hegel mit hineinzieht.

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IV.3 Zwischen Demokratie und Freiheit: Begriffskonfusion im Lichte des Methodenstreits „Es ist etwas Boshaftes, so viel vom Volke zu sprechen, und die Bestimmungen des Volkes als Staat dem Volk als Menge, der Regierung gegenüber zuzuschreiben.“ (G. W. F. Hegel932)

Es hat die Staatsrechtslehre „kalt erwischt“. Der Übergang vom Monarchismus zum Parlamentarismus war theoretisch nicht vorbereitet. Das Errichten der Weimarer Republik, das Fertigen einer Verfassung für sie erfolgt improvisiert, folgt dem tagespolitischen Bedürfnis. Jetzt muss die theoretische Begründung nachgeliefert werden. Wo anfangen? Woran anknüpfen? – Jetzt, wo mit „Monarchie“ und „Konstitutionalismus“ jener Überbau beseitigt zu sein scheint, der bisher die bürgerliche Gesellschaft und den ihr eigenen Parlamentarismus verdeckt hat. Was ist mit „Volk“ und „Demokratie“? Zwar sind das für Kant, mehr noch für Hegel, überwundene, „historisch“ gewordene Größen, an deren Stelle „bürgerliche Gesellschaft“ und „Freiheit“ getreten sind. In Deutschland tut man sich folglich lange Zeit schwer mit ihnen. Das ändert sich nun. Das muss sich auch ändern, wenn Deutschland Anschluss an die jetzt tonangebende angloamerikanische Begriffswelt gewinnen will. Die USA sind in das Rampenlicht der Geschichte gerückt. Sie schicken sich nach dem Kriege an, „welthistorisches Volk“ zu werden. Was Wunder, dass damit auch die dortige Version von „bürgerlicher Gesellschaft“ in den Blick der übrigen Welt und besonders: in den Blick des besiegten Deutschland rückt. Mit ihr tritt eine Vorstellung von „Demokratie“ ihren Siegeszug an, wird „weltläufig“, die die „gemäßigt demokratischen Staaten genauso wie die radikalen“ umfasst.933 Demokratie, die ihren Schwerpunkt in der bürgerlichen Gesellschaft hat. Eine Demokratie ohne „radikaldemokratische Einbauten“934, deren Markenzeichen es ist, „die wirtschaftliche Entscheidungsgewalt von der politischen zu trennen“935, die also – gemessen an früheren Vorstellungen – eine halbierte Demokratie ist. 932 Hegel, VRph 4, S. 675 (Nachschrift Griesheim). 933 R. Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München, Leipzig 1923, S. 46 u. S. 41 f. 934 Ebd., S. 46. 935 C. Landauer, Die Wege zur Eroberung des demokratischen Staates durch die Wirtschaftsleiter, in: Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München, Leipzig 1923, S. 115.

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Sie versteht sich vom kleinsten gemeinsamen Nenner her. Sie ist anzunehmen, sobald das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt ist. „Demokratie“ in diesem Sinne ist „jeder Staat, dessen Staatsrechtsnormen dem ganzen ‚Volke‘ politische ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ verleihen“, konstatiert Thoma. „Mehr ist begrifflich nicht erforderlich.“936 Sie ist jene zeitgemäße Demokratie, die inzwischen „Gegenstand der internationalen politischen Journalistik“ geworden ist.937 Ihr liegt ein Denken zugrunde, das sich „des fundamentalen Gegensatzes [von Rechtsstaat und Demokratie] praktisch nicht bewusst zu werden brauchte“.938 Ihr Kern ist ein religiös gefärbter Begriff vom „Menschen“ und auch vom „Volk“.939 Das macht sie brauchbarer als die (areligiösen) Erkenntnisse der klassischen Philosophie, die nun als „Verengung des Blickwinkels“940 beiseitegelegt werden. Aus der Sicht Hegels, dessen Leistung ja gerade darin besteht, mit seiner Philosophie dem Schwelgen in Allgemeinbegriffen ein Ende gesetzt zu haben: Zu den vielen „schiefen und falschen Redensarten“ über „Volk“ und „Demokratie“, die er kritisiert, kommt nun noch dieses „weltläufig“ gewordene amerikanische Verständnis hinzu, wird „festes Vorurteil“941 – und niemand ist da, es „aufführen, erörtern und berichtigen zu wollen“942. Im Gegenteil: Die deutsche Staatsrechtswissenschaft setzt alles daran, zu ihm aufzuschließen. Während für Kant und für Hegel, aber auch für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts galt, dass das Parlament im Rahmen der konstitutionellen Monarchie die bürgerliche Gesellschaft, die dortigen „Personen“ und ihre Freiheit repräsentiert, soll nun gelten: Das Parlament repräsentiert das Volk. Der Parlamentarismus exekutiert Demokratie. „Volk“ und „Demokratie“. Begierig werden sie ergriffen und in die Mitte gestellt. Begriffe, die Verwirrung stiften. Begriffe, die nicht logischer, sondern ideologischer Natur sind – jedenfalls seit Ablösung des feudalen Gemeinwesens durch „Staat“ und „Gesellschaft“. Von Hegel als philosophisch aussagelose 936 R. Thoma, Der Begriff …, a. a. O., S. 42. 937 Ebd., S. 39. 938 C. Schmitt, VL, S. 201. 939 Wenn man sagen kann, dass in Frankreich „ein intimes Verhältnis zwischen Philosophie und bürgerlicher Revolution“ bestand ( J. Habermas, Theorie und Praxis, a. a. O., S. 89), so würde für die Englische Revolution und für den amerikanischen Unabhängigkeitskampf eher gelten, dass diese in einem intimen Verhältnis zur Religion standen. 940 T. Würtenberger, Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte (Der Staat, Beiheft 10), Berlin 1993, S. 99. 941 Hegel, VPhG, S. 67 – und damit „ein schlimmer Ersatz“ (§ 2/Anm. Rph) für das, was durch die Anstrengung des Geistes zu gewinnen ist. 942 § 301/Anm. Rph.

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Allgemeinbegriffe in den Abstand verwiesen, werden sie nun, inhaltlich aufgefrischt durch jene religiöse Komponente, die aus den USA herüberkommt, mobilisiert und in die Leere geworfen, die der Untergang der Monarchie mit sich bringt. Im Ergebnis dieser religiösen Aufladung der Begriffswelt der „produzierten“ Natur steht nun überall dort, wo die Philosophie der Aufklärung zur „Person“ gelangt, der „Mensch“. Und so wie aus der juristischen „Person“ der religiöse Mensch wird, wird aus der „Freiheit“ jene religiös gefasste „Demokratie“, die – „aufs tiefste verknüpft mit der großen religiös-politischen Bewegung“943 – dem damaligen Kampf um Unabhängigkeit die Schubkraft verlieh. Marx drückt es so aus: Während die Franzosen in „römischen Kostümen und mit römischen Phrasen“ für die bürgerliche Gesellschaft kämpfen, werden in England und auch in den USA „Sprache, Leidenschaften und Illusionen“ des Alten Testaments für sie aktiviert.944 Ein Austausch der Bezugsgrößen: „Volk“ statt „bürgerliche Gesellschaft“, „Mensch“ statt „Person“, „Menschenrechte“ statt „Personenrechte“. Das ganze Theoriegebäude, die ganze bisherige Begriffswelt wird umgestellt. Sie wird erweitert, damit aber auch verwässert. Aus der hegelschen Gegenüberstellung von „organischer“ und „produzierter“ Natur (auf der „begriffslogischen“ Seite) wird die Gegenüberstellung von „Volk“ und „Gesellschaft“. Auf der Seite des „Konkreten“ und „Wirklichen“ wird daraus beide Male die Gegenüberstellung von „Staat“ und „Gesellschaft“. Dieser Austausch ermöglicht es auch, „Demokratie“ an die Stelle von „Freiheit“ zu setzen. Aber kann „Freiheit“ durch „Demokratie“ ersetzt werden, obwohl beide „nicht einfach sich gegenseitig bedingende Vorgänge … sind“?945 Philosophisch gesehen, ist das jedenfalls fragwürdig. Bedeutet es doch ein Zurückgehen hinter die Linie der klassischen deutschen Philosophie. Allerdings eines, das unter der Flagge „Volk“ und „Volksherrschaft“ als politischer Fortschritt ausgegeben wird und sich außerdem mit dem unschätzbaren Vorteil verbindet, die Problemzonen der bürgerlichen Gesellschaft übersehen und damit außer Diskussion stellen zu können.946 943 G. Jellinek (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a. a. O., hier bes. S. 56) hat diesen religiösen Hintergrund klar erkannt und in noch heute gültiger Weise zu Papier gebracht. Seine These allerdings, dass Vorbild der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nicht Rousseaus Contrat social ist, sondern die Bill of Rights der amerikanischen einzelstaatlichen Verfassungen von 1776 ff., ist umstritten. 944 MEW 8 (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte), S. 116. 945 H. Boldt, Von der konstitutionellen …, a. a. O., S. 160. 946 J. Habermas (Theorie und Praxis, a. a. O., S. 100 f.) weist darauf hin, dass Thomas Paine in seiner Schrift „The Rights of Man“ von 1792 selbst einräumt, dass die amerikanischen Menschenrechte als Rechte, die mit den Gesetzen des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit

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Hegel zum „Gerede vom Volk“: Sicher, man „kann den Staat auch Volk nennen“. Doch das ist gefährlich, wie das „besonders die Franzosen erfahren“ haben.947 Aber hat nicht in den USA der Volks- und Demokratieglaube zur Zeit der Unabhängigkeitskämpfe Berge versetzt? Und sorgt er dort nicht bis in die Gegenwart hinein für einen beneidenswerten Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft? Warum also sollte er nicht auch in Deutschland heimisch gemacht werden? Problem ist, dass er im Deutschen in weit geringerem Maße verwurzelt ist. Und Problem ist natürlich auch, dass ein Glaube allein keine neue Realität schafft – was sich in Amerika darin zeigt, dass die Übernahme der Menschenrechte in die Verfassungen auch der Sklaven haltenden Südstaaten keine Auswirkungen auf die Lage der Negersklaven hat. Denn als die „Väter der amerikanischen Unabhängigkeits-Erklärung verkündeten: ‚We hold these thruths to be self evident, that all men are created equal …‘[,] fiel ihnen nicht im Traum ein, auch die Sklaven zu diesen ‚equal men‘ zu rechnen.“948 Der entscheidende Punkt, sie zur „Person“ zu erheben, blieb offen, und es dauerte noch bis 1865, ehe dies nachgeholt wurde. Mensch hin, Mensch her – zivilrechtlich gesehen, blieben sie bis dahin „Sachen“. Wenn hinter dem „Monarchen“ die „organische“ Natur steht, nicht das Volk, so kann nach seinem Sturz auch nur diese und nicht das Volk hinter ihm hervortreten. Die Frage, die jetzt entsteht und einer Antwort hätte zugeführt werden sollen, müsste also lauten: Wer vertritt jetzt diese Natur und deren Freiheit? Sie wird nicht gestellt. Stattdessen wird ein ganzes philosophisches System, das immerhin Deutschland jahrzehntelang vor dem „Angriff des englischen Empirismus“ bewahrt hatte, zu den Akten gelegt und zu dem aus seiner Sicht unsichersten Erkenntnismittel „zurückgeflohen“, von dem man meint, „das Feste und Einige zu haben“949: zum „gesunden Menschenverstand“.950 Weltweit geachtete, unwiderlegte Erkenntnisse werden vom Tisch gewischt. Philosophischer Rückschritt wird in politischen Fortschritt umgemünzt. Trotzdem. Eine Herkulesarbeit! Und wenn sie auch zulasten Kants (Hegels sowieso!) geht, der dazu zum Theoretiker „für eine undemokratische Verfassungsentwicklung in

konform gehen, nichts anderes sind als das, was in Kontinentaleuropa als „Personenrechte“ auf die Welt kommt. 947 Hegel, VPhW 4, S. 675. 948 P. Saladin, Umwelt und Rechtssubjekt, in: T. Evers (Hg.), Schöpfung als Rechtssubjekt, Hofgeismar 1990, S. 125. 949 Hegel, WdL (S), S. 29. 950 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 26 u. S. 49–53.

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Deutschland“951 uminterpretiert werden muss. Und wenn sie auch dazu geleistet wird, ein weltweit anerkanntes philosophisches Konzept und eine praktisch durchaus über Jahrzehnte bewährte Staatsform endgültig zugunsten ideologisch geprägter Begriffe und zugunsten des „Gesellschaftsstaates“ zu Grabe zu tragen, so geschieht dies doch auf einem hohen, bis heute nicht wieder erreichten theoretischen Niveau. „Von zwei Seiten, von der Seite des klassenkämpferischen Sozialismus und von der Seite des nationalen Mythos, wie er zur Zeit seine klarste Ausprägung im Faszismus gefunden hat“952, werden „Weimar“ und sein Parlamentarismus in die Zange genommen. „Kampfgemeinschaften“ entstehen, die gegen den traditionellen Positivismus antreten, wie er aus der liberalistischen Weltsicht über Gerber und Laband entwickelt wurde und wie er aktuell von Thoma und Jellinek vertreten wird; für sie ein „Auslaufmodell“. Zwei Gruppierungen bilden sich auf der Ebene der bezahlten Wissenschaft heraus: Einmal jene Gruppe, die offen dem „Gesellschaftsstaat“ (und damit der liberalen, antiegalitären Demokratie) anhängt, geistig geführt von H. Kelsen. Zur Gruppe derer, die um den „substanzhaften“ Staat (und um die egalitäre unmittelbare Demokratie) besorgt sind, gehört C. Schmitt.953 Hinzu kommt, als politische Kraft außerhalb dieser „Richtungskämpfer“, die marxistisch-leninistische Linke. Sie oszilliert, was ihren theoretischen Beitrag anbelangt, in eigentümlicher Weise um beide Gruppen, steht einerseits bei Kelsen, weit mehr aber bei C. Schmitt. Denn so weit „Links“ und „Rechts“ auseinander zu stehen scheinen, in einem Hauptpunkt sind sie sich einig: in der Ablehnung des „Gesellschaftsstaates“ alter Art, d. h. jenes Staates, der an die Verhältnisse und Institutionen der „freien Konkurrenz“ gekoppelt war. Unter dem Gesichtspunkt „die Produktion greift über“ ist es ihr gemeinsames Ziel, die individualistisch gestaltete bürgerliche Gesellschaft zu überwinden. Zum einen zugunsten der Knechte, zum anderen zugunsten der (jetzigen) Herren. Gemeinsam ist der Bezug auf jene dem Gehäuse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entwachsenen Produktivkräfte, denen das Staatswesen „Weimar“ nicht gerecht wird und zu deren Fürsprechern sie sich machen. Hier, auf dieser objektiven Ebene, die nicht mehr jene der traditionellen bürgerlichen Gesellschaft ist, berühren sich ihre Anliegen. Gemeinsam 951 Würtenberger, Staatsverfassung, a. a. O., S. 106. 952 O. Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, Jena 1924, S. 41. 953 Wir richten hier den Blick nur auf C. Schmitt, da von ihm die meisten „Fernwirkungen“ ausgehen.

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kämpfen sie daher gegen das „liberalistisch-individualistisch“ geprägte Recht sowie gegen den davon abgeleiteten Staat. Der stürmisch voranschreitenden Vergesellschaftung gehört die Zukunft; ihr muss das Alte weichen – nicht umgekehrt. Traditionelles Recht und traditioneller Staat werden, von scheinbar sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten her, als abgewirtschaftete, nicht entwicklungsfähige (Stör-)Größen angesehen. Von ihnen her ist kein Fortkommen möglich. Sie sind historisch erledigt; die Entwicklung ist längst über sie hinweggegangen. Sie sind Totes im Fleisch des Lebendigen – und das Lebendige kann nicht aus Totem abgeleitet werden, so Carl Schmitt. Alles muss neu gedacht werden. Hauptziel ist es, der neuen ökonomischen Basis einen adäquaten Staat zur Seite zu stellen. Oder „hegelisch“ gesprochen: den „substanzhaften“ Staat zurückzugewinnen. Aber im Unterschied zu Hegel, der seine „Substanz“ aus der dialektischen „Grundpaarung“ der Einheit beider Naturen schöpft, sind sich jetzt „Links“ und „Rechts“ darin einig, dass der „Grund“ des Staates allein die eine, die „produzierte“ Natur ist. Und da diese jetzt nicht mehr von der „Zirkulation“ her zu beurteilen ist, sondern von der „Produktion“, steht nun nicht mehr der liberale „Nachtwächterstaat“ zur Debatte, sondern der „Betriebsstaat“. Während Hegels „Substanz“ also zum Konstitutionalismus führt, führt der andere Weg, ökonomisch gesehen, zum „Betriebsstaat“ bzw., aus politischer Sicht, zur Diktatur. Wer diesen Unterschied verkennt, macht Hegel zum Vorreiter des „totalen“ (Gesellschafts-) Staates und arbeitet Einschätzungen à la Popper, Topitsch und Kiesewetter vor. Philosophischer Pate des jetzt gesuchten Staates ist also nicht Hegel, sondern Hobbes. Er ist der Vater jenes Denkens, das nun das „Entweder“ in ein „Oder“ überführt – was den Grund abgibt, dass er zum Lieblingsphilosophen eines C. Schmitt aufrückt. Entweder – oder. Dazwischen die Unentschiedenheit, das Lavieren der Väter der WRV. Folge ist die mit einem unklaren Volksbegriff erstickte Revolution und ein mit „Volk“ nur mühsam verdecktes „Staatsvakuum“. Zusammen mit den weiteren Ursachen: a) der sich bereits seit Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts von der „freien Konkurrenz“ zum „organisierten“ Kapitalismus gewandelten ökonomischen Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und der damit verbundenen Umbildung des bisherigen „Not- und Verstandesstaates“ zum „Betriebsstaat“ sowie b) der (parallel dazu) durch einen staatsrechtlichen Positivismus à la Gerber und Laband über ein halbes Jahrhundert verdeckten schleichenden Aushöhlung des Konstitutionalismus

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bilden sie den Hintergrund jener „Richtungskämpfe“, die zwar bereits in der Endzeit der Monarchie ihren moderaten Anfang954 nehmen, jetzt aber unter der Bezeichnung „Methodenstreit“ heftig entbrennen. 50 Jahre Problemstau zuzüglich der Probleme, die sich aus Niederlage, Revolution, Kriegsfolgen und zuletzt auch noch der Weltwirtschaftskrise ergeben! Diesen gordischen Knoten aufzulösen, steht nun als Aufgabe vor der Wissenschaft. Zwischen „Entweder“ und „Oder“, gewissermaßen im Niemandsland, scheint der Standpunkt Kelsens angesiedelt zu sein. Er macht reinen Tisch. Er säubert den Staat von jeder Art „Substanz“. Er treibt den staatsrechtlichen Positivismus Labands auf die Spitze. Den Gegenpol zu diesem „substanzlos“ gemachten, technisch begriffenen Staat bildet der mit „Volk“ und mit „wahrer“ Demokratie aufgefüllte Staat, den C. Schmitt955 in die Debatte wirft. Beide bereiten dem traditionellen Staats- und Rechtsstaatsverständnis das theoretische Ende. Aber ein tiefer Graben trennt sie. Zwar entkoppeln aus hegelscher Sicht beide den Staat vom „Sittlichen“. Aber Kelsen favorisiert dabei eine technokratische, C. Schmitt eine demagogische Lösung. Einig sind sie sich nur darin: Parlamentarismus ist Demokratieersatz. Sonst aber trennen sich ihre Wege; sie stehen sich bald in offener Fehde gegenüber. H. Kelsen: Er ist „typischer Vertreter eines formalen Demokratiebegriffs“.956 Volk? Demokratie? Das sind Fiktionen, die nur über „Ideologie“ den Schein des Wirklichen erhalten.957 An solcher Ideologisierung beteiligt er sich nicht; er geht den geraden 954 Vgl. dazu: S. Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: AöR 117 (1992), S. 212 ff. 955 Beginnend mit seiner Kritik an R. Thoma und dessen Übernahme des „weltläufigen“ angloamerikanischen Demokratiebegriffes in „Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff“ aus dem Jahre 1924 (abgedruckt in: C. Schmitt, PuB, S. 22 ff.). 956 H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1990, S. 251. 957 Ein Blick zur Seite, zum angloamerikanischen Sonderweg: Der ihm zugrunde liegende nur gesellschaftliche Ansatz, der die deutsch-hegelsche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht kennt und von bloßer Transformation des feudalen Gemeinwesens in eine bürgerliche Gesellschaft ausgeht, bewahrt die Demokratie scheinbar davor, „aufgelöst“ bzw. „historisch“ zu werden. So wie sich das englische feudale Gemeinwesen in eine bürgerliche Gesellschaft umwandelt, so wird dort scheinbar eine Adelsdemokratie zur bürgerlichen Demokratie. In England und auch in den USA steht aufgrund dieser Besonderheit immer ein Begriff parat, der der Demokratie, der nach den Ergebnissen der deutschen klassischen Philosophie „historisch“ geworden ist und daher die deutsche Literatur zu Staat und Recht nicht prägt und daher jetzt, im Zusammenhang des „Volksstaates“, wiederentdeckt werden muss. Das fällt nicht leicht. Gut

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Weg. Er nimmt in den Blick, was nach Sturz der Monarchie vom Staat noch übrig bleibt. Wie Hegel hält er Demokratie in der Moderne nicht für möglich; sie zu wollen, ist gefährliches Wunschdenken. Seine „technisch“ verstandene Demokratie958, deren „Basiswert“ jene Gleichheit ist, die dem Freiheitsprinzip zugrunde liegt959, paart sich daher mit einem ebenso „technisch“ begriffenen Staat, dessen Parlament in etwa die Funktion des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft zukommt. Mehr ist nicht möglich. Und deshalb verteidigt er dieses Mögliche gegen jene, die auf „Volk“ und „wahre“ Demokratie pochen. Da C. Schmitt am lautesten „pocht“, wird er dessen Antipode. Vom Logischen her verbindet sich die bürgerliche Gesellschaft mit der „Freiheit“. Nur Ideologie vermag daraus „Volk“ und „Demokratie“ zu machen. Wohin aber führt es, wenn man einer Ideologie Wirklichkeit verschafft? Zur Diktatur! Mag der Parlamentarismus mit jenem „Volk“ und jener „Demokratie“ wenig zu tun haben, auf die er sich beruft. Aber: Nur er ist das „Machbare“. Und diesem ist als dem kleineren Übel der Vorzug vor der Utopie zu geben. Ein Spiel mit dem Feuer ist ihm diese Berufung auf „Volk“ und „Demokratie“. Die gerade in Sowjetrussland errichtete „Diktatur des Proletariats“, mit der er sich auseinandersetzt960, hat sein Gespür für die drohende Gefahr geschärft. Anders C. Schmitt: Er pocht auf den Wortlaut der Verfassung, pocht auf „Volk“ und „Demokratie“. Er weigert sich, ihre bloß technischen Surrogate dafür zu nehmen.961 Die bloß quantitativen Veränderungen, die das jetzige „Wählen für alle“ mit sich bringt und die Grundlage des jetzigen Parlamentarismus abgeben, sind ihm zu hundert Jahre „demokratieloser“ Staats- und Rechtswissenschaft können nicht von heute auf morgen zu den Akten gelegt werden. Ein Neuanfang ist nötig. Anders als in England oder in den USA, wo das Demokratiedenken aus den genannten Gründen tief verwurzelt und weitgehend Glaubenssache ist, muss sich die deutsche Wissenschaft jetzt geradezu „philosophisch dumm“ stellen, die Wissenschaft durch den Glauben ersetzen, um aus der bisherigen bürgerlichen Freiheit eine bürgerliche Demokratie machen zu können. Der Streit, der nun entbrennt, zeigt an, dass ein Demokratieglaube sehr viel einfacher zur Hand ist als ein wissenschaftlich fundierter Begriff derselben. 958 Vgl. A. Köttgen, Kelsen und die Demokratie, in: ZgStW 90 (1931), S. 97–107. 959 Vgl. H. Dreier, Rechtslehre …, a. a. O., S. 250. 960 In: H. Kelsen, Sozialismus und Staat (2. erw. Aufl.), Leipzig 1923. 961 S. dazu seine Kritik an Thoma in „Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff“ von 1924, abgedruckt in: Ders., PuB, S. 22 ff., bes. S. 25 f., mit dem Zusatz aus dem Jahr 1940, dass er sich mit diesem Aufsatz erstmals gegen den „weltläufigen“ Demokratiebegriff wendet.

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wenig. Er will sie ersetzt haben zugunsten „echter“, mithin „direkter“ Demokratie. Schmitt „säubert“ Staat und Recht nicht, sondern stellt ihren Bezug zu den neuartigen Phänomenen der Ökonomie, der Politik und des sozialen Lebens her. Er läuft Sturm gegen die liberalen Grundsätze der Weimarer Republik; er hält diese für geschichtlich überholt, er bekämpft sie als „unzeitgemäß“. Während Kelsen sich für den „Gesellschaftsstaat“ entschieden hat, optiert Schmitt, jedenfalls anfangs, für eine konstitutionelle Demokratie. Er sieht genau hin. Mit „Weimar“ ist ein Gebilde geschaffen, das sich zwar „Staat“ nennt, aber keiner ist, das jedenfalls zu wenig „Staat“ ist. Er sieht die Unwucht zugunsten der Gesellschaft. Er vergleicht mit Russland. Dort wird die Revolution zu Ende geführt. Statt Zarentum nun „Diktatur des Proletariats“. Anders in Deutschland! Hier bleibt es bei ihrer „Halbdurchführung“. Was daraus entsteht, ist kein Reich, sondern nur ein „Zwischenreich“. „Volk“ wird der feste Punkt, von dem aus Schmitt „Weimar“ in den Blick nimmt. Der Schwach- bzw. „Ideologie“-Punkt des C. Schmitt, urteilt Kelsen. Denn wenn „Volk“ nur eine Fiktion ist: Darf der Staat auf eine solche gegründet werden? Ist „Volk“ dann nicht das Einfallstor eines ganz und gar unangenehmen Staates, nämlich der Diktatur? Besser also, die Demokratiefrage ungelöst zu lassen und sich mit „Demokratismus“, mit formaler Demokratie zu begnügen? Auch, wenn dieser Abschied vom „Volk“ dem reinen „Gesellschaftsstaat“ Tür und Tor öffnet? Schmitt entscheidet sich anders. Von der zweischneidigen Plattform „Volksstaat“ aus hält er Umschau. Demaskiert einerseits „Weimar“ als „unechten“, macht sich andererseits zum Fürsprecher des „echten“ Volksstaates. Er muss sich nicht wundern, dass ihm seine „geistesgeschichtliche Todeserklärung des Parlamentsstaats“962 bald den Vorwurf einbringt, ein ganz anderes Staatswesen zu wollen. Und richtig, der inneren Logik dieses Ansatzes folgend, wandelt er sich, von Schrift zu Schrift, zum Fürsprecher der Diktatur. Aber er hat viele Sympathisanten. All jene, die – aus den unterschiedlichsten Gründen – in „Weimar“ einen Irrweg sehen, liebäugeln mit ihm. Sicher, „Weimar“ hat das Schlimmste verhindert: eine bolschewistische Diktatur. Aber um welchen Preis? Unter Verzicht darauf, ein wirklicher Staat zu sein. Für J. Binder – und nicht nur für ihn – ist „Weimar“ daher ein „Zwischenreich“, ein „Interregnum“, ein Scheinstaat, durch den der wirkliche Staat bestenfalls durchschimmert.963 Und es bleibt Aufgabe, diese im Prinzip „staatlose“ Zeit durch einen neuen Staat, 962 R. Thoma in seiner Rezension von „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ in: Archiv für Sozialwissenschaften 53 (1925), S. 216. 963 Vgl. J. Binder, System der Rechtsphilosophie, S. 316.

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einen „Staat der Autorität“ (bald wird auch er sagen: durch einen „echten“ Volksstaat) zu beenden. Selbst jene sind sich über „Weimar“ uneinig und zerfallen in Fraktionen, die es grundsätzlich bejahen. Auch das hat mit der Spukgestalt „Volksstaat“ zu tun, mit diesem „Demoliberalismus“, mit dieser – für C. Schmitt – widernatürlichen Kreuzung unvereinbarer Prinzipien. Ein Gezerre um seine Auslegung setzt ein. Auch H. Heller, der die sozialdemokratische Richtung vertritt und die sozialistische, die Gleichheitsseite des „Volksstaats“ betont, ist daran beteiligt.964 Spätestens 1932 ist C. Schmitt „fertig“ mit „Weimar“. Er redet und schreibt jetzt nicht mehr von einer Krise bzw. von Möglichkeiten einer Reparatur. Für ihn steht fest: Die Prinzipien, die Ideale, die „Weimar“ zugrunde liegen, sind tot, sind „Geschichte“ geworden. Das wirkliche Leben ist längst an ihnen vorübergezogen. Die „Wendung zum totalen Staat“, zum Staat nach „Weimar“ ist vollzogen.965 Nur noch das sei von „Weimar“ geblieben: bunt schillernde, bei näherem Hinsehen: inhaltsleere, künstlich aufgeblasene Begriffe. Eine neue Realität sei in einen Staat, in ein Recht gepfercht, der/das ihr nicht entspreche. Die Folge: überall ein Bild der Lähmung, der Unentschiedenheit, des Stillstands. Zwar bekämpfe der Staat das Neue nicht. Aber er entschließt sich auch nicht dazu, es konsequent zu unterstützen (wozu auch gehört: Front gegen seine Widersacher zu machen). Denn dazu müsste er sich von liberalistischen Positionen lossagen und zum Akteur werden. Wie aber verhält er sich? Ganz im Sinne Kelsens: als „neutraler“ Staat. Aber das „Zeitalter der Neutralisierungen“ ist vorbei.966 „Weimar“ ist weder Hund noch Katze. Der allzu faule, an der Wirklichkeit vorbeigehende Kompromiss, auf dem es beruht, trägt den Keim der Auflösung in sich. „Weimar“ ist nicht zu retten. Schmitt geriert sich auch nicht als Retter; er hat sich längst dagegen entschieden, er betrachtet es bereits von außen, vom Standpunkt des Danach.967 Er obduziert bereits seinen Leichnam. Wie ein roter Faden zieht sich durch seine Publikationen: Die gesamte um „freie 964 O. Koellreutter (Die politischen Parteien, a. a. O., S. 12 f.), der bereits frühzeitig mit der „Bewegung“ sympathisiert und von außerhalb, vom Boden der „Gemeinschaft“ argumentiert, schildert die Situation wie folgt: Einer Gruppierung, beinahe „einer Einheitsfront von Kelsen bis Smend“, die die liberale, antiegalitäre „Freiheits“-Seite verfechte, stehe die von Hermann Heller vertretene, egalitäre, „sozialistische Tendenz des Ausgleichs auf wirtschaftlichem Gebiete“ entgegen. 965 C. Schmitt, LL, S. 11. 966 S. den gleichnamigen Aufsatz Schmitts. 967 J. Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat, Köln, Opladen 1958, S. 142: Seine Kritik erfolgt bereits von der Plattform eines entgegengesetzten Staatstyps, „der in Staat, Bewegung, Volk dreigegliederten politischen Einheit“.

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Konkur­renz“ und „Gesellschaft“ zentrierte Begriffswelt hängt in der Luft. Nur noch als linear in die Zukunft verlängerte, idealisierte und verewigte Spukgestalten, als Untote geistern sie herum, beherrschen sie auch jetzt noch den Juristenhimmel. Aber das „Individuum“ ist längst vom Thron gestoßen. Und mit ihm der darauf gegründete Staat. „Mächte“ und „Kräfte“ sind an seine Stelle getreten, haben dem Staat das „Politische“ entrissen und unter sich aufgeteilt. Ein totaler Staat ist entstanden – jedoch ein solcher, dessen Totalität „parzelliert“ und (damit) kaschiert ist.968 Zu fragen ist also, wie diese „Mächte“ und „Kräfte“ unter den Staat zu bringen sind. Wie können sie entpolitisiert werden? Wie sieht der Staat aus, der dies zuwege bringt? Das sind seine Fragen. Und es sind durchaus die Fragen der Zeit. Doch womit beschäftigt sich die Kollegenschaft? Mit dem Schnee von gestern. Not tut aber eine radikale Neuorientierung. Das ganze Staats- und Rechtsgefüge ist neu zu ordnen. Das bisherige zweigliedrige Modell ist durch ein dreigliedriges abzulösen. Nicht mehr „Staat“ und „Gesellschaft“ sei das Gliederungsprinzip der Moderne, sondern: Staat, Bewegung, Volk. (Hätte er für den realen Sozialismus eine Aussage zu treffen gehabt, hätte er so formuliert: Partei, Klasse, Masse.) Schmitt sieht sich um. Zwei Staaten sieht er als Vorbilder: das faschistische Italien und die sozialistische Sowjetunion. Aufmerksam verfolgt er das dortige Geschehen. Er macht keinen Hehl daraus, dass ihm das faschistische Italien nähersteht. Dort sieht er sein Anliegen adäquat aufgegriffen. Dort sind Konsequenzen aus den neuesten Entwicklungen gezogen worden. Dort sieht er „echte“ bzw. „wahre“ Demokratie. Gestützt nicht auf Wahlen, sondern auf acclamatio, diesem Prinzip, „das in den modernen Großvölkern eine neue Form der unmittelbaren Demokratie möglich“ macht.969

IV.4 Wer ist Hüter der Verfassung? (Kelsen – Schmitt: Die Kontroverse des Jahres 1931) Es war sehr schnell eine der großen Fragen der Weimarer Republik, zuletzt ihre größte: Wer schützt die Verfassung? Wer „hütet“ sie? C. Schmitt und H. Kelsen befassen sich mit ihr. Ihr letzter Schlagabtausch, der von 1931, beleuchtet die „Weimarer“ Szenerie kurz vor deren Ende. 968 C. Schmitt, H, S. 84. 969 E.-R. Huber, Positionen und Begriffe (Bespr. C. Schmitt), a. a. O., S. 14.

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Wieder geht es um die Demokratie. Diese sei, wie auch „Volk“, zur Fiktion geworden, argumentiert Kelsen geradezu hegelisch. Sie als aktuell Wirkliches hinzustellen, sei „Ideologie“. Ideologie, die zum einen benutzt werde, um den Parlamentarismus als Ausdrucksform der Demokratie, der „indirekten“ Demokratie, hinzustellen. Ideologie, die zum anderen zum Einsatz gebracht werde, um genau das Gegenteil zu behaupten, d. h. den Parlamentarismus als Form der Demokratie zu verneinen. Kelsens Demokratiebegriff ist „technisch“ geprägt. Sie ist für ihn „Methode“. Sie ist für ihn ein „organisatorisches Problem“. Sie ist für ihn „Verfahrenstechnik“.970 Der Parlamentarismus ist für ihn von Wert, nicht weil er ein Derivat der Demokratie ist, sondern weil er „spezifisches, sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der staatlichen Ordnung“ ist.971 Da er also nicht der irrealen Größe „Volk“ entstamme, könne man ihn, man halte von ihm, was man wolle, nicht einfach unter Berufung auf fiktionale Größen verwerfen. Er verkörpere weder echte noch vorgetäuschte Demokratie. Aber als „sozialtechnisches“ Mittel habe er seine Berechtigung, sei er notwendig. Und mit Abstand sei er als solches Mittel das kleinere Übel gegenüber einer auf bloße Fiktionen gestützten Demokratie. Schmitt, der die Begriffe „Volk“, „Demokratie“, „Volkssouveränität“, mit denen die WRV hantiert, ernst nimmt bzw. ernst zu nehmen scheint, um von dorther die Demontage der Weimarer Republik zu betreiben, ist für Kelsen ein Demagoge. Einer, der in Kauf nimmt, dass das zweifellos unzulängliche, mit „Volk“ und „Demokratie“ falsch deklarierte „Weimar“ durch etwas weit Übleres ersetzt wird. Entsprechend scharf ist der Ton, den er ihm gegenüber anschlägt. Schmitt hingegen betont unablässig die Wertlosigkeit des Parlamentarismus in der jetzigen Zeit. Und vor allem dies: ihren fehlenden Bezug zu „Volk“ und „Demokratie“. Er brandmarkt „Weimar“ als ein Gebilde, das sich als etwas ausgibt, was es nicht ist, schlimmer noch: das das Gegenteil von dem ist, was es zu sein vorgibt. Demokratie? Diese ist „identitär“ – oder sie ist nicht. Er verneint also, dass sie einem „Relativismus“972 zugänglich ist. Das hebt ihn vom wissenschaftlichen Mainstream ab, der die repräsentative Demokratie als eine eingeschränkte, in Richtung „Freiheit“ und „Eigentum“ „umgemodelte“ Demokratie zu bezeichnen pflegt, also nicht bestreitet, dass die Demokratie insoweit „fiktional“ ist, dass sie nicht „Demokratie“ ist, sondern „demokratischer Liberalismus“.973 970 Merkt A. Köttgen (Kelsen und die Demokratie, a. a. O., S. 99 ff.) kritisch an. 971 H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Aufl.), Tübingen 1929, S. 32. 972 Vgl. dazu: M. Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, in: AöR 102 (1977), S. 175. 973 Ebd.

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Äußert sich Lenin zu ihr, nennt er sie abschätzig „Demokratismus“; eine als „Demokratie“ maskierte „Freiheit“; eine „Freiheit“, die unter dem Mantel der Demokratie den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft sichert, insbesondere das Privateigentum. Und so, oder mindestens ganz ähnlich, auch C. Schmitt. Anders H. Kelsen. Er verteidigt diese „abgespeckte“ und ins „Technische“ umgemodelte Demokratie. Und er verteidigt dieses widersprüchliche Gebilde „Weimar“, das das Parlament als „technisches“ Mittel nutzt. Er verteidigt das kleinere Übel vor dem, was er heraufziehen sieht, was bereits vor der Tür steht. Schmitt hingegen nimmt beim Wort, was man in dieser Situation besser „wortlos“ lassen sollte. Er bleibt dabei: Eine radikale Verschiebung tut not, um dem Verfassungstext Genüge zu tun; eine Verschiebung hin zu „Volk“ und „Demokratie“. Genauer: zum „wahren“ Volk, zur „wahren“ Demokratie – insoweit jetzt gegen sich selbst argumentierend, denn in der „Politischen Romantik“ polemisiert er ja noch gegen das „Echte“ und „Wahre“.974 Diese „wahre“ Demokratie muss „Grundlage der politischen Einheit werden, wenn diese weiter bestehen soll“975. Er sieht nicht oder will nicht sehen, dass er mit „Volk“ eine „Luftgestalt“, einen „Mythos“ der bürgerlichen Gesellschaft und dem Parlamentarismus gegenüberstellt. Noch schlimmer: Da er nicht dialektisch, sondern dezisionistisch denkt, wird aus diesem Gegenüber ein Kampf zwischen „Entweder“ und „Oder“. Sein auf ein fiktives Volk gestützter Staat ist die Diktatur. Wer wäre bei dieser Sachlage besser zum Verteidiger des Volkes und des Volksstaates geeignet als der vom Volk direkt gewählte Reichspräsident? Wer, wenn nicht er, verteidigt die Verfassung für das Volk gegen die zerstörerischen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft? Das ist keineswegs widerspruchsfrei argumentiert. Der Reichspräsident wird schließlich auf die gleiche „atomistische, abstrakte“ Weise gewählt, gegen die bereits Hegel Verwahrung einlegte.976 Wahlen, die nicht demokratisch sind, „sondern“, wie Schmitt selbst schreibt, „ein Ausdruck des liberalen Individualismus“.977 Trotzdem soll aus ihnen das eine Mal der „Gesellschaftsvertreter“, das andere Mal, im Fall des Reichspräsidenten, der „Volksvertreter“ hervorgehen. Kelsen protestiert: So kann man die Sache nicht sehen. Denn wenn „Volk“ und „Volksstaat“ nur Fiktionen sind: Wohin führt die Berufung auf sie? Doch nur zur Diktatur; und zwar zu einer, die mit „Volk“ nichts zu tun hat. Besser also, 974 „Man schafft … keinen neuen Begriff dadurch, dass man einem alten das Prädikat echt beifügt.“ (C. Schmitt, PR, S. 86). 975 C. Schmitt, VL, S. 289. 976 S. § 303/Anm. Rph. 977 C. Schmitt, VL, S. 244.

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alles bleibt, wie es ist. Der Reichspräsident kann nicht per Fiktion, per Mythos zu dem gemacht werden, was Schmitt in ihm sieht oder sehen will. Er ist und bleibt Teil der bürgerlichen Gesellschaft, jedoch jener Teil von ihr, der nicht dem Rechts-, sondern dem „Betriebsstaat“978 vorsteht, der also, politisch gesehen, verkappter Diktator ist. Er ist einer, vor dem die bürgerliche Gesellschaft, wie sie bislang existiert, zu schützen ist. Als deren „Hüter“ ist er jedenfalls denkbar ungeeignet. Vielmehr gilt, „dass, wenn überhaupt eine Einrichtung geschaffen werden soll, durch die die Verfassungsmäßigkeit gewisser verfassungsunmittelbarer Staatsakte, insbesondere des Parlaments und der Regierung, kontrolliert werden, diese Kontrolle nicht einem derjenigen Organe übertragen werden darf, dessen Akte zu kontrollieren sind“. Das ist ihm eine „Einsicht von so primitiver Selbstverständlichkeit“, dass darüber eigentlich nicht geredet werden müsste.979 Aus seiner Logik heraus, der Logik der Gesellschaft und des Gesellschaftsstaates, kann Hüter der Verfassung nur ein Organ sein, das ihnen entstammt – für ihn: ein Verfassungsgericht. Ihm obläge, gegen alle Tendenzen vorzugehen, die auf eine Einengung der Handlungsräume der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mitglieder gerichtet sind. Das ist Aufgabe der Justiz, der Gerichte, die als „Wächter“ über sie eingesetzt sind. Darum ein Gericht, das speziell den Staat überwacht, ein Verfassungsgericht. Der Reichspräsident als „Hüter der Verfassung“? Das ist so, als wolle man den Bock zum Gärtner machen. Wem sonst als der Diktatur wird damit in die Hände gearbeitet? „Volksstaat“, „Volkssouveränität“, „Demokratie“. Wer Verantwortung zeigt, sollte nicht daran rühren. Denn der Wunsch, sie ernsthaft haben zu wollen, läuft auf Schlimmes hinaus. Wenn jemand souverän ist bzw. geworden ist, dann die Gesellschaft. Da diese vom Parlament repräsentiert wird und da „Volk“ und „Gesellschaft“ Verschiedenes sind, kann sie nicht zugleich auch Volksvertretung sein. Kelsen unterstellt, dass auch „C. S.“ diesen klar auf der Hand liegenden Sachverhalt nicht missversteht. Dass er durchaus hinter die Kulisse zu schauen vermag. Dass er weiß: „Volksherrschaft“ ist nur die Monstranz, die vorneweggetragen wird. Dass er folglich, indem er darauf insistiert, das vorhandene System auf Teufel komm raus zu destabilisieren und zu beseitigen trachtet. Richtig also, was R. Thoma bereits sechs Jahre zuvor mutmaßt: Dieser „C. S.“ sieht den 978 M. Weber bringt den Reichspräsidenten mit dem „Betriebsstaat“ in Verbindung, zuständig für die „Sozialisierung“, die Weber als Verstaatlichung versteht. Denn „Sozialisierung ist: Verwaltung“ (Der Reichspräsident, in: M. Weber, Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920 [Gesamtausgabe I/16], Tübingen 1988, S. 214 ff.). 979 H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Berlin-Grunewald 1931, S. 6.

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ganzen Parlamentarismus bereits als „tot und zum Abbruch reif“.980 Was also tut Schmitt anderes, als Öl ins Feuer zu gießen? Als jenen politischen Kräften zuzuarbeiten, die „Weimar“ weg haben wollen und vorgeben, den bloß fiktiven durch den „wahren“ Volksstaat ersetzen wollen? Dieser „C. S.“ ist ein Demagoge. Er spielt ein gefährliches Spiel. Schmitt hält dagegen: Installation eines Verfassungsgerichts? Das ist der falsche Weg. Gerade weil die Gerichte, auch ein Verfassungsgericht, Teile der Gesellschaft sind. Aber nicht diese, sondern das Volk hänge in der Luft und bedürfe des Schutzes. Es wäre also ein (weiterer) Schlag gegen das Volk, eine weitere Fiktionalisierung desselben, wenn ein Gericht mit dem „Hüten der Verfassung“ betraut würde. Es würde die „Freiheit“ hüten, also „die bürgerlichrechtsstaatlichen Grundrechte, persönliche Freiheit und Privateigentum“981 – nicht jedoch die Demokratie. Die „Freiheit“ trüge den Sieg davon, weil ihr mit dem Verfassungsgericht – nach dem Motto: doppelt genäht hält besser – ein „Obergesetzgeber“982 zur Seite gestellt werde. Aber von ihr geht die Gefahr aus – nicht von einem Staat, der auf der Volkssouveränität beruht. Seine Frage also: Wer schützt die Demokratie vor der Freiheit? Konträrer können die Positionen nicht sein. Philosophisch gesehen, streiten sie zur Frage, ob das Ganze die Summe seiner Teile ist oder mehr ist als diese Summe. Die Antwort hängt davon ab, ob das Ganze „atomistisch“ oder „organismisch“ gesehen wird. Schmitt entscheidet sich dafür, es „organismisch“ zu sehen. Er erhebt es zu etwas Selbstständigem, zu jener „Wesenheit“, die sehr bald „Volkheit“ genannt werden wird. Diese wiederum wird vom Reichspräsidenten repräsentiert und beschützt. Das Ganze Kelsens hingegen ist die unorganische bürgerliche Gesellschaft. Sie ist atomistisch strukturiert und somit lediglich Summe ihrer Mitglieder; sie ist nichts Selbstständiges ihnen gegenüber. Der Zusammenhalt und das Zusammenwirken der Teile wird nicht über „Organisches“ hergestellt, sondern über das Recht. „Hüter“ des Rechts aber sind die Gerichte. Der Schwerpunkt ist also jeweils anders gesetzt. Die „Glieder“ des „organischen“ Ganzen sind diesem gegenüber unselbstständig. Die Teile des „unorganischen“ Ganzen sind diesem gegenüber autonom. Kelsen will retten, was zu retten ist. Deshalb nimmt er die Verfassung in Schutz. Trotz ihrer Mängel. Denn indem sie infrage gestellt ist – auf unverantwortliche Art und Weise, wie er meint –, wird aus seiner Sicht alles verworfen 980 R. Thoma, Zur Ideologie …, a. a. O., S. 213. 981 Ebd., S. 14. 982 Vgl. C. Schmitt, Die legale Weltrevolution, in: Der Staat 1978, S. 325.

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bzw. infrage gestellt, was mit Recht und Staat in Verbindung steht. Doch er findet wenig Gehör. Die Radikalisierung ist bereits weit fortgeschritten. Die Entscheidung steht vor der Tür. Und was verteidigt er denn? Eine „technische“, eine formale Demokratie nimmt er in Schutz vor der „echten“ Demokratie. In dieser historischen Situation ist Kelsen also „kaum … ein besonders überzeugender Anwalt der Demokratie“983. Wie breit der Graben ist, der die beiden trennt, verdeutlicht das nachfolgende Zitat aus der „Anti-Schmitt-Schrift“ Kelsens, auch die Sprache, in der es abgefasst ist. Was tut „C. S“? Er zerrt das „älteste Versatzstück“ aus der „Rumpelkammer des konstitutionellen Theaters …, die These nämlich: das Staatsoberhaupt und kein anderes Organ sei der berufene Hüter der Verfassung, um dieses recht verstaubte Requisit für die demokratische Republik im allgemeinen und die Weimarer Verfassung im Besonderen wieder in Verwendung zu nehmen“.984 Wie schon gezeigt: Deutlicher als viele seiner Kollegen sieht Kelsen den Sand, der mit der Fiktion von „Volk“ und „Demokratie“ in die Augen der Wähler gestreut werden soll: Wenn letztere schon durch die Verfassung von der Gesetzgebung ausgeschlossen sind, will sie sie „glauben machen, dass sie, wenn auch nur vom Parlament repräsentiert, doch den Willen des Staates bestimmen. Und in demselben Maße, als ihr das gelingt, begründet sie die Machtstellung des Parlaments.“985 Eine Fiktion, die einen „trefflichen Dienst“ erweist, indem sie „ein weiteres Fortschreiten der demokratischen Entwicklung“ hemmt. Sie in die Welt gesetzt zu haben und am Leben zu erhalten, bedeutet, dass die Demokratie im Parlamentarismus „ihren Anfang und zugleich ihr Ende nimmt“986. Das Parlament: ein probates Mittel, ein Bollwerk gegen zu viel „Volk“, gegen zu viel Demokratie. Und trotzdem: Immer noch besser als das, was zu kommen droht. Deshalb ist es gegen dieses Kommende zu verteidigen. Doch Schmitt hat sich längst entschieden. Für die „wahre“ Demokratie. Gegen die Freiheit. Er stochert in ihr herum, in dieser Lebenslüge namens „parlamentarische Demokratie“. Geht ihr auf den Grund. Legt das Geheimnis offen, das sich um das „Wählen“ rankt. Zeigt, dass hierbei nicht das Volk seinen Willen bekundet, sondern die bürgerliche Gesellschaft. Zeigt den Unterschied auf. Sein Markenzeichen wird die Polarisierung. Er konstatiert: „Die Verfassungssituation der 983 A. Köttgen, Kelsen und die Demokratie, a. a. O., S. 99. 984 H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, a. a. O., S. 8. 985 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 315. 986 Ebd., S. 316.

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Gegenwart ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass zahlreiche Einrichtungen und Normierungen des 19. Jahrhunderts unverändert beibehalten sind, die heutige Situation sich aber gegenüber der früheren völlig geändert hat.“987 Damals galt es, der bürgerlichen Gesellschaft ihren legitimen Platz in dem Verbund der „Naturen“ zu verschaffen und diesen Platz der noch absolutistischen Monarchie abzutrotzen. Jetzt aber, nach dem Wechsel der Souveränität auf das Volk? „Während nun früher, im 19. Jahrhundert, die Gefahr von der Regierung her drohte, also aus der Sphäre der ‚Exekutive‘ kam, richtet sich die Besorgnis heute vor allem gegen den Gesetzgeber.“ Ursache sei ein „merkwürdiger Funktionswandel und eine gegen das demokratische Mehrheitsprinzip gerichtete Tendenz“ des Parlamentarismus und der von ihm ausgehenden Gesetzgebung.988 Früher habe es den Dualismus von Staat und Gesellschaft gegeben. Er wiederum sei mit einem „dualistisch“ konstruierten Staat als Ausdruck „von zwei verschiedenen Staatsarten: … ein[em] Regierungsstaat und ein[em] Gesetzgebungsstaat zu gleicher Zeit“989 verbunden gewesen. Jetzt aber sei „die bisher stets vorausgesetzte Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von Regierung und Volk“ entfallen; der Staat sei zur „Selbstorganisation der Gesellschaft“ geworden.990 „Volk“ und „Politisches“ seien entkoppelt und gingen getrennte Wege. Ein Staatsvakuum habe sich aufgetan. Vor diesem Hintergrund seine Frage: Wer verteidigt das Volk vor der bürgerlichen Gesellschaft? Wer die Demokratie vor der Freiheit? So gefragt, kommt Schmitt auf den Reichspräsidenten zu sprechen. In ihm sieht er den Hüter der Verfassung. Aus seiner Sicht ist diese Position konsequent und logisch. Genauso logisch wie die, den „Hüter“ in einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu sehen, wenn man von der Gesellschaft und von der „Freiheit“ her denkt. Dass Demokratie auf der Basis der heutigen Verhältnisse unrealisierbar ist, weil – so Hegel – das ihr zugrunde liegende Prinzip der Tugend bei den Führern nicht erwartet werden kann991, ignoriert Schmitt. Längst ist der tugendhafte Staatsmann ersetzt durch die „business-men“, die „matter-of-fact-men“, wie M. Weber bereits 1905 konstatiert. Ersetzt durch Personen also, die sich gegebenen Situationen, Wünschen usw. anpassen992 und sich immer weniger von Managern unterscheiden, die im Interesse ihrer Aktionäre Maximalprofit erwirtschaften – 987 C. Schmitt, H, S. 73. 988 Ebd., S. 24 (Hervorhebung bei Schmitt). 989 Ebd., S. 75. 990 Ebd., S. 78. 991 Vgl. § 273/Anm. Rph. 992 M. Weber, Das Verhältnis der Kartelle zum Staate, in: Ders., Wirtschaft, Staat, Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900–1912 (Gesamtausgabe I/8), Tübingen 1998, S. 273.

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auch wenn solche Art „Wirtschaft“ „verbrannte Erde“ hinterlässt. Und selbst wenn die Gewählten über die nötige Tugend verfügten: Besäße sie denn nach „Freiwerden der Mächte der Besonderheit“ die Kraft, sie zu zügeln? Stünde sie ihnen gegenüber nicht auf verlorenem Posten? Daher muss ein Staat her, der in der Lage ist, die außer Rand und Band geratene bürgerliche Gesellschaft zu zügeln. Das läuft auf die Diktatur hinaus. Da Schmitt ihr das Wort redet, stürzt er sich in das politische Abenteuer seines Lebens.

IV.5 Die Verabschiedung „Weimars“ IV.5.1 Eine „metaphysische“ Wende: Von Kant zu Hegel (Die Verfälschung Hegels durch den Neuhegelianismus) Nach Jahren des Wiederkäuens der alten, „kantisch“ geprägten Positionen meldet sich die Rechtsphilosophie zu Wort. Ein Paradigmenwechsel wird eingeläutet: von Kant zu Hegel. „Noch vor kurzem höchst respektiert, gehört der Neukantianismus heute zu den meistgescholtenen philosophischen Erscheinungen der jüngeren Vergangenheit“, schreibt H. Glockner 1931.993 Der archimedische Punkt, von dem aus „Weimar“ ausgehebelt werden kann, wird gesucht. Kant und seine Philosophie, über Jahrzehnte herrschend, taugen nicht, um dem ungeliebten System, um dem – mit ihm verbundenen – „Staatsvakuum“ ein wenigstens philosophisches Ende zu bereiten. Kant und Neukantianismus nehmen nur die „Gesellschaft“ und den „Gesellschaftsstaat“ in den Blick. Der eigentliche, der „politische“ Staat bleibt ausgeblendet. Nun wird Hegel zurate gezogen. Die Plattform „Gemeinschaft“, längst errichtet und im Hintergrund bereitstehend, von der aus die Demontage erfolgen soll, scheint bestens mit seiner „Staatsphilosophie“ und dem darin verpackten Staat zu harmonieren. Die Stunde Hegels also? Oder nur die der Neuhegelianer? Was J. Binder, der den Trupp anführt, von „Weimar“ hält? Er fasst das Positive in einem Satz zusammen: Mit ihm wurde „Deutschland den Marxisten … aus den Händen gewunden“.994 Sonst aber? Fehlanzeige. Was ihn und seine Mitstreiter beseelt, drückt er am Vorabend der „nationalen Revolution“ so aus: „Umkehrung des ganzen Systems, das in dieser Verfassung durchgeführt ist, … Abkehr von dem grundsätzlichen Liberalismus, … Durchführung der 993 H. Glockner, Hegelrenaissance und Neuhegelianismus, in: Logos 20 (1931), S. 289. 994 J. Binder, System …, a. a. O., S. 314.

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universalistischen Staatsidee, die allein imstande ist, die autoritäre Gewalt des Staates zu begründen, damit den Staat von der Herrschaft der Parteien zu befreien und wieder zu dem zu machen, was er ist: unbedingter, kategorischer Wille der Nation.“995 Darum geht es also: um „Umkehr“ und „Abkehr“. Um den Schwenk von hier nach dort; über „Gemeinschaft“ zu einem autoritären Staat. Um den Austausch einer extremen Position durch die andere. Schon das macht deutlich, dass nicht Hegel erneuert wird, sondern der Rechtshegelianismus. Was Binder & Co. in die Welt setzen, ist also zunächst eine Spielart desselben. Vom Olymp seines „Universalismus“ beurteilt er die Arbeiten C. Schmitts, aber auch die Integrationslehre R. Smends als interessante „Unternehmen, auf der Grundlage der Weimarer Verfassung trotz dem in ihr zur Geltung gekommenen Prinzip der Volkssouveränität einen autoritären Staat zu errichten“996. Er teilt ihre „Oppositionsstellung der liberalen Demokratie gegenüber“997. Aber er ist skeptisch: Zwar habe Schmitt über die Entkopplung liberalistischer und demokratischer Prinzipien und staatlicher Ausgestaltung deutlich gemacht, dass „eine autoritäre Regierung auf die Weimarer Verfassung mit ihrem Prinzip der Volkssouveränität zurückzuführen“ ist, habe die Möglichkeit aufgezeigt, wie ohne offenen Verfassungsbruch der „Staat der Demokratie durch den Staat der Autorität“ abgelöst werden kann. Ihm ist jedoch zu viel positivistisches „Klein-Klein“ im Spiel. Und Schmitt gehe auch nicht konsequent genug von der Gemeinschaft aus und dem damit verbundenen autoritären Führertum. Sein Lösungsansatz verdunkele daher einen sehr einfachen Sachverhalt: „dass es unmöglich ist, eine Regierung der Autorität auf das Prinzip der Volkssouveränität zu stützen“998. Das 995 J. Binder, Der autoritäre Staat, in: Logos 22 (1933), S. 160. 996 Ebd., S. 134. 997 C.-H. Ule, Bespr. von: H. O. Ziegler, Autoritärer und totaler Staat, in: AöR NF 24 (1934), S. 122 ff., S. 123. 998 J. Binder, Der autoritäre Staat, a. a. O., S. 135 f., 138. Binder sagt viel Richtiges zu C. Schmitts Versuchen. Und doch greift er zu kurz, weil er die Schlagkraft des schmittschen „Spielens“ mit den Lücken und Ungereimtheiten der WRV zu gering veranschlagt. Seine Skepsis dieser „Unternehmung“ gegenüber ist nicht berechtigt; er verkennt deren Potenzial. Unter Hinweis auf Ungarn, Kuba, Lettland, Litauen und Estland verweisen sowjetische Wissenschaftler darauf, dass es dort möglich war, ähnliche scheinkonstitutionelle Verhältnisse für den Übergang zu einem sozialistischen System zu nutzen. „Unter Ausnutzung ihrer ausschließlichen Vollmachten lösten die [dortigen; B. R.] Präsidenten und Regierungen … die Parlamente auf, in denen rechte Elemente die Mehrheit hatten …, erließen Gesetze, mit denen sie verschiedene demokratische Umgestaltungen durchführten. … Dadurch wurde begonnen, die politischen und juristischen Institutionen, die unter den Bedingungen der bürgerlichen Ordnung antidemokratischen Charakter gehabt hatten, im Interesse des Volkes zu nutzen.“ (Autorenkollektiv,

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ist nicht unzutreffend. Und doch wird dieses Urteil C. Schmitt nicht gerecht, da die Sprengkraft seiner Versuche, „Weimar“ auf legale Weise zu Fall zu bringen, darin unterschätzt ist. Die Prinziplösung, für die Binder plädiert, stellt die „Autorität“ in den Vordergrund; „der Staat [ist] wesentlich Autorität“999. Da er die „metaphysische Wende“ will, gelangt er zu einem metaphysisch begründeten autoritären Staat. Im Gegensatz zum „totalen“ Staat Schmitts, der für ihn nur eine Variante des „Gesellschaftsstaates“ ist und als solcher in der Bandbreite liberaler Prinzipien liegt1000, ist sein Staat „gemeinschaftlich“ gemeint. Damit ist gesagt, dass er nicht bloß den bisherigen neutralen Gesellschaftsstaat durch den „Betriebsstaat“ ersetzt haben will, sondern diese „Staaten“ durch einen Staat ablösen will, der „organismisch“ organisiert ist und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch – was Binder zu dieser Zeit kurz vor der „völkischen Revolution“ nicht bedenkt und ihn nach der Machtergreifung zu eiliger Nachbesserung nötigt – außerhalb des Volkes gelegen ist. Er soll die Rolle der Monarchie übernehmen, ohne aber konstitutionelle Monarchie im Sinne Hegels zu sein. Er bedeutet den Bruch mit „Volk“ und „Volkssouveränität“.1001 Höchste Zeit, den jetzigen „Staat der Volkssouveränität in einen Staat der Autorität umzugestalten“1002. Mit Sympathie blicken er und seine Mitstreiter nach Italien. Was dort geschieht, bestätigt sie, regt sie an, beflügelt sie. Wie C. Schmitt nehmen sie interessiert die dortige asynchrone Entwicklung von Staat und Recht zur Kenntnis und sehen sich durch sie bestätigt. Sie schlussfolgern daraus, dass die Zukunft beim Staat liegt. Nicht beim Recht. Und tatsächlich: Binders „Staat der Autorität“ hätte besser ins faschistische Italien gepasst als ins nationalsozialistische Deutschland. Obwohl in vielem vergleichbar, unterscheidet sich der „Führerstaat“ A. Hitlers vom faschistischen Staat im höheren Grad an Irrationalismus. In Italien spielt Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Bd. 2, Berlin 1974, S. 431.) 999 Ebd., S. 143 ff. 1000 Der totale Staat verletzt zwar das liberale Freiheitsprinzip, betrachtet aus der Sicht der Einzelnen. Aber er hebt es nicht auf; er schiebt es nur dem Staat zu. Nur dieser ist Eigentümer – und ist als solcher ebenso frei wie vorher die vielen Eigentümer. Innerhalb des Subganzen „Gesellschaft“ wird ein Extrem durch ein anderes ersetzt: „Markt“ durch „Plan“, „Vertrag“ durch „Befehl“, „Gesellschaftsordnung“ durch „Betriebsordnung“. Die Demokratiefrage bleibt unberührt. Der totale Staat „stehe … nicht eigentlich im Gegensatze zu dem demokratischen Aufbau des Staates, sondern lediglich zur liberalen Schrankenziehung seiner Herrschaft“, kommentiert C.-H. Ule (Bespr. Ziegler, a. a. O., S. 123). 1001 Ebd., S. 124. 1002 J. Binder, Der autoritäre Staat, a. a. O., S. 129.

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der Staat die „erste Geige“ – jedenfalls der Theorie nach. Der „objektive Geist“ Hegels wird dort ihm angedichtet, während die Neuhegelianer des „Dritten Reiches“ genötigt sind, ihn auf den Führer zu übertragen. Hegel wird in Italien hofiert, während er in Deutschland trotz aller Verfälschung durch Binder & Co. doch nur ein Randdasein fristet.1003 Eine Randbemerkung: Der Neuhegelianismus ist auch deswegen von Interesse, weil er im realen Sozialismus (der DDR) eine unerklärte, stillschweigende Fortsetzung findet1004, nachdem Versuche, den „sozialistischen Staat“, das „sozialistische Recht“ von Marx her zu begründen, eher unerwünschte Ergebnisse zeitigten. Das Beispiel E. Paschukanis sei angeführt: Er dachte am konsequentesten von Marx her, redete dem „Absterben“ des Staates das Wort, als zwar das Recht, wie vorausgesagt, „abstarb“, aber gleichzeitig der Staat in der Sowjetunion mächtig „aufzublühen“ begann. Sein tragisches Ende ist bekannt und hätte jenen jungen Genossen vor Augen stehen sollen, die nach dem XX. Parteitag der KPdSU glaubten, sich (statt an Stalin und Wyschinsky) nunmehr an Marx und dessen Absterbelehre orientieren zu können. Nun, auf der Babelsberger Konferenz des Jahres 1958 wurden sie von W. Ulbricht und K. Polak eines Besseren belehrt. Besagte Konferenz leitete in der DDR jene „metaphysische Wende“ ein, die bereits 30 Jahre zuvor Binder, Larenz & Co. vollzogen hatten. Das Frühjahr 1958 in der DDR steht also für definitive Abkehr vom Marxismus in der Staats- und Rechtsfrage. Die Folgejahre sind gekennzeichnet durch eine unerklärte, mit marxistischem Vokabular verbrämte Übernahme neuhegelianischer Positionen. Sie zeigt sich in dessen „gemeinschaftsmäßigem“ Vokabular wie auch in der praktischen Nutzanwendung (es kam ja auf verwertbare Resultate an!) der von ihren Vertretern für das „Dritte Reich“ erarbeiteten Forschungsergebnisse. Man denke an die larenzsche „Rechtstellung“, die an die Stelle der „Person“ und des „subjektiven Rechts“ tritt1005 und ein zentrales Moment dieser und jener Rechtsordnung wird. Und genau das: diese geheime Rezeption dürfte der Grund sein, warum es in der DDR im Rahmen der Rechtswissenschaft nie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Staats- und Rechtsordnung des NS-Systems, mit der dortigen wissenschaftlichen Arbeit gab.1006 Die Nähe beider Ordnungen, die verblüffende 1003 Hegel ist von Moskau nach Rom „abgewandert“, merkt C. Schmitt (Faschistische und nationalsozialistische Rechtswissenschaft, in: DJZ 1936, S. 620) an. 1004 Zum Beispiel in den Arbeiten G. Haneys (s. dazu im nächsten Kapitel). 1005 Auch dazu im nächsten Kapitel ausführlich. 1006 Vgl. K.-H. Schöneburg, Der deutsche faschistische Staat in staats- und rechtstheoretischer Sicht, in: StuR 1989, S. 531.

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Übereinstimmung vieler wissenschaftlicher Lösungen, schiebt man die jeweils andere Phraseologie einmal beiseite, sollte nicht offenkundig werden.

IV.5.2 Triumph des Irrationalen: Von „Volk“ zu „Volkheit“ und „Volkheitsdiktatur“ „Die neue, auf Gemeinschaftsboden fußende Welt stürmte mit ihren Begriffen Gemeinschaft, Führer, Volk, Rasse gegen eine Welt an, die auf einem anderen Boden stand.“ (Reinhard Höhn1007)

Was ist schon die Wende von Kant zu Hegel angesichts der Wende, zu der es sehr bald tatsächlich kommt. Diese Wende von „Gesellschaft“ zu „Gemeinschaft“. Diese Wende vom „angemaßten“ zum „wirklichen“ Volksstaat1008, diese Wende vom Rationalen zum Irrationalen. Diese Kehrtwende. Der Nationalismus als „Mobilisierungsstrategie“ und „wirksames Instrument des Homogenisierungsprozesses“ wird genutzt, um „jene Leere“ zu füllen, die die Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft mit sich bringt.1009 Seitens Binder & Co. geschieht dies unter Berufung auf Hegel; unter Berufung also auf jenen Philosophen, der die Natur dieser „zerstörenden Kräfte“ erkannte1010, ihnen widerstand und die bürgerliche Gesellschaft gegen sie in Schutz nahm. Zunächst aber muss ein Volk erzeugt werden. Bewährtes Mittel hierfür ist seit eh und je, Teile der Bevölkerung aus dem Volksbegriff herauszunehmen, um sie entweder zu diskriminieren oder zu privilegieren. Man denke an die Schwarzen und Indianer in den USA des 19. Jahrhunderts. Man denke an die ökonomische Ausgrenzung im Rahmen der modernen „Zweidrittelgesellschaft“, die ein homogenes Volk aus dem Besitzbürgertum rekrutiert. Man denke an die „Diktatur des Proletariats“, die eine Klasse, das Proletariat, zum Volk erhebt. Im „Dritten Reich“, auf das die deutsche Entwicklung jetzt in rasender Geschwindigkeit zusteuert, sind es die „Artfremden“, besonders die Juden, die aus dem Volksbegriff verbannt werden. Zwei Begriffe nehmen einen furiosen Aufstieg: „Volk“ und „Gemeinschaft“ – bald zusammengefügt zur „Volksgemeinschaft“. Zwei Begriffe geraten ins 1007 R. Höhn, Gemeinschaft als Rechtsprinzip, in: DR 1934, S. 301. 1008 J. Binder, System …, a. a. O., S. 316 ff. 1009 Ch. Taylor, Hegel, a. a. O., S. 597. 1010 Ebd., S. 598.

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Kreuzfeuer der Kritik, ja werden zu Schimpfwörtern: „Gesellschaft“ und „Parlamentsstaat“. Wie feindliche Armeen stehen sie sich bald gegenüber. Die Schlacht um „Weimar“ setzt ein. Wie tollwütig fallen die „Mächte“ und „Kräfte“ des Irrationalen darüber her. Das Kampfziel: die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft durch das politische Volk.1011 Auf der Tagesordnung steht er: der „wahre“ Volksstaat, der „Führerstaat“. „Weimar“ wird als Staatswesen denunziert, das sich zu Unrecht als „Volksstaat“ begreift, das sich unter der Flagge „Volk“ konstituiert hat, aber eigentlich etwas ganz anderes ist. Nach dem Sieg stellt C. Schmitt klar: „Und wenn der Stellvertreter des Führers den Satz ausspricht: ‚Alle Gewalt geht vom Volke aus‘, so ist das etwas wesentlich anderes, als wenn die liberaldemokratische Weimarer Verfassung in ihrem Art. 1 die gleichen Worte gebraucht.“1012 Aber „Volk“ ist „aufgelöst“. Hegel, der gegen die Gefahr eines irrationalen Chauvinismus ankämpft1013, lässt es deswegen beiseite, wenn es um den Staat geht. „Als ob das Volk das Ganze wäre“1014, hält er jenen entgegen, die an die Stelle seiner geistigen „Ganzheit“ das Volk setzen. Und tatsächlich schaffen die jetzigen Versuche kein Volk, sondern nur eine „Masse“ im Sinne H. Ahrendts. Unmöglich also, den modernen Staat auf das Volk gründen zu wollen. Nur noch „Elemente“ des ehemaligen Volkes, die Stände und Klassen stehen bereit. Sie also müssen aufgegriffen, aufgebauscht, verabsolutiert werden, um zu „Volk“ und zu „Demokratie“ zu gelangen. Kein neues Verfahren, wenn man an die Jakobinerherrschaft denkt. Sie war der Versuch, die bürgerliche Gesellschaft, um die es in der Revolution ging, als „Volk“ und „Volksherrschaft“ zu verstehen. Das führte in den Terror. Auch der der Oktoberrevolution 1917 folgende Bürgerkrieg und die Verelendung, die er mit sich brachte – von einer nicht unbedeutenden Fraktion der Bolschewiki als „Kriegskommunismus“ euphorisiert –, verband sich mit offenem Terror. Nichts anderes steht jetzt vor der Tür. Das „Gemeinschaftsvolk“ als Verkörperung einer Volkssouveränität „höherer Ordnung“ wird an die Stelle des „Gesellschaftsvolkes“ gesetzt. Damit ist die Plattform des erstrebten neuen, des „autoritären“ Staates geschaffen. Sie liegt jenseits der bürgerlichen Gesellschaft, jenseits des Rechtsstaats, jenseits des Parlamentarismus. Ein kleiner Schritt nur, und „Gemeinschaft“ und „Volk“ 1011 Vgl. E.-R. Huber, Die Einheit der Staatsgewalt, in: DJZ 1934, S. 955. 1012 C. Schmitt, SBV, S. 9. Denn nach der Unterscheidung Liermanns geht „Weimar“ hautsächlich vom „Gesellschaftsvolk“ aus, während es jetzt um das „Gemeinschaftsvolk“ geht. 1013 S. dazu: Ch. Taylor, Hegel, a. a. O., S. 543. 1014 Hegel, VPhG, S. 67.

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werden zur „Volksgemeinschaft“. Ein weiterer Schritt – und das „personhaft“1015 gedachte Volk, die „Volkheit“, ist geboren und wird als „unabhängiges, selbständiges Kollektiv-Ich den unselbständigen Einzelexistenzen gegenübergestellt“1016. Die so gegen die Gesellschaft in Stellung gebrachte „Volkheit“ ist das „kampfbereite“ Volk, das des „Führers“ bedarf. Plastisch formuliert W. Schönfeld 1939 dazu: „Volkheit“ – „worunter wir … nicht nur das Volk als Idee, sondern darüber hinaus das Volk als Person verstehen, weil wir nicht vergessen haben, dass das Wörtchen ‚heit‘ Person bedeutet. In der Persönlichkeit des Führers tritt die Persönlichkeit des Volkes in Erscheinung, die ihm nicht fehlt und fehlen kann, wenn anders es ein freies Volk sein will. Ein führerloses Volk entbehrt der Freiheit, wie die Geschichte uns lehrt. Im Führer ehrt und liebt das Volk sich selbst, genießt es seine Freiheit und Persönlichkeit.“1017 Zum „selbst herrschenden Volk“1018 wird das Volk erst, wenn es mit „Führer“ oder „Führung“ verknüpft wird. Nur im Führer komme der „Wille des Volkes … rein und unverfälscht“ zum Ausdruck.1019 Mit all dem soll erreicht werden, das laut Hegel „aufgelöste“ Volk zu beleben. Und zwar mit Inhalten, die aus dem Nationalen, dem Religiösen, dem Kulturellen, dem Rassischen geschöpft sind. Und es muss auf Basis unscharfer Merkmale zur „Wesenheit“ gemacht werden. Kurz gesagt: „Volk“ wird erschaffen, um mit diesem erschaffenen Volk den „Führer“/die „Führung“ zu legitimieren. Die Entdeckung des „Kollektiv-Ich“, der „Volkheit“ ist die Grundlage für eine „neuartige, revolutionäre Haltung“1020 zu Staat und Recht. Eine Schallmauer ist durchbrochen; ein Damm bricht. „Volk“, „Gemeinschaft“, „Führertum“ fluten zu Tal, verbinden sich zu jener irrationalen Grundsuppe, mit denen das Vakuum gefüllt wird. Das „Naturwüchsige“, das „Germanische“, die „Blutund-Boden“-Werte werden reaktiviert1021 und „Weimar“ entgegengehalten. Die „Gestalt des Führers [wird] zum Brennpunkt des politischen Kampfes“1022. Und 1015 S. dazu: H. Gerber, Volk und Staat, in: ZDK 3 (1937), S. 24. 1016 G. Leibholz, Zur Theorie des Faschismus, a. a. O., S. 573. 1017 W. Schönfeld, Freiheit und Persönlichkeit in der Lebensordnung des Deutschen Volkes, in: ZDK 5 (1939), S. 60. 1018 E.-R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, a. a. O., S. 15. 1019 Ebd., S. 19 f. 1020 G. Leibholz, Zur Theorie des Faschismus, a. a. O., S. 573. 1021 Besonders schwülstig heißt es bei W. Schönfeld, Freiheit und Persönlichkeit …, a. a. O., S. 59: Das „Dritte Reich“ habe „seine Wurzeln tief in das Erdreich der germanischen Urzeit [ver] senkt, dem alle seine Grundbegriffe: Blut, Boden, Ehre, Treue, Leistung, Verantwortung, Gefolgschaft, Führertum entnommen sind“. 1022 C.-H. Ule, Herrschaft und Führung, a. a. O., S. 194.

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dann das „Wunder“: „[E]in Volk [findet] nach langer führerloser Zeit wieder einen Führer.“1023 Mit ihm ist der Staat wieder komplett: Nun erst avanciert der bisherige „Scheinstaat“ zum „wirklichen“ Staat, zum „Staat an und für sich“. War die Entkopplung von Liberalismus und Demokratie der erste Schritt, so wird jetzt, nach Hinzutreten der „Volkheit“, eine „Demokratie“ möglich, die die Diktatur, die „Führer“ und „Führung“ einschließt. Gewissermaßen eine „Volkheits-Demokratie“. Von der bloßen Demokratie ist sie durch den „Führer“ unterschieden; sie ist eine „Führer-Demokratie“. Der Führer handelt im Auftrag der „Volkheit“. Das ist der Grund, weshalb er „zur Rechtfertigung seines Verhaltens die Zustimmung des ‚Volkes‘ nicht nötig“ hat.1024 In der Person des „Führers“ ist also Identität hergestellt; die Identität von Führer und Volkheit. Wo findet die „Volkheit“ eine (rechts-)philosophische Stütze? In Hegel? A. Rosenberg hat längst sein Urteil gesprochen. Er sieht in dessen Philosophie den Höhepunkt einer „blutsfremden Machtlehre“, der überdies der weitere Makel anhaftet, vom Marxismus übernommen und weitergeführt worden zu sein. Und mindestens „blutsfremd“ trifft ja auch zu. Schwer genug schon, mit Hegel einen „autoritären“ Staat zu begründen. Unmöglich aber: den „völkischen“. All jene, die „Weimar“ bisher den „autoritären“ Staat entgegengehalten haben – und dazu gehören die Neuhegelianer der Gruppe um Binder – haben nun ein Problem und suchen, um Hegel, mehr noch sich selber den jetzigen Machthabern zu empfehlen, eiligst Anschluss an das „völkische Prinzip“.1025 Auch, um jenen Zweifeln entgegenzutreten, ob sich „Hegelsches Staatsdenken und Nationalsozialismus überhaupt vertragen“1026. Mit dem unverfälschten Hegel könnten diese Zweifel selbstverständlich nicht ausgeräumt werden. Im Gegenteil, beide schlössen sich aus. Nicht „Geist“ und „Vernunft“ sind die Begriffe dieser Zeit, sondern: „Volk“; „Volk“ in immer lauter werdender Verbindung mit „Blut“ und „Rasse“. Worte, die in der Philosophie Hegels dünn gesät sind und eindeutig sein Werk nicht prägen. Was der Binder-Gruppe also zunächst fehlt, ist das „Völkische“. Nach der „Machtergreifung“ ist daher ein deutlicher Bezug zu „Volk“ und „Blut“ gefordert. 1023 J. Binder, System …, a. a. O., S. 318. 1024 W. Sombart, Deutscher Sozialismus, a. a. O., S. 213. Er zitiert in Sachen „Volkheit“ Goethe: „Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu Kind verhält[,] so das Verhältnis Volkheit zum Volke ausdrückt. Der Erzieher muss die Kindheit hören, nicht das Kind. Der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk.“ 1025 Vgl. dazu: J. Gernhuber, Das völkische Recht. FS für E. Kern, Tübingen 1968, S. 167 ff. (S. 176). 1026 Geäußert z. B. auch von O. Koellreutter (in: AöR NF 26 (1935), S. 123) im Rahmen einer Rezension von E.-R. Hubers „Die Gestalt des deutschen Sozialismus“.

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Der „Brückenschlag“1027 von Hegel zum „Volk“, stärker: zum „Völkischen“ muss geleistet werden und wird auch geleistet. Das Wort „Leben“ aus der bisherigen lebensphilosophischen Orientierung dient dabei als wichtiger Scharnierbegriff, der eilig zum „Völkischen“ und „Rassischen“ hin ausgebaut wird. Die beispiellos dastehende Verfälschung Hegels besteht darin, dass „autoritäres und völkisches Prinzip … so miteinander verknüpft“ werden, „wie die Zeit forderte oder doch wenigstens zu fordern schien“.1028 In aller Eile werden Arbeiten erstellt und publiziert, deren Betonung auf „Hegel und das Volk“ liegt. Ziel ist, die bisherigen „Fehldeutungen“ Hegels, „die marxistische und die liberale“ 1029, aus dem Weg zu räumen. Natürlich wissen auch Binder & Co., was Hegel vom „Volk“ hält. Und sie wissen deshalb auch, dass Rosenberg mit seinem Verdikt der „Volksfremdheit“ durchaus richtig liegt. Die bisherigen „Fehldeutungen“ bzw. „Entstellungen“ werden also durch eine noch viel gröbere Verfälschung abgelöst, indem Hegels „geistbegründeter“ Staat stückweise der „Blut-und-Boden-Ideologie“ anpasst wird. Das „Deutsche“ an ihm wird betont; die „deutsche Substanz“ seiner Philosophie.1030 So ziemlich das Schlimmste geschieht, was man Hegel antun kann: seine Lehre, der der „Nationalismus … fremd“ ist1031, wird „völkisch“ gemacht. Sie muss dazu herhalten, jenes „Volk“ zu begründen, von dem ein gerader Weg zur „Volkheit“ und zum „Führer“ führt. Auf den Schild gehoben wird das Volk „als lebendige organische Einheit“, das Volk als „Gefolgschaft“. Nur dieses „wahre“ Volk ist das Volk, das „sich in dem Führer“ findet. Schriften dieser Art sorgen dafür, dass der so umgefälschte Hegel nicht vollständig ausgegrenzt wird und in der verfälschten Form teilhaben darf1032 an der philosophischen Untermauerung des „Dritten Reiches“. Pionierarbeit leistet K. Larenz. In seiner Schrift „Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie“1033 und danach in fast jeder weiteren Arbeit bemüht er sich, jene „Akzentverschiebung“ vom Volk auf den Staat, die er der hegelschen Staatsphilosophie noch kurz vor der „nationalen Revolution“

1027 Vgl. M. Busse in der Rezension von G. Dulckeits „Rechtsbegriff und Rechtsgestalt“ in: ZDK 1937, S. 184. 1028 J. Gernhuber, Das völkische Recht, in: FS für E. Kern, Tübingen 1968, S. 185. 1029 K. Larenz, RuS (2. Aufl.), S. 124. 1030 G. Dulckeit, Bespr. von: K. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart (2. Aufl.), 1935, in: ZHR 102 (1936), S. 154 f. 1031 H. Ottmann, Die Weltgeschichte, in: L. Siep (Hg.), Klassiker auslegen …, a. a. O., S. 270. 1032 S. z. B. die Einschätzung von G. Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 417 ff. 1033 Tübingen 1934.

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attestiert hat1034, rückgängig zu machen. Er behauptet nun, dass Hegels Staat „der Staat als lebendiger Wille eines Volkes“ ist, dass er „der Entfaltung der völkischen Gemeinschaft dient und als das Willensorgan des Volksgeistes“ anzusehen ist.1035 Ein Rezensent dazu: „Ihm erscheint … die nationalsozialistische Rechtsreform recht eigentlich als die Erfüllung der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie.“1036 In den Folgejahren baut er diese „völkische“ Deutung immer weiter aus bis zur Behauptung: „Das Erste ist für Hegel also das Volk.“ 1037 Den Höhepunkt dieser unrühmlichen Bemühungen erreicht er mit dem Artikel „Volksgeist und Recht“, der unter der Formel steht: „Geist ist Blut und Blut ist Geist“.1038 Im hohen Alter dazu befragt, sagt er, dass diese Verfälschung Hegels eine Art „Widerstandshandlung“ gewesen sei, um überhaupt Hegel und mit ihm ein Mindestmaß Rationalität ins Spiel bringen zu können.1039 Wie viel daran mag Schutzbehauptung sein? Trotzdem! Hegel bleibt am Rande. Tonangebend wird das auf ihn gestützte Konzept im „Dritten Reich“ nicht. Trocken merkt O. Koellreutter1040 an: „Ich fürchte, man erweist damit weder Hegel noch der völkischen Idee einen Gefallen.“ Binder selbst verfasst die kleine dünne Schrift „Der deutsche Volksstaat“1041, die, gemessen an seiner dickleibigen „Rechtsphilosophie“, fast ein Nichts ist. Und doch ist sie „gehaltvoll“, weil sie den Versuch enthält, „den neuen Staat Hitlers vom Standpunkt seiner an Hegel anknüpfenden … Methode philosophisch zu 1034 In: G. Holstein/K. Larenz, Staatsphilosophie. Handbuch der Philosophie, Abt. IV, München, Berlin 1933, S. 160. – S. dazu die Besprechung von W. Schönfeld in: AcP 140 (1935), S. 110; Schönfeld fragt, ob nicht jene „Akzentverschiebung“ vom Volk auf den Staat, die Larenz Hegel „bescheinigt“, „bedeutungs- und verhängnisvoller“ ist, „als der Verfasser gelten lässt“. Larenz hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits korrigiert und Hegel entsprechend uminterpretiert. 1035 K. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, Tübingen 1934, S. 8 1036 K. Engisch, Bespr. von: K. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, in: AcP 140 (1935), S. 103. 1037 K. Larenz, Hegelianismus und preußische Staatsidee, Hamburg 1940, S. 33. 1038 K. Larenz, Volksgeist und Recht, in: ZDK 1 (1935), S.  40–60. Hat der Neuhegelianismus damit jede wissenschaftliche Bedeutung verloren? Dies zu bejahen, wäre m. E. vorschnell geurteilt. Man sollte bedenken, dass Hegel auch durch seine liberalistischen und marxistischen Interpreten „vereinseitigt“ und damit verfälscht wurde und wird. Der Neuhegelianismus ist zwar eine besonders grobe Verfälschung, rückt aber Dinge, Fragen ins Licht, für die der „gesellschaftliche“ Ansatz „blind“ ist und die er deswegen im Schatten belässt. Weniger seine Anbiederung an den Nationalsozialismus als vielmehr dieser Hintergrund: seine auf Hegel gestützte Gegenposition zu einer aus dem Ruder laufenden bürgerlichen Gesellschaft, scheint mir denn auch der Grund dafür zu sein, dass er bis heute von der philosophischen Forschung regelrecht geächtet wird. 1039 H. H. Jakobs, Karl Larenz und der Nationalsozialismus, in: JZ 1993, S. 805 ff. (S. 806). 1040 O. Koellreutter, Bespr. Huber, a. a. O., S. 123. 1041 J. Binder, Der deutsche Volksstaat, Tübingen 1934.

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begreifen“. Und sie dient der „Klärung eines Begriffes“, des Begriffes „Volk“. Und es gelingt ihm, wie Dulckeit lobend hervorhebt, mithilfe Hegels, „die schiefe und verlogene Vorstellung von der Volkssouveränität durch die Idee des Führertums“ zu ersetzen.1042 Im Ergebnis steht fest: „[D]as neue Reich Adolf Hitlers“ stellt sich „als ein wahrer Volksstaat dar“.1043 „Volkheit“ und „Führerprinzip“. Wer dazugehören will, bekennt sich zu ihnen. W. Sombart zum Beispiel meint, Folgendes beitragen zu müssen: „Die Freude an einem klaren und scharfen Kommando habe man mit Recht als eine deutsche Eigenart bezeichnet, sie sei nicht nur ‚preußisch‘, wie andere wollen. Man kann auch sagen, dass der Deutsche sich gerne ‚führen‘ lässt, was mit der von uns an anderer Stelle festgestellten metaphysischen Einstellung der deutschen Seele im engsten Zusammenhang steht. Das ‚Führerprinzip‘, zu dem wir uns bekennen, gipfelt in der Annahme eines obersten Führerwillen, der seine Weisungen nicht mehr wie der Unterführer vom Oberführer, sondern nur noch von Gott erhalten kann als dem ‚Führer‘ der Welt. Wer das Führerprinzip ganz erfasst hat und ernstlich bejaht, muss an eine fortgesetzte Offenbarung glauben. Ohne diesen Offenbarungsgedanken schwebt das Führerprinzip in der Luft. … Auf die ‚Volksstimme‘ hat er nicht zu hören, sofern er in ihr nicht Gottes Stimme erkennt, die aber niemals aus der zufälligen und wechselnden Gesamtheit aller Staatsbürger oder gar nur aus einer Mehrheit dieser Staatsbürger sprechen kann.“1044 Wie steht es mit Otto von Gierke? Ist er nicht auch ein theoretischer Vorläufer des Jetzigen? Ist sein Genossenschaftsdenken nicht geradezu ein Bindestück zwischen Hegel und dem Nationalsozialismus? So sehen es nicht wenige, weshalb er von einigen Wortführern: O. Koellreutter, H. Helfritz, W. Merk, unter der Losung „zurück zu Gierke“ in Vorschlag gebracht wird. Doch nach näherer Prüfung wird er verworfen. Von den 24 Einwänden, die R. Höhn gegen Gierke erhebt, treffen mindestens die Folgenden auch auf Hegel zu:

•• „Er geht vom Staat, wir gehen vom Volk aus.“ •• Die Volksgemeinschaft sei für Gierke „rechtlich belanglos“. •• „Volk kann Gierke … als eigene Größe überhaupt nicht verstehen.“ 1042 G. Dulckeit, Bespr. von: J. Binder, Der deutsche Volksstaat, in: Kant-Studien 39 (1934), S. 385. Binders Schrift selbst lag mir nicht vor. Ich gehe aber davon aus, dass G. Dulckeit seinen Lehrer nicht falsch dargestellt hat. 1043 Neuß, Bespr. von: J. Binder, Der Deutsche Volksstaat, in: JW 1934, S. 1036. 1044 W. Sombart, Deutscher Sozialismus, a. a. O., S. 212 f.

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•• „Rasse, Blut und Boden haben im Gierkeschen Rechtssystem keinen Raum. Der Staat ist von ihnen unberührt.“ •• „Der Führerbegriff hat von Gierke aus betrachtet im Recht überhaupt keine Bedeutung. Er passt nicht in sein Rechtssystem. Der Führer könnte von ihm nur als Organ begriffen werden.“ •• „Der Gierkesche Organbegriff ist nicht dazu geeignet, um die Stellung des Führers zu erklären.“1045

Das ist richtig. Gierke ist Liberaler – und reagiert mit seiner Genossenschaftslehre auf die neu auftretenden, sich der positivistischen Betrachtungsweise entziehenden „unorganischen“ Sachverhalte des „organisierten Kapitalismus“, indem er sie durch Rückgriff auf den Organismus sichtbar zu machen sucht. Larenz hat das schon Jahre früher entdeckt. „Es ist einer der stärksten Mängel der Gierkeschen Korporationslehre“, schreibt er 1931, „dass sie zwischen dem Staat und den Vereinigungen des Privatrechts[,] z. B. einer Aktiengesellschaft, keinen prinzipiellen Unterschied machen kann, da er sie beide als ‚Organismen‘ betrachtet.“1046 Schließlich F. Tönnies. Auch er gerät in den Fokus der NS-Ideologen. Vom Würzburger Völkerrechtler Wolgast wird er „zum Seher des Dritten Reiches“ ausgerufen. Aber näheres Hinsehen ergibt: Wie Gierke ist auch Tönnies nur bedingt brauchbar für die braune Sache. Auch er ist Liberaler. Er wird zwar nicht ausdrücklich verworfen. Trotzdem: Er ist weit davon entfernt, seine „Gemeinschaft“ ins Politische, gar zum Staat erheben zu wollen. Für ihn ist „Gemeinschaft“ ein Ausgangszustand, von dem die Entwicklung der Menschheit über die Ausbildung „gesellschaftlicher“ Zustände wegführt. Der Begriff dient dazu, die Richtung aufzuzeigen, die die menschliche Entwicklung nimmt. Er sieht sich von H. Freyer richtig interpretiert; dieser schreibt: „Die Strukturen Gemeinschaft und Gesellschaft folgen in dieser und nur in dieser Ordnung aufeinander in der Zeit; sie sind nicht bloß zwei Möglichkeiten des Zusammenlebens, sondern zwei Etappen der sozialen Wirklichkeit; Gemeinschaft kann nur Gesellschaft werden; nie ist der reale Prozess umkehrbar.“1047 Jetzt aber soll „Gesellschaft“ in „Gemeinschaft“ rückverwandelt werden. Ein Vorgang, der – siehe Jakobinerdiktatur – 1045 R. Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, Hamburg 1936, S. 152 f. Seine Einschätzung ist völlig richtig. Das zeigt bereits die „Gegenprobe“: die Wertschätzung, die Gierke in England erfährt als derjenige, der die theoretische Grundlage der Pluralismuskonzeption gelegt hat. 1046 K. Larenz, HDW, S. 238. 1047 Zitiert bei F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, a. a. O., S. 14.

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nur mit Terror zu bewerkstelligen ist. Im Interesse der nationalsozialistischen Sache unternimmt es Dietze, Tönnies dazu auf den Kopf stellend, das Naturrecht der „Gesellschaft“ in ein Naturrecht der „Gemeinschaft“ zu verwandeln. Also zurück von „Gesellschaft“ zu „Gemeinschaft“.1048 Das ist „Pervertierung Tönnies’schen Gedankenguts“, urteilt E. Fraenkel.1049 Man könnte hinzufügen: auch Pervertierung des naturrechtlichen Gedankens.

IV.6 Zeitsprung: Lehren aus „Weimar“. Die Verfassungsfrage nach 1945 Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ werden in Ost und West Verfassungsfragen diskutiert. Verfassungsfragen sind Machtfragen. Die Macht liegt bei den Siegern; sie dominieren daher die Diskussion. Rasch zeigt sich, dass es darum geht, seiner Seite, seinem Besatzungsgebiet eine dem eigenen System ähnelnde Ordnung aufzuerlegen. Der Osten nimmt folglich Kurs auf das sowjetische System. Im Westen steht hingegen die weitere Verwestlichung, insbesondere Amerikanisierung auf der Tagesordnung. Lehren aus „Weimar“ werden gezogen. Hier und dort. Sie sind höchst unterschiedlich. Hier und dort aber kreisen sie um „Volk“ und „Demokratie“. Im Osten bestimmt Lenins Partei- und Revolutionstheorie die Diskussion. Das Ziel ist fixiert und heißt „Sozialismus“. Aber klar ist auch, dass es ohne Übergang nicht erreicht werden kann, weil die objektiven, mehr noch: die subjektiven Voraussetzungen fehlen. Dieser Übergang heißt „antifaschistisch-demokratische Ordnung“1050 und ist ein Unterfall der parallel in den späteren Ostblockländern errichteten „Volksdemokratien“. Beide wiederum, die „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ wie die „Volksdemokratie“, sind Verwirklichungsformen des von Lenin in „Zwei Taktiken“ entwickelten Staatstyps der „revolutionärdemokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“.1051 Veranlasst 1048 Vgl. H. H. Dietze, Naturrecht in der Gegenwart, Bonn 1936, insbes. S. 93–108. 1049 Deutschland und die westlichen Demokratien, S.  61; ebd.: „Der Versuch, den Weg von der Gemeinschaft zur Gesellschaft rückgängig zu machen und diese Umkehr gewaltsam zu erzwingen, muss als Verhüllungsideologie der Diktatur demaskiert werden.“ 1050 Das ist jene Phase der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), von der W. Leonhard (Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1960) berichtet, dass peinlichst darauf geachtet wurde, alles „hübsch demokratisch“ aussehen zu lassen. Nathan der Weise war das Stück, mit dem das Deutsche Theater Berlin wiedereröffnete. 1051 Lenin, Zwei Taktiken, in: Ders., AW 1, S. 527 ff. Diese wird später im Programm der KPdSU als eine Form der Diktatur des Proletariats ausgewiesen, vgl. dazu: Autorenkollektiv, Marxi-

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durch die Russische Revolution von 1905 ff., behandelt Lenin damals die Frage, wie sich die Sozialdemokratie in einer Revolution verhalten soll, die bürgerlichen Charakter trägt, aber in eine Zeit fällt, in der die Bourgeoisie nicht mehr bereit ist, ihrer historischen Mission nachzukommen. Im Falle eines Sieges beiseitetreten und die politische Macht einer solchen Bourgeoisie überlassen? Nach dem deutschen nun einem russischen „Sonderweg“ Tür und Tor öffnen? Oder selbst, zusammen mit dem revolutionären Teil der Bauernschaft, die politische Macht übernehmen, obwohl „Sozialismus“ nicht auf der Tagesordnung steht? Lenin wendet sich gegen „Beiseitetreten“; das käme einer Kapitulation gleich. Er plädiert für die Übernahme der politischen Macht und für eine Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die von vornherein Kurs nimmt auf „Sozialismus“. Seine „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ ist gedacht als „kurzer Weg“ zum „vollen Sieg“.1052 Die 1945 ff. in den von der Sowjetunion besetzten Ländern Osteuropas ausgerufenen „Volksdemokratien“ bereiten also den Boden für die „legale Revolution“ im Sinne C. Schmitts.1053 Die zu errichtende Ordnung ist „revolutionär-demokratische Diktatur …“ – was angesichts der gerade aus dem Weg geräumten Diktatur im Nachkriegsdeutschland nicht gut klingt. Deshalb firmiert sie dort unter „Volk“ und „Demokratie“. Das ist zwar unmarxistisch, geht aber konform mit der bürgerlichen Sprachregelung. Obwohl Marx (mit Hegel) davon ausgeht, dass in der Klassengesellschaft der Begriff „Volk“ zu einem nur noch bedingt brauchbaren Allgemeinbegriff wird, benutzt er ihn, gewissermaßen für den tagespolitischen Gebrauch, um darin den revolutionären Teil der Gesellschaft zusammenzufassen. Anstelle des wissenschaftlichen Begriffs „Diktatur“ – „Diktatur der Bourgeoisie“/„Diktatur des Proletariats“ – verwendet er in seiner Zeit als Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ „Volk“, um darin das revolutionäre Proletariat und die ihm nahestehenden Teile der Bevölkerung zu erfassen. Neu ist diese Verfahrensweise nicht. In der Französischen Revolution war es das Bürgertum, das sich als „Volk“ verstand, wie Hegel sagt: „als Volk aufwarf“.1054 Diesen selektiven Volksbegriff übernimmt Lenin; damit umrahmt er seine „revolutionärdemokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“.1055 Und auch stisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1975, S. 279. 1052 Lenin, Zwei Taktiken, a. a. O., S. 567. 1053 Vgl. C. Schmitt, Anmerkung zu LL (a. a. O., S. 345): Die Partei tritt durch die Tür der Legalität ein, „um diese Tür dann hinter sich zu schließen“. 1054 Hegel, VPhG, S. 61. 1055 Lenin, Zwei Taktiken, a. a. O., S. 640 ff. Er ist im Wesentlichen auch identisch mit dem, was C. Schmitt (VL, S. 243) als die „negativ bestimmte Größe Volk“ bezeichnet. Auch Mao Tse-

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die KPD, später: die SED, legt ihn der von ihr initiierten und dominierten und in den Verfassungsentwurf des „Deutschen Volkskongresses“ einmündenden Verfassungsdiskussion zugrunde. „Volk“ also nur, „insofern mit diesem Worte ein besonderer Teil der Mitglieder eines Staats bezeichnet ist“1056. Der Vorteil: Die Diskussion scheint ganz im Zeichen von „Volk“ zu stehen, obwohl das Ziel die Diktatur ist. Wenn es in der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 in Art. 3 Abs. 1 also heißt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so ist dies im Sinne des selektiven Volksbegriffes zu verstehen. Und natürlich auch im Sinne der zu diesem Zeitpunkt von der Besatzungsmacht bereits in Richtung auf „Sozialismus“ geschaffenen politischen und ökonomischen Tatsachen. So ist das zentrale „Menschenrecht“ der bürgerlichen Gesellschaft, das Recht auf Eigentum, „aus dem Katalog der historisch überlieferten Grund- und Freiheitsrechte herausgenommen und in den Abschnitt ‚Wirtschaftsordnung‘ eingebaut worden“1057. Das geschieht nicht aus pragmatischen Gründen, sondern weil das Eigentumsrecht als Grundrecht beseitigt ist und der Disposition des Staates unterliegt. Das Eigentum an Produktionsmitteln steht ab jetzt gewissermaßen unter „Erlaubnisvorbehalt“; seine Tage sind gezählt. Es muss von daher nicht verwundern, dass für die Parteigänger dieser Diktatur die wichtigste Lehre aus „Weimar“ bzw. aus der WRV darin besteht, den dortigen zweideutigen (bzw. „doppelten“) durch einen jetzt eindeutigen Volksbegriff zu ersetzen. Gemessen an der Unterscheidung Liermanns: Das „Gemeinschaftsvolk“ ist in den Vordergrund gerückt; dieses ist das „wahre“ bzw. „eigentliche“ Volk. Folglich betont diese Verfassung die Elemente der „direkten“ Demokratie, weniger jedoch die „indirekte“, die sich um das Wählen rankt. Wie „Volk“ wird auch „Demokratie“ selektiv gesehen: als eine „antifaschistische Demokratie“, als eine Demokratie also, die „keine Betätigung von reaktionären, monarchistischen oder faschistischen Parteien“ zulässt.1058 Es versteht sich, dass „reaktionär“, „monarchistisch“ und „faschistisch“ sehr weiträumig verstanden wurde und im Übrigen mit der „Boykotthetze“tung übernimmt diesen „selektiven“ bzw. „negativ bestimmten“ Volksbegriff. Er schreibt 1967: „In der gegenwärtigen Etappe, in der Periode des Aufbaus des Sozialismus, gehören zum Volk alle Klassen, Schichten, gesellschaftliche[n] Gruppen, die den Aufbau des Sozialismus billigen, unterstützen und dafür arbeiten.“ Der Rest sind „Volksfeinde“, die aus „Volk“ ausgeschlossen sind (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, zitiert bei: F. Müller, Wer ist das Volk?, Berlin 1997, S. 39). 1056 § 301/Anm. Rph. 1057 K. Schultes, Zur deutschen Verfassungsentwicklung, in: NJ 1950, S. 189. 1058 Ebd.

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Bestimmung des Art. 6 Abs. 2 ebenso weiträumig unter Strafe gestellt war. Wenn K. Polak1059 also an dem Verfassungsentwurf des „Deutschen Volksrates“ lobend hervorhebt: „In ihm ist die Hegemonie der Volksvertretung klar und eindeutig festgelegt – so klar und eindeutig, wie dies bisher in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht der Fall war“, so ist dies vor diesem Hintergrund zu lesen. Durch die Art des Wählens (Einheitsliste!) war sichergestellt, dass „Hegemonie der Volksvertretung“ zugleich Hegemonie und Unabwählbarkeit der SED bedeutete. Das selektive Verständnis von „Volk“ und „Demokratie“ verbindet sich also mit einem Verständnis von „direkter“ Demokratie, das die politische Vorherrschaft der „Partei neuen Typus“, des „bewussten und organisierten Vortrupps“, begründet und zementiert. Für den Osten gilt also: Hinter einem fiktiven Volk verbirgt sich dort die reale Größe SED; „Volk“ wird durch die „Partei neuen Typus“ mediatisiert. C. Schmitt, nach seiner Meinung zur ersten DDR-Verfassung befragt, hätte mit guten Gründen auf das verweisen können, was er vom „Gesetz zur Behebung der Not von Staat und Volk“ sagte: „eine Brücke vom alten zum neuen Staat, von der alten Grundlage zur neuen Grundlage“.1060 Und im Westen. Welche Lehren werden dort aus „Weimar“ gezogen? Welches Schicksal erleidet „Volk“ dort? Auf den ersten Blick fallen zwei Dinge auf. Die erste Auffälligkeit umreißt W. Weber so: „Wohl selten ist eine europäisch-abendländische Verfassung unter so wenig Publizität zustande gekommen wie diese.“1061 Und auffällig ist auf den ersten Blick weiter, dass vor dem Satz in Art. 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, in den Art. 1–19 die Grundrechte fixiert werden. Wir haben dazu an anderer Stelle bereits festgehalten, dass es sich bei diesen als „Menschenrechte“ daherkommenden Rechten um die Rechte der Personen bzw. der bürgerlichen Gesellschaft handelt. Es sind also Rechte, die dem Freiheitsprinzip unterfallen. Sie dienen dem Schutz der bürgerlichen Gesellschaft gerade auch vor dem Volk. Da dieser Grundrechtsschutz besonders umfassend ist, gewährt er daher einen in Deutschland nie gekannten Schutz vor dieser 1059 K. Polak, Volkssouveränität und Staatsgestaltung im kommenden Deutschland, in: NJ 1948, S. 243. 1060 C. Schmitt, SBV, S. 8. Ders., Die legale Weltrevolution, in: Der Staat 1978, S. 333: „Hitler ist es sogar gelungen, aus diesem schmalen Tor der Legalität [das die unklaren Bestimmungen der WRV zum Volk geschaffen haben; B. R.] den Triumphbogen seines Einzuges in Potsdam und in Weimar zu machen.“ 1061 W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1958, S. 13.

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„beängstigenden Last“1062, dem Volk. Dafür sorgt nicht zuletzt die Neuerung des Art. 19 Abs. 3, der ihn auf inländische juristische Personen erstreckt, also auf jene „Mächte“ und „Kräfte“, die jetzt das Sagen haben. „Volk“ schafft Abgrenzungsbedarf. Das Eigentum, die bürgerliche Gesellschaft generell, muss gegen das Volk in höherem Maße gesichert werden als dazumal gegen den Monarchen – ein Aspekt, den bereits F. J. Stahl in seiner bekannten Rechtsstaatsdefinition hervorhebt.1063 Bevor das GG also zum „Volk“ kommt, werden die Grundrechte unter Dach und Fach gebracht. Im Mittelpunkt: die Freiheit des Eigentums, die Kernfreiheit. Wie ein guter Hofhund sorgt das neu installierte BVG in der Folgezeit dafür, dass dieser Schutzwall nicht nur nicht durchbrochen, sondern noch erweitert wird. Jetzt erst, nachdem diese Größe gebannt und entschärft ist, handelt der Verfassungstext vom „Volk“. Damit ist der zentrale Mangel der WRV, der doppelte Volksbegriff, auch im Westen beseitigt – hier jedoch zugunsten der Gesellschaft. „Volk“ ist die erkennbar nachrangige Größe des GG; „Volk“ ist ins Abseits gestellt. Mit dem GG beschreitet die 1949 installierte BRD daher „in klarer Konsequenz“ den Weg zum reinen Gesellschaftsstaat. Es ist durchaus richtig erkannt, wenn P. Unruh es in den Rang „eines verfassungstheoretischen Idealtypus“ rückt.1064 Aus der Sicht H. Dreiers: Das zentrale Problem, die „Zerstörung liberaler Freiheit durch demokratische Entscheidungsprozesse“1065, ist im GG zugunsten der „Freiheit“ und gegen die „Demokratie“ gelöst worden. Schon diese Anlage des GG erregt den Verdacht, dass es – als Lehre aus „Weimar“ – denkbar volksfremd, um nicht zu sagen: volksfeindlich abgefasst sein könnte. Erhärtet wird dieser Verdacht durch den Fakt, dass in der BRD mittlerweile alles und jedes in den Rechtsstaat einbezogen worden ist, bloß der Begriff „Volk“ nicht. Das muss nicht verwundern: Ein Phantom kann nicht justiziabel gemacht werden.1066 Objektiv 1062 Ebd., S. 10. 1063 F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2: Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 1878, S. 138. Seine dortige Definition wird gerne auf jenen Teil verkürzt, der den Rechtsstaat im Gegensatz zum Polizeistaat sieht. Weniger Beachtung findet, dass der von ihm favorisierte Staat „nicht minder … auch im Gegensatz zum Volksstaate [steht] …, in welchem das Volk die vollständige und positive politische Ordnung von Staatswegen jedem Bürger zumutet“, ein Zustand, der für ihn „eine absolute Verirrung ist“. 1064 P. Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, Berlin 2004, S. 21 f. 1065 H. Dreier, Rechtslehre …, a. a. O., S. 268. 1066 Weshalb F. Müller (Wer ist das Volk?, a. a. O., S. 41) wohl vergeblich fordern wird: „Taucht ‚Volk‘ in Normtexten auf, also vor allem in Verfassungsurkunden, so ist er als juristisches Tat-

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gesehen, ist insofern das GG wahrhafter abgefasst als die WRV – und wäre es noch mehr, wenn „Volk“ darin überhaupt nicht vorkäme. Die Schlüsselworte der damaligen Diskussion: „Pluralismus“ und „Parteienstaat“. Beide nehmen Bezug auf das uns schon bekannte „Gesellschaftsvolk“. Dass das GG dieses „Volk“ favorisiert, wird insbesondere in der Regelung des Art. 38 deutlich. Es gilt das Prinzip der „indirekten“, der „repräsentierten“, der „parlamentarischen“ Demokratie. Das ist jene undurchsichtige Art von Demokratie, der C. Schmitt1067 rundweg die Zugehörigkeit zur echten, d. h. direkten Demokratie aberkennt und die für H. Kelsen nichts weiter als den institutionalisierten Ausdruck einer rein formalen Demokratie bezeichnet. Möglichkeiten „direkter“, „identitärer“ Demokratie ist so gut wie jeder Weg verlegt. Auch G. Leibholz, frisch aus der Emigration zurückgekehrt, sagt von dieser „parlamentarischen“ Demokratie, sie sei längst ein „Klischee geworden …, das der politischen Wirklichkeit nicht mehr“ entspreche. Allerdings sagt er nun auch, jetzt im Unterschied zu Schmitt, sie sei durch eine neue Art Demokratie und eine neue Art Repräsentation abgelöst worden, in deren Mittelpunkt die Parteien stehen.1068 Das sei damals, in „Weimar“, verkannt worden. Im Gegenteil: Die Parteiendemokratie sei als etwas angesehen worden, das die „Freiheit der Abgeordneten aufs schwerste gefährden“ und sohin die Grundlagen des Parlamentarismus bedrohen müsste. Das aber sei nicht so; diese Ansicht sei völlig veraltet. Was negativ, als Demokratiefeindliches beurteilt wurde, hätte schon damals positiv gesehen werden müssen, hätte als die Demokratieform erkannt werden müssen, die die bisherige ablöst, noch mehr: hätte gegenüber der liberalistischen Demokratieauffassung des 19. Jahrhunderts als die höhere Form erkannt werden müssen. Das ist auch die Position Ernst Fraenkels, eines weiteren Rückkehrers. Beide, Leibholz und Fraenkel, haben die Zeit im angelsächsischen Exil genutzt, um sich die dortige „erfrischende methodologische Unbefangenheit“1069 im Umgang mit dem Begriff „Pluralismus“ zu eigen zu machen, und treten jetzt als dessen engagierte Befürworter auf. Maßgeblich ihrem Engagement ist es zu danken, dass der Pluralismus, dem die frisch ins Leben gerufene BRD zunächst nur schüchtern nähertritt, reichlich kritiklos und in Abkehr von der deutschen philosophischen und staatstheoretischen bestandsmerkmal aufzufassen, ist er als Rechtsbegriff ernst zu nehmen und lege artis zu interpretieren.“ 1067 S. dazu C. Schmitt, VL, S. 303 f. 1068 G. Leibholz, Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVBl 1951, S. 2. 1069 H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 12.

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Tradition Aufnahme in das offizielle politische Leben findet.1070 Anfang der 1960er Jahre hat er festen Fuß gefasst. Was vormals nahezu übereinstimmend als demokratie- und freiheitsfeindlich zugleich angesehen wurde, ist nun nicht nur von diesem Makel befreit und fester Bestandteil des Demokratiebegriffs geworden, sondern wird nun auch bald als „pluralistische Demokratie“ zur Demokratie der neuen Zeit erklärt. Nicht ganz so leicht macht es sich H. Kelsen. Auch er lernt im amerikanischen Exil in puncto „Demokratie“ dazu. Sein bis dahin substanzloser, „technischer“ Demokratiebegriff, der abbildet, was er in „Weimar“ und anderswo an Demokratie praktiziert sieht, erfährt eine „stillschweigende Aufladung“ bzw. „Substanzialisierung“ durch die amerikanische Auffassung, was zu „einer gewissen Revision seiner rein formalen Ausgangsposition“ führt.1071 Die „Substanzialisierung“ besteht darin, dass nun auch in seinen Demokratiebegriff die „Freiheit“ Einzug hält und Kelsen jetzt sagt: „Modern democracy cannot be separated from political Liberalism.“1072 Aber im Gegensatz zu den beiden anderen legt er nicht alle seine Zweifel am bloß formalen Charakter der Demokratie, auch der amerikanischen, ab und bleibt dabei, dass „Freiheit“ und „Demokratie“ Verschiedenes sind; er legt diese Trennung nicht „als alteuropäisch ad acta“1073. Lediglich die „schroffe Entgegensetzung beider Ideenkomplexe“ ist jetzt „deutlich“ abgemildert. Aber: „In einem folgenschweren Punkt … bleibt sein Standpunkt … von ungebrochener Konsequenz: bei der Frage nach der Selbstpreisgabe der Demokratie.“1074 Auf gut Deutsch: Er bleibt also dabei, dass die Freiheit auch abgewählt werden darf – eine Position, die nicht mit dem GG konform geht und heutzutage den Verfassungsschutz auf den Plan ruft. Abgesehen davon, dass einem solchen Vorgang in Gestalt der Grundrechte ein Riegel vorgeschoben ist. Kurzum: Kelsen bleibt auch mit seiner „geläuterten“ Auffassung unterhalb der „pluralistischen“ Demokratie und auch außerhalb dessen, was nunmehr an Demokratie nach dem Text des GG, noch mehr: nach dessen Interpretation durch das Verfassungsgericht möglich sein soll.1075 1070 Ganz richtig die Einschätzung bei W. Leisner (Demokratie… a. a. O., S. 45 f.): Vom „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre führt ein gerader Weg zum „Eigentumswunder“ und von dort zur „Eigentumsdemokratie“. 1071 H. Dreier, Rechtslehre… a. a. O., S. 263. 1072 Zitiert bei H. Dreier, ebd., S. 264. 1073 H. Dreier, ebd., S. 288. 1074 Ebd., S. 268 f. 1075 Für P. Unruh (Weimarer Staatsrechtslehre …, a. a. O., S. 87) ist Kelsens Auffassung daher „nur mit Einschränkungen mit dem GG kompatibel“.

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Die „pluralistische“ Demokratie ist, so Fraenkel, Demokratie im Zeitalter der „adjektivistischen“ Demokratie.1076 Als solche stehe sie der „sozialistischen“ Demokratie gegenüber. Ihr Gemeinsames bestehe darin, dass das Volk hier wie dort nicht vom gewählten Volksvertreter repräsentiert wird, sondern von einer (im Osten) oder mehreren Parteien (im Westen). Und Folge sei deswegen hier wie dort, dass das von Verfassungs wegen vorgesehene „Wählen“ auf einen äußerst geringen Grad an Bedeutung herabgestuft ist. G. Leibholz hält es jedenfalls 1951 für den Geltungsbereich des GG „zweifelhaft, ob man in der heutigen Situation noch von einer echten Wahl sprechen kann“1077. Fünf Jahre später bekräftigt er, durchaus im Einvernehmen mit vielen seiner Kollegen, seine Ansicht. „Bei Lichte besehen, sind diese nämlich heute überhaupt keine echten Wahlen mehr.“1078 Und wie sollte es auch anders sein? Eine nur formale, eine um ihr Wesen gebrachte, also eine „unwesentliche“ oder auch „unwahre“ Demokratie, eine Demokratie, die, wie Hegel formuliert, „ein ganz totes, unlebendiges Bild“ abgibt1079, kann nur mit einem ganz „unwesentlichen“ Wählen in Verbindung stehen. Alles andere käme einem Wunder gleich. Das ist die „Leibholz-Schmittsche Hypostasierung des Repräsentationsbegriffes“, die „bis heute wirkungsmächtig geblieben“ ist1080 – was heißt: Sie belastet den frisch-fröhlichen Demokratiebegriff, der aus der Ineinssetzung von Demokratie und Freiheit gewonnen ist. Befunde dieser Art legen natürlich die Frage nahe: Warum überhaupt noch Wahlen? Und wenn die Demokratie, auf die sich unser Staatswesen beruft, nicht mit dem Wählen bzw. mit dem Parlamentarismus zu begründen ist, jedenfalls nur in geringerem Maße, womit dann? Die Antwort liegt wiederum in jener „pluralistischen“ Demokratie begründet. Sie verbindet sich laut Fraenkel mit einer neuen Art „Volk“, dem heterogenen „Gruppenvolk“ – ein Begriff, „der die differenzierte Gesellschaft als Prämisse akzeptiert und das Streben nach absoluter Homogenität ablehnt“. Aus beiden, der „pluralistischen“ Demokratie und dem „Gruppenvolk“, erwachse – wie er einräumt – eine „schwerst zu begreifende“ 1076 E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien …, a. a. O., S. 278. 1077 G. Leibholz, Parteienstaat und repräsentative Demokratie, a. a. O., S. 4. 1078 G. Leibholz, Repräsentation …, a. a. O., S. 231. Zur Erinnerung: Fast wortgleich formulierte C. Schmitt (Die Weiterentwicklung des totalen Staates, a. a. O., S. 215) im Januar 1933: „Ich behaupte aber, dass der Vorgang, wie er sich heute abspielt, überhaupt keine Wahl mehr ist.“ 1079 Hegel, VPhW, S. 363. 1080 U. Rühl, Das „Freie Mandat“: Elemente einer Interpretations- und Problemgeschichte, in: Der Staat 2000, S. 33.

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und „schwerst zu handhabende“ Staatsform.1081 Aber so schwer zu begreifen ist diese Lösung nun auch nicht. Man muss nur wissen, dass der jetzt zugrunde gelegte Demokratiebegriff die Fronten gewechselt hat, dass er „Freiheit“ meint. Fasst man Demokratie so weit, so „zivil-religiös“1082, kann man eigentlich auch nicht anders, als dem zuzustimmen. Danach haben wir jetzt eine Demokratie, wie sie „direkter“ kaum sein kann. Man sollte dann aber gelegentlich auch klarstellen, gerade auch jenem „Volk“ gegenüber, dass der Parlamentarismus mehr und mehr eine leere Hülle bzw. – wie Schmitt sagt – eine „leere Formalität“ geworden ist. Ihm mögen „vielleicht noch mache nützlichen Funktionen“ zufallen. Die entscheidende Funktion hat er indes eingebüßt: „Repräsentant der politischen Einheit des Volkes“ zu sein.1083 Das ist eine Einschätzung, die, wie schon gezeigt, dicht bei Hegel liegt. Erinnern wir uns: In „Weimar“ steht Leibholz den Sachverhalten Pluralismus und Parteienstaat ähnlich kritisch gegenüber wie C. Schmitt. Damals „brachte er für die ‚autoritative Absage‘ an den Parteienstaat mehr Verständnis auf als für die Anpassung des Verfassungsrechts an die Rechtswirklichkeit der Parteienherrschaft“1084. Beide eint damals, dass sie sie nicht der Demokratie zuordnen. Beide berufen sich auf den Wortlaut von Art. 21 WRV sowie auf gesicherte Erkenntnisse zum Begriff der „Repräsentation“. Beide nehmen „Volk“ ernst – oder tun zumindest so. Das verstellt ihnen den Blick auf die naheliegende Lösung. A. Köttgen dazu: Das Dilemma, das beide beschreiben, wäre ganz einfach aus der Welt zu schaffen bei „Anerkennung des Parteienstaates bis in seine letzte Konsequenz“. Aber er hat Verständnis dafür, dass Leibholz sich hierzu nicht durchringen will. „Die Bedenken Leibholz gegenüber einer solchen Lösung erscheinen ohne weiteres berechtigt, weil in einem konsequenten Parteienstaat in der Tat das Prinzip der Repräsentation endgültig verlassen wäre“.1085 Nun ringt sich Leibholz durch. Die Verlagerung der Repräsentation von den Abgeordneten auf die Parteien ist jetzt für ihn eine durchweg positiv zu sehende

1081 E. Fraenkel, Der Doppelstaat, a. a. O., S. 291. 1082 Vgl. K.-M. Kodalle, Zwischen politischem Mythos und gesellschaftlichen Grundwerten: Carl Schmitts Anstöße und die gegenwärtige Debatte über „Zivilreligion“, in: H.-G. Flickinger (Hg.), Die Autonomie des Politischen …, a. a. O., S. 81–96; dem „zivil-religiösen“ Gebrauch von „Demokratie“ steht der „pseudo-sakrale“ Gebrauch von „Volk“ zur Seite, auf den F. Müller (Wer ist das Volk?, a. a. O., S. 39) hinweist. 1083 C. Schmitt, VL, S. 208. 1084 U. Rühl, Das „Freie Mandat“ …, a. a. O., S. 38. 1085 A. Köttgen, Bespr. Leibholz, a. a. O., S. 301.

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Entwicklung zu mehr „direkter“ Demokratie.1086 Die zwar nach dem Text des GG1087 verfassungswidrige Praxis ist ihm jetzt „eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie“1088. In der Regelung der Repräsentation im GG hingegen sieht er „ein großes Missverständnis“. Es bestehe darin, dass die Verfassungsväter geglaubt haben, „einfach die moderne parteienstaatliche Demokratie neben die repräsentativ-parlamentarische Demokratie stellen und diese beiden Formen der Demokratie miteinander kombinieren zu können. In Wirklichkeit schließt nämlich das Bekenntnis zur modernen parteienstaatlichen Massendemokratie das gleichzeitige Bekenntnis zu den Grundsätzen des liberalen parlamentarisch-repräsentativen Demokratismus aus, weil es sich hier im Prinzip nach um völlig verschiedene Strukturtypen der Demokratie handelt.“1089 Mit seiner Hilfe1090 wird jedenfalls rasch herrschende Lehre, dass das im GG niedergelegte Repräsentationsprinzip eine zeitgebundene und überholte Vorstellung der Repräsentation ist – ein „Klischee …, dass der politischen Wirklichkeit nicht mehr entsprach.“1091 Eine neue Art von Repräsentation sei an ihre Stelle getreten, die nicht den Abgeordneten, sondern die Partei in den Mittelpunkt rücke. Deutlich wird: Das angloamerikanische Verständnis von Demokratie ist sehr geeignet, den Kontakt herzustellen zu Entwicklungen, die aus liberaler Sicht als demokratiefeindlich angesehen wurden und nichts anderes sind als „Refeudalisierung[en] des gegenwärtigen Demokratieverständnisses.“ 1092 Doch nun wendet sich das Blatt: Aus einer bedenklichen wird eine unbedenkliche, eine demokratiefeindliche wird zu einer demokratiefreundlichen, aus einer illegitimen wird eine legitime Entwicklung. Das Blatt wendet sich so sehr, dass jetzt in Diktaturverdacht gerät, wer früher zu den Vätern der Demokratie gezählt

1086 U. Rühl, Das „Freie Mandat“ …, a. a. O., S. 39: „Nun löste er den ‚Gegensatz‘ auf und wendete die latent-kritische Tendenz gegenüber dem Parteienstaat ins Positive.“ 1087 Richtete dieser sich nach der Praxis, wäre Abs. 1 Satz 2 des Artikels 38 wie folgt abzufassen: Die Abgeordneten sind Vertreter ihrer Parteien und an Aufträge und Weisungen der Wähler nicht gebunden. 1088 G. Leibholz, Die Repräsentation …, a. a. O., S. 226. Gleichlautend formuliert er in „Parteienstaat und Repräsentative Demokratie“ (DVBl. 1951, S. 4) 1089 Ders., Parteienstaat und Repräsentative Demokratie, a.a.O., S. 1. 1090 Als Mitglied des Bundesverfassungsgerichts nimmt er maßgeblichen Einfluss darauf, dass diese Demokratie-Variante durch die Verfassungsgerichtspraxis legitimiert wird. S. dazu kritisch: H. H. v. Arnim, Parteienstaat – der Staat als Beute?, in: Th. Schiller (Hg.), Parteien und Gesellschaft, Stuttgart 1992, S. 71–87. 1091 G. Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie, a. a. O., S. 2. 1092 I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt a.M. 1994, S. 32.

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wurde – zum Beispiel Kant und Rousseau.1093 Aus dem Demokratieverlust durch Zerstörung des Repräsentationsprinzips wird ein Demokratiegewinn. So einfach kann Theorie sein. Leibholz, an jene gewandt, die mehr direkte Demokratie fordern: Was ist, „bei Lichte besehen“, der „heutige Parteienstaat“ anderes als „eine Erscheinung der unmittelbaren Demokratie“?1094 Das ist die Formel, auf die sich die herrschende Meinung verständigt: Parteienherrschaft bedeutet ein Mehr an „direkter“ Demokratie. Dieses „Mehr“ kompensiert den Makel, dass es vom Verfassungstext nicht gedeckt ist. Ist das nicht ein Wert an sich? Ist es nicht legitimierend genug, um über den Verfassungsbruch hinwegsehen zu können? Es ist nicht ganz einfach, den rechtsphilosophischen und ökonomisch-politischen Hintergrund des Pluralismus auszuleuchten. Die Schwierigkeit besteht darin, die bereits skizzierten „Mächte“ und „Kräfte“ gegenständlich zu machen. Dem soziologischen, dem ökonomischen Befund nach sind sie „da“. Dem positivistischen Rechtsbegriff, fixiert auf die Größen „Individuum“ und „Eigentum“, entziehen sie sich. Durch seine Brille betrachtet, verschwinden die „Kräfte“ und „Mächte“; sie bleiben unsichtbar. Doch kann nicht in Abrede gestellt werden, dass auch sie, von ihrer Bedeutung her: gerade sie, obwohl nicht zum „Volk“ gehörig, und obwohl weder aktiv noch passiv wahlberechtigt, an der politischen Willensbildung, damit an der Machtausübung beteiligt sind. Und das nicht zu knapp; sie bestimmen in hohem Maße die Richtlinien der Politik – mehr als alle Wähler zusammen. Und gerade das dürfte einer Legalisierung durch Institutionalisierung entgegenstehen. Wie Fraenkel sieht Leibholz jetzt in der damals als „demokratiefeindlich“ gewerteten Erscheinung eine neue Form der Demokratie, gewissermaßen die Demokratie der Moderne. Es ist die Demokratie der jetzigen „Aktivbürgerschaft“1095, d. h. jener „Mächte“ und „Kräfte“, die den Raum zwischen Staat und Individuen ausfüllen und beherrschen. Demokratie, die sich über „Partei- und Verbandsarbeit“ und über Lobbyismus artikuliert. Diese Demokratie ist „direkt“, weil sie ganz unmittelbar Einfluss auf das Handeln der Exekutive nimmt. U. Scheuner dazu: „Man hat aber beobachtet, dass sich entsprechend der steigenden Bedeutung der Exekutive im politischen Leben ein großer Teil der Aufmerksamkeit der Verbände auf die Exekutive richtet …“. Unter dem schon von M. Weber hervorgehobenen Aspekt der zunehmenden 1093 S. dazu: I. Maus, Zur Aufklärung …, a. a. O., insbes. S. 7 f., 20 f., 137. 1094 G. Leibholz, Repräsentation …, a. a. O., S. 118 f. 1095 Ebd., S. 228.

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Austauschbarkeit der Staatsbürokratie und des modernen Managertums ist der weitere Satzteil von Bedeutung: „… vor allem auch die Bürokratie, die es schon im Frühstadium der Vorbereitung von Maßregeln zu beeinflussen gilt.“1096 Schmitt landet damals bei „Führer“ und „Führerdiktatur“. Der Führer ist sein Ergebnis „direkter“ Demokratie. Bei Lenin liegt die Wahrnehmung der „direkten“ Demokratie in den Händen der „Partei neuen Typus“, was de facto bedeutet: in der Hand eines „Politbüros“ oder gar nur des „Generalsekretärs“. Bei ihnen ist das „Politische“ konzentriert. Leibholz und Fraenkel hingegen belassen das dem Staat abhandengekommene Politische bei den außerhalb des Staates liegenden pluralen „Mächten“ und „Kräften“ und legitimieren sie als dessen neue Träger. Nicht das Volk, sondern sie und die von ihnen abgeleiteten und unterstützten Parteien sind dadurch näher am Staat, partizipieren „direkter“ an ihm im Sinne einer „unmittelbaren Demokratie“. Sie bilden auf der Ebene der Legislative eine unerklärte zweite Kammer aus, von der jedenfalls mehr legislative Macht ausgeht als vom gewählten Parlament. Beide führen „Politisches“ und „Staatliches“ also nicht zusammen, sondern akzeptieren ihr getrenntes Auftreten; sie „pluralisieren“ somit das „Staatliche“, soweit dieses das „Politische“ ist. Sie subsumieren all das unter „Demokratie“. Das „klassische“ Parlament verliere zwar „den ihm früher eigenen ursprünglichen Charakter“, werde dafür aber „zu einer Stätte …, an der sich gebundene Parteibeauftragte treffen, um anderweitig … bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen“1097. Zwar verbinde sich diese Entwicklung mit dem Aufstieg der Exekutive und führe zum „heutige[n] demiautoritäre[n] Regierungssystem“.1098 Aber dieser Nachteil werde reichlich aufgewogen durch das Mehr an „direkter“ Demokratie und durch dieses legitimiert. Weswegen Leibholz angesichts des erhobenen Befunds auch keinen Bedarf für Volksentscheide, Volksbegehren sieht.1099 Der Unterschied zwischen Lenin/Schmitt einerseits und Leibholz/Fraenkel nach deren Rückkehr aus dem Exil andererseits kurz gefasst: Die Lösung der Ersteren führt zum „totalen“, jene der beiden anderen zum „demiautoritären“ 1096 U. Scheuner, Politische Repräsentation, a. a. O., S. 578. 1097 G. Leibholz, Repräsentation …, a. a. O., S. 226. Das ist eine Aussage, die fast jeder in Bezug auf die Volkskammer der ehemaligen DDR als richtig unterschreiben würde; die Volkskammer und ihre Abgeordneten waren dazu da, „anderweitig“ bereits Vorformuliertes (Parteibeschlüsse!) in Gesetzesform zu bringen. Dass sie, wenn vielleicht auch abgeschwächt, gleichfalls für die BRD gilt, sollte dem Bürger sehr viel öfter und eindringlicher vor Augen geführt werden, als dies tatsächlich geschieht. 1098 Ebd., S. 228, Fußnote 13. 1099 Ebd., S. 232.

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Staat.1100 Letzterer korrespondiert mit Begriffen, die A. Weber bereits 1925 zur Kennzeichnung der „großen Demokratien des Westens“ gebraucht: „unegalitäre Demokratie“, „plebiszitäre Oligarchie“, „den Staat aufsaugende“ „demokratischoligarchische Führercliquen“.1101 Gemeinsam ist ihnen die Abkehr von Ansichten, „die allzu sehr nur die Relation Individuum – Staat in den Mittelpunkt rücken und das demokratische Staatsleben aus einer Masse isoliert nebeneinander stehender Einzelner zu entwickeln suchen.“1102 Es wurde schon angesprochen: Die prinzipielle Kehrtwendung in puncto Pluralismus berührt grundlegend auch den Begriff der Repräsentation. Auch er muss in Abkehr von der Formel E. Burkes, nach der der Abgeordnete das ganze Volk vertritt, „aus der Enge der Rechtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts gelöst und wieder mit seiner viel weiter zurückreichenden Geschichte verbunden werden“1103. Dabei geht es vor allem darum, dem vom Volk gewählten und nur ihm verpflichteten Abgeordneten nur als eine von mehreren Möglichkeiten zu begreifen, den Begriff also zu öffnen – zum Beispiel Repräsentation als das verbindliche Handeln für Gruppen; solches Handeln „daher nicht für unstatthaft zu halten“1104. Es geht darum, die „Repräsentation in [ihrer] gegenwärtigen Bedeutung“1105 sichtbar zu machen. Der Pluralismus und die mit ihm verknüpfte neue Art von Repräsentation und von Demokratie werden also für legitim erklärt. Merkwürdig aber, dass eine „zeitgebundene und überholte Vorstellung von Repräsentation, die sich an bestimmte frühliberale Theoreme bindet“1106, trotzdem weiter geltendes Verfassungsrecht bleibt. Warum keine Institutionalisierung dessen, was nun wirklich ist? Warum wird ein Zustand, dem, beurteilt vom Text der Verfassung, mindestens der Geruch des Illegalen anhaftet, nicht per Verfassungsänderung legalisiert? Warum bleibt es bei der Diskrepanz zwischen den Artikeln 21 und 38? Warum kümmert sich das BVG, immerhin anerkannter und wachsamer „Hüter“ der Verfassung, nicht entschieden um diesen Verfassungsbruch? Tieferer Grund scheint mir zu sein, dass der Übergang vom Zensuswahlrecht zu 1100 An dieser Stelle erinnere man sich an C. Schmitts Aussage im „Hüter der Verfassung“ (S. 84): „Durch die Pluralisierung ist aber die Wendung zum Totalen nicht aufgehoben, sondern nur sozusagen parzelliert.“ 1101 A. Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens …, a. a. O., S. 134 f. 1102 U. Scheuner, Politische Repräsentation, a. a. O., S. 578. 1103 Ebd., S. 579 f. 1104 Ebd., S. 580. 1105 Ebd., S. 578. 1106 Ebd., S. 577.

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allgemeinen und gleichen Wahlen mit dem Übergang vom Kapitalismus der „freien Konkurrenz“ zum „organisierten“ Kapitalismus zusammenfällt. Die ökonomische und auch politische Macht verlagert sich von jenen Einzelnen, die sie vormals in der Hand hielten, hin zu jenen „Kräften“ und „Mächten“, die sie jetzt ausüben. Offiziell sind sie nicht existent und sind sie ohne Einfluss. Inoffiziell aber sind sie die jetzigen politischen Machtzentren. Zwar entziehen sie sich den Institutionen und der eigenen Institutionalisierung. Und doch: Als „verdeckte Gewalten“ sind sie mächtig genug, sich jederzeit „an einer bestimmten Stelle in den Vorgang der staatlichen Willensbildung einzuschieben“1107. Dem „Volk“ wird also ein Wahlrecht in die Hand gedrückt, das laut Leibholz nun so gut wie wertlos geworden ist. Denn nicht mehr die gewählten Abgeordneten repräsentieren die bürgerliche Gesellschaft, sondern jene „Mächte“ und „Kräfte“. Sie haben weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Und doch ist ihr Einfluss auf das politische Geschehen gewaltig. Sie sind „direkt“ an der politischen Macht beteiligt, jedenfalls sehr viel direkter als die Millionenschar der Wähler. Diese „direkte“ Demokratie darf und soll nicht institutionalisiert werden. Täte man es, müssten ihr Umfang und die sie Ausübenden sichtbar gemacht werden. Diese „Mächte“ und „Kräfte“ artikulieren ihre politischen Forderungen auf spezifische Weise, jedenfalls nicht in der Form öffentlicher Diskussion. Sie agieren als politische Größen außerhalb des Parlaments, auf verschlungeneren Pfaden und auf verschwiegenere Weise. Sie machen sich zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele die Parteien dienstbar. Besser ist es daher wohl, alles beim Alten zu belassen, d. h. bei der jetzigen Grauzone. Die Wiedervereinigung wurde jedenfalls nicht als günstige und durch Art. 146 GG vorgegebene Gelegenheit genutzt, die „Volksfremdheit“ des GG zu beseitigen. Das Misstrauen jenem „Volk“ gegenüber, vor dem man eben noch rhetorisch den Hut gezogen hatte, überwog.1108 Man sah sich in „guter Verfassung“. Stattdessen wurde das einzige Volk, das in neuerer Zeit auf deutschem Boden existierte, jenes Produkt einer staatlich verordneten Homogenisierung durch Einebnung der ökonomischen Unterschiede, zusammen mit der DDR abgewickelt. Was ergibt sich daraus? Vieles spricht dafür, dass die angesprochene Regelung, so überholt sie auch ist, der Verschleierung unangenehmer, „lichtscheuer“ Sachverhalte dient. Der Zensus ist nicht aufgehoben, sondern lediglich auf jene 1107 M. Wundt, Staatsphilosophie, a. a. O., S. 143. 1108 S. dazu: D. Sterzel, In neuer Verfassung?, in: KJ 1990, S. 388.

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Ebene verlagert, auf der heute die politische „Musik“ spielt. Dort stoßen wir auf jene „direkte“ Demokratie, die Leibholz im Auge hat und zu der die Masse, wie zu Zeiten des Zensuswahlrechts, keinen Zugang haben soll. Deren Beteiligung an der Machtausübung bleibt auf ein entwertetes „Wählen“ reduziert. Auf ein Wählen, das keine der „schlimmen Befürchtungen“ vor einer Machtergreifung durch den Pöbel eintreten lässt.1109 Also auf das, was Hegel in § 311 der „Rechtsphilosophie“ als etwas „überhaupt … Überflüssiges“ oder als etwas „auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür“ Reduziertes bezeichnet. Wurde die Masse damals aus der „indirekten“, aus der parlamentarischen Demokratie mithilfe des Zensus ausgeschlossen, so heute aus der „direkten“ Demokratie. Denn Volksentscheid und Volksbegehren als „massendemokratische“ Instrumente einer „direkten“ Demokratie sind ja so gut wie unmöglich gemacht. Und die nicht näher konkretisierte, in stetiger Zunahme befindliche „direkte“ Demokratie, von der Leibholz schreibt, scheut eine Institutionalisierung. Sie bedarf ihrer auch nicht. Der Lobbyismus als Form „direkter“ Demokratie ist gerade deshalb so erfolgreich, weil er sich nicht auf Institutionen und Paragrafen stützen muss, sondern auf die universellste und überzeugendste Institution der bürgerlichen Gesellschaft: auf das Geld. Eine Institutionalisierung dieser „direkten“ Demokratie käme einer politischen Entmachtung ihrer Inhaber gleich; ihre Stimmen verlören sich in der Millionenzahl anderer Stimmen, es sei denn, man griffe auf die Lösung der frühen Sowjetunion zurück und würde den Wert ihrer Stimmen verhundertfachen. Lässt man das Wort „Volk“ beiseite, ist man also bei der Repräsentation à la Hegel, nämlich einer Ständevertretung durch entsandte Abgeordnete. Hegel spricht klar aus, um was es geht: um Gruppeninteressen. Um sicherzugehen, dass diese auch effektiv vertreten werden, empfiehlt Hegel in § 311 Rph die „Abordnung“ der Abgeordneten anstelle eines uneffektiven Wählens. Und wenn man an das System des Lobbyismus denkt, ist dieser Empfehlung seitens jener Gruppeninteressen auch längst Folge geleistet. Der Parlamentarismus „Weimarer“ und auch „Bonner“ Prägung verdeckt also die wirklichen Entscheidungsstrukturen und schafft ein Trugbild. Das ist einer zunehmenden Zahl von Wahlberechtigten auch bewusst. Mag das Wählen ihnen „als etwas noch so Hohes angeschlagen und vorgestellt werden“, sie werden „eben zum 1109 S. Low (Die Regierung Englands, a. a. O., S. 166 f.): „Es war begreiflich, wenn man erwartete, dass die gesetzliche Anerkennung der politischen Gleichberechtigung zu einem großen Wechsel in der Zusammensetzung der Legislative und der Exekutive führen würde.“ Solche „schlimmen Befürchtungen“ sind jedoch nicht „eingetreten“.

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Stimmgeben nicht erscheinen; – so dass aus solcher Institution vielmehr das Gegenteil ihrer Bestimmung erfolgt, und die Wahl in die Gewalt Weniger, einer Partei, somit des besonderen, zufälligen Interesses fällt, das gerade neutralisiert werden sollte“1110.

1110 § 311/Anm. Rph.

Kapitel V Außerhalb der Sittlichkeit: Der „Gesellschaftsstaat“ als „Betriebsstaat“ „Man kann eben nicht ungestraft hinter Hegel zurückgehen.“ (Hermann Klenner1111)

V.1 Die ökonomische Basis des „Betriebsstaates“: Der „konzentrierende Austausch“ Der Begriff begegnet uns in den „Grundrissen“. Und zwar dort, wo Marx sich mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise befasst.1112 Er war meines Wissens bislang nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung. Er scheint mir jedoch sehr geeignet zu sein, den ökonomischen Hintergrund zu beleuchten, der jenen Wandlungen zentraler Staats- und Rechtskategorien: des „Rechtsstaats“ zum „Betriebsstaat“, des „Gesetzes“ zur „Maßnahme“, des Vertrages in Richtung „Befehl“, der „Person“ und des „subjektiven Rechts“ in Richtung „Glied“ und „Rechtsstellung“ – näher dargestellt in diesem Kapitel – zugrunde liegt und ab Beginn des 20. Jahrhunderts in plakativen Wendungen, wie: „Veröffentlichung“ des privaten, „Privatisierung“ des öffentlichen Rechts, zum Gegenstand der Staats- und Rechtswissenschaft wird. Der Ausgangspunkt: „Ursprünglich ging die auf das Kapital gegründete Produktion von der Zirkulation aus.“1113 Von ihr aus erobert das Kapital die Produktion. Das Handelskapital verkörpert daher „die Verselbständigung des Zirkulationsprozesses gegen seine Extreme, und diese Extreme sind die Austauschenden selbst. Diese Extreme bleiben selbständig gegen den Zirkulationsprozess, und dieser Prozess gegen sie.“1114 Ist die Zeit hierfür reif, geschieht Folgendes: Das Kapital tritt aus der Zirkulation heraus und unterwirft sich die Produktion; es lernt, „seine Extreme [zu] beherrschen.“1115 1111 In: M. Buhr/J. D’Hondt/H. Klenner, Aktuelle Vernunft, a. a. O., S. 262. 1112 Marx, GR, S. 375 ff. 1113 Ebd., S. 441. 1114 MEW 25, S. 340. 1115 Ebd.

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Damit sind Anfangs- und Endzustand bezeichnet. Dazwischen liegt ein sich über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hinziehender Prozess. Er führt von einem Zustand, wo die Produktion als in sich geschlossene, selbstgenügsame „Oikos“Produktion einfacher Warenproduzenten zunächst nur äußerlich und mehr am Rande mit der Zirkulation in Berührung kommt, über die Umformung der Zirkulation hin zur „Produktion“. Am Ende stehen die Neusetzung der Produktion und die Gestalt der modernen „Unternehmung“. Mit dem Produzieren in der Unternehmung ist die Produktion „erobert“; der „Normalzustand“ ist erreicht. Die „organische“ Produktionsweise ist „besiegt“. Und nun gilt wieder: Das Kaufmannskapital ist nur noch ein besonderes „Moment der Kapitalanlage überhaupt …. Es fungiert nur noch als Agent des produktiven Kapitals.“1116 Der „historische Übergang der Zirkulation in das Kapital“1117 ist vollzogen. Warenproduktion auf einer neuen Basis und in neuer Dimension findet statt. Mittelpunkt ist nun die – „unorganisch“ bzw. kapitalistisch gewordene – Produktion. Sie ist die bestimmende, die „übergreifende“ Größe. „Produktion“ versteht sich jetzt als Tauschwertproduktion; Gebrauchswert und Tauschwert, vorher getrennten Sphären zugehörig, sind, unter Führung des Tauschwertes, vereint. Wir sehen also, dass die Zirkulation als „Produktionsstätte“ von Tauschwert nur Durchgangspunkt ist. Und nur solange sie das ist, nur insoweit nimmt sie Positionen und Funktionen ein, die sich mit dem „Produzieren“ verbinden. Bildlich gesprochen: Die Produktionsprozesse der Hauswirtschaften werden zeitweise von dort aus „ferngesteuert“. „Zirkulation“ realisiert sich über ein „System von Tauschakten“.1118 Im Mittelpunkt: der Austauschtyp Geld – Ware – Geld. Er ist der Schlüssel zum Verständnis des geschilderten Prozesses. Er ist Austausch Geld gegen Produkt, aber er enthält latent auch jenen Austausch, der jetzt in den Mittelpunkt tritt: den von Kapital und Lohnarbeit. Beim ersteren Austausch geht es äquivalent zu; hier waltet ökonomische Gleichheit – jedenfalls im Durchschnittsfall. Anders beim Austausch Lohnarbeit – Kapital. Dieser Austausch ist in Wahrheit kein Austausch, sondern „objektive Assoziation“, über die sich die Unternehmung konstituiert. Denn das Arbeitsvermögen ist nicht Resultat, sondern Voraussetzung des „Produzierens“. Nur ihre Betrachtung als etwas „Produziertes“, ihre Gleichstellung mit der gewöhnlichen Ware, ihre „Ökonomisierung“1119 und Verdinglichung führt 1116 Ebd., S. 339. 1117 Marx, GR, S. 922. 1118 Ebd., S. 103. 1119 Marx spielt in den „Grundrissen“ (S.  194) auf sie an. Er äußert dort den Gedanken, dass, obwohl die Konsumtion an sich „außerhalb der ökonomischen Verhältnisse liegt“, sie im Ka-

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zu ihrer Anerkennung als Ware und, wie wir sahen, ihres Eigentümers als „Person“. Trotzdem: Tatsache ist und bleibt, dass in dieser Austauschbeziehung der Tauschwert nicht den Inhalt, sondern lediglich ihre Form bestimmt. Das schlägt auf den Vertrag durch, über den sie abgewickelt wird, auf den Arbeitsvertrag. Über ihn erfolgt nicht der Austausch zweier „Totalitäten“, sondern er führt zwei Hälften erst zu einer solchen zusammen. Was sich – juristisch gesehen – als durch übereinstimmende Willenserklärung zustande kommende Beziehung darstellt, ist – ökonomisch gesehen – ein objektiv gegebenes, daher unvermeidbares Verhältnis. Der Unterschied also: Der „wirkliche“ Austausch findet zwischen den Atomen statt, aus denen die bürgerliche Gesellschaft zusammengesetzt ist. Die andere Form dagegen konstituiert erst ein solches „Atom“ – in Gestalt der Unternehmung. Lediglich von der Form her gehört auch dieser Vorgang der Zirkulation an. Auf ihn die Begriffe „Vertrag“ und „Vertragsschluss“ anzuwenden, hat daher „eine verdunkelnde Wirkung geübt“1120. Wie der „Sklave“ das römische Recht „verunreinigt“, so „verunreinigt“ nun dieser Austausch das Bild des bürgerlichen Rechts. Er passt nicht in die heile Welt des äquivalenten Austausches – was der maßgebliche Grund gewesen sein mag, ihn in der späteren Kodifikation auszusparen. Marx fasst zusammen: „Im Austausch zwischen Kapital und Arbeit ist der erste Akt ein Austausch, fällt ganz in die gewöhnliche Zirkulation; der zweite ist ein qualitativ vom Austausch verschiedener Prozess, und es ist nur by misuse, dass er überhaupt Austausch irgendeiner Art genannt werden könnte. Er steht direkt dem Austausch gegenüber; wesentlich andere Kategorie.“1121 Er gehört seinem Wesen nach zur Produktion und ist den dort wirkenden ökonomischen Gesetzen und Prinzipien unterworfen, nicht jenen, die die Zirkulation beherrschen. Beide Austauschformen sind Extreme. Interessant ist daher die Situation, die dazwischen liegt. Engels hat sie im Auge, wenn er hervorhebt, dass die Kaufleute eine Klasse sind, „die ohne an der Produktion irgendwie Anteil zu nehmen, die Leitung der Produktion im Ganzen und großen sich erobert und die Produzenten sich ökonomisch unterwirft; die sich zum unumgänglichen Mittler zwischen zwei Produzenten macht und sie beide ausbeutet“1122. Der tragende Gedanke darin ist: Das Verhältnis „Kaufleute“ – „Produzenten“ enthält Austausch- und Leitungsakt zugleich. Die Produzenten werden mit ihm und pitalismus zur „Produktion“ gerechnet wird. Es existiere noch kein anderes Verhältnis bzw. Verständnis der Konsumtion als ein solches, das sie in den Produktionsprozess mit einschließt. 1120 E. Rosenstock, Vom Industrierecht, a. a. O., S. 29. 1121 Marx, GR, S. 186. 1122 MEW 21, S. 161.

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mittels des juristischen Instruments „Vertrag“ beeinflusst, gelenkt, geleitet. Der Kaufmann tritt nicht mehr lediglich als Besteller, als Aufkäufer auf, sondern nimmt über den Vorgang des Bestellens, des Aufkaufens dauerhaft Einfluss auf die Produzenten. Diese geraten in seine Abhängigkeit, verlieren die Herrschaft über ihre Produktion, werden schrittweise ihrer Eigenständigkeit beraubt. Diese „Außensteuerung“ ist ein notwendiges, mehr oder weniger langes Zwischenstadium – gewöhnlich bezeichnet als „Periode der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation“. Eine Steigerung tritt ein: Von der „Konzentration der Kaufakte“ führt der Weg zum „konzentrierenden Austausch“. Marx schreibt dazu: Die einfachste Form kapitalistischer Produktion ist, „dass das Kapital verschiedene, selbständig und zerstreut wohnende Handweber und Spinner etc. beschäftigt. … Der Einheitspunkt dieser zerstreuten Arbeiter liegt nur in ihrer wechselseitigen Beziehung zum Kapital, dass das Produkt ihrer Produktion in seiner Hand akkumuliert wird und so die Surpluswerte, die sie über ihre eigne Revenu hinaus geschaffen. Als zusammenwirkende Arbeit existieren sie nur an sich, insofern jeder derselben für das Kapital arbeitet – daher in ihm ein Zentrum besitzt –, ohne dass sie zusammenarbeiten. Ihre Vereinigung durch das Kapital ist daher nur formell, und betrifft nur das Produkt der Arbeit, nicht die Arbeit selbst. Statt mit vielen auszutauschen, tauschen sie mit dem Einen Kapitalisten aus. Es ist daher eine Konzentration der Exchanges durch das Kapital.“ Es ist „konzentrierender Austausch“1123. Er kommt der Eroberung der Produktion schon recht nahe. Ist er doch ein wichtiger Schritt zur „Lösung des Einzelnen von den Produktionsbedingungen der Arbeit = Gruppierung Vieler um ein Kapital“, wobei ihre Vereinigung durch das Kapital noch als ein besonderer Akt erscheint, „neben dem die selbständige Zersplitterung ihrer Arbeiten fortdauert“.1124 Mit ihm ist der Schwerpunkt bereits verlagert: Er ist in der Hauptsache „Zentrum“ im Sinne einer Direktionszentrale. Das Moment der Äquivalenz tritt bereits in den Hintergrund. 1123 Marx, GR S. 480 f. 1124 Ebd., S. 481, 483. Der zweite Schritt „ist die Aufhebung der selbständigen Zersplitterung dieser vielen Arbeiter, wo das Eine Kapital ihnen gegenüber nicht mehr nur als gesellschaftliche Kollektivkraft im Akt des Austausches erscheint, so dass in ihm viele Austausche vereinigt sind, sondern sie an einem Ort unter seinem Kommando, in eine Manufaktur versammelt, nicht mehr sie in der vorgefundenen Produktionsweise lässt, und auf dieser Basis seine Macht etabliert, sondern eine ihm entsprechende Produktionsweise als Basis sich schafft. Es setzt die Vereinigung der Arbeiter in der Produktion, eine Vereinigung, die zunächst im gemeinschaftlichen Ort, unter Aufsehern, Einregimentierung, größere Disziplin, Stetigkeit und gesetzte Abhängigkeit in der Produktion selbst vom Kapital sein wird.“ (Hervorhebung bei Marx.)

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Von der Umwandlung in Richtung „Produktion“ ist nicht die gesamte Zirkulation erfasst. Der Vorgang vollzieht sich vielmehr nur punktuell und findet seinen sichtbaren Ausdruck in der Ausbildung kapitalistischer „Produktionspunkte“. Das ist die Folge der beschränkten Kapitalmasse wie auch des konkreten Entwicklungsstandes der Produktivkräfte. Weiter ist zu sagen, dass dieser Umformungsprozess zwar gehäuft in der Periode der ursprünglichen Akkumulation auftritt und dort auch diese Zwischenform bildet, aber auch später anzutreffen ist. Denn die Bewegung der kapitalistischen Produktionsweise ist ja kein einfacher Kreislauf, sondern er verläuft „spiralig“. Sowohl die Zahl der „Produktionspunkte“ als auch deren Größe ist in ständiger Veränderung. Insbesondere das der kapitalistischen Produktionsweise immanente Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und die damit verbundenen Konzentrations- und Zentralisationsvorgänge führen – wie Marx formuliert – zum Übergehen „aus der Kreisform in die Spirale“1125. In diesen Prozess der ständig und mit wachsender Schnelligkeit voranschreitenden Vergesellschaftung der Produktion in der spezifisch kapitalistischen Art und Weise des „Totschlagens“ des ökonomisch schwächeren Konkurrenten, der Brechung seiner „individuellen Kohäsion“1126, ist also auch der Austausch einzuordnen. Ständig bricht sich auch über ihn die „zentralisierende Wirkung des Kapitals“ Bahn.1127 Der Austausch zwischen ungleich starkem Kapital wirkt also immer in der bezeichneten Doppelfunktion. Über ihn und über den Vertrag wird also immer auch das Kräfteverhältnis zwischen den Einzelkapitalen vermittelt und neu festgesetzt. Eine mechanische, von starren Grenzen zwischen Produktion und Zirkulation ausgehende Betrachtungsweise kann natürlich diese über die alltäglichen Austauschvorgänge ablaufenden Enteignungen und Einflussnahmen nicht erfassen. Für sie beschränkt sich die Konzentration des Kapitals auf den „Akt“ – in Gestalt des Aufkaufs, der Pacht, der Fusion usw. Die Geburt des „Unternehmens“ ist auf Jahrzehnte verteilt. Deshalb zeigt sich der „konzentrierende Austausch“ zur Zeit der ursprünglichen Akkumulation als relativ stabiler, über längere Zeit bestehender „Überbau“.1128 Das „unfertige“ Unternehmen hat noch keine geschlossenen Grenzen. Der Umschlag kann gewissermaßen in „Zeitlupe“ beobachtet werden. Der Vertrag dieser Zeit ist ein juristisches Hauptinstrument, den geschilderten ökonomischen Prozess zu 1125 MEW 23, S. 656. 1126 Ebd., S. 654, 656. 1127 Marx, GR, S. 484. 1128 „Überbau“ ist hier zu verstehen als Herrschaft des kapitalistischen Prinzips über eine Produktion, die noch nicht vollständig dem Kapital unterworfen ist.

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vollziehen. Über ihn wird ausgetauscht wie auch „dirigiert“. Ihn auf den „freien Willen“ zu reduzieren, heißt, ihn um einen wichtigen Teil seines „Begriffs“ zu bringen. Einen wahren „Begriff“ von ihm gewinnt nur, wer den Bezug zur Produktion herstellt. Der „konzentrierende Austausch“ trägt also ein Janusgesicht. Er vereint den „freien Willen“ und den „Befehl“. „Direktion“ hingegen ist ein unternehmensinterner, damit an sich rechtsfreier Begriff. Im Rahmen des „konzentrierenden Austausches“ wird das werdende, noch im embryonalen Zustand befindliche Unternehmen allerdings über eine „verrechtlichte“, „vertraglichte“ Form der „Direktion“ geleitet. Die Unabgeschlossenheit des Vorgangs, der zum „Unternehmen“ führt, „nötigt“ also zur Rechtsform. Aber der zum Einsatz kommende Vertrag trägt einen „Doppelcharakter“. Über ihn wird einerseits der „Austausch“ bewirkt. Zum anderen ist er Instrument einer „Direktion“. Die Rechtsform wird erst entbehrlich, sobald der „Geburtsvorgang“ abgeschlossen ist, d. h. sobald die Selbstständigkeit der davon umfassten Warenproduzenten vollständig beseitigt ist. Bei einer statischen Betrachtung kommt dieser Doppelcharakter nicht in den Blick. Folglich beginnt die „wirkliche Wissenschaft der modernen Ökonomie … erst, wo die theoretische Betrachtung vom Zirkulationsprozess zum Produktionsprozess übergeht“1129. Der bis heute zugrunde liegende wissenschaftliche Ansatz verfehlt also gerade die „Übergänge“. Und wenn und wo sie sich nicht völlig ignorieren lassen, werden sie als Anomalien abgetan und mit „Geschwätz über Billigkeitsund Rechtsrücksichten“1130 um ihren Gehalt gebracht. Da sich in der Phase der „freien Konkurrenz“ das Unternehmen zur Person „verkapselt“, wird dies von der Wissenschaft dazu genutzt, die beschriebene Doppelfunktion des Vertrages als feudales, der Vergangenheit angehörendes Relikt zu verwerfen bzw. schlichtweg zu ignorieren. Sieht es doch nun so aus, als habe der Vertrag keine weitere Funktion, als mittels des „freien Willens“ den äquivalenten Austausch organisieren zu helfen. Aber die Szenerie ändert sich bald. Der „konzentrierende Austausch“ und die mit ihm verbundenen juristischen Probleme leben wieder auf, wenn die bürgerliche Gesellschaft in das Stadium des „organisierten Kapitalismus“ tritt. Wieder verwischen sich die Grenzen zwischen Produktion und Zirkulation. Ein ganz neuer Typ von „Wirtschaft“ kommt auf; ein „Überbau“ in Gestalt des „konzentrierenden Austauschs“ entsteht. Horkheimer dazu: „Eine Periode mit eigener gesellschaftlicher Struktur hat die freie Wirtschaft

1129 MEW 25, S. 349. 1130 Marx, GR, S. 225.

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abgelöst.“1131 Diesmal als dauerhafte, sich nicht von selbst auflösende, sondern sich stetig verfestigende Größe. R. Hilferding war es, der die „Zweitauflage“ des „historischen Übergangs der Zirkulation in das Kapital“, wie sie mit dem Auftreten des „organisierten Kapitalismus“ in Verbindung steht, aus marxistischer Sicht zum Thema machte. Der Prozess, den er im „Finanzkapital“ beschreibt, erweckt den Eindruck, als laufe der gleiche Film rückwärts. Denn es erscheint so, als verlasse das Kapital den Produktionsprozess, um sich als „Finanzkapital“ in der Zirkulation „anzusiedeln“. Wiederum bringt der Prozess eine außerhalb und „oberhalb“ der Produktion gelegene „Direktionszentrale“ hervor. Früher im Unternehmen vereinigt, zerfällt die Produktion in eine separate, außerhalb der produzierenden Einheit gelegene Direktionsebene und in eine solche der Ausführung. Soweit dieser Vorgang sich institutionalisiert, ist der Konzern eines der damit im Zusammenhang auftretenden Phänomene. Das Unternehmen, genauer: der Produktionsbetrieb wird, wie 200 Jahre zuvor der Handwerker, ökonomisch herabgestuft. Es wird zunehmend technische Größe, wird „Werkbank“. Wäre das Unternehmen eine natürliche Person, könnte man sagen: Es wird in den „Sklaven“ rückverwandelt. Ausgeführt wird dort die unmittelbare Produktion vorgegebener Produkte nach vorgegebenen Plänen. Mit dem traditionellen Rechtsverständnis ist dieser Vorgang nicht begreifbar. Einerseits entsteht (auf Konzernebene) ein einheitlich geleiteter Produktionsprozess. Andererseits sind die herabgestuften Einheiten, die Konzernglieder, nicht soweit „technisiert“ (bzw. „versklavt“), dass sie keinerlei ökonomische Substanz mehr haben. Juristisch wie auch ökonomisch gesehen, ist hier die Quadratur des Kreises zu lösen. Mit der „Einheits“-Person des bürgerlichen Rechts kann der Sachverhalt der ökonomischen Herabstufung der Konzernbetriebe von „Unternehmen“ zum „Betrieb“1132 jedenfalls nicht zufriedenstellend gelöst werden. Eher mit einer Figur, die uns noch näher beschäftigen wird: mit der „abgestuften Rechtsfähigkeit“, wie sie von K. Larenz für das „Dritte Reich“ kreiert und vom realen Sozialismus der DDR aufgegriffen wird. Die Herabstufung der Konzernglieder steht für die Herabstufung der traditionellen Zirkulation; auch sie verliert an ökonomischem Gehalt. Der globalisierte Kapitalismus unserer Tage bedeutet eine weitere Steigerung und insbesondere quantitative Ausdehnung des „konzentrierenden Austausches“. Seine 1131 M. Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Ders., Gesellschaft im Übergang, Frankfurt 1972, S. 14. 1132 L. Raiser, Die Konzernbildung als Gegenstand rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Untersuchung, in: Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik, Berlin 1964, S. 56.

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Internationalisierung verbindet sich insbesondere mit der Niederreißung der noch bestehenden nationalstaatlichen Beschränkungen und Einflussnahmen; der Nationalstaat wird außer Kurs gesetzt. Die schon fast „technisch“ gewordenen Austauschbeziehungen der Betriebe des realen Sozialismus untereinander und ihre fast vollständige Abhängigkeit von einer Zentrale verweisen auf das dort nahezu erreichte Extrem. Der erneute „Grenzabbau“ ist der Punkt, von dem aus die tief greifenden Veränderungen, der Funktions- und Qualitätswandel, den Staat und Recht erfahren, zu verstehen sind. Und wir sehen ja auch, dass das Schrifttum ab der Wende zum 20. Jahrhundert durch die damit zusammenhängenden Phänomene geprägt ist. Die damals beginnende „Krise des Rechtsstaates“ ist der allgemeinste juristische Reflex darauf. „Krise“ drückt eine Sichtweise auf diesen Prozess aus, die ihn in der Retrospektive, die ihn von „hinten“ her beurteilt, die den „Verfall“ diagnostiziert. Von „vorn“ betrachtet, stellt er sich als „Strukturwandel“ dar, der „alle Gebiete des öffentlichen Lebens“ erfasst, wie C. Schmitt 19311133 schreibt, als „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, wie J. Habermas 19621134 formuliert.

V.2 „Bloß der Standpunkt wird verrückt …“ (Ausgangspunkt „Produktion“) Erinnern wir daran, dass der Marxismus mit dem „System“ die darin exemplifizierte Dialektik der beiden Naturen verwirft. Er ersetzt diese Dialektik durch jene von „Produktion“ und „Zirkulation“ – was Hegel zu einem ganz anderen, zu einem „brauchbaren“ Hegel macht. Seine so aus ihrem Bezug gelöste dialektische Methode wird dazu benutzt, das Kernelement der „produzierten“ Natur, die „Produktion“, in den Mittelpunkt zu stellen. Geopfert werden dabei der von Hegel als Mittler der Naturen erkannte Staat und – wichtiger noch – die „organische“ Natur selbst. Die dialektische Methode hingegen wird über dieses Verfahren zu jener „Mehrzweckwaffe“1135, mit der die Freistellung des dynamischen und zerstörerischen Teils der bürgerlichen Gesellschaft von allen sittlichen Bindungen legitimiert werden kann. Eine Ebene wird bezogen, in der das Licht auf die „Produktion“ und auf die Tatsache fällt, dass sie 1133 C. Schmitt, H, S. 80. 1134 J. Habermas, Strukturwandel, a. a. O. 1135 E. Topitsch, Kritik der Hegel-Apologeten, in: G.-K. Kaltenbrunner (Hg.), Hegel und die Folgen, Freiburg 1970, S. 349.

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und ihr „Inwendiges“ mehr und mehr allen gesellschaftlichen Verhältnissen ihren Stempel aufdrücken. Der Prozess dahin, die Umformung der uns bislang bekannten bürgerlichen Gesellschaft zum „Syndikatsstaat“ (Lenin), zum „Wirtschaftsstaat“ (C. Schmitt), allgemeiner: zum „Betriebsstaat“ (M. Weber) wird sichtbar und zugleich positiv bewertet. Denn der Dialektiker weiß, „dass alles Endliche, anstatt ein Festes und Letztes zu sein, vielmehr veränderlich und vergänglich ist …“. Mit der Tendenz, dass es „über das, was es unmittelbar ist, hinausgetrieben wird und in sein Entgegengesetztes umschlägt.“1136 Das ist mehr, als der Positivismus zu leisten vermag, dem das „Übergehen“ von hier nach dort nicht in den Blick kommt. Das Äußerste, was er bietet, ist Dezisionismus: das bloße Schwenken von einem „Festen“ zum anderen „Festen“, die bloße Umkehrung. „Produktion“ statt „Zirkulation“, „totaler Staat“ statt „totaler Gesellschaft“, Befehl statt Recht. Was dazwischen liegt, das „Konkrete“ und „Wirkliche“, bleibt ausgeblendet. Von daher ist die dialektische Methode ein unverzichtbares Erkenntnismittel. Gefährlich wird es aber, wenn sie ideologisiert wird – was der beschriebenen Enthauptung Hegels auf dem Fuße folgt. Ideologisiert angewendet, bleiben das „Naturprinzip“ und dessen Repräsentanz, der „sittliche“ Staat, auf der Strecke. An ihre Stelle treten eine ideologisierte „Produktion“ sowie der von ihr abgeleitete, zuerst von M. Weber so genannte „Betriebsstaat“.1137 Er ist gemeint, wenn in der Endphase „Weimars“ über den „totalen“ Staat debattiert wird. Er ist ein Staat, dessen Aufbau und dessen Funktion an dem Inneren des Unternehmens, an dem dortigen Regime orientiert sind. Es ist klar, dass er kein „Vertragsstaat“ sein kann. Die ihn prägende „Direktion“ wird ins Politische übertragen und heißt in dieser Form bei Marx „Diktatur der Bourgeoisie“ oder „Diktatur des Proletariats“. Harter (und, wie sich bald zeigt, bleibender) Kern ist die „Diktatur“. Ebenso sind „Volk“, „Führer“ und „völkischer Staat“ ideologisierte und politisierte Ausdrücke für ihn. So wird verklärt, dass die Totalität „bürgerliche Gesellschaft“ durch „Absondern und Fixieren von Bestimmtheiten“, hier: der Bestimmtheit „Produktion“, ersetzt wird. Eingeschlossen darin: Der „Rest“ der Totalität „kommt unter die Herrschaft dieser … zum Wesen und Zweck“ erhobenen bzw. „erwählten“ Bestimmtheit.1138

1136 § 81/Zus. 1 Enz. 1137 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (5. Aufl.), Tübingen 1972, S. 30 u. S. 825; sehr informativ hierzu: A. Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates, Berlin 1995, bes. S. 210 ff. 1138 Hegel, NR, S. 440.

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Der rationale Kern beider Systeme, des nationalsozialistischen und des realsozialistischen, ist die jetzt in die Mitte gestellte „Produktion“. Vollkommen richtig, wenn C. Schmitt hervorhebt, dass die Verfassungen des Faschismus und des Bolschewismus „Wirtschaftsverfassungen“ sind.1139 Das ist im Fall DDR leichter zu erkennen als im Fall des „Dritten Reiches“, weil dessen irrationale Berufung auf „Volk“, Rasse“, „Blut“ diesen Kern stärker verdeckt als die ohnehin um die „Produktion“ gruppierte ideologische Begriffswelt des realen Sozialismus. Übersieht man, dass mit dem „Betriebsstaat“ die Ebenen vertauscht sind, meint man in ihm den hegelschen Staat in seiner modernen Gestalt zu sehen, was für „forsche Linearitätsnachweise à la Topitsch und Kiesewetter“1140 genutzt werden kann. Festzuhalten ist aber, dass von Hegel kein Weg zu den Staatsformen des 20. Jahrhunderts führt; weder „Diktatur des Proletariats“, noch Diktatur à la „Drittes Reich“, noch jene Staatsformen, die unter „freiheitlich-liberalistisch“ gelistet sind, erschließen sich aus seiner Philosophie. Wertlos ist die „Aufklärung“ der bürgerlichen Gesellschaft mithilfe der dialektischen Methode deshalb nicht. Während der Liberalismus die „produzierte“ Natur von der Seite ihrer Emanzipation, mithin: von ihrer „Freiheitsseite“ in den Blick nimmt, so ein rundum positives Bild der bürgerlichen Gesellschaft gewinnt und bei diesem stehen bleibt, ist der Marxismus immerhin mithilfe dieser Methode in der Lage, ein differenzierteres Bild zu entwerfen. Die „Produktion“ wird als „Motor“ und als Zentrum der „produzierten“ Natur erkannt. Ein „Vorgang“ wird beleuchtet, den der Liberalismus vorsorglich im Dunkeln lässt. Millionen Menschen tauchen täglich in diese Welt ein, verbringen dort, wo nicht der „freie“, sondern der fremdbestimmte Wille herrscht, wo nicht kontrahiert, sondern dirigiert wird, ihre Arbeitszeit. Und doch wird der Eindruck kultiviert, als gehöre diese Sphäre zum rechtsfreien „Intimbereich“ und stehe insoweit außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Doch das dortige Regime ist nicht durch eine chinesische Mauer von jenem getrennt, das die Sphäre der Zirkulation prägt, sondern strahlt in diese hinein. Das Prinzip der „Direktion“ überlagert mehr und mehr den „freien Willen“. Ohnehin war dieser weniger ein Produkt der Praxis, sondern hauptsächlich eines der „Willenslehre“. So zäh sich diese aber auch am Leben zu halten sucht: „Sie kann … heute bestattet werden“, schreibt Rosenstock 1926, „weil ihre willkürlichen Wurzeln klar zutage liegen.“1141 „Schuld“ ist der Grenzabbau, wie er anhand des „konzentrierenden 1139 C. Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates, in: Ders., PuB, S. 127. 1140 W. Kersting, Polizei und Korporation …, a. a. O., S. 395. 1141 E. Rosenstock, Vom Industrierecht, a. a. O., S. 108.

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Austausches“ bereits gezeigt wurde. Während zur Zeit der freien Konkurrenz Produktion und Zirkulation etwas „Festes“ waren (und die Zirkulation und ihre ökonomischen und juristischen Institutionen und Ausdrucksformen idealisiert und verewigt werden konnten), werden sie jetzt, unter Abbau der zwischen ihnen bestehenden Grenze, in einer neuen, dritten und jetzt übergreifenden Sphäre „aufgehoben“. Dieses vor dem Umschlag unsichtbare „Dritte“ macht nur eine dialektische Betrachtung sichtbar. Das Innere der Unternehmung beschreibt Marx auf den Seiten 341 ff. des „Kapital“. Was sich dort abspielt: das „Produzieren“, hebt sich in zwei entscheidenden Punkten vom gesellschaftlichen Raum ab:

•• durch seine „bewusste, planmäßige und systematische Form“1142; •• durch die dortige „Despotie“. „Bewusste, planmäßige und systematische Form“ einerseits und Anarchie des Marktes andererseits als entgegengesetzte, sich ausschließende Zustände und Prinzipien. Welche Vergeudung von Kapital, Arbeitskraft und Arbeitszeit ist mit dieser Anarchie, ist mit diesem „Markt“ verbunden! Wie unvollkommen ist – von dieser Warte aus gesehen – ein Vorgang, der bei der Produktion beginnt und beim Konsum endet! Welch eine Enge und Punktualität jener „bewussten und planmäßigen“ Produktion angesichts der Anarchie des Marktes! Und welch ein Drang folglich, Letzterer ein Ende zu bereiten. Wie ist das zu erreichen? Am einfachsten dadurch, dass der im Unternehmen herrschende Zustand zunächst verstaatlicht und sodann auf die Gesellschaft erstreckt wird. In der Diktion eines C. Schmitt: Im Rahmen dieser „gewaltigen Wendung“ ergreift der „Staat … alles Gesellschaftliche“1143 und prägt es in beschriebener Weise um. „Der Endsieg der Planwirtschaft“1144! Mit ihm verbunden: das Aus für den Vertrag und für die „Person“. Die Tendenz hiernach ist keiner modernen bürgerlichen Gesellschaft fremd. Hegel betrachtet den Prozess hingegen von der anderen Seite. Für ihn ist diese „bewusste“ und „planmäßige“ Produktion Ausdruck der „Willkür-Freiheit“. In Maßen hat sie ihre Berechtigung. Aber wo sie auf hemmungslosen Raubbau, auf Zerstörung der Lebensgrundlagen aus ist, will er sie gezügelt sehen. Das 1142 MEW 23, S. 385. 1143 C. Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat, a. a. O., S. 172 f. 1144 E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre …, a. a. O., S. 114. Der „Endsieg“ setzt „technischzweckmäßige“ Beziehungen an die Stelle des Vertrages und wird die „juristische Persönlichkeit“ der Warenproduzenten „töten“ (ebd.).

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Produzieren ist notwendig. Aber es dient einem Zweck. Und es darf deswegen nicht Selbstzweck werden. Gegen die Willkür, gegen die Unvernunft sind daher „Bollwerke“, „Schutzmechanismen“ aufgestellt: die „unsichtbare Hand“ mit ihrem Markt- und Konkurrenzmechanismus. Das „Reich der Gesetze“. Zum Beispiel das Wertgesetz: Es übernimmt den Schutz des Gebrauchswertes gegen den Tauschwert und „entwertet“ alle Produkte, denen der Gebrauchswert fehlt, die zu viel sind oder die überhaupt unnötig sind. Aber nun tritt der produzierende Verstand an gegen die Bollwerke der Vernunft. Letztere zu überrennen – darauf zielt der „organisierte“ Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, der National- und Realsozialismus, der globalisierte Kapitalismus unserer Tage ab. Gemeinsam ist ihnen das Ziel, einen Vorgang vom Marktmechanismus freizustellen, der für Hegel das „Unsittliche“ in „Reinkultur“ darstellt. Das natur- und sittlichkeitszerstörende Prinzip wird entfesselt. Im Interesse eines Maximalprofits. Um alle „Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums“ (Marx) ungehindert fließen zu lassen. Im Interesse eines sprunghaften Anstiegs der Arbeitsproduktivität (Lenin). Sicher: Marx will diese Art des Produzierens in eine „Assoziation freier Produzenten“ verlegen. Aber ändert das etwas daran, dass er die Gegennatur und die in ihr geltenden Prinzipien zum Maß aller Dinge erhebt? – Abgesehen von der „Kleinigkeit“, dass sich diese „Assoziation freier Produzenten“ bislang nirgendwo gezeigt hat, jedenfalls nicht im realsozialistischen Experiment, und wohl als der utopische Teil seiner Lehre anzusehen ist. Setzen sich die „betrieblichen“ Verhältnisse absolut, ersetzt „bewusste und planmäßige“ Produktion den Markt, so bedeutet dies aus Sicht Hegels, dass lediglich der „Standpunkt verrückt“ wird. Aus seiner Sicht ein grober Fehler, welcher mit unabsehbaren Folgen für die Schöpfung verbunden ist, aber zugleich bestens geeignet ist, etwas an sich Negatives als Positivum auszugeben. Das „Reich der Gesetze“, in marxistischer Diktion: der „naturgesetzliche Gesamtprozess“, wird außer Kurs gesetzt, verliert seinen korrigierenden Einfluss. Das an der Spitze stehende Wertgesetz wird ausgehebelt und macht jenen „direkten“, „technischen“ Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten Platz, die dem kommunistischen „Endzustand“ zugrunde liegen. Ein Höchstmaß an Glück soll auf die Gesellschaftsmitglieder niederprasseln – gewonnen auf Kosten der Natur. U.-J. Heuer resümiert für den realen Sozialismus: „Die Klassiker hatten die Notwendigkeit formuliert, ‚an die Stelle der gesellschaftlichen ProduktionsAnarchie eine gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen der Gesamtheit wie jedes einzelnen‘ zu setzen, Tätigkeit und Richtung der Produktivkräfte zu begreifen, ‚sie mehr und mehr unserm Willen

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zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen‘.“1145 Für Hegel der Worst Case: das Ende der Sittlichkeit. „Bewusstheit“ und „Planmäßigkeit“ dieser Lesart haben für Hegel die Bedeutung von verallgemeinerter „Willkür“, von angemaßter, gegen das „Ganze“ gerichteter Freiheit. Sie sind auf „Beseitigung des ‚naturgesetzlichen‘ Gesamtprozesses“ gerichtet1146, der für Hegel das „Vernünftige“ vertritt. Im Unterschied zum Kapitalismus der freien Konkurrenz, wo nur der einzelne Unternehmer „bewusst und planmäßig“ zu handeln vermag, geht diese Fähigkeit jetzt, im organisierten Kapitalismus pluralistischer wie totaler Ausprägung, auf die neuartigen wirtschaftlichen, längst weltweit agierenden Organisationsformen und auch auf den (Not- und Verstandes-)Staat über.1147 Denn „Bewusstheit“ bedarf der „Organisation“; sie existiert nur als „organisierte“ Bewusstheit, wie Heuer formuliert. Damit sind wir, wenn an die Stelle der Trusts der Staat tritt, beim Staat – aber nicht bei jenem, der damals lediglich damit beauftragt war, das Walten der „unsichtbaren Hand“ zu gewährleisten, der insoweit ein „Nachtwächterstaat“ war, sondern bei einem, der selbst, direkt oder indirekt, „produzierend“ tätig ist. An die Stelle dieser wegfallenden Funktion tritt jetzt die Exekution der „Planmäßigkeit“. Wird das „Reich der Gesetze“ ausgehebelt, verliert auch das von ihm abgeleitete Rechtsgesetz an Boden. Wie es C. Schmitt sieht: Der „Planstaat“ ersetzt den „Gesetzesstaat“. Der „Planstaat“ C. Schmitts, der „Betriebsstaat“ M. Webers, der „Syndikatsstaat“ Lenins – so unterschiedlich die politisch-weltanschaulichen Positionen sein mögen, von denen her sie begründet werden, sie charakterisieren gegenwärtige Entwicklungen von einem in der Zukunft gelegenen Standort. Kommt es zu einer Revolution, ist die Sache für Lenin und C. Schmitt klar: Das ist die „Umkehrung“! Für beide tritt nun an die Stelle des „Entweder“ das „Oder“. Für beide ist mit dem „Betriebsstaat“ eine neue Qualität erreicht. Entsprechend der „Absterbe“-These ist er für Lenin schon kein Staat mehr im traditionellen 1145 U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., S. 111. Eine ganz ähnliche Bewertung bei H. Marcuse (Vernunft und Revolution, a.  a.  O., S.  352): „Wir erinnern uns der Marxschen Ansicht, dass die Naturgesetze der Gesellschaft die blinden und irrationalen Prozesse der kapitalistischen Produktion zum Ausdrück brächten und dass die sozialistische Revolution eine Emanzipation von diesen Gesetzen mit sich bringen sollte.“ 1146 Ebd. 1147 F. Engels: „In den Trusts … kapituliert die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft.“ (MEW 19, S. 220 f.)

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Verständnis. Und er hat damit insofern völlig recht, als dieser Staat kein um die Zirkulation und um das Recht zentrierter Staat mehr sein kann. Für Schmitt ist er „Staat“ – und zwar mehr „Staat“ als jeder Staat vor ihm. Er ist im Gegensatz zum „neutralen“ Staat des 19. Jahrhunderts „totaler“ Staat. Und statt „Gesetzesstaat“ zu sein, ist er „Planstaat“. Lenin und Schmitt stehen für die revolutionäre, für die „dezisionistische“ Fassung des Vorgangs, der vom „Gesetzesstaat“ zum „Planstaat“, der von der gesellschaftlichen Anarchie zur „bewussten Gestaltung“ auf gesellschaftlicher Ebene, der von einem „Anfangszustand“ (freie Konkurrenz) zu einem „Endzustand“ führt. Evolutionär betrachtet, stellt sich der gleiche Vorgang anders dar: Die Aufhebung von „Markt“ und „Konkurrenz“ ist dabei ein allmählich verlaufender Prozess, der eine Zwischenform herbeiführt: jenen „konzentrierenden Austausch“, der beide Momente und Prinzipien in sich vereinigt: „Produktion“ und „Zirkulation“, „Plan“ und „Gesetz“, „Bewusstheit“ und „Anarchie“. Diese Zwischenform prägt das Gesicht des „organisierten“ Kapitalismus; sie ist dessen Bewegungsebene. Das „Treibende“, das „Tonangebende“, das die „Richtung“ Bestimmende darin sind die Größen „Produktion“ und „Plan“. Der „Gesetzesstaat“ wird auch dabei zugunsten des „Planstaates“ aufgelöst. Nicht per Akt, sondern per Prozess. Diese Zwischenform führt in die „Welt der autoritären Planung hinein“ – eine Welt, die zwischen den Polen „nackter Befehl“ und „bloßer Vertrag“ gelegen ist.1148 Es ist eine der Auflösungserscheinungen des Gesetzes, wenn C. Schmitt auf die „Motorisierung“ des Gesetzgebers1149 hinweist, wenn wir Heutige den „Gesetzesinflationismus“ beklagen. Eine schleichende „Entrechtlichung“ der gesellschaftlichen Beziehungen verbindet sich damit. Die sprunghafte Zunahme der Gesetze ist ein fast untrügliches Zeichen dafür, dass „Rechtsnorm und Rechtsform dahin tendieren, identisch zu werden“ – eine von U.-J. Heuer oft gebrauchte Formel, die in etwa das besagt, was C. Schmitt in die Worte kleidet: „vom Gesetz zum Befehl“. Unverbesserlich optimistisch betrachtet, gewissermaßen von „hinten“, von der verloren gehenden Warte des „Gesetzes“, kann der gleiche Prozess aber auch mit allerlei Illusionen umrankt werden, kann als Zunahme des Rechts, als „Verrechtlichung“1150 ausgegeben, kann als Erstreckung der „Rechtsstaatlichkeit“ bis in den letzten 1148 J. W. Hedemann, Der Großraum als Problem des Wirtschaftsrechts, in: DRW 6 (1941), S. 191 f. 1149 C. Schmitt, Lage, S. 404. 1150 S.  dazu: H.-D. Weiß, Verrechtlichung als Selbstgefährdung des Rechts, in: DÖV 1978, S. 601 ff.

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Winkel hinein interpretiert werden. Das ist eine rein quantitative bzw. positivistische Betrachtung. Nützlich für apologetische Zwecke; philosophisch ist sie nicht ernst zu nehmen. Kommen wir auf den „konzentrierenden Austausch“ zurück: Als die neue Bewegungsebene und Verwirklichungsform des Kapitals überlagert er die anderen, jetzt herabgestuften ökonomischen Teilbereiche „Produktion“ und „Zirkulation“. Er ist das „höhere Dritte“, in dem sie jetzt eingelagert sind und als zunehmend technisierte Größen fortexistieren. Die ihn charakterisierenden Prinzipien, darunter: die dort konzentrierte „Direktion“ und „Planmäßigkeit“, treten mit ihm, über ihn in den öffentlichen Raum über, nehmen gesellschaftlichen, politischen und damit auch juristischen Charakter an. Sie speisen den Begriff des „autoritären Staates“. „Führung der nationalen Wirtschaften durch plan- oder zwangswirtschaftliche Maßnahmen“1151 ist nun ein Grundzug geworden und prägt das Gesicht des modernen Kapitalismus. Besonders dort, wo es gelingt, im Rahmen „nationaler“ oder „proletarischer“ Revolutionen „den Standpunkt zu verrücken“1152, wird der „totale“, der am „Betrieb“ orientierte Staat sichtbar. Die Organisation der nationalen Ökonomie nach Art des Unternehmens, im realen Sozialismus: eines Unternehmens, wird zum Leitbild. Das zur „Betriebsgemeinschaft“ verklärte innerbetriebliche Regime wird zur „Volksgemeinschaft“ hier, zur „sozialistischen Menschengemeinschaft“ dort erhoben. Lenin schreibt in „Staat und Revolution“ davon, dass die „Diktatur des Proletariats“ sich mit einer Organisation des Staates nach Art des Syndikats verbinde. Sein Vorbild: „Deutschland. Hier haben wir das ‚letzte Wort‘ moderner großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation“.1153 Die in Deutschland praktizierten Formen, Methoden und Instrumente staatlicher Regulierung der Wirtschaft werden in den Folgejahren übernommen und, passend für die Belange des Staatseigentums (d. h. „sozialistisch“) gemacht, in der Sowjetunion angewendet. C. Schmitt folgt also einem brandaktuellen Bedürfnis, als er sich als einer der ersten Staatsrechtler dem „Betriebsstaat“ zuwendet. Und geradezu folgerichtig ist es, dass er, als in Italien ein „syndikal korporativer“1154 und in der Sowjetunion der nach Art des Syndikats organisierte Staat errichtet wird, hierin eine Alternative zu „Weimar“ sieht und immer offener für sie Stellung bezieht. Die 1151 H. Haemmerle, Staatsidee und Wirtschaftsrecht, in: ZgStW 96 (1936), S. 283. 1152 § 3/Anm. Rph. 1153 Lenin, Über ‚linke‘ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, in: Ders., AW 2, S. 790. 1154 S. dazu: G. Leibholz, Zu den Problemen des fascistischen Verfassungsrechts, a. a. O., S. 18.

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„Tendenz der Unternehmen, sich selbst zu sozialisieren“ (Keynes), lässt ihn fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Staatlichkeit ergeben, wie das Übertreten bisher auf das Unternehmen beschränkter Leitungsmethoden und -mechanismen in den gesellschaftlichen Raum sich auf Staat und Recht auswirkt. Er findet bald heraus, dass das gesamte bisherige politische und juristische System seinen sozial-ökonomischen Rückhalt verloren hat und – das ist seine dezisionistische Lösung – ersetzt werden muss durch ein solches, das sich konsequent zum Vollstrecker der neuen Gegebenheiten macht. Als einer der Ersten erkennt er das, was Habermas später die „repolitisierte Sozialsphäre“ nennen wird. In ihr liegt alles ineinander; sie tritt an die Stelle der strengen Scheidungen in Produktion und Zirkulation, in Ökonomie und Politik, in Plan und Gesetz, in Staat und Gesellschaft. Aber weil Schmitt Dezisionist ist, verabsolutiert er – im Unterschied zu Habermas – die jetzt dominierende Seite, also „Produktion“, „Direktion“, Staat“. Trotz seiner Einsichten führt ihn sein Dezisionismus somit nur zum anderen Extrem. Er sieht zwar, dass das, was heraufzieht, was sich längst etabliert hat, eindeutig außerhalb jener Vorstellungen und Maßstäbe von Staat und Recht liegt, die in den zurückliegenden hundert Jahren Gültigkeit beanspruchen konnten. Er sieht, dass der zustandsbezogene Staat und das zustandsbezogene Recht der Vergangenheit angehören, sodass die Versuche, die neuen Phänomene darin unterzubringen, sie „einzugemeinden“, scheitern müssen. Aber er sieht all dies verzerrt, er sieht es von diesem anderen Extrem her. Ganze Wissenschaftlerscharen sind weiterhin damit befasst, die sich auftuenden Löcher in den alten Konzepten mit diesen und jenen, mit neuen und neuesten Begründungen zu stopfen. C. Schmitt zählt nicht zu ihnen; er steht auf der anderen Seite. Er kittet nicht. Er glättet nicht. Er polarisiert. Er verwirft das Alte. Mit allen Revolutionären teilt er deren Ungeduld. Dafür oder dagegen? Das Neue oder das Alte? Er entscheidet sich – und nimmt den „Kampf gegen Weimar“ auf. Obwohl er über profunde Hegelkenntnisse verfügt, wird nicht Hegel sein Favorit, sondern Hobbes.1155

1155 S. dazu: R. Mehring, Pathetisches Denken …, a. a. O., S. 107 f.: Hobbes ist erstmals erwähnt und heran gezogen in der „Diktaturschrift“.

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V.3 Von innen nach außen gewendet: Der von der „Produktion“ her entwickelte Staatsbegriff Carl Schmitt am 3. Oktober 1979 an Pierangelo Schiera: „Ich bin Marxist[,] insofern ich die ökonomischen Begriffe des Marxismus zu ihrem politischen Ende gedacht habe; ich bin kein Marxist, weil ich den ökonomischen Mehrwert als rein politischen Mehrwert auch auf der proletarischen Seite erkannt habe.“1156

H. Klenner gehörte in der DDR zu den wenigen, die anregten, den im „Kapital“ verborgenen „Staats- und Rechtsfaden“ zu suchen und für die Theorie fruchtbar zu machen. Der Anregung wurde nicht gefolgt. Noch immer galt jener Satz K. Polaks: „Marx hat im ‚Achtzehnten Brumaire‘ sein letztes Wort über das politische Wesen des bürgerlichen Staates und seines Rechts gesprochen. Er hat diesen Gegenstand später nie mehr einer besonderen Untersuchung unterzogen. In der Tat ist das Entscheidende hier gesagt ….“1157 Der Hinweis war „amtlicher“ Natur. Er enthielt eine Warnung. Und klug war, wer sie ernst nahm. Polak hatte schließlich aus nächster Nähe erlebt, wie der erste und einzige Versuch, den im „Kapital“ verborgenen Staats- und Rechtsfaden sichtbar zu machen, die Arbeit von E. Paschukanis, „mittels Terror zum Verstummen gebracht wurde“1158. Was konnte dabei gefunden werden? Doch nur der Staat/ das Recht hinter dem „Klassenstaat“. Mit anderen Worten: der Staat/das Recht, der/das in direkter Verbindung mit den tatsächlichen ökonomischen Verhältnissen steht. Der Staat eines Staatskapitalismus wäre ans Licht getreten. Und auch das: das auf ihn übertragene „Inwendige“ der Unternehmung – die „Direktion“. Zum Vorschein wären folglich gekommen: der „Betriebsstaat“ und sein spezifisches Recht. Aufgeflogen wäre damit die „Lebenslüge“ des realen Sozialismus, die sich auf eine behauptete Vergesellschaftung der Produktionsmittel stützte. Was hätte die Analyse nachstehender Aussagen:

•• „Die manufakturmäßige Teilung der Arbeit unterstellt die unbedingte Autorität des Kapitalisten über Menschen, die bloße Glieder eines ihm gehörigen Gesamtmechanismus bilden“.

1156 Zitiert bei I. Staff, Staatsdenken im Italien des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Carl SchmittRezeption, Baden-Baden 1991, S. 169. 1157 K. Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre (3. erw. Aufl.), Berlin 1963, S. 5. 1158 H. Klenner, Nachwort, in: E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre …, a. a. O., S. 231.

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•• „Danach steht die Autorität in der Werkstatt und in der Gesellschaft, in Bezug

auf die Arbeitsteilung, im umgekehrten Verhältnis zueinander“. •• Dass „frühere Gesellschaftsformen … einerseits das Bild einer plan- und autoritätsmäßigen Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ausschließen, während •• sie andererseits die Teilung der Arbeit innerhalb der Werkstatt ganz ausschließen, oder nur auf einen Zwergenmaßstab, oder nur sporadisch und zufällig entwickeln“1159. ergeben, wenn zugleich einzugestehen war, dass die behauptete Vergesellschaftung in einer Verstaatlichung stecken blieb? Doch nur, dass Verhältnisse innerbetrieblicher Natur nunmehr in „gesellschaftliche“ Verhältnisse uminterpretiert worden sind! „Führer“ und „Führung“ wären sichtbar geworden als ins Politische gewandete Unternehmer.1160 Eine vertikale Arbeitsteilung im Sinne von „Führer und Gefolgschaft“ bzw. von „Partei, Klasse, Masse“ hätte sich gezeigt. Überall wären Prinzipien sichtbar geworden, die das Unternehmen prägen, nicht aber den von Marx skizzierten „Kommunestaat“. Die Betriebsverfassung wäre als zentraler Teil der Gesellschaftsverfassung erkennbar geworden. Das Grundrecht auf Arbeit, mit dem die realsozialistischen Verfassungen sich schmücken, hätte als ordinäre Pflicht zur Arbeit dagestanden. Die folgenschwere Weiterung daraus: Die bisher nur im Unternehmen und während der Arbeitszeit suspendierte Personalität des Einzelnen wird nun, bei Existenz nur eines Unternehmens, dauerhaft beseitigt. Auflösung aller Personen folglich, die unterhalb der Ebene „Staat“ existieren. Auch sie werden, indem sie verstaatlicht werden, zu „Gliedern“ der nun einzigen Person „Staat“. Marx verknüpft seinen Ausgangspunkt „Produktion“ mit der staatlosen „Assoziation freier Produzenten“. Da aber die proklamierte Vergesellschaftung der Produktionsmittel in der Verstaatlichung stecken bleibt, wird aus seinem bloßen Übergangsstaat, der „Diktatur des Proletariats“, sehr rasch ein an die Verstaatlichung geknüpfter Dauerzustand. Die Kehrtwendung von der These, dass der Staat „abstirbt“, hin zu jener von seiner „ständig wachsenden Rolle und Bedeutung“ macht dies sichtbar. Nichts Neues für C. Schmitt, der 1921 formuliert, dass eine Diktatur, die „sich nicht abhängig macht [vom] herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, … ein

1159 MEW 23, S. 377 ff. (Hervorhebung von mir). 1160 Vgl. dazu ebd., S. 353.

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beliebiger Despotismus“ ist.1161 Von dieser Bewertung rückt Schmitt allerdings sehr bald ab und beginnt, die Diktatur positiv zu sehen. „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall“, schreibt er nun. „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme alles“. Bald wird er der „Perpetuierung“ der Ausnahme und der Diktatur das Wort reden. Die Geschichte des realen Sozialismus gibt ihm recht. Ein Staat betritt die Bühne, der sich, wie M. Weber formuliert, nach Art des Betriebes organisiert. Der Leviathan Hobbes’. Der totale Staat C. Schmitts. Ein Staat, in dem „Freiheit und Differenz keine Rolle mehr spielen“1162. Ein Staat, der in der Identifizierung mit dem gesellschaftlichen Teilbereich „Produktion“ seine Grundlage hat. Anders herum formuliert: Der gesellschaftliche Teilbereich „Produktion“ erklärt sich zum Staat. Er tritt an die Stelle des bisherigen „Not- und Verstandesstaates“. In ihm ist jener Teilbereich unterrepräsentiert, der bislang im Vordergrund stand: die „Zirkulation“. Was heißt: Dieser Staat ist nicht mit dem Recht liiert, sondern mit der Macht und mit dem Befehl. – Ein Defizit, das Gegenstand heftiger ideologischer Bemühung wird, das bergeweise Literatur hervorbringt, die sich um die Worte „Gemeinschaft“, „Volk“, „Geist“, „Bewusstheit“, „Proletariat“ dreht. Mit ihnen soll hinweggeredet werden, was dieser Staat tatsächlich ist: ein „Führer-“ bzw. „Führungsstaat“. Sieht man in der „Zirkulation“ das „Gesellschaftliche“, in der „Produktion“ hingegen das „Betriebliche“, sind wir bei C. Schmitt und seiner Formel, dass die Wendung zum totalen Staat „alles Gesellschaftliche“ ergreift und es „verstaatlicht“.1163 Das haben „Volkheitsdiktatur“ und „Diktatur des Proletariats“ also gemeinsam: Sie sind ideologisierte Formen des „Betriebsstaates“. Ihre gemeinsame Schnittmenge besteht in der Ikonisierung von Größen, die angeblich jenseits der bürgerlichen Gesellschaft angesiedelt sind. Der „Betriebsstaat“, die Tendenz zu ihm, wird in der Literatur weitgehend ignoriert; er passt zu wenig in das bevorzugte Bild vom Staat. Das dürfte auch der Grund sein, warum zwei bedeutsame Schriften C. Schmitts, nämlich „Staat, Bewegung, Volk“ und „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“, geradezu stiefmütterlich behandelt werden. Und das angesichts einer geradezu überbordenden C.-Schmitt-Literatur! Bezogen auf die letztgenannte Schrift, heißt es bei Mohler: „Bei der Beschäftigung mit dem Schmittschen Werk wird sie im Allgemeinen kaum beachtet – sie wird vielmehr als Entgleisung … oder dann als ‚dunkel‘ [im Sinne von schwer verständlich] links liegen 1161 C. Schmitt, D, S. XVII (Vorbemerkung zur 1. Aufl.). 1162 A. Adam, Rekonstruktion des Politischen, Weinheim 1992, S. 85. 1163 C. Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat, a. a. O., S. 172.

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gelassen.“ Und weiter: „Wir halten sie, nicht nur wegen ihrer Scharnierstellung im Werk, für mindestens ebenso wichtig wie den ‚Begriff des Politischen‘ oder das Romantik-Buch. Man kann sich allerdings den Zugang zu ihr verstellen, wenn man nicht den richtigen Einstiegswinkel findet.“1164 Dem ist zuzustimmen. Tatsächlich erschließt sich der Gehalt dieser beiden Schriften nur, wenn man die Plattform des traditionellen Staats- und Rechtsbegriffs: „Markt“ und „Konkurrenz“, verlässt und nun, nach dem „Frontwechsel“, der das „Verhältnis von Recht und Macht umkehrt“1165, Staat und Recht vom „Betrieb“ her denkt. Denn die Revolution bezeichnet einen „Nullpunkt“1166, an dem das alte Staatsrecht endet und ein Staatsrecht neuer Art beginnt. Was eben noch von „unten“ untersucht wurde, wird jetzt von „oben“ betrachtet. Von einen Tag zum anderen wird alles anders: Die eben noch attackierte Begriffswelt ist vom Sockel gestoßen. Sie ist nun „Gespensterwelt“, mit der das Neue nicht erfasst werden kann. Der richtige „Einstiegswinkel“: Was eben noch vom Einzelnen her gesehen wurde, wird nun vom Ganzen, von der „Gemeinschaft“ her beurteilt. Damit ist eine völlig andere, eine ganz neue Perspektive eröffnet. Die Begriffe werden auf den Kopf gestellt. Was bisher zeitlos und unpolitisch zu sein schien, ist nun an das „Politische“ angedockt. Genauer: an das jetzt Politische in Gestalt der mit dem Staat vereinten „Bewegung“. Mit dem Ziel, „einen Prozess der Eliminierung und Hierarchisierung“ in Gang zu setzen, liefert Schmitt eine „Begriffs-Parade“.1167 Fest gefügte, für ewig gehaltene Begriffe werden „dialektisch“ gemacht, werden „über viele Seiten hinweg gehetzt“, bis sie am Ende in ihr Gegenteil verkehrt sind. Die Wirklichkeit wird nicht mehr in eine abstrakte juristische Begriffswelt gepfercht, sondern das Recht richtet sich jetzt nach der (neuen) Wirklichkeit. Am Ende ist nicht mehr der Staat aus dem Recht abgeleitet, sondern umgekehrt: das Recht aus dem Staat. „Instrumentales“ Recht. Wäre es nicht bereits in der Welt gewesen, am deutlichsten in der benachbarten Sowjetunion, Schmitt hätte sein Erfinder sein können. Mindestens aber kann er von sich sagen, es als Erster auf den Begriff gebracht zu haben. Während Paschukanis 1936 in der Sowjetunion erschossen wird, weil er, in grober Verkennung dessen, was tatsächlich geschieht 1164 A. Mohler, Carl Schmitt und die „Konservative Revolution“, in: H. Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 148. 1165 H. Gerland, Rechtserneuerung und Revolution, in: DJZ 1933, S. 1065–1070. 1166 S. dazu: M. Stolleis, Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt 1994, S. 111. 1167 A. Mohler, Carl Schmitt …, a. a. O., S. 148.

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und gebraucht wird, das „Absterben“ des Staates propagiert, stellt Schmitt den Staat wieder her und wird, wenn auch nur kurzzeitig, der juristische Star des „Dritten Reiches“. Die Entscheidung ist gefallen, die Frage „Wer wen?“ ist „geklärt“. – Und so tritt in den jetzigen Schriften Schmitts der Dezisionismus zurück. War „Weimar“ für ihn der Inbegriff des Falschen, des Unhaltbaren, des Auseinander von Staatlichem und Politischem, so kann er jetzt feststellen: Das plural zerfaserte, auf die „Kräfte“ und „Mächte“ zerstreute Politische ist jetzt in einer Hand zusammengefasst. Und damit nicht genug: „Bewegung“ und Staat bilden jetzt eine Einheit, bilden zusammen (wieder) den politischen Staat. Das Monopol des Politischen ist zurückerobert. Schmitt leistet Pionierarbeit. Das wird deutlich auch daran, dass sich zum Beispiel die in der DDR auf eine ähnliche Fragestellung und Problemlösung angesetzten Wissenschaftler schwertun, eine adäquate Lösung zu erarbeiten. Es wird etlicher Ermahnungen der Parteiführung bedürfen und noch bis Anfang der 1970er Jahre dauern, ehe mit der „politischen Organisation des Sozialismus“ ein Ergebnis vorliegt, das der schmittschen Leistung das Wasser reichen kann. Er gewinnt eine Plattform, von der aus auch das Recht neu justiert werden kann: die „konkrete Ordnung“. Und wenn Schmitt auch kein Hegelianer ist: Jetzt zitiert er ihn.1168 Jetzt benennt er ihn als den philosophischen Vater des Denkens in „konkreten Ordnungen“; schreibt, Hegels Staat sei die „Ordnung der Ordnungen“.1169 Er stützt sich aber auch auf Luther – und dieser und seine Zeit dürften wohl als „Väter“ der Ordnungen richtiger gewählt sein als Hegel. Passé ist der „neutrale“, sich aus der Wirtschaft heraushaltende Staat. Der „Wirtschaftsstaat“ ist das Neue. Er ist in der Sowjetunion bereits Alltag, als die nationalsozialistische „Revolution“ siegt und sich zu ihm bekennt. Aber er bleibt im „Dritten Reich“ erheblich unterhalb der dort erreichten Perfektion. Die bürgerliche Gesellschaft bleibt in weit höherem Maße erhalten als in der Sowjetunion; das „Dritte Reich“ bleibt „Doppelstaat“.1170 Das Privateigentum wird prinzipiell respektiert, soweit es nicht Juden oder politischen Gegnern gehört. Ebenso die um das Eigentum zentrierten Rechte. Offen terroristisch, irrational und völlig aus der Rolle fallend ist das Dritte Reich allerdings im politischen Bereich. 1168 S. C. Schmitt, SBV, S. 13 f. u. S. 28 ff. 1169 C. Schmitt, A, S. 45 ff. Hegel in § 308 Rph: „Der konkrete Staat ist das in seine besonderen Kreise gegliederte Ganze“. 1170 Im Sinne von E. Fraenkels „Doppelstaat“.

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Kommen wir auf das vorangestellte Zitat zu sprechen: C. Schmitt bezeichnet sich insoweit als „Marxist“, als er die von Marx im „Kapital“ erhobenen ökonomischen Befunde ins Politische überträgt. Er folgt ihm nicht, soweit Marx die erhobenen Befunde ersetzt durch die „Assoziation freier Produzenten“. Im Ergebnis favorisiert Schmitt die „Verstaatlichung“, wo Marx die „Vergesellschaftung“ vorsieht, und favorisiert den „totalen“ Staat, wo Marx den staatlosen kommunistischen Endzustand im Blick hat. Schmitt streicht auf diese Weise jenen Teil des Marxismus aus seiner Rechnung heraus, der sich im realsozialistischen Experiment nicht bewiesen hat und wohl als der utopische Teil dieser Lehre angesehen werden muss. Schmitt zeigt sich als ein „pessimistischer Marxist“; er liefert eine etatistische Lesart des Marxismus – und wird durch den realen Sozialismus darin bestätigt. Er findet im „Kapital“ sicher so manche Anregung für seinen „totalen“ Staat. Verständlich von daher auch, dass die realsozialistische Kollegenschaft, die dafür bezahlt wird, den totalen Staat hinwegzureden, diese Erkenntnisquelle ungenutzt lässt. Ihm wird häufig grenzenloser Opportunismus vorgeworfen, der darin gesehen wird, dass er sich rückhaltlos dem „Führer“ Adolf Hitler andiente. Dem kann nicht ohne Einschränkung zugestimmt werden. Man sollte sehen, dass das, was Schmitt in den Jahren 1933–1936 in rascher Folge veröffentlicht, bereits über Jahre hinweg vorbereitet ist und abrufbar bereitsteht – wenn auch teilweise in verklausulierter Form. Seinen Schriften aus der Weimarer Zeit ist anzumerken, dass er sich nur mühsam zurückhält, dass er sich notgedrungen des noch „amtlichen“ Juristendeutsch bedient. Mir scheint daher, er ist in dieser Zeit mehr Opportunist als ab 1933, als er endlich das sagen und schreiben kann, was ihm auf den Nägeln brennt. Den Schriften, die nach der Machtergreifung erscheinen, merkt man jedenfalls an, dass sie von der „Warte des historischen Siegers“1171 aus geschrieben sind. Der „totale Staat“ war fällig; Schmitt wollte ihn. Ob Hitler, ob Papen, ob Schleicher der Diktator wird – das konnte Schmitt sich nicht aussuchen. Er hatte den „totalen Staat“ herbeigeschrieben – nicht auch dessen Sachwalter. Als solcher wäre ihm Papen und dessen Ziel, Weimar in ein autoritäres Staatswesen „umzugründen“1172, sicher lieber gewesen. Doch als der neue Staat endlich da war, gab es kein Halten für ihn; er stellte sich in seinen Dienst. Er jubelt weniger Hitler zu als jenen „Kräften“ und „Mächten“, die hinter all den objektiven Befunden stehen, die Totengräber der traditionellen gesellschaftlichen, staatli1171 H. Dreier, Rechtszerfall und Kontinuität …, a. a. O., S. 238. 1172 S. dazu: R. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 288 ff.

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chen und juristischen Strukturen sind. Für sie ist er tätig, ihnen arbeitet er zu. „Man sieht“, schreibt ein Zeitzeuge, „der Herr Professor Schmitt versucht, eine reaktionäre Staatslehre der kapitalistischen Schwerindustrie zu schreiben, welche sich von der faschistischen Auffassung des totalen Staates und einer totalen Einheit von Staat und Wirtschaft zu distanzieren sucht.“1173 Und glaubhaft ist von daher, dass es durchaus eine Triebkraft seines Engagements war, rationale, was auch heißt: am ökonomischen Befund orientierte Erklärungen an die Stelle des nationalsozialistischen Irrationalismus zu setzen. Schmitt sieht sich als juristischer Totengräber. Zugleich aber auch als Pate jenes Staates und jenes Rechts, die an die Stelle des Alten treten. Um sie zu begründen, greift er partiell auf Marx zurück, überträgt dessen Aussagen zum Inneren der kapitalistischen Unternehmung auf die Gesellschaft. Das ist die Lösung: die dortigen Leitungsmechanismen „politisch“ machen, sie auf die staatlich-juristische Ebene übertragen. Sie passt gut mit seinem Dezisionismus zusammen. Dieser führt ihn zu jenen bloßen „Entgegensetzungen“, die Hegel in der „Differenzschrift“ als Mangel der Philosophie Fichtes beschreibt. Er ersetzt das eine durch das andere. Er schießt damit über die Mitte und über das „Konkrete“ hinaus und verkürzt und verkehrt die bürgerliche Gesellschaft zum „totalen“ Staat. Im Bauch des Leviathan herrscht der Befehl – nicht das Recht. Wenn Schmitt formuliert: „Das Beste auf der Welt ist ein Befehl“, so ist das keineswegs nur so dahingesagt. Eine Volkswirtschaft, die in einen einzigen Betrieb bzw. nach Art eines Betriebes umgestaltet wird, wird landläufig „Befehlswirtschaft“ genannt. Ihn fasziniert die asynchrone Entwicklung: Die extreme Ausweitung des Staates einerseits, die gepaart ist mit einer ebenso extremen Einengung des Wirkungsradius des (echten) Rechts andererseits. Das tritt in der Sowjetunion dieser Zeit besonders anschaulich, lehrstückhaft zutage. C. Schmitt ist beeindruckt und sieht sich bestätigt. Und keineswegs ist es „erstaunlich“, dass in Schmitts Schriften das Recht von nun an mehr und mehr fehlt.1174 Das ist das Neue! Schmitt macht sich zu seinem Fürsprecher. Was „Gestrige“ negativ beurteilen, ist für ihn rundum positiv. Und ohnehin ist daran nichts zu ändern, weil der Prozess schließlich objektiv da ist und abläuft – unabhängig davon, ob er gewollt oder 1173 K. Schultes, Der Niedergang des staatsrechtlichen Denkens im Faschismus, Weimar 1947, S. 27 – mit Bezug auf C. Schmitt, Starker Staat und gesunde Wirtschaft (abgedruckt in: Ders., SGN, S. 79–91). 1174 H. Schelsky, Der „Begriff des Politischen“ und die politische Erfahrung der Gegenwart, in: Der Staat 22 (1983), S. 322.

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nicht gewollt ist. Rechtsstaat? Gesetzesstaat? Sie sind Geschichte. Sie sterben nicht erst ab, sie sind bereits tot. Wenden wir uns Marx zu. Er schreibt im „Kapital“ von der „Anarchie der gesellschaftlichen“ und der „Despotie der manufakturmäßigen Arbeitsteilung“, die in der bürgerlichen Gesellschaft nebeneinander auftreten. Diesem Zustand der verdoppelten Existenz, des Nebeneinander, stellt er „frühere Gesellschaftsformen“ entgegen, die „einerseits das Bild einer plan- und autoritätsmäßigen Organisation der Arbeit [bieten], während sie andererseits die Teilung der Arbeit innerhalb der Werkstatt ganz ausschließen“.1175 Was früher war – Marx bezieht sich an dieser Stelle auf indische Gemeinwesen, die als solche „Oikos“Wirtschaft betreiben –, wiederholt sich in der Moderne auf höherer Stufenleiter insofern, als jetzt wiederum beide Formen „vereinigt“ werden – allerdings diesmal so, dass die innerbetriebliche Form der Arbeitsteilung den Ton angibt bzw. diesen Prozess dominiert. Die Folge: Die Anarchie im gesellschaftlichen Raum wird durch eine „plan- und autoritätsmäßige Organisation“, durch eine „Leitung“ ersetzt, deren Notwendigkeit zugleich die Führungsrolle der Partei legitimiert und perpetuiert. Als „Funktion des Kapitals“1176 dringen sie in den gesellschaftlichen Raum ein und nehmen politischen und juristischen Charakter an. Wie der Produktionsprozess ohne „Direktion“ und „Direktor“ ein Rumpf ohne Kopf ist, ist jetzt die „Partei … die ‚Seele‘, das ‚Zentrum‘, der ‚Kern‘ der sozialistischen Staatsmacht“1177. Lenin bringt es auf den Punkt: „Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein.“1178 Die unternehmensinterne „Direktion“ und das Prinzip der Einzelleitung werden zu politischen Prinzipien. Überall ist „unbedingte und strengste Einheit des Willens“ gefordert, überall ist die „widerspruchslose Unterordnung unter einen einheitlichen Willen … notwendig“. Diese Unterordnung unter die Diktatur der maschinellen Großindustrie „kann bei idealer Bewusstheit und Diszipliniertheit der an der gemeinsamen Arbeit Beteiligten mehr an eine milde Leitung eines Dirigenten erinnern. Sie kann die scharfen Formen der Diktatorschaft

1175 MEW 23, S. 377 f. 1176 Ebd., S. 350. 1177 Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, a.  a.  O., S.  52 unter Hinweis auf Lenin. 1178 Lenin, Staat und Revolution, in: Ders., AW 2, S. 403.

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annehmen, wenn keine ideale Diszipliniertheit und Bewusstheit vorhanden ist.“1179 Und so kam es denn auch: Sie nahm diese „scharfen Formen der Diktatorschaft“ sehr bald an! Unter Stalin dann noch schärfere. Lenin greift das Thema sofort nach Gelingen der Oktoberrevolution nach erster Bestandsaufnahme (die in Bezug auf die Wirtschaft Erschreckendes ans Licht bringt!) auf. Gegen die Linke innerhalb der KPdSU gerichtet, der das „Zerschlagen“, das „Konfiszieren“ nicht weit genug geht, die fürchtet, dass man im „Staatskapitalismus“ stecken bleiben werde, betont er: „Hätten wir in etwa einem halben Jahr den Staatskapitalismus errichtet, so wäre das ein gewaltiger Erfolg“. Selbst dieser sei weit entfernt, sei gegenwärtig nicht in Russland, sondern in Deutschland zu finden. Aufgabe der Bolschewiki sei es daher, „vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, als Peter die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken“1180. Diese Ausführungen stehen unter dem Stichwort „Vergesellschaftung“. Es geht „um den Übergang von der Nationalisierung und der Konfiskation zur Vergesellschaftung“1181, es geht darum, aus dem Konfiszierten einen funktionsfähigen „Betrieb“ zu gestalten. „Staatskapitalismus“ versteht sich nach dieser und vielen anderen Ausführungen Lenins folglich als eine zum „Betrieb“ umgeformte bürgerliche Gesellschaft. Er verbindet sich mit der Annahme, dass die im Staatskapitalismus auftretende, ihn kennzeichnende Form von Planmäßigkeit das Höhere und Positive gegenüber der Anarchie sei, dass Erstere nunmehr die im gesellschaftlichen Raum herrschende Anarchie ablöse, was allein schon einen gewaltigen Fortschritt bedeute. Das ist ein Irrtum! Und er wäre früher oder später aufgedeckt worden, hätte man diese Ansätze weiterverfolgt. Es wäre offenbar geworden, dass die Sowjetunion immer beim Staatskapitalismus verblieben ist. Und alles andere, also der Sozialismus, hätte auch nur durch Zauberei herbeigeführt werden können, wenn man die Kriterien eines Marx anlegt. Folgerichtig wurde dem einzigen der „Kapital“-Analyse verpflichteten wissenschaftlichen Ansatz, der Arbeit E. Paschukanis’, durch Erschießung des Autors und seiner Anhänger ein Ende 1179 Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Ders., AW 2, S. 763 (Hervorhebungen bei Lenin). 1180 Lenin, Über ‚linke‘ Kinderei …, a. a. O., S. 786, 791 (Hervorhebungen bei Lenin). 1181 Ebd., S. 785.

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bereitet. Bei diesem Ende blieb es auch nach der „Entstalinisierung“, obwohl in der DDR nicht die Erschießung, sondern bloß der Entzug der Professur gedroht hätte. Übersetzt man C. Schmitts Sprache und Anliegen ins Ökonomische, kommt man zu dem Resultat, dass beide, Schmitt und Marx, sich in Kernaussagen zu Staat und Recht sehr nahestehen. Noch näher stehen sich Schmitt und Lenin. Eine Ahnung davon war in der realsozialistischen Staats- und Rechtswissenschaft virulent und war der Grund, warum der im „Kapital“ verborgene Schatz nie gehoben wurde. Hätte man das getan, wäre dies einer Selbstentlarvung gleichgekommen. Der „sozialistische“ Staat hätte sich als „totaler Staat“ wiedergefunden. Als jene ökonomisch-politische Despotie, die Marx unter dem Stichwort „Manufaktur“ beschreibt und die in der Sowjetunion unter Stalin ja auch in Reinkultur Praxis wurde. Die gesamte an die „Klasse“ geknüpfte Revolutionstheorie wäre ins Zwielicht geraten. Nein, nicht theoretisches Unvermögen, sondern Zensur und Selbstzensur standen im Wege. Zurück zu C. Schmitt. Er ist selektiver Marxist; im Übrigen ist er Antimarxist. Er steht auf dem Boden jener „Kräfte“ und „Mächte“, die die traditionelle bürgerliche Gesellschaft und ihre staatlichen und rechtlichen Strukturen untergraben. Er bejaht das „negativ Absolute“ im Sinne Hegels. Er bejaht im Grunde das, was sich in reinster Form in der Sowjetunion etabliert. Als Dezisionist ist er in der Lage, sofort, ohne Zwischenstation von einem Extrem zum anderen „umzuschalten“. Ist der liberalistische Staat um die „Zirkulation“ zentriert, so der jetzige um die „Produktion“. Der eine Staat ersetzt den anderen. Aber auch dieser bloße Standpunktwechsel kann zu neuen Erkenntnissen führen. Und in der Sowjetunion wird ja tatsächlich nur der „Standpunkt verrückt“. Insofern, als dort die bürgerliche Gesellschaft ersetzt wird durch ein „Betriebssystem“, dadurch, dass der Gesellschaft Strukturen und Verhältnisse übergestülpt werden, die das Innere des Unternehmens charakterisieren. Die betriebsinternen Verhältnisse werden nach außen gewendet, gerieren sich als bewusst gestaltete gesellschaftliche Verhältnisse, konstituieren sich zum „Syndikatsstaat“.1182 Die vielen Unternehmen werden dort ersetzt durch ein einziges Unternehmen, den Staat. Folglich wird auch nur die Planmäßigkeit nach Art des Unternehmens verstaatlicht. Planmäßigkeit, die für Hegel „Willkür“ ist und bleibt – auch wenn sie mit den Attributen „sozialistisch“ und „gesamtgesellschaftlich“ geschönt wird. So wie aus der aus der Unternehmung in den gesellschaftlichen Raum expandierenden Arbeitsteilung keine „gesellschaftliche“ wird, so kann auch 1182 S. dazu: U.-J. Heuer, Lenins „Staat und Revolution“ – heute gelesen, in: NJ 1987, S. 308.

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diese „Planmäßigkeit“ keinen gesamtgesellschaftlichen Charakter annehmen; sie behält ihren privaten Charakter. Schon im „gesellschaftlichen“ Ansatz von Marx ist diese private Natur verkannt. Engels, noch weit mehr Liberaler als Marx, verstärkt diese Tendenz. Wird die Autorität verschwunden sein, wenn Kapital und Kapitalisten abgeschafft sind?, fragt er 1872/73. Seine Antwort: Nein, sie bleibt! Sie ist notwendiger Bestandteil auch der sozialistischen Gesellschaft, sie zwingt sich auf, „unabhängig von aller sozialen Organisation“. Ja, es ist so, dass der „mechanische Automat einer großen Fabrik … um vieles tyrannischer [ist], als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigten“1183. Etliche Jahre später glossiert er folgenden Satz aus dem Entwurf des Erfurter Programms der Sozialdemokratie: „Die im Wesen der kapitalistischen Privatproduktion begründete Planlosigkeit.“ Er merkt an: „Kapitalistische Produktion durch Aktiengesellschaften ist schon keine Privatproduktion mehr, sondern Produktion für assoziierte Rechnung von Vielen. Und wenn wir von den Aktiengesellschaften übergehen zu den Trusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren, so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlosigkeit.“1184 Diesen „Fingerzeig“ zum Thema „Planlosigkeit“ bzw. „Planmäßigkeit“ greift Lenin in „Staat und Revolution“ in einer Weise auf, die die Annahme nahelegt, dass er, Marx und Engels folgend und deren Tendenz verstärkend, diese Planmäßigkeit auf sein Staatssyndikat überträgt. Er wendet sich zwar gegen die revisionistische Schlussfolgerung, dass, von dieser Planmäßigkeit her gesehen, der moderne Kapitalismus schon kein Kapitalismus mehr sei, sondern als „Staatssozialismus“ bezeichnet werden könne. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass es diese Art von Planmäßigkeit ist, nach der nach Sieg der proletarischen Revolution zu arbeiten sein wird. Es ist jetzt noch eine unvollständige Planmäßigkeit, unvollständig im Sinne von: nicht die Gesellschaft als Ganzes erfassend; vollständig wird sie erst nach siegreicher proletarischer Revolution sein.1185 Diese Fortschreibung und Übernahme der innerbetrieblichen Form von Planmäßigkeit im Staatssyndikat ist meines Erachtens eine zwangsläufige Folge des „gesellschaftlichen“, mithin liberalen Ansatzes des Marxismus. Anders als Hegel, dessen „Geist“ und dessen „Geiststaat“ und, eingeschlossen darin: dessen Produktionsziele außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegen sind, bezieht Marx (und in seiner Folge: Lenin) 1183 MEW 18, S. 306 (Von der Autorität). 1184 Engels, Über das Erfurter Programm, in: K. Marx, Kritik des Gothaer Programms. Mit Schriften und Briefen von Marx, Engels und Lenin zu den Programmen der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1963, S. 84. 1185 Vgl. Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 374.

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seine „Bewusstheit“ und seine produktionsbezogene „Planmäßigkeit“ auf die Gesellschaft, sodass am Ende auch nur erreicht wird, dass die innerbetriebliche Art von Planmäßigkeit in eine wesensgleiche, nur vorgeblich „gesamtgesellschaftliche“ umgewandelt wird. Die spätere Anlehnung der sowjetischen Volkswirtschaftsplanung an die deutsche Kriegswirtschaftsplanung bestätigt dies. Von anderer Warte her gesehen: Die hergestellten Produkte nehmen in der sowjetischen Volkswirtschaft deswegen keinen Warencharakter an, weil sie das Unternehmen „Sowjetunion“ nicht verlassen. Warencharakter nehmen die dort gefertigten Produkte nur an, wenn sie nach außerhalb verkauft werden. Fichtes „geschlossener Handelsstaat“ lässt grüßen. Wie die Stammväter der politischen Ökonomie, noch in Erinnerung an den ganzheitlich-gemeinschaftlichen Zustand, die innerbetriebliche Arbeitsteilung und deren Folgen für den Menschen beurteilen, macht folgendes Zitat, zu finden im „Kapital“, deutlich: „Einen Menschen unterabteilen, heißt ihn hinrichten, wenn er das Todesurteil verdient, heißt ihn meuchelmorden, wenn er es nicht verdient. Die Unterabteilung der Arbeit ist der Meuchelmord eines Volkes.“1186 Der Mensch wird somit durch sie und durch alles, was sich um sie rankt, nicht wiederhergestellt, sondern vollends vernichtet.

V.4 Vom „Gesetzesrecht“ zum „gesetzlosen“ Recht V.4.1 Wegfall des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“ C. Schmitt bringt es auf eine griffige Formel: Der heutige Staat ist nicht mehr „Gesetzesstaat“; er ist „Planstaat“. „Gesetz“ und „Gesetzesstaat“ stehen für jene Periode der bürgerlichen Gesellschaft, die gemeinhin mit ihr identifiziert wird und der oft genug Ewigkeitswert angedichtet wird: die der „freien Konkurrenz“. Der Umschlag vom feudalen Gemeinwesen in die bürgerliche Gesellschaft ist erfolgt. Ruhe kehrt ein. Ewige Ruhe, wie viele meinen. Da die Erscheinungen der „freien Konkurrenz“ zum „Reich der Gesetze“ gerinnen, bedeutet daher das Aus, das die ab Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung zum „organisierten“ Kapitalismus für die „freie Konkurrenz“ bedeutet, auch das Aus für dieses „Reich der Gesetze“. Als Bollwerke des Sittlichen verlieren sie in einem schleichenden Prozess mehr und mehr an Kraft und Einfluss. Die aus den Tiefen der Unternehmung nach oben und nach draußen dringende „Planmäßigkeit“ 1186 D. Urquhart, Familiar Words, London 1855, zitiert in: MEW 23, S. 385.

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setzt sich an die ihre Stelle. Der Rahmen „planmäßigen“ Produzierens weitet sich gewaltig aus. Über das Unternehmen traditioneller Art hinaus erfasst es, gesteuert von den Zentren der neuen ökonomischen Gebilde, die herabgestuften produzierenden Einheiten. Ein Lenin schlussfolgert daraus, dass diese Phase des Kapitalismus die unmittelbare Vorstufe der sozialistischen Gesellschaft ist. Nur noch diesen jetzigen erweiterten privaten Rahmen sprengen, nur diese noch private „Planmäßigkeit“ verstaatlichen – und der Weg ist frei für ein planmäßiges Produzieren auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Für E. Paschukanis ist es die Wendung von der „Republik des Marktes“ zur „Despotie der Fabrik“1187 und für C. Schmitt die Wendung zum „Wirtschaftsstaat“ und zum „Befehl“.1188 In der Sowjetunion wird sie konsequent exekutiert. Ein Phänomen lebt jetzt wieder auf, von dem bereits Hegel berichtet: der „Hass gegen das Gesetz“. Ein „Hass“, der uns deshalb nicht zufällig in Revolutionszeiten begegnet. Und ein Hass auch, der sich nicht von ungefähr verbindet mit einer „Philosophie“, die, wie Hegel formuliert, „am meisten das Wort Volk im Munde führt“1189. Folgenreich ist daher, was in den Jahren 1917 ff. dort und was später im Lager des realen Sozialismus generell geschieht: das Beiseiteschieben all dessen, was „die Verwirklichung schneller und abrupter Veränderungen in der Struktur der Produktion“ hemmt, zum Beispiel „infolge der relativ hohen Trägheit der Wirkungsweise des Mechanismus des Wertgesetzes“.1190 Da „Betriebsstaat“ und „Planmäßigkeit“ mit dem Befehl verbunden sind und nicht mit dem Gesetz, steht er ganz oben auf der „Abschuss“-Liste der Revolutionäre: der „Gesetzesstaat“. 1187 E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre …, a. a. O., S. 1. 1188 C. Schmitt, LL, S. 11 ff. 1189 Dieser Hass ist „vornehmlich das Schiboleth, an dem die falschen Brüder und Freunde des sogenannten Volkes sich abscheiden“ (Hegel, Rph, Vorrede). „Sogenannt“ bezieht sich auf Hegels Standpunkt, dass das Volk mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft „aufgelöst“ ist. „Volk“ kann daher keine rationale Grundlage mehr sein. Wer sich jetzt noch darauf beruft, kann also nur irrationale und demagogische Ziele verfolgen. In besonders gefährlicher Weise geschieht dies dann wieder im Deutschland der End-Weimarer sowie in der Zeit des Dritten Reiches. „Das eigentümliche Wahrzeichen“, das der falsche Freund des Volkes „an der Stirne trägt, ist der Hass gegen das Gesetz“; an anderer Stelle: „Der Hass des Gesetzes, gesetzlich bestimmten Rechts[,] ist das Schiboleth, an dem sich der Fanatismus, der Schwachsinn und die Heuchelei der guten Absichten offenbaren und unfehlbar zu erkennen geben, was sie wollen.“ (Fußnote zu § 258 Rph = Polemik gegen Haller.) 1190 R. A. Beloussow, Hauptetappen der Schaffung des Systems der Leitung und Planung der Wirtschaft in der UdSSR, in: WiWi 1978, S. 674.

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Aber auch dort, wo die Revolution nicht hingelangt, bleibt das Gesetz nicht ungeschoren. Im Rahmen einer schleichenden Aushöhlung verliert es auch dort an Boden und tritt seinen Platz an Recht qualitativ anderer Art ab. Eine Entwicklung setzt ein, die oft genug unter Berufung auf „Volk“ oder auch auf „sozial“ schöngeredet wird, tendenziell jedoch auf einen Zustand zutreibt, der 1917 ff. und 1933 ff. „über Nacht“ geschaffen wird. Jedenfalls kommt auch dort das Gesetz ins „Gerede“.1191 Doch weiterhin werden Gesetze erlassen. Viele Gesetze. Aber Etikettierung und Inhalt stimmen zunehmend weniger überein, weil mit ihnen „Dinge als Recht bezeichnet werden, die Recht zweifellos nicht sind“1192. Wenig später, im „Dritten Reich“, ist klar: Die dortigen Gesetze leiten sich nicht vom „Reich der Gesetze“ ab, sondern sind „eine Funktion des Führergedankens …, ein Mittel, den Willen des Führers nach unten durchzusetzen“.1193 Nach dessen Untergang bleibt es in der Osthälfte Deutschlands dabei: Der dortige „Rechtsmechanismus kann nur im Rahmen des von der Partei ausgehenden Leitungsmechanismus, als sein integrierender Bestandteil wirken“1194. Das Gesetz dient dort der Umsetzung des Führerbefehls, hier der Parteibeschlüsse. Heute, wo diese Extremformen Geschichte sind, sollten wir die „Zwischenlagen“ in den Blick nehmen. Das sind jene Zustände zwischen „Markt“ und „Plan“, zwischen „Gesetz“ und „Befehl“, die uns allerorten begegnen. Eben jene Phänomene, die C. Schmitt im Auge hat, wenn er vom „Einbruch der Maßnahme in das Gesetz“ spricht.1195 Die Antworten darauf, warum die Gesetze überhaupt noch gebraucht werden, lauten damals: „Der Führer muss seine Entscheidung, die letztlich irrational begründet ist, auf rationale Art zur Durchführung bringen. Eines der wichtigsten Mittel [dazu] … ist das Gesetz.“1196 Und für die DDR: Die Gesetze bringen „die Hauptrichtung der Politik der marxistisch-leninistischen Partei und des sozialistischen Staates zum Ausdruck“1197. Hier wie dort wird das Gesetz ein Hauptinstrument, um den Willen eines „Führers“ bzw. einer „Führung“ durchzusetzen. Ein neuer Typus von „Gesetz“ tritt auf und wird zur Grundlage der 1191 Auch ins wissenschaftliche „Gerede“, wie sich z.  B. auf der Staatsrechtslehrer-Tagung von 1927 mit Referaten von H. Heller und M. Wenzel (VVDStRL, Heft 4, Berlin, Leipzig 1928, S. 98 ff. u. S. 136 ff.) zu dieser Thematik zeigt. 1192 M. Wenzel, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung. Ko-Referat auf der Staatsrechtslehrer-Tagung 1927, a. a. O., S. 155. 1193 M. Fauser, Das Gesetz im Führerstaat, in: AöR NF 26 (1935), S. 134. 1194 U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., S. 138. 1195 C. Schmitt, LL, Anmerkung 3 von 1957, in: Ders., VA, S. 347. 1196 M. Fauser, Das Gesetz im Führerstaat, a. a. O., S. 134. 1197 Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, a. a. O., S. 421.

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gesamten Rechtsordnung. Im „Dritten Reich“ geht ihm C. Schmitt auf den Grund. In der DDR vollbringt eine ähnliche Leistung U.-J. Heuer. Der Ausgangspunkt bei Letzterem: „Die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhende sozialistische Ordnung kennt keinen ‚naturgesetzlichen‘ Gesamtprozess.“ Deshalb kann das jetzige (Rechts-)Gesetz dort nicht seine Wurzel haben. Und doch ist es auch jetzt die juristische Entsprechung objektiver Gesetze. Nur eben nicht mehr jener, die im „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ zusammengefasst sind. Was jetzt herrscht, sind Gesetze, die sich um das planmäßige Produzieren ranken. Auch das sind „objektive Gesetze“. Aber im Unterschied zu denen des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“ sind es die „gesellschaftlichen“ Gesetze, deren Wirken nicht unterbunden, sondern im Interesse der Produktivität erkannt und planmäßig ausgenutzt werden muss. Waren die ersteren Gesetze gegen, so sind die jetzt herrschenden Gesetze für uneingeschränktes Produzieren. An die Stelle des an Anarchie, Konkurrenz, Markt gekoppelten bürgerlichen Rechts tritt somit ein Recht, das an die „plan- und autoritätsmäßige Organisation“ gekoppelt ist. Dazu Heuer: „Alle Rechtszweige werden von der Aufgabe der politischen Organisation des Sozialismus und der spezifischen Funktion des Rechts bestimmt, sind Instrument bewusster Leitung. Als Gliederungsprinzip setzt sich dabei die Gliederung entsprechend den gestalteten gesellschaftlichen Prozessen durch. In diesem Zusammenhang ist auch die Herausbildung des Wirtschaftsrechts zu sehen.“1198 Ein Unterschied wie Tag und Nacht bzw. wie „Planmäßigkeit“ und „Anarchie“ trennt beide Gesetzesgruppen. Die jetzt tonangebenden Gesetze erfordern die „unmittelbar ökonomische Tätigkeit des sozialistischen Staates“1199, mithin den „Betriebsstaat“. Denn sie „regieren“ jenen Bereich, der „in letzter Instanz die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens“ bestimmt.1200 Sie bestimmen daher auch das Wesen des „sozialistischen“ Rechts. Folglich muss ihnen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gelten. Dieser obliegt es nun, die Rechtsgesetze mit „objektiven Gesetzen“ zu begründen, die nicht Bollwerke des „Sittlichen“ sind, sondern der „Willkür“. Der „Hass“ hingegen gilt jetzt dem „planfeindlichen“ Gesetz. Denn dieses ist „auf die Vergangenheit bezogen“ und reißt „grundsätzlich einen Spalt zwischen der einmaligen gesetzlichen Fixierung und der Zukunft“ auf.1201 Nur eine Tendenz der „Ignorierungen“ hält an 1198 U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., S. 144. 1199 Ebd., S. 124, 144, 135. 1200 Ebd., S. 111 u. S. 114. 1201 C. Schmitt, Die Rechtswissenschaft im Führerstaat, in: ZADR 2 (1935), S. 439. In Bezug auf solche Gesetze gab es unter den Wirtschaftsfunktionären der DDR folgenden weitverbreiteten

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ihm fest und verhindert, dass der neue Gesetzestyp an seine Stelle treten kann, schreibt C. Schmitt 1932. Sie zeige sich darin, dass prägende Entwicklungen im ökonomisch-sozialen Bereich übersehen und für juristisch irrelevant gehalten werden. Es nütze aber nichts, vor dem Neuen die Augen zu verschließen oder es anzufeinden. Man müsse sich ihm stellen – was auch heiße: sich vom Alten verabschieden. Es gelte folglich, jene Kräfte zu unterstützen, die auf der Seite des Neuen, also der „Planmäßigkeit“, stehen.

V.4.2 Eine Differenzierung: „Gesetzesstaat“ und „Rechtsstaat“ Der Staat muss „Planstaat“ sein, fordert C. Schmitt. Um das zu werden, darf er nicht mehr „Gesetzesstaat“ sein. Denn „nicht jeder Staat ist zur Planung fähig“, erläutert der ihm nahestehende E. Forsthoff. „Man darf vielmehr in der Fähigkeit eines Staates zur Planung den sicheren Hinweis auf bestimmte Strukturelemente des Staates sehen.“ Der „Gesetzesstaat“ jedenfalls „war zur Planung nicht imstande“1202. Schlimmer noch: Er machte „jede souveräne Behandlung wirtschaftspolitischer Fragen durch die Staatsregierungen unmöglich“1203. Da der „Gesetzesstaat“ die Gesetze der Konkurrenz und des Marktes exekutiert, steht und fällt er mit deren Existenz. Jetzt sind Produktion und Zirkulation, ehemals durch eine Mauer voneinander getrennt, im „konzentrierenden Austausch“ aufgehoben bzw. zusammengeführt. Außen und innen, „gesellschaftlicher“ und „innerbetrieblicher“ Zustand verschmelzen. Mit tief greifenden, auch juristischen Folgen, die mit dem oft gebrauchten Wort „Denaturierung“1204 ganz unzulänglich beschrieben sind. Damals der zeitgemäße Staat, schlägt nun seine Stunde. Er gerät in die Krise und in die Kritik. Letztere ist darauf gerichtet, dass der Staat in noch höherem Maße „Gesetzesstaat“ ist, als er es nach dem Stand der ökonomischen Entwicklung sein dürfte. Der „Umbau“ hinkt hinterher; der Staat müsste bereits weit mehr „Planstaat“ sein. Das erklärt seine jetzige Anfeindung. Der Angriff gilt dem Gesetz alter Art. Und er gilt dem „Gesetzgebungsstaat“, also einem Staat, bei dem das „Gesetzgeben“ im Parlament monopolisiert ist. Beide stehen im Wege. Für C. Schmitt jedenfalls steht fest: „[E]in ‚Wirtschaftsstaat‘ [kann] unmöglich als parlamentarischer Gesetzgebungsstaat Spruch: „Das Recht wird mich nicht hindern, den Plan zu erfüllen.“ 1202 E. Forsthoff, Führung und Planung, in: DR 1937, S. 48 (Hervorhebung von mir). 1203 H. Haemmerle, Staatsidee und Wirtschaftsrecht, a. a. O., S. 282. 1204 M. Wenzel, Der Begriff des Gesetzes …, a. a. O.

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arbeiten“.1205 Die „Wendung“ bringt mit sich, dass eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen ist. Entscheidungen, die auf das „Produzieren“ Einfluss nehmen. Entscheidungen, die operativen Charakter tragen, die rasch zu treffen sind, die den „Einzelleiter“, den „Führer“1206 erheischen. Beide, das Gesetz und der „Gesetzgebungsstaat“, stehen also in dem Maße zur Disposition, wie der Staat mehr und mehr selbst als „Produzent“ tätig wird, wobei der Schwerpunkt seines „Produzierens“ nicht herkömmliche Produkte sind, sondern seine immer umfassender und notwendiger werdende Beteiligung an der Produktion der Ausgangs- und Rahmenbedingungen des privaten Produzierens mit den Mittelpunkten „Humankapital“, „Daseinssicherung“ und Infrastruktur. Eine Aufgabe, die der bisherige, um „Markt“ und „Konkurrenz“ zentrierte Staat nicht leisten kann. Sie erfordert einen Staatstyp, in dem laut Schmitt „Befehl und Wille“ die bisherigen „Normierungen“ ablösen. Damit der Unterschied zum absolutistischen Staat deutlich wird, ergänzt er: Anders als damals erscheinen aber jetzt „Befehl und Wille nicht autoritär und persönlich …, sondern [als] sachliche Anordnungen“1207. Letztere können durchaus weiterhin mit „Gesetz“ überschrieben sein. Und das sind sie auch. Unter inhaltlichem Aspekt betrachtet, wird jedoch deutlich, dass es sich um eine ganz andere Art von „Gesetz“ handelt. Es sind Gesetze, die eine von „sachlich-praktischer Zweckmäßigkeit geleitete Maßnahme“ transportieren.1208 Die Form kann bleiben. Der Inhalt aber wird ein anderer. Nicht das „ruhige Reich“ jener Gesetze wird darin abgebildet, die im „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ zusammengeschlossen sind. Den jetzt gefragten „sachlichen Anordnungen“ liegen vielmehr jene anderen Gesetzmäßigkeiten zugrunde, die sich mit dem hochdynamischen Bereich der „Produktion“ in Verbindung setzen. Eine Verlagerung des Regelungsgegenstandes von „Markt“ und „Zirkulation“ zu „Produktion“ findet statt. Da „Produktion“ ein Prozess ist, wandelt sich das bisherige Rechtssystem zum „Prozessrechtssystem“.1209 War das Recht bisher zustandsbezogen, so ist es jetzt „prozessbezogen“. Es schafft nicht den Rah1205 C. Schmitt, LL, S. 11. 1206 Folglich stehen die Begriffe des „Führers“ und der „Führung“ damals im Mittelpunkt. Von „links“ bis „rechts“ ist er Gegenstand der politischen und auch der wissenschaftlichen Diskussion (vgl. Probleme der Demokratie [Schriftenreihe der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und des Instituts für Auswärtige Politik in Hamburg, Bd. 10], Berlin-Grunewald 1931, u. a. mit Beiträgen von C. Schmitt und H. Heller). 1207 C. Schmitt, LL, S. 9. 1208 Ebd. (Hervorhebung bei Schmitt). 1209 J. H. Kaiser, Referat auf dem 50. Dt. Juristentag, in: Materialien des 50. Dt. Juristentags, München 1975, I 10.

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men für eigenverantwortliches Handeln, sondern zwingt zu einem konkreten Handeln. Die Quelle des „gesetzten“ Rechts wird ausgetauscht. Wir können Bezug auf das nehmen, was U.-J. Heuer für den realen Sozialismus herausgefunden hat. Er unterscheidet: a) Gesetzmäßigkeiten, die sich um „Markt“ und „Konkurrenz“ ranken und im „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ zusammengefasst sind und denen im Sozialismus der Boden ihres Wirkens entzogen ist. Juristische Folge: Auch den mit ihnen in Verbindung stehenden klassischen (Rechts-)Gesetzen ist der Boden entzogen. b) Gesetzmäßigkeiten, die sich um das „Produzieren“ ranken. Sie treten jetzt an die Stelle des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“. Sie stehen in Verbindung mit „Direktion“ und „Plan“. Juristisch exekutiert werden sie über die „Aufgabennorm“, deren deutlichste und allgegenwärtige Form das „Plangesetz“ ist. Heuer hebt folgenden Aspekt hervor: „Das bürgerliche Recht scheint äußerlich dem ‚naturgesetzlichen‘ Prozess ferner zu sein als der Staat, da es von diesem erst gesetzt wird. Wenn man die Dinge aber inhaltlich betrachtet, ist offenbar gerade das Umgekehrte der Fall, da die ‚naturgesetzlichen Prozesse‘ eine bestimmte Regelung diktieren, der staatliche Wille im Grunde nur die formale Seite bestimmt.“1210 Er will damit sagen, dass Quelle des bürgerlichen Rechts nicht der Staat ist, sondern: damals der „naturgesetzliche Gesamtprozess“ und jetzt die Gesetzmäßigkeiten des „Produzierens“. Und was er weiter sagen will: „Erkannt“ werden diese Gesetzmäßigkeiten nicht vom Staat, sondern von einer außerhalb gelegenen Größe. Das war damals das Parlament als Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft und ist heute, im realen Sozialismus, die Partei. Nur sie ist zur Erkenntnis der jetzt „regierenden“ Gesetzmäßigkeiten befähigt. Das Recht dient der Durchsetzung ihrer Beschlüsse. Bei ihr ist folglich die Gesetzesinitiative monopolisiert. Dem Staat als ihrem Instrument obliegt es jedoch, das „Erkannte“ in die Form des Gesetzes oder, allgemeiner: in die Form des Rechtssatzes zu kleiden. In der DDR gab es dazu eine Arbeitsteilung zwischen Volkskammer (zuständig für die Gesetze), Ministerrat (zuständig für die „Verordnungen“) und den Ministerien (zuständig für die Anordnungen). Insgesamt aber galt: „Der Rechtsmechanismus kann nur im Rahmen des von 1210 U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., S. 97.

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der Partei ausgehenden Leitungsmechanismus … wirken.“1211 Ganz ähnlich die Situation im „Dritten Reich“. Dort ist „Erkennender“ der „Führer“; das Gesetz ist somit „Führer-Wille“.1212 Aber auch hier wird dieser Wille von der reinen Willkür abgegrenzt, indem er auf die „Wesensgesetze“ des Volkes bzw. auf die „Grundkräfte der Gemeinschaft“1213 zurückgeführt wird. Der irrational gewonnene „Einblick“ in sie wird über das „Setzen“, d. h. über das „In-Form-Bringen“ des Willens rationalisiert. Das ist auch im „Dritten Reich“ Aufgabe des Staates. Der „Gesetzgebungsstaat“ beruht auf einem Gesetzesbegriff, der die materiellinhaltliche und die formelle Seite des Gesetzes in sich vereint. Jetzt aber trennen sich die Wege: Die inhaltliche Seite des Gesetzes wird immer weniger von „Markt“ und „Konkurrenz“ bestimmt, sondern von der „Produktion“. Inhaltlich gesehen, verdrängt der „Plan“ das „Gesetz“. Personell gesehen, verdrängt der „Einzelleiter“ das Parlament. Der jetzige Staat, für Heuer der „sozialistische“, für Schmitt zunächst der „totale“, später der „nationalsozialistische“, setzt jetzt Recht in die Welt, dessen Quellen „Produktion“, „Direktion“ und „Plan“ sind. Dieses Recht ist nicht oder kaum noch Handlungsrahmen für die Normadressaten, büßt also seinen Charakter als subjektives Recht ein. In erster Linie ist es „Weisung“ bzw. „Befehl“ an sie. C. Schmitt argumentiert mit Savigny.1214 Dieser setze seinen „Volksgeist“ bewusst als Rechtsquelle dem kodifizierten Recht in Gestalt des merkantil und absolutistisch geprägten Allgemeinen Landrechts entgegen. Er legitimiere mit diesem den damaligen Paradigmenwechsel von dem unzeitgemäß gewordenen Recht zu einem um „Markt“ und „Konkurrenz“ zentrierten Recht. Er bringe darüber das römische Recht als das Recht der bürgerlichen Gesellschaft auf das Tapet. Tatsächlich ist bei Savigny der „Volksgeist“ das Vehikel, um von einer Qualität „Recht“ zur anderen, von einer Art „Setzung“ zu einer anderen zu gelangen.1215 Das erklärt, dass seine Volksgeistlehre von den führenden NSJuristen ganz überwiegend positiv bewertet wird1216. Er darf deshalb Pate stehen 1211 Ebd., S. 138. 1212 Vgl. K. Larenz, NP, S. 251 f. 1213 Wie E.-R. Huber in zahlreichen Arbeiten formuliert – gut zusammengefasst bei D. Kirschenmann, „Gesetz“ im Staatsrecht und in der Staatsrechtslehre des Nationalsozialismus, Berlin 1970, S. 53 ff. 1214 C. Schmitt, Lage, S. 408 ff. (unter der Zwischenüberschrift „Savigny als Paradigma der ersten Abstandnahme von der gesetzesstaatlichen Legalität“). 1215 Savignys Berufung auf den „Volksgeist“ ist für ihn „die erste bewusste Distanzierung zur Welt der Setzungen (ebd., S. 417). 1216 S. dazu J. Rückert, Das „gesunde Volksempfinden“ – eine Erbschaft Savignys?, in: ZRG (GA) 103 (1986), S. 199 ff. (S. 201).

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bei der jetzigen „Wendung zum totalen Staat“ und der mit ihr unvermeidlich verbundenen „Tendenz zum ‚Plan‘“1217. Beide Male dient der „Volksgeist“ dazu, eine grundsätzliche Wende zu legitimieren. Damals die Abkehr vom absolutistischen, diesmal die Abkehr vom klassisch-bürgerlichen Recht. Indem Savigny das „gesetzte“ Recht ablehnt, lehnt er auch dessen Quelle ab, den absolutistischen Staat. „Das wahre Recht wird nicht gesetzt, sondern entsteht in einer absichtslosen Entwicklung“, interpretiert Schmitt.1218 Diese Entkoppelung von Recht und Staat greift Schmitt auf und kehrt sie gegen den „Parlamentsstaat“. Die Quelle des Rechts liege außerhalb von ihm. Und zwar auch wieder im „Volksgeist“, der jetzt allerdings nicht als Geist der bürgerlichen Gesellschaft, sondern als „Führergeist“ wirksam sei. Dem Staat, jetzt Instrument des Führers, obliegt es, dem Führerwillen die Form des Gesetzes zu geben. Ähnlich im realen Sozialismus der DDR: Auch dort ist der Staat damit betraut, die Parteibeschlüsse in Gesetzesform zu kleiden. Damit, so C. Schmitt, sei der richtige „Abstand zum Legalitäts-Monopol des Gesetzesstaates“ gewonnen.1219 Wir sehen daran, dass die historische Situation, in die Savigny hineingestellt war, sich im 20. Jahrhundert wiederholt. Beide Male eine „Wendung“. Damals die von einem merkantil geprägten Recht zu einem Recht, dessen Basis die „freie Konkurrenz“ ist. Nun eine, die von Letzterem zu einem Recht führt, dessen Quelle die „Produktion“ ist. Zwei miteinander verschränkte Entwicklungen lassen den „Gesetzesstaat“ so in die „Schusslinie“ geraten:

•• „Rechtsstaat“ und „Gesetzesstaat“ werden entkoppelt; ihre frühere Ineinssetzung wird als „unnatürlich und lebensfremd“, als „positivistisch“1220 abgetan und verworfen; •• der Typus des „Maßnahmegesetzes“ kommt auf – ein Gesetzestyp, der zwischen Zustand und Prozess, zwischen Gesetz und Plan, zwischen Norm und Befehl verortet ist und in enger Verbindung mit dem „Betriebsstaat“ steht.

Der „Planstaat“ bezeichnet den logischen – im Jahr 1917 in Russland, 1933 in Deutschland per Revolution Praxis werdenden – Endpunkt der beschriebenen Entwicklung. Enthielt bisher die Norm den dem Mitglied der Gesellschaft eingeräumten Freiraum originären Handelns, so transportiert sie nunmehr den 1217 C. Schmitt, LL, S. 10. 1218 C. Schmitt, Lage, S. 411. 1219 Ebd., S. 412. 1220 M. Fauser, Das Gesetz im Führerstaat, a. a. O., S. 311.

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Befehl. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn C. Schmitt formuliert: „Das Beste in der Welt ist ein Befehl.“ Der „Gesetzesstaat“ hingegen ist ein Staat, der das Recht nicht für sich, sondern für die Mitglieder der Gesellschaft setzt. Rechtsquelle sind die Normadressaten selbst, nicht er. Er ist nur derjenige, auf den die an sich beim Einzelnen liegende Befugnis zur Rechtssetzung delegiert ist. Er schafft lediglich den juristischen Handlungsrahmen für die Mitglieder. Das vom Staat gesetzte Recht ist ihr Recht, nicht das seinige. Mit dem „totalen“ Staat tritt somit ein Staat auf den Plan, der, inhaltlich gesehen, „verstaatlichte Gesellschaft“ ist. In dieser verschrumpfen die vielen Personen zu einer einzigen Person. Dieser mit der Leitung eines Produktionsprozesses befasste Staat ist deshalb „gesetzloser“ Staat, weil er zwar Recht schafft, jedoch Recht für sich, nicht für seine jetzt zum „Glied“ herabgestuften Mitglieder. Aber wie schon ausgeführt: Der „Betriebsstaat“ ist ein idealer Typus. Denn selbstverständlich können die Zustände, wie sie innerhalb eines Betriebes herrschen, nicht eins zu eins auf die Gesellschaft übertragen werden. Es besteht nur eine Tendenz dahin, eine Tendenz, die auch nicht jeden Bereich gleichmäßig erfasst. Weil die gesellschaftlichen Beziehungen, wenn auch nur rudimentär, weiterhin „gesellschaftliche“ bleiben, bleibt es auch bei ihrer Rechtsförmigkeit. Da es somit einen vollständig zum „Betrieb“ gewordenen Staat nicht gibt, bleibt es auch bei dem, was Marx für die Vorstufe zum staats- und rechtsfreien Kommunismus – den Sozialismus – vorhergesagt hat: dass dort der bürgerliche Rechtshorizont noch nicht überschritten werden kann. Unter der Devise „von der Gesellschaft zur Gemeinschaft“ verengt sich auf diesem Weg die bürgerliche Gesellschaft zu einem Staat, der die „Personalität“ seiner Bürger an sich zieht – was sie zu „Gliedern“ herabstuft. Eine vollständig neue Größe entsteht, die in sich Staat und Gesellschaft vereint und im realen Sozialismus ab Anfang der 1970er Jahre die „politische Organisation“ genannt wurde. Aber auch hier geht C. Schmitt voraus. Denn in seiner Schrift „Staat, Bewegung, Volk“ beschreibt er nichts anderes als diese neue „politische Organisation“. Die „Bewegung“, gemeint ist die zur „Partei neuen Typus“1221 gewordene NSDAP, ist jetzt der „politische“ Staat. Ihr untergeordnet ist der Staat als 1221 Er verwendet nicht diesen Ausdruck, aber beschreibt die NSDAP als solche. Sie ist „in keiner Hinsicht ‚Partei‘ im Sinne des überwundenen pluralistischen Parteiensystems“, sondern „staats- und volkstragender Führungskörper“. Von den „üblichen Parteien“ sei sie durch den „Führungsgrundsatz“ getrennt. Sie sei ein „Orden“, und charakteristisch für sie sei die „in sich geschlossene und hierarchisch geführte“ Struktur (C. Schmitt, SBV, S.  13 u. S, 20). Diese Einschätzung deckt sich mit jener S. Neumanns (Die deutschen Parteien, a. a. O., S. 110), der die „absolutistischen Integrationsparteien“, zu denen er die faschistische Partei Mussolinis, die

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Exekutivorgan, dem jetzt auch die Umsetzung des „Führer“-Willens in Gesetze obliegt. Dieses politische Gebilde kann „Rechtsstaat“ genannt werden. Man kann das aber auch bleiben lassen. C. Schmitt neigt zu Letzterem. Aus seiner dezisionistischen Sicht heraus hält er den Begriff „Rechtsstaat“ zunächst mit Auftreten des „totalen“ Staates für erledigt. Da jeder Staat „Rechtsstaat“ sei, sei der Begriff zum aussagelosen Allgemeinplatz geworden. Das jetzige Recht ist der Befehl; der jetzige Rechtsstaat ist mit „Befehlsstaat“ richtiger benannt. In „Legalität und Legitimität“ äußert er sich näher dazu: „Das Wort ‚Rechtsstaat‘ kann so viel Verschiedenes bedeuten wie das Wort ‚Recht‘ selbst und außerdem noch so viel Verschiedenes wie die mit dem Wort ‚Staat‘ angedeuteten Organisationen. Es gibt einen feudalen, einen ständischen, einen bürgerlichen, einen nationalen, einen sozialen, ferner einen naturrechtlichen, vernunftrechtlichen, historisch-rechtlichen Rechtsstaat.“1222 Größtenteils gehören sie bereits der Geschichte an. Auch der bürgerliche Rechtsstaat, der „Gesetzesstaat“, hat bereits seine Wirklichkeit verloren und ist „unwahr“ geworden. „Wahre“, d. h. von den aktuellen ökonomischen und sozialen Verhältnissen gedeckte Rechtsstaaten bestehen bei Erscheinen der Schrift nur im faschistischen Italien und in der Sowjetunion. Auf deutschen Boden kommt ab 1933 der nationalsozialistische Staat hinzu. Und ein weiterer entsteht – seiner Logik folgend – 1949 in Gestalt der DDR. Die BRD hingegen wäre aus seiner Sicht eher ein solcher, der in seiner Gestalt zu sehr die Fehler und Mängel „Weimars“ wiederholt, somit nicht auf der Höhe der Zeit ist und deshalb, als bereits „unwahr“ gewordener, jedenfalls kein „besserer“ Rechtsstaat sein kann als die beiden vorgenannten. Es ist ein „schönes Wort“1223, dieser „Rechtsstaat“. Begreiflich daher, „dass Propagandisten und Advokaten aller Art das Wort gern für sich in Anspruch nehmen, um den Gegner als Feind des Rechtsstaates zu diffamieren“1224. Ein Verfahren, das in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten weidlich gepflegt wird. Jeder von ihnen behauptet, der „wahre“ deutsche Rechtsstaat zu sein. So erklärt, nachdem klar ist, dass man mit dem Recht noch eine ganze Zeit leben muss, Anfang der 1960er Jahre W. Ulbricht die DDR zum „deutschen demokratischen Rechtsstaat“1225 und ermuntert die Rechtswissenschaftler, die DDR KPdSU, die NSDAP zählt, wie folgt charakterisiert: „Sie alle tragen ordensmäßigen Charakter. Eindeutige personelle Führung, hierarchischer Aufbau, straffe Durchorganisierung ….“ 1222 C. Schmitt, LL, S. 19. 1223 R. Meister, Das Rechtsstaatsproblem in der westdeutschen Gegenwart, Berlin 1966, S. 278. 1224 C. Schmitt, LL, S. 19. 1225 W. Ulbricht, Rede im Zusammenhang des Rechtspflegeerlasses auf der 27. Sitzung des Staatsrats der DDR am 04.04.1963, Schriftenreihe des Staatsrats der DDR, Nr. 2/1963, S. 12.

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mit diesem „schönen Wort“ zu schmücken. Insofern wiederholt sich, was nach der „Machtergreifung“ geschah: Auch Hitler gestattet damals seinen Getreuen, dieses „schöne Wort“ zur näheren Kennzeichnung des Großdeutschen Reiches zu nutzen. Und C. Schmitt, der ja jetzt von seinem Dezisionismus abrückt zugunsten eines Denkens in „konkreten Ordnungen“, steckt zurück und steht nun jenen Kollegen1226 bei, die im „Führerstaat“ den „wahren“, den „nationalsozialistischen deutschen Rechtsstaat“ sehen. Das ist insofern auch zutreffender, weil der „totale“ Staat bei aller Anstrengung nicht so „total“ sein kann, dass er – wie Larenz in anderem Zusammenhang formuliert – ganz des Rechts „entraten“ könnte. Er kann aus vielen objektiven Gründen heraus nicht so total sein, dass er tatsächlich ein Betrieb ist. Er muss daher notwendigerweise seine Befehle in die Form des Rechts kleiden. Und Hegel? – Mit ihm hat die beschriebene Entwicklung nichts zu tun. Er gebraucht das zu seiner Zeit aufkommende Wort „Rechtsstaat“ nicht. Das allein besagt allerdings wenig. Aufschlussreich ist, dass er sagt: Das Recht hat sein Dasein im Gesetz. „Was Recht ist, erhält erst damit, dass es zum Gesetze wird, nicht nur die Form seiner Allgemeinheit, sondern seine wahrhafte Bestimmtheit.“1227 „Sittliches“ Recht ist für ihn „gesetztes“ Recht, ist „Gesetz“ – wobei „Reich der Gesetze“ und „gesetztes“ Recht in untrennbarer Verbindung stehen. Spräche Hegel von einem „Gesetzesstaat“, wäre dieser also nicht ohne Weiteres mit dem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat unserer Tage gleichzusetzen. Schon deshalb nicht, weil das „Gesetzgeben“ bei ihm einem Staat und einer Legislative obliegt, in der beide Naturen repräsentiert sind. Das „gesetzte“ Recht ist bei ihm also nicht nur das Recht für eine Natur, nämlich die „produzierte“, sondern bringt die Interessen beider Naturen zum Ausdruck. Sein Gesetz ist eng mit der „Sittlichkeit“ verknüpft. Er sagt: Das sittliche Recht – das „Gesetz“ – ist „durch den Gedanken für das Bewusstsein bestimmt“1228, was heißen soll: Es ist vermittelt durch den „objektiven Geist“. Versuchen wir eine Zusammenfassung: Die Welt des „Gesetzesstaates“ ist aufgebrochen, ist im Wandel befindlich, sobald und soweit die „freie Konkurrenz“ ihr Leben aushaucht. Wie schon in der davor liegenden Periode tritt nun wieder ein Recht auf, in dem Rechtsnorm 1226 Zum Beispiel O. Koellreutter (Der nationale Rechtsstaat, in: DJZ 1933, S. 517), der „den Wandel der deutschen Staatsidee vom bürgerlich-liberalen Rechtsstaat zum nationalen Rechtsstaat und damit von einem führer- und autoritätslosen Staate zu einem bewussten Führer- und autoritativen Staate“ eingeleitet sieht. 1227 § 211/Anm. Rph. 1228 § 211 Rph.

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und Rechtsform nicht mehr getrennt sind, sondern ineinander liegen. Von daher versteht sich, dass jetzt das Recht dieser früheren Periode in den Fokus der Wissenschaft gerät, dass zum Beispiel die bislang negative Beurteilung des Allgemeinen Landrechts und seiner fast 20.000 Paragrafen einer positiven weicht.1229 Bedurfte der ökonomische Prozess in der Phase der freien Konkurrenz des einheitlichen Privatrechts und des Gesetzesstaates, waren diese seine adäquaten Ausdrucksformen, so erheischt die jetzige Ökonomie ein Recht, welches Doppelcharakter trägt: Es muss taugen zur konkreten, flexiblen Einflussnahme auf Prozesse, Strukturen, Kollektive, Individuen. Es muss Leitungsinstrument sein. Es muss „Zirkulation“ und „Produktion“ in sich tragen, es muss Instrument zur „bewussten Gestaltung“ sein. Das Gesetz muss „Maßnahmegesetz“ bzw. „Aufgabennorm“ werden. Der Vertrag muss „Plancharakter“ annehmen. Insofern dies aber geschieht, werden sie aus rechtsstaatlicher Sicht zu „Nicht-Recht“. Andererseits: Soweit sie ihren ursprünglichen Charakter bewahren, bleiben sie echtes Recht. Beide dürfen nicht auf bloße operative Leitung, auf „Befehl“ reduziert werden – worauf U.-J. Heuer angesichts einer dies negierenden Praxis in der DDR unablässig, aber erfolglos hingewiesen hat. Vergleicht man unter diesen Gesichtspunkten die Paragrafenzahl des Allgemeinen Landrechts und jene des Bürgerlichen Gesetzbuchs miteinander, so zeigt sich bereits in diesen Zahlen der Unterschied. Das Allgemeine Landrecht ist „gemischtes“ Recht, es enthält „Produktion“ und „Zirkulation“, Weisung und Vertrag, Unterordnung und Gleichordnung. Es ist „konkret“ – und daher zahlreich. Das Bürgerliche Gesetzbuch indes bezieht sich auf die Zeit der ausgeprägten Trennung beider Bereiche. Die Zirkulation kann daher für sich normiert werden, die Regelung folgt den nur dort geltenden Prinzipien, kann sich auf die Verallgemeinerung massenhaft gleichartiger (Austausch-)Beziehungen beschränken – was gestattet, die Paragrafenzahl drastisch zu reduzieren. Das Bürgerliche Gesetzbuch macht heute wieder nur einen winzigen Teil des auf Produktion und Zirkulation bezogenen Rechts aus. Sicher liefe es auf weit mehr als nur 20.000 Paragrafen hinaus, würde man zum Beispiel die Materie „Wirtschaftsrecht“ in einem Gesetzbuch unterbringen wollen.

1229 Vgl. H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, in: ZRG (GA) 56 (1936), S. 202 ff.

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V.4.3 Das Gesetz als „Plan und Wille“ Gut geeignet, den Unterschied, ja den Gegensatz von „Plan“ und „Gesetz“ zu erläutern, ist das, was der junge Marx bezogen auf die preußische Zensurinstruktion vom 24.12.1841 schreibt: „Die Zensurmaßregel ist kein Gesetz. Das Pressgesetz ist keine Maßregel. Im Pressgesetz straft die Freiheit. Im Zensurgesetz wird die Freiheit bestraft. … Das Pressgesetz bestraft den Missbrauch der Freiheit. Das Zensurgesetz bestraft die Freiheit als einen Missbrauch. … Das Zensurgesetz hat nur die Form eines Gesetzes. Das Pressgesetz ist ein wirkliches Gesetz.“1230 Bezogen auf die „Marktfreiheit“ könnte die Aussage des Zitats so lauten: Das „Plangesetz“ ist gegen den Markt gerichtet; es behandelt den Markt als etwas, das es zu bekämpfen gilt. … Das Plangesetz hat nur die Form eines Gesetzes. Das wirkliche Gesetz ist das um den „Markt“ zentrierte und ihn beschützende Gesetz. „Nur die Form eines Gesetzes“. Das führt uns zur Unterscheidung in materielle und formelle Gesetze. Sie kommt im Zusammenhang mit dem Budgetgesetz auf. Das Budget, aus der Sicht Labands nichts weiter als eine „Rechnung“ bzw. ein „Voranschlag“ mit Bindungswirkung nur nach innen, für die Verwaltung1231, wird dem ungeliebten, als „absolutistisch“ apostrophierten Staat seitens der bürgerlichen Gesellschaft als Gesetz aufgezwungen, obwohl es mit den eigentlichen Gesetzen nichts zu tun hat. Kein Kriterium des „echten“ Gesetzes trifft darauf zu. Sein einziger Zweck ist, den Staat finanziell an die Kandare zu nehmen. Aber mit dem „organisierten Kapitalismus“ kommt auch die Zeit, wo das Budget nicht nur der Finanzierung des Staatsapparates und der Staatsausgaben im engsten Sinne dient, sondern wo der Staatseingriff in den Marktmechanismus notwendig und gewünscht wird, um der zunehmend krisenhaften Entwicklung entgegenzutreten. Die „Subvention als Planmittel“1232 wird entdeckt. Außerdem ist dem Staat immer mehr die Produktion der Rahmenbedingungen privaten Produzierens auferlegt – eine zunehmend teure Angelegenheit. Und jetzt zeigt sich der Staatshaushalt in einem ganz anderen, neuen Licht: als „Plan“. Was im 1230 MEW 1, S. 57 (Hervorhebung bei Marx). 1231 Zitiert bei H. Heller (Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, a. a. O., S 128), der sich kritisch mit Laband auseinandersetzt. Laband wiederum formuliert nicht anders als Hegel, bei dem es heißt: „Das Budget aber ist seinem Begriffe nach kein Gesetz, denn es wiederholt sich alle Jahre, und die Gewalt, die es zu machen hat, ist Regierungsgewalt.“ (VPhG, S. 532.) 1232 L. Fröhler, Das Wirtschaftsrecht als Instrument der Wirtschaftspolitik, Wien, New York 1969, S. 135.

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Ersten Weltkrieg bereits unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen erprobt wird, bricht sich in der Weltwirtschaftskrise der Endzwanzigerjahre weltweit Bahn und wird von Keynes wissenschaftlich auf den Punkt gebracht: Ankurbelung der Produktion über die Staatsverschuldung. Der Sinn des Budgetgesetzes wird umgedreht; er liegt jetzt in der Ermächtigung des Staates, Schulden aufzunehmen. Paradebeispiel ist für C. Schmitt das Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914, mit dem diese Umkehrung beginnt. Wir kennen das Ergebnis. Es besteht für die BRD des Jahres 2012 darin, dass einem Etat von ca. 320 Milliarden Euro eine Verschuldung von ca. 2 Billionen Euro gegenübersteht. Mit anderen Worten: Mittels dieser Art „Planung“ haben wir es geschafft, die Zukunft „etatmäßig“ um mehr als sechs Jahre vorwegzunehmen. Und zwar durch parasitären Verbrauch auf Kosten der Natur – wobei es der Natur gleichgültig ist, ob ihr Verbrauch und ihre Zerstörung dem Zweck dienen, Waffen zu produzieren oder um die Glücksverheißung der bürgerlichen Gesellschaft einzulösen. Der Plan kommt also als „formelles“ Gesetz daher. Das Budgetgesetz zum Beispiel zeigt sich als ein dickes Bündel von „Maßnahmen“; es ist die „Generalmaßnahme“. In der DDR nahm eine ähnlich umfassende Stellung der jährliche Volkswirtschaftsplan ein. Beide sind durchaus und in nicht geringem Maße voneinander unterschieden. Der Plan des Ostens über den „direkten“, der des Westens über den „indirekten“ Eingriff exekutiert. Es sollte darüber aber nicht ihr Gemeinsames vergessen werden: Instrument der Planung zu sein. Deshalb gilt hier wie dort: Das „Plangesetz ist etwas anderes als ein Gesetz im eigentlichen Sinne“1233. „Plan“ und „Betriebsstaat“ bedingen sich; Ersterer ist die Handlungsform des Letzteren. Da der Plan nicht als nackter Befehl auftreten kann1234, muss er die Form des Gesetzes für sich nutzen. Dieses erleidet dabei einen Inhaltswandel. Es „verwandelt sich in ein Mittel der Planung, der Verwaltungsakt in einen Lenkungsakt“1235. „Plan“ und „Plangesetz“ verweisen insoweit auf „eine dritte Handlungsform der öffentlichen Gewalt“.1236 Mit den „Maßnahmegesetzen“ 1233 J. H. Kaiser, Referat …, a. a. O., S. I 12. 1234 In der DDR fehlte dem Plan allerdings durchgängig die Qualität echten Rechts. Das gilt auch für das Ende der 1960er Jahre aufkommende Planungsrecht als Teil des Wirtschaftsrechts. Es war und blieb, wie Heuer immer wieder – wenn auch verklausuliert – kritisiert, nur eine mit „Recht“ überschriebene, als Rechtsnorm verkleidete staatliche Planentscheidung, die als Befehl über ihre Empfänger herabkam (vgl. U.-J. Heuer, Kritische Bemerkungen zur Konzeption des Planungsrechts, in: WR 1972, S. 80 ff.). 1235 C. Schmitt, Lage, S. 407. 1236 Ebd.

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tritt somit ein völlig neuer Typ von Recht ins Leben. Ein Recht, in dem die „Trennung von Plan und Norm“ aufgehoben ist.1237 Parallel dazu laufen Gesetze, die auf den „naturgesetzlichen Prozess“ Bezug nehmen, wie das Bürgerliche Gesetzbuch, zunehmend leer. „Maßnahmegesetze“ bzw. „Aufgabennormen“ transportieren einen Befehl. Das unterscheidet sie von den echten Gesetzen, die lediglich einen Rahmen für eigenverantwortliches Handeln abstecken. Sie sind jedoch keine „reinrassigen“ Befehle, sondern verknüpfen in unterschiedlichem Maße, in unterschiedlicher „Mischung“ beide Elemente: den Befehl und den Freiraum für selbstständiges Handeln. Aber der Befehl ist das entscheidende und tendenziell zunehmende Element. Von ihm geht jene „Motorisierung des Gesetzes“ aus, auf die C. Schmitt hinweist. Zum Beispiel durch Ermächtigung erst der Regierung zum Erlass von Durchführungsverordnungen, später durch die Ermächtigung einzelner Minister zum Erlass von Anordnungen. Die Abkehr vom „Gesetzesstaat“ äußert sich also nicht in einer Abnahme der im Gesetzblatt veröffentlichten Gesetze, sondern, im Gegenteil, in deren Zunahme. Für das „Dritte Reich“ konstatiert M. Fauser: „Der Führerstaat hat … den Gesetzgebungsstaat abgelöst. … Gleichwohl schwellen seit 1933 die Bände der Gesetzblätter und die Gesetzgebung arbeitet mit ungeheurem Nachdruck.“1238 Eine ähnliche Erfahrung konnte man in der DDR machen. Und auch dort zeigt sich – jedenfalls in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz – der Befund, dass das Gesetzblatt nicht dünner, sondern dicker wird. Kommen wir auf das obige Marx-Zitat zurück: Das eine ist das wirkliche Gesetz. Das andere ist das auf den Kopf gestellte Gesetz; der „Gegenbegriff des Rechtsgesetzes“, wie K. Ballerstedt formuliert.1239 Das eine Gesetz ist abgeleitet von „Markt“ und „Konkurrenz“, das andere von „Produktion“ und „Befehl“. Wie es E. Forsthoff1240 sieht: Das eine Gesetz ist „constitutio“. Das andere ist „actio“. Ersteres kennzeichnet den „Gesetzesstaat“, Letzteres den „Verwaltungsstaat“. Mithin liege ihnen eine „verschiedenartige Legitimität“ zugrunde. „Indem die Maßnahme an die Stelle des Gesetzes tritt …, wechselt der Staat die Grundlage seiner Legitimität.“1241 Nur das Äußere 1237 C. Schmitt, Aufgabe und Notwendigkeit, a. a. O., S. 184. 1238 M. Fauser, Das Gesetz im Führerstaat, a. a. O., S. 131. 1239 K. Ballerstedt, Über wirtschaftliche Maßnahmegesetze, in: FS für Schmidt-Rimpler, Karlsruhe 1957, S. 376. 1240 E. Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, 1955, S. 221. 1241 K. Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, Berlin 1963, S. 115 f.

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eint sie. Der Qualität nach stehen sie sich entgegen; materiell ist das eine für den jungen Marx „Recht“, das andere „Unrecht“.1242 Vom Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914, mit dem das „Maßnahmegesetz“ in die deutsche Geschichte eintritt, ist bekannt, dass es der Ausgangspunkt von insgesamt 825 Bundesratsverordnungen geworden ist. In der Summe ergeben diese wiederum das, was oft als „deutsches Kriegsplanungsrecht“, auch als „Kriegssozialismus“ bezeichnet wird. Was damals und im Nachhinein als kriegsbedingte „Abweichung vom rechten Weg“ interpretiert wurde, war jedoch der „Beginn einer neuen Zeit“ und hätte in dieser Bedeutung erkannt werden können.1243 Doch erkannt oder unerkannt: Im Artikel 48 WRV erhält die Ermächtigung nach dem Krieg einen festen Platz in der Verfassung.1244 K. Ballerstedt charakterisiert die wirtschaftlichen Maßnahmegesetze wie folgt: Als solche „werden hier … Gesetze betrachtet, bei denen die Schaffung einer Rechtsnorm dergestalt in den Dienst eines wirtschaftspolitischen Zieles gestellt wird, dass sie als Mittel zu dem betreffenden Zweck verwendet wird. Das Gesetz selbst wird damit zur Maßnahme.“1245 Im Osten werden sie unter den Stichworten „Aufgabe“ und „Aufgabennorm“ geführt. In der DDR ist es H. Such, der herausarbeitet, dass damit ein neuer Typus von „Recht“ entsteht. Ein Recht, das „weder als öffentliches noch als privates Recht erfasst werden könne“1246, weil es aus den Tiefen der „Produktion“ nach oben und nach außen dringt. Es ist ein Recht, das seine „Materialität“ aus der „Direktion“ bezieht. Hieraus ergibt sich die eigentümliche „Doppeldeutigkeit“, die Ballerstedt ihm bescheinigt.1247 Das Maßnahmegesetz als eine Kreuzung aus „Rechtsgesetz“ und „Befehl“ kann, so E. Forsthoff, „nicht von den formalen Merkmalen des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs, sondern nur vom Begriff der Maßnahme aus präzisiert werden“1248. Nicht entscheidend sei daher, wer es erlässt: ein Bundestag, ein „Führer“ oder – wie in der DDR – eine von der „Führung“ beauftragte „Volkskammer“. Nicht die Form, sondern der Inhalt sagt uns, welche Art Gesetz wir vor uns haben.

1242 MEW 1, S. 58. 1243 M. Stolleis, Geschichte …, a. a. O., S. 59. 1244 Vgl. C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Ders., VA, S. 108; s. dort auch S. 347 f. = Anmerkung zu „Legalität und Legitimität“; vgl. dazu weiterhin: C. Schmitt, Lage, S. 404. 1245 K. Ballerstedt, Über wirtschaftliche Maßnahmegesetze, a. a. O., S. 373. 1246 H. Kietz, Heinz Such – Kommunist und Gelehrter neuen Typs, in: NJ 1977, S. 100. 1247 K. Ballerstedt, Über wirtschaftliche Maßnahmegesetze, a. a. O., S. 379. 1248 E. Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, a. a. O., S. 224.

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„Direktion“ und „Plan“ erobern also das Gesetz und verwandeln es – gewiss nicht von heute auf morgen, aber auf lange Sicht – in ein Gehäuse, in dem Befehle transportiert, mit dem „Aufgaben“ an die Normadressaten herangetragen werden. Schmittschüler J. H. Kaiser fasst die Veränderung, die die Gesetze erleiden, sobald sie „Instrumente der Planverwirklichung“ werden, in die Worte: „Die Gesetzesform und der aus ihr fließende Anspruch auf Befolgung treten zurück hinter die instrumentale Funktion des Gesetzes.“ Was auch heißt: Der „Eigenwert“ des Rechts wird ersetzt durch seine jetzige „Instrumentalität“.1249 Das traditionelle Recht, das auf die Anarchie, das auf Konkurrenz und Markt Bezug nehmende Gesetzesrecht, auch dessen Unterscheidung in öffentliches und privates Recht macht einem Recht Platz, das von der „Direktion“ und vom „Plan“ abgeleitet ist. Das Gesetz als Regelung eines „Zustandes“ und als Rahmen eigenverantwortlichen Handelns und Entscheidens der Normadressaten in diesem Zustand wird vom Sockel gestoßen. Quelle des neuen Rechts sind nicht mehr die vielen Individuen, aus denen sich eine „bürgerliche Gesellschaft“ zusammensetzt. Seine Quelle ist vielmehr das einzige Individuum, welches nach Liquidierung der vielen ökonomischen Individuen übrig bleibt: der Staat. Die jetzigen Gesetze sind im Dritten Reich „Plan und Wille“1250 des Führers; im realen Sozialismus: der Führung. Allerdings erreicht diese Entwicklung im Dritten Reich längst nicht den Stand, der im realen Sozialismus aufgrund des Staatseigentums von vornherein bzw. schon nach wenigen Jahren erreicht ist. Alle, die sich, wie C. Schmitt, auf die Seite des „Plans“ stellen, kämpfen folglich gegen das vom „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ abstammende Gesetz. In der DDR, die mit dem „Plan“ auf die Welt kommt, die aus Sicht C. Schmitts perfekter „Planstaat“ ist und das echte Gesetz im Bereich der Wirtschaft weitgehend durch „Plangesetze“ bzw. „Aufgabennormen“ ersetzt hat, ist es ein wenig anders. Dort wird, gedeckt durch die Reformpolitik der Sechzigerjahre, im Rahmen des sich damals konstituierenden „Wirtschaftsrechts“ ein schüchterner und am Ende erfolgloser Versuch unternommen, den Einfluss des Plans zugunsten des (echten!) Gesetzes zurückzudrängen.1251 Obwohl ökonomisch 1249 J. H. Kaiser, Referat …, a. a. O., S. 12. 1250 C. Schmitt, Die Rechtswissenschaft im Führerstaat, a. a. O., S. 439. Gleichlautend formuliert C. Rothenberger, Die Rechtsquellen im neuen Staat, in: DR 1936, S. 22. 1251 Auf U.-J. Heuer, der hierfür steht, wurde bereits verwiesen. Er müht sich unter diesem Gesichtspunkt vergeblich, das zentralistisch-planwirtschaftliche Gefüge ein wenig in Richtung Eigenverantwortung, damit in Richtung „Markt“ und „Gesetz“ aufzulockern. In einer Vielzahl von Arbeiten (z. B. in: U.-J. Heuer, IX. Parteitag der SED und Wirtschaftsrechtswissenschaft, in: WR 1976, S. 121 ff., wo er sich gegen die „jetzt wieder erfolgte Gleichsetzung von … Auf-

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tödlich, wenn der Ausführende zum reinen Befehlsempfänger degradiert wird, ist die starre Aufteilung in

•• Entscheiden durch die „Leitungsorgane“ und •• Ausführen durch die Betriebe bald wiederhergestellt. Die „Aufgabennorm“ reduziert den Handlungs- und Entscheidungsrahmen ihrer Adressaten gegen null. Sie übermittelt ihnen eine getroffene Entscheidung zur Ausführung. Sie auferlegt ihnen eine „Aufgabe“. Kern des Gesetzes ist also eine „Weisung“. Heuers Anliegen ist es daher, diese den real erreichten Vergesellschaftungsgrad weit übersteigende, alle Eigeninitiative der wirtschaftenden Einheiten erstickende, ja ausschließende Situation zugunsten der Normadressaten zu verändern, sprich: die Rechtsnorm wenigstens in dem bescheidenen Maße wiederherzustellen, wie noch Warenproduktion, „sozialistische Warenproduktion“ stattfindet, wie noch ein Markt vorhanden ist. Während Schmitt also den „Plan-und-Wille“-Charakter des Rechts vor dem Hintergrund und zulasten des ja im Kern unangetastet gebliebenen Privateigentums, des noch vorhandenen Marktes, der noch vorhandenen Konkurrenz betont, strebt in der DDR U.-J. Heuer vom „anderen Ende“ her eine partielle Zurücknahme des „Planstaates“ an zugunsten größerer Eigenverantwortung der produzierenden Einheiten.1252 Während Schmitt die Spezifik des Rechts zugunsten des Befehls aufzulösen sucht, geht es Heuer, konfrontiert mit den ökonomischen Folgen, darum, ein Mindestmaß jener „Spezifik des Rechts“ zurückzugewinnen.1253 Im Grundsatz aber sind sie sich einig; sie treffen sich gewissermaßen in der Mitte. Was beide – C. Schmitt wie auch U.-J. Heuer – zu sagen haben, ist, dass Gesetzesrecht „Zustandsrecht“ ist. Es bezieht sich auf die Zustände „freie Konkurrenz“, „Markt“, Wirken des Wertgesetzes. Solange es sie gab, war laut C. gabennormen mit Rechtsnormen“, in der die „Spezifik des Rechts“ untergehe [ebd., S. 122]), gebetsmühlenhaft, warnt er davor, eine „Identifizierung von Rechtsnorm und Rechtsform“ zuzulassen. Hinter dieser – außerordentlich abstrakt und verklausuliert gehaltenen – Formulierung verbirgt sich das zentrale Problem der sozialistischen Ökonomie und des sozialistischen Rechts, speziell des Wirtschaftsrechts: die Zerstörung des eigenverantwortlichen Handelns. 1252 S.  dazu folgende Arbeiten Heuers: Kritische Bemerkungen …, a.  a.  O.; Intensivierung und Rolle des Rechts, in: StuR 1980, S. 495 ff.; Plan und Recht, in: WR 1979, S. 154 ff. (zusammen mit G. Pflicke). 1253 U.-J. Heuer, IX. Parteitag der SED …, a. a. O., S. 122.

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Schmitt das „Zeitalter der Neutralisierungen“ angesagt. Der Staat konnte und musste sich heraushalten, konnte gegenüber der Wirtschaft neutral sein. Der „Zustand“ regulierte sich selbst. Aufgabe des Staates war nur, ihn zu bewahren – was ihm den Namen „Nachtwächterstaat“ eintrug. „Planrecht“ hingegen ist prozessbezogenes Recht1254; es bezieht sich auf das Produzieren und dessen Leitung und Planung. Ein Gesetz, mit dem „Planung“ betrieben wird, ist also ein sicherer Hinweis darauf, dass der Staat sich zum „Betriebsstaat“ entwickelt. Das Gesetz vollzieht also den Wandel von der „freien Konkurrenz“ zum „organisierten“ Kapitalismus mit. Es verliert seinen früheren Bezugspunkt und gewinnt einen neuen. „Planrecht“ ist der jetzt herrschende Rechtstyp. Er gehört zu einem entsprechenden Staat. Jedenfalls passt er nicht in die „Funktionsmodi des Rechtsstaats“.1255 Er signalisiert das Aus für den neutralen „Nachtwächterstaat“ und den Eintritt des „aktiven“, des auf den Prozess Einfluss nehmenden Staates in die Geschichte. Wie schon gezeigt wurde: Traditionelles Gesetz und „Plan“ vertragen sich nicht. Ersteres exekutiert den „Markt“, weshalb es den aus der Unternehmung nach außen dringenden Prinzipien, insbesondere der „Planmäßigkeit“, entgegensteht. Es ist Bollwerk gegen die (selbst-)zerstörerische Maßlosigkeit, die sich mit Plan und Produktion verbinden. Es ist „planfeindlich“, wie mit C. Schmitt1256 zusammenfassend formuliert werden kann. Da der „Plan“ mit der „Willkür“-Freiheit in Verbindung steht, ist das ein Standpunkt, der – wir sahen es bereits – mit dem Hegels übereinstimmt. Für ihn wäre es die (aus dem Unternehmen) nach außen gedrungene „Willkür“, die gegen das „Gesetz“ und das darin zum Ausdruck kommende „Sittliche“ ankämpft. Und die Bundesrepublik Deutschland? – Die Gesetzesflut gehört auch zu ihrem Markenzeichen; und längst hat sich hierfür der Begriff „Gesetzesinflationismus“ eingebürgert. Es hilft nicht, dass das Verfassungsgericht das „Maßnahmegesetz“ verbietet, weil ja damit nicht auch der zugrunde liegende ökonomische Prozess verboten ist. Vorsicht also damit, die zunehmende Menge an Gesetzen als Ausweitung des Gesetzesstaates anzusehen. Sie ist Ausdruck 1254 Und als solches „auf Vollzug hin angelegt“ (E. Forsthoff, Über Mittel und Methoden moderner Planung, in: Planung III, Baden-Baden 1969, S. 23); K. Hopt (Rechtssoziologische und rechtsinformatorische Aspekte im Wirtschaftsrecht, Betriebsberater 1972, S. 1019): „Recht in Aktion und Reaktion gegenüber dem System Wirtschaft“. 1255 Ebd.; L. Fröhler (Das Wirtschaftsrecht …, a. a. O., S. 147): Der Plan und sein Recht stehen „außerhalb der rechtsstaatlichen Formtypik“. 1256 C. Schmitt, Rechtswissenschaft im Führerstaat, in: ZADR 2 (1935), S. 439; ders., Aufgabe und Notwendigkeit des deutschen Rechtsstandes, in: DR 1936, S. 184.

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seines Niedergangs. Sie sagt aus, dass das Hauptmerkmal des Gesetzes: auf Dauer angelegte Regelung zu sein, mehr und mehr verloren geht. Die „Halbwertszeit“ der Gesetze verkürzt sich stetig; das Gesetz verliert sein Wesen; es gerät in den Sog der „Dynamomaschine“1257. Ob „Führerstaat“, ob „Diktatur des Proletariats“ oder ob heutiger „Gesetzesstaat“: Gemeinsam ist ihnen die inflationäre Zunahme und abnehmende Lebensdauer der in Kraft gesetzten Gesetze sowie deren inhaltliche Auszehrung durch die „Maßnahme“. Wie die Beispiele „Drittes Reich“ und DDR zeigen, geht es bei der Abkehr von Gesetz und Gesetzesstaat nicht primär um die Abkehr vom „juristischen“ Gesetz. Ein Mangel an solchen Gesetzen bestand dort ebenso wenig, wie er heute besteht. Aber diese sind, in den Fällen „Drittes Reich“ und DDR mehr, im Fall BRD unbestreitbar weniger, vom „Reich der Gesetze“ (Hegel) bzw. vom „naturgesetzlichen Prozess“ (Marx) abgekoppelt. Insofern verkörpern sie „gesetzloses“ Recht. Es sind Gesetze, die nicht ihnen, sondern der „Willkür“ verpflichtet sind – und zwar unabhängig davon, wie sie zustande kommen: als Parlamentsbeschluss, durch „Regierungsgesetzgebung“, durch Parteibeschluss, durch Führerbefehl. Denn nicht die Form des Zustandekommens gibt Aufschluss, sondern eine Analyse des Inhalts. So bedeutsam es daher ist, wenn bzw. dass das Gesetz vom Parlamentarismus abgekoppelt und einer Führung oder einem Führer überantwortet wird: Der eigentliche Kern des Problems besteht in der Aushöhlung des Gesetzesbegriffs durch die bezeichneten ökonomischen Entwicklungen. Ob ein Gesetz „Recht“ oder „Unrecht“ verkörpert, hängt also weniger davon ab, wie bzw. durch wen es zustande kommt, sondern in welchem Bezug es zum „Reich der Gesetze“ (Hegel) bzw. zu jenem „naturgesetzlichen Gesamtprozess“ (Marx) steht. Ist eine Gesellschaft um die „Produktion“ zentriert – und das trifft nicht nur auf das „Dritte Reich“ und auf die Staaten des realen Sozialismus zu –, weist das darauf hin, dass ihr Recht den Bezug zur Sittlichkeit verloren hat. Wollte man „unsittliches Recht“ als „Unrecht“ ansehen, so läge die Aussage nahe, dass alles heutige Recht mindestens zum „Unrecht“ tendiert. Es ginge also, wenn man den Vergleich DDR – BRD anstellt, nur darum, anhand der Nähe oder Ferne zur Sittlichkeit das Maß an „Unrecht“ zu quantifizieren, welches bereits erreicht ist. Dabei mag sich zeigen, dass das Recht der DDR dem „Unrecht“ näherstand als jenes der BRD. Jedenfalls ergibt die Unterscheidung in „Recht“ und „Unrecht“ nur in Bezug auf das „Sittliche“ einen Sinn. Zu beachten ist bei alldem auch, dass „Unrecht“ ohnehin ein 1257 C. Schmitt, RK, S. 22.

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problematischer, schiefer, weil ideologisch geprägter Begriff ist. Er sollte deshalb mit Vorsicht gebraucht werden.

V.4.4 Die Wandlung des Vertragsbegriffs (Der „Plan-“ und „Befehlscharakter“ des Vertrages) Die Wirkungen des „organisierten“ Kapitalismus auf die juristischen Leitbilder eines Kapitalismus der „freien Konkurrenz“ schildert E. Rosenstock 1926 wie folgt: „Die Lehren von der Willenserklärung, vom Prozess, von der sogenannten Vertragsfreiheit werden wohl nicht aufrechtzuerhalten sein, wenn doch alle Personen und Sachen in eine unentrinnbare einheitliche Kraftwirtschaft als Mächte und Kräfte einzubetten sind.“ Gab es auch bisher schon die Ausnahme des nicht äquivalenten, des auf dem „unfreien“ Willen beruhenden Vertrages, so jetzt dies: „Überall würde sich das Verhältnis von Regel und Ausnahme nun umdrehen.“1258 Die Momente der Nicht-Äquivalenz und des unfreien Willens stechen jetzt hervor – wobei selbstverständlich erhebliche Graduierungen auftreten. Nach wie vor wird es Verträge „alten“ Typs geben. Aber vielerorts verschafft sich das Neue so starke Geltung, dass die Figur des Vertrages fast vollständig durch jene des „Befehls“ verdrängt ist. Neun Jahre später bestätigt K. Larenz diesen von Rosenstock erhobenen Befund. Ja, die Masse der zum Abschluss kommenden Verträge beruht nicht auf dem „freien Willen“. Eine „Verkehrung der Vertragsfreiheit in ihr Gegenteil“ 1259 habe um sich gegriffen. Sie gehe so weit, dass sie nicht mehr verharmlosend unter dem Gesichtspunkt der „Ausnahme“, des „Missbrauchs“ gesehen werden könne. Sondern: als Abkehr vom bisherigen Prinzip. Er schlussfolgert daraus, dass der erhobene Befund eine objektiv gegebene „Einschränkung des Anwendungsbereichs des Vertragsbegriffs“ anzeigt1260, die nicht ignoriert, aber auch nicht beseitigt werden könne. Ein „neues Rechtsprinzip“ werde darin sichtbar.1261 Dieses dürfe nicht den Vertragspartnern überlassen bleiben. Vielmehr müsse der Staat sich des Prinzips annehmen. Jedoch nicht wie der frühere, der darin einen „Missbrauch“ sah, den er (wenig erfolgreich) einzudämmen suchte. Und der neue Staat hat ja schon darauf reagiert! „Aber was ursprünglich nichts als ein Mittel war, um einem Missbrauch der dabei grundsätzlich 1258 E. Rosenstock, Vom Industrierecht, a. a. O., S. 103. 1259 K. Larenz, WV, S. 489. 1260 Vgl. K. Larenz, NP, S. 98. 1261 K. Larenz, WV, S. 489.

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als bestehend angenommenen Vertragsfreiheit entgegenzutreten, das ist unter der nationalsozialistischen Führung, am deutlichsten im Arbeitsrecht und in der Regelung der Marktordnung, zu einem Mittel sachgerechter Ordnung des Gemeinschaftslebens geworden, das die Vertragsfreiheit selbst als Grundprinzip und Ausgangspunkt der Privatrechtsordnung überwindet.“1262 Der Staat hat also dem „Wildwuchs“ ein Ende gesetzt, sich des „neuen Rechtsprinzips“ angenommen, es sich zu eigen gemacht und in die Praxis überführt. Damit ist es legalisiert und monopolisiert; es ist jetzt durch die Gemeinschafts-„Ordnung“ vorgegeben. Die „Umkehrung“ der Vertragsfreiheit ist zum „Gestaltungsmittel der völkischen Ordnung“ geworden. Und wie gesagt: Es steht ohnehin nicht im „Willen“ des Einzelnen, ob er Verträge schließt. Er tut es aus objektiven, außerhalb seines „Willens“ liegenden Gründen. Der individuelle Vertrag kann sich daher nur „als Konkretion und Weiterverwirklichung der völkischen Ordnung darstellen“1263. Da diese in Gesetzen niedergelegt ist, „liegt auf der Hand, dass damit auch der bisher vertretene starre Gegensatz von Gesetz und objektivem Recht einerseits und Parteivereinbarung andererseits dahinfällt“1264. Was früher subjektives Recht war, ist jetzt also Bestandteil des objektiven Rechts. Noch richtiger ist es, zu sagen: Das subjektive Recht „Vertragsfreiheit“ ist enteignet, ist „verstaatlicht“ worden und scheint nun objektives Recht zu sein. Denn es ist ja so: Gesetz und Vertrag bilden eine dialektische Einheit. Sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Das Gesetz bedingt den Vertrag und umgekehrt. Der „Gesetzesstaat“ ist zugleich „Vertragsstaat“. Ja, er verweist darauf, dass der Vertrag die tonangebende Seite innerhalb dieser Einheit ist. Das Gesetz ist dagegen die aus dem Vertragsprinzip folgende, also nachgeordnete Größe. Die Beschränkung, die es enthält, ergibt sich aus dem „Reich der Gesetze“ und ist also keine willkürliche Beschränkung, sondern eine, die den Vertrag und die Vertragsfreiheit vor Selbstzerstörung schützt. Jetzt aber kehrt sich dieses Verhältnis um. Der Vertrag nimmt im Betriebsstaat „nicht die erste, sondern die zweite Stelle ein“1265. Seine frühere Funktion wird weitgehend vom Gesetz übernommen; er ergänzt und konkretisiert dieses also nur noch, er füllt es aus. So herabgestuft, bleibt er auch jetzt erhalten. Er bleibt „ein Rechtsgebilde, dessen 1262 Ebd. 1263 Ebd.; Larenz knüpft hier an die Konzeption J. Binders an, für den der Vertrag ebenfalls nur die „Konkretion“ des Willens der „Gesamtgemeinschaft“ ist (vgl. dazu: K. Larenz, Rechtswahrer und Philosoph. Zum Tode Julius Binders, a. a. O., S. 13). 1264 K. Larenz, WV, S. 490. 1265 Ebd., S. 491.

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auch der Nationalsozialismus seinem eigenen Wesen nach niemals ganz wird entraten können“, wie Larenz formuliert. Der Vertrag, direkt aus der bürgerlichen Gesellschaft entspringend und vor dem Gesetz in die Welt tretend, wird durch das Gesetz entthront. Dieses tritt an seine Stelle, übernimmt seine Funktion. Klar ist damit aber auch, dass das Gesetz damit eine neue Qualität gewinnt: Es ist Recht für den Staat und gegen seine Glieder. Es räumt dem Staat subjektive Rechte ein, nicht, wie früher, den Normadressaten. Was stattfindet, was von Larenz beschrieben wird, ist also eine „Verstaatlichung“ der Privatautonomie. Sie wird mit der Ungerechtigkeit begründet, die darin besteht, dass sie vom wirtschaftlich Mächtigeren zum Nachteil der wirtschaftlich Schwächeren ausgeübt wird. Und natürlich auch damit, dass es ein Zurück zum ökonomischen Ausgangszustand nicht gibt; die früheren, allesamt gescheiterten Versuche, mit „Eingriffen“ ihren Missbrauch zu verhindern, belegen das. Die Lösung ist also: Sie wird allen entzogen und den „Gliedern“, soweit wie nötig, gestattet. Und nun zeigt sich für W. Siebert auch das „wahre Wesen der Freiwilligkeit“: Es besteht „gerade in der Eingliederung in eine Ordnung, deren Inhalt und Wirkungen auf einer höheren Ebene als der des Parteiwillens liegen“1266 Was Larenz für das „Dritte Reich“ formuliert und referiert, steht jenem verblüffend nahe, was in der DDR M. Posch Anfang der 1960er Jahre seiner „Neugestaltung des Kaufrechts“1267 zugrunde legt. Insbesondere die Idee, im individuellen Vertrag lediglich die „Konkretion“ eines bereits in der übergreifenden „Ordnung“ zum Ausdruck gebrachten Gesamtwillens zu sehen, hat es ihm angetan und wird unter den spezifischen Gesichtspunkten einer „sozialistischen Gesellschaft“ thematisiert. Posch schreibt: „Der sozialistische Vertrag ist keine Institution, die erst die gesellschaftliche Beziehung herstellt. … Das Rechtsverhältnis wird … nicht erst durch einen Vertrag ins Leben gerufen.“ Dieser konkretisiert die bereits vorhandene Einordnung des Einzelnen in die sozialistische Gesellschaft nur und schafft so „das besondere Rechtsverhältnis“.1268 Die wesentlichen, den Bürger betreffenden Dinge und Entscheidungen werden für ihn außerhalb des Rechts geregelt bzw. getroffen. Das sei „kein Grund zur Sorge“, sondern sei Folge einer objektiven Gesetzmäßigkeit, die den „elementaren

1266 Zitiert bei K. Larenz, NP, S. 95. 1267 M. Posch, Neugestaltung des Kaufrechts, Berlin 1961. 1268 M. Posch, Der Vertrag im Zivilrecht, in: StuR 1960, S. 1780 u. S. 1782.

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… Charakter“ des Vertrages beseitigt. Ohnehin entfällt nur die „leere oder leer gewordene Form“1269. Damit ist die Position von K. Larenz nahezu wiederholt. Im Übrigen spricht die Faktenlage für sich: Die DDR knüpft fast nahtlos an den 1933 ff. geschaffenen Rechtszustand an. Sie übernimmt die „Verstaatlichung“ der Privatautonomie, einschließlich einer Vielzahl sie begleitender und durchsetzender rechtlicher Regelungen, vom „Dritten Reich“. Die SMADBefehle der Jahre 1945–1949 treten hinzu und schließen die noch vorhandenen Lücken. Da die „Verstaatlichung“ nun als „Vergesellschaftung“ ausgegeben wird, kann sie nunmehr mit dem Attribut „sozialistisch“ geadelt bzw. (um-) ideologisiert werden. Das „objektiv Gegebene“ wird „sozialisiert“. Nur dieses zählt – als „objektives Erfordernis“, als „objektives Interesse“ etc. Das „Subjektive“, hier: der „freie Wille“, wird zur absolut nachrangigen Größe. Die „Leugnung der Willensfreiheit durch Hobbes“1270 findet eine Neuauflage und wird überdies praktisch vollzogen. Aus der Sicht C. Schmitts: ein längst fälliger Schritt, der den bisherigen „parzellierten Totalitarismus“ in seine Endform überführt: in den Totalitarismus des „totalen Staates“. Was geschieht nun, wenn – wie beschrieben – die Verträge „ihre Qualität als rechtliche Widerspiegelung der ‚Autonomie einer sittlichen Persönlichkeit‘“ verlieren1271? Was passiert, wenn sich das objektive Recht – Recht, welches vom Staat für die Gesellschaft und deren Mitglieder geschaffen wird – in das subjektive Recht des Staates verkehrt? Lassen wir Hegel, der die angesprochene Problematik im § 82 seiner „Rechtsphilosophie“ unter der Rubrik „Vertrag und Unrecht“ behandelt, zu Wort kommen. Er schildert zunächst den „Normalzustand“, dass dem Vertrag „ein Gemeinsames der Willkür und besonderen Willens“ zugrunde liegt und er deshalb „Recht“ ist. Der Vertrag, der von diesem Modell abweicht, weil ihm nur ein „besonderer Wille“ zugrunde liegt, ist hingegen „Unrecht“. Die „Gegenseitigkeit“ ist in einem solchen Vertrag zum Schein herabgesetzt und macht aus ihm etwas anderes, nämlich die „Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen Willens, als in welchem es ein besonderes Recht wird“1272. Dieser 1269 Ebd., S. 1786 ff. 1270 E. Rosenstock, Vom Industrierecht, a. a. O., S. 108. 1271 R. Schröder, Das ZGB der DDR von 1976, verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetzbuchs der Nationalsozialisten von 1942, in: J. Eckert/H. Hattenhauer (Hg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR, Goldbach 1995, S. 42. 1272 Hervorhebung bei Hegel.

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„Unrechts“-Charakter wird nicht dadurch beseitigt, dass der „besondere“ Wille generalisiert bzw. „verstaatlicht“ wird. Verallgemeinert wird nur die Willkür. Ganz ähnlich sieht das auch J.-U. Heuer. Er wird mir als derjenige in Erinnerung bleiben, der, beginnend Anfang der 1970er Jahre – es sind jene Jahre, als in der DDR die Abkehr von der Reformpolitik der Sechzigerjahre einsetzt –, in fast allen seinen Arbeiten davor warnte, es nicht zu einer „Identifizierung von Rechtsnorm und Rechtsform“ kommen zu lassen. Denn genau dahin tendierte die Wirtschaftspolitik, auf die sich diese verklausulierte Warnung bezog: auf den Entzug der ohnehin nur wenigen Rechte, die den Betrieben der DDR in den Jahren zuvor eingeräumt worden waren und deren (Rück-)Übertragung auf den Staat.1273 Die Rechtsnorm wurde – wieder – zum Befehl. Und auf der anderen Seite die Rechtsform: Was wurde aus ihr? Für den Wirtschaftsvertrag war längst herausgearbeitet, dass er „Plancharakter“ hat und (dezentraler) Teil der Planung ist. Und dies nicht nur verstanden als ein reines Nacheinander von Plan und Vertrag. Dieser Plancharakter war Thema zahlreicher Dissertationen, wobei es den Doktoranden oblag, in ihm die „sozialistische Qualität“ des Vertrages zu sehen und ihn als Ausfluss des „demokratischen Zentralismus“ und Beleg einer Teilnahme der Betriebe an der gesamtgesellschaftlichen Planung darzustellen. Da „Planung“ eine Form von „Leitung“ ist1274, kann man die Frage auch so stellen: In welchem Verhältnis stehen zentrale Leitung der Wirtschaft über die Norm und dezentrale Leitung über den Vertrag? Aber unabhängig davon, was der einzelne Doktorand in seiner Arbeit dazu niederschrieb, geschah in der Praxis genau das, wovor Heuer gebetsmühlenartig warnte: Rechtsnorm und Rechtsform identifizierten sich. Die Rechtsnorm gab vor, was Vertragsinhalt zu werden 1273 Was aber den Marxisten Heuer von Hegel trennt, ist die unterschiedliche Beurteilung des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“. Für Hegel ist er der Schutz vor dem Überhandnehmen der „Willkür“. Für Marx (und somit auch für Heuer) aber steht er der „Bewusstheit“ und der aus ihr folgenden „Planmäßigkeit“ im Wege. Heuer steckt somit in einer Sackgasse. Seine Kritik wird nicht grundsätzlich genug, weil er den Standpunkt nicht verlassen kann, dass die an die Stelle des „naturgesetzlichen Gesamtprozesses“ tretenden Gesetze der „Produktion“ die „besseren“ sind. Also begründet er einen Systemmangel (wie üblich) mit unzureichender Leitungstätigkeit sowie mit dem berühmt-berüchtigten „Subjektivismus“. 1274 Bis Ende der 1960er Jahre war in der DDR die Formel „Planung und Leitung“ (der Volkswirtschaft) gebräuchlich. Dann wurde erkannt, was Hans Freyer (Herrschaft und Planung, Hamburg 1933) bereits 1933 wusste und was im „Dritten Reich“ auch so praktiziert wurde: „Leitung“ ist der Oberbegriff. Das „Planen“ ist nur eine Form der „Leitung“. Die Formel wurde daher umgestellt und lautete nun „Leitung und Planung“.

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hatte. Das angebliche Miteinander beider war auch in den besten Jahren der DDR kaum mehr als ein Hintereinander. Der in den Endsechzigern ein wenig ausgeweitete Handlungsspielraum der produzierenden Einheiten verengte sich sehr bald wieder gegen null. Die Norm als Handlungsrahmen wurde beseitigt. Sie wurde zum juristischen „Transportmittel“ des Befehls – oder, was milder klingt: der „Weisung“. Der Befehl beendet, inhaltlich gesehen, das Dasein sowohl des Gesetzes als auch des Vertrages. Im Befehl hört das Recht auf, zu existieren. „Identifizierung“ bedeutet folglich den vollzogenen „Umschlag“ vom „Entweder“ zum „Oder“. Vom Vertrag zum Befehl. Das Ende ist bekannt.

V.5 „Frontwechsel bei der Betrachtung der Einzelpersönlichkeit“: Die „Rechtsstellung“ Die „Rechtsstellung“ ist ein Schlüsselbegriff zweier deutscher Systeme, die – mit unterschiedlichen Argumenten und bei unterschiedlichen Schwerpunkten – die bürgerliche Gesellschaft verwerfen und sie ersetzen durch eine („völkische“ hier, „sozialistische“ dort) Gemeinschaft. Und schlagartig wird alles anders! Alles ist jetzt vom anderen Pol her zu sehen. Vom „Endsieg der Planwirtschaft“, umfassender: vom „Endsieg der Gemeinschaft“. Ein „Frontwechsel“1275 findet statt: „Person“ und „subjektives Recht“ werden ersetzt durch „Glied“ und „Rechtsstellung“. Vorausgesetzt, eine solche Rückverwandlung der „unorganischen“ bürgerlichen Gesellschaft in eine „organische“ Gemeinschaft wäre überhaupt möglich, ergäbe sich folgende prinzipielle Änderung: Eine „atomistische“ würde einer „organischen“, eine offene Struktur einer geschlossenen weichen, die im Falle des Nationalsozialismus (der Ideologie nach!) durch „Blut und Boden“, im Falle des „realen Sozialismus“ durch eine „Assoziation freier Produzenten“ zusammengeführt und zusammengehalten wird. Gilt für den Organismus die Aussage, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, sind Letztere nicht „Atome“ bzw. Totalitäten für sich, sondern unselbstständige Glieder mit je spezifischer Aufgabenstellung. Die Binnenstruktur der Gemeinschaft unterscheidet sich also prinzipiell von der der Gesellschaft. Jede Beziehung zwischen den Gliedern führt über das „Ganze“, wird dort vermittelt und durch dieses charakterisiert. Ihr Zweck ist durch das „Ganze“ vorgegeben und begrenzt. 1275 W. Siebert, Gemeinschaft und bürgerliches Recht, in: DR 1934, S. 303.

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Mit Hegel hat das jedoch nichts zu tun. Erinnern wir uns seiner Position: ohne Eigentum keine Person. Beide stehen im „Verhältnis von Substantialität und Akzidentalität“1276. Und umgekehrt: Das Eigentum bedarf der Person; es ist daher „notwendig, dass ich rechtliche Person bin“1277. Damit ist das Grundprinzip der „atomistischen“, auf Arbeitsteilung und Warenproduktion gestützten bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet. Über die Person und über das Recht tauscht sich die als „Ware“ hergestellte Sache gegen andere Waren aus. Die „Person“ ist dazu mit den erforderlichen subjektiven Rechten ausgestattet. Diese Ausstattung ist gleich; der Ausgangspunkt „freies, volles Eigentum“1278 führt also zu einer „Person“, die in jedem Einzelfall über das gleiche Quantum an Rechten verfügt. Beide, Eigentum und „Person“, sind unverzichtbar und unaufhebbar; sie gehören zum „Schicksal“. Die Person ist „absolutes Recht“ und nicht „bloß eine Befugnis oder Erlaubnis“.1279 Aus ihrer Einheit ergibt sich, dass Eingriffe in das Eigentum Angriffe auf die Person sind. Das zeigt sich deutlich im realen Sozialismus der DDR: Die dortige Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln und dessen Übertragung auf den Staat beseitigt zugleich die Person „Unternehmung“. Damit nicht genug: Die als Aufhebung des Ausbeutungsverhältnisses gefeierte Beseitigung des „Waren“-Charakters der (Lohn-) Arbeit enteignet auch die sogenannte „natürliche“ Person, deren Substanz, wie wir schon sahen, das Arbeitsvermögen ist. Den Personen, allen voran: den Betrieben, kommt daher in der DDR ein anderer und minderer Status zu – ausgedrückt im Begriff der „Rechtsstellung“. So wenig Hegel die bürgerliche Gesellschaft als Ergebnis der bloßen Umwandlung des feudalen Gemeinwesens sieht, so wenig ergibt sich aus seiner Philosophie die Möglichkeit ihrer „Rückwandlung“ in Gemeinschaft.1280 Entwicklung ist nicht einfach umkehrbar – jedenfalls nicht ohne Willkür und Zwang. Versuche, es zu tun, zeitigen lediglich „unwahre“ Ergebnisse, denen keine Dauer beschieden ist. Wir Deutschen haben es zweimal erlebt: Über kurz oder lang scheitern sie. Es bleibt bei der bürgerlichen Gesellschaft. Der Weg zur „Gemeinschaft“ ist versperrt. Dessen nationalsozialistische, 1276 § 150 Enz. 1277 § 29/e. N. Rph (Hervorhebung bei Hegel). 1278 § 62 Rph. 1279 § 29/e. N. Rph. 1280 Den Bemühungen eines Larenz, die „völkische“ Gemeinschaft mit der hegelschen Philosophie zu verklären, stehen damals ganz ähnliche Bemühungen zur Seite, sie unter Missbrauch des von F. Tönnies aufgestellten Theorems von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ theoretisch zu fundieren. Dazu wurde an anderer Stelle – s. Kapitel IV – bereits vorgetragen.

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besonders rückwärtsorientierte und irrationale Variante ist daher das Letzte, was mit Hegel zu legitimieren wäre. Aber auch die realsozialistische Variante kann sich nicht auf Hegel stützen. Beide Male entstehen Pseudo-Gemeinschaften, die die negativen Seiten der bürgerlichen Gesellschaft potenzieren, besonders auch, soweit diese sich gegen die „organische“ Natur richten. Trotzdem: Beide Versuche, es zu tun, sind Reaktionsweisen auf Entwicklungen der bürgerlichen Gesellschaft, die auftreten, wenn diese „sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet“ und „über sich hinausgetrieben“ wird.1281 Stichwort: „organisierter Kapitalismus“. Dieser ist durch das Bestreben charakterisiert, die Korrektive der bürgerlichen Gesellschaft außer Kraft zu setzen. Die bürgerliche Gesellschaft als „abstrakt Allgemeines“ wird zugunsten der „Besonderheit“, die sie in sich birgt, deformiert; sie wird in Richtung auf den „Betrieb“ umgeformt; der (neutrale) „Not- und Verstandesstaat“ wird Schritt für Schritt zum (totalen) Staat, zum „Betriebsstaat“. Das kollektive Produzieren im Unternehmen wird zur Basis der jetzigen „Gemeinschaft“ gemacht. Letztere ist also eine nach Art des „Betriebes“ umgeformte bzw. deformierte bürgerliche Gesellschaft. Mit ihr ist der Boden der „Person“ und des „subjektiven Rechts“ verlassen. Denn wer hier agiert, gewissermaßen im Bauch des „Leviathan“, ist nicht „Person“, sondern „Glied“ oder ist, was gefälliger klingt und deshalb den Vorzug vor „Glied“ erhält, „Persönlichkeit“. Wie „Volk“, wie „Demokratie“ enthält der Begriff „Gemeinschaft“ viel Unbestimmtes. Er lässt „stets etwas Irrationales mitschwingen“.1282 Im „Dritten Reich“ mit seiner Betonung von „Rasse“ und „Blut“ wird Gemeinschaft „biologisch gedeutet“:1283 Nicht die „vom Geistigen her bestimmte Teilhaberschaft“ an der völkischen Gemeinschaft, die auch dem „Fremdrassigen“ möglich sei, präge den Begriff jetzt, sondern die „Gleichrassigkeit“.1284 Die Gemeinschaft des „realen Sozialismus“ hingegen wird durch das „sozialistische Produktions- und Eigentumsverhältnis“ und das „sozialistische Bewusstsein“ begründet. Das ist ein bedeutsamer Unterschied; der Unterschied von rational und irrational. Aber das sind nur unterschiedliche ideologische Mäntel, die einem Gemeinsamen übergehängt sind: dem „gesellschaftlich“ gewordenen Betriebsinneren. Hier wie dort wird die offene Struktur der bürgerlichen Gesellschaft durch eine geschlossene Struktur ersetzt. 1281 §§ 246 u. 248 Rph. 1282 A. Pfennig, Gemeinschaft und Staatswissenschaft, a. a. O., S. 300. 1283 H. Gerber, Volk und Staat, in: ZDK 3 (1937), S. 24. 1284 A. Pfennig, Gemeinschaft und Staatswissenschaft, a. a. O., S. 313.

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„Rechtsstellung“. Der Begriff liegt in der Luft. K. Larenz thematisiert ihn als Erster. Er wird rasch aufgegriffen, ergänzt und verfeinert. Er ist bald einer der Schlüsselbegriffe des „Dritten Reiches“. Und er ist es dann wieder, sogar in noch höherem Maße, im „realen Sozialismus“. Das verweist auf den gemeinsamen Hintergrund. Allerdings bleibt in der DDR unerwähnt, dass der Begriff im „Dritten Reich“ aufkommt und dort Furore macht. Und unerwähnt bleibt auch, dass K. Larenz sich als sein Erfinder rühmt. Diese Herkunft wird weitgehend im Dunkeln gelassen.1285 Für den nicht Eingeweihten lag daher die Annahme nahe, der Begriff sei, wie vieles andere, ein Import aus der Sowjetunion. Wie wird es gewesen sein? Der Begriff könnte von Hitlerdeutschland aus den Weg in die Sowjetunion gefunden haben. Die sowjetische Rechtswissenschaft griff durchaus auf Ergebnisse des „Feindes“ zurück, wenn diese der „sozialistischen Sache“ dienlich waren.1286 Man denke an den von A. W. Wenediktow erarbeiteten Begriff der „operativen Verwaltung“1287, der Entwicklungen des Eigentumsrechts im „organisierten Kapitalismus“ auf das sowjetische Staatseigentum überträgt. Denkbar ist aber auch, dass er dort, angesichts einer prinzipiell ähnlichen, nämlich „gemeinschaftsmäßigen“ gesellschaftlichen Wirklichkeit, parallel „erfunden“ worden ist. Denn „Rechtsstellung“ ist schließlich ein Begriff, der in jedem totalen Staat ganz oben steht, der sich sozusagen aus dessen Natur ergibt. Wie auch immer. In der DDR-Literatur wirkt er eigenartig leblos und spielt dort bis in die 1960er Jahre hinein keine Rolle. Keine Theorie, kein Wissenschaftsstreit rankt sich um ihn. Er ist in der Welt – und das ist gut so. Er wird dringend gebraucht und wird daher stillschweigend übernommen. Anfang der 1960er Jahre greift ihn G. Haney auf und macht ihn zum Gegenstand seiner Habilitationsschrift.1288 Eine Leistung dieser Arbeit kann wie folgt umschrieben werden: der Austausch der bisherigen, „völkisch“ 1285 Das lag nicht an der „Literaturlage“. Larenz und seine Schriften waren in den Fakultätsbibliotheken vorhanden und waren auch zugänglich, jedenfalls für Wissenschaftler. 1286 S. E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre …, a. a. O., S. 6 u. S. 37. 1287 A.  W. Wenediktow, Das staatliche sozialistische Eigentumsrecht, in: SW (GR) 1948, H. 3, S. 3 ff. 1288 G. Haney, Sozialistisches Recht und Persönlichkeit, Berlin 1967. Um die Duplizität der Ereignisse, die darin liegt, dass die „Rechtsstellung“ eine Figur des „nationalen“ wie des „realen“ Sozialismus ist und gleichzeitig mit beiden ins Leben tritt, nicht sichtbar werden zu lassen, geht er so vor: Er unterstellt eine „kapitalistische Rechtsstellung“, der er eine „sozialistische Rechtsstellung“ gegenüberstellt. Damit ist das zentrale Problem: die Verwandtschaft mit dem „Dritten Reich“, umschifft. Zu Larenz, E.-R. Huber, Maunz, E. Wolf, Siebert nimmt er nur Stellung, um sie als Vertreter einer besonders reaktionären Variante der Begründung dieser „kapitalistischen“ Rechtsstellung (Stichwort: „Gliedstellung“) vorzustellen (vgl. ebd., S. 264 ff.).

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orientierten Begründung des Begriffs durch K. Larenz gegen die in den Jahren nach 1956 erarbeiteten Ergebnisse der sowjetischen Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse der DDR. Aus einem spezifisch nationalsozialistischen wurde auf diese Weise auch in der DDR ein spezifisch realsozialistischer Begriff. Beide Male – 1933 ff. und 1956 ff. – wird als charakteristisch für die „Rechtsstellung“ hervorgehoben: die „Verschiedenheit der Rechtszuteilung und damit der Pflichtbelastung“1289 hier, der „ungleiche Grad der Möglichkeit, Rechte zu besitzen“1290, dort. Überhaupt: der Bezug zur „Pflicht“. Die „Rechtsstellung“ ist ihrem Wesen nach eine „Pflichtenstellung“. Nur insofern die Erfüllung der Pflichten Rechte erforderlich macht, werden diese dem Glied übertragen. Diese aus der Pflicht erwachsenden Rechte sind es, die die „Rechtsstellung“ charakterisieren.1291 Da „Person“ und „subjektives Recht“ aber vom Einzelnen sowie von seinen Rechten ausgehen, ist damit der Ausgangspunkt auf den Kopf gestellt. Kritisiert wird also hier und dort, die Rechtsstellung einseitig nur von den Rechten her zu sehen. Denn das „führt unvermeidlich zu einer verzerrten Vorstellung vom Rechtsstatus des Sowjetbürgers …. Um dies zu vermeiden, darf man bei der Klassifizierung nicht die Rechte von den Pflichten trennen“.1292 „Rechtstellung“ ist das Synonym für „Gliedstellung“. Letztere war für O. v. Gierke, den Verfechter einer organismischen Staatsauffassung, einer der „Grundbegriffe des Staatsrechts“. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass diese staatsrechtliche „Gliedstellung“ die zivilrechtliche Regelung der „Person“ nicht berührt. Beide qualitativ verschiedenen Ebenen, für ihn eine „fundamentale und erschöpfende Einteilung“1293, existieren vielmehr nebeneinander. „Denn beide betrachten die Persönlichkeit von einer entgegengesetzten Seite ihres Wesens.“ 1289 E. Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, in: ARSP 1935, S. 350. S. auch K. Larenz, NP, S. 106, der dort die „Rechtsstellung“ als „Recht und Pflicht vereinigenden“ Begriff definiert. 1290 L. D. Wojewodin, Theoretische Fragen der Rechtsstellung der Persönlichkeit im sowjetischen Staat des gesamten Volkes, in: SW 1962, S. 747. 1291 Vgl. ebd., S. 750. 1292 Ebd. Auch G. Haney gewinnt „folgendes Resultat: Die Rechtsstellung … ist das Recht und die Pflicht, den Sozialismus … bewusst mitzugestalten.“ (Sozialistisches Recht …, a.  a.  O., S. 258 [Hervorhebung bei Haney]); ähnlich W. Siebert (Wandlungen im bürgerlichen Recht seit 1933, in: DR 1944/45, S.  6): „Die Einheit von Persönlichkeit und Gemeinschaft findet … ihren klarsten rechtlichen Ausdruck in der Einheit von Recht und Pflicht, von Macht und Verantwortung.“ 1293 O. v. Gierke, Die Grundbegriffe …, a. a. O., S. 108 (u. S. 114 ff.).

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Das Zivilrecht sieht sie unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit, das Staatsrecht hingegen unter dem der „Abstufungen der Mitgliedschaft“.1294 Wenn also jetzt die „Person“ aufgegeben und durch die (Glied-)„Persönlichkeit“ ersetzt wird, dann bedeutet das, dass das „Fundamentalprinzip“ der modernen Welt, die Teilung in Staat und Gesellschaft, damit auch: die Teilung in öffentliches und privates Recht, fallen gelassen wird. „Gemeinschaft“ und „Gliedpersönlichkeit“ treten an die Stelle von „bürgerlicher Gesellschaft“ und „Person“. „Rechtsstellung“ ist also der Gegenbegriff zu „Person“ und „subjektivem Recht“. Das wird in der Literatur des „Dritten Reiches“ deutlicher als in jener der DDR. Aber damals wurde schließlich auch „deutsch“ geredet und geschrieben; man war sich sicher, endgültig, jedenfalls für die nächsten tausend Jahre, gesiegt zu haben. In der DDR musste hingegen zu jeder Zeit mit Rücksicht auf den Klassengegner sowie auf die jüngere deutsche Vergangenheit formuliert werden. „Rechtsstellung“ bedeutet Abkehr von der Gleichheit und Bejahung dessen, was „dem Liberalismus [ein] so unerträgliche[r] Gedanke“ ist: der rechtlichen Ungleichheit.1295 Auch dies zeigt, dass sich der Begriff nicht auf Hegel stützen kann, sondern diesen verfälscht. Das wird deutlich, wenn K. Larenz in einer längeren Fußnote seines Aufsatzes „Rechtsperson und subjektives Recht“ auf das „abstrakte Recht“ und die dort abgehandelte „Person“ zu sprechen kommt. Das sei jener Teil der „Rechtsphilosophie“, der durch die nachfolgenden Teile „aufgehoben“ werde, weil dort die abstrakte Person der „konkreten Gliedperson“ weichen müsse.1296 Wie an anderer Stelle bereits gezeigt: Das ist falsch. Hegels Denkweg führt von der „begriffenen“ Person des „abstrakten Rechts“ zur „gestalteten“ Person der bürgerlichen Gesellschaft. E. Rosenstock schrieb 1926: „Der wirtschaftlich ohnmächtige Mensch ist nicht Person. … Eine Person, die tun muss, nicht auch unterlassen kann, widerspricht sich selbst, denn die Person hat einen freien Wirkungskreis.“1297 Von daher folgerichtig, dass die „Person“ und das mit ihr verbundene subjektive Recht nach beiden „Revolutionen“ vom Sockel gestürzt und durch „Glied“ und „Rechtsstellung“ ersetzt wird. Einzige Person ist jetzt der bzw. dieser Staat. Die weiteren ehemals existierenden Personen sind reduziert auf die „Gliedstellung“. Zehn Jahre nach E. Rosenstock schreibt E.-R. Huber: „Der Begriff der ‚Rechtsstellung‘ meint nichts anderes als die gliedhafte Stellung, die der Volksgenosse 1294 Ebd., S. 109 u. S. 121. 1295 E. Wolf, Das Rechtsideal …, a. a. O., S. 352. 1296 K. Larenz, RsR, S. 229, Fußnote 8. 1297 E. Rosenstock, Vom Industrierecht, a. a. O., S. 92.

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in der konkreten Ordnung und damit im Recht inne hat.“1298 Sie umreißt „den Wirkungsraum“, den das „Glied“ „nach seinen Anlagen und Kräften, nach seiner Einsatzbereitschaft und nach seinen Leistungen verdient“.1299 Und an anderer Stelle: Sie ist „keine bloße Rechtsbeziehung unter Einzelnen“, sondern erhält „Sinn und Richtung“ von der Gemeinschaft.1300 Denn die Pflicht dem „Ganzen“ gegenüber ist ihr zentrales Element. Woraus sich weiter ergibt, dass mit ihr der Kernbegriff des alten Rechts, das subjektive Recht, überwunden wird.1301 Weil das „Glied“ Pflichten hat, muss es Rechte haben. Deswegen ist es auch jetzt rechtsfähig. Aber selbstverständlich ist es das in anderer Weise und in geringerem Maße als das „Ganze“. Es hat die Rechtsfähigkeit, die seiner tatsächlichen Bedeutung für das Ganze, seiner Stellung in ihm entspricht. Der Bauer hat eine andere als der Produktionsarbeiter, der Intellektuelle eine andere als der Unternehmer usw. Das eine „Glied“ steht über dem anderen, woraus für das übergeordnete „Glied“ ein Mehr an Rechten erwächst. Jedem „Glied“ sind also konkrete Rechte und Pflichten zugeordnet. Jedes „Glied“ ist konkret eingeordnet und deshalb unterschiedlich rechtsfähig. Im DDR-Lehrbuch zur Rechtstheorie wird aus dem Russischen wie folgt zitiert: „Die Rechtsstellung ist die Gesamtheit der Rechte und Pflichten, die der sozialistische Staat für jeden Bürger festlegt und gewährleistet. Sie ist konzentrierter und allgemeiner Ausdruck der Möglichkeit des Menschen, in der sozialistischen Gesellschaft seine schöpferischen Kräfte allseitig zu entfalten. Sie hat in der sozialistischen Staatsbürgerschaft ihre Grundlage.“1302 Das hat Konsequenzen für die Gliederung des Rechts. Die auffälligste und allgemeinste: Die Gliederung in öffentliches und privates Recht fällt fort. Das ist den „Rechtswahrern“ des „Dritten Reiches“ sehr viel schneller klar als jenen der jungen DDR, die erst durch W. Ulbricht darüber belehrt werden mussten. Es gibt nunmehr „nur ein Recht“.1303 Dieses ist Ausfluss der „Direktion; alles Recht ist im weitesten Sinne „Direktionsrecht“. Es scheint öffentliches Recht zu sein. In Wirklichkeit aber ist es, weil es ja von der unternehmensinternen „Direktion“ abstammt, radikal „vereinseitigtes“ Privatrecht. Mit dem traditionellen öffentlichen Recht hat es nur das Subordinationsprinzip gemeinsam. Da es nur noch ein Recht gibt, bringt 1298 E.-R. Huber, Die Rechtsstellung des Volksgenossen, in: ZgStW 96 (1936), S. 446. 1299 E.-R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, a. a. O., S. 365. 1300 E.-R. Huber, Die Rechtsstellung der Volksgenossen, a. a. O., S. 447. 1301 Ebd., S. 444. 1302 Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, a. a. O., S. 255. 1303 W. Ulbricht, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland, in: StuR 1958, S. 342.

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die „Rechtsstellung“ beide Male auch das „Ende des subjektiven öffentlichen Rechts“1304. Mit der Folge – auch in der DDR –, dass es zwar weiterhin eine Verwaltung gibt, jedoch kein Verwaltungsrecht. Für W. Siebert ist Ausgangspunkt nicht die Frage, „was der Einzelne zur Erhaltung seiner Individualsphäre verlangen kann, sondern … was der Gemeinschaftsgedanke verlangt, was der Gemeinschaftsgedanke dem Einzelnen gestattet, welchen Umfang der Rechte die Gemeinschaft dem Einzelnen zubilligt“1305. Das wird in der Sowjetunion (und folglich auch in der DDR) ganz ähnlich gesehen, wie das nachfolgende Zitat aus dem Lehrbuch „Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie“ zeigt: „Die Rechtsstellung des Bürgers im sozialistischen Staat ist in erster Linie auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten, auf die Erschließung des Reichtums der gesellschaftlichen Beziehungen für den einzelnen gerichtet. Die Rechtsstellung des Bürgers im Sozialismus ist somit nicht als gesetzlich geregelter Raum für den einzelnen in einem individualistischen, staatsfreien Sine zu begreifen.“1306 Eigentlich vollkommen logisch: Denkt man das „Ganze“ als „Person“, so ergibt sich daraus zwangsläufig, dass das „Glied“ eben nur ein Moment derselben ist, ihm selbst aber diese Qualität nicht zukommt. Da „Glied“ im „völkischen Staat“ der „Volksgenosse“ ist, ist es für Larenz klare Sache, dass dieser an die Stelle jener abstrakten Person treten muss, die der Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde liegt. Sein Vorschlag, wie im künftigen Volksgesetzbuch anstatt § 1 BGB formuliert werden sollte, lautet daher: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist.“1307 Ganz ähnlich formuliert E. Wolf, der statt von „Rechtsstellung“ von „Rechtsstandschaft“ spricht: „Rechtsstandschaft … besitzt, wer artgleich ist, ständisch in die Arbeitsfront des schaffenden Volkes eingegliedert ist und die überlieferten Werte oder Güter der Nation achtet.“1308 Die rationalere, um das „Völkische“ bereinigte Variante dieser Denkhaltung tritt uns im Zivilgesetzbuch (ZGB) der DDR vor Augen. Dort ist – in § 6 – der „Bürger“ an die Stelle der natürlichen und – in § 11 – der „Betrieb“ an die Stelle der juristischen Person gesetzt. Das zeigt uns, dass das „völkisch/rassische“ Element beide Systeme und beide 1304 Th. Maunz, Das Ende des subjektiven öffentlichen Rechts, in: ZgStW 96 (1936), S. 71 ff. 1305 W. Siebert, Gemeinschaft und bürgerliches Recht, a. a. O., S. 303. 1306 Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, a. a. O., S. 255 (Übernahme aus dem Russischen). 1307 K. Larenz, RsR, S. 241; s. dazu: B. Rüthers, Personenbilder und Geschichtsbilder – Wege zur Umdeutung der Geschichte?, in: JZ 2011, S. 593 ff. (S. 396 f.). 1308 E. Wolf, Das Rechtsideal …, a. a. O., S. 360.

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Ansätze trennt; es ist der DDR und dem ZGB fremd. Von der „Artgleichheit“ bleibt dort lediglich „die Stellung des Bürgers … als Staatsbürgers“ zurück.1309 Wollte man den Formulierungsvorschlag von Larenz auf die DDR übertragen, könnte dieser lauten: „Rechtsgenosse ist, wer Bürger ist. Bürger ist, wer Staatsbürger der DDR ist.“ Die Unterschiede sind bedeutsam. Bedeutsam ist aber auch das Gemeinsame: dass nämlich beide Systeme und ihre rechtlichen Regelungen unterhalb der „Person“ bleiben. An deren Stelle treten die konkreteren Begriffe „Volksgenosse“ (Drittes Reich) und „Bürger“ und „Betrieb“ (DDR). Allgemeiner gefasst: Das „Glied“ tritt an die Stelle der autonomen Person.1310 Die Bindung an das „Völkisch-Rassische“ dort, an die „Staatsbürgerschaft“ hier verweist im Übrigen auf die Gemeinsamkeit, dass das Glied hier wie dort eingebunden ist in ein konkretes Ganzes1311, woraus sich beide Male die Notwendigkeit ergibt, ein besonderes „Gast“- bzw. „Fremdenrecht“ auszubilden.1312 Larenz erbringt für das „Dritte Reich“ den Nachweis, „dass der Begriff des subjektiven Rechts in seinem bisherigen Sinne, als Willensmacht oder Herrschaftsbefugnis des isoliert gedachten Einzelnen, dem der Rechtsstellung des Volks- und Rechtsgenossen in der Gemeinschaft weichen müsse, die ein Ausdruck seiner bestimmten Gliedstellung in der Volksgemeinschaft oder auch in einer der ihr eingegliederten engeren Gemeinschaften sei“1313. In nur mäßig veränderter Diktion behauptet dies auch die realsozialistische Kollegenschaft. 1309 J. Klinkert, Die Zivilrechtsstellung des Bürgers, insbesondere seine Rechts- und Handlungsfähigkeit nach dem ZGB, in: NJ 1975, S. 506. 1310 Auf die DDR, genereller: auf den „realen Sozialismus“ kann daher nicht bezogen sein, was H. Wagner (Kontinuitäten in der juristischen Methodenlehre am Beispiel von Karl Larenz, in: DuR 1980, S. 260) zum Unterschied der marxistischen „konkret abstrakten Begriffe“ von denen larenzscher Couleur schreibt: „Aber weder Hegel noch ein Marxist könnten von ihrer entwicklungsgeschichtlich bestimmten Gesellschaftstheorie und ihrem Geschichtsverständnis die Begriffe der Rechtsperson und Rechtsfähigkeit wieder reduzieren: beide sehen die notwendige Entwicklung und Entfaltung … von der begrenzten Personenqualität in Klassengesellschaften und die Sachqualität der Sklaven in der Sklavenhalterordnung, die unterschiedliche Stellung der Leibeigenen und Feudalherren in der Feudalordnung, bis zur allgemeinen und gleichen Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit im Kapitalismus ….“ 1311 Das „artgemäße Rechtsdenken“ bezeichnet daher Larenz als „‘konkret‘ und ‚ganzheitlich‘ zugleich“ (Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, a. a. O., S. 9 [Vorwort]). „Konkret“ und „ganzheitlich zugleich“ trifft auch auf die DDR zu. 1312 Da das Gastrecht internationalen Gepflogenheiten nachgebildet war, führte das (jedenfalls in der DDR) dazu, dass jeder ausländische Student, er konnte aus dem ärmsten Land der Erde kommen, wegen seiner Rechte beneidet wurde. 1313 K. Larenz, NP, S. 103.

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Auch ihr geht es darum, das Recht in Abkehr vom Individualismus von der Gemeinschaft her zu entwickeln. Wobei unter „Gemeinschaft“ der von der Partei dominierte Staat zu verstehen ist. Der „Staatswille“ ist ausschlaggebend, nicht der Wille des Einzelnen. Von daher versteht sich, dass der Bürger die Rechtsstellung nicht etwa von Natur aus hat. Folglich heißt es in dem bereits genannten Lehrbuch: „Die Rechtsstellung des Bürgers ist keine natürliche, sondern eine politisch-staatliche Eigenschaft des Bürgers.“1314 Da K. Larenz das nicht anders sieht, gehört sein Werk zum untergründigen Erbe der DDR. Die Sache ist übernommen worden, der Urheber nicht.1315 Das Verhältnis von „Rechtsstellung“ und „objektivem Recht“ ist berührt. Eine zentrale Fragestellung auch bei K. Larenz. „Wir verstehen … den Begriff der ‚Rechtsstellung‘ anders als die bisherige Dogmatik: nicht im Sinne einer Zusammenfassung von subjektiven Rechten, Anwartschaften und Rechtslagen …, sondern im Sinne der Stellung eines Rechts- (Volks-) Genossen im objektiven Recht, seines ‚Ortes‘ in der Gemeinschaft.“1316 Die Rechtsstellung ergibt sich also nicht aus der Summe subjektiver Rechte, sondern aus dem, was die Gemeinschaft aus ihrem Bestand originärer Rechte an das Glied abgibt bzw. delegiert. Man kann so sagen: Es kommt auf der Ebene des Staates zu einer Identifizierung von subjektivem und objektivem Recht. Oder so: Das objektive Recht ist das subjektive Recht des „Ganzen“. Der Ideologie nach besagt „Rechtsstellung“: Der sozialistische Mensch hat sich von der „Person“ ebenso befreit wie vom Joch des Privateigentums. Er ist in sein „Menschsein“ zurückgeführt. Nicht die Abgrenzung des Menschen vom anderen Menschen und vor allem: vom Staat charakterisiert ihn, sondern sein solidarisches Miteinander, seine „Kollektivität“. Der sozialistische Mensch steht nicht für sich (und gegen den anderen und gegen den Staat!), sondern steht als Glied im Kollektiv: des Staates, des Betriebes, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) usw. Dort hat er seinen konkret fixierten Platz, dort entfaltet er seine Persönlichkeit, indem er die ihm vom Kollektiv übertragenen Aufgaben erfüllt. Von daher beinhaltet „Rechtsstellung“ ein „Mehr“ gegenüber der „Person“. Über sie wird die neue, höhere Qualität des Verhältnisses Staat – Bürger im Sozialismus zum Ausdruck gebracht. 1314 Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, a. a. O., S. 256. 1315 Insofern ward ihm Unrecht zuteil. Denn in der DDR wurden bereits geringere Leistungen mit dem Nationalpreis und dem Vaterländischen Verdienstorden gewürdigt. Objektiv gehört der Larenz dieser Zeit zu den ganz Großen der DDR-Staats- und Rechtswissenschaft. Dass er dort in die „Gifträume“ der Bibliotheken verbannt wurde, ist von daher ein grober Undank. 1316 K. Larenz, RsR, S. 245.

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Wie bereits erwähnt: Um diese höhere Qualität gegenüber „Person“ und „subjektivem Recht“ zu betonen, wird im „Dritten Reich“ wie auch in der DDR die „Rechtsstellung“ im Zusammenhang mit dem Begriff der „Persönlichkeit“ gebraucht. Diese Persönlichkeit ist die „organisch“ gemeinte „GliedPersönlichkeit“.1317 Weniger technisch formuliert: Sie ist „völkische“ dort, „sozialistische“ Persönlichkeit hier. „Persönlichkeit und Gemeinschaft“ bilden für W. Siebert ebenso eine Einheit wie in der DDR für G. Haney. Beide Male wird die „Persönlichkeit“ als der von der „Person“ befreite Mensch dargestellt bzw. als Wiederherstellung des „wirklichen Menschen“ gefeiert. Nach K. Larenz bedeutet die „Rechtsstellung“ das Ende des „individualitätslose[n] Individuum[s] der Aufklärung“. Dieses wird verabschiedet zugunsten der „konkreten Persönlichkeit“.1318 Das ist ein Satz, den jeder Doktorand in der DDR risikolos hätte übernehmen können. Natürlich ohne Hinweis auf Larenz. Denn diese „konkrete Persönlichkeit“ ist Fortschritt gegenüber dem vorherigen Zustand, weil mit ihr die Verbindung zum „Ganzen“, zur Gemeinschaft hergestellt ist. Man kann das bisher Gesagte wie folgt zusammenfassen: Die „Person“ wird zerschlagen. Sie wird parzelliert. Sie wird herabgestuft zum „Glied“, welches ihr gegenüber ein rechtliches Minus ist. Dieses existiert in „konkreter“ Gestalt: als „Bürger“, als „Werktätiger“, als „Betrieb“, als „LPGMitglied“, als „Unternehmer“, als „Urheber“, als „Erfinder“, als Soldat“, als „Beamter“ usw. Die damit verbundene „Entrechtung des Einzelnen“1319 wird als die höhere Qualität ausgegeben. Sie erscheint dann so, wie K. Larenz damals – und ganz ähnlich G. Haney 30 Jahre später – schreibt: „In der Zuweisung eines Aufgabenbereiches als des ‚Seinigen‘ wird der Volksgenosse als konkrete Persönlichkeit und Gemeinschaftsmitglied anerkannt und ihm seine Ehre gewahrt.“1320 Eine auf dem ersten Blick eigenartige Funktion kommt jetzt dem altbekannten Begriff der „Rechtsfähigkeit“ zu. Warum jetzt noch „Rechtsfähigkeit“? Ist sie denn durch die „Rechtsstellung“ nicht erledigt? Die Antwort darauf: Weil das „Glied“ Pflichten hat, muss es Rechte haben. Deswegen ist es auch jetzt rechtsfähig. Aber selbstverständlich ist es das in anderer Weise und in geringerem Maße als das „Ganze“. Es hat die Rechtsfähigkeit, die seiner tatsächlichen Bedeutung 1317 K. Larenz, RsR, S. 229. 1318 Ebd. 1319 Ein Vorwurf, den A. Manigk (Neubau des Privatrechts. Grundlagen und Bausteine, Leipzig 1938) damals gegen K. Larenz und W. Siebert erhebt und den Larenz (NP) entschieden zurückweist. 1320 K. Larenz, NP, S. 104. Mit „Ehre“ knüpft Larenz an Hegel dort an (§ 254 ff. Rph), wo dieser den Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat behandelt.

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für das Ganze, seiner Stellung in ihm entspricht. Der Bauer hat eine andere als der Produktionsarbeiter, der Intellektuelle eine andere als der Unternehmer usw. Das eine „Glied“ steht über dem anderen, woraus für das übergeordnete „Glied“ ein Mehr an Rechten erwächst. Jedem „Glied“ sind also konkrete Rechte und Pflichten zugeordnet. Jedes „Glied“ ist konkret eingeordnet und deshalb unterschiedlich rechtsfähig. Hingegen das BGB: Dessen Regelung in § 1 entnehmen wir, dass jede Person rechtsfähig ist. Damit ist alles gesagt. Es gilt das römische Prinzip: Sklave oder Freier – und nichts dazwischen; keine Differenzierung. Der „Person“ des Naturrechts, auch der, die dem BGB zugrunde liegt, ist ganz selbstverständlich, und ohne dass dies extra betont wird, ein Maximum an Rechten zugeordnet. Alles Recht ist das Recht der Person. Eine Einschränkung ergibt sich nur aus der Maxime, dass „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden“ muss.1321 Das ist in der „Gemeinschaft“ anders. Jetzt ist dieses Maximum dem „Ganzen“ vorbehalten. Dieses überträgt davon, entsprechend der jeweils zu erfüllenden Aufgabe, Rechte auf die „Glieder“; je nach „Stellung“ im Ganzen werden sie ihnen zugeteilt. Dazu bedarf es der „Rechtsfähigkeit“. Sie muss dem „Glied“, nach national- wie realsozialistischer Auffassung gleichermaßen, zuerkannt werden. Im Unterschied zu jener der Person bezieht sich diese – von K. Larenz „allgemeine“ genannte – Rechtsfähigkeit des Gliedes daher nur auf ein Minimum an Rechten. Im „Lehrbuch Zivilrecht“ der DDR heißt es dazu: „Das sozialistische Recht erkennt unterschiedslos und uneingeschränkt jedem Bürger die Fähigkeit zu, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Diese Fähigkeit, die als Rechtsfähigkeit bezeichnet wird, ist eine notwendige juristische Kategorie, dabei aber zugleich eine Abstraktion, die über den tatsächlichen Umfang der dem Bürger zustehenden Rechte und Pflichten noch nichts aussagt.“1322 Im Unterschied zur BGB-Regelung garantiert diese Rechtsfähigkeit lediglich einen Sockelbestand an Rechten. Und das kann auch gar nicht anders sein, da ja das „Glied“ eingeordnet ist in eine hierarchische Ordnung, die weiter „oben“ und weiter „unten“ stehende, wichtige und weniger wichtige Glieder kennt. Da diese „allgemeine Rechtsfähigkeit“ für alle gilt, auch für die geringsten „Glieder“, kann sie nur die unterste Linie markieren; die Linie, hinter der die Rechtlosigkeit liegt. Sie gewährt also nicht mehr als ein rechtliches Minimum. Je nach Stellung des „Gliedes“ in der Hierarchie muss daher eine „besondere Rechtsfähigkeit“ hinzutreten. Eine „gestufte“ und somit „konkrete“ 1321 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B. 1322 Autorenkollektiv, Lehrbuch Zivilrecht, Berlin 1981.

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Rechtsfähigkeit entsteht so und trägt dieser „Glied“-Hierarchie Rechnung.1323 Der „konkreten“ Rechtsstellung entspricht somit eine „konkrete“ Rechtsfähigkeit. Diese „abgestufte Rechtsfähigkeit“ wird in der DDR Anfang der 1970er Jahre durch Müller/Such1324 aufgegriffen, um damit den hierarchischen Verhältnissen insbesondere in der Wirtschaft besser Rechnung tragen zu können. Natürlich geschieht auch dies ohne Bezugnahme auf Larenz. Wohl wegen der Nähe zum „Dritten Reich“, mindestens aber zum feudalen Lehnsrecht1325, setzt sich der Begriff nicht durch. Die Sache aber schon. Rechtsfähigkeit des „Gliedes“ besagt also: Du bist nicht rechtlos, sondern hast Rechte (und Pflichten!) im Rahmen deiner Rechtsstellung. Hier wie dort bezeichnet sie ein „nicht entziehbares und unverzichtbares Attribut“ der (Glied-) Persönlichkeit.1326 Die spannende Frage, welchen Umfang diese Rechte und Pflichten haben, wird von der „Rechtsstellung“ beantwortet. Was ist welcher Person bei Einordnung in diese oder jene konkrete Gemeinschaft, in dieses oder jenes konkrete Kollektiv an Rechten und Pflichten zugeordnet? Die Rechtsstellung eines Volkseigenen Betriebes (VEB) unterscheidet sich daher sehr stark von der des Bürgers. Sie ist umfangreicher und zugleich auch eingeengter. Der Bürger hat weniger, zugleich auch mehr Rechte. Es kommt also sehr darauf an, welchen Platz der jeweilige „Rechtsträger“ in der sozialistischen Ordnung einnimmt. Ist die Person Glied mehrerer Ordnungen, was der Normallfall ist, ist seine Rechte- und Pflichtenlage pro Ordnung definiert. Der Bürger hat also im Zivilrecht eine andere Rechtsstellung als im Arbeitsrecht. Und selbstverständlich im Verwaltungsrecht eine noch ganz andere. Im Eifer des Gefechts schießt K. Larenz damals insofern über das Ziel hinaus, als er dem „Artfremden“ keine Rechtsfähigkeit zubilligen will. Sie stehe nicht „jedem Menschen als solchen“ zu. Wer, wie der Jude, „außerhalb der Volksgemeinschaft steht, steht auch nicht im Recht, ist nicht Rechtsgenosse“1327. Das entspricht zwar der Praxis dieser Zeit, die den Juden erst den „bürgerlichen Tod“ bereitet1328, ehe diesem der physische Tod folgt, geht seinem Kollegen H. 1323 K. Larenz, RsR, S. 229. 1324 K. Müller/H. Such, Zur Rechtsstellung des Kombinates und der Kombinatsbetriebe, in: WR 1970, S. 338 ff. 1325 Man vgl., wie Heineccius (Elementa Juris Civilis) 1728 in § 76 formuliert: „Der Status ist eine Eigenschaft, aufgrund derer die Menschen unterschiedliche Rechte genießen.“ (Bei Hegel im Zusammenhang des § 2 Rph zitiert.) 1326 J. Klinkert, Die Zivilrechtsstellung des Bürgers …, a. a. O., S. 506. 1327 K. Larenz, RsR, S. 241 u. S. 242 f. 1328 Dazu Rüthers, Personenbilder und Geschichtsbilder …, a. a. O., S. 597 (mit Hinweis auf die damalige Rechtsprechung).

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Lange – ebenso auch seinem Ziehvater Binder1329 – jedoch zu weit. „Rechtsfähig“ sei der Mensch in jedem Kulturvolk, wird er von Ersterem belehrt. Auch der Jude müsse daher rechtsfähig sein. Schon wegen der Einheit von Recht und Pflicht, die Larenz von Hegel her bekannt sein sollte. Er müsse schließlich verklagt werden können, er müsse in die deutsche Pflichtenordnung einbezogen bleiben.1330 Beschwert sei das deutsche Volk dadurch nicht, denn die allgemeine Rechtsfähigkeit sei doch ohnehin „nur die unterste Stufe“.1331 Diesen Einwand akzeptiert K. Larenz. In einer späteren Schrift räumt er nun ein, dass der mit der Rechtsfähigkeit verbundene „Mindestgehalt“ auch „noch auf den letzten Grenzfall – etwa de[n] des rassefremden Ausländers – zutrifft“.1332 Noch ein Blick auf das realsozialistische Experiment. In einer besonderen Lage befand sich dort die produzierende Einheit, der VEB. Er war in der Anfangszeit gegenüber der staatlichen Wirtschaftsverwaltung nahezu rechtlos. Wenn sich dies in den späteren Jahren auch besserte: Er wurde nie zu einer Person im Sinne Hegels oder auch im Sinne der rechtlichen Regelung des BGB. Er blieb Teil eines Gesamtbetriebes namens DDR. Seine Rechtsstellung war in Abhängigkeit von seiner Größe, seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung, in Abhängigkeit auch davon, ob und welche Leitungsfunktionen ihm übertragen waren, ausgestaltet. Die juristische Hülle, in der er sich bewegte, war gewissermaßen „leere Person“ und spielte eine ganz untergeordnete Rolle. Wichtig war sie eigentlich nur für das Auftreten auf dem Weltmarkt. War also der Staat im Bereich der Wirtschaft die einzige Person? Mir ist nicht bekannt, dass diese Schlussfolgerung je so direkt gezogen worden wäre. Indirekt aber schon. Denn sie ergibt sich bereits aus dem Begriff des „Staatseigentums“. Er besagt, dass jener Bereich der „Besonderheit“ im Sinne Hegels fehlt, in dem die „Wirtschaftspersonen“ agieren. Mindestens existiert er nur in äußerst deformierter Gestalt. Wenn also Hegel vom „Eigentum als dem Dasein der Persönlichkeit“ spricht1333 und die „volle“ Person an das „freie, volle Eigentum“ knüpft, so ist im realen Sozialismus von vornherein die „Unternehmung“ infrage gestellt, ja geradezu ausgeschlossen. Der VEB der DDR ist also mindestens in den ersten Jahren Paradebeispiel „leerer Herrenschaft“. Später 1329 In einer längeren Fußnote (System …, a. a. O., S. 36 f.) hält er ihm vor: Jeder „Mensch ist … mit Notwendigkeit Person oder rechtsfähig“, ob „Rassegenosse“ oder nicht. 1330 Vgl. H. Lange, Bespr. von: K. Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht, in: AcP 143 (1937), S. 105 (im Hinblick auf § 155 Rph). 1331 Ebd., S. 106. 1332 K. Larenz, Zur Logik des konkreten Begriffs, in: DRW 5 (1940), S. 289. 1333 § 62 Rph.

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werden ihm Rechte zugeteilt, die seine „Rechtsstellung“ aufbessern; die „leere Herrenschaft“ wird ein wenig aufgefüllt. Der Zustand, dass der Staat die Sphäre des „Besonderen“ an sich zieht, bleibt jedoch prinzipiell erhalten. Die hegelsche Trias von „Einzelheit“, „Besonderheit“ und „Allgemeinheit“ ist also dadurch deformiert und außer Funktion gesetzt, dass der Staat die in der bürgerlichen Gesellschaft getrennten Sphären des „Besonderen“ und des „Allgemeinen“ auf sich vereint. Ein Eingriff in die Grundstruktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die dem realen Sozialismus nicht guttat. In den Reformjahren 1963–1970 wurde versucht, der unterschiedlichen Rechtsstellung der Betriebe auch über die „Rechtsfähigkeit“ Ausdruck zu geben, also, wie bei Larenz gesehen, die „allgemeine“ durch eine „konkrete“ Rechtsfähigkeit zu ergänzen. Am unteren Ende stand der bloß „rechtsfähige“ Betrieb. Am oberen Ende stand der Betrieb, dem die „volle Rechtsfähigkeit einer juristischen Person“ zuerkannt war. Später, als die Betriebe der DDR in „sozialistischen Konzernen“, den „Kombinaten“, zusammengefasst wurden, wurde eine Problematik aktuell, die bereits mit Aufkommen des „organisierten“ Kapitalismus ein Problem erster Ordnung darstellt: die Frage, wie die hierarchische Binnenstruktur des Konzerns mit der „Person“ des BGB zu fassen ist. L. Raiser zeigt die Kniffe, die zur Anwendung kommen, um ein „sachgerechtes“ Ergebnis zu erzielen. Er schreibt: „Diese Einheit des unternehmerischen Willens erhebt nun aber den Konzern selbst zum Subjekt wirtschaftlichen Handelns. Damit wird fraglich, ob und in welchem Sinne auch die einzelnen Konzernglieder noch als Wirtschaftssubjekte gelten können. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, pflegt die Wirtschaftswissenschaft an dieser Stelle der sonst für sie allein relevanten wirtschaftlichen die juristische Subjektivität der Glieder zu substituieren. Das Erfordernis der Erhaltung der rechtlichen Selbständigkeit der Konzernglieder ist … heute ein gesicherter Bestandteil der üblichen Konzerndefinition. Die Rechtswissenschaft befindet sich in der umgekehrten Schwierigkeit. Für sie steht jedenfalls dann, wenn es sich bei den Konzerngliedern um Kapitalgesellschaften handelt, außer Zweifel, dass sie juristische Personen, also Rechtssubjekte sind und trotz ihrer Eingliederung in einen Konzern bleiben. Dagegen hat sie Mühe, die der Konzernspitze übertragene Planungs- und Entscheidungsgewalt über den ganzen Konzern rechtlich einzuordnen, also die Einheit des Konzerns zu erfassen, der kein Rechtssubjekt ist. Sie hilft sich, indem sie an dieser Stelle auf das außerrechtliche Faktum der wirtschaftlichen Einheit verweist.“1334 1334 L. Raiser, Die Konzernbildung …, a. a. O., S. 55.

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Die geschilderten Schwierigkeiten, mit dem Konzern zurechtzukommen, würden sich bei Substitution von „Person“ und „subjektivem Recht“ durch „Rechtsstellung“ und „gestufte Rechtsfähigkeit“ nicht ergeben. Die Konzernglieder wären dann zweifelsfrei rechtsfähig; allerdings rechtsfähig auf unterster Ebene. Sie wären eingelagert in die übergreifende Einheit „Konzern“, die mit einer Rechtsfähigkeit höherer Potenz ausgerüstet ist. Nochmals der Unterschied zu Hegel. Löst man dessen Ansatz, dass „meine Verbindlichkeit gegen das Substanzielle zugleich das Dasein meiner besonderen Freiheit“ ist1335, aus seinem Bezugsrahmen heraus und stellt ihn in jenen anderen, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegenen, gewinnt dessen Dialektik von Recht und Pflicht einen ganz anderen Sinn. Dann geht es bei der „Pflicht“ nicht um die Pflicht gegenüber der „organischen“ Natur, sondern um die Pflicht jenem Teil der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber, der jetzt an ihre Stelle gesetzt wird: der „Produktion“. Die Dialektik von Recht und Pflicht wird umfunktioniert, ja auf den Kopf gestellt, indem das Rechts- durch das Direktionsprinzip ersetzt wird. „Rechtsstellung“ und „Direktion“ stehen dicht beieinander und weisen auf die Entrechtung hin. Wie die Übertragung politischer Begriffe und Verhältnisse der „organischen“ Natur auf die „unorganische“ zur politischen Unterdrückung bis hin zum Terror führt, kommt es auf dem Gebiet des Rechts zu einer ganz wesentlichen Einschränkung der Rechte, unabhängig davon, dass und wie dies die davon Betroffenen persönlich reflektieren.

V.6 Das Gliederungsprinzip des „gemeinschaftsmäßigen“ Rechts: Die „konkrete Ordnung“ Aus der Tendenz zum „Betriebsstaat“ ergibt sich die weitere Frage: Was wird aus der traditionellen Rechtsordnung? U.-J. Heuer hält für die DDR folgende Antwort bereit: „Mit der Aufhebung des ‚naturgesetzlichen‘ Gesamtprozesses fällt auch die aus diesem Gesamtprozess abgeleitete tragende Stellung des Zivilrechts. Mit dem Wegfall der tragenden Stellung des Zivilrechts fällt der abgeleitete Charakter der anderen Zweige.“1336

1335 § 261/Anm. Rph. 1336 U.-J. Heuer, Gesellschaftliche Gesetze …, a. a. O., S. 144.

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Die Folge: „Das ganze Rechtssystem bildet sich neu.“1337 40 Jahre vor ihm trifft U. Scheuner1338 bereits eine ganz ähnliche Aussage. Er spricht damals von der „inneren Umschichtung der Rechtsordnung“ infolge der „Revolutionierung“ des Staates. Damit ist bereits gesagt, dass an die Stelle eines Rechtssystems, das die „Marktordnung“ reflektiert, ein solches tritt, das Reflex einer „Betriebsordnung“ ist. Wir sind bei einem Thema, dem sich C. Schmitt kurz nach der „Machtergreifung“ des Jahres 1933 widmet: den „konkreten Ordnungen“. Sie sind in einer Schrift1339 abgehandelt, die am deutlichsten auf die Belange des „Dritten Reiches“ zugeschrieben scheint und die – gemessen an der ungebrochenen Resonanz seiner sonstigen Werke – eher im Schatten steht. Gemessen an der Flut der C.-Schmitt-Literatur befassen sich jedenfalls auffällig wenige Autoren und Abhandlungen mit ihr.1340 Das wird dieser Schrift schon deshalb nicht gerecht, weil Schmitt mit den „konkreten Ordnungen“ kein Produkt auf den Markt wirft, das nur den „Tagesbedarf“ des „Dritten Reiches“ abdeckt. Er greift darin Entwicklungen auf, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts einsetzen, bis heute das Geschehen bestimmen, aber gerne – aus „pädagogischen Gründen“, wie L. Raiser1341 formuliert – übersehen, mindestens aber kleingeredet werden. Damals aber, im Jahr 1933, stellt der per „Revolution“ herbeigeführte radikale Bruch mit der deutschen Staats- und Rechtstradition ins Licht, was bisher im Schatten stand. Neben dem „Betriebsstaat“ sind das die „konkreten Ordnungen“. Da C. Schmitt kein Dialektiker ist, interessiert ihn weniger der Prozess, der von „hier“ nach „dort“ führt. Nicht die „Zwischenlagen“, die sich, ökonomisch gesehen, um den „konzentrierenden Austausch“ und, politisch gesehen, um den „Pluralismus“ ranken und in ihm verfestigen, haben es ihm angetan. Er antizipiert sie vielmehr und betrachtet sie vom anderen Ende aus. Seine logischen Ausgangspunkte sind nicht die Markt- und die an sie gekoppelte Privatrechtsordnung, sondern die Betriebsordnung und der sich mit ihr verbindende Befehl. Der „Gespensterwelt an Allgemeinbegriffen“ stellt er daher ein „gesundes, konkretes Ordnungsdenken“ sowie das „innere Recht“ dieser Ordnungen gegenüber.1342 1337 Ebd. 1338 U. Scheuner, Die nationale Revolution, a. a. O., S. 204 f. 1339 C. Schmitt, A. 1340 Eine der Ausnahmen: K. Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, Berlin 1978, S. 106 ff. 1341 L. Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben. FS zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. I, Karlsruhe 1960, S. 103. 1342 C. Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, in: DR 1934, S. 225.

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C. Schmitt hat die „konkreten Ordnungen“ nicht erfunden. Die ihnen zugrunde liegenden soziologischen Befunde sind bereits erhoben, erste juristische Schlüsse daraus sind bereits gezogen. Er bringt nur, gewissermaßen aus aktuellem Anlass, die Forschungsarbeit solcher Wissenschaftler wie M. Hauriou, auch: H. Sinzheimer, auf eine griffige Formel.1343 Sein Ausgangspunkt ist der „totale“ Staat, den er jetzt, sich der herrschenden Ideologie beugend, als Teil der völkischen „Gemeinschaft“ versteht. Dieser Gemeinschaft „gehört“ nun das Recht; ihr ist es gewissermaßen von der „Gesellschaft“ zurückerstattet. Diese „Rückerstattung“ macht es aber zu einer anderen Qualität. Es ist jetzt Recht, dessen einziges Subjekt die „Gemeinschaft“ ist und nicht mehr, wie zu früheren Zeiten, die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Das Recht ist damit „verstaatlicht“; vorherrschend ist nicht mehr der zweiseitige, sondern der einseitige Wille. Da die „Gemeinschaft“ aber durch ihre „Glieder“ handelt, muss ihnen zur Erfüllung ihrer Pflichten ein darauf bezogenes Quantum „Recht“ zugeteilt werden. Diese Notwendigkeit führt Schmitt zu den „konkreten Ordnungen“.1344 Diese beziehen sich also auf gesellschaftliche Teilbereiche, die im Rahmen der „vertikalisierten“ Arbeitsteilung zur Ausbildung gelangen. Sie sind „überpersönlicher“ Wesensart, ohne „Person“ zu sein. „Sie haben eine eigene rechtliche Substanz, die wohl auch generelle Regeln und Regelmäßigkeiten kennt, aber nur als Ausfluss dieser Substanz, nur aus ihrer konkreten eigenen, inneren Ordnung heraus“.1345 Wie das zu verstehen ist und welche Folgen das hat, zeigt sich in der Interpretation von Th. Maunz:1346 „Sobald unser Rechtsdenken überführt ist von dem Dualismus des Staat-Untertanen-Verhältnisses in die Mannigfaltigkeit wirklicher Ordnungen, die alle eingebaut werden müssen in die Volksgemeinschaft, wird das Problem der Persönlichkeit in der Gemeinschaft von grundlegender Bedeutung sein.“ Grafisch dargestellt, ergäbe die Ordnung eine Pyramide, die sich über ihren Gliedern erhebt. Eine Ordnungshierarchie besteht. Die oberste Ordnung ist das „Reich“. Dieses ist die „Ordnung der 1343 Schmitt hätte sich, wie Larenz mit seiner „Rechtsstellung“, auch auf O. v. Gierke berufen können. Das tut er aber nicht, weil dieser, wenn er die „korporativen Gliederungen“, wenn er die „Zwischenorganismen“ zur Sprache bringt, nie ungesagt lässt, dass solche „gegliederten Körperschaften … dem Privatrecht gänzlich fremd“ sind (O. v. Gierke, Die Grundbegriffe …, a. a. O., S. 121 f.). 1344 Nach Ansicht des Schmittschülers Daskalakis sind die „konkreten Ordnungen“ gegenüber der „Gemeinschaft“ der „bessere“, weil rationalere Begriff (s. dazu: G.  D. Daskalakis, Der totale Staat als Moment des Staates, in: ARSP 31 [1937/38], S. 198). 1345 C. Schmitt, A, S. 20. 1346 Das Ende des subjektiven Rechts, a. a. O., S. 74.

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Ordnungen, die Institution der Institutionen“.1347 In ihr sind die Glieder des Reiches erfasst und ist ihr Zusammenspiel geregelt. Unterhalb dieser Ebene bestehen Teilordnungen, in denen die Glieder der Gemeinschaft nach den verschiedenen Sachzusammenhängen erfasst sind. Dort sind spezifische Rechte und Pflichten geregelt, die sich aus der konkreten Gliedschaft ergeben. Ein für viele unschönes Bild, das über die Einlagerung in die Gemeinschaft geschönt bzw. ideologisiert wird. Dieses Verfahren führt zu den „neuen Ergebnissen vor allem bei den staatsgerichteten Rechten im bisherigen Sinn, d. h. von Rechten des Untertanen gegen den Staat“. Aus ihrem Charakter als Zwischenform ergibt sich, dass die Ordnung „jedem Versuch restloser Normierung und Regelung“ widersteht. Sie ist insofern also mehr und anderes als bloß Rechtsordnung. Ihr Wesen zeigt sich in der „begrenzenden Wirkung“, die sie auf die Eingeordneten ausübt. Diese wird erreicht durch die Einheit von Recht und Pflicht. Sie „wandelt das frühere subjektive Recht um in die volksgenössische Berechtigung als Ausdruck der Rechtsstellung des Volksgenossen überhaupt“1348. Diese Einheit von Recht und Pflicht prägt auch das Verhältnis des DDR-Bürgers zu seinem sozialistischen Staat.1349 Sie ist typisch für alle auf „Gemeinschaft“ beruhenden politischen Systeme. Die Ordnung steht jeweils außer und über dem Einzelnen. „Betritt“ er sie, unterliegt er ihrem Regime. Daher stellt die Ordnung „jeden Gesetzgeber und jeden, der das Gesetz anwendet, vor das Dilemma, entweder die mit der Institution gegebenen, konkreten Rechtsbegriffe zu übernehmen und zu verwenden, oder aber die Institution zu zerstören“1350. Mehr als bloß Rechtsordnung zu sein, führt zum Begriff der „Instrumentalität“. Sie kennzeichnet das in der Ordnung anzutreffende Recht und weist es aus als „Recht der Ordnung“ – im Unterschied zum Recht der Einzelnen, die von ihr erfasst sind. Die Norm ist der Ordnung, nicht dem Glied verpflichtet. Ihm gegenüber ist sie Befehl. Ob jemand Teil einer Ordnung ist oder, richtiger: einer Vielzahl von ihnen, steht nicht in seinem Belieben, hängt nicht von seinem 1347 C. Schmitt, A, S. 47. 1348 W. Siebert, Wandlungen im bürgerlichen Recht seit 1933, in: DR 1944/45, S. 6. 1349 Ähnlich wie Th. Maunz oder E.-R. Huber formulieren die Kommentatoren der DDR-Verfassung von 1968: „Die Freiheit und die Rechte der Bürger sind keine ‚von oben‘ zugebilligten Rechte und können es nicht sein; sie setzen voraus, dass jeder Mitverantwortung für das gesellschaftliche Ganze trägt. Die Grundrechte lediglich als Anspruch gegen den Staat zu verstehen – wie es für bürgerliche Auffassungen typisch ist – heißt ihren realen Gehalt in Frage stellen.“ Deshalb gehe die Verfassung der DDR „von der Einheit von Rechten und Pflichten aus“ (Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar, Teil II, Berlin 1969, S. 13). 1350 C. Schmitt, A, S. 20.

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„Wollen“ ab, sondern ist ein/sein „Müssen“. Freilich: Innerhalb dieses generellen „Müssens“ bleibt dem Einzelnen ein Spielraum für die eigene Entscheidung. Er muss nicht heiraten und eine Familie gründen. Er muss nicht „Mieter“ sein. Anders aber schon, wenn er die „Arbeitsordnung“ betritt, in der die prinzipiell überall wirkende Dialektik von Recht und Pflicht besonders eng gefasst ist. Was jetzt – nach der „Grundsatzentscheidung“, sprich: „Revolution“ – geschieht, kann wie folgt beschrieben werden: Der objektive Befund, das „Müssen“, wird zum Ausgangspunkt genommen, wird mit dem „Willen“ verknüpft. Der Mensch „kauft“, „mietet“, „arbeitet“, weil er muss und will. Beide, objektives und subjektives Moment, finden Berücksichtigung, wirken unter Führung des „objektiven“ Moments in der Ordnung zusammen. Die Einordnung in eine „Ordnung“ verkürzt also den Spielraum individueller Entscheidung. Ein Teil der Rechte, die der Person „an sich“ zustehen, ist ihr entzogen und auf sie übertragen. C. Schmitt polemisiert gegen den Begriff „Rechtsordnung“. „Die Wort- und Begriffszusammensetzung ‚Rechts-Ordnung‘“, schreibt er, „gehört heute nicht mehr zu den guten Wortverbindungen, weil sie zur Verschleierung des Unterschiedes benutzt werden kann, der zwischen Regeln- und Ordnungsdenken besteht.“1351 Verweilen wir bei diesem Satz. Rechtsordnung, das ist die durch „Recht“ begründete Ordnung. Die jetzige Ordnung ist jedoch nicht durch das Recht begründet, sondern geht dem Recht voraus. Für sie ist „die Regel nur ein Bestandteil und ein Mittel“.1352 Warum also etwas „Recht“ nennen, was kein Recht mehr ist, sondern nur noch „Ordnung“? Das Rangverhältnis beider Größen zueinander ist umzukehren. Die „Ordnung“ ist das Primäre. Das Recht ist das Sekundäre; es ist nicht mehr herrschende, sondern dienende Größe; es ist jetzt bloßes „Instrument“ zur inneren Gestaltung der Ordnung. An die Stelle der „Rechtsordnung“ tritt „Ordnungsrecht“. Da im Inneren der „Ordnung“ nicht die „Person“, sondern das „Glied“ agiert, ist die „konkrete Ordnung“ also eine „Gliedordnung“. Anders als bei der „Rechtsordnung“, in der das Prinzip der Gleichheit herrscht, die „Tauschwertgleichheit“ wie hinzugefügt werden muss, herrscht in der „Gliedordnung“ die Ungleichheit, die sich aus der spezifischen „Einordnung“ des „Gliedes“ in das „Ganze“ (weiter oben, weiter unten, weiter am Rande, wichtig oder weniger wichtig usw.), die sich aus der konkreten Aufgabe, die es darin zu erfüllen hat, ergibt. Das macht eine Gliederung notwendig, die an diese konkrete Stellung anknüpft, nicht aber an „Abstrakta“ wie „Eigentum“ und „Willen“. All das zeigt, dass die Gliederung des Rechts in „Ordnungen“ 1351 Ebd., S. 12. 1352 Ebd., S. 13.

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kein Vorgang ist, der nur quantitativ zu verstehen ist. Sie ist vielmehr Folge der Zerschlagung der traditionellen Rechtsordnung und der ihr zugrunde liegenden Begriffe: „Person“, „Eigentum“, „freier Wille“. Sie zeigt die „Negation des bürgerlichen Privatrechts“ an.1353 Ihrem Wesen nach sind die „konkreten Ordnungen“ Instrumente zur „bewussten“ Gestaltung und Einflussnahme, der „Direktion“ und der „Planung“. Die „Ordnungen“ fassen die „Glieder“ in Gruppen zusammen, zum Beispiel

•• nach ihrer Aufgabenstellung im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung; •• nach ihren Berufen; •• nach ihrem Auftreten als Verbraucher, als Urheber, als Erfinder, als Soldaten, als Beamte/Staatsfunktionäre.

Gleichgeordnete Glieder, gleich gelagerte Sachverhalte werden zum „Typus“ – des „Bauern“, des „Arbeiters“, der „Familie“, der „Unternehmung“, des „Urhebers“ u. Ä. – zusammengefasst und einem „konkreten“ Recht unterstellt: dem Bauernrecht – in der DDR: dem LPG-Recht –, dem Arbeitsrecht, dem Familienrecht, dem Wirtschaftsrecht, dem Zivilrecht der Bürger, dem Urheberrecht. Wie das „individualitätslose Individuum“ früherer Zeiten zu einem einheitlichen Recht führt, führt die jetzige „konkrete Persönlichkeit“ zu einem reich gegliederten Rechtssystem. So unterschiedlich dessen Teile aber sein, so unterschiedlich nahe sie dem Zentrum stehen mögen: Gemeinsam ist ihnen, dass sie Instrumente des „Ganzen“ sind. Die „instrumentale“ Funktion ist also ihr gemeinsamer Nenner. Sie ist im Wirtschaftsrecht am stärksten ausgeprägt. Im Zivilrecht der Bürger tritt sie am weitesten zurück. Das erklärt die Reihenfolge, in der die Führung der DDR die Ersetzung des traditionellen Privatrechts durch „konkrete Ordnungen“ betrieb. Vordringlich war, den Komplex „Wirtschaft“ herauszulösen. Das geschah bereits mit den SMAD-Befehlen der 1940er Jahre und war im Prinzip im Jahr 1950 vollzogen. Es folgten das LPG-Recht (1959), das Arbeitsrecht (1961) und das Familienrecht (1965). Weniger dringlich war die Umgestaltung des Restes in ein Zivilrecht der Bürger. Hier behalf sich die DDR (wie das „Dritte Reich“ auch!) damit, diesen Rest mithilfe der Rechtsprechung „sozialistisch“ umzuinterpretieren.1354 Das traditionelle Privatrecht 1353 Einer Aufgabe, der die Gerichte „voll gerecht worden sind“, wie Lübchen/Posch (G.-A. Lübchen/M. Posch, Die Herausbildung des sozialistischen Zivilrechts, in: NJ 1979, S.  239) zutreffend formulieren. 1354 Lübchen/Posch, Die Herausbildung …, a. a. O., S. 240.

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war so bereits in den frühen 1950er Jahren um seinen Kern gebracht. Mit der Neugestaltung des „Restes“ konnte sich die DDR daher Zeit lassen. Die Ordnungen überlappen sich. Jedes Glied ist in mehreren von ihnen „zu Hause“ und unterfällt damit auch einer Mehrzahl von ordnungsinterner Rechteund Pflichtenlagen. Jedes Glied hat daher auch eine Mehrzahl von Rechtsstellungen, was, „gemeinschaftlich“ gesehen, das Bild eines bunten, mittelalterlichen Treibens ergibt. Mit den „konkreten Ordnungen“ ist somit der „enge bürgerliche Rechtshorizont“ überschritten, von dem K. Marx1355 in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ spricht. Aber nicht nach vorn, zur Seite des Menschen hin, sondern nach rückwärts, zur Seite des „Gliedes“, zur Seite des mittelalterlichen Menschen hin. „Gemeinschaft“ wird wiederhergestellt. Aber nicht jene der „frei assoziierten Produzenten“, sondern eine „Betriebsgemeinschaft“, in der lebendige und sachliche Produktionsbedingungen zusammengeführt sind. Wenden wir uns U.-J. Heuer und seiner Aussage zu, dass die „tragende Stellung des Zivilrechts“ verloren geht, sowie dem Anschlusssatz: „Damit fällt die abgeleitete Stellung der anderen Zweige.“ Er will damit sagen, dass die dem Zivilrecht zugrunde liegenden Ausgangsgrößen „Person“ und „freier Wille“, dort gültig geregelt für alle Zweige, vom Sockel gestürzt sind. Da die „konkreten Ordnungen“ ja „ihr inneres Recht mit sich“ bringen1356, verliert das Zivilrecht seine Bedeutung als „Ausgangsrecht“. Es wird herabgestuft; es wird zum Recht neben den anderen „Rechten“. Das wird sichtbar am Schicksal seines „Allgemeinen Teils“. Bekanntlich wurde im Rahmen der Diskussionen um das Volksgesetzbuch dessen Notwendigkeit diskutiert – und überwiegend, unter Führung von Aktivisten wie C. Schmitt, Eckhardt, Ritterbusch und Larenz, verneint.1357 Und Tatsache ist, dass das ZGB der DDR keinen „Allgemeinen Teil“ im Sinne des BGB aufweist. Beide Male werden stattdessen „Grundsätze“ vorausgeschickt: Grundsätze des „völkischen Gemeinschaftslebens“ hier, Grundsätze des „sozialistischen Zusammenlebens“ dort.1358 Das hat beide Male seinen Grund in dieser Herabstufung des Zivilrechts zu einem Instrument des Staates neben anderen Instrumenten. Damit ist das „Fundamentalprinzip“ (Gierke), die Trennung in 1355 MEW 19, S. 21. 1356 C. Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, a. a. O., S. 228. 1357 Vgl. dazu: W. Sauer, Verzicht auf die „allgemeinen Lehren“?, in: ARSP 30 (1936/37), S. 405– 407. Gehaltvoll hierzu die Ausführungen bei Larenz (NP, S. 99–102). Für den Erhalt des „Allgemeinen Teils“ tritt damals Heck ein (s. dazu: Ph. Heck, Der Allgemeine Teil des Privatrechts. Ein Wort der Verteidigung, in: AcP 26 [1941], S. 1–27). 1358 S. dazu: R. Schröder, Das ZGB …, a. a. O., S. 36 f.; G. Brüggemeier, Oberstes Gesetz ist das Wohl des deutschen Volkes, in: JZ 1990, S. 24–28.

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„Staat“ und „Gesellschaft“, das im „Allgemeinen Teil“ seinen Ausdruck findet, beseitigt. Sieht man den „Allgemeinen Teil“ als Tempel für die Gottheiten „Person“ und „freier Wille“, so ist klar, dass dieser Tempel entbehrlich ist, wenn die darin aufgestellten Gottheiten vom Sockel gestürzt sind.1359 Der „Allgemeine Teil“ als Verfassung der „Person“, als verfasste Privatautonomie1360 und als solcher Regelungskomplex, der auch für die anderen Teilordnungen verbindlich ist, wird also ersetzt durch die Rechte der allein übrig bleibenden Staatsperson. Anders gesagt: Wo es um „Glied“ und um „Gliedstellung“ geht, ist eine Regelung, wie sie für den Allgemeinen Teil des BGB charakteristisch ist, nicht nur entbehrlich, sondern störend. Sie würde als „Verfassung“ der „Person“ die Rechte der einzig übrig gebliebenen Staatsperson beschneiden oder doch infrage stellen. Jedenfalls würde sie bei den „Gliedern“ die Illusion erwecken, mehr zu sein als nur „Glied“. Der Allgemeine Teil ist jetzt nach „oben“ verlagert; er ist jetzt dort zu suchen, wo die Rechte des Staates gegenüber seinen „Gliedern“ fixiert sind. Jetzt ist die Verfassung das Dokument, in dem die neu ins Leben getretene Staatsperson und ihr Direktionsrecht fixiert sind. Man mag sich die Kommentierung der Verfassung des „Großdeutschen Reiches“ durch E.-R. Huber und man mag den Text der Verfassung der DDR von 1968 und die amtliche Kommentierung dazu zurate ziehen. Beide Male ist das „Direktionsrecht“, des „Führers“ hier, der führenden Partei dort, in die Mitte gestellt und für unbefristete Zeiträume festgeschrieben. Von einer noch allgemeineren Warte aus gesehen: Das Verhältnis von Recht und Macht kehrt sich um. Wie es H. Gerland 1933 sieht: „[D]ie Macht wird frei und beseitigt die Bindung und Beschränkung, die Einengung des Rechts.“ Um dann neues, „ihr eigenes Recht“ zu schaffen. Es geht also nicht nur um die Modernisierung der (vorhandenen) Rechtsordnung. Notwendig ist vielmehr, dass sie in ihrer „Gesamtheit umgestaltet“ wird.1361 Nichts anderes geschieht. Die bislang einheitliche Rechtsordnung wird nach Gesichtspunkten parzelliert, die dem Prinzip der Arbeitsteilung entstammen. Planunterworfene Teilbereiche des gesellschaftlichen Raumes werden zu „konkreten Ordnungen“ umgestaltet. Sie sind Ausfluss einer konkret-intensiven Planmäßigkeit und als solche Instru1359 Das hat Heck (Der Allgemeine Teil …, a. a. O., S. 4) klar erkannt, wenn er damals schreibt: „Die Wiederaufnahme des Allgemeinen Teils hat zur Voraussetzung das Fortbestehen des Privatrechts und die fortdauernde Bewertung der Allgemeinbegriffe.“ 1360 R. Schröder, Das ZGB …, a. a. O., S. 36: „Dieser Allgemeine Teil ist keine bloße Formalie, denn er beruht auf der kantischen Freiheitsphilosophie einerseits und dem Wirtschaftsliberalismus andererseits.“ 1361 H. Gerland, Rechtserneuerung und Revolution, in: DJZ 1933, S. 1065–1070.

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mente „bewusster“, vom Führer bzw. von einer Führung ausgehender Gestaltung. Dass das Dritte Reich hierbei nicht die Perfektion der DDR erreicht, hängt mit seiner kurzen Lebensdauer, aber auch damit zusammen, dass es die privatkapitalistische Basis im Grundsatz unangetastet lässt. „Konkrete Ordnungen“ passen nicht in das liberale Weltbild. Sie werden unter dem Vorwand ignoriert, dass es die totalitären Systeme sind, die sich darauf berufen. Dabei macht man sich zunutze, dass sie durch die einseitige Hervorhebung des „Gemeinschaftlichen“ und „Völkischen“ im „Dritten Reich“ desavouiert wurden, und man glaubt, sie als genuin nationalsozialistisch ignorieren oder gar verwerfen zu können. Richtig daran ist, dass die totalitären Systeme, indem sie den „Willen“ ganz oder weitgehend zur Seite schieben, Strukturen und Funktionsweisen der bürgerlichen Gesellschaft, noch dazu der modernen, bloßlegen, die von der Willenslehre verdeckt werden. Man sollte aber sehen, dass gerade die rationalistische Variante des totalen Staates, der „reale Sozialismus“, mit seinen „konkreten Ordnungen“ an westliche Forschungsergebnisse anknüpft, die unter dem Druck des „organisierten“ Kapitalismus bereits Anfang des 20. Jahrhunderts (und nicht nur in Deutschland) erarbeitet wurden. Angelegt sind die „konkreten Ordnungen“ bereits in der „freien Konkurrenz“. Da die gesellschaftliche Arbeitsteilung, mit der sie in Verbindung stehen, damals aber ein weitgehend horizontales „Gesicht“ trug und außerdem vom Inneren der Unternehmung abstrahiert wurde, traten sie kaum in Erscheinung, wurden von der „Einheit“ überlagert und im Übrigen ignoriert. Im „organisierten“ Kapitalismus beendeten sie ihr apokryphes Dasein und traten als objektive, nicht ignorierbare Tatsachen ans Licht. Die damalige horizontale Gliederung unterlag einer „Vertikalisierung“, die die „Ordnungen“ hervortreten ließ. Richtig ist (also) nur, dass totalitäre Systeme sich offen auf sie berufen, während pluralistisch organisierte Gesellschaften bei dem Schein der Einheit verbleiben. Man sollte sich also nicht täuschen: „Konkrete Ordnungen“ prägen hier wie dort das Bild. Daran ändert auch nichts, dass nach 1945 wieder der „Mensch“, der „Wille“ und mit ihnen: die „Einheit des Privatrechts“ beschworen werden. „Aber der Schein trügt.“ Auch im Gemeinwesen BRD ist der „Funktionsverlust des Privatrechts“ so deutlich, dass von „einer Schrumpfung seines Anwendungsbereiches gesprochen werden kann“.1362 Wobei diese „Schrumpfung“ nur die eine Seite ist, deren andere die Ausbildung weiterer „konkreter Ordnungen“ in Gestalt zum Beispiel des Arbeitsrechts und des Wirtschaftsrechts ist. Auf besagter „Einheit des Privatrechts“ wird also lediglich aus „pädagogischen“ 1362 L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, a. a. O., S. 10 u. S. 18.

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Gründen beharrt, nicht aber, weil die „konkreten Ordnungen“ nun plötzlich von der Erde verschluckt worden wären. Schließlich überdauern die Strukturen des „organisierten Kapitalismus“ das Ende des „Dritten Reiches“, werden in der BRD relativ bruchlos fortgesetzt und prägen sich dort fortlaufend weiter aus. „Künstlich“ sind von daher weniger die „konkreten Ordnungen“ als vielmehr die Versuche, vor ihnen die Augen zu verschließen.

V.7 Der Betriebsstaat in Perfektion: Die Sowjetunion unter Stalin „Es ist eine der wertvollsten Eigenschaften des autoritären Staates im Gegensatz zum demokratischen, dass er seine Wirtschaftsplanung ganz von oben her und auch auf lange Sicht einrichten kann, weil er sich unabhängig von parlamentarischen Abstimmungen und von Kabinettsstürzen weiß.“ ( Justus Wilhelm Hedemann1363)

Die Riege um Lenin wusste: Nicht der Staat ist der entscheidende Feind des Proletariats, sondern das kapitalistische Privateigentum. Solange es seine historische Mission zu erfüllen hat, ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Reichtum zu schaffen, ist dieses Eigentum unzerschlagbar. So lange sind Versuche sinnlos, den Staat stürzen und eine klassenlose Gesellschaft errichten zu wollen, und laufen auf „Donquichoterie“ hinaus. Macht man trotzdem Revolution, wird „nur der Mangel verallgemeinert“. Am Ende würde die „ganze alte Scheiße sich (wieder-)herstellen.“1364 1905 ist für Lenin klar, dass in Russland weder die objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution gegeben sind. Ein „Überspringen“ des Kapitalismus – ein Wunsch, eine Fragestellung, die seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die dortige revolutionäre „Szene“ geistert –, sagt er gegen die „Volkstümler und Anarchisten“ gewandt im Anschluss an Engels, ist nicht möglich, ist „offensichtlich eine unmögliche Aufgabe“ und ist darüber hinaus „ein reaktionärer Gedanke“.1365 Möglich ist lediglich eine gewaltige Erweiterung des Rahmens der bürgerlichen Demokratie. Die bürgerliche Revolution muss daher unter Führung der revolutionären Arbeiter und Bauern 1363 Deutsches Wirtschaftsrecht, Berlin 1939, S. 44. 1364 MEW 3, S. 34, 35, 417; K. Marx, GR, S. 77. 1365 F. Engels, AS II, S. 471; Lenin, Zwei Taktiken, a. a. O., S. 559 f.

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auch ohne die inkonsequente Bourgeoisie, ja selbst gegen deren Willen weitergetrieben werden zur „revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“.1366 Diese Diktatur sei eine „demokratische“, keine „sozialistische“. Ihre ökonomische Grundlage ist „Kapitalismus“. Auch 1917, noch mehr nach dem danach einsetzenden jahrelangen Bürgerkrieg, fehlen in Russland die materiellen Voraussetzungen für „Sozialismus“. Für sich gesehen, ist das russische kapitalistische Eigentum noch immer „unzerschlagbar“. Weil aber die proletarische Revolution als Weltrevolution gedacht ist, mindestens aber als Revolution in den wichtigsten Industrieländern, leitet Lenin nun die „Zerschlagbarkeit“ des Privateigentums an Produktionsmitteln in Russland von dessen „Zerschlagbarkeit“ in Westeuropa ab. Da die subjektiven Voraussetzungen für eine Revolution in Russland gegeben waren, sah Lenin daher ein Recht und eine Pflicht zur Revolution. Ein Anfang musste gemacht werden. Der dortige Staat konnte und musste „erobert“ werden – als Auftakt der sich anschließenden Weltrevolution. Mit ihr also rechtfertigt Lenin die Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ in Russland. Als die Weltrevolution auf sich warten lässt, ja überhaupt ausbleibt, selbst in Deutschland, stellt er ernüchtert fest: Die „Geschichte nahm einen so eigenartigen Verlauf, dass sie im Jahre 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus gebar, eine neben der anderen, wie zwei künftige Küken unter der einen Schale des internationalen Imperialismus. Deutschland und Russland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der der ökonomischen ‚produktionstechnischen‘ und sozialwirtschaftlichen Bedingungen und andererseits der politischen Bedingungen für den Sozialismus.“1367 Bleiben wir mit unserer „Hälfte“ allein, so „werden wir Jahrzehnte brauchen, um uns herauszuwinden“.1368 Denn: „Sozialismus ist undenkbar ohne großkapitalistische Technik, die nach dem letzten Wort modernster Wissenschaft aufgebaut ist, ohne planmäßige staatliche Organisation, die Dutzende Millionen Menschen zur strengsten Einhaltung einer einheitlichen Norm in der Erzeugung und Verteilung der Produkte anhält.“1369 Welcher Ausweg also? Übernahme des „Staatskapitalismus der Deutschen“ – und dabei „keine diktatorischen Methoden scheuen, um diese Übernahme stärker zu beschleunigen“.1370 1366 Lenin, Zwei Taktiken, a. a. O., S. 566. 1367 Lenin, Über ‚linke‘ Kinderei …, a. a. O., S. 791. 1368 Lenin, W 32, S. 227. 1369 Lenin, Über die Naturalsteuer, in: Ders., AW III, S. 672. 1370 Ebd.

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Hinzu kommt, dass sich nach dem Krieg und nach dem sich anschließenden Bürgerkrieg zeigt, dass „bei uns [das Industrieproletariat] durch den Krieg und die furchtbare Verwüstung und Zerrüttung deklassiert, d. h. aus seinen Klassengeleisen geworfen ist und aufgehört hat, als Proletariat zu existieren“. Auf wen stützt sich dann jetzt die Revolution? „Will man nicht vor der Wirklichkeit die Augen verschließen, so muss man zugeben, dass gegenwärtig die proletarische Politik der Partei nicht durch ihre Zusammensetzung, sondern durch die gewaltige, ungeschmälerte Autorität jener ganz dünnen Schicht bestimmt wird, die man die alte Parteigarde nennen kann.“1371 Also objektiv und subjektiv gesehen: Es ist so gut wie nichts da, auf das sich eine proletarische Revolution stützen könnte. Weder eine ausreichende Industrie noch ein Industrieproletariat. Der Kontrast konnte nicht größer sein. „Unter dem unteren Stadium des Kommunismus verstand Marx … eine Gesellschaft, die in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung von Anfang an höher steht als der fortgeschrittenste Kapitalismus.“1372 Russland aber wies zur Zeit der Revolution einen Kapitalismus auf, der gerade begonnen hatte, sich zu entwickeln, der noch ganz in den Kinderschuhen steckte. Jahre bangen Hoffens, wenigstens auf eine proletarische Revolution in Deutschland, folgten. Abgekoppelt vom fortgeschrittenen Teil des Kapitalismus, zurückgeworfen auf ökonomische Verhältnisse und Strukturen, die eher noch dem Feudalismus als dem Kapitalismus zuzuordnen waren, umzingelt von Privateigentum, das „unzerschlagbar“ war, hatten sie lediglich den Staat in der Hand. Schnell kam auf die Sowjetunion zu, was Marx bereits 80 Jahre zuvor Versuchen dieser Art prophezeit hatte: „Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ‚auf einmal‘ und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkräfte und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt.“1373 Als lokaler Kommunismus könnte er nicht lange überleben, ohne dass er zurückfällt, ohne dass die „alte Scheiße“ von vorn beginnt. War das Vorhaben damit nicht bereits gescheitert? Stand „Sozialismus“ in Russland überhaupt noch auf der Tagesordnung? Hieße es nicht „das Unmögliche wollen“1374, wollte man diesem Ziel weiter nachjagen?

1371 Lenin, Neue Zeiten, alte Fehler in neuer Gestalt, in: Ders., W 33, S. 4, und ders., Über die Bedingungen für die Aufnahme neuer Parteimitglieder, in: Ders., W 33, S. 243. 1372 L. Trotzki, Verratene Revolution, Essen 1997, S. 98. 1373 MEW 3, S. 35. 1374 MEW 3, S. 312.

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„Sehr rasch zeigte sich, dass der Entwurf der Pariser Kommune in wesentlichen Punkten nicht zu erreichen war.“1375 Als Erstes schoss der Staat ins Kraut, feierte, anstatt der Theorie nach abzusterben, fröhliche Urständ, streckte und reckte sich in die Höhe und die Breite – was hauptsächlich damit zu erklären ist, dass er an die Stelle der ins Ausland vertriebenen und/oder liquidierten Kapitalisten trat, also neben der politischen nun auch die ökonomische Macht an sich gerissen hatte. Mehr als einem Genossen aus der alten bolschewistischen Garde wurde bald angst und bange vor ihm. Auch Lenin erschrak vor dem Koloss, der sich immer mehr ausbreitete und verselbstständigte. Schon todkrank, versucht er das Phänomen unter dem Stichwort „Bürokratismus“ zu analysieren. „Wer leitet da und wer wird geleitet“, fragt er. Und seine pessimistische Antwort: „Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten … leiten.“1376 Schon ein Jahr nach Lenins Tod ist klar, wer leitet: die neue Sowjetbourgeoisie, die „Sowbur“, mit Stalin an der Spitze. Die „Diktatur des Proletariats“ – wenn sie je bestand – war zur „Diktatur über das Proletariat“ (Trotzki) geworden. Was tun? Die Flinte ins Korn werfen? Stalin, der von der mächtigen Parteiund Staatsbürokratie nach vorne geschoben wurde und bald über mehr Macht verfügte als je ein Zar vor ihm, wählte den anderen Weg. Den Weg des Aufbaus des Sozialismus in einem Land. Hatte man sich der Kapitalisten nicht schon weitgehend entledigt? War das Privateigentum nicht bereits im großen Stil „subjektlos“ geworden? Gab es nicht bereits vorzeigbare „sozialistische Errungenschaften“? Sollte man das alles preisgeben, sollte das alles nur den Boden für eine andere, für die kapitalistische Wirtschaftsordnung gedüngt haben? Die Dinge nahmen ihren Lauf. Da Privateigentum in Russland „unzerschlagbar“ war, da der Kommunismus „Lokalität“ blieb, hatte die Enteignung, die Liquidierung der Kapitalisten lediglich das Subjekt des Eigentums ausgewechselt. An die Stelle der Enteigneten trat der Staat. Er stand jetzt der Lohnarbeit, dem Proletarier gegenüber.1377 Was also erstand? Ein bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie; der Syndikatsstaat Lenins. Laut F. Engels war damit allenfalls eine neue „Vorstufe“ zum Sozialismus erreicht, nicht jedoch Sozialismus.1378 Seinem Wesen nach blieb das Eigentum, was es war: kapitalistisches 1375 U.-J. Heuer, Noch einmal: Zum Leninschen Staatsbegriff, in: StuR 1988, S. 862. 1376 Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B) auf dem XI. Parteitag 1922, in: Ders., AW II, S. 790. 1377 Vgl. Marx, GR, S. 211. 1378 MEW 19, S.  221 (Fußnote). Nennt man diese Vorstufe „Sozialismus“, so muss hinzugesagt werden: Sie ist nicht Sozialismus im marxschen Sinne, sondern eine „vollkommen kontrollierte kapitalistische Wirtschaft“ (P. Mattick, Marx und Keynes, Frankfurt, Wien 1971, S. 288).

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Eigentum. An der „Objektstellung der unmittelbaren Produzenten“ änderte sich nichts.1379 Dieses „Wesen“ ergriff nunmehr vom Staat Besitz. Was Lenin als Aufleben des Bürokratismus ansah, war nur der oberflächliche Ausdruck dafür, dass der kapitalistische Staat sich auf neuer Grundlage reorganisierte. Mit Urgewalt stieg er empor: ein nach den Grundsätzen des Unternehmens organisierter und arbeitender Staat. Ein Staat neuen Typs. Anerkennend konstatiert C. Schmitt 1929, „dass auf russischem Boden … ein Staat entsteht, der mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat des absolutesten Fürsten, Philipps II., Ludwigs XIV. oder Friedrichs des Großen“1380. So, wie das Proletariat anstelle der Bourgeoisie die Revolution durchführte, übernahm dieser Staat anstelle der Kapitalisten die Organisation und Leitung der Produktion. Schritt für Schritt formte er die zerschlagene bürgerliche Gesellschaft in ein gigantisches Unternehmen um. Schmitts totaler Staat! Und zwar der „aus Stärke“. Er vereint alle politische, ökonomische und juristische Macht auf sich. Ein „Staatskapitalismus“, ein Kapitalismus „ohne Bourgeoisie“ bildete sich heraus, um Worte Lenins zu gebrauchen. In ihm ist der Kapitalismus, was den formalen Grad der Vergesellschaftung angeht, auf die Spitze getrieben. Aus der Sicht der enteigneten Kapitalisten verkörpert dieser Zustand „Sozialismus“.1381 Und da auch die Revolutionäre dies glaubten oder glauben wollten, decken sich insoweit die Standpunkte. Mag dieser Staat anfangs proletarische Züge getragen haben: Zum Privateigentümer geworden, warf er diese bald ab, stellte sich in den Dienst seines neuen Herrn, machte sich dessen historische Mission zu eigen. Die staatliche Bürokratie formte sich zum betrieblichen Management. Wie die Französische Revolution in Napoleon, so findet die Russische ihren Meister in Stalin. In ihm ist dieser Staat und ist dieses Eigentum auf brutale und rationale Weise personifiziert. Er sprach 1925 aus, was nötig war, diesen konterrevolutionären Schwenk an das Sowjetvolk heranzutragen: „Aufbau des Sozialismus in einem Land“. Holpernd-stolpernd, eher wie nebenbei, kam er dazu – und wurde so zur Stimme, dann zum Vollstrecker jenes Prozesses, der sehr bald nach Zerschlagung des zaristischen Staates eingesetzt und den Lenin unter dem Aspekt „Hilfe, die Bürokratie erstickt uns“ noch sorgenvoll analysiert hatte.1382 1379 J. Perels, Zur politischen Verfassung des Sozialismus, in: KJ 1971, S. 174. 1380 C. Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Ders., PuB, S. 139. 1381 Vgl. P. Mattick, Staatskapitalismus und gemischte Wirtschaft, in: E. Altvater u. a., Rahmenbedingungen und Schranken staatlichen Handelns, Frankfurt 1976, S. 34. 1382 I. Deutscher, Stalin, Berlin 1990, S. 367: „Er kam zu dieser Formel, tastend und im Dunkeln tappend, als wenn er einen neuen Kontinent anlaufen würde, indes er, Kolumbus gleich, der Meinung war, er segle nach ganz anderen Küsten.“

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Ein nationaler Sozialismus wurde auf den Schild gehoben. Er versetzte vielen Altmarxisten, auch führenden, einen „betäubenden Schlag“. Aber wer sich offen dagegen wandte, wie etwa Trotzki, der die „permanente Revolution“ dagegensetzte, lebte nur noch auf Abruf, war als Vertreter der sogenannten „Kapitulationstheorie“ bereits für den Schindanger der bolschewistischen Parteigeschichte vorgemerkt.1383 Vorlaut sprach Bucharin von einem Unding namens „NationalKommunismus“ – lenkte aber rasch ein und befleißigte sich dann, es theoretisch begründen zu helfen. Ohne allerdings sein Leben dauerhaft sichern zu können. Diese Art „Sozialismus“ verbindet sich – zwangsläufig – mit einer Abkehr vom (proletarischen) Internationalismus, wie das in der Umformung der Komintern zu einem verlängerten Arm Moskaus exemplarisch deutlich wird. Wer weiterhin internationalistischen Positionen anhing, wurde folglich als „Kosmopolit“ erst gerügt, dann gebrandmarkt und zur Zeit der großen Säuberungen als „trotzkistisch-faschistischer Volksfeind“ erschossen. Der „Sowjetthermidor“ (Trotzki) war eingeleitet. Alles niedertrampelnd, liquidierend, was im Wege stand, wuchs der Staat zu einer gewaltigen Macht, die alles weit in den Schatten stellte, was er zur Zarenzeit aufzubieten hatte. Und wie gesagt: Er verwandelte die Sowjetgesellschaft in ein einziges, gigantisches Unternehmen, verwandelte sie in jenes „Staatssyndikat“, von dem Lenin bereits in „Staat und Revolution“ schrieb. Parallel dazu schrumpfte das (bürgerliche) Recht zu einem Zivilrecht der Bürger, das lediglich einfache, überschaubare Versorgungsbeziehungen zum Gegenstand hatte. Der wichtigere Teil machte der „Direktion“ und den damit verbundenen, neuartigen Leitungsinstrumenten des Staates Platz, starb ab, wurde (wie auch in der DDR in den Jahren vor Inkrafttreten des ZGB) funktionslos gemacht. Aber für Marx, Engels und (vor der Revolution) auch für Lenin war klar: Sozialismus verbindet sich mit dem Absterben von Staat und Recht. Die jetzige Asynchronität war also höchst aufschlussreich. Sie war alles andere als nur Ausdruck einer „zeitweiligen Deformation“, einer „dogmatischen Verzerrung“ oder von „Bürokratismus“. Sie war entlarvend und erzeugte Handlungsbedarf an der „Rechtsfront“. Der Absterbelehre, die nun ebenfalls „Kapitulantentum“ darstellte, musste Einhalt geboten werden. Sie wurde erst als „bürgerlicher Rechtsnihilismus“, dann als „trotzkistisch-faschistische Feindideologie“ gebrandmarkt. Wer sich ihrer in der Vergangenheit schuldig gemacht hatte – siehe E. Paschukanis –, war schon so gut wie tot, selbst wenn er abgeschworen hatte und jetzt eifrig das Gegenteil behauptete. 1383 Dazu sehr eindrucksvoll (allein die Wortwahl!): Geschichte der kommunistischen Partei (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, Berlin 1953, S. 340 ff.

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Der Staat schwoll an, trat über jedes Ufer. Seine „Rolle und Bedeutung“ nahm stetig zu. Da aber seine Direktiven, da seine Leitungsinstrumente äußerlich wie Recht auftraten, sich in die Form des Rechts kleideten, bot sich hieraus zugleich die Gelegenheit, Gleichklang zwischen staatlicher und rechtlicher Entwicklung herzustellen. Da der Staat „sozialistisch“ war, war auch das von ihm ausgehende Recht sozialistischer Natur; war „proletarisches“, später: „sozialistisches“ Recht. Über eine positivistische Betrachtung, die über einen formalistischen Rechtsbegriff lediglich anknüpfte an Äußerliches, wurde „Direktion“ in „Recht“, in qualitativ neues Recht, in Recht sowjetischen Typs umfirmiert – von Paschukanis, bevor er abgeschworen hatte, mit Hinweis auf Marx als „Missverständnis“ bezeichnet.1384 Definitorisch gefasst wurde dieses rein instrumentale Recht von Wyschinski; er wurde zum Cheftheoretiker des Nicht-Rechts.1385 Mitte der 1930er Jahre hatte der Kapitalismus als Staatskapitalismus gesiegt. Dieser laut Engels „falsche Sozialismus“1386 wurde als Sieg des Sozialismus ausgegeben und mit einer „sozialistischen“ Verfassung gekrönt. Aber gleichzeitig wurde die „Zuspitzung des Klassenkampfes“ propagiert und wurden in monströsen Schauprozessen (oder auch – der weitaus häufigere Fall – ohne Prozess) all jene zur Strecke gebracht, die nicht abzuschwören bereit waren und sich weiterhin auf Marx berufen wollten. Oder jene, die zwar abgeschworen hatten, aber natürlich trotzdem als unsichere Kantonisten galten. Der Expropriation und (auch physischen) Liquidierung erst der Kapitalisten, dann der Kulaken folgte nun der Kampf gegen den übrig gebliebenen Feind, die Marxisten. Die größte Kommunistenhatz der Weltgeschichte setzte ein. In der Diktion Wyschinskis: Ein „Haufen undisziplinierter und verkommener Menschen aus der eigenen 1384 E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre …, a. a. O., S. 33, 34. 1385 Zitiert bei D. Kühne, Der marxistisch-sozialistische Rechtsbegriff, Berlin 1986, S. 34. Er definiert: „Das Recht ist die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind. Die Anwendung dieser Regeln wird durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft sind.“ Was C. Schmitt an dieser Definition gerügt hätte und was W. Ulbricht 25 Jahre später (auf der Babelsberger Konferenz des Jahres 1958) ebenfalls gerügt hat, ist ihre ungenügende Bezugnahme auf den Führer bzw. auf die Führung. Aus ihrer Sicht wäre sie zu etatistisch, zu sehr beim Staat verharrend ausgefallen. Diesem kommt darin eine unangemessene, über seiner bloßen „Instrument“-Funktion liegende Bedeutung zu. Die „Bewegung“, der „Führer“ (Schmitt), die Partei, das Politbüro (Ulbricht) wird verfehlt. Sie, nur sie, sind Quelle des (national-)sozialistischen Rechts. 1386 MEW 19, S. 221 (Fußnote).

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Klasse“ wurde „exemplarisch bestraft“.1387 Auch den Juristen wurde der Marsch geblasen. Wer immer noch nicht begriffen hatte, dass der Staat nicht „abstarb“, sondern kräftiger denn je aufblühte, wer nicht akzeptierte, dass das weggefallene „zirkulationsgebundene“ Recht dauerhaft ersetzt war durch die „produktionsgebundene“ Direktion, die jetzt „sozialistisches Recht“ hieß, wurde (wenn er zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch lebte) als „bürgerlich-faschistischer Rechtsnihilist“ entlarvt und vernichtet. Am Ende war die (Klassen-)Gesellschaft zerschlagen und durch jene amorphe Masse im Sinne Hannah Arendts ersetzt, der jede Strukturiertheit im Sinne von „Gesellschaft“ fehlt und die deswegen den totalitären Staat ermöglicht und erheischt. Innerbetriebliche Zustände waren hergestellt. „Betriebsfrieden“. Was entstand, ist also keineswegs einer krankhaften Veranlagung Stalins oder einer damit im Zusammenhang stehenden Deformation des Sozialismus geschuldet. Vielmehr ist das Produkt die folgerichtige Reaktion des Staatskapitalismus gegen seine nunmehr noch verbliebenen Feinde. Griff Lenin bereits zu kurz, als er die Anfänge dieser Entwicklung dem Bürokratieproblem zuordnete, so war es völlig daneben und reine Apologie, wenn Chruschtschow später die Vorgänge um die Geburt des totalitären Staates in den 1930er Jahren auf ein Personenkultproblem verkürzte. Ein bleierner Ernst senkte sich über die zur Masse degradierte Sowjetgesellschaft. An jedem Ort, zu jeder Stunde war sie der „Direktion“ unterworfen. Ein omnipotenter, allgegenwärtiger Staat stand ihr gegenüber, der das Monopol des Politischen und des Ökonomischen auf sich vereinigt. Danebengestellt, hätte der zaristische Staat wie ein Zwerg gewirkt. Die Sowjetunion war nun das, was Lenin im Deutschen Kaiserreich der Jahre 1914 ff. glaubte sehen zu müssen: „ein Militärzuchthaus für die Arbeiter“1388. Dieser Staat ist ein totaler, ein totalitärer Staat. Er entspricht dem schmittschen Ideal viel mehr als das Dritte Reich, das in weiten Bereichen den traditionellen Staat und dessen Recht vom Sockel stößt und an dessen Stelle ein politisches Terrorregime installiert, den gesellschaftlichen Kernbereich „Wirtschaft“ aber weitgehend unangetastet lässt. Vom Standpunkt der Wirtschaft aus gesehen, stürzt das Dritte Reich also nicht in ein rechtliches Vakuum, wird nicht zur „Befehlswirtschaft“, sondern bildet einen „Doppelstaat“ aus, wie E. Fraenkel dazu sagt. Nationalsozialistische Plan- und Kriegswirtschaft bewirken zwar weitgehende, auch qualitative Änderungen im privatrechtlichen Bereich, bleiben aber 1387 Zitiert bei K. Polak, Über A. J. Wyschinskis Lehren und seine Praxis, in: NJ 1955, S. 68. 1388 Lenin, AW II, S. 298.

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im Versuch stecken bzw. respektieren die ökonomischen Sonderinteressen, die Rechte der Unternehmen. Sie sind weit mehr eine deutsche Sonderform des Keynesianismus als eine Annäherung an den „totalen“ Staat sowjetischer Prägung. Nicht die erste Revolution, deren Ideale und Pläne sich unter der Hand auf das reduzierten, was „die existierenden Produktivkräfte ihnen vorschrieben und erlaubten“1389. Machbar bzw. „erlaubt“ war: treibhausmäßig beschleunigte, gesamtgesellschaftlich organisierte und planmäßig vorangetriebene kapitalistische Entwicklung. Ursprüngliche Akkumulation. „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zuwege, oder wir werden zermalmt.“1390 Der Rückstand mag eher noch größer, mag auf 150 bis 200 Jahre zu veranschlagen sein. In der Sowjetunion geschieht jetzt das, was Westeuropa damals hinter sich gebracht hat: die Schaffung der Grundlagen der kapitalistischen Ordnung mit staatlich sanktionierter Gewalt, mit Terror, mit Unterjochung, mit einem Meer von Blut und Tränen. Im Rahmen der Kollektivierung, für die jede Voraussetzung fehlte, wurden die landwirtschaftlichen Kleinproduzenten von ihren Produktionsmitteln getrennt und wurde so eine industrielle Reservearmee für die „Großbaustellen des Sozialismus“ geschaffen. Bei diesem Vorgang dürften mehr Menschen ihr Leben gelassen haben, als das damalige England Einwohner hatte. Die „Expropriation des Landvolks von Grund und Boden“1391, die Ausplünderung und Pauperisierung der Bauern war, wie damals in England, eine entscheidende Grundlage für die rasche, rasante Industrialisierung. Ein im Staatskapitalismus vorweggenommener, tatsächlich nicht vorhandener Vergesellschaftungsgrad entfaltet eine Sogwirkung, die die alten Strukturen wie ein Orkan erfasst und zerstört. Im Nu liegt die „Gesellschaft“ in Trümmern; zurück bleibt jene Masse, von der bereits die Rede war – in Stalins Verfassung euphemistisch als klassenlose Gesellschaft bezeichnet. Alles dies unter falscher Flagge. Der geheime Kern des realen Sozialismus ist also die ursprüngliche Akkumulation. Vieles wird passend, wenn man ihn unter diesem Gesichtspunkt betrachtet: Der Rückfall hinter die Linie der Französischen Revolution und die auffallende Übereinstimmung rechtlicher und staatlicher Grundstrukturen mit dem Absolutismus weisen darauf hin, dass der „reale Sozialismus“ als 1389 MEW 3, S. 34, 35, 417. 1390 J. Stalin, Über die Aufgaben der Wirtschaftler, Rede vom 4.2.1931, zitiert bei R. Overy, Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland, München 2005, S. 74. 1391 MEW 23, S. 744.

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Gesellschaftssystem nicht „oberhalb“, sondern „unterhalb“ des Kapitalismus zu verorten ist. Die Erfolge waren gewaltig und sprangen umso mehr ins Auge, da zur gleichen Zeit anderenorts die schwerste Krise die Volkswirtschaften erschütterte. Aber mit dem Leben von Millionen Sowjetbürgern waren sie teuer erkauft. – Und sie erschöpften sich bald. Da die ursprüngliche Akkumulation nur ein Übergangsstadium ist, auch in der Sowjetunion, stellte sich spätestens Ende der 1950er Jahre die Frage: Was kommt danach? Müßig zu fragen, ob „Sozialismus“ jetzt möglich gewesen wäre. Ein Ausweg in diese Richtung wurde nicht gesucht bzw. war durch jahrzehntelange sozialistische Phraseologie verstellt; er war angeblich ja schon da. Versuche, die überlebten, zur Fessel gewordenen Strukturen von oben zu reformieren, scheiterten. So starb dieses System letztlich nach jahrzehntelangem Siechtum an dem, was Lenin im Rahmen seiner Imperialismusanalyse dem monopolistischen Kapitalismus prophezeit hatte: die unvermeidliche „Tendenz zur Stagnation und Fäulnis“1392, und räumte seinen Platz einem gewöhnlichen Kapitalismus. Die Stunde jener „Sowbur“ kam, die bislang dem Staatseigentum vornehmlich als Manager gedient hatten, nun aber dieses Eigentum unter sich aufteilten. Wie formulierte Trotzki 1936? „Der Sturz der heutigen bürokratischen Diktatur wäre also, wenn keine neue sozialistische Macht sie ersetzt, gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur.“1393 Die „ganze alte Scheiße“ war wiederhergestellt. Anmerkung: Das der DDR auferlegte mildere, aber artgleiche System hatte seine spezifischen Stimuli aufgrund des ungleich höheren ökonomischen Ausgangsniveaus wesentlich früher verbraucht. Bereits ab Mitte der 1950er Jahre standen dort tief greifende Reformen des ökonomischen Systems an. Auch dort glaubten viele Parteigänger, das Ende des Stalinismus sei gekommen und mache einen unverfälschten, an Marx orientierten Sozialismus möglich. Die Ökonomen F. Behrens und A. Benary, auch etliche Juristen, machten sich daran, Alternativen zu erarbeiten; die These von der sozialistischen Warenproduktion kam auf. Doch genau jetzt zeigte sich, dass die Partei- und Staatsführung weiterhin auf ihrem Stalinismus bestand. Behrens und Benary, die glaubten, die „Entstalinisierung“ ernst nehmen zu können, und daher Vorschläge zur Dezentralisierung des bereits zur Fessel gewordenen Zentralismus erarbeiteten, wurde der Marsch 1392 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium …, in: Ders., AW 1, S. 848. 1393 L. Trotzki, Verratene Revolution, a. a. O., S. 275.

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geblasen. Ebenso jenen Rechtswissenschaftlern, die versuchten, dem Recht seinen Eigenwert zurückzugeben bzw. es vor totaler Instrumentalisierung zu bewahren. Forum dazu war die Babelsberger Konferenz von Februar 1958, die nach H. Klenner (ein von ihr Betroffener) antimarxistische und antisozialistische Ziele verfolgte. Wyschinskis Geist war in Walter Ulbricht (und in seinen juristischen Adlatus Karl Polak) gefahren und beherrschte die Teilnehmer. Die Rechtswissenschaft der DDR wurde auf Kurs gebracht – auf staatskapitalistischen Kurs. Unter der Flagge des „Aufbaus einer sozialistischen Rechtsordnung“ wurden die Reste des bürgerlichen Rechts zerschlagen und in den Folgejahren durch „konkrete Ordnungen“ à la Schmitt ersetzt: Familienrecht, Arbeitsrecht, LPG-Recht, (ansatzweise) Wirtschaftsrecht, zuletzt: das Zivilrecht der Bürger. Sie entstehen als separate, voneinander weitgehend losgelöste Kodifikationen. Sie alle waren nicht so sehr durch ihren juristischen Eigenwert bestimmt, sondern durch ihre Einbettung in die von Partei und Staat ausgehende „Direktion“, durch ihren Instrumentencharakter. Anfang der 1970er Jahre waren die zaghaften, halbherzigen Versuche einer Dezentralisierung der Jahre ab 1963 endgültig zu Grabe getragen. Der unter Erich Honecker neu auflebende rigide Zentralismus strangulierte die Wirtschaft geradezu. Im Prinzip bereits Ende der 1970er Jahre vor dem Bankrott stehend, schleppte sich der Staatskapitalismus der DDR noch ein Jahrzehnt dahin, ehe er durch eine „sanfte Revolution“ in wenigen Tagen vom Tisch gewischt und wenig später durch eine effizientere Spielart des Kapitalismus ersetzt wurde.

Ausblick: Hat der sittliche Staat eine Chance? „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr „Der Plan erscheint und Pan hört auf mit unsern menschlichen Siegen über die zu schmunzeln. Der Pan versinkt, der Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich Plan tritt auf den Plan.“ an uns.“ (F. Engels1394) (C. Schmitt1395)

* Wir führen Krieg. Das ist seit eh und je so, also nichts Ungewöhnliches. Hinter den Kriegen zwischen Staaten, hinter den Bürgerkriegen tritt jedoch immer mehr ein Krieg in den Vordergrund: der Krieg gegen die Natur. Wir haben uns gegen sie entschieden. Sie ist unser Hauptfeind. Wir bekämpfen sie mit allen Hilfsmitteln der Gegennatur. Der Krieg beginnt mit dem Sturm auf die Bastille. Das war nicht nur der Tag des Angriffs auf die absolute Monarchie, sondern auch der Tag, der den Sturm auf die Natur einläutete. Ein populärer Krieg. Denn das Glück, das die bürgerliche Gesellschaft verheißt, wird auf Kosten der Natur gewonnen. Wir haben sie fallen gelassen, wir haben sie zum Objekt gemacht, um sie, umgeformt in handsame Dinge, unlimitiert konsumieren zu können. Ob arm oder reich, ob ausgebeutet oder ausbeutend, ob regiert oder regierend – darin sind wir uns einig: in einem kollektiv-asozialen Verhalten ihr gegenüber. Sie bekommt von nun an die der Gegennatur „immanente Aggressivität“ zu spüren.1396 Sie wird „rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; [sie] hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden“1397. Sie ist seither „der polarische Gegensatz zu der mechanischen Welt der großen Städte“.1398 Unser Glück – das Unglück der Natur. Die bürgerliche Gesellschaft der Gegenwart ist dabei, sich auch der letzten Korrektive zu entledigen. Sie ist dabei, sich vom „objektiven Geist“ frei zu machen – was insgesamt heißt: Wir sind mit ihr allein. Wir sind von allen guten Geistern verlassen. 1394 MEW 20, S. 452. 1395 Ex Captivitate Salus (2. Aufl.), Berlin 2002, S. 83. 1396 C. Schmitt, Vorwort zur italienischen Ausgabe von „Der Begriff des Politischen“ (1971), abgedruckt in: H. Quaritsch, Complexio Oppositorum, a. a. O., S. 272. 1397 K. Marx, GR, S. 313. 1398 C. Schmitt, RK, S. 16.

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Wir berauben und brandschatzen sie. Wir schlagen sie kurz und klein. Und wenn nicht bei uns, dann woanders. Wir sind weit weg von dem, was ein Marx – hier ganz hegelisch – fordert: unsere Erde, deren Nutznießer wir alle sind, unseren Nachkommen nicht als Wüste, sondern „als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen“1399. Sie wird bald irreparabel zerstört sein. Aber der Mensch ist ein Teil von ihr. Also teilt er ihr Schicksal; ihre Zerstörung zerstört auch ihn. Der Sieg der „produzierten“ Natur, der Sieg der mit ihr verbundenen Werte und Prinzipien, der Sieg der mit ihr verknüpften „Person“ endet also im Untergang auch des Menschen.1400 Denn wir wissen aus dem Biologieunterricht: Stirbt das Wirtstier, endet damit auch dessen Parasitenbefall. Der Tod ist also ihr Gemeinsames. Was würde Hegel zum heutigen Turbokapitalismus sagen, der längst alle Zügel abgeworfen hat und der längst aus dem Ruder gelaufen ist? Würde er auf Rom verweisen, das mit dem „Prinzip der selbstständigen Besonderheit“ nicht fertig wurde, sodass dort das „hereinbrechende Sittenverderben“ schließlich „der letzte Grund des Untergangs“ wurde? Zweifellos würde er darin das „Ausschweifende und Maßlose“1401 erkennen, das, wovor er schon damals warnte: die größte Gefahr für die Schöpfung. Der Untergang Roms ließ noch genug Natur übrig. Und er führte, nach langer Zeit der Dunkelheit, zu neuen Ufern. Zu welchen Ufern aber führt der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft? Welches Ufer kann uns retten? Wird ein Ufer überhaupt noch vorhanden sein? Und wie lange wird es dauern, ehe es erreicht ist? ** Gegenüber den alten Römern hat sich unser Verstand ausgeweitet. Wir wissen unendlich mehr als diese. Aber dieser Verstand ist gegen die Natur gerichtet, arbeitet gegen sie, wetzt sich an ihr. Wir entlocken ihr ihre Geheimnisse, um dieses Wissen gegen sie zu wenden. Was uns fehlt, ist „vernünftiges“ Wissen. Aber was ist „Vernunft“? Jedenfalls mehr und anderes als ein Verstand, der sich nur als das Gegenüber der Natur versteht; er ist lediglich „zum Verstand herab potenzierte Vernunft“1402. 1399 MEW 25, S. 784. 1400 Ein „glorreicher Sieg“ also, wie Hegel sarkastisch formuliert (Glauben und Wissen, in: Ders., MM 2, S. 288). 1401 § 185/Zus. Rph. 1402 Hegel, DS, S. 12.

Hat der sittliche Staat eine Chance?  |

Was dem „Verständigen“ am „Vernünftigen“ fehlt, ist das spekulative Moment, ist die Dialektik. Verstand und Vernunft gegenübergestellt, ergibt sich: Dem Verstand gelten nur Sachverhalte für wahr, welche ihm „in ihrer Entgegensetzung“ entgegentreten. Die „konkrete Einheit“ bleibt ihm verborgen, weshalb das „verständige Denken“ ständig oszilliert um das eine und um dessen Entgegengesetztes, „wohingegen das Vernünftige als solches gerade darin besteht, die Entgegengesetzten als ideelle Momente in sich zu enthalten“.1403 Wir aber gebrauchen unseren Verstand dazu, jene Sicherungen, jene Korrekturinstanzen auszuhebeln, die die bürgerliche Gesellschaft „sittlich“ machen. Schon ist der „naturgesetzliche Gesamtprozess“, die hauptsächliche Korrekturinstanz, weitgehend zur Seite geschoben. Aber nur sein Wirken rechtfertigte den „neutralen“ Staat, den „Nachtwächterstaat“ des 19. Jahrhunderts. Sein Wegfall verlangt nach Kompensation. Der Staat, der „sittliche“ Staat Hegels, ist wieder, ja mehr denn je gefragt. Jener Staat, der im Interesse der „organischen“ Natur Einfluss darauf nimmt, wie viel „bürgerliche Gesellschaft“ „stattfindet“, wie produziert, was produziert, wie viel produziert wird. Ein Staat, dessen Politik und dessen Handeln die Erkenntnis zugrunde liegt, dass die „echte“ Natur das „notwendige Andere“1404 der „produzierten“ ist. Freilich, für jemanden, der sich unsittlich, abstrakter: „unorganisch“ verhält bzw. verhalten muss, wenn er als Person bestehen will, mag dieser Staat einen „abstoßenden Zwangscharakter“1405 tragen. Aber auch die §§ 242 und 263 ff. StGB tragen für Diebe und Betrüger einen solchen „abstoßenden“ Charakter. Es scheint die Art des Umgangs mit den Dramen unserer Klassiker zu sein, die „gegen den Strich gebürstet“ aufzuführen modern geworden ist, sodass leicht aus einer Tragödie eine Komödie wird, die Hegel für einen ernsteren Gegenstand antizipiert und in die Worte fasst: „Wenn die Tragödie darin ist, dass die sittliche Natur ihre unorganische, damit sie sich nicht mit ihr verwickle, als ein Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüberstellt und, durch die Anerkennung desselben in dem Kampfe, mit dem göttlichen Wesen als der Einheit von beiden versöhnt ist, so wird dagegen, um dieses Bild auszuführen, die Komödie überhaupt auf die Seite der Schicksallosigkeit fallen“.1406 1403 § 82/Zus. Enz. 1404 § 119/Zus. 1 Enz. 1405 P. Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz von Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1925, S. 77. 1406 Hegel, NR, S. 496.

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|  Ausblick

Die Leugnung des Schicksals, unseres Schicksals. Einen Spaß daraus machen. Es um seinen Ernst bringen; die Dinge so drehen und wenden, dass daraus am Ende „ein ernstloser, keine innere Wahrheit habender Gegensatz“ wird.1407 Das mögen Lebenshilfen sein. Aber sie zeugen von schlechter Art und von schlechtem Geschmack. *** Oder schaffen wir die Wende? Voraussetzung wäre, dass wir Abstand von unserem parasitären Verhältnis zur Natur nehmen. Bisher sind wir darauf nicht eingerichtet. Nicht im Großen und nicht im Kleinen. Nicht im Allgemeinen und nicht im Einzelnen. Es scheint so, als habe sich das „Negative“ längst absolut gesetzt. Allerdings behauptet es von sich, das Positive zu sein. Und wer dagegen hält, wird, wenn er Glück hat, als Rufer in der Wüste oder, wenn er Pech hat, als „Böser“ oder gar als das „Böse“ schlechthin angesehen (und mit Krieg überzogen, wenn er Öl hat). Welche Massenbasis, auf die er sich stützen kann? Welche Massenmedien, die dauerhaft zu ihm hielten? Und die Massen selbst – sind sie nicht so weit korrumpiert und manipuliert, dass sie die „tiefe Rohheit und völlige Gemeinheit“ übersehen, die „der innere Grund dieser Glückseligkeitslehre“ ist?1408 Haben sie sich nicht längst durch eifriges Konsumieren über das „schmerzerregende Wegschneiden eines wesentlichen Stückes“1409 ihres Daseins hinweggetröstet? Sind sie nicht schon längst in die „Verdorbenheit“ einbezogen; sind sie nicht längst abgesunken „in die matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“?1410 Sind sie als Personen nicht schon längst kaum mehr als eine mit Konsumgütern mehr oder weniger gut aufgefüllte „Leere“? Erleben wir nicht gerade, wie die globalisierte, jeder Kontrolle entzogene bürgerliche Gesellschaft versucht, den Nationalstaat, einstmals Bollwerk des „sittlichen“ Staates, an vielen Stellen der Welt niederzureißen? Insoweit er Abkömmling und natürlicher Interessenvertreter der Natur ist, gilt dieser Krieg auch ihm. Vorwände finden sich immer. Er wird vor allem dann und dort niedergerissen, wo er sich, auf welcher ideologischen, religiösen und ökonomischen Plattform auch immer, der unorganischen Natur als Schranke entgegenstellt. Ersetzt wird er durch ein „allgemeines Gemeinwesen“, „dessen einfache 1407 Ebd. 1408 Hegel, Glauben und Wissen, in: Ders., MM 2, S. 292. 1409 Ebd., S. 300. 1410 Hegel, NR, S. 492.

Hat der sittliche Staat eine Chance?  |

Allgemeinheit geistlos und tot ist und dessen Lebendigkeit das einzelne Individuum, als Einzelnes, ist“.1411 Hegels sittlicher Staat war Nationalstaat. In der Gegenwart stehen wir aber vor der Tatsache, dass der Nationalstaat abgelöst wird durch supranationale Gebilde, die „reine“ Formen des „Gesellschaftsstaates“ sind. Beispiel: die EU. In ihrem Bereich werden die nationalen Besonderheiten Stück um Stück zugunsten eines Ökonomisch-Allgemeinen eingeebnet und durch Letzteres ersetzt. Eine Kompetenz nach der anderen geht auf sie über. Alles, was „kreucht und „fleucht“, ist hiervon erfasst – bis hin zu den Gurken, die, wollen sie ihrer Ausstoßung aus der Gurkengesellschaft entgehen, sich EU-weit befleißigen müssen, gerade zu wachsen, um in die EU-Kiste zu passen. Ein nationales „Artensterben“. Normierung und Uniformierung, so weit das Auge reicht. Die aufgezeigten Tendenzen und Prozesse sind nicht neu. Mit Eintritt in die Periode der Globalisierung erreichen sie aber einen neuen Höhepunkt und eine neue Qualität. Ging es vor 300 Jahren um die Auslagerung des Ökonomischen aus der Familie, so steht diesmal im Mittelpunkt die Ablösung des Ökonomischen vom Nationalstaat. Dieser wird als letztes verbliebenes „Oikos“-System, damit als Verwalter von „Sittlichkeit“ in den Ruhestand versetzt: Er wird im Wege der „Privatisierung“ enteignet; ihm werden auch noch die letzten bislang von ihm verantworteten Lebensbereiche entzogen und dem ökonomischen Kreislauf zugeführt. Angesichts ihrer Dimension war die Aneignung der Allmende durch die mittelalterlichen Feudalherren doch eher eine Kleinigkeit. Ein galoppierender Verfall seiner Einflussmöglichkeiten auf die Wirtschaft verbindet sich damit. Er wird „illusionäre Allgemeinheit“. Aber auch der nationale (Aus-)Weg hilft nicht weiter. Im Gegenteil. Die vielen seit 1990 im Zuge des Zerfalls des Ostblocks und Jugoslawiens allein in Europa in die Welt getretenen Nationalstaaten sind schnelle und leichte Beute der Globalökonomie geworden. Ihre frisch errungene Souveränität ist längst auf diese übergegangen. Auf nationaler Ebene ist das Problem, vor dem wir stehen, also nicht zu lösen. Ein Ausweg ist es jedenfalls nicht, wenn der deutsche Wald gehegt und gepflegt wird, aber (dafür) die Regenwälder Afrikas und Amazoniens umso brutaler und rücksichtsloser abgeholzt werden. Die saubere deutsche Luft und das saubere Wasser deutscher Flüsse und Seen verlieren ihren Wert angesichts weltweit zunehmender Verschmutzung dieser Ressourcen. Der Erhaltung der Umwelt hier steht eine umso größere „Menge“ zerstörter oder irreparabel geschädigter Umwelt dort entgegen. Nicht punktuelle, sondern globale 1411 Hegel, Phän., S. 354.

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Lösungen können uns retten. Daher dringend geboten: ein Weltstaat, der in ihrem Interesse tätig wird – gewissermaßen als „Geschäftsführer des Weltgeistes“; der das „Recht des Weltgeistes“ normiert und exekutiert – ein Recht, das „über alle besonderen Berechtigungen“1412 geht. Er wäre das Gegengewicht zur schon längst bestehenden Weltgesellschaft. **** Die rechtliche und staatliche Dimension der ökologischen Frage wird seit Mitte der 1980er Jahre engagiert diskutiert. So gut wie kein Aspekt blieb dabei unberührt. Und es ist nicht so, dass der Diskussion keine praktischen Ergebnisse gefolgt wären. Aber diese sind, angesichts der aufgestauten Probleme, deutlich unzureichend. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Probleme zu sehr anthropozentrisch, also unter dem Blickwinkel gesehen werden, welcher Schaden dem Menschen aus der zerstörten Natur erwächst. Wir denken an das „Mensch-Tier“, an die „Leiblichkeit“, ohne die der Antimensch „Person“ nicht zu existieren vermag, nicht aber an alle Tiere (geschweige an die Pflanzen). Das engt unser Problembewusstsein und unser Handeln ungemein ein.1413 Ein wenig hängt diese verengte Sicht auch damit zusammen, dass die „philosophischen Bezugspersonen“1414 der bisherigen Diskussion eher Kant, Schelling, Husserl, Heidegger sind. Nicht Hegel; um ihn schlägt die Diskussion einen Bogen. Das aber bei teilweise grober Verkennung seiner philosophischen Position. Das fällt zum Beispiel bei K.-M. Meyer-Abich, einem der Pioniere, ins Auge. Er unterstellt Hegel einen Naturbegriff in der Nachfolge Descartes, meint also, dass Hegel alles Nicht-Geistige „maschinell“ und als bloßes Objekt begreift. Das gipfelt in der Aussage: „In der Brutalität aber, dass alles was nicht Mensch ist, der Hoheit des menschlichen Willens gegenüber keinerlei Eigensinn habe und vollends rechtlos sei, ist das industriewirtschaftliche Handeln vor Hegel noch von niemand gerechtfertigt worden.“1415 Meyer-Abich stützt sein Urteil auf Passagen, die dem „Abstrakten Recht“ der „Rechtsphilosophie“ entstammen. Das ist aber der Ort, wo Hegel das Recht als Teil der „produzierten“ Natur, somit als Teil eines an sich Unmenschlichen 1412 Hegel, VPhG, S. 46, 54. 1413 S. dazu: K. Bosselmann, Wendezeit im Umweltrecht, in: KJ 1985, S. 345 ff., und ders., Eigenrechte für die Natur?, in: KJ 1986, S. 1 ff. 1414 Sichtbar z.  B. in der informativen Darstellung von M. W. Schröter, Mensch, Erde, Recht, Baden-Baden 1998. 1415 K.-M. Meyer-Abich, Naturordnung und Menschenrecht, a. a. O., S. 24.

Hat der sittliche Staat eine Chance?  |

darstellt, vor dem der Mensch und jene andere Natur, der er als Naturwesen angehört, zu schützen sind. Ich verweise noch einmal auf § 29 Rph und die dortige Polemik gegen Kant (auf den Meyer-Abich sich stützt). Dessen Beschränkung der Willkür, „dass sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“, ist Hegel zu wenig. Die Beschränkung muss weiter gehen, sie muss nicht nur den Mitgliedern, sondern der bürgerlichen Gesellschaft selbst gelten. Die von Meyer-Abich gemeinte Natur ist vor der Letzteren und ihrem Drang, sich absolut zu setzen, in Schutz zu nehmen. Das ist die Aufgabe, der sich Hegel verschreibt. Richtig ist aber, dass er der „organischen“ Natur keine Rechte zuordnet. Diese Natur hat keine Rechte und braucht sie auch nicht. Sie wird nicht durch das Recht geschützt, sondern durch den sittlichen Staat. Richtig ist daher, wenn P. Becchi sagt: „Hegel hätte sicher die Zulässigkeit von ‚neuen‘ Rechtsinhabern (wie Tieren, Pflanzen, Mineralien), über die man so sehr diskutiert, bestritten.“ Falsch aber wird es, wenn er meint, daraus den Schluss ziehen zu müssen, dass Hegel „als ein Denker in dieser Tradition“1416 (der Unterwerfung der Natur) anzusehen sei. Basis solcher Fehlinterpretationen ist ein bis heute unklarer, undifferenzierter Naturbegriff, dem die begriffslogische Unterscheidung in „organische“ und „produzierte“ Natur fremd ist. Das zeigt sich bei Becchi an seiner Frage: „Aber um welche Natur handelt es sich?“1417 Von ihr aus wird Hegel zum Fürsprecher der „produzierten“ Natur erklärt. Der ist er aber gerade nicht – weshalb er auch im Recht als einem Teil dieser Natur nicht das Heilmittel sehen kann, das der anderen Natur Hilfe bieten könnte. Aus seiner Sicht wäre die Personalisierung dieser Natur eher ein Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Von seinem philosophischen Standpunkt aus sind also keine „Eigenrechte“ der/dieser Natur zu begründen. Er verleiht dem Tier, der Pflanze, dem Fels keine Rechtssubjektivität. Er verdoppelt den Rechtsstaat nicht, indem er ihn auf die andere Natur erstreckt. Das kann man ihm nur dann als Mangel ankreiden, wenn man ihn als „Philosoph[en] der Industriegesellschaft“1418 missdeutet. Mit seiner „Rechtsphilosophie“ reagiert Hegel auf das existenzielle Problem, das sich für die Menschheit ergibt, sobald der „Blut-und-Boden-Zusammenhang“ des feudalen Gemeinwesens zugunsten der Freiheit der „produzierten“ Natur gesprengt wird. Diese Freiheit geht, zusammen mit der Dynamik, die sie in Gang setzt, zulasten der anderen Natur. Darauf nimmt seine Staatsphilosophie 1416 P. Becchi, Gibt es ein Recht der Natur im Hegelschen Naturrecht?, in: HJ 1990, S. 266. 1417 Ebd., S. 265 – die Antwort darauf bleibt offen. 1418 Meyer-Abich, Naturordnung und Menschenrecht, a. a. O., S. 24.

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Bezug. Er erkennt bereits damals das prinzipielle Problem, das mit ihr in die Welt tritt.1419 Mit dieser Freiheit verantwortlich umzugehen: darum geht es Hegel. Und deshalb versteht er seinen Staat als Treuhänder dieser Natur – um einen Begriff zu gebrauchen, der in der Diskussion um die „Eigenrechte der Natur“ eine zentrale Rolle spielt. Sein Handeln wäre darauf gerichtet, ein vernünftiges Miteinander der Naturen sicherzustellen. Hegels ganzheitlicher Ansatz könnte also hilfreich sein, die zerstreuten Stand- und Ausgangspunkte in einem Gesamtbild zu vereinigen. Nicht der gefährdete Wald, nicht die bedrohte Tierart, nicht die verschmutzte Luft stünde dann im Mittelpunkt, sondern die in ihrer Gesamtheit bedrohte Schöpfung. Eine Prinziplösung. Sie führt nicht über „Eigenrechte der Natur“1420, sondern über die Pflicht der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mitglieder der Natur gegenüber. Der Ansatz Hegels ist präventiv. Als Praktiker des Rechts weiß ich, dass der Rechtsstaat fast immer zu spät kommt. Seine Sache ist nicht die Aktion, sondern die Reaktion. Von seiner ganzen Anlage her ist er ungeeignet, der Natur effektiv Hilfe zu leisten. Die Verdoppelung des Rechtsstaates würde – ließe sich die bürgerliche Gesellschaft überhaupt darauf ein – mit einiger Sicherheit auf nichts anderes hinauslaufen als auf ein gigantisches Programm zur Beschäftigung ansonsten überflüssiger Juristenscharen. Der politische Staat muss als Repräsentant des „Naturprinzips“ erkannt, als solcher restituiert und in die Mitte der Diskussion und des politischen Handelns gestellt werden. Seine Aufgabe wäre es, eine „Pflicht zur Natur“ zum Maßstab des politischen Handelns zu machen. Es wäre dies meines Erachtens die richtigere und auch erfolgversprechendere Vorgehensweise gegenüber jenem Ansatz, der auf „Verrechtlichung“ der Natur setzt.1421

1419 Unrichtig daher, wenn Becchi (Gibt es ein Recht …?, a. a. O., S. 267) schreibt: „Es ist offensichtlich, dass dies [scil. die Naturzerstörung; B. R.] die Probleme unserer Zeit sind, und es ist nicht anzunehmen, dass Hegel sich dieser Probleme schon zu seiner Zeit bewusst werden konnte.“ So zu urteilen, bedeutet nur, unsere eigene Blindheit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber auf Hegel rückzuübertragen. 1420 Ich teile also den Zweifel P. Saladins (Umwelt und Rechtssubjekt, a.  a.  O., S.  124) an der Durchsetzbarkeit und noch mehr an der Praktikabilität dieser Konzeption und schließe mich seiner Frage an, „ob man nicht mit geringerem Aufwand und ebenso gutem Erfolg andere Wege beschreiten könnte und sollte“. 1421 Mir scheint, dass auch K. Bosselmann (Eigenrechte für die Natur?, a.  a.  O., S.  17  ff.) einer solchen Lösung den Vorzug gibt.

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Register

Die Arbeit nimmt fast durchweg Bezug auf zwei Denker, die mit ihren Vorstellungen von Staat und Gesellschaft die Theorie und Praxis besonders im Deutschland des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflusst haben: Karl Marx und Carl Schmitt. Wegen dieser ständigen Präsenz wird davon abgesehen, sie in das Register aufzunehmen. Adler, Max  232 Ahrendt, Hannah  276 Ballerstedt, Kurt  341, 342 Bastiat, Frédéric  55, 56 Becchi, Paolo  393 Behrens, Friedrich  385 Benary, Albert  385 Beyer, Wilhelm Reimund  35 Binder, Julius  106, 122, 129, 130, 131, 132, 135, 136, 137, 138, 146, 147, 248, 262, 271, 273, 274, 278, 280, 365 Bluntschli, Johann Caspar  104 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  83, 84 Bogdandy, Armin von  188 Boldt, Hans  82, 203 Bonaparte, Napoleon  180, 380 Bucharin, Nicolai Iwanowitsch  381 Burke, Edmund  295 Busse, Martin  146 Carey, Henry Charles  55, 56 Carove, Friedrich Wilhelm  181 Cäsar, Gaius Iulius  180 Cesa, Claudio  214 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch  383 Dietze, Hans-Helmut  283 Dreier, Horst  287 Dulckeit, Gerhard  123, 139, 147, 151, 281 Eckhardt, Karl August  373 Ehmke, Horst  68, 83, 84 Einstein, Albert  210 Engels, Friedrich  8, 25, 31, 38, 52, 54, 57, 58, 59, 61, 70, 75, 76, 77, 93, 178, 301, 325, 376, 379, 381, 382, 387

Fauser, Manfred  341 Fichte, Johann Gottlieb  26, 40, 173, 179, 321, 326 Flickinger, Hans Georg  147 Forsthoff, Ernst  86, 330, 341, 342 Fraenkel, Ernst  46, 83, 242, 283, 288, 290, 293, 294, 383 Freyer, Hans  282 Friedrich der Große  380 Galilei, Galileo  213 Gans, Eduard  101, 200, 217 Gerber, Hans  258, 259 Gerland, Heinrich  374 Gierke, Otto von  93, 95, 101, 103, 104, 105, 106, 107, 120, 125, 129, 136, 137, 163, 164, 214, 245, 281, 282, 356, 373 Glockner, Hermann  271 Gneist, Rudolf von  63 Griesheim, Carl Gustav Julius von  217 Habermas, Jürgen  110, 306, 314 Haller, Albrecht von  40, 97, 98, 201 Haney, Gerhard  355, 362 Hartmann, Nicolai  140, 159, 173, 176 Hasbach, Wilhelm  233 Hauriou, Maurice  369 Haym, Rudolf  29, 32, 58, 169, 181 Hedemann, Justus Wilhelm  376 Heidegger, Martin  392 Heimann, Betty  8 Helfritz, Hans  281 Heller, Hermann  81, 83, 84, 210, 216, 263 Heuer, Uwe-Jens  310, 311, 312, 329, 332, 333, 338, 344, 351, 367, 373

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|  Register

Hilferding, Rudolf  305 Hintze, Otto  54 Hitler, Adolf  8, 218, 230, 242, 273, 280, 281, 320, 337 Hobbes, Thomas  7, 176, 177, 228, 229, 259, 314, 350 Höhn, Reinhard  137, 275, 281 Honecker, Erich  386 Honneth, Axel  173 Horkheimer, Max  304 Horstmann, Rolf-Peter  39 Hösle, Vittorio  211, 212, 213, 215 Huber, Ernst-Rudolf  81, 82, 238, 357, 374 Hugo, Gustav von  119 Husserl, Edmund  392 Ilting, Karl-Heinz  35, 211, 215 Jellinek, Georg  63, 244, 258 Jhering, Rudolf von  107 Kahn-Freund, Otto  76 Kaiser, Joseph Heinrich  343 Kant, Immanuel  26, 40, 98, 134, 135, 140, 145, 254, 255, 257, 271, 275, 293, 392, 393 Kastner, Hannes  212 Kaufmann, Erich  41, 132 Kelsen, Hans  31, 32, 129, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 143, 144, 223, 231, 234, 252, 258, 260, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 288, 289 Keynes, John Maynard  45, 314, 340 Kiesewetter, Hubert  259, 308 Kirsch, Martin  200 Klenner, Hermann  35, 299, 315, 386 Koellreutter, Otto  280, 281 Koslowski, Stefan  211 Köttgen, Arnold  250, 291 Laband, Paul  258, 259, 260, 339 Lange, Heinrich  365 Larenz, Karl  123, 133, 135, 136, 137, 146, 244, 279, 282, 305, 337, 347, 349, 350, 355, 356, 357, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 373 Laski, Harold  226 La Torre, Massimo  137 Leibholz, Gerhard  83, 244, 248, 249, 250, 288, 290, 291, 293, 294, 296, 297

Lenin, Wladimir Iljitsch  7, 37, 43, 176, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 231, 233, 239, 240, 243, 244, 245, 266, 283, 284, 294, 307, 310, 311, 312, 313, 322, 323, 324, 325, 327, 376, 377, 379, 380, 381, 383, 385 Liermann, Hans  246, 247, 248, 249, 250, 251, 285 Lingelbach, Gerhard  8 Locke, John  176, 177 Ludwig XIV. von Frankreich  380 Lukacs, Georg  35 Marck, Siegfried  130, 131, 132, 134 Marcuse, Herbert  40 Maunz, Theodor  244, 369 Medizinische Versuche – Siehe Humanexperimente Menger, Anton  104, 105, 106, 163 Merk, Walther  281 Meyer-Abich, Klaus-Michael  392, 393 Miglio, Gianfranco  221 Mohler, Armin  317 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de  138, 194, 204, 205 Müller, Kay  364 Napoleon –  siehe Bonaparte, Napoleon Naumann, Friedrich  65 Papen, Franz von  320 Paschukanis, Eugen  155, 274, 315, 318, 327, 381, 382 Pawlik, Michael  29 Philipp II. von Spanien  380 Pinochet, Augusto  218 Platon  33, 179, 192, 195 Plenge, Johann  32 Pöggeler, Otto  181 Polak, Karl  274, 286, 315, 386 Popper, Karl  259 Posch, Martin  349 Preuß, Hugo  231, 236, 244 Raiser, Ludwig  165, 366, 368 Redlich, Josef  63 Ricardo, David  57, 139, 142 Richter, Hans Peter  8 Riedel, Manfred  38, 200 Ritterbusch, Paul  373

Register  |

Ritter, Joachim  35, 100, 116, 119, 147, 151 Robespierre, Maximilien de  190 Rodbertus, Karl  25, 93 Rosenberg, Alfred  278, 279 Rosenstock, Eugen  239, 308, 347, 357 Rosenzweig, Franz  27, 34, 39, 167, 178, 179, 199 Rössler, Constantin  81 Rousseau, Jean-Jacques  40, 97, 187, 195, 201, 293 Rümelin, Max von  81 Saint-Just, Louis Antoine de  190, 235 Savigny, Friedrich Carl von  101, 102, 105, 119, 122, 129, 130, 131, 136, 151, 152, 161, 162, 163, 164, 333, 334 Say, Jean-Baptiste  57, 139 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  26, 392 Scheuner, Ulrich  293, 368 Schleicher, Kurt von  320 Schönfeld, Walther  277 Siebert, Wolfgang  349, 359, 362 Siep, Ludwig  181, 203, 205, 209 Sinzheimer, Hugo  369 Smend, Rudolf  83, 272 Smith, Adam  24, 57, 139 Sombart, Werner  281 Sorel, Georges  231 Spengler, Oswald  25 Stahl, Friedrich Julius  32, 62, 63, 68, 236, 287

Stalin, Josef Wissarionowitsch  8, 44, 218, 274, 323, 324, 376, 379, 380, 383, 384 Steinmetz, Willibald  60 Stewart, Dugald  57 Such, Heinz  342, 364 Suhr, Dieter  213 Taylor, Charles  43, 60, 81 Thaden, Nicolaus von  211, 215 Thiele, Ulrich  204 Thoma, Richard  255, 258, 267 Tönnies, Ferdinand  67, 163, 229, 234, 250, 282, 283 Topitsch, Ernst  8, 259, 308 Trotzki, Leo  379, 381, 385 Ulbricht, Walter  274, 336, 358, 386 Unruh, Peter  287 Varnhagen von Ense, Karl August  55 Vieweg, Klaus  8, 170, 212 Weber, Alfred  295 Weber, Max  37, 43, 176, 225, 233, 240, 270, 293, 307, 311, 317 Weber, Werner  286 Wenediktow, Anatoli Wassiljewitsch  355 Wilhelm II., Deutscher Kaiser  193 Windscheid, Bernhard  136 Wolf, Erik  359 Wolgast, Ernst  282 Wyschinski, Andrei Januarjewitsch  382, 386

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HISTORISCHE DEMOKR ATIEFORSCHUNG HERAUSGEGEBEN VON DETLEF LEHNERT

BD. 1 | DETLEF LEHNERT (HG.)

BD. 4 | DETLEF LEHNERT (HG.)

DEMOKRATIEKULTUR IN EUROPA

SOZIALLIBERALISMUS IN EUROPA

POLITISCHE REPRÄSENTATION

HERKUNFT UND ENTWICKLUNG IM

IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

19. UND FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT

2011. EINIGE S/W-ABB. GB.

2012. 301 S. 6 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20713-7

ISBN 978-3-412-20927-8

BD. 2 | DETLEF LEHNERT (HG.) HUGO PREUSS 1860–1925 GENEALOGIE EINES MODERNEN PREUSSEN 2011. 364 S. 1 S/W-ABB. UND 2 S/W-KARTEN. GB. ISBN 978-3-412-20827-1 BD. 5 | DETLEF LEHNERT (HG.) GEMEINSCHAFTSDENKEN IN EUROPA DAS GESELLSCHAFTSKONZEPT „VOLKSHEIM“ IM VERGLEICH 1900–1938 2013. 327 S. 7 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-21064-9 BD. 6 | DETLEF LEHNERT (HG.) BD. 3 | ANKE JOHN

KOMMUNALER LIBERALISMUS

DER WEIMARER BUNDESSTAAT

IN EUROPA

PERSPEKTIVEN EINER FÖDERALEN

GROSSSTADTPROFILE UM 1900

ORDNUNG (1918–1933)

2014. 316 S. 5 S/W-ABB. GB.

2012. 486 S. 10 S/W- ABB. UND KARTEN.

ISBN 978-3-412-22131-7

GB. | ISBN 978-3-412-20791-5 BD. 7 | DETLEF LEHNERT (HG.) KONSTITUTIONALISMUS IN EUROPA ENTWICKLUNG UND INTERPRETATION 2014. CA. 300 S. GB.

RG212

ISBN 978-3-412-22234-5

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