123 59 3MB
German Pages 446 [448] Year 2013
HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 59
HEGEL-STUDIEN Herausgegeben von WALTER JAESCHKE UND LUDWIG SIEP Beiheft 59
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
HEGELS FAMILIEN- UND GESCHLECHTERTHEORIE
von EVA BOCKENHEIMER
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Für Uschi Siemens, Stephan Siemens und Sebastian Stein.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2247-3 ISBN E-Book 978-3-7873-2252-7
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
INHALT
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 11
I
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
I.1 Zu Titel, Thema und Ziel dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
I.2 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick . . . . . . . Freiheit und Naturbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geist und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichtlichkeit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Familie in der vorgeschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . Staatsgründung und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsgründung und Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die orientalische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die griechische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die römische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die christlich-europäische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 24 25 28 29 31 33 35 37 40 46 52 56
I.4 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie als Herausforderung für die feministische Philosophie und die Frauen- und Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
II
Die Grundlinien der Philosophie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
II.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
II.1.1 Die Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2 Aufbau und Methode der Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 76
II.1.2.1 Die Grundlinien als Philosophie des objektiven Geistes II.1.2.2 Der Begriff des freien Willens – die Einleitungsparagrafen der Grundlinien (§§ 1–33) . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 79
II.1.3 Das Recht als »Daseyn des freyen Willens« . . . . . . . . . . . . . . II.1.3.1 Das abstrakte Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87 89
6
Inhalt
II.1.3.2 Die Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3.3 Die Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98 102
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien (§§ 157/158–181) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
II.2.1 Allgemeine Bestimmung des Begriffs der Familie (§§ 157/158–160) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
II.2.1.1 Die Familie als der »unmittelbare oder natürliche sittliche Geist« (§ 157) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1.2 Die Liebe als allgemeine Bestimmung der Familie (§ 158) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1.3 Die Familie als rechtsfreier Raum (§ 159) . . . . . . . . . .
127 133
II.2.2 Die Ehe (§§ 161–168) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
II.2.2.1 Die Ehe als das »unmittelbare sittliche Verhältniß« (§ 161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.2 Exkurs: Der Gattungsprozess in der Wissenschaft der Logik und der Naturphilosophie der Enzyklopädie II.2.2.3 »Selbstbewußte Liebe« und Anerkennung . . . . . . . . . . II.2.2.4 Die Einheit der Geschlechter in der Natur und in der Ehe im Vergleich (§ 161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.5 Konsequenzen aus Hegels Bestimmung der Ehe als selbstbewusstes Liebesverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.6 Subjektiver und objektiver Ausgangspunkt der Ehe – die Eheschließung als »sittliche Pflicht« (§ 162) . . . . . II.2.2.7 Liebe, Sexualität und Erotik in der Ehe (§§ 163–164) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.8 Hegels Kritik an den Formen der Ehebegründung seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.8.1 Ehe als Fortpflanzungsverhältnis – Kritik des traditionellen Ehebegriffs und der Naturrechtslehre II.2.2.8.2 Ehe als Vertrag – Kritik an Kants Ehetheorie . . . II.2.2.8.3 Ehe als subjektives Liebesverhältnis – Kritik der Frühromantiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehe als leidenschaftliche Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . Ablehnung der förmlichen Eheschließung (§ 164)
125
138 140 154 166 168 170 178 183 183 185 196 196 199
II.2.2.9 Das Geschlechterverhältnis in seiner »intellectuelle(n) und sittliche(n) Bedeutung« (§§ 165–166) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
II.2.2.9.1 Exkurs: Die natürliche Bestimmtheit der Geschlechter nach der Naturphilosophie der Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Inhalt
7
II.2.2.9.2 Die intellektuelle und sittliche Bedeutung des Geschlechtsunterschieds nach den Grundlinien II.2.2.9.3 Kritik an Hegels Darstellung der natürlichen und intellektuell-sittlichen Bestimmtheit der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
II.2.2.10 Monogamie und Inzestverbot (§§ 167–168) . . . . . .
240
II.2.2.10.1 Hegels Position zur Monogamie- und Polygamiedebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.10.2 Das Inzestverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
240 256
212
II.2.3 Das Vermögen der Familie (§§ 169–172) – Familieneigentum und Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4 Die Erziehung der Kinder und die Auflösung der Familie (§§ 173–181) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.1 Die Erziehung der Kinder (§§ 173–175) . . . . . . . . II.2.4.2 Die Auflösung der Familie (§§ 176–181) . . . . . . . . II.2.5 Familie und bürgerliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275 275 282 294
Die Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
III.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
III.1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.2 Die Phänomenologie des Geistes als »Geschichte der Bildung des Bewußtseyns« und die Stellung des Geistkapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
323
III.2.1 »Der wahre Geist, die Sittlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2 »Die sittliche Welt, das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
III
III.2.2.1 Allgemeinheit und Einzelheit als Bestimmungen des menschlichen und göttlichen Gesetzes . . . . . . . . III.2.2.2 Auf der Suche nach der »eigenthümliche(n) Sittlichkeit« der archaischen Familie . . . . . . . . . . . . . III.2.2.3 Die Bestattung der Toten als eigentlich sittliche Handlung der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.4 Unterschiede und Stufen der zwei Gesetze . . . . . . . . III.2.2.4.1 Die Unterschiede und Stufen des »menschlichen Gesetzes« – der Polis . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.4.2 Die Unterschiede und Stufen des »göttlichen Gesetzes« – der Familie . . . . . . . . .
262
310
326 326 334 341 346 347 353
8
Inhalt
Das Verhältnis der Ehepartner . . . . . . . . . . . . . . Das Eltern-Kind-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Bruder und Schwester . . . . .
355 358 360
III.2.2.5 Die sittliche Bestimmung der Geschlechter und ihre Bedeutung für das »sittliche Reich« . . . . . . . . . .
373
III.2.3 »Die sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal« . . . . . . . .
379
III.2.3.1 Die sittliche Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.3.2 Das menschliche und göttliche Wissen . . . . . . . . . . . III.2.3.3 Die Schuld und das Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
380 387 392
III.2.3.3.1 III.2.3.3.2 III.2.3.3.3 III.2.3.3.4
Ödipus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Sieben gegen Theben« . . . . . . . . . . . . . . . »Die Schutzflehenden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
401 405 414 420
III.2.3.4 Die ewige Ironie des Weiblichen . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.3.5 Der Untergang der sittlichen Substanz . . . . . . . . . . .
422 427
III.2.4 Ausblick: Der Rechtszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
DANKSAGUNG
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2010/11 von der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen und im Rahmen der Disputation am 03.02.2011 verteidigt. Für die Veröffentlichung wurde sie geringfügig überarbeitet, neuere Forschungsliteratur wurde dabei berücksichtigt. Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die mir in der Promotionsphase behilflich waren, auch wenn ich hier nur einige davon nennen kann. Mein besonderer Dank gilt dem Erstgutachter der Dissertation, Prof. Dr. Walter Jaeschke, von dessen Arbeiten zur klassischen deutschen Philosophie, insbesondere zur Philosophie Hegels, ich sehr profitiert habe und der mir in der Schlussphase der Promotion mit klugem Rat, bewundernswerter Effizienz und großer Verbindlichkeit zur Seite stand. Danken möchte ich auch dem Zweitgutachter der Arbeit, Prof. Dr. Ulrich Lessing, sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des philosophischen Kolloquiums am HegelArchiv in Bochum, mit denen ich kurz vor Abschluss der Arbeit meine Forschungsergebnisse diskutieren konnte. Gleichermaßen gilt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Marion Heinz, Prof. Dr. Friederike Kuster und Dr. Sabine Doyé, die mein Forschungsprojekt von Beginn an begleitet und mich institutionell, fachlich und persönlich unterstützt haben. Ihre einschlägigen Arbeiten auf dem Gebiet der philosophischen Geschlechterforschung stellen eine Voraussetzung für die vorliegende Arbeit dar. Ich danke den Studierenden der Universität Siegen, mit denen ich im Rahmen mehrerer Seminare über Hegels Familien- und Geschlechtertheorie diskutieren konnte. Auch meine Kolleginnen und Kollegen in Siegen, insbesondere Dr. Violetta Stolz und Ludger Roth waren für mich in der Dissertationsphase wichtige Begleiter. Für seine kritischen Anmerkungen danke ich PD. Dr. Dieter Hüning, für ihre kollegiale Ermutigung Dr. Susanne Brauer, für ihre freundliche persönliche Beratung in der Schlussphase Prof. Dr. Klaus Düsing und Dr. Dirk Fonfara. Zu Dank verpflichtet bin ich allen Korrekturleserinnen und -lesern der Arbeit, insbesondere Dirk Meyfeld und Eckhard Lucius – und Walter Jaeschke, der von zahlreichen Editionen geschult noch so manch einen Fehler entdeckt hat. Ich danke allen, die in vielfältiger Weise Freud und Leid der Promotionsphase mit mir teilten – namentlich genannt seien Christian Adolph, Jana Bäuerlen, Susanne Brandner, Daniel Göcht, Wiebke Henning, Andrea Krüger, Ria Mager, Johanna Steffen, Georg Stein und Maren Zimmermann.
10
Danksagung
Für meine philosophische Arbeit sind die Arbeitskreise, Symposien und Philosophie-Urlaube des Kölner Philosophie-Vereins Club Dialektik e.V. von unschätzbarem Wert, weshalb ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern danke. Persönlich danken möchte ich außerdem meiner Familie: meinen Eltern, Stephan und Gisela Bockenheimer, meinen Schwestern Julia und Susanne Bockenheimer und meinen Großeltern Maria und Eckhard Lucius. Ich danke Horst D. Brandt und Marcel Simon-Gadhof vom Felix Meiner Verlag für die Lektoratsarbeit und den Herausgebern, Prof. Dr. Ludwig Siep und Prof. Dr. Walter Jaeschke, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Hegel-Studien Beihefte. Widmen möchte ich dieses Buch Uschi Siemens, Stephan Siemens und Sebastian Stein. Ihr unermüdliches Interesse an dialektischer Philosophie und Geschlechtertheorie hat mir immer wieder Lust und Mut gemacht, an der Dissertation weiterzuarbeiten. Ich hoffe, sie alle drei wissen, wie viel ich ihnen im Hinblick auf diese Arbeit und weit darüber hinaus zu verdanken habe.
SIGLEN
AA
Immanuel Kant: Gesammelte Werke, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe, mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert, Frankfurt a. M. 1970. AnK G.W.F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesungen von 1821/22 (Nachschrift anonym), hg. v. Hansgeorg Hoppe, Frankfurt a. M. 2005. AnL G.W.F. Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1983. Ant. Sophokles: Antigone, griechisch-deutsch, übersetzt und hg. v. Norbert Zink, Stuttgart 1981. B. coniug. Aurelius Augustinus: De bono coniugali, hg. v. A. Kunzelmann und A. Zumkeller, übertragen von A. Maxsein, Würzburg 1949. De An. Aristoteles: Über die Seele, mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar hg. v. Horst Seidl, griechisch-deutsch, Hamburg 1995. EN Aristoteles: Nikomachische Ethik, griechisch-deutsch, übersetzt von Olof Gigon, hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf 2001. EPW Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 3. Aufl. (1830) (= GW 20). GA Aristoteles: Generation of Animals, griechisch-englisch, übersetzt und hg. v. A.L. Peck, London 1953. GMS Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= AA 4.385–463). GNR Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: Ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth / Hans Gliwitzky u.a., Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970. GPR G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (= GW 14,1). Gr G.W.F. Hegel: Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift K.G. v. Griesheims 1824/25 (= Ig, Bd. 4, S. 67–752). GW G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Nordrhein-Westfälischen (1968–1995: Rheinisch-Westfälischen) Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 1968 ff.
12
HJb
Ho Hr HS
HSB
Ig Kh
KHR Met.
MEW MS OM
PhG Poet. Pol.
Symp.
Siglen
Hegel-Jahrbuch, begründet von Wilhelm Raimund Beyer, hg. v. Andreas Arndt, Karol Bal und Henning Ottmann, seit HJb 1993/94 Berlin. G.W.F. Hegel: Philosophie des Rechts, nach der Vorlesungsnachschrift von H.G. Hotho 1822/23 (= Ig, Bd. 3). G.W.F. Hegel: Naturrecht und Staatswissenschaft nach der Vorlesungsnachschrift v. C.G. Homeyer 1818/19 (= Ig, Bd. 1, S. 217–352). Hegel-Studien, hg. v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler (Bde. 1–35) bzw. Walter Jaeschke und Ludwig Siep (Bde. 36 ff.), Bonn 1961–1997 bzw. Hamburg 1998 ff. Hegel-Studien Beihefte, hg. v.. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler (Bde. 1–46) bzw. Walter Jaeschke und Ludwig Siep (Bde. 47 ff.), Bonn 1963–1999 bzw. Hamburg 2000 ff. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, hg. v. Karl-Heinz Ilting, 4 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1973 ff. F.W.K. Hegel: Philosophie der Weltgeschichte nach den Vorlesungen seines Vaters vom Wintersemester 1830–1831, transkribiert von Walter Jaeschke, unveröffentlichtes Manuskript, Hegel-Archiv Bochum. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts §§ 261–313, MEW 1, S. 201–333. Aristoteles: Metaphysik. Griechisch-deutsch. Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, mit Einleitung und Kommentar hg. v. Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ, Halbbd. 1: Bücher I (A)–VI (E), 3. verb. Aufl., Hamburg 1989 (Philosophische Bibliothek, Bd. 307). Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, hg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, 43 Bde., Berlin 1956 ff. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (= AA 6.203–493). The Owl of Minerva. Biannual Journal of The Hegel Society of America, hg. v. Frederick G. Weiss (1969–1977) bzw. Lawrence S. Stepelevich (1977–1996) bzw. Ardis B. Collins (1996 ff.), o. O. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (= GW 9). Aristoteles: Poetik, griechisch-deutsch, übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1997. Aristoteles: Politik, nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann, Reinbek bei Hamburg 1994. Platon: Symposion, griechisch-deutsch, übersetzt und hg. v. Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2000.
Siglen
Theaet. TWA
V V1
V 12
V 13
V 16
V 17
13
Platon: Theätet, griechisch-deutsch, übersetzt und hg. v. Ekkehard Martens, Stuttgart 1999. G.W.F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden mit Registerband, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 1969 ff. G.W.F. Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Manuskripte und Nachschriften, Hamburg 1983 ff. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/1819. Nachgeschrieben von P. Wannenmann, hg. v. C. Becker, W. Bonsiepen u. a., Hamburg 1983. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Berlin 1822/23, Nachschrift von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav von Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hg. v. Karl-Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam Seelmann, Hamburg 1996. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Geistes 1827/28, nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter, hg. v. Franz Hespe und Burkhard Tuschling, Hamburg 1994, Bd. 13. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Natur, Berlin 1819/20, Nachschrift von J. R. Ringier, hg. v. M. Bondeli und H.N. Seelmann, Hamburg 2002. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Natur, Berlin 1825/1826, nachgeschrieben von Heinrich Wilhelm Dove, hg. V. K. Bal, G. Marmasse, u. a., Hamburg 2007.
Angaben von Paragrafenzahlen im Text beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf die Paragrafen der Grundlinen der Philosophie des Rechts. Folgt der Paragrafenzahl ein »Anm.«, so wird aus den von Hegel selbst verfassten schriftlichen Anmerkungen zitiert. Dies gilt auch für Angaben von Paragrafen aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Wird aus den Zusätzen der Enzyklopädie zitiert, folgt der Paragrafenzahl ein »Z«. Bei Zitaten aus der Phänomenologie des Geistes wird zunächst die Seitenzahl genannt und anschließend die Zeilenangaben, ebenso bei Zitaten aus den Mitschriften. Es wird die Orthografie der jeweils verwendeten Ausgaben übernommen. Auf Hervorhebungen durch die Verfasserin dieser Arbeit wird in einer eckigen Klammer mit dem Kürzel ›EB‹ hingewiesen. Grammatische Anpassungen werden durch einfache Klammern kenntlich gemacht.
I Einleitung »Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. In diesem natürlichen Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigne natürliche Bestimmung ist. In diesem Verhältnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen. (…) In diesem Verhältnis zeigt sich auch, in[wie] weit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, inwieweit also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.« (Karl Marx, MEW Erg.-Bd. 1, S. 535)
I.1 Zu Titel, Thema und Ziel dieser Arbeit Der Titel und das Thema Hegels Familien- und Geschlechtertheorie mag aus vielerlei Gründen verwundern. Zunächst fragt man sich vielleicht, ob sich Hegel in seinem Werk tatsächlich mit philosophischem Ernst zu scheinbar so unphilosophischen Themen wie Familie und Geschlecht geäußert hat; und falls ja, ob er das in einem solchen Umfang und mit einer solchen Kohärenz getan hat, die berechtigt, sogar von einer Familien- und Geschlechtertheorie zu sprechen. Auch die gleichzeitige Behandlung von Familie und Geschlechtlichkeit scheint rechtfertigungsbedürftig, handelt es sich doch zumindest auf den ersten Blick um zwei durchaus verschiedene Themen. Denn weder lässt sich die Familie auf den Begriff des Geschlechterverhältnisses reduzieren, noch geht das Geschlechterverhältnis im Begriff der Familie auf.1 Und zu guter Letzt stellt sich die Frage, ob ein Denker des 19. Jahrhunderts zum Thema Familie und Geschlecht etwas zu sagen hat, das auch für Menschen im 21. Jahrhundert von Interesse sein kann. Die hier genannten Zweifel gegenüber einer Arbeit zu Hegels Familien- und Geschlechtertheorie sind vielleicht auch in der Hegel-Forschung vorhanden. Jedenfalls gibt es trotz 1
Zu diesem Problem wie auch zu den im Folgenden genannten Fragen zur Bedeutung der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie für die Gegenwart vgl. I.4. und II.2.2.9.3.
16
I Einleitung
der Fülle an Forschungsarbeiten zu Hegels Schriften nach wie vor kaum ausführlichere Studien, die sich mit den Begriffen Familie und Geschlecht in Hegels Werk befassen. Eine erfreuliche Ausnahme stellt die 2007 erschienene Monografie von Susanne Brauer zur Familie in Hegels Rechtsphilosophie dar, in der die Autorin ebenfalls erstaunt den Mangel an philosophischen Forschungsarbeiten zu diesem Thema konstatiert.2 Ziel dieser Arbeit ist es, die oben genannten Bedenken zu beseitigen. Die Familien- und Geschlechtertheorie hat zu allen Zeiten einen wesentlichen Bestandteil der philosophischen Arbeit dargestellt, insbesondere in der politischen Philosophie, da jede gesellschaftliche Ordnung auch auf einer bestimmten Familienform und darin institutionalisierten Geschlechterverhältnissen beruht.3 Familie und Geschlechtlichkeit gehören daher zu den zentralen Begriffen auch – wenn nicht sogar besonders – der hegelschen Philosophie.4 Dass die Hegel-Forschung diesem Thema bisher relativ wenig Beachtung geschenkt hat, ist erstaunlich, da Hegel selbst dem Familienund Geschlechterverhältnis in einem zentralen Teil seines philosophischen Systems, innerhalb der Philosophie des objektiven Geistes nämlich, eine bedeutende Stellung einräumt, indem er es im Rahmen seiner Philosophie der Sittlichkeit behandelt.5 Die geringe Beachtung der Begriffe Familie und Geschlecht in der Hegel-Forschung steht somit in einem Missverhältnis zu Hegels eigener Einschätzung der Bedeutung des Familien- und Geschlechterverhältnisses, auf die man von Hegels begrifflicher Durchdringung dieses Themas wie auch von der reinen Quantität an Stellen in seinen Vorlesungen dazu schließen kann.6 Die sehr ausführlichen und systematisch entwickelten 2
Vgl. Brauer 2007. Man kann es mit Susanne Brauer als symptomatisch für den Umgang der philosophischen Forschung mit Hegels Familien- und Geschlechterkonzeption bezeichnen, dass der 1997 erschienene Band der Reihe Klassiker Auslegen zu Hegels Grundlinien die Familienparagrafen vollständig unkommentiert lässt, und dies entgegen dem Anspruch dieser Reihe, alle wesentlichen Abschnitte eines Werkes vorzustellen (vgl. Brauer 2007, S. 16). Neben der Arbeit von Brauer und der Dissertation von Weber (vgl. Weber 1986), die allerdings, anders als der Titel verspricht, die hegelsche Familientheorie der Grundlinien nur auf wenigen Seiten behandelt, gibt es keine weitere deutschsprachige und nur eine englischsprachige Monografie zu dem Thema (Siebert 1979). Zu Hegels Familienkonzeption in den Grundlinien sind jedoch einschlägig zu nennen: Blasche 1975, S. 312–337; Jermann 1987, S. 145–166; Schnädelbach 2000, S. 251–263; De Vos 2006, S. 91–112; Waszek 1999, S. 271–299. 3 Vgl. Doyé/Heinz/Kuster 2002, die in ihrer Einleitung auch eine Einordnung der hegelschen Geschlechtertheorie in die Geschichte der philosophischen Geschlechtertheorien bieten; vgl. auch Elshtain 1981; Elshtain 1982; Okin 1980; Coole 1993. 4 Vgl. Brauer 2007, S. 16. 5 Vgl. ebd. 6 Am ausführlichsten behandelt Hegel das Thema in der Phänomenologie im Abschnitt
I.1 Zu Titel, Thema und Ziel dieser Arbeit
17
Gedanken Hegels zum Familien- und Geschlechterverhältnis zeigen – gerade wenn man sie zusammennimmt mit den knappen und über sein Werk verstreuten Aussagen dazu –, dass Hegel Familie und Geschlecht in einem so klaren begrifflichen Zusammenhang gedacht hat, dass man legitimerweise von einer ›Theorie‹ sprechen kann. Mit ›Theorie‹ ist hier also gemeint, dass Hegel einen in sich geschlossenen, kohärenten und systematisch eingebetteten Gedankengang zu Familie und Geschlecht präsentiert – was man mit Hegel eigentlich nicht als Theorie bezeichnen würde, sondern als ihren entwickelten philosophischen Begriff. Da Hegel sich vor allem mit dem Begriff und der Genese der bürgerlichen Kleinfamilie und der in ihr institutionalisierten Geschlechterverhältnisse beschäftigt hat, sind seine Überlegungen auch für das 21. Jahrhundert von Interesse: erstens, weil auch heute trotz der zunehmenden Vielfalt an Familienformen nicht allein im europäischen Kulturkreis die bürgerliche Kleinfamilie die vorherrschende Familienform ist, an der sich auch die Familienpolitik häufig noch orientiert.7 Hegels Analyse der modernen Familien- und Gesellschaftsordnung kann deshalb zum Verständnis des heutigen Familienlebens bzw. des Familienbegriffs beitragen. Zweitens besteht auch für das 21. Jahrhundert die Aufgabe, die eigene Geschichte – auch der Familie und des Geschlechterverhältnisses – zu begreifen. Da alle Geschichte unsere Geschichte ist, muss sie, wie Hegel überzeugend zeigt, um der Freiheit willen angeeignet werden; das gilt selbstverständlich auch für die Geschichte der Familienund Geschlechterverhältnisse.8 Drittens bietet die Auseinandersetzung mit Hegels Familien- und Geschlechtertheorie auch einen guten Ausgangspunkt, um sich zu fragen, wie sich das Familien- und Geschlechterverhältnis im 20. und 21. Jahrhundert gewandelt hat. Während die bürgerliche Kleinfamilie zu Hegels Zeiten bestimmte Konflikte im Familien- und Geschlechterverhältnis institutionell lösen sollte und vielleicht auch damals gelöst hat, kann man VI.A. Der wahre Geist, die Sittlichkeit und in den Grundlinien im Abschnitt Die Familie (§§ 159–181); deshalb stehen diese zwei Werke auch im Mittelpunkt dieser Arbeit. Vgl. zu dem Thema aber auch: System der Sittlichkeit (GW 5, S. 277–361); Jenar Systementwürfe I (GW 6, S. 247, S. 301–306); Jenaer Systementwürfe III (GW 8, S. 147–184; 202–253); Unterklasse Rechts-, Pflichten- und Religionslehre aus den Schuljahren 1809/10 bis 1815/16 (GW 10,1, S. 413, §§ 49–52); Rede vom 2. September 1811 (GW 10,1, S. 484, 14–485, 22); Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816) (GW 12, S. 189–191); Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) (EPW, §§ 220–221; §§ 367–370; §§ 518–522). Auch die frühen Frankfurter Entwürfe über Religion und Liebe (TWA 1, S. 239–254) sind für die Familien- und Geschlechtertheorie von Interesse, da sie den Begriff der Liebe behandeln. 7 Vgl. Bundesministerium 2012, I.4 und II.2.2.9.3. 8 Vgl. Ravven 1988, S. 164.
18
I Einleitung
mindestens für das 21. Jahrhundert sagen, dass an der Auflösung dieser Familienform deutlich wird, dass sie nicht mehr allgemein als Lösung, sondern vielfach eher als Problem angesehen wird. So wird heute die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb der Familie und die Trennung von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre – beides konstitutive Bestandteile für die funktionierende bürgerliche Kleinfamilie – insbesondere von Frauen, aber auch von Männern immer häufiger als Behinderung für ihre freie Entfaltung betrachtet. Es werden neue Formen des familiären und geschlechtlichen Zusammenlebens gesucht, die den Ansprüchen der Individuen auf freie Entfaltung unter den heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen eher gerecht werden können, und umgekehrt erfordern Veränderungen im geschlechtlichen und familiären Zusammenleben Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen. Ein Aspekt dieser Veränderungen ist, dass es nicht mehr selbstverständlich erscheint, einen notwendigen Zusammenhang zwischen Geschlechtlichkeit und Familie zu denken, wie Hegel das tut. Auch die Diskussionen um die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerinnen oder Partner sowie die Frage des Rechts von Homosexuellen auf reproduktionsmedizinische Maßnahmen und auf Adoption von Kindern sind Ausdruck dieser aktuellen Veränderungen. In dieser Entwicklung kann man im Vergleich zum 19. Jahrhundert in Anknüpfung an die hegelsche Philosophie einen ›Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‹ sehen, den Hegel selbst nicht mehr für möglich gehalten hat, da er die bürgerliche Ehe und die bürgerliche Kleinfamilie im modernen Rechtsstaat für die freieste Form des Familien- und Geschlechterverhältnisses gehalten hat. Eine Auseinandersetzung mit der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie ist somit selbstverständlich nicht ohne ihre Kritik möglich. Nach Hegel ist die Philosophie der Sittlichkeit und damit auch die Philosophie des Familien- und Geschlechterverhältnisses Darstellung der Verwirklichung der Freiheit. An diesem ihrem eigenen Maßstab muss sich seine Philosophie somit messen lassen. Es muss also gefragt werden, ob und wenn ja, inwieweit die hegelsche Familien- und Geschlechtertheorie als Ausdruck der Verwirklichung der Freiheit begriffen werden kann.9
I.2 Aufbau der Arbeit Da es zu Hegels Familien- und Geschlechtertheorie noch relativ wenig Forschungsarbeiten gibt, möchte die vorliegende Arbeit dazu beitragen, die hegelschen Textstellen zu diesem Thema überhaupt zu erschließen. Sie bietet 9
Vgl. I.4 und II.2.2.9.3.
I.2 Aufbau der Arbeit
19
daher einen Kommentar mit Diskussion der zwei zentralen Textausschnitte aus Hegels Werk zum Thema Familie und Geschlecht: im Kapitel II zum Abschnitt Die Familie (§§ 158–181) aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts, im Kapitel III zum Abschnitt Der wahre Geist, die Sittlichkeit in der Phänomenologie des Geistes. Im Kapitel II zu Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien wird in zwei Exkursen zudem näher auf Paragrafen aus der Logik und der Naturphilosophie der Enzyklopädie von 1830 eingegangen, da Hegel selbst im Zusammenhang mit den Familienparagrafen der Grundlinien auf diese Paragrafen verweist.10 Wo es sinnvoll erscheint, werden im Kommentarteil auch verschiedene hegelsche Vorlesungen zur Erläuterung herangezogen, um eine umfassende Darstellung seiner Familien- und Geschlechtertheorie zu bieten. Der Kommentarteil richtet sich an Lesende, die sich selbständig mit diesen Textausschnitten aus den Grundlinien und der Phänomenologie beschäftigen möchten und dazu Erläuterungen wünschen. Zwar stehen die Begriffe Familie und Geschlecht in diesen Textabschnitten im Zentrum der begrifflichen Entwicklung Hegels, aber dennoch lassen sich diese Texte – schon allein aufgrund des Kontextes innerhalb des jeweiligen Werkes, in denen sie stehen – nicht eindimensional auf dieses Thema reduzieren. Daher wird im Kommentarteil auch auf Details dieser Texte eingegangen, deren Bezug zur Familien- und Geschlechtertheorie nicht immer unmittelbar erkennbar ist. Es soll deutlich gemacht werden, warum Hegel in einem bestimmten begrifflichen Kontext Familie und Geschlecht zum Gegenstand der begrifflichen Auseinandersetzung macht. Der Kommentarteil ermöglicht zwar, die vorliegende Arbeit als Hilfestellung für die eigene Lektüre der genannten Textausschnitte zu nutzen. Da er aber möglichst nah am zu kommentierenden Text bleibt, macht er es zuweilen schwierig, den Gesamtzusammenhang der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie zu erkennen, der sich nur durch Bezug auf das hegelsche System erfassen lässt. Um die Lektüre sowohl dieser Arbeit als auch der hegelschen Textausschnitte zu erleichtern, wird deshalb im Abschnitt I.3 dem Kommentarteil ein Überblick über Hegels Gedanken zu Familie und Geschlecht mit Einbezug ihres Verhältnisses zum hegelschen System und zu seiner Philosophie der Geschichte vorweggeschickt. Anschließend wird im Abschnitt I.4 vorwegnehmend diskutiert, inwiefern es sich auch für die aktuelle, auf Emanzipation zielende feministische Debatte zum Thema Familie und Geschlecht lohnt, sich mit Hegels Familien- und Geschlechtertheorie auseinanderzusetzen. Das soll es Leserinnen und Lesern, die sich unter dem 10
Vgl. II.2.2.2. und II.2.2.9.1
20
I Einleitung
Gesichtspunkt der Emanzipation mit aktuellen Problemen im Geschlechterverhältnis und in der Familie beschäftigen, einfacher machen, sich auf die hegelschen Gedanken auch da einzulassen, wo sie zum Teil schon zu Hegels Zeiten insbesondere für Frauen anti-emanzipatorischen Charakter hatten,11 in jedem Fall aber heute, hielte man an ihnen fest, reaktionäre Konsequenzen hätten. Für Leserinnen und Leser, die mit dem hegelschen Werk schon vertraut sind, mag es aus zweierlei Gründen irritierend sein, dass in der vorliegenden Arbeit zunächst Hegels Familien- und Geschlechtertheorie, wie er sie in den Grundlinien entwickelt hat, dargestellt wird, und erst im Anschluss seine Theorie aus der Phänomenologie: Erstens wird damit nicht die Chronologie der hegelschen Schriften berücksichtigt, denn die Phänomenologie (1807) gehört zu Hegels Schriften aus der Jenaer Zeit, während die Grundlinien (1820) zu den Berliner Schriften gehören, d. h. wesentlich später geschrieben wurden. Zweitens stellt die Phänomenologie die Familie und das Geschlechterverhältnis in der griechischen Antike dar, während die Grundlinien die moderne bürgerliche Kleinfamilie und somit auch das moderne Verhältnis der Geschlechter auf den Begriff zu bringen versuchen. Neben der Chronologie der hegelschen Schriften spräche also auch Hegels Darstellung der historischen Entwicklung der Familie und des Geschlechterverhältnisses dafür, erst die Phänomenologie und dann die Grundlinien zu behandeln. Dennoch wird hier der umgekehrte Weg gewählt. Der Grund dafür ist folgender: In den Grundlinien stellt Hegel seinem eigenen Anspruch nach den Begriff der Familie systematisch dar. Zur systematischen Entwicklung gehört für Hegel auch, zu zeigen, wie sich der Begriff der Familie eine äußere Realität verschafft, in der er alle seine Momente entfalten kann. Dies tut er nach Hegel in vollendeter Weise in der modernen bürgerlichen Kleinfamilie innerhalb des modernen Rechtsstaates. Als moderne bürgerliche Kleinfamilie ist die Familie Hegel zufolge vollständig ihrem Begriff und somit der Vernunft gemäß. Obwohl Hegel in den Grundlinien die Familie in einer bestimmten historischen Gestalt betrachtet, als bürgerliche Kleinfamilie des frühen 19. Jahrhunderts, hat seine Darstellung in den Grundlinien seinem eigenen Anspruch nach also nicht eigentlich historischen Charakter, eben weil die bürgerliche Kleinfamilie nach Hegel nicht nur eine historische Familienform von vielen ist, die von anderen Familienformen abgelöst werden wird, sondern die Form ist, in der sich der Begriff der Familie auf vollendete Weise realisiert.12 Der Begriff der Familie, wie Hegel ihn in den Grundlinien entwi11 12
Vgl. Benhabib 1996. Vgl. GPR, § 32 Anm.
I.2 Aufbau der Arbeit
21
ckelt, ist als vollendeter Begriff der Familie nach Hegel zugleich der Maßstab, an dem sich alle vorangegangenen historischen Familienformen messen lassen müssen, die als vorangegangene Stufen nur mangelhafte und anfängliche Realisierungsformen dieses Begriffs sein können. In der Phänomenologie wird eine solche anfängliche und daher noch mangelhafte historische Realisierungsform des Begriffs der Familie dargestellt: die archaische Familie der griechischen Polis.13 Nach Hegel ist es unabdingbar, neben einer systematischen Entwicklung des Begriffs der Familie auch seine historische Entwicklung nachzuvollziehen, da die geschichtliche Entwicklung dieses Begriffs zugleich die sukzessive Entfaltung der Begriffsmomente in der Realität ist. Nur wenn man den Begriff der Familie sowohl seiner historischen als auch seiner systematischen Entwicklung nach erfasst hat, kann man also im eigentlichen Sinne davon sprechen, dass man ihn vollständig begriffen hat. Hegel zufolge erweckt die Institution der Familie den Eindruck als sei sie ›naturgewachsen‹, obwohl es sich um eine sittliche, d. h. gesellschaftliche, geistige und somit von Menschen ›gemachte‹ Institution handelt, die sich historisch erst entwickeln musste. Durch die scheinbare Natürlichkeit der Familie besteht gerade beim Begriff der Familie die Gefahr, dass man moderne Verhältnisse rückprojiziert auf vergangene Zeiten, in denen sowohl das Geschlechterverhältnis innerhalb der Familie bzw. das Verhältnis der Familienmitglieder untereinander als auch das Verhältnis von Familie und Staat noch anders verfasst waren. Hegel möchte zeigen, dass das Geschlechterverhältnis und die Institution Familie eingebettet sind in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem sie eine bestimmte Funktion erfüllen. Die Verfasstheit und Funktion der archaischen Familie der griechischen Sittlichkeit entspricht nicht der Verfasstheit und Funktion der modernen bürgerlichen Familie, weil die unmittelbare griechische Sittlichkeit noch nicht der Sittlichkeit des modernen Rechtsstaats entspricht.14 Will man begreifen, wie die moderne bürgerliche Familie verfasst ist und was sie als Institution leisten soll, muss man also auch ihre Geschichte kennen und sich somit auch mit der Familie in der Antike befassen. Man kann dann nach Hegel begreifen, warum die bürgerliche Kleinfamilie gegenüber der antiken archaischen Familie einen Fortschritt darstellt. Um den Fortschritt, wie Hegel ihn bestimmt, nachvoll13
In diesem Sinne gibt Hegel in der Phänomenologie in seiner Antigone-Interpretation gerade keine »allgemeine These über das Verhältnis von natürlichen und sittlichen Beziehungen in der Familie« (Siep 2000, S. 183), sondern eine These über dieses Verhältnis in der Familie der griechischen Antike. Die moderne bürgerliche Familie unterscheidet sich, wie gezeigt werden soll, nach Hegel wesentlich von der Familie der griechischen Sittlichkeit. 14 Vgl. II.1.3.3.
22
I Einleitung
ziehen zu können, ist es für Leserinnen und Leser jedoch einfacher, sich zunächst klar zu machen, was die moderne bürgerliche Kleinfamilie nach Hegel leistet, um dann zu sehen, inwiefern die antike Familie nach Hegel diesen Anforderungen noch nicht gerecht werden kann. Hat man den hegelschen Maßstab für die geschichtsphilosophische und systematische Betrachtung anhand der modernen bürgerlichen Familie und des Rechtsstaats nachvollzogen – d. i. die Realisierung von Freiheit –, so kann man besser verstehen, warum er die antike Familie und Polis für den bloßen Anfang der Entwicklung der Freiheit und somit für eine noch mangelhafte Stufe der Entwicklung hält. Für die Leserinnen und Leser ist es also einfacher, zunächst den nach Hegel vollständig entwickelten Begriff der Familie zu erfassen – der sich historisch erst in der Moderne Realität verschaffen kann – und dann eine historisch vorangegangene Form zu betrachten, die nach Hegel die anfängliche, noch unmittelbare Darstellungsform eben dieses Begriffes ist. Es wird Aufgabe des Kapitels zu Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie sein, zu zeigen, dass Hegel schon in der Phänomenologie den Freiheitsbegriff der Grundlinien zum Maßstab gemacht hat und somit bereits Familie und Polis als historische Übergangsformen der Entwicklung hin zum modernen Rechtsstaat begriffen hat, in dem die Familie zu einem untergeordneten Moment wird. Mit diesem Vorgehen soll selbstverständlich nicht behauptet werden, dass es in der hegelschen Philosophie zwischen 1807 und 1820 keinerlei Entwicklung gegeben hätte, sodass man Gedanken aus der Phänomenologie ohne Weiteres in Hegels späteres System eingliedern könnte. Schon allein aufgrund der eigentümlichen Methode der Phänomenologie15 sollte man Hegels Aussagen in der Phänomenologie nicht vorschnell auf andere Schriften beziehen, ohne sich über die Differenzen in der Darstellung Rechenschaft zu geben. Während nämlich die Darstellung in der Phänomenologie konsequent von der Erfahrung des Bewusstseins ausgeht, die sich aus dem Bewusstseinsgegensatz ergibt, stellt Hegel in der Enzyklopädie und auch in den Grundlinien jeweils die begriffliche Entwicklung, d. h. die Entfaltung der Momente des Begriffs dar. Wenn es um das Verhältnis der Phänomenologie zu den späteren Schriften geht, ist also prinzipiell Vorsicht geboten. Das Thema der vorliegenden Arbeit ist jedoch nicht ganz allgemein das Verhältnis der Darstellung des Geistes im Geistkapitel der Phänomenologie und des objektiven Geistes in den Grundlinien, sondern der Fokus soll auf Hegels Gedanken zu Familie und Geschlecht in beiden Schriften liegen. Hegel hat seine in der Phänomenologie vorgelegte Interpretation des Familien- und Geschlechterverhältnisses in der antiken Polis in späteren 15
Vgl. III.1.2.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
23
Vorlesungen bekräftigt. Das gilt in besonderem Maße für die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, aber auch für die Vorlesungen über die Ästhetik und die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Es ist somit durchaus möglich, sie trotz der eigentümlichen Methode der Phänomenologie auf sein System zu beziehen. Die Gegenüberstellung der Darstellung in den Grundlinien und in der Phänomenologie ist deshalb außerordentlich interessant, weil sie die Möglichkeit bietet, sowohl die systematische als auch die historische Dimension des Begriffs der Familie und des Geschlechterverhältnisses in den Blick zu nehmen – gerade wenn man die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte als Brücke nutzt.16 Dabei kann zugleich nachvollzogen werden, wie auch die Entwicklung des Familien- und Geschlechterverhältnisses Moment des »Fortschritt(s) im Bewußtseyn der Freyheit«17 ist, den Hegel in der Geschichte am Werk sieht.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick Die begriffliche Entwicklung des Familien- und Geschlechterverhältnisses lässt sich wie ein roter Faden durch Hegels Werk verfolgen. Hegel behandelt es bereits in seinen Frühschriften.18 Obwohl er dort schon einige Gedanken entwickelt, die er später in der gleichen oder in ähnlicher Form beibehalten wird, können die Abschnitte aus den Frühschriften in der systematischen Darstellung seines Begriffs von Familie und Geschlecht nicht berücksichtigt werden, da sich die Frühschriften nicht ohne Weiteres auf Hegels späteren Systemgrundriss beziehen lassen. Erst mit der Phänomenologie des Geistes (1807) lässt sich ein einheitlicher und systematischer Gedanke zum Familien- und Geschlechterverhältnis herausarbeiten, der sich über die Enzyklopädie von 1817, die Grundlinien von 1820 und diverse Berliner Vorlesungen bis hin zur Enzyklopädie von 1830 verfolgen lässt. Die ausführlichste Darstellung des Familien- und Geschlechterverhältnisses findet sich in der Phänomenologie des Geistes (1807) im Abschnitt Der wahre Geist, die Sittlichkeit und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) im Abschnitt Die 16
Vgl. I.3. GW 18, S. 153, 20 f. 18 Zu den Begriffen ›Familie‹ und ›Geschlecht‹ in den Schriften bis einschließlich 1805/06 vgl. v. a. Entwürfe über Religion und Liebe (TWA 1, S. 239–255); System der Sittlichkeit (GW 5, S. 277–361); Jenaer Systementwürfe I (GW 6, S. 247; 301–306); Jenaer Systementwürfe III (GW 8, S. 147–184; S. 202–253). Vgl. dazu auch Schnädelbach 2000, S. 90 ff.; S. 126 ff., S. 155 ff.; Wildt 1982, S. 353–357; zum Geschlechterverhältnis in den Entwürfen über Religion und Liebe vgl. auch Baum 1986, S. 35–48. 17
24
I Einleitung
Familie (§§ 158–181). Neben diesen zwei prominenten Textstellen sind die Passagen zum »Gattungsprozess« in der Logik und in der Naturphilosophie seiner Enzyklopädie19, zur historischen Entwicklung von Familie und Staat in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und zur Darstellung der Geschlechter und der Familie in den Künsten, insbesondere in der griechischen Tragödie, in den Vorlesungen über die Ästhetik von besonderer Bedeutung. Bezieht man diese Passagen auf die Darstellung in der Phänomenologie und in den Grundlinien, so zeigt sich, dass Hegel einen so elaborierten philosophischen Begriff von Familie und Geschlecht hat, dass man berechtigterweise von einer Familien- und Geschlechtertheorie sprechen kann. Freiheit und Naturbestimmtheit Ausgangspunkt für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie ist eine Fragestellung, die seine ganze Philosophie bestimmt: Wie können Menschen in ihrem Denken und ihrem Handeln frei sein? Freiheit im Denken und Handeln kann nach Hegel keineswegs vorausgesetzt werden, denn wir sind zunächst einmal mannigfach von außen bestimmt. Obwohl wir geistige Wesen sind, sind wir anfangs noch ganz von der Natur bestimmt, z. B. in Form von natürlichen Bedürfnissen und Trieben, die wir nicht beherrschen. Wir sind der Natur damit zunächst untergeordnet. Weil wir durch die Natur bestimmt sind, sind wir nicht von Anfang an frei. Wir müssen uns vielmehr Freiheit erst erwerben, und dazu ist eine wesentliche Voraussetzung, dass wir uns die Natur aneignen. Durch die Aneignung machen wir die Natur, die zunächst als etwas uns Fremdes und uns äußerlich Bestimmendes erscheint, zu einem Ausdruck unserer selbst. Zwar sind die natürlichen Triebe und Bedürfnisse, durch die wir bestimmt sind, nicht selbst unvernünftig oder schlecht.20 Es kommt nach Hegel also nicht darauf an, sie auszurotten oder zu unterdrücken. Aber es ist für unsere Freiheit unabdingbar, dass wir sie beherrschen lernen, sodass wir in ihnen unsere Freiheit und Geistigkeit zum Ausdruck bringen können. Es kommt nach Hegel also nicht darauf an, frei zu sein von der Natur, trotz der Natur oder neben der Natur, sondern in der Natur. Die Formel ›Bei-sich-sein-im-Anderen‹ bringt auf den Begriff, was es heißt, frei zu sein.21 Wenn wir uns im Anderen selbst begreifen können und das Andere als Resultat unserer selbst – in theoretischer wie in praktischer Hinsicht – auffassen können, dann sind wir im Anderen bei uns und somit frei. Denn 19 20 21
Vgl. EPW, §§ 220–221 und §§ 367–376. Vgl. GPR, § 11; auch II.1.2.2. Vgl. TWA 12, S. 30.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
25
dann ist das Andere nichts Fremdes mehr, das uns äußerlich bestimmt, sondern es ist zu einem Moment unserer selbst geworden. Innerhalb des philosophischen Systems stellt sich das Problem der anfänglichen Bestimmtheit durch die Natur darin dar, dass der Geist am Ende der Naturphilosophie als Resultat der Natur erscheint. Da der Geist systematisch aus der Natur hervorgegangen ist – auch wenn er selbst nicht natürlich ist –, erscheint ihm in seiner Unmittelbarkeit die Natur zunächst als eine Voraussetzung, die er vorfindet und die ihn bestimmt. Erst im Laufe seiner eigenen Entwicklung begreift der Geist, dass er in Wahrheit selbst die Voraussetzung für die Natur ist und dass er sie theoretisch wie praktisch zu einem bloßen Moment seiner selbst herabsetzen kann. Er erkennt, dass die Natur wie er selbst Idee ist – aber die Idee in ihrem Anderssein, in der Bestimmung der Äußerlichkeit.22 Es ist die Aufgabe des Geistes, die Natur als das Anderssein und als Äußerlichkeit der Idee zu integrieren und in ein vernünftiges Verhältnis zu transformieren. »Die Natur zeigt (…) in ihrem Daseyn keine Freiheit, sondern Nothwendigkeit und Zufälligkeit.«23 Freiheit kommt nur dem Geist zu, und nur indem der Geist die Natur aneignet, kann er frei sein. Innerhalb der Philosophie des objektiven Geistes, um die es in dieser Arbeit vornehmlich geht, formuliert Hegel das Problem der Naturaneignung folgendermaßen: Wie können wir die natürlichen Triebe und Bedürfnisse, die uns zunächst äußerlich bestimmen, in ein »vernünftige(s) System der Willensbestimmung«24 transformieren, sodass wir in ihnen unsere Geistigkeit zum Ausdruck bringen und dadurch frei sind? Sexualität in der Natur Die Sexualität oder Geschlechtlichkeit kann nun als ein Fall gelten – wie sich zeigen wird nach Hegel ein besonders dringlicher Fall –, für den sich die Frage stellt, wie wir diesen natürlichen Trieb aneignen können, um in ihm frei zu sein. Warum die Aneignung des Sexualtriebs nach Hegel besonders dringlich ist, wird verständlich, wenn man seine Ausführungen zur Geschlechtlichkeit in der Naturphilosophie der Enzyklopädie von 1830 nachvollzieht.25 In der Naturphilosophie betrachtet Hegel das Geschlechterverhältnis zunächst einmal nur von seiner natürlichen Seite; es geht dabei um die Geschlechtlichkeit aller Säugetiere, zu denen auch der Mensch nach seiner Naturseite zu
22 23 24 25
Vgl. EPW, § 247; II.2.2.2. EPW, § 248. GPR, § 19; vgl. auch II.1.2.2. Vgl. EPW, § 369, § 370; II.2.2.2.
26
I Einleitung
zählen ist. Nach Hegels Naturphilosophie gehört das Geschlechtsverhältnis als Teil des Gattungsprozesses zur höchsten Darstellungsform der Vernunft bzw. der Idee in der Natur. In der Natur ist das Geschlechterverhältnis das Verhältnis, in dem das Verhältnis der Individuen zu ihrer Gattung zum Ausdruck kommt: Die Gattung realisiert sich dadurch, dass sich Individuen verschiedenen Geschlechts begatten und gemeinsam ein Individuum ihrer Art hervorbringen.26 Die zwei Geschlechter stellen somit die Gattung einseitig dar und sind nur gemeinsam in der Lage, Individuen ihrer Art hervorzubringen – in der Begattung. In der Naturphilosophie erläutert Hegel aus dem Begriff der Einheit der Gattung heraus, warum die Individuen den Trieb haben, sich mit dem Individuum des anderen Geschlechts zu vereinigen: Der Trieb resultiert aus dem Widerspruch der Individuen, dass sie als einzelne zugleich allgemein sind (nämlich Gattungswesen), diese Allgemeinheit der Gattung jedoch als unmittelbare natürliche Einzelne nicht angemessen darstellen können.27 Die Individuen haben somit den Trieb, ihre Allgemeinheit zum Ausdruck zu bringen, indem sie selbst ein weiteres Tier zeugen und sich in ihm gewissermaßen verewigen – ein Gedanke, den auch schon Platon in seinem Dialog Symposion in ähnlicher Weise vorgetragen hat, wenn er von dem Streben der einzelnen Sterblichen nach Unsterblichkeit durch Zeugung von Nachkommen spricht.28 Da die einzelnen Lebewesen in der Natur nicht in der Lage sind, sich selbst als Gattungswesen zu begreifen, bleiben sie Hegel zufolge dem Gattungsverhältnis untergeordnet. Dies kommt sehr plastisch darin zum Ausdruck, dass es (niedere) Tierarten gibt, in denen die Individuen unmittelbar nach der Begattung sterben.29 Das, was sich in der Natur erhält, ist die Gattung, die sich darin, dass sie immer wieder neue unmittelbare natürliche Individuen an die Stelle der alten setzt, selbst darstellt; die Gattung realisiert sich also in der Natur als (schlechte) Unendlichkeit der Generationenabfolge – auch dies ist ein Gedanke, der in Platons Symposion 26
Hegel thematisiert nicht, dass es auch bei Tieren homosexuelles Verhalten gibt. Zur Homosexualität in der Tierwelt und beim Menschen vgl. Sommer 1990. In Hegels Argumentation müsste das Auftreten von Homosexualität daraus abgeleitet werden, dass es bei Säugetieren aufgrund der heterosexuellen Fortpflanzung einen Sexualtrieb gibt, der sich dann nicht nur auf Individuen des jeweils anderen Geschlechts bezieht, sondern auch auf Individuen desselben Geschlechts gerichtet sein kann. Damit wäre Homosexualität aus dem Sexualtrieb abgeleitet, der beim Menschen Resultat der für den Gattungsprozess notwendigen Heterosexualität ist. Zu Hegels Begriff des Triebes vgl. die folgenden Ausführungen. Zum Thema Homosexualität vgl. auch die Anmerkungen in I.4. 27 Vgl. EPW, §§ 367–370; II.2.2.2. 28 Vgl. Symp., 207a–210a. Vgl. dazu auch die Frankfurter Entwürfe über Religion und Liebe (TWA 1, S. 239–254) und deren Interpretation durch Baum 1986, S. 47. 29 Vgl. TWA 9, § 370 Z; V 16, S. 184, 573; V 17, S. 193, 804.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
27
entwickelt wird30 und dem Hegel innerhalb seines philosophischen Systems einen Ort gibt. In der Natur hat der Geschlechtstrieb Hegel zufolge also eine in sich widersprüchliche Bedeutung: Einerseits kommt das Tier in der Sexualität zur höchsten Form des Selbstverhältnisses. Es ist im anderen Tier bei sich, auch wenn es sich dessen nicht bewusst ist, sondern dies nur fühlt. Der Sexualtrieb ist damit absolut gesehen ein höherer und bedeutsamerer Trieb als der Trieb zu essen oder zu trinken, den Hegel zur Assimilation zählt.31 In der Assimilation ist das Tier nur vermittels der äußeren Natur auf sich selbst bezogen, es erhält sich bloß als Individuum; im Geschlechterverhältnis innerhalb des Gattungsprozesses dagegen ist es auf sich selbst in einem anderen Individuum seiner Art bezogen und erhält sich selbst zugleich als Gattungswesen. Der Prozess der Gattung ist deshalb nach Hegel für das einzelne Tier in der Natur »der höchste Punkt seiner Lebendigkeit.«32 Der Gattungsprozess und das zu ihm gehörige Geschlechtsverhältnis ist somit innerhalb der Natur einerseits die höchste Darstellungsform der Idee des Lebens, der Vernunft in der Natur. Andererseits ist die Sexualität oder das Geschlechtsverhältnis im Tierreich Ausdruck davon, dass das einzelne Tier der Gattung bloß untergeordnet ist. Als Einzelnes hat es kein freies Verhältnis zu seiner Gattung. Tiere verfügen deshalb auch nicht über ihre Sexualität als freien Ausdruck ihrer Gattungshaftigkeit.33 Sie sind vielmehr getrieben und somit von einem anderen beherrscht, nämlich dem natürlichen Trieb, den sie sich nicht aneignen und deshalb auch nicht beherrschen können. Sie können sich nicht zu ihren Trieben verhalten. So können sie auch den Sexualtrieb nicht in eine angeeignete Form von Erotik transformieren. Nach Hegel ist das Geschlechtsverhältnis als Teil des Gattungsprozesses somit zugleich der höchste Punkt der Lebendigkeit der Tiere und dennoch Ausdruck ihrer ewigen Unterordnung unter den Gattungszusammenhang und damit unter die Natur. In ihm kommt die Vernunft in der Natur in vollkommener Weise zum Ausdruck, und zugleich zeigt sich, dass die Natur eben bloß Natur ist – und nicht Geist.
30
Vgl. Symp., 207d–207e. Vgl. dazu auch die Frankfurter Entwürfe über Religion und Liebe (TWA 1, S. 239–254) sowie deren Interpretation durch Baum 1986, S. 47. 31 Vgl. EPW, § 364. 32 TWA 8, § 221 Z. 33 Zur Gattungshaftigkeit in der Natur und im Geist vgl. Siep 1992, darin insbesondere S. 309–315.
28
I Einleitung
Geist und Natur Menschen sind nicht bloß natürliche Wesen, sondern geistige, vernünftige Wesen. Um wahrhaft menschlich zu leben, müssen sie das Reich der Natur verlassen, die Macht der Natur brechen und sich als geistige Wesen entfalten. Hegel sieht diese Notwendigkeit in der religiösen Erzählung des Sündenfalls versinnbildlicht: Der Mensch muss »böse werden«, die Natur verlassen, um das zu werden, was er seiner Natur nach ist: freier Geist.34 »Wo er [der Geist, Anm. EB] herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, – es ist zu seiner Freyheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreien.«35 Zur freien Entfaltung ist allerdings erforderlich, dass sich die Menschen die Natur aneignen und in ihr ihre Geistigkeit zum Ausdruck bringen. Ohne eine solche Aneignung der Natur bliebe die Natur etwas ihnen Äußerliches, was sie eben deshalb bestimmen und so ihre Freiheit beschränken würde. Weil der Gattungsprozess und mit ihm das Geschlechterverhältnis die höchste Darstellungsform der Idee in der Natur ist, ist die Aneignung dieses Prozesses für die Freiheit der Menschen unabdingbar. Menschen haben nach Hegel die Fähigkeit, sich von der bloßen Unterordnung unter die Gattung zu befreien, weil sie – anders als die Tiere – nicht nur an sich Gattungswesen sind, sondern auch für sich, da sie als Denkende sich selbst als Gattungswesen begreifen können. Während sich die allgemeine Gattung in der Natur nur durch den Untergang der einzelnen Lebewesen darstellen kann, kann sich die allgemeine Gattung als Geist im Einzelnen realisieren und erfassen. Der einzelne Mensch ist als Selbstbewusstsein in der Lage, zu begreifen, dass er als einzelnes Selbstbewusstsein zugleich allgemeines Selbstbewusstsein, Gattung ist. Als Selbstbewusstsein kann er seine eigene natürliche Unmittelbarkeit und Einzelheit, sein unmittelbares Selbst negieren und sich in dieser Negation selbst erhalten.36 Während für das bloß natürliche unmittelbare einzelne Tier die Negation seiner selbst sein natürlicher Tod ist, Ausdruck seiner Unterordnung unter die Allgemeinheit der Gattung, ist für den Menschen als selbstbewussten Geist die Negation seiner selbst, die er an sich selbst vollzieht, gerade die Realisierung seiner selbst als Geist, seiner Allgemeinheit und Gattungshaftigkeit. Die Gattung, die sich
34
Zur Notwendigkeit des Bösen in der Geschichte vgl. Gr, S. 133 f.; Ho, S. 140 f., GPR, § 139 Anm.; TWA 16, S. 265–267; TWA 17, S. 74–79. 35 GW 15, S. 249, 14 f. 36 Vgl. EPW, § 382.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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selbst begreift, ist nicht mehr bloß natürliches Leben, sondern lebendiger Geist.37 Der Geist ist jedoch das, was er ist, nicht bloß unmittelbar; seine anfängliche Unmittelbarkeit widerspricht seiner Natur, nach der er wesentlich Vermittlung, Selbstbezug und Selbstproduktion ist. Der Geist muss das, was er ist, erst werden; er muss sich erst selbst zu dem machen, was er an sich ist. Er ist nicht nur innerlicher Selbstbezug, bloß subjektiver Geist, sondern zugleich wesentlich Selbstproduktion, zu der gehört, dass er »in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt [ist] (…), – objectiver Geist.«38 Und schließlich muss er auch über die Objektivierung in der sittlichen Welt hinausgehen und absoluter Geist werden, als der er sein eigenes Sich-Wissen zum Gegenstand hat; als absoluter Geist ist er »in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffes (…), der Geist in seiner absoluten Wahrheit.«39 Die Geschichtlichkeit des Geistes Es ist bemerkenswert, dass Hegel in der Enzyklopädie in den einleitenden Paragrafen zum Begriff des Geistes darauf aufmerksam macht, dass mit der notwendigen Objektivierung des Geistes, seinem Trieb, sich in einer von ihm hervorgebrachten Welt zu realisieren und schließlich als absoluten Geist zu erfassen, einhergeht, dass der Geist wesentlich geschichtlich ist. Der Geist hat den Drang, sich selbst als das Absolute zu realisieren und zu begreifen; nach Hegel ist »aus diesem Drang allein (…) Weltgeschichte zu begreifen.«40 Die Geschichte ist somit »ein konstitutives Moment des Prozesses der Selbstrealisierung des Absoluten.«41 Nach der Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte von 1830/31 kann daher »von der Weltgeschichte (…) gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sey, wie er zum Wissen dessen zu kommen sich erarbeitet, was er an sich ist.«42 An sich, d. h. seinem Begriff nach, ist der Geist frei, denn er ist wesentlich Selbstbeziehung und damit formell frei, weil er in dieser Beziehung bei sich 37 38 39 40 41 42
Vgl. TWA 10, § 396 Z, S. 76. EPW, § 385. Vgl. ebd. EPW, § 384 Anm. Jaeschke 2003, S. 352. GW 18, S. 152, 8 f.
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I Einleitung
ist.43 Er muss sich aber, um sich als Geist zu realisieren, auch frei wissen, seine Freiheit zum Gegenstand haben. Geschichte ist deshalb nach Hegel »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit«,44 denn die geschichtliche Entwicklung des Geistes besteht gerade darin, dass er ein Bewusstsein seiner selbst und damit seiner eigenen Freiheit erlangt. Die Natur hat, obwohl in ihr Entwicklungsprozesse stattfinden, keine Geschichte. Denn die Entwicklung in der organischen Natur, z. B. die Entwicklung des Keimes zur ausgereiften Pflanze, hat zwar auch die Struktur der Subjektivität aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit. Auch die Pflanzen oder die Tiere machen sich als ›organische Individuen‹ erst zu dem, was sie an sich sind.45 Aber die einzelne Pflanze vergeht als unmittelbar Einzelnes und bringt nur wieder einen neuen Keim hervor, der sich zur ausgereiften Pflanze entwickelt; das einzelne Tier stirbt und bringt ein neues Exemplar seiner Art hervor, das denselben Prozess durchlaufen wird. Die Veränderungen in der Natur verkehren sich dadurch in ihr Gegenteil, in »Erhaltung des organischen Princips und seiner Gestaltung«.46 »Die Veränderungen in der Natur, so unendlich mannichfaltig sie sind, zeigen nur einen Kreislauff, der sich immer wiederhohlt; in der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne.«47 Nur der Geist hat Geschichte, nur er ist wirklich veränderungsfähig, denn in seiner Entwicklung ist ein Fortschritt enthalten; seine Entwicklung ist »nicht das bloß Formelle des Entwickelns überhaupt«,48 die ewige Wiederholung der immer gleichen Entwicklungsform, wie in der Natur, »sondern das Hervorbringen eines Zwecks von bestimmtem Inhalte«49 – und dieser Inhalt ist er selbst, seine Freiheit. Während die Entwicklungen in der Natur gleichförmig und ruhig vonstattengehen, sind sie im Geist »ein harter, unendlicher Kampf gegen sich selbst«,50 denn er vollzieht an sich selbst die Negation seiner bloßen Unmittelbarkeit und anfänglichen Natürlichkeit. Seine Entwicklung findet nicht bewusstlos und gleichsam von selbst statt, sondern die Übergänge zu einer nächsthöheren Bestimmung sind in ihm »vermittelt durch Bewusstseyn und Willen«.51 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Vgl. EPW, § 382. GW 18, S. 153, 20 f. Vgl. ebd., S. 183. Ebd., S. 183. Ebd., S. 181 f. Ebd., S. 184. Ebd. Ebd. Ebd.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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Die Familie in der vorgeschichtlichen Entwicklung Die geschichtliche Entfaltung des Geistes, sein »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit«52, hat nach Hegel drei Stufen. Davon fällt »die erste Stuffe ] als die unmittelbare innerhalb des (…) Versenktseyns des Geistes in die Natürlichkeit (…), in welcher er nur in unfreyer Einzelnheit ist (Einer ist frey); die zweyte aber ist das Heraustreten desselben in das Bewusstseyn der Freiheit; diß erste Losreißen ist aber unvollkommen und partiell, (Einige sind frey), indem es von der unmittelbaren Natürlichkeit herkommt, hiermit auf sie bezogen und mit ihr, als einem Momente, noch behafftet ist. Die dritte Stuffe ist die Erhebung aus dieser noch besondern Freyheit in die reine Allgemeinheit derselben (der Mensch als Mensch ist frey),– in das Selbstbewußtseyn und Selbstgefühl des Wesens der Geistigkeit. Diese Stuffen sind die Grundprincipien des allgemeinen Processes.«53 Solange der Geist noch ganz unmittelbar und in der Natur versenkt ist, unterscheidet er sich bloß der Möglichkeit nach von der Natur. In diesem Stadium findet nach Hegel noch keine eigentliche Geschichte statt, denn das, was den Geist auszeichnet, ein Bewusstsein der Freiheit – auch von der bloßen Naturbestimmtheit –, ist noch gar nicht wirklich vorhanden. Damit gehören alle frühen naturwüchsigen Lebensformen, in denen die Menschen wie die Tiere hauptsächlich mit ihrer Selbsterhaltung befasst sind – Familien, Stämme oder auch ›Völker‹54, solange sie noch nicht politisch verfasst sind –, für Hegel zur Vorgeschichte, obwohl sie auch nach Hegel in Wahrheit nicht bloß natürlich sind, sondern an sich schon geistig-sittlich. So sind z. B. die frühen, ›vorgeschichtlichen‹ Familienverbände nicht eigentlich natürlich, aber sie werden vom Bewusstsein so aufgefasst und erscheinen ihm in dieser Form. Sie basieren auf dem natürlichen Verhältnis der Blutsverwandtschaft und werden vom Bewusstsein auch als natürliche Verwandtschaftsbeziehung 52
Ebd., S. 153. Ebd., S. 185 f. 54 Nach Hegel sind in der Vorgeschichte die Übergänge von Familien in Stämme oder (patriarchalische) Völker nicht selten fließend (vgl. GW 18, S. 195, 4 f.; GPR, § 181 Anm.). Welche Bezeichnung man wählt, hängt vor allem von der Menge der Menschen ab, die Teil dieses Lebenszusammenhangs sind, bzw. auch davon, wie verzweigt die (wirklichen oder also solche vorgestellten) Verwandtschaftsbeziehungen sind. Im weiteren Verlauf soll gezeigt werden, dass es nach Hegel Ausdruck des historischen Fortschritts ist, dass bereits die griechische Polis, aber erst recht die Staaten der Neuzeit, nicht patriarchalisch sind, d. h. nicht auf im weiteren Sinne blutsverwandtschaftlichen Zusammenhängen beruhen, sondern eine politische Gemeinschaft darstellen (vgl. dazu Siep 1992, insbesondere S. 309 –315). Hegel ist kein Verfechter oder Verehrer des ›Völkischen‹. 53
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I Einleitung
gedacht, aber schon die höchst unterschiedliche Ausbildung von Verwandtschaftssystemen zeigt, dass in die natürlichen blutsverwandtschaftlichen Beziehungen von Menschen geistig-sittlich eingegriffen wird. Obwohl also jede Familienform natürliche Voraussetzungen hat, ist dennoch keine Familie eine bloße Naturgemeinschaft, wie z. B. eine Tierherde. Sie erweckt den Anschein, natürlich zu sein, weil sie einen natürlichen Zusammenhang zur Voraussetzung hat, der aber von Menschen als geistigen Wesen von Beginn an geistig angeeignet wird. Auch frühe Familien- und Stammesverbände sind also Formen, in denen sich die Menschen geistig-sittlich zu ihrer natürlichen Gattungshaftigkeit verhalten, aber aufgrund des mangelnden Bewusstseins der Individuen kommt der Geist in ihnen noch nicht oder nur sehr mangelhaft zur Geltung. Der ›vorgeschichtliche‹ Familien- oder Stammesverband ist »eine Lebensordnung, die durch natürlich-biologische Gegebenheiten, durch Verwandtschaftsbeziehungen fundiert ist oder doch als hierdurch fundiert gedacht wird«55. Zwar mag das Leben für die Menschen in solchen frühen Familien-, Stammes- oder Volksverbänden turbulent gewesen sein, es mögen auch viele Veränderungen stattgefunden haben, aber diese Veränderungen unterscheiden sich nicht maßgeblich von den genannten mannigfachen Veränderungen in der Natur: Sie zeigen nur einen »gleichförmige(n) Verlauff ihres Zustandes«56, verkehren sich also in ihr Gegenteil. Sie bringen nichts hervor, was außerhalb der Familie oder des Stammes erinnernswert wäre;57 in die Vorgeschichte, dem von manchen Philosophen zum freien Zustand verklärten ›Naturzustand‹ fällt nach Hegel in Wahrheit nur »einerseits die interesselose, dumpfe Unschuld, andererseits die Tapferkeit des formellen Kampfs des Anerkennens und der Rache.«58 Es ist ein Zustand, in dem die Menschen noch wie Tiere sind, ein Zustand der Gewalt und Roheit, des »ungebändigten Naturtriebs«.59 Über diesen vorgeschichtlichen Zustand lassen sich letztlich nur Vermutungen anstellen, weil wir keine Kenntnis von ihm haben, denn es gibt keine selbstbewussten Subjekte, die darüber hätten Auskunft geben können, und umgekehrt gibt es nichts, über das Auskunft hätte gegeben werden müssen: Die vorgeschichtlichen Zeiträume »sind darum ohne objective Geschichte, weil sie keine subjective, keine Geschichtserzählung aufweisen; nicht wäre diese nur zufällig über solche 55 56 57 58 59
Jaeschke 2009a, S. 292. GW 18, S. 193, 1 f. Vgl. ebd., S. 192, 20–193, 5. GPR, § 349. GW 18, S. 175, 8.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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Zeiträume untergegangen, sondern weil sie nicht hat vorhanden seyn können, haben wir keine darüber.«60 Beides bedingt sich also wechselseitig: Weil es keine objektive Geschichte gibt, gibt es keine subjektive und umgekehrt, weil es keine subjektive Geschichte gibt, gibt es keine objektive. Nur da, wo Menschen sich wissentlich und willentlich zu sich selbst als geistige und als geschichtliche Wesen verhalten, kann es Geschichte geben. Staatsgründung und Geschichte Geschichte im eigentlichen Sinne beginnt nach Hegel erst dort, wo Staaten entstehen, bzw. wo Staaten Geschichte machen – wobei Hegel in diesem Zusammenhang mit »Staat« nicht allein die spezifische neuzeitliche Herrschaftsform meint, sondern in einem weiteren Sinne auch frühere Herrschaftsformen wie die altorientalischen Hochkulturen, die griechische Polis oder das Imperium Romanum als ›Staaten‹ bezeichnet:61 »(D)er Staat erst führt einen Inhalt herbey, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt. Statt nur subjectiver, für das Bedürfniß des Augenblicks genügender Befehle des Regierens erfordert ein festwerdendes, zum Staate sich erhebendes Gemeinwesen Gebote, Gesetze, allgemeine und allgemeingültige Bestimmungen und erzeugt damit sowohl einen Vortrag als ein Interesse von verständigen, in sich bestimmten und für sich selbst in ihren Resultaten dauernden Thaten und Begebenheiten, welchen die Mnemosyne, zum Behuff des selbst perennirenden Zwecks, dieser noch gegenwärtigen Geltung und Beschaffenheit des Staates die Dauer des Andenkens hinzuzufügen getrieben ist.«62 »Erst im Staate mit dem Bewußtseyn von Gesetzen sind klare Thaten vorhanden und mit ihnen die Klarheit eines Bewußtseyns über sie, welche die Fähigkeit und das Bedürfniß gibt, sie so aufzubewahren.«63 Die griechische Mythologie hat ein passendes Bild dafür gefunden, dass der vorstaatliche, naturwüchsige Zustand zwar Jahrhunderte oder gar Jahrtausende lang angedauert haben mag,64 in ihm also viel Zeit vergangen ist, er aber dennoch nicht zur Geschichte im eigentlichen Sinne gehört: Nach der 60 61 62 63 64
Ebd., S. 193 f. Vgl. Jaeschke 2003, S. 402. GW 18, S. 193, 6–15. Ebd., S. 194, 2–4. Vgl. ebd., S. 193, 20 f.
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I Einleitung
Theogonie des Hesiod frisst Kronos (die Zeit), Sohn der Natur- und Muttergottheit Gaia (die Erde), die eigenen Kinder, die er mit seiner Schwester Rhea – auch sie ist eine Erd- und Muttergottheit – gezeugt hat, aus Angst, eines der Kinder könne ihn entmachten. Rhea kann eines ihrer Kinder retten und verstecken – es handelt sich um Zeus, der als erwachsener Mann seinen Vater angreift und entthront. Zeus besiegt nach langen Kämpfen die alten Naturgötter – die Titanen – und setzt die Herrschaft der olympischen Götter durch.65 Die Zeit (Kronos) gebiert also im Einklang mit der Natur (Rhea) Kinder, vernichtet sie jedoch ebenso, sodass keine wirkliche Entwicklung, kein Fortschritt stattfindet und keinerlei Erinnerung von diesen Kindern bleibt. Erst Zeus »hat die Zeit bezwungen und ihrem Vergehen ein Ziel gesetzt. Er ist der politische Gott, der ein sittliches Werk, den Staat hervorgebracht hat«66. Und dieser politische Gott vereint sich mit der Mnemosyne (der Erinnerung) und zeugt mit ihr die 9 Musen, darunter die Muse der Geschichtsschreibung sowie die Musen der verschiedenen Künste und Wissenschaften. Im Mythos wird somit bildhaft zum Ausdruck gebracht, dass erst mit der Gründung von Staaten Erinnernswertes erschaffen wird und erst in einem beständigen politischen Leben Kunst, Religion und Wissenschaften gedeihen können. Erst die Staatsgründung bricht also Hegel zufolge mit der Dumpfheit des bloß naturwüchsigen Lebens und beendet den Kampf um Anerkennung, zunächst mittels der Durchsetzung von Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnissen, in denen die Anerkennung nur einem Individuum oder wenigen Individuen zukommt, und schließlich durch Etablierung universeller Anerkennungsverhältnisse im modernen Rechtsstaat, in dem nach Hegel das HerrschaftsKnechtschafts-Verhältnis aufgehoben ist.67 Die Durchsetzung der universellen Anerkennung aller Individuen als freie Rechtspersonen ist Ausdruck des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit, der sich nach Hegel in vier »welthistorischen Reiche(n)«68 Gestalt gibt: im »Orientalische(n) Reich«, den altorientalischen Hochkulturen also; im »Griechische(n) Reich«, der griechischen Antike; im »Römische(n) Reich« und schließlich im christlich-europäischen Kulturraum, dem »Germanischen Reich«. Im altorientalischen Despotismus wissen die Menschen nach Hegel zunächst nur, dass Einer frei ist; in der attischen Demokratie und der altrömischen Aristokratie dann, dass Einige frei
65
Vgl. TWA 12, S. 299 ff. Ebd., S. 101. 67 Zu Hegels Begriff der Anerkennung und seiner Philosophie von Herrschaft und Knechtschaft vgl. PhG, S. 109, 5–116, 5. 68 Vgl. GPR, §§ 354–358. 66
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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sind; und im modernen christlich-europäischen Rechtsstaat schließlich, dass Alle frei sind, dass der Mensch als Mensch, als Geist frei ist.69 Staatsgründung und Rechtsgeschichte In der Staatsgründung kommt – anfangs nur ganz formell, z. B. im Willen des Heroen, der den Staat gründet – zum Ausdruck, dass die Lebensverhältnisse der Menschen gewusst und gewollt werden, dass sie also auf einem Willensakt beruhen und nicht auf bloßen Naturverhältnissen. Die bloß natürlichen oder naturwüchsigen Verhältnisse werden nicht mehr einfach hingenommen, sondern transformiert und praktisch verändert, sie werden also wissentlich und willentlich angeeignet. Ausdruck einer gelungenen Aneignung ist das Recht, das Hegel auch als das »Daseyn (…) der Freyheit«70 bezeichnet.71 Das Recht entwickelt sich, weil es geistig ist, ebenfalls historisch. Obwohl Hegel keine Rechtsgeschichte im eigentlichen Sinne geschrieben hat,72 war ihm die Bedeutung der Entstehung von Rechtsverhältnissen für die Geschichte des Selbstbewusstseins und der Freiheit dennoch sehr bewusst.73 Er liefert eine Bestimmung der systematischen Bedingungen und historischen Voraussetzungen für die Entwicklung von Rechtsstaaten, die nicht mehr vornehmlich auf (natürlich-biologischen oder vermeintlichen) Verwandtschaftsbeziehungen basieren, sondern explizit als Ausdruck von Willensakten begriffen werden und Anerkennungsverhältnisse zur Grundlage haben. Die Rechtsgeschichte im eigentlichen Sinne beginnt in Europa74 mit dem römischen Recht, in dem das Prinzip der Rechtspersönlichkeit entwickelt wird. Die frühen Staaten – die altorientalischen Hochkulturen und die griechischen Poleis – stellen jedoch bereits Vorformen von Rechtsverhältnissen dar, denn hier werden erstmals allgemeine Gesetze formuliert, die als solche Gültigkeit beanspruchen; nur das berechtigt überhaupt, sie alle in gleicher Weise als ›Staaten‹ zu bezeichnen. Ihr Mangel besteht darin, dass sie noch kein voll entwickeltes Privatrecht kennen, dass in ihnen also noch nicht das Prinzip der freien Rechtsperson entwickelt ist. Nach Hegel kommt es darauf an, zu erkennen, dass im freien Willen die Allgemeinheit des Willens 69
Vgl. GW 18, S. 152, 10–154, 8. GPR, § 30. 71 Vgl. II.1.3. 72 Zu den Gründen für die Abwesenheit einer expliziten Rechtsgeschichte im hegelschen Werk vgl. Jaeschke 2009a, S. 284–286, auch Jaeschke 2003, S. 375 f. 73 Vgl. Jaeschke 2009a. 74 Zu den Schwierigkeiten einer vergleichenden Rechtsgeschichte und den Gründen für eine Beschränkung auf das europäische Recht vgl. Jaeschke 2009a, S. 288 f. 70
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und die Einzelheit des Willens nicht im Gegensatz stehen.75 In den altorientalischen Hochkulturen, den frühesten Staaten, herrscht noch der substanzielle, allgemeine Wille, dem die Einzelnen sich in Gehorsam unterordnen.76 Dort haben die Individuen noch gar keine Persönlichkeitsrechte, keine subjektive Freiheit.77 Sie tun das, was allgemein geboten ist, nicht aus subjektiver Einsicht, sondern aus bloß äußerlichem Gehorsam. Hier kann sich also die Einzelheit des Willens noch nicht adäquat entfalten, weil die Einzelnen sich ganz dem Allgemeinen unterordnen. In der griechischen Antike wissen sich diejenigen, die den Bürgerstatus besitzen, dagegen bereits als freie Individuen; sie tun das Rechte, weil es recht ist und weil sie es als recht einsehen, stehen also als Individuen im Einklang mit den allgemeinen Sitten. Allgemeiner Wille und einzelner Wille sind auf unmittelbare Weise miteinander ausgesöhnt.78 Es bilden sich auch schon Vorformen des Privatrechts aus, aber dennoch ist das Privatrecht noch dem Recht der Polis untergeordnet, es ist noch nicht voll entfaltet. Die Unmittelbarkeit der griechischen Sittlichkeit steht jedoch im Widerspruch zur Natur des Geistes, der wesentlich Vermittlung ist. Die zunehmende Entfaltung der Subjektivität, die die bloß unmittelbar gegebenen Sitten und Gewohnheiten hinterfragt – die Philosophie des Sokrates dient Hegel als Paradebeispiel79 –, führt daher zum Untergang der griechischen Sittlichkeit. Erst im Römischen Reich gelingt es, die subjektive Besonderheit zu integrieren; das römische Recht anerkennt den Einzelnen als freie Rechtspersönlichkeit und entwickelt ein differenziertes Zivilrecht.80 Im Römischen Reich geht jedoch nach Hegel die Substanzialität der Freiheit, die Allgemeinheit des Willens verloren, es löst sich in die einzelnen Individuen als Atome auf und verliert seine Einheit. Es zerfällt in die zwei Extreme der abstrakten Allgemeinheit einerseits und der persönlichen Subjektivität andererseits.81 Die Vermittlung der Allgemeinheit und Einzelheit des Willens, in der beide zu ihrem Recht kommen, indem der Entfaltung der individuellen Besonderheit Raum gewährt wird, ohne dass die substanzielle Einheit des Staates verloren geht, gelingt erst dem modernen Rechtsstaat:
75
Vgl. dazu II.1.2.2. Vgl. GPR, § 355; TWA 12, S. 135 f. 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. GPR, § 356; Kh, S. 83; TWA 12, S. 137. 79 Vgl. TWA 12, S. 328 f.; TWA 18, S. 468 f. 80 Vgl. GPR, § 357; TWA 12, S. 138. Hegel vertritt damit eine weitverbreitete Auffassung, die in einer aktuellen Publikation von Heinz Barta infrage gestellt wird. Nach Barta liegen die rechtlichen Wurzeln Europas nicht bei den Römern, sondern bereits bei den Griechen und im Alten Orient (vgl. Barta 2010 f.). 81 Vgl. GPR, § 357; TWA 12, S. 139. 76
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»Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjectivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substanzielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.«82 Die Geschichte der Familie Indem sich mit den Staaten historisch politische und rechtliche Strukturen entwickeln, entwickeln sich wiederum auch die Familien- und Geschlechterverhältnisse weiter, denn es wird mit zunehmendem Bewusstsein auch politisch-rechtlich in den naturwüchsigen Familienzusammenhang eingegriffen. Ein fortgeschrittenes Bewusstsein der Freiheit in einem der ›welthistorischen Reiche‹ kommt also auch in Veränderungen innerhalb der Familienstrukturen und in einem anderen Verhältnis von Familie und Staat zum Ausdruck. Mit der Entstehung von Staaten geht somit einerseits ein Bruch mit den bloß naturwüchsigen Familienverbänden der ›Vorgeschichte‹ einher, andererseits beginnt damit auch eine Geschichte der Familie. Man kann insofern auch durchaus von einer altorientalischen, altgriechischen, altrömischen und schließlich protestantisch-christlichen Familienform sprechen, die sich historisch auseinander entwickelt haben. Die moderne christliche Kleinfamilie stellt nach Hegel den Höhepunkt der Entwicklung und die vernünftigste Form des Familien- und Geschlechterverhältnisses dar.83 Zwar hat Hegel keine ›Geschichte der Familie‹ geschrieben, aber aus den Nachschriften von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte wie auch aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts und den Nachschriften zu den Vorlesungen über Rechtsphilosophie geht hervor, dass er die historische Entwicklung des Familienverhältnisses regelmäßig thematisiert hat. Diese Entwicklung schlägt sich demnach in der Entwicklung des Familien- und Erbrechts wie auch in den Veränderungen des Verhältnisses von Familie und
82
GPR, § 260. Vgl. dazu Kapitel II dieser Arbeit. Karl Marx spricht im Kapital – vermutlich in Kenntnis der hegelschen Unterscheidung – ebenfalls von diesen vier Entwicklungsstufen der Familie, wenn auch freilich nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass es »albern« sei, »eine dieser Formen für absolut zu halten« (MEW 23, S. 514); es könne vielmehr noch eine »höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter« (MEW 23, S. 514) geben, dann nämlich, wenn die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Reproduktion ebenso aufgehoben wird wie die Arbeitsteilung in der Produktion. Dafür ist eine Bedingung, dass die Frauen am Produktionsprozess teilnehmen können und nicht – wie in der bürgerlichen Kleinfamilie – auf die reproduktive Tätigkeit in der Familie reduziert werden. 83
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Staat nieder. Wie präsent die Frage nach der historischen Entwicklung der Familie für Hegel und seine Schüler war, lässt sich wohl auch daran ablesen, dass Hegels Freund und Schüler, Eduard Gans, noch zu Lebzeiten Hegels auf der Grundlage der hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie eine Geschichte des Familien- und Erbrechts geschrieben hat.84 Es geht aber auch sehr deutlich aus den Nachschriften von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vom Wintersemester 1822/23 hervor: »Zu betrachten ist noch, daß der Staat seinen ideellen Seiten gegenüber die Seite äußerlicher Erscheinung und Lebendigkeit, äußeren Stoffes überhaupt hat. (…) Der erste Stoff dieser Art ist, was man zu den Sitten und Gebräuchen etc. der Völker rechnet. Hierher gehört vornehmlich die natürliche Sittlichkeit oder das Familienverhältnis. Die Bestimmung desselben ist sehr wichtig. Beides ist durch die Natur des Staates bestimmt; die Ehe, in welcher Art sie ist, ist hier das erste, z. B. ob sie sein soll Vielweiberei oder Monogamie (…). Die moderne Welt kann nur letztere haben, also auch nicht Vielmännerei, denn der moderne Staat ist dies, daß jede Seite ihr volles Recht erhalte. Die Ehe dem Begriff nach erhält nun ihr volles Recht als Verhältnis eines Mannes und einer Frau. Ein zweites ist das Verhältnis der Kinder zu den Eltern. Ebenso ist hier drittens das Eigentum der Familie wichtig. Die Bestimmungen also des Erbrechts hängen mit dem Prinzip des Staats zusammen, insofern sie Sklaven sind oder indem sie freies Eigentum haben können. Ein weiteres Verhältnis ist ferner das Benehmen der Individuen gegeneinander auch bis dahin, wo es sich als Höflichkeit zeigt. Die weiteren Verhältnisse in Gebräuchen sind die, welche bei notwendigen Epochen der Individuen eintreten, also bei der Geburt, der Hochzeit, dem Tod. Solche Gebräuche drücken die Gedanken aus, welche ein Volk über diese Gegenstände hat. Daran zeigt sich, welche Bestimmtheit der Vorstellung es vom Geist hat.«85 Wenn man sich die Entwicklung der Familienformen von der altorientalischen Familie bis zur modernen bürgerlichen Kleinfamilie, wie Hegel sie in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte skizziert hat, ansieht, ist es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Familie nach Hegel jedoch nicht aus sich selbst heraus eine Geschichte hat.86 Als auf natürlichen Voraussetzungen basierende Gemeinschaften brächten die Familienverbände
84
Vgl. Gans [1824–1835] 1963. Zur Darstellung der Geschichte des Erbrechts bei Gans vgl. Waszek 1998; Nielsen 2006; Bertani 2007. 85 V 12, S. 88, 353–S. 89, 380. 86 Vgl. GW 18, S. 190, 14–19.
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wie die Natur nur die ewige Wiederkehr des gleichen hervor, wenn nicht gleichsam ›von außen‹ in sie eingegriffen würde. Mit zunehmender Entwicklung des Rechts, bis hin zum voll entfalteten Privatrecht, entwickelt sich auch das Familien- und Erbrecht, dessen Ausgestaltung enorme Auswirkung auf das Geschlechterverhältnis hat. Nur durch diese Rückwirkung der politischrechtlichen Strukturen auf die Familienverhältnisse wird die geistig-sittliche Aneignung des natürlichen Gattungsverhältnisses in der Familie vorangetrieben, die sich innerhalb der Familienverhältnisse in der Art der Beziehungen der Familienmitglieder zueinander niederschlägt. Entscheidend ist dafür schon bei den ganz frühen Staatsformen die Einführung des Instituts der Ehe, die das Verhältnis der Geschlechtspartner rechtlich regelt. Hegel wird deshalb nicht müde zu betonen, dass die Durchsetzung des Ackerbaus, der die Sesshaftigkeit verbürgt und die Einführung von Privateigentum ermöglicht, einerseits und die Einführung der Ehe, die wiederum dauerhafte Verbindungen der Geschlechter etabliert und die Erbfolge für das neu entstandene Privateigentum sichert, andererseits zu den großen Leistungen der ersten Staaten gehört: »Mit Recht ist der eigentliche Anfang und die erste Stiftung der Staaten in die Einführung des Ackerbaues, nebst der Einführung der Ehe gesetzt worden, indem jenes Prinzip das Formiren des Bodens und damit ausschließendes Privat-Eigenthum mit sich führt (vergl. § 170 Anm.) und das im Schweifenden seine Subsistenz suchende, schweifende Leben des Wilden zur Ruhe des Privatrechts und zur Sicherheit der Befriedigung des Bedürfnisses zurückführt, womit sich die Beschränkung der Geschlechterliebe zur Ehe, und damit die Erweiterung dieses Bandes zu einem fortdauernden in sich allgemeinen Bunde, des Bedürfnisses zur Familiensorge und des Besitzes zum Familiengute verknüpft. Sicherung, Befestigung, Dauer der Befriedigung der Bedürfnisse u.s.f. (…) sind nichts anderes als Formen der Allgemeinheit und Gestaltungen, wie die Vernünftigkeit, der absolute Endzweck, sich in diesen Gegenständen geltend macht.«87 Tatsächlich gehören die Landwirtschaft und das Verhältnis von Mann und Frau in den Staaten der Frühgeschichte zu den ersten Teilbereichen des Lebens, die rechtlich geregelt werden. Mit der Einführung der Ehe wird zugleich die Herrschaft der Männer über die Frauen in der Ehe durchgesetzt. Das durch den Ackerbau entstehende Privateigentum wird patrilinear vererbt. Die Entwicklung des Privateigentums mit beginnender Sesshaftigkeit geht also einher mit der Durchsetzung patriarchaler Familienstrukturen und 87
GPR, § 203 Anm.; vgl. auch GPR, § 350.
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patrilinearer Erbfolge.88 Der enge Zusammenhang von Ackerbau und Ehe wird in vielen frühen Kulturen auch mythologisch oder religiös abgebildet: So sind es z. B. in der ägyptischen Religion Osiris, in der griechischen Mythologie Demeter (lat. Ceres), die die Menschen die Einführung von Ackerbau und Ehe lehren.89 Sie stehen zugleich für die beständige Fruchtbarkeit der Erde wie der Menschen. Die orientalische Familie Die differenzierte und ausführliche Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der vier Weltreiche, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte gegeben hat, ist leider nur in Form von Mit- und Nachschriften überliefert, die noch nicht veröffentlicht sind.90 In der von Hegels Sohn Karl Hegel 1840 besorgten Ausgabe der Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte finden sich einige interessante Hinweise zum Verhältnis von Familie und Staat in den frühen Staaten des Orients sowie zu den damaligen Verhältnissen der Familienmitglieder untereinander. Demnach unterscheiden sich im historisch ältesten Staat, der ersten altorientalischen Hochkultur, von der wir Überlieferungen haben – dem chinesischen Reich91 – die politischen Strukturen noch kaum von familiären Strukturen. Alle Familienformen – egal zu welcher Zeit – basieren nach Hegel wesentlich darauf, dass die Individuen in der Familie im Verhältnis zueinander nicht den Status von Rechtspersonen besitzen. Die Individuen verstehen sich wesentlich als Mitglieder der Familieneinheit, nicht als besondere Individuen gegeneinander.92 Dies gilt in ähnlicher Weise für die Bürger des chinesischen Reiches, denn sie haben noch keine Privatrechte und gehen ganz in der Einheit des Staates auf. Der Kaiser sorgt für sie, wie ein Vater für seine Kinder sorgt. Hegel bezeichnet das chinesische Reich deshalb auch als »patriarchalisch«93:
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Den Zusammenhang der Entstehung von Privateigentum und patriarchalen Familienstrukturen – beides nach Hegel notwendige Voraussetzungen für die Aneignung der Natur und für zivilisatorischen Fortschritt – untersucht auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung auch Friedrich Engels in Anlehnung an die Studien von Lewis H. Morgan (vgl. MEW 21, S. 25–173). 89 Vgl. V 12, S. 285, 578 f.; TWA 12, S. 258; TWA 12, S. 280; TWA 14, S. 57. 90 Vgl. Jaeschke 2003, S. 401. 91 Hegel nennt die fünf Klassiker der chinesischen Literatur als seine Quellen (vgl. TWA 12, S. 148 f.). 92 Vgl. GPR, § 158; GW 18, S. 176, 16 f.; TWA 12, S. 60; II.2.1.3. 93 Zu Hegels Bestimmung des ›patriarchalen Zustands‹ als Übergang von Familienverbänden zu einem Staat vgl. auch GW 18, S. 176, 5–177, 21; TWA 12, S. 59 f.; V 12, S. 74,
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»Dieses Verhältnis nun näher und der Vorstellung gemäßer ausgedrückt ist die Familie. Auf dieser sittlichen Verbindung allein beruht der chinesische Staat und die objektive Familienpietät ist es, welche ihn bezeichnet. Die Chinesen wissen sich als zu ihrer Familie gehörig und zugleich als Söhne (sic!) des Staates. In der Familie selbst sind sie keine Personen, denn die substanzielle Einheit, in welcher sie sich darin befinden, ist die Einheit des Bluts und der Natürlichkeit. Im Staate sind sie es ebensowenig, denn es ist darin das patriarchalische Verhältnis vorherrschend, und die Regierung beruht auf der Ausübung der väterlichen Vorsorge des Kaisers, der alles in Ordnung hält.«94 Die Ähnlichkeit der politischen Strukturen mit naturwüchsigen Familienverbänden und die große Bedeutung, die der Familiensittlichkeit im Alltagsleben der chinesischen Dynastie zugesprochen wird, rührt daher, dass das chinesische Reich als ältester Staat in der Geschichte der Menschheit den Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte allererst macht. Der Geist ist auf dieser Stufe noch in die Natur versenkt. Das chinesische Reich basiert daher dem Prinzip nach noch auf dem natürlichen »Familiengeist«, auf der »unmittelbare(n) Einheit des substanziellen Geistes und des Individuellen«, allerdings ausgedehnt auf das »volkreichste Land«95. Seine Einheit basiert damit in Wahrheit nicht mehr auf bloß natürlichen blutsverwandtschaftlichen Zusammenhängen, denn bei einem so großen Reich wie dem chinesischen kann man nicht mehr von einem Familienverband sprechen. Seine Einheit realisiert sich also nur in analoger Form und durchaus in Kontinuität mit den in ihm vorhandenen Familienverbänden.96 Bei einem solchen patriarchalen Staat kann jedoch der Geist nicht stehen bleiben, denn das Familienverhältnis basiert wesentlich auf dem natürlichen Band des Blutes und auf der natürlichen Empfindung der Liebe, der Staat aber stellt ein geistiges Band dar, das vernünftig ist und als solches auch gewusst werden muss. Dieses Wissen kommt nach Hegel maßgeblich in der vernünftigen Verfassung und in der Anerkennung der Bürger als freier Subjekte zum Ausdruck. Der Staat bedarf also einer Verfassung und eines Rechtszustandes, in dem die In943 f.; auch GPR, § 181 Anm. Zu Hegel Darstellung des kaiserlichen Patriarchats im chinesischen Reich vgl. auch Purtschert 2006, S. 92 ff. 94 TWA 12, S. 153; vgl. auch Kh, S. 98 f. Hegel arbeitet am Beispiel Chinas sehr genau die Ähnlichkeiten zwischen dem Familien- und dem Staatsverhältnis heraus (vgl. TWA 12, S. 147–174). 95 TWA 12, S. 152. 96 Zu Hegels Auffassung des Zusammenhangs von politisch patriarchalen Zuständen und dem Familienverhältnis vgl. GW 18, S. 176, 5–177, 21; TWA 12, S. 59 f.; V 12, S. 74, 944 f.
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dividuen als mündige Bürger anerkannt werden, was beides im chinesischen Reich aufgrund der patriarchalischen Verhältnisse nicht gegeben ist.97 Die Ähnlichkeit von königlicher und väterlicher Gewalt im chinesischen Reich ist allein der Tatsache geschuldet, dass dieses Reich noch ganz am Anfang der Geschichte steht. In dieser Ähnlichkeit besteht der Mangel dieses Reichs, es kann darin kein Vorbild für spätere Staaten sein. Hegel kritisiert somit die politische Theorie des Patriarchalismus des 17. Jahrhunderts, die gerade eine solche Identität oder zumindest Ähnlichkeit der königlichen und der väterlichen Gewalt forderte.98 Da im chinesischen Reich die Familiensittlichkeit das bestimmende Prinzip ist, gelten die Pflichten gegen den Kaiser und gegen die Mitglieder der eigenen Familie als die höchsten Pflichten.99 Die Familienstrukturen sind dabei ebenso patriarchal und autoritär wie das Staatsverhältnis. Die Kinder müssen sich, solange die Eltern leben, der elterlichen Gewalt vollends unterwerfen. Hegel hat diese patriarchalen Familienstrukturen in seinen Vorlesungen an einigen drastischen Beispielen deutlich gemacht: »Die Kinder haben kein Eigentum, [sind] immer minderjährig, müssen den Eltern dienen, sie pflegen, ihnen Ehrerbietungen erweisen (…). Die Eltern sorgen auch für die Verheiratung ihrer Kinder.«100 »Der Sohn darf den Vater nicht anreden, wenn er in den Saal tritt; er muß sich an der Seite an der Türe gleichsam eindrücken und kann die Stube nicht ohne Erlaubnis des Vaters verlassen. Wenn der Vater stirbt, muß der Sohn drei Jahre lang trauern, ohne Fleischspeisen und Wein zu sich zu nehmen; die Geschäfte, denen er sich widmete, selbst die Staatsgeschäfte stocken, denn er muß sich von denselben entfernen. (…) Keine Heirat darf während der Trauerzeit in der Familie geschlossen werden. Erst das fünfzigste Lebensjahr befreit von der überaus großen Strenge der Trauer (…). Die Verdienste des Sohnes werden nicht diesem, sondern dem Vater zugerechnet. (…) Dafür ist aber auch jeder Familienvater für die Vergehen seiner Deszendenten verantwortlich. Es gibt Pflichten von unten nach oben, aber keine eigentlich von oben nach unten.«101 In diesen Beispielen wird deutlich, dass die Familienmitglieder innerhalb der altorientalischen chinesischen Familie gar nicht als Individuen vorkommen. Sie sind noch ganz dem Familienganzen untergeordnet. Ihr ganzes Tun 97 98 99 100 101
Vgl. TWA 12, S. 157; S. 161. Vgl. GW 18, S. 176, 5–177, 21. Vgl. TWA 12, S. 153. V 12, S. 133, 345 f. TWA 12, S. 153 f.; vgl. Kh, S. 99 f.
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ist auf die Erhaltung der Familie gerichtet: Sie sind vor allem mit der Zeugung und Aufzucht von Nachkommen sowie der Bestattung und Erinnerung der Toten beschäftigt. Wer seiner Pflicht der Ahnenverehrung nicht nachkommt, muss mit Verfolgung rechnen.102 Da die Familie der Ort der natürlichen Reproduktion der Gattung ist, ist für die Familie zu allen Zeiten der – mehr oder weniger ritualisierte – Umgang mit Geburt und Tod von Bedeutung; aber gerade die frühen Familienformen zeichnen sich nach Hegel dadurch aus, dass Fortpflanzung, Bestattung und Erinnerung der Toten noch ganz im Vordergrund der familiären Handlungen stehen und gleichsam den Hauptzweck der Familie ausmachen. In den kultischen Handlungen insbesondere im Falle des Todes eines Familienmitglieds findet eine erste geistigsittliche Aneignung der natürlichen Gattungshaftigkeit des Menschen statt. Dies macht Hegel ausführlich in der Phänomenologie anhand der archaischen Familie der griechischen Polis deutlich.103 Diese geistig-sittliche Aneignung in Form des Kultus in der orientalischen oder griechischen Antike ist allerdings noch ohne Kenntnis und Würdigung der besonderen Individualität der Familienmitglieder, die nach Hegel erst in der christlichen Ehe und Familie, die auf dem geistigen Prinzip der Liebe beruht, wahrhaft zur Geltung kommen kann.104 Da die frühen Familienverbände und Staaten noch keine Innerlichkeit und Subjektivität zulassen können, kann sich das geistige Prinzip der Liebe nicht frei ausbilden: »Wie die Familienmitglieder in ihren Empfindungen zueinander zu stehen haben, ist förmlich durch Gesetze bestimmt, und die Übertretung zieht zum Teil schwere Strafe nach sich.«105 In China ist die Familie noch streng hierarchisch gegliedert und das Verhältnis der Familienmitglieder völlig äußerlich, sowohl das Verhältnis der Eheleute wie das Eltern-Kind-Verhältnis. Ein Vater kann nach Hegel seine Kinder sogar verkaufen; seine ›Hauptfrau‹ erwirbt er durch Kauf, auch wenn er sie nicht verkaufen darf wie seine ›Nebenfrauen‹.106 In der Möglichkeit des Kaufs und des Verkaufs von Familienmitgliedern wird deutlich, dass das Recht der Person noch nicht entwickelt ist, nach dem der Leib unveräußerlich ist, weil er das Dasein der Freiheit der Personen ist.107 Das Verhältnis
102 103 104 105 106 107
Vgl. TWA 12, S. 155; Kh, S. 101 f. Vgl. III.2.2.3. Vgl. II.2.2.6. TWA 12, S. 161 f. Vgl. TWA 12, S. 162; Kh, S. 121; V 12, S. 133, 364 f. Vgl. II.2.2.8.2.
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von Ehemann und Ehefrau ist aufgrund der Äußerlichkeit des Familienverhältnisses und der Fixierung auf die Fortpflanzung kein erfülltes Liebesverhältnis. Die Frauen werden zwar von Mann und Kindern geachtet, aber nur, insofern sie die Hauptfrauen sind; es herrscht zwar der rechtlichen Form nach Monogamie, aber der Mann kann sich zusätzlich zu seiner Ehefrau Konkubinen kaufen, die als ›Nebenfrauen‹ zu Sklavinnen degradiert sind.108 Untreue wird hart bestraft, kommt aber »wegen der Abgeschlossenheit der Weiber nur selten«109 vor. Die Äußerlichkeit des Eltern-Kind-Verhältnisses zeigt sich z. B. daran, dass die Kinder der Konkubinen einfach als Kinder der Hauptfrau gelten und auch nur um diese trauern dürfen, nicht um ihre leibliche Mutter.110 Die Kinder sind nicht, wie in der Moderne, wesentlich Ausdruck der Liebe der Eltern; der Vater hat vielmehr deshalb ein Interesse an möglichst zahlreichen Nachkommen – seien sie nun leiblich oder adoptiert111, von seiner Ehefrau oder einer Konkubine – weil es ihre Aufgabe ist, »nach seinem Tod sein Begräbnis zu besorgen, das Grab zu ehren und zu schmücken«112. Innerhalb der Familie wie auch im Staat werden die in der Hierarchie niederen von denen, die darin höher stehen, wie unmündige Kinder behandelt und teils hart gezüchtigt. Statt vernünftiger Strafe, die auf subjektive Einsicht zielt, herrscht äußerliche Zucht, sowohl im Staat wie innerhalb der Familie.113 Bei Verbrechen eines Einzelnen haftet seine ganze Familie.114 Für die patriarchalen Familien- und Staatsverhältnisse im alten China kann man daher abschließend sagen: »Diese väterliche Fürsorge des Kaisers und der Geist seiner Untertanen, als Kinder, die aus dem moralischen Familienkreise nicht heraustreten und keine selbständige und bürgerliche Freiheit für sich gewinnen können, macht das Ganze zu einem Reiche, Regierung und Benehmen, das
108
Vgl. V 12, S. 133, 364 f.; TWA 12, S. 162; II.2.2.10.1. TWA 12, S. 163. 110 Vgl. V 12, S. 133, 364–367. 111 Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass Adoptionen in der Antike wesentlich den Fortbestand der Familie sichern sollten. In der Regel wurden daher auch junge Erwachsene adoptiert, nicht Babies oder Kleinkinder, da die Kindersterblichkeit noch sehr hoch war. Während heute Adoptivkinder in der Regel von (Ehe)Paaren adoptiert werden, um wie leibliche Kinder Gegenstand und Vergegenständlichung der Liebe der Adoptiveltern zu sein, hatten sie in der Antike hauptsächlich die Funktion, den Fortbestand der Familie zu sichern. Vgl. Deißmann-Merten 1996. 112 V 12, S. 134, 385 f.; vgl. auch TWA 12, S. 155. 113 Vgl. TWA 12, S. 162 f. 114 Vgl. ebd., S. 163; V 12, S. 147, 731 f. 109
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zugleich moralisch und schlechthin prosaisch ist, d. h. verständig ohne freie Vernunft und Phantasie.«115 Erst in der Moderne, in der die Individuen im Rechtsstaat als Rechtspersonen anerkannt werden, tritt auch die Bedeutung der Familienpietät in den Hintergrund. Mit der rechtlich anerkannten Volljährigkeit können die Individuen den familiären Zusammenhang verlassen und ihre eigenen Wege gehen. Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte die weiteren Kulturen der orientalischen Welt und ihre Geschichte sehr ausführlich dargestellt. Er gibt dabei ein durchaus differenziertes Bild der jeweiligen Staatsverfassungen, das hier nicht nachgezeichnet werden kann. Allgemein lässt sich jedoch festhalten, dass nach Hegel in allen orientalischen Staaten zwar die Substanzialität des Sittlichen realisiert ist, aber keine subjektive Einsicht in diese Substanzialität vorhanden ist – wie sich an China exemplarisch zeigen lässt, weil es als der erste Staat noch ganz in dieser Substanzialität versunken ist. Die subjektive Einsicht in das allgemein Vernünftige ist nach Hegel jedoch Voraussetzung für wahre Freiheit. Das Sittliche erscheint den Individuen deshalb in den orientalischen Staaten als äußerlicher Zwang; der Staat wird noch nicht als Ausdruck des allgemeinen vernünftigen Willens der Menschen begriffen, sondern erscheint den Individuen als äußerliche, fremde Macht.116 Aufgrund dieser Äußerlichkeit bzw. der fehlenden Innerlichkeit oder Subjektivität hat der Geist noch die Form »natürliche(r) Geistigkeit«117. Folgerichtig fallen auch Staat und Religion noch in eins, denn die Religiosität ist die unmittelbare natürliche Form des Bewusstseins der Geistigkeit. In Persien erst beginnt sich der freie Geist herauszubilden, »und es steht deshalb höher als jene im Natürlichen versenkten Welten«118, wie China oder Indien, aber es stellt damit auch bereits den Übergang zur griechischen Welt dar, in der sich nach Hegel der freie Geist erstmals entfalten kann. Wie die Staatsverfassungen in allen orientalischen Reichen in einigen allgemeinen Hinsichten übereinstimmen, bei aller Differenz im Detail, so kann man auch für die Familienstrukturen im Orient einige allgemeine Bestimmungen festhalten. Zwar scheint Hegel in seinen Vorlesungen bei der Darstellung der anderen orientalischen Staaten nicht mehr so ausführlich auf die Familienverhältnisse eingegangen zu sein, wie bei seiner Beschreibung 115 116 117 118
TWA 12, S. 156. Vgl. ebd., S. 142 f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 273.
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der chinesischen Verhältnisse, bei der er die Identität von staatlicher und familiärer Sittlichkeit besonders herausarbeitet. Aber seinen verschiedenen Nebenbemerkungen119 lassen sich doch folgende Hinweise entnehmen: In den altorientalischen Familien ist die Familienordnung in der Regel streng hierarchisch und patriarchal, d. h., der Vater herrscht sein Leben lang über Frau(en) und Kinder; in der Regel sind Frauen und Kinder unmündig und können kein Eigentum besitzen; es herrscht häufig noch Polygamie; die Frauen haben kaum Rechte, sie können ihren Ehepartner in der Regel nicht frei wählen, und es bedarf für die Hochzeit nicht ihrer Zustimmung; die Familie ist noch keine Liebesgemeinschaft, sondern vornehmlich eine Fortpflanzungsgemeinschaft; die rituelle Bestattung und in der Regel auch der Ahnenkult sind von großer Bedeutung; die Zugehörigkeit zur Familie spielt für die Individuen noch eine sehr große Rolle; die besondere Individualität der Individuen kommt innerhalb der Familie (wie auch im Staat) noch nicht zur Geltung; aufgrund der Äußerlichkeit der Verhältnisse, der mangelnden Ausbildung der subjektiven Empfindung sowie der fehlenden Rechte der Individuen kommt es in der Familie nicht selten zu Gewalt und – modern gesprochen – zur Verletzung der Persönlichkeit. Die griechische Familie War der Orient Hegel zufolge noch das ›Kindesalter‹ der Menschheit, so vergleicht er die griechische Antike mit dem ›Jünglingsalter‹120. Das griechische Reich löst nach Hegel konsequenterweise das persische Reich (genau genommen Ägypten) weltgeschichtlich ab, weil es in der Lage ist, das im persischen Reich bereits aufkeimende, aber seiner selbst noch unbewusste Prinzip der freien Individualität politisch zu realisieren. Die Bedingungen dafür sind im griechischen Reich nicht zuletzt dadurch gegeben, dass die in ihm vereinten Menschen, anders als in den orientalischen Reichen »nicht schon durch das Naturband patriarchalisch von Hause aus vereint sind, sondern sich erst in einem anderen Medium, in Gesetz und geistiger
119
Vgl. z. B. in Indien die Witwenverbrennung (TWA 12, S. 187 f., auch TWA 16, S. 372), die Polygamie (TWA 12, S. 187, V 12, S. 188, 881 f.), die Gewalt innerhalb der Familie (ebd., S. 199), die Unterdrückung und Bevormundung der Frauen (V 12, S. 187, 858 f.), die Bevorzugung der Ursprungsfamilie gegenüber dem Ehepartner (V 12, S. 189, 909–915); in Babylon die Versteigerung der Töchter (TWA 12, S. 229); die große Bedeutung der Familie bei den israelischen Juden (vgl. TWA 12, S. 243 f.); die mancherorts bestehende Polygamie bei den Ägyptern (TWA 12, S. 253). 120 Vgl. TWA 12, S. 137 und 275.
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Sitte, zusammentun. Denn das griechische Volk ist vornehmlich erst zu dem, was es war, geworden.«121 Die Einheit des griechischen Reiches ist also keine bloß unmittelbar aus dem naturwüchsig-patriarchalischen (und in diesem Sinne »familiären«) Zusammenhang herrührende Einheit, wie die des altorientalischen Reichs. Sie ist vielmehr Resultat der Überwindung der Fremdheit zwischen verschiedenen selbständigen Völkern und Stämmen, die gemeinsam eine neue geistige Einheit bilden; sie repräsentiert deshalb Hegel zufolge den Geist auf einer höheren Stufe als das altorientalische Reich, denn der Geist ist wesentlich eine in sich differenzierte, keine bloß natürlich-unmittelbare Einheit. Die attische Demokratie ist daher nach Hegel »nicht patriarchalisch, ruht nicht auf dem noch ungebildeten Vertrauen, sondern es gehören Gesetze sowie das Bewußtsein der rechtlichen und sittlichen Grundlage dazu, sowie daß dieses Gesetze als positiv bewußt werden.«122 Hegel rühmt in diesem Zusammenhang Solon, der den Athenern eine Staatsverfassung gab, durch die »alle gleiche Rechte bekamen, ohne daß jedoch die Demokratie eine ganz abstrakte geworden wäre.«123 Wie im altorientalischen Reich, so fallen zwar auch in der griechischen Polis allgemeiner Wille und einzelner Wille nach Hegel noch unmittelbar zusammen; allerdings nicht so, dass der einzelne Wille dem allgemeinen, substanziellen Willen bloß untergeordnet ist, wie im Orient, sondern so, dass »Staat, Familie, Recht, Religion zugleich Zwecke der Individualität sind und diese nur durch jene Zwecke Individualität ist.«124 Die Individuen wissen und wollen also unmittelbar das allgemeine Sittliche und müssen nicht, wie im Orient, äußerlich dazu gezwungen werden, sich dem allgemeinen Willen zu beugen. In der griechischen Welt ist »das Allgemeine als solches (…) überwunden, das Versenktsein in die Natur ist aufgehoben«125. Der Geist ist von diesem ersten Versenktsein fortgeschritten zum Bewusstsein seiner Freiheit. Aber dieses »erste Losreißen«126 des Geistes von der Natur gelingt noch nicht vollendet, da es »von der unmittelbaren Natürlichkeit herkommt, hiermit auf sie bezogen und mit ihr, als einem Momente, noch behafftet 121 122 123 124 125 126
Ebd., S. 277 f. Ebd., S. 307. Vgl. ebd. Ebd., S. 275; vgl. auch ebd., S. 137 f. Ebd., S. 277. GW 18, S. 185, 21.
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ist«127. Die Natur stellt für den griechischen Geist noch den Ausgangspunkt dar. Er ist damit wesentlich eine Stufe des Übergangs: das »Herüberwenden des Natürlichen zum Geistigen«128. In der Phänomenologie arbeitet Hegel besonders deutlich heraus, dass das Heraustreten des Geistes aus der Natur und die Etablierung von Rechtsverhältnissen in der griechischen Antike notwendig mit einem Konflikt zwischen den familiären Strukturen einerseits und dem in seiner Entwicklung begriffenen politischen Willen andererseits einhergehen. Die Regierung der Polis erhebt den Anspruch, um der Entfaltung des menschlichen Geistes willen mit den Naturvoraussetzungen zu brechen, und richtet sich deshalb auch gegen die gesellschaftliche Macht der Familie, die noch eine autonome Gemeinschaft innerhalb der Polis darstellt und stark an Naturvoraussetzungen festhält. Der Konflikt zwischen Polis und Familie ist zugleich ein Konflikt zwischen Männern und Frauen, da aufgrund ihrer natürlich-sittlichen Bestimmung Hegel zufolge Männer das »menschliche Gesetz«129 der Polis vertreten, Frauen dagegen das »göttliche Gesetz«130 der Familie.131 Die Bestimmung des Gesetzes der Familie als Institution des ›göttlichen Gesetzes‹ weist darauf hin, dass die Institution Familie in der griechischen Antike »nicht auf rationale Vereinbarung zurückgeht, sondern auf die Kräfte der Natur und ihre Deutung im Mythos und in der Religion«132. Der Konflikt zwischen dem ›menschlichen‹ und dem ›göttlichen‹ Gesetz, zwischen Männern und Frauen, wird nach Hegel vorbildlich in den antiken Tragödien dargestellt, insbesondere in Sophokles’ Antigone.133 Antigone tritt als Frau für die Wahrung der Familienpietät, des ›göttlichen Gesetzes‹ ein, während Kreon, der Herrscher über Theben, Vertreter der Polis, des ›menschlichen Gesetzes‹ ist. Als Vertreter des ›menschlichen Gesetzes‹ hat Kreon den Anspruch, familiäre Belange den Belangen der Polis unterzuordnen. Er verbietet deshalb die Bestattung von Antigones Bruder Polyneikes, der gegen Theben in den Krieg zog. Kreon weiß, dass es nach dem göttlichen Gesetz die Pflicht der Familie ist, die Toten zu bestatten, aber er will dem Feind der Stadt nicht die Ehre zuteilwerden lassen, in den Mauern der Stadt beerdigt zu werden. Kreons Anspruch, familiäre Belange den Interessen der Polis unterzuordnen, ist nach Hegel gerechtfertigt, denn er vertritt damit das 127 128 129 130 131 132 133
Ebd., S. 185 f. TWA 12, S. 301. PhG, S. 242, 18. Ebd., S. 242, 27. Vgl. III.2.2.5. Siep 2000, S. 182. Vgl. III.2.3.3.2
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Prinzip, auf das der Geist sich hinentwickeln muss: sich selbst bewusst bestimmen und beherrschen zu lernen um der Freiheit willen.134 Aber es gelingt ihm nicht, zugleich die Berechtigung der Familienpietät zu erfassen. Er erkennt nicht, dass die Familie ein notwendiges Moment der Polis ist und als solches anerkannt werden muss. Auch das ›göttliche Gesetz‹, das Antigone vertritt, hat nach Hegel absolute Berechtigung. Seine Berechtigung besteht darin, dass es den Geist nach seiner Herkunft aus der Natur bestimmt, ihn also als unmittelbares Resultat der vorangegangenen Entwicklung des Geistes nimmt. Im ›göttlichen Gesetz‹ werden die Kräfte der Natur, aus denen sich der Geist entwickelt hat, in der religiösen Form der Pietät verehrt und zugleich in religiöser Form angeeignet. Die wichtigste sittliche Handlung stellt für die archaische Familie der Antike dabei die Bestattung und Erinnerung der Toten dar.135 Der Tod stellt eine Herausforderung dar, weil er die Individuen zu scheinbar bloß natürlichen Wesen herabsetzt. In der rituellen Bestattung der Familienmitglieder durch die Hinterbliebenen wird zum Ausdruck gebracht, dass der Einzelne als Moment des allgemeinen Gattungszusammenhangs nicht einfach nur untergeht wie das Tier, sondern erinnert wird, wodurch er als geistiges Wesen Moment des Familienzusammenhanges bleibt. In der Bestattung und Erinnerung der Toten zeigt sich, dass die Familie kein bloß natürlicher Zusammenhang ist, sondern natürlich-sittliches Gemeinwesen. Es ist deshalb nach dem ›göttlichen Gesetz‹ Antigones höchste Pflicht, ihren Bruder Polyneikes zu bestatten, da zudem in der Antike der Bruder für die Schwester Hegel zufolge noch von besonderer Bedeutung ist, denn in ihm hat sie »die höchste Ahndung des sittlichen Wesens«136. Trotz seiner absoluten Berechtigung ist das ›göttliche Gesetz‹ dennoch in seiner Unmittelbarkeit ebenso einseitig wie das menschliche Gesetz. Antigone verkennt, dass das göttliche Gesetz der Familie nur ein Moment der Sittlichkeit ist, neben dem das menschliche Gesetz zurecht Gehorsam fordert. Tragischerweise begeht sie, indem sie ihrer höchsten sittlichen Pflicht nachkommt, Unrecht, als sie trotz Kreons Verbot ihren Bruder, den ›Staatsfeind‹ Polyneikes, bestattet.
134
Vgl. TWA 17, S. 104 f.; Bourgeois 1997, S. 223. Vgl. III.2.2.3. 136 PhG, S. 247, 17 f. In der Forschungsliteratur wird in diesem Zusammenhang auf Hegels Verhältnis zu seiner eigenen Schwester Christiane verwiesen (vgl. dazu Lucas 1988; Kriegel 2011; Cobben 2007). Zum Leben von Christiane Hegel vgl. Birkert 2008. Wie auch immer Hegels Verhältnis zu seiner Schwester gewesen sein mag – These dieser Arbeit ist, dass Hegel nur für die Antike von einer besonderen Bedeutung des Bruders für die Frau ausgeht, dass dagegen in der Moderne der Ehemann die entscheidende Rolle in ihrem Leben einnimmt (vgl. III.2.2.4.2.3.). 135
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Der politische Wille der griechischen Sittlichkeit, hier verkörpert von Kreon, scheitert aufgrund seiner Unmittelbarkeit nach Hegel letztlich daran, dass es ihm nicht gelingt, der Familienpietät innerhalb des sittlichen Gemeinwesens einen vernünftigen Ort zu gewähren, der sie zu einem bloß untergeordneten und dennoch anerkannten Moment macht. Beide – Kreon und Antigone – müssen schmerzlich erfahren, dass sie meinten, zu wissen, was sittlich ist, darin aber irrten und ein wesentliches Moment der Sittlichkeit übersehen haben. In der griechischen Antike müssen deshalb beide einseitigen substanziellen Gesetze – Polis wie Familie bzw. menschliches wie göttliches Gesetz – trotz ihrer jeweiligen Berechtigung untergehen.137 Der Konflikt zwischen den familiären Strukturen einerseits und den politischen Strukturen andererseits – der sich oberflächlich als ein Konflikt zwischen Allgemeinheit der Polis und Einzelheit der Familie darstellt – lässt sich Hegel zufolge nur dadurch lösen, dass im Laufe der Geschichte die Familie als blutsverwandtschaftlicher Zusammenhang dem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang des Staates untergeordnet wird. Dies gelingt jedoch nach Hegel erst vollends im modernen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts, der nicht mehr auf bloßer Unmittelbarkeit beruht wie noch der Staat der antiken Sittlichkeit. In ihm können sich alle Momente des freien Willens – Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – frei entfalten. Obwohl in der Antike Familie und Polis aufgrund ihrer jeweiligen Einseitigkeit noch beide in gleichem Maße substanziell sind, lässt sich nach Hegel doch schon dort erkennen, dass das politische Prinzip, das die Männer vertreten, das für die weitere Entwicklung entscheidende Prinzip ist, das sich zum übergreifenden Allgemeinen ausbilden muss, das weibliche Prinzip also unterordnen muss. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik macht Hegel das neben der Antigone des Sophokles auch an den Eumeniden des Aischylos deutlich.138 In den Eumeniden wird geschildert, wie Orest zunächst von den Erinnyen verfolgt wird, weil er seine Mutter Klytämnestra getötet hat. Die Erinnyen sind Töchter der Muttergöttin Gaia und gehören zu den alten Naturgöttern. Sie verfolgen jeden, der das sittliche Band der Familie verletzt und folglich auch Orest; denn der Muttermord gilt als eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Familienpietät, da das Verhältnis der Mutter zum Kind das unmittelbarste, innigste natürliche Verhältnis darstellt. Orest hatte allerdings von Apollo den Auftrag bekommen, seine Mutter zu töten. Apollo gehört zu den jungen, olympischen Göttern, da er erst geboren wurde, als Zeus 137
Vgl. III.2.3.3. Vgl. TWA 14, S. 58 f., S. 68 f.; TWA 15, S. 550. Zu Hegels Aischylos-Rezeption vgl. auch Hösle, S. 37–55; Flashar 1996. 138
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bereits den Sieg über die alten Naturgötter errungen hatte. Nach Apollo ist der Mord an Klytämnestra gerechtfertigt, weil Klytämnestra mit dem Mord an Agamemnon im Namen der Familienpietät die Sittlichkeit der Polis verletzt hat. Klytämnestra muss bestraft werden, damit dem »in seinem tieferen Rechte verletzten Ehegatten und Fürsten«139 Gerechtigkeit widerfährt. Nur so kann zum Ausdruck gebracht werden, dass die Sittlichkeit der Polis, die auch das Rechtsinstitut der frei gewählten Ehe eingeführt hat, höher steht als das bloß natürlich-sittliche Band der Blutsverwandtschaft, das Mutter und Kind aneinander bindet. Es scheint also nur auf den ersten Blick als würden »beide Parteien die Sittlichkeit innerhalb ein und desselben Gebiets, der Familie, verfechten. Dennoch hat die gehaltvolle Phantasie des Aischylos (…) hier einen Gegensatz aufgefunden, der nicht etwa oberflächlich, sondern von durchweg wesentlicher Art ist. Das Verhältnis von Kindern zu Eltern nämlich beruht auf der Einheit im Natürlichen, das Bündnis des Ehegatten und der Ehefrau dagegen muß als Ehe genommen werden, welche nicht nur aus bloß natürlicher Liebe, aus Bluts- und Naturverwandtschaft herkommt, sondern aus bewußter Neigung entspringt und dadurch der freien Sittlichkeit des selbstbewußten Willens angehört. Wie sehr die Ehe deshalb auch mit Liebe und Empfindung zusammenhängt, so unterscheidet sie sich doch von der Naturempfindung der Liebe, weil sie auch unabhängig von derselben bestimmt gewußte Verpflichtungen, wenn auch die Liebe erstorben ist, anerkennt. Der Begriff und das Wissen von der Substantialität des ehelichen Lebens ist etwas Späteres und Tieferes als der natürliche Zusammenhalt von Sohn und Mutter und macht den Beginn des Staats als der Realisation des freien, vernünftigen Wollens aus. In der gleichen Weise liegt auch in dem Verhältnis des Fürsten zu den Bürgern der politische Zusammenhang des gleichen Rechts, der Gesetze, der selbstbewußten Freiheit und Geistigkeit der Zwecke. Dies ist der Grund, weshalb die Eumeniden, die alten Göttinnen, den Orestes zu strafen trachten, während Apollo die klare, wissende und sich wissende Sittlichkeit, das Recht des Gatten und Fürsten verteidigt, indem er mit Recht den Eumeniden entgegnet (Die Eumeniden, v. 206–209): ›Wenn das Verbrechen der Klytämnestra nicht wäre gerochen worden, wahrlich würde ich ehrlos und für nichts erachten der Vollzieherin Here und des Zeus Bündnisse.‹«140 Der Konflikt wird jedoch nicht einfach dadurch gelöst, dass Apollo die Erinnyen in die Flucht schlägt, das läge auch gar nicht in seiner Macht. Es muss 139 140
TWA 14, S. 59. Vgl. ebd., S. 59 f.
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noch zu einer Aussöhnung mit den Erinnyen kommen, denn das Gesetz, das sie vertreten, das göttliche Recht der Familie, ist substanziell und kann nicht einfach ignoriert werden. Und so ist es Athene, die Gründerin und Schutzgöttin Athens, die erstmals den Areopag einberuft, um über Orest zu richten. Die Erinnyen klagen Orest an, Apollo verteidigt ihn. Als es zu einem Stimmengleichstand kommt, entscheidet sich Athene vor der Versammlung, ihre Stimme zugunsten von Orest einzusetzen, sodass er freigesprochen wird. Damit ist öffentlich ausgesprochen, dass das Gesetz des Ehemanns und Fürsten höher steht als das Mutterrecht. Athene verspricht den tobenden Erinnyen, ein Heiligtum zu ihren Ehren in der Stadt zu bauen, wenn sie bereit sind, das Urteil zu akzeptieren und ihren Rachezug zu beenden. Sie sollen der Stadt Schutz bieten »gegen Übel, welche von natürlichen Elementen, der Erde, dem Himmel, dem Meer und den Winden herkommen, Abwendung von Unfruchtbarkeit in den Ernten, von Mißraten der lebendigen Samen, Erzeugnisse, Geburten.«141 Die Erinnyen lassen sich schließlich versöhnen, weil sie sehen, dass ihnen die gebührende Verehrung zuteil wird, und ziehen sich zurück. Indem sie die Rache zugunsten der Versöhnung mit der Stadt aufgeben, werden sie zu »Eumeniden« (Wohlmeinenden). Aischylos hat somit nach Hegel ein Bild dafür gefunden, dass in der glücklichen Zeit der Polis Athen die Familiensittlichkeit ihren richtigen Ort gefunden hat: Sie wird bewahrt und verehrt, ist fast gleichrangig mit der Polis, aber letztlich doch dem Recht der Polis untergeordnet.142 Diese glückliche Einheit und Harmonie ist jedoch aufgrund der Naturbehaftetheit des griechischen Geistes insgesamt zugleich bedroht, wie eben die Antigone des Sophokles zeigt. Sie wird deshalb notwendigerweise untergehen.143 Die römische Familie Das griechische Reich scheitert nach Hegel letztlich daran, dass in ihm der einzelne Wille noch gänzlich unmittelbar im allgemeinen Willen aufgeht. Das einzelne Individuum wird zwar in der Familie in seiner Einzelheit anerkannt, aber nur als ein Moment des allgemeinen Familienzusammenhangs. Zur Freiheit gehört jedoch wesentlich die Anerkennung der subjektiven Frei141 142 143
Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 68 f.; TWA 15, S. 550. Vgl. Kapitel III dieser Arbeit.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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heit; der Anspruch der subjektiven Freiheit führt jedoch für das griechische Reich, das auf dem unmittelbaren, objektiven Willen gründet, zum Untergang.144 Das griechische Reich wird deshalb historisch ›abgelöst‹ durch die Herrschaft des Römischen Reiches, das eine wichtige Voraussetzung dafür schafft, die subjektive Freiheit der Individuen anzuerkennen, indem es das Prinzip der Rechtsperson entwickelt. Die Herrschaft des Römischen Reiches ist nach Hegel sehr ambivalent zu beurteilen: Einerseits geht in ihm die schöne, unmittelbare Sittlichkeit des griechischen Geistes verloren. Das Römische Reich ist nicht mehr ein harmonisches sittliches Ganzes, in dem die Individuen ihre substanzielle Freiheit realisiert wissen, sondern es wird durch das bloß äußere Band der (Willkür-)Herrschaft zusammengehalten.145 Andererseits entwickelt sich in ihm Hegel zufolge das Prinzip, das für die Freiheit der Moderne ein entscheidendes Moment ist: das formelle Prinzip der freien Rechtsperson, mit dem zugleich das Recht auf Eigentum anerkannt wird.146 Nach Hegel ist es »der Stolz der Einzelnen, absolut zu gelten als Privatpersonen; denn das Ich erhält unendliche Berechtigung«147. Zugleich ist »aber der Inhalt derselben und das Meinige (…) nur eine äußerliche Sache«148 – nämlich Privateigentum.149 Aufgrund dieser Äußerlichkeit war »die Ausbildung des Privatrechts, welches dieses hohe Prinzip einführte, (…) mit der Verwesung des politischen Lebens verbunden.«150 Die bloße Abstraktheit des Prinzips der Rechtsperson und der damit einhergehende Verlust der Sittlichkeit im Römischen Reich bringt nach Hegel eine enorme Härte mit sich, die nach Hegel auf die Sphäre der Familie verheerende Auswirkungen hat. Während der Römer als Bürger im Staat Knecht der despotischen Willkür ist, kann er sich durch das entwickelte Privatrecht in der Familie als pater familias, ausgestattet mit der väterlichen Gewalt (patria potestas), selbst wie ein Despot aufführen.151 Die Familienbeziehungen werden zu bloßen Rechtsbeziehungen, die nicht durch Liebe, sondern durch Abhängigkeit und Unterordnung der Familienmitglieder unter die väterliche Gewalt gekennzeichnet sind. Hegel hat sich intensiv mit dem römischen Ehe- und Familienrecht auseinandergesetzt und bringt eine Fülle von Beispielen: 144 145 146 147 148 149 150 151
Vgl. TWA 12, S. 309. Vgl. GPR, § 357. Vgl. Jaeschke 2009a, S. 286 f. TWA 12, S. 384. Ebd. Vgl. II.1.3.1. TWA 12, S. 384. Vgl. ebd., S. 348 f.
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I Einleitung
»Die Ehe hatte eigentlich in ihrer strengen und förmlichen Gestalt ganz die Art und Weise eines dinglichen Verhältnisses; die Frau gehörte in den Besitz des Mannes (in manum conventio), und die Heiratszeremonie beruhte auf einer coemtio, in der Form, wie sie auch bei jedem anderen Kaufe vorkommen konnte. Der Mann bekam ein Recht über seine Frau, wie über seine Tochter, nicht minder über ihr Vermögen, und alles, was sie erwarb, erwarb sie ihrem Mann. In den guten Zeiten der Republik wurden die Ehen auch durch eine religiöse Zeremonie, die confarreatio, geschlossen, die aber später unterlassen wurde. Nicht mindere Gewalt als durch die coemtio erlangte der Mann, wenn er auf dem Wege des usus heiratete, d. h. wenn die Frau im Hause des Mannes blieb, ohne in einem Jahre ein trinoctium abwesend zu sein. Hatte der Mann nicht in einer der Formen der in manum conventio geheiratet, so blieb die Frau entweder in der väterlichen Gewalt oder unter der Vormundschaft ihrer Agnaten, und sie war dem Manne gegenüber frei. Ehre und Würde erlangte also die römische Matrone nur durch die Unabhängigkeit vom Manne, statt daß durch den Mann und durch die Ehe selbst die Frau ihre Ehre haben soll. Wollte der Mann nach dem freieren Rechte, wenn nämlich die Ehe nicht durch die confarreatio geheiligt war, sich von der Frau scheiden lassen, so schickte er sie eben fort. – Das Verhältnis der Söhne war ganz ähnlich: sie waren einerseits der väterlichen Gewalt ungefähr ebenso unterworfen wie die Frau der ehelichen; sie konnten kein Eigentum haben, und es machte keinen Unterschied, ob sie im Staate ein hohes Amt bekleideten oder nicht (nur die peculia castrensia und adventitia begründen hier einen Unterschied), andererseits aber waren sie, wenn sie emanzipiert wurden, außer allem Zusammenhang mit ihrem Vater und ihrer Familie. (…) – In Beziehung auf die Erbschaft wäre eigentlich das Sittliche, daß die Kinder die Erbschaft auf gleiche Weise teilen. Bei den Römern tritt aber dagegen die Willkür des Testierens in schroffster Gestalt hervor.«152 Insgesamt kritisiert Hegel das römische Ehe- und Familienrecht also scharf. Lediglich die Tatsache, dass die Römer die »Heiligkeit der Ehe«153 hoch achteten, das römische Recht Monogamie forderte und Ehen zwischen Blutsverwandten verbot, erwähnt er positiv.154 Nach Hegel kommt schon im Gründungsmythos der Römer zum Ausdruck, dass für sie das Familienverhältnis ein bloß äußerliches Gewaltverhältnis ist: Die Stadtgründer, Romulus und Remus, werden nicht von ihren 152 153 154
TWA 12, S. 348 f.; vgl. auch GPR, §180 Anm. TWA 12, S. 362. Vgl. ebd., S. 363.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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Eltern, sondern von einer Wölfin großgezogen, sind also »von Anfang aus der Familie ausgestoßen und nicht in der Familienliebe groß geworden.«155 Als Erwachsene streiten sie sich, wer von ihnen an der Stelle, an der sie ausgesetzt wurden, eine Stadt nach seinem Namen gründen darf. Romulus gewinnt den Streit und beginnt mit dem Bau der Stadtmauer. Als sein Bruder diese aus Spott überspringt, tötet er ihn. Die neu gegründete Stadt Rom braucht Bürger. Denn während sich die altorientalischen Reiche nach Hegel zumeist patriarchalisch aus einem ursprünglichen Stamm zu einem großen Reich entwickelt haben und das griechische Reich zwar aus fremden Stämmen, aber dennoch damit aus mehreren ursprünglichen Gemeinschaften hervorging, die zudem das gemeinsame Interesse hatten, in der Region Frieden herzustellen, ist Rom »von Hause etwas Gemachtes, Gewaltsames, nicht Ursprüngliches«156. Es hat sich als ein »Räuberstaat konstituiert«157; seine ersten Bürger waren Vertriebene und Flüchtlinge der Umgebung. Ein solcher Staat, »der sich selbst erst gebildet hat und auf Gewalt beruht, muß mit Gewalt zusammengehalten werden. Es ist da nicht ein sittlicher, liberaler Zusammenhang, sondern ein gezwungener Zustand der Subordination, der sich aus solchem Ursprunge herleitet.«158 Nach Hegel ist es »geschichtlich (…), daß in dem neugebildeten Staate keine Weiber vorhanden waren und daß die benachbarten Staaten keine connubia mit ihm eingehen wollten: beide Umstände charakterisieren ihn als eine Räuberverbindung, mit der die anderen Staaten keine Gemeinschaft haben mochten.«159 Das Problem des Frauenmangels wurde durch den Raub der Sabinerinnen gelöst; somit haben »die ersten Römer ihre Frauen nicht durch freies Werben und Zuneigung, sondern durch Gewalt erlangt.«160 Das römische Ehe- und Familienrecht ist für Hegel nur eine konsequente rechtliche Ausformulierung der in Rom schon von Beginn an vorhandenen rohen und unsittlichen Auffassung von Familie.
155 156 157 158 159 160
Ebd., S. 348. Ebd., S. 344. Ebd. Ebd., S. 346. Ebd., S. 345. Ebd., S. 348.
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I Einleitung
Die christlich-europäische Familie Hegels Darstellung der weiteren historischen Entwicklung in Europa vom Römischen Reich bis zum 19. Jahrhundert kann hier nicht mehr im Einzelnen behandelt werden. Hier sei deshalb nur auf die wichtigste, nach Hegel die gesamte europäische Geschichte maßgeblich prägende Entwicklung hingewiesen: die Entstehung, Ausbreitung und Weiterentwicklung des Christentums. Die entscheidende Errungenschaft des Christentums ist Hegel zufolge, dass in ihm erstmals gedacht wird, dass jedes Individuum als Individuum von Gott anerkannt wird, jeder Mensch also als Mensch anerkennungswürdig ist. Das hat wichtige Auswirkungen auf das Rechtsverständnis: Erstens ist es dadurch nach Hegel nicht mehr möglich, Sklaverei zu legitimieren;161 zweitens gilt damit nicht mehr die »unreflektierte Gewohnheit« als das Wahre, wie noch bei den Griechen, sondern die »für sich stehende Innerlichkeit« und »subjektive Freiheit«162. Das neue Selbstverständnis der Menschen, das mit dem Christentum einhergeht, macht sich auch in der Auffassung von Ehe und Familie deutlich bemerkbar. Da alle Individuen von Gott anerkannt werden, sind auch die Frauen in ihrer Individualität und Subjektivität anerkannt. Die Frau ist nicht mehr dem Mann bloß untergeordnet, sondern beide sollen sich wechselseitig lieben. Im Mittelalter wird im Katholizismus allerdings eine Trennung von Weltlichkeit und Geistigkeit gelehrt, womit die Keuschheit trotz des Sakramentscharakters der Ehe als sittlicher gilt als die Ehe.163 Erst mit der Reformation wird das Verhältnis von Weltlichkeit und Geistigkeit und damit auch das Verhältnis der Kirche zur weltlichen Macht neu bestimmt: »Es wird nun gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate auch das Göttliche und das Gebot Gottes sind und daß es dem Inhalte nach kein Höheres, Heiligeres gibt. Daraus folgt, daß die Ehe nicht mehr die Ehelosigkeit über sich hat. Luther hat eine Frau genommen, um zu zeigen, daß er die Ehe achte, die Verleumdungen, die ihm daraus entstehen würden, nicht fürchtend.«164 Nicht nur gilt mit der Reformation statt der keuschen Ehelosigkeit die Ehe als eigentlich sittliches Verhältnis, auch die anderen Klostergelübde (consilia evangelica) werden durch weltlich-sittliche Formen abgelöst: Statt des Gebots der Armut gilt Arbeitsfleiß in der bürgerlichen Gesellschaft als sitt161 162 163 164
Vgl. ebd., S. 403 f. Ebd., S. 404. Vgl. ebd., S. 457. Ebd., S. 502 f.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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liches Verdienst; statt eines unreflektierten, blinden Gehorsams gegenüber den göttlichen Geboten gilt der Gehorsam »gegen die Gesetze, die ich als die rechten weiß«165, vernunft- und gewissensgeleiteter Gehorsam gegen den Staat als das eigentlich Sittliche.166 Neben den Veränderungen in der Auffassung von Ehe und Familie durch die Reformation sind für das Verständnis dieser Institutionen in der Neuzeit vor allem die wirtschaftlichen Veränderungen von entscheidender Bedeutung, die Hegel in den Grundlinien thematisiert. Mit der Neuzeit wird ›das Haus‹ – der traditionelle Familienverband, der zugleich Ort der Produktion wie der Reproduktion ist – nach und nach aufgelöst.167 Die Familie wird Sphäre der Reproduktion, die bürgerliche Gesellschaft Sphäre der Produktion.168 Damit setzt sich zugleich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung durch, nach der Frauen für die Familienarbeit, Männer für die Subsistenzsicherung der Familie in der bürgerlichen Gesellschaft zuständig sind. Im Zuge der Auflösung des ›Hauses‹ als Wirtschaftsverband zählt nicht mehr, wie noch im Feudalismus, das Gesinde zur Familie.169 Kant hatte in der Metaphysik der Sitten in seiner Abhandlung über das Recht der ›häuslichen Gesellschaft‹ – anknüpfend an die aristotelische Lehre der drei Herrschaftsformen im Oikos170 – neben dem Ehe- und dem Elternrecht noch das Herrschaftsrecht des Hausherrn über das Gesinde thematisiert.171 Hegel diskutiert in den Grundlinien dagegen ein solches Herrschaftsrecht nicht mehr, da er die moderne Familie seiner Zeit auf den Begriff bringen möchte: die bürgerliche Kleinfamilie. Die moderne bürgerliche Kleinfamilie stellt nach Hegel die gelungene Form der Aneignung der natürlichen Gattungshaftigkeit der Menschen dar. Das zeigt sich einerseits im modernen Verhältnis von Familie und Staat, andererseits im Verhältnis der Familienmitglieder untereinander. Der moderne Rechtsstaat greift rechtlich in die Familienstrukturen ein und hebt die väterliche Gewalt auf, indem er die Individuen mit der Volljährigkeit als Rechtspersonen anerkennt. Damit sind die Individuen nicht mehr wie noch
165
Ebd., S. 457 f.; vgl. auch TWA 12, S. 502 f. Vgl. Lübbe-Wolff 2009, S. 331 f. 167 Vgl. Bien 1974. 168 Vgl. II.2.5. 169 Vgl. Koselleck 1981. 170 Aristoteles unterscheidet in der Politik innerhalb des Oikos drei Formen von Herrschaftsbeziehungen: die Herrschaft des Hausherren (Oikosdespoten) über die Ehefrau, die Herrschaft des Vaters über die Kinder und schließlich die Herrschaft des Hausherren über die Sklaven (vgl. Pol., 1253b–1255b). 171 Vgl. MS, S. 276 f. 166
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I Einleitung
in der orientalischen, griechischen oder römischen Antike bis zum Tode des Vaters von diesem abhängig. Mit der rechtlich anerkannten Volljährigkeit verlassen die Individuen die Familie und gehen außerhalb der Familie in der bürgerlichen Gesellschaft beruflichen Tätigkeiten nach. Der Bruch mit den Lebensgewohnheiten im Elternhaus und das selbständige Ergreifen eines Berufs sind nach Hegel wesentlich für die universelle Bildung der Menschen.172 Denn damit werden selbstverständliche Voraussetzungen, die in der Ursprungsfamilie gemacht wurden, infrage gestellt; die Orientierung am natürlich-sittlichen, vorgegebenen Lebensumfeld der Familie wird aufgegeben zugunsten einer Auseinandersetzung mit den allgemeinen Bedürfnissen der Gesellschaft. Idiosynkrasien, die innerhalb der Ursprungsfamilie noch gepflegt werden können, müssen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft abgearbeitet werden. Mit dem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft gehen somit eine Emanzipation von dem engeren Kreis der Familie und eine Erweiterung des Bildungshorizonts einher. Der Einfluss der Familie auf das Leben der Individuen wird mehr und mehr durch den (staatlich gelenkten) Einfluss der bürgerlichen Gesellschaft als der »allgemeinen Familie«173 sowie der Kooperation als einer »zweite(n) Familie«174 ersetzt.175 Innerhalb der modernen bürgerlichen Kleinfamilie kommt die sittlichgeistige Aneignung des familiären Gattungszusammenhangs ganz wesentlich darin zum Ausdruck, dass sie eine ›intime Gefühlsgemeinschaft‹ ist. Nach Hegel ist die sittliche Grundlage der Familie in der Moderne die Empfindung der Liebe zwischen den Familienmitgliedern.176 Diese Emotionalisierung der Familienverhältnisse im 19. Jahrhundert ist Resultat der Entkoppelung der Sphäre der Produktion von der Familie. Indem die Familie in der Moderne eine Liebesgemeinschaft ist, kann sie von ihren Mitgliedern als Ausdruck des an und für sich freien Willens begriffen werden, denn die Liebe ist eine Form des ›Bei-sich-sein-im-Anderen‹ und damit Ausdruck der Freiheit; in ihr erfahren die Menschen den Gattungszusammenhang. Eine moderne Familie, deren Zusammenhalt nicht auf der Empfindung der Liebe beruht, entspricht nach Hegel nicht mehr ihrem Begriff.177 Da die Familie Ausdruck der Liebe sein soll, kann die Keimzelle der Familie, die Ehe, in der Moderne auch nur durch die freie Einwilligung beider Partner geschlossen werden, die gemeinsam eine Person ausmachen möch172 173 174 175 176 177
Vgl. II.2.1.3.; GPR, § 187 Anm.; Ho, S. 581; Gr, S. 483. GPR, § 239. Ebd., § 252. Vgl. II.2.5. Vgl. II.2. Vgl. II.2.1.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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ten.178 Die Ehe ist jedoch kein bloßer Rechtsvertrag, denn der Vertragscharakter stünde im Widerspruch zum Liebesverhältnis. Sie ist vielmehr ein Vertrag darüber, den Vertragsstandpunkt gegeneinander aufzugeben.179 Die moderne Ehe gibt der Liebe, die nach Hegel der Wunsch ist, mit dem Partner oder der Partnerin eins zu werden, einen institutionellen, objektiven Ausdruck, indem in ihr die Partner eine Person ausmachen.180 In der Ehe anerkennen sich die Partner jeweils nicht nur als Geschlechtspartner, sondern als geistige Individuen – auch dies ist Ausdruck der geistigen Aneignung der eigenen Gattungshaftigkeit.181 Dennoch gehört auch die Sexualität zum Dasein der Liebe. Sie wird in der Ehe zu einer spezifisch menschlichen Erotik kultiviert.182 Eine geistige Anerkennung beider Partner ist Hegel zufolge nur in der Monogamie möglich, sodass die moderne Ehe monogam ist.183 Inzest gilt als Ehehindernis, denn die moderne Ehe basiert ausdrücklich nicht auf einem blutsverwandtschaftlichen Verhältnis, das eine natürliche Einheit darstellt, sondern muss als sittliches Verhältnis von einander fremden Personen als Einheit erst gestiftet werden.184 In der modernen bürgerlichen Ehe gibt es Hegel zufolge eine vernünftige, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, nach der die Frau die Arbeit innerhalb der Familie übernimmt, der Mann dagegen die Subsistenz der Familie durch Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft sichert. Diese Arbeitsteilung entspricht nach Hegel den natürlichen Geschlechtscharakteren von Mann und Frau und ist eine Form, dem natürlichen Unterschied auch einen intellektuell-sittlichen Ausdruck zu verleihen. Die Geschlechter ergänzen sich gegenseitig, sind also komplementär.185 Die Gütergemeinschaft in der modernen Ehe ist nach Hegel Ausdruck davon, dass die Individuen eine Person ausmachen wollen. Gütertrennung, wie sie im römischen Recht galt, ist nach Hegel unsittlich, weil damit die Individuen noch ihrer Ursprungsfamilie zugeordnet werden, statt der von ihnen selbst durch ihre freie Einwilligung gegründeten Familie. In der modernen Familie haben alle Familienmitglieder gleichermaßen am Familienvermögen Anteil, auch die Kinder. Der Vater ist zwar nach außen der Verwalter des Vermögens, aber er hat nicht mehr die patria potestas inne. Diese Änderungen haben auch Auswirkungen auf das Erbrecht.186 Die geistige Aneignung des na178 179 180 181 182 183 184 185 186
Vgl. II.2.2.6. Vgl. II.2.2.8.2. Vgl. II.2.2.6. Vgl. II.2.2.10.1. Vgl. II.2.2.7. Vgl. II.2.2.10.1. Vgl. II.2.2.10.2. Vgl. II.2.2.9. Vgl. II.2.3.
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I Einleitung
türlichen Gattungsverhältnisses kommt schließlich auch im Verhältnis der Eltern zu den Kindern zum Ausdruck. Es ist nicht mehr – wie nach der traditionellen Bestimmung der Ehe – Pflicht der Eltern, für den Erhalt der Gattung Kinder zu zeugen.187 Vielmehr sind die Kinder Ausdruck der Liebe der Eltern. In den Kindern ist den Eltern ihre Liebe auf sinnliche Weise gegenständlich.188 Die Eltern haben die Aufgabe, die Kinder aus Liebe zu freien, selbständigen Personen zu erziehen, die als Volljährige in der Lage sind, ihre Ursprungsfamilie zu verlassen und selbst eine Familie zu gründen. Mit der bürgerlichen Kleinfamilie hat sich der Begriff der Familie nach Hegel auf vollkommene Weise verwirklicht. Durch die geschichtsphilosophische Betrachtung der Familie und des Staates kann Hegel sehr starke Argumente dafür vorlegen, warum die bürgerliche Kleinfamilie im modernen Rechtsstaat gegenüber früheren Familienformen und früheren Verhältnissen von Familie und Staat einen Fortschritt darstellt. Er macht begreifbar, warum die bürgerliche Kleinfamilie als eine Errungenschaft der Moderne zu bezeichnen ist. Mit der Entwicklung des modernen Rechtsstaates und der bürgerlichen Kleinfamilie gehen aber auch Veränderungen einher, die insbesondere für die Frauen mit einer Einschränkung ihrer persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten verknüpft sind. Nach Hegel basiert die moderne Kleinfamilie notwendig auf der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, nach der die Frau wesentlich für die Familienarbeit zuständig ist, der Mann dagegen dafür, die Subsistenz der Familie zu sichern.189 Diese moderne Arbeitsteilung ist Hegel zufolge Ausdruck der Vernunft und bereits in der Natur angelegt. Hegel legitimiert damit mittelbar über die Natur, dass die Frauen dem Familienzusammenhang untergeordnet bleiben und aus der Sphäre der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, während die Männer die Familie nach außen repräsentieren und in der öffentlichen Sphäre ihre Fähigkeiten entfalten können. Hegel meint, dass es möglich sei, an der Gleichheit der Ehepartner nach innen hin festzuhalten, bei gleichzeitiger Festsetzung einer Ungleichheit der Ehepartner nach außen hin. Er hält auch die klassischen komplementären Geschlechtscharaktere des 18. und 19. Jahrhunderts für bereits in der Natur angelegt: Demnach sind die Frauen tendenziell passiv, empfindsam und auf Harmonie aus. Sie realisieren also die unmittelbare Einheit des Geistes, während die Männer dagegen aktiv, rational und auf Entzweiung aus sind. Sie realisieren demnach die vermittelte Einheit des Geistes. Die Frauen werden damit zwar als geistige Wesen anerkannt, aber als bloß unmittelbare 187 188 189
Vgl. II.2.2.8.1. Vgl. II.2.4.1. Vgl. dazu und zum Folgenden II.2.2.9.2.
I.3 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie im Überblick
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Einheit des Geistes. Die Männer dagegen stellen den entwickelten, vermittelten Geist dar – sie realisieren die Entzweiung, damit aber auch Entwicklung, Vernunft, Begreifen, Aktivität, Aneignung und Selbstbehauptung d. h. das, was den entwickelten Geist Hegel zufolge eigentlich auszeichnet. Die unterschiedliche Bestimmung der Geschlechter äußert sich nach Hegel damit auch in der Art und Weise, wie sie sich auf ihre Gattungshaftigkeit beziehen: Während die Frau auf bloß unmittelbare Weise die Gattungseinheit repräsentiert – in Form der Reproduktion der Familie –, bringt der Mann, vermittelt über die bürgerliche Gesellschaft, diesen Gattungszusammenhang auf höherer und umfassenderer Ebene hervor – im Staat. Die bürgerliche Gesellschaft, aus der die Frauen ausgeschlossen bleiben, ist nach Hegel der Ort der Bildung, der Entwicklung, der persönlichen Freiheit. Hegel sieht zwar, dass mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung eine Beschränkung der Frauen einhergeht. Er überhöht nicht – wie bspw. Schiller, Schlegel oder Schleiermacher – die vermeintliche Unmittelbarkeit, Einheit und Gefühlsbetontheit der Frauen, sondern hält sie für im Verhältnis zum Mann untergeordnet. Er sieht aber in dieser Unterordnung der Frau keinen Bedarf für politische Emanzipation der Frauen, sondern meint, dass sie bereits in ihrem Geschlechtscharakter oder in ihrer Geschlechtsnatur angelegt ist. Hegel verschweigt auch nicht die Probleme, die mit der Subsumtion der Männer unter die Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft einhergehen – er kennt den bornierten Bourgeois, der ganz in seiner beschränkten Arbeitstätigkeit aufgeht.190 Allerdings meint Hegel, dass der Mann in seinem Verhältnis zum Staat diese Beschränktheit zugleich überwinden kann. Hegels Analyse macht sehr deutlich, welche Folgen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung für Frauen wie Männer hat. Sie zeigt, dass es innerhalb der bürgerlichen Produktionsverhältnisse keineswegs einfach möglich ist, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufzuheben und durchzusetzen, dass Männer wie Frauen gleichermaßen Anteil an der Familienarbeit und der sogenannten Erwerbsarbeit haben. Die Tätigkeiten in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft beruhen nach Hegel auf sich widersprechenden und gegenseitig ausschließenden Prinzipien, die in einer Person zu vereinbaren unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen nur schwer möglich ist.191 Eine Kritik an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ihren Folgen stellt damit die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt infrage und macht eine grundlegende Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen erforderlich. Hegel selbst zieht diese Konsequenz selbstverständlich 190 191
Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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I Einleitung
nicht, sondern schreibt die bürgerliche Kleinfamilie mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als ›vollkommene Familienform‹ fest. Neben den Stärken der hegelschen Analyse der Familien- und Geschlechterverhältnisse sollen auch diese problematischen Seiten diskutiert werden.192
I.4 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie als Herausforderung für die feministische Philosophie und die Frauenund Geschlechterforschung In der feministischen Philosophie gibt es eine rege Debatte über die hegelsche Philosophie. Darin geht es nicht nur um eine Kritik von Hegels Aussagen über die ›natürliche‹, ›sittliche‹ und ›intellektuelle‹ Bestimmung der Frau und des Mannes. Es wird auch gefragt, ob und wenn ja, wie die hegelsche Philosophie ganz allgemein für die aktuelle feministische Philosophie fruchtbar gemacht werden kann.193 Ziel der vorliegenden Arbeit ist in erster Linie, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen und verständlich zu machen. Es soll aber zugleich deutlich werden, warum es sich auch für die feministische Philosophie der Gegenwart und für die Frauen- und Geschlechterforschung insgesamt lohnt, sich mit der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit Hegels Theorie der Familie und des Geschlechterverhältnisses stellt für feministische Leserinnen und Leser aller Couleur vor allem aus zwei Gründen eine Provokation dar: 1) Hegel legitimiert den Ausschluss der Frauen aus der Sphäre der Öffentlichkeit. 2) Hegel geht von einer unterschiedlichen sittlichen und intellektuellen Bedeutung der Geschlechter aus, die in der natürlichen Geschlechterdifferenz bereits angelegt ist. Beide Thesen hängen für Hegel unmittelbar zusammen: Der Ausschluss der Frauen aus der Sphäre der Öffentlichkeit ist Resultat der unterschiedlichen sittlichen und intellektuellen Bedeutung der Geschlechter, wonach es die substanzielle Bestimmung der Frau und ihrem Geschlechtscharakter gemäß 192
Vgl. II.2.2.9.3. Einen Eindruck der Vielfalt der feministischen Hegel-Interpretationen geben die Sammelbände Hutchings/Pulkkinen 2010 und Mills 1996, einen Überblick gibt Stone 2003. Vgl. auch folgende einschlägigen Arbeiten: Irigaray 1974; Benhabib 1996; Butler 2000; Easton 1987; Hutchings 2003. 193
I.4 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie als Herausforderung …
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ist, im Bereich des Privaten zu verbleiben, während es entsprechend Aufgabe des Mannes ist, in der Öffentlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates aktiv zu sein.194 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die komplementären Geschlechtscharaktere stellen nach Hegel eine historisch vermittelte Form der Aneignung der natürlichen Sexualität dar, denn die Menschen realisieren darin Hegel zufolge auf vernünftige und geistige Weise einen Unterschied, der bereits in der Natur der Geschlechter angelegt ist. Hegels Ausgangspunkt bei seinen Überlegungen zum Familien- und Geschlechterverhältnis ist das Problem, dass die Menschen in ihrer natürlichen Sexualität zunächst einmal dem natürlichen Gattungsprozess – und damit dem Fortpflanzungs- und Generationenverhältnis – untergeordnet und deshalb unfrei sind.195 Aus dieser Unfreiheit ergibt sich um der Freiheit willen ein individueller und gesellschaftlicher Aneignungsbedarf: Der natürliche Gattungsprozess muss in ein freies, geistiges Verhältnis transformiert werden. Die moderne bürgerliche Kleinfamilie mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und den komplementären Geschlechtscharakteren soll Hegel zufolge diese Transformation leisten und deshalb von den Individuen beiden Geschlechts als Ausdruck ihres freien Willens begriffen werden können. Die These dieser Arbeit ist nun, dass an Hegels Anspruch einer gesellschaftlichen und individuellen Aneignung der natürlichen Gattungshaftigkeit festgehalten werden muss, die bürgerliche Familie mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und den daraus resultierenden Geschlechtscharakteren, wie Hegel sie skizziert, diese Aneignung jedoch nicht befriedigend leistet.196 Die Forderung, den natürlichen Gattungsprozess als Ausdruck der Freiheit des Willens begreifen zu können, macht Hegels Familien- und Geschlechtertheorie – bei aller Beschränktheit durch die Verabsolutierung des Familien- und Geschlechterverhältnisses seiner Zeit – für die aktuelle feministische Debatte interessant. Damit ist Hegels Familien- und Geschlechtertheorie gerade in einem Punkt aktuell, in dem sie es am wenigsten zu sein scheint: in der Thematisierung des Zusammenhangs von Sexualität und Fortpflanzung und dem damit einhergehenden individuellen und gesellschaftlichen Aneignungsbedarf. Diese These mag verwundern, denn für gewöhnlich erfahren wir gerade die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung als Ausdruck einer gewachsenen Freiheit auf dem Gebiet der Sexualität. Dank der sexuellen Revolution 194
Vgl. dazu II.2.2.9. Vgl. dazu I.3 und II.2.2.2. 196 Zur Kritik an Hegels Darstellung der intellektuellen und sittlichen Bedeutung der Geschlechter als Form der Aneignung des natürlichen Geschlechtsunterschieds vgl. II.2.2.9.3. 195
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I Einleitung
und moderner Verhütungsmittel können wir der Sexualität eine Bedeutung beimessen und sie genießen, ohne dass wir dadurch von den natürlichen Konsequenzen der Sexualität, der Fortpflanzung, bestimmt sind. Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung führt auch zu einer insgesamt zugenommenen gesellschaftlichen Toleranz gegenüber Homosexualität. Diese Entwicklung ist bereits ein Ausdruck der geistigen Aneignung der natürlichen Sexualität und damit auch Ausdruck der Freiheit, weil Sexualität unabhängig von ihrem vermeintlichen »Naturzweck«, der Fortpflanzung, als Form der liebe- und lustvollen Interaktion von Menschen – ob desselben oder verschiedenen Geschlechts – verstanden wird. Allerdings ist diese Freiheit in der Sexualität bezogen auf das Verhältnis der Menschen zum Gattungsprozess im hegelschen Sinne zunächst mal eine (logisch) negative Freiheit: Es handelt sich nicht um Freiheit in der Fortpflanzung, sondern nur um Freiheit von der Fortpflanzung. Die Frage, die sich mit Hegel stellt, ist jedoch, wie Menschen bezogen auf den Gattungsprozess auch positiv frei sein können, d. h., welche gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen nötig sind, damit Menschen nicht nur den Sexualakt, sondern auch die natürliche Fortpflanzung und den daraus resultierenden Generationenzusammenhang als Ausdruck ihrer Freiheit begreifen können. Resultat der Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ist neben der zugenommenen Akzeptanz einer Vielfalt gelebter Sexualpraktiken auch eine Pluralität von Familienformen, die ebenfalls Ausdruck zugenommener individueller Freiheit ist. So besteht für uns gedanklich nicht mehr zwingend ein Zusammenhang zwischen dem Geschlechterverhältnis und der Institution Familie wie noch für Hegel. Hegel zufolge stellt die Familie eine notwendige Institution zur Aneignung der natürlichen Gattungshaftigkeit der Menschen dar, weshalb sie die heterosexuelle Ehe zu ihrer Keimzelle hat, die zumindest potenziell die spontane Fortpflanzung einschließt. Heute wird dagegen in entwickelten Industriestaaten die Institution der Ehe zunehmend auch für homosexuelle Paare geöffnet und als Familie gilt gesellschaftlich nicht mehr selbstverständlich nur das heterosexuelle Paar mit oder ohne Kind. Vielmehr fordern auch homosexuelle Partnerinnen oder Partner mit oder ohne Kind (»Regenbogenfamilien«), Patchwork- und Queerfamilien, Alleinerziehende mit Kind und sogar auf Freundschaft basierende »Wahlfamilien« ein, als Familien anerkannt zu werden, weil sie in ihrem gemeinschaftlichen Zusammenleben das verwirklichen, was für die Familie unabhängig von heterosexueller Partnerschaft und leiblicher Elternschaft wesentlich ist oder zumindest sein sollte: gegenseitige Liebe, Fürsorge und Solidarität.197 Damit 197
Vgl. dazu z. B. Schulze 2007.
I.4 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie als Herausforderung …
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ändert sich auch das Verständnis von Vater- und Mutterschaft. Nicht nur der natürlichen, leiblichen Vater- oder Mutterschaft wird eine Bedeutung zugestanden, sondern auch der ideellen und sozialen Vater- und Mutterschaft. Abstrahieren wir von der für Hegels Gedanken wesentlichen Voraussetzung des natürlichen Gattungsverhältnisses, fällt es uns nicht schwer, den Begriff der Liebe, der nach Hegel grundlegend ist für das Verhältnis der Ehepartner und der Familie im weiteren Sinne, auch analog auf homosexuelle Partnerschaften und auf Familienkonstellationen zu beziehen, die nicht der klassischen Vater-Mutter-Kind-Familie entsprechen.198 Für Hegel ist dagegen eine solche Analogie nicht zuletzt deshalb undenkbar, weil er von einer anderen Problemlage ausgeht: Er fragt sich nicht, welche gesellschaftlichen Formen von Gemeinschaft wir als Familie verstehen wollen oder können; sein Fokus ist vielmehr, wie wir zu dem natürlichen Fortpflanzungs- und Generationenverhältnis, das uns als natürliches Verhältnis zunächst unbewusst und vorausgesetzt ist, ein bewusstes Verhältnis innerhalb einer vernünftigen gesellschaftlichen Institution entwickeln können. Sein Ausgangspunkt ist also gerade das Gattungsverhältnis als Fortpflanzungs- und Generationenverhältnis, aus dem die Institution Familie logisch und historisch überhaupt erst hervorgeht. Das Problem, dass man zum natürlichen Gattungsverhältnis zunächst kein bewusstes Verhältnis hat, sondern ein solches erst entwickeln 198
Vgl. dazu Schnädelbach 2000, S. 262; Brauer 2007, S. 107–110; S. 124. Für Hegel beruht die Ehe notwendig auf der Geschlechterdifferenz. Erstens, weil Hegel die Frage nach der Aneignung der Sexualität wesentlich auf die Aneignung der Fortpflanzung bezieht, die bei zwei Menschen desselben Geschlechts nicht gemeinsam möglich ist. Zweitens weil die Lebendigkeit des Geistes auf der Ebene der Empfindung dadurch realisiert wird, dass zwei von Natur aus unterschiedene Individuen sich vereinigen. Individuen des gleichen Geschlechts haben nach Hegel keine spezifische natürliche Differenz, die für die lebendige Vereinigung erforderlich ist. Beide Argumente lassen sich relativ leicht – und sogar gewissermaßen mit Hegel gegen Hegel – entkräften: Erstens ist es ein Ausdruck der Aneignung der Sexualität, wenn eine Gesellschaft auch sexuelle Partnerschaften anerkennt, aus denen prinzipiell keine Kinder hervorgehen können. Nach Hegel kann sich schließlich auch die Ehe unter Heterosexuellen »in der gegenseitigen Liebe und Beyhülfe allein« (GPR, § 164) erschöpfen. In einer homosexuellen Partnerschaft wird in der Sexualität und in der wechselseitigen Liebe der Partnerinnen oder Partner in analoger Weise die Einigkeit der Gattung als ›Bei-sich-sein-im-Anderen‹ empfunden. Zweitens reicht eben auch die natürliche Differenz von Individuen überhaupt aus, um ein lebendiges Interesse hervorzubringen. Eine Subsumtion der Individuen unter ein bestimmtes Geschlecht, das ihre Differenz ausmacht, ist dafür gar nicht vonnöten, wie das sexuelle Begehren und die Liebe in der homosexuellen Verbindung deutlich machen. Dass heute aufgrund von Emanzipationsbewegungen gleichgeschlechtliche Partnerschaften in immer mehr Ländern anerkannt werden, kann man also als Ausdruck der Aneignung der Natur und der zunehmenden Betonung des geistigen Verhältnisses der Liebe werten, in der die natürliche Sexualität auch ohne den vermeintlichen »Naturzweck« der Fortpflanzung ein Moment ist.
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I Einleitung
muss, besteht für alle Menschen, denn jeder Mensch hat leibliche Eltern und ist potenziell in der Lage, sich spontan mit einem Individuum des anderen Geschlechts fortzupflanzen.199 Dennoch scheint angesichts der zunehmenden Individualisierung der Sexualpraktiken und der Familienverhältnisse die These, dass ausgerechnet in Hegels Forderung der Aneignung des natürlichen Gattungszusammenhangs die Stärke seiner Argumentation liegen soll, sehr konservative oder sogar reaktionäre Konsequenzen zu haben. Auf den Zusammenhang von Sexualität, natürlicher Fortpflanzung und Familie verweisen in der Regel Konservative, die damit den Schutz der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie durch Verweis auf die Natur legitimieren wollen – nicht selten gepaart mit einer Ablehnung der Homosexualität als »widernatürlich«.200 Auch für einen Großteil der Forscherinnen und Forscher auf dem Gebiet der feministischen Theorie und der Geschlechterforschung muss diese These auf den ersten Blick eine Provokation darstellen. Dort herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Forderung der Aneignung der natürlichen Sexualität mit großer Skepsis zu begegnen ist. Schließlich wurde der Rückgriff auf die angeblich ›natürliche Geschlechtlichkeit‹ und die unterschiedliche Funktion der Geschlechter in der Fortpflanzung Jahrhunderte lang dazu genutzt, Frauen in ihrer ›Geschlechtsnatur‹ abzuwerten – womit zugleich eine problematische Auffassung männlicher Geschlechtsidentität propagiert wurde.201 Hegels Verknüpfung von natürlicher Sexualität und sittlich-intellektueller Bestimmung der Geschlechter ist ein Beispiel für eine solche Argumentationsfigur.202 Ziel der Gender-Forschung der letzten dreißig Jahre war daher, den Naturbegriff zu dekonstruieren und zu zeigen, dass auch die vermeintlich neutrale Bestim199
Auch wenn man seine Herkunftsfamilie nicht kennt, ist dennoch die Tatsache, dass man leibliche Eltern hat, Gegenstand der Auseinandersetzung; dasselbe gilt für Sterilität bzw. Infertilität: Diese sind logisch gesehen eine Form der Privation (»Beraubung«), d. h., man kann bei Menschen nur deshalb von Sterilität oder Infertilität sprechen, weil Menschen ihrer Natur und ihrer Art nach fortpflanzungsfähig sind. Ist man als Mensch steril oder infertil, ist man also der Fortpflanzungsfähigkeit »beraubt«, die menschlichen Individuen sonst zukommt. Männer, Frauen und Intersexuelle, die nicht fortpflanzungsfähig sind, können daher unter Umständen darunter leiden, dass ihnen diese Fähigkeit, die Menschen ihrer Natur und Art nach gegeben ist, nicht besitzen; wenn sie darunter leiden, handelt es sich dabei um eine Trauer, die logisch gesehen anderer Art ist, als wenn man z. B. bedauert, nicht fliegen zu können wie ein Vogel, denn Letzteres ist keinem Menschen möglich. Zur logischen Figur der Privation vgl. Aristoteles, Met. V, 22. 200 Exemplarisch dafür ist die offizielle Haltung der katholischen Kirche zum Geschlechterverhältnis, zur Ehe, zur Familie und zur Homosexualität, vgl. dazu die zahlreichen Quellen in Stöhr 2000. 201 Vgl. Kucklick 2008. 202 Vgl. II.2.2.9.1.
I.4 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie als Herausforderung …
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mung des biologischen Geschlechts ideologischen Ursprungs ist. Die Gender-Forschung hat damit zu einer Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen als Stereotypen beigetragen und verschiedenen Emanzipationsbewegungen wie der Intersexuellenbewegung, der Transsexuellenbewegung und der Queerbewegung eine theoretische Grundlage verschafft. Aber sie hat damit zugleich den Blick darauf verstellt, dass die Natur eine Voraussetzung für das Geschlechterverhältnis als Fortpflanzungsverhältnis darstellt, die nicht einfach ignoriert werden kann, sondern angeeignet werden muss, damit sie keine naturwüchsigen Auswirkungen hat.203 Denn es ist zwar richtig, dass die Rede von der ›natürlichen Sexualität‹ ideologisch missbraucht wurde (und oft noch wird). Dennoch kann damit kaum obsolet geworden sein, sich mit der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität in der Natur auseinanderzusetzen. Sie ist nicht per se soziales Konstrukt, sondern zunächst einmal schlicht eine natürliche Voraussetzung für die Menschen: Menschen sind ihrer natürlichen Beschaffenheit nach nur vermittels zweier Artgenossen des entgegengesetzten Geschlechts in der Lage, gemeinsam Nachkommen zu zeugen. Auch die Möglichkeit moderner Reproduktionsmedizin ändert daran nichts: Ohne die Samen eines Mannes und die Eizelle einer Frau ist keine Fortpflanzung möglich.204 Aus der natürlichen Voraussetzung zweier Geschlechter für die Fortpflanzung folgt normativ selbstverständlich gar nichts – das merken Kritikerinnen und Kritiker biologistischer Argumentationsfiguren zurecht an. Es zeigt sich damit lediglich, dass es einen Aneignungsbedarf gibt, damit diese natürliche Voraussetzung auch als Ausdruck des freien Willens begriffen werden kann. Aus der natürlichen Arbeitsteilung in der Fortpflanzung – nach der Frauen schwanger werden, nicht Männer – entsteht eine naturwüchsige Arbeitsteilung, die gesellschaftlich naturwüchsige Konsequenzen hat, wenn die natürliche Fortpflanzung nicht bewusst gesellschaftlich angeeignet und in ein freies gesellschaftliches Verhältnis transformiert wird. Ohne eine bewusste 203
Zum Zusammenhang von Fortpflanzung und Geschlecht als »blindem Fleck« in der Gendertheorie vgl. Landweer 1994. 204 Nicht nur heterosexuelle, sondern auch homosexuelle Paare mit Kinderwunsch müssen sich mit dieser Naturgegebenheit auseinandersetzen. Homosexuelle Paare sind damit konfrontiert und setzten sich in der Regel auch aktiv damit auseinander, dass sie kein gemeinsames leibliches Kind haben können und dass sie sich dazu verhalten müssen, dass ihr Kind den Kontakt zum leiblichen Vater oder zur leiblichen Mutter wünschen könnte, dass sie also gewissermaßen zu dritt ein Kind haben. Leibliche Vater- und Mutterschaft sind – auch wenn sie eine soziale Bedeutung haben – keine bloßen Konstrukte, sondern stellen ein natürlich-materielles Verhältnis dar. Zum Umgang homosexueller Paare mit diesem Problem vgl. die Ergebnisse der Studie der Stadt Köln 2011, insbesondere S. 21 f. und S. 43 f.
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I Einleitung
Aneignung dieser natürlichen Voraussetzung erscheint angesichts der natürlichen Arbeitsteilung in der Fortpflanzung die naturwüchsige gesellschaftliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung tatsächlich als ›vernünftig‹, weil sie der Realität der natürlichen Voraussetzungen gerecht zu werden scheint. Gerade diese naturwüchsige Seite macht es Theoretikern wie Hegel möglich, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der bürgerlichen Kleinfamilie und die daraus resultierenden Geschlechtscharaktere zu legitimieren. Dass in der Frauenbewegung der letzten Jahrhunderte die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht als Ausdruck der Freiheit begriffen wurde, sondern als Ausdruck der Unterdrückung und der Reduktion der Frauen auf die natürliche Reproduktion, macht deutlich, dass die traditionelle bürgerliche Kleinfamilie keine gelungene Aneignungsform des natürlichen Fortpflanzungsverhältnisses darstellt. Auch das zunehmend von Männern formulierte Bedürfnis, ihre Rolle als Väter anders auszufüllen als der ›Familienernährer‹ zu sein, zeigt an, dass der bisherige gesellschaftliche Umgang mit der Fortpflanzung und ihren Folgen für beide Geschlechter nicht befriedigend ist.205 Die Unzufriedenheit von Männern und Frauen in heterosexuellen Partnerschaften mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ihren Folgen wird daran deutlich, dass immer mehr Frauen und Männer in heterosexuellen Partnerschaften nach eigenem Gefühl gegen ihren Willen keine Kinder bekommen.206 Das heißt, trotz zugenommener Freiheit auf der Ebene der Sexualität und der Geschlechterbeziehungen stellt sich nicht das ein, was Hegel gefordert hatte: ein Gefühl des »Bei-sich-Seins« in der natürlichen Fortpflanzung. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Dialektik, die für die aktuelle Familien- und Geschlechterforschung interessant ist: Während die Natur Jahrhunderte lang dazu genutzt wurde, Herrschaftsverhältnisse unter den Geschlechtern zu legitimieren, verkehrt sie sich aktuell (von den Menschen unbeabsichtigt) in ein Mittel, das eben diese Herrschaftsverhältnisse infrage stellt.207 Denn es muss wohl als Ausdruck einer mangelhaft angeeigneten Natur gelten, wenn sich Menschen gegen ihren Willen nicht mehr spontan fortpflanzen. In dieser Dialektik wird somit deutlich, dass wir bisher kein freies gesellschaftliches Verhältnis zu unserer eigenen Gattungshaftigkeit und Natürlichkeit haben. Mit den zunehmend problematisch gewordenen Familien- und Geschlechterverhältnissen stehen daher unsere Arbeitsund Lebensbedingungen insgesamt infrage. In den Diskussionen über den
205
Vgl. Bundesministerium 2012, S. 48 ff. und 75 ff. Vgl. Meier 2003. 207 Diesen Gedanken entwickelt Stephan Siemens in der 6. These seiner »Thesen zur Gegenwart«, dem ich für gemeinsame Gespräche zu diesem Problem danken möchte. 206
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demografischen Wandel werden daraus oft reaktionäre Konsequenzen gezogen und es wird ein demütiges Zurück zu alten Geschlechter- und Familienverhältnissen gefordert mit einer klaren Aufgabenverteilung an die Geschlechter. Man kann aber ebenso umgekehrt daraus folgern, dass es gesellschaftlicher Veränderungen bedarf, die es Männern wie Frauen ermöglichen, ein positives Verhältnis zu ihrer Geschlechtlichkeit zu entwickeln, in dem sie nicht ihrer Sexualität subsumiert sind (wie im traditionellen Familien- und Geschlechterverhältnis der letzten Jahrhunderte), sondern umgekehrt sich ihre Sexualität aneignen und als Ausdruck ihrer Individualität erfahren und begreifen können. Diese Forderung macht deutlich, dass es dabei um mehr geht als nur um die sogenannte »Gleichberechtigung« der Geschlechter. »Gleichberechtigung« bedeutet nur die abstrakte Möglichkeit, aufgrund gleicher Rechte, als Mann wie als Frau unabhängig vom Geschlecht einen individuellen Lebensweg gehen zu können. Diese abstrakten Möglichkeiten sind zumindest in den meisten Industrieländern mittlerweile von der bürgerlichen Frauenbewegung erkämpft worden – jedenfalls was die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter angeht. Frauen sind damit nicht mehr, wie noch zu Hegels Zeiten, rechtlich aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Was fehlt, ist jedoch eine wirkliche Emanzipation, die über das bloß abstrakte gleiche Recht hinausgeht und mit der auch die erforderlichen gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen geschaffen werden, dass Männer wie Frauen ein individuelles Verhältnis zu ihrer Geschlechtlichkeit und – falls gewünscht – zu einer möglichen Mutter- oder Vaterschaft haben können. Dass die sogenannte »Gleichberechtigung« an den wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert, wird bei heterosexuellen Paaren heute spätestens dann deutlich, wenn sie das erste Kind bekommen möchten. Zwar wird die lebenslange Erwerbstätigkeit von Frauen immer mehr zur Selbstverständlichkeit und Männer übernehmen einen größeren Anteil der Familienarbeit als bisher. Dennoch ist es nach wie vor so, dass bei heterosexuellen Paaren in der Regel die Frauen in erster Linie für die Kontinuität in der Familienarbeit zuständig sind, während sich die Männer für die Kontinuität der finanziellen Versorgung der Familie verantwortlich zeigen.208 Sowohl die Erwerbsarbeit als auch die Familienarbeit kann nicht bloß sporadisch gemacht werden, denn die Notwendigkeit der Reproduktion, für die Erwerbs- wie Familienarbeit geleistet werden muss, besteht Tag für Tag. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist in der Aufteilung, wer für welche Tätigkeit kontinuierlich 208
Vgl. dazu den Familienreport 2011 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Bundesministerium 2012, S. 48 f.).
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I Einleitung
Sorge trägt, mehr oder weniger unbewusst nach wie vor wirksam. Besteht bis zum ersten Kind für beide Geschlechter sowohl in der Partnerschaft als auch in der Ausbildung und im Berufsleben noch weitestgehend »Gleichberechtigung« für die Geschlechter, werden spätestens mit der Schwangerschaft und der Notwendigkeit der Erziehung der Kinder unter den heutigen Arbeitsverhältnissen die Mechanismen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wirksam, die in der Regel für die Frauen zu Folge haben, dass sie in ihrer beruflichen Entfaltung behindert sind und von ihrem Partner ökonomisch abhängig werden, für die Männer, dass sie als ›Ernährer der Familie‹ eine hohe ökonomische Verantwortung haben und nur wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen können.209 Hegels Analyse der bürgerlichen Kleinfamilie und der bürgerlichen Gesellschaft macht deutlich, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb der modernen ökonomischen Verhältnisse so grundlegend ist für das Funktionieren des bürgerlichen Staates, dass es nicht möglich ist, sie einfach aufzuheben, ohne gravierende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen in Gang zu bringen.210 Indem nach Hegel die Geschlechtscharaktere nicht allein in der Natur angelegt sind, sondern wesentlich aus der für die Stabilität des Staates notwendigen gesellschaftlichen Funktion der Geschlechter in Familie einerseits und bürgerlicher Gesellschaft und Staat andererseits hervorgehen, zeigt er, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung Frauen und Männer in vielerlei Hinsichten bestimmt.211 Was eigentlich Resultat dieser Arbeitsteilung ist, erscheint dann als ein in der Natur angelegter Geschlechtscharakter und wird häufig als naturgegeben bezeichnet. Die Wirkungsmacht dieser Geschlechtscharaktere ist durch den Zusammenhang mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ihren Folgen so groß, dass es nicht ausreicht, sie bloß als ideologisch zu entlarven. Es bedarf sowohl einer individuellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung damit, wie sie für Männer und Frauen
209
Vgl. dazu Bundesministerium 2012, S. 76 f. und Dressel/Wanger 2010. Manche feministischen Theoretikerinnen meinen, dass die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter positive Auswirkungen auf die Emanzipationsmöglichkeiten der Frauen haben könnte (vgl. z. B. Smajdor 2012). Auch dies wäre – wenn es überhaupt Ausdruck der Freiheit wäre – nur eine Form der negativen Freiheit. Abgesehen davon stellt ja keineswegs nur die Zeit der Schwangerschaft die Frauen angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse vor ein Problem, sondern insbesondere der gesellschaftlich Umgang mit ihren Folgen. Denn mit der Geburt der Kinder stellt sich die Frage, wer sich fürsorglich um sie kümmert und ihre Erziehung übernimmt. Diese Frage stellte sich auch dann, wenn Frauen nicht mehr schwanger würden. Sie kann nicht durch biotechnologische Eingriffe ›gelöst‹ werden. 210 Vgl. dazu II.2.2.9. 211 Vgl. ebd.
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wirksam sind, als auch einer Aufhebung der Ursachen, um sich von ihrer Wirkungsmacht zu befreien.212 Hegel bietet mit seiner These, dass eine Aneignung des natürlichen Gattungsprozesses notwendig ist, zwar keine unserer Zeit gemäße Lösung für die Probleme im Familien- und Geschlechterverhältnis, aber er formuliert damit eine für die feministische Philosophie nach wie vor bestehende Problemstellung. Die Auseinandersetzung mit der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie und ihre Kritik können deshalb zur Entwicklung einer auf Emanzipation zielenden Theorie der Familie und des Geschlechterverhältnisses im 21. Jahrhundert beitragen, in der die natürliche Fortpflanzung als eine Voraussetzung für die Menschen anerkannt wird, die angeeignet werden muss, damit sie innerhalb veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse für alle Menschen zu einem freien individuellen und gesellschaftlichen Ausdruck ihrer Gattungshaftigkeit werden kann – ganz unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung.
212
Während Hegel eine wirkliche Befreiung durch Aneignung denkbar macht, fordern poststrukturalistische und postmoderne Theorien in der Regel nur ein Entlarven der Machtverhältnisse durch subversive Aktionen ein, gehen aber davon aus, dass Machtverhältnisse immer wieder neu hervorgebracht werden. Zum poststrukturalistischen Machtbegriff vgl. Foucault 1976, zur Parodie der Geschlechtsidentität als subversive Strategie vgl. exemplarisch die einschlägige Arbeit von Butler 1990.
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts II.1 Einleitung Für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie sind die Paragrafen zur Familie (§§ 158–181) aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (Grundlinien) (1820)1 zentral. Hegel stellt dort seinem eigenen Anspruch nach dar, wie der Begriff der Familie im modernen Rechtsstaat als bürgerliche Kleinfamilie zu seiner vollendeten Entfaltung kommt, in der auch das Geschlechterverhältnis seine vernünftige Form erhält. Seit Erscheinen der Grundlinien wird darüber diskutiert, ob Hegels Rechtsphilosophie als zutiefst reaktionär oder als erstaunlich revolutionär aufzufassen ist.2 Weder das eine noch das andere ist aber einseitig der Fall, sondern aufgrund der hegelschen Methode sind die Grundlinien notwendigerweise zugleich konservativ und fortschrittlich, wodurch sie für die Nachwelt sowohl für reaktionäre wie für revolutionäre Thesen genutzt werden können und auch reichlich genutzt wurden. In seiner Vorrede zu den Grundlinien betont Hegel, dass es die Aufgabe der Philosophie sei, das »was
1
Obwohl das Titelblatt das Jahr 1821 als Erscheinungsdatum angibt, sind die Grundlinien tatsächlich schon im Oktober 1820 erschienen. Vgl. dazu Jaeschke 2003, S. 274. 2 Vgl. Riedel 1975, Bd. 1. Da die Grundlinien im Vergleich mit Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie zwischen 1817 und 1820 einige Änderungen enthalten, wird in der Forschung seit den 1970ern darüber debattiert, ob sich Hegel aus Angst vor den sogenannten »Karlsbader Beschlüssen« (1819) und der damit einhergehenden »Demagogenverfolgung« gezwungen sah, seiner eigentlich fortschrittlich-liberalen rechtsphilosophischen Position in den Grundlinien einen konservativ-reaktionären Anstrich zu geben. Diese These wurde vor allem von Ilting vertreten (vgl. Ig, Bd. 1, S. 105 ff.; vgl. auch Ilting 1975, S. 69). Ilting zufolge ist Hegel ein liberaler Denker, der sich durch die politischen Umstände zu einer Verschleierung seiner wahren Position gezwungen sah. Ilting versucht so, konservative Züge der hegelschen Rechtsphilosophie mit Verweis auf die äußeren Bedingungen zu rechtfertigen. Er beruft sich vor allem auf Hegels Änderung der Vorrede und auf Hegels positive Stellungnahme zur Monarchie, die erst in den Grundlinien zu finden sei. Iltings These ist bis heute sehr umstritten (vgl. die Kritik dieser These von Lucas/Rameil 1980; Siep 1997a, S. 5 f. und Jaeschke 2003, S. 273 f. einerseits und die erneute Unterstützung dieser These seitens Schnädelbach 2000, S. 171 andererseits). Sie kann hier nicht gründlich diskutiert werden und ist für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie ohnehin nicht von Bedeutung. Denn hinsichtlich der Familien- und Geschlechtertheorie wurde keine wesentliche Veränderung vorgenommen. In dieser Arbeit wird entgegen der These Iltings davon ausgegangen, dass der hegelschen Rechtsphilosophie insgesamt konservative Züge immanent sind. Sie sind seiner Philosophie also nicht äußerlich, sondern notwendig mit ihr verbunden (vgl. auch Siep 1997a, S. 5 f.). Diese These soll anhand von Hegels Familien- und Geschlechtertheorie nachgewiesen werden.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
ist zu begreifen«3. Sie habe das Gegenwärtige zu erfassen, nicht ein moralisches Sollen, das bloß jenseitig bleibt, zu konstatieren.4 Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«5. Tatsächlich gelingt es Hegel auf beeindruckende Weise, seine Zeit ›in Gedanken zu erfassen‹. Bezogen auf seine Theorie über die Familie und das Geschlechterverhältnis zeigt sich dies daran, dass Hegel mit seiner Analyse wesentlich zum Verständnis des Geschlechter- und Familienverhältnisses seiner Zeit beiträgt und zugleich den gesellschaftlichen Fortschritt deutlich machen kann, der mit der bürgerlichen Geschlechterordnung und der Entwicklung der Familie zur bürgerlichen Kleinfamilie einhergeht. Da Hegel aber das Geschlechter- und Familienverhältnis einer Zeit in Gedanken erfasst hat, in der insbesondere dem Emanzipationsbedürfnis der Frauen nicht Rechnung getragen wird, zeigt seine Analyse – freilich unintendiert – auch die Schattenseiten der Familien- und Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts. Hegels Grundlinien bringen die gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne in vielerlei Hinsichten auf den Punkt.6 Allerdings fixiert Hegel das bürgerliche Geschlechterverhältnis wie die bürgerlichen Rechtsverhältnisse überhaupt, indem er sie als Momente der eigentlich vernünftigen, dem Begriff des Geistes gemäßen Staatsordnung ausweist. Dadurch wird fraglich, ob, und wenn ja, wie eine vernünftige Weiterentwicklung des Geschlechterund Familienverhältnisses bzw. der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse insgesamt gedacht werden kann. Da Hegel wesentlich seine eigene Zeit auf den Begriff bringt (oder bringen möchte), bekommt seine Philosophie des objektiven Geistes einen konservativen oder schlimmstenfalls reaktionären Charakter, wenn sie einseitig dazu genutzt wird, die heutige Gegenwart zu begreifen. Für den Umgang mit Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien heißt das, dass drei Fragen zu klären sind: erstens, ob Hegels Analyse die Verhältnisse seiner Zeit tatsächlich treffend bestimmt; zweitens, ob Hegels Theorie seinem eigenen Anspruch gerecht wird, nach dem er zeigt, dass die Familien- und Geschlechterverhältnisse seiner Zeit Ausdruck der Freiheit sind; und drittens, welche Seiten dieses Verhältnisses auch für 3
GPR, S. 15, 23. Vgl. ebd., S. 13. 5 Ebd., S. 15, 25 f. Hegel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass jedes Individuum ein »Sohn seiner Zeit« sei – nicht etwa ein Kind seiner Zeit. In dieser Nebenbemerkung kommt Hegels Androzentrismus zum Vorschein. Vgl. dazu Deranty 2000. 6 Neben seiner Familientheorie sei hier vor allem auf den Abschnitt Die bürgerliche Gesellschaft (vgl. GPR, §§ 182–256) hingewiesen, mit dem Hegel die Nationalökonomie seiner Zeit zu einem Bestandteil der philosophischen Rechtslehre macht. 4
II.1 Einleitung
75
die heutige Zeit als Ausdruck der Freiheit begriffen werden können, welche dagegen aufgrund eines ›Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit‹ nicht mehr in dieser Weise verstanden werden können.7
II.1.1 Die Textgrundlage Die Grundlinien gehören zu den von Hegel selbst veröffentlichten Vorlesungstexten8 und stellen, abgesehen von Neuauflagen der Enzyklopädie und der Logik, seine letzte Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten dar.9 Hegel weist mehrfach darauf hin, dass es sich bei den Grundlinien um eine ausführlichere Darstellung eines Teils seines Systemgrundrisses, der Enzyklopädie, handelt.10 Seit 1817 hielt Hegel mehrfach rechtsphilosophische Vorlesungen. Neben der von Hegel selbst veröffentlichten Fassung der Grundlinien sind zahlreiche von Hegel-Schülern angefertigte Mit- und Nachschriften der Vorlesungen, aus verschiedenen Jahren erhalten geblieben, die in mehreren Editionen vorliegen. Diesen Mit- und Nachschriften darf selbstverständlich nicht derselbe Stellenwert beigemessen werden wie Hegels eigenen Veröffentlichungen. Sie stellen aber gerade für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie eine wertvolle Sammlung dar, da Hegel sich offensichtlich während der Vorlesung viel ausführlicher zum Verhältnis der Geschlechter innerhalb der Familie geäußert hat als in den schriftlichen Fassungen der Enzyklopädie oder der Grundlinien. Im Folgenden wird daher auch auf die Mit- und Nachschriften zurückgegriffen, aber es wird deutlich gekennzeichnet, ob es sich um ein Zitat aus einer Veröffentlichung Hegels oder aus einer Mit- bzw. Nachschrift seiner Vorlesung handelt.
7
Hegels Gedanken einer fortschreitenden historischen Entwicklung hin zur Freiheit aufzugreifen und für die Gegenwart weiterzudenken ist auch das Anliegen feministischer Autorinnen und Autoren, die Hegels Philosophie für Emanzipationsforderungen in der Gegenwart fruchtbar machen möchten (vgl. z. B. Hutchings 2003, Ravven 1988). 8 Ausführliche Informationen zur Publikations- und Entstehungsgeschichte der Grundlinien finden sich bei Schnädelbach 2000, S. 163–172; Riedel 1975, Bd. 1, S. 11–17 ff.; Ig, Bd. 2, S. 7–51; Jaeschke 2003, S. 272 ff. 9 Vgl. Jaeschke 2003, S. 272. 10 Vgl. GPR, S. 5, 5 f.; EPW, § 487.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
II.1.2 Aufbau und Methode der Grundlinien II.1.2.1 Die Grundlinien als Philosophie des objektiven Geistes Mit dem Hinweis, dass es sich bei den Grundlinien um eine »weitere, insbesondre mehr systematische Ausführung derselben Grundbegriffe« handelt, »welche über diesen Theil der Philosophie in der […] Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften (Heidelberg 1817.) bereits enthalten sind«11, hat Hegel der Rechtsphilosophie einen klaren Ort innerhalb seines Systemgrundrisses12 zugewiesen: Der Gegenstand der Rechtsphilosophie, das Recht, macht die Sphäre des objektiven Geistes aus. Es handelt sich also um einen Teilabschnitt aus der Philosophie des Geistes, welche die Entwicklung des Geistes vom subjektiven Geist über den objektiven Geist bis hin zum absoluten Geist umfasst. Als Ausdruck des objektiven Geistes ist das Recht die Sphäre, in der der Geist, das Absolute, sich selbst gegenständlich, objektiv wird. Den Zusammenhang der Philosophie des objektiven Geistes mit den vorangegangenen Systemabschnitten führt Hegel in den Grundlinien nicht mehr im Einzelnen aus, – er setzt ihn vielmehr aus der Enzyklopädie als in seiner Notwendigkeit bereits bewiesen voraus.13 Er wird in der vorliegenden Arbeit bei der Darstellung des Verhältnisses von Logik, Naturphilosophie und Philosophie des objektiven Geistes thematisiert.14 An dieser Stelle soll dagegen nur kurz an den Übergang von der Sphäre des subjektiven Geistes zur Sphäre des objektiven Geistes erinnert werden. In der Sphäre des subjektiven Geistes ist der Geist nach Hegel »in der Form der Beziehung auf sich selbst«15. In seiner Unmittelbarkeit scheint ihm der
11
GPR, S. 5, 6 f. Die Enzyklopädie ist nur der Grundriss zum System, keine endgültige Darstellung des Systems (vgl. Jaeschke 2003, S. 259 f.). 13 Vgl. GPR, § 4 Anm.; auch GPR, § 2. 14 Vgl. II.2.2.2. 15 EPW, § 385. Für die Bestimmung des subjektiven Geistes wird hier auf die dritte Ausgabe der Enzyklopädie von 1830 zurückgegriffen, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Grundlinien noch gar nicht vorlag. Hegel bezieht sich mit seinem Verweis selbstverständlich auf die erste Ausgabe der Enzyklopädie von 1817. Da der Abschnitt zum subjektiven Geist in den drei Ausgaben bis auf die Schlussparagrafen sachlich unverändert ist (vgl. Jaeschke 2003, S. 349), kann man zur Bestimmung des subjektiven Geistes die dritte Ausgabe heranziehen, die gegenüber der Ausgabe von 1817 den Vorteil hat, dass sie differenzierter und terminologisch oft schärfer ist. Die Schlussparagrafen des subjektiven Geistes betreffen den Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist; durch die Einführung der Form des freien Geistes in der dritten Ausgabe der Enzyklopädie akzentuiert Hegel die Freiheitsthematik; er stellt damit also besonders heraus, dass in der Philosophie des objek12
II.1 Einleitung
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Gegenstand zunächst als unmittelbar bloß gegeben. Im Laufe seiner Entwicklung bestimmt sich der Geist als theoretischer Geist von der subjektiven Seite her vollständig und erkennt, dass der Gegenstand in Wahrheit nichts ihm Fremdes, bloß Gegenüberstehendes ist; als begreifendes Erkennen, als Denken, weiß der Geist, dass er »im Gegenstande absolut bei sich selber«16 ist. Das Denken erkennt, »daß seine Bestimmungen Bestimmungen der Sache und daß umgekehrt die objektiv gültigen, seienden Bestimmungen seine Bestimmungen sind«17. Es hat also Hegel zufolge den Gegenstand in seiner Totalität in allgemeine Gedankenbestimmungen aufgelöst und ihm damit seine scheinbare Unmittelbarkeit und Selbständigkeit genommen. Indem dem Denken nichts ihm Fremdes mehr gegenübersteht, ist es nach Hegel frei – durch nichts ihm Äußeres mehr bestimmt oder beschränkt. Mit dieser Erkenntnis seiner Freiheit hat der Geist jedoch zugleich das Bedürfnis, sich an der äußeren Welt auch als das praktisch und nicht bloß ideell Bestimmende darzustellen. Das Denken wird so Wille, praktischer Geist.18 Während das Denken also das theoretische Verhalten bezeichnet, ist der Wille das praktische Verhalten. Beide sind nach Hegel jedoch wesentlich miteinander vermittelt und können in Wahrheit nur gemeinsam Wirklichkeit haben. Am Willen zeigt sich dies dadurch, dass die Handelnden sich die Zwecke ihres Handelns vor der eigentlichen Handlung gedanklich vorstellen können müssen. Nur wenn sie dies tun können, können sie ihre Handlung als Ausdruck ihres Willens begreifen.19 Am Denken zeigt sich die Einheit von Denken und Willen dadurch, dass Denken wesentlich Tätigkeit ist und ihm ein Erkenntnisinteresse zugrunde liegt, dass es also auch ein praktisches Verhalten ist.20 Denken und Wille sind nach Hegel demnach nicht zwei verschiedene Vermögen, sondern, wie es in der Nachschrift von Griesheim heißt: »(D)er Wille ist eine besondere Weise des Denkens: er ist das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb sich Dasein zu geben.«21 Indem der Geist den Übergang vom Denken zum Willen macht, hat er somit den Trieb, sich selbst in der äußeren Welt gegenständlich, objektiv zu werden. tiven Geistes die Freiheit des subjektiven Geistes gegenständlich wird. Dennoch wird mit dem freien Geist kein völlig neuer Inhalt eingeführt (vgl. Jaeschke 2003, S. 349 f.). 16 TWA 10, § 468 Z. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. EPW, § 468 f.; vgl. GPR, § 4 Anm. 19 Hier liegt nach Hegel ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier (vgl. Gr, S. 107). Das Tier ist zwar praktisch tätig, aber es hat keinen Willen, denn es kann sich seine Zwecke nicht innerlich setzen. Es handelt daher bloß nach Instinkt und wird von seinen Trieben im wahrsten Sinne ›getrieben‹. 20 Vgl. Jaeschke 2003, S. 359 f. 21 Gr, S. 102.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Der Wille ist jedoch zunächst selbst bloß eine Form des subjektiven Geistes, und als endlicher, einzelner Wille stellt er sich anfangs der Allgemeinheit des Denkens noch entgegen.22 Er ist zwar von der subjektiven Seite her formell frei, denn er gibt sich selbst seinen Inhalt, bringt diesen hervor und ist in diesem Inhalt somit bei sich, sei dieser, was er wolle. Aber er ist eben auch nur formell und damit bloß an sich frei. Sein Inhalt ist nämlich noch nicht die Freiheit. Erst wenn der Wille nicht mehr nur der Form nach frei ist, sondern »die Freiheit zu seiner Bestimmtheit, zu seinem Inhalte und Zwecke wie zu seinem Daseyn«23 macht, entspricht er seinem Begriff. Und erst dann hat er in diesem Dasein auch sich selbst, nämlich seine Freiheit, zum Gegenstand – und wird objektiver Geist.24 Der Begriff der Freiheit in seiner Allgemeinheit ist jedoch »wesentlich nur als Denken; der Weg des Willens, sich zum objectiven Geiste zu machen, ist, sich zum denkenden Willen zu erheben, – sich den Inhalt zu geben, den er nur als sich denkendes haben kann.«25 Die Entwicklung des Willens vom bloß an sich oder formell freien Willen zum an und für sich freien Willen, der seine eigene Freiheit will, stellt Hegel in den Einleitungsparagrafen der Grundlinien (§§ 1–33) dar, die somit noch zur Philosophie des subjektiven Geistes zu zählen sind.26 Hat der Geist sich schließlich zum an und für sich freien Willen entwickelt, ist er nicht mehr bloß in der Form der Beziehung auf sich selbst, sondern »in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt (…), in welcher die Freiheit als vorhandene Nothwendigkeit ist, – objektiver Geist.«27 Wenn Hegel die Rechtsphilosophie als die Darstellung der Entwicklung des objektiven Geistes betrachtet, möchte er damit zeigen, dass das Recht genau diese vom freien Willen hervorzubringende und hervorgebrachte Welt ist.28 Hegel bestimmt das Recht daher als das »Daseyn des freyen Willens«29. Unter 22
Vgl. GPR, § 13 Anm.; EPW, § 469. EPW, § 469, vgl. auch GPR, § 13. 24 Die Darstellung des Übergangs vom subjektiven Geist zum objektiven Geist differiert in den drei Ausgaben der Enzyklopädie (vgl. Jaeschke 2003, S. 349 f.). Es bedürfte einer genaueren Analyse, wie sich die Darstellung in den Grundlinien zu diesen verschiedenen Fassungen verhält, die hier nicht geleistet werden kann. 25 EPW, § 469. 26 Vgl. II.1.2.2. 27 EPW, § 385. 28 Vgl. GPR, § 4. 29 GPR, § 29 und EPW, § 486. 23
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Recht fällt damit nicht nur das juristische Recht, sondern auch moralische, gesellschaftliche und ökonomische Institutionen.30 All diesen Rechtsinstitutionen – unter die auch die Familie fällt, in der das Geschlechterverhältnis zum Tragen kommt – ist nach Hegel gemeinsam, dass sie als Ausdruck des freien Willens aufzufassen sind. Da dieser Gedanke entscheidend sein wird für das Verständnis der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie, soll zunächst genauer betrachtet werden, wie in den Grundlinien der Begriff der Freiheit des Willens bestimmt wird (vgl. II.1.2.2). Anschließend soll dargestellt werden, wie sich nach Hegel aus diesem Begriff das Recht entwickelt (vgl. II.1.3).
II.1.2.2 Der Begriff des freien Willens – die Einleitungsparagrafen der Grundlinien (§§ 1–33) Nach Hegel gehört es notwendig zum Begriff des Willens, dass er frei ist. Ein Wille, der nicht frei ist, hebt sich selbst auf und kann nicht im eigentlichen Sinne Wille genannt werden.31 Die Freiheit ist dem Willen so wesentlich, dass sich beide nur im Zusammenhang miteinander überhaupt realisieren können. Der Wille ist wahrhaft Wille nur, wenn er frei ist – nur dann entspricht er seinem Begriff; die Freiheit wiederum ist ebenso nur als Wille. Von Freiheit kann nur dann die Rede sein, wenn von einem Subjekt, einem Willen die Rede ist, denn zur Freiheit gehört wesentlich, dass sie Produkt freier Tätigkeit ist. Das heißt jedoch nicht, dass der Wille seine zu seinem Begriff gehörende Freiheit unmittelbar realisieren kann. Nach Hegel entwickelt er sich vielmehr und realisiert erst im Laufe dieser Entwicklung seine eigene Freiheit an und für sich, sodass er am Ende seiner Entwicklung seinem Begriff, der Freiheit, entspricht. Anfangs ist der Wille, wie sich zeigen wird, noch bloß formell frei. Als bloß an sich freier Wille ist er noch eine Form des subjektiven Geistes. Wenn Hegel also in den Einleitungsparagrafen der Grundlinien (§§ 1–33) die Entwicklung des Willens vom bloß unmittelbaren, an sich freien Willen hin
30
Vgl. Ho, S. 170; EPW, § 486. Zu Hegels sehr weit gefasstem Rechtsbegriff vgl. Jaeschke 2003, S. 368; Siep 1997a, S. 20 f.; Schnädelbach 2000, S. 172. 31 Hegel vergleicht das Verhältnis von Wille und Freiheit mit dem Verhältnis von Materie und Schwere – es gibt schlechthin keine »unschwere« Materie. Beide sind miteinander identisch. Die Materie ist Schwere, die Schwere ist nur als Materie. Schwere ist daher kein bloß zufälliges Prädikat der Materie, sondern ihr wesentlich (vgl. Gr, S. 101 f.; Ho, S. 107 f.; GPR, § 7).
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zum an und für sich freien Willen darstellt, so gehören diese Paragrafen systematisch gesehen noch in die Philosophie des subjektiven Geistes, als deren Resultat die Philosophie des objektiven Geistes verstanden werden muss.32 Bevor Hegel die Entwicklung des Willens vom bloß an sich freien Willen hin zum an und für sich freien Willen (§§ 10–33) in ihren Stufen darstellt, gibt er zunächst in den §§ 5–7 die Elemente des Begriffs des Willens an: Das erste Element des Willens ist das der Allgemeinheit, der reinen Reflexion des Ich, des reinen Denkens seiner selbst.33 Für dieses reine Denken seiner selbst ist wesentlich, dass das Ich darin von allem bestimmten Inhalt abstrahieren kann. Es ist absolute Möglichkeit, kann jeden Inhalt denken und sich zugleich daraus zurückziehen. Das Ich ist darin nichts anderes als die reine Abstraktion von allem Inhalt. Hegel nennt dies deshalb auch das Element der reinen Unbestimmtheit. Das zweite Element des Willens ist, aus dieser reinen Unbestimmtheit zur Bestimmung überzugehen – das Element der Besonderheit.34 Das Ich gibt sich in diesem Element selbst einen Inhalt, es bestimmt sich; der Wille will etwas. Erst damit kann man Hegel zufolge eigentlich von einem Ich sprechen, denn erst hier ist es bestimmtes Ich. Mit dieser notwendigen zweiten Stufe zeigt sich die Dialektik des ersten Moments. Das erste Moment erschien als Allgemeinheit, das zweite erscheint nun als Besonderheit, als Besonderung des Ich. Tatsächlich ist das erste Moment, die Allgemeinheit, wenn sie der Besonderheit gegenübersteht, selbst bloß ein Besonderes neben der Besonderheit. In Wahrheit gehören nach Hegel beide Momente wesentlich zusammen und können nicht abstrakt auseinandergehalten werden – dies ist ihre Dialektik. Aufgrund ihrer Dialektik gehen die beiden Elemente des Willens, abstrakte Allgemeinheit und Besonderheit, über in das dritte Element, die Einzelheit; die Einzelheit stellt den eigentlichen Willen, die Einheit der beiden ersten Elemente dar.35 In ihm sind Allgemeinheit und Besonderheit nur noch unselbständige Momente. Hegels Pointe ist, dass der Wille erst als Einzelheit wirklich ist, welche die Einheit der Momente der abstrakten Allgemeinheit und der Besonderheit ist. Die Einzelheit ist damit das übergreifende Allgemeine von Allgemeinheit und Besonderheit, d. h., in ihr werden beide Elemente als Momente miteinander vermittelt. Sie ist damit in der hegelschen Terminologie »konkrete Allgemeinheit.« Als Einzelheit setzt sich das Ich als
32 33 34 35
Vgl. II.1.2.1. Vgl. GPR, § 5. Vgl. ebd., § 6. Vgl. ebd., § 7.
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ein bestimmtes, beschränktes und weiß sich zugleich in dieser Beschränkung als Allgemeines. Es negiert also zugleich die Bestimmtheit, in der es sich setzt. Es ist »die Selbstbestimmung des Ich, in Einem, sich als das Negative seiner selbst, nemlich als bestimmt, beschränkt zu setzen und bey sich d. i. in seiner Identität mit sich und Allgemeinheit zu bleiben, und in der Bestimmung sich nur mit sich selbst zusammen zu schließen. – Ich bestimmt sich, insofern es die Beziehung der Negativität auf sich selbst ist; als diese Beziehung auf sich ist es eben so gleichgültig gegen diese Bestimmtheit, weiß sie als die seinige und ideelle, als eine bloße Möglichkeit, durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt. Dies ist die Freyheit des Willens, welche seinen Begriff oder Substantialität (…) ausmacht«36. Als Einzelheit ist der Wille also Selbstbestimmung, oder wie es an späterer Stelle heißt: »sich selbst bestimmende Allgemeinheit«37. Er ist darin frei, weil er alle Bestimmungen als seine eigenen Bestimmungen begreifen und so in diesen bei sich selbst sein kann. Bei-sich-sein-im-Anderen ist aber Hegel zufolge nichts anderes als Freiheit.38 Diese Bestimmung des Willens, nach der der Wille Bei-sich-sein-im-Anderen-seiner-selbst ist, hat weitreichendere Konsequenzen, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Tatsächlich ist Hegel der Auffassung, dass sich mangelnde Freiheitsbegriffe gerade daraus ergeben können, dass die beiden Momente des Willens verselbständigt werden und nicht als bloße Momente der Einheit des Begriffs des Willens genommen werden. Hegel exemplifiziert dies anhand der Unterscheidung dieser zwei Momente in der Bestimmung des Ichs in Fichtes Wissenschaftslehre. Im ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre nehme Fichte das Ich als »das Unbegrenzte«39 und damit im Sinne der abstrakten Allgemeinheit. Dieses Ich soll nach Fichte – so Hegel – »für sich das Wahre seyn«40. Damit kann ihm Hegel zufolge die Bestimmung des Ich gegenüber der Unendlichkeit der abstrakten Allgemeinheit des Ichs nur noch als eine Beschränkung erscheinen.41 Die Bestimmung kommt somit bei Fichte im zweiten Grundsatz der Wissenschaftslehre als Tätigkeit des Ichs äußerlich zur abstrakten Allgemeinheit des 36 37 38 39 40 41
2007.
Ebd. Ebd., § 21. Vgl. I.3; TWA 12, S. 30. GPR, § 6 Anm. Ebd. Vgl. ebd. Zur Differenz von Hegels und Fichtes Freiheitsbegriff vgl. Binkelmann
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Ichs hinzu. Nach Hegel kommt es dagegen darauf an, zu begreifen, dass die Besonderung der Allgemeinheit immanent ist.42 Hegel selbst will mit seiner Bestimmung des Willens als Einheit beider Momente zeigen, dass der Wille wirklich ist, nur wenn er sich bestimmt. Die Bestimmtheit, in die sich das Ich setzt, ist also nicht eine nachträgliche Beschränkung der Unendlichkeit des Ichs, sie ist vielmehr seine eigentliche Realisierung. Ohne diesen Übergang in die Bestimmung wäre der Wille schlichtweg nicht wirklich, hätte keine Realität. Hält man die Abstraktion der reinen Allgemeinheit für die eigentliche Freiheit, so hat man nach Hegel einen gänzlich mangelhaften Begriff der Freiheit, denn diese Freiheit ist letztlich nur negativ bestimmt. Man ist nur frei von jedem Inhalt – statt frei zu sein in den bestimmten Inhalten, die man sich selbst gibt. Gerade in dem Inhalt, in dem ich mich setze, frei zu sein, bei mir bleiben zu können, wäre demgegenüber nach Hegel die wahre Freiheit. Dass in der wirklichen und nicht bloß möglichen Freiheit notwendigerweise Freiheit und Bestimmtheit zusammenfallen, zeigt sich nach der Nachschrift von Hotho im Verhältnis der Freundschaft und der Liebe: »Diese Freiheit haben wir schon in der Form der Empfindung. Z. B. in der Freundschaft und Liebe. Da will man etwas ist man nicht einseitig in sich, sondern in der Beziehung auf ein Andres, beschränkt man sich, aber weiß sich in dieser Beschränkung als sich selbst. In der Bestimmtheit fühlt sich der Mensch nicht bestimmt, sondern indem man das Andre als Andres betrachtet, hat man darin erst sein Selbstgefühl. (…) Die Freiheit also liegt weder in der Unbestimmtheit, noch in der Bestimmtheit. Im zweiten Moment beschränke ich mich, will dieß, und solchen Willen hat der Eigensinnige, der meint, wenn er diesen Willen nicht habe, sei er unfrei. Der Wille ist aber nicht an ein Beschränktes gebunden, sondern muß weiter gehen, denn die Natur des Willens ist nicht diese Einseitigkeit, Gebundenheit, sondern die Freiheit ist: Bestimmtes zu wollen, aber in diesem Bestimmtsein bei sich zu sein, wieder in das Allgemeine zurückzukehren.«43 Freundschaft oder auch Liebe können sich nicht abstrakt als Verhältnis zu allen Menschen im Allgemeinen realisieren – Hegel polemisiert z. B. gegen den abstrakten Begriff der allgemeinen Menschenliebe –, sondern sie müssen sich auf wenige, bestimmte Individuen beziehen, damit von wirklicher Freundschaft oder Liebe gesprochen werden kann, wie schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik gezeigt hat.44 Der Begriff der Liebe als Reali42 43 44
Vgl. Schnädelbach 2000, S. 181. Ho, S. 119 f. Vgl. GPR, § 180 Anm., S. 158; TWA 17, S. 283; EN, 1158a12 f.; II.2.3.
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sierung der Freiheit des Willens in Form der Empfindung spielt für Hegels Begriff der Familie eine wesentliche Rolle.45 Mit dieser Bestimmung des Willens ist zugleich ein Maßstab gesetzt für die Inhalte, die sich der Wille gibt. Wahrhaft frei ist der Wille demnach gerade dort, wo er sich einen bestimmten Inhalt gibt, in dem er seiner Allgemeinheit Ausdruck verleihen kann – mit Freundschaft und Liebe wurde bereits ein Beispiel für einen solchen Inhalt in Form der Empfindung gegeben. Erst wenn Form und Inhalt des Willens übereinstimmen, ist die Freiheit des Willens realisiert. Eine solche Übereinstimmung kann nach Hegel erst in einem in sich gegliederten, vernünftigen Staat realisiert sein, in dem alle Momente des Rechts verwirklicht sind. In diesem in sich gegliederten Allgemeinen, das auf dem Anerkennungsverhältnis freier Willen zueinander beruht, weiß sich der Wille als frei. Während ein vernünftiges Zusammenleben der Menschen nach Hegel also eine Errungenschaft der Entwicklung des objektiven Geistes ist, die allein erst Freiheit ermöglicht, erscheint in der Tradition des Naturrechts von Hobbes bis Fichte aufgrund des abstrakten Freiheitsbegriffs der Staat bzw. das gesellschaftliche Leben überhaupt als Beschränkung der Freiheit.46 Ein solcher mangelhafter Freiheitsbegriff resultiert daraus, dass der spekulative Gedanke der immanenten Besonderung des Allgemeinen noch nicht entwickelt ist. Zu der Übereinstimmung seiner Form und seines Inhaltes muss sich der Wille erst »emporarbeiten«. Dies tut er wiederum in drei Schritten, die hier nur insoweit dargestellt werden, als sie für das Verständnis von Hegels Theorie der Familie und des Geschlechterverhältnisses von Bedeutung sind. In seinem Anfang ist der Wille Hegel zufolge nur seinem Begriff nach Wille, er hat sich noch nicht als das realisiert, was er in Wahrheit ist: frei. Als unmittelbarer, anfänglicher Wille ist der Wille also nur an sich Wille und demnach auch nur an sich frei. Der unmittelbare Wille ist noch vollständig von der Natur bestimmt – Hegel nennt ihn daher auch den »natürliche(n) Willen«47. Er ist unmittelbar identisch mit seiner Bestimmtheit, die er in den natürlichen »Triebe(n), Begierden, Neigungen«48 findet. Diese natürlichen Triebe und Neigungen sind an sich nicht unvernünftig oder schlecht,49 aber solange sie den Willen unmittelbar bestimmen, kann er in ihnen nicht seine Freiheit realisieren. Um die im Trieb gegebenen Inhalte als Ausdruck sei45
Vgl. II.2.1. Vgl. dazu Jaeschke 2003, S. 369. Zum Freiheits- und Rechtsbegriff von Hobbes bis Hegel vgl. auch Bergés 2012, Binkelmann 2007. 47 GPR, § 11. 48 Ebd.; vgl. EPW, § 473. 49 Vgl. GPR, § 11. 46
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ner Freiheit und Selbstbestimmung zu setzen, muss er sie sich erst aneignen. Dieser Gedanke wird eine wesentliche Rolle spielen für Hegels Geschlechtertheorie: Der Sexualtrieb soll nicht ›ausgerottet‹ oder unterdrückt werden, sondern in eine Form umgewandelt werden, in der der Mensch nicht mehr äußerlich vom Trieb bestimmt wird – denn sonst bliebe er unfrei. Die schrittweise Aneignung der Triebe geschieht in den weiteren Entwicklungsstufen des Willens. Die Rechtsphilosophie ist also insgesamt als die Darstellung dieser Aneignung, die Umwandlung der Natur in etwas Geistiges, aufzufassen.50 Nur durch diese Umwandlung kann nach Hegel die Freiheit realisiert werden. Als unmittelbarer Wille war der Wille nur an sich oder für uns frei, denn er war noch völlig identisch mit den natürlichen Trieben und Neigungen, die ihn bestimmten. Im zweiten Schritt bestimmt sich der Wille nun selbst und wird so formell oder auch für sich frei. Er ist reflektierender Wille. Diese Stufe identifiziert Hegel mit der Wahl- oder Willkürfreiheit. Die Willkür besteht darin, frei zwischen verschiedenen Inhalten zu wählen und zugleich zu wissen, sich jederzeit aus diesen Inhalten zurückziehen zu können. Das Ich ist darin reine Möglichkeit, die jeden beliebigen möglichen Inhalt wählen kann. Aus dieser Konstellation ergibt sich nach Hegel notwendig ein Widerspruch. Erstens sind der Willkür immer noch Inhalte vorausgesetzt. Die Deterministen haben insofern nach Hegel zu Recht den Theoretikern der Willkürfreiheit entgegengehalten, dass der Wille darin nicht frei sei, sondern durch den Inhalt bestimmt.51 Der zweite Widerspruch besteht darin, dass der Wille auf dieser Stufe seinen Inhalt selbst als bloß zufälligen oder möglichen bestimmt. Damit wird aber auch der Wille selbst bloß zufällig – denn er gibt sich keinen notwendigen Inhalt, der Ausdruck seiner eigenen Bestimmtheit, der Unendlichkeit wäre. Die Bestimmtheit des Inhalts stimmt nicht mit der Form des Willens überein oder aber der Wille wird darin bloß endlicher Wille, weil sein Inhalt endlich ist. Form und Inhalt stimmen in der Willkür nicht überein und somit ist der Wille bloß formell, der unendlichen Form nach frei. In seiner inhaltlichen Bestimmtheit ist er dagegen unfrei, endlich und zufällig.52 Da die Willkür sich auf die natürlichen Inhalte beziehen muss, um sich zu bestimmen, ist sie mit dem Problem konfrontiert, dass einerseits alle Triebe
50
Dies zeigt sich daran, dass nach Hegel der Inhalt der Triebe und Neigungen in der Sittlichkeit die Form von Rechten und Pflichten annimmt (vgl. GW 14,2, S. 337; GPR, § 19; GPR, § 150 Anm.; II.1.3.3). 51 Vgl. GPR, § 15 Anm. 52 Vgl. GPR, § 15 und § 15 Anm. Vgl. Quante 1993, S. 146 f.
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›treibend‹ sind, befriedigt werden wollen, sich aber andererseits gegenseitig ausschließen. Es ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Triebe untereinander in eine Ordnung zu bringen. Dafür geben jedoch die Triebe selbst kein Maß – jeder Trieb ist »nur einfache Richtung seiner Bestimmtheit«53. Der Wille versucht nun, die verschiedenen besonderen Triebe auf ein Ganzes der Befriedigung, die Glückseligkeit, zu beziehen.54 Er geht also nicht mehr bloß auf die besondere Befriedigung, sondern auf die allgemeine Befriedigung. Dabei verfährt er jedoch wiederum bloß zufällig, nach Gefühl, da kein bestimmtes Maß für die Triebe anzugeben ist. Der Inhalt der Glückseligkeit hängt somit vom subjektiven Empfinden des Einzelnen ab. Was Glückseligkeit ist, kann daher auch nicht bestimmt angegeben werden. Die Allgemeinheit der Glückseligkeit bleibt daher partikular und zufällig. Nach Hegel liegt in der Vorstellung der Glückseligkeit der wahre Gedanke, dass die Triebe in ein »vernünftige(s) System der Willensbestimmung«55 gebracht werden müssen. Es kann in ihr jedoch nicht bestimmt angegeben werden, wie dieses System der Willensbestimmung zu denken und zu realisieren ist. Da die Glückseligkeit bloß partikular und zufällig bleibt, stimmen Form und Inhalt des Willens in ihr noch nicht überein – der Inhalt des Willens bleibt, auch als Allgemeines gedacht, immer noch ein partikularer, obwohl die Form des Willens die Unendlichkeit und Allgemeinheit des Denkens ist. Der Wille widerspricht darin also sich selbst und kann sich darin nicht realisieren. Er bleibt so auf dieser Stufe unfrei. Wahrhaft realisieren kann sich der Wille nach Hegel erst, wenn seine Form, die Allgemeinheit, seinem Inhalt entspricht. Dann ist sein Inhalt auch wirklich das, was er will. Erst dann ist er frei, von keinem bloß partikularen Inhalt mehr bestimmt. Form und Inhalt stimmen erst überein, wenn der Wille sich selbst, seine eigene Allgemeinheit und Freiheit, zum Gegenstand hat. Der Begriff der Freiheit ist im Gegensatz zu dem Gedanken der Glückseligkeit nicht mehr unbestimmt, sondern kann bestimmt angegeben werden: Frei ist der Wille dann, wenn ihm nichts Fremdes mehr gegenübersteht. Erst wenn der Wille sich selbst, seine Allgemeinheit und Freiheit, zum Gegenstand macht, ist er zugleich an sich, d. h. objektiv, und auch für sich, subjektiv, frei. Er ist dann sich selbstbestimmende Allgemeinheit. Der so begriffene Wille ist a) wahrhaft bzw. wirklich-unendlich: wirklich, weil sein Gegenstand und Inhalt äußerliches Dasein haben und er zudem »wirkt«, d. h. sich in seinem Gegenstand tätig realisiert; unendlich, weil sein äußeres Dasein nicht 53 54 55
GPR, § 17. Vgl. GPR, § 20. Hier spielt Hegel auf den aristotelischen Begriff der eudaimonia an. Ebd., § 19.
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ein endlicher Inhalt ist, sondern nichts anderes als sein Inneres selbst, die Freiheit;56 er ist b) schlechthin bei sich, weil er sich in seinem Gegenstand nur auf sich bezieht und von keinem ihm bloß äußerlichen, vorgefundenen Inhalt abhängig ist;57 und er ist c) wahrhaft allgemein, weil es keinen Unterschied mehr gibt zwischen seiner Bestimmtheit der Form nach und seiner inhaltlichen Bestimmtheit.58 Er übergreift als einzelner Wille die Totalität der Bestimmungen und erweist sich darin als übergreifendes Allgemeines. Im Laufe der Entwicklung des Begriffs des Willens vom »natürlichen Willen« über die Willkürfreiheit bis hin zum Begriff des an und für sich freien Willens hat sich gezeigt, dass der Wille sich nur realisieren kann, wenn er seine anfängliche Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und Partikularität aufhebt und seinen Inhalt ins Allgemeine erhebt. Darin kommt die Identität des Willens mit dem Denken zum Ausdruck, denn das »Aufheben (…) und Erheben ins Allgemeine ist das, was die Thätigkeit des Denkens heißt. Das Selbstbewußtseyn, das seinen Gegenstand, Inhalt und Zweck bis zu dieser Allgemeinheit reinigt und erhebt, thut dieß als das im Willen sich durchsetzende Denken. Hier ist der Punkt, auf welchem es erhellt, daß der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freyer Wille ist.«59 Aus der Erkenntnis, dass der Wille, um frei zu sein, seinen Inhalt ins Allgemeine erheben muss, ergibt sich nach Hegel zugleich »(…) der absolute Trieb des freyen Geistes (§. 21.), daß ihm seine Freyheit Gegenstand sey – objectiv sowohl in dem Sinne, daß sie als das vernünftige System seiner selbst, als in dem Sinne, daß dieß unmittelbare Wirklichkeit sey (§. 26.) – um für sich, als Idee zu seyn, was der Wille an sich ist; – der abstracte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freye Wille, der den freyen Willen will.«60 Der an und für sich freie Wille will also sich selbst, seine Freiheit, realisieren. Dies kann er aber wiederum nur im Laufe einer Entwicklung. Die Realisierung des an und für sich freien Willens in der äußeren Realität ist nach Hegel selbst nichts anderes als das Recht,61 in dem der Geist sich objektiv wird. Mit dem an und für sich freien Willen als Resultat der Entwicklung 56 57 58 59 60 61
Vgl. ebd., § 22. Vgl. ebd., § 23. Vgl. ebd., § 24. Ebd., § 21 Anm. Ebd., § 27. Vgl. ebd., § 29.
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des Begriffs des Willens ist folglich der Übergang vom subjektiven Geist zum objektiven Geist gemacht.
II.1.3 Das Recht als »Daseyn des freyen Willens« In § 29 bestimmt Hegel das Recht als »Daseyn des freyen Willens«: »Dieß, daß ein Daseyn überhaupt Daseyn des freyen Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freyheit, als Idee.«62 Aus dieser Bestimmung ergibt sich die Einteilung der Grundlinien: Die drei Teile abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit stellen nach Hegel jeweils verschiedene Stufen der Entwicklung der Idee des an und für sich freien Willens dar.63 Im § 32 weist Hegel darauf hin, dass diese Entwicklung des an und für sich freien Willens nicht zeitlich oder historisch zu verstehen ist, sondern dass es sich um die begriffliche Entwicklung handelt. So sind z. B. Eigentumsrecht, Vertragsrecht und Moralität, die Ausdruck einer weniger entwickelten Stufe des freien Willens sind, nach Hegel begriffliche Voraussetzungen für den vollendeten Begriff der Familie, der zur Sittlichkeit gehört und somit eine hohe Entwicklungsstufe der Idee des freien Willens darstellt.64 Das heißt jedoch nicht, dass es nicht schon Familienformen gibt, bevor sich das Eigentumsrecht usw. in der von Hegel dargestellten Form entwickelt hat. Jedoch entsprechen diese historisch früheren Familienformen nach Hegel dann noch nicht dem vollendeten Begriff der Familie – denn die Momente, die begriffliche Voraussetzungen für den vollendeten Begriff der Familie sind, sind noch nicht entwickelt.65 Der Begriff der Familie hat auf dieser Stufe nach Hegel also noch kein ihm adäquates Dasein. Wie die Momente eines Begriffs sich aus der Bewegung des Begriffs selbst entwickeln lassen, stellt Hegel nicht mehr abstrakt dar. Er setzt seine Methode, die den Anspruch hat, dass sie sich nach dem Inhalt richtet und da62
Ebd. Vgl. ebd., § 33. 64 Vgl. ebd., § 32 Anm. 65 Dieser Hinweis ist von einiger Bedeutung für den unterschiedlichen Begriff der Familie in den Grundlinien und in der Phänomenologie. Während die Grundlinien den Anspruch haben, den vollendeten Begriff der Familie darzustellen, behandelt die Phänomenologie eine historische Gestalt der Familie – die Familie der griechischen Polis. Während der Begriff der Person für die Familie in den Grundlinien als begriffliche Voraussetzung gilt, ist er in der Phänomenologie erst Resultat der historischen Entwicklung, in der die griechische Polis abgelöst wird vom römischen Recht, das den Begriff der abstrakten Rechtsperson allererst entwickelt (vgl. II.1.3.3). 63
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her mit der Entwicklung des Inhalts identisch ist, vielmehr aus seiner Wissenschaft der Logik voraus.66 Da Hegel den Zusammenhang von Logik und Grundlinien hier nur andeutet, ist in der Forschung sehr umstritten, wie dieses Verhältnis genau zu verstehen ist.67 Um den Aufbau und den Fortgang der Grundlinien zu verstehen, reicht es an dieser Stelle jedoch aus, die verschiedenen Teile der Grundlinien auf die Momente des Begriffs des an und für sich freien Willens zu beziehen, der in den Grundlinien der zugrunde liegende, sich entwickelnde Begriff ist.68 Aus Hegels Logik der Begriffsentwicklung heraus ergibt sich, dass sich der an und für sich freie Wille im Anfang seiner Entwicklung zunächst wieder bloß an sich realisieren kann (abstraktes Recht), dann auf einer höheren Stufe für sich (Moralität) und schließlich in seiner Vollendung an und für sich (Sittlichkeit).69 Die Rechtsinstitutionen werden von Hegel als objektiver Ausdruck der Freiheit des Geistes aufgefasst. Das juristische Recht stellt im Entwicklungsverlauf der Realisierung des freien Willens nur die unterste Stufe – die Sphäre des abstrakten Rechts dar. Hegel verhandelt hier basale Formen des Rechts. Darüber hinaus fasst Hegel auch moralische Ansprüche, die zur Sphäre der Moralität gehören, als Ausdruck der Freiheit und dementsprechend als ›Recht‹ auf.70 Adäquatester Ausdruck der Freiheit des Willens und somit Recht im höchsten Sinne sind nach Hegel schließlich die gesellschaftlichen Institutionen – Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat, die er im dritten Teil unter dem Titel Die Sittlichkeit behandelt. Für Hegels Familienund Geschlechtertheorie bedeutet das, dass das Geschlechterverhältnis, wie
66
Vgl. GPR, § 31. Hegel verweist zur Erläuterung von Fortgang und Methode der Grundlinien regelmäßig auf seine Wissenschaft der Logik, vgl. Ottmann 1982, Anm. 2, S. 382. Zu Hegels Methodenverständnis und zum methodischem Vorgehen in den Grundlinien vgl. Schnädelbach 2000, S. 189–196. 67 In der Forschungsliteratur gibt es eine große Debatte über die Frage, wie diese Verweise im Einzelnen aufzufassen sind, d. h., wie genau das Verhältnis von Logik und Grundlinien zu verstehen ist. Diese Frage kann hier nicht eingehend behandelt werden. Vgl. dazu Ottmann 1982. 68 Vgl. GPR, § 33. 69 Hegel hat die Einteilung des objektiven Geistes in der Enzyklopädie für die Neuauflage überarbeitet. Die Einteilung der Grundlinien entspricht nicht der Einteilung des objektiven Geistes in der ersten Ausgabe der Enzyklopädie (1817), sondern eher der Einteilung in der zweiten und dritten Ausgabe von 1827 und 1830 (vgl. Jaeschke 2003, S. 373). 70 Zum sehr weitgefassten Rechtsbegriff von Hegel, auf den er auch selbst aufmerksam macht (vgl. Ho, S. 170; EPW, § 486) vgl. Jaeschke 2003, S. 368; Siep 1997a, S. 20 f.; Schnädelbach 2000, S. 172. Dass Hegel in den Teilen Das abstrakte Recht und Die Moralität die neuzeitliche Unterscheidung von Legalität und Moralität diskutiert, die er dann in der Sittlichkeit miteinander vermittelt sieht, stellt Karl-Heinz Ilting heraus (vgl. Ilting 1975 S. 52 f.; vgl. dazu auch Ritter 1975; Lübbe-Wolff 2009).
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es in der modernen bürgerlichen Familie und Ehe gesellschaftlich und institutionell bestimmt ist und gelebt wird, als Ausdruck des freien Willens begriffen werden kann und muss. Nur vor diesem Hintergrund kann Hegels Theorie der Familie und des Geschlechterverhältnisses adäquat begriffen und kritisiert werden. Denn mit Hegels Anspruch, auch die bürgerliche Geschlechterordnung in der Familie als Ausdruck des freien Willens begreifbar machen zu können, ist zugleich ein Maßstab der Kritik der hegelschen Familien- und Geschlechtertheorie gegeben: Sie muss sich an ihrem eigenen Anspruch, Darstellung der Freiheit zu sein, messen lassen. Die zwei ersten Stufen des an und für sich freien Willens – abstraktes Recht und Moralität – sollen im Folgenden kurz charakterisiert werden. Sie sind für das Verständnis des Abschnittes Die Familie relevant, weil sich die Sittlichkeit überhaupt und somit auch die Sittlichkeit der Familie nach Hegel nur als eine Form der Aufhebung dieser noch mangelhaften Darstellungsweisen des Begriffs des freien Willens verstehen lässt.
II.1.3.1 Das abstrakte Recht In seinem Anfang – im abstrakten Recht – ist der an und für sich freie Wille selbst nur an sich an und für sich.71 Da er seine Bestimmungen erst realisieren muss, ist er in diesem Anfang noch bloß unmittelbar und deshalb abstrakt.72 Zwar sind schon alle Begriffsbestimmungen – Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – in ihm enthalten, aber sie können sich auf dieser Stufe nicht als solche entfalten und sind noch nicht miteinander vermittelt. Die Allgemeinheit des Willens realisiert sich auf dieser Stufe als »die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelnheit, – das Subject ist in so fern Person.«73 Die Allgemeinheit des Willens ist hier also lediglich der reine Selbstbezug des Ich, wie er in § 5 dargestellt wurde.74 In ihm wird von aller Bestimmtheit der Individuen und auch von allen bestimmten Willensinhalten abstrahiert. Für den Begriff
71
Der ›an sich an und für sich freie Wille‹ stellt eine höhere Entwicklungsstufe der Realisierung des Willens dar als der ›an sich freie Wille‹, den Hegel in den §§ 10–11 der Grundlinien behandelt hat (vgl. II.1.2.2). Letzterer war nur ›für uns‹ aber noch nicht ›für sich‹ frei (vgl. GPR, § 10). 72 Vgl. GPR, § 34. Eine besonders schöne und mit vielen Beispielen geschmückte Bestimmung der Begriffe »abstrakt« und »konkret« sowie ihrer Dialektik gibt Hegel in Wer denkt abstract? (GW 5, S. 379–387); vgl. dazu auch Schnädelbach 2000, S. 202. 73 GPR, § 35. 74 Vgl. II.1.2.2. Vgl. Quante 1997, S. 83.
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der Person ist das in der Anerkennungsbewegung entwickelte, hier noch abstrakte Bewusstsein wesentlich, dass jedes Subjekt in seiner Einzelheit und Bestimmtheit zugleich reine, allgemeine und deshalb unendliche und freie Selbstbeziehung ist.75 Als diese reine und freie Selbstbeziehung kann sich das Selbstbewusstsein jederzeit auch von seinen besonderen Bestimmungen und seinen Willensinhalten distanzieren bzw. von ihnen abstrahieren. Dieses allgemeine Moment des Selbstbewusstseins macht die Persönlichkeit aus, die sich hier noch bloß unmittelbar in einzelnen, raum-zeitlich bestimmten Individuen, in Personen, realisiert.76 Das Moment der reinen Selbstbezüglichkeit des Ich bekommt hier erstmals einen gegenständlichen, objektiven 75
Vgl. II.2.2.3. Vgl. GPR, § 35. Zu den Begriffen Persönlichkeit/Person in der hegelschen Philosophie vgl. Siep 1992, S. 81–115 und S. 195–216; Quante 1997; Ritter 1997; Mohr 2001; Schnädelbach 2000, S. 203f; Jaeschke 2003, S. 377 f. Zur Bedeutung des Begriffs der Person allgemein vgl. Sturma 2001. Der Begriff der Persönlichkeit ist in den Grundlinien einerseits Teilprinzip, d. h., er kann im engeren Sinne auf das abstrakte Recht und die Rechtsperson bezogen werden. Andererseits ist er nach Hegel auch im weiteren Sinne zu verstehen, wonach er Universalprinzip der Grundlinien ist, sodass man die Rechtsphilosophie auch als eine Darstellung der Realisierung des Begriffs der Persönlichkeit lesen kann (vgl. dazu auch Quante 1997, S. 74 und Mohr 2001, S. 133). Denn die Realisierung und Entfaltung der Persönlichkeit des Willens ist nichts anderes als die Realisierung und Entfaltung des Willens selbst und somit des Rechts und der Freiheit. Auf einer höheren Stufe als dem abstrakten Recht realisiert sich der Begriff der Persönlichkeit nach Hegel in den sogenannten ›moralischen Personen‹ (vgl. GPR, § 279), wie z. B. der Familie, in der mehrere Individuen gemeinsam eine Person ausmachen. Dort ist der Begriff der Persönlichkeit, wie sich noch zeigen wird, zwar bereits vollständiger entfaltet als noch im abstrakten Recht (vgl. II.2.1.3), aber der Mangel dieser Entwicklungsstufe besteht nach Hegel noch darin, dass sich die moralische Person nicht in einem raum-zeitlichen Individuum, einer realen einzelnen Person Dasein verschaffen kann, sondern Dasein nur hat als geistige Einheit vieler Personen. Damit hat die Persönlichkeit noch keine ihr adäquate Wirklichkeit, denn diese hat sie nur in einzelnen raum-zeitlichen Individuen. Vollendet realisieren kann sich der Begriff der Persönlichkeit und des Willens erst im Staat. Dort hat die Persönlichkeit alle ihre Momente entfaltet und zugleich wirkliches Dasein als einzelne raum-zeitliche Person, als Monarch. Der Monarch, die Spitze des Staates, bezieht sich nach Hegel als einzelne Person in seiner freien Willensentscheidung zugleich auf die Totalität der Willensbestimmungen, die im Staat ihre Realisierung finden (vgl. GPR, § 297). Er ist deshalb nach Hegel keine bloß abstrakte Person, wie die Rechtspersonen im abstrakten Recht, sondern konkrete Person, weil sich in ihm die »Persönlichkeit des Staates« (GPR, § 279 Anm.) in der Totalität ihrer Bestimmungen realisiert. Der Begriff der Persönlichkeit entwickelt sich also von seiner ersten, unmittelbaren Darstellung in abstrakten Rechtspersonen des abstrakten Rechts über die Realisierung in moralischen Personen, bis er schließlich in der Person des Monarchen seine adäquate Realisierung findet und sich in ihm zur Idee vollendet. Die Passagen über den Monarchen als Verkörperung der Persönlichkeit des Staates sind sehr umstritten und schon von Hegels Zeitgenossen heftig kritisiert worden, besonders scharf von Karl Marx in seiner Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie (vgl. KHR, S. 218 –242). 76
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und institutionellen Ausdruck im Recht. Das Bewusstsein der Persönlichkeit kann sich nur dadurch realisieren, dass sich Personen gegenseitig in ihrer Persönlichkeit anerkennen, weil nach Hegel den Individuen nur in der Anerkennungsbeziehung gegenständlich ist, dass sie zugleich einzelnes und allgemeines Selbstbewusstsein sind.77 Die Individuen bedürfen also anderer Individuen, um ein Bewusstsein ihres Personseins gewinnen zu können. In diesem Sinne ist das abstrakte Recht als das Verhältnis der Personen zueinander immer schon ›intersubjektiv‹,78 denn anders könnte es ein Bewusstsein der Persönlichkeit nicht geben. Hegel knüpft mit dieser Bestimmung des Begriffs der Rechtsperson an Kants und Fichtes Bestimmung der Persönlichkeit an.79 Aus dem Bewusstsein der Persönlichkeit ergibt sich das Rechtsgebot: »sey eine Person und respectire die andern als Personen.«80 Wahrhaft realisieren kann sich dieses Rechtsgebot und damit das auf Anerkennung beruhende Recht nach Hegel historisch gesehen erst im modernen Rechtsstaat, denn erst dort wird der Mensch nicht mehr als bloßes Naturwesen genommen, sondern als Geist, der sich seine eigene Natürlichkeit angeeignet hat und somit zu seiner Freiheit gelangt ist. Erst im modernen Rechtsstaat sind wirklich alle Menschen als Personen anerkannt und nicht mehr nur einige, wie noch in Sklavenhaltergesellschaften, in denen einige Menschen so behandelt werden, als seien sie bloße Naturwesen.81 Die Sklavenhaltergesellschaft basiert noch auf dem Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis. Zwar ist auch in ihr der vorgeschichtliche Kampf um Anerkennung abgeschlossen, aber weil die Anerkennung noch nicht universal gilt, gehört die Sklavenhaltergesellschaft zum historischen Übergang von frühen Staatsformen hin zum modernen Rechtsstaat.82 Für die ganze Sphäre des objektiven Geistes ist aus der bereits vorausgegangenen Entwicklung, die in den Grundlinien nicht mehr eigens thematisiert wird, also vorausgesetzt, dass
77
Vgl. II.2.2.3. Vgl. Jaeschke 2003, S. 379; Siep 1992, S. 11; Quante 1997, S. 85; Mohr 2001, S. 132. Der Begriff ›Intersubjektivität‹ wird in der Forschungsliteratur vielfach verwendet. Er soll hier bezeichnen, dass die Person ein gegenständliches Bewusstsein ihres Personseins und ein daraus abgeleitetes Recht nur im Verhältnis zu anderen Personen haben kann. Zur Kritik des Begriffs ›intersubjektiv‹ vgl. II.2.2.3. 79 Vgl. Mohr 2001, S. 132. 80 GPR, § 36. 81 Vgl. GPR, § 57 Anm. und Ho, S. 226 f. 82 Vgl. I.3; Vgl. V 13, S. 175, 513 f. 78
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das Moment der Anerkennung im objektiven Geist enthalten ist und sich in der Sittlichkeit voll entfaltet.83 Die Persönlichkeit macht nach Hegel »überhaupt die Rechtsfähigkeit«84 aus, denn sie ist nichts anderes als das (noch abstrakte) Bewusstsein der Freiheit.85 Weil sich die Persönlichkeit auf der Stufe des abstrakten Rechts unmittelbar realisiert in einzelnen, raum-zeitlich bestimmten Individuen, werden den als Personen anerkannten und sich anerkennenden Individuen also Rechte zugeschrieben. Allerdings sind diese Rechte auf dieser Stufe noch ganz formell; sie enthalten nur das negative Gebot, »die Persönlichkeit und das daraus Folgende nicht zu verletzen«86, weil die abstrakt-allgemeine Persönlichkeit Ausdruck der Freiheit ist: »Ich habe Recht – darum weil ich frey bin«87. Das abstrakte Recht kann mehr als ein solches negatives Gebot nicht leisten, weil die Besonderheit des Willens auf dieser anfänglichen Stufe zwar an sich bereits im Begriff des Willens enthalten ist, aber noch nicht für sich. Die Besonderheit des Willens, d. h. der konkrete Inhalt und Zweck, auf den der Wille gerichtet ist, erscheint deshalb als etwas dem Willen Äußerliches, noch nicht als ein aus ihm selbst abgeleitetes Moment. Die besonderen Inhalte des Willens haben hier noch die Gestalt von Trieben, die noch nicht Teil eines »vernünftige(n) System(s) der Willensbestimmung«88 sind, sondern als »von der Persönlichkeit, der Bestimmung der Freyheit, noch verschieden«89 erscheinen. Da die Bestimmtheit der Individuen sich nur durch die Besonderung des Willens realisieren kann, kann auf die Besonderheit des Individuums im abstrakten Recht noch keinerlei Rücksicht genommen werden.90 Die Besonderheit der Individuen kommt erst in der Moralität und in der Sittlichkeit zu ihrem eigentlichen Recht, indem dort z. B. die Wohlfahrt der Individuen, ihre Einsicht in das Recht, ihre subjektive Handlungsabsicht, ihr 83
Vgl. GPR, § 71 Anm.; vgl. II.2.2.3. Mit diesem Argument soll der häufig geäußerten Kritik entgegengetreten werden, Hegel habe problematischerweise die Rolle der ›Intersubjektivität‹ in den Grundlinien marginalisiert (vgl. Siep 1982; Theunissen 1982; Hösle 1987; Schnädelbach 2000, S. 205). Nach Hegel ist der moderne Rechtsstaat der ›Zustand des Anerkanntseins. Die Anerkennung wird deshalb nicht mehr eigens thematisiert, weil die Grundlinien nicht historisch argumentieren. Nur in der historischen Entwicklung des Rechts spielt der Kampf um Anerkennung noch eine Rolle (vgl. V 13, S. 175, 513 f.; GPR, § 71 Anm.; GW 25,1, S. 113. 5–24; vgl. auch GPR, § 35; § 57 Anm.; § 331; § 349 Anm., § 338 sowie EPW, § 433). 84 GPR, § 36. 85 Vgl. ebd., § 35. 86 Ebd., § 38. 87 GW 14,2, S. 373, 20. 88 GPR, § 19; vgl. II.1.2.2. 89 GPR, § 37. 90 Vgl. ebd., § 6.
II.1 Einleitung
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Bedürfnis nach Zuwendung in der Familie oder nach Bildung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Berücksichtigung finden. Erst in Moralität und Sittlichkeit wird die Besonderheit der Individuen selbst als Moment der Freiheit des Willens, das dem Willen nicht bloß äußerlich ist, anerkannt.91 Da die besonderen Willensbestimmungen im abstrakten Recht nur als dem Willen äußerlich erscheinen, sieht sich die Person einer vorgefundenen Natur gegenübergestellt. Die Persönlichkeit des Willens, die an sich allgemein, übergreifend, unendlich und frei ist, steht also zunächst als bloße Subjektivität einer »vorgefundenen Natur«92, einer objektiven, »äußere(n), unmittelbar vorgefundene(n) Welt«93 gegenüber. Es widerspricht jedoch der Allgemeinheit, Unendlichkeit und Freiheit des Willens, zum bloß Subjektiven herabgesetzt zu sein, dem die Objektivität entgegengesetzt ist, ohne für sie verfügbar zu sein – denn dadurch wäre der Wille durch die Sphäre der Objektivität beschränkt und somit endlich. Aus diesem Widerspruch ergibt sich daher für die unmittelbare, einzelne Person das Bedürfnis, diesen Unterschied aufzuheben und ihre Allgemeinheit und Freiheit, d. i. ihre Persönlichkeit auch in der ihr zunächst bloß äußerlich gegenüberstehenden Welt zu realisieren.94 Ein solches unmittelbares Dasein seiner Freiheit gibt sich die Person auf dreifache Weise:95 a) im Eigentum, in dem sich die Person wesentlich zu sich selbst verhält, b) im Vertrag, in dem sie sich zu anderen Personen verhält, die ebenfalls Eigentum besitzen und c) als in sich unterschiedener Wille im Unrecht und Verbrechen. Da für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie das Verständnis des Begriffs der Rechtsperson, ihres Verhältnisses zum Eigentum und zu ihrer Leiblichkeit eine wesentliche Voraussetzung ist,96 soll auf Hegels Ausführungen zum Eigentum und zur Leiblichkeit (§§ 41–70) noch etwas ausführlicher eingegangen werden. Hegels Begriff des Vertrags (§§ 71–82) soll dagegen nicht in diesem Abschnitt, sondern im Zusammenhang mit Hegels Kritik an der traditionellen Auffassung der Ehe als Vertrag behandelt werden.97 Hegels Auffassung von Unrecht und Verbrechen (§§ 83–103) spielt für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien keine nennenswerte Rolle; 91 92 93 94 95 96 97
Vgl. ebd., § 38; vgl. II.1.3.2; II.1.3.3. GPR, § 39. Ebd., § 34. Vgl. ebd., § 39. Vgl. ebd., § 40. Vgl. II.2.1.3; II.2.2.6.; II.2.2.8.2.; II.2.3; Vgl. II.2.2.8.2.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
der Begriff des Verbrechens ist jedoch für das Verständnis der Phänomenologie relevant und wird deshalb in die Behandlung des Abschnitts Die Schuld und das Schicksal der Phänomenologie (III.2.3.3) einfließen. Das Eigentum ist die erste Weise, in der sich die Person »eine äußere Sphäre ihrer Freyheit«98 gibt. Hegel hat den Anspruch, die Notwendigkeit des Privateigentums aus dem Begriff der Rechtsperson abzuleiten, anders als die neuzeitlich-naturrechtliche Tradition, die keinen notwendigen Zusammenhang von Person und Eigentum behauptet.99 Sein Argument ist folgendes: Da die Freiheit sich im abstrakten Recht in einer vom allgemeinen Willen der Person getrennten Sphäre, der äußeren Natur, realisieren muss, ist auch das Objekt, in dem sie sich realisiert, bestimmt als »das von ihm unmittelbar Verschiedene und Trennbare«100, als ein »unfreyes, unpersönliches und rechtloses«101 – als Sache. Alles, was nicht selbst Persönlichkeit ist, was also selbst keine absolute Selbständigkeit und Freiheit hat und für sich nicht Selbstzweck ist, kann von einer jeden Person als sachlicher Ausdruck ihres freien Willens gewählt werden: »Die Person hat das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen, welche dadurch die Meinige ist, zu ihrem substantiellen Zwecke, da sie einen solchen nicht in sich selbst hat, ihrer Bestimmung und Seele meinen Willen erhält, – absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen.«102 Aus dem abstrakten Begriff der Person ergibt sich demnach ein unmittelbares, notwendiges Verhältnis von Person und Sache. Hegel lehnt deshalb auch die traditionelle Trennung von Personen- und Sachenrecht, die für das römische Recht und auch noch für die Rechtsphilosophie Kants konstitutiv war, ab; da »nur die Persönlichkeit ein Recht an Sachen gibt«, sei »das persönliche Recht wesentlich Sachenrecht (…).«103 Indem die einzelne, unmittelbare Rechtsperson ihrem freien Willen in äußeren Sachen ein Dasein gibt und 98
GPR, § 41. Vgl. Jaeschke 2003, S. 378. 100 GPR, § 41. 101 Ebd., § 42. 102 Ebd., § 44. Sklaverei, in der Menschen, denen aufgrund ihrer Geistigkeit wesentlich auch Freiheit und Persönlichkeit zukommen, zur Sache gemacht werden, ist damit ausgeschlossen (vgl. GPR, § 57 Anm.; Ho, S. 226 f.). Auch der sklavenhafte Status der Kinder, bspw. im römischen Recht, wird von Hegel mit diesem Argument kritisiert. Zwar sind Kinder noch keine voll entwickelten geistigen Wesen, aber da sie der Möglichkeit nach geistige Wesen sind, dürfen sie nicht zur Sache gemacht werden (vgl. GPR, § 175 Anm.; § 180 Anm.; § 43 Anm., S. 56, 21 f.; vgl. II.2.4.1). 103 GPR, § 40 Anm. Zur Bedeutung der Unterscheidung von Personen- und Sachenrecht in der Philosophie Kants und zu ihrer Kritik durch Hegel vgl. II.2.2.8.2. 99
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sich in ihr als freier Wille gegenständlich wird, wird die Sache zu ihrem Eigentum. Das Eigentum als Ausdruck ihres freien Willens ist somit zugleich Mittel und Selbstzweck, denn in ihm gibt sich der freie Wille ein unmittelbares Dasein.104 Im Eigentum kommt es also nicht – wie im bloßen Besitz – primär darauf an, die Sache aufgrund ihrer Eigenschaften, mit denen ich bestimmte Bedürfnisse befriedigen kann, in meine Gewalt zu bringen;105 als Eigentum dient die Sache wesentlich überhaupt als Ausdruck meines freien Willens; dass sie besondere Bedürfnisse befriedigt, ist dabei zweitrangig. Wesentlich und vernünftig ist folglich, dass jede Person überhaupt Eigentum besitzt, während die Quantität und Qualität des Eigentums einer Person nach Hegel zufällig sind.106 Da der Wille im abstrakten Recht sich in einzelnen, unmittelbaren Personen realisiert, ist das Eigentum unmittelbar bestimmt als Privateigentum.107 Nach Hegel kann das Recht auf Privateigentum somit unmittelbar aus dem Begriff des freien Willens abgeleitet werden. Zwar könne es innerhalb des vernünftigen Rechtsstaates auch Formen gemeinschaftlichen Eigentums geben, aber das Recht auf Privateigentum sei dennoch eine Grundbedingung dafür, dass die freie Entfaltung der Individuen, ihr Recht auf subjektive Besonderheit, gewährleistet ist. Staaten, die ihren Bürgern dieses Recht nicht zuerkennen – wie z. B. der von Platon in der Politeia entworfene ›Idealstaat‹ – sind daher nach Hegel in ihrer Sittlichkeit und damit in ihrer Freiheit noch beschränkt.108 Da das Eigentum der sachliche Ausdruck des freien Willens der Person ist, muss es Hegel zufolge von allen anderen Personen respektiert werden. Unverletzlich ist jedoch nicht nur das Privateigentum, sondern in besonderem Maße der lebendige, organische Körper der Personen. Da sich die Persönlichkeit im abstrakten Recht nur in unmittelbar einzelnen Personen realisiert, die aufgrund ihrer Unmittelbarkeit auch natürlich sind und somit einen organischen Körper haben, ist eine existenzielle Bedrohung der Leiblichkeit eine Bedrohung der Freiheit der Person, denn die Leiblichkeit ist die Existenzweise dieser Freiheit. Zugleich ist jedoch notwendig, dass die Individuen ihr Leben und ihren Körper auch als Ausdruck ihres Willens und ihrer Freiheit begreifen. In diesem Sinne müssen Individuen sich ihren Körper willentlich aneignen, ihn »wie andere Sachen«109 auch zum Ausdruck ihres
104 105 106 107 108 109
Vgl. GPR, § 45 Anm. Vgl. ebd., § 45. Vgl. ebd., § 49. Vgl. ebd., § 46. Vgl. ebd., § 185 Anm., S. 161, 25 f.; GPR, § 46 Anm.; vgl. auch II.1.3.3; II.2.3. GPR, § 47.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Willens machen, ihn in Besitz nehmen.110 Da Menschen ihr eigenes Leben wollen können, haben sie auch ein Recht auf dieses Leben, denn der Wille ist Ausdruck der Freiheit, die selbst nichts anderes als Recht ist. Tiere dagegen können, da sie keinen Willen haben, auch kein Recht auf ihr Leben besitzen. Tiere können daher Hegel zufolge zur Sache, zum Privateigentum werden, Menschen dagegen nicht.111 Personen müssen andere Personen also als Freie in ihrem Körper respektieren, denn der Leib ist das Dasein der Freiheit der Personen.112 Dieser Aspekt des Respekts der Leiblichkeit, aus der Hegel später auch die Unveräußerlichkeit menschlichen Lebens folgert,113 wird von Bedeutung sein für Hegels Kritik an der kantischen Bestimmung der Ehe.114 Das Eigentum hat nun »seine nähern Bestimmungen im Verhältnisse des Willens zur Sache«115, die sich darstellen in der Besitznahme, dem Gebrauch und der Veräußerung.116 Diese Bestimmungen sollen hier nicht mehr analysiert werden, da sie für das Verständnis des Verhältnisses von Familie und Geschlecht nicht von wesentlicher Bedeutung sind. Abschließend soll noch einmal festgehalten werden, was nach Hegel die Sphäre des abstrakten Rechts ausmacht, damit später verständlich werden kann, warum das abstrakte Recht nur die erste, unmittelbare Darstellungsform der Freiheit ist: In der Sphäre des abstrakten Rechts kann sich der an und für sich freie Wille nicht vollendet realisieren, weil die Momente des Willens – Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – sich noch nicht voll entfalten können. Allgemeinheit und Einzelheit des Willens fallen noch unmittelbar zusammen, da die Freiheit des Einzelnen hier in der Allgemeinheit der reinen Beziehung auf sich selbst liegt. Die Besonderheit erscheint als eine der Freiheit äußerliche Bestimmung und kann daher nur die Form von äußerlichen Sachen, von Eigentum annehmen. Die Besonderheit der Individuen, subjektive Faktoren, kommen auf dieser Stufe der Realisation des Willens noch nicht zur Geltung. Da der eigentliche Willensinhalt zur Besonderheit zu zählen ist, die hier der Freiheit des Willens noch äußerlich ist, ist die Freiheit auf dieser Stufe formell und somit bloß abstrakt. An dem Verhältnis des Willens zu seinen besonderen Willensinhalten wird zudem ein weiteres Problem des abstrakten Rechts deutlich: Die Freiheit der Rechtsperson ist eine bloß vor110 111 112 113 114 115 116
Vgl. ebd., § 48. Vgl. GPR, § 47 Anm. und Gr, S. 195. Vgl. GPR, § 48. Vgl. Siep 1992, S. 195–216. Vgl. GPR, §§ 65–70. Vgl. II.2.2.8.2. GPR, § 53. Vgl. ebd., §§ 53–70; Ritter 1997.
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ausgesetzte Freiheit. Sie ist auf dieser Stufe nicht eine aus der Auseinandersetzung mit der ursprünglichen Bestimmtheit des Willens durch Triebe, Neigungen und Bedürfnisse erworbene und somit vermittelte Freiheit, sondern gilt als unmittelbare mit dem Ich gesetzt. Auf dieser Stufe bezeichnet die Freiheit somit bloß das abstrakte Moment der Möglichkeit der Freiheit überhaupt, das Moment der abstrakten Freiheit des Selbstbewusstseins. Damit ist aber über die reale Freiheit des Willens, über seine reale Fähigkeit, seine Freiheit auch in seinen Inhalten zu verwirklichen, noch nicht viel gesagt. Dieses abstrakte Moment der Freiheit ist zwar ein notwendiges, denn es enthält die Rechtsfähigkeit der Individuen, die Möglichkeit des Handelns in Form von Erlaubnissen oder Befugnissen. Es ist aber noch bloß negativ, da aufgrund ihres formellen Charakters die Freiheit nicht inhaltlich positiv bestimmt werden kann.117 Im abstrakten Recht hat sich der an und für sich freie Wille von der objektiven Seite her bestimmt, denn er hat sich in einer »äußere(n), unmittelbar vorgefundene(n) Welt«118 ein unmittelbares Dasein verschafft: in einer Sache, die er zu seinem Eigentum macht, sowie in den Verhältnissen, die daraus folgen. Dieses unmittelbare Dasein in einer Sache ist jedoch der Freiheit des Willens unangemessen, weil sich in dieser Unmittelbarkeit die Momente des Willens noch nicht vollständig entfalten können. Der Wille ist darin nur an sich an und für sich frei. Er muss deshalb Hegel zufolge die Entwicklung machen, nun auch für sich an und für sich freier Wille zu werden. Diese Entwicklung vollzieht sich in der Moralität, in der sich der Wille von der subjektiven Seite her bestimmt.119 117
Vgl. GPR, § 38. Hegel kritisiert an Kants Rechts- und Moralphilosophie, dass dort die Moral ein bloßes Sollen bleibt, sodass nach Kant die Freiheit nie wahrhaft realisiert ist und immer nur realisiert werden soll. Hegel möchte dagegen darauf hinaus, dass nur auf den noch formellen Standpunkten des Rechts und der Moralität eine Differenz zwischen dem Willen und seinem Begriff besteht, die dann als Differenz zwischen dem was ist und dem was sein soll erscheint. Diese Differenz wird nach Hegel in der Sittlichkeit aufgehoben, sodass sich dort die Freiheit realisieren kann und kein bloßes Sollen, sondern Wirklichkeit ist. Zum Sollen im abstrakten Recht vgl. GPR, § 86, zum Sollen in der Moralität vgl. GPR, § 108, zur Aufhebung des Sollens in der Sittlichkeit vgl. GPR, § 141. 118 GPR, § 34. 119 Um das Verhältnis von abstraktem Recht und Moralität wirklich begreifen zu können, muss man den Übergang von der einen Sphäre in die andere im Einzelnen nachvollziehen. Diesen Übergang soll der § 104 der Grundlinien leisten, der hier jedoch nicht behandelt werden kann, weil dazu der Abschnitt über das Unrecht genauer analysiert werden müsste (vgl. dazu Schnädelbach 2000, S. 213–218; Mohr 1997). Solche Übergänge begreiflich zu machen ist nach Hegel deshalb von besonderer Bedeutung, da die Inhalte, über die gesprochen wird, nur dadurch wahrhaft abgeleitet sind und in ihrem Zusammenhang dargestellt werden; genau das macht aber Hegel zufolge eine wissenschaftliche
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
II.1.3.2 Die Moralität Die Sphäre der Moralität soll hier nur kurz in ihren allgemeinen Bestimmungen charakterisiert werden.120 Die Bestimmungen im Einzelnen sind für Hegels Familien- und Geschlechtertheorie nicht unmittelbar relevant, da die subjektive Perspektive der Moralität in der Familiensittlichkeit aufgehoben ist und so zu einem untergeordneten Moment wird.121 Da sich Hegels Begriff der Sittlichkeit jedoch nur in Abgrenzung zur Moralität bestimmen lässt, muss zumindest in den Grundzügen verständlich sein, wie Hegel die Moralität bestimmt. Die Moralität stellt die nächste Stufe innerhalb der Entwicklung des an und für sich freien Willens dar, weil sich in ihr der Wille, der sich im abstrakten Recht noch bloß an sich realisiert hat, nun für sich realisiert. Der Wille bestimmt sich somit von der Unmittelbarkeit der abstrakten Rechtsperson zum reflektierten Subjekt fort.122 Als Subjekt hebt der Wille seine anfängliche Unmittelbarkeit auf, reflektiert sich in sich und ist so »für sich seyende Identität gegen das Ansichseyn und die Unmittelbarkeit«123. Seine Freiheit kann ihm damit nicht mehr in einer unmittelbar gegebenen, äußerlichen Sache, in einem Objekt, wirklich sein, sondern sie liegt im subjektiven, innerlichen Willen selbst. In der Sphäre der Moralität erlangen somit subjektive Faktoren, von denen im abstrakten Recht noch abstrahiert wurde, wie z. B. der Handlungsvorsatz, die Handlungsabsicht, die Wohlfahrt oder das Gewissen des Einzelnen, erstmals Geltung. Im Zentrum der Auseinandersetzung
Behandlung aus (vgl. GPR, § 2 Anm.). Schnädelbach macht darauf aufmerksam, dass Hegel, indem er einen Nachweis bringen möchte, dass das Recht aufgrund seiner inneren Entwicklung und Widersprüche in die Moralität übergeht, zugleich eine Kritik an Kants Rechts- und Tugendlehre sowie Fichtes Naturrechts- und Sittenlehre vorträgt, in denen Hegel zufolge Recht und Moralität jeweils abstrakt nebeneinanderstehen und eben nicht auseinander abgeleitet werden (vgl. Schnädelbach 2000, S. 218). 120 Vgl. dazu Jermann 1987, S. 101–144; Wood 1997; Schnädelbach 2000, S. 219–245. 121 Es ist problematisch, das Recht der Individuen, von ihrer Familie geliebt zu werden, als »moralischen Anspruch« zu bezeichnen, wie z. B. Brauer das tut (vgl. Brauer 2007, S. 72). Zwar ist es richtig, dass dieses Recht nicht juristisch eingefordert werden kann (vgl. II.2.1.3), aber wenn man es als »moralischen Anspruch« bezeichnet, setzt man die Trennung von Legalität und Moralität voraus, die nach Hegel jedoch in der modernen Sittlichkeit aufgehoben ist. Das Recht der Individuen, in der Familie geliebt zu werden ist sittlich, nicht moralisch, denn die Liebe macht die Sittlichkeit der Familie aus. 122 Hegel bestimmt den Begriff des Subjekts einmal im weiteren Sinne – dann ist damit jedes Selbstbewusstsein überhaupt gemeint – und einmal im engeren Sinne; das Subjekt im engeren Sinne ist die »für sich seyende Identität gegen das Ansichseyn und die Unmittelbarkeit« (GPR, § 105), die aus der Reflexion des Willens hervorgeht. 123 GPR, § 105.
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steht nun nicht mehr – wie noch im abstrakten Recht – bloß die Möglichkeit des Handelns als Erlaubnis oder Befugnis, sondern das konkrete Verhältnis des Subjekts zu seinen Handlungen.124 Modern gesprochen kann man Hegels Moralitätsbegriff daher auch als ›Handlungstheorie‹ auffassen.125 Moralität meint somit nicht allein das »Moralisch-gute«126, sondern ganz allgemein den Standpunkt, der die Subjektivität des Willens berücksichtigt und zu seinem Recht kommen lässt.127 In der Moralität wird anerkannt, dass die Freiheit – die bereits im an sich seienden Willen der Möglichkeit nach vorhanden ist – nur im subjektiven Willen wirklich sein kann.128 Hier realisiert sich somit das »Recht des subjectiven Willens«129, das Hegel folgendermaßen bestimmt: »Nach diesem Rechte anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als subjectives ist.«130 Die Moralität fordert also, dass nur das, was der subjektive Wille prinzipiell einsehen kann und als Ausdruck seines eigenen Willens begreifen kann, für ihn Geltung habe.131 Die Entwicklung der Moralität ist folgende: Zunächst setzt sich der subjektive (oder für sich seiende) Wille dem objektiven (oder an sich seienden) Willen, dem wahrhaft Allgemeinen, entgegen. Der Prozess der Moralität besteht darin, dass der subjektive Wille begreift, dass das Allgemeine nichts anderes ist als die Substanz seiner selbst: »(D)er Prozeß dieser Sphäre ist, den zunächst nur für sich seyenden Willen, der unmittelbar nur an sich identisch ist mit dem an sich seyenden oder allgemeinen Willen, nach diesem Unterschiede, in welchem er sich in sich vertieft, aufzuheben und ihn für sich als identisch mit dem an sich seyenden Willen zu setzen. Diese Bewegung ist sonach die Bearbeitung dieses nunmehrigen Bodens der Freyheit, der Subjectivität, die zunächst abstract nämlich vom Begriffe unterschieden ist, ihm gleich und dadurch für die Idee ihre wahrhafte Realisation zu erhalten, – daß der subjective Wille sich zum ebenso objectiven, hiemit wahrhaft concreten bestimmt.«132
124 125 126 127 128 129 130 131 132
Vgl. ebd., § 114. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 220. Vgl. Quante, 1993; Jaeschke 2003, S. 382 f. EPW, § 503, Anm. Vgl. GPR, § 108 Anm. Vgl. ebd., § 106. Ebd., § 107. Ebd. Vgl. auch GPR, § 124 und 132. Vgl. Brauer 2007, S. 24. GPR, § 106.
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Die höchste Stufe der Moralität und somit das Resultat ihrer Entwicklung ist, dass der subjektive Wille (als Gewissen, als reine Gewissheit seiner selbst) an sich (als ein Sollen) mit dem objektiven Willen (als dem abstrakten Guten) identisch gesetzt ist. Aus dieser an sich bereits vorhandenen, abstrakten Identität ergibt sich dann der Übergang zur Sittlichkeit, in der diese Identität auch für sich und konkret ist.133 Für Hegel ist der Standpunkt der Moralität eine der wesentlichen Errungenschaften der (christlichen) Moderne, in der erstmals das Recht der Besonderheit des Subjekts Geltung bekommt;134 er ist Hegel zufolge in der kantischen Moralphilosophie in vollendeter Weise auf den Begriff gebracht worden, indem Kant »die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht«135 herausgehoben hat. Kant hat damit dem subjektiven Willen (in der unendlichen Autonomie des Willens) ein unendliches Recht eingeräumt und ihn zugleich in Identität mit dem objektiven Willen (im Begriff der Pflicht, der der Vernunft gemäß sein muss) gesetzt. Hegel schreibt der praktischen Philosophie Kants im zweiten Teil mit dem Titel Die Moralität deshalb eine herausragende Bedeutung für die Philosophie der Neuzeit zu.136 Allerdings ist es nach Hegel notwendig, von der Moralität zur Sittlichkeit überzugehen, denn der moralische Standpunkt wie Kant ihn vollendet gedacht hat, führt zu einem »leeren Formalismus«137. In der kantischen Philosophie ist Hegel zufolge die Pflicht selbst nämlich völlig unbestimmt, ihre einzige Bestimmung ist, dass sie keinen Widerspruch enthalten dürfe; sie ist die formelle Übereinstimmung mit sich.138 Jeder bestimmte Inhalt für eine konkrete Handlung muss dadurch von außen kommen und kann aus dem Begriff der Pflicht selbst nicht abgeleitet werden. Ein weiterer zentraler Schwachpunkt der kantischen Moralphilosophie bzw. der Moralität überhaupt ist für Hegel, dass sie in der Antinomie »des perennirenden Sollens«139 verfangen bleibt und somit niemals angegeben werden kann, ob eine Hand133
Vgl. ebd., § 141. Die Moralität ist nur eine Form, in der sich das Recht der Besonderheit des Subjekts in der Moderne geltend macht. Andere Formen sind z. B. im Geschlechterverhältnis bzw. in der Ehe die Berücksichtigung der subjektiven Empfindung der Liebe, in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht auf freie Berufswahl oder in der christlichen Religion »der Zweck der ewigen Seligkeit des Individuums« (GPR, § 124 Anm.). 135 GPR, § 135 Anm.; vgl. dazu auch GPR, § 33 Anm. 136 Vgl. ebd., § 135 Anm.; Ho, 417 f., auch GPR, § 33 Anm. Der Frage, ob und wenn ja, wie weit Hegels Kritik an der kantischen Moralphilosophie berechtigt ist, kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. dazu Baum 1987; Ritter 1975. 137 GPR, § 135. 138 Vgl. ebd., § 135 Anm., S. 118, 15. 139 Ebd., § 135 Anm., S. 119, 1 f. 134
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lung wirklich gut ist oder nicht.140 Zu einem in sich bestimmten Inhalt und damit auch zu einem konkreten, lebendigen Guten, das in bestimmter Weise angibt, was zu tun ist, kommt man aber nur, wenn man von den wirklichen, substanziellen und objektiven Voraussetzungen ausgeht, die in der Sitte gegeben sind. Mit der kantischen Position wird dagegen ein Dualismus zwischen der inneren Moralität und der äußeren Wirklichkeit vorausgesetzt, der zu keiner wahrhaften Versöhnung beider Seiten mehr führen kann.141 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach Hegel die Moralität ein wichtiger Bestandteil der Moderne ist. In ihr wird anerkannt, dass nur durch tätige, sich ihrer selbst bewusste Subjekte, die als denkende Wesen Einsicht in ihr Tun haben können, das lebendige Gute realisiert wird. Der Innerlichkeit wird dabei Rechnung getragen. Dabei wird jedoch nicht gesehen, dass umgekehrt wiederum der subjektive Wille selbst zugleich abhängig ist von dem lebendigen Guten, da er nur ein Moment des an und für sich freien Willens ist. Er ist also in Abhängigkeit von einem ihm zunächst vorausgesetzten, objektiven und allgemeinen Willen, der im Recht und in den sittlichen Institutionen zur Darstellung kommt. Hegel kritisiert am Standpunkt der Moralität, dass grundsätzlich ein Gegensatz von Einzelwillen und Allgemeinwillen vorausgesetzt wird, der durch die damit ebenfalls vorausgesetzte Endlichkeit des Willens nicht mehr wahrhaft versöhnt werden kann. Geht man einmal von dieser endlichen Voraussetzung aus, ist es nicht mehr möglich, zu einer wahrhaften Übereinstimmung zu kommen. Die Übereinstimmung bleibt dann ein ewiges Sollen, eine formelle Identität.142 Aufgrund der Betonung der Subjektivität kann die objektive Seite des Willens, die Allgemeinheit des Willensinhalts selbst, nicht genügend Berücksichtigung finden. Hegel stimmt also zu, dass die subjektive Gesinnung ein wesentliches Moment der Freiheit ist und in der Moderne zu ihrem Recht kommen muss; aber ihr Inhalt ist dabei nicht bloß subjektiv, sondern objektiv – dem Subjekt somit auch vorausgesetzt. Hegel bringt diesen Gedanken auf die Formel: »Das Sittliche ist subjective Gesinnung aber des an sich seyenden Rechts.«143 Damit sind für Hegel in der Sittlichkeit Ansichsein und Fürsichsein des an und für sich freien Willens oder Subjektivität und Objektivität des Willens, Recht und Moralität vereint. Beide erweisen sich als bloße Momente der Sittlichkeit. Sie haben nur in der Sittlichkeit ihr Recht und ihre Bedeutung und
140 141 142 143
Vgl. dazu Marquard 1964. Vgl. dazu Ritter 1975, S. 222. Vgl. Marquard 1964. GPR, § 141 Anm., S. 135, 30 f.
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bleiben außerhalb ihres wirklichen Zusammenhangs – der Sittlichkeit – abstrakte und einseitige Momente. Wahrhaft realisieren kann sich der an und für sich freie Wille also nach Hegel erst in der dritten Sphäre, der Sphäre der Sittlichkeit. In dieser ist der Wille subjektiv und objektiv vollständig bestimmt ist, womit der vorausgesetzte Gegensatz von Subjektivität und Objektivität und somit auch von abstraktem Recht einerseits und Moralität andererseits aufgehoben ist. Da die Familie – neben der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat – zur Sphäre der Sittlichkeit gehört, soll im nächsten Kapitel ausführlicher auf diese Sphäre eingegangen werden.
II.1.3.3 Die Sittlichkeit Die Sittlichkeit ist nach Hegels Grundlinien die Sphäre, in der der an und für sich freie Wille sich vollkommen realisiert. In ihr ist der Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität, der noch für die Sphären des abstrakten Rechts und der Moralität kennzeichnend war, aufgehoben. Die Sittlichkeit ist Hegel zufolge die »Idee der Freyheit«144, weil in ihr die Freiheit ein äußerliches Dasein erlangt, das ihrem Begriff entspricht – und genau das ist nach Hegel die verwirklichte Idee: Einheit von Begriff und Realität.145 Eine solche Realisierung findet die Idee der Sittlichkeit und Freiheit im modernen Rechtsstaat mit den ihm untergeordneten Institutionen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft. In ihm sind abstraktes Recht und Moralität als Momente aufgehoben.146 Die Sittlichkeit als Idee realisiert sich nach Hegel jedoch nicht nur in ihren verschiedenen begrifflichen Momenten, sondern zugleich in verschiedenen historischen Entwicklungsstadien, die es zu berücksichtigen gilt, will man die moderne Sittlichkeit, in der alle Begriffsmomente vollständig entwickelt und realisiert sind, in ihrer Bedeutung erfassen. Historisch verschafft sich die Sittlichkeit nach Hegel zunächst auf bloß unmittelbare Weise Existenz: in der griechischen Polis.147 Erst im römischen Zeitalter bildet sich dann das abstrakte Recht und in der Neuzeit die Moralität heraus, die Voraussetzung für die volle Entfaltung der Sittlichkeit sind.148 144
Ebd., § 142. Vgl. ebd., § 141 Anm., S. 135, 24 f. 146 Vgl. ebd., § 33. 147 Vgl. Kapitel III der vorliegenden Arbeit. 148 Vgl. Hr, S. 290, 16–23. Die historische Entwicklung von der antiken Polis-Sittlichkeit über den Rechtszustand im römischen Zeitalter bis hin zur Moralität der Neuzeit stellt Hegel in der Phänomenologie dar. Dass die Sittlichkeit (als unmittelbare Sittlichkeit) der Moralität der Existenz nach vorausgeht, ergibt sich daraus, dass nach Hegel die 145
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Der Sittlichkeitsbegriff kann sich somit erst in der Moderne voll entwickeln und sich eine ihm angemessene Existenz verschaffen, wenn sich nämlich sowohl das abstrakte Recht als auch die Moralität bereits entwickelt haben. Nach Hegels Logik der Begriffsentwicklung muss sich die Sittlichkeit also zunächst als unmittelbare setzen, sich dann aus ihrer Unmittelbarkeit entzweien und Recht und Moralität als ihre Momente sich selbst voraussetzen, um diese Momente schließlich in der vermittelten Form in sich aufzuheben. Die erste, unmittelbare Existenz der Sittlichkeit in der antiken Polis hat Hegel in seinem Werk an zahlreichen Stellen, u. a. in der Phänomenologie, den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte dargestellt. Die antike Sittlichkeit zeichnet sich nach Hegel dadurch aus, dass das Individuum unmittelbar und vollständig im Allgemeinen aufgeht. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt es, Platon habe in seiner Politeia einen Gedanken zugrunde gelegt, der als »Prinzip der griechischen Sittlichkeit anzusehen ist, daß nämlich das Sittliche das Verhältnis des Substantiellen habe (…), – so daß jedes einzelne Subjekt den Geist, das Allgemeine zu seinem Zwecke, zu seinem Geiste und Sitte habe, nur aus, in diesem Geiste wolle, handle, lebe und genieße, – so daß dies seine Natur, d. i. seine zweite geistige Natur sei, das Subjektive es in der Weise einer Natur als Sitte und Gewohnheit des Substantiellen habe.«149 Hier wird der Gegensatz zur Moralität besonders deutlich: In der griechischen Sittlichkeit setzt sich das Individuum nicht als besonderer, subjektiver Wille dem Allgemeinen entgegen. Es weiß sich vielmehr als bloßes Moment dieses Allgemeinen, das ihm substanziell ist. Dadurch kann es ganz im Allgemeinen aufgehen und sich mit ihm identifizieren. In der griechischen Sittlichkeit findet nach Hegel keine Reflexion des Individuums darüber statt, was zu tun ist,150 sondern das Subjekt weiß, was zu tun ist,151 da es ihm durch
Moralität gar nicht für sich allein bestehen kann; die Moralität setzt in Wahrheit – auch wenn sie sich dessen nicht unbedingt bewusst ist – immer schon einen gesellschaftlichen, d. h. sittlichen Zusammenhang voraus. Als bloß subjektives Moment bedarf sie für ihre Wirklichkeit immer des ihr entgegengesetzten objektiven Moments (vgl. dazu GPR, § 141 Anm.). Umgekehrt bedarf die Sittlichkeit für ihre volle Entfaltung der Moralität. Sie bliebe ohne das entwickelte Moment der Moralität bloß unmittelbar. 149 TWA 19, S. 113 f. 150 Vgl. GPR, § 147. 151 Vgl. PhG, S. 252, 7 f.
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die Sitte und Gewohnheit vorgegeben ist. In der griechischen Sittlichkeit hat sich auch noch kein abstraktes Recht herausgebildet. Auch wenn Hegel, wie viele andere seiner Generation, in seiner Jugend von der Begeisterung für die griechische Polis-Sittlichkeit ergriffen war, so thematisiert er dennoch schon in der Phänomenologie die Beschränktheit dieser frühen Form von Sittlichkeit (vgl. Kapitel III). Im Naturrechtsaufsatz (1802/03) hatte er das Hereinbrechen der Subjektivität in die Sittlichkeit noch vorwiegend als tragischen Verlust aufgefasst,152 aber bereits in der Phänomenologie, wie zuvor bereits ausdrücklich im Systementwurf III (1805/06),153 konnte er anerkennen, dass dem Bedürfnis nach individueller Entfaltung und nach Realisierung der subjektiven Besonderheit und Freiheit Rechnung getragen werden muss, weil die subjektive Besonderheit selbst ein Moment der Freiheit ist. Der Mangel der griechischen Sittlichkeit liegt demnach in ihrer Unmittelbarkeit und Unreflektiertheit, in der die subjektive Freiheit sich nicht realisieren kann.154 Zwar ist es nach Hegel Ausdruck der Freiheit und Sittlichkeit, dass das Individuum sich eins weiß mit der Gemeinschaft, in der es lebt, aber es ist zugleich Ausdruck mangelnder Entwicklung, dass das Individuum sich dabei nicht in seiner Besonderheit entfalten kann, sondern vollständig im Allgemeinen des Gemeinwesens aufgeht. Die subjektive Freiheit und Besonderheit der Individuen kommt nach Hegel erst in der Moderne zu ihrem Recht, in der die Moralität neben anderen Formen des subjektiven Willens ein integraler Bestandteil der Sittlichkeit ist.155 Es ist nach Hegel das Verdienst der kantischen Moralphilosophie, das Prinzip der Subjektivität und der Selbstbestimmung des Willens vorbildlich entwickelt zu haben.156 Neu in der Moderne ist »die subjektive Willkür der Individuen, die Moral; daß die Individuen nicht aus Achtung, Ehrfurcht für die Institutionen des Staats, des Vaterlandes aus sich heraus handeln, sondern aus eigener Überzeugung, nach einer moralischen Überlegung einen Entschluß aus sich fassen, sich danach bestimmen.«157 So bedeutend die Moralität für die Entwicklung der subjektiven Freiheit auch ist, so ist sie nach Hegel dennoch für die vollendete Realisierung der Freiheit nicht zu verabsolutieren, sondern in eine vermittelte Form der Sittlichkeit 152 153 154 155 156 157
Vgl. Schnädelbach 2000, S. 246. Vgl. Jaeschke 2003, S. 172. Vgl. dazu TWA 19, S. 114. Vgl. GPR, § 124 Anm., S. 110, 9 f. Vgl. ebd., § 135; II.1.3.2. TWA 19, S. 114.
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zu integrieren. Hegels Sittlichkeitsbegriff versteht sich somit auch als eine Kritik der kantischen Ethikkonzeption.158 Nach Hegel muss die individuelle Besonderheit auch im modernen Rechtsstaat ein untergeordnetes Moment des allgemeinen Staates sein. Die Subjektivität des Willens ist demnach nur die absolute Form, die sittliche Substanz dagegen der absolute Inhalt.159 Auch in der modernen Sittlichkeit wird somit die Objektivität und Substanzialität der Sittlichkeit anerkannt und gilt als das Wesentliche. Die Sittlichkeit verschafft sich nach Hegel in der griechischen Polis also zunächst eine bloß unmittelbare Existenz. Sie kommt erst in der Moderne zu einer vermittelten und voll entwickelten Existenz, die ihrem Begriff vollendet entspricht. Aus den verschiedenen Entwicklungsstadien der Sittlichkeit – von ihrer ersten, unmittelbaren Form in der Antike zu ihrer vermittelten und vollendeten Form in der Moderne – ergibt sich die unterschiedliche Behandlung von Sittlichkeit und Moralität in der Phänomenologie und in den Grundlinien.160 Aufgrund der ihr eigenen Methode untersucht die Phänomenologie im Geistkapitel, wie der Geist zunächst unmittelbar auftritt und dann seine weiteren Bestimmungen entfaltet. Sie beginnt daher mit dem ersten unmittelbaren Erscheinen des Geistes als Geist in der antiken Sittlichkeit und stellt dann seine weitere Entwicklung dar. Da der Geist im Geistkapitel der Phänomenologie erstmals als Geist erscheint und somit nicht mehr in »Gestalten nur des Bewußtseyns«, sondern in »Gestalten einer Welt«161, entspricht die Behandlung des Geistes im Geistkapitel der Phänomenologie insgesamt dem Erscheinen des Geistes in der Geschichte: So wird zunächst die griechische Polis-Sittlichkeit dargestellt, dann das abstrakte Recht, wie es im römischen Recht historisch erstmals entwickelt wurde, und schließlich die Moralität der Moderne. Dagegen halten sich die Grundlinien aufgrund der methodischen Differenz von Phänomenologie und Grundlinien an die begriffliche Abfolge, die sich aus der Entwicklung des an und für sich freien Willens ergibt.162 Sie behandeln daher den Begriff des Rechts zunächst in seiner abstrakten und unmittelbaren Form – als abstraktes Recht –, dann in seiner reflektierten Form, als Moralität; und schließlich die Einheit dieser zwei
158
Zu Hegels Kritik an Kants Ethikkonzeption, die er als formalistisch bezeichnet, vgl. Ritter 1975; Baum 1987; Schnädelbach 2000, S. 247; Wood 1997. 159 Vgl. GPR, § 152. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 247. 160 Es handelt sich also bei Hegels Begriff der Sittlichkeit in den Grundlinien nicht um eine Modifikation der Konzeption in der Phänomenologie, wie häufig behauptet wird (vgl. z. B. Fan 1998, S.128 ff.), sondern um den Unterschied zwischen einer systematischen und einer historischen Darstellung. 161 PhG, S. 240, 6 f. 162 Vgl. Jaeschke 2003, S. 190.
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Momente, die moderne Sittlichkeit. Historische Aspekte spielen für Hegels Darstellung der drei verschiedenen Entwicklungsstufen des freien Willens in den Grundlinien daher keine wesentliche Rolle; sie werden lediglich in den Anmerkungen und Zusätzen erwähnt, um das Verhältnis von historischer und begrifflicher Entwicklung zu verdeutlichen und um Vorstellungsmaterial für die begrifflichen Zusammenhänge zu bieten. In den §§ 142–157 der Grundlinien bestimmt Hegel die Sittlichkeit in ihren Grundzügen. Die Entfaltung der Sittlichkeit als Idee der Freiheit stellt er dann im Einzelnen in den Paragrafen zur Familie, zur bürgerlichen Gesellschaft und zum Staat dar. Obwohl die §§ 142–157 Hegels Behandlung der modernen Sittlichkeit einleiten – denn es handelt sich ja um die Darstellung der Grundlinien –, fällt auf, dass ein Großteil der Bestimmungen auch auf die antike Sittlichkeit zutrifft.163 Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn antike und moderne Sittlichkeit müssen ja in wesentlichen Hinsichten übereinstimmen – sonst handelte es sich nicht um ein und denselben Begriff in seiner Entwicklung; die antike Sittlichkeit könnte dann nicht als die unmittelbare und anfängliche Darstellungsform der Sittlichkeit gelten. Neben der Identität beider Entwicklungsstufen der Sittlichkeit muss andererseits jedoch in der modernen Sittlichkeit auch die Differenz zur antiken Sittlichkeit zum Ausdruck kommen; es muss sich also zeigen, dass sie entwickelter und in sich differenzierter ist und im Gegensatz zur antiken Sittlichkeit dem Moment der Subjektivität und der Besonderheit Raum gewährt. Auf Identität und Differenz beider Entwicklungsstufen wird im Folgenden aufmerksam gemacht. In den Eröffnungsparagrafen des dritten Teils, der den Titel Die Sittlichkeit trägt, macht Hegel zunächst noch einmal die Differenz von Sittlichkeit und Moralität besonders deutlich. Die Sittlichkeit ist demnach »die Idee der Freyheit, als das lebendige Gute«164. Das Gute ist hier nicht mehr, wie noch in der Moralität, bloß die abstrakte Idee des Guten, die der subjektive Wille »zum Zwecke machen und vollbringen soll«165, die jedoch inhaltlich völlig unbestimmt ist und nie wahrhaft realisiert sein kann; es ist Hegel zufolge vielmehr konkret und lebendig,166 d. h. in sich bestimmt und tätig hervorgebracht. Es realisiert sich durch die Subjektivität der Individuen, denn es hat »in dem Selbstbewußtseyn sein Wissen, Wollen, und durch dessen Handeln 163
Vgl. Peperzak 1997, S. 184. GPR, § 142. 165 Ebd., § 131. Mit seinem Begriff des konkreten und lebendigen Guten kritisiert Hegel Kants Begriff des ›höchsten Guts‹, das nach Hegel der bloß abstrakten Idee des Guten entspricht (vgl. Peperzak 1997, S. 168). 166 Vgl. GPR, § 142. 164
II.1 Einleitung
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seine Wirklichkeit«167; zugleich ist es jedoch dem handelnden Selbstbewusstsein immer schon vorausgesetzt, denn das Selbstbewusstsein hat »an dem sittlichen Seyn seine an und für sich seyende Grundlage und bewegenden Zweck«168. Die Sittlichkeit ist somit nach Hegel der »zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseyns gewordene Begriff der Freyheit«169. Die Sittlichkeit als Idee der Freiheit ist damit die Einheit von Begriff und Dasein der Freiheit. Sie ist nach Hegel also auch Einheit von Substanz und Subjekt. Obwohl in der Sittlichkeit Substanz und Subjekt, Dasein und Begriff identisch sind, sind sie jedoch für das sittliche Bewusstsein zugleich auch unterschieden; Hegel begründet den in der Sittlichkeit vorhandenen Unterschied damit, dass die Einheit von Begriff und Dasein in der Sittlichkeit Wissen ist, d. h. ein Verhältnis des Bewusstseins.170 Im Bewusstsein sind durch den Bewusstseinsgegensatz Substanz und Subjekt oder Dasein und Begriff der Freiheit trotz ihrer Identität zugleich unterschieden, aber so »daß nunmehr jedes für sich selbst die Totalität der Idee ist, und sie zur Grundlage und Inhalt hat«171. Die Sittlichkeit enthält somit für das sittliche Bewusstsein die zwei unterschiedenen Momente der Substanz und des Subjekts, die aber beide Totalitäten der einen Sittlichkeit sind, sodass beide ebenso substanziell wie subjektiv sind. Der Bewusstseinsgegensatz ist jedoch nicht nur eine Form, in der sich die Sittlichkeit für das sittliche Bewusstsein darstellt. Dadurch, dass das sittliche Bewusstsein als handelndes selbstbewusstes Subjekt selbst ein wesentliches Moment der Sittlichkeit ist, ist die Sittlichkeit in ihrer Wirklichkeit eine in sich unterschiedene Einheit oder Identität von Identität und Unterschied.172 Dass Hegel hier aus dem Wissen und damit aus der Bewusstseinsdifferenz die Sittlichkeit als in sich unterschiedene Einheit aufweist, ist mit Hinsicht auf den Abschnitt zur antiken Sittlichkeit in der Phänomenologie insofern bemerkenswert, als das sittliche Bewusstsein in der griechischen Sittlichkeit aufgrund seiner Unmittelbarkeit erst schmerzlich erfahren muss, was es tatsächlich bedeutet, dass die Sittlichkeit sowohl substanziell wie subjektiv ist. Da sich der in der Sittlichkeit vorhandene Unterschied dort nur unmittelbar darstellen kann, nimmt er die Form zweier unterschiedener Gesetze an. Die Sittlichkeit erscheint dort einerseits als Bewusstsein, das vor allem um die Subjektivität der Sittlichkeit weiß (als menschliches Gesetz) und anderer167 168 169 170 171 172
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., § 143. Ebd. Vgl. dazu auch Schnädelbach 2000, S. 247.
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seits als ein Bewusstsein, das gerade die Substanzialität oder Objektivität der Sittlichkeit zum Gegenstand hat (als göttliches Gesetz). Dass beide Gesetze nur einseitige Darstellungsweisen der sittlichen Substanz sind, die sowohl subjektiv wie objektiv ist, erfährt das sittliche Bewusstsein erst durch seine Handlung. Aufgrund seiner Unmittelbarkeit kann das sittliche Bewusstsein in der griechischen Sittlichkeit die mit der Handlung hereinbrechende Differenz nicht mit der bloß unmittelbaren Form seines Wissens von der Sittlichkeit vereinbaren. Während in der modernen Sittlichkeit die in sich unterschiedene Identität der Sittlichkeit eine gewusste ist und es daher auch ein Bewusstsein der Vermittlung gibt, vergisst das sittliche Bewusstsein in der griechischen Sittlichkeit aufgrund seiner Unmittelbarkeit die in der Sittlichkeit vorhandene Vermittlung.173 Die in der Sittlichkeit vorhandene Differenz fällt ihm aufgrund seiner Unmittelbarkeit in eine unterschiedslose Einheit zusammen. Es muss daher leidvoll erfahren, dass die Sittlichkeit in Wahrheit in sich vermittelt ist; indem es »den Widerspruch seines Wissens von der Sittlichkeit seines Handels – mit dem was an und für sich sittlich ist«174 erfährt, geht es schließlich unter.175 Da das Sittliche als Einheit von Begriff und Dasein zugleich aufgrund der Bewusstseinsdifferenz in sich unterschieden ist, stellt es sich auf eine objektive und auf eine subjektive Weise dar. Hegel bestimmt nun im § 144 und § 145 zunächst, wie sich das Sittliche von der objektiven Seite her darstellt. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Sittliche sowohl als Objektives wie als Subjektives jeweils zugleich subjektiv und objektiv ist. Das Sittliche stellt sich von der objektiven Seite her als ein in sich bestimmter Inhalt dar, der, weil er von den Subjekten gewusst, gewollt und tätig realisiert wird, die unendliche Form der Subjektivität hat;176 aufgrund der Subjektivität ist das objektiv Sittliche eine in sich unterschiedene Einheit, deren Unterschiede sich aus dem Begriff der Freiheit und des freien Willens entwickeln lassen. Das objektiv Sittliche sind »die an und für sich seyenden Gesetze und Einrichtungen«177, die von allen Individuen als gültig anerkannt werden und »über das subjective Meynen und Belieben«178 erhaben sind, weil ihr bestimmter Inhalt aus dem Begriff der Freiheit selbst hervorgegangen ist. Die an und für sich seienden Gesetze und Institutionen, das an und für sich seiende Recht, stellen nach Hegel die objektive Form dar, in der die natürlichen 173 174 175 176 177 178
Vgl. PhG, S. 253, 11–15. Ebd., S. 241, 15 f. Vgl. dazu III.2.3. Vgl. GPR, § 144. Ebd. Ebd.
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Triebe, die dem Willen zunächst als Inhalt nur vorausgesetzt waren und ihm aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und natürlichen Form nicht adäquat waren, in ein »vernünftige(s) System der Willensbestimmung«179 gebracht worden sind.180 Dass die Institutionen und Gesetze nach Hegel nichts anderes sind als die objektive und vernünftige Form der zunächst bloß natürlichen und unmittelbaren Triebe, ist entscheidend für das Verständnis der Familie als sittlicher Institution: Denn die Familie ist nach Hegel eine der sittlichen Institutionen, in der eine solche Transformation der natürlichen Triebe stattfindet. Als vernünftiges System der Willensbestimmung ist das Sittliche nach Hegel »die Freyheit oder der an und für sich seyende Wille als das Objective, Kreis der Nothwendigkeit, dessen Momente die sittlichen Mächte sind, welche das Leben der Individuen regieren und in diesen als ihren Accidenzen, ihre Vorstellung, erscheinende Gestalt und Wirklichkeit haben.«181 Nach der objektiven Seite sind die Individuen also nur die Agenten des Sittlichen, dem sie untergeordnet sind; sie sind bloße Akzidenzien der sittlichen Substanz. Diese Formulierung klingt enorm repressiv und scheint allen Kritikern der hegelschen Rechtsphilosophie recht zu geben, die ihm, wie z. B. Karl Popper, vorwerfen, er habe die Freiheit des Einzelnen zugunsten einer totalitären Staatsform geopfert.182 Bei dieser Formulierung darf jedoch nicht übersehen werden, dass diese Darstellung nur eine Seite der Sittlichkeit betrifft, eben die Seite des objektiv Sittlichen. Indem Hegel betont, dass die Individuen nur Akzidenzien des Sittlichen sind, macht er deutlich, dass die Individuen ihre Wirklichkeit nur in einem objektiven Zusammenhang, dem Sittlichen haben. Das Sittliche ist demnach nicht zusammengesetzt aus selbständigen, atomistischen Individuen, sondern es ist eine wirkliche Substanz, ein in sich gegliedertes Ganzes, in dem die Individuen nur Momente dieser Einheit sind und diese tätig realisieren.183 Nach Hegel ist es wesentlich, zu begreifen, dass die Individuen in Wahrheit nur in dem ihnen vorausgesetzten sittlichen Zusammenhang existieren können. Das heißt jedoch nicht, dass die Individuen ihr Leben lang nur ›Spielball‹ der sittlichen Mächte sind. Vielmehr können die Individuen, indem sie das Sittliche in seiner Substanzialität begreifen, ihren Status als bloße Akzidenzien der 179 180
Ebd., § 19. Vgl. ebd., § 145; auch GPR, § 11; GW 14,2, S. 337, 5 f.; GPR, § 150 Anm.; EPW, § 474
Anm. 181 182 183
GPR, § 145. Vgl. Brauer 2007, S. 221. Vgl. Ho, S. 503.
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sittlichen Substanz aufheben.184 Dazu ist aber ein historischer Prozess notwendig. Ein freies Verhältnis zur objektiven Sittlichkeit, in dem diese subjektiv angeeignet ist, mussten sich die Menschen nach Hegel – und wohl auch unbestreitbar in der Realität – erst im Laufe der Geschichte erwerben. In der Nachschrift von Hotho heißt es daher, dass den Menschen in früheren Zeiten die Sittlichkeit als eine sie beherrschende Macht erschien, gegen die sie als Individuen nicht ankommen können.185 In vormodernen Zeiten war deshalb die objektive Seite der Sittlichkeit im Bewusstsein der Individuen noch vorherrschend und die subjektive Seite, die eine Aneignung und eine weitere Transformation des objektiv Sittlichen ermöglicht, noch kaum ausgebildet. Hält man sich einseitig nur an die objektive Seite der Sittlichkeit, so scheint es so, als habe der sittliche Mensch kein Bewusstsein des Sittlichen und als sei er diesem bloß untergeordnet. Auf eine solche einseitige Weise fasst die tragische Figur der Antigone in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles die Sittlichkeit, wenn sie sagt, dass die Gesetze ewig seien und dass keiner wisse, woher sie kommen.186 Während in der Vormoderne insgesamt und auch in der griechischen Antike die objektive Seite der Sittlichkeit im Bewusstsein der Individuen noch vorherrscht und sich ein Bewusstsein der Subjektivität und des subjektiven Willens erst herausbilden muss, besteht nach Hegel in der Moderne viel eher die Gefahr, dass das Bewusstsein für die Objektivität und Substanzialität der Sittlichkeit verloren geht. Eine solche Missachtung der objektiven Grundlage sittlicher Verhältnisse kommt nach Hegel insbesondere in den neuzeitlichen Staatsvertragstheorien zum Ausdruck, in denen die Individuen als selbständige, autarke, einzelne Individuen vorausgesetzt werden und man die sittlichen Verhältnisse so denkt, als könne man sie durch einen gemeinsamen Vertrag dieser Individuen allererst hervorbringen. Dabei wird nach Hegel verkannt, dass nicht die Individuen als einzelne gemeinsam die Sittlichkeit hervorbringen, sondern dass die sittlichen Verhältnisse den Individuen vorgeordnet sind und sie nur in ihnen Wirklichkeit haben können. Während es in der Antike also noch einer zunehmenden Subjektivierung der Sittlichkeit bedarf, ist in der Moderne Hegel zufolge immer wieder die Objektivität des Sittlichen in Erinnerung zu rufen, durch deren Macht die Individuen bzw. auch die einzelnen Staaten, wenn sie sie missachten, untergehen werden. Es geht Hegel nicht darum, die Objektivität der Sittlichkeit autoritär, mit moralischem Druck oder ideologischen Argumenten gegenüber den Individuen durchzusetzen, sondern vielmehr 184 185 186
Vgl. EPW, § 514. Vgl. Brauer 2007, S. 209–231. Vgl. Ho, S. 485. Vgl. ebd.; GPR, § 166 Anm.; auch PhG, S. 236, 7–11; TWA 18, S. 443.
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darum, darauf aufmerksam zu machen, dass sie ein wesentliches Moment der Wirklichkeit ist, das als solches anerkannt werden muss. Wenn Hegel recht hat, muss die Ignoranz gegenüber dieser Wirklichkeit der Objektivität der Sittlichkeit zurückschlagen. In den §§ 144/145 hat Hegel bisher nur die objektive Seite des Sittlichen dargestellt. In den §§ 146–154 wird nun die subjektive Seite der sittlichen Substanz entwickelt. Die sittliche Substanz ist subjektiv, sich wissend dadurch, dass die Individuen sie zu ihrem Gegenstand haben, dadurch, dass sie »Object des Wissens«187 ist. Es geht in den folgenden Paragrafen also darum, in welcher Form die Subjekte die sittliche Substanz zum Gegenstand haben.188 Unmittelbar genommen haben für das Subjekt »die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten einerseits als Gegenstand das Verhältniß, daß sie sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit, – eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht, als das Seyn der Natur.«189 In diesem Sinne ist die sittliche Substanz – wie bereits erläutert – von Antigone aufgefasst worden. Als Gegenstand des Bewusstseins hat das Sittliche die Form eines festen Seienden. Durch den Vergleich mit der Natur unterstreicht Hegel nochmals, dass die sittlichen Gesetze und Einrichtungen für die Menschen zunächst wie die Natur eine Macht darstellen, die ihnen vorausgesetzt ist, nach der sie sich richten müssen, wie nach den Naturmächten auch.190 Dass die sittlichen Verhältnisse wie die Natur den Menschen zunächst vorausgesetzt sind, macht gerade ihre Gegenständlichkeit, d. i. ihre Objektivität aus. Wären die sittlichen Verhältnisse, Gesetze und Gewalten für die Subjekte bloß ein ihnen vorausgesetzter Gegenstand, wäre das Verhältnis des Subjekts zur sittlichen Substanz jedoch kein freies Verhältnis. Freiheit ist nach Hegel wesentlich Bei-sich-sein-im-Anderen. Freiheit ist also nur da, wo für das Subjekt der Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit und damit in seiner Fremdheit aufgehoben ist. Da die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten von den Subjekten gewusst und gewollt sind, sind sie »dem Subjecte nicht ein Fremdes, sondern es giebt das Zeugniß des Geistes von ihnen als von seinem eigenen Wesen, in welchem es sein Selbstgefühl hat, und darin als seinem von sich ununterschiedenen Elemente lebt, – 187 188 189 190
GPR, § 146. Vgl. Peperzak 1997, S. 168. GPR, § 146. Vgl. ebd., § 145 und Ho, S. 485.
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ein Verhältniß, das unmittelbar noch identischer, als selbst Glaube und Zutrauen ist.«191 Schon das unmittelbare sittliche Verhältnis in der Antike ist also ein freies Verhältnis, auch wenn noch nicht alle Momente der Freiheit in ihm realisiert sind. Das Individuum ist in der unmittelbaren Sittlichkeit ›wie ein Fisch im Wasser‹; es ist in der sittlichen Substanz ganz in dem ihm eigenen Element und weiß sich als Individuum eins mit der Gemeinschaft, in der es lebt, mit ihren Gesetzen und Gewalten. Dieses Identitätsgefühl, dieses Selbstgefühl ist nach Hegel so unmittelbar, dass in ihm – anders als im Glauben – keinerlei Reflexion enthalten ist. Hegel geht sogar so weit, zu sagen, dass das Verhältnis des Subjekts zur Substanz in der unmittelbaren Sittlichkeit im eigentlichen Sinne gar kein Verhältnis ist, sondern »Verhältniß-lose Identität«192, – denn ein Verhältnis setzt eine Vermittlung und Reflexion voraus. Erst in der Weiterentwicklung des Begriffs, in der Entfaltung der Momente des Begriffs, die sich auch in der geschichtlichen Entwicklung widerspiegelt, wird die anfängliche verhältnislose Identität zu einem reflektierten Verhältnis des Glaubens oder aber in entwickelterer Reflexion zu einer »Einsicht durch Gründe«193. Eine Erkenntnis der Identität von Substanz und Subjekt, »in der das Sittliche die wirkliche Lebendigkeit des Selbstbewußtseyns ist«194, ist nach Hegel erst im begreifenden Denken gegeben.195 Hegels Rechtsphilosophie leistet ihrem eigenen Anspruch nach eine solche adäquate Erkenntnis der Idee der Sittlichkeit, d. i. der Identität von Substanz und Subjekt. Indem jeder Bürger eines modernen Rechtsstaates zumindest potenziell die Möglichkeit hat, diese Identität zu begreifen, kann er nach Hegel seinen Status des bloßen Akzidens der Substanz aufheben und denkend die Totalität des objektiven Geistes erfassen.196 Damit kann er Hegel zufolge seine Freiheit in entwickelterer Form realisieren als noch der Bürger der griechischen Polis, der noch keine begriffliche Erkenntnis der Sittlichkeit haben konnte und somit dem objektiven Geist noch untergeordnet bleiben musste. Was objektiv in den Gesetzen als an und für sich seiendes Recht erscheint, hat subjektiv, weil es für das Subjekt substanziell und somit bindend ist, die Form von Pflichten. In den Pflichten setzt sich das Individuum die subs-
191
GPR, § 147. Ebd., § 147 Anm. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Es handelt sich also um vier Entwicklungsstufen: Selbstgefühl, Glauben/Zutrauen, Reflexion/Einsicht, Begreifen/Erkenntnis (vgl. Siep 1992, S. 230). 196 Vgl. EPW, § 514. 192
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ziellen Bestimmungen gegenüber und weiß sie zugleich als seine eigene tan Substanz. Eine ethische Pflichtenlehre kann nach Hegel also nicht aus dem »leeren Prinzip der Subjektivität« entwickelt werden – wie das Hegel zufolge Kant versucht hat; da die Pflichten letztlich nichts anderes sind als die objektiven Rechte, stellt eine Pflichtenlehre die »systematische Entwickelung des Kreises der sittlichen Nothwendigkeit«197 dar, – »die Entwickelung der Verhältnisse, die durch die Idee der Freyheit nothwendig (…) sind.«198 Die Pflicht ist nach Hegel – da sie in Wahrheit nichts anderes ist als das Recht – keine Beschränkung, sondern die substanzielle Freiheit der Individuen.199 Sie kann Hegel zufolge nur denjenigen als Beschränkung erscheinen, die die Freiheit des Willens entweder in die abstrakte Allgemeinheit des Willens oder aber in die Besonderheit des Willens legen, d. h. ein bloßes Moment des Begriffs des freien Willens verabsolutieren. In beiden Fällen setzt man einen beschränkten Begriff der Willensfreiheit voraus. Geht man vom abstrakt Allgemeinen des Willens, von der »unbestimmte(n) Subjectivität oder abstracte(n) Freyheit«200 aus, kann man jede Bestimmtheit des Willens – und die Pflichten sind substanzielle Bestimmungen des Willens – nur als Beschränkung des Willens auffassen. Der abstrakte Freiheitsbegriff legt die Freiheit des Willens in die (abstrakte) Allgemeinheit und Unbestimmtheit des Willens. Die Bestimmung oder Besonderung des Willens erscheint dann notwendig gegenüber dieser abstrakten Allgemeinheit und Unbestimmtheit als Beschränkung.201 Hegel hält dieser Vorstellung entgegen, dass der Wille als abstrakt allgemeiner und unbestimmter bloße Möglichkeit ist; nur in der Besonderung, als bestimmter Wille, ist der Wille wirklich. Gegenüber der abstrakten Möglichkeit des Willens ist die Bestimmtheit des Willens Realisierung und somit wirkliche Freiheit. Setzt man dagegen die Willensfreiheit einseitig in die subjektive Besonderheit des Willens, wie z. B. der natürliche und der moralische Wille das tun, die beide noch mangelhafte Entwicklungsstufen des freien Willens darstellen, stellt sich die Pflicht ebenso als Beschränkung dar. Das Allgemeine der Pflicht wird dann als Beschränkung der Besonderheit erfahren. Der natürliche Wille sieht in den Pflichten eine Beschränkung, weil sie von ihm verlangen, sich den besonderen natürlichen Trieben und Neigungen nicht einfach hinzugeben, sondern sie in ein vernünftiges System der Willensbestimmung zu bringen, d. h. sie einem allgemeinen Zusammenhang unterzu197 198 199 200 201
GPR, § 148 Anm. Ebd. Vgl. ebd., § 149. Ebd. Vgl. ebd., § 6 Anm.; vgl. II.1.2.2.
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ordnen. Er erkennt daher nicht, dass das bloße Bestimmt- und Getriebensein durch die Natur die eigentliche Unfreiheit und Abhängigkeit ist, aus der es sich zu befreien gilt.202 Auch der moralische Wille hält die Pflichten für eine Beschränkung seiner subjektiven Besonderheit, seiner Willkür, die für ihn seine Freiheit wesentlich ausmachen. Da er der Auffassung ist, dass seine subjektive Besonderheit dem objektiven Allgemeinheitsanspruch der Pflicht entgegengesetzt ist, er aber gerade in seiner Subjektivität seine Freiheit zu haben glaubt, wittert er in den Pflichten eine Einschränkung seiner subjektiven Rechte. Ein mangelndes Verständnis des Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonderheit des Willens ist insofern der Kern für die Fehleinschätzung, dass es sich in den Pflichten um eine Beschränkung der Freiheit handle, wo es sich doch nach Hegel um die eigentliche Realisierung handelt. In der Pflicht kommen Allgemeinheit und Besonderheit des Willens zusammen, weil der Wille in seiner wirklichen Freiheit zugleich allgemeiner und besonderer Wille ist. Verabsolutiert man eine der Seiten und hält sie für die eigentliche Freiheit, muss es notwendig so erscheinen als sei die Pflicht eine Beschränkung der Freiheit, weil sie gegenüber der Allgemeinheit die Besonderheit oder aber weil sie gegenüber der Besonderheit die Allgemeinheit geltend macht. Gegen diese beschränkte Vorstellung der Freiheit ist die Pflicht für das Individuum Hegel zufolge in jeder Hinsicht seine Befreiung »theils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe stehet, so wie von der Gedrücktheit, in der es als subjective Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, theils von der unbestimmten Subjectivität, die nicht zum Daseyn und der objectiven Bestimmtheit des Handelns kommt, und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freyheit.«203 Das Sittliche erscheint nun an den Individuen, die es tätig hervorbringen, daran, dass sie pflichtgemäß – und d. h. den sittlichen Gesetzen und Institutionen gemäß – handeln. In der Antike, in der die Individuen noch stark von der Natur bestimmt waren und einen natürlich bestimmten Charakter hatten,204 erschien das Sittliche an den Individuen noch vornehmlich als Tugend. In der Antike hat das pflichtgemäße Handeln noch die Form einer besonderen Veranlagung, die die »eigenthümliche geniale Natur des 202 203 204
Vgl. II.1.2.2; GPR, § 149 Anm. Ebd., § 149. Vgl. III.2.3.1.
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Individuums«205 ausmacht. In der Moderne ist die Natur dagegen durch gesellschaftliche Bildung auf einer höheren Stufe angeeignet. Bildung ist, wie es in der Nachschrift von Hotho treffend formuliert wird, »Glättung der Besonderheit«206, ein Heraustreten aus der bloßen Naturnotwendigkeit.207 Durch die allgemeine Bildung bestimmt die Natur die Individuen in der Moderne nicht mehr in demselben Maße wie noch in der Antike. Der besondere Charakter der Individuen tritt in der Moderne daher stärker in den Hintergrund zugunsten allgemein gebildeter Individuen;208 das pflichtgemäße Handeln der Individuen erscheint in der Moderne somit nicht mehr als eine natürliche Veranlagung zur Tugend, sondern als objektive »Angemessenheit (…) an die Pflichten«209, was Hegel als Rechtschaffenheit bezeichnet. Die kantische Frage »Was soll ich tun?« ist nach Hegel sowohl für den Menschen in der Moderne wie in der Antike einfach zu beantworten: »(E)s ist nichts anderes von ihm zu thun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist. Die Rechtschaffenheit ist das Allgemeine, was an ihn theils rechtlich, theils sittlich gefodert werden kann.«210 In Hegels Ausführungen zu Tugend und Rechtschaffenheit kommt somit deutlich seine Kritik an Kants Moralphilosophie zum Ausdruck. Kant hatte bloß pflichtgemäßes Handeln zur Legalität gezählt und nur Handeln aus Pflicht, in dem die Individuen die Pflicht um ihrer selbst willen wollen, als tatsächlich moralisches Handeln gewertet. Hegel will nun zeigen, dass in der Sittlichkeit das Individuum in Tugend oder Rechtschaffenheit, wenn es sein Handeln an den ihm vorausgesetzten allgemeinen Gesetzen und Institutionen ausrichtet, zugleich legal und sittlich handelt. Die kantische Unterscheidung von Legalität und Moralität ist somit nach Hegel in der Sittlichkeit aufgehoben.211 Die Pflicht ist nicht bloß subjektive Gesetzgebung – die Hegel zufolge aufgrund des Formalismus niemals zu konkreten Handlungsanforderungen kommen kann; sie erhält vielmehr in den objektiven sittlichen Einrichtungen ihre Bestimmtheit. Pflichten verdanken ihre Verbindlichkeit ihrem substanziellen Grund, den sittlichen Gesetzen und Institutionen. In diesem Sinne ist Hegels Ethik eine Institutionenethik, allerdings nicht im 205 206 207 208 209 210 211
GPR, § 150 Anm. Ho, S. 583. Vgl. GPR, § 187 Anm. Vgl. ebd., § 187; Ho, S. 582 f. GPR, § 150. Ebd., § 150 Anm., S. 140, 13 f. Vgl. Ritter 1975.
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Sinne eines bloßen Institutionenpositivismus, denn der Maßstab für die Bindungskraft der sittlichen Institutionen ist ihre Vernünftigkeit und Freiheit.212 Können die Individuen die vorhandenen sittlichen Gesetze und Einrichtungen nach bestem Wissen und Gewissen nicht mehr als Ausdruck ihrer Freiheit begreifen, so muss es nach Hegel zu Kollisionen der Individuen mit den staatlichen Institutionen kommen, die dann auch ihre sittliche Berechtigung haben, da sie nicht bloß auf der Eigenwilligkeit der Individuen beruhen, sondern substanziellen Charakter haben.213 Nach Hegel sind wahrhafte – und nicht bloß von einzelnen Individuen eingebildete – Kollisionen in der Moderne, d. h. unter »einem vorhandenen sittlichen Zustande, dessen Verhältnisse vollständig entwickelt und verwirklicht sind«214, sehr selten. Tugendhaftes, d. h. herausragendes charakterliches Verhalten ist nach Hegel »nur in außerordentlichen Umständen und Collisionen«215 gefordert. Im modernen Rechtsstaat wird – solange dieser Staat seinem Begriff entspricht – ein solches Verhalten nicht notwendig, da die Freiheit in den Institutionen objektiv und allgemein ist und nicht erst von den Individuen eingefordert werden muss.216 Bezieht sich das Individuum auf einen substanziellen Inhalt als seine Pflicht, unterscheidet es diesen Inhalt zunächst bewusst von sich, um sich dann in seinem Handeln auf ihn zu beziehen. Das Verhältnis der Individuen zur Pflicht setzt somit die Bewusstseinsdifferenz voraus. Da in der Sittlichkeit das objektiv Sittliche jedoch mit der Subjektivität identisch ist, weil es nur durch die Tätigkeit der Individuen wirklich ist, kann auch diese Bewusstseinsdifferenz wegfallen. Den Individuen ist dann das Sittliche so ›in Fleisch und Blut übergegangen‹, dass sie es nicht mehr als Pflicht von sich unterscheiden müssen; es ist vielmehr zur selbstverständlichen Gewohnheit geworden und erscheint als »allgemeine Handlungsweise«217 der Individuen, als Sitte. Hegel knüpft hier an die aristotelische Lehre des ethos und der hexis in der Nikomachischen Ethik an. In der Sitte als Gewohnheit ist das Sittliche für die Individuen zu ihrer zweiten Natur geworden.218 In der Anthropologie erläutert Hegel, inwiefern Gewohnheiten überhaupt als zweite Natur bezeichnet werden können. Die Gewohnheit ist demnach einerseits
212 213 214 215 216 217 218
Vgl. Schnädelbach 2000, S. 247 f. Vgl. AnK, S. 156, vgl. auch GW 14, 1, § 150 Anm. GPR, § 150 Anm. Ebd. Vgl. Peperzak 1997, S. 179 f.; Lübbe-Wolff 2009. GPR, § 151 Vgl. Ebd.
II.1 Einleitung
117
»Natur, denn sie ist ein unmittelbares Seyn der Seele.«219 Sie ist aber nicht erste oder bloß natürliche Natur, sondern »eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs-Willens-Bestimmtheiten, als verleiblichten (§. 401) zukommt.«220 Aufgrund der Unmittelbarkeit erscheint somit das Geistige zugleich als Natur, aber als eine vom Geist selbst gesetzte und somit zweite Natur. Auf der niedrigsten Stufe ist die Gewohnheit somit Ausdruck der Aneignung von Naturbestimmtheiten durch den Geist, auf der höchsten Stufe ist sie der zur Natur gewordene geistige Inhalt selbst, d. i. im Falle des Rechts die Freiheit, in der die Naturbestimmtheiten in ein vernünftiges System gebracht worden sind. Nach Hegel ist die Gewohnheit »der Existenz aller Geistigkeit im individuellen Subjecte das Wesentlichste, damit das Subject als concrete Unmittelbarkeit, als seelische Idealität sey, damit der Inhalt, religiöser, moralischer usf., ihm als diesem Selbst, ihm als dieser Seele angehöre, weder in ihm blos an sich (als Anlage), noch als vorübergehende Empfindung oder Vorstellung, noch als abstracte von Thun und Wirklichkeit abgeschiedene Innerlichkeit, sondern in seinem Seyn sey.«221 In der Gewohnheit ist das Individuum also ganz vom Geistigen durchdrungen; sie ist die Form, in der das Geistige im einzelnen Individuum ein beständiges äußeres Dasein hat. Indem das Sittliche in der Sitte für die Individuen zur Gewohnheit wird, ist es »die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseyns«222. In der Sitte kommt an den Individuen zum Ausdruck, dass ihr Wille nicht mehr bloß von der Natur bestimmt ist, sondern Geist geworden ist. Ihr Wille ist nicht mehr bloß natürlicher Wille, der noch ganz durch die einzelnen natürlichen Bedürfnisse bestimmt ist, sondern freier Wille, der nicht das Natürliche, sondern das Geistige, die Freiheit will.223 In der Sitte sind die natürlichen Bedürfnisse in ein vernünftiges System gebracht worden; in ihr können die natürlichen Triebe und Leidenschaf-
219 220 221 222 223
EPW, § 410 Anm. Vgl. ebd. Zu Hegels Begriff der Gewohnheit vgl. Merker 1995. EPW, § 410 Anm. GPR, § 151. Vgl. II.1.2.2.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
ten somit auf vernünftige Weise befriedigt werden, sodass die Menschen darin ein freies Verhältnis zu ihrer Natur haben. Die Sitte ist zwar einerseits die Handlungsweise der einzelnen Individuen, die ihnen zur Natur geworden ist, sie ist aber zugleich »allgemeine Handlungsweise« der Individuen, denn sie realisieren in der Sitte sich selbst als allgemeine Individuen, als allgemeines Selbstbewusstsein. Die Sitte kann sich dadurch nur im Verhältnis vieler Individuen zueinander realisieren; die vielen Individuen spiegeln sich in ihrer Allgemeinheit zugleich die Allgemeinheit des Sittlichen selbst. Die Sitte ist somit ein »Verhaeltniss von Subject zu Subject«224. Weil die Sitte sich nur als Verhältnis der Subjekte zueinander realisiert, ist sie nach Hegel eine Welt, genauer »der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist«225. In der Sitte ist die Identität des einzelnen Willens mit dem allgemeinen Willen als Anerkennungsverhältnis der verschiedenen Einzelwillen realisiert. Die Individuen haben die Identität ihres Einzelwillens mit dem Allgemeinwillen in den anderen Einzelwillen zum Gegenstand. Ihre Einigkeit mit dem Allgemeinen stellt sich dar als ihre Einigkeit mit den anderen Individuen in der Sitte.226 Das Bewusstsein der Einigkeit mit dem Allgemeinen ist somit nicht mehr bloß innerlich, wie in der Moralität, sondern in der äußeren Welt vorhanden. Damit ist der objektive Geist als allgemeiner Wille verwirklicht: im Anerkennungsverhältnis der einzelnen Willen, die selbst allgemein sind und sich gegenseitig in ihrer Allgemeinheit und Einzelheit anerkennen.227 Damit kommen nun sowohl Substanzialität wie Subjektivität der Sittlichkeit wahrhaft zur Geltung.228 Die Begriffe »Substanzialität« und »Subjektivität« sind im Gegensatz zu den Begriffen »Substanz« und »Subjekt« Verhältnisbegriffe. Sie machen deutlich, dass die Sittlichkeit das Allgemeine ist, das sich als Verhältnis der Subjekte zueinander realisiert und als dieses Verhältnis Dasein hat. Die Sittlichkeit stellt somit das objektiv gewordene, geistige Verhältnis der Subjekte zueinander und zu ihrer Natur dar. Indem sich die sittliche Substanz als Anerkennungsverhältnis der einzelnen Subjekte realisiert, ist die Subjektivität die »absolute Form«229 der Substanz. Die Subjektivität ist absolute Form, weil es nichts Sittlich-Substanzielles gibt, das nicht von ihr gewusst, gewollt und verwirklicht würde; und zugleich ist sie bloße Form, weil sie nur das Bewusstsein, das Wollen und der Agent des Sittlichen ist, 224 225 226 227 228 229
GW 14,2, S. 721, 1. GPR, § 151. Vgl. auch GW 14,2, S. 719; Gr, S. 408, 20 f. Vgl. GW 14,2, S. 719, 5; auch Gr, S. 408, 27 f. Vgl. II.2.2.3. Vgl. GPR, § 152. Ebd.
II.1 Einleitung
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nicht aber ihr Inhalt. Indem Hegel die Subjektivität als absolute Form des Sittlichen bezeichnet, grenzt er die Sittlichkeit von der Moralität ab, in der noch eine Differenz von Subjektivität und Objektivität, Einzelwillen und Allgemeinwillen, Subjekt und Substanz vorausgesetzt wurde. In der Sittlichkeit verschwinden »die Eigenwilligkeit und das eigene Gewissen des Einzelnen, das für sich wäre und einen Gegensatz gegen sie [die sittliche Substantialität, E. B.] machte.«230 »Dem Subjekt bleibt nichts übrig als die reine Form zu sein, in der die Sittlichkeit wirkt, die Subjektivität als solche ist nur die Form der Manifestation der Sittlichkeit, und das Subjekt ist nur sittlich, insofern es nichts Besonderes hat gegen das Sittliche, gegen die Substanz, aber es ist ganz darin bei sich, indem es sich darin zum Gegenstand hat.«231 Nach Hegel kommen in der Sittlichkeit die Individuen also dadurch zu ihrem Recht, sich subjektiv zur Freiheit zu bestimmen, dass sie die subjektive Gewissheit ihrer Freiheit haben und ihnen in der Sittlichkeit zugleich die Wahrheit dieser Gewissheit gegenständlich ist.232 Als Selbstbewusstsein, als denkender Wille, sind die Individuen nach Hegel zugleich einzeln und allgemein.233 In der Sittlichkeit können sie ihre Allgemeinheit in der Gemeinschaft mit anderen auch im äußeren Dasein, in den sittlichen Institutionen, realisieren. Sie besitzen somit Hegel zufolge »im Sittlichen ihr eigenes Wesen, ihre innere Allgemeinheit wirklich«234. Die Sittlichkeit ist somit die Realisation der Freiheit, weil die Individuen die sittliche Allgemeinheit zugleich als die Realisierung ihrer selbst erfahren und begreifen. Indem sie die anderen Individuen ebenfalls als an und für sich freie Willen anerkennen, können sie in den anderen Individuen bei sich sein. Die abstrakte Entgegensetzung des Einzel- und des Allgemeinwillens ist somit Hegel zufolge in der Sittlichkeit aufgehoben. In den §§ 142–153 wurden bisher Bestimmungen der modernen Sittlichkeit angegeben, die – bis auf Differenzen im Grade der Reflexion – auch für die antike Sittlichkeit gelten.235 Im § 154 wird nun eine grundsätzliche Differenz der antiken und der modernen Sittlichkeit benannt: Zur wahrhaften Realisierung der Freiheit der Individuen gehört nämlich, dass sie sich als Einzelne nicht nur in der Allgemeinheit realisiert finden, sondern dass 230 231 232 233 234 235
Ebd. Gr, S. 410, 28–33. Vgl. GPR, § 153. Vgl. dazu II.2.2.3. GPR, § 153. Vgl. auch Peperzak 1997, S. 184.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
sie sich zugleich auch in ihrer Besonderheit entfalten können, denn diese ist ebenso ein Moment des freien Willens. Diesem »Recht der Individuen an ihre Besonderheit«236 wird erst in der Moderne voll Rechnung getragen. Nach Hegel ist die »Besonderheit (…) die äußerlich erscheinende Weise, in welcher das Sittliche existirt«237. Eine solche äußerliche »Erscheinungswelt des Sittlichen«238 stellt im modernen Rechtsstaat nach Hegel die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft dar, in der die Individuen ihre Besonderheit und ihr Privatwohl verwirklichen können. In der Antike ist eine solche Sphäre noch nicht in entwickelter Form vorhanden, sodass sich die Individuen dort noch ganz dem Allgemeinen unterordnen und keine besonderen Interessen verfolgen. Zwar gliedert sich auch in der Antike die sittliche Substanzialität »in die Systeme der persönlichen Selbstständigkeit und des Eigenthums, des persönlichen und dinglichen Rechts«239. Die antike Polis gibt den Individuen jedoch noch nicht die Möglichkeit, in einer von der Polis frei gelassenen Sphäre wie der bürgerlichen Gesellschaft ihren besonderen Interessen nachzugehen. Erst der moderne Staat hat nach Hegel »diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjectivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen so in ihm selbst diese zu erhalten.«240 Mit dem § 154 ist somit eine wesentliche Differenz zwischen antiker und moderner Sittlichkeit benannt, die Hegel im Abschnitt Die bürgerliche Gesellschaft (§§ 182–256) en detail ausführt. Indem in der modernen Sittlichkeit allgemeiner und besonderer Wille miteinander vermittelt sind, sind in ihr auch Pflicht und Recht identisch. Das Individuum hat Rechte, insofern es Pflichten hat und umgekehrt.241 Aus der Perspektive des subjektiven Willens bezeichnet die Pflicht das Sittliche als »etwas für mich Substantielles, an und für sich Allgemeines«, das Recht dagegen »das Daseyn überhaupt dieses Substantiellen, (…) damit die Seite seiner Besonderheit und meiner besondern Freyheit«242. Für das Individuum kann es dadurch so erscheinen, dass Pflicht und Recht auseinanderfallen; da jedoch der Grund des Rechts wie der Pflicht der freie, substanzielle Wille 236 237 238 239 240 241 242
GPR, § 154. Ebd. Vgl. ebd., § 181. PhG, S. 246, 8 f. GPR, § 260; vgl. auch Ho, S. 717; Gr, S. 635. Vgl. GPR, § 155. Ebd., § 261 Anm.
II.1 Einleitung
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ist, sind sie an sich identisch. Der moderne Rechtsstaat garantiert nach Hegel, »daß meine Verbindlichkeit gegen das Substantielle zugleich das Daseyn meiner besonderen Freyheit d. i. in ihm Pflicht und Recht in einer und derselben Beziehung vereinigt sind«243. Da die Sittlichkeit in sich konkret und bestimmt ist, bekommen die Pflichten und Rechte für die verschiedenen Individuen einen verschiedenen Inhalt, je nachdem, auf welche besondere Weise sie jeweils das Allgemeine realisieren. So hat »in der Familie (…) der Sohn nicht Rechte desselben Inhalts als er Pflichten gegen den Vater, und der Bürger nicht Rechte desselben Inhalts als er Pflichten gegen Fürst und Regierung hat.«244 Dennoch kommt auch in den Besonderheiten der sittlichen Substanz ihre absolute Identität zum Ausdruck: »Die Rechte des Familienvaters über die Mitglieder sind ebensosehr Pflichten gegen sie, wie die Pflicht des Gehorsams der Kinder ihr Recht, zu freien Menschen erzogen zu werden, ist. Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usf. sind zugleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usf., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usf. Pflichten und ebenso ihr Recht an den Schutz ihres Privateigenthums und des allgemeinen substantiellen Lebens sind, in dem sie ihre Wurzel haben; alle Zwecke der Gesellschaft und des Staats sind die eigenen der Privaten; aber der Weg der Vermittlung, durch welche ihre Pflichten als Ausübung und Genuß von Rechten an sie zurückkommen, bringt den Anschein der Verschiedenheit hervor (…).«245 Während Recht und Pflicht im abstrakten Recht noch abstrakt auf verschiedene Personen verteilt waren und in der Moralität nur identisch sein sollten, sind sie in der modernen Sittlichkeit Hegel zufolge also in einer vermittelten Identität.246 Ihre Identität erscheint nicht darin, dass jede Person oder jedes Subjekt denselben abstrakten Inhalt zugleich als Recht und als Pflicht hat; damit wäre die Identität von Pflicht und Recht Hegel zufolge wie im abstrakten Guten wieder völlig unbestimmt. Aufgrund der Lebendigkeit des konkreten Guten stellt sich ihre Identität vielmehr im Endlichen in verschiedenen Bestimmungen dar. Die Identität von Rechten und Pflichten zu wahren, ist nach Hegel von großer Bedeutung, denn nur wenn diese Identität gegeben ist, ist garantiert, dass sich das Individuum im Rechtsstaat in seiner Besonderheit entfalten und das Allgemeine als Ausdruck seiner Freiheit begreifen kann: 243 244 245 246
Ebd. Ebd. EPW, § 486 Anm. Vgl. GPR, § 155.
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»Jener Begriff von Vereinigung von Pflicht und Recht ist eine der wichtigsten Bestimmungen und enthält die innere Stärke der Staaten (…); das Individuum muß in seiner Pflichterfüllung auf irgend eine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden, und ihm aus seinem Verhältniß im Staat ein Recht erwachsen, wodurch die allgemeine Sache seine eigene besondere Sache wird. Das besondere Interesse soll wahrhaft nicht bey Seite gesetzt oder gar unterdrückt sondern mit dem Allgemeinen in Uebereinstimmung gesetzt werden, wodurch es selbst und das Allgemeine erhalten wird. Das Individuum, nach seinen Pflichten Unterthan, findet als Bürger in ihrer Erfüllung den Schutz seiner Person und Eigenthums, die Berücksichtigung seines besonderen Wohls, und die Befriedigung seines substantiellen Wesens, das Bewußtsein und das Selbstgefühl, Mitglied dieses Ganzen zu seyn, und in dieser Vollbringung der Pflichten als Leistungen und Geschäfte für den Staat hat dieser seine Erhaltung und sein Bestehen. Nach der abstracten Seite wäre das Interesse des Allgemeinen nur, daß seine Geschäfte, die Leistungen, die es erfodert, als Pflichten vollbracht werden.«247 Indem in der modernen Sittlichkeit auch der individuellen Besonderheit Rechnung getragen wird, sind in ihr alle drei Momente: (subjektive) Einzelheit, (individuelle) Besonderheit und (substanzielle) Allgemeinheit entfaltet und miteinander vermittelt. Im abschließenden Paragrafen hält Hegel fest, dass die sittliche Substanz wirklicher Geist ist, weil sie »das für sich seyende Selbstbewußtseyn mit seinem Begriffe geeint«248 enthält. Das für sich seiende Selbstbewusstsein ist das einzelne Selbstbewusstsein, dessen Begriff jedoch darin besteht, allgemeines Selbstbewusstsein zu sein. Weil in der sittlichen Substanz einzelnes und allgemeines Selbstbewusstsein vereinigt sind, ist sie Geist: »Einheit des Einzelnen und Allgemeinen«249. Der Geist ist wirklich als »Geist einer Familie und eines Volks«250: Der Geist einer Familie oder eines Volkes ist somit eine selbstbewusste Einheit, die Einzelheit und Allgemeinheit übergreift, die sich also in dem Verhältnis der einzelnen Selbstbewusstseine als die allgemeine, sie übergreifende Einheit realisiert. Der Geist als übergreifende Einheit ist dabei das eigentlich Wirkliche, die Substanz, deren Akzidenzien die Individuen sind, die in der Substanz ihre selbstbewusste Wirklichkeit ha-
247 248 249 250
Ebd., § 261 Anm. Ebd., § 156. Ho, S. 503. GPR, § 156.
II.1 Einleitung
123
ben.251 »Wirklichkeit« bestimmt Hegel in seiner enzyklopädischen Logik als »die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz oder des Inneren und des Aeußern. Die Aeußerung des Wirklichen ist das Wirkliche selbst, so daß es in ihr ebenso wesentliches bleibt und nur in sofern wesentliches ist, als es in unmittelbarer äußerlicher Existenz ist. (…) (S)eine Aeußerlichkeit ist seine Energie; es ist in ihr in sich reflectirt; sein Daseyn ist nur die Manifestation seiner selbst, nicht eines Andern.«252 Zum wirklichen Geist gehört wesentlich, dass er sich wissender Geist ist. Streng genommen ist der Geist daher an und für sich wirklich erst in einem staatlich verfassten Volk bzw. in der institutionell verfassten Familie, die auf der Ehe beruht. Erst in den Institutionen und Gesetzen ist dem Geist seine eigene Allgemeinheit gegenständlich. Bloß naturwüchsige Familien- und Volksverbände, deren allgemeiner Zusammenhang noch vorwiegend auf dem natürlichen Band der Blutsverwandtschaft beruht statt auf der selbstbewussten Allgemeinheit von vernünftigen Institutionen und Gesetzen, entbehren nach Hegel noch der vernünftigen Form und sind daher nur an sich sittliche Substanz, noch nicht für sich. Somit sind sie auch nur an sich, noch nicht für sich Geist.253 Hegels These, dass die sittliche Substanz der wirkliche Geist einer Familie oder eines Volkes ist, enthält – wie auch in der Nachschrift von Hotho deutlich wird – eine Kritik am naturrechtlichen Kontraktualismus: In allen naturrechtlichen Vertragstheorien entwickelt man sittliche (oder gesellschaftliche) Zusammenhänge dadurch, dass man »atomistisch verfährt und von der Einzelheit als solcher als Grundlage ausgeht«254 zu einer sittlichen Substanz. Hegel bezeichnet ein solches Verfahren als »geistlos«255, weil man damit den Geist selbst als die Einheit, die die Individuen überhaupt erst hervorbringt, nicht begreifen kann. Man kann bei einem solchen Verfahren immer nur zu einer zusammengesetzten und somit äußerlichen Einheit kommen. Der Geist aber ist eine in sich differenzierte Einheit, die die einzelnen selbständigen Individuen überhaupt erst hervorbringt. In der kontraktualistischen Vorstellung abstrahiert man davon, dass die Individuen gar nicht als solche für sich bestehen können, sondern immer nur als Momente einer sie über-
251 252 253 254 255
Vgl. Ho, S. 503; GPR, § 146. EPW, § 142 und § 142 Anm. Vgl. GPR, § 349. Ho, S. 503. Ebd.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
greifenden sittlichen Einheit existieren. Nach Hegel kann der Kontraktualismus aufgrund seines atomistischen Gesellschaftsverständnisses auch nicht erfassen, was Freiheit ist. Freiheit ist nach Hegel da realisiert, wo Einzelwille und Allgemeinwille wahrhaft miteinander vermittelt sind. Der allgemeine, objektive Wille ist das Vernünftige. Wenn Allgemeinwille und Einzelwille so entwickelt und entfaltet sind, dass der Einzelwille den Allgemeinwillen als Ausdruck seiner selbst begreifen kann, dann ist Freiheit gegeben. Im Kontraktualismus wird Freiheit dagegen mit dem Einzelwillen der selbständigen Rechtsperson gleichgesetzt. Damit ist ein Gegensatz zwischen Einzelwillen und Allgemeinwillen vorausgesetzt, der das Begreifen dessen, was Freiheit ist, unmöglich macht.256 In den §§ 142–156 ist der Begriff der Idee der Sittlichkeit bzw. der Freiheit – denn beide sind nach § 142 identisch – entwickelt worden. Es hat sich gezeigt, dass die sittliche Substanz ihrem Begriff nach wirklicher Geist ist.257 Der Begriff der Idee der Freiheit ist jedoch nur Geist, d. h. »sich Wissendes und Wirkliches, indem er die Objectivierung seiner selbst, die Bewegung durch die Form seiner Momente ist.«258 Es ist nun also zu sehen, wie sich der in den Einleitungsparagrafen entwickelte Begriff Realität verschafft bzw. wie sich der Geist selbst entfaltet und sich objektiv wird. Die erste Objektivierungsform des Geistes, der »unmittelbare oder natürliche sittliche Geist«259 ist die Familie, die in die entzweite Substanzialität des Geistes, die bürgerliche Gesellschaft übergeht und schließlich im Staat resultiert, in dem Familie und bürgerliche Gesellschaft als Momente aufgehoben sind und der die substanzielle Einheit beider darstellt. Wie sich die drei Objektivierungsformen des Geistes zueinander verhalten, soll von der ersten, unmittelbaren Form her entwickelt werden: der Familie.
256 257 258 259
Vgl. II.2.2.8.2. Vgl. GPR, § 156. Ebd., § 157. Ebd.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien (§§ 157/158–181) II.2.1 Allgemeine Bestimmung des Begriffs der Familie (§§ 157/158–160) Der Abschnitt Die Familie folgt dem für Hegels Vorlesungsschriften klassischen Gliederungsschema: Zunächst wird eine allgemeine, noch abstrakte Bestimmung der Familie gegeben (§§ 158/159). Die allgemeine Bestimmung der Familie ist, wie sich zeigen wird, die Liebe (§ 158). Anschließend gibt Hegel einen Überblick über die Seiten, in denen sich die abstrakte Bestimmung der Familie, die Liebe, realisiert und somit konkret wird (§ 160). Die eigentliche philosophische Ausführung dessen, was die Familie ihrem Begriff und ihrer Realität nach ist, findet dann in den §§ 161–181 statt. Auch der gesamte Teil Die Sittlichkeit ist auf diese Weise aufgebaut: Nach den einleitenden Bestimmungen des Begriffs der Sittlichkeit (§§ 142–156) folgt im § 157 ein Überblick über die verschiedenen Formen, in denen der sittliche Geist sich objektiviert – als Familie, als bürgerliche Gesellschaft und schließlich als Staat. Dabei werden erste abstrakte Bestimmungen dieser Formen und ihrer Entwicklung gegeben, bevor sie dann in den §§ 158–360 in ihrer konkreten Realisierung dargestellt werden. Die erste wesentliche Bestimmung der Familie gibt Hegel daher im § 157, der dem Abschnitt Die Familie (§§ 158– 181) noch vorgeordnet ist. Dort wird die Familie als »unmittelbare(r) oder natürliche(r) sittliche(r) Geist« bezeichnet.
II.2.1.1 Die Familie als der »unmittelbare oder natürliche sittliche Geist« (§ 157) Wenn Hegel im § 157 die Familie als den »unmittelbare(n) oder natürliche(n) sittliche(n) Geist«260 bezeichnet, behauptet er, dass die Unmittelbarkeit dieser ersten Realisierungsform des sittlichen Geistes mit ihrer Natürlichkeit einhergeht. Es stellt sich die Frage, was hier mit ›natürlich‹ gemeint ist. Zwei Lesarten scheinen sich anzubieten: Entweder ist damit gemeint, dass der Geist natürlicher sittlicher Geist im Sinne der ersten Natur ist, wie sie in der Naturphilosophie Gegenstand ist, oder im Sinne der zweiten Natur, d. i. der Sitte oder Kultur.261 Die Antwort auf diese Frage scheint einfach zu 260 261
Ebd. Vgl. ebd., § 151; II.1.3.3.Vgl. Schnädelbach 2000, S. 252.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
sein, denn der Geist kann als Geist nicht auf die ›erste Natur‹ reduziert werden. ›Natürlich‹ muss daher im Sinne der ›zweiten Natur‹ verstanden werden, sich also auf Sitten und Gewohnheiten beziehen, die den Individuen so ›in Fleisch und Blut übergegangen‹ sind, dass sie ihnen als (quasi) natürlich erscheinen. Mit ›natürlich‹ ist dann also nur die unmittelbare und somit ›natürliche‹ Form gemeint, in der der sittliche Geist in seinem Anfang ist. Diese Antwort reicht aber nicht aus, sie macht im Gegenteil deutlich, dass die Frage, ob mit ›natürlich‹ hier die erste oder die zweite Natur gemeint ist, nach Hegel falsch gestellt ist.262 Denn die Familie ist nicht nur eine sittliche Institution, in der bestimmte Gewohnheiten und Gebräuche gepflegt werden, sondern sie ist zugleich Ort der natürlichen Reproduktion. Die familiären Sitten, die den Individuen zur zweiten Natur werden, sind daher auch in erster Linie solche Sitten, die sich auf die natürliche Reproduktion beziehen. Die Familie erweist sich als zweite Natur oder Geist eben an der ersten Natur.263 Dieser Doppelsinn von ›natürlich‹ zeigt also an, dass die Familie nach Hegel wesentlich einen Transformationsprozess der ersten Natur zur zweiten Natur vollzieht oder genau genommen dieser Transformationsprozess selbst ist. Hegel verwendet die Ausdrücke ›unmittelbar‹ und ›natürlich‹ deswegen synonym, weil das, was die Form der Unmittelbarkeit hat, sein Dasein oder seine Erscheinung auch noch an einem Natürlichen oder Seienden hat. Deshalb hat auch der Geist auf jeder Entwicklungsstufe, auf der er die Form der Unmittelbarkeit hat, sein Dasein oder seine Erscheinung noch an einem Natürlichen oder Seienden. Der Geist verändert dieses Natürliche jedoch zugleich und verwandelt es sich an. Die Natur, die zunächst als eine Voraussetzung erscheint, wird damit zu etwas vom Geist selbst Gesetzten. Eben dies ist auch beim natürlichen sittlichen Geist der Fall: Der unmittelbare sittliche Geist, die Familie, ist zweite Natur; zum Dasein der Familie gehört die erste Natur, die durch die Aneignung einen anderen Charakter bekommt als sie in der noch nicht geistig angeeigneten Form hat. Der unmittelbare sittliche Geist ist, wie sich noch zeigen wird, der familiäre Liebeszusammenhang (als zweite Natur), in dem der natürliche Gattungszusammenhang (als erste Natur) sittlich angeeignet wird, wodurch er auch transformiert wird. Die Familie ist damit die sittliche Einheit von erster und zweiter Natur, in der beide nicht entgegengesetzt sind: Sie ist sittlicher Geist, zu dessen Dasein der natürliche Gattungszusammenhang gehört, der aber dennoch nicht auf diesen Zusammenhang reduziert werden kann. Dass zum Dasein des sittlichen Geistes als Familie noch der natürliche Gattungszusammenhang als substan262 263
Vgl. Schnädelbach 2000, S. 252. Vgl. Brauer 2007.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
127
zielles Verhältnis dazugehört,264 hat zur Folge, dass sich der Geist auf dieser Stufe nur mangelhaft realisieren kann. Dieses Dasein ist ihm unangemessen, was zur Folge hat, dass auch die Form, in der er sich als Geist objektiv wird, noch mangelhaft ist. Die Bestimmung des Geistes als unmittelbarer oder natürlicher sittlicher Geist enthält somit noch einen Widerspruch, den es aufzulösen gilt, will der sittliche Geist eine ihm adäquate Objektivierungsform finden. Die widersprüchliche Bestimmung der Familie als »unmittelbare(r) oder natürliche(r) sittliche(r) Geist«265 weist also auf genau die Herausforderung hin, welche die Familie institutionell meistert: In ihr wird ein natürliches Verhältnis, nämlich das Gattungs- oder Geschlechtsverhältnis, in ein sittliches Verhältnis, in geistige Liebe umgewandelt. Das natürliche Verhältnis wird in dieser Bewegung nicht einfach negiert, sondern es wird zu einem bleibenden Moment der geistigen Einheit herabgesetzt. Diese Umwandlung begrifflich zu fassen, ist die eigentliche Aufgabe des Abschnitts Die Familie.266 Sie ist um der Freiheit willen unabdingbar, denn der Geist ist nur frei, wenn er sich die natürlichen Triebe und Neigungen angeeignet hat.267 Gelingt dem Geist eine solche Aneignung und Transformation der natürlichen Triebe und Neigungen nicht, bleibt die Natur für ihn eine bloße Voraussetzung, durch die er bestimmt ist.
II.2.1.2 Die Liebe als allgemeine Bestimmung der Familie (§ 158) Im § 158 wird die Familie, in Anknüpfung an den § 157, als »unmittelbare Substantialität des Geistes« bezeichnet. Der Begriff ›Substantialität‹ ist ein Verhältnisbegriff. Mit ihm bringt Hegel zum Ausdruck, dass sich die Substanz als in sich gegliederte Einheit nur im selbstbewussten Verhältnis der Individuen zueinander und nur durch deren Tätigkeit realisiert. Zu ihrem geltenden Recht kommt die sittliche Substanzialität gemäß dem Einleitungsparagrafen zur Sittlichkeit dadurch, »daß in ihr (…) die Eigenwilligkeit und das eigene Gewissen des Einzelnen, das für sich wäre und einen Gegensatz gegen sie machte, verschwunden [sind], indem der sittliche Charakter das unbewegte, aber in seinen Bestimmungen zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene, Allgemeine
264 265 266 267
Vgl. GPR, § 161. Ebd., § 157. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 252. Vgl. II.1.2.2; II.1.3.3.
128
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
als seinen bewegenden Zweck weiß, und seine Würde so wie alles Bestehen der besondern Zwecke in ihm gegründet erkennt und wirklich darin hat.«268 Als »unmittelbare Substantialität des Geistes«269 ist die Familie also eine geistige, substanzielle Einheit, die sich ihrer Einheit bewusst ist und sich im selbstbewussten Verhältnis der Individuen zueinander realisiert. Die Individuen wissen diese Substanz als ihren allgemeinen Zweck und bringen sie tätig hervor. Sie wissen sich als Moment dieses Allgemeinen und stellen sich nicht, wie noch in der Moralität, als Einzelne abstrakt dem Allgemeinen entgegen. Diese Bestimmungen gelten aber für alle substanziellen Formen des Geistes. Die Frage ist also, wie genau sich der Geist auf der Stufe der Familie als Substanzialität realisiert und welche Rolle dabei die unmittelbare oder natürliche Form spielt, die die Familie wesentlich bestimmt. Unmittelbare Substanzialität des Geistes ist die Familie gemäß dem Doppelsinn von Unmittelbarkeit270 in zweifacher Weise: Einerseits ist sie unmittelbare Substanzialität, weil zum Dasein des Geistes auf der Stufe der Familie der natürliche Gattungs- und Generationenzusammenhang gehört, den Hegel in der Naturphilosophie als »Gattungsprozess« bezeichnet; andererseits ist sie unmittelbare Substanzialität, weil sie sich in der Empfindung der Liebe und damit in der Form eines unmittelbaren, natürlichen Gefühls ihrer selbst bewusst ist. Der Gattungsprozess ist nach Hegel schon in der Natur ein substanzieller Prozess, denn die Einheit der Gattung realisiert sich dadurch, dass die Individuen diese Einheit in der Begattung selbst setzen, wenn auch noch im Medium der Natur.271 Höhere Lebewesen haben Hegel zufolge in der natürlichen Begattung sogar bereits eine Vorform der Bewusstheit dieser Einheit, denn sie kommen in der Begattung im anderen Individuum zu einem »Selbstgefühl«272; sie erfassen und realisieren sich damit in der Begattung als Einzelne in ihrer Allgemeinheit, als Gattungswesen. Dennoch ist der Gattungsprozess noch ein bloß natürlicher Prozess. Die natürliche Gattung stellt somit noch keine sittliche oder geistige Einheit dar. Obwohl der natürliche Gattungsprozess zum Dasein der Familie gehört und ein Moment der Familie ausmacht, kann sie also nicht mit dem Gattungsprozess identisch sein. Sie unterschiede sich sonst nicht von einer Tierherde und wäre nicht sittlicher Geist, sondern ein bloß natürlicher Zusammenhang. 268 269 270 271 272
Ebd., § 152. Ebd., § 158. Vgl. II.2.1.1. Vgl. II.2.2.2; vgl. GPR, § 161, vgl. EPW, § 369. EPW, § 369.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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Zum natürlichen Gattungszusammenhang muss in der Familie, da es sich um ein sittlich-geistiges Verhältnis handelt, die subjektive Seite hinzukommen, d. h., der substanzielle Gattungszusammenhang muss auch als sittlicher gewusst werden und sich noch in anderer Weise realisieren, als das in der bloßen Natur der Fall ist. Die wesentliche inhaltliche Bestimmung des Gattungszusammenhangs, wenn er begriffen wird, ist nach Hegel, dass die Individuen in diesem natürlichen Ganzen nicht als Selbständige vorkommen, sondern Momente dieses übergeordneten Ganzen sind. Der Inhalt des Gattungsprozesses ist also, dass die Einzelnen wesentlich allgemein, Gattungswesen, sind.273 In der Familie wird dieser Inhalt des natürlichen Gattungsprozesses den Individuen bewusst, und dadurch wird der natürliche Gattungsprozess in ein geistiges Verhältnis umgewandelt. Dieser Inhalt wird den Individuen jedoch nicht bewusst im Sinne des begreifenden Denkens, sondern in einer ebenfalls natürlichen und unmittelbaren Form: in der Empfindung der Liebe.274 Die Liebe zwischen den Familienmitgliedern ist zunächst nicht begrifflich oder gesellschaftlich vermittelt. Sie stellt nach Hegel vielmehr ein natürliches, sich von selbst einstellendes Gefühl dar.275 Als Empfindung ist die Liebe daher die Sittlichkeit in der Form des Natürlichen – ihr Inhalt ist das Sittliche, aber nicht in Form des Begriffs, sondern in Form eines Gefühls.276 Allerdings sind sich die Individuen in der Liebe dieses Ge-
273
Vgl. EPW, § 518; AnL, S. 131, 12–14. Vgl. GPR, § 158. 275 Die Begriffe ›Empfindung‹ und ›Gefühl‹ werden beide hier synonym gebraucht, weil es auf dieser Stufe wesentlich um den Unterschied zwischen Emotionen und begreifendem Denken geht. In der Anthropologie der Enzyklopädie macht Hegel selbst darauf aufmerksam, dass die Begriffe ›Empfindung‹ und ›Gefühl‹ kaum begrifflich unterschieden werden können: »Für Empfindung und Fühlen gibt der Sprachgebrauch eben nicht einen durchdringenden Unterschied an die Hand; doch sagt man etwa nicht wohl Empfindung des Rechts, Selbstempfindung u. dgl., sondern Gefühl des Rechts, Selbstgefühl; mit der Empfindung hängt die Empfindsamkeit zusammen; man kann daher dafür halten, daß die Empfindung mehr die Seite der Passivität, des Findens, d. i. der Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die Selbstischkeit, die darin ist, geht.« (EPW, § 402 Anm.) Auf der Stufe des objektiven Geistes, in der Familie, kommt es gerade darauf an, dass hier beide Seiten zusammenkommen – sowohl die Seite der Passivität und Unmittelbarkeit als auch die aktivere Seite der Bewusstheit im Fühlen: Es geht darum, sich die natürliche und unmittelbare Empfindung bewusst anzueignen und dadurch zu einem Selbstgefühl zu gelangen. 276 Hegel setzt also einen Unterschied zwischen Form und Inhalt der Familie voraus, wenn er sie einerseits als unmittelbar-natürlich, andererseits als sittlich bezeichnet: Der Form nach ist die Familie noch bloß natürlich und unmittelbar, weil sie sich ihrer selbst nur in Form eines natürlichen Gefühls bewusst ist, der Inhalt ist jedoch bereits das Sittliche (vgl. Gr, S. 415, 11–13). 274
130
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
fühls auch bewusst. Als ein solches bewusstes Gefühl ist die Liebe eine Gesinnung277: »Die Gesinnung macht den Inhalt der Empfindung als bewußt, ausgesprochen aus.«278 Die Gesinnung der Individuen ist nach Hegel sittliche Gesinnung, wenn sie »das Wissen der Substanz und der Identität aller ihrer Interessen mit dem Ganzen«279 ist. Die bewusste familiäre Liebe ist nach Hegel insofern eine Form sittlicher Gesinnung, weil sich in ihr die Individuen als bloße Momente eines Allgemeinen, der Familie, wissen. Sie erfassen die Familie als ihre Substanz, als das Ganze, in der sie sich als Individuen realisieren können. In der Liebe hat das Individuum also ein Bewusstsein des Sittlichen in der Form des Natürlichen, der Empfindung der Liebe. Die Liebe ist damit nach Hegel der Grundbegriff der Familie und zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass die Individuen im Liebesverhältnis nicht – wie im abstrakten Recht280 – als selbständige Personen vorkommen. Indem sie in der Liebe ihr Fürsichsein der Einheit unterordnen, sind sie nicht selbständige Personen, sondern wesentlich Mitglieder in einer ihnen vorausgesetzten Einheit, der Familie.281 Die Familie stellt damit eine Einheit dar, die sich ihrer selbst in der Form eines Gefühls bewusst ist. Als sich ihrer selbst bewusste Einheit ist sie nach Hegel eine Darstellungsform des Geistes, der in der Liebe sich selbst als Einheit empfindet. Diese »sich empfindende Einheit«282 ist nach Hegel Ausdruck des freien Willens, weil die Individuen das übergreifende Allgemeine, die Einheit der Liebe, als Ausdruck ihrer selbst erfahren können. Indem sie sich als Mitglied der Einheit erfahren, ist ihnen diese Einheit keine fremde, ihnen äußerliche Einheit, der sie bloß von Natur aus untergeordnet sind, sondern sie stellt ihre Substanz dar, in der sie sich realisiert wissen. Sie bringen darin zum Ausdruck, dass der Inhalt ihres Willens selbst das Allgemeine ist, weil sie selbst allgemein sind – nämlich Gattungswesen.283
277
Vgl. GPR, § 158. Gr, S. 420, 10 f. 279 EPW, § 515. Zu Hegels Begriff der Gesinnung vgl. Kiss 2002. 280 Vgl. II.1.3.1. 281 Vgl. GPR, § 158. 282 Ebd. 283 Brauer vergleicht – in Anknüpfung an Rubens Unterscheidung von Teilsein und Mitgliedschaft – fälschlicherweise die Mitgliedschaft in der Familie mit einer Mitgliedschaft im Verein (vgl. Brauer 2007, S. 221 f., dort auch Anm. 98). Das Verhältnis der Familie als Substanz oder Totalität zu ihren Mitgliedern, die nach Hegel Akzidenzien dieser Substanz sind, ist ein grundsätzlich anderes Verhältnis als das eines Vereins zu seinen 278
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
131
Nach Hegel ist die Familie also insofern der unmittelbare sittliche Geist, als sie die Totalität des natürlichen Gattungszusammenhangs darstellt und diese Totalität sich in der Liebe ihrer selbst als diese Einheit bewusst ist. Sie ist damit zugleich natürlich, denn sie gründet auf einem natürlichen Zusammenhang und ist sich ihrer selbst nur in Form eines natürlichen Gefühls bewusst, und doch ist sie zugleich auch sittlich, denn in ihr erfasst sich das Individuum im Gefühl der familiären Liebe als Moment der Totalität, indem es sich als Gattungswesen empfindet. Die familiäre Liebe stellt damit nach Hegel eine geistige Aneignung des natürlichen Gattungsverhältnisses dar.284 Wie Hegel diese Aneignungsbewegung denkt, muss die Analyse der folgenden Paragrafen (§§ 159–181) zeigen. Der Begriff der Liebe spielt bereits in Hegels Frühschriften, insbesondere in den Frankfurter Entwürfen über Religion und Liebe, eine wesentliche Rolle.285 Indem Hegel in der Rechtsphilosophie die Liebe als die Form bestimmt, in der der Geist in der Familie sich empfindende Einheit ist, greift er ein zentrales Motiv aus seinen Frühschriften wieder auf. Hegel hat bereits in den Frühschriften die dialektische Struktur der Liebe herausgearbeitet. Dennoch nimmt der Begriff der Liebe in den Frühschriften noch eine andere Stellung ein. Während die Liebe dort noch als die höchste Form, das Absolute zu erfassen, bestimmt ist – der junge Hegel geht davon aus, dass das Absolute nicht begriffen werden kann286 –, wird sie im entwickelten System HeMitgliedern, denn ein Verein ist keine substanzielle Einheit. Der substanzielle Charakter der Familie zeigt sich darin, dass es kein Individuum geben kann, das nicht Mitglied einer Familie ist. Da die Familie ihr Dasein auch im natürlichen Gattungsprozess hat und jeder Mensch nur im natürlichen Gattungsprozess gezeugt werden kann, kann sich auch niemand die Mitgliedschaft in der Familie aussuchen. In der Gesinnung, Mitglied zu sein, werden sich die Individuen des substanziellen Gattungszusammenhangs bewusst, in dem sie ein Glied sind. Man könnte also sagen: Ein Glied des Gattungsprozesses ist man ohnehin; durch die bewusste Empfindung der Einheit der Familie wird man jedoch vom bloßen Glied zum Mitglied der Familie, wodurch der Gattungsprozess eine reflektiertere Form erhält. Beim Verein ist die Einheit dagegen eine völlig äußerliche. Die Einheit kommt nur dadurch zustande, dass selbständige Rechtspersonen in einer äußerlichen Sache zu einer gemeinsamen Willensbildung kommen. Sie können ihre Einwilligung, Mitglied des Vereins zu sein, auch jederzeit zurückziehen. Ein Verein ist ein klassischer Fall eines Vertragsschlusses, der nach Hegel ins abstrakte Recht gehört und mit sittlicher Substantialität nichts gemein hat. Das Beispiel für einen Verein, das Brauer wählt, um Verein und Familie zu vergleichen – ein Verein von Menschen, die sich im Supermarkt immer an der ›Kasse 5‹ anstellen, wenn sie dort einkaufen (vgl. Brauer 2007, S. 221 f., Anm. 98) – bringt die Äußerlichkeit eines Vereins eigentlich wunderbar auf den Punkt. 284 Vgl. EPW, § 518; An , S. 131, 1–14. L 285 Vgl. TWA 1, S. 239–255; vgl. dazu Baum 1986, S. 35–48; Dilthey [1905] 1959; Düsing/Düsing 2004. 286 Vgl. Düsing/Düsing 2004, S. 13.
132
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
gels (und damit auch in den Grundlinien) gerade weil sie bloß Empfindung des Absoluten ist, gegenüber dem Begreifen des Absoluten herabgestuft. Sie nimmt damit in den Grundlinien – wie die Familie insgesamt – eine Zwitterstellung ein: Als bewusste Empfindung der Einheit des Geistes ist sie einerseits die erste Form, in der sich der Geist in der äußeren Realität seiner selbst bewusst wird und eine institutionelle Gestalt gibt; sie ist daher gesellschaftlich von großer Bedeutung, denn sie ist die erste Form eines Bewusstseins der Gesellschaftlichkeit und damit Ausdruck der Freiheit. Andererseits ist sie als diese Form noch mangelhaft, da es nach Hegel in der Entwicklung darauf ankommt, dass sich der Geist in der äußeren Realität auch begreift. Dies ist Hegel zufolge allerdings erst im Staat der Fall, der deshalb eine höhere Entwicklungsstufe des Bewusstseins der gesellschaftlichen Einheit darstellt und die Familie in sich aufhebt. Es ist auffällig, dass Hegel gleich im ersten Paragrafen des Abschnitts Die Familie in den Grundlinien die Liebe zur eigentlichen Bestimmung der Familie erklärt, während er in der Phänomenologie betont hatte, dass die Substanzialität und Sittlichkeit der Familie gerade nicht in der wechselseitigen Empfindung der Liebe seitens der Familienmitglieder gegründet sein kann.287 Dies ist nicht darauf zurückzuführen, dass Hegel im Laufe der Zeit seinen Familienbegriff verändert hat, sondern darauf, dass er in der Phänomenologie die Familie in einer anderen Epoche untersucht: Während die Phänomenologie die archaische Familie der griechischen Antike behandelt (den Oikos bzw. das Haus), ist Gegenstand der Rechtsphilosophie die moderne bürgerliche Kleinfamilie. Mit seiner Bestimmung der Familie als Liebeseinheit trägt Hegel in den Grundlinien der Tatsache Rechnung, dass mit der Trennung von Arbeits- und Privatsphäre die Familie im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend zum Ort der Emotionalität und Intimität wird.288 Im antiken Oikos, der zugleich Produktions- und Lebensgemeinschaft war, konnte die Emotionalität noch nicht in dieser Weise ausgebildet werden, und so konnte die Liebe folglich auch noch nicht die sittliche Basis der Familie darstellen. Für die moderne bürgerliche Familie gilt dagegen, dass gerade die Liebe sie als sittliche Institution auszeichnet, sodass der Begriff der Liebe der Grundbegriff der Familie ist. Alle weiteren Bestimmungen der modernen Familie sind aus ihm abzuleiten. Die moderne Familie ist damit bestimmt als »die Entwickelung der Liebe, die Liebe in ihrer Totalität«289. 287
Vgl. PhG, S. 243, 12 f. Zur Entwicklung von Emotion und Intimität in der Familie im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Weber-Kellermann 1974; Shorter 1977; Rosenbaum 1996. 289 Hr, S. 295, 10 f. Zu Hegels Begriff der Liebe in den Grundlinien vgl. auch Blasche 1988; Ormiston 2004; Nicolacopoulos/Vassilacopoulos 1999; Elsigan 1972. 288
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
133
II.2.1.3 Die Familie als rechtsfreier Raum (§ 159) Die erste Bestimmung, die sich aus dem allgemeinen Begriff der familiären Liebe ergibt, ist, dass die Familie ein rechtsfreier Raum innerhalb bestehender Rechtsverhältnisse ist, d. h., dass sie kein Rechtsverhältnis im Sinne des abstrakten Rechts darstellt. Für Rechtsverhältnisse ist vorausgesetzt, dass selbständige Personen in einer beschränkten Hinsicht ein Verhältnis eingehen, in dem sie ihre Selbständigkeit beibehalten – das wäre z. B. bei einem Vertrag der Fall. Hegel pocht jedoch darauf, dass die Familie gerade nicht auf einem Vertragsverhältnis selbständiger Individuen beruht.290 Als Familienmitgliedern kommt den Individuen gar keine Selbständigkeit als (Rechts-) Personen zu,291 die jedoch Voraussetzung für das Eingehen von Rechtsverhältnissen ist. Spricht man also vom »Recht« der Familie, so besteht dieses Hegel zufolge gerade nicht in Rechtsverhältnissen der Individuen untereinander,292 sondern in der Einheit der Familie selbst, die – wie sich in der Bestimmung der Ehe noch zeigen wird – Resultat der Negation der persönlichen Selbständigkeit der Rechtspersonen ist.293 Die Familie in ihrer entwickelten Form ist damit ein rechtsfreier Raum innerhalb vorausgesetzter Rechtsverhältnisse im Rechtsstaat. Das Recht der Familie ist daher vom abstrakten Recht streng zu unterscheiden. Es beruht gerade nicht (mehr) auf dem abstrakten Recht des einzelnen Willens, sondern hat den allgemeinen Willen, den Willen der Familie, die selbst eine geistige Einheit ist, zur Grundlage. Gerade weil die Einheit der Familie allgemeiner Wille ist, ist sie nach Hegel Ausdruck der Freiheit.294 Dass die Beziehungen der Mitglieder einer Familie untereinander nicht durch Rechtsverhältnisse vermittelt sind, sondern auf Liebe beruhen, ermöglicht den Individuen Hegel zufolge, sich in der Familie als natürliche Individuen in ihrer Totalität zu begegnen und nicht bloß als isolierte, selbständige Rechtspersonen.295 Dies wird besonders deutlich in der Nachschrift von Griesheim: »Ich bin in der Liebe nicht gemeint als Selbstbewußtsein, als rechtliche Person, sondern als natürliches Ich, d. h. nach meiner ganzen Besonderheit. Die Liebe hat daher diese Zufälligkeit, daß darin meine ganze Subjektivität 290 291 292 293 294 295
Vgl. GPR, § 75; vgl. II.1.3.1; II.2.2.8.2. Vgl. GPR, § 158. Vgl. ebd., § 159. Vgl. ebd., § 162. Vgl. V 1, S. 90, 286 f. Vgl. Westphal 1984.
134
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
als besondere enthalten ist (…). In der Vernunft und ebenso im Staate, im vernünftigen Zustande, da wird die besondere Subjektivität nicht befriedigt, die Eigenthümlichkeit des Individuums wird nicht so anerkannt, wie in der Empfindung, sondern nur seine Verdienste, d. h. seine Bildung, seine Geschicklichkeit, Fertigkeit nach einer allgemeinen Weise. (…) Die Liebe ist nachsichtig, d. h. sie läßt auch die besondere Subjektivität gelten, durch diese ist der eine Mensch vom anderen unterschieden, in der Vernunft, dem Verstande nicht, aber in der Liebe da gilt die besondere Subjektivität, da gilt der Mensch als dieser.«296 Während bei der vorausgesetzten Selbständigkeit der Rechtsperson die Besonderheit des Individuums keinerlei Rolle spielt – von ihr wird gerade zugunsten dieses Freiheitsbegriffs abstrahiert –, kommt die natürliche individuelle Einzigartigkeit in der familiären Liebe nach Hegel auf besondere Weise zum Tragen. Das Individuum gilt in der liebenden Verbindung zu den anderen Mitgliedern der Familie nicht bloß in bestimmten beschränkten Hinsichten, sondern in seiner ganzen natürlichen Individualität. Die Erfahrung des ›Geltenlassens‹ der natürlichen Individualität in der familiären Liebe, die bedingungslos und nicht an bestimmte rechtliche Rücksichten gebunden ist, stellt eine wesentliche Grundlage für den ansonsten in Rechtsverhältnissen sich bewegenden Bürger und Staatsbürger dar. Sie zeichnet die Familie also nach Hegel gegenüber anderen Sphären der Sittlichkeit aus. Allerdings weist sie zugleich ein Problem auf. Damit ist nämlich verbunden, dass die Individuen innerhalb der Familie ihrer bloß natürlichen Individualität subsumiert bleiben. Die natürliche Bestimmtheit wird nicht aufgehoben, sondern vielmehr gelten gelassen. Als Familienmitglieder bleiben die Individuen dadurch in ihrem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen Mitgliedern in dem Sinne unselbständig, dass sie darin von ihrer natürlichen Bestimmtheit (z. B. als (Ehe-)Mann/Vater, (Ehe-)Frau/Mutter297, Tochter/Schwester, Sohn/Bruder usw.) bestimmt werden. Die Familienmitglieder haben also, gerade weil ihr natürliches Ich von Bedeutung ist, keine Selbständigkeit gegenüber diesen Bestimmungen. Das bloße Geltenlassen der natürlichen Bestimmtheit in der Familie kann zudem zur Ausbildung von Idiosynkrasien führen,298 die 296
Gr, S. 421, 11 f. Das Verhältnis von Mann und Frau als Ehemann und Ehefrau ist zwar ein gesellschaftliches Verhältnis, aber ihm liegt das natürliche Gattungsverhältnis von Mann und Frau zugrunde. Innerhalb des gesellschaftlichen Verhältnisses der Familie bleiben also Hegel zufolge die Beziehungen der Familienmitglieder vom natürlichen Gattungsverhältnis bestimmt, egal ob es sich dabei nun um das Verhältnis der Ehepartner oder um das Verhältnis von Eltern und Kindern handelt. 298 Vgl. EPW, § 395 und TWA 10, §395 Z. 297
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
135
gepflegt statt kritisiert werden. Ist das der Fall, bleibt das Individuum bloß natürlich bestimmt, statt sich von diesen Bestimmtheiten zu befreien, indem es sie bearbeitet. Ein wichtiger Fortschritt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der Familie ist nach Hegel, dass die bürgerliche Gesellschaft der Ort der Bildung ist. Bildung besteht aber nach Hegel gerade in der Bearbeitung der mir zunächst bloß vorausgesetzten, natürlichen Bestimmtheit299 – in der »Glättung der Besonderheit«300, wie es in der Nachschrift von Hotho heißt. Da die Familienmitglieder innerhalb der Familie ihr Leben lang von ihrer natürlichen Bestimmtheit bestimmt bleiben, ist es nach Hegel notwendig, sich von der eigenen Familie zu emanzipieren und in die bürgerliche Gesellschaft überzugehen.301 Mit seiner Analyse der natürlichen Bestimmtheit in familiären Beziehungen gibt Hegel einen Grund an, warum es innerhalb der Familie so schwierig ist, sich von – modern gesprochen – alten Verhaltensmustern und Rollen zu befreien, selbst wenn man diese Verhaltensmuster in anderen Zusammenhängen längst abgelegt haben mag. Dass diese Bestimmung der Familie als »sittliche Intimität«302, die nicht durch äußerliche Rechtsverhältnisse getrübt wird, sondern auf dem liebevollen Zusammenhang der Mitglieder beruht, nach Hegel nicht nur positiv ist, zeigt sich noch in einer weiteren Hinsicht: Das Recht der Familie besteht eigentlich darin, dass sie als geistige Einheit gegen die Trennung der Mitglieder in selbständige Personen existieren soll. Daraus könnte man folgern, dass die Einheit der Familie selbst eingefordert werden kann. Hier zeigt sich jedoch, warum nach Hegel gerade die Tatsache, dass es sich bei der Familie um eine natürliche sittliche Einheit handelt, zum Problem wird: Die Einheit der Familie beruht auf einer Empfindung, der Liebe. Die Liebe kann als subjektive Empfindung aber nicht rechtlich gefordert werden. Wenn also die Einheit der Familie auseinanderfällt, können nur bestimmte Dienstleistungen rechtlich geltend gemacht werden, die normalerweise von der Familie als einer Einheit gegenseitig sich liebender Mitglieder übernommen werden.
299
Vgl. GPR, § 187 Anm. Ho, S. 583. 301 Den Übergang von der Familie in die bürgerliche Gesellschaft zu gestalten, ist nach Hegel wesentlich Aufgabe der Schule. Während in der Familie die Eigentümlichkeit und Naturbestimmtheit der Kinder geduldet wird, ist die Schule der Ort, an dem »der Geist zum Ablegen seiner Absonderlichkeiten, zum Wissen und Wollen des Allgemeinen, zur Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung« (TWA 10, § 395 Z) gebracht wird, wodurch er sich erst wahrhaft entfaltet. Diese Bedeutung der Schule hat Hegel schon in seiner Zeit als Rektor an einem Nürnberger Gymnasium herausgestellt, vgl. z. B. die Rede vom 2. September 1811 (GW 10,1, S. 484, 14–485, 22) (vgl. auch II.2.4.1). 302 Blasche 1975. 300
136
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Zu solchen Dienstleistungen, die der Familie, wenn sie als Rechtsforderungen auftreten, äußerlich sind, gehören z. B. die finanzielle Versorgung eines hinterbliebenen Ehepartners, die Unterhaltszahlung für Frau und/oder Kind nach der Scheidung303 usw.304 Könnten diese Leistungen nicht zum Teil auch rechtlich eingefordert werden, so hätte die Tatsache, dass die Familie ein rechtsfreier Raum ist, für ihre Mitglieder nicht selten verheerende Folgen – zudem könnte jegliche Verletzung der Persönlichkeit innerhalb der Familie, wie z. B. Gewalt in der Ehe, Kindesmissbrauch oder Kindesverwahrlosung, rechtlich nicht geahndet werden. Nach Hegel muss daher dann, wenn die Familie ihrem Begriff, auf der gegenseitigen Liebe zu beruhen, nicht mehr entspricht, das äußere Recht eintreten, und die Individuen müssen dann nicht mehr wesentlich als Familienmitglieder, sondern als selbständige Rechtspersonen betrachtet werden. Die bürgerliche Gesellschaft oder der Staat müssen deshalb, wenn aufgrund der fehlenden Gesinnung der Liebe in einer Familie die Persönlichkeit eines oder mehrerer Mitglieder verletzt wird, rechtlich eingreifen. Behandeln z. B. die Eltern das Kind nicht einer liebevollen Erziehung entsprechend, so muss das äußere Recht sich geltend machen.305
303
Selbstverständlich hat es mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Geschlechterordnung zu tun, dass hier das Beispiel der Unterhaltszahlung nur einseitig als Zahlung des Mannes an Frau und/oder Kind berücksichtigt wird. 304 Vgl. GPR, § 159; GPR, § 213; Gr, S. 423, 4 f. 305 Vgl. dazu Ho, S. 511, 3 f. Hegel wird häufig vorgeworfen, die Familienmitglieder seien aufgrund der Bestimmung der Familie als rechtsfreiem Raum in der Familie nicht voreinander strafrechtlich geschützt (vgl. z. B. Schnädelbach 2000 S. 258; Hüning 2006, S. 296). Dabei wird z. B. Vergewaltigung in der Ehe und Kindesmissbrauch angeführt, welche scheinbar beide nach dieser Bestimmung nicht als Straftat geahndet werden können. Die Familie ist aber nach Hegel gerade deshalb »rechtsfreier Raum«, weil in ihr statt Recht und Gesetz die Liebe walten soll. Wenn die eigentlich der Familie zugrunde liegende Gesinnung der Liebe fehlt, müssen auch nach Hegel Rechtsverhältnisse von außen an die Familie herangetragen werden. Während Hegel das Problem des Kindesmissbrauchs in seinen Vorlesungen in diesem Zusammenhang thematisiert hat, wie aus der Nachschrift von Hotho hervorgeht (vgl. Ho, S. 511, 3 f.), hat er sich zur Frage der Vergewaltigung in der Ehe nicht geäußert. Historisch wurde aus dem Eheverhältnis das Recht auf Beischlaf abgeleitet, weshalb die Verweigerung des Beischlafs als der eigentliche Rechtsbruch aufgefasst wurde, womit das gewaltsame Einfordern des Beischlafs legitimiert wurde; so war in der Bundesrepublik Vergewaltigung in der Ehe bis 1997 kein Straftatbestand. Hegel hat sich wie gesagt zu dieser Frage nicht geäußert. Da Gewaltanwendung aber sicher nicht dem liebevollen Umgang unter Ehepartnern entspricht, kann man auf Grundlage seines Familienbegriffs dafür argumentieren, dass auch im Fall der Vergewaltigung in der Ehe der Familienzusammenhang verletzt ist und ein Rechtsverhältnis eintreten muss. Hegel geht auch anders als Kant nicht davon aus, dass man das Recht hat, den ›entlaufenen‹ Ehepartner oder die ›entlaufene‹ Ehepartnerin wie eine Sache mit Polizeigewalt zurückzufordern (vgl. II.2.2.8.2).
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
137
Da die Familie auf einer natürlichen Empfindung beruht und somit eine bloß subjektive, zufällige Seite hat, ist sie höchst fragil in ihrem Bestehen. Sie muss durch die bewusste Liebe und Praxis der Familienmitglieder immer neu als sittliche und geistige Einheit hervorgebracht werden.306 Die familiäre Sittlichkeit ist daher gerade aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und Natürlichkeit immer von der Auflösung bedroht. Die Keimzelle der Familie, die Ehe, ist zwar als sittliche Institution an sich unauflöslich, da sie aber auf einem bloß subjektiven und zufälligen Gefühl gründet und nicht wie der Staat auf der notwendigen und objektiven Vernunft, ist die Unauflöslichkeit ein bloßes Sollen.307 Somit gibt es keinen Verlass, dass die Bedürfnisse, die das Individuum in einer funktionierenden Familie befriedigen kann, dort in jedem Fall und dauerhaft befriedigt werden können. Dies ist einer der Gründe, warum nach Hegel von der familiären Sittlichkeit übergegangen werden muss zum Staat, dessen sittliche Einheit gerade auf allgemeinen Rechten und Gesetzen beruht, die eingefordert werden können und jederzeit gültig sind.308 Obwohl die Familie also eine bedeutende Funktion hat, reicht die Sphäre der Familie allein nicht aus, um ein freies Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten. Nach Hegel ist es vielmehr notwendig, von den familiären Verhältnissen in die bürgerliche Gesellschaft und schließlich in den Rechtsstaat überzugehen, damit die Menschen ihre Freiheit vollständig realisieren können. Als rechtsfreier Raum ist die Familie ein Mikrokosmos innerhalb des Rechtsstaates, der auf dem Rechtsverhältnis beruht. Blasche hat die Frage aufgeworfen, ob Hegel mit seiner Bestimmung der Familie noch Rückwirkungen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates auf die Familienstruktur in Betracht ziehen konnte.309 Da Hegel sich zum Problem der Rückwirkung der bürgerlichen Gesellschaft auf die Familienstruktur vorwiegen im Abschnitt Die bürgerliche Gesellschaft äußert, soll dieser Frage im Kapitel II.2.5 nachgegangen werden, in dem das Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft behandelt wird. Nachdem Hegel in den §§ 158/159 den allgemeinen Begriff der Familie gegeben hat, führt er die Momente an, in denen sich dieser allgemeine Begriff darstellt und entfaltet. Alle Momente müssen sich letztlich auf den Begriff der Liebe zurückführen lassen, die darin besteht, dass die Mitglieder der Familie sich als unselbständige Momente der geistigen Einheit der Familie er-
306 307 308 309
Vgl. Brauer 2007, S. 220 f. Vgl. GPR, § 163 und Ho, S. 555. Vgl. GW 14,2, S. 729, 13 f.; Gr, S. 423, 21 f. Vgl. Blasche 1975, S. 328.
138
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
fassen und ihr unterordnen. Die Familie vollendet sich nach Hegel in drei Seiten:310 a) Ihr unmittelbarer Begriff hat die Gestalt der Ehe. b) Ihr äußeres Dasein gibt sie sich in einem Vermögen. c) Mit der abgeschlossenen Erziehung der Kinder löst sich die Familie auf. Für das Geschlechterverhältnis relevant sind vor allem die §§ 161–168 zur Ehe, die daher am ausführlichsten behandelt werden sollen.
II.2.2 Die Ehe (§§ 161–168) II.2.2.1 Die Ehe als das »unmittelbare sittliche Verhältniß« (§ 161) In § 160 bestimmt Hegel die Ehe als die Familie »in der Gestalt ihres unmittelbaren Begriffes«311. Nach dieser Bestimmung machen also schon Ehemann und Ehefrau für sich genommen – auch ohne Kinder – eine Familie aus. Bereits in dieser ersten Bestimmung der Ehe grenzt sich Hegel von der traditionellen Bestimmung der Ehe ab, nach der sie wesentlich eine Gemeinschaft der Eheleute zum Zwecke der Zeugung von Kindern ist.312 Es ist, wie sich noch zeigen wird, für Hegels Darstellung der modernen bürgerlichen Kleinfamilie bedeutsam, dass er die begriffliche Entwicklung mit ihrer Keimzelle, dem Verhältnis der heterosexuellen Ehepartner, beginnt, statt die Familie als vorausgesetzten Generationenzusammenhang zum Anfang zu nehmen. Nur dadurch kann sie als Ausdruck der Freiheit begriffen werden.313 Die Unmittelbarkeit der Ehe kommt an ihren zwei Momenten zum Ausdruck: Nach der objektiven Seite ist sie unmittelbar, weil Mann und Frau als Ehepartner das natürliche Gattungsverhältnis auf unmittelbare Weise darstellen – sie repräsentieren gemeinsam die Gattung, denn sie können gemeinsam neue Menschen hervorbringen. Nach dieser objektiven Seite ist die Ehe Hegel zufolge ein substanzielles Verhältnis, weil der Gattungsprozess nicht irgendein zufälliges oder einzelnes natürliches Verhältnis ist, sondern »die Lebendigkeit in ihrer Totalität«314 darstellt. Der Gattungsprozess ist –
310 311 312 313 314
Vgl. GPR, § 160. Ebd., § 160. Vgl. II.2.2.8.1. Vgl. Duncker 2003, S. 207 ff., S. 643 f. Vgl. II.2.2.6. GPR, § 161.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
139
wie Hegel in der Naturphilosophie entwickelt – die höchste Darstellungsform der Idee des Lebens in der Natur.315 Neben dieser objektiven Seite der natürlichen Lebendigkeit muss die Ehe jedoch zugleich ein selbstbewusstes Verhältnis sein, denn nur als solches ist das Verhältnis ein sittliches. Gerade diese subjektive Seite verwandelt das Gattungsverhältnis in ein geistiges Verhältnis: in selbstbewusste Liebe, die die Gesinnung der Familie ausmacht.316 Der Begriff der Ehe enthält so auf unmittelbare Weise die unmittelbaren Momente des Begriffs der Familie: den objektiven Gattungszusammenhang und die subjektive Seite der selbstbewussten Empfindung der Liebe. Gerade in der subjektiven Seite liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem spezifisch menschlichen, geistigen Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe und dem Geschlechterverhältnis in der Tierwelt.317 Durch die sittliche Institution der Ehe wird die Liebe der Partner, die zunächst ebenfalls ein bloß natürliches, subjektives Gefühl ist, in ein geistiges, selbstbewusstes und damit zugleich objektives Verhältnis verwandelt. Die Liebe wäre für sich genommen eine bloß subjektive Empfindung, eine Leidenschaft – sie wird erst durch die Ehe in ein rechtlich-sittliches Verhältnis transformiert. Wenn in der selbstbewussten Liebe das natürliche Gattungsverhältnis in geistige Liebe umgewandelt wird, heißt das nicht, dass das natürliche Gattungs- und Geschlechterverhältnis damit in der Ehe keine Rolle mehr spielt. Nach Hegel sind vielmehr beide Seiten – Liebe und natürliches Geschlechterverhältnis – für sich genommen bloß abstrakt und stellen in der Ehe eine Einheit dar.318 Es bedeutet jedoch, dass das natürliche Moment, der Sexualtrieb, nach Hegel zu einem untergeordneten Moment werden muss. Wie sich die beiden Momente genau zueinander verhalten, wird sich in den weiteren Bestimmungen der Ehe zeigen.319 Im § 161 kennzeichnet Hegel den Unterschied zwischen dem geistigen Verhältnis der selbstbewussten Liebe und dem natürlichen Gattungsverhältnis dadurch, dass er die Einheit der Geschlechter in der Natur im Gegensatz zur geistigen Einheit der Geschlechter in der selbstbewussten Liebe als bloß äußerlich bestimmt. Gerade weil die selbstbewusste Liebe kein bloß äußerliches Verhältnis der Geschlechter ist, kann sie nach Hegel das bloß natürliche Verhältnis in ein geistiges verwandeln. Da Hegel selbst zum Verständnis die-
315 316 317 318 319
Vgl. II.2.2.2. Vgl. GPR, § 161. Vgl. Hr, S. 252, 1 f. Vgl. Ho, S. 512, 22–31. Vgl. II.2.2.7.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
ser wesentlichen Bestimmung der ehelichen Liebe auf seine Abhandlung des natürlichen Geschlechterverhältnisses in der Naturphilosophie und der Logik der Enzyklopädie hinweist, wird in einem Exkurs auf diese Abhandlung eingegangen (vgl. II.2.2.2). Anschließend wird der Begriff der selbstbewussten Liebe genauer untersucht, wobei gezeigt wird, dass die selbstbewusste Liebe der Ehepartner im hegelschen Sinne als eine Anerkennungsbeziehung aufgefasst werden muss (vgl. II.2.2.3). Auf der Grundlage der entwickelten Begriffe sowohl des natürlichen Gattungs- und Geschlechterverhältnisses als auch der selbstbewussten Liebe in der Ehe wird schließlich deutlich werden, warum Hegel die Einheit der Geschlechter in der Natur im Gegensatz zur geistigen Einheit der Geschlechter in der Ehe als bloß äußerlich bestimmt (vgl. II.2.2.4).
II.2.2.2 Exkurs: Der Gattungsprozess in der Wissenschaft der Logik und der Naturphilosophie der Enzyklopädie Die Ehe verwandelt nach Hegel das zunächst bloß natürliche (Fortpflanzungs-) Verhältnis der Geschlechter in ein selbstbewusstes Verhältnis, das auf der wechselseitigen Liebe der Ehepartner beruht. Das natürliche Verhältnis wird dadurch zu einem geistigen Verhältnis. In dieser Umwandlung liegt Hegel zufolge die eigentliche Sittlichkeit der Ehe begründet. Der selbstbewussten Liebe der Ehepartner liegt jedoch das natürliche Gattungs- und Geschlechterverhältnis zugrunde, das nach Hegel durch die Ehe geistig angeeignet wird. Dieser Aneignungsschritt ist von großer Bedeutung, denn nur er garantiert, dass die Menschen sich von der bloßen Unterordnung unter den natürlichen Gattungszusammenhang und unter den Sexualtrieb befreien können und so ein freies Verhältnis zu ihrer Sexualität bekommen können. Nach Hegel kommt es darauf an, dass die sittlich-geistige Liebe zum übergreifenden Allgemeinen der natürlichen Empfindung der Liebe und des natürlichen Sexualtriebs wird. Die natürliche Seite des Geschlechterverhältnisses stellt in der Ehe damit zwar ein bleibendes Moment dar, jedoch in einer angeeigneten Form, sodass die Sexualität eine humane und kultivierte Form bekommt.320 In den Grundlinien behandelt Hegel die natürliche Seite des Gattungsund Geschlechterverhältnisses zwar nicht mehr als solche, aber da er sie als ein Moment der Ehe bestimmt, verweist er zur Erläuterung dieses Verhältnisses auf die entsprechenden Paragrafen der Naturphilosophie und der Wis320
Vgl. GPR, § 161 und § 164 Anm.; II.2.2.7.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
141
senschaft der Logik seiner Enzyklopädie, in denen er das Geschlechterverhältnis als rein natürliches Verhältnis, das ein Moment der Idee des Lebens ist, behandelt hat.321 Dieser Verweis ist sehr wichtig: Er macht deutlich, dass Hegels Ehe- und Familientheorie innerhalb seines enzyklopädischen Systemgrundrisses einzuordnen ist, der die Entwicklung der Idee von der Logik über die Naturphilosophie bis hin zur Philosophie des Geistes umfasst. Nur wenn man Hegels Theorie der Ehe innerhalb dieses Systemzusammenhangs betrachtet und sie somit auf den der Philosophie des Geistes vorhergehenden Systemteil, die Naturphilosophie, bezieht, kann man begreifen, worin Hegel zufolge die Bedeutung der bürgerlichen Familie und Ehe besteht. Dass das natürliche Gattungs- und Geschlechterverhältnis in zwei verschiedenen Systemteilen, in der Logik und der Naturphilosophie, behandelt und schließlich in der Philosophie des Geistes als Moment der Ehe wieder thematisch wird,322 lässt sich aus dem Verhältnis von Logik und Realphilosophie begreifen. Während sich die Logik mit den reinen Denkbestimmungen beschäftigt, behandelt die Realphilosophie die Realisierungsformen dieser Denkbestimmungen. Die höchste Denkbestimmung, die alle anderen Denkbestimmungen in sich aufhebt und diese in Wahrheit allererst konstituiert, ist nach Hegel die Idee. Die Idee bestimmt Hegel in der Logik der Enzyklopädie als »(…) das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objectivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er sich in der Form äußerlichen Daseyns gibt und diese Gestalt in seine Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält.«323 Indem die Idee Einheit von Subjektivität und Objektivität, von Begriff und Realität ist, die sich in ihrem Prozess erst hervorbringt und die selbst unbedingt und vernünftig ist, kommt ihr Freiheit in logischer Hinsicht zu,324
321
Vgl. EPW, §§ 220–221 und EPW, §§ 367–370. Zur Einordnung von Hegels Geschlechtertheorie in seinen Systemgrundriss hätte die Arbeit von Leo Hemetsberger einen hilfreichen Beitrag leisten können – zumindest verspricht das der Titel seiner Arbeit (vgl. Hemetsberger 2007). Allerdings zieht Hemetsberger aus Hegels systematischem Anspruch die Konsequenz, auf über zweihundert Seiten jede einzelne Bestimmung der enzyklopädischen Logik – von Sein, Nichts, Werden bis zur absoluten Idee – unmittelbar vom Begriff des Geschlechts auszusagen, ohne dass deutlich wird, inwiefern damit ein Erkenntnisgewinn einhergeht (vgl. Hemetsberger 2007). 322 Vgl. GPR, § 161. 323 EPW, § 213. 324 Vgl. ebd., § 215. Vgl. Schäfer 2001, S. 245.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
denn sie hat nichts außer sich, durch das sie bestimmt wäre. Vielmehr ist alles, was ist, durch sie selbst hervorgebracht. Mit dem Ende der Logik ist die absolute Idee erreicht. Damit wird aber zugleich der Übergang in die Realphilosophie gemacht, indem die Idee, die bisher logische Idee war, »sich entschließt, […] sich als Natur frei aus sich zu entlassen«325, d. h. sich ein äußeres Dasein in der Natur zu geben.326 Die Realphilosophie stellt die Entwicklung dar, in der sich die Idee in der äußeren Realität eine immer adäquatere Darstellungsform ihrer selbst gibt, zunächst in der Natur, dann im Geist. Nach Hegels Logik hat die logische Idee drei Entwicklungsstufen.327 Sie ist: 1. Idee des Lebens 2. Idee des Erkennens als a) theoretisches Erkennen, Idee des Wahren b) praktisches Erkennen/Wollen, Idee des Guten 3. Absolute Idee. Die verschiedenen Entwicklungsstufen der logischen Idee lassen sich nicht einseitig jeweils nur einer Entwicklungsstufe der Natur oder des Geistes zuordnen, da die vorangegangenen Bestimmungen auf der je höheren Stufe als aufgehobene Bestimmungen enthalten sind und da die äußere Realisierung ohnehin Besonderheiten mit sich bringt. In der Natur kann sich die Idee nur auf einer vergleichsweise mangelhaften Entwicklungsstufe realisieren, als Idee des Lebens. Alle anderen Entwicklungsstufen der Idee (Idee des Erkennens, Idee des Wollens, Absolute Idee) können sich nur im Geist realisieren, der als lebendiger Geist zugleich eine Realisierungsform der Idee des Lebens auf einer höheren Stufe darstellt. Wie die Naturphilosophie die Realisierung der Idee des Lebens in der Natur behandelt, für die, wie sich noch zeigen wird, der Gattungsprozess und das Geschlechterverhältnis grundlegend sind, so stellen die Grundlinien der Philosophie des Rechts als Philosophie des objektiven Geistes schon die Realisierung der absoluten Idee dar, wenn auch nur als an sich seiend.328 In der
325
EPW, § 244. Der Übergang von der Logik zur Realphilosophie gehört wohl zu den umstrittensten Theoriestücken der hegelschen Philosophie. Er ist vielfach und von ganz verschiedenen Seiten kritisiert worden, da fraglich ist, wie er begrifflich gefasst werden kann (vgl. Arndt/ Jaeschke 2012, S. 621 ff.). 327 Vgl. EPW, §§ 213–243; TWA 8, § 215 Z. 328 Vgl. EPW, § 483. 326
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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Philosophie des objektiven Geistes gibt sich der an und für sich freie Wille ein Dasein im Recht.329 Dem an und für sich freien Willen gelingt es, den natürlichen Trieben, Neigungen und Begierden, die dem noch bloß natürlichen und unmittelbaren Willen als äußerliche Inhalte entgegentraten, die Form der Vernünftigkeit zu geben. Er verwandelt diese natürlichen Bestimmungen in Rechte und Pflichten, in denen er seine substanzielle Freiheit zum Gegenstand hat.330 Da der Gattungsprozess und mit ihm das Geschlechterverhältnis nach Hegel das grundlegende natürliche Verhältnis ist, in dem sich die Idee in der Natur auf höchste Weise darzustellen vermag, muss sich der Wille auch dieses Verhältnis aneignen und ihm eine vernünftige Form geben. Der Gattungsprozess und das Geschlechterverhältnis werden im Rahmen der Philosophie des objektiven Geistes also nochmals thematisch, weil Hegel zeigen möchte, wie dieses grundlegende natürliche Verhältnis, das das Zusammenleben der Menschen als natürliche Lebewesen wesentlich bestimmt, in ein geistiges Verhältnis verwandelt werden kann, zu dem sie sich frei verhalten können.331 Diese Umwandlung und Aneignung leistet Hegel zufolge die Institution der Ehe bzw. der Familie. Da die Natur eine Realisierungsform der Idee ist, wenn auch, wie noch genauer erläutert werden soll, eine noch mangelhafte Form, verwirklichen sich in ihr vernünftige Strukturen, aufgrund derer die Natur für den Geist erkennbar ist. Die Natur ist aber »nicht nur durch ihre Erkennbarkeit auf den Geist hin angelegt, wie schon die griechische Logos-Philosophie zu zeigen suchte, sondern sie ist auch eine Skala von Vorformen des Geistes, auf seine Selbsterkenntnis hin angelegt. Diese setzt sich in den geschichtlichen Kulturformen fort, in denen der Geist sich (…) zu erfassen sucht«332. Eine solche Kulturform stellt nach Hegel auch die Institution der Ehe und der Familie dar. Wie aber realisiert sich nun die Idee in der Natur, welche Rolle spielt dabei das Gattungs- und Geschlechterverhältnis und warum sind der Idee für ihre Realisierung in der Natur im Gegensatz zur Realisierung im Geist von vorneherein Grenzen gesetzt? Um diese Fragen zu beantworten, ist zunächst festzuhalten, dass die Natur nach Hegel die bloße Äußerlichkeit und Unmittelbarkeit der Idee ist, in die sich die Idee frei entlässt.333 Die Natur ist damit bestimmt als »die Idee in der Form des Andersseyns«334. In der Natur als
329 330 331 332 333 334
Vgl. II.1.2.2. Vgl. GPR, § 150 Anm., auch GPR, § 19; EPW, § 474 Anm. Vgl. dazu Siep 1992, S. 309 –315. Siep 1997a, S. 19. Vgl. EPW, § 244. Ebd., § 247.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
der Äußerlichkeit kann sich die Idee nur als unmittelbare, ansichseiende Idee verwirklichen – d. i. als Idee des Lebens.335 Die Idee des Lebens kann sich unmittelbar wiederum nur an einem Seienden, einem einzelnen Lebendigen, darstellen und ist deshalb immer mit der unmittelbaren Einzelheit behaftet, sodass sie ihrer Allgemeinheit, die sie als Idee wesentlich auszeichnet, in der Natur keinen adäquaten Ausdruck verleihen kann. Innerhalb der Natur ist die Idee des Lebens jedoch die höchste Realisierungsform der Idee.336 Sie realisiert sich über verschiedene Stufen, deren höchste das Leben des Tieres, der animalische Organismus ist,337 mit dessen Darstellung die Naturphilosophie daher auch endet und übergeht in die nächsthöhere Stufe: in die Philosophie des Geistes.338 Der animalische Organismus ist nach Hegel deshalb die höchste Form der Darstellung der Idee des Lebens in der Natur, weil er die Fähigkeit hat, sich selbst zu organisieren, individuieren und reflektieren.339 Er stellt damit eine Vorform der Selbstbezüglichkeit und Selbstproduktion des Geistes in der Natur dar. Der animalische Organismus kann die Struktur der Idee, Subjekt zu sein, das sich in einem Prozess selbst ein Objekt voraussetzt und zugleich über es übergreift, in der Natur am vollendetsten zum Ausdruck bringen. Er ist Subjektivität, die über die Objektivität sowohl des eigenen Leibes als auch der unorganischen Natur übergreift, sodass er »in seinem Processe nach außen die selbstische Einheit in sich erhält«340. Im Zusatz zu § 350 der Enzyklopädie heißt es: »Das Tier ist die existierende Idee, insofern die Glieder schlechthin nur Momente der Form sind, ihre Selbständigkeit immer negieren und sich in die Einheit resumieren, welche die Realität des Begriffs und für den Begriff ist.«341 Im tierischen Organismus realisiert sich die Idee des Lebens nach Hegel in drei verschiedenen Prozessen: im Gestaltungsprozess, im Assimilationsprozess und im Gattungsprozess, in dem auch das Geschlechterverhältnis zu verorten ist. Während sich im Gestaltungsprozess der lebendige tierische Organismus rein auf sich selbst bezieht und zu einem unmittelbaren Selbstgefühl gelangt,342 ist mit dem Assimilationsprozess das Moment der Bezie335 336 337 338 339 340 341 342
Vgl. ebd., § 248 Anm.; TWA 6, S. 468 f. Vgl. EPW, § 248 Anm. Vgl. ebd., § 337. Vgl. ebd., § 376. Vgl. Siep 1997a, S. 19. EPW, § 350. TWA 9, § 350 Z. Vgl. EPW, § 353 und § 356.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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hung auf anderes verbunden. Dass dieser Bezug auf anderes dem tierischen Organismus wesentlich ist, kommt nach Hegel allerdings bereits im Gestaltungsprozess auf unmittelbare Weise zum Ausdruck, und zwar an den Geschlechtsorganen des Tieres, die zeigen, dass es wesentlich auf ein anderes Individuum seiner Art bezogen ist. »Das Ganze als zum selbständigen Individuum vollendete Gestalt ist in dieser sich auf sich beziehenden Allgemeinheit zugleich an ihr besondert zum Geschlechts-Verhältnisse, zu einem Verhältnisse mit einem anderen Individuum nach außen gekehrt. Die Gestalt weißt an ihr, indem sie beschlossen in sich ist, auf ihre beyden Richtungen nach außen hin.«343 Der Gestaltungsprozess als Prozess, der wesentlich die Beziehung des animalischen Subjektes auf sich selbst ausmacht, verweist somit zugleich auf den Prozess, der seine Beziehung zu sich selbst als einem anderen, nämlich zu einem Individuum seiner Art, ausmacht – den Gattungsprozess. Nach Hegel lässt sich der Übergang vom Gestaltungsprozess (der Beziehung auf sich) zum Assimilationsprozess (der Beziehung auf anderes) begrifflich aus dem Selbstgefühl heraus entwickeln, da mit dem Selbstgefühl zugleich verbunden ist, sich ausschließend gegen anderes zu verhalten.344 Es bleibt jedoch nicht bei einem bloß ausschließenden Verhalten, denn im Assimilationsprozess eignet sich das Tier die es umgebende unorganische Natur an, z. B. im Verdauungs- und Ernährungsprozess. Das Tier wird nach Hegel dazu getrieben, sich die unorganische Natur zu assimilieren, denn es ist an sich – da es die Idee des Lebens realisiert – Einheit seiner selbst und seines Entgegengesetzten (der unorganischen Natur); als Lebendiges fühlt es daher den Mangel, dass ihm die unorganische Natur entgegengesetzt und vorausgesetzt ist.345 Durch die Assimilation hebt es diesen Mangel auf und beweist damit, dass die ihm scheinbar entgegengesetzte und vorausgesetzte unorganische Natur in Wahrheit seine unorganische Natur ist.346 Dadurch zeigt sich, dass das Tier als Einzelnes an sich konkretes Allgemeines, Gattung ist, weil
343
EPW, § 355. Vgl. ebd., § 357. 345 Vgl. ebd., § 359. 346 Nach Hegel zeigt sich in der Aneignung der äußeren, unorganischen Natur ein wichtiger Unterschied zwischen Menschen und Tieren: Während sich Tiere nur einen beschränkten Kreis der äußeren Natur zu eigen machen können – das nämlich, was den Reproduktionsbedingungen ihrer Art entspricht –, ist der Mensch als das »allgemeine, denkende Tier« (TWA 9, § 361 Z) in der Lage, sich alle Gegenstände der unorganischen Natur anzueignen, weil er sich auf universale Weise auf sie beziehen kann (vgl. ebd.). Für den Menschen ist also die unorganische Natur in ihrer Totalität seine unorganische Natur. 344
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
es sein eigenes Gegenteil übergreift. Es produziert sich selbst als Individuum aus seinem Gegenteil und erhält sich dadurch – es negiert also die anfängliche Unmittelbarkeit, in die es gesetzt ist. Trotzdem ist damit seine Unmittelbarkeit und Natürlichkeit noch nicht vollständig aufgehoben, sondern nur unmittelbar negiert worden.347 Nach Hegel hat sich jedoch im Assimilationsprozess gezeigt, dass nicht nur das einzelne Lebendige, sondern damit auch der sich realisierende Begriff des Lebens an sich konkretes Allgemeines, Gattung ist. In der ansichseienden Einheit mit dem Einzelnen ist das Leben als Gattung jedoch noch nicht für sich als Einheit gesetzt. Die Gattung muss sich selbst Existenz als subjektive Allgemeinheit erst noch verschaffen.348 Am einzelnen Lebendigen kann sie sich keinen adäquaten Ausdruck verleihen. Deshalb tritt nach Hegel die Gattung nun dem einzelnen Lebendigen, das nur an sich allgemein und Gattung ist, dies aber nicht befriedigend realisieren kann, entgegen und versucht, ihre beiden Seiten, Allgemeinheit und Einzelheit, miteinander zu vermitteln. Dieser Prozess, in dem sich die Gattung mit sich selbst vermittelt, enthält eine doppelte Negation: Erstens negiert die Gattung darin, bloß »innerliche Allgemeinheit«349 zu sein – sie will sich also auch äußere Existenz in der Natur verschaffen. Zweitens negiert sie die bloß unmittelbare Einzelheit des Lebendigen350, indem sie sich ihm gegenüber als die Macht erweist, die es vernichtet. Resultat des Gattungsprozesses wird somit sein, dass die Idee des Lebens als Allgemeinheit zu sich kommt und sich selbst äußere Existenz verschafft, indem sie als Gattung das unmittelbare Einzelne, das sie zuvor gesetzt hatte, wieder negiert. Die Gattung verschafft sich äußerlich in der Natur zunächst dadurch Existenz, dass sie an den Individuen als Artbestimmtheit erscheint.351 Sie gelangt als Art zur Einheit und zum Fürsichsein, indem sie sich von anderen Arten unterscheidet und diese negiert. Die Negation zeigt sich darin, dass die Individuen einer bestimmten Art Individuen einer anderen Art zu ihrem Nahrungsmittel haben und sie somit »in feindlichem Verhalten (…) zur unor-
347
Vgl. EPW, § 367. Vgl. ebd. 349 Ebd. 350 Vgl. Ebd. 351 Die Art ist logisch gesehen das Besondere neben der Gattung als dem Allgemeinen und dem Individuum als dem Einzelnen. Da sich die Gattung in der Natur an einem unmittelbar Seienden darstellen muss, kann sie sich unmittelbar nur als Besonderheit, nicht als Allgemeinheit selbst darstellen. Das Lebendige ist als Natürliches somit immer nur ein Besonderes, d. h. Individuum einer bestimmten Art, nie allgemeines Gattungswesen, denn die Gattung kann sich nicht an einem Natürlichen als unmittelbare Bestimmtheit realisieren (vgl. TWA 9, § 368 Z). 348
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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ganischen Natur«352 herabsetzen. Mit der Artbestimmtheit ist deshalb nach Hegel eine Form des Todes bezeichnet: der gewaltsame Tod nämlich, den die Tiere durch Lebewesen einer anderen Art erleiden.353 Als Art hat sich die Gattung zwar als fürsichseiende Einheit darstellen können, aber zunächst nur so, dass sich die Individuen einer Art nicht positiv auf ihre an sich seiende Allgemeinheit beziehen konnten; in ihrer Artbestimmtheit kam lediglich ein negatives Verhalten der einzelnen Individuen auf ihre Gattungsallgemeinheit zum Ausdruck, denn die Individuen einer Art vernichten darin Individuen einer anderen Art und werden umgekehrt von Individuen einer anderen Art vernichtet. Die Allgemeinheit der Gattung konnte als Artbestimmtheit an den Individuen somit ihre Einheit nur negativ gegen andere Arten darstellen; um selbst subjektives Allgemeines zu sein, muss sie sich jedoch auch positiv auf sich beziehen können. Das bedeutet zugleich, dass die Individuen in ihr ein positives Verhältnis zu ihrer eigenen an sich seienden Allgemeinheit bekommen können müssen, denn die Gattung kann sich in der Natur nur vermittelt über die natürlichen Individuen realisieren. Nach Hegel haben die Individuen ein positives Verhältnis zu sich als Gattungswesen in dem Prozess der Begattung, in dem die Individuen in ihrer Beziehung zu einem Individuum derselben Art und des anderen Geschlechts die Gattung hervorbringen. In der Begattung verhalten sich die Individuen also nicht mehr bloß ausschließend zueinander, wie Individuen einer andern Art, sondern sie empfinden sich selbst im andern.354 Dass die Individuen den Trieb haben, sich mit einem Individuum derselben Art und des anderen Geschlechts zu vereinigen, leitet Hegel aus dem Widerspruch ab, der dem einzelnen Tier immanent ist und Resultat des Übergangs von der Assimilation zum Gattungsprozess war: Es ist nämlich »als Einzelnes der immanenten Gattung nicht angemessen, und zugleich deren identische Beziehung auf sich in Einer Einheit«355. Wie schon im Assimilationsprozess, so fühlt auch im Gattungsprozess das lebendige Individuum es als Mangel, dass es seiner eigenen Allgemeinheit unangemessen ist. Dass es diesen Mangel fühlt, zeichnet es als lebendiges Individuum aus: »Nur ein Lebendiges fühlt Mangel; denn nur es ist in der Natur der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist. Wo eine Schranke ist, ist sie eine Negation nur für ein Drittes, für eine äußerliche Vergleichung. Mangel aber ist sie, insofern in einem ebenso das 352 353 354 355
EPW, § 368. Vgl. ebd. Vgl. ebd., § 369. Ebd.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Darüberhinausseyn vorhanden, der Widerspruch als solcher immanent und in ihm gesetzt ist. Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subject; diß macht seine Unendlichkeit aus.«356 Triebe bestimmt Hegel ganz allgemein als Tätigkeit, einen gefühlten Mangel aufzuheben.357 Im Geschlechtstrieb äußert sich nun im lebendigen Individuum, dass es die ihm immanente Gattung realisieren möchte, um den Mangel, der mit dem ihm immanenten Widerspruch gesetzt ist, aufzuheben. Über den Geschlechtstrieb realisiert sich somit die Gattung in ihm: »Die Gattung in ihm ist daher als Spannung gegen die Unangemessenheit ihrer einzelnen Wirklichkeit der Trieb, im Andern seiner Gattung sein Selbstgefühl zu erlangen, sich durch die Einung mit ihm zu integriren und durch diese Vermittlung die Gattung mit sich zusammenzuschließen und zur Existenz zu bringen – die Begattung.«358 Die Geschlechterdifferenz ist also aus dem Verhältnis der Gattung heraus gesetzt, denn die Individuen sind nur »als Differente Trieb«359. Ein Individuum bezieht sich auf ein Individuum derselben Art des anderen Geschlechts, um die Gattung hervorzubringen und damit seine eigene ihm immanente Allgemeinheit, seine Gattungsfähigkeit, zu realisieren. Der Geschlechtstrieb wird somit nicht als Trieb einfach vorausgesetzt, sondern aus dem den Individuen immanenten Widerspruch abgeleitet, der nichts anderes ist als Ausdruck der allgemeinen Gattung, die sich auch außerhalb der Individuen Existenz verschaffen möchte. Produkt der Begattung ist nach Hegel »die negative Identität der differenten Einzelheiten, als gewordene Gattung ein geschlechtloses Leben«360. In der Begattung realisiert sich also die Gattung auf Kosten der Einzelheit der Individuen, die ihre Einzelheit in der Begattung zugunsten der Allgemeinheit der Gattung aufgeben. In der realisierten Gattung ist die Geschlechtlichkeit selbst verschwunden, weil die Differenz der Geschlechter in der Einheit aufgehoben ist, sodass die Individuen als Angehörige derselben Gattung »nur als ein Geschlecht existieren. Ihre Vereinigung ist das Verschwinden der Geschlechter, worin die einfache Gattung geworden ist.«361 Hegel spielt hier mit 356 357 358 359 360 361
Ebd., § 359 Anm. Vgl. ebd., § 360. Ebd., § 369. TWA 9, § 369 Z. EPW, § 370. TWA 9, § 369 Z; vgl. GW 8, S. 172, 15 f.
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der doppelten Bedeutung des Wortes ›Geschlecht«, mit dem einerseits die Geschlechterdifferenz bezeichnet wird, andererseits die Einheit einer Art, wie z. B. im Ausdruck ›das Menschengeschlecht‹, oder auch die Einheit eines Familienverbandes, wenn man z. B. von einem ›Herrschergeschlecht‹ spricht.362 Indem die Geschlechterdifferenz in der Einheit der Begattung aufgegeben wird, kann das eine Geschlecht, die Gattung selbst als nicht geschlechterdifferentes und somit geschlechtsloses Leben, darin für sich werden. In der Natur muss sich dieses Produkt jedoch selbst wieder unmittelbar an einem Seienden darstellen. Die Gattung, die sich in der Begattung Existenz verschafft, fällt daher in der Natur wieder zurück in die Einzelheit: Denn das Produkt der Begattung in der Natur ist ein neu geborenes Individuum – also »selbst ein unmittelbar Einzelnes, welches die Bestimmung hat, sich zu derselben natürlichen Individualität, der gleichen Differenz und Vergänglichkeit zu entwickeln.«363 Das Neugeborene ist als unmittelbares natürliches Einzelnes ebenso wie seine Eltern wieder nur an sich Gattung und trägt denselben Widerspruch in sich, der schon seine Eltern bestimmte. Es entwickelt sich dadurch wieder zu einem geschlechtlich differenzierten Wesen, das den Trieb hat, mit einem Individuum derselben Art und des anderen Geschlechts seine ihm immanente Gattung zu realisieren. In der Natur kann sich die Gattung somit nur als der unendliche Progress der Generationenabfolge darstellen. Sie kann nie als konkrete subjektive Allgemeinheit an und für sich sein; dazu ist, wie sich noch zeigen wird, nur der Geist fähig. Da sich die Gattung in der Natur nur in der Generationenabfolge darstellen kann, ist mit der Geschlechterdifferenz und der Fortpflanzung nach Hegel der Tod der einzelnen Individuen verbunden. Indem die Individuen in der Begattung die ihnen immanente Allgemeinheit der Gattung realisieren, geben sie zugleich ihre Einzelheit auf, was für sie bedeutet, dass sie sterben. Niedere Tiere – Hegel bringt die Schmetterlinge als Beispiel – sterben deshalb Hegel zufolge auch unmittelbar nach der Begattung.364 Höhere Tiere, die mehr Selbständigkeit gegenüber der Allgemeinheit der Gattung besitzen, können sich dagegen zwar auch nach der Begattung noch am Leben erhalten; das ändert jedoch nichts daran, dass auch ein höheres Tier als bloßes Moment der Gattung in ihr untergeht und dass Individuen der nächsten Generation an seine Stelle treten werden. Wie schon in der Artbestimmtheit ist also auch mit der Geschlechtlichkeit eine Todesweise verknüpft, die sich auf die Unangemessenheit des Individuums an die Allgemeinheit der Gat362 363 364
Vgl. Brauer 2007, S. 93. EPW, § 370. Vgl. TWA 9, § 370 Z; GW 8, S. 175, 2 f.
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tung zurückführen lässt, die nach Hegel im Tier der »angeborne Keim des Todes«365 ist. Diese Unangemessenheit ist Hegel zufolge auch der Grund dafür, dass das Individuum im Laufe seines Lebens mit verschiedenen Krankheiten kämpfen muss, bis es ihnen schließlich entweder erliegt oder aber aus sich selbst heraus eines natürlichen Todes im Alter stirbt.366 Die an sich vorhandene Identität der Einzelheit mit der Allgemeinheit in der Individualität des Tieres kann sich nur abstrakt realisieren, im Tod des Tieres, in dem es seine Einzelheit nicht mehr gegenüber der Allgemeinheit behauptet.367 Als Lebendiges kann es aufgrund seiner unmittelbaren Einzelheit seiner Allgemeinheit keinen adäquaten Ausdruck verleihen: »Die innere Allgemeinheit bleibt daher gegen die natürliche Einzelnheit des Lebendigen die negative Macht, von welcher es Gewalt leidet und untergeht, weil sein Daseyn als solches nicht selbst diese Allgemeinheit in sich hat, somit nicht deren entsprechende Realität ist.«368 Betrachtet man den Gattungsprozess vornehmlich nach der Seite, dass im Tod des einzelnen Tieres eine Identität der Einzelheit mit der Allgemeinheit erreicht ist, so hält man allein die abstrakte Seite dieser Identität fest, denn diese Identität ist nicht mehr Gegenstand für das einzelne Tier selbst. Mit dem Gattungsprozess als Ganzem hat sich nach Hegel jedoch die Identität von Einzelheit und Allgemeinheit auch als konkrete Allgemeinheit erwiesen: Indem im allgemeinen natürlichen Gattungsprozess die Einzelnen, die zunächst als unmittelbare Lebendige bloß vorausgesetzt waren, in der Allgemeinheit der Gattung untergehen und zugleich neue einzelne Lebendige erzeugt werden, verwirklicht sich die Idee des Lebens als Prozess des Setzens und Aufhebens der unmittelbaren Einzelheit. Im Gattungsprozess ist die Idee des Lebens somit für sich geworden. Sie ist die Einheit der Gattung, die sich selbst in der Einzelheit lebendiger Individuen realisiert und diese Unmittelbarkeit wieder in sich zurücknimmt. Sie ist Gattung nicht nur als negative Einheit, sondern als Prozess des Setzens und Aufhebens der unmittelbaren Einzelheit, sodass in ihr Einzelheit und Allgemeinheit eins sind. In dieser vermittelten Identität von Allgemeinheit und Einzelheit ist nach Hegel der Übergang zur Philosophie des Geistes enthalten, denn das Leben ist nach Hegel an sich das, was der Geist für sich ist – konkrete Allgemeinheit, Gattung. Mit dem Tod des Lebendigen ist
365 366 367 368
EPW, § 375; vgl. auch TWA 8, § 221 Z. Vgl. ebd., §§ 371–375. Vgl. ebd., § 376. Ebd., § 374.
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»(d)ie Natur (…) in ihre Wahrheit übergegangen, in die Subjectivität des Begriffs, deren Objectivität selbst die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelheit, die concrete Allgemeinheit ist, so daß der Begriff gesetzt ist, welcher die ihm entsprechende Realität, den Begriff zu seinem Daseyn hat, – der Geist.«369 Nach Fulda gehört es »vermutlich zu den tiefsinnigsten Gedanken Hegels, dass unser Geist in der Natur gerade am Verschwinden unserer eigenen, natürlichen Existenz sein Gegenbild findet.«370 Das Hervorgehen des Geistes ist selbst kein natürliches Hervorgehen, sondern erfolgt als eine Entwicklung des Begriffs, der sich in der Natur noch nicht adäquat verwirklichen kann.371 Er kann sich erst als Geist, als allgemeines Denken verwirklichen, denn der Geist ist die Gattung, die nicht nur an sich, sondern auch für sich selbst Gattung ist.372 Der Geist ist konkrete Allgemeinheit. Er ist Ich, das seine unmittelbare Einzelheit negieren und sich in dieser Negation erhalten kann. Anders als das bloß Lebendige, das in der Negation seiner unmittelbaren Einzelheit untergeht, kann der Geist als Selbstbewusstsein oder Ich diese Negation an sich selbst vollziehen und sich in diesem Prozess als konkretes Allgemeines, als Gattung für sich selbst realisieren. Er kann sich sein äußerliches Dasein geben, das er zugleich in sich aufhebt.373 Um die Bedeutung, die Hegel dem natürlichen Geschlechterverhältnis innerhalb des Gattungsprozesses beimisst, noch genauer zu erfassen, ist es erhellend, Aussagen aus dem Zusatz zu § 369 der Enzyklopädie in die Erörterung mit einzubeziehen. Während in den Hauptparagrafen374 der Akzent darauf liegt, zu zeigen, wie sich die Gattung in der Generationenabfolge durch die Vereinigung und den anschließenden Untergang der Individuen einer Art realisiert, wird im Zusatz deutlicher, welche Bedeutung der Prozess der Begattung für das einzelne Tier hat. Aufgrund der Dialektik von Gattung und Individuum handelt es sich dabei um ein und denselben Prozess, der sich jedoch aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten lässt, einmal aus der Perspektive der sich realisierenden Gattung als Allgemeinheit, dann aus der Perspektive des Individuums als Einzelheit, das sich in der Realisierung der Gattung als bloßes Moment der Allgemeinheit der Gattung erweist. Das 369 370 371 372 373 374
Ebd., § 376. Fulda 2003, S. 152; vgl. Jaeschke 2003, S. 346. Vgl. TWA 8, § 381 Z. Vgl. PhG, S. 104, 32 – S. 107, 24. Vgl. EPW, § 382 und § 383. Vgl. ebd., § 369 und § 370.
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Verhältnis des einzelnen natürlichen Individuums zu seiner Gattungsfähigkeit in der Natur ist für den Zusammenhang zu den Grundlinien deshalb so entscheidend, weil es in der Philosophie des objektiven Geistes darum geht, zu zeigen, wie sich die Individuen in der Ehe ihre eigene natürliche Geschlechtlichkeit als Individuen aneignen können. Im § 369 wurde deutlich, dass das Tier aufgrund des in ihm selbst vorhandenen Widerspruchs den Trieb hat, seine ihm immanente Allgemeinheit zu realisieren und tätig hervorzubringen. Es fühlt, dass das andere Individuum nichts anderes ist als es selbst: Gattungswesen. Nach § 369 Z ist der Gattungsprozess nun der Prozess, in dem zwei Individuen derselben Art und des anderen Geschlechts »das, was sie an sich sind, eine Gattung, dieselbe subjektive Lebendigkeit, auch als solche setzen«375, indem sie in der Begattung selbst die Gattung als Einheit hervorbringen. Dieser Akt ist Hegel zufolge für das Tier die höchste Form, in der es sich selbst als Allgemeines realisiert und auch erfasst, wenn auch in einer noch sehr rudimentären Form, in einem bloß natürlichen Gefühl. Es ist der Akt, in dem die bloß natürlichen Individuen, d. h. auch die Menschen insofern sie nur als Naturwesen betrachtet werden, in der Natur die Idee in höchster Weise realisieren: »Die Idee der Natur ist hier [in der Begattung, Anm. EB] wirklich in dem Paare eines Männchens und Weibchens; ihre Identität wie ihr Fürsichsein, die bisher nur für uns in unserer Reflexion waren, sind jetzt in der unendlichen Reflexion der beiden Geschlechter in sich von ihnen selbst empfunden. Dies Gefühl der Allgemeinheit ist das Höchste, zu der es das Tier bringen kann; theoretischer Gegenstand der Anschauung aber wird ihm darin seine konkrete Allgemeinheit immer nicht, sonst wäre es Denken, Bewußtsein, worin allein die Gattung zur freien Existenz kommt.«376 Das natürliche Individuum, das Tier, erhebt sich somit in der Beziehung auf ein Individuum des anderen Geschlechts zur Allgemeinheit der Gattung. Dieser emphatischen Darstellung des Geschlechterverhältnisses und des Gattungsprozesses in der Natur entspricht auch eine Formulierung aus der enzyklopädischen Logik, nach der für das Tier »der Prozess der Gattung der höchste Punkt seiner Lebendigkeit«377 ist. In der Pflege der Jungen, die Produkt der Begattung sind, ist den Säugetieren als den höheren Tieren das Gefühl für die Einheit der Gattung und somit für ihre eigene Allgemeinheit in der Form eines Gefühls auch gegenständlich: 375 376 377
TWA 9, § 369 Z. Ebd. TWA 8, § 221 Z.
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»Die Säugetiere (…) säugen und nähren (…) ihre Jungen aus sich selbst. Diese Tiere kommen so zum Gefühl der Einheit des einen Individuums mit einem anderen, zum Gefühl der Gattung, die im Erzeugten, worin eben beide Individuen Gattung sind, zur Existenz gelangt, wenn auch diese Einheit des Individuums mit der Gattung in der Natur wieder zur Einzelheit herunterfällt. Die vollkommenen Tiere verhalten sich aber noch zu dieser Existenz als Gattung, indem sie darin ihr Allgemeines empfinden; das sind die Säugetiere und unter den Vögeln die, welche noch brüten. Die Affen sind am bildsamsten und lieben ihre Jungen am meisten; der befriedigte Geschlechtstrieb wird ihnen noch objektiv, indem sie selbst in ein Anderes übergegangen sind und in der Sorge für die Mitteilung von dem Ihrigen die höhere begierdelose Anschauung dieser Einheit haben.«378 Dass das Tier im natürlichen Gattungsprozess sowohl in der Begattung als auch in der Aufzucht der Jungen die höchste Empfindung seiner ihm immanenten Allgemeinheit hat, ändert jedoch nichts daran, dass es in diesem Prozess zugleich der Gattung untergeordnet bleibt. Seine Unterordnung unter die Gattung kommt darin zum Ausdruck, dass es im Gattungsprozess notwendig untergeht und stirbt, denn es bringt die Einheit der Gattung wieder nur auf natürliche Weise hervor: in einem einzelnen natürlichen Individuum, das die Gattung wieder nur mangelhaft realisieren kann. Es überwindet zwar im Prozess der Gattung seine Unmittelbarkeit, fällt jedoch als Natürliches immer wieder in die Unmittelbarkeit der Natur zurück.379 Das einzelne Individuum kann seine Unterordnung unter die Gattung nicht aufheben, weil es die Gattung nicht selbst begreifen kann – wenn es das könnte, wäre es der Gattung angemessen und als Einzelnes für sich selbst die vermittelte Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit. Das Tier kann somit im Gattungsverhältnis zwar zu einem Selbstgefühl, zum Empfinden seiner Allgemeinheit kommen, aber es kann darin nicht frei sein, denn es bleibt dem Prozess untergeordnet. Erst der Mensch, insofern er geistiges Wesen ist, kann den Gattungsprozess als bloßen Progress ins Unendliche dadurch übersteigen, dass er als Selbstbewusstsein zugleich für sich selbst die Gattung ist.380 Nur dem Menschen ist es somit möglich, sich über die Natur zu erheben, sich als Geist zu realisieren und sich damit als Individuum von der Unterordnung 378
TWA 9, § 368 Z. Vgl. TWA 8, § 221 Z. 380 Dass das Leben als Gattungsprozess die Struktur des Geistes hat, aber im Gegensatz zum Geist nicht in der Lage ist, diese Struktur auch zu begreifen, weil es nicht, wie das Selbstbewusstsein oder der Geist, »für sich selbst Gattung ist«, hat Hegel bereits in der Phänomenologie im Kapitel IV dargestellt (vgl. PhG, S. 104, 32 – S. 107, 24). 379
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
unter die Gattung zu befreien. Als denkender kann der Mensch seine Unmittelbarkeit und Einzelheit negieren und dadurch im anderen bei sich und somit frei sein.381 Innerhalb dieses Befreiungsprozesses nimmt die Befreiung von der unmittelbaren Unterordnung unter die Gattung durch die Transformation des natürlichen Gattungsverhältnisses in eine selbstbewusste Einheit der Liebe eine wichtige Stellung ein.
II.2.2.3 »Selbstbewußte Liebe« und Anerkennung Um die innere Struktur der »selbstbewussten Liebe« in der Ehe genauer zu bestimmen, ist es nützlich, die entsprechenden Passagen aus der Nachschrift von Griesheim hinzuzunehmen, in denen das Liebesverhältnis der Ehepartner genauer expliziert wird.382 Dort wird zunächst die Bestimmung wiederholt, die für die familiäre Liebe kennzeichnend ist: In der Liebe ordnen die Individuen ihr Fürsichsein oder ihre Selbständigkeit der Einheit der Liebe unter. Neu ist die differenzierte Bestimmung der Momente der Liebe: »Die Liebe hat diesen Inhalt, daß ich mich bedürftig, unvollständig fühle, ich bin selbständig, dieß ist gerade in der Liebe das Mangelhafte, ich will in der Liebe nicht dieses selbständige Person für mich sein. In der Liebe negire ich diese Selbständigkeit. Das ist das erste Moment. Das zweite ist aber daß ich mich in dieser Negation halte, behalte, mich gewinne in einer anderen Person, so daß ich in ihr die Anschauung, das Bewußtsein habe daß ich ihr gelte, in ihr mein Gelten habe, aber nicht nur ich, sondern daß sie auch ihr Gelten in mir hat.«383 Mit diesen zwei widersprüchlichen Momenten ist die Liebe der »ungeheuerste Widerspruch«384, den nur die spekulative Vernunft – d. h. nicht der abstrakte Verstand – begreifen kann. Der Widerspruch der zwei Momente besteht darin, dass das Individuum einerseits affirmativ seine Selbständigkeit voraussetzt und andererseits diese vollständig negiert. Indem es in der Liebe
381
Vgl. EPW, § 382; TWA 10, § 396 Z. Vgl. Gr, S. 420, 4 f. Diese Passagen stellen deshalb eine nähere Bestimmung des Liebesverhältnisses der Ehepartner dar, weil darin davon ausgegangen wird, dass zwei selbständige Personen zueinander in einem Liebesverhältnis stehen. Kinder sind aber nach Hegel noch keine selbständigen Personen, was nicht nur in ihrer Hilfsbedürftigkeit, sondern auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie noch nicht als Rechtspersonen anerkannt werden (vgl. GPR, § 175; II.2.4.1). 383 Gr, S. 420, 11 f. 384 Ebd., S. 420, 25. 382
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
155
als »sittliche(r) Einigkeit«385 aufgeht, sich darin vollständig hingibt und mit dem Partner oder der Partnerin eine Person ausmacht,386 löst es diesen Widerspruch auf. Es realisiert sich dann gerade in der Einheit der Liebe, deren Moment es ist. Indem die Individuen in der Einheit der Liebe ihre Selbständigkeit aufgeben, gewinnen sie sich also auf einer höheren Stufe zurück, denn sie finden sich in einem Anderen. Die selbstbewusste Liebe als eine Darstellungsform des freien Willens hat damit die Struktur des ›Bei-sich-sein-imAnderen‹.387 Hegel nimmt hier zahlreiche Motive aus seinen frühen Schriften wieder auf, für die der Begriff der Liebe zentral war.388 In den Frankfurter Entwürfen über Religion und Liebe389 hatte er den Gedanken, dass die Liebenden sich gerade finden, indem sie sich im anderen verlieren, an Shakespeares Romeo und Julia verdeutlicht: »(D)asjenige, das nimmt, wird dadurch nicht reicher als das andere; es bereichert [sich] zwar, aber um ebensoviel das andere; ebenso dasjenige, das gibt, macht sich nicht ärmer; indem es dem anderen gibt, hat es um ebensoviel seine eigenen Schätze vermehrt. Julia in Romeo: je mehr ich gebe, desto mehr habe ich (…).«390 Wahre Liebe kann deshalb auch nur unter Partnern stattfinden, die »an Macht sich gleich«391 sind. Diese Bestimmung der Gleichberechtigung der 385
Ebd. Vgl. GPR, § 162; II.2.2.6. 387 Vgl. II.1.2.2. 388 Vgl. Dilthey [1905] 1959; Baum 1986, S. 35–48; Düsing/Düsing 2004. 389 TWA 1, S. 239–255. 390 Ebd., S. 248. 391 Ebd., S. 245. Hans-Christian Lucas stellt die Behauptung auf, dass es innerhalb der hegelschen Auffassung der Liebe einen Bruch gebe, der darin zum Ausdruck komme, dass Hegel in den Frühschriften Shakespeares Romeo und Julia, in den späteren Schriften dagegen Sophokles’ Antigone zum Vorbild nehme (vgl. Lucas 1988). Die Tatsache, dass in der Mitschrift von 1819/20 Shakespeares Julia in exakt demselben Zusammenhang erwähnt wird wie in den Frühschriften (vgl. AnL, S. 129, 28–30), weist darauf hin, dass es einen solchen ›Bruch‹ nicht gegeben hat. Vielmehr steht Antigone für Hegel in einem anderen Kontext – der griechischen Sittlichkeit nämlich –, während Julia den Begriff der Liebe, wie er für die Neuzeit kennzeichnend ist, repräsentiert. Nach Lucas hat Hegel im Laufe der Zeit seine Auffassung geändert, dass die zwei Liebenden gleichberechtigte Partner sein müssen. In den Notizen der Grundlinien fordert Hegel jedoch auch (wenn nicht sogar gerade!) für die Liebesbeziehung in der Ehe der Neuzeit ausdrücklich »Gleichheit Dieselbigkeit der Rechte und der Pflichten – Mann soll nicht mehr gelten als die Frau.« (GW 14,2, S. 749, 16 f.) Lucas’ These findet sich auch wieder bei Fan 1998, S. 113 f., der u. a. daraus fälschlicherweise schließt, Hegel behandle in der Phänomenologie gar nicht die archaische Familie der griechischen Sittlichkeit, sondern das neuzeitliche Geschlechterverhältnis. 386
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Partner in der Liebe spielt für Hegels Begriff der Ehe eine wichtige Rolle – ob sie in seiner Familientheorie auch praktisch eingelöst ist, muss jedoch noch diskutiert werden.392 Es liegt sehr nahe, bei dieser Bestimmung der Liebe als ›Bei-sich-sein-imAnderen‹ an Hegels Bestimmung des Selbstbewusstseins und der Anerkennung zu denken; denn zur Anerkennungsbewegung des Selbstbewusstseins gehört nach Hegel ebenfalls, dass sich das Selbstbewusstsein im anderen Selbstbewusstsein verliert und zugleich in ihm wiedergewinnt. Es soll daher diskutiert werden, ob es sich bei der Liebe um eine Form der Anerkennung handelt.393 Dazu soll zunächst Hegels Begriff der Anerkennung, wie er ihn im Rahmen seines Begriffs des allgemeinen Selbstbewusstseins entwickelt hat, kurz in Erinnerung gerufen werden. Dann soll erläutert werden, wie sich die Begriffe der Anerkennung und der Liebe zueinander verhalten. Der Begriff der Anerkennung ist ein zentraler Begriff der hegelschen Philosophie. Hegel behandelt ihn in der Philosophie des subjektiven Geistes im Zusammenhang mit der Entwicklung des Begriffs des allgemeinen Selbstbewusstseins.394 Hegel stellt dort die These auf, dass sich Selbstbewusstsein überhaupt nur realisieren kann, wenn es einen Prozess gibt, in dem sich zwei Selbstbewusstseine wechselseitig als Selbstbewusstseine anerkennen. Dieser Prozess hat folgende drei Stufen395: 1) Damit ein Selbstbewusstsein sich seiner selbst bewusst werden kann – das heißt sich seiner selbst als Bewusstsein bewusst ist – muss es sich zunächst selbst zum Gegenstand haben. Es muss daher »außer sich« gekommen sein396 – d. h., es muss auf ein anderes Selbstbewusstsein gestoßen sein. Dies bedeutet einerseits, dass es sich selbst in einem anderen Selbstbewusstsein verliert und andererseits, dass es das andere Selbstbewusstsein aufhebt, denn es sieht im anderen nur sich selbst. 2) Weil sich das Selbstbewusstsein im anderen Selbstbewusstsein verloren hat, muss es darauf gehen, das andere selbständige Wesen aufzuheben, um seiner selbst als Wesen gewiss zu werden; damit hebt es jedoch sich selbst auf, denn das andere ist es selbst – Selbstbewusstsein. 392
Vgl. II.2.2.10.1. Zur Diskussion, ob die Liebe eine Form der Anerkennung ist, vgl. Honneth 2001; Brauer 2007; Siep 1979; Williams 1997; Neuhäuser 1994; Elsigan 1972. 394 Vgl. PhG, S. 109, 5–110, 29; EPW, § 430 ff. 395 Diese Darstellung des Begriffs der Anerkennung orientiert sich an der Darstellung der Anerkennungsbewegung in der Phänomenologie (vgl. PhG, S. 109, 5–110, 29). Hegel behandelt die Anerkennungsbewegung auch in der Phänomenologie der Enzyklopädie, allerdings weniger ausführlich (vgl. EPW, § 430 f.). 396 Vgl. PhG, S. 109, 19 f. 393
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
157
3) Dieses »doppelsinnige Aufheben« ist nach Hegel jedoch zugleich »eine doppelsinnige Rückkehr in sich selbst«397: Erstens erhält sich das Selbstbewusstsein durch Aufheben des anderen Selbstbewusstseins selbst zurück. Zweitens gibt es das andere Selbstbewusstsein sich selbst zurück; es entlässt das andere wieder frei. Hegel betont, dass man diesen Vorgang nicht nur als Tun eines Selbstbewusstseins denken darf, sondern es als gegenseitiges Tun beider Selbstbewusstseine denken muss. Das eine Selbstbewusstsein kann nicht über das andere verfügen, wenn das andere Bewusstsein nicht dieselbe Bewegung macht. Es handelt sich also um ein im doppelten Sinne doppelsinniges Tun: Als Tun gegen sich und gegen anderes einerseits, und als Tun des Einen wie des Anderen andererseits. Nach Hegel ist Selbstbewusstsein überhaupt Resultat dieser Anerkennungsbewegung, bzw. die Anerkennungsbewegung ist Voraussetzung dafür, dass die Selbstbewusstseine an und für sich Selbstbewusstsein sind. Zugleich zeigt sich in diesem Prozess das erste Mal das Selbstbewusstsein des Geistes, denn in diesem Prozess erscheint das allgemeine Selbstbewusstsein, das die sich wechselseitig anerkennenden Selbstbewusstseine übergreift. Man kann diesen Anerkennungsprozess daher aus zweierlei Perspektive betrachten: 1) Vom allgemeinen Selbstbewusstsein aus betrachtet (wenn man sich also fragt, wie es Selbstbewusstsein überhaupt geben kann), stellt es sich so dar, dass dieses sich im Verhältnis zweier Selbstbewusstseine realisiert, die sich jeweils als Selbstbewusstsein anerkennen. In dem Verhältnis der Selbstbewusstseine zueinander kommt daher erstmals das Selbstbewusstsein des Geistes zum Ausdruck, das das übergreifende Allgemeine der verschiedenen Selbstbewusstseine ist.398 2) Das Faszinierende an diesem Verhältnis ist aber, dass jedes einzelne Selbstbewusstsein als einzelnes Selbstbewusstsein zugleich allgemeines Selbstbewusstsein ist. Es realisiert also als Einzelnes, was es heißt, allgemeines Selbstbewusstsein zu sein. In der vollendeten Anerkennung ist die Einheit (das Selbstbewusstsein als Verhältnis zweier Selbstbewusstseine) also identisch mit den in dieser Einheit zugleich selbständigen Selbstbewusstseinen. In der Phänomenologie der Enzyklopädie hält Hegel als Resultat der Bewegung der Anerkennung fest:
397 398
Ebd., S. 109, 29 f. Vgl. ebd., S. 108, 35–39.
158
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
»Das allgemeine Selbstbewußtseyn ist das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst, deren jedes als freie Einzelnheit absolute Selbstständigkeit hat, aber, vermöge der Negation seiner Unmittelbarkeit oder Begierde, sich nicht vom anderen unterscheidet, allgemeines [Selbstbewußtsein] und objectiv ist und die reelle Allgemeinheit als Gegenseitigkeit so hat, als es im freien Andern sich anerkannt weiß, und diß weiß in sofern es das andere anerkennt und es frei weiß.«399 Das Anerkennungsverhältnis, aus dem das allgemeine Selbstbewusstsein hervorgeht, hat also folgende wesentliche Bestimmungen: 1) Es zeigt sich, dass die wirklichen Selbstbewusstseine bloß Momente des allgemeinen Selbstbewusstseins sind. Das sie übergreifende, allgemeine Selbstbewusstsein ist bestimmt als das erste Dasein des Geistes: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist«400. Der Geist ist selbst das Verhältnis der Selbstbewusstseine zueinander. 2) Die Selbstbewusstseine sind jedoch nicht bloß Momente, sondern sie sind zugleich als einzelne Selbstbewusstseine auch ›übergreifendes Allgemeines‹. Das heißt, dass jedes einzelne Selbstbewusstsein als Subjekt über sein Objekt übergreift und sich in diesem anderen bei sich weiß. Hegel spricht dabei auch davon, dass das Selbstbewusstsein zugleich Gattung ist, d. h., dass es Einzelnheit und Allgemeinheit übergreift und sich als dieses Übergreifende auch weiß. Das Bei-sich-sein-im-Anderen macht nach Hegel gerade seine Freiheit aus, denn es ist dadurch durch nichts ihm Fremdes, Äußerliches mehr bestimmt. Es erkennt vielmehr im Andern sich selbst. 3) Weiterhin kann festgehalten werden, dass das Verhältnis der beiden Selbstbewusstseine in der Anerkennung gekennzeichnet ist durch Symmetrie. Beide müssen sich in gleichem Maße anerkennen.401 Außerdem ist es gekennzeichnet durch Reziprozität im Sinne des wechselseitigen Tuns.402
399
EPW, § 436. PhG, S. 108, 39. 401 Dass nur in einem symmetrischen Verhältnis Anerkennung möglich ist, zeigt sich in der Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses. Da der Herr den Knecht nicht anerkennt und der Knecht sich selbst nicht anerkennt, kann sich das Anerkennungsverhältnis im Herr-Knecht-Verhältnis nicht realisieren. Vgl. PhG, S. 109, 5–116, 5. 402 Reziprozität und Symmetrie werden in der Forschungsliteratur häufig als das Hauptmerkmal der Anerkennungsbewegung bestimmt (vgl. Brauer 2007). Diese Bestimmung ist jedoch unzureichend, wie später gezeigt werden soll. 400
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
159
In der Forschungsliteratur wird das Anerkennungsverhältnis oft als ›intersubjektives Verhältnis‹ bezeichnet. Diese Bestimmung kann jedoch leicht irreführen. Denn ›intersubjektiv‹ heißt übersetzt ja nichts anderes als ›zwischen zwei Subjekten‹ – was allerdings die Subjekte schon voraussetzt. Hegels Pointe ist jedoch gerade, dass die Subjekte nur in dem Verhältnis überhaupt Subjekte sind. Ohne ein solches Verhältnis gibt es also keine Subjekte, das Verhältnis geht den Subjekten gewissermaßen ›voraus‹, es macht sie allererst zu Subjekten, auch wenn zugegebener Maßen ohne Subjekte auch kein Verhältnis ist. Zudem sind nach Hegel die Selbstbewusstseine in dem Verhältnis auch nicht bloß Subjekte. Vielmehr ist jedes Selbstbewusstsein sowie das Verhältnis, in dem beide zueinander stehen, zugleich subjektiv und objektiv.403 An dem einzelnen Selbstbewusstsein, das in dem Verhältnis steht, zeigt sich dies darin, dass es als Subjekt das ihm gegenständliche, objektive andere Selbstbewusstsein übergreift und zugleich durch das andere Selbstbewusstsein selbst als objektives, gegenständliches Selbstbewusstsein anerkannt wird. Das Verhältnis selbst ist ebenfalls subjektiv und objektiv zugleich: Es ist subjektiv, weil sich der Geist darin seiner selbst als Selbstbewusstsein bewusst wird und zugleich objektiv, weil es gegenüber den einzelnen Selbstbewusstseinen das sie übergreifende Allgemeine, ihnen gegenständliche, objektive Verhältnis ist. In der vollendeten Anerkennungsbewegung anerkennen die sich gegenseitig anerkennenden Selbstbewusstseine somit zugleich das sie übergreifende objektive Verhältnis, den Geist – und begreifen, dass sie selbst Geist sind. Anhand des Begriffs der Liebe soll gezeigt werden, welche Konsequenzen es für die Interpretation des hegelschen Begriffs der Liebe hat, wenn man außer Acht lässt, dass es sich bei der Anerkennung bzw. dem Selbstbewusstsein gerade nicht um ein bloß ›intersubjektives Verhältnis‹ handelt, sondern immer um ein Verhältnis, in dem der Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben ist. Der bisher dargestellte Begriff der Anerkennung ist nach Hegel der »reine Begriff des Anerkennens, der Verdoppelung des Selbstbewußtseyns in seiner Einheit«404. Anerkennung und Selbstbewusstsein sind also zwei unzertrennliche Begriffe. Der »reine Begriff« der Anerkennung wie des Selbstbewusstseins realisiert sich jedoch nicht unmittelbar, sondern entfaltet sich erst im Laufe einer Bewegung. Er ist erst vollständig realisiert, wenn das Selbstbewusstsein sich das Absolute selbst vollständig angeeignet hat, wenn es sich also im Absoluten selbst erkennt. Die Bewegung vom subjektiven Geist über den objektiven Geist bis hin zum absoluten Geist kann somit auch als eine Re403 404
Vgl. EPW, § 436. PhG, S. 110, 30 f.
160
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
alisierung der Anerkennung und des Selbstbewusstseins begriffen werden. Bei dieser Entwicklung kommt es wesentlich darauf an, dass das einzelne Selbstbewusstsein das es übergreifende Verhältnis, den Geist, begreift – wodurch das Absolute nichts mehr ihm Fremdes, Entgegengesetztes ist. Das Selbstbewusstsein erhebt sich dadurch vom bloßen Moment des Absoluten zum Absoluten selbst, denn indem es sich als Moment des Absoluten begreift, ist es nach Hegel selbst unendliches, absolutes Selbstbewusstsein. Häufig wird in der Forschungsliteratur zwischen einer ›horizontalen‹ und einer ›vertikalen‹ Richtung der Anerkennung unterschieden. ›Horizontal‹ soll die Anerkennung zwischen den einzelnen Selbstbewusstseinen sein, ›vertikal‹ dagegen die Anerkennung des sie jeweils übergreifenden Verhältnisses.405 Nach Hegel kommt es aber darauf an, dass in Wahrheit beides eins ist. Das einzelne Selbstbewusstsein begreift eben am adäquatesten, was es heißt, Selbstbewusstsein zu sein, wenn es begreift, dass es als Moment des es übergreifenden Selbstbewusstseins selbst allgemeines Selbstbewusstsein ist – und ebenso begreift es darin, dass das andere Selbstbewusstsein dasselbe ist wie es selbst, nämlich allgemeines Selbstbewusstsein. In der Philosophie des subjektiven Geistes müssen sich zunächst die Momente des Verhältnisses, die beiden Selbstbewusstseine, als Extreme darstellen: Es findet ein »Kampf um Anerkennung« statt. Mit der Philosophie des objektiven Geistes ist der Rechtszustand erreicht. In ihm ist der »Kampf um Anerkennung« abgeschlossen – der sittliche Zustand ist in diesem Sinne der »Zustand des Anerkanntseins«406. Die verschiedenen Stufen der Entfaltung des freien Willens können somit als immer vollkommenere Realisierungsformen des reinen Begriffs der Anerkennung wie des Selbstbewusstseins begriffen werden.407 Wie dies zu verstehen ist, soll am Begriff der familiären Liebe exemplarisch gezeigt werden. Auf den Zusammenhang des Begriffs des allgemeinen Selbstbewusstseins und des Begriffs der Liebe weist Hegel in der Enzyklopädie ausdrücklich hin: »Diß allgemeine Wiederscheinen des Selbstbewußtseyns, der Begriff, der sich in seiner Objectivität als mit sich identische Subjectivität und darum allgemein weiß, ist die Form des Bewußtseyns der Substanz jeder wesent405
Vgl. z. B. Honneth 1994; Siep 1979, S. 53. V 13, S. 175, 513; vgl. auch GPR, § 71 Anm.; TWA 10, § 432 Z; GW 25,1, S. 113, 5–24; II.3.1.3. 407 Zur Diskussion, ob in den Grundlinien Anerkennung (noch) eine Rolle spielt vgl. Honneth 2001; Siep 1979, S. 287 f.; Williams 1997; Brauer 2007, Theunissen 1982, Hösle 1987. 406
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
161
lichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats; so wie aller Tugenden, der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms.«408 Hegel geht dort davon aus, dass es sich beim allgemeinen Selbstbewusstsein um eine Struktur handelt, die in verschiedenen Formen des Bewusstseins der Substanz »widerscheint.« Dabei kommt es darauf an, dass das Selbstbewusstsein in der scheinbar ihm vorausgesetzten und entgegengesetzten Objektivität sich selbst erkennt – und so im Anderen bei sich sein kann. Genau dies soll Hegel zufolge in den verschiedenen Rechtssphären möglich sein: Dort soll das Selbstbewusstsein erkennen können, dass die ihm scheinbar vorausgesetzte Substanz, wie z. B. die Familie oder der Staat, nur der objektive Ausdruck des freien Willens und damit auch Ausdruck seiner eigenen Freiheit ist. Dass es sich bei der Philosophie des objektiven Geistes um ein Widerscheinen des Begriffs des Selbstbewusstseins handelt, ist naheliegend, da der Grundbegriff der Philosophie des objektiven Geistes, der Wille, Hegel zufolge ja nichts anderes ist als das Selbstbewusstsein oder Denken, das selbst praktisch wird.409 In diesem Sinne können also die verschiedenen Formen des Bewusstseins der Substanz in der Philosophie des objektiven Geistes als Konkretisierungsstufen des allgemeinen Begriffs des Selbstbewusstseins aufgefasst werden.410 Der abstrakte Begriff des Selbstbewusstseins lässt sich jedoch nicht ohne den Begriff der Anerkennung begreifen. Demnach wären
408
EPW, § 436 Anm. Der Wille hat deshalb auch dieselben Bestimmungen wie das allgemeine Selbstbewusstsein. Er unterscheidet sich dadurch, dass er als einzelner das Allgemeine nicht nur im Denken, sondern in der Praxis aneignet und sich dadurch als einzelner zum Allgemeinen erhebt. 410 In einer Vorlesungsnachschrift heißt es daher auch: »Das Selbstbewußtsein greift über sich über, es kontinuiert sich ins andere Selbstbewußtsein hinein, es sind nicht zwei selbstsüchtige gegeneinander, sondern es ist ein Selbstbewußtsein, und so ist es ein allgemeines Selbstbewußtsein. Insofern es ein besonderes ist, ist es getrennt vom anderen. Diese abstrakte Bestimmung ist dann in viel konkreterer Form vorhanden. Die Substanz dieses Selbstbewußtseins ist die Allgemeinheit – von sich, dieses Wissen von sich, hinauszugehen aus der Selbstsucht und sich in das andere hinein zu kontinuieren. In der Liebe ist diese Bestimmung. Ich bin ausschließend alles andere, und indem ich diese Einzelheit bin, bin ich nicht mehr selbstsüchtiges Ich, sondern freies Selbstbewußtsein, mich im anderen zu wissen und indem ich dieses weiß, mich identisch mit mir zu wissen. Alle Tugenden haben diese Grundlage, ebenso die Liebe. Goethe sagt: Ist Gehorsam im Gemüte, wird nicht fern die Liebe sein, d. h. ist die Schranke, Besonderheit aufgehoben, so ist das Selbstbewußtsein in der Bestimmung der Allgemeinheit und als Einzelnes frei. Gehorsam ist die negative Bestimmtheit gegen die Selbstsucht. Indem der Mensch sich zu verlieren scheint, sich in seiner Einsamkeit nicht aushalten kann, sondern ein anderes Bewußtsein braucht, so verliert er sich, aber gerade dieses Außersichsein ist der Gewinn seines substantiellen Selbstbewußtseins.« (V 13, S. 174, 492 – S. 175, 512). 409
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
die verschiedenen Stufen der Entwicklung des freien Willens in der Philosophie des objektiven Geistes Realisierungs- und Konkretisierungsstufen des vorher noch bloß abstrakten Begriffs nicht nur des Selbstbewusstseins, sondern auch der Anerkennung. In diesem Sinne kann also auch die familiäre Liebe, da sie eine »Form des Bewußtseyns der Substanz«411 ist, als eine Realisierungs- und Konkretisierungsstufe des Begriffs der Anerkennung und des Selbstbewusstseins begriffen werden.412 Da die familiäre Liebe ein Moment der Sittlichkeit ist, ist in ihr die Anerkennung konkreter und vollkommener als die bloß rechtliche Anerkennung der Rechtspersonen im abstrakten Recht. Im abstrakten Recht ist das Anerkennungsverhältnis der Rechtspersonen noch bloß formal; zwar ist der Kampf um Anerkennung mit dem abstrakten Recht abgeschlossen, und die Anerkennung ist realisiert, aber noch nicht in vollendeter Weise. Das sie übergreifende Allgemeine, der Geist, ist noch nicht konkreter bestimmt. Die Liebe stellt eine höhere Form der Anerkennung dar als das abstrakte Recht, weil sich die Individuen in der Liebe nicht unter Abstraktion ihrer Individualität, sondern gerade in ihrer natürlichen Individualität anerkennen und ihre Einheit in der Empfindung der Liebe als Einheit des Geistes erfassen. Versteht man unter Anerkennung das bloße Rechtsverhältnis, muss man also sagen, dass die Liebe in diesem Sinne wesentlich mehr ist als Anerkennung – denn sie ist kein bloß formales Rechtsverhältnis, sondern ein sittliches Verhältnis zwischen Individuen. Hier wird jedoch die These vertreten, dass das Rechtsverhältnis im abstrakten Recht nur die erste Stufe der Anerkennung ist, die sich in der Sittlichkeit konkretisiert und dort erst vollendet realisiert. Die Liebe ist damit eine höhere Form der Anerkennung als das Rechtsverhältnis, aber sie weist im Vergleich zur vollendeten Konkretisierung und Realisierung der Anerkennung innerhalb der Sphäre des objektiven Geistes im Staat auch noch einige Mängel auf. Als eine bestimmte Entwicklungs- und Darstellungsstufe des Begriffs der Anerkennung stellt die familiäre Liebe wesentliche Bestimmungen des Anerkennungsverhältnisses noch auf eine einseitige Weise dar. Vergleicht man die Bestimmungen der Liebe mit denen des allgemeinen Selbstbewusstseins, wird deutlich, dass beide in folgender Hinsicht miteinander übereinstimmen: 1) Im allgemeinen Selbstbewusstsein sind die einzelnen Selbstbewusstseine Momente des allgemeinen Selbstbewusstseins. Dies gilt auch für die Liebenden, die Momente der ihnen übergeordneten Einheit, der Liebe, sind. 411 412
EPW, § 436 Anm. Vgl. V 13, S. 174, 492 – S. 175, 537.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
163
2) Das einzelne Selbstbewusstsein erkennt in der Anerkennungsbewegung, dass ihm das andere Selbstbewusstsein nicht fremd ist, sondern dasselbe ist wie es selbst: Selbstbewusstsein. Es ist daher im anderen bei sich. Diese Bestimmung des Bei-sich-sein-im-Anderen ist auch wesentlich für die Beziehung der Liebenden. Für die Liebenden ist die geliebte Person jeweils nicht fremd, sondern sie finden sich in ihr wieder. 3) Das Verhältnis der Selbstbewusstseine in der Anerkennungsbewegung muss symmetrisch und reziprok sein, damit die Anerkennung gelingt. Dasselbe gilt für die Liebesbeziehung: Beide Liebenden müssen sich vollständig hingeben, um sich in der jeweils anderen Person wiederzufinden. In einer asymmetrischen und nicht wechselseitigen Beziehung, in der also eine der Personen sich nicht vollständig hingibt, kann sich die Liebe als übergreifende Einheit nicht realisieren. Dieses Argument wird für Hegels Begründung der Monogamie eine große Rolle spielen.413 In folgender Hinsicht unterscheidet sich die Liebesbeziehung dagegen von der vollständig realisierten Anerkennungsbewegung: 1) Für den reinen Begriff der Anerkennung ist kennzeichnend, dass die Momente der Bewegung (die einzelnen Selbstbewusstseine) zugleich das übergreifende Allgemeine sind. Die einzelnen Selbstbewusstseine sind damit auf der höchsten Entwicklungsstufe zugleich bloße Momente der Einheit und die Einheit selbst. Dies gilt für die Liebesbeziehung nicht. Die Liebenden bleiben der Einheit der Liebe untergeordnet, die sie also übergreift. Die Liebenden sind also nicht selbst die Liebe, während das Selbstbewusstsein selbst Selbstbewusstsein ist. 2) Das einzelne Selbstbewusstsein realisiert als Einzelnes zugleich seine Allgemeinheit. Es ist dadurch absolut selbständig, obwohl es zugleich ein Moment der es übergreifenden Allgemeinheit des Geistes ist. Dies gilt für die Liebenden in der Liebesbeziehung nach Hegel nicht. In ihr geht das Sich-Wiedererkennen in der Allgemeinheit der Liebesbeziehung auf Kosten der persönlichen Selbständigkeit. Für den reinen, vollständig realisierten Begriff der Anerkennung ist entscheidend, dass die Momente der Anerkennung, die einzelnen Selbstbewusstseine, nicht bloß Momente des Verhältnisses sind, sondern zugleich das Verhältnis übergreifen können. Die Ehepartner anerkennen dagegen in 413
Vgl. dazu II.2.2.10.1.
164
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
ihrer Liebesbeziehung, dass sie der Einheit der Liebe untergeordnet sind. Sie müssen anerkennen, dass die Liebe ein ihnen gegenüber objektives Verhältnis ist. Indem sie das anerkennen, geben sie in der Liebe ihre Selbständigkeit auf. Die Liebespartner erfahren in der Liebesbeziehung, dass sie in einem Zusammenhang mit anderen Menschen stehen, der ihnen vorausgesetzt ist: dem Gattungszusammenhang. Sie anerkennen darin, dass sie eines Individuums des jeweils anderen Geschlechts bedürfen, um ihre Gattungsfähigkeit und damit ihre Allgemeinheit zu realisieren. Die Anerkennung von Ehemann und Ehefrau basiert also noch auf einer natürlichen Grundlage, auf der sexuellen Differenz, und ist damit noch keine begriffliche Anerkennung, wie das im Staat der Fall ist.414 Indem die Individuen in der Ehe bewusst ihre Selbständigkeit aufgeben und eine Person ausmachen, können sie das natürliche Gattungsverhältnis in ein geistiges Verhältnis, in das Verhältnis der Liebe, umwandeln. Die Keimzelle der Familie, die Ehe als Einheit der Liebenden, ist somit Resultat eines aktiven Verhältnisses der Individuen zueinander.415 Nur indem sich die Individuen diese Einheit bewusst machen und sie tätig hervorbringen, besteht die eheliche Gemeinschaft als geistiges Verhältnis. Bezögen die Individuen sich nicht bewusst liebevoll aufeinander, wäre zwar die Einheit gegeben, aber nicht als geistige Liebe, sondern nur als natürliches Fortpflanzungsverhältnis oder als bloßes Rechtsverhältnis. Im ersten Fall, dem bloßen Fortpflanzungsverhältnis, blieben die Individuen der Einheit bloß untergeordnet, statt sie sich bewusst anzueignen. Im anderen Fall, dem bloßen Rechtsverhältnis, wäre ihre Einheit bloß äußerlich und somit nicht sittlich und substanziell. Auch wenn die Liebe also den Individuen gegenüber ein objektives Verhältnis ist, dem sie untergeordnet sind, stellt sie – innerhalb der Ehe – eine erste Form der Aneignung dar, denn die Individuen verhalten sich durch die Ehe bewusst zu dieser objektiven Einheit. In der Forschungsliteratur wird Hegel häufig dafür kritisiert, dass in der Rechtsphilosophie der Begriff der Anerkennung – der wie gesagt mit ›In414
In der Phänomenologie spricht Hegel im Zusammenhang mit der archaischen Familie von der bloß natürlichen Anerkennung der Familienmitglieder (vgl. PhG, S. 246, 27–34). Da auch in der bürgerlichen Familie die Anerkennung als Familienmitglied darin besteht, die natürliche Individualität der Mitglieder im Rahmen des natürlichen Verhältnisses anzuerkennen, in dem die Individuen in der Familie zueinander stehen (Vater/ Mutter/Sohn/Tochter), handelt es sich auch hier noch um eine Anerkennung in Form des Natürlichen, allerdings auf einer höher reflektierten Stufe als noch in der griechischen Antike, da die Anerkennung in der bürgerlichen Ehe auf einem bewussten Willensakt der Individuen beruht, ihre vorausgesetzte persönliche Selbständigkeit aufzugeben (vgl. II.2.2.6). 415 Vgl. Brauer 2007, S. 220 f.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
165
tersubjektivität‹ gleichgesetzt wird – zurückgedrängt würde zugunsten eines Institutionendenkens.416 Es zeigt sich jedoch, dass im Gegenteil die Rechtsphilosophie selbst gerade die stufenweise Realisierung und Konkretisierung des Begriffs der Anerkennung darstellt, die sich nicht auf ein bloß »intersubjektives Verhältnis« reduzieren lässt. In der Philosophie des objektiven Geistes ist die Anerkennung Hegel zufolge insofern substanzieller als noch in der Philosophie des subjektiven Geistes, weil gerade die Seite der den Individuen zunächst bloß vorausgesetzten Allgemeinheit und Objektivität nach und nach angeeignet wird. Hegel vorzuwerfen, er habe in der Philosophie des objektiven Geistes den Gedanken der intersubjektiven Anerkennung aufgegeben zugunsten eines autoritären Institutionendenkens, geht insofern an der hegelschen Pointe vorbei. Die Kritiker werfen Hegel vor, er denke in den Grundlinien die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr in erster Linie intersubjektiv, sondern von Institutionen aus, die den Individuen übergeordnet sind und in denen sie nur noch Akzidenzien sind. Dies ist auch tatsächlich Hegels Position. Damit will er jedoch darauf aufmerksam machen, dass es ein Mangel ist, wenn die Individuen ihre ihnen zunächst tatsächlich bloß vorausgesetzte Gattungshaftigkeit und damit auch ihre Gesellschaftlichkeit nicht begreifen und anerkennen, weil sie der Illusion einer vorausgesetzten Selbständigkeit erliegen. Indem die Individuen begreifen, dass ihre vorausgesetzte Selbständigkeit als Rechtsperson eine Illusion ist, der das Gattungsverhältnis vorausgeht, können sie sich die ihnen vorausgesetzte Substanz aneignen und unterordnen. Sie sind somit zwar zunächst tatsächlich bloß Akzidenzien der ihnen übergeordneten Substanz, aber indem sie begreifen, dass diese Substanz ihre Substanz ist, hören sie nach Hegel auf, bloße Akzidenzien zu sein.417 Es wäre falsch, zu meinen, dass es in der Sphäre des objektiven Geistes keine Anerkennungsverhältnisse mehr gäbe. Alle Verhältnisse, in denen der Geist sich objektiv wird, sind Verhältnisse von Individuen zueinander. Im objektiven Geist bezieht sich die Anerkennung der Individuen jedoch nicht nur aufeinander als Individuen, sondern zugleich auf den Geist selbst. D. h. die Individuen anerkennen nicht nur andere Individuen (z. B.
416
Vgl. dazu z. B. Siep 1982; Theunissen 1982; Schnädelbach 2000, S. 205. Vgl. EPW, § 514. Zum Verhältnis von Substanz/Akzidens nach den Grundlinien vgl. Brauer 2007, S. 187–207. Hegel wird auch im Zusammenhang mit seiner Geschichtsphilosophie häufig vorgeworfen, er denke die Individuen bloß als Mittel oder Werkzeug des Weltgeistes. Dass dies eine Fehlinterpretation ist und die Individuen nach Hegel nicht bloß Mittel, sondern Selbstzweck sind, stellt Jaeschke mit dem Argument klar, dass die (menschlichen) Individuen nach Hegel zum Vernunftzweck kein bloß äußerliches Verhältnis haben (vgl. Jaeschke 2003, S. 412). Als Selbstbewusstsein können die Individuen begreifen, dass das Allgemeine, Vernünftige ihr eigener Zweck ist. 417
166
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
als Familienmitglieder, als Bürger, als Staatsbürger etc.), sondern sie anerkennen zugleich das diesen Verhältnissen zugrunde liegende und die Individuen übergreifende Verhältnis, d. h. die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat, als ihre Substanz. Es lässt sich also festhalten, dass auch die Liebe ein Anerkennungsverhältnis ist. Zugleich ist sie jedoch eine bloß gefühlsmäßige Form der Anerkennung. Gerade weil sie aber bloß gefühlsmäßig ist, ist sie gegenüber der Anerkennung, auf die es nach Hegel ankommt – der begriffenen Anerkennung, wie sie im Staat realisiert ist – mangelhaft. Das zeigt sich darin, dass die Anerkennung in der Liebe auf Kosten der Selbständigkeit geht. Sie ist also nach Hegel einerseits als eine Form der Selbsterkenntnis des Absoluten zu würdigen, andererseits jedoch nur die erste Stufe der Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung des Absoluten in der Sphäre der Sittlichkeit, auf die weitere Formen folgen müssen. Für die Familie als Institution, die auf der Liebe gründet, bedeutet das, dass Hegel sie einerseits sehr hoch schätzt, weil sie die erste unmittelbare Form ist, in der die Menschen sich in einer gesellschaftlichen Einheit erleben und als Individuen anerkennen. Aber dennoch ist es notwendig, von familiären Gemeinschaften überzugehen zum Staat, in dem sich die Anerkennung in konkreterer und vollkommenerer Weise entfalten kann.
II.2.2.4 Die Einheit der Geschlechter in der Natur und in der Ehe im Vergleich (§ 161) Auf der Grundlage der entwickelten Begriffe des natürlichen Gattungsprozesses und der selbstbewussten Liebe418 stellt sich nun erneut die Frage, worin sich die Einheit der Geschlechter in der Natur von der geistigen Einheit der Geschlechter in der selbstbewussten Liebe nach Hegel unterscheidet. Um die Einheit der natürlichen Geschlechter zu charakterisieren, wählt Hegel die paradoxe Formulierung, sie sei eine »nur innerliche oder an sich seyende und eben damit in ihrer Existenz nur äußerliche Einheit«419. Diese paradoxe Formulierung lässt sich vor dem Hintergrund der hegelschen Naturphilosophie entschlüsseln. Die natürlichen Geschlechter stellen eine Einheit dar im Gattungszusammenhang, sodass Männchen und Weibchen an sich gemeinsam die Einheit der Gattung repräsentieren.420 Der Gattungszu418 419 420
Vgl. II.2.2.2. und II.2.2.3. GPR, § 161. Vgl. II.2.2.2.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
167
sammenhang erscheint im einzelnen Tier als seine Gattungsfähigkeit, die jedoch bloß seine immanente Allgemeinheit ist. Die Gattung ist somit dem Tier nur innerlich und deshalb auch bloß an sich, nicht für sich realisiert. Da das einzelne Tier als einzelnes natürliches Individuum der Gattung unangemessen ist, tritt die Gattung im Tier als Geschlechtstrieb auf, der es dazu drängt, die Gattung auch äußerlich zur Existenz zu bringen. Die Gattung realisiert sich äußerlich in der Natur, wenn zwei Tiere sich begatten und dabei ein neues Lebewesen hervorbringen. Zunächst sieht es so aus, als sei das neue Lebewesen, das die beiden hervorbringen, die Gattung selbst, äußerlich existierend und für sich. Damit wäre sie nicht mehr bloß innerlich und an sich. Da das neue Lebewesen jedoch denselben Widerspruch in sich trägt, einerseits allgemeines Gattungswesen, andererseits bloß natürliches Einzelnes zu sein, ist die Gattung in ihm wieder nur innerlich, als seine Gattungsfähigkeit vorhanden. Für sich selbst hat die Gattung daher äußerliche Existenz nur als der Zusammenhang, der die Individuen im unendlichen Progress der Generationenabfolge negiert und neue Individuen an ihre Stelle setzt. Sie ist damit für das einzelne Tier zugleich Innerliches (als Gattungsfähigkeit und Trieb) und gerade deshalb äußerlich, denn sie tritt dem Tier als unterschieden von ihm gegenüber und beweist sich ihm gegenüber als Macht, in der es zugrunde geht. Das einzelne Tier bleibt daher dem Gattungszusammenhang untergeordnet. Es bringt zwar die Gattung selbst hervor, aber nur in einem unendlichen Progress, in dem es zugleich als Einzelnes negiert wird. Was bleibt, ist nur die Gattung selbst als »negative Identität«421, die nur ist, indem sie die Individuen vernichtet. Zwar empfindet das Tier in der Begattung und in der Aufzucht der Jungen seine Einheit mit der Gattung. Da es diese Einheit jedoch weder begreifen noch in einem selbstbewussten Gefühl erfassen kann, fällt es selbst immer in die Unmittelbarkeit der Natur zurück, sodass auch seine Einheit mit dem anderen Geschlecht nur innerlich – und eben darum äußerlich bleibt. Die selbstbewusste Einheit der Geschlechter in der Liebe ist nach Hegel dagegen keine bloß äußerliche Einheit, sondern wirkliche geistige Einheit. In ihr geben die Individuen in einem selbstbewussten Gefühl ihre Selbständigkeit auf. Sie gehen daher bewusst in dem Allgemeinen auf und haben in dieser Einheit ihr Selbstgefühl. Diese Einheit ist für sich geistige Einheit und fällt nicht wieder auseinander in unmittelbare, einzelne, natürliche Individuen. Das Ergebnis der Aufgabe der Selbständigkeit ist die Liebe selbst als bleibende geistige Einheit, auch über den bloß natürlichen Akt der Begattung hinaus. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch als selbstbewusstes 421
EPW, § 370.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Wesen in der Lage, seine Einzelheit zu negieren und sich zugleich im Andern seiner selbst, der Allgemeinheit, zu erhalten. Er bringt in der Negation seiner Einzelheit das Allgemeine selbst hervor und gewinnt sich in ihm als Allgemeines zurück. Das Tier kann seine Einzelheit nur auf unmittelbare und natürliche Weise negieren – deshalb wird es in seiner Unmittelbarkeit wiederum von der Gattung negiert, die ihm damit äußerlich gegenübertritt. Nur der Mensch, insofern er geistiges und nicht bloß natürliches Wesen ist, ist für sich selbst Gattung, denn er ist Selbstbewusstsein. Dass die Liebenden in der Liebe sich selbst negieren können und sich zugleich als Momente des Allgemeinen zurückerhalten, macht die Geistigkeit des Liebesverhältnisses aus.422 Die Liebe ist damit die erste, unmittelbare Form, in welcher der Geist als Einheit objektiv ist – in der Form der Empfindung. Mit der selbstbewussten Liebe ist somit gegenüber dem bloß natürlichen Gefühl des Tieres in der Begattung eine weitere Reflexionsstufe erreicht, die das bloß natürliche Gefühl in ein geistiges und darum selbstbewusstes und bleibendes Gefühl verwandelt. Während die Tiere nur das Gefühl der Allgemeinheit haben, haben die Menschen also in der Liebe ein bewusstes Verhältnis zu diesem Gefühl.
II.2.2.5 Konsequenzen aus Hegels Bestimmung der Ehe als selbstbewusstes Liebesverhältnis Das Verhältnis von Anerkennung und Liebe hat erhebliche Konsequenzen für die Sphäre der Familie, die von Hegel wesentlich als Liebesbeziehung bestimmt ist. Zunächst einmal lässt sich Folgendes festhalten: Da Liebe und allgemeines Selbstbewusstsein grundsätzlich dieselbe Struktur aufweisen, und das allgemeine Selbstbewusstsein selbst der Begriff des Geistes ist,423 kann Hegel die Liebe als ein Sich-Erfassen des Geistes in der Form der Empfindung424 bestimmen. Das Verhältnis von Liebe und Anerkennung ist aber vor allem bedeutend, will man die systematische Funktion, die der Sphäre der Familie nach Hegel innerhalb der Rechtsordnung insgesamt zukommt, verstehen. Indem die Liebe als übergreifendes Allgemeines, in dem die Individuen sich selbst realisiert wissen, noch auf Kosten der Selbständigkeit der Individuen geht, unterscheidet sich die Sphäre der Familie, die auf dem Be-
422
Die Liebe weist darin die allgemeine Struktur des Selbstbewusstseins auf (vgl. EPW, § 436 und TWA 10, § 436 Z). 423 Vgl. PhG, S. 108, 29–35. 424 Vgl. GPR, § 158.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
169
griff der Liebe gründet, wesentlich von der Sphäre des abstrakten Rechts. Im abstrakten Recht besteht die wechselseitige Anerkennung gerade darin, dass sich die Individuen als freie, selbständige Rechtspersonen anerkennen. Dabei wird die Selbständigkeit der Individuen jedoch bloß vorausgesetzt. Sie werden als atomistisch verfasste, isolierte Individuen gedacht; von ihrer Besonderheit sowie von ihrer Gesellschaftlichkeit wird abstrahiert. Gegenüber der abstrakten Voraussetzung der Selbständigkeit der Person im abstrakten Recht ist es nach Hegel ein großer Fortschritt, in der familiären Liebe in der natürlichen Individualität anerkannt zu werden und zugleich mit der eigenen Unselbständigkeit konfrontiert zu sein. Mit der eigenen Unselbständigkeit konfrontiert zu werden ist ein notwendiger Schritt, um sich von der Einbildung einer vorausgesetzten Selbständigkeit zu befreien. Die Liebe ist nach Hegel deshalb für die Realisierung des freien Willens ein Fortschritt gegenüber dem abstrakten Recht, weil die Individuen dort zum ersten Mal in der Form eines natürlichen Gefühls anerkennen, dass sie nicht selbständige Individuen sind, sondern dass es eine Einheit gibt, die ihnen vorausgesetzt ist und der sie untergeordnet sind – der natürliche Gattungszusammenhang. Das Erleben der eigenen Unselbständigkeit in der Familie ist nach Hegel jedoch kein schmerzhafter Prozess, sondern eine Befreiung, denn das Individuum erlebt darin, dass andere Individuen nicht eine Grenze für die Realisierung seiner Freiheit darstellen, sondern vielmehr Voraussetzung für die Realisierung seiner selbst und seiner Freiheit sind. Gerade das macht die Sittlichkeit der Familie aus. Das Individuum fühlt darin bewusst, dass die anderen Individuen ihm nicht fremd gegenüberstehen, sondern dass es überhaupt erst in ihnen sein eigenes Selbstgefühl erlangen kann. Nach Hegel kommt es aber im Laufe der Entwicklung darauf an, ein selbständiges Verhältnis zu dieser Unselbständigkeit zu entwickeln. Die Selbständigkeit, die das Individuum dabei erwirbt, ist dann keine bloß vorausgesetzte mehr wie im abstrakten Recht, sondern Resultat einer aneignenden Bewegung. Als unmittelbare Sphäre der Sittlichkeit macht die Familie den Anfang dieser Aneignungsbewegung – durch Konfrontation mit der Unselbständigkeit. Auf der nächsten Stufe, in der bürgerlichen Gesellschaft, erfährt das Individuum dann auf einer höheren Stufe, als das im abstrakten Recht der Fall ist, seine Selbständigkeit, jedoch ohne sich dabei seiner Unselbständigkeit vollends bewusst zu sein. Erst auf der höchsten Entwicklungsstufe des Rechts, im Staat, sind dann beide Seiten vollständig entwickelt: Dort kann das Individuum seine persönliche Selbständigkeit und Besonderheit realisieren (als Bourgeois und als Familienmitglied) und sich zugleich als Staatsbürger immer auch als bloß unselbständiges Moment des Allgemeinen, des Staates, wissen, in dem es seine eigene Substanz
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
erkennt.425 Während das Individuum in der Familie die Einheit mit den anderen Menschen nur fühlt, kann es sie im Staat begreifen. Indem es sie begreift, kann es ein selbständiges Verhältnis zu seiner eigenen Unselbständigkeit entwickeln. Es kann den Staat als Realisierung seiner selbst begreifen und darin seine Selbständigkeit als Bürger und Staatsbürger beibehalten. Die Realisierungs- und Konkretisierungsstufen des Anerkennungsverhältnisses stellen damit eine dialektische Bewegung von der bloß vorausgesetzten Selbständigkeit im abstrakten Recht über ein Anerkennen der Unselbständigkeit in der Familie bis hin zu einer erworbenen Selbständigkeit im Staat dar. Für Familie als sittliche Institution bedeutet dies, dass Hegel ihr eine wichtige Bedeutung beimisst, aber nicht, indem er sie als ein Verhältnis sich gegenseitig in ihrer Selbständigkeit anerkennender Personen denkt, sondern im Gegenteil, gerade weil die Individuen dort anerkennen, dass sie keine vorausgesetzte Selbständigkeit haben, sondern sich diese erst erwerben müssen.
II.2.2.6 Subjektiver und objektiver Ausgangspunkt der Ehe – die Eheschließung als »sittliche Pflicht« (§ 162) In § 162 unterscheidet Hegel den bloß subjektiven Ausgangspunkt der Ehe von ihrem objektiven Ausgangspunkt. Der subjektive Ausgangspunkt bezieht sich auf die jeweiligen Interessen und Bedürfnisse derjenigen, die eine Ehe eingehen wollen oder aber eine Ehe stiften wollen. Dieser kann z. B. die Liebe als subjektive Empfindung zweier Menschen füreinander sein oder auch die »Vorsorge (…) der Eltern.«426. Nach Hegel macht es keinen großen Unterschied, was genau die subjektiven Beweggründe dafür sind, dass eine Ehe geschlossen wird. Worauf es ankommt, ist allein der objektive Ausgangspunkt. Er ist Hegel zufolge
425
Vgl. GPR, § 250. Dass beide Momente – Besonderheit und Allgemeinheit – zugleich realisiert sind, zeichnet nach Hegel den modernen Staat aus. Erst auf dieser Stufe ist wirkliche Freiheit möglich, denn beide wesentlichen Momente des Begriffs des freien Willens, Besonderheit und Allgemeinheit (vgl. GPR, § 7), sind zugleich realisiert. Im Gegensatz zum modernen bürgerlichen Rechtsstaat, der die Besonderheit und persönliche Selbständigkeit der Bürger zulassen kann und sich zugleich als übergreifendes Allgemeines realisiert, war Hegel zufolge die Sittlichkeit der griechischen Polis dadurch gekennzeichnet, dass die Individuen sich vollständig der Allgemeinheit unterordneten (vgl. GPR, § 260; Gr, S. 635, 11–23; II.1.3.3; Kapitel III). 426 GPR, § 162.
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»die freye Einwilligung der Personen und zwar dazu, Eine Person auszumachen, ihre natürliche und einzelne Persönlichkeit in jener Einheit aufzugeben (…).«427 In einer anonymen Nachschrift wird dabei an diesem objektiven Ausgangspunkt hervorgehoben: »Weil der Mensch Gattung ist, weiß er, daß diese Einheit seine wesentliche Bestimmung ist (…).«428 Indem die Individuen bewusst beschließen, nicht länger als abstrakt-einzelne selbständige Privatpersonen existieren zu wollen, sondern mit einem Individuum des jeweils anderen Geschlechts eine Person ausmachen zu wollen, erfassen sie nach Hegel die eigentlich sittliche Bedeutung der Ehe. Sie erfassen darin Hegel zufolge, was Liebe im objektiven Sinne ist: Liebe ist nicht ein bloß zufälliges und vergängliches Gefühl für einen anderen Menschen, sondern sie beruht auf dem Wunsch, dauerhaft mit einem anderen Menschen eine Person auszumachen. In der Ehe als rechtlich-sittlicher Liebe geben die Individuen bewusst ihre Selbständigkeit als Rechtsperson auf, machen gemeinsam eine Person aus und gewinnen sich in der geistigen Einheit der Liebe auf einer höheren Stufe als der bloß persönlichen Besonderheit wieder.429 Alle einzelnen Bestimmungen, die man in der Vorstellung mit Liebe verbindet – starke Gefühle für einen anderen Menschen, das Bedürfnis nach körperlicher Nähe, der Wunsch, dem anderen behilflich zu sein, der Wunsch, viel Zeit mit dem anderen zu verbringen usw. –, sind nach Hegel nur Ausdruck und Folge davon, dass man gemeinsam eine Person ausmachen möchte. Da die Individuen in der Ehe ihre Selbständigkeit aufgeben und sich ganz dem Partner oder der Partnerin hingeben, ist die Einwilligung in die Ehe »nach dieser Rücksicht eine Selbstbeschränkung«430. In Wahrheit stellt die Eheschließung Hegel zufolge jedoch eine Befreiung der Individuen dar, weil sie in der Ehe »ihr substantielles Selbstbewußtseyn gewinnen«431. Die Ehe als objektive Liebesgemeinschaft ermöglicht den Individuen, in einem Individuum des anderen Geschlechts bei sich selbst, d. i. frei zu sein. Die Ehepartner erfahren sich wesentlich als Mitglied der sie übergreifenden Liebeseinheit und erfassen sich in dieser Einheit als Gattungswesen.432 Sie sind 427 428 429 430 431 432
Ebd. AnK, § 162. Vgl. Ho, S. 507; Gr, S. 420. GPR, § 162. Ebd. Vgl. AnK, §161 und § 162.
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also in der Ehe mit ihrer eigenen Allgemeinheit konfrontiert. Als Selbstbeschränkung oder als Beschränkung der eigenen Freiheit kann die Ehe somit Hegel zufolge nur denjenigen Menschen erscheinen, die einem beschränkten Freiheitsbegriff erliegen: Menschen, die entweder Freiheit mit gänzlicher Unbestimmtheit verbinden oder Menschen, die ihre Freiheit allein in ihrer abstrakten Selbständigkeit und Besonderheit realisiert sehen. Die Ehe erscheint somit nur denjenigen als Beschränkung ihrer Freiheit, die aus dem Begriff des freien Willens eines der Momente verabsolutieren, statt den Zusammenhang dieser Momente zu begreifen.433 Ohne Besonderheit, d. i. ohne Beschränkung, bliebe die Freiheit bloß abstrakt allgemein. Verwirklichen kann sich die Freiheit als allgemeine nur, indem sie sich im Besonderen darstellt. Wie in der Freundschaft ist es nach Hegel auch im Liebesverhältnis der Geschlechter so, dass sich Liebe mit all ihren Bestimmungen nur dadurch verwirklichen kann, dass man sich auf eine Person beschränkt. Was Liebe als allgemein sittliches Verhältnis ausmacht, kann man Hegel zufolge also nur erfahren, wenn man sich einer anderen Person vollständig hingibt und nichts von der eigenen Individualität zurückbehält.434 Dieses »Aufgeben der Persönlichkeit in der Ehe ist ein anderes als in der Sklaverei, denn die entstehende substantielle Einheit ist die meinige«435. Da nach Hegel alle substanziellen Bestimmungen der Sittlichkeit für die Individuen Pflichten sind, die für ihren Willen bindend sind,436 spricht Hegel auch von einer sittlichen »Pflicht (…), in den Stand der Ehe zu treten«.437 Die Pflicht zur Ehe ist dabei keine bloß äußerliche autoritäre Anordnung, denn nach Hegel befreit sich das Individuum in der Pflicht »zur substantiellen Freyheit«438. Die Pflicht ist somit zugleich ein Recht der Individuen. In der Pflicht wird nach Hegel also nur das formuliert, was »durch die Idee der Freyheit nothwendig«439 ist. Das Individuum kann sich als freier Wille in der Konfrontation mit der Pflicht, die ihm zunächst als etwas Äußerliches erscheint, von seiner Bestimmtheit durch die Natur oder durch bloß subjektive Willkür befreien und begreifen lernen, worin seine Freiheit liegt.440 Indem Hegel das Eingehen der Ehe als sittliche Pflicht bezeichnet, wendet er sich gegen die katholische Lehre, nach der die Keuschheit verdienstvoller ist als 433 434 435 436 437 438 439 440
Vgl. GPR, § 149; II.1.2.2. Vgl. II.2.2.10.1. AnL, S. 133, 10–12. Vgl. GPR, § 148. Ebd., § 162 Anm. Ebd., § 149. Ebd., § 148. Vgl. ebd., § 149.
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die Ehe. Der Katholizismus stellte das Heilige dem Weltlichen noch entgegen. Mit der Reformation wird nach Hegel dieser Gegensatz aufgehoben: »Es wird nun gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate auch das Göttliche und das Gebot Gottes sind und daß es dem Inhalte nach kein Höheres, Heiligeres gibt. Daraus folgt, daß die Ehe nicht mehr die Ehelosigkeit über sich hat. Luther hat eine Frau genommen, um zu zeigen, daß er die Ehe achte, die Verleumdungen, die ihm daraus entstehen würden, nicht fürchtend. Es war seine Pflicht, es zu tun, sowie Freitags Fleisch zu essen, um zu beweisen, daß dergleichen erlaubt und recht ist, gegen die vermeintliche höhere Achtung der Entbehrung. Der Mensch tritt durch die Familie in die Gemeinsamkeit, in die Wechselbeziehung der Abhängigkeit in der Gesellschaft, und dieser Verband ist ein sittlicher; wogegen die Mönche, getrennt aus der sittlichen Gesellschaft, gleichsam das stehende Heer des Papstes ausmachten (…).«441 Alle drei Klostergelübde (consilia evangelica) – Keuschheit, Armut und Gehorsam – werden mit der Reformation, weil sie der Weltlichkeit noch entgegengesetzt sind, abgelöst durch sittliche, weltliche Pflichten:442 »Statt des Gelübdes der Keuschheit gilt nun erst die Ehe als das Sittliche, und damit als das Höchste in dieser Seite des Menschen die Familie; statt des Gelübdes der Armuth (…) gilt die Thätigkeit des Selbsterwerbs durch Verstand und Fleiß, und die Rechtschaffenheit in diesem Verkehr und Gebrauch des Vermögens, die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft; statt des Gelübdes des Gehorsams gilt der Gehorsam gegen das Gesetz und die gesetzlichen Staatseinrichtungen (…).«443 Welche subjektiven Beweggründe in einer Gesellschaft den Ausgangspunkt einer Ehe darstellen, hängt nach Hegel stark davon ab, wie reflektiert eine Gesellschaft ist, d. h., welche Bedeutung sie der subjektiven Besonderheit beimisst.444 In modernen, reflektierten Gesellschaften wird der Subjektivität eine große Rolle zugestanden – dort wird daher gefordert, dass diejenigen, die eine Ehe eingehen, ineinander verliebt sind. In weniger reflektierten Gesellschaften wird dagegen auf die subjektiven Gefühle der Beteiligten kein Wert gelegt, es wird vielmehr davon ausgegangen, dass die Liebe objektiv mit der Ehe gestiftet wird und im Laufe der Ehe sich auch als subjektives Gefühl
441 442 443 444
TWA 12, S. 502 f. Vgl. Lübbe-Wolff 2009, S. 331 f. EPW, § 552 Anm. Vgl. GPR, § 162 Anm.
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entwickeln wird; in ihnen veranlassen daher die Eltern die Ehe ihrer Kinder. Nach Hegel kann »der Weg, worin der Entschluß zur Verehelichung den Anfang macht, und die Neigung zur Folge hat, so daß bei der wirklichen Verheyratung nun beydes vereinigt ist, (…) als der sittlichere Weg angesehen werden«445, denn darin wird der objektive Ausgangspunkt in den Mittelpunkt gerückt; damit wird anerkannt, dass die subjektive Neigung eigentlich eine Folge des objektiven Zusammenhangs und nicht sein Grund ist. Hegel geht sogar so weit, deshalb eine Veranlassung der Ehe durch die Eltern gegenüber dem Entschluss eines Liebespaars zur Heirat zu favorisieren.446 Stellt man die Gefühle eines Paares in den Mittelpunkt, besteht nach Hegel die Gefahr, dass darin bloß »die unendlich besondere Eigenthümlichkeit (…) ihre Prätensionen geltend macht«447. Für die moderne Schwärmerei des Verliebtseins, in dem Männer und Frauen »warten, bis ihre Stunde schlägt, wo der kommt, dem sie ihre Liebe schenken können«448, hat Hegel nur Spott übrig. In autoritärem und repressiven Ton bemerkt Hegel, »die Hitze der (…) Leidenschaft« könne zwar für das Liebespaar »von unendlicher Wichtigkeit sein«, sie sei es aber »an sich nicht«449. Trotz dieser harschen Worte gegen die Vorstellung, der individuellen Verliebtheit komme eine große Bedeutung zu, trägt dennoch auch Hegel der Moderne und somit dem Prinzip der subjektiven Besonderheit in einem wichtigen Punkt Rechnung. Nach Hegel muss nämlich in jedem Fall – auch bei Veranlassung der Ehe durch die Eltern – »die freye Einwilligung der Personen«450, die heiraten werden, gegeben sein; d. h. sowohl der zukünftige Ehemann als auch die zukünftige Ehefrau müssen die Ehe freiwillig eingehen und bewusst einwilligen, damit es sich um einen wahrhaft sittlichen Bund handelt. Zwangsheiraten sind somit ausgeschlossen, denn sie sind in sich widersprüchlich: Die Ehe ist eine sittliche Institution und damit Ausdruck der Freiheit. Sie kann also nicht durch Zwang erzeugt werden.451 In einer Ehe, die auf Zwang beruht, kann auch keine Neigung entstehen, da die Individuen, wenn sie gezwungen werden, zu Recht an ihrer subjektiven Selbständigkeit festhalten werden, statt sich einander hinzugeben und eine 445 446 447 448 449 450 451
Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ho, S. 514. GPR, § 162 Anm. Ebd., § 162. Vgl. ebd., § 176.
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(Liebes-)Einheit auszumachen. Da der subjektive Wille ein wesentliches Moment der Freiheit ist, muss ihm Rechnung getragen werden. Nach Hegel sollte es bei der Eheschließung – auch wenn sie von den Eltern ausgeht – außerdem immer um das Wohl der zukünftigen Ehepartner gehen. Die Ehe sollte nicht ein Mittel für äußerliche Zwecke sein, wie z. B. »Rücksichten des Vermögens, der Connexion, politische Zwecke«452 o. ä. Hegel geht davon aus, dass in der Moderne solche äußerlichen Zwecke stärker in den Hintergrund getreten sind und sich die Ehe damit als Selbstzweck, als Institution der Freiheit realisieren kann. Indem nach Hegel die moderne Ehe dadurch eine objektive Liebeseinheit ist, dass die Individuen ihre persönliche Selbständigkeit aufgeben, indem sie bewusst beschließen, eine Person auszumachen, wird ein wesentlicher Unterschied der modernen Familie der Grundlinien zur antiken Familie der Phänomenologie deutlich. Die moderne Sittlichkeit enthält das Prinzip des abstrakten Rechts und somit den Begriff der Rechtsperson als Moment in sich. Die Sittlichkeit beruht somit in der modernen Ehe wesentlich darauf, dass die Selbständigkeit, welche die Individuen als Rechtspersonen haben, von ihnen bewusst negiert wird. Die Liebe war in der antiken Familie Hegel zufolge eine bloß zufällige, natürliche Empfindung. In der Moderne kann sie ihre bloß zufällige und natürliche Seite verlieren und in ein sittliches Verhältnis transformiert werden, weil der Wunsch nach Einheit, der die Liebe auszeichnet, in der Institution der Ehe einen institutionellen Ausdruck bekommen kann. Die Liebe ist der Wunsch, eine Person auszumachen und das Gefühl, im anderen bei sich zu sein; die moderne Ehe ist die adäquate institutionelle Form, diesem Wunsch rechtlich-sittlichen Ausdruck und somit Objektivität zu verleihen: indem die Ehepartner bewusst ihre Selbständigkeit als Rechtspersonen aufgeben und somit auch rechtlich-sittlich eine Person ausmachen. Das Vereinigungsbedürfnis der Liebenden bekommt in der Aufgabe der Selbständigkeit als Rechtsperson einen institutionellen Ausdruck. Auch der natürliche Gattungszusammenhang, der den Individuen zunächst bloß vorausgesetzt ist, wird damit zu einem Zusammenhang, dem sich die Individuen bewusst unterordnen. Unter den entwickelten, modernen Verhältnissen, in denen die Individuen als selbständige Rechtspersonen anerkannt werden, kann das Verhältnis der Geschlechter sowie der Familienmitglieder somit in einer reflektierteren Form gelebt und geistig angeeignet werden. Da sich der Begriff der Rechtsperson historisch aber erst nach dem Untergang der griechischen Sittlichkeit im römischen Recht realisieren
452
Ho, S. 516.
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konnte, war die Entwicklung eines solch reflektierten Verhältnisses innerhalb der Familie der antiken Sittlichkeit noch nicht möglich.453 In der unmittelbaren Sittlichkeit der Antike sind die Individuen keine selbständigen Rechtspersonen. Sie verstehen sich ohnehin nur als Mitglieder der Gemeinschaft der Familie und der Polis, denn der Besonderheit des subjektiven Willens wird in der Antike noch keine Rechnung getragen.454 Als Familienmitglieder sind sie dadurch dem natürlichen Zusammenhang und der natürlichen Empfindung noch völlig untergeordnet. Sie haben zwar ein Bewusstsein ihrer Mitgliedschaft, aber der Familienzusammenhang ist kein Zusammenhang, den sie selbst bewusst gesetzt haben. Hier liegt also der Grund, warum in der antiken Familie die Liebe Hegel zufolge noch nicht die Sittlichkeit der Familie ausmachen konnte,455 während sie in der Moderne gerade die grundlegende Bestimmung der Familie ist. In der modernen Familie ist die Liebe keine bloß zufällige Empfindung mehr – wie noch in der griechischen Sittlichkeit –, sondern sie ist in der Ehe »rechtlich gemachte Liebe«456. Mit der Bestimmung der Ehe als »rechtlich sittliche Liebe« ist selbstverständlich nicht gesagt, dass mit der Ehe automatisch auch Liebe einhergeht. Es ist lediglich gesagt, dass eine Ehe, die nicht auf Liebe beruht, nicht ihrem Begriff entspricht, sondern ein bloß äußerliches rechtliches Band ist. Deshalb kann eine Ehe auch geschieden werden, wenn sie keine Empfindung zu ihrer Grundlage hat.457 Ebenso ist damit gesagt, dass eine Liebe, die nicht in der Ehe einen institutionellen Ausdruck findet, nach Hegel noch keine Realität und Objektivität hat. Hegel kritisiert daher auch Friedrich Schlegel, der die förmliche Eheschließung ablehne, weil sie die innerliche, wahre Liebe durch einen bloß äußerlichen Akt zu einem bloß äußerlichen und somit unwahren Verhältnis mache. Nach Hegel liegt dieser Auffassung ein mangelhafter Begriff der Liebe zugrunde: Liebe wird dabei mit bloßer Leidenschaft verwechselt.458 Indem Hegel betont, dass beide Ehepartner freiwillig in die Ehe einwilligen, wird deutlich, dass in der Moderne auch die Frau als selbständige Rechtsperson anerkannt ist. Zugleich zeigt sich darin aber ein Widerspruch der rechtlichen Stellung der Frau im 18. und 19. Jahrhundert, der z. B. im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) und im Code Civil
453 454 455 456 457 458
Vgl. Blasche 1975, S. 318. Vgl. II.1.3.3. Vgl. PhG, S. 243, 12–14. Gr, S. 426, 4 f. Vgl. II.2.4.2. Vgl. II.2.2.8.3.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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deutlich wird.459 Obwohl diese für ihre Zeit schon als fortschrittlich gelten müssen, da sie immerhin die Geschlechtsvormundschaft abschafften,460 wird die Frau darin vornehmlich als unverheiratete Frau, Geschiedene oder Witwe als selbständige Rechtsperson anerkannt.461 Als unverheiratete Frau, Geschiedene oder Witwe werden ihr die Rechte zugesprochen, die mit dem Status der freien und selbständigen Rechtsperson einhergehen: ein Vermögen zu verwalten, Geschäfte zu tätigen, Prozesse zu führen usw. Mit ihrer Einwilligung in die Ehe gibt sie jedoch als selbständige Rechtsperson in einem freien Akt ihren Status als Rechtsperson auf.462 Damit verliert sie eben die Rechte, die ihr als unverheirateter Frau und selbständiger Rechtsperson zukamen: Sie kann ihr Vermögen nicht mehr alleine verwalten, sondern ihr Ehemann hat das Verwaltungsrecht. Eine Ausnahme stellt im ALR die Möglichkeit dar, mit dem Ehemann eine besondere vertragliche Vereinbarung über ein Vorbehaltsgut (receptitia) zu treffen.463 Auf diese Möglichkeit weist auch Hegel hin, wenn er einräumt, dass Ehepakte geschlossen werden können, welche die Gütergemeinschaft der Ehepartner beschränken.464 Nach dem ALR wie nach dem Code civil ist die verheiratete Frau nur noch eingeschränkt geschäfts- und prozessfähig; sie bedarf in der Regel der Zustimmung des Ehemannes, der sie in allen Geschäftsfragen und vor Gericht vertreten muss.465 Während die Frau also mit der Einwilligung in die Ehe wesentliche Recht verliert, gilt dies für den Mann nicht. Ihm kommen als Verheiratetem wie als Unverheiratetem dieselben Rechte zu. Dieser Widerspruch wird auch in Hegels Bestimmung der Ehe deutlich. Zwar sollen – folgt man der hegelschen Konstruktion – Mann und Frau innerhalb der Ehe gleichermaßen ihre Selbständigkeit aufgeben und eine Person ausmachen. Sie sollen also innerhalb der Ehe gleichberechtigt sein und z. B. auch gleichermaßen am Familieneigentum teilhaben.466 Aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen von Mann und Frau schlägt die Gleichheit, die Hegel behauptet, jedoch in ein Ungleichgewicht zugunsten des Mannes um, weil nur der Mann neben der Familie auch noch in der Sphäre der bürgerlichen
459
Vgl. Vogel 1997. Vgl. Holthöfer 1997, S. 428 f. 461 Vgl. Weber-Will 1997, S. 454. 462 Zu dem Problem, dass Frauen nach Hegel zwar prinzipiell als Rechtspersonen anzuerkennen sind, sie jedoch mit der Ehe anders als die Männer den Status als selbständige Rechtspersonen aufgeben, vgl. Pateman 1996, S. 209–223. 463 Vgl. Vogel 1997, S. 278; Gerhard 1978, S. 160. 464 Vgl. GPR, § 172 Anm. 465 Vgl. Holthöfer 1997, S. 428 f. 466 Vgl. GW 14,2, S. 749, 16 f. und GPR, § 171. 460
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Gesellschaft tätig ist, in der er die Familie nach außen hin (rechtlich) vertritt.467 Faktisch kann der Mann alle wesentlichen Entscheidungen für die Familie treffen. Nach Hegel trifft er diese Entscheidungen zwar immer nur als Vertreter der ganzen Familie.468 Er kann als Person insofern nicht mehr unterschieden werden von der Person der Familie, die er dabei vertritt. Der hegelschen Theorie zufolge gibt er also seine Selbständigkeit ebenso auf wie die Frau auch. In der Praxis gehen jedoch mit seinem Recht, in der bürgerlichen Gesellschaft die Familie zu vertreten, Privilegien einher, die diese vermeintliche Gleichheit konterkarieren. Dass der Mann die Familie nach außen vertritt, hat also selbstverständlich auch Auswirkungen auf das Verhältnis nach innen, d. h. das Verhältnis der Ehepartner zueinander. Von diesen Auswirkungen abstrahiert Hegel jedoch, wenn er meint, dass nach innen hin Gleichberechtigung unter den Ehepartnern möglich ist, obwohl sie nach außen hin nicht gleichberechtigt sind.
II.2.2.7 Liebe, Sexualität und Erotik in der Ehe (§§ 163–164) Die Ehe ist nach Hegel dadurch eine sittliche Institution, dass die Individuen in ihr eine bewusste Einheit, eine Person ausmachen: »Das Sittliche der Ehe besteht in dem Bewußtseyn dieser Einheit als substantiellen Zweckes, hiermit in der Liebe, dem Zutrauen und der Gemeinsamkeit der ganzen individuellen Existenz«469. Als sittliche Einheit ist die Ehe selbstzweckhaft, sodass es nach Hegel nicht möglich ist, den »Hauptzweck der Ehe«470 anzugeben. Gerade weil sie keinem äußerlichen Zweck dient, ist sie eine sittliche Institution und somit Dasein der Freiheit. Alle besonderen Zwecke, die traditionell als Ehezwecke bestimmt wurden, wie z. B. das Zeugen von Kindern, die gegenseitige Hilfe usw., sind nach Hegel besondere Bestimmungen, die in der Regel in der Ehe als sittlicher Liebesgemeinschaft dazugehören, die aber im Einzelnen auch »unbeschadet des Wesens der Ehe«471 fehlen können. Mit dieser Bemerkung kritisiert Hegel die Bestimmung der Ehe im ALR. Dort heißt es:
467 468 469 470 471
Vgl. GPR, § 171. Vgl. ebd. Ebd., § 163. Ebd., § 164 Anm. Ebd., § 164. Vgl. II.2.2.8.
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»Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder.«472 Indem die Ehe wesentlich auf einem freien Willensakt der Personen beruht, eine Person ausmachen zu wollen, bekommt in der Ehe auch das ihr zugrunde liegende Geschlechterverhältnis und die Sexualität einen anderen Stellenwert. In der Ehe als dem Bewusstsein der Einheit, der Liebe, wird nach Hegel »der natürliche Trieb zur Modalität eines Naturmoments, das eben in seiner Befriedigung zu erlöschen bestimmt ist, herabgesetzt«473. Zwar gehört zur Ehe, da sie auf dem natürlichen Gattungsverhältnis beruht, auch die sinnliche Einigkeit, die Sexualität, aber diese wird gegenüber der geistigen Einheit zu einem untergeordneten Moment. Durch den bewussten Akt der Eheschließung wird das Bedingungsverhältnis von sinnlicher und sittlicher Einheit verkehrt: Nicht die sinnlich-sexuelle Einheit ist Grund für die sittlich-geistige Einheit, sondern die sittlich-geistige Einheit hat die körperliche Vereinigung zur Folge.474 Indem der natürliche Sexualtrieb zu einem bloßen Moment der Ehe herabgesetzt wird, kann sich »das geistige Band in seinem Rechte als das Substantielle, hiemit als das über die Zufälligkeit der Leidenschaften und des zeitlichen besondern Beliebens erhabene, an sich unauflösliche«475 herausheben. Beruhte die Ehe allein auf der sexuellen Leidenschaft, so wäre sie nach Hegel bloß zufällig und vergänglich. Als geistig-sittliches Band, als bewusste Einheit, ist sie dagegen unauflöslich – zumindest an sich, denn wie sich noch zeigen wird, räumt Hegel die Möglichkeit der Scheidung durchaus ein.476 Dennoch gehört nach Hegel die Sexualität zum Dasein der Liebe; zwar erschöpft sich die Liebe nicht in der Sexualität, aber die Sexualität ist eine besondere Form, in der sich die Liebe realisiert. Nach Hegel wäre es abstrakt, »das Substantielle von seinem Daseyn«477 zu trennen. Die Liebe als Bewusstsein der geistigen Einheit sollte nicht als bloß geistige fixiert werden, der das Sinnliche abstrakt entgegengesetzt ist. Indem Hegel die sinnlich-körperli472 473 474 475 476 477
ALR, II.1. § 1. GPR, § 163. Vgl. ebd., § 164, § 164 Anm.; GW 14,2, S. 745, 10; vgl. auch EPW, § 519. GPR, § 163. Vgl. II.2.4.2. GPR, § 163 Anm.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
che Liebe als Dasein der geistigen Liebe bestimmt, wendet er sich gegen die »mönchische Ansicht«478, die die rein geistige Seite der Liebe verabsolutiert und dem natürlichen Geschlechtsakt einseitig entgegensetzt, wie dies z. B. in der Vorstellung der sogenannten »platonischen Liebe« (die mit dem platonischen Begriff des Eros freilich kaum noch etwas zu tun hat) der Fall ist. Hegel zeigt die Dialektik dieser mönchischen Ansicht auf: Indem der natürliche Sexualtrieb (die »natürliche Lebendigkeit«) als das schlechthin Negative gegen die geistige Seite der Liebe bestimmt wird, wird ihm – ungewollt – eine enorme Bedeutung zugesprochen, denn die geistige Liebe realisiert sich so nur durch permanente Negation des natürlichen Sexualtriebs. Statt den Sexualakt als ein bloßes Moment der geistigen Liebe zu betrachten, wird er »als das schlechthin Negative bestimmt«479. In seinen Vorlesungen lobt Hegel Wieland dafür, dass er in vielen seiner literarischen Werke treffend gezeigt hat, wie die einseitige Schwärmerei für die rein geistige Liebe in ein »Herabsinken zum Gemeinen«480 umschlägt. In der Anthropologie macht Hegel darauf aufmerksam, dass die Begierden und Triebe, wenn ihre Befriedigung zur Gewohnheit wird, für das Individuum an Bedeutung verlieren und abstumpfen. Eine dauerhafte gewohnheitsmäßige Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse in der Ehe gibt dem Sexualtrieb Raum und nimmt ihm zugleich seinen (im negativen Sinne) treibenden Charakter.481 Die Bedürfnisbefriedigung zur Gewohnheit zu machen, ist nach Hegel vernünftig und befreit die Individuen. »(D)ie mönchische Entsagung und Gewaltsamkeit befreit nicht von ihnen noch ist sie dem Inhalte nach vernünftig«482. Beide Extreme – die Verabsolutierung des Sexualtriebs wie dessen Verdammung – sind also nach Hegel mangelhafte Auffassungen, die es in einer gelungenen Integration des natürlichen Sexualtriebs in der Ehe um der Freiheit willen miteinander zu vermitteln gilt.483 Gerade die gelungene Integration des natürlichen Sexualtriebs, die ihn nicht verdammt, aber zu einem untergeordneten Moment macht, zeichnet die Ehe nach Hegel auch gegenüber der nicht-ehelichen Verbindung, dem Konkubinat, aus.484 Während es Hegel zufolge im Konkubinat allein um die 478
Vgl. ebd. Ebd. 480 An , S. 132, 12 f. Vgl. auch Gr, S. 435, 27 f. Vgl. z. B. Wielands Der Sieg der Natur L über die Schwärmerey, oder die Abenteuer des Don Silvio von Rosalva, sowie Die Geschichte des Agathon oder Die geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (vgl. AnL, Erläuterungen, S. 320). 481 Vgl. II.2.2.8.3. 482 EPW, § 410 Anm. 483 Vgl. An , S. 131, 14–32. L 484 Hegel äußert sich nicht dazu, ob das Konkubinat auch strafrechtlich verfolgt wer479
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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Triebbefriedigung geht, weshalb die Partner noch ganz ihren Trieben subsumiert bleiben, erlaubt die Ehe, die Triebbefriedigung zu einem untergeordneten Moment der Beziehung zu machen.485 Damit ermöglicht sie den Ehepartnern, sich die Triebe unterzuordnen, statt ihnen subsumiert zu bleiben. Da die Ehepartner somit ein anderes Verhältnis zu dem Sexualakt haben, können sie nach Hegel auch ohne Scham über natürliche Ereignisse sprechen (womit vermutlich vor allem die Schwangerschaft gemeint ist, wohl kaum schon das Sprechen über sexuelle Bedürfnisse oder Vorlieben u. ä.), während Partner in Verhältnissen, in denen die Individuen noch gänzlich von der Triebbefriedigung beherrscht werden, wie z. B. im Konkubinat, ein großes Schamgefühl empfänden. Die Scham ist nach dem Zusatz zu § 401 von Hegels Anthropologie »ein beginnender, ein bescheidener Zorn des Menschen über sich selber, denn sie enthält eine Reaktion gegen den Widerspruch meiner Erscheinung mit dem, was ich sein soll und sein will (…)«486. Im Konkubinat schämt man sich also darüber, dass man sich wie ein bloß natürliches Wesen den eigenen Trieben hingibt, obwohl man wesentlich ein geistiges Wesen ist, was aber im Verhältnis zur eigenen Sexualität im Konkubinat nicht angemessen zum Ausdruck kommt. Dass das Schamgefühl über eine Schwangerschaft im Fall des Konkubinats vor allem auf die gesellschaftliche Ächtung zurückgeführt werden muss, unter der in erster Linie die Konkubine zu leiden hat, ist für Hegel kein Argument gegen die Berechtigung des Schamgefühls; denn Hegel zufolge wird in der gesellschaftlichen Ächtung lediglich das wahrhaft sittliche Verhalten eingefordert. Nach Hegel hat es sogar seine Berechtigung, dass insbesondere die Konkubine sich dieses Verhältnisses schämt, denn als Frau kann sie Hegel zufolge ihre Sittlichkeit nur innerhalb der Ehe realisieren;487 zwar sollte sich auch der Mann seiner Unterordnung unter die Triebe schämen, aber da er noch »ein Anderes Feld seiner sittlichen Wirksamkeit im Staate«488 hat, gibt er – anders als die Konkubine – Hegel zufolge nicht im selben Maße wie sie seine Ehre auf.489 Hegels Gedanke zum Verhältnis von geistiger Liebe und Sexualität – den er auf die Ehe beschränkt – kann zur Grundlage eines Begriffs von Erotik dienen: Erotik ist dann bestimmt als eine Form der geistigen Aneignung der natürlichen Sexualität. Eine solche geistige Aneignung hat Rückwirkunden soll. Dies war in allen deutschen Territorien bis zum neuen Reichsstrafgesetzbuch 1872 der Fall (vgl. dazu Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 510). 485 Vgl. An , § 164; Ho, S. 519; Gr, S. 434. K 486 Vgl. TWA 10, § 401 Z. 487 Vgl. GW 14,2, S. 745, 3 f.; vgl. auch Gr, S. 437, 9 f. 488 GW 14,2, S. 745, 3 f.; vgl. auch Gr, S. 437, 12 f. 489 Vgl. II.2.2.8.3.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
gen auf den Sexualakt selbst, der damit eine immer kultiviertere und somit »menschlichere« Form bekommt. Im Gegensatz zu seinen Frühschriften, in denen Hegel den Sexualakt der Liebenden tatsächlich höchst erotisch schildert und gewissermaßen geistig überhöht,490 tritt die Seite der Erotik in den Grundlinien in den Hintergrund. In den Grundlinien überwiegt der Eindruck, dass Hegel dem Geschlechtsakt als Dasein der Liebe zwar Raum gewähren möchte, aber dennoch soll ihm möglichst wenig Bedeutung zukommen; der Sexualakt wird als ein Akt bestimmt, den man innerhalb der Ehe auf eine menschliche Weise »verrichtet«, weil er zum Lebensprozess dazugehört, nicht aber als ein Akt, der selbst als natürlicher auch geistige Qualität hat. Darauf deutet hin, dass es nach Hegel für das Eheverhältnis letztlich äußerlich ist, ob die Ehepartner miteinander schlafen oder nicht.491 Gegenüber Hegels Auffassung wird man heute, nicht zuletzt bedingt durch die Psychoanalyse und die moderne Sexualforschung, der Sexualität für eine gelungene Partnerschaft sicher eine wesentlich größere Bedeutung beimessen. Da Hegel meint, mit der bürgerlichen Ehe sei die höchste Form des freien Verhältnisses der Geschlechter zu ihrer eigenen Sexualität realisiert, kann Hegel auch keine sich entwickelnde Erotik denken. Ein solcher Begriff sich entwickelnder Erotik wäre jedoch eine Konsequenz des hegelschen Gedankens, dass die Individuen sich ihre eigene Natur und ihr Gattungsverhältnis geistig aneignen können. Die enormen Befreiungsschritte in der Sexualität, die durch die »sexuelle Revolution«, die Entwicklung von Empfängnisverhütungsmitteln492 und durch zahlreiche Emanzipationsbewegungen493 erreicht wurden, haben das Verhältnis der Menschen zur Sexualität deutlich verändert. In diesen Schritten wird deutlich, dass ein langer Weg von der Sexua490
So heißt es z. B. in den Frankfurter Entwürfen über Religion und Liebe (1797/98): »Diesen Reichtum des Lebens erwirbt die Liebe in der Auswechselung aller Gedanken, aller Mannigfaltigkeiten der Seele, indem sie unendliche Unterschiede sucht und unendliche Vereinigungen sich ausfindet, an die ganze Mannigfaltigkeit der Natur sich wendet, um aus jedem ihrer Leben die Liebe zu trinken. Das Eigenste vereinigt sich in der Berührung, in der Befühlung bis zur Bewusstlosigkeit, der Aufhebung aller Unterscheidung, das Sterbliche hat den Charakter der Trennbarkeit abgelegt, und ein Keim der Unsterblichkeit, ein Keim des ewig sich aus sich Entwickelnden und Zeugenden, ein Lebendiges ist geworden. Das Vereinigte trennt sich nicht wieder; die Gottheit hat gewirkt, erschaffen.« (TWA 1, S. 239–254) Vgl. dazu auch Baum 1986, S. 41 f. 491 Vgl. GPR, § 164. 492 Die Geschichte der Empfängnisverhütung ist sehr bedeutsam für die Veränderungen im Geschlechterverhältnis, kann hier aber nicht weiter dargestellt werden. Vgl. dazu Metz-Becker 2006; Jütte 2003. 493 Gemeint sind vornehmlich die Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Intersexuellenbewegung, die Transsexuellenbewegung und die Queerbewegung.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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lität zu Hegels Zeiten bis heute zurückgelegt wurde, in dem sich auch eine Entwicklung der Erotik und ein freierer Umgang mit Sexualität erkennen lassen. Auch wenn man manche Entwicklungen im Einzelnen kritisch sehen mag, ändert das doch nichts daran, dass es sich insgesamt um einen Fortschritt handelt. Nimmt man Hegels Forderung einer Aneignung der eigenen Sexualität ernst, ist damit ein Anspruch an das Verhältnis zur eigenen Sexualität verbunden, dessen erfüllte Realisierung mit Hegels Auffassung von Sexualität noch gänzlich im Anfang begriffen ist.
II.2.2.8 Hegels Kritik an den Formen der Ehebegründung seiner Zeit Mit seinem Begriff der Ehe als sittlicher Liebeseinheit der Ehepartner grenzt sich Hegel von drei Formen der Ehebegründungen ab, die zu seiner Zeit höchst populär waren: a) die Ehe als Fortpflanzungsverhältnis, b) die Ehe als Vertrag und c) die Ehe als leidenschaftliches Liebesverhältnis.494 Hegel zufolge trifft keine dieser drei Begründungsformen das sittliche Wesen der Ehe, sondern allen dreien ist gemeinsam, dass sie bloße Momente der Ehe verabsolutieren und als ihren Hauptzweck ausgeben. Die traditionellen Begründungsformen sind nach Hegel einseitig. Hegel selbst hat den Anspruch, einen Begriff der Ehe zu geben, der ihren eigentlichen sittlichen Inhalt umfasst und aus dem sich die verschiedenen Momente der Ehe, die von anderen Theoretikern verabsolutiert wurden, ableiten lassen. Hegels Kritik an den drei genannten Formen der Ehebegründung soll im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.
II.2.2.8.1 Ehe als Fortpflanzungsverhältnis – Kritik des traditionellen Ehebegriffs und der Naturrechtslehre Zu den traditionellen Bestimmungen der Ehe gehört, dass die Ehe wesentlich eine Gemeinschaft zum Zwecke der Fortpflanzung ist.495 Nach Hegel hängen auch einige Vertreter der Naturrechtslehre dieser Ansicht an.496 Die Sexualität wird somit auf die Funktion der Zeugung von Nachkommen reduziert –
494
Vgl. Gr, S. 425 f. Schon bei Augustinus gehört zu den Ehegütern neben der Treue (fides) und dem kirchlichen Sakrament (sacramentum) auch die Nachkommenschaft (proles) (vgl. B. coniug., S. 41 f.). Zur Eheauffassung im neuzeitlichen Naturrecht vgl. Doyé 2012. 496 Vgl. Gr, S. 425, 2 f. 495
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
sie dient nicht zugleich der lustvollen Befriedigung des Sexualtriebs oder der leidenschaftlichen erotischen Hingabe, wie das bspw. die Frühromantiker vertraten,497 sondern allein der Fortpflanzung. Hegel kritisiert eine solche Position: Zwar beruht die Ehe einerseits auf dem natürlichen Geschlechterverhältnis498 und damit auch auf dem Fortpflanzungszusammenhang, andererseits wäre es aber falsch, zu behaupten, die Fortpflanzung sei der Hauptzweck der Ehe. Wie der Sexualakt, so wird auch die Fortpflanzung nach Hegel zu einem bloßen Moment der Ehe, das auch fehlen kann, ohne dass damit die Ehe, »die auch in der gegenseitigen Liebe und Beyhülfe allein erschöpft seyn kann«499, als sittliche Institution in Gefahr wäre. Wenn sich Hegel gegen eine Verabsolutierung der Fortpflanzung als Hauptzweck der Ehe richtet, so ist das Zeugen von Nachkommen doch auch nach Hegel ein wichtiges Moment der Ehe, denn im Kind wird den Eltern ihre Liebe objektiv.500 Damit ist aber die Fortpflanzung nicht mehr Selbstzweck oder göttlicher Wille, dem sich die Ehepartner unterzuordnen haben, sondern sie dient den Eltern als Ausdruck ihrer gegenseitigen (ehelichen) Liebe, die die eigentlich sittliche Grundlage der Ehe ausmacht. Hegel stuft so die Fortpflanzung nicht nur von einer Wesensbestimmung zu einem bloßen Moment herab, sondern gibt der Fortpflanzung auch eine andere Bedeutung. Sie dient wesentlich den Eltern, um zu einem Bewusstsein der Sittlichkeit der ehelichen Gemeinschaft zu kommen.501 Das eigentlich Skandalöse an der Bestimmung der Ehe als Fortpflanzungsgemeinschaft ist nach Hegel also nicht, dass der Fortpflanzung Bedeutung zugemessen wird für die Ehe, sondern dass das bloß natürliche Verhältnis so verabsolutiert wird, dass das Sittliche des Verhältnisses seines Erachtens nicht mehr erfasst werden kann. Im Gegensatz zu einer solchen Begründung, die allein das natürliche Verhältnis der Fortpflanzung in den Blick nimmt, kommt es nach Hegel wesentlich darauf an, die Ehe als sittliches Verhältnis auszuweisen. Für die Sittlichkeit ist jedoch entscheidend, dass die Liebe als geistige Einheit über die natürliche Einheit übergreift und sich somit als das Wesentliche darstellt. Wird die Fortpflanzung zum Hauptzweck der Ehe erklärt, so ordnen sich im Gegenteil die Menschen der Natur unter, indem sie sich zum Mittel des natürlichen Zweckes – der Fortpflanzung – machen. Dies widerspricht Hegels Anliegen in der Begründung der Ehe fundamental. So heißt es schließlich in der Nachschrift von Griesheim:
497 498 499 500 501
Vgl. II.2.2.8.3. Vgl. GPR, § 161. Ebd., § 164. Vgl. ebd., § 173 und Ho, S. 547 f.; II.2.4.1. Vgl. II.2.4.1.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
185
»Die Ehe ist wesentlich ein rechtlich sittliches Verhältnis. Sie wird häufig und ist besonders früher in den meisten Naturrechten und positiven Gesetzgebungen nur nach der physischen Seite betrachtet worden, nicht nach der sittlichen Seite. (…) Man findet so die ganz oberflächliche Ansicht von der Ehe, daß sie weiter nichts zum Prinzip habe, als das Geschlechtsverhältnis und so ist jeder weitere Weg zu den übrigen Bestimmungen der Ehe verschlossen.«502
II.2.2.8.2 Ehe als Vertrag – Kritik an Kants Ehetheorie Hegel kritisiert mehrfach heftig die Auffassung, die Ehe sei wesentlich ein Vertrag503 – eine Position, die er auch Kant unterstellt: »Unter den Begriff vom Vertrag kann (…) die Ehe nicht subsumirt werden; diese Subsumtion ist in ihrer – Schändlichkeit, muß man sagen, bey Kant (Metaphys. Anfangsgr. der Rechtslehre«, S. 106. ff.) aufgestellt.«504 Wie weit Hegel die kantische Position dabei korrekt wiedergibt, soll am Ende dieses Kapitels diskutiert werden. Zunächst ist aber die Frage, warum Hegel ganz grundsätzlich ablehnt, die Ehe als Vertrag aufzufassen. Ein wesentlicher Aspekt für die Ablehnung dieser Bestimmung ist, dass die Ehe – wenn man sie überhaupt als Vertrag auffassen möchte – nach Hegel gerade ein Vertrag darüber ist, den Vertragsstandpunkt aufzugeben.505 Ein Vertrag hätte nach Hegel folgende Voraussetzungen: »Da die beyden contrahirenden Theile als unmittelbare selbständige Personen sich zu einander verhalten, so geht der Vertrag α) von der Willkühr aus; β) der identische Wille, der durch den Vertrag in das Daseyn tritt, ist nur ein durch sie gesetzter, somit nur gemeinsamer, nicht an und für sich allgemeiner; γ) der Gegenstand des Vertrags ist eine einzelne äußerliche Sache, denn nur eine solche ist ihrer bloßen Willkühr, sie zu entäußern (§ 65. ff.), unterworfen.«506 Die Eheschließung widerspricht – mit einer gewissen Einschränkung bezüglich des Moments der Willkür – nach Hegel allen drei Bestimmungen 502
Gr, S. 425, 16 f. Nach Hegel beruht der Staat ebenso wenig wie die Ehe auf einem Vertrag (vgl. GPR, § 75; GPR, § 258 Anm.; vgl. Kervégan/Mohnhaupt 1999). 504 GPR, § 75 Anm. 505 Vgl. ebd., § 163 Anm. 506 Ebd., § 75 Anm. 503
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
(α – γ) eines herkömmlichen Vertrags.507 Dies hat einen einfachen Grund: Die Ehe besteht Hegel zufolge wesentlich darin, dass die Ehepartner mit der Eheschließung ihre Selbständigkeit aufgeben. Gerade die Selbständigkeit ist jedoch Voraussetzung für die Vertragsfähigkeit. Da die für den Vertragsschluss vorausgesetzte unmittelbare Selbständigkeit bei der Eheschließung negiert wird, unterscheidet sich die Eheschließung in folgenden Hinsichten vom Vertrag: 1) Für den Vertrag ist die Willkür der Rechtspersonen Ausgangspunkt (vgl. Grundlinien, 75α). Dies gilt nach Hegel auch für die Eheschließung, denn zum objektiven Ausgangspunkt der Ehe gehört nach Hegel »die freye Einwilligung der Personen«508. Bei einem herkömmlichen Vertrag bleiben die Individuen jedoch auch nach Vertragsschluss immer noch selbständige, willkürlich handelnde Personen. Sie nehmen zwar einen identischen Willen hinsichtlich der Sache an, auf die sie sich vertraglich geeinigt haben, aber erhalten dabei zugleich ihre Selbständigkeit und Eigentümlichkeit.509 Anders
507
Auch Kant unterscheidet den Ehevertrag von einem »herkömmlichen Vertrag«: »Es ist nämlich, auch unter Voraussetzung der Lust zum wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften, der Ehevertrag kein beliebiger, sondern durchs Gesetz der Menschheit nothwendiger Vertrag, d. i. wenn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen, so müssen sie sich nothwendig verehelichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft nothwendig.« (MS, § 24, S. 277 f.) 508 GPR, § 162. Vgl. auch Ho, S. 266, 27 f. 509 Zur Identität des Willens bei Vertragsschluss vgl. GPR, § 73: »Aber in dieser Identität ihres Willens ist (auf dieser Stufe) eben so dieß enthalten, dass jeder ein mit dem anderen nicht identischer, für sich eigenthümlicher Wille sey und bleibe.« Mit diesem Argument, dass die vertragsschließenden Personen zugleich ihre Selbständigkeit beibehalten, kritisiert Hegel auch die Lehre vom Staatsvertrag: »In neuerer Zeit ist es sehr beliebt gewesen den Staat als Vertrag aller mit allen anzusehn. Alle schlössen mit dem Fürsten einen Vertrag, dieser mit den Unterthanen. Diese Ansicht kam daher, daß man oberflächlich eine Einheit von Willen hatte. Aber das Vertragsverhältniß hier anzuwenden ist vollkommen schief. Denn im Vertrag sind zwei identische Willen, die Personen sind, und beide wollen Eigenthümer bleiben. (…) Der Vertrag geht also von der Willkühr der Person aus. Diese wäre in der Ehe auch, und in sofern hätte diesen Ausgangspunkt die Ehe mit dem Vertrag gemeinsam. Beim Staat ist dieß gleich anders, denn es ist nicht Willkühr des Individuums vom Staat sich zu trennen, denn er (sic!) ist Bürger des bestimmten Staates schon nach dessen Naturseite. (…) Die vernünftige Bestimmung des Menschen ist im Staat zu leben, und ist noch kein Staat da, so ist die Forderung der Vernunft, dass ein Staat daseie. (…) (E)in Staat muss erlauben ob Jemand ihn verlassen oder in ihn eintreten könne oder nicht. (…) In den Staat zu treten ist also nicht Willkühr des Einzelnen (…). Es ist also falsch, wenn man sagt es sei die Willkühr aller einen Staat zu gründen. Es ist dieß nicht, sondern es ist die absolute Nothwendigkeit Jedes im Staat zu sein.« (Ho, S. 266, 1 ff.)
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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bei der Eheschließung: Denn die freie Einwilligung der Personen besteht gerade darin, »Eine Person auszumachen, ihre natürliche und einzelne Persönlichkeit in jener Einheit aufzugeben (…).«510 2) Gerade weil die Selbständigkeit der Personen beim Vertrag erhalten bleibt, tritt »der allgemeine Wille (…) hier nur noch als Gemeinsamkeit auf«511 (vgl. Grundlinien, § 75β). In der Ehe handelt es sich nach Hegel dagegen um einen wahrhaft allgemeinen Willen, in dem die Nicht-Identität der einzelnen Willen derer, die die Ehe eingegangen sind, aufgehoben ist. Auf den Unterschied von wahrer Allgemeinheit und bloßer Gemeinsamkeit kommt Hegel in den Grundlinien regelmäßig zu sprechen.512 Bereits in der Einleitung verweist er zur Erläuterung auf die Behandlung dieses Problems in der Logik.513 Bezogen auf den Willen lässt sich der Unterschied daran festmachen, dass im Falle der bloßen Gemeinsamkeit von den einzelnen Willen ausgegangen wird, die sich auf einen gemeinsamen Willen einigen; demnach wäre der allgemeine Wille nur ein Resultat der Einigung auf ein Gemeinschaftliches der Einzelwillen und durch die einzelnen Willen bestimmt.514 510
GPR, § 162. Ho, S. 263, 15 ff. 512 So ist z. B. auch der Not- und Verstandesstaat der bürgerlichen Gesellschaft nach Hegel ein bloß Gemeinsames, kein wahrhaft Allgemeines (vgl. Gr, S. 472, 19 ff.). Mit seiner Vertragstheorie polemisiert Hegel zugleich gegen die neuzeitliche Staatsvertragstheorie. 513 Vgl. GPR, § 24. Hegel verweist dort auf die §§ 118–126 der Enzyklopädie von 1817, die den §§ 169–178 in der Enzyklopädie von 1830 entsprechen. Zum Verhältnis von wahrer Allgemeinheit und bloßer Gemeinschaftlichkeit ist vor allem der § 175 der Enzyklopädie instruktiv: »Einige sind das Allgemeine, so ist die Besonderheit zur Allgemeinheit erweitert; oder diese durch die Einzelnheit des Subjekts bestimmt ist die Allheit (Gemeinschaftlichkeit, die gewöhnliche Reflexions-Allgemeinheit).« (EPW, § 175) 514 Hegel wiederholt diesen Gedanken in der Kritik an Rousseaus Prinzip der volonté générale: »Die philosophische Betrachtung hat es nur mit dem Inwendigen von Allem diesem, dem gedachten Begriffe zu thun. In Ansehung des Aufsuchens dieses Begriffes hat Rousseau das Verdienst gehabt, ein Prinzip, das nicht nur seiner Form nach, (wie etwa der Socialitätstrieb, die göttliche Autorität) sondern dem Inhalte nach Gedanke ist, und zwar das Denken selbst ist, nämlich den Willen als Prinzip des Staats aufgestellt zu haben. Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen, nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staate zu einem Vertrag, der somit ihre Willkühr, Meynung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat (…).« (GPR, § 258 Anm.) Rousseau hat zwar mit der Unterscheidung von volonté générale und volonté de tous einen Unterschied zwischen dem gemeinschaftlichen Willen und dem allgemeinen Willen gemacht. Trotzdem greift die Kritik Hegels, dass Rousseau auch im Falle der volonté générale das Verhältnis von den Einzelwillen der Individuen aus denkt und nicht von dem allgemeinen Willen (des Geistes) aus. Darin besteht gerade die Vertragsidee (vgl. Schnädelbach 2000, S. 211 f.). 511
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Der Inhalt der Verträge ist also ein bloß partikularer, der Resultat der Einigung zweier Einzelwillen zu einem identischen Willen ist. Nach Hegel ist diese Auffassung einseitig, denn sie verabsolutiert die subjektive Seite des Willens – die Einzelheit. Der Wille ist jedoch zugleich objektiv, nämlich das Vernünftige selbst.515 Zwar ist es richtig, dass die Individuen den an sich seienden allgemeinen Inhalt des Willens auch begreifen können müssen; aber mit Hegels Theorie des allgemeinen, freien Willens verkehrt sich das Bedingungsverhältnis. Die Individuen mit ihrem Einzelwillen können sich, indem sie das eigentlich Vernünftige denkend begreifen und sich zum Inhalt ihres Willens machen, selbst zum allgemeinen Willen erheben. Ihr Inhalt ist dann nicht ein bloß partikularer, sondern das Allgemeine, Vernünftige selbst. Sie sind damit zunächst dem allgemeinen Willen bloß subsumiert und können dadurch, dass sie das Allgemeine begreifen und sich zum Inhalt machen, sich den allgemeinen Willen unterordnen und darin frei sein. Während also im Vertrag der identische Wille der Vertragspartner als ein bloß von ihnen gesetztes Resultat erscheint und damit nur ein Gemeinschaftliches ist, das die Selbständigkeit der Einzelwillen weiterhin voraussetzt, ist es im Fall der Eheschließung gerade umgekehrt so, dass die Individuen die Ehe selbst als das Sittliche, Allgemeine und Vernünftige begreifen, dem sie sich unterordnen müssen, wenn sie frei sein wollen. Sie gehen daher nach Hegel in der Einheit des allgemeinen Willens auf. Der Unterschied des Verhältnisses von Einzelwillen und allgemeinem Willen bei herkömmlichen Verträgen im Vergleich zur Eheschließung zeigt sich auch daran, dass es nach Hegel eine »sittliche Pflicht ist, in den Stand der Ehe zu treten«516, ebenso wie es für die Individuen »höchste Pflicht (…) ist, Mitglieder des Staats zu seyn«517. Von einer sittlichen Pflicht, Verträge zu schließen, kann dagegen keine Rede sein – denn das abstrakte Recht ist ohnehin eine bloße Möglichkeit.518 Verträge zu schließen ist somit für die Individuen im Rahmen der Arbeitsteilung oft eine Notwendigkeit, aber dennoch keine Pflicht.
515
Es gibt zahlreiche Stellen, die man dafür als Beleg angeben könnte. Besonders deutlich wird dieser Punkt jedoch in der Anmerkung zu § 258: »Gegen das Prinzip des einzelnen Willens ist an den Grundbegriff zu erinnern, daß der objective Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist, ob es von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht, – daß das Entgegengesetzte, die Subjectivität der Freyheit, das Wissen und Wollen, die in jenem Prinzip allein festegehalten ist, nur das eine, darum einseitige Moment der Idee des vernünftigen Willens enthält, der diß nur dadurch ist, daß er eben so an sich, als daß er für sich ist.« (GPR, § 258 Anm.) 516 GPR, § 162 Anm. 517 Ebd., § 258. 518 Vgl. ebd., § 38.
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3) Da der Vertrag auf der bloßen Willkür der Rechtspersonen beruht, können nach Hegel nur über einzelne, äußerliche Sachen Verträge geschlossen werden (vgl. Grundlinien, § 75γ), denn nur über diese verfügen die Rechtspersonen willkürlich. Nur Sachen, die ihrer Natur nach äußerlich sind, können auch veräußert werden,519 sonst wird die Freiheit der Person verletzt. Veräußerlich sind neben Sachen, die der Rechtsperson qua Eigentum zukommen, auch bestimmte einzelne körperliche und geistige Tätigkeiten, z. B. in der Lohnarbeit. Letzteres ist nach Hegel möglich, da das Individuum dabei nur einzelne Produkte seiner Tätigkeit veräußert bzw. nur für einige Stunden seine Arbeitskraft verkauft. Zur Totalität seiner Tätigkeiten haben diese veräußerten Tätigkeiten daher nach Hegel ein äußerliches Verhältnis. Unveräußerlich ist dagegen die Totalität der Tätigkeiten selbst, denn veräußerte das Individuum die Totalität seiner Tätigkeiten, machte es seine Persönlichkeit selbst zum Eigentum eines anderen520 – es wäre Sklave bzw. Sklavin eines anderen und gäbe somit seine Freiheit auf. Das Individuum ist nichts anderes als diese Totalität und damit ist diese Totalität nichts ihm Äußeres und somit auch unveräußerlich: »Unveräußerlich sind (…) diejenigen Güter oder vielmehr substantiellen Bestimmungen, so wie das Recht an sie unverjährbar, welche meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseyns ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion.«521 Wenn auch einzelne körperliche Tätigkeiten veräußerbar sind, so ist doch der Körper als solcher nicht veräußerbar, denn er ist selbst Ausdruck des freien Willens der Person. Eine Verletzung des Körpers betrifft somit keine bloße Einzelheit oder etwas Äußerliches, sondern stellt eine Verletzung der Person selbst dar: »In so fern Ich lebe, ist meine Seele (der Begriff und höher das Freye) und der Leib nicht geschieden, dieser ist das Daseyn der Freyheit und Ich empfinde in ihm. Es ist daher nur ideeloser, sophistischer Verstand, welcher die Unterscheidung machen kann, daß das Ding an sich, die Seele, nicht berührt oder angegriffen werde, wenn der Körper mishandelt und die Existenz der Person der Gewalt eines andern unterworfen wird. (…) Meinem Körper von Andern angethane Gewalt ist Mir angethane Gewalt.
519 520 521
Vgl. ebd., § 65. Vgl. ebd., § 67. Ebd., § 66.
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Daß, weil Ich empfinde, die Berührung und Gewalt gegen meinen Körper mich unmittelbar als wirklich und gegenwärtig berührt, macht den Unterschied zwischen persönlicher Beleidigung und zwischen Verletzung meines äußern Eigenthums, als in welchem mein Wille nicht in dieser unmittelbaren Gegenwart und Wirklichkeit ist.«522 Nach dieser Bestimmung ist somit auch kein Vertrag über den Gebrauch der Geschlechtsorgane möglich, denn diese sind unveräußerbar. Die Geschlechtlichkeit des Körpers ist nach Hegel Ausdruck der Allgemeinheit (der Gattungshaftigkeit) des Individuums. Wird sie veräußert, veräußert sich damit auch das ganze Individuum. Ein Vertrag über den Gebrauch der Geschlechtsorgane stellte somit eine Verletzung der Person dar.523 Wäre die Ehe als ein herkömmlicher Vertrag zu denken, blieben die Ehepartner selbständige Personen und kämen nur in einer beschränkten Hinsicht (eben in einer ihnen äußerlichen Sache) überein. Es kommt nach Hegel aber gerade auf die vollständige Hingabe der Partner an. Die Partner kommen also nicht nur in einer beschränkten und äußerlichen Hinsicht überein, sondern vereinigen sich vollständig und behalten nichts von sich zurück: Sie machen eine Person aus.524 Die Aufgabe der Selbständigkeit der Person in der Ehe stellt dabei nach Hegel keine Veräußerung dar, sondern im Gegenteil eine Realisierung der eigenen Allgemeinheit und Freiheit, denn die Ehepartner gewinnen sich in der Ehe auf einer höheren Stufe der Allgemeinheit zurück.525 Nach § 163 besteht die Sittlichkeit der Ehe gerade in der »Gemeinsamkeit der ganzen [Hervorhebung E. B.] individuellen Existenz.« Während also ein Vertrag nur rechtmäßig ist, wenn er sich auf einzelne und damit veräußerliche Sachen bezieht, ist nach Hegel die Ehe gerade deshalb sittlich, weil sie sich nicht nur auf eine äußerliche Sache bezieht, sondern auf die Totalität des Individuums, aber so, dass dieses durch das Eingehen der Ehe seine Allgemeinheit und damit seine Freiheit erst wahrhaft realisieren kann. Die Frage ist nun, inwieweit Hegel mit dieser Kritik an der Auffassung der Ehe als Vertrag auch eine treffende Kritik an der kantischen Theorie der Ehe526 vorlegt. Allgemein lässt sich sagen, dass Hegels Kritik an Kants Begriff
522
Ebd., § 48 Anm. Mit diesem Argument lässt sich auch gegen Prostitution argumentieren, die demnach eine Gewalt gegen den Körper einer Person und damit gegen ihre Freiheit darstellt. Ähnlich argumentiert auch Kant, wie am Ende dieses Kapitels gezeigt werden soll. 524 Vgl. ebd., § 162. 525 Vgl. II.2.2.3. 526 Hegel bezieht sich in seiner Kritik ausschließlich auf Kants Ausführungen zur Ehe in der Metaphysik der Sitten (MS, S. 276–280, §§ 22–27 und MS, S. 358–361). Zu Kants 523
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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der Ehe sicherlich verkürzt ist. Das liegt schon darin begründet, dass Hegel sich nirgendwo im Einzelnen mit Kants Theorie der Ehe auseinandersetzt, sondern sich lediglich in einigen Randbemerkungen dazu äußert, die zudem oft einen polemischen Charakter haben. Dennoch handelt es sich nicht um ein bloßes Missverständnis seitens Hegels. Tatsächlich unterscheiden sich die kantische und die hegelsche Theorie der Ehe enorm. Hegels Hauptkritik gilt der kantischen Bestimmung der Ehe als »Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«527, die er als »roh«, »empörend« und »schändlich« bezeichnet.528 Hegels Kritik hat eine wirkliche Differenz beider Positionen zur Grundlage, obwohl die kantische Bestimmung der Ehe in manchen Hinsichten näher an Hegels Position ist, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Auch Kant zufolge unterscheidet sich der Ehevertrag von einem herkömmlichen Vertrag529. Nach Kant ist der Ehe-Vertrag ein »durchs Gesetz der Menschheit nothwendiger Vertrag«530. Für Kant stellt sich die Notwendigkeit des Ehevertrags jedoch gänzlich anders dar als für Hegel, weil Kant eine prinzipiell andere Konnotation des Geschlechtsakts voraussetzt. Nach Hegel ist der Geschlechtsakt schon in der Natur die höchste Form des Lebensvollzugs des Tieres: In ihm realisiert es seine Allgemeinheit, indem es sich als Gattungswesen zu einem anderen Gattungswesen verhält.531 Es kommt im Geschlechtsakt zur höchsten Form des Selbstgefühls und bringt zudem gemeinsam mit einem Wesen des anderen Geschlechts die Gattung selbst hervor – indem es Nachkommen zeugt. Für Hegel ist deshalb der Geschlechtsakt nicht prinzipiell problematisch, sondern im Gegenteil höchst positiv konnotiert. Der Geschlechtsakt besteht nicht im bloßen »Gebrauch der Geschlechtsorgane« der Geschlechtspartnerin oder des Geschlechtspartners, sondern in ihm bringen die Individuen die wirkliche Einheit der Gattung gegenüber den unterschiedenen Geschlechtern zum Ausdruck. Wenn Hegel davon spricht, dass die Ehe notwendig ist, um ein wahrhaft menschliches und nicht bloß tierisches Verhältnis unter den Geschlechtern herzustellen, bezieht sich das nicht auf eine prinzipielle Abwertung der tierischen SexuTheorie der Ehe vgl. Brandt 2004; Ebbinghaus 1986; Jauch 1988; Mendus 1987; Waszek 1999. Zum Verhältnis der Ehe- und Familientheorien von Rousseau, Kant und Hegel vgl. Kuster 2008. 527 MS, S. 277, § 24. 528 Vgl. GPR, § 75 Anm.; Gr, S. 425, 20 f.; V 1, S. 99, 579 f. 529 MS, S. 277, § 24. 530 Ebd., S. 278, § 24. 531 Vgl. TWA 10, § 381 Z; II.2.2.2.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
alität, sondern darauf, dass es spezifisch menschlich ist, auch ein Bewusstsein über dieses Verhältnis zu haben und dieses zum Ausdruck zu bringen durch einen zeremoniellen Akt und eine gesellschaftliche Institution. Das Unmenschliche oder Tierische an dem außerehelichen Geschlechtsverkehr besteht nach Hegel also darin, dass die Individuen der Gattung unterworfen bleiben, statt sich in einem selbstbewussten Akt umgekehrt die Gattungsfähigkeit anzueignen. Kant bewertet dagegen den Geschlechtsakt grundsätzlich negativ – er ist von Natur aus »kannibalisch«, »viehisch« und letztlich unmenschlich, weil sich die Geschlechtspartner gegenseitig zur Sache machen, indem sie ihre Geschlechtsorgane wechselseitig gebrauchen: »Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein Genuß, zu dem sich ein Theil dem anderen hingiebt. In diesem Act macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet«532 Kant kann den Geschlechtsakt daher nur als eine Art ›Selbstbefriedigung zu zweit‹ denken. Er schildert den Gebrauchscharakter sehr drastisch und sieht im Geschlechtsakt sogar eine Form der gegenseitigen Abnutzung. So schreibt er, ohne die Bedingung der Ehe sei »(…) der fleischliche Genuß dem Grundsatz (wenn gleich nicht immer der Wirkung nach) cannibalisch. Ob mit Maul und Zähnen, oder der weibliche Teil durch Schwängerung und daraus vielleicht erfolgende, für ihn tödtliche Niederkunft, der männliche aber durch von öfteren Ansprüchen des Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfungen aufgezehrt wird, ist bloß in der Manier zu genießen unterschieden, und ein Theil ist in Ansehung des anderen bei diesem wechselseitigen Gebrauche der Geschlechtsorganen, wirklich eine verbrauchbare Sache (res fungibilis) (…).«533 Da der natürliche Geschlechtsakt bestimmt ist als ein Akt, in dem sich die Geschlechtspartner gegenseitig gebrauchen, verstößt dieser Akt nach Kant notwendig gegen das moralische Gesetz. Dem moralischen Gesetz zufolge ist es verboten, sich selbst oder einen anderen Menschen zur Sache zu machen, weil man ihn dabei zum bloßen Mittel herabwürdigte.534 Für Kant stellt sich 532 533 534
MS, S. 278, § 25. Ebd., S. 359 f. Vgl. GMS, S. 429.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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somit ein Problem, das sich für Hegel in dieser Form gar nicht stellt, nämlich wie der Geschlechtsakt, der von Natur aus nach Kant eigentlich entmenschlichend ist, in einer moralisch gerechtfertigten Form vollzogen werden kann. Dies ist nach Kant nur möglich in der rechtlichen Form der Ehe. An diesem Punkt nun zeigt sich, dass die zuvor zitierte kantische Bestimmung der Ehe als »Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«535 in gewisser Hinsicht roher klingt, als sie eigentlich zu verstehen ist. Kant thematisiert gerade das auch von Hegel aufgeworfene Problem, dass die Geschlechtsorgane unveräußerbar sind »wegen der unzertrennlichen Einheit der Glieder an einer Person«536. Die Ehe kann also keinen bloßen Vertrag über den Gebrauch der Geschlechtsorgane darstellen. Ein solcher Vertrag ist nach Kant rechtlich überhaupt nicht möglich, denn er änderte nichts daran, dass sich dort jemand zur Sache machte und damit dem moralischen Gesetz fundamental widerspräche.537 Kants Lösung des Problems besteht nun darin, dass sich die Individuen in der Ehe gegenseitig vollständig als Personen erwerben. Somit ist rechtlich gesichert, dass die Individuen in ihrer Hingabe an den anderen jeweils ihre Persönlichkeit zurückgewinnen, statt sich zur bloßen Sache zu machen: »Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, daß, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her. Es ist aber der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person – weil diese eine absolute Einheit ist; – folglich ist die Hingebung und Annehmung eines Geschlechts zum Genuß des andern nicht allein unter der Bedingung der Ehe zulässig, sondern auch allein unter derselben möglich.«538 Dieses Argument, dass die Individuen im Geschlechtsakt ihre Persönlichkeit aufgeben, sie jedoch in der Ehe dadurch zurückgewinnen können, dass sie zugleich den Ehepartner als Person erwerben, hat scheinbar gewisse Anklänge an die hegelsche Position, nach der die Ehepartner eine Person ausmachen sollen. Dies darf jedoch nicht über die fundamentalen Unterschiede hinwegtäuschen. Wenn Kant hier davon spricht, dass sich die Ehepartner gegenseitig als Personen »erwerben« müssen, ist das sehr wörtlich zu ver-
535 536 537 538
MS, S. 277, § 24. Ebd., S. 279, § 26. Vgl. Kants Ausführungen über das Konkubinat in MS, S. 278 f., § 26. MS, S. 278, § 25.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
stehen. Dies zeigt sich an Kants Bestimmung des »persönlich-dinglichen Rechts«, zu dem auch das Eherecht zählt: »Die Definition des auf dingliche Art persönlichen Rechts ist nun kurz und gut diese: ›Es ist das Recht des Menschen, eine Person außer sich als das Seine zu haben.‹«539 Für das Eherecht hat dies erhebliche Konsequenzen: »Daß aber dieses persönliche Recht es doch zugleich auf dingliche Art sei, gründet sich darauf, weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines Anderen Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit und unweigerlich gleich als eine Sache in seine Gewalt zurückzubringen berechtigt ist.«540 Zwar haben die Individuen kein Eigentum an der Person des Ehepartners, aber sie besitzen sich gegenseitig im Sinne »des Nießbrauchs (ius utendi fruendi)«; dies erlaubt mir als Gatte oder Gattin »unmittelbar von dieser Person gleich als von einer Sache, doch ohne Abbruch an ihrer Persönlichkeit, als Mittel zu meinem Zweck Gebrauch zu machen.«541 Um dieses Besitzverhältnis zu verdeutlichen, kommt Kant auf den Unterschied zwischen der Aussage »Dies ist mein Vater« und der Aussage »Dies ist mein Weib« zu sprechen: »Denn ich kann sagen: dieser ist mein Vater, das bezeichnet nur mein physisches Verhältniß (der Verknüpfung) zu ihm überhaupt. Z. B.: ich habe einen Vater. Aber ich kann nicht sagen: ich habe ihn als das Meine. Sage ich aber: mein Weib, so bedeutet dieses ein besonderes, nämlich rechtliches, Verhältniß des Besitzers zu einem Gegenstande (wenn es auch eine Person wäre) als Sache. Besitz (physischer) aber ist die Bedingung der Möglichkeit der Handhabung (manipulatio) eines Dinges als einer Sache; wenn dieses gleich in einer anderen Beziehung zugleich als Person behandelt werden muß.«542 In dieser Bestimmung zeigt sich deutlich der Unterschied zur hegelschen Position: Nach Kant hat der Ehevertrag tatsächlich »dinglichen« Charakter, weil sich die Ehepartner gegenseitig wie Sachen erwerben müssen, damit der Geschlechtsakt in seinen Augen moralisch legitimiert ist. Sie können damit auch rechtlich einfordern, dass der oder die Ehepartner/in, welche/r
539 540 541 542
Ebd., S. 358. Ebd., S. 278, § 25. Ebd., S. 359. Ebd., S. 358.
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Ehebruch begeht oder den/die andere/n verlassen möchte, in ihren Besitz zurückkommt. Dies ist nach Hegel nicht möglich, weil die Ehe die sittliche Liebe zur Grundlage haben soll. Geht diese Grundlage verloren, kann der »Besitz« des Ehepartners nicht rechtlich eingefordert werden. Zwar ist es auch nach Hegel nicht richtig, wenn Ehen allzu schnell geschieden werden können, aber von einem Besitzanspruch auf den Ehepartner oder die Ehepartnerin wie auf eine Sache kann nach Hegel nicht die Rede sein.543 Gerade durch den zugleich dinglichen Charakter bleibt die kantische Bestimmung der Ehe auf dem Vertragsstandpunkt stehen, denn der Ehevertrag unterscheidet sich vom herkömmlichen Vertrag lediglich dadurch, dass die Individuen einen Vertrag über den wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane dadurch schließen, dass sie den oder die andere als Person und zugleich wie eine Sache erwerben. Der Vertragsstandpunkt, der die Willkür der Individuen voraussetzt, bleibt damit erhalten. Im Sinne Hegels kann man hier also nur von einem gemeinschaftlichen Willen, nicht von einem allgemeinen Willen sprechen. Wenn also die kantische Position auch wesentlich komplexer ist, als das in den wenigen kritischen Randbemerkungen Hegels zum Ausdruck kommt, so ist es doch so, dass sich beide Positionen fundamental unterscheiden und dass die kantische Position aus der hegelschen Perspektive tatsächlich nur als »roh« und »schändlich« zu bezeichnen ist. In der philosophischen Behandlung der Ehe seitens Kants und Hegels zeigt sich damit auch der unterschiedliche Rechtsbegriff, von dem Kant und Hegel ausgehen. Während Kant in der Metaphysik der Sitten die Ehe nur unter rechtlichen Gesichtspunkten im engeren Sinn betrachtet, nimmt Hegel aufgrund seines weit gefassten Rechtsbegriffs eine viel umfassendere Perspektive auf die Ehe und das Geschlechterverhältnis ein.544
543
Vgl. GPR, § 176 und V 1, S. 99, 579 f. Die Kritik an der Auffassung der Ehe als Vertragsverhältnis wertete die Ehe zwar als Gefühlsgemeinschaft auf, legitimierte aber zugleich, dass die Frauen in der Ehe weitgehend ›rechtlos‹ wurden. Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Frauen in der Ehe wurde mit dem Argument abgewehrt, dass darin der sittliche Charakter der Ehe verkannt werde. Auf dieses Problem macht u. a. Ursula Vogel aufmerksam (vgl. Vogel 1997). 544
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
II.2.2.8.3 Ehe als subjektives Liebesverhältnis – Kritik der Frühromantiker Mit seinem Ehebegriff richtet sich Hegel einerseits gegen die Ehebegründung in der Naturrechtslehre und in Kants Metaphysik der Sitten, andererseits gegen die Eheauffassung der Frühromantiker, insbesondere Schlegels und Schleiermachers.545 Hegel wirft den Frühromantikern vor allem vor, dass sie nur die subjektive und damit zufällige und willkürliche Seite der Liebe kennen. Nach Hegel können sie dadurch das Wesentliche, nämlich Sittliche, der Liebe und Ehe nicht begreifen, denn das liege gerade in den objektiven Bestimmungen von Liebe und Ehe begründet. In den Grundlinien lassen sich zwei Aspekte der hegelschen Kritik an den Frühomantikern herausgreifen, die beide letztlich mit dem Problem zusammenhängen, dass die subjektive Seite der Liebe in der Frühromantik das Entscheidende sein soll: die Betonung der Leidenschaft in der Liebe und Ehe und die Ablehnung der förmlichen Schließung der Ehe. II.2.2.8.3.1 Ehe als leidenschaftliche Liebe Obgleich die Ehe nach Hegel in der Liebe gründet, ist Hegel dennoch ein scharfer Kritiker derjenigen, die die leidenschaftliche Liebe als Fundament der Ehe betrachten. In den Notizen zu § 162 hält er kurz und bündig fest: »Leidenschaftliche Liebe und Ehe ist zweierlei.«546 Grund für seine Kritik ist, dass die leidenschaftliche Liebe als Empfindung vollkommen subjektiv, zufällig und vergänglich ist – eine Gestalt, die ihrer Sittlichkeit widerspricht.547 Er setzt daher der bloß leidenschaftlichen Liebe die Ehe als rechtlich-sittliche Liebe, als bewusste Einheit der Ehepartner entgegen, in der das bloß Subjektive, Zufällige und Vergängliche verschwindet.548 Leidenschaft ist nach Hegel Ausdruck von ungestilltem Trieb, von mangelnder Triebbefriedigung. Sie ist nur gegeben, wenn ein Hindernis die Realisierung der Liebe verunmöglicht. Sie ist somit Ausdruck der Trennung der Liebenden, die dazu bestimmt ist, aufgehoben zu werden. Indem die Liebenden die Ehe eingehen, heben sie diese Trennung auf, und es verschwindet die Leidenschaft.549 Da in der Ehe die Befriedigung des Sexualtriebs zur Gewohnheit wird, verliert der Trieb 545
Zu Hegels Kritik an der Liebesauffassung der Frühromantiker vgl. Pöggeler 1998, darin zu Schlegel und Schleiermacher S. 121–168; Waszek 1999; Innerarity 1993/1994. 546 TWA 7, § 162, Notizen (vgl. GW 14,2, S. 739, 1). 547 Vgl. Gr, S. 425, 29 f. 548 Vgl. ebd., S. 426, 2 f. 549 Vgl. An , S. 135, 10–26. L
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seinen treibenden Charakter.550 Es ist jedoch ein großes Missverständnis, zu meinen, dass nach Hegel in der Ehe deshalb Sexualität keine dauerhafte Bedeutung hat und nur eine ›Durchgangsphase‹ darstellt, wie Schnädelbach behauptet.551 Wenn Hegel darauf hinweist, dass in der Ehe »der natürliche Trieb zur Modalität eines Naturmoments, das eben in seiner Befriedigung zu erlöschen bestimmt ist, herabgesetzt wird«552, dann setzt er selbstverständlich voraus, dass diese Befriedigung immer wieder neu hergestellt werden muss. Es geht nicht darum, dass der Sexualtrieb dauerhaft erlischt. Wie der Hunger immer wieder gestillt werden muss, so muss auch der Sexualtrieb befriedigt werden. Aber wie die meisten Menschen in entwickelten Gesellschaften den Hunger zum Glück nur in Ausnahmefällen noch als Trieb im eigentlichen Sinne erleben, da sie zu geregelten Zeiten Essen zu sich nehmen, so ist auch in der Ehe die Befriedigung des Sexualtriebs dauerhaft geregelt und treibt damit die Individuen nicht mehr um. Man kann das Erlöschen des Triebes also auch positiv formulieren: In der Ehe können die Individuen die Sexualität genießen und kultivieren, weil sie nicht hauptsächlich damit beschäftigt sind, überhaupt erst einen Sexualpartner zu finden.553 Zwar kann nach Hegel eine Ehe auch durchaus ohne dauerhafte sexuelle Vereinigung der Ehepartner Bestand haben,554 aber Hegel geht nicht davon aus, dass dies notwendig der Fall oder gar anzustreben sei. Seine wiederholte Ablehnung des Keuschheitsgebots macht das mehr als deutlich.555 Gerade die dauerhafte Befriedigung des Sexualtriebs in der Ehe ist nach Hegel Voraussetzung dafür, dass Männer ihre Leidenschaft vom bloß Einzelnen, Partikularen, nach außen wenden können auf das Allgemeine und somit tätig werden in Staat, Kultur und Wissenschaft:556 »Die Liebe ist nun zugleich eine Leidenschaft, weil diese Unendlichkeit, diese Versenkung in ein Anderes zugleich ein Endliches ist, an eine bestimmte Form gebunden erscheint. Der Mensch hat als Geist nun noch
550
Zu Hegels Verständnis von Gewohnheit vgl. EPW, § 410 Anm.; II.1.3.3. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 254. 552 GPR, § 163. 553 Vgl. II.2.2.7. 554 Vgl. GPR, §§ 163/164. 555 Vgl. ebd., § 163 Anm.; EPW, § 552 Anm.; TWA 12, S. 457 f. und 502 f. 556 Zu dem Problem, dass nur Männer die beschränkte Sphäre der Familie verlassen und sich in der Öffentlichkeit in Kunst, Kultur und Wissenschaft betätigen können, nicht auch Frauen vgl. II.2.2.9. 551
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
weitere Zwecke für den Staat, die Wissenschaft und das Allgemeine überhaupt als solches. Die eheliche Liebe wird nun zu dem leidenschaftslosen Element; das Wesentliche des sittlichen Verhältnisses ist beibehalten. Die Leidenschaft ist darum nicht mehr als solche vorhanden, weil Hindernisse, die früher entgegenstanden, hinweggefallen sind. (…) In der ehelichen Liebe sind die Trennungen aufgehoben; die in diesem Verhältnis Stehenden leben in dieser Identität ohne Hindernis. Es erwacht wieder das Bedürfnis der Trennung, das Bedürfnis, andere Zwecke nach außen zu haben. Das Moment des Unterschiedes hat die leidenschaftliche Liebe noch in sich selbst. Gerade das Unbefriedigte ist es, wodurch die Liebe Leidenschaft ist. Von der ehelichen Liebe geht die Tätigkeit nach anderen, weiteren Zwecken aus. Dem Manne gehört vorzüglich diese Richtung nach außen. In der Ehe hat er einen substantiellen Boden für seine Einzelheit gefunden. Es ist hier eine reale, substantielle Einzelnheit, das Recht des Individuums und dessen Wohl beziehen sich nur auf dessen Besonderheit. – In der ehelichen Liebe ist also das Bewußtsein der vollkommenen Identität, von wo aus das Individuum sich für Zwecke einer höheren Substantialität bestimmen kann. Der Mann erscheint somit erst in der Ehe wahrhaft begründet.«557 Hegel tadelt also nicht prinzipiell die Leidenschaften des Individuums – dies bezeugt nicht zuletzt der berühmte Satz aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in dem es heißt, es sei »nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden.«558 Er möchte lediglich zeigen, dass die sexuelle Leidenschaft befriedigt werden muss, damit andere Leidenschaften entfaltet werden können, die darauf drängen, auch außerhalb der Ehe befriedigt zu werden. Die Bestimmung der Ehe als leidenschaftliche Liebe bleibt Hegel zufolge beim noch unbefriedigten Trieb stehen, bleibt somit noch im Naturhaften verhaftet und kann die eigentlich freie, sittliche Liebe nicht erfassen. Sie verabsolutiert damit den Trieb selbst, statt auf die Befriedigung des Triebes aus zu sein und kann dadurch den Übergang zu weiteren Formen der Leidenschaft, die sich auf das Allgemeine richten, nicht machen. Sie erfasst auch im Geschlechterverhältnis nicht die allgemeine, objektive Seite, sondern nur die partikulare, subjektive Seite, die zufällig bleibt und deshalb nicht von Dauer ist.
557 558
AnL, S. 135, 4 – S. 136, 2. TWA 12, S. 38.
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II.2.2.8.3.2 Ablehnung der förmlichen Eheschließung (§ 164) Aus der Verabsolutierung des subjektiven Gefühls folgt auch die Ablehnung der förmlichen Eheschließung seitens der Frühromantiker, die Hegel scharf kritisiert. Nach Hegel wird die Ehe nur durch die feierliche Zeremonie als sittliche Gemeinschaft konstituiert. In ihr wird mittels der Sprache, – »dem der geistigen Vorstellung würdigsten Elemente«559 – zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei der Ehe um eine sittliche und nicht bloß natürliche Gemeinschaft handelt. Dies geschieht in doppelter Hinsicht: Zum einen erklären die zukünftigen Ehepartner feierlich ihre »Einwilligung zum sittlichen Bande der Ehe«560, womit sie zum Ausdruck bringen, dass ihre Ehe auf ihrem freien Willensentschluss beruht, d. h. Ausdruck ihres freien Willens und somit für ihren Willen bindend ist; sie zeigen darin, dass sie das allgemein Sittliche anerkennen. Zum anderen bringen die anwesenden Hochzeitsgäste, die Familien- und Gemeindemitglieder, zum Ausdruck, dass sie die Ehe, die geschlossen wird, als sittliche Gemeinschaft anerkennen. Die Anerkennung der Sittlichkeit der Ehe durch Familie und Gemeinde macht die neue Verbindung zu einem Moment des Sittlichen selbst. In der förmlichen Eheschließung anerkennen also die Ehepartner ebenso die Ehe als allgemeine sittliche Institution, wie ihre Verbindung umgekehrt von Familie und Gemeinde als sittlich anerkannt wird. Diese wechselseitige Anerkennung ist nach Hegel notwendig, weil sie Ausdruck des Bewusstseins des Geistes ist, der in der Anerkennung der objektiven Sittlichkeit zum Bewusstsein seiner selbst kommt. Durch die feierliche Zeremonie bringen Gemeinde, Familie und die zukünftigen Ehepartner zum Ausdruck, dass es sich nicht um ein bloß natürliches Verhältnis, um eine Fortpflanzungsgemeinschaft handelt, sondern um ein wesentlich geistiges Verhältnis der selbstbewussten Liebe.561 Durch die Zeremonie der Eheschließung wird somit das natürliche Verhältnis der Geschlechter in ein geistiges sittliches Verhältnis umgewandelt, womit das natürliche Verhältnis zu einem bloßen Moment herabgestuft wird.562 Ohne die feierliche Zeremonie würde die Ehe durch den Geschlechtsakt geschlossen und wirklich. Mit der Zeremonie wird dagegen zum Ausdruck ge559
GPR, § 78, vgl. GPR, §164. Zu Hegels Theorie der Sprache vgl. Bodammer 1969; Simon 1966. 560 GPR, § 164. 561 Die Bedeutung der feierlichen Zeremonie für die Konstitution der Ehe als einer sittlichen Gemeinschaft erinnert an die Bedeutung der zeremoniellen Bestattung in der Phänomenologie (vgl. PhG, S. 244, 39–245, 19; III.2.2.3). In beiden Fällen kommt es darauf an, auf geistige Weise zum Ausdruck zu bringen, dass es sich nicht um ein bloß natürliches Verhältnis handelt, sondern um ein geistiges. 562 Vgl. GPR, § 164.
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bracht, dass das sittliche Band dem natürlichen Band vorhergeht. Erst nach der feierlichen Erklärung in der Hochzeitsfeier, mit der die Individuen in der geistigen Einheit aufgehen, können sie sich in der Hochzeitsnacht ohne Verlust ihrer Sittlichkeit im Geschlechtsakt körperlich vereinigen. Wenn nun die Frühromantiker in der förmlichen Schließung der Ehe eine bloß »äußerliche Formalität« und ein »bloß bürgerliches Gebot« sehen, verkennen sie nach Hegel die sittliche Bedeutung der Ehe, die gerade darin besteht, den natürlichen Geschlechtstrieb zu einem bloßen Moment herabzustufen. Die Frühromantiker sehen die Eheschließung jedoch nicht nur als eine Äußerlichkeit an, sondern sie behaupten sogar, so Hegel, dass die Ehe die wahre Liebe verunreinige. Im Denken der Frühromantiker ist die Liebe wesentlich etwas Innerliches. Sie lehnen Hegel zufolge die förmliche Eheschließung ab, weil sie aus diesem wesentlich Innerlichen etwas Äußerliches mache. Die Liebe bedarf nach der romantischen Auffassung jedoch keiner solch äußerlichen Form der Anerkennung. Während nach Hegel gerade diese Form der Anerkennung von außen das Geistige des Verhältnisses objektiv macht und damit auch das (rechtlich-sittliche) Liebesverhältnis zum Bewusstsein bringt, sehen die Frühromantiker Hegel zufolge darin die Gefahr einer Pervertierung der wahren Liebe. Hegel ist von dieser Ansicht empört: »Solche Meynung, indem sie den höchsten Begriff von der Freyheit, Innigkeit und Vollendung der Liebe zu geben die Prätension hat, leugnet vielmehr das Sittliche der Liebe, die höhere Hemmung und Zurücksetzung des bloßen Naturtriebs, welche schon auf eine natürliche Weise in der Scham enthalten ist, und durch das bestimmtere geistige Bewußtseyn zur Keuschheit und Zucht erhoben ist. Näher ist durch jene Ansicht die sittliche Bestimmung verworfen, die darin besteht, daß das Bewußtseyn sich aus seiner Natürlichkeit und Subjectivität zum Gedanken des Substantiellen sammelt, und statt sich das Zufällige und die Willkühr der sinnlichen Neigung immer noch vorzubehalten, die Verbindung dieser Willkühr entnimmt und dem Substantiellen, den Penaten sich verpflichtend, übergiebt, und das sinnliche Moment zu einem von dem Wahrhaften und Sittlichen des Verhältnisses und der Anerkennung der Verbindung als einer sittlichen, nur bedingten herabsetzt.«563 Die Vorstellung der Frühromantiker, Freiheit und Innigkeit der Liebe beweise sich durch die sinnliche Hingebung völlig unabhängig von äußerlichen Bedingungen wie z. B. der förmlichen Eheschließung, kritisiert Hegel noch aus 563
Ebd., § 164 Anm.
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einer gesellschaftlichen Perspektive. In seiner Kritik an Schlegels Lucinde und Schleiermachers Vertraute Briefe über Friedrich Schlegel’s Lucinde macht Hegel auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen für Männer und Frauen aufmerksam, die dazu führen, dass die Eheschließung nicht für beide Geschlechter von derselben Bedeutung ist.564 Während das Eingehen der Ehe für das ›Mädchen‹565 existenziell ist – nur die Ehe ermöglicht ihm die nötige finanzielle Versorgung und die Anerkennung als Mitglied einer sittlichen Gemeinschaft, erst durch sie wird es zur Frau566 – hat der Mann »noch ein anderes Feld seiner sittlichen Tätigkeit, seiner wesentlichen Wirksamkeit ausser seiner Familie«567, nämlich in Staat und bürgerlicher Gesellschaft, die ihm sowohl gesellschaftliche Anerkennung als auch materielle Versorgung gewährleistet. Er wird nicht erst durch die Hochzeit vom Jüngling zum Mann, sondern durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft als Volljähriger. Diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen von Mann und Frau haben zur Folge, dass der sogenannte »Beweis« der Liebe durch »sinnliche Hingebung« (Geschlechtsverkehr) vor Eheschließung seitens des Mannes gar keinen Beweis darstellt.568 Für den Mann hat es letztlich kaum Konsequenzen, er kann sich der Verantwortung für die Folgen entziehen. 564
Eine feministische Kritik von Schlegels Lucinde gibt Weigel, die feststellt, dass es sich keineswegs um ein Werk handelt, das für die Emanzipation der Frauen eintritt, sondern vielmehr um ein Art »Männerphantasie«, in der die Frau zu einem bloßen Projektionsobjekt degradiert wird (vgl. Weigel 1983). Dies räumt auch Benhabib ein (vgl. Benhabib 1996, S. 39); allerdings unterstellt sie Hegel, dass er sich mit seiner Lucinde-Kritik in Wahrheit gegen die selbstbewussten emanzipierten Frauen der frühromantischen Zirkel und Salons richte (vgl. ebd., S 38 f.). Sie stützt sich dabei auf eine abwertende Äußerung Hegels über Caroline Schlegel-Schelling, die ihrer Meinung nach Vorbild für die Lucinde war (vgl. ebd., S. 37); gemeinhein wird jedoch davon ausgegangen, dass Schlegel in der Hauptfigur Lucinde seine spätere Ehefrau, Dorothea Veit, verewigt hat, mit der er zu dem Zeitpunkt als er die Lucinde schrieb, noch eine skandalumwitterte außereheliche Beziehung führte. Weitere feministische Beiträge zu Hegels Lucinde-Kritik finden sich in Mills 1996. 565 Hegel selbst spricht von ›Mädchen‹ (statt Frau) einerseits und von ›Mann‹ andererseits. Diese Ausdrücke werden hier beibehalten, weil sie das Ungleichgewicht beider Seiten mehr oder weniger bewusst auf den Punkt bringen. Wenn in der Frauenbewegung gefordert wurde, erwachsene junge Frauen nicht mehr als Mädchen zu bezeichnen und auch die Anrede ›Fräulein‹ für unverheiratete Frauen abzuschaffen, ist dies Ausdruck des Emanzipationsbedürfnisses von genau diesem Ungleichgewicht. Die Tatsache, dass es kein sprachliches Pendant zum Ausdruck ›Fräulein‹ für den unverheirateten Mann gab, zeigt, wie sich in der Sprache darstellt, dass der Mann, um es mit Hegel zu formulieren, »noch ein Anderes Feld seiner sittlichen Wirksamkeit« (GW 14,2, S. 745, 3 f.) hat – er ist in seiner Tätigkeit nicht auf die Familie beschränkt (vgl. auch Gr, S. 437, 12f). 566 Vgl. GW 14,2, S. 735, 7 f. 567 Gr, S. 437, 13 f.; vgl. auch GW 14,2, S. 745, 3 f. 568 Vgl. GW 14,2, S. 745, 2f.
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Von einem Beweis kann eigentlich nur seitens der Frau gesprochen werden, denn für sie hat der außereheliche Geschlechtsverkehr gesellschaftliche Konsequenzen, sie gibt »ihre Ehre auf.«569 Wenn man überhaupt sinnvollerweise von einem ›Beweis‹ der Liebe sprechen kann, kann man daher sagen, dass sich durch die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse verkehrt, was es heißt, die Liebe zu ›beweisen‹: Für den Mann stellt die Eheschließung viel klarer einen solchen Beweis dar, weil er dabei Verantwortung für die Partnerin und ein potenzielles Kind übernehmen muss. Durch die Heirat zeigte der Mann Hegel zufolge, dass es ihm nicht nur um Verführung um der sexuellen Lust willen geht und dass er in der Lage ist, seine subjektiven Neigungen und Triebe einem objektiven, geistig-sittlichen Verhältnis unterzuordnen. Er übernähme damit Verantwortung für die Folgen eines sexuellen Liebesverhältnisses, denn die Ehe als bewusstes Verhältnis ist nach Hegel nicht zuletzt ausgezeichnet durch »Vorsorge, Übersicht des Umfangs der Folgen, Voraussetzung von Kindern.«570 Der Streit zwischen Hegel und den Frühromantikern um die Frage, welche Bedeutung die bürgerliche Ehe hat und in welchem Verhältnis sie zur Liebe steht, zeigt ein Dilemma auf, das mit der bürgerlichen Geschlechterordnung selbst verbunden ist und das sich innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse nicht lösen lässt. Das Dilemma liegt darin begründet, dass mit der bürgerlichen Ehe die finanzielle Versorgung von Frauen und Kindern durch den Mann gesichert wird. Da der Frau nicht in demselben Maße die Möglichkeit offen steht, in der bürgerlichen Gesellschaft durch Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist es notwendig, dass der Mann diese Verantwortung übernimmt. Hegel hat insofern gute Argumente gegen die romantische Abstraktion von den bürgerlichen Verhältnissen: Das Problem, dass der Mann sich der Verantwortung für eine mögliche Schwangerschaft entziehen kann und die Forderung der Frühromantiker unter den gegebenen Verhältnissen schlichtweg unmoralische Folgen hat, ist ein häufiges Thema in der klassischen bürgerlichen Literatur – berühmtestes Beispiel ist wohl Goethes Darstellung des Verhältnisses von Faust und Gretchen. Umgekehrt ist die Kehrseite dieser finanziellen Verantwortung, welche die Männer in der bürgerlichen Ehe übernehmen, dass Ehen, wenn sie für Frauen die einzige Möglichkeit der finanziellen Absicherung darstellen, nicht aus Liebe, sondern aus rein ökonomischen Beweggründen geschlossen werden – was zu viel Bitterkeit in der Ehe führen kann; auch dies ist ein Problem, das
569 570
Vgl. ebd., S. 745, 3. TWA 7, § 163, Notizen (vgl. GW 14,2, S. 741, 2f.).
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sich in der Literatur widerspiegelt.571 So hat die Kritik der Frühromantiker an dem Institut der bürgerlichen Ehe einen ernst zu nehmenden Impuls – ihr Mangel ist jedoch, dass sie diese Kritik nicht mit einer Kritik der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse verknüpfen. Hegel dagegen sieht, dass die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in Betracht gezogen werden müssen, wenn man bestimmen will, was sittlich ist. Da die modernen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch Hegel zufolge zum Dasein der Freiheit gehören, kritisiert er diese Verhältnisse nicht. Eine Kritik an der finanziellen Abhängigkeit der Frau vom Mann ist Hegel völlig fremd. Er betrachtet lediglich, was unter der Voraussetzung dieser Abhängigkeit sittlich geboten ist. Dadurch erkennt Hegel, dass innerhalb der modernen ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit die Forderungen der Frühromantiker zu unsittlichem Verhalten führen. Er ist aber nicht in der Lage, diese Verhältnisse selbst infrage zu stellen.
II.2.2.9 Das Geschlechterverhältnis in seiner »intellectuelle(n) und sittliche(n) Bedeutung« (§§ 165–166) Mit der förmlichen Eheschließung ist die neu gestiftete Ehe als geistig-sittliche Vereinigung anerkannt – sowohl durch Braut und Bräutigam als auch durch Familie und Gemeinde.572 Die Ehepartner haben damit ihren Willen bezeugt, gemeinsam eine Person, eine geistige Einheit ausmachen zu wollen. Mit diesem Willen bringen sie zum Ausdruck, dass das natürliche Fortpflanzungsverhältnis, das der Ehe zugrunde liegt, in der Ehe zu einem bloßen Moment herabgestuft ist. Die Ehe gilt ihnen wesentlich als ein rechtlichsittliches Liebesverhältnis: Ihre institutionelle Aufgabe besteht in der Aneignung des natürlichen Fortpflanzungsverhältnisses, in der Verwandlung des natürlichen Verhältnisses in ein geistiges. Diese Verwandlung in ein geistiges Verhältnis, die in der bisherigen Entwicklung des Begriffs der Ehe (§ 161– 164) damit verbunden war, dass die Ehepartner als eine Person eine geistige Einheit ausmachen, kommt nun nach den § 165 und § 166 zusätzlich darin zum Ausdruck, dass der zunächst bloß natürliche Geschlechtsunterschied in der neu gestifteten Ehe eine intellektuelle und sittliche Bedeutung erhält. Nachdem die bloß natürliche Differenz in der geistigen Einheit der selbstbewussten Liebe aufgehoben ist, differenziert sich die neu gewonnene Einheit also wieder in einen Unterschied, diesmal aber in einen geistig-sittlichen. 571 572
Vgl. Recker 2000. Vgl. dazu und zum Folgenden GPR, §§ 161–164.
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Diese Differenzierung ist in der bürgerlichen Ehe nicht mehr in derselben Weise unmittelbar wie noch in der griechischen Antike. Sie erfolgt deshalb auf einer höheren Stufe, weil sie Folge des bewussten Willensakts der Individuen ist, sich gemeinsam der sittlichen Substanzialität der Familie unterzuordnen. Die neu gestiftete geistige Einheit der Ehepartner erweist sich dadurch als eine lebendige, wirkliche Einheit – in der hegelschen Terminologie also »konkrete« Einheit –, dass sie den in ihr aufgehobenen Gliedern, den natürlich unterschiedenen Geschlechtern, jeweils eine eigene geistigsittliche Bedeutung verleiht. Die Geschlechter haben eine je unterschiedliche intellektuelle Bedeutung, d. h., sie realisieren sich als geistige Wesen in unterschiedlicher Weise: Während der Mann, wie sich noch zeigen wird, »das Geistige, als das sich Entzweiende«, ist, ist die Frau nach Hegel intellektuell das »in der Einigkeit sich erhaltende Geistige«573. Der intellektuelle Unterschied äußert sich also darin, dass Mann und Frau auf unterschiedliche Weise sittliches Selbstbewusstsein sind, d. h. auch verschiedene Geschlechtscharaktere haben.574 Mit der unterschiedlichen intellektuellen Bedeutung geht auch eine unterschiedliche sittliche Bedeutung der Geschlechter einher: Demnach bringen Mann und Frau auf jeweils verschiedene Weise die Sittlichkeit tätig hervor. Die unterschiedliche sittliche Bedeutung äußert sich somit in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung: Der Frau wird die Sphäre der Familie, dem Mann die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates zugewiesen. Aufgrund seiner Vernünftigkeit verwandelt sich der zunächst bloß vorausgesetzte, natürliche Unterschied in einen vom Geist selbst gesetzten Unterschied, in einen intellektuellen wie sittlichen Unterschied der Geschlechter. Der natürliche Geschlechtsunterschied kann nach Hegel eine solche geistigsittliche Bedeutung bekommen, weil er schon in der Natur vernünftig ist,575 da sich in ihm die Idee des Lebens darstellt. Hier, wie schon in der Phänomenologie, behauptet Hegel also, dass sich die sittliche Substanz auf der Ebene des objektiven Geistes der natürlichen Bestimmtheit der Geschlechter bediene, um an ihr einen substanziellen, sittlich-geistigen Unterschied darzustellen. Dies hat erhebliche Konsequenzen für Hegels Bestimmung der (intellektuellen) Geschlechtscharaktere und für die (sittlichen) Rollenzuweisungen an die beiden Geschlechter: Da der Geschlechtscharakter und die ge573
Ebd., § 166. Zur Polarisierung der Geschlechtercharaktere vgl. Hausen 1976. Für die Ausbildung der Theorie der komplementären Geschlechtercharaktere in den bürgerlichen Geschlechtertheorien des 18. und 19. Jahrhunderts war Rousseaus Geschlechtertheorie besonders einflussreich, vgl. dazu Kuster 2005. 575 Vgl. GPR, § 165. 574
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
205
schlechtsspezifische Arbeitsteilung von Männern und Frauen Hegel zufolge durch den Begriff gesetzt sind, sind sie ihnen nicht äußerlich und zufällig, sondern wesentlich und notwendig mit den jeweiligen Geschlechtern verknüpft. Die Individuen sind damit durch ihre Sexualität einer bestimmten Äußerung des Geistes und einer bestimmten sittlichen Tätigkeit subsumiert – wodurch, wie sich noch zeigen wird, insbesondere die Frauen in ihren intellektuellen Entfaltungsmöglichkeiten und in ihren gesellschaftlichen und politischen Handlungsmöglichkeiten enorm beschränkt sind. Es soll nun zunächst dargelegt werden, wie Hegel in der Naturphilosophie die natürliche Bestimmtheit der Geschlechter als vom Begriff gesetzt denkt (vgl. II.2.2.9.1); dann soll gezeigt werden, wie sich diese natürliche Bestimmtheit in der Ehe in eine intellektuelle und sittliche Bestimmung der Geschlechter verwandelt, wodurch sie sich nach Hegel als eine vom Geist selbst gesetzte Bestimmtheit erweist (vgl. II.2.2.9.2).
II.2.2.9.1 Exkurs: Die natürliche Bestimmtheit der Geschlechter nach der Naturphilosophie der Enzyklopädie In seiner Naturphilosophie leitet Hegel den Geschlechtstrieb daraus ab, dass das Individuum der Allgemeinheit der Gattung unangemessen ist.576 Der Geschlechtstrieb wird von Hegel also nicht als Trieb vorausgesetzt, wie das z. B. in der Psychoanalyse der Fall ist, sondern aus dem Gattungszusammenhang abgeleitet, in dem sich die Gattung als lebendige Einheit in der Natur darstellt. Die Bestimmtheit der Geschlechter gegeneinander ergibt sich gerade daraus, dass sie als Individuen jeweils der Allgemeinheit der Gattung unangemessen sind und nur gemeinsam ihre Gattungsfähigkeit realisieren können. Weil die Geschlechter durch den Gattungszusammenhang notwendig aufeinander bezogen sind und nur »als Differente Trieb sind«577, ist der Geschlechtsunterschied kein Unterschied überhaupt, sondern ein bestimmter Unterschied, d. h., die Geschlechter sind in diesem Unterschied wesentlich aufeinander bezogen. Nach Hegel kann der Unterschied der Geschlechter daher als durch den Begriff gesetzt begriffen werden.578 Der Begriff enthält zwei wesentliche Momente: Unmittelbarkeit und Vermittlung, denn er selbst ist nichts anderes als die vermittelte Einheit von einfacher Identität (Unmit-
576 577 578
Vgl. EPW, § 369; II.2.2.2. TWA 9, § 369 Z. Vgl. ebd.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
telbarkeit) einerseits und Unterschied (Vermittlung) andererseits.579 Während im Denken die Begriffsmomente als Momente der wirklichen Einheit des Begriffs miteinander vermittelt und dabei zugleich in ihrer Identität und in ihrem Unterschied gedacht werden können, müssen sie sich in der Natur zuerst als unterschiedene Momente überhaupt darstellen. In der Natur kann dies nur auf unmittelbare Weise geschehen – d. h., sie müssen an einem (unmittelbaren) Seienden zum Ausdruck kommen.580 In der Natur müssen sich also sowohl die Begriffsmomente unmittelbar an einem Seienden darstellen, als auch die wirkliche begriffliche Einheit selbst. Bei den tierischen Organismen stellt sich die Einheit des Begriffs dem Zusatz zu § 369 der Enzyklopädie zufolge nun so dar, dass zwar jedes Geschlecht jeweils beide Begriffsmomente enthält – denn jedes geschlechtliche Individuum ist selbst Totalität581 –, aber es erscheint jeweils eines der Begriffsmomente bei einem der beiden Geschlechter als das wesentliche, bestimmende Moment. Jedes geschlechtliche Individuum stellt damit einerseits die Einheit des Begriffs oder der Gattung dar, andererseits bringt es diese Einheit auf einseitige Weise zum Ausdruck – indem eines der Begriffsmomente das bestimmende Moment ist. Da allen tierischen Organismen derselbe Typus zugrunde liegt,582 liegt auch den beiden Geschlechtern derselbe Typus zugrunde,583 an dem sich dann die zwei Seiten des Begriffs als Unterschiede darstellen und entwickeln. Beim Weibchen oder der Frau ist die einfache Unmittelbarkeit und Indifferenz das Wesentliche, beim Männchen oder dem Mann dagegen die Vermittlung und Entzweiung.584 Die zwei Seiten des Begriffs, die sich an den Geschlechtern in jeweils einseitiger Form darstellen, kommen besonders in den unterschiedenen männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen zum Ausdruck. Je entwickelter die Unterschiede der Geschlechter an den Individuen zum Ausdruck kommen, desto höher entwickelt ist nach Hegel die jeweilige Tierart – was empirisch zutrifft und nach Hegel Ausdruck der Entfaltung des Geistes ist. Während die niederen Tiere noch ganz hermaphroditisch sind, d. h., dass die zwei Seiten des Begriffs an ihnen noch nicht als Extreme zu ihrem Ausdruck kommen können, sind beim Menschen die Geschlechter nach Hegels naturphilosophischen Vorlesungen zwar ursprünglich hermaphroditisch, bilden sich jedoch in der Regel zu zwei unterschiedenen Geschlechtern mit deut579 580 581 582 583 584
Vgl. TWA 10, § 379 Z; GW 8, S. 172, 7 f. und S. 173, 1 f. Vgl. II.2.2.2. Vgl. TWA 9, § 369 Z. Vgl. ebd., § 352 Z und § 368 Z. Vgl. GW 8, S. 172, 24. Vgl. TWA 9, § 369 Z; GW 8, S. 173, 7 f.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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lich unterschiedenen Geschlechtsorganen aus.585 Neben dem Assimilationsund Gestaltungsprozess ist somit auch der Gattungsprozess beim Menschen als dem »vollkommenen Tier (…) am vollständigsten und deutlichsten ausgebildet«586, weshalb in der Natur die Geschlechter beim Menschen am deutlichsten differenziert sind. Das Geschlechterverhältnis ist also erst da vollendet realisiert, wo die Individuen vollkommen von diesem Unterschied durchdrungen sind: »Das eigentliche Geschlechtsverhältnis muß zu seinen entgegengesetzten Momenten ganze Individuen haben, deren Bestimmtheit, in sich vollkommen reflektiert, sich über das Ganze verbreitet. Der ganze Habitus des Individuums muß mit seinem Geschlecht verbunden sein. Erst wenn die inneren Zeugungskräfte die ganze Durchdringung und Sättigung erreicht haben, ist der Trieb des Individuums vorhanden und das Geschlechtsverhältnis erwacht.«587 Da den unterschiedenen Geschlechtern jeweils derselbe Typus zugrunde liegt, ist es möglich, nachzuvollziehen, welche Teile der Geschlechtsorgane sich jeweils aus demselben Grundtypus entwickelt haben. Um dies zu belegen, hat sich Hegel in seinen naturphilosophischen Vorlesungen vor allem auf die Studien von Jakob F. Ackermann an intersexuellen Menschen, sogenannten »Hermaphroditen«588 bezogen: »Dem weiblichen Uterus entspricht (…) im Manne die Prostata; der Uterus sinkt im Manne zur Drüse, zur gleichgültigen Allgemeinheit herunter. Dies hat Ackermann sehr gut an seinem Hermaphroditen gezeigt, der einen Uterus bei sonstigen männlichen Formationen hat; (…) (d)ie weiblichen Schamlefzen sind ferner die zusammengegangenen Hodensäcke, daher in Ackermanns Hermaphroditen die weiblichen Schamlippen mit einem testikelartigen Gebilde erfüllt waren. Die Mittellinie des scrotum endlich ist
585
Vgl. ebd. TWA 9, § 352 Z. 587 Ebd., § 348 Z. Bei Pflanzen kann man nach Hegel überhaupt nur im Sinne einer Analogie von Geschlechtlichkeit sprechen, weil bei ihnen die Individuen nicht vollkommen von ihrer Sexualität durchdrungen sind: »Die Pflanze ist also geschlechtslos, selbst die Diözisten, weil die Geschlechtsteile, außer ihrer Individualität, einen abgeschlossenen, besonderen Kreis bilden.« (TWA 9, § 348 Z) Hier kann nicht näher behandelt werden, wie Hegel den pflanzlichen Organismus im Gegensatz zum tierischen Organismus bestimmt und welche Auswirkungen die Bestimmtheit des pflanzlichen Organismus auf die Geschlechtlichkeit der Pflanze hat. Vgl. dazu v. a. TWA 9, § 348 Z, S. 421 ff. 588 Zum Umgang mit Intersexualität in der Geschichte der Medizin und in der Gegenwart vgl. die umfassende Studie von Ulrike Klöppel (Klöppel 2010). 586
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
beim Weibe gespalten und bildet die vagina. Man versteht auf diese Weise die Umbildung des einen Geschlechts in das andere vollkommen.«589 Diese These ist im Prinzip von der modernen Biologie bestätigt worden: Tatsächlich entstehen die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane in der Embryonalentwicklung aus gleichen, indifferenten Organanlagen und lassen sich daher auch weitestgehend homologisieren.590 Es soll hier nicht der Frage nachgegangen werden, ob Ackermanns Beobachtungen zur Möglichkeit der »Umbildung des einen Geschlechts in das andere« im Einzelnen in dieser Weise zutreffen. Bemerkenswert ist an dieser Theorie vor allem, dass darin konsequent von der ursprünglichen Identität591 der Geschlechter ausgegangen wird und dass anerkannt wird, dass es auch bei Arten mit differenzierten Geschlechtern Individuen gibt, die weder dem einen, noch dem anderen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können; es gibt also ein Kontinuum zwischen den zwei Extremen von Männlich und Weiblich.592 Nach Hegel gehen nun aus der ursprünglichen Identität im entwickeltesten Stadium des tierischen Organismus zwei differenzierte Geschlechter hervor, denen jedoch beiden der identische Typus zugrunde liegt, da sie zugleich allgemeine Gattungswesen sind. Indem sich die zwei differenten Geschlechter begatten, stellen sie die ursprüngliche Einheit der Geschlechter als vermittelte Einheit der Gattung wieder her. In der Begattung heben die Geschlechter Hegel zufolge den Geschlechtsunterschied wieder auf und bringen »ein geschlechtsloses Leben«593, nämlich die Gattung als negative Identität, hervor. Es ergibt sich damit für das Leben ein Kreislauf, der der Selbstbewegung des Begriffs entspricht: Die unmittelbare Einheit der Gattung unterscheidet sich in zwei differente Geschlechter, an denen sich die Begriffsmomente darstellen. Diese differenten Geschlechter vermitteln sich miteinander und bringen somit die Einheit der Gattung als vermittelte Einheit hervor. Obwohl Hegel von der ursprünglichen Identität der Geschlechter ausgeht und in seinen Vorlesungen darauf hinweist, dass beide Geschlechter jeweils beide Begriffsmomente enthalten, zeigt sich in der genaueren Bestimmung der beiden Geschlechter, wie sie im Zusatz gegeben wird, bereits in der Naturphilosophie eine deutliche Wertung der beiden Geschlechter zuungunsten
589
TWA 9, § 369 Z; vgl. GW 8, S. 173, 11 f. Vgl. Dressler/Zink 2003, S. 491. 591 Vgl. GW 8, S. 172, 24 ff.; TWA 9, § 369 Z; V 16, S. 179, 416 f. 592 Intersexuelle Menschen müssen immer noch dafür kämpfen, dass diese Tatsache anerkannt wird. Sie werden noch regelmäßig Zwangsoperationen ausgesetzt, damit man sie eindeutig einem Geschlecht zuordnen kann. Vgl. dazu Klöppel 2010. 593 EPW, § 370; vgl. auch V 16, S. 180, 426; vgl. GW 8, S. 174, 12 f. 590
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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des weiblichen Geschlechts: Während das Männchen oder der Mann wesentlich gerade die Begriffsmomente realisiert, die im engeren Sinne für den tätigen Begriff und später für den sich entfaltenden Geist stehen – nämlich Vermittlung, Entzweiung und Tätigkeit –, werden dem Weibchen bzw. der Frau gerade die Begriffsmomente zugesprochen, die wesentlich dem bloß innerlichen Begriff, später dem unentwickelten Geist zukommen – Unmittelbarkeit, Indifferenz und Passivität. Aus dieser Zuweisung lassen sich schließlich alle bekannten Stereotype für die Geschlechtscharaktere von Männern und Frauen herleiten.594 Die zum Teil nur implizite, zum Teil auch explizite Wertung zeigt sich, folgt man dem Zusatz, schon in Hegels Beschreibung der Geschlechtsorgane, die nach Hegel als bloßer Ausdruck des eigentlich begrifflichen Unterschiedes aufzufassen sind: »Wie im Manne der Uterus zur bloßen Drüse herabsinkt, so bleibt dagegen der männliche Testikel beim Weibe im Eierstock eingeschlossen, tritt nicht heraus in den Gegensatz, wird nicht für sich, zum tätigen Gehirn, und der Kitzler ist das untätige Gefühl überhaupt. Im Manne hingegen haben wir dafür das tätige Gefühl, das aufschwellende Herz, die Bluterfüllung der corpora cavernosa und der Maschen des schwammigen Gewebes der Urethra; dieser männlichen Bluterfüllung entsprechen dann die weiblichen Blutergüsse. Das Empfangen des Uterus, als einfaches Verhalten, ist auf diese Weise beim Manne entzweit in das produzierende Gehirn und das äußerliche Herz. Der Mann ist also durch diesen Unterschied das Tätige; das Weib aber ist das Empfangende, weil sie in ihrer unentwickelten Einheit bleibt.«595 Demnach kommt also im männlichen Geschlechtsorgan überall Tätigkeit zum Ausdruck kommt – eine wesentliche Bestimmung der Subjektivität –, das weibliche Geschlechtsorgan weist dagegen nur Passivität und mangelnde Entwicklung auf. Während beim Mann der Hoden als tätiges und produzierendes »Gehirn« nach außen trete in den Gegensatz gegen den Penis, der mit seinen Schwellkörpern als »äußerliche(s) Herz« bezeichnet wird, verharre 594
Vgl. Hausen 1976. TWA 9, § 369 Z; vgl. GW 8, S. 173 f. Brauer moniert, dass Hegel in seiner Argumentation den logischen Fehler des »pars pro toto« begehe, weil er von der Bestimmtheit eines Teils, nämlich des Geschlechtsorgans, auf die Bestimmtheit der ganzen Frau bzw. des ganzen Mannes schließe (vgl. Brauer 2007, S. 129). Für Hegel selbst stellt sich das Verhältnis jedoch genau andersherum dar: Die vollkommene Durchdrungenheit des Individuums von der Bestimmtheit seines Geschlechts kommt in den differenzierten Sexualorganen von Säugetieren zum Ausdruck. Das Sexualorgan bestimmt also nicht das Individuum, sondern die geschlechtliche Bestimmtheit des Individuums stellt sich in den differenzierten Sexualorganen in vollkommener Weise dar. 595
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
der Eierstock in der bloßen Innerlichkeit und die Klitoris bleibe »untätige(s) Gefühl überhaupt«596. Die aus heutiger Perspektive sonderbar anmutende Analogie von Hoden und Gehirn sowie Penis und Herz ist vermutlich auf Hegels Auseinandersetzung mit antiken Theorien zurückzuführen. Nach einigen antiken Theorien findet die Samenerzeugung im Gehirn statt597 – was wiederum die Parallele von Hoden und Gehirn erklären könnte. Das Blut wiederum wird nach manchen antiken Theorien im Herzen produziert;598 da die Durchblutung die Schwellung des Penis verursacht, erklärt das die Verknüpfung von Penis und Herz. Gegen Hegels Theorie, dass die Hoden im Gegensatz zum Eierstock nicht im Inneren verharren, spricht selbstverständlich die Tatsache, dass die Hoden ebenfalls zu den inneren Sexualorganen gezählt werden – nur die Hodensäcke sind schließlich äußerlich. Vor diesem Hintergrund leuchtet es dann nicht mehr ein, dass der Eierstock im Gegensatz zum Hoden als bloß innerlich und eingeschlossen bezeichnet wird. Innerhalb der hegelschen Philosophie ist es dennoch schlüssig, dass die vermeintliche Entzweiung in Hoden und Penis, und deshalb auch das Heraustreten des Hodens behauptet werden muss, denn gerade der Nachweis der Entzweiung bringt Hegel zufolge die vorhandene Tätigkeit zum Ausdruck. Dagegen muss sich der Uterus, der beim Mann zu einer bloßen Drüse, der Prostata, herabgesunken sei, ihm entgegen dieser Entzweiung als undifferenziertes und daher bloß passives, empfangendes Organ zeigen, denn darin kann sich die vermeintliche Unmittelbarkeit der weiblichen Sexualität in der Natur an dem Geschlechtsorgan darstellen. Die Bestimmtheit der Geschlechtsorgane als männlich-aktiv-zeugend und weiblich-passivempfangend wird im Zusatz noch an einem weiteren Merkmal festgemacht: Während das Blut beim Mann zur Anschwellung des Penis führe, also Ausdruck seiner Aktivität sei, werde es bei der Frau nur passiv abgestoßen in der Menstruationsblutung. Diese Parallelisierung ist freilich bizarr, denn die viel näher liegende und korrektere Parallele zur Erektion des Gliedes beim Mann läge schließlich im Anschwellen der Klitoris, der Schamlippen und der Vagina bei sexueller Erregung der Frau, nicht in der Menstruationsblutung. Zöge Hegel jedoch diese Parallele zwischen den männlichen und weiblichen Schwellkörpern, hätte er kein Argument mehr dafür, das männliche Geschlechtsorgan als aktiv, das weibliche dagegen als bloß passiv zu bezeichnen. Susanne Brauer macht zudem zu Recht darauf aufmerksam, dass es sich hier um eine beliebige Zuweisung handelt; man könnte nämlich auch das 596 597 598
TWA 9, § 369 Z; GW 8, S. 174, 2. Vgl. Föllinger 1996, S. 39 f. Vgl. Lück 2005/2006, S. 67.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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Abstoßen der Menstruationsblutung als eine Aktivität der Frau bestimmen und dagegen das Anschwellen des Penis als einen passiven Vorgang.599 Die Aufteilung der Geschlechtscharaktere in männlich-aktiv-zeugend und weiblich-passiv-empfangend in der Naturphilosophie ist bekanntlich nicht neu: Schon Aristoteles erklärt, das Weibchen sei das Empfangende, das in der Fortpflanzung bloß die reine, unbestimmte Materie gebe, während das Männchen als das Samenspendende die Form und damit die Subjektivität schenke.600 Hegel scheint ihm darin konsequent gefolgt zu sein; dieses Bild ergibt sich jedenfalls aus dem Zusatz: »Die Zeugung muß man nicht auf den Eierstock und den männlichen Samen reduzieren, als sei das neue Gebilde nur eine Zusammensetzung aus den Formen oder Teilen beider Seiten, sondern im Weiblichen ist wohl das materielle Element, im Manne aber die Subjektivität enthalten. Die Empfängnis ist die ganze Kontraktion des ganzen Individuums in die einfache, sich hingebende Einheit, in seine Vorstellung, der Same diese einfache Vorstellung selbst, – ganz ein Punkt, wie der Name und das ganze Selbst. Die Empfängnis ist also nichts anderes als dies, daß das Entgegengesetzte, diese abstrakten Vorstellungen zu einer werden.«601 Auch diese Vorstellung ist bekanntlich von der modernen Naturwissenschaft schon hinreichend widerlegt worden – die weibliche Eizelle ist nicht bloße Materie, die durch das Spermium erst geformt wird, sondern beide Gameten enthalten jeweils hälftig die notwendigen Chromosomen, damit ein neues Lebewesen entstehen kann. Auch hier gilt es lediglich, sich klarzumachen, wie konsequent die Unterscheidung von männlich-aktiv-zeugend (vermittelt) und weiblich-passiv-empfangend (unmittelbar) von Hegel bis in die Beschreibung des Zeugungsaktes durchgeführt wird. Dies ist entscheidend, weil diese Zuweisung von männlich-aktiv und weiblich-passiv maßgeblich ist für die Auffassung über die Geschlechter bis in die heutige Zeit und sich als Ideologie hartnäckig halten konnte. Darin kommt eine Abwertung der weiblichen Sexualität zum Ausdruck, die sich von der sozialen Unterdrückung der Frauen bis hin zur Abwertung des weiblichen Körpers erstreckt. Dabei scheint es so zu sein, als ginge die körperliche Abwertung der sozialen Abwertung voraus. Tatsächlich ist es jedoch umgekehrt: Die Abwertung der Frauen im öffentlichen Leben hat zur Konsequenz, dass selbst die Geschlechtsorgane in dieser Form dargestellt und interpretiert werden. Nur 599 600 601
Vgl. Brauer 2007, S. 129. Vgl. GA, 729b5 ff.; 730a25. TWA 9, § 369 Z; vgl. GW 8, S. 174, 7 f.
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wenn man sich klar macht, dass das Bedingungsverhältnis in dieser Art und Weise gestaltet ist, kann man den ideologischen Charakter dieser Geschlechtertheorie erkennen und angemessen kritisieren. Dies lässt sich auch in der hegelschen Philosophie nachvollziehen: Hegel stützt sich zur Legitimierung der sittlichen Betätigungsfelder von Männern und Frauen auf die Ableitung der Geschlechter in der Naturphilosophie, wie der Verweis in § 165 der Grundlinien deutlich macht. In der Naturphilosophie kann er jedoch nicht überzeugend begründen, warum sich die Momente des Begriffs, Vermittlung und Unmittelbarkeit, gerade in dieser Weise auf die Geschlechter verteilen müssen. Um diese Ableitung nachvollziehen zu können, müssen daher insgeheim die Geschlechtscharaktere immer schon vorausgesetzt werden. Es soll nun dargestellt werden, wie Hegel mittels der Naturphilosophie die intellektuelle und sittliche Bestimmung der Geschlechter begründet.
II.2.2.9.2 Die intellektuelle und sittliche Bedeutung des Geschlechtsunterschieds nach den Grundlinien Da nach Hegel in der Naturphilosophie gezeigt werden konnte, dass die natürliche Bestimmtheit der Geschlechter durch den Begriff des Lebens bestimmt und somit vernünftig ist, kann sie Hegel zufolge auch »intellectuelle und sittliche Bedeutung«602 erhalten, indem die sittliche Substanzialität an dem natürlichen Geschlechtsunterschied ihre begrifflichen Seiten darstellt.603 Auf der Stufe der Familiensittlichkeit bedarf die sittliche Substanzialität dem hegelschen Denken nach einer solchen natürlichen Voraussetzung, d. h. eines unmittelbar Seienden, an dem sie sich darstellen kann, da sie auf dieser Stufe selbst noch bloß unmittelbar ist. Indem die sittliche Substanzialität ihre zwei Momente an den Geschlechtern zum Ausdruck bringt, verwandelt sie die zunächst bloß vorausgesetzten, natürlichen Geschlechter in vom Geist selbst gesetzte, intellektuelle wie sittlich unterschiedene Geschlechter. Erst dadurch, dass der natürliche Geschlechtsunterschied eine intellektuelle und sittliche Bedeutung erhält, ist nach Hegel die Aneignung der natürlichen Geschlechtlichkeit in der Ehe gelungen: Der Geschlechtsunterschied kann als sittlich-geistiger Unterschied begriffen werden. Ob Hegel damit tatsäch-
602
GPR, § 165. Die Argumentation ist hier sehr ähnlich wie in der Phänomenologie (vgl. III.2.2.5), auch wenn die »intellectuelle und sittliche Bedeutung« in der modernen Sittlichkeit in reflektierterer Form realisiert wird als noch in der griechischen Antike. 603
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lich eine befriedigende Form der Aneignung der eigenen Sexualität denkbar macht, ist noch zu diskutieren.604 Die zwei begrifflichen Momente der sittlichen Substanzialität, die sich an den Geschlechtern darstellen, sind nach Hegel Einzelheit und Allgemeinheit. Wie schon bei der natürlichen Bestimmtheit,605 so realisiert auch in der intellektuellen Bestimmtheit nach Hegel jedes Geschlecht die Totalität und somit jeweils beide Begriffsmomente, wobei die Geschlechter die Einheit dieser zwei Bestimmungen intellektuell auf je unterschiedliche Weise repräsentieren.606 Während die Frau Hegel zufolge das Geistige als unmittelbare Einheit607 von Einzelheit und Allgemeinheit repräsentiert, stellt der Mann das Geistige in der Form der in sich entzweiten Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit dar.608 Die Form, in der die Geschlechter das Geistige realisieren, entspricht damit nach Hegel ihrer wesentlichen Bestimmtheit in der Natur. Denn auch in der Natur ist die Bestimmtheit der Frau Hegels Naturphilosophie zufolge wesentlich Unmittelbarkeit und Indifferenz, die des Mannes dagegen Vermittlung und Entzweiung.609 Durch den Verweis auf die Naturphilosophie erscheint die Zuordnung der Geistigkeit als unmittelbare Einheit an die Frau und als in sich entzweite Einheit an den Mann in den Grundlinien also zumindest innerhalb des hegelschen Systems als schlüs-
604
Vgl. II.2.2.9.3. Vgl. II.2.2.9.1. 606 In der Natur sind beide Geschlechter jeweils durch die zwei Begriffsmomente der Unmittelbarkeit und der Vermittlung bestimmt, wobei das Weibchen/die Frau die Einheit in Form der Unmittelbarkeit, das Männchen/der Mann dagegen in Form der Vermittlung darstellt (vgl. II.2.2.9.1). 607 Im § 166 verwendet Hegel zwar nicht ausdrücklich den Begriff ›unmittelbar‹, aber dass es sich bei der Geistigkeit der Frau um eine unmittelbare Einheit handelt, ergibt sich gerade daraus, dass die Momente nicht wie beim Mann als entzweite vorkommen. In der Nachschrift von Hotho heißt es daher auch konsequenterweise: »Die abstracte Bestimmung der Frau ist die Einzelheit, sie ist aber zugleich Allgemeinheit und zwar so daß beide Bestimmungen in sich in unmittelbarer Einheit bleiben.« (Ho, S. 524, 9 f.) Vgl. dazu auch Ho, S. 531, 12 f. 608 Dass es die Momente der Einzelheit und der Allgemeinheit sind, die sich an die Geschlechter verteilen, geht aus § 166 hervor, denn die »für sich seiende persönliche Selbständigkeit« ist eben gerade das Moment der Einzelheit, dem die Allgemeinheit als Moment gegenübersteht; eindeutig lässt sich das aus demselben Paragrafen (§ 166) in der Nachschrift von Hotho entnehmen, in der es heißt: »Der concretere Unterschied ist der, daß der Mann einerseits die Seite des Allgemeinen ist und an ihm die Seite des Einzelnen, aber dieses als Differenz in ihm vorhanden ist, und im Gegensatz in ihm sich behauptet. Die abstracte Bestimmung der Frau ist die Einzelheit, sie ist aber zugleich Allgemeinheit und zwar so daß beide Bestimmungen in sich in unmittelbarer Einheit bleiben.« (Ho, S. 524, 3 f.) 609 Vgl. TWA 9, § 369 Z. 605
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sig.610 Aber da in der Naturphilosophie die Zuordnung von Unmittelbarkeit an die Frau und Vermittlung an den Mann letztlich nicht begründet werden konnte, kann sie dennoch nicht überzeugen.611 Indem Hegel meint, die natürliche wie intellektuelle und sittliche Bestimmtheit der Geschlechter aus dem Begriff des Lebens und der sittlichen Substanzialität ableiten zu können, fixiert er die Geschlechtscharaktere. Die angeblich natürliche wie intellektuell-sittliche Bestimmtheit der Geschlechter wird damit weder kritisier- noch veränderbar, denn sie ist dadurch nach Hegel als vernünftig und mit dem jeweiligen Geschlecht notwendig und dauerhaft verbunden erwiesen. Dies hat zur Konsequenz, dass der unterschiedliche Charakter der Geschlechter nicht als Ausdruck der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, in denen die Geschlechter aufgrund einer bloß naturwüchsigen Arbeitsteilung tätig sind, verstanden werden kann. Vielmehr ist es nach Hegel so, dass die Teilung von Familienarbeit einerseits und Erwerbsarbeit sowie politischer Tätigkeit andererseits aus der sittlichen Substanzialität hervorgeht und notwendig mit einer Arbeitsteilung der Geschlechter einhergeht. Der intellektuelle Geschlechtscharakter und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sind 610
Nach Brauer gibt es selbst innerhalb des hegelschen Denkens keinen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen der sittlichen und der natürlichen Bestimmtheit der Geschlechter, weshalb Hegels Zuweisung der sittlichen Geschlechtscharaktere an die Geschlechter auch auf der Grundlage seiner Naturphilosophie unbegründet sei (vgl. Brauer 2007, S. 129). Sie übersieht, dass nach Hegel die Form, in der die Geschlechter die Begriffsmomente der sittlichen Substanzialität realisieren, jeweils übereinstimmt mit der Form, durch die sie in der Natur bestimmt sind, dass also Hegel zufolge die Frau in beiden Fällen durch Unmittelbarkeit, der Mann durch Vermittlung gekennzeichnet ist. 611 Dieter Hüning weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass Hegel im § 166 mittels des Wortes »daher« den Eindruck erweckt, es handle sich um ein begründetes Argument, obwohl diese Zuordnung an die Geschlechter in Wahrheit einfach vorausgesetzt wird (vgl. Hüning 2006, S. 307). Hüning bezeichnet die hegelsche Philosophie im Anschluss an Feuerbach als »spekulativen Empirismus« (Hüning 2006, S. 312). Eine ähnliche Kritik wie Feuerbach übt Marx in seiner Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Marx versucht in dieser Schrift anhand verschiedener Ableitungsschritte in Hegels Rechtsphilosophie zu zeigen, dass die jeweiligen Unterschiede, die nach Hegel von der Idee gesetzte Unterschiede sind, in Wahrheit vorgefundene empirische Unterschiede sind, denen Hegel die Momente der Idee bloß äußerlich anheftet. Damit erweckt Hegel nach Marx den Eindruck, als seien die empirischen Unterschiede notwendig in dieser Weise bestimmt und als seien sie gerade in dieser Weise vernünftig (vgl. KHR, S. 206 f., S. 213, S. 216, S. 257, S. 267). Diese Kritik lässt sich auch auf die Geschlechterdifferenz übertragen: Sie ist als empirische Differenz vorausgesetzt, von Hegel wird jedoch behauptet, sie sei eine von der Idee gesetzte Differenz. Den Geschlechtern kommen somit nach Hegel die Momente der Unmittelbarkeit und Vermittlung notwendig zu, obwohl sie ihnen bloß äußerlich angeheftet wurden. Zwar geht es Hegel nicht um eine bloße Deduktion aus der Idee, sondern immer um das Begreifen des Vorhandenen, aber dennoch verfährt er bei dem Versuch, die Wirklichkeit zu begreifen häufig so, wie Marx es kritisiert hat.
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als sittlich-geistige Bestimmungen auch Hegel zufolge gesellschaftlich, aber ihr Ursprung liegt nicht in geschichtlich gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern in der begrifflichen Bestimmtheit der Geschlechter einerseits und in der Bestimmtheit der sittlichen Substanzialität andererseits begründet. Der Wunsch der Frauen, aus dem ihnen vorgegebenen, beschränkten Tätigkeitsbereich der Familie auszubrechen, um sich auch intellektuell entfalten zu können – ein Wunsch, der in den Emanzipationsbewegungen über Jahrhunderte hinweg immer wieder zur Sprache kam –, kann somit von Hegel nur als Mangel an vernünftiger Einsicht, als mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit und damit in die Freiheit, begriffen werden. Auch wenn aufgrund dieser Fixierung Hegels Darstellung der intellektuellen und sittlichen Bestimmtheit der Geschlechter noch einer ausführlichen Kritik unterzogen werden muss,612 lohnt es sich dennoch, sich mit Hegels Bestimmung der Geschlechter genauer auseinanderzusetzen. Denn wenn man von der These der dauerhaft notwendigen Verknüpfung der sittlichen Sphären mit der Bestimmtheit der Geschlechter absieht, stellt Hegels Theorie eine interessante Analyse gerade der Arbeitsfelder dar, die geschlechtsspezifisch verteilt werden, und durch die folglich der Charakter der Geschlechter tatsächlich gesellschaftlich bestimmt ist. Mit der Bestimmung der Frau als unmittelbare Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit einerseits, sowie des Mannes als entzweite Einheit dieser Momente andererseits, gibt Hegel nämlich ein Mittel an die Hand, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Geschlechter sowie auf ihren Charakter zu begreifen. Ist die Aufteilung der sittlichen Sphären, die Zuordnung der Familiensphäre an die Frau und die der bürgerlichen Gesellschaft sowie des Staates an den Mann erst einmal erfolgt, dann trifft es nämlich durchaus zu, dass die Tätigkeit der Frauen mehr durch unmittelbare Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit, die der Männer dagegen durch vermittelte Einheit charakterisiert ist. In § 166 erläutert Hegel zunächst, wie sich die intellektuelle und sittliche Bestimmtheit des Mannes, das Auseinandertreten der Momente also, genauer darstellt: Der Mann ist demnach einerseits Einzelheit, nämlich als »für sich seiende persönliche Selbständigkeit«, als selbstbewusstes, besonderes, eigenwilliges Subjekt; andererseits realisiert er das Moment der Allgemeinheit, indem er »das Wissen und Wollen der freyen Allgemeinheit« ist, das »Wollen des objectiven Endwecks.«613 Durch das Auseinandertreten der Bestimmungen kann er sich Schritt für Schritt das Allgemeine aneignen und anverwan612 613
Vgl. II.2.2.9.3. GPR, § 166.
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deln und sich somit als Einzelner selbst zum Allgemeinen erheben. Durch seine vermittelnde Tätigkeit bearbeitet er seinen zunächst bloß subjektiven, natürlichen Willen und realisiert sich als allgemeiner, freier Wille.614 Mit der Entzweiung wird dem Mann also gerade die Seite des Begriffs zugeschrieben, die einen weiteren Fortschritt des Geistes ermöglicht; denn nur durch das Auseinandertreten der beiden Bestimmungen ist eine Entwicklung durch Aneignung und Anverwandlung der zunächst bloß vorgefundenen äußeren Welt615 denkbar. Er ist daher nicht nur in seiner natürlichen, sondern auch in seiner intellektuell-sittlichen Bestimmtheit »im Verhältniß nach Außen das Mächtige und Bethätigende.«616 Das Auseinandertreten der Bestimmungen ermöglicht dem Mann, sich die Totalität als ganze anzueignen. Er ist nicht limitiert auf einen eingeschränkten Bereich wie die Familie, sondern bezieht sich zunächst »im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt«617, also vermittels seiner Tätigkeit als Privatbürger in der bürgerlichen Gesellschaft, dann aber vor allem durch seine Tätigkeit als Staatsbürger auf die Totalität des Staates selbst. Die höchste Form der Aneignung gelingt ihm nach Hegel schließlich, wenn er in der Wissenschaft tätig ist, vor allem in der Philosophie, denn dort geht er sogar über den bloß objektiven Geist hinaus und erhebt sich in seinem Denken zum absoluten Geist, in dem der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität vollends aufgehoben ist. Dem Mann ist es somit möglich, durch seine vermittelnde Tätigkeit aus der Entzweiung die unmittelbare Einheit als vermittelte Unmittelbarkeit hervorzubringen: »Seine Bestimmung ist Einigkeit mit sich selbst zu sein, zu erlangen, nicht im Gegensatz, in der Entzweiung zu bleiben, die Einigkeit ist so eine errungene, eine durch Kampf, Thätigkeit hervorgebrachte.«618 614
In dieser Arbeit besteht wesentlich die Bildung (vgl. GPR, § 187 Anm.; Gr, S. 483, 11 ff.; II.2.1.3). Ravven macht darauf aufmerksam, dass Hegel – indem er Männern Entzweiung, Frauen dagegen unmittelbare Einheit zuschreibt – Männern die Fähigkeit zur Bildung zuspricht, während er sie Frauen abspricht. Dies hat nach Ravven zur Folge, dass Frau und Mann auf der Stufe der griechischen Sittlichkeit noch fast gleichberechtigt sind, weil sie dort noch beide bloß unmittelbarer Geist sind, während in der Moderne der Unterschied deutlich zum Vorschein kommt, dadurch, dass die Männer sich von ihrer anfänglichen Unmittelbarkeit durch einen langen und mühseligen Entwicklungs- und Bildungsprozess befreit haben, während die Frauen – nach Hegel ihrer Natur gemäß – auf der Stufe der Unmittelbarkeit stehen geblieben sind (vgl. Ravven 1988, S. 159). 615 Durch die Realisierung des allgemeinen Willens wird nach Hegel der Gegensatz von Subjektivem und Objektivem selbst aufgehoben, sodass das Selbstbewusstsein keine von ihm getrennte, ihm fremde äußere Welt mehr vorfindet, sondern in der Objektivität bei sich sein kann (vgl. GPR, § 8 und § 28). 616 GPR, § 166. 617 Ebd. 618 Gr, S. 441, 24 f.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
217
Die geistige Einheit als unmittelbare Einheit, wie sie nach Hegel von der Frau repräsentiert wird, verhindert dagegen eine solche vermittelte Aneignung der Totalität und damit ein Fortschreiten des Geistes. Einzelheit und Allgemeinheit treten in ihr nicht auseinander, um dann in mühsamer Auseinandersetzung mit der Totalität miteinander vermittelt zu werden, wie das beim Mann der Fall ist, sondern sie fallen bei der Frau nach Hegel immer schon unmittelbar zusammen und können gar nicht sinnvoll unterschieden werden. Die Frau tritt somit anders als der Mann in ihrer intellektuell-sittlichen Bestimmung gar nicht als für sich seiende persönliche Selbständigkeit unterschieden von dem Allgemeinen, das sie weiß und will, auf.619 Das Allgemeine, das sie will, ist die Familie, die begrifflich gefasst nichts anderes ist als der Gattungszusammenhang der Individuen. Die Frau als einzelne weiß sich immer schon in diesem Ganzen der Familie aufgehoben, sei es nun in ihrer Ursprungsfamilie oder in der von ihr neu gegründeten Familie. Sie ist sich ihrer selbst wesentlich als Mitglied der Familie bewusst, nicht als selbständige Person oder als selbständiges Individuum. Wie sie sich also nicht von ihrer Familie unterscheidet, so unterscheidet sie auch nicht ihre Familie von sich. Die anderen Familienmitglieder sind vielmehr zugleich Teil ihrer selbst, denn sie machen mit ihr eine Person aus. Das Allgemeine, auf das sich also ihre sittliche Tätigkeit bezieht, die Familie als sittliche Substanzialität, ist somit eins mit ihr, so wie sie eins ist mit ihrer Familie. In ihrer Tätigkeit in der Familie eignet sie sich nicht nach und nach das ihr zunächst bloß äußerliche Allgemeine an, um es sich anzuverwandeln. Vielmehr steht sie durch das Gefühl der Liebe immer schon in einer unmittelbaren natürlich-sittlichen Identität mit diesem Allgemeinen, und indem sie sich auf es bezieht, empfindet sie, dass sie sich darin auf sich selbst bezieht. Ihre Tätigkeit in der Familie – all die reproduktiven Tätigkeiten, die sie verrichtet, um ihren Ehemann und in der Regel auch Kinder zu versorgen – stellen somit immer auch einen Selbstbezug dar. Sie empfindet sich in diesen Tätigkeiten unmittelbar als Gattungswesen, und gerade darin besteht ihre Allgemeinheit wie ihre Sittlichkeit. Dieses Allgemeine, auf das sie sich in ihrem Tun bezieht, ist jedoch selbst ein beschränktes Allgemeines – es ist diese bestimmte Familie, dieser bestimmte Gattungszusammenhang von Individuen, nicht die Gattung als geistiges Prinzip selbst, auf die ihr Wille gerichtet ist. Ihre Totalität ist das »Privatganze«, das in der Familie dem »allgemeinen Ganzen«620 619
Wie bereits erwähnt, ist die Frau nur als unverheiratete Frau als Rechtsperson anerkannt (vgl. II.2.2.6). Mit der Einwilligung in die Ehe gibt sie ihren Status als selbständige Rechtsperson – zumindest solange sie verheiratet ist – auf. Sie will Hegel zufolge ihre Selbständigkeit aufgeben, weil sie das Familienallgemeine realisieren möchte. 620 Hr, S. 301, 8.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
noch abstrakt entgegensetzt wird. Das Allgemeine der Familie hat daher im Verhältnis zum Wahrhaft-Allgemeinen des Staates selbst noch die Form der Einzelheit. Auch die Form, in der die Frau das Familienallgemeine weiß, ist mangelhaft; denn sie bezieht sich auf es nur in der subjektiven Form der Empfindung, in der das Allgemeine nicht als Allgemeines begriffen, sondern lediglich in der Form der Einzelheit zum Inhalt gemacht wird.621 Die Frau verlässt den Bereich der Familie nie, sondern sie »bleibt in der Familie und tritt bey Herausgehn in eine neue Familie über, nicht in den Zwiespalt der Welt, sondern in eine Welt des Stillebens.«622 Im Verhältnis nach außen ist sie dadurch auch »das Passive und Subjective.«623 Da sie immer im Familienrahmen bleibt, ist der Kreis der Tätigkeiten, die sie verrichtet, und der Individuen, auf die sie sich bezieht, im Vergleich zu denen des Mannes beschränkt. Zusammenfassend lässt sich für Hegel festhalten, dass die Frau nicht wie der Mann das objektiv Allgemeine will, sondern das bloß subjektiv Substanzielle, und sie will es nicht in Form des begreifenden Denkens, sondern in der Form der Empfindung, die ebenfalls bloß einzeln und subjektiv ist.624 Die Frau hat es also zwar mit der Totalität, mit dem Geistigen, aber in einer noch unentfalteten und somit beschränkten Form, in der religiösen Form der Pietät, zu tun – daran ändert sich von der Antike bis zur Moderne nichts.625 Dennoch versichert Hegel, dass daraus nicht, wie in der empirischen oder rationellen Psychologie, geschlossen werden dürfe, »daß der Frau gewisse Vermögen des Geistes abgesprochen« werden müssten. Denn Hegel lehnt die Vorstellung des Geistes als einer bloß zufälligen Anhäufung verschiedenster Vermögen, von denen eines vorhanden sein kann oder auch 621
Vgl. II.2.1 und TWA 10, § 400 Z. Hr, S. 300, 29 f. 623 GPR, § 166. 624 Ebd., § 166 und § 166 Anm. Vgl. auch II.2.1 und TWA 10, § 400 Z. 625 Vgl. GPR, § 166 und § 166 Anm. Die Pietät der Familie ist in der Antike mit der Verehrung der verstorbenen Vorfahren einer Familie, der sogenannten ›Penaten‹ verknüpft, die die Familie und deren Haushalt schützen sollen. Hegel weist wiederholt auf diese ursprüngliche Bedeutung von Pietät hin (vgl. z. B. vgl. GPR, § 257). Unabhängig von diesem historischen Zusammenhang hat die Familiensittlichkeit überhaupt religiösen Charakter, denn für die Religion gilt, dass sie, obwohl ihr Inhalt das Allgemeine und Geistige ist, diesen Inhalt in einer bloß beschränkten Form, in Form der Empfindung oder der Vorstellung hat, nicht in Form des begreifenden Denkens. Gerade in dieser Form des Wissens des Allgemeinen stimmen also Familienpietät und religiöser Glaube überein (vgl. auch Ho, S. 525, 9 f. (Petit)). Nach Hegel sind die Frauen daher auch »im ganzen religiöser als die Männer«, weil »das Substantielle (…) an die Frau vorzüglich in der Form der Religion« (AnL, S. 139, 31–33) gelange. Diese Behauptung gehört zu den Gemeinplätzen des 18. und 19. Jahrhunderts – man denke nur an die Bedeutung der berühmten ›Gretchenfrage‹ in Goethes Faust. 622
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
219
nicht, ohnehin ab.626 Die Geistigkeit der Frau stellt Hegel zufolge vielmehr im Vergleich zu der des Mannes eine andere »Art und Weise der Äußerung«627 des Geistes dar, die insofern relativ gesehen mangelhaft ist, weil der Geist darin noch in seiner unmittelbaren Einheit verharrt, statt sich im Einzelnen zu entfalten. Dieser relativ gesehenen Mangelhaftigkeit zum Trotz sind nach Hegel Frauen aber wie Männer freie, geistige Wesen, sodass er die zu Hegels Lebzeiten aufgeworfene Frage, ob die Frauen dem Menschengeschlecht angehören, immerhin eindeutig mit »ja« beantwortet. 628 In ihrer verschiedenen Art und Weise der Äußerung des Geistes und der damit einhergehenden sittlichen Verschiedenheit sind Mann und Frau nach Hegel notwendig aufeinander bezogen. Zwar ist dem Mann mit dem Geistigen als Entzweiung von Einzelheit und Allgemeinheit gerade die Seite des Geistes zugesprochen worden, die eine weitere Entwicklung und Entfaltung des Geistes ermöglicht; aber er bedarf nach Hegel wesentlich der Frau, um die ihm eigene sittliche Tätigkeit zu realisieren. Erstens ist es ihre Aufgabe, durch ihre reproduktiven Tätigkeiten zu garantieren, dass ganz substanzielle Bedürfnisse des Mannes befriedigt werden: »Die Frau muß dem Mann seine Bedürfnisse reichen, und des Mannes Gemüt muß bei der Frau, in der Familie erquickt werden, um stark für das Allgemeine wieder aufzutreten.«629 Ihre wesentliche sittliche Bedeutung besteht aber nach Hegel darin, dem Mann ein unmittelbares Abbild gerade der übergeordneten Einheit zu geben, die er aus der Entzweiung heraus erst auf vermittelte Weise hervorbringen muss. Damit der Mann, der in der bürgerlichen Gesellschaft aktiv ist, erkennt, dass es gilt, sich als Selbständiger zugleich als Moment des Allgemeinen, nämlich des Staates zu begreifen, braucht er nach Hegel die Familie, die das Prinzip des Staates auf unmittelbare Weise repräsentiert.630 Um also bei seiner Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht in der Vereinzelung 626
Zu Hegels Kritik an der Vorstellung vom Geist als einen Sack von Vermögen vgl. z. B. PhG, S. 167, 1–171, 17, insbesondere S. 169, 15 f. Vgl. auch EPW, § 34; TWA 8, § 34 Z; EPW, § 378; TWA 10, § 378 Z. 627 An , S. 137, 20. L 628 Vgl. V 1, S. 96, 490 f. Johann Michael Ambros hatte 1782 eine Schrift veröffentlicht, in der er beweisen wollte, dass ›die Weibsbilder keine Menschen sind‹, was 1791 von einer allerdings anonymen Gegenstimme dementiert wurde (vgl. Lange 1992, S. 411). Die Bemerkung in der Nachschrift von Wannenmann, dass die Frauen dem Menschengeschlecht angehören (vgl. V 1, S. 96, 490 f.), bezieht sich vermutlich auf diese Schrift von Ambros bzw. auf die von ihm initiierte Debatte. 629 V 1, S. 97, 513 f. 630 Vgl. EPW, § 535.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
und Spezialisierung gefangen zu bleiben, den eigentlichen Zweck seiner Tätigkeit nicht aus den Augen zu verlieren, braucht er eine unmittelbare, ruhige Anschauung dessen, wofür er außerhalb der Familie kämpft – und das gerade leistet Hegel zufolge die Frau als Repräsentantin der Familie.631 Der Mann braucht also die Familie als Basis. Frau und Kind spiegeln dem Mann, wofür er lebt und arbeitet: das gesellschaftliche Ganze als Realisierung seiner selbst und sich als Gattungswesen zu begreifen in einem übergeordneteren Sinne, als das in der Familie der Fall ist. Während nämlich die Frau auf bloß unmittelbare Weise die Gattungseinheit repräsentiert, in Form der Reproduktion der Familie, ist es Aufgabe des Mannes, vermittelt über die bürgerliche Gesellschaft diesen Gattungszusammenhang auf höherer und umfassenderer Ebene im Staat hervorzubringen. Da dem Mann »in der Frau vor[schwebt, E. B.], was er noch erreichen soll«, stellt z. B. die Dichtung das Verhältnis von Mann und Frau häufig so dar, als ob die Frau der Maßstab für das Tun des Mannes sei und als ob sie das Geistige in vollendeterer Form realisiere als der Mann. Nach Hegel hat besonders Schiller eine Zeit lang eine solche Position vertreten und die Empfindsamkeit der Frau, ihr Verharren in der unmittelbaren Einigkeit für das im Vergleich zur Zerrissenheit des Mannes höhere Prinzip gehalten.632 Nach Hegel lässt sich diese Position allgemein nur vor dem Hintergrund einer Zeit verstehen, in der das Vertrauen in die Macht des Politischen untergegangen ist, sodass nur noch das Privatwohl und das häusliche Glück als das Höchste angesehen werden.633 Zwar hebt Schiller nach Hegel zu Recht die Schönheit und Tugendhaftigkeit der Frau hervor, die auf ihrer unmittelbaren Einheit mit sich beruht und die dem Mann an der Frau (wie übrigens auch an dem Kinde)634 besonders 631
Vgl. GPR, § 166. Als Beleg zitiert Hegel Schillers Gedicht Das weibliche Ideal (vgl. Hr, S. 301, 5 f.), in dem es heißt: »Überall weichet das Weib dem Manne, nur im dem Höchsten/weichet dem weiblichsten Weib immer der männlichste Mann« (vgl. Hr, S. 301, Anm. 22 des Herausgebers). 633 Vgl. Hr, S. 300, 32 f. Hegel spielt damit wohl auf die zerschlagenen Hoffnungen an, die Schiller, wie viele andere, ursprünglich mit der Französischen Revolution verknüpft hatte. 634 Hegel vergleicht mehrfach erwachsene Frauen mit Kindern oder bestimmt die Frau als ›kindlich‹ (vgl. z. B. GW 14,2, S. 747, 9; Hr, S. 300, 32). Grund für die Ähnlichkeit von Frauen und Kindern ist nach Hegel, dass sich ihr Leben jeweils allein im natürlich-sittlichen Kreis der Familie abspielt. Während der junge Mann die Familie verlässt, um seinen Kinderstatus hinter sich zu lassen und erwachsen zu werden, gehen die jungen Frauen lediglich von einer Familie in die nächste über und machen deshalb nicht den Schritt, der wesentlich ist, um sich als erwachsene, selbständige Personen zu behaupten. Frauen und Kinder haben daher auch einen ähnlichen sittlichen Status: So wie im Handeln der Frauen nach Hegel gut und böse kaum zu unterscheiden sind (vgl. Gr, S. 443, 21 ff.), so befinden 632
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
221
gefalle.635 Aber dennoch sei es einseitig, die unmittelbare geistige Einheit der Frau zu überhöhen, denn damit verkenne man »die höhere Bestimmung des Mannes die Entzweiung durch Arbeit des Geistes aufzuheben, so daß dann seine Einheit die höhere aus dem Geist erzeugte wird.«636 Schnädelbach hat also Unrecht, wenn er Hegel vorwirft, er stimme »in den Chor der erniedrigenden Frauenverehrung seit Rousseau, Schiller und der Romantik ein.«637 Die Sittlichkeit der Frau darf nach Hegel weder überhöht noch herabgewürdigt werden. Es kommt nach Hegel vielmehr darauf an, zu erkennen, dass beide von den Geschlechtern realisierten Prinzipien der Sittlichkeit nur gemeinsam das sittliche Ganze ausmachen. Indem der Mann mit der für ihn wesentlichen sittlichen Tätigkeit bereits über die Familie hinausweist, stellt sich in der notwendigen Bezogenheit von Mann und Frau das Ganze der Sittlichkeit, die Einheit von privater und öffentlicher Sphäre also, als lebendige Einheit dar. Hegel bezeichnet diese sittliche Einheit der Geschlechter als »concrete Einheit«638, weil sie, wie auch der Begriff des Lebens, eine Einheit ist, die sich in sich unterscheidet und aus dem Unterschied wieder in sich als vermittelte Einheit zurückgeht, weil sie also eine in sich differenzierte und gegliederte Einheit ist. Durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stellt somit auch schon der Binnenraum der Familie selbst eine solche konkrete Einheit dar, denn in ihr kommen Mann und Frau als natürlich wie geistig verschiedene zueinander und machen gemeinsam eine Person aus. Als eine solche natürliche wie geistige Einheit anerkennen sie in der Familie, dass sie, so wie sie als natürlich Unterschiedene nur gemeinsam in der Natur die Einheit der Gattung hervorbringen können, sie ebenso als sittlich-geistig Unterschiedene nur gemeinsam die Totalität der Sittlichkeit als geistige Einheit der Gattung realisieren können. Sie anerkennen somit nicht nur ihre natürliche, sondern auch ihre sittlich-geistige Unterschiedenheit und ihre Bedeutung für die Realisierung der Totalität der Sittlichkeit. Die spezifische Art und Weise, in der die Geschlechter die Geistigkeit jeweils in dem ihnen eigenen sittlichen Tätigkeitsbereich realisieren, drückt sich in einer Reihe von Eigenschaften aus, die zusammengenommen den je-
sich auch Kinder noch in dem Schwebezustand kindlicher Unschuld (vgl. z. B. TWA 10, § 396 Z; Hr, S. 296, 27 f.; TWA 8, § 140 Z). 635 Vgl. Gr, S. 442, 24 f. 636 Ho, S. 531, 25 f. 637 Schnädelbach 2000, S. 254. Fan dagegen erkennt nicht, dass es sich bei der »Hochachtung vor der substantiellen Sittlichkeit der Frau« (Fan 1998, S. 120) um eine Form der erniedrigenden Frauenverehrung handelt und macht deshalb umgekehrt Hegel zum Vorwurf, dass er nicht in diesen Chor einstimmt. 638 GPR, § 165.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
weiligen Geschlechtscharakter von Mann und Frau ausmachen. Den Nachschriften nach zu urteilen hat Hegel sich in seinen Vorlesungen sehr ausführlich zu den Geschlechtscharakteren geäußert und sich bemüht, sowohl die spezifischen Tugenden als auch die Laster herauszuarbeiten, die sich aus der jeweiligen sittlichen Bestimmtheit der Geschlechter herleiten lassen. Mit Rückgriff auf die Naturphilosophie vergleicht Hegel den Charakter des Mannes zunächst ganz allgemein mit dem des Tiers, das sich aktiv auf die Außenwelt bezieht und dabei sich selbst als Einzelheit erhält.639 Aufgrund der Bestimmung der Entzweiung ähnelt der Mann dem Tier, denn seine damit einhergehende Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat zielt ebenfalls auf die aktive Aneignung der ihm zunächst bloß äußeren Welt und zugleich auf die Realisierung seiner selbst als Besonderheit. Das Verharren in der unmittelbaren Einigkeit des Geistes in der Familie lässt den Charakter der Frau dagegen Hegel zufolge einer Pflanze ähneln, die sich nicht in einer solch bestimmten Weise wie das Tier auf die Außenwelt bezieht, dass sie sich als einzelne gegenüber dieser behauptet.640 Die Pflanze steht vielmehr in einer unmittelbaren Einheit mit der Außenwelt und entfaltet sich darin kampf- und bewegungslos. Man kann hier auch an die aristotelische Unterscheidung denken, nach der es für die Pflanze wesentlich ist, dass sie anders als das Tier den Ort nicht wechseln kann641 – denn analog dazu verlässt auch die Frau den sittlichen Ort der Familie nicht, während der Mann in allen drei Sphären, in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat aktiv ist. Der Charakter des Mannes ist im Einzelnen vor allem durch seine Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, in der er die Familie nach außen vertritt, um ihre Subsistenz zu sichern, der der Frau dagegen durch ihre Tätigkeit in der Familie, in deren Innerlichkeit sie bleibt und für deren Reproduktion sie sorgt. Aufgrund der Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedene Berufsgruppen und Stände gehen die Männer, je nachdem welcher Berufssparte und welchem Stand sie angehören, ganz verschiedenen Tätigkeiten nach. Die zunächst bloß naturgegebene Ungleichheit der Männer wird durch diese Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft nach Hegel zu einer aus dem Geist selbst produzierten Ungleichheit erhoben, zu einer »Ungleichheit der Geschicklichkeit, des Vermögens und selbst der intellektuellen und moralischen Bildung«642 nämlich, durch die sich die
639
Vgl. Ho, S. 528, 20 f.; Gr, S. 441, 30 f. Zur Bestimmung des Tieres vgl. EPW, §§ 350 f. Vgl. Ho, S. 528, 20 f.; Gr, S. 441, 30 f. Zur Bestimmung der Pflanze vgl. EPW, §§ 343 f. 641 Vgl. De An., 410b, 16–411a. Vgl. EPW, § 344. 642 GRP, § 200 Anm. Hegel meint also, auch die gesellschaftliche Ungleichheit als vernünftige Bestimmung aus dem Geist ableiten zu können. Die gesellschaftliche Ungleich640
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
223
Männer, je nachdem welchen Platz sie in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, voneinander unterscheiden. In ihrer jeweiligen Tätigkeit realisieren sie nach Hegel ihre Besonderheit. Zwar bilden sie an ihrer besonderen Tätigkeit gerade die allgemeine Seite dieser Tätigkeit heraus, aber in ihrer Allgemeinheit bleiben diese Tätigkeiten doch besondere, die nur gemeinsam mit allen anderen zu verrichtenden gesellschaftlichen Tätigkeiten die Totalität der Allgemeinheit ausmachen.643 Da Männer somit durch ihre Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft hochgradig spezialisiert sind, entwickeln sie jeweils einen sehr individuellen Charakter.644 Frauen dagegen verrichten in der Familie alle im weitesten Sinne dieselben Tätigkeiten, und sie spezialisieren sich auch nicht auf eine besondere Tätigkeit, sondern sie tun alles, was im Haushalt als Arbeit anfällt. Ihre Tätigkeiten sind nicht im eigentlichen Sinne produktive, sondern größtenteils reproduktive Tätigkeiten, die sich also Tag ein Tag aus in derselben Weise wiederholen, ohne dass die Frauen dabei wesentlich neue Fertigkeiten erwerben könnten. Ihre sittliche Bestimmung als Frau ist es Hegel zufolge ohnehin nicht, ihre Besonderheit zu realisieren, sondern im Gegenteil ihre persönliche Selbständigkeit in der Familie aufzugeben, weshalb »alle Talente, Geschicklichkeiten [der Frauen, Anm. E. B.] (…) dieser Bestimmung der Familie untergeordnet«645 werden müssen. Da die Frauen sich in der Familienarbeit kaum durch ihre Tätigkeiten voneinander unterscheiden, haben sie nach Hegel »im allgemeinen viel mehr Ähnlichkeit untereinander als die Männer, die insofern origineller sind«646. Diese Originalität der Männer ist Hegel zufolge einerseits ein Vorteil, weil die Männer damit eben nicht in der unentfalteten Einheit bleiben,
heit hängt damit zusammen, dass eine Vielzahl von Tätigkeiten verrichtet werden muss, um die menschlichen Bedürfnisse insgesamt zu befriedigen. Welchen dieser zu verrichtenden Tätigkeiten die männlichen Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft jeweils nachgehen, ist für sie Ausdruck teils ihrer freien Wahl, teils ihrer natürlichen Veranlagung und teils der für sie zufälligen Umstände, z. B. davon, ob sie das notwendige Kapital haben, um einer Tätigkeit nachgehen zu können (vgl. GPR, § 200). Die jeweiligen Voraussetzungen, die die Individuen mitbringen, weisen ihnen somit einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zu (vgl. auch GPR, § 262). Männer sind damit zwar nicht wie Frauen auf den beschränkten Bereich der Familie reduziert, aber es zeigt sich, dass sie sich ebenfalls in einem Subsumtionsverhältnis befinden, weil sie ihrer jeweiligen Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft bzw. den Ständen subsumiert sind. Diese Subsumtion hat für die männlichen Individuen einen beschränkenden Charakter (vgl. II.2.2.9.3; vgl. auch Hüning 2006, S. 307, Anm. 45; Kucklick 2008). 643 Vgl. GPR, § 187. 644 Vgl. Gr, S. 442, 13–23. 645 Ebd., S. 444, 25 f. 646 An , S. 139, 9 f. L
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sondern die Seite der Besonderheit ihrer Individualität praktisch realisieren. Andererseits sind sie dadurch nach Hegel in gewisser Hinsicht »beschränkter, mithin einseitiger«647 als die Frauen, die mehr »Sinn für das Ganze«648 haben, weil sie in der Familie als Einzelne in unmittelbarer Einheit mit der Allgemeinheit stehen, statt sich wie die Männer als besondere Individuen in Gegensatz zum Allgemeinen zu stellen. Da den Männern durch die Einseitigkeit ihrer Tätigkeit der Sinn für das Ganze, das Allgemeine, das sie in mühsamer Auseinandersetzung mit der Außenwelt hervorbringen wollen, verloren gehen kann, verfallen sie nach Hegel nicht selten dem bloß abstrakten Verstandesdenken, das Frauen dagegen in der Regel fremd ist.649 Männer trifft auch nicht selten der Vorwurf des Eigendünkels, wenn sie nämlich »etwas Besonderes verfolgen und dieses für etwas Allgemeines ausgeben wollen.«650 Frauen muss dagegen eher Eitelkeit nachgesagt werden, die sich nach Hegel vom Eigendünkel darin unterscheidet, dass in ihr nicht einzelne besondere Zwecke und Interessen verfolgt werden, sondern die (gesamtfamiliäre) »Persönlichkeit überhaupt«651 für das Wichtigste gehalten wird. Da es die Bestimmung der Männer ist, nach außen in die Entzweiung zu treten, müssen sie Hegel zufolge den Frieden mit der Welt brechen.652 In ihrer Auseinandersetzung mit der Welt übernehmen sie »Kampf, Feindschaft, Haß«653, die mit der Selbstbehauptung einhergehen. Sie sind daher häufig »verdrießlicher als die Frauen«654, die in der kampflosen »innern Harmonie«655 bleiben können, was Zufriedenheit hervorruft. Auch wenn das Heraustreten aus der Harmonie bei den Männern »bis zur Zerrissenheit fortgehen kann«656, ist es trotzdem nach Hegel nicht eigentlich negativ zu bewerten. Zwar bedarf der Mann, wie schon erörtert, »der Anschauung dieser Harmonie [der Frau], um sich selbst wiederzufinden.«657 Gelingt es ihm aber, in der Auseinandersetzung mit der Welt, diese Harmonie selbst hervorzubringen, ist diese von ihm hervorgebrachte Harmonie Hegel zufolge vortrefflicher als die bloß unmittelbare Harmonie der Frau, weil sie aus der Entzweiung heraus selbst produziert und somit im eigentlichen Sinne geistig 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657
Gr, S. 442, 23, vgl. auch AnL, S. 137, 26 f. AnL, S. 139, 2. Vgl. ebd., S. 137 f. Ebd., S. 139, 23 f. Ebd., S. 139, 22. Vgl. ebd., S. 140, 1 f. Ebd., S. 137, 6 f. Ebd., S. 139, 7 f. Ebd., S. 138, 27. Gr, S. 440, 9 f. AnL, S. 138, 30 f.
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ist.658 Dagegen ist die Harmonie der Frau mit ihrer unmittelbaren Bestimmung gegeben und hat damit eher natürlichen Charakter. Da die Männer die Kraft haben, die Entzweiung auf sich zu nehmen, in den Gegensatz zu treten, sind es nach Hegel deshalb auch notwendig immer sie, die die Weltgeschichte vorantreiben und der Menschheit zu neuen Erkenntnissen verhelfen: »Alle großen Werke der Wissenschaft, der Kunst und der Geschichte setzen jene Entzweiung, jene Abscheidung von sich selbst voraus, die dem einfachen, im Frieden mit sich selbst bleibenden Charakter der Frauen nicht zukommt.«659 Frauen können dagegen nach Hegel nicht diese Geistesgröße der Männer erlangen. Sie sind nicht dazu bestimmt, höhere Kunst, Philosophie bzw. überhaupt Wissenschaft zu betreiben, da ihnen die Fähigkeit fehlt, das Allgemeine als solches, unvermischt mit der zufälligen Seite ihrer natürlichen Subjektivität zu denken, wofür sie ihre unmittelbare Einzelheit negieren müssten.660 Um dies zu können, müssten sie ihre persönliche Einzelheit von dem Allgemeinen unterscheiden, sich also wie die Männer in diese zwei Momente entzweien, was jedoch nach Hegel nicht ihrer sittlichen Bestimmung entspricht. Zwar gebe es einzelne Bereiche in Kunst und Wissenschaft, in denen es auch Frauen zu beachtlichen Fertigkeiten gebracht hätten, und es gebe auch hin und wieder Frauen, die erfolgreich die Grenzen ihres Geschlechts überschritten, aber solche Ausnahmen änderten doch nichts an der Regel.661 Indem Männer den Zwiespalt mit der Welt aushalten und überwinden können, stellen sie nach Hegel »sittliche Kraft«662 dar, während Frauen aufgrund ihrer unmittelbaren Harmonie »sittliche Schönheit«663 repräsentieren. Da der Mann das, was er ist, jeweils noch im Kampf realisieren muss, ist er stetes Sollen; die Frau dagegen soll nichts anderes sein als das, was sie unmittelbar ist.664 Indem die Frauen nicht aus der Einheit in den Zwiespalt mit der Welt heraustreten, können sie zwar aus den genannten Gründen nie
658
Vgl. ebd., S. 138, 14–27. Ebd., S. 138, 17 f. 660 Vgl. Ho, S. 525, 18 – S. 527, 35; Gr, S. 441, 2 f.; Hr, S. 300, 11 f.; An , S. 138, 4–21; V L 1, S. 96, 493 f.; AnK, § 166. 661 Vgl. dazu Hr, S. 300, 5 f.; Ho, S. 525, 18–24; Gr, S. 441, 5 f. 662 Ho, S. 531, 8; vgl. auch GW 14,2, S. 747, 11 und Gr, S. 440, 6 f. 663 Ho, S. 531, 7; vgl. auch Gr, S. 442, 5 f. Diese Bestimmung des Mannes als ›sittliche Kraft‹, der Frau als ›sittliche Schönheit‹, ist für die bürgerliche Epoche typisch und erinnert an die kantische Bestimmung der Geschlechtscharaktere in seiner Frühschrift Beobachtungen über das Schöne und Erhabene. 664 Vgl. Ho, S. 531, 8 f. 659
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dieselbe Größe des Charakters erlangen wie Männer – sie können allerdings deshalb auch anders als Männer nicht in das andere Extrem außerordentlicher charakterlicher Bosheit fallen. Bosheit besteht nach Hegel wesentlich darin, »die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Principe zu machen und sie durch Handeln zu realisiren.«665 Um böse zu sein, muss also eine Entzweiung des Subjekts stattfinden, in der es seinen subjektiven Willen der Allgemeinheit des Willens absolut entgegensetzt.666 Bei Frauen kommt es aber Hegel zufolge zu keiner Entgegensetzung der eigenen, einzelnen Subjektivität gegen das Allgemeine. Vielmehr fallen ihre Einzelheit und die Allgemeinheit in ihrer Tätigkeit für die Familie unmittelbar zusammen. Somit ist auch »Gutes und Böses (…) in ihnen vereinigt, ohne daß eins vollkommen fest bestimmt ist.«667 Da Frauen sich in ihrem Handeln von ihrer Empfindung leiten lassen, statt die Zwecke ihres Handelns denkend zu bestimmen, haben sie Hegel zufolge auch weniger feste moralische Grundsätze, wodurch sie inkonsequenter, leichtfertiger, launischer und unberechenbarer sind.668 Männer dagegen haben feste, »bestimmte Maximen«669, ihr Handeln ist durch allgemeine Grundsätze670 gekennzeichnet. Die Inkonsequenz der Frauen kann zwar schlecht sein, oft ist sie jedoch nach Hegel besser als das verbissene Festhalten an Grundsätzen: Mit ihrem Leichtsinn verhalten sich Frauen, die sich von ihrem Gefühl für das Ganze leiten lassen, Hegel zufolge im Alltag oft adäquater als Männer, die mit ihren festen Maximen nicht selten dem einseitigen Verstandesdenken verfallen und darin zwar konsequent handeln, dabei aber das Ganze, auf das das Handeln gehen sollte, aus den Augen verlieren.671 Wenn das Handeln der Frauen im Alltag auch oft aus einer Art Instinkt heraus angemessener sein mag als das der Männer, so bringen Frauen an der Regierung jedoch nach Hegel den Staat regelrecht in Gefahr.672 Denn im Staat kommt es gerade nicht auf bloße Empfindung, sondern auf allgemeine Gesetze an. Da bei den Frauen Einzelheit und Allgemeinheit unmittelbar zusammenfallen, sodass sie nicht zwischen ihrer persönlichen Einzelheit und den Anforderungen durch die Allgemeinheit unterscheiden können, folgten sie an der Regierung ihren zufälligen, persönlichen Neigungen oder familiären Interessen, statt sich den Staatsinteressen 665 666 667 668 669 670 671 672
GPR, § 139, vgl. auch § 140 Anm. Vgl. Ho, S. 437 ff. Gr, S. 443, 24 f. Vgl. ebd., S. 443 f. Ebd., S. 442, 22. Ebd., S. 442, 1 f. Vgl. ebd., S. 442 f. Vgl. GW 14,2, S. 747, 17; Gr. S. 444, 15 –26; AnL, S. 139, 25 f.; Ho, S. 525, 26 f.
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zu beugen. Sie können zwar im öffentlichen Leben durchaus wohltätig sein – denn dafür bedarf es vornehmlich der empfindenden Anteilnahme an dem Schicksal anderer Personen –, aber sobald sie politischen Einfluss haben, neigen sie Hegel zufolge zur Intrige;673 sie manipulieren dann nämlich andere Personen, um ihre persönlichen Zwecke zu verfolgen. Um diese These durch ein Beispiel zu untermauern, verweist Hegel auf den politischen Einfluss von Mätressen674 – ein Beispiel, das in seiner Schlagkraft freilich trügerisch ist, denn da Frauen keine politische Macht qua politischem Amt hatten, stand ihnen gar kein anderer Weg offen als über ihren politisch mächtigen Liebhaber und mit intriganten Mitteln zu agieren. Wie schon in der Phänomenologie behauptet Hegel, dass Frauen für ihre Intrigen besonders häufig sehr junge Männer einspannen, die aufgrund ihrer Jugend noch enthusiastisch dem abstrakten, unbestimmten Ideal einer Ganzheit nachlaufen, einem Ideal also, das gerade dem Prinzip ähnelt, das die Frauen verkörpern. Junge Männer wie Frauen können nach Hegel nicht begreifen, dass das Ganze ein in sich gegliedertes sein muss, in dem jeder »auf seine bestimmte Thätigkeit beschränkt«675 sein muss, wodurch allein der Staat als ein lebendiges Ganzes bestehen kann. Diese Notwendigkeit der Beschränkung der Individuen auf besondere Tätigkeiten und der Gliederung des Ganzen nach besonderen Verstandesbestimmungen erscheint der Jugend nach Hegel fälschlicherweise »als ein Geltendmachen des Nicht-Idealen«676, weil sie, so Hegel, noch nicht begriffen hat, dass sich die Idee in ihrer allgemeinen Objektivität nur durch eine solche Gliederung wahrhaft entfalten und somit wirklich sein kann.
II.2.2.9.3 Kritik an Hegels Darstellung der natürlichen und intellektuell-sittlichen Bestimmtheit der Geschlechter Es ist sehr schwer, heutzutage Hegels Darstellung des Geschlechterverhältnisses völlig unbefangen zu lesen und ihren philosophischen Gehalt ernst zu nehmen – schließlich ist mit Hegels Thesen die Legitimation des Ausschlusses der Frauen aus der Öffentlichkeit verbunden, durch den die Frauen ökonomisch von Männern abhängig wurden, was eine enorme Beschränkung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten zur Folge hatte.677 Hegel fixiert und recht673
Vgl. Gr, S. 444, 18–22 und AnL, S. 139, 25 f. Vgl. Hr, S. 300, 22 f. 675 Ho, S. 527, 5 f. 676 Ebd., S. 526, 30 f. 677 Zur Kritik an Hegels Geschlechtertheorie und einer Diskussion der Forschungsliteratur zu diesem Thema vgl. auch Brauer 2007, S. 129 ff. 674
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
fertigt nicht nur die Reduzierung der Frauen auf den Bereich der Familie, sondern meint auch, bis in die Details den vermeintlich unveränderlichen und mangelhaften Geschlechtscharakter von Frauen bestimmen zu können. Gerade weil vieles, was Hegel Frauen und Männern zuschreibt, Ausdruck patriarchaler Verhältnisse und ihrer Legitimation ist, ist es sinnvoll, sich zuerst klar zu machen, worin eigentlich der positive Gewinn der Auseinandersetzung mit Hegels Geschlechtertheorie liegt, bevor man analysiert, worin genau der Mangel der hegelschen Perspektive auf das Geschlechterverhältnis besteht. Hegels Geschlechtertheorie zeichnet sich gegenüber vielen anderen philosophischen Geschlechtertheorien seiner Zeit dadurch aus, dass in ihr das Geschlechterverhältnis wesentlich als ein gesellschaftliches und geschichtlich gewachsenes Verhältnis bestimmt wird. Indem Hegel nämlich von der intellektuellen und sittlichen Bedeutung der Geschlechter und ihrer substanziellen Bestimmung spricht, macht er deutlich, dass es sich bei dem Verhältnis von Männern und Frauen weder primär um ein natürliches Verhältnis handelt, noch um ein Verhältnis, das die einzelnen Menschen individuell bestimmen und gestalten könnten. Es liegt also nicht in der Hand der einzelnen Männer und Frauen, ihr Verhältnis zueinander frei zu bestimmen, sondern wenn Männer und Frauen zusammentreffen, ist ihr Verhältnis immer auch bestimmt durch ihre gesellschaftliche Funktion, der sie subsumiert sind. Da die Geschlechter nach Hegel jeweils ein notwendiges Moment der sittlichen Substanzialität repräsentieren, sind sie nicht frei darin, sich innerhalb der Sittlichkeit ihren Platz zu suchen, sondern die Aufgabe, die ihnen dem hegelschen Idealismus zufolge die Vernunft zuweist, erscheint ihnen als gesellschaftlich vorgegeben. Sie können allerdings erkennen, dass in Wahrheit, so Hegel, gerade in der Aneignung dieser Bestimmung und in der Erfüllung dieser Aufgabe ihre Freiheit liegt. Als gesellschaftliches Verhältnis ist das Geschlechterverhältnis also nach Hegel unmittelbar mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verbunden, nach der Frauen der Familie, Männer aber der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich dem Staat zugeordnet sind. Indem die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sich Hegel zufolge aus den Momenten der Sittlichkeit ableiten lässt, stellt sie einen unentbehrlichen Grundpfeiler des modernen Rechtsstaates dar. Im Rahmen seiner Geschlechtertheorie bestimmt Hegel daher zugleich die Funktion der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung für den modernen bürgerlichen Rechtsstaat. Hegel zeigt nämlich, dass diese Arbeitsteilung darauf beruht, dass im modernen bürgerlichen Rechtsstaat zwei widersprechende Prinzipien – die er als Seiten der sittlichen Substanzialität bezeichnet – vorhanden sind: Das eine Prinzip ist das der Familie, das andere das der bürgerlichen Gesellschaft und des
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
229
Staates. Das Prinzip der Familie, nach Hegel also das weibliche Prinzip, ist das der unmittelbaren Unterordnung des Individuums unter den allgemeinen Familienzusammenhang, worin Einzelheit und Allgemeinheit unmittelbar zusammenfallen; das Prinzip, das die Männer vertreten, ist dagegen das Prinzip der vermittelten Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und modernem Staat, in dem durch die Tätigkeit der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft sowohl die Selbständigkeit und Atomistik der Individuen gewährleistet sein muss, als auch die Beziehung der einzelnen Individuen auf ein objektiv Allgemeines gegeben sein muss, das im staatlichen Zusammenhang realisiert wird. Das Prinzip der Familie beruht auf der Aufgabe der persönlichen Selbständigkeit, das andere Prinzip setzt dagegen gerade persönliche Selbständigkeit voraus und hat den Anspruch, persönliche Selbständigkeit und Unterordnung unter die Allgemeinheit miteinander zu vermitteln. Gerade weil diese Prinzipien sich gegenseitig widersprechen, können sie nach Hegel nicht beide zugleich von einem einzelnen Individuum vollendet realisiert werden. Deshalb müssen sich die beiden Prinzipien notwendig auf verschiedene Individuen verteilen – und sie verteilen sich eben nach der Geschlechterdifferenz. Zwar sind beide Prinzipien notwendig aufeinander bezogen und nur aus dieser Bezogenheit geht die Sittlichkeit als lebendige, konkrete Einheit hervor; aber um sich als lebendige Einheit zu realisieren, müssen Hegel zufolge zunächst die Differenzen einseitig an den Individuen zum Ausdruck kommen. Zwar scheint es so zu sein, dass der Mann beide Prinzipien zugleich realisiert, indem er sich einerseits als Familienvater der Familie unterordnet, andererseits als Bourgeois seinen individuellen Interessen nachgeht und als Citoyen seinen Staatsbürgerpflichten nachkommt. Dies ist in gewisser Weise richtig, denn tatsächlich gibt nach Hegel auch der Mann in der Familie seine Selbständigkeit auf, begreift sich wesentlich als Familienmitglied und vertritt in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr sich selbst als Rechtsperson, sondern die Familie als moralische oder juristische Person. Trotzdem realisiert er nicht in demselben Sinne wie die Frau das Prinzip der Familie, denn er bleibt nicht wie die Frau in der unmittelbaren Einheit der Familie stehen. Er sorgt nicht wie die Frau dafür, gerade die sittlich-natürliche Unmittelbarkeit, durch die sich die Familie auszeichnet, zu erhalten, sondern er nutzt diese lediglich als Basis, um sich für seine Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft zu stärken. Sein Beitrag zum Erhalt der Familie besteht also gerade nicht in der unmittelbaren Unterordnung unter den Familienzusammenhang, sondern in der vermittelnden Tätigkeit, die zwar die Subsistenz der Familie sichern soll, aber nicht im eigentlichen Sinne Familienarbeit ist. Das Prinzip der Familie in seiner reinen, unmittelbaren Form, d. h. in der reinen
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Aufopferung für die Familie und der gänzlichen Unterordnung des Individuums unter den familiären Zusammenhang, realisiert also nur die Frau, die daher auch anders als der Mann, alle Zwecke dem Familienzusammenhang unterordnet. Indem Hegel die Familienarbeit als ein notwendiges Moment der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmt, schreibt er ihr eine wichtige Funktion innerhalb der Sittlichkeit zu. In der Familie begreifen die Individuen, dass sie wesentlich Gattungswesen sind, dass sie also in einem sozialen Zusammenhang mit anderen Menschen stehen, in dem sie sich aufgehoben fühlen können.678 Diese Funktion ist nach Hegel von großer Bedeutung sowohl für die Männer, für die die emotionale Unterstützung der Familie eine notwendige Voraussetzung für ihre Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ist, als auch für die Kinder, die ein Gefühl der Geborgenheit und der Gemeinschaft mit anderen Menschen sozusagen ›mit der Muttermilch einsaugen‹.679 In ihrer Tätigkeit für Mann und Kind erlangen die Frauen nach Hegel ihre gesellschaftliche Bedeutung, und es wird ihnen dadurch eine gewisse Form gesellschaftlicher Anerkennung zuteil – als Hausfrau und Mutter.680 Dadurch, dass Hegel die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Familienarbeit für den bürgerlichen Rechtsstaat herausstreicht, wird deutlich, dass eine Leerstelle entsteht, wenn die Frauen nicht mehr bereit sind, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in dieser Form weiter hinzunehmen. Freilich wäre ein solcher ›Boykott‹ aus Hegels Perspektive nur aufgrund mangelnder Einsicht in die Notwendigkeit dieser Arbeitsteilung und somit auch aufgrund mangelnder Einsicht in die Freiheit denkbar. Für Hegel scheint es schlicht undenkbar zu sein, dass die gesellschaftlich notwendige Familienarbeit anders organisiert werden könnte als durch Subsumtion der Frauen unter diese Tätigkeit. Hegel hält diese Subsumtion und Reduktion ohnehin für gerechtfertigt, weil er meint, sie entspreche ganz einfach der Natur und der Geistigkeit der Frau. Geht man, anders als Hegel, nicht selbstverständlich davon aus, dass die Reduktion auf die Familienarbeit die gott- oder hier geistgegebene Bestimmung der Frauen ist, so lassen sich aus der hegelschen Darstellung selbst – von Hegel freilich unbeabsichtigt – zahlreiche Argumente entnehmen, warum die Frauen gute Gründe hätten, sich gegen eine solche Unterordnung unter die Familienarbeit zur Wehr zu setzen. Auch wenn Hegel die gesellschaftliche Arbeitsteilung als höchste Realisierungsform der sittlichen Substanzialität und somit der gesellschaftlichen Freiheit darstellt, macht er 678 679 680
Vgl. dazu II.2.1. Vgl. II.2.4.1. Vgl. II.2.2.10.1.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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nämlich zugleich sehr deutlich, dass die Frauen anders als die Männer einer vergleichsweise mangelhaften Entwicklungsstufe des Begriffs des freien Willens subsumiert sind. Die Privatsphäre der Familie – so bedeutsam sie gesamtgesellschaftlich und für jedes Individuum sein mag – ist innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse, wie Hegel überzeugend zeigen kann, für sich genommen eine Sphäre der bloßen Unmittelbarkeit und Unterordnung des Individuums, die im Leben der (männlichen) Individuen zu einem untergeordneten Moment werden muss, damit sie sich der Welt der Bildung und ihrer individuellen Entwicklung zuwenden können. Indem Hegel die sittliche Bestimmung der Frauen in ihrer Tätigkeit für die Familie sieht, spricht er ihnen prinzipiell die Möglichkeit ab, sich als Individuen über diese beschränkte Sphäre der Familie hinaus weiterzuentwickeln, die Sphäre der bloßen Empfindung zu verlassen und sich zum Denken zu erheben. Während andere Denker die Unmittelbarkeit und Kindhaftigkeit der Frauen, die mit der Reduktion auf die Innerlichkeit des Familienzusammenhangs einhergeht, besonders rühmen, zeigt Hegel in seiner Kritik an Schiller überzeugend, dass es sich dabei um eine Beschränkung handelt, die den Frauen gerade die Entwicklung versagt, die den Menschen als geistiges Wesen im eigentlichen Sinne auszeichnet.681 Man kann also von Hegel selbst lernen, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung die Frauen in der Entwicklung ihrer individuellen geistigen Fähigkeiten beschränkt.682 Statt diese Beschränkung jedoch als ein Herrschaftsverhältnis auszuweisen, das es um der Freiheit willen aufzuheben gilt, rechtfertigt Hegel sie, indem er sie als sittliche Bestimmung der Frau ausgibt, die zudem eine natürliche Grundlage habe. Nur dadurch kann Hegel daran festhalten, dass die Subsumtion der Frauen unter die Familie nicht nur Ausdruck eiserner Naturnotwendigkeit, sondern mit dem Begriff des freien Willens vereinbar sei. Schließlich sollen Hegel zufolge die Frauen, wenn auch nicht begreifen, so doch empfinden können, dass es sich bei ihrer Unterordnung unter den Familienzusammenhang um ihre höchste Bestimmung, ihr vermeintlich größtes Glück handelt. Setzt man, wieder anders als Hegel, voraus, dass diese Subsumtion der Frauen unter den Familienzusammenhang die Entwicklung des freien Willens in Wahrheit behindert – wofür die weltweite Frauenbewegung als deutlicher Hinweis gelten kann –, muss man infrage stellen, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gerade das befriedigend leistet, was Hegel in ihr realisiert wissen will: eine gelungene geistige Aneignung der natürlichen Sexualität. Nach Hegel kann die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als 681 682
Vgl. II.2.2.9.2. Vgl. Ravven 1988; Waszek 1999.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Ausdruck der Freiheit verstanden werden, weil sie die vernünftigen Bestimmungen, die schon in der Natur der Geschlechter angelegt sind, gesellschaftlich realisiert. Sie ist somit Ausdruck der Einsicht in die Notwendigkeit und stellt daher eine freie Aneignung der natürlichen Voraussetzungen dar. Ist die Natur und mit ihr einhergehend die Fortpflanzung für Hegel noch Legitimationsgrund dafür, dass eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung notwendig ist, um den Geschlechtern eine geistige Form der Aneignung ihrer Sexualität zu ermöglichen, so verkehrt sie sich im Rahmen der Emanzipation der Frauen ganz im Gegenteil von den Menschen unbeabsichtigt in ein Mittel, das die Unterordnung der Frauen unter den Familienzusammenhang infrage stellt. So gibt es beispielsweise in Europa heute eine Entwicklung, dass viele Frauen bewusst oder unbewusst nicht mehr bereit sind, eine Partnerschaft einzugehen oder schwanger zu werden, wenn das aufgrund der gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu führt, dass sie nicht mehr oder nur noch beschränkt ihrem Beruf nachgehen können. Durch diese Verkehrung wird deutlich, dass nicht mehr die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eine Notwendigkeit darstellt, sondern es im Gegenteil notwendig geworden ist, dass an die Stelle der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung eine andere Form gesellschaftlicher Arbeitsorganisation tritt, durch die es Frauen und Männern möglich wird, ihre sexuellen Verhältnisse und gegebenenfalls auch gemeinsame Kinder im hegelschen Sinne als Ausdruck ihres freien Willens begreifen zu können.683 Von einer wirklichen Aneignung der eigenen Natur, wie Hegel meint, sie abgeleitet zu haben, kann also erst gesprochen werden, wenn Frauen nicht mehr auf die Familienarbeit reduziert werden und wenn umgekehrt Männer einen gerechteren Anteil an den Tätigkeiten haben müssen und haben können, die bisher die Frauen mit der Familienarbeit übernommen haben. Dies kann vermutlich nur gelingen, wenn die Familienarbeit und insbesondere die Kindererziehung auch gesellschaftliche Unterstützung findet und nicht Privatsache bleibt, wie das in einem Staat, wie Hegel ihn skizziert, und auch heute noch größtenteils der Fall ist. Eine vermeintliche Aneignung der eigenen Natur, in der Männer wie Frauen einseitigen Tätigkeitsfeldern subsumiert sind, muss demnach scheitern. An Hegels Anspruch einer Aneignung der eigenen Natur und damit auch der Sexualität muss also zugunsten gesellschaftlicher und individueller Freiheit festgehalten werden, aber Hegel ist es nur gelungen, diesen Anspruch zu formulieren, nicht aber, die gesellschaftliche Entwicklung selbst zu denken, die für eine solche Aneignung notwendig ist.
683
Vgl. dazu I.4.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
233
Dass die Aneignung der eigenen Sexualität, wie Hegel sie mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung denkbar machen will, nicht gelingen kann, wird noch in einer weiteren Hinsicht deutlich: Zwar geht die gesellschaftliche Arbeitsteilung zunächst vor allem auf Kosten der Frauen, aber auch Männer sind durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einer bestimmten Funktion subsumiert. Mit dem Weiblichkeitsbild in der bürgerlichen Geschlechtertheorie geht also ebenso sehr ein bestimmtes Männlichkeitsbild einher, das Männer keineswegs frei macht in ihrem Verhältnis zur eigenen Sexualität. Es kann daher auch aufseiten der Männer keineswegs von einer gelungenen Aneignung ihrer Sexualität gesprochen werden. Sie können sich nämlich nicht selbst aktiv mit ihrer natürlichen Bestimmtheit und deren Implikationen auseinandersetzen, denn in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird dieses Problem an die Frauen »ausgelagert«, sodass sich Männer mit der Reproduktion ihrer selbst nicht mehr befassen müssen bzw. es auch kaum können, weil es ihre Aufgabe ist, für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Die Auslagerung eines Problems mag zwar eine gewisse Befreiung von diesem Problem mit sich bringen – eine gelungene Aneignung fordert aber, sich zu einem Problem aktiv zu verhalten, statt es lediglich an andere abzugeben. Die sogenannte »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« ist also in Wahrheit auch ein Problem für Männer – denn sie sind im Wesentlichen ihrem Beruf, oder, mit Hegel gesprochen, ihrer Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft subsumiert.684 Feministische Theoretikerinnen haben vielfach kritisiert, dass übersehen wird, welche wichtigen Fähigkeiten in der Familienarbeit erlernt werden – Fähigkeiten, die Männer oft nicht entwickeln, gerade weil sie in der Regel keinen oder zumindest wenig Anteil an der Familienarbeit haben.685 An dieser Kritik wird deutlich, dass der Mangel der Familienarbeit tatsächlich weniger mit den Tätigkeiten selbst verbunden ist, als vielmehr damit, dass es sich um unbezahlte Arbeit handelt.686 Für die Familienarbeit gibt es entweder gar keine öffentliche Anerkennung oder aber bloß solche ideeller Art, sodass Hausfrauen (seltener: Hausmänner) ökonomisch von ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin abhängig werden. Auch Hegel sieht, dass mit der Fa684
Hüning macht zu Recht auf dieses Problem aufmerksam und erweitert damit die Perspektive von Annerl (vgl. Hüning 2006, S. 307, Anm. 45; Annerl 1992, S. 80.; Kucklick 2008.). 685 Vgl. Held 2006. 686 Innerhalb der Frauenbewegung wurde die Tatsache, dass die Hausarbeit gesellschaftlich notwendige Arbeit ist und somit eine Grundlage für die kapitalistische Produktionsweise darstellt, aber nicht als Arbeit anerkannt wird, weil sie nicht entlohnt wird, insbesondere im sogenannten »Bielefelder Ansatz« kritisiert. Vgl. dazu Baier 2010.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
milienarbeit, speziell bei der Versorgung von Kindern oder von alten oder kranken Familienmitgliedern, spezifische Fähigkeiten, wie z. B. Geduld, Einfühlungsvermögen usw. einhergehen, die er als vermeintlich geschlechtsspezifische Tugenden der Frauen lobend hervorhebt. So kennt auch Hegel den bornierten männlichen Bourgeois, der gerade diese Tugenden vermissen lässt;687 da es nach Hegel den Männern aber möglich ist, sich zugleich als Citoyen zu verstehen, können auch sie, sogar auf einer höheren Ebene, solche Tugenden entfalten. Nach Hegel reicht es daher aus, dass diese wichtigen Seiten der Familienarbeit durch die Frauen an die Männer herangetragen werden, damit sie sie als Staatsbürger selbst entwickeln können. Dafür scheint es nach Hegel nicht von großer Bedeutung zu sein, dass sie diese Tätigkeiten auch selbst verrichten. Indem heutzutage diese Fähigkeiten, die die feministischen Ethics of Care besonders herausgehoben haben, als sogenannte ›Soft Skills‹ oder ›emotionale Intelligenz‹ auch wirtschaftlich nutzbar gemacht werden, wird ihnen gesellschaftlich wesentlich mehr Bedeutung beigemessen.688 Die Einseitigkeit der Tätigkeit, denen bisher die Männer aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung subsumiert waren, wird dadurch zugleich aufgedeckt und zu einem Problem auch für Männer. Eindimensionale gesellschaftliche Erwartungshaltungen an die Geschlechter werden damit aufgebrochen und verändern sich. Die Tätigkeiten und die damit einhergehenden Fähigkeiten werden damit, im hegelschen Sinne, immer allgemeiner, statt einseitig geschlechtsspezifisch zugeordnet zu werden. Ein Hauptproblem der hegelschen Darstellung ist somit, dass Hegel voraussetzt, dass die bürgerliche Familie die höchste Entwicklungsform ist, die für das Geschlechterverhältnis überhaupt möglich ist. Aber auch wenn man Hegel entgegenhält, dass die bürgerliche Geschlechterordnung selbst nur eine bestimmte Entwicklungsstufe des Geschlechterverhältnisses ist, die durch freiere Formen abgelöst werden kann, ändert dies nichts daran, dass Hegel die bürgerliche Geschlechterordnung treffend auf den Begriff bringt. Nimmt man Hegels Analyse ernst, dann muss man z. B. anerkennen, dass es nicht einfach ist, die nach wie vor vorherrschende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gesellschaftlich aufzuheben. Wenn die Frauen die Aufgabe, die ihnen bisher in der Familie zukam, nicht mehr erfüllen, entsteht eine Leerstelle innerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung. Die Konsequenz kann selbstverständlich nicht sein, zurück zur alten Familienform zu wollen, denn damit stellt man sich autoritär gegen das Emanzipationsbedürfnis der Frauen – und letztlich auch der Männer. Die Rollenverteilung beizubehalten, 687 688
Vgl. II.2.2.9.3. Vgl. Held 2006.
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sie aber nicht mehr geschlechtsspezifisch festzulegen, wäre dieser Analyse zufolge ebenso mangelhaft, denn dasjenige Individuum, das sich allein dem Familienzusammenhang unterwirft, wäre dann aufgrund dieser Subsumtion tatsächlich in der Entfaltung seiner selbst beschränkt, egal ob Mann oder Frau. Die Lösung scheint zu sein, dass jedes Individuum in beiden Bereichen aktiv ist – in Familie und bürgerlicher Gesellschaft. Wenn Hegel jedoch recht hat, dass es sich um zwei Sphären handelt, die von sich widersprechenden Prinzipien bestimmt sind, dann erklärt dies auch, warum es innerhalb der momentanen gesellschaftlichen Verhältnisse kaum jemandem gelingt, beides auf befriedigende Weise miteinander zu vereinbaren. Das Wegbrechen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wirft also ein Problem auf, das die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt infrage stellt.689 Aufgaben, die die Familie bisher übernommen hat, müssen nun von der Gesellschaft übernommen werden. Dies steht jedoch im Widerspruch dazu, dass die Reproduktion in der bürgerlichen Rechtsordnung in den Bereich des Privaten verbannt ist – es sich also scheinbar um ein Problem handelt, das jede/r für sich zu lösen hat. Die Probleme, für die in der aktuellen Familienpolitik ein Umgang gesucht wird, können zum Teil sicherlich auf eben diesen Widerspruch zurückgeführt werden. Dass für Hegel dem Mann mit der Bestimmung der Vermittlung die eigentlich wesentliche Seite des Geistes, nämlich das Prinzip seiner Entfaltung und Realisierung, zukommt, gegenüber dem die bloß unmittelbar bleibende Geistigkeit der Frau mangelhaft ist, ergibt sich aus dem Begriff des Geistes selbst, den Hegel nach dem Zusatz zu § 379 der Enzyklopädie folgendermaßen bestimmt: »Der Begriff [hier: Begriff des Geistes, Anm. E. B.] bedarf zu seiner Verwirklichung keines äußeren Antriebs; seine eigene, den Widerspruch der Einfachheit und des Unterschieds in sich schließende und deswegen unruhige Natur treibt ihn, sich zu verwirklichen, den in ihm selbst nur auf ideelle Weise, d. h. in der widersprechenden Form der Unterschiedslosigkeit vorhandenen Unterschied zu einem wirklichen zu entfalten und sich durch diese Aufhebung seiner Einfachheit als eines Mangels, einer Einseitigkeit, wirklich zu dem Ganzen zu machen, von welchem er zunächst nur die Möglichkeit enthält.«690 Zwar müssen Einfachheit und Unterschied beide zur Entfaltung kommen – weshalb also das Prinzip der Einfachheit, das die Frau vertritt, ebenso we689 690
Vgl. Ravven 1988, S. 167 f. TWA 10, § 379 Z.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
sentlich ist wie das Prinzip des Unterschieds, das der Mann vertritt. Indem der Mann jedoch nicht auf der Ebene der bloßen Vermittlung stehen bleibt, sondern zugleich auf einer höheren Ebene die Einfachheit als vermittelte wieder hervorbringt, wird er – in der hegelschen Terminologie – zum »übergreifenden Allgemeinen« von Mann und Frau: Er selbst bringt nämlich die Einheit des Staates hervor, in der sowohl die Familie als weiblich-dominierte Sphäre der unmittelbaren Einfachheit, als auch die bürgerliche Gesellschaft als männlich-dominierte Sphäre der Differenz, gemeinsam in einer vermittelten Einheit aufgehoben sind. Hegel schreibt damit dem Mann gerade die Eigenschaft zu, die den Fortschritt des Geistes ermöglicht – nämlich die Entzweiung.691 Der Mann hat dadurch die Möglichkeit, sich aus seiner bloßen Subsumtion unter sein Geschlecht zu befreien, indem er auch außerhalb der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat bzw. in der Wissenschaft tätig ist. Die Frau dagegen, als Verkörperung der Einigkeit und Unmittelbarkeit des Geistes, bleibt im Wesentlichen ihrer Geschlechtlichkeit untergeordnet. Dies zeigt sich daran, dass sie nicht aus dem Familienkreis austreten und in einer anderen Sphäre tätig sein kann. Während sich die Begriffsmomente in der Natur an den jeweiligen Geschlechtsorganen und damit an der unterschiedlichen Funktion der Geschlechter in der Zeugung darstellten, kommt der Unterschied der Begriffsmomente als geistig-sittlicher Unterschied in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der Geschlechter zum Ausdruck, d. h. in der selbstbewussten Tätigkeit, die nach Hegel für die Geschlechter jeweils wesentlich ist. Um Hegels Theorie der natürlichen und intellektuell-sittlichen Bestimmtheit der Geschlechter kritisieren zu können, sei zunächst nochmals zusammengefasst, wie Hegel in den Grundlinien zu der intellektuell-sittlichen Bedeutung der Geschlechter gelangt und welche Rolle dabei die natürliche Bestimmtheit der Geschlechter spielt: Dem hegelschen Idealismus zufolge gibt sich der objektive Geist seine höchste Realisierungsform in der Sphäre der Sittlichkeit, die wiederum im modernen bürgerlichen Rechtsstaat ihre Vollendung erfährt. Die Sittlichkeit wird als »Idee der Freyheit, als das lebendige Gute«692 bestimmt. Damit sich die Sittlichkeit als freie entfalten und darstellen kann, muss die sittliche Substanzialität, die hier als die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse eines Staats verstanden werden kann, in sich einen Unterschied setzen. Nur dadurch erhält die Sittlichkeit eine innere Gliederung, die ihre Lebendigkeit ausmacht. Indem die unterschiede691 692
Vgl. II.2.2.9.2. GPR, § 142.
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nen Seiten notwendig aufeinander bezogen sind, machen sie gemeinsam die sittliche Substanzialität als konkrete Einheit aus. Die sittliche Substanzialität stellt Hegel zufolge ihren begrifflichen Unterschied dar, indem sie dem zunächst bloß natürlichen Geschlechtsunterschied eine intellektuelle und sittliche Bedeutung gibt. Dies ist nach Hegel möglich, weil bereits der natürliche Geschlechtsunterschied als vernünftig, da von der Idee der Natur gesetzt, begriffen werden kann. Nach Hegel erweist sich die natürliche Geschlechterdifferenz, die dem Geist scheinbar vorausgesetzt ist, somit als eine vom Geist selbst gesetzte Differenz. Als intellektuell-sittliche hat die Bestimmtheit der Geschlechter gesellschaftlichen Charakter. Hegel zufolge ist die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, nach der die Familie der Frau, bürgerliche Gesellschaft und Staat dagegen dem Mann zugeordnet sind, somit Resultat der Diremtion der sittlichen Substanz in eben diese Sphären. Die höchste Form der Freiheit ist demnach in einer Gesellschaft gegeben, die gegliedert ist in eine Sphäre der Reproduktion, die nach Hegel nicht zuletzt aufgrund natürlicher Zusammenhänge den Frauen zukommt, sowie eine Sphäre der Produktion und eine der Politik, in denen jeweils Männer tätig sind. Im modernen bürgerlichen Rechtsstaat, der nach diesem Prinzip gegliedert ist, gelangt nicht nur der objektive Geist zu seiner höchsten Entfaltung, sondern ebenso können darin die Geschlechter ihre Bestimmung vollendet realisieren. Der Kampf zwischen Familie und Polis, an dem die griechische Sittlichkeit zugrunde ging, ist also Hegel zufolge in der Moderne gelöst zugunsten einer Unterordnung der Familie unter den Staat, in der die Familie als Privatsphäre dennoch zu ihrem Recht gelangt. Damit kommt es in der Moderne auch nicht mehr systematisch zu Kollisionen der Geschlechter, wie noch in der Antike. Hegels ›Ableitung‹ der intellektuell-sittlichen Bedeutung der Geschlechter beruht wesentlich auf der Behauptung, die gesellschaftlich-empirisch gegebene Arbeitsteilung sei Ausdruck der sittlichen Bestimmtheit der Geschlechter, die wiederum Resultat der Diremtion der sittlichen Substanzialität sei. Damit stellt sich jedoch ein grundlegendes Problem: Um die Zuordnung der Begriffsmomente der sittlichen Substanzialität an die Geschlechter verständlich zu machen, muss Hegel die gesellschaftlich-empirisch gegebene Arbeitsteilung und die damit einhergehenden Zuweisungen an die Geschlechter bereits vorauszusetzen. Hegel geht seinem eigenen Anspruch nach jedoch nicht primär von einer Analyse der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung aus, um diese dadurch auf den Begriff zu bringen; vielmehr besteht seine Methode darin, der Selbstentwicklung des Begriffs, hier des Begriffs des freien Willens, zuzusehen. In der Philosophie des objektiven Geistes geht es ihm darum, zu zeigen, wie sich
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die Idee der Freiheit gegenständlich wird und so realisiert. Hier, wie auch bei der Ableitung der Geschlechter in der Naturphilosophie, greift insofern die Kritik, die Marx ganz allgemein an Hegels Rechtsphilosophie geübt hat: »(…) es handelt sich nicht davon, die empirische Existenz zu ihrer Wahrheit, sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu bringen, und da wird denn die zunächstliegende als ein reales Moment der Idee entwickelt. (Über dieses notwendige Umschlagen von Empirie in Spekulation und von Spekulation in Empirie später mehr). (…). Da es eigentlich (…) nur darum zu tun ist, irgendeiner empirischen Existenz die Bedeutung der verwirklichten Idee beizulegen, so versteht es sich, daß diese Gefäße ihre Bestimmung erfüllt haben, sobald sie zu einer bestimmten Inkorporation eines Lebensmomentes der Idee geworden sind.«693 Bezogen auf das Geschlechterverhältnis heißt das: Es wird nicht von der empirischen Existenz der Gliederung der Gesellschaft in eine von Frauen dominierte Privatsphäre und eine von Männern dominierte öffentliche Sphäre ausgegangen, die es zu ihrer Wahrheit, d. h. auf ihren Begriff zu bringen gilt; vielmehr wird umgekehrt aus dem Begriff des freien Willens entwickelt, dass er, um sich in der objektiven Sphäre als sittliche Substanzialität vollendet zu entfalten, die Momente der Einzelheit und der Allgemeinheit realisieren muss; und so werden diese Momente an das ›Zunächstliegende‹, hier an die Geschlechter, verteilt. Da es sich bei der modernen Sittlichkeit nach Hegel um die vollkommene Verwirklichung der Idee der Freiheit in der äußeren Welt handelt, sind die Geschlechter, sobald sie ihre Bestimmung innerhalb der modernen Sittlichkeit erhalten haben, dieser Bestimmung subsumiert, ohne dass mit Hegel eine Weiterentwicklung des Geschlechterverhältnisses denkbar wäre. Folgerichtig wird das Geschlechterverhältnis weder in den anderen Sphären der Sittlichkeit noch in der Philosophie des absoluten Geistes nochmals thematisch. Die dem hegelschen Idealismus geschuldete Verquickung von Spekulation und Empirie stellt, wie Marx zu Recht kritisiert, ein grundlegendes Problem der hegelschen Philosophie dar. Zwar gelingt es Hegel mit seiner Methode, die Verhältnisse seiner Zeit treffend auf den Begriff zu bringen, denn Hegel hat durchaus den Anspruch in der Realphilosophie das, »was ist« und somit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit zu begreifen.694 Es geht ihm nicht um eine schulmeisterliche ›Deduktion aus dem Begriff‹. He693 694
KHR, S. 241. Vgl. die entsprechende Stelle aus der Vorrede der GPR, S. 15, 23 f.
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gel kann überzeugend verständlich machen, dass der moderne bürgerliche Rechtsstaat einen großen Fortschritt darstellt im Vergleich zu vorstaatlichen bzw. prämodernen Verhältnissen. Auch seine Analyse der Rolle des Geschlechterverhältnisses innerhalb des modernen Rechtsstaats ist, wie noch näher erläutert werden soll, erhellend. Da nach Hegel jedoch mit der modernen Sittlichkeit die Entwicklung der Idee der Freiheit zumindest dem Prinzip nach vollendet ist – dieses Prinzip muss sich lediglich noch weiter entfalten und in die Wirklichkeit einbilden –, ergibt sich das Problem, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit nicht mehr bloß als eine Stufe innerhalb der Entwicklung der Freiheit begriffen werden können. Sie können daher nicht mehr prinzipiell kritisiert oder gar praktisch aufgehoben werden, sondern werden letztlich als solche fixiert und legitimiert.695 Zwar kann man Hegel darin zustimmen, dass es der Philosophie nicht darum gehen kann, in utopistischer Manier einen Staat zu konstruieren, wie er sein soll. Auch Marx hält an Hegels Anspruch fest, dass es zunächst darum gehen muss, das »was ist zu begreifen«696, denn alles andere setzte voraus, die Menschen leichtfertigerweise für frei in ihrem Handeln zu erklären. Das Denken bezöge sich dann nicht auf die wirklichen Voraussetzungen seiner selbst. Nach Marx ist das kapitalistische Produktionsverhältnis als das gesellschaftliche Verhältnis seiner Zeit jedoch Ausdruck zahlreicher Widersprüche, an denen es auch zugrunde gehen wird. Es gilt, diese Widersprüche zu erkennen, um sich auch praktisch von ihnen befreien zu können. Die Widersprüche im Geschlechterverhältnis sind Teil dieser insgesamt widersprüchlichen Verthälnisse. Auch Hegel geht selbstverständlich nicht davon aus, dass sich die Einheit des Staates völlig reibungslos realisieren kann. Im Gegenteil, er zeigt sogar, dass es notwendig zu Konflikten kommt, denen bestimmte Widersprüche der rivalisierenden Sphären zugrunde liegen; Hegel muss diese Widersprüche und Konflikte aber im modernen Rechtsstaat für grundsätzlich versöhnt und vermittelt (oder zumindest für vermittelbar) halten,697 da sich ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit aufgrund seiner philoso-
695
Vgl. II.2.2.9.2. GPR, S. 15, 23. 697 Zur marxschen Kritik an Hegels Theorie der Vermittlung der Extreme vgl. KHR, S. 292 f. Nach Marx handelt es sich bei den widersprüchlichen Bestimmungen des modernen Rechtsstaates um »wirkliche Extreme«, die als solche gar nicht vermittelt oder versöhnt werden können, während Hegel meint, die Stärke des modernen Staates bestehe gerade in seiner Fähigkeit, die Extreme der subjektiven Einzelheit und der objektiven Allgemeinheit miteinander zu vermitteln (vgl. GPR, § 260). Vgl. auch Marx’ Kritik an Hegels Bestimmung des Staates als »äußerliche Notwendigkeit« und als »immanenter Zweck«, mit der nach Marx eine »ungelöste Antinomie« (KHR, S. 204) verknüpft ist. 696
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phischen Voraussetzungen als höchste und höchst mögliche Darstellungsform der Idee der Freiheit in der äußeren Welt präsentieren.
II.2.2.10 Monogamie und Inzestverbot (§§ 167–168) II.2.2.10.1 Hegels Position zur Monogamie- und Polygamiedebatte Es mag nicht überraschen, dass Hegel die Ehe im § 167 als wesentlich monogame Beziehung bestimmt. Schließlich ist das Monogamiegebot, und damit einhergehend das Verbot der (simultanen) Polygamie698, immer schon ein wesentlicher Bestandteil der bürgerlichen Ehetheorie im christlichen Europa gewesen. Der Polygamie (meist als Bigynie) wurde im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in den christlichen Ländern nur in Ausnahmefällen stattgegeben, hauptsächlich, wenn es sich um Fürsten oder aber um Adlige handelte, die eine weitere Ehe eingehen wollten.699 Sie war aber nicht die rechtliche oder kulturelle Norm. Obwohl das Monogamiegebot im christlich-europäischen Kulturkreis also nie ernsthaft infrage gestellt wurde, gab
698
Wenn wir heute von Polygamie sprechen, meinen wir die simultane Polygamie, bei der ein einzelnes Individuum mehrere EhepartnerInnen zugleich haben kann. Im Gegensatz zur Polygamie wird die Monogamie dann als Einpaarehe definiert. In der christlichen Ehetheorie wird die Monogamie dagegen nicht nur von der simultanen Polygamie unterschieden, sondern auch von der sogenannten sukzessiven Bigamie (bigamia successiva), bei der ein Individuum nacheinander mehrere EhepartnerInnen hat (vgl. Mikat 1988, S. 8, Anm. 4). Die sukzessive Bigamie widerspricht der christlichen Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe und ist daher im Christentum nur im Falle des Todes der Gattin oder des Gatten gestattet. Durch die Möglichkeit der Ehescheidung und der Wiederverheiratung im staatlichen Eherecht spielt diese Abgrenzung der Monogamie gegenüber der sukzessiven Bigamie rechtlich keine Rolle mehr. Auch Hegel bezieht sich hier nur auf die simultane Polygamie und beschäftigt sich mit der Frage der (Un-)Auflöslichkeit der Ehe in einem eigenen Paragrafen (vgl. GPR, § 176). Die Frage der Unauflöslichkeit der Ehe wird also außerhalb des religiösen Kontextes, losgelöst von der Frage der Einpaarigkeit diskutiert. Nach Hegel handelt es sich bei der Einpaarigkeit um eine notwendige Bedingung, damit die Ehe ihrem Begriff entspricht. Bei der Unauflöslichkeit handelt es sich dagegen um ein bloßes »Sollen« – sie gehört also nur an sich zum Begriff der Ehe, aber aufgrund der subjektiven Seite der Ehe als Gefühlsgemeinschaft, kann es auch zur Auflösung der Ehe kommen (vgl. dazu II.2.4.2). 699 Beispiel hierfür ist die morganatische Ehe (›Ehe zur linken Hand‹). Wohl der berühmteste und meistdiskutierte Fall einer solchen Verbindung war die morganatische Ehe Philipps von Hessen mit Margarethe von der Saale noch zu Lebzeiten seiner ersten Ehefrau Christine von Sachsen. Diese Doppelehe war von Melanchthon und Luther gebilligt worden, ihre Legitimität war jedoch höchst umstritten – war doch die Bigamie laut Artikel 121 der Carolina unter Todesstrafe gestellt (vgl. dazu Mikat 1988, S. 15ff ).
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
241
es jedoch bereits seit Augustinus und insbesondere bei den neuzeitlichen Naturrechtlern eine Diskussion darum, wie es zu begründen und weshalb die Polygamie abzulehnen sei.700 Da Hegel sich mit seinem Begriff der Monogamie kritisch von früheren Begründungsversuchen abheben möchte, sind die Grundpositionen, die in dieser Debatte eine Rolle spielen, hier in einem kurzen Abriss darzustellen. Die Diskussion um Monogamie und Polygamie hat in der christlichen Ehelehre eine lange Tradition; nicht zuletzt deshalb, weil sich Kirchenväter und -lehrer wie z. B. Augustinus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin gezwungen sahen, zu erklären, wie die aus dem Alten Testament überlieferten polygynen Beziehungen der Erzväter zu legitimieren seien, da doch das Neue Testament eindeutig die Monogamie als göttliches Gebot ausspricht.701 Wie fest das patriarchale Modell der (nicht nur ehelichen) Vorherrschaft des Mannes bei diesen Autoren verankert war, zeigt sich daran, dass unter dem Titel ›Polygamie‹/›Bigamie‹ fast ausschließlich die Polygynie/Bigynie (›Vielweiberei‹) diskutiert wurde. Während also für die Ablehnung der Polygynie aus Sicht der Autoren immerhin Argumentationsaufwand betrieben werden musste, wurde die Polyandrie (›Vielmännerei‹) kaum in Betracht gezogen. Sie wurde meist mit dem einfachen Hinweis darauf abgelehnt, dass sie dem Ehezweck der Fortpflanzung (propagatio prolis) abträglich und somit widernatürlich (contra naturam) sei, während die Polygynie durchaus damit vereinbart werden könne: Eine Frau könne nämlich durch sexuellen Verkehr mit mehreren Männern nicht mehr Kinder gebären als durch Verkehr mit nur einem Mann, während umgekehrt ein Mann durch den Geschlechtsverkehr mit mehreren Frauen auch mehr Nachkommen zeugen könne. Zudem wurde auf die angeblich natürliche Unterlegenheit der Frau verwiesen, wegen der es widernatürlich sei, wenn sie mehrere Ehemänner hätte – entweder, weil sich der überlegene Mann damit der Frau unterwerfe, oder aber, wie z. B. Augustinus argumentiert, weil in der Natur immer Eines über 700
Zur Polygamiediskussion von Augustinus bis zum neuzeitlichen Naturrecht vgl. Buchholz 1987, Mikat 1988 sowie Ebbinghaus 1986, der anhand der historischen Monogamie-/Polygamiedebatte zeigen möchte, dass erst mit der kantischen Ehetheorie eine überzeugende Begründung für das Monogamiegebot geliefert wird. 701 Vgl. Mikat 1988, S. 12. Die Diskussion um die Legitimation der Polygynie der Erzväter wurde jahrhundertelang maßgeblich durch die Argumentation von Augustinus bestimmt. Nach Augustinus ist das Hauptargument zur Entlastung der Erzväter, dass es zu jener Zeit eine moralische Pflicht gewesen sei, möglichst viele Nachkommen zu zeugen. Die Erzväter hätten also nicht um der Befriedigung ihrer Leidenschaften willen, sondern aus Pflicht heraus mehrere Frauen geehelicht, um möglichst viele Kinder zu zeugen – Augustinus zufolge selbstverständlich, ohne von innerer Begierde nach sexueller Lust getrieben gewesen zu sein (vgl. B. coniug., S. 23–26).
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Vieles herrsche, nicht Vieles über eines; Polyandrie wäre demnach also widernatürlich, weil dort Augustinus zufolge mehrere Männer über eine Frau herrschten.702 Neben der patriarchalen Voreingenommenheit gegenüber der Polyandrie dürfte der geringe Argumentationsaufwand gegen sie auch darauf zurückzuführen sein, dass sie weltweit kaum verbreitet war, bzw. den Autoren kaum Länder bekannt gewesen sein dürften, in denen die Polyandrie die Norm war. Da die Polyandrie also letztlich nicht als Bedrohung für das christliche Monogamiegebot erscheinen konnte, galt es in der christlich geprägten Debatte vornehmlich, sich von der Polygynie zu distanzieren, denn diese war (und ist) in fast allen arabischen und afrikanischen Ländern703 eine legale und praktizierte Eheform, die zudem vom Islam als einer konkurrierenden Weltreligion legitimiert wird.704 Obwohl die Kirchenväter und -lehrer für die Polygynie, im Gegensatz zur Polyandrie einräumten, dass sie dem natürlichen Ehezweck, der Zeugung von Nachkommen, nicht entgegenstehe, sondern ihn unter bestimmten Voraussetzungen sogar begünstigen mag, so hielten sie dennoch am Monogamiegebot und an der Unauflöslichkeit der Einehe fest, indem sie auf die zwei weiteren »Ehegüter«705, auf die eheliche Treue (fides), vor allem aber auf den Sakramentscharakter der Ehe (sacramentum) verwiesen. Als biblische Quelle dienten vor allem die Paulus-Briefe, denen zufolge die Unterordnung und Ehrfurcht der Frau gegenüber dem Mann und die Liebe des Mannes zur Frau ein Abbild der Unterordnung und Ehrfurcht der Gemeinde gegenüber Christus und der Liebe Christi zur Gemeinde darstellt.706 In Eph 5, 31 wird Gen 2, 24 zitiert, wonach Ehemann und Ehefrau ›ein Fleisch‹ werden, wie auch Christus und die Gemeinde ein Leib seien. Am Ende diese Abschnitts 702
B. coniug., S. 27. Gelegentlich wurde auch die ›Unsicherheit der Vaterschaft‹, die Probleme für die Erbregelung mit sich bringt, als Grund gegen die ›Vielmännerei‹ angegeben – ein Argument, das jedoch nur überzeugt, wenn man voraussetzt, dass notwendig patrilinear vererbt werden müsse, was die Autoren wie selbstverständlich taten. 703 Eine Ausnahme stellen die heutige Türkei und Tunesien dar, in denen die Polygamie verboten ist. 704 Allerdings gibt es auch unter islamischen Gelehrten eine Diskussion um die Frage, ob Polygamie wirklich mit dem Koran vereinbar ist. Die dafür einschlägigen Stellen im Koran sind Sure 4:3 und 4:129. Letztere wird häufig so gedeutet, dass Mohammed die Polygamie nur in Ausnahmefällen gestattet hat, z. B. während eines Krieges, wenn es einen Männermangel gibt. 705 Augustinus spricht immer von dem ›Ehegut‹ (bonum coniugum), was häufig mit ›Ehezweck‹ übersetzt wird. Die Übersetzung ›Ehezweck‹ ist leicht irreführend, denn sie suggeriert, dass es sich um einen äußerlichen Zweck handelt, um dessentwillen die Ehe geschlossen wird. Der Ausdruck ›bonum‹ soll dagegen darauf hindeuten, dass die Ehe an sich selbst ein Gut, also selbstzweckhaft ist. 706 Vgl. 1 Kor 11, 3; Eph 5, 22–33.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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heißt es: »Dieses Geheimnis (gr.: mysterion) ist groß.«707 Der griechische Begriff mysterion wurde mit dem lateinischen Begriff sacramentum übersetzt. Dass das Sakrament der Ehe sich auf die monogame Ehe bezieht, wurde mit 1 Kor 7, 2 begründet. In der katholischen Lehre folgt aus dem Sakramentscharakter der Ehe, dass sie auch dann ein Gut ist, wenn die Ehepartner sich gemeinsam entschließen, in gegenseitiger Liebe und Treue enthaltsam zu leben. Im ehelichen Geschlechtsverkehr dürfe zwar die Zeugung von Kindern nicht verhindert werden. Die Zeugung von Nachkommen dürfe aber auch nicht gegenüber dem sakramentalen Charakter der Ehe verabsolutiert werden.708 Augustinus bezeichnet den Bruch der monogamen Ehegemeinschaft als »Frevel gegen das göttliche und natürliche Gesetz.«709 Demnach entspricht es also der menschlichen Natur, sich über die bloß natürlichen Bedingungen zu erheben – nach denen die Polygynie durchaus gerechtfertigt erscheinen kann – und sich dem göttlichen Gesetz zu unterwerfen: Und dieses fordert in der Ehe die Monogamie. Auch in der protestantischen Tradition, in der die Ehe nicht als Sakrament gilt, wurde mit Verweis auf dieselben Bibelstellen am Monogamiegebot als göttlichem Gesetz festgehalten.710 Betrachtet man die Polygamiedebatte im neuzeitlichen Naturrecht, so findet man im Wesentlichen dieselben Argumente wieder, die bereits in den Schriften der Kirchenväter und -lehrer zu finden sind. Autoren wie Grotius oder Pufendorf halten an dem Ehezweck der Fortpflanzung und an der natürlichen Überlegenheit des Mannes fest und kommen dadurch ebenfalls zu dem Schluss, dass die Polygynie (im Gegensatz zur Polyandrie) durchaus mit dem Naturrecht vereinbar sei.711 Um dennoch für die Monogamie zu plädieren, verweisen sie auf die Offenbarung des christlichen Glaubens in der Bibel, nach der die Monogamie die sittlichste und von Gott geforderte Eheform darstellt.712 Angesichts des neuen, aufklärerischen Anspruchs auf Ableitung aus der Natur und der Vernunft allein, verliert der Verweis auf die Bibel jedoch zunehmend an Bedeutung und hat nicht mehr die Wirkungskraft, die er für die Kirchenväter und -lehrer hatte. Hegels Ausführungen zur Notwendigkeit der Monogamie in der Ehe in § 167 und § 168 Anm. verstehen sich, folgt man den Nachschriften, nachdrücklich als eine Zurückweisung dieser neuzeitlich-naturrechtlichen Ar707
Eph 5, 32. B. coniug., S. 29. 709 Ebd., S. 41. 710 Vgl. Mikat 1984, Sp. 1818. Zu Luthers Stellungnahme zur Polygamiediskussion vgl. Mikat 1988, S. 22 ff. 711 Vgl. dazu auch Doyé 2012. 712 Vgl. z. B. Grotius [1625] 1950, II.5, § 9, 1. 708
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gumentation, die auch in den juristischen Schriften von Hegels Zeitgenossen häufig zu finden ist.713 Nach Hegel bleibt das neuzeitliche Naturrecht auf dem natürlichen Standpunkt stehen, wenn es versucht, aus natürlichen Voraussetzungen abzuleiten, welche Eheform die naturrechtlich gebotene sei.714 Zwar haben die neuzeitlichen Naturrechtler zu Recht betont, dass es nicht möglich ist, die Monogamie aus der Natur abzuleiten. Sie machen jedoch den Fehler, sie aus diesem Grund als ein bloß positives göttliches oder staatliches Gesetz auszusprechen715 – womit sie keinerlei vernünftige Begründung für das Monogamiegebot geben und es vor allem nicht als Ausdruck der Freiheit begreifen können.716 Diejenigen unter den Naturrechtlern, die empirisch-positivistisch argumentieren und die Polygamie aufgrund äußerer, natürlicher Umstände rechtfertigen wollen,717 wie z. B. damit, dass in einem Staat mehr Frauen als Männer oder umgekehrt vorhanden sein können, sodass es für die Fortpflanzung sowie die Befriedigung des Sexualtriebs sinnvoll erscheinen könne, dass sich mehrere Individuen des einen Geschlechts sich ein Individuum des anderen Geschlechts als Sexualpartner/in teilen, oder damit, dass in besonders heißen Klimazonen Frauen früher zeugungsunfähig würden, weshalb für Männer die Notwendigkeit bestünde, mehrere Frauen zu haben, um viele Kinder zeugen zu können718 usw., weist Hegel zurück.719 So hält Hegel z. B., folgt man der Nachschrift von Wannenmann, gerade die empirische Tatsache, dass Frauen weniger lange zeugungsfähig sind als Männer, für einen Hinweis darauf, dass die Fortpflanzung nicht der einzige und wahre Zweck der Verbindung der Geschlechter in der Ehe sein kann.720 Ebenso kritisiert Hegel die Vorstellung, die Monogamie sei als positives Recht deshalb zu befürworten, weil es aufgrund des Klimas im europäischen Kulturkreis ungefähr dieselbe Anzahl von Frauen und Männern gebe, sodass es für jede/n nur eine/n Partner/in geben könne.721 In solchen 713
Vgl. z. B. Svarez [1746–1798] 1960, S. 320, XII; Hufeland [1790] 1973, S. 145, § 305. Vgl. V 1, S. 100, 623 f. 715 Vgl. Ho, S. 532, 8 f. 716 Vgl. V 1, S. 100, 623 f. 717 Hegel denkt dabei vermutlich auch an seinen Zeitgenossen und Jenaer Kollegen Gottlieb Hufeland, der im § 305 seiner »Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften« von 1790 ausdrücklich sagt, dass »sich von keiner dieser Arten [der Ehe, d. h. der Monogamie oder Polygamie, Anm. EB] ganz allgemeinschädliche Folgen zeigen lassen, vielmehr fast jede unter gewissen Umständen sogar gute Folgen haben« könne (vgl. Hufeland [1790] 1973, S. 145, § 305). 718 Hegel hatte dabei vor allem den Orient und Afrika vor Augen (vgl. Gr, S. 446, 17 f. und Ho, S. 532, 20 f.). 719 Vgl. z. B. V 1, S. 100, 628 f.; Gr, S. 445, 17 f. 720 Vgl. V 1, S. 101, 640 f. 721 Vgl. GPR, § 168 Anm.; so argumentiert bspw. der Jurist Carl Gottlieb Svarez, ein 714
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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empirisch-positivistischen Theorien werden Hegel zufolge äußerliche natürliche Voraussetzungen verabsolutiert und der wahre sittliche Grund für die Ehe, nämlich ihre Vernünftigkeit und Freiheit, verkannt.722 Entgegen dieser Position stützt sich Hegel in seiner Legitimation der Monogamie und seiner Ablehnung der Polygamie ausdrücklich nicht auf die Natur im engeren Sinne als Legitimationsinstanz, sondern führt vielmehr die geistig-sittliche Seite der Liebe als Grund für die Notwendigkeit der Monogamie an.723 Dem hegelschen Denken zufolge kann die Natur alleine für die Sittlichkeit gar keine letzte Begründungsinstanz darstellen, schließlich geht es ja um eine Aneignung und damit verbunden auch um eine Kultivierung der Natur, durch die allein Hegel zufolge Freiheit möglich ist. Selbst wenn also der Sexualtrieb als natürlicher Trieb nicht nur auf ein Individuum gerichtet sein mag und selbst wenn es für die Fortpflanzung zuträglich sein mag, mit mehreren Individuen zu verkehren, so ist doch um der Sittlichkeit und Geistigkeit des (sexuellen) Liebesverhältnisses willen eine Konzentration auf ein Individuum nach Hegel unabdingbar. Hegels eigener Begriff des Naturrechts, wie er ihn z. B. in § 168 Anm. kritisch gegen die neuzeitlichen Naturrechtstheorien wendet, richtet sich also gegen die Vorstellung, dass das Recht selbst natürlich sei oder aus bloß natürlichen Verhältnissen abgeleitet werden könne. Vielmehr bezeichnet Hegel mit »Naturrecht« die Begriffsnatur des Rechts – nach der es nämlich Dasein des freien Willens ist. Hegel zufolge muss die Monogamie also aus dem Begriff der Ehe, nicht aus der Natur im Sinne der bloß natürlich vorgegebenen Verhältnisse, abgeleitet werden. Er setzt daher den neuzeitlichen Naturrechtlern den Begriff der Ehe als geistige selbstbewusste Liebe der Ehepartner entgegen, womit zugleich ein Maßstab für die Bewertung der ehelichen Liebesbeziehung gegeben ist, nach dem die polygame Ehe ihrem Begriff nicht wahrhaft entspricht, auch
Zeitgenosse Hegels, der maßgeblich an der Ausarbeitung des ALR beteiligt war; nach Svarez widerspricht die Polygamie zwar weder dem Naturrecht noch dem göttlichen Recht. Aufgrund der fast gleichen Anzahl von Männern und Frauen in »unserem Klima« sei die Monogamie aber für den europäischen Kulturraum trotzdem der Polygamie vorzuziehen, da es zu sozialen Problemen kommen könne, wenn die Polygamie zugelassen werde. Denn wenn reiche Männer, die es sich finanziell leisten können, mehrere Frauen ehelichten, »so würde es den Mannspersonen aus den niederen Klassen gar bald an Weibern fehlen, und Entvölkerung der niederen Klassen würde davon die Folge sein.« Im Orient herrsche dagegen ein anderes Klima, sodass es ein ungleiches Verhältnis von Frauen und Männern gebe, weshalb dort die Polygamie geboten sei (vgl. Svarez [1746–1798] 1960, S. 320, XII). 722 Vgl. GPR, § 168 Anm.; V 1, S. 101, 623 f.; Gr, S. 445, 17 f. 723 Vgl. GPR, § 168 Anm. und An , S. 140, 7 f. L
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wenn sie empirisch vorkommen mag und als Ehe bezeichnet wird.724 Die Liebe ist nach Hegel durch den »ungeheuerste(n) Widerspruch«725 gekennzeichnet, dass sich die Individuen in ihr wechselseitig einander vollständig und dauerhaft mit ihrer ganzen Persönlichkeit hingeben und sich zugleich in dem oder der anderen wiedergewinnen. Durch diese wechselseitige Hingabe machen die Liebenden eine Person aus. Die Innigkeit des Verhältnisses durch die vollständige Hingabe an die Partnerin oder den Partner ist Hegel zufolge der subjektive, emotionale Ausdruck der Identität der Liebenden. Die Liebe ist damit wesentlich als »Bei-Sich-Sein-im-Anderen« bestimmt und realisiert in der Form des Gefühls eine Form der Anerkennung, weshalb sie zugleich Ausdruck der Freiheit ist.726 Aus diesem Begriff der Liebe folgt nach Hegel notwendig, dass die Ehe nur als monogame Beziehung vollkommen und somit sittlich ist. In der Polygynie oder Polyandrie727 gäbe das Individuum, das mehrere (sexuelle) Liebesbeziehungen pflegt, sich dem anderen Individuum nicht vollständig und dauerhaft als Person hin, womit es dem Individuum, das sich vollständig hingibt, nicht mehr möglich wäre, sich im anderen als ganze Person wiederzugewinnen. Das polygame Individuum brächte sich also nicht als »atome Einzelnheit«728 in die Beziehung ein, sondern gäbe sich nur zum Teil hin: Es »behält noch seine Individualität für Andere«729. Da die vollständige Hingabe somit nicht wechselseitig ist, kann die Liebesbeziehung, die doch die sittliche Ehe auszeichnen soll, bei polygamen Verhältnissen nach Hegel nicht gelingen.730 In polygamen Beziehungen reduzierten sich die Liebesbeziehungen Hegel zufolge auf wenige Aspekte der Persönlichkeit, insbesondere auf die Befriedigung des Sexualtriebs und die Fortpflanzung, statt sich als Anerkennungsbeziehung zu verwirklichen, in der sich die Individuen in ihrer ganzen Individualität, als persönliche Einzelheit erfahren und gegenseitig lieben.731 Sie wären damit Hegel zufolge keine Liebesbeziehungen im eigentlichen Sinne und entsprächen da724
Vgl. Ho, S. 532, 17–25. Gr, S. 420, 25. 726 Vgl. II.2.2.3. 727 Was Hegel nicht diskutiert, ist die Polygynandrie (Gruppenehe), in der mehrere Frauen und Männer in einer Lebensgemeinschaft zusammenleben und die Sexualpartnerinnen und -partner wechseln. Hegels Argumente gegen die Polygamie können jedoch auch ohne Weiteres auf die Gruppenehe übertragen werden. Die Individuen erführen auch dort Hegel zufolge in einer solchen Beziehung nicht das, was die Liebe wesentlich ausmacht: dass es möglich ist, in einem anderen Individuum ganz bei sich zu sein. 728 GPR, § 167. 729 GW 14,2, S. 749; 23. 730 Vgl. An , S. 140, 13 f.; V 1, S. 101, 633 f. L 731 Vgl. Ho, S. 533, 4–534, 5. 725
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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her nicht dem Begriff der Ehe. Da die Anerkennungsbewegung in einer polygamen Beziehung nicht gelingt, wird das Individuum, das sich vollständig hingibt, nicht freigelassen. Es kommt zu einem Ungleichgewicht der Partner, wodurch die polygame Beziehung nicht als Ausdruck der Freiheit begriffen werden kann. Es ist auffällig, dass Hegel den Mangel einer polygamen Beziehung hauptsächlich aus der Perspektive desjenigen Individuums bestimmt, das sich vollständig hingibt, sich aber nicht vollständig zurückgewinnen kann, d. h. aus der Perspektive des monogamen Individuums innerhalb einer polygamen Beziehung. Was er nicht thematisiert ist, welche Auswirkungen die Aufteilung auf mehrere Partnerinnen oder Partner für das Individuum hat, das polygam ist. Aus Hegels Begriff der Liebe müsste eigentlich folgen, dass es dem Individuum, das sich nicht vollständig nur einem Partner/einer Partnerin hingibt, ebenfalls nicht möglich ist, sich in seiner ganzen Individualität wiederzugewinnen, eben gerade weil es einen Teil seiner eigenen Individualität zurückbehält. Es kann sich dann gar nicht in eben dieser Weise auf die Partnerin oder den Partner vollkommen einlassen, sodass auch für das polygame Individuum die diversen ehelichen Partnerschaften gemessen an der monogamen Liebesbeziehung mangelhaft sein müssten. Warum Hegel diesen Punkt vernachlässigen könnte, soll im Folgenden anhand seiner Kritik an der Polygynie erläutert werden. Auch Hegel, wie seine Vorgänger, beschäftigt sich in seinen Vorlesungen bei seiner Begründung der Monogamie vorrangig mit einer Kritik der Polygynie und nur am Rande mit einer Kritik der Polyandrie. In den Notizen zu § 167 lehnt Hegel die Polygynie vor allem deshalb ab, weil sie eine Ungleichheit zwischen Mann und Frau hervorbringt, die die Frauen in eine demütigende und unwürdige Lage bringt – die Frauen werden darin zum bloßen Sexualobjekt des Mannes, statt von ihm in ihrer ganzen Persönlichkeit anerkannt zu werden. Sie sind quasi Sklavinnen,732 abhängig von der Gunstbezeugung des Ehemanns und werden – wenn sie nicht gerade zur »Hauptfrau« auserkoren sind – zu bloßen »Dienerinnen (…) zum physischen Bedürfniß des Manns«, weshalb die Polygynie als ein »patriarchalisches Verhältniß«733 bezeichnet werden könne. Sie bringt die Frauen in eine Konkurrenz untereinander, denn jede kann sich nur »auf Kosten einer Andern«734 Geltung verschaffen. Eine Frau kann sich in der Polygynie daher nicht darauf verlassen, dass »sie für sich gilt (…), sondern es bleibt die besondre Neigung, der Ein732 733 734
Vgl. ebd.; Gr, S. 446, 17 f.; Hr, S. 301, 22. Ho, S. 534, 2 f. Ebd., S. 533, 10 f.
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fall des Mannes, ob er die eine Frau, oder die andere will gelten lassen«735; eine nach Hegel wesentliche Bestimmung der Ehe, dass nämlich die zufälligen Neigungen und die Willkür der Einzelnen in der Ehe der sittlichen Einheit untergeordnet werden, gilt also in der Polygynie für den Mann nicht. Mit der demütigenden Rolle der Frau geht dann auch die problematische Rolle der Kinder einher, was nach Hegel besonders für Kinder gilt, die im Harem eines Fürsten geboren werden. Die Frauen müssen dort nicht nur um ihre eigene Anerkennung und Geltung bangen, sondern auch um das Schicksal ihrer Kinder, die eventuell keine angemessene Anerkennung und Förderung seitens ihres Vaters erfahren.736 Die Ungleichheit der Ehepartner lehnt Hegel entschieden ab, er verlangt »Gleichheit, Dieselbigkeit der Rechte und der Pflichten« und betont: Der »Mann soll nicht mehr gelten als die Frau.« Er solle die Frau vielmehr »als sich gleich achten und setzen.«737. Indem die Frau in der Polygynie nicht zu ihrem Recht kommt, als Persönlichkeit anerkannt zu werden, bleibt die Polygynie auf dem »natürlichen Standpunkt stehen«738 – sie bleibt also, anders formuliert, im Wesentlichen eine bloß durch Sexualtrieb und Fortpflanzung bestimmte Beziehung, statt eine sittliche Anerkennungsbeziehung zu sein: »(N)ach der bloß natürlichen Seite hin würde dieß keinen Unterschied machen, aber da die Ehe wahrhaft geistig, sittlich ist, so kommt es hier auf die geistige Einigkeit an und nach der geistigen Seite sind beide einander gleich, als ein Geist, als unmittelbar ausschliessende Einzelnheit, diese verhält sich, so daß das Eine sein ganzes Selbstbewußtsein im Andern hat, und diese Einigkeit des Andern mit seinem Selbstbewußtsein anschaut.«739 Wenn Hegel die Polygynie vor allem aus der Perspektive der monogamen Frauen kritisiert und den Mangel dieser Beziehung nicht auch für den polygynen Mann aufweist, so setzt er voraus, dass den Frauen außerhalb der Ehe keine Möglichkeit der Anerkennung als Person gegeben ist, weil sie nicht in der bürgerlichen Gesellschaft tätig sein können. Wenn ihnen also innerhalb der Ehe diese Anerkennung verwehrt bleibt, hat das für sie sehr weitreichende Konsequenzen – sie finden dann keinerlei Anerkennung ihrer persönlichen Einzelheit und Individualität und können sich daher letztlich gar
735 736 737 738 739
Ebd. Vgl. Ebd. GW 14,2, S. 749, 19. V 1, S. 101, 639 f. Gr, S. 446, 7–13.
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nicht als freie, geistige Wesen begreifen.740 Sie bleiben also der natürlichen Gattung bloß unterworfen. Die Anerkennung als Ehefrau in der Monogamie stellt sich Hegel zufolge nach außen hin so dar, dass die Frau ihren eigenen Tätigkeitsbereich hat, der auch als ihr Bereich anerkannt werden muss: Ihr Stand ist »Hausfrau« – im Sinne einer Vorsteherin des Hauses, einer Hausherrin.741 Als Hausfrau bekommt sie auch eine Form von sozialer Anerkennung. Freilich beruht diese Form der Anerkennung in Wahrheit auf ihrem Ausschluss aus der Öffentlichkeit, aus der bürgerlichen Gesellschaft, was Hegel nicht thematisiert, da er voraussetzt, dass dieser Ausschluss auf den spezifischen Geschlechtscharakter der Frau zurückzuführen ist.742 Hegels emphatischer Verweis auf die Anerkennung der Frau als Hausfrau wirkt insofern aus heutiger Sicht reaktionär und erinnert an gängige antiemanzipatorische Positionen. Die Polygamiedebatte rückt diesen Begriff jedoch historisch zugleich in ein etwas anderes Licht, denn Hegel ist zuzustimmen, dass die Anerkennung als Hausfrau der Frau in der Monogamie tatsächlich eine Form der sozialen und individuellen Anerkennung ermöglicht, während ihr diese in der Polygynie in der Regel vollständig verwehrt ist, wenn sie nicht die Hauptfrau und damit die Hausherrin ist.743 Hegel behandelt den Stand der Frau als Hausfrau jedoch nicht bloß als eine Entwicklungsstufe von der »Sklavin« in der Polygamie über die »Hausfrau« in der bürgerlich-monogamen Ehe hin zur Emanzipation der Frau und zu ihrem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, sondern meint, dass es sich bei dem Stand der Hausfrau um die allgemeine, bleibende sittliche Bestimmung der Frau handelt. Er ist daher auch regelrecht schockiert, dass in Platons Politeia »die Weiber nicht mehr dem Hause vorstehen«, sondern »die Weise des Mannes als des allgemeinen Individuums im Staate«744 annehmen, statt in der Privatsphäre zu
740
Vgl. dazu GW 14,2, S. 745, 3 f., wonach der Mann im Gegensatz zum »Mädchen« noch ein anderes »Feld seiner sittlichen Wirksamkeit« hat. Vgl. auch S. Gr, 437, 12 f. 741 Vgl. GW 14,2, S. 749, 1; Ho, S. 529, 30 f. und S. 534, 10 f. Nach Brauer spricht Hegel der bürgerlichen Frau im Gegensatz zur Frau in der antiken Welt den Status der Hausherrin ab, denn er macht in den Grundlinien den Mann zum Familienoberhaupt (vgl. Brauer S. 133, Anm. 58). Der Stand der Frau als Hausfrau ist aber durchaus so zu verstehen, dass wesentlich der Frau die Anerkennung für den familiären Haushalt zukommt. Der Mann vertritt lediglich die Familie als Rechtsperson nach außen (vgl. GPR, § 171). 742 Vgl. II.2.2.9.2. 743 In vielen Ländern, in denen Polygamie erlaubt ist, muss der Mann nachweisen, dass er in der Lage ist, jeder seiner Ehefrauen einen eigenen Haushalt zu finanzieren. Nur dann könne er ihnen ein würdiges Leben bieten. Diese Regelung geht also auch auf den Gedanken zurück, dass der Stand der Frau als Hausfrau anerkannt werden müsse. Allerdings werden die Frauen damit erst recht zu einem Statussymbol der Männer. 744 TWA 19, S. 127.
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bleiben und dort ihrer wesentlichen Bestimmung, dem Familienleben, nachzugehen. Durch Hegels Festschreibung der Frau auf die Rolle der Hausfrau wird seine Argumentation im Ganzen, auch im Verhältnis zur Frauenbewegung seiner Zeit, letztlich trotzdem antiemanzipatorisch.745 Es hat sich gezeigt, dass die Ehefrau nach Hegel wesentlich auf die Anerkennung durch den Ehemann angewiesen ist – da Hegel wie selbstverständlich Verhältnisse voraussetzt, in denen die Ehefrau aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Der Ehemann dagegen bekommt Hegel zufolge Anerkennung als Person auch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates. Selbst wenn er sich als Mann mehrerer Ehefrauen nicht in derselben Weise als Individuum wiedergewinnen kann wie innerhalb einer monogamen Beziehung, so bedarf er doch nicht wesentlich der Liebesbeziehung, um sich Anerkennung zu verschaffen. Zudem bekommt der Mann in der polygynen Beziehung durchaus eine gewisse Form der Anerkennung, in einer Form nämlich, die der Anerkennung des Herrn durch den Knecht, wie Hegel sie im Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft auf den Begriff gebracht hat, ähnelt. Er ist in der Polygynie der »geehrte, gefeierte«746, um dessen Gunstbezeugungen sich die Frauen bemühen. Er gilt also als Besonderer neben den Frauen, die gar nicht als Besondere vorkommen und die Hegel in diesem Verhältnis auch als Sklavinnen bezeichnet.747 Die Parallele zum Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis besteht darin, dass es in der Polygynie durch das Ungleichgewicht zwischen dem Ehemann und den Ehefrauen zu einer bloß einseitigen Anerkennung des Mannes durch die Frauen kommt, so wie der Herr einseitig vom Knecht anerkannt wird. Dadurch verteilen sich zwei Seiten, die mit dem Begriff des Selbstbewusstseins verknüpft sind, auf den Herrn wie hier auf den Ehemann einerseits und auf den Knecht wie hier auf die Ehefrau andererseits: Der Ehemann repräsentiert die Seite der Einzelheit, die aufgrund der Trennung von der Allgemeinheit als Besonderheit erscheint. Darin ist er dem Herrn vergleichbar, der als reines Fürsichsein auftritt und seine allgemeine Lebendigkeit negiert. Die Ehefrau, die in der Polygynie nicht in ihrer Einzelheit anerkannt, sondern auf ihre Rolle als Sexualobjekt reduziert wird, repräsentiert dagegen die Seite der bloßen Allgemeinheit und damit der bloßen Unterordnung unter die Gattungshaftig745
Susanne Brauer weist zu Recht auf die reaktionäre Seite der hegelschen Argumentation hin (vgl. Brauer 2007, S. 120–123). Indem sie die Äußerung Hegels zum Stand der Frau als Hausfrau aber nicht in den Zusammenhang mit der Kritik an der Rolle der Frau in der Polygamie stellt, entgeht ihr die relativ gesehen fortschrittliche Seite dieser Argumentation. 746 Vgl. Ho, S. 533, 26. 747 Vgl. ebd., S. 533, 4 f. und S. 535, 1–12.
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keit – dies entspricht der Unterordnung des Knechtes unter das allgemeine Leben. Zwar ist ein einseitiges Anerkennungsverhältnis – wie Hegel am Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft deutlich zeigt – letztlich keine wahrhaft gelungene Realisierung der Anerkennung, aber sie kann doch eine Seite des Bedürfnisses nach Anerkennung befriedigen, hier nämlich die Seite der Anerkennung als besonderes Individuum in seiner Subjektivität durch andere. Der polygame Mann kann sich also durchaus als anerkannt wähnen, auch wenn das nicht die ganze Wahrheit des Verhältnisses ist. Was in Wahrheit fehlt, ist die Anerkennung seiner als Moment der Gattung und damit zugleich die objektive Seite seiner Individualität.748 Dies wäre nur dann gewährleistet, wenn er als Einzelner sich als Moment der Einheit der Liebenden unterordnete und seine Gattin als Individuum anerkennte. Nur dann würde er sie als Einzelne und Allgemeine anerkennen und damit zugleich als Einzelner und als Allgemeiner anerkannt sein. Damit käme dann auch seine Besonderheit zum Tragen, aber nicht mehr als verabsolutiertes Moment, das sich gerade gegen die Allgemeinheit behaupten möchte. Vielmehr wäre ihm dann objektiv, dass er als Individuum Gattungswesen ist. Eine solche Unterordnung und damit Realisierung der Anerkennung auf der Ebene der Liebesbeziehung ist nach Hegel nur in der Monogamie möglich, denn nur dort geben beide Partner ihre Besonderheit vollständig auf. Nur dort wird ihnen daher die allgemeine Seite ihrer Individualität gegenständlich. Die Durchsetzung der Monogamie und ihre Bedeutung v. a. für die Geltung der Frau als freies geistiges Wesen begriffen zu haben, schreibt Hegel nach der Nachschrift von Griesheim dem Christentum zu: »Die Frauen kommen nur in der Monogamie zu ihrem eigentlichen Rechte. Die Monogamie gehört dem Christenthume an, weil in ihm das Prinzip enthalten ist, daß das Individuum ganz unabhängig vom Unterschied der Geschlechter, vom natürlichen Unterschiede, dem des besonderen Charakters gilt, über beiden der Geist steht. Die Frau ist so gut Geist wie der Mann. Es ist hier der Geist des Subjekts als Zweck Gottes ausgesprochen, die Menschen sollen zur ewigen Seeligkeit gelangen. Damit ist gesagt, daß die Seele, die geistige Individualität an und für sich einen unendlichen Werth habe und nach diesem gleichen Wert ist es nun daß die Frau in die Monogamie eintritt.«749 748
Vgl. GW 14,2, S. 751, 10 f. Gr, S. 447, 8–18. Nach Hegel ist die Frau nicht nur »im Morgenlande und in Afrika wo Vielweiberei herrscht (…) mehr oder weniger Sklavin«, sondern dies war auch »im vorchristlichen Alterthum fast überall der Fall« (Gr, S. 446, 17 f.). Die Monogamie im vorchristlichen Rom entsprach z. B. noch nicht der christlichen Monogamie, weil die Frau 749
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Die fortschrittliche Seite des Christentums liegt nach Hegel also wesentlich darin, dass nach christlicher Lehre ein jedes Individuum in seiner Individualität durch Gott anerkannt ist und Geltung hat, unangesehen jeglicher Besonderheit – ein Gedanke, den er auch in der Religionsphilosophie häufig starkmacht; so gilt auch die Seele der Frau in ihrer Individualität, unangesehen ihres besonderen Geschlechtscharakters. Frau und Mann werden damit Hegel zufolge im Christentum gleichermaßen als geistige Wesen anerkannt. Beide wissen sich zudem in gleicher Weise als dem Geiste Gottes untergeordnet. Hegel greift diesen Gedanken auf, weil er die eheliche Liebe in diesem Sinne begriffen wissen will, wenn auch an die Stelle Gottes sein Geistbegriff, genauer hier die Liebe als sich empfindende Einheit des Geistes tritt: Nach Hegel anerkennen sich Mann und Frau in der ehelichen Liebe in ihrer Individualität als geistige Wesen und anerkennen durch ihre Hingabe an den oder die andere zugleich, dass die eheliche Liebe über ihnen steht und sie ihr untergeordnet sind. Mit diesem Begriff der Liebe, nach dem die Ehepartner eine Person ausmachen, knüpft Hegel an die christliche Formel des »zwei in einem Fleische«750 an, was besonders in seiner Begründung der Monogamie deutlich wird. Was Hegel hier jedoch neben der – relativ gesehen – fortschrittlichen Seite des Christentums stillschweigend übergeht, ist die gleichzeitig im Christentum zumindest noch zu Zeiten Hegels gepredigte Misogynie, die Hegel an dieser Stelle und in dieser Form selbst nicht übernimmt.751 Die für die christliche Misogynie einschlägigen Bibelstellen sind Gen 2, 18–24 und Gen 3, 1–24. Die Interpretation von Gen 2, 18–24, wonach Eva aus der Rippe Adams geschaffen ist, enthält genau die zwei widersprüchlichen Seiten der christlichen Interpretation der Natur der Frau: Einerseits soll damit der christlichen Lehre zufolge zum Ausdruck kommen, dass Mann und Frau aus einer Einheit hervorgehen und dass auch die Frau ein geistiges Wesen ist. Andererseits wird in den christlichen Interpretationen damit immer die Abwertung der Frau verbunden, ihre Unterordnung unter den Mann, denn sie geht diesem Bild zufolge eben erst aus ihm hervor.752 Auch die Interpretation von Gen 3, 1–24 ist für die Rolle der Frau im Christentum von erheblicher Bedeutung: Indem nach christlichem Glauben Eva für den Sündenfall nach römischem Recht noch nicht als gleichberechtigtes Individuum galt (vgl. GPR, § 180 Anm.; TWA 12, S. 348 f.) 750 Gen 2, 24 und Eph 5, 31. 751 Das soll nicht heißen, dass nicht auch Hegels Auffassung misogyne Elemente hat, aber diese unterscheiden sich durchaus von der genuin christlichen Lehre. Zu Hegels Misogynie vgl. seine Bestimmung der ›Geschlechtscharaktere‹ in II.2.2.9.2. 752 So z. B. bei Thomas v. Aquin (vgl. Doyé/Heinz/Kuster 2002, S. 117).
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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verantwortlich ist, versinnbildlicht sie die Sündhaftigkeit der Frau, die ursprünglicher und stärker ist als die Sündhaftigkeit des Mannes und diesen überhaupt erst zur Sünde verführt.753 Die Paulusbriefe enthalten ebenfalls diesen Widerspruch:754 Einerseits soll die Frau durch den Mann geliebt und als Person anerkannt werden; Mann und Frau sollen beide in gleicher Weise treu sein755 und gegeneinander ihre Pflichten erfüllen; andererseits soll die Frau den Mann als ihr Haupt anerkennen, ihm Ehrfurcht entgegenbringen
753
Interessanterweise thematisiert Hegel in seiner Interpretation des Sündenfalls in den Vorlesungen über die Religion (vgl. z. B. TWA 16, S. 265 ff.; TWA 17, S. 74ff und 257 ff.) überhaupt nicht, dass es laut Bibel Eva, die Frau, ist, die den Mann zur Sünde verleitet. Das liegt jedoch nicht an Hegels fortschrittlichem Frauenbild, sondern an der anderen Konnotation, die der Sündenfall in Hegels Interpretation bekommt. Nach Hegel ist der Sündenfall ein Bild dafür, dass der Mensch nur durch das Heraustreten aus der unmittelbaren Bestimmtheit durch die Natur wahrhaft Mensch werden kann: »In der ganzen Geschichte des Sündenfalls sind diese großen Züge vorhanden, in scheinbarer Inkonsequenz, wegen der bildlichen Vorstellung des Ganzen. Der Austritt aus der Natürlichkeit, die Notwendigkeit des Eintretens des Bewußtseins über das Gute und Böse, ist das Hohe, was Gott hier selbst ausspricht. (…) (D)as Böse ist das Stehenbleiben in dieser Natürlichkeit, der Mensch muss heraustreten mit Freiheit, mit seinem Willen. Das Weitere ist dann, daß der Geist wiederum zur absoluten Einheit in sich selbst, zur Versöhnung gelangt, und die Freiheit eben ist es, die diese Umkehrung des Geistes in sich selbst, diese Versöhnung mit sich enthält; aber diese Umkehrung ist hier noch nicht geschehen, der Unterschied noch nicht in Gott aufgenommen, d. h. noch nicht versöhnt. Die Abstraktion des Bösen ist noch nicht verschwunden.« (TWA 17, S. 78). Der Sündenfall wird in Hegels Interpretation also ein Bild dafür, dass der Mensch durch Erkenntnis, die notwendig mit einem Bruch mit der unmittelbaren Natürlichkeit einhergeht, zur Freiheit befähigt ist; die Freiheit entspricht seiner eigenen Natur und versöhnt ihn mit sich selbst (vgl. auch Ho, S. 438–447). Wiese Hegel in dieser Interpretation des Sündenfalls darauf hin, dass es in der biblischen Erzählung Eva, die Frau, ist, die zuerst zur Frucht vom Baume der Erkenntnis greift, so wäre damit die Frau maßgeblich für die Entwicklung des Menschen hin zu Erkenntnis und Freiheit verantwortlich. Hegel entzieht sich dieser Konsequenz, indem er die Rolle Evas in diesem Bild verschweigt und betont, es sei »Adam oder der Mensch überhaupt, der in dieser Geschichte erscheint« (TWA 17, S. 76). Hegel bedient sich hier der Doppeldeutigkeit des Namens »Adam«, der wörtlich übersetzt sowohl »Mann« also auch »Mensch« bedeuten kann. Die Entwicklung »des Menschen überhaupt«, die mit dem Sündenfall beginnt, wird dadurch im Wesentlichen zu einer Entwicklungsgeschichte des Mannes. Zu den Wandlungen in der Interpretation der Erzählung des Sündenfalls vgl. Flasch 2005. 754 Vgl. 1 Kor 7; 1 Kor 11; Eph 5, 21–33. 755 Folgerichtig forderte das kanonische Recht vom Mann in demselben Maße eheliche Treue ein wie von der Frau, während in den ›weltlichen‹ Rechtssystemen, auch im Code Civil, der Mann einen wesentlich größeren Spielraum in dieser Hinsicht hatte. So galt im Code Civil z. B., dass außerehelicher Geschlechtsverkehr seitens des Mannes nur dann als Ehebruch zu werten sei, wenn er im eigenen Haus stattfindet (vgl. Art. 230 Code Civil). Die Treuepflicht hatte erhebliche Auswirkungen, z. B. im Scheidungsrecht (vgl. Duncker 2003, S. 677–721).
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
und in der Gemeinde schweigen. Während der Mann Abglanz Gottes ist, ist sie nur Abglanz des Mannes, d. h. Abglanz des Abglanzes.756 Aus dem Sakramentscharakter der Ehe geht zwar deutlich hervor, dass die Frau in der Ehe gelten soll, aber eben zugleich auch, dass sie sich dem Mann unterordnen muss.757 Hegel bestimmt dagegen die eheliche Liebe als ein echtes Anerkennungsverhältnis, womit das Verhältnis der Ehepartner innerhalb der ehelichen Liebe als völlig gleichberechtigt gedacht wird und nicht als ein Verhältnis der Unterordnung der Frau unter den Mann, wie das in den Paulusbriefen der Fall ist. Hegel geht somit mit seinem Begriff von Monogamie über die christliche Bestimmung des Geschlechterverhältnisses in der Ehe hinaus. Darin unterscheidet er sich von Fichte. Fichte hatte die Polygamie ebenfalls angeprangert, weil sie die Frau in eine unwürdige Lage bringe.758 Indem er hinsichtlich der Polygamie auf den Islam verweist, ist davon auszugehen, dass auch er die Monogamie wesentlich dem Christentum zuschreibt. Obwohl Fichte also die Monogamie um der Anerkennung der Frau willen und um der Gleichheit der Ehepartner willen fordert, setzt er dennoch – hierin der traditionellen christlichen Lehre folgend – ein klares Unterordnungsverhältnis innerhalb der Ehe voraus.759 Nach Hegel findet innerhalb der Ehe dagegen keine Unterordnung der Frau statt. Die allgemeine Unterlegenheit der Frau, die auch Hegel wie eine feststehende Wahrheit behandelt, kommt ihm zufolge nicht in der Unterordnung der Frau innerhalb der Ehe zum Ausdruck, sondern erst darin, dass sie aufgrund ihres Geschlechtscharakters nicht in der Lage ist, außerhalb des Familienzusammenhanges zu agieren. Daraus ergibt sich, dass der Mann die Familie nach außen rechtlich vertreten muss, denn nach Hegel entspricht es seinem Geschlechtscharakter, dass er »nach Außen das Mächtige und Bethätigende«760 ist. Wichtig ist, dass sich der Ehemann, wie sich noch zeigen wird, Hegel zufolge nicht als selbständige Rechtsperson außerhalb der Familie betätigt, sondern dabei lediglich 756
Vgl. 1 Kor 11, 7–9. Nach der modernen christlichen Interpretation ist auch die Frau Ebenbild Gottes. Im Corpus Iuris Canonici, das aus Schriften der Kirchenväter zusammengestellt ist und erst 1917 vom Codex Iuris Canonici abgelöst wurde, wird ihr dies jedoch abgesprochen (vgl. Duncker 2003, S. 408). Grund dafür ist, dass es im Hebräischen (wie z. B. im Französischen) für ›Mensch‹ und ›Mann‹ ein identisches Wort gibt. Dadurch kann an den jeweiligen Stellen, an denen von der Ebenbildlichkeit des Menschen die Rede ist, statt ›Mensch‹ auch ›Mann‹ übersetzt werden – wovon die Kirchenväter reichlich Gebrauch machten (vgl. Duncker 2003, S. 1133). 757 Vgl. z. B. Eph 5, 22–24. 758 Vgl. GNR, 1. Anhang, § 8. Zu Fichtes Ehelehre vgl. Heinz 1999; Heinz/Kuster 1998; Bennent 1985, S. 113–129. 759 Vgl. GNR, 1. Anhang, § 7. 760 GPR, § 165
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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die Familie vertritt, deren Status als Rechtsperson er gewissermaßen verkörpert. Nur weil die Familie als eine Person nach außen vertreten werden muss, kommt ihm also überhaupt diese Rolle des Hauptes der Familie zu.761 Hegel meint also, die Gleichberechtigung der Ehepartner innerhalb der ehelichen Liebe festhalten zu können, auch wenn sie nach außen nicht gleichberechtigt sind, da nur der Mann die Familie in der bürgerlichen Gesellschaft vertreten darf. Es gelingt ihm mit dieser Argumentation, zumindest gedanklich zwei Seiten des widersprüchlichen Verhältnisses von Ehemann und Ehefrau in der bürgerlichen Familie auseinanderzuhalten. Während in vielen Ehebegründungsversuchen die Unterordnung der Frau gefordert wird, um dann in bestimmten Zusammenhängen von der Gleichberechtigung der Ehepartner zu sprechen, kann Hegel die Frau innerhalb der beschränkten Sphäre der Ehe tatsächlich als gleichberechtigt denken und ihre Unterlegenheit allein an dem Verhältnis nach außen festmachen. Das Verhältnis nach außen erscheint somit in Hegels Theorie der ehelichen Liebe als ein für das Liebesverhältnis der Ehepartner rein äußerliches Verhältnis, das ihre innerliche und innige Liebe nicht trüben kann. Dass der Ausschluss der Frau aus der bürgerlichen Gesellschaft und die damit verbundene Festschreibung des Geschlechtscharakters der Frau zu einer Abhängigkeit der Frau vom Mann und damit zu mangelnder Gleichberechtigung auch innerhalb der Ehe führen, wodurch es auch zu einem Ungleichgewicht innerhalb der Anerkennungsbeziehung der Ehepartner kommt, muss Hegel bei dieser Argumentation ausblenden.762 Wenn Hegel an der Polygynie vor allem kritisiert, dass dort die Frau weniger gelte als der Mann, so versteht sich quasi von selbst, dass nach Hegel der Mann auch nicht weniger gelten darf als die Frau – denn wo »die Frauen herrschen«, herrsche »Unsittlichkeit«763. Hegel scheint sich jedoch bis auf solche Nebenbemerkungen in den Vorlesungen nicht näher zur Polyandrie geäußert zu haben. Ausführlicher kritisiert er lediglich das mittelalterliche Rittertum bzw. jede Form der »Galanterie«, die er in den Notizen als das andere Extrem zur Frauenverachtung in der Polygynie bestimmt.764 Im Rittertum ordnen nach Hegel die Männer ihr ganzes Tun der Gunstbezeugung einer Frau unter, sie verehren die Frau quasi religiös und erheben sie dadurch unendlich.765 Indem der Zweck des ritterlichen oder galanten Handelns ganz der Willkür der Frau untergeordnet wird, die aufgrund ihres Geschlechts-
761 762 763 764 765
Vgl. ebd., § 171; II.2.3. Vgl. Brauer 2007, S. 202. Hr, S. 301, 22 f. Zum Zusammenhang von Galanterie und Verachtung vgl. auch Bennent 1985. Vgl. GW 14,2, S. 749, 19 f.; Ho, S. 535, 17 f.; Gr, S. 447, 2 f.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
charakters nach Hegel ihren Willen nicht auf das Allgemeine, sondern immer nur auf das Persönliche, Einzelne und Zufällige richten kann, verlieren die Männer gerade die Selbständigkeit ihrer Zwecksetzung, die doch auf das Allgemeine gehen soll und muss.766 Im Rittertum wird somit nach Hegel die Individualität in ihrer Besonderheit und Zufälligkeit verehrt, denn es wird der Idiosynkrasie und den Einfällen der Frau stattgegeben, anstatt die Individualität als allgemeine, objektive zum Zweck zu machen und das an sich Allgemeine als Ziel des Handelns zu bestimmen. Abschließend zeigt sich, dass die Diskussion um Monogamie und Polygamie immer unter der Voraussetzung patriarchaler Verhältnisse diskutiert wurde, die dabei nie infrage gestellt wurden. Hegel kann zwar innerhalb der Debatte überzeugend darlegen, warum die christliche Monogamie insbesondere für die Frauen ein Fortschritt gegenüber der Polygynie darstellt, denn er kann bestimmt angeben, wie ein Liebesverhältnis zweier Personen aussehen muss, damit es ein wirklich gleichberechtigtes Anerkennungsverhältnis ist. Er gibt also einen Maßstab für eine gelungene Liebesbeziehung an. Er kann jedoch nicht erkennen, dass dieser Maßstab in der bürgerlichen Ehe nicht realisiert werden kann, eben weil die Ungleichheit der Geschlechter nach außen sich auch auf das Verhältnis der Geschlechter innerhalb der Ehe auswirken muss. Die Überlegenheit des Mannes und damit einhergehend seine Befähigung, die Familie nach außen zu vertreten, ist für Hegel eine so unhinterfragbare Voraussetzung, dass er nicht erkennen kann, dass ein wirklich gleichberechtigtes Verhältnis der Geschlechter nur möglich ist, wenn gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen werden, in denen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufgehoben ist.
II.2.2.10.2 Das Inzestverbot Auch das Verbot der Ehe unter biologisch Verwandten muss sich nach Hegel aus dem Begriff der ehelichen Liebe ableiten lassen und kann nicht allein aus natürlichen Gegebenheiten, wie z. B. dem erhöhten Gesundheitsrisiko für die Nachkommen aus inzestuösen Verhältnissen767 oder aber dem soge766
Vgl. Ho, S. 535, 22–29; II.2.2.9.2. Aus einem Inzestverhältnis biologisch Verwandter 1. Grades können Nachkommen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen hervorgehen. Kommt es über mehrere Generationen hinweg zu Inzest innerhalb einer Gruppe von biologisch verwandten Menschen, ist die Wahrscheinlichkeit besonders groß, dass bestimmte Erbkrankheiten, die in der Regel rezessiv sind, vermehrt auftreten. Dies wird in der Biologie und Medizin als ›Inzuchtdegeneration‹ bezeichnet (vgl. Dressler/Zink 2003, »Inzucht«, S. 249). 767
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nannten »natürlichen Schamgefühl« gefolgert werden. Wer versucht, natürliche Gründe für das Inzestverbot anzugeben, geht von der Natürlichkeit des Rechts aus, statt es als Dasein des freien Willens zu begreifen und hat deshalb nach Hegel letztlich keinen Begriff der Vernünftigkeit und Freiheit.768 Da die Ehe wesentlich eine geistige Verbindung darstellt, muss in erster Linie begreiflich sein, warum der Inzest einer gelungenen geistigen Verbindung der Geschlechter im Wege steht. Allerdings ist die natürliche Lebendigkeit, die Sexualität und damit die Fortpflanzung, ebenfalls ein Moment der Ehe als unmittelbar sittlichem Verhältnis.769 Auch auf der Ebene der bloß natürlichen Lebendigkeit lässt sich Hegel zufolge zeigen, dass sich der ihr zugrunde liegende Begriff, der Begriff des Lebens, im Inzest nur mangelhaft realisieren kann. Die Vernünftigkeit des Inzestverbots lässt sich deshalb nach Hegel für Menschen, deren Geschlechterverhältnis eine natürliche sowie eine selbstbewusst-geistige Seite hat, in doppelter Weise angeben. Für die Ehe als geistige Einheit, als sittliches Liebesverhältnis, ist es nach Hegel wesentlich, dass die Ehepartner beide ihre Persönlichkeit aufgeben und sich einander frei hingeben. Durch diese Hingabe allein können Partnerin und Partner gemeinsam eine Person ausmachen, eine geistige Einheit darstellen. Damit von einer wirklichen Hingabe und Aufgabe der einzelnen Persönlichkeit gesprochen werden kann, muss aber vorausgesetzt werden, dass die Individuen vor ihrer Hingabe aneinander, tatsächlich selbständige, »unendlich eigene Persönlichkeit[en]«770 sind. Nahe Verwandte, die aus derselben Familie stammen, sind sich jedoch bis in alle Einzelheiten des Alltags so vertraut und bekannt, dass sie gar keine »sich selbst eigenthümliche Persönlichkeit gegen einander haben«771. Nach Hegel machen innerhalb derselben Familie ja alle Mitglieder bereits eine Person mit einer bestimmten ›Familienpersönlichkeit‹ aus – sodass sich die Mitglieder innerhalb der Familie gar nicht wirklich voneinander als Individuen abgrenzen und ihre eigene Persönlichkeit gegen die anderen Mitglieder entwickeln. Die Familie als eine Person ist immer schon ein ›Wir‹, in dessen Einheit sich die Individuen aufgehoben wissen. Aus dem Begriff der Ehe als geistiger Einheit ergibt sich also, dass sie nicht aus Familienmitgliedern, die als Blutsverwandte bereits eine Einheit ausmachen, zusammengesetzt werden kann: »Was (…) schon vereinigt ist, kann nicht noch durch Ehe vereinigt werden.«772 Heiratete man also innerhalb derselben Familie, bliebe man im natürlich-identischen 768 769 770 771 772
Vgl. GPR, § 168 Anm. Vgl. ebd., § 161. Ebd., § 168; vgl. auch GW 14,2, S. 753. Ebd., § 168. Ho, S. 536, 30 f.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Kreise, statt eine Partnerin oder einen Partner »ursprünglich verschiedener Persönlichkeit«773 zu finden, die oder der nach Hegel nur aus einer fremden Familie stammen kann. Da die Ehe nicht bloß eine natürliche Verbindung, sondern eine »sittliche Handlung der Freyheit«774 ist, darf die Verbindung der Ehepartner nicht eine bereits vorhandene natürlich-sittliche Einheit sein, sondern die geistige Einheit muss gerade aus der Differenz der sich hingebenden Ehepartner willentlich hervorgehen. Sie wird also erst durch den freien Willensakt der unterschiedenen Individuen als Einheit aus der Differenz heraus gesetzt775 und darf deshalb nicht schon vor diesem Willensakt als Einheit vorhanden sein. Nur als willentlich gesetzte ist sie Ausdruck der Freiheit, statt Produkt natürlicher Triebe bzw. Ausdruck der Unterordnung unter die Natur zu sein.776 Selbst Individuen, die nicht biologisch miteinander verwandt sind, aber zum Beispiel miteinander in derselben Familie aufgewachsen sind, als seien sie leibliche Geschwister, sollten also Hegel zufolge besser nicht heiraten, weil sie zu viele Gewohnheiten und Vertraulichkeiten bereits teilen.777 Hegel bezeichnet insbesondere das Verhältnis von Ge773
GPR, § 168. Ebd. 775 Vgl. Gr, S. 448, 4 – S. 449, 13. 776 Wenn heute von manchen Seiten gefordert wird, die Strafbarkeit von Inzest solle aufgehoben werden (und damit auch der Inzest als Ehehindernis), da dadurch die sexuelle Selbstbestimmung des Individuums beschränkt werde, so setzt man voraus, dass das Individuum in der Lage ist, innerhalb der Familie ein selbstbestimmtes Verhältnis zur Sexualität zu haben. Hegel hält dem entgegen, dass die Individuen innerhalb des Familienzusammenhangs keine Selbständigkeit erlangen können, was sie auch behindert, darin wahrhaft selbstbestimmt zu agieren. Selbst wenn das Individuum Sexualität innerhalb der Familie als eigenen Wunsch zu haben meint oder als eigenen Wunsch äußert, liegt Hegel zufolge deshalb der Verdacht nahe, dass es sich in Wahrheit um einen triebhaften, naturbestimmten Willen handelt, der somit Ausdruck eines Abhängigkeitsverhältnisses ist, nicht aber Ausdruck wirklicher Selbstbestimmung. Um den eigenen Willen bestimmen zu können, so der Gedanke, muss erst Selbständigkeit dadurch erworben werden, dass die Familie verlassen wird. Wird dann außerhalb der Familie ein/e Partner/in gesucht, steht für Hegel außer Zweifel, dass es sich zumindest der Form nach um einen selbstbestimmten Willensakt handelt – wird eine Ehe eingegangen, so handelt es sich auch dem Inhalt nach um echte Selbstbestimmung. Hegels Argument lässt sich empirisch dadurch belegen, dass es in Fällen von sexuellem Missbrauch innerhalb einer Familie durch die starke psychische (und materielle) Abhängigkeit der Opfer von den Tätern (oder seltener: Täterinnen) durchaus häufig ist, dass sich die Opfer mit der Tat identifizieren oder sich selbst Mittäterschaft zuweisen, gleichzeitig jedoch ihr Opferstatus darin zum Ausdruck kommt, dass sie massive pathologische Symptome aufweisen, wie z. B. Selbstverletzungsverhalten, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen usw. Solange die Opfer nicht von außen Unterstützung bekommen, ist es ihnen oftmals gar nicht möglich, sich auch als Opfer zu begreifen (vgl. Dressler/Zink 2003, »Inzest«, S. 248; ebd., »Missbrauch, sexueller«, S. 334 f.). 777 Vgl. Gr, S. 449, 5–11. Diesen muss jedoch Hegel zufolge nicht ausdrücklich verboten werden, zu heiraten – es ist lediglich davon abzuraten. 774
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schwistern, aber auch das Verhältnis weiter entfernter biologisch Verwandter als ein »nach der natürlichen Seite füreinander geschlechtslos[es]«778 Verhältnis, eben weil sich die Individuen darin bereits in einer natürlich-sittlichen Identität befinden und nicht wirklich Differente füreinander sind. Für das unmittelbar Gewohnte und Vertraute an dem oder der anderen besteht jedoch weder ein sexuelles779 noch ein geistiges Interesse. Ein solches Interesse geht nach Hegel vielmehr daraus hervor, dass man sich gegenseitig erst in allen Einzelheiten kennenlernen und entdecken möchte. Je unbekannter und verschiedener in ihrer Persönlichkeit die Individuen sind, umso mehr Einzelheiten sind es, die es zu verstehen und zu schätzen lernen gilt und umso reicher und tiefer ist die »(g)eistige, empfundene Vereinigung«780, die aus dieser Differenz hervorgeht, wenn die Einheit durch alle Verschiedenheit erfahrbar wird. Die Vertrautheit und Gewohnheit der Ehepartner soll daher innerhalb der Ehe, durch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Differenzen, erst gefunden werden und ist als gemeinsam erworbene somit vermittelt. – Den wahren, geistigen Grund für das Inzestverbot begriffen zu haben, ist nach Hegel eine Errungenschaft des Christentums, dem er auch schon bei der Begründung des Monogamiegebots eine wesentliche Rolle zugesprochen hatte.781 Da nach christlicher Lehre jedes Individuum in der Totalität seiner Individualität durch Gott als geistiges Wesen angenommen ist, sollen auch die Ehepartner sich gegenseitig in ihrer ganzen Individualität als geistige anerkennen. In diesem Gedanken wurzelt nach Hegel das Inzestverbot, denn um sich anerkennen zu können, müssen sie zunächst wirklich füreinander Unterschiedene sein, was eben für Familienmitglieder nicht gilt. Das Christentum hat somit erkannt, dass das Inzestverbot unmittelbar aus dem Gebot der Anerkennung des »Fürsichseins des Subjekts in sich als unendliche Bestimmung«782 folgt. Da sich das Verbot der Ehe unter biologisch Verwandten aus dem Begriff der Liebe als der sich empfindenden Einheit des Geistes ableiten lässt, ist 778
Gr, S. 448, 11 f.; vgl. GW 14,2, S. 753, 12. Dass das Verhältnis von Geschwistern »geschlechtslos« sei, aufgrund der natürlich-sittlichen Identität, in der die Geschwister zueinander stehen, hatte Hegel schon in der Phänomenologie vertreten. Dort war das Geschwisterverhältnis jedoch gerade deshalb als besonders vorbildlich und insbesondere für die Frau als die höchste Möglichkeit der Ahndung dessen, was Anerkennung ist, bezeichnet worden (vgl. PhG, S. 247, 11–248, 10; vgl. III.2.2.4.2.3). 779 Auch in der modernen Sexualforschung wird von ›Gewöhnung als Inzestschranke‹ bzw. von ›Inzesthemmung‹ gesprochen, diese werden jedoch zumeist auf die Internalisierung sexueller Normen zurückgeführt (vgl. Dressler/Zink 2003, »Inzesthemmung«, S. 248). 780 GW 14,2, S. 753, 8; vgl. auch Ho, S. 538, 4 f. 781 Vgl. Gr, S. 448, 28 f. und II.2.2.10.1. 782 Gr, S. 448, 31 f.
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es nach Hegel als vernünftig erwiesen. Es entspringt der Natur des Geistes selbst, dessen »Kraft (…) desto größer« ist, »je größer die Gegensätze sind, aus denen er sich wieder herstellt.«783 Der Geist kann sich als lebendige Einheit nur darstellen, wenn er wirkliche Extreme miteinander vermittelt. Dies gilt nach Hegel ebenso für die Idee des Lebens. In den natürlichen Verhältnissen, z. B. in der Fortpflanzung, kommt der Begriff des Lebens vollendet zu seiner Entfaltung gerade dort, wo aus den Extremen lebendige Einheiten hervorgehen, in denen das Entgegengesetzte vereint ist.784 Für Inzestverhältnisse lässt sich somit schon bei bloß natürlichen Verhältnissen zeigen, dass sie den ihnen zugrunde liegenden Begriff, den Begriff des Lebens, nur mangelhaft realisieren können: Wahrhafte Lebendigkeit ist nur da vorhanden, wo sich wirkliche Extreme miteinander zu einer lebendigen Einheit vermitteln. Je näher verwandt die Begattungspartner sind, desto ähnlicher sind sie sich und desto weniger kann man also von wirklichen Extremen sprechen. Die Vereinigung von Lebewesen gleicher Abstammung hat demnach nicht dieselbe lebendige Kraft wie die Vereinigung von Lebewesen jeweils fremder Abstammungsverhältnisse. Dieser Mangel kommt nach Hegel in der Natur in der empirischen Tatsache, dass »Begattungen unter einer Familie von Thieren schwächlichere Früchte erzeugen«785, zum Ausdruck. Die mangelhafte Realisierung des Begriffs des Lebens bringt ›mangelhafte‹ lebendige Einheiten, kränkliche Nachkommen also, hervor. Das Gesundheitsrisiko für die Nachkommen aus inzestuösen Verhältnissen ist nach Hegel somit nicht Grund dafür, dass man inzestuöse Verhältnisse schon in der tierischen Natur kritisieren (und beim Menschen vermeiden) muss, sondern vielmehr Ausdruck davon, dass sie den Begriff des Lebens nur mangelhaft realisieren können.786 Den Tieren ist dieser Mangel selbstverständlich nicht bewusst. Sie lassen sich von ihren Trieben leiten und gehen daher auch Inzestverhältnisse ein, sofern sie sie nicht instinktiv meiden.787 Die Menschen dagegen können begreifen, dass für Lebewesen allgemein inzestuöse Verhältnisse unvernünftig sind, weil sie den Begriff des Lebens nur mangelhaft 783
Ho, S. 537, 20 f. Vgl. Gr, S. 449, 9 f. 785 Ho, S. 537, 8 f. 786 Angesichts der grausamen Forderung von Eugenik in der Geschichte des 20. Jahrhunderts muss hier darauf hingewiesen werden, dass aus Hegels Kritik an inzestuösen Verhältnissen nicht geschlossen werden darf, dass nach Hegel Kinder aus solchen Verhältnissen bzw. Menschen mit physischen oder geistigen Behinderungen überhaupt keine Menschen seien. 787 Aus biologischen Studien geht hervor, dass bei höheren Säugetieren, insbesondere bei Primaten, eine gewisse Inzestmeidung vorhanden ist (vgl. Dressler/Zink 2003, »Inzest«, S. 248). 784
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realisieren können. Sie können zudem begreifen, dass es für sie als nicht bloß natürlich-lebendige, sondern geistige Wesen noch einen tieferen, geistigen Grund gibt, inzestuöse und sogar quasi-inzestuöse Verhältnisse, wie bei geschwisterähnlichen Verhältnissen, zu meiden. Nicht möglich ist es nach Hegel allerdings, die genaue Grenze zu bestimmen, ab welchem biologischem Verwandtschaftsgrad ein Individuum nicht mehr als potenzielle Ehepartnerin oder potenzieller Ehepartner infrage kommt. Die genaue Festlegung ist somit der Gesetzgebung der einzelnen Staaten überlassen. Hegel geht jedoch davon aus, dass der Gesetzgeber am besten verfährt, wenn er das Eingehen inzestuöser Verhältnisse möglichst erschwert, bspw. auch durch Besteuerung von Inzest-Ehen.788 Geht man wie Hegel prinzipiell von begrifflichen Verhältnissen aus, verkehrt sich also die Begründung für die Ablehnung der Ehe unter biologisch Verwandten im Vergleich zur Begründung aufgrund »natürlicher« Gegebenheiten ins genaue Gegenteil. So ist, wie gezeigt wurde, die sogenannte ›Inzuchtdegeneration‹ nach Hegel nicht Grund dafür, dass Inzest verboten werden muss, sondern Ausdruck davon, dass in inzestuösen Verhältnissen der Begriff des Lebens nur mangelhaft realisiert werden kann. Ebenso verkehrt sich das Argument, das natürliche Schamgefühl könne als Grund für das Inzestverbot in Anschlag gebracht werden, in der hegelschen Argumentation ins Gegenteil. Das Schamgefühl kann nach Hegel nicht als Grund für die Ablehnung der Ehe unter biologisch Verwandten gelten, sondern es muss als Ausdruck davon begriffen werden, dass den Individuen in Form eines Gefühls bewusst ist, dass die Inzest-Ehe dem Begriff der ehelichen Liebe widerspricht. Gegen eine Begründung des Inzestverbots aufgrund des Schamgefühls spricht Hegel zufolge ohnehin schon, dass dieses angeblich allgemeine natürliche Gefühl gar nicht immer schon vorhanden gewesen ist.789 Dass die Vorstellung eines inzestuösen Verhältnisses im aufgeklärten Europa ein unmittelbares Schamgefühl hervorruft,790 muss Hegel zufolge als Ausdruck der vermittelnden historischen Entwicklung, des gewachsenen Bewusstseins der Freiheit verstanden werden. Das Schamgefühl ist nach Hegel also Ausdruck der »zweiten Natur«, in der dem Menschen das, was seinem Begriff entspricht, zur Natur geworden ist, nicht Ausdruck der ›ersten Natur‹, nach der er von bloß natürlichen Trieben bestimmt ist. Nach dem Zusatz zu § 472 aus Hegels Anthropologie entsteht es dadurch, dass »der aus dem Denken stammende, substantielle Inhalt des Rechtlichen, Moralischen, Sittlichen und Reli788 789 790
Vgl. Gr, S. 449, 21 f. Vgl. ebd., S. 448, 18–26. Vgl. Ho, S. 536, 5 f. und S. 538, 18 f.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
giösen in den fühlenden Willen aufgenommen wird.«791 Es ist also der bloß gefühlsmäßige Ausdruck davon, dass Inzest der Liebe als geistigem Verhältnis, und somit der Vernunft als der Natur des Menschen, widerspricht.
II.2.3 Das Vermögen der Familie (§§ 169–172) – Familieneigentum und Erbrecht War die Ehe noch als der unmittelbare Begriff der Familie und somit noch als bloß innerlich bestimmt, so stellt nach Hegel das Vermögen die äußerliche Realität der Familie dar.792 Hegel setzt für das Verständnis des Übergangs vom Begriff der Ehe zur Bestimmung des Familienvermögens das im Abstrakten Recht erläuterte Verhältnis von Person und Eigentum voraus.793 Für die Person im abstrakten Recht war wesentlich, dass sie ihren freien Willen äußerlich, in einer Sache, darstellen kann. Denn nur dadurch, dass der zunächst noch bloß unmittelbare, innerliche freie Wille der abstrakten Rechtsperson sich in einer äußerlichen Sache unmittelbar darstellt, kann er sich gegenständlich werden, was nach Hegel Voraussetzung dafür ist, dass er wirklicher Wille sein kann.794 Während der bloße Besitz einer Sache nach Hegel noch bestimmt ist durch natürliche Bedürfnisse, Triebe oder Willkür – auch Tiere können demnach eine Sache in Besitz nehmen –, zeichnet sich das Eigentum gerade dadurch aus, dass sich das Ich in dem jeweiligen Besitz als freier Wille gegenständlich ist. Eigentum kann somit nach Hegel als das erste Dasein der Freiheit gelten – als das erste Rechtsverhältnis also.795 Da sich im Eigentum ein persönlicher Wille, der Wille eines/einer Einzelnen also, objektiv wird, ist Eigentum nach Hegel wesentlich Privateigentum, wobei in einem vernünftigen Rechtsstaat auch Formen gemeinschaftlichen Eigentums denkbar sind. Hegel lehnt jedoch die Idee einer Gütergemeinschaft aller Menschen gänzlich ab und hält den Wunsch danach für Ausdruck eines mangelnden Begriffs »der Freyheit des Geistes und des Rechts.«796 Denn Hegel zufolge ist die Anerkennung der subjektiven, persönlichen Rechte, und damit auch des Rechts der Individuen auf Privateigentum, ein wesent791
TWA 10, § 472 Z. Vgl. GPR, § 160; § 169. 793 Vgl. ebd., § 41–71; vgl. II.1.3.1. 794 Vgl. GPR., § 45. 795 Vgl. ebd. 796 Ebd., § 46 Anm. Hegel unterscheidet dabei nicht, wie z. B. Marx und Engels, zwischen Privateigentum an Produktionsmitteln und individuellem Eigentum an sogenannten Konsumgütern. 792
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
263
licher Bestandteil eines modernen freiheitlichen Rechtsstaats.797 Der Schutz des Privateigentums durch die Rechtspflege ist somit in einem bürgerlichen Rechtsstaat essenziell.798 Da die Ehepartner durch die Eheschließung eine rechtlich-sittliche Person werden, stellt die neu gegründete Familie eine Person dar, die als Person somit auch Eigentum haben muss, in dem sie ihrer Freiheit äußerliches Dasein geben kann. Die Familie hat jedoch eine »substantielle Persönlichkeit«799, denn sie ist eine Person, die viele einzelne Rechtspersonen in sich aufhebt. Sie übergreift also mehrere Individuen und sogar Generationen – weshalb Hegel sie auch als eine »allgemeine und fortdauernde Person«800 bezeichnet. Sie kann sich als eine solche allgemeine und fortdauernde Person jedoch nur an einem Eigentum darstellen, das ebenso die Lebensdauer einzelner Personen oder Familienmitglieder übergreift, das also bleibend und sicher ist. Einen solchen bleibenden und sicheren Besitz bestimmt Hegel als »Vermögen«801. Indem durch die Ehe eine Familie gegründet wird und die Eltern auf gemeinsame Kinder als Ausdruck ihrer ehelichen Liebe hoffen dürfen,802 entsteht nach Hegel ein regelrechtes »Bedürfniß«803 nach einem solchen dauerhaften Vermögen, da die Ehepartner dann auch Verantwortung für die Versorgung ihrer Kinder übernehmen, solange diese sich noch nicht selbständig versorgen können.804 Da mit der Ehestiftung das Bedürfnis nach Sesshaftigkeit und dauerhafter Befriedigung der familiären sowie sexuellen Bedürfnisse einhergeht, kommt ihr neben dem Ackerbau historisch eine große Bedeutung für Staatsgründungen zu, wie Hegel mehrfach betont.805 Daraus ergibt sich, dass das Verhältnis der Familienmitglieder zum Familienvermögen ein substanziell anderes ist als das Verhältnis der abstrakten Rechtspersonen zu ihrem Eigentum. Während das Eigentum im abstrakten Recht gerade als Ausdruck der Willkür einer einzelnen Rechtsperson dient, die über dieses nach ihren jeweiligen, wechselnden Bedürfnissen verfügt und sich das Eigentum subsumiert, ist es im Familienvermögen vielmehr so, 797
Die Anerkennung der Subjektivität ist nach Hegel eine wesentliche Errungenschaft des Christentums und kennzeichnet gerade den modernen Rechtsstaat im Gegensatz zum antiken griechischen Staat. Daher kritisiert Hegel in diesem Zusammenhang Platons Staatsidee, die Privateigentum nicht zulassen wollte (Vgl. GPR, § 46 Anm.; § 185 Anm.). 798 Vgl. GPR, § 208. 799 Vgl. ebd., § 169. 800 Ebd., § 170. 801 Ebd. 802 Vgl. ebd., § 173. 803 Ebd., § 170. 804 Vgl. ebd., § 174. 805 Vgl. insbesondere GPR, § 203 Anm., auch GPR, § 167 Anm., § 170 Anm., § 350.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
dass sich die einzelnen Mitglieder einer Familie umgekehrt dem Familienvermögen unterordnen und ihre besonderen Bedürfnisse zugunsten des allgemeinen Familienwohls zurückstellen. Das Familienvermögen stellt somit nach Hegel im Gegensatz zum bloßen Eigentum der Rechtsperson selbst etwas Sittliches dar,806 weil es Ausdruck davon ist, dass die Individuen sich als Teil eines allgemeinen Zusammenhangs begreifen, für den sie Sorge tragen und von dem sie ein Glied sind. Das Familienvermögen ist nach Hegel also Ausdruck eines allgemeinen Willens, des Familienwillens, und nicht mehr Ausdruck eines bloß einzelnen, abstrakten Willens. Gleichwohl muss das Familienvermögen von einem einzelnen Mitglied der Familie verwaltet werden – wie sich noch zeigen wird vom Vater. Die Notwendigkeit, einen Verwalter des Familienvermögens festzulegen, ist nach Hegel Folge davon, dass die Familie nach außen gegenüber anderen Personen zum Ausdruck bringen muss, dass sie eine Person ist. Verträten verschiedene Mitglieder die Familie nach außen rechtlich, könnte sich die Einheit der Familie nicht als Einheit darstellen. Die Familie als sogenannte »moralische Person« hat das Problem, dass sie nicht selbst als eine einzelne, raum-zeitliche Person existiert, wodurch sich das Repräsentationsproblem überhaupt erst ergibt.807 Nur der Monarch, der nach Hegel die Persönlichkeit des Staates personifiziert, kann als einzelne konkrete raum-zeitliche Person zugleich die Einheit der Persönlichkeit des Staates und damit aller Personen in ihm sein und diese nicht bloß repräsentieren.808 Der Familienvater ist dagegen immer bloßer Repräsentant und nicht selbst die Persönlichkeit der Familie als Person; er ist somit nur ein Moment der Familieneinheit, die aus der Einheit mit der Ehefrau und mit den aus dieser Beziehung stammenden Kindern hervorgeht. Dass es der Mann ist, dem die Aufgabe zukommt, die Familie »als ihr Haupt«809 nach außen rechtlich zu vertreten, ist nach Hegel schon in seinem natürlichen wie sittlichen Geschlechtscharakter angelegt, der es ihm im Gegensatz zur Frau ermöglicht, sich aktiv auf die Außenwelt zu beziehen.810 Dem Mann kommt somit die Aufgabe zu, durch seine Arbeit außerhalb der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft, das nötige Geld für die Subsistenz der Familie zu erwirtschaften und das Familienvermögen zu verwalten. Er tritt dabei nicht als einzelne Privatperson auf, sondern immer als Familienoberhaupt, als Vertreter der allgemeinen Person der Familie. Das Familienvermögen ist somit auch nicht sein besonderes Eigentum. Er hat daran nicht 806 807 808 809 810
Vgl. GPR, § 170. Vgl. dazu II.1.3.1. Vgl. GPR, § 279 und § 279 Anm. Ebd., § 171. Vgl. ebd., § 166, vgl. auch II.2.2.9.2.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
265
mehr oder minder Anteil als alle anderen Mitglieder der Familie auch.811 Nach Hegel tut er daher gut daran, sich in Vermögensfragen mit seiner Frau zu beraten und mit ihr gemeinsam Beschlüsse zu fassen, auch wenn die Ehefrau nach Hegel die familiären Geschäfte nicht ebenso überschauen kann wie er.812 Indem der Ehemann sich wesentlich als Familienvater und nicht als selbständige Einzelperson begreift, lernt er, den Familienbesitz nicht nur zu seinen eigenen willkürlichen Zwecken und Neigungen zu gebrauchen, sondern ihn zugunsten seiner Familie und seiner potenziellen Erben einzusetzen. Die Liebe zu seiner Familie macht ihm dies zugleich zu einem Bedürfnis. In diesem sorgsamen Umgang des Ehemanns mit dem Familienvermögen, der sich vom Verhältnis der abstrakten Rechtsperson zum Eigentum wesentlich unterscheidet, liegt nach Hegel ein »Hemmen, Brechen der Begierde«813. Durch dieses Hemmen der Begierde befreit sich das Individuum von der unmittelbaren Unterordnung unter bloß natürliche Triebe und unmittelbare, egoistische Neigungen zugunsten eines bewussten Verhältnisses zu seiner eigenen Geistigkeit und Gattungszugehörigkeit. Dass dem Vater als Familienoberhaupt die volle Dispositionsgewalt über das Familieneigentum gegeben ist, kann jedoch zu erheblichen Kollisionen führen, auf die Hegel ebenfalls aufmerksam macht: dann nämlich, wenn er seine Aufgabe nicht zum Wohle der gesamten Familie wahrnimmt, sondern seinen persönlichen zufälligen Neigungen nachgeht. Da unter den Familienmitgliedern einer intakten Familie kein Rechtsverhältnis besteht,814 können die Familienmitglieder ihr Recht an dem gemeinsamen Eigentum innerhalb der Familie in einem solchen Fall nicht rechtlich geltend machen. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, dass das Familienoberhaupt, motiviert durch das natürlich-sittliche Gefühl der Liebe, in sittlicher Gesinnung mit dem gemeinsamen Eigentum verfährt. Während innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft im Falle der mangelnden Verwaltung eines gemeinschaftlichen Eigentums der Verwalter von den Eigentümern ausgewechselt werden kann, gibt es innerhalb des Familienzusammenhangs keine Rechtsgrundlage, die es den Familienmitgliedern ermöglichte, das Familienoberhaupt von seiner Disposition über das Familieneigentum abzuberufen. Hier zeigt sich wieder einmal, auf welch 811
Vgl. GPR, § 171. Vgl. Gr, S. 451. 813 GW 14,2, S. 755, 12, vgl. auch Ho, S. 540, 5 f., Gr, S. 450, 25 f. Diese Notiz Hegels zu § 170 erinnert an eine ähnliche Formulierung im Kapitel Herrschaft und Knechtschaft der Phänomenologie des Geistes, in dem es ebenfalls ein wichtiger Schritt für das (knechtische) Individuum ist, dass es lernt, in der Arbeit seine Begierde zu hemmen (vgl. PhG, S. 115, 3f). 814 Vgl. GPR, § 159, II.2.1.3. 812
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
wackligem Boden die Sittlichkeit der Familie für sich genommen steht, da sie durch ihren unmittelbaren und natürlich-sittlichen Charakter noch stark dem Zufall ausgeliefert ist. Die Verpflichtung des Vaters, das Familienvermögen zugunsten aller Mitglieder zu gebrauchen, ist – mit Hegel gesprochen – ein bloßes »Sollen.« Innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse, die Hegel »patriarchal« nennt, Verhältnisse also, in denen nicht der Staat, sondern die Familie und in ihr das Familienoberhaupt herrscht, sind die Familienmitglieder daher letztlich ihrem Familienoberhaupt ausgeliefert. Die mögliche Kollision zwischen der vollen Dispositionsgewalt des Familienoberhauptes über das Familienvermögen und des Rechtes der Familienmitglieder auf dieses Vermögen kann nur im modernen Rechtsstaat aufgehoben werden,815 in dem die Familie allerdings auch nur noch eine untergeordnete gesellschaftliche Rolle spielt.816 Innerhalb rechtsstaatlicher Verhältnisse wird es Pflicht und Recht der bürgerlichen Gesellschaft, »die, welche durch Verschwendung die Sicherheit ihrer und ihrer Familie Subsistenz vernichten, (…) in Vormundschaft zu nehmen und an ihrer Stelle den Zweck der Gesellschaft und den ihrigen auszuführen.«817 Im Rechtsstaat kommt der bürgerlichen Gesellschaft diese Rolle zu, weil es gerade sie ist, die das (männliche) Individuum aus den Familienbanden reißt, es als selbständige Rechtsperson anerkennt und es zum »Sohn der bürgerlichen Gesellschaft«818 macht. Sie fordert von den Individuen, für sie tätig zu sein, und macht, dass durch das System der Bedürfnisse die Individuen in ihrer Subsistenz abhängig sind von allen anderen Individuen, sodass die Familien sich in der Regel nicht mehr wie traditionell über Landwirtschaft bzw. Grundbesitz selbst versorgen können.819 Die bürgerliche Gesellschaft hat daher nach Hegel die Aufgabe, an die Stelle der natürlichen Familie zu treten, wodurch sie den Charakter der »allgemeinen Familie«820 bekommt. Dadurch kommt ihr auch die Bedeutung zu, die Individuen vor den Zufällen und der Willkür, die mit der natürlich-sittlichen Familie einhergehen, zu bewahren, indem sie z. B. die allgemeine Schulpflicht auch gegen den Willen 815
Vgl. V 1, S. 104, 749 f. Vgl. Ho, S. 700, 6–10. 817 GPR, § 240. 818 Ebd., § 238. 819 Hatte das Vermögen der Familie im Feudalismus noch hauptsächlich den Charakter von Grundbesitz, nimmt es nach Hegel in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Arbeitsteilung im System der Bedürfnisse andere Formen an, die bestimmt sind durch die diversen Bedürfnisse, die in der bürgerlichen Gesellschaft befriedigt werden müssen (vgl. Ho, S. 540, 24 f.; auch GPR, § 199; § 200, § 238–§ 240). Vgl. II.2.5. 820 GPR, § 239. 816
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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der Eltern durchsetzt, Impfpflicht gegen ihren Willen verordnen kann, oder, wie hier, im Notfall in die Dispositionsgewalt des Familienoberhauptes über das Familienvermögen eingreift, um das Recht der übrigen Familienmitglieder an dem Familienvermögen zu sichern.821 Missbraucht der Vater das Familienvermögen zu eigenen Zwecken, ist das eigentliche sittliche Familienband, die familiäre Liebe nämlich, nicht (oder nicht mehr) vorhanden, und ähnlich wie im Falle der Kindesverwahrlosung ist es dann notwendig, die Familie nicht mehr als eine Person zu betrachten, sondern ihre Mitglieder als Rechtspersonen mit einem Rechtsanspruch auf bestimmte Leistungen zu behandeln.822 Um den Folgen einer möglichen Kollision zwischen dem Familienoberhaupt und den übrigen Familienmitgliedern vorzubeugen, kann der Staat in familiären Eigentumsfragen z. B. einen Ehepakt erlauben, der der Ehefrau die Verfügungsgewalt über einen besonderen Teil des Familienvermögens gibt, der ihr im Falle der Scheidung oder des Todes des Ehegatten zur Verfügung steht.823 Diese Möglichkeit räumt auch das ALR ein, ebenso wie die Gewährung eines Rechtsbeistandes der Frau für solche Fälle, auf die Hegel in diesem Zusammenhang ebenfalls zu sprechen kommt.824 Eine weitere Form, den Missbrauch des Familienvermögens durch das Familienoberhaupt zu verhindern, stellt das Erbschaftsrecht dar, das den Vater z. B. verpflichtet, zumindest einen Teil seines Vermögens an seine Kinder zu vererben und ihm somit nicht erlaubt, in seinem Testament völlig willkürlich mit dem Familienvermögen zu verfahren.825 Diese Regelung ist aufgrund der enormen Bedeutung, die ein solches Vermögen vor allem für den Sohn als zukünftiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft hat, notwendig.826 Hegel spielt auf diese Bedeutung bereits im § 170 an: Das (Familien-)Vermögen ist nämlich ein Vermögen im doppelten Sinne des Wortes, einerseits im Sinne des Besitzes an Gütern, andererseits im Sinne einer Fähigkeit zu etwas. Nach § 200 ist es wesentlich das Familienvermögen als Familienbesitz, das den Bourgeois befähigt, überhaupt am Marktgeschehen teilzunehmen. Als Grundkapital ist es für den Bürger eine notwendige Voraussetzung, deren Mangel höchstens – man denke an den American Dream –, durch enorme Geschicklichkeit und eine große Portion Glück wettgemacht werden kann.827 Für den heranwach821 822 823 824 825 826 827
Vgl. Gr, S. 602, 25 ff. und GPR, § 241. Vgl. II.2.1.3; vgl. Ho, S. 542, 17 – S. 543, 35; ALR II.1. § 265 f. Vgl. GPR, § 172 Anm.; vgl. auch V 1, S. 103, 719 f.; Ho, S. 546, 16 f. Vgl. ALR II.I.205–208; Vogel 1997, S. 278 f.; Weber-Will 1997, S. 455. Vgl. GPR, §§ 178–180 mit Anm.; AnL, S. 146, 3 f.; II.2.4.2; ALR II.2. §§ 391–398. Vgl. GPR, §§ 199–208. Vgl. ebd., § 200.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
senden Sohn ist es daher essenziell, dass ihm ein solches Vermögen vermacht wird, weshalb die bürgerliche Gesellschaft durch entsprechende Gesetze dafür sorgen muss, dass ihm sein Recht gewährt wird. Das Prinzip der Willkür beim Testieren ist im Erbrecht eines modernen freiheitlichen Rechtsstaats also zugunsten der Wahrung der Familiensittlichkeit einzugrenzen, d. h., das Recht der Mitglieder der Kleinfamilie auf ihren Anteil am Familienvermögen muss berücksichtigt werden. Durch das gesetzliche Erbrecht kann auch die Gefahr, dass der Erblasser über Drohung mit Enterbung seine rechtmäßigen Erben in Abhängigkeit hält, zumindest eingedämmt werden.828 Hegel kritisiert scharf das römische Erbrecht, das dagegen das Prinzip der Willkür »innerhalb der Familie zum Haupt-Princip der Erbfolge«829 gemacht habe und den pater familias, ausgestattet mit der patria potestas, auch in Erbfragen gegenüber Frau und Kindern völlig willkürlich habe herrschen lassen.830 Das frühe römische Familien- und Eigentumsrecht kritisiert Hegel in einer weiteren Hinsicht: Dort sei nämlich nicht das Prinzip der sittlichen Liebe zur Grundlage des Begriffs der Familie gemacht worden, sondern die Blutsverwandtschaft. Nach Hegel muss die durch die Ehe neu gegründete Familie gegenüber den Stämmen oder Häusern, aus denen die Ehepartner jeweils stammen, Selbständigkeit besitzen.831 Dies deshalb, weil ihre Sittlichkeit gerade darin besteht, dass sich zwei selbständige Rechtspersonen aus verschiedenen Familien auf der Grundlage der rechtlich-sittlichen Liebe bewusst entschließen, gemeinsam eine Person auszumachen. Blieben sie nach diesem Entschluss nach wie vor rechtlich-sittlich von ihren Ursprungsfamilien abhängig, wäre nicht ihr freier Entschluss, sondern das bloß natürliche Band der Blutsverwandtschaft das Bestimmende für sie als Individuen und für ihre Beziehung. Sie könnten damit den für ihre Freiheit notwendigen Schritt, sich von dem bloß natürlichen Band ihrer Familie zu emanzipieren und zu selbständigen Rechtspersonen zu werden, nicht realisieren.832 Dass die neue Familie für das Individuum das Wesentliche ist und nicht der Stamm, die stirps oder gens833 oder überhaupt die Ursprungsfamilie, muss sich nach Hegel auch im familiären Eigentumsrecht widerspiegeln: Das Eigentum eines Individuums muss wesentlich der von ihm neu gegründeten Familie zugerechnet werden, nicht der Ursprungsfamilie, denn im Eigentum stellt sich der persönliche freie Wille dar, der auch in dem Entschluss des In828 829 830 831 832 833
Vgl. ebd., § 179 Anm., § 180 Anm. und Gr, S. 467 f. GPR, § 180 Anm. Vgl. II.2.4.2. Vgl. Hösle 1984, S. 51, Anm. 61. Vgl. GPR, § 172. Vgl. II.2.4.1. Vgl. GPR, § 172; § 180 Anm., S. 336; Ho, S. 544, 19.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
269
dividuums zum Ausdruck kommt, mit einem Individuum des anderen Geschlechts eine Person auszumachen. Dies bedeutet erstens, dass sowohl das Eigentum des Ehemanns als auch das Eigentum der Ehefrau nach Hegel vollständig in das gemeinsame Familienvermögen eingehen müssen, denn nur dadurch kommt ihr gemeinsamer Wille, eine Person auszumachen, auch in der äußerlichen Realität zum Ausdruck. Und es bedeutet zweitens, dass das mitgebrachte Eigentum und das in den Ehejahren erwirtschaftete Vermögen im Falle des Todes eines der Ehepartner oder im Falle der Scheidung nicht an die jeweilige Ursprungsfamilie zurückfallen dürfen, sondern dem verbleibenden Ehepartner und gegebenenfalls den Kindern zugesprochen werden müssen. Hegel begründet seine Kritik an der Tatsache, dass es im frühen römischen Recht außer im Fall der Manus-Ehe, in der die Frau quasi Sklavin des Ehemannes gewesen sei,834 keine allgemeine Gütergemeinschaft der Eheleute gab, und dass das Eigentum der Ehefrau nicht im Familienvermögen aufging, damit, dass die Frau dadurch nicht wesentlich als Mitglied der von ihr neu gegründeten Familie galt, sondern immer noch rechtlich ihrer Ursprungsfamilie zugeordnet wurde. Dies zeige sich darin, dass das von ihr in die Ehe eingebrachte Eigentum im Falle ihres Todes oder ihrer Trennung vom Ehemann an die Ursprungsfamilie zurückfiel, statt ihrem Ehemann und ihren Kindern vermacht zu werden835 und dass sie für das Vermögen ihres Ehemannes oder ihrer Kinder nicht erbberechtigt war. Dadurch wird nach Hegel weder ihr eigener freier Entschluss zur Familiengründung noch der ihres Ehemannes respektiert, sondern dem natürlichen Verhältnis der Blutsverwandtschaft Vorrang gewährt. Die scheinbar emanzipatorische Seite des römischen Rechts, dass der Frau in der manus-freien Ehe ein eigenes Vermögen zugeschrieben werden konnte – sofern der Vater sie aus der väterlichen Gewalt gab und nicht ihr Vormund (tutor) blieb – erweist sich damit in Hegels Darstellung vielmehr als eine anti-emanzipatorische Regelung, die die Frau weiterhin an ihre Sippe bindet, statt ihren Entschluss zur Ehegründung als Akt einer freien, selbständigen Rechtsperson anzuerkennen. Auch das Feudalrecht ist Hegel zufolge durch den Mangel gekennzeichnet, dass die neu gegründete Familie im Vergleich zum weiten Familienzusammenhang kaum Bedeutung hat. Im Vordergrund habe, vor allem bei adligen Familien, der Erhalt einer bestimmten Familiendynastie als generationenübergreifender Zusammenhang von Blutsverwandten gestanden, dem sich die einzelnen neugegründeten Familien unterzuordnen hatten. Dies kommt nach Hegel im feudalen Erbrecht besonders deutlich zum Ausdruck, das ad834 835
Vgl. GPR, § 180 Anm., S. 334. Vgl. GW 14,2, S. 757, 5 f.; GPR, § 180 Anm.; Gr, S. 453, 11 f.; Ho, S. 544, 2 – S. 546, 5.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
ligen Familien ermöglichte, durch Einrichtung von Fideikommissen und fideikommissarischen Substitutionen über Generationen hinweg ein unteilbares und unveräußerliches Stammvermögen, zumeist in Form beträchtlicher Grundstücke, weiterzuvererben. Damit der ›splendor familiae‹, der Glanz der Familie, erhalten werden konnte,836 sollten diese Rechtsinstitutionen gewährleisten, dass das Familienvermögen in der bestehenden Form bewahrt wird und zudem in einer Hand bleibt, statt auf mehrere Individuen und Kleinfamilien verteilt zu werden. Damit wurde zugleich die Parzellierung von Land verhindert. Töchter waren dabei gesetzlich von der Erbfolge ausgeschlossen, und im Fall des Majorats erbte nur der älteste Sohn. Hegel kritisiert das feudale Erbrecht und den damit einhergehenden Begriff von Familie und von Eigentum in mehrfacher Hinsicht: Durch die starke erbrechtliche Bevorzugung der Söhne und im Majorat insbesondere des ältesten Sohnes zuungunsten der jüngeren Söhne und der Töchter kommt es nach Hegel zu einer unstatthaften Ungleichbehandlung der Familienmitglieder, die doch eigentlich alle gleichermaßen Mitglieder der Familie sind und auch gleichermaßen Anrecht auf ihren Anteil am Familienvermögen haben. Da die Familienmitgliedschaft nach Hegel wesentlich darin zum Ausdruck kommt, dass man Anteil am Familienvermögen hat, galten im feudalen Erbrecht Hegel zufolge fälschlicherweise im eigentlichen Sinne nur männliche Mitglieder als Familienmitglieder, da nur sie überhaupt erbberechtigt waren.837 Alle weiblichen Familienmitglieder waren dadurch im Falle des Todes ihres Familienhauptes nicht selten der Armut preisgegeben, sofern sie nicht in Stiften oder Klöstern unterkamen.838 Besonders schändlich ist nach Hegel dadurch die Stellung der Ehefrau: Da sie vom Erbe ihres Mannes ausgeschlossen ist, wird sie zu einer bloßen Dienerin ihres Ehemannes und zu einem Fortpflanzungsmittel degradiert, dessen Nutzen verloren ist, sobald der Mann tot ist. Sie hat nicht den Status und die Würde, die ihr als Ehefrau eigentlich zukommen müsste.839 Die Institution des Fideikommiss’ lässt nach Hegel der willkürlichen Entscheidung des Erblassers, der ein solches Fideikommiss einrichtet, freien Lauf, statt dass man rechtlich von ihm einfordert, seinen Willen dem Zweck der Fürsorge für alle Familienmitglieder, männlich wie weiblich, unterzuordnen – wie es nach Hegel sittlich geboten wäre, da die Familie doch einen Liebeszusammenhang darstellen soll.840 Die Unveräußerlichkeit des Fideikommiss’ widerspricht Hegel zufolge außerdem dem Prinzip der Freiheit des 836 837 838 839 840
Vgl. GPR, § 180 Anm. Vgl. Ho, S. 545, 15 f. Vgl. GW 14,2, S. 771. Vgl. ebd. Vgl. GPR, § 180 Anm.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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(Privat-)Eigentums, dessen Wahrung moderne Rechtsstaaten auszeichnet.841 Der Widerspruch rührt daher, dass der Erbe eines Fideikommiss’ sich in dem fideikommissarischen Vermögen »objectiv und zugleich nicht objectiv«842 ist – denn einerseits ist es nun sein Vermögen, sein Eigentum, d. h. Ausdruck seines freien Willens bzw. des Willens der von ihm gegründeten Familie; andererseits kann er aber nicht wirklich frei darüber verfügen, weil die Willkür des Erblassers bestimmt hat, dass er es nicht veräußern darf – was z. B. für einen Gewerbe- und Handeltreibenden, der sein Vermögen je nach Marktsituation stets in andere Güter oder Produktionsmittel investieren muss, fatal ist.843 Das Fideikommiss ist widersprüchlicherweise völlig von dem Willen des Erben bzw. der erbenden Familie durchdrungen und zugleich ein Undurchdringliches, das noch abstrakt Ausdruck des Willens des Erblassers ist. Beim Fideikommiss bleibt somit der Erblasser, der das Fideikommiss eingerichtet hat, gewissermaßen der abstrakte Eigentümer, obwohl das Erbe dem ganzen Umfang seines Gebrauchs, wenn auch nicht seines Wertes nach, dem Erben zugesprochen wurde.844 Mit seiner Kritik an der feudalen Institution des Fideikommiss’ zeigt Hegel die progressive Seite der freien Verfügung der Individuen über ihr Privateigentum im bürgerlichen Rechtsstaat auf, die nach Hegel auch im Familien- und Erbrecht berücksichtigt werden muss.845
841
Vgl. ebd., § 46 Anm.; § 62 Anm. Ebd., § 62. 843 Vgl. Gr, S. 454, 6 f. 844 Vgl. dazu GPR, § 62. Die Kleinfamilie des Erben ist im Falle des Fideikomiss’ nach Hegel »nicht Herr des Werths«, da sie das »Gut nicht verkaufen kann.« (Ho, S. 242, 9–12). 845 Allerdings ist Hegel in seiner Kritik am Feudalismus nicht konsequent, denn er hält für »die höhere politische Sphäre«, für den Fürsten und für einen Teil des politisch-ständischen Elements in der gesetzgebenden Gewalt (die Gutsbesitzer), an der konservativfeudalen Einrichtung sowohl eines Stammvermögens (Fideikommiss) als auch an dem Recht des männlichen Erstgeborenen auf das vollständige Erbe (Majorat) fest (vgl. GPR, § 180 Anm.; § 306; Gr, S. 454, 6 f.). In seiner »Kritik des hegelschen Staatsrechts« kritisiert Marx sowohl Hegels Ableitung der Erbmonarchie, die er als »magisch« (KHR S. 236) bezeichnet, als auch Hegels Ausführungen zum politisch-ständischen Element. Letztere hält er für inkonsequent und sieht darin eine Akkommodation der Lehre des modernen Rechtsstaats an die halb-feudalen Zustände in Preußen (vgl. KHR, S. 300). Marx macht in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch aufmerksam, dass ausgerechnet der Stand der Gutsbesitzer, der nach Hegel gerade deshalb einen wesentlichen Teil des politischständischen Elements in der gesetzgebenden Gewalt ausmachen soll, weil er »das Familienleben (…) zu seiner Basis« (§ 305) habe, aus politischen Gründen »des Rechts der anderen Bürger, teils über ihr ganzes Eigentum frei zu disponieren, teils nach der Gleichheit der Liebe zu den Kindern an sie übergehend zu wissen, entbehren« (§ 306) müsse. Marx stellt treffend fest: »Hegel hatte § 305 den Stand des Grundbesitzes fähig erklärt, zu der ›politischen Beziehung‹ konstituiert zu werden, weil das ›Familienleben‹ seine ›Basis‹ sei. 842
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Das feudale Familien- und Erbrecht basiert nach Hegel insgesamt auf dem irrigen Gedanken, dass der Erhalt einer bestimmten Familie, eines bestimmten Hauses oder Stammes von besonderer Bedeutung sei. In Wahrheit, so Hegel, komme es jedoch nicht auf den Erhalt bestimmter Familiendynastien an, sondern auf den Erhalt der Familie als solcher,846 denn jede durch eine Ehe neu gegründete Familie habe ein sittliches Recht, in ihrer Existenz geschützt zu werden. Die Existenz von Familien kann nach Hegel am besten dadurch gesichert werden, dass im Erbrecht allen Familienmitgliedern gleichermaßen Anteil am Familienvermögen gewährt wird und dass der Erbe/die Erbin über den eigenen Anteil am Familienvermögen gemäß dem Prinzip der Freiheit des Eigentums frei verfügen kann.847 Durch das moderne Erbrecht ist es allen Individuen – und zwar Männern wie Frauen – gleichermaßen möglich, auf der Grundlage ihres Erbes zu heiraten und die Subsistenz der von ihnen neu gegründeten Familie zu sichern – selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie aus einer wohlhabenden Familie stammen und ihre Eltern überhaupt ein solches Vermögen besitzen, das sie ihnen als Erbe vermachen können. Institutionen wie das Fideikommiss verschwinden nach Hegel also zu Recht nach und nach, da sie der Freiheit des Privateigentums widersprechen und für die Neugründung von Familien hinderlich sind.848 Sie sind Ausdruck der noch »(p)atriarchalische(n) Familie«849, d. h. einer Familie, die noch nicht den modernen Rechtsformen untergeordnet ist, wie die moderne bürgerliche Kleinfamilie, sondern noch stark auf den von der Natur bestimmten Zusammenhängen beruht. Durch das moderne Erbrecht kann sich die Familie nach Hegel als ein Zusammenhang erweisen, der wirklich auf der Empfindung der Liebe beruht, denn in ihm zeigt sich, dass »(d)ie Liebe, das sittliche Moment der Ehe, (…) als Liebe Empfindung für wirkliche, gegenwärtige Individuen, nicht für ein Abstractum [ist, Anm. EB].«850 Er hat aber selbst die ›Liebe‹ für die Basis, für das Prinzip, für den Geist des Familienlebens erklärt. In dem Stand, der das Familienleben zu seiner Basis hat, fehlt also die Basis des Familienlebens, die Liebe als das wirkliche, also wirksame und determinierende Prinzip. Es ist das geistlose Familienleben, die Illusion des Familienlebens.« (KHR, S. 303 f.) 846 Vgl. GPR, § 180 Anm. 847 Vgl. ebd. 848 Vgl. Ho, S. 242, S. 19 ff. und GPR, § 180 Anm. 849 GW 14,2, S. 409, 15. 850 GPR, § 180 Anm. Auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion betont Hegel gegen das abstrakte Prinzip der allgemeinen Menschenliebe, dass »(d)ie Menschen, die man lieben kann und gegen die die Liebe wirklich ist, (…) einige besondere« (TWA 17, S. 283) sind.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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Im römischen oder feudalen Erbrecht wird die Familie als stirps oder gens dagegen »(…) nur ein sich mit den Generationen immer weiter entfernendes und sich ver-unwirklichendes Abstractum«851, denn Sorge getragen wird nicht für die nächsten Familienmitglieder, z. B. für die eigenen Töchter, sondern für den selbstzweckhaften Erhalt des Familienvermögens als abstraktem splendor familiae852 – notfalls auch auf Kosten eines Großteils der engsten Familienmitglieder. Das Familienvermögen wird dabei als Selbstzweck verabsolutiert, obwohl es doch eigentlich nur der äußerlich-reale Ausdruck von etwas anderem ist – von der durch die Ehe neu gegründeten Familie nämlich, die als Liebeszusammenhang den eigentlich sittlichen Grund für das Familienvermögen darstellt. Die Familie kann sich als Liebeszusammenhang nach Hegel nur in der unmittelbaren liebevollen Fürsorge für die nächsten Verwandten, v. a. also für die eigenen Kinder, realisieren, nicht aber für ein Abstraktum möglicher kommender Generationen, die aufgrund der Willkür des Erblassers in erster Linie den Familienglanz erhalten sollen. Wirklich ist die familiäre Liebe nach Hegel also in der Kleinfamilie, nicht in den weitläufigen Verwandtschaftsbeziehungen einer Großfamilie, denn sie muss sich in der Gegenwart beweisen und verwirklichen – an den Individuen also, die unmittelbar miteinander im Kontakt stehen. Hegels Kritik am römischen und feudalen Familien- und Erbrecht, seine Betonung des Vorrangs der neu gegründeten Familie gegenüber der Sippe (stirps/gens), hat historisch gesehen einen höchst emanzipatorischen Kern. Der selbständige Entschluss der Individuen zur Eheschließung, ihr Status als selbständige Rechtspersonen und damit ihre persönliche Selbständigkeit gegenüber ihren Herkunftsfamilien wird durch die Veränderungen im Familien- und Erbrecht erstmals auch formal-rechtlich anerkannt. Dadurch wird die Abhängigkeit der Individuen von ihren Eltern bzw. der weiteren Verwandtschaft deutlich verringert. Während Söhne und Töchter im römischen Recht meist bis zum Tode des pater familias in der unmittelbaren Abhängigkeit von ihrem Vater standen, können sie nun mit Eintritt in das Erwachsenenalter ihre Herkunftsfamilie verlassen und als selbständige Rechtspersonen auftreten, – was für Frauen allerdings hauptsächlich bedeutet, dass sie auf eigenen Entschluss hin heiraten können.853 Die Änderungen im Fami-
851
GPR, § 180, Anm. Zu Hegels Kritik an der Verabsolutierung des ›splendor familiae‹ (»Glanz der Familie«) und der gens/stirps vgl. neben GPR, § 180 Anm. auch Ho, S. 545, 13 f.; Gr, S. 454, 6 f. 853 Vgl. II.2.2.6. 852
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
lien- und Erbrecht ermöglichen es nach Hegel, dass sich eine Familie als das realisieren kann, was sie eigentlich ist oder zumindest sein soll: ein Liebeszusammenhang von Individuen, der auf einem freien Entschluss der Ehepartner beruht, die eine Familie gründen, und der sich gegenüber den eigenen Kindern, die Ausdruck dieser Liebe sind, als Liebeszusammenhang erweist. Solange die Kinder noch unselbständig sind, ist es die Aufgabe der Eltern, sie in Liebe zu umsorgen; zugleich ist es jedoch ein Akt der Liebe der Eltern zu ihren Kindern, sie zur Selbständigkeit zu erziehen und sie zu befähigen, als junge Erwachsene den natürlich-sittlichen Zusammenhang ihrer Herkunftsfamilie als selbständige Rechtspersonen zu verlassen.854 Obwohl es sich bei dieser Bestimmung des Familien- und Erbrechts um einen historischen Fortschritt handelt, darf nicht übersehen werden, dass Hegel die Probleme, die sich durch diese Neuerungen für die Frauen als Ehefrauen ergeben, ignoriert oder aber völlig unterschätzt. Zahlreiche Feministinnen haben zu Recht kritisiert, dass Ehefrauen im Eherecht des 19. Jahrhunderts in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Ehemännern stehen, gerade weil sie im Regelfall über keinerlei oder kaum eigenes Eigentum verfügen können, das sie für eigene Zwecke einsetzen können, da der Mann in der im 19. Jahrhundert propagierten Gütergemeinschaft das gemeinsame Familienvermögen verwaltet.855 Eine Ehefrau ist dadurch vollständig von der Gunst ihres Ehemannes abhängig. Nur in Extremfällen kann sie sich von ihrem Mann trennen und darf dabei auf finanzielle Unterstützung aus dem Familienvermögen hoffen. Während die Änderungen im Familien- und Erbrecht für die Söhne tatsächlich einen ernormen Freiheitszuwachs bedeuteten, tauschten Frauen die Unterordnung unter die väterliche Gewalt lediglich gegen die Unterordnung unter die eheliche Herrschaft ein. Es verwundert daher nicht, dass schon zu Hegels Lebzeiten vor allem in England und Frankreich die Frauenbewegung für das Recht der Frau auf Eigentum innerhalb und außerhalb der Ehe kämpfte, was sich jedoch auch in Europa erst im 20. Jahrhundert realisieren ließ. Die theoretische Konstruktion, der zufolge es letztlich unwesentlich sein soll, wer das Familienvermögen verwaltet, da doch alle an ihm gleichermaßen teilhaben, verkehrt sich angesichts der materiellen Verhältnisse, in denen Verfügungsgewalt über Eigentum Grundvoraussetzung für die Vertretung der persönlichen Interessen und der Entfaltung persönlicher Fähigkeiten ist, in ein Mittel der Unterdrückung von Frauen. Die von Hegel geforderte Gleichheit der Ehepartner nach innen hin wird durch die finanzielle Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann 854 855
Vgl. GPR, § 175. Vgl. Gerhard 1997.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
275
konterkariert – sie wird durch die materiellen Verhältnisse eher zur Ausnahme als zur Regel. Hegels Begriff der Familie, nach dem Ehe und Familie einen Raum darstellen sollen, in dem sich die Menschen nicht als Rechtspersonen zueinander verhalten, sondern in dem das Verhältnis der Individuen zueinander ausschließlich von Liebe geprägt ist, muss innerhalb gesellschaftlicher Rechtsverhältnisse, die die Familie übergreifen, eine bloße Wunschvorstellung bleiben und trifft nur sehr beschränkt die realen Verhältnisse.
II.2.4 Die Erziehung der Kinder und die Auflösung der Familie (§§ 173–181) II.2.4.1 Die Erziehung der Kinder (§§ 173–175) In der traditionellen Lehre von den Ehezwecken galt die Zeugung von Nachkommen (propagatio prolis) als einer der Hauptzwecke der ehelichen Gemeinschaft, auf den sie wesentlich gerichtet ist.856 Hegel kritisiert diese Lehre, denn durch diese Bestimmung kann es so erscheinen, als sei z. B. die Fortpflanzung wesentlich ein bloß natürlicher, den Ehepartnern für sich genommen bloß äußerlicher Zweck, dem sich die Ehepartner unterzuordnen haben. Die Ehe ist jedoch nicht wesentlich auf äußerliche Zwecke gerichtet, sondern ihre wahrhaft sittliche Bedeutung liegt nach Hegel in der selbstzweckhaften gegenseitigen Liebe der Ehepartner, die sich zwar in verschiedenen Bestimmungen darstellt, deren Bestimmungen aber nicht gegenüber den liebenden Ehepartnern als Zwecke verabsolutiert werden dürfen.857 Solange eine Ehe auf Liebe beruht, können nach Hegel somit auch einige dieser Bestimmungen in ihr gänzlich fehlen, ohne dass dadurch das Wesen der Ehe gefährdet wäre.858 Wenn Hegel nun im § 173 der Zeugung gemeinsamer Kinder dennoch eine besondere Bedeutung für die Ehepartner beimisst, so setzt er im Vergleich zur traditionellen Ehelehre einen deutlich anderen Akzent: Die Zeugung von Kindern ist nach Hegel nicht wesentlich ein natürlicher oder gottgewollter Zweck, auf den die Ehe abzielt und dem die Ehepartner dienen sollen, sondern umgekehrt dienen gemeinsame Kinder den Ehepartnern als Vergegenständlichung ihrer Liebe.859 »Die Eltern lieben sich in den Kindern
856
Vgl. Duncker 2003, S. 207 ff., S. 643 f.; II.2.2.8.1; B. coniug., S. 41 f. Vgl. GPR, § 164 Anm.; II.2.2.8. 858 Vgl. GPR, § 164. 859 Vgl. ebd., § 173; Ho, S. 547; Gr, S. 455. Zur Bedeutung des Kindes für die Liebespartner nach Hegels Frühschriften vgl. Baum 1986, S. 41 f. 857
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
noch stärker, als sie sich unmittelbar lieben«860, denn ihre Liebe ist durch sie nicht mehr bloß unmittelbar, sondern gegenständlich vermittelt, objektiv: Sie »lieben im Kinde ihre Liebe.«861 In der kinderlosen Ehe fehlt eine solche Vergegenständlichung: Die Liebeseinheit der Ehepartner hat zwar in der Gesinnung und Empfindung einen substanziellen, geistigen Ausdruck,862 aber sie bleibt als Einheit noch bloß innerlich und existiert äußerlich weiterhin in zwei gesonderten Subjekten, die in ihrer Existenz auch in der Ehe gesondert bleiben. Im Familienvermögen wiederum findet diese Liebeseinheit zwar gegenständlichen Ausdruck in der äußerlichen Realität,863 aber in einer bloß äußerlichen Sache, d. h. nicht als geistige Einheit. Erst im Kind hat die Einheit der liebenden Ehepartner auch als geistige, für sich seiende Einheit ein substanzielles Dasein, denn das Kind stellt als Produkt der Liebe der Eltern diese Einheit als Einheit gegenständlich dar und kann sich zudem selbst auch als Produkt dieser Einheit empfinden und als erwachsene Person sogar in diesem Sinne begreifen. Es liebt infolgedessen ebenso seine Eltern, wie sie es lieben und sich zugleich in ihrer Liebe zu ihm wechselseitig lieben.864 Das gemeinsame Kind ist somit Hegel zufolge die Wirklichkeit der ehelichen Liebe,865 denn es ist nicht nur äußerliches Dasein, sondern zugleich geistiges Wesen – es ist unmittelbares, geistiges Produkt der Liebe seiner Eltern. In ihm sind Begriff und Realität der Liebe, die in der noch kinderlosen Ehe und dem Familienvermögen noch jeweils getrennt sind, in Einklang. Mit der Ehe als dem unmittelbaren, noch innerlichen Begriff der Familie, dem Vermögen als der (noch bloß) äußerlichen Realität der Familie und den gemeinsamen Kindern als der Einheit von Begriff und Realität, von Geistigkeit und äußerlicher Existenz, ist nach Hegel also die Familie als Stufe des unmittelbaren natürlich-sittlichen Geistes vollendet.866 Allerdings deutet schon der Titel des Unterabschnitts C im Abschnitt Die Familie an, dass der Familie in ihrer Vollendung bereits die Auflösung und ihr Übergang in eine weitere Sphäre des Geistes immanent sind. Warum das der Fall ist, wird sich im weiteren Verlauf zeigen. Darin, dass ein gemeinsames Kind als geistiges Wesen den Ehepartnern ihre gegenseitige Liebe vergegenständlicht, besteht nach Hegel, wie oben dargelegt, die geistige Bedeutung der Kinder für die Vollendung der Familie. 860 861 862 863 864 865 866
AnK, § 173. Gr, S. 455, 24 f. Vgl. GPR, § 161, II.2.2.1. Vgl. II.2.3. Vgl. Ho, 548, 3 f. Vgl. Gr, S. 455, 27; AnL, S. 143, 12. Vgl. GPR, § 160.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
277
Da die Familie natürlich-sittlicher Geist ist, stellt sich die geistige Seite der Familie noch im Medium der natürlichen Lebendigkeit dar. Betrachtet man das Verhältnis von Eltern und Kindern rein von der natürlichen Seite, von der natürlichen Generationenfolge her, wird ein weiterer Aspekt deutlich: Alle Eltern sind zugleich im Verhältnis zu ihren Eltern Kinder. Ebenso sind alle Kinder zumindest potenziell Eltern. Jedes Individuum ist daher zugleich gesetzt durch seine Eltern und selbst (potenziell) setzend, wenn es selbst Vater oder Mutter wird, d. h. Kinder zeugt. Die Eltern, die für die Ehe als dem unmittelbaren Begriff der Familie bloß vorausgesetzt wurden, erweisen sich damit selbst als Resultat eines Familienzusammenhanges.867 Der unendliche Progress der Generationenfolge einer Familie ist nach Hegel das Medium, in dem sich »der einfache Geist der Penaten«868, die Familiengesinnung, in der endlichen Natürlichkeit als Gattung darstellt.869 Der Geist ist nach Hegel wesentlich Bewegung, Rückkehr-in-sich. Er erscheint zunächst als bloß gesetztes Resultat der unmittelbar vorhandenen Natur. Im Laufe seiner Bewegung, in der er nach und nach zu sich kommt, erweist sich jedoch, dass er sich selbst seine eigenen Voraussetzungen vorausgesetzt hat. Er ist also sein eigenes Resultat. Er setzt sich selbst sein eigenes Gegenteil voraus und kehrt aus dieser Bewegung der Selbstentäußerung zu sich zurück – er ist also, wie Hegel sagt, absolute Negativität, weil er in der Negation seiner selbst bei sich bleibt.870 Im Geist ist diese Bewegung des Sich-in-sich-Differenzierens und des Zu-sich-Zurückkehrens die Bewegung ein und desselben Subjekts. In der Natur stellt sich die Bewegung des Zu-sich-Zurückkehrens jedoch als Prozess an verschiedenen Seienden dar: »In der natürlichen Seite wird die Rückkehr in sich nur durch den unendlichen Progreß dargestellt. Der Geist kehrt frei in sich zurück, in der Natur tritt diese Rückkehr in unterschiedene Existenzen außereinander. So sind die Eltern nach der einen Seite Eltern, nach der andern Kinder, oder die Eltern sind verschieden von den Kindern. Jedes natürliche Individuum ist gesetzt und ist, an ihm fallen aber diese Bestimmungen außereinander in zwei verschiedene Individuen.«871 Das Medium, in dem sich der Geist in der Familie darstellt – die natürliche Gattung – ist demnach noch mangelhaft. Dennoch ist die Familie mehr 867
Vgl. ebd., § 162. Damit erweist sich zugleich die im abstrakten Recht gemachte Voraussetzung von unmittelbar vorhandenen Personen als abstrakt. 868 GPR, § 173. 869 Vgl. ebd.; II.2.2.2. 870 Vgl. EPW, § 382. 871 Ho, S. 548, 28 – S. 549, 7.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
als der bloß natürliche Gattungszusammenhang für sich genommen. Sie ist Geist, denn sie eignet diesen Zusammenhang in der Form der Gesinnung an. Dies tut sie u. a. dadurch, dass in ihr die Eltern bewusst die Kinder zu selbständigen Personen erziehen, die in die Lage kommen, selbst eine Familie zu gründen. Da die Kinder von den Eltern gezeugt wurden, sind sie unmittelbar Mitglieder der Familie und haben als solche ein Recht darauf, aus dem Familienvermögen, das wesentlich Ausdruck der Familie als Liebesgemeinschaft ist, versorgt zu werden.872 Falls die Eltern ihrer Pflicht nicht nachkommen und sich gegenüber ihren Kindern nicht liebevoll verhalten – sie bspw. verwahrlosen lassen oder sie psychisch wie physisch misshandeln –, muss der Staat bzw. die bürgerliche Gesellschaft das Recht der Kinder gegenüber den Eltern geltend machen. Die Eltern wiederum können von den Kindern nur das einfordern, was sich aus dem Begriff der familiären Liebe und der Familiensorge als Pflicht der Kinder gegenüber den Eltern ergibt – dazu kann z. B. Mithilfe bei der Familienarbeit gehören, wenn diese den Kindern zugleich ermöglicht, dabei ganz grundsätzliche Dinge zu lernen, die für ihre Entwicklung wichtig sind.873 Kinderarbeit, wie sie zu Hegels Zeiten insbesondere in England gang und gäbe war, da dort die Industrialisierung bereits sehr fortgeschritten war, lehnt Hegel jedoch entschieden ab und verweist darauf, dass der Staat die Kinder vor dieser Form der Ausbeutung schützen müsse.874 Die Eltern dürfen die Abhängigkeit der Kinder, die Folge ihrer natürlichen Unselbständigkeit ist, also keineswegs ausnutzen und sie wie Sklaven halten, die sie als ihr dingliches Eigentum betrachten. Hegel kritisiert scharf das römische Recht, nach dem es den Eltern möglich war, ihre Kinder wie Sklaven zu behandeln.875 Die Sklaverei der Kinder in der Familie widerspricht nach Hegel nicht nur fundamental dem Begriff der Liebe, der die sittliche Grundlage des Familienverhältnisses darstellt, sondern sie verletzt auch die an sich bereits vorhandene Freiheit der Kinder. Als an sich geistige Wesen haben die Kinder das Potenzial zur Freiheit. Sie sind nicht bloß Naturwesen, sondern ihr Leib ist das lebendige Dasein ihrer Freiheit und darf daher nicht wie eine
872
Vgl. GPR, § 174; II.2.1.3; II.2.3. Jermann macht darauf aufmerksam, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass Hegel hier Rechte der Kinder formuliert, denn Fichte hatte den Kindern keine Rechte zugesprochen, da sie keine Rechtspersonen sind (vgl. Jermann 1987, S. 157 f.). Hegel argumentiert hier damit, dass die Kinder »an sich Freye« (GPR, § 175) sind und deshalb auch das Recht haben, zu freien, selbständigen Personen an und für sich erzogen zu werden. 873 Vgl. GPR, § 174; Gr, S. 457, 7 f.; Ho, S. 549. 874 Vgl. V 1, S. 107, 849 f. 875 Vgl. GPR, § 175 Anm.; § 180 Anm.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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bloße Sache behandelt werden, die zum Eigentum anderer, wie hier der Eltern, werden kann.876 Aus dem Begriff des Geistes folgt, dass sich die Geistigkeit des Menschen nicht unmittelbar oder auf natürliche Weise realisieren kann, sondern erst entwickelt werden muss.877 Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich nach Hegel das Recht der Kinder auf Erziehung durch ihre Eltern, die sie dazu befähigen soll, ihre Geistigkeit und Freiheit an und für sich zu realisieren. In der Enzyklopädie nennt Hegel die Erziehung der Kinder zu freien, selbständigen Personen ihre zweite, geistige Geburt – in Analogie zur Sitte, die eine zweite, geistige Natur des Menschen ist.878 In der Erziehung kommt somit ebenfalls zum Ausdruck, dass die Familie kein bloß natürlicher Zusammenhang, sondern ein geistiger Zusammenhang ist, in dem nicht nur die Geburt der Individuen als Naturwesen, sondern zugleich ihre Geburt als geistige Wesen vonstattengehen. Die Erziehung ist somit eine wesentliche Aufgabe der Familie.879 In ihr erweist sich die Familie in doppelter Hinsicht als eine für die Individuen wichtige sittliche Institution und als bedeutende Entwicklungsstufe für die Realisierung der Idee des an und für sich freien Willens. Denn erstens ist es die Aufgabe der Familie, das Kind von Geburt an im Geiste der Familiensittlichkeit, in Liebe und Zutrauen, zu erziehen. Als natürlich-sittlicher Geist pflanzt sie das Vernünftige, Sittliche dem Kind in der Form der Empfindung unmittelbar ein – die Metapher des »Einpflanzens«880 unterstreicht den naturwüchsigen und unmittelbaren Charakter, den Hegel der Familiensittlichkeit zuschreibt. In der unmittelbaren, bedingungslosen Liebe seiner Eltern wird dem Kind die »Einigkeit mit den Menschen – zur Natur gemacht.«881 Die wichtige Erfahrung der familiären Liebe in der Kindheit ist die Grundlage dafür, als erwachsener Mensch ein sittliches Leben im Staat führen zu
876
Vgl. ebd., § 175; vgl. auch § 48, § 57 Anm. Vgl. Brauer 2007, S. 151. 878 Vgl. EPW, § 521 und GPR, § 151. 879 Hegels Theorie der Erziehung soll hier nur soweit dargestellt werden wie sie für seine Theorie der Familie und des Geschlechterverhältnisses von Bedeutung ist. Vgl. dazu Nicolin 1955; Reuss 1982; Schuffenhauer/Schuffenhauer 1984; Wood 1998. Nach Lu de Vos liegt in der Erziehung die eigentliche Bedeutung der Familie als Institution vernünftiger Freiheit (vgl. De Vos 2006). Hier wird dagegen argumentiert, dass dies nur ein Aspekt der Familie ist, deren Hauptfunktion vielmehr darin liegt, die Aneignung des natürlichen Gattungsverhältnisses zu ermöglichen, d. h. den Anfang einer Bewegung zu machen, in der die eigene Unselbständigkeit angeeignet und in ein Verhältnis der Selbständigkeit transformiert wird. Die Erziehung der Kinder ist ein Moment dieses Transformationsprozesses. 880 Vgl. Ho, S. 554, 14 f. 881 GW 14,2, S. 761, 7 f. 877
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
können, denn durch sie fasst die Sittlichkeit im Individuum nach der subjektiven Seite, als Empfindung, Wurzeln, sodass es als erwachsener Mensch diese auch nach der objektiven Seite, im Staat, erfassen kann.882 Für die frühkindliche Erziehung, bei der es vor allem auf Liebe und Zutrauen ankommt, ist in erster Linie die Mutter zuständig, da Hegel zufolge die subjektive Empfindung ihrem Geschlechtscharakter gemäß die Form ist, in der sie als Frau die Sittlichkeit realisiert.883 Als Bild für das besonders innige Verhältnis von Mutter und Kind dient Hegel das Trinken des Kindes an der Mutterbrust, durch das es geradezu die Sittlichkeit »einsaugt.«884 Er bezeichnet »das Gefühl der unmittelbaren Einheit mit den Eltern«, das das Kind in der Familie hat, auch als »die geistige Muttermilch«885. Diese erste Bedeutung der Erziehung, nach der dem Kind die Familiensittlichkeit unmittelbar eingepflanzt wird, bezeichnet Hegel als die »in Rücksicht auf das Familienverhältniß positive Bestimmung«886 der Erziehung, denn nach dieser Seite stärkt sie den Familiengeist und den Familienzusammenhalt zwischen Eltern und Kindern einer bestimmten Familie. Der Erziehungsauftrag der Familie hat aber noch eine zweite Seite, die ebenso wichtig ist und durch die die Familie zugleich über sich selbst hinausweist: Die Aufgabe der Eltern ist nämlich, die Kinder so zu erziehen, dass sie sich zu erwachsenen, freien Personen entwickeln, die den für sie bloß natürlichen Familienzusammenhang ihrer Ursprungsfamilie verlassen und zu selbstbewussten und selbständigen Bürgern und Staatsbürgern werden. Hegel bezeichnet diese Seite der Erziehung als die »in Rücksicht auf dasselbe Verhältniß (…) negative Bestimmung«887, da sie nicht (positiv) auf den Erhalt einer bestimmten Familie zielt, sondern den Kindern ermöglicht, sich (logisch negativ) gegen die eigene Ursprungsfamilie zu wenden, indem sie sie verlassen. Das Verlassen der Ursprungsfamilie ist deshalb ein so entscheidender Schritt für die Befreiung des Individuums, weil es sich dadurch von einem ihm vorausgesetzten und bloß natürlichen Zusammenhang lossagt, um befähigt zu werden, selbst eine Familie zu gründen, die dann auf seinem eigenen freien und sittlichen Entschluss fußt. Um die Kinder, die als Menschen an sich bereits geistige Wesen sind, so zu erzie-
882
Vgl. ebd. Vgl. GPR, § 166; Ho, S. 554, 9 f.; II.2.2.9.2. 884 Vgl. Gr, S. 459, 13 f. Vgl. auch GW 14,2, S. 761. Zur Darstellung der Mutter-KindBeziehung während der Schwangerschaft und in der frühkindlichen Entwicklung gemäß Hegels Anthropologie vgl. TWA 10, § 396 Z; EPW, § 405 Anm. und § 406 Anm.; TWA 10, § 405 Z. 885 TWA 10, § 396 Z. 886 GPR, § 175. 887 Ebd. 883
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
281
hen, dass sie auch für sich ihre Geistigkeit und Freiheit realisieren können, muss man ihnen Hegel zufolge beibringen, sich nicht von den unmittelbaren natürlichen Trieben und Neigungen beherrschen zu lassen, sondern ein vernünftiges Verhältnis zu diesen Trieben zu entwickeln, sie also anzueignen. Nur indem die Kinder lernen, sich immer mehr selbst zu beherrschen, können sie in ihrem Denken und Wollen frei werden – andernfalls bleiben sie ihr Leben lang von der Natur beherrscht und somit unselbständig und unfrei.888 Sie werden dann auch nicht in der Lage sein, ein selbständiges, freies Leben zu führen. Ein Hauptmoment der Erziehung liegt demnach Hegel zufolge in der Zucht der zunächst bloß natürlich und sinnlich bestimmten Willkür der Kinder, die darauf abzielen soll, sie zu freien und geistigen Wesen zu erziehen. Da die Kinder ihre eigene Unselbständigkeit nach Hegel selbst als Mangel empfinden, haben sie schon von sich aus die Sehnsucht, erwachsen zu werden. Es ist die Aufgabe der Erziehung, eben diese Sehnsucht zu nähren und zur Erfüllung zu verhelfen.889 Hegel kritisiert in § 175 Anm. die »spielende Pädagogik« der Aufklärung, weil sie das Kind in seinem kindlichen Status belässt, statt ihm dabei zu helfen, erwachsen und selbständig zu werden. Während der Vater nach Hegel anders als die Mutter bei der frühkindlichen Erziehung im Geiste der Familiensittlichkeit noch kaum eine Rolle spielt, hat er eine wichtige Funktion bei der Erziehung des Kindes zu Selbständigkeit und Freiheit.890 Dies lässt sich im Sinne Hegels aus der sittlichen Bestimmung des Mannes ableiten, die außerhalb der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat liegt und ihm Hegel zufolge aufgrund seines Geschlechtscharakters zukommt.891 Neben der Schule als vermittelnder Institution zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft ist es daher nach Hegel nicht zuletzt Aufgabe des Vaters, das Kind auf ein Leben außerhalb der Familie vorzubereiten.892 Die Erziehung der Kinder hat also bezogen auf das Familienverhältnis einen doppelten, widersprüchlichen Charakter. Einerseits werden durch sie
888
Vgl. GPR, § 174; Ho, S. 551, 17 f.; II.1.2.2. Vgl. GPR, § 174 und § 175 Anm.; Gr, S. 460, 24 f. 890 Vgl. Ho, S. 554, 9–20. 891 Vgl. GPR, § 166. 892 Diese Arbeitsteilung zwischen Vater und Mutter bei der Erziehung der Kinder ist im 19. Jahrhundert üblich und auch heute noch weit verbreitet. Sie wird jedoch Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Aufbrechen der traditionellen Geschlechterordnung und dem daraus resultierenden neuen Verständnis von Vater- und Mutterschaft zunehmend infrage gestellt. Insbesondere die Bedeutung der Väter für die frühkindliche Erziehung wird in der Forschung seit einigen Jahrzehnten anders bewertet (vgl. Fthenakis 1985/1988). 889
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
dem Kind die Familiensittlichkeit und die Liebe zu den Eltern eingepflanzt, »schon mit der Muttermilch saugt es die Familien-Pietät ein.«893 Andererseits ist es ebenso ein Akt der Liebe der Eltern, dem Kind zu ermöglichen, seine Eltern und damit seine Ursprungsfamilie zu verlassen, um selbst eine Familie zu gründen, die auf seinem freien Entschluss beruht und nicht auf seiner natürlichen Verbindung zu den Eltern.894 In der Erziehung der Kinder zur Freiheit, die eine wichtige Aufgabe der Familie als Entwicklungsstufe des freien Willens darstellt, ist somit bereits die sittliche Auflösung der Familie enthalten.895 Die Familie als sittliche Institution weist durch die Erziehung der Kinder zur Freiheit also bereits über sich als beschränkte sittliche Sphäre hinaus.
II.2.4.2 Die Auflösung der Familie (§§ 176–181) Da es Aufgabe der Eltern ist, ihre Kinder zu selbständigen und freien Persönlichkeiten zu erziehen,896 ist der familiären Sittlichkeit schon durch das Erwachsenwerden der Kinder ihre Auflösung immanent. Hegel nennt insgesamt drei Gründe, warum sich die einzelnen Familien auflösen können bzw. sogar müssen: a) Zufälligkeit der Liebe als Empfindung (§ 176) b) Volljährigkeit der Kinder (§ 177) c) Tod der Eltern (§ 178) Ad a). Die Zufälligkeit der Liebe als Empfindung: Die Familie ist in ihrer Keimform, der Ehe, von einer möglichen Auflösung bedroht, weil sie auf einer bloß subjektiven und zufälligen Empfindung, dem Gefühl der Liebe, beruht. Als bloß »unmittelbare sittliche Idee«897 kann sie die Sittlichkeit nur in Form eines natürlichen Gefühls darstellen, denn die Form des begreifenden Denkens erfordert Vermittlung und setzt somit eine höhere Entwicklungs-
893
Gr, S. 459, 13 f. Wie schon in der Phänomenologie hat Hegel auch in seinen Vorlesungen über die Philosophie des Rechts darauf hingewiesen, dass die Bindung der Eltern zu den Kindern größer sei als die der Kinder zu den Eltern. Denn während die Kinder danach strebten, selbständig zu werden und die Eltern zu verlassen, hingen die Eltern an den Kindern, da sie in ihnen ihre eigene Liebe liebten (vgl. Gr, S. 459, 20 f.). 895 Vgl. GPR, § 177. 896 Vgl. ebd., § 175. 897 Ebd., § 176. 894
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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stufe der Idee voraus;898 diese kann sich jedoch erst im Staat verwirklichen. Gefühle, auf denen die Ehe basiert, sind ihrer Natur nach zufällig und deshalb auch nicht selten vergänglich. Ist das Gefühl der Liebe vollständig verflogen und die Ehepartner sind sich gegenseitig gänzlich fremd geworden, entspricht die Ehe nicht mehr ihrem Begriff, nach dem die Ehepartner aufgrund eines freien Entschlusses gemeinsam eine Person ausmachen. Ist das der Fall, kann und sollte sie nach Hegel geschieden werden, denn »(s)o wenig ein Zwang stattfinden kann, in die Ehe zu treten, so wenig giebt es sonst ein nur rechtliches positives Band, das die Subjecte bei entstandenen widrigen und feindseligen Gesinnungen und Handlungen zusammen zu halten vermögte.«899 Allerdings darf es nicht dem Belieben und der Willkür der Eheleute allein anheimgestellt werden, ob sie sich scheiden lassen möchten.900 Der Staat hat vielmehr Hegel zufolge die Aufgabe, die Institution Ehe als sittliche Substanzialität solange es geht gegen bloß zufällige Launen der Eheleute zu schützen und ihnen die Sittlichkeit der Institution bewusst zu machen. Schließlich soll diese Institution Hegel zufolge ja gerade dafür einstehen, dass es sich bei dem Verhältnis der Ehepartner nicht nur um eine bloß natürliche Verbindung aus Leidenschaft, sondern um ein objektives, rechtlich-sittliches Liebesverhältnis handelt, das als solches nicht bloß von den wechselhaften Befindlichkeiten der Ehepartner abhängig gemacht werden darf. Hegel kritisiert daher scharf das römische Recht, das auch im Scheidungsrecht mit seiner laxen Handhabung die Willkür zum Rechtsprinzip erhebt: »Es liegt in der Natur der Ehe selbst, als der unmittelbaren Sittlichkeit, die Vermischung vom substantiellen Verhältniß, natürlicher Zufälligkeit und innerer Willkühr; – wenn nun der Willkühr (…) vollends auch durch die Leichtigkeit der Ehescheidungen bei den Römern, gegen das Recht des Substantiellen der Vorzug eingeräumt wird, so daß selbst Cicero (…) die Speculation machte, seine Gattin fortzuschicken, um durch das Heyrathsgut901 898
Vgl. II.2.1. GPR, § 176. 900 Vgl. ebd., Gr, S. 462. 901 Mit ›Heiratsgut‹ ist hier die ›Dos‹, die Mitgift nach römischem Recht, gemeint, die die Ehefrau in die Ehe einbrachte. Hegel empört sich mehrfach über das römische Dotalrecht, da es sich seiner Ansicht nach von Männern dazu missbrauchen ließ, auf Kosten der Frauen schnell über Scheidung und Wiederheirat an Geld zu kommen (vgl. GW 14,2, S. 767, 18 f.; Gr, S. 446, 26 f.; Ho, S. 542, 4–13). Die Frau werde dadurch – wie es in der Nachschrift von Hotho heißt – ein »bloße(s) Mittel zum Erwerb von Vermögen« (Ho, S. 542, 9 f.). 899
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einer neuen seine Schulden zu bezahlen, – so ist dem Verderben der Sitten ein gesetzlicher Weg gebahnt, oder vielmehr die Gesetze sind die Nothwendigkeit desselben.«902 Um der Sittlichkeit willen muss der Staat Hegel zufolge entweder die Kirche oder aber seine Gerichte als sittliche Autorität benennen, die überprüfen soll, ob die Ehescheidung sittlich gerechtfertigt ist, d. h. ob tatsächlich eine dauerhafte, totale Entfremdung der Ehepartner eingetreten ist, die z. B. im Ehebruch ihren Ausdruck fände.903 Nur in einem solchen Extremfall darf nach Hegel die Ehescheidung vollzogen werden. Da ein solcher Extremfall die Scheidung sittlich rechtfertigen kann, erweist sich die Unauflöslichkeit der Ehe nach Hegel als ein bloßes Sollen; sie gehört zwar an sich zum Begriff der Ehe, ist aber, da die Ehe auf einem Gefühl beruht, nicht notwendig auch wirklich und kann deshalb auch nicht rechtlich gegen den Willen der Individuen eingefordert werden.904 Zwar ist Hegel der Meinung, die Gesetzgebungen müssten den Ehepartnern die Trennung »aufs höchste erschweren«905, aber seine Haltung zur Ehescheidung ist für seine Zeit durchaus liberal und modern zu nennen. Denn seine Argumentation nimmt der Sache nach bereits das heutige Scheidungsrecht vorweg, das die Scheidung bei Entfremdung der Ehepartner ermöglicht (Zerrüttungsprinzip) und nicht nur im Falle des Nachweises des Schuldigwerdens eines Ehepartners, z. B. durch Ehebruch (Verschuldungsprinzip). Ad b) Volljährigkeit der Kinder: Während die Auflösung der Familie aufgrund der Entfremdung der Ehepartner eine zufällige Seite hat, die eintreten kann, aber nicht muss, ist die sittliche Auflösung der Familie bei Volljährigkeit der Kinder aufs Engste mit der Familiensittlichkeit selbst verbunden.906 Wenn sich die Familie wahrhaft als sittliche und nicht vornehmlich als natürlich bestimmte Institution erweisen möchte, ist es nach Hegel notwendig, dass sie ihre Kinder in Freiheit entlässt. Die Familie als bloß natürlicher Zusammenhang von Blutsverwandten, als Stamm, muss gegenüber dem Recht der Kinder auf persönliche Freiheit zurücktreten. Die volljährigen Kinder müssen als rechtliche Personen anerkannt werden, denen sowohl das Recht auf Eigentum als auch auf Gründung einer eigenen Familie, die auf ihren freien Entschluss zurückgeht, zusteht.907 Das volljährig gewordene Kind hat 902 903 904 905 906 907
GPR, § 180 Anm. Vgl. ebd., § 176; Gr, S. 462. Vgl. ebd., § 176; Gr, S. 462; Gr, S. 434; Ho, S. 555; II.2.1.3. Gr, S 434, 27. Vgl. GPR, § 177. Vgl. ebd.; II.2.4.1.
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jedoch nicht nur die Rechte, sondern auch die Pflichten einer selbständigen Rechtsperson, d. h., es hat nun die Pflicht, sich selbst zu versorgen und kein Recht mehr darauf, weiterhin aus dem Vermögen seiner Eltern versorgt zu werden.908 Die sittliche Auflösung der Familie kommt erst in der Vollendungsgestalt der Familie, in der bürgerlichen Kleinfamilie, wirklich zum Tragen. In ihr ist die Familie bereits ein gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat untergeordnetes Moment geworden und ihre Mitglieder sind bei Volljährigkeit als selbständige Rechtspersonen anerkannt. Die griechische Sittlichkeit, die Hegel in der Phänomenologie behandelt, beruht neben dem Staat/der Polis ganz auf dem allgemeinen Prinzip der Familie; das Prinzip der Rechtsperson bzw. die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist dagegen noch nicht entwickelt, denn erst das römische Recht kennt persönliche Rechte. In der griechischen Sittlichkeit kann daher das volljährige Kind nicht als selbständige Rechtsperson anerkannt werden, sondern es bleibt sein Leben lang als unselbständiges Glied im natürlich-sittlichen Zusammenhang der Großfamilie. Die Rolle, die ihm in diesem Zusammenhang zukommt, ist maßgeblich durch natürliche Bestimmtheiten der Individuen bedingt, d. h., sie ist abhängig von Geschlecht und Alter der Individuen. Im römischen Recht ist dagegen zwar das Prinzip der Rechtsperson entwickelt, aber es wird nach Hegel auf Kosten der Sittlichkeit verabsolutiert. Das Prinzip des römischen Familienrechts ist somit nicht die Sittlichkeit, d. h. der an und für sich freie Wille, sondern die Willkür des pater familias. Durch die patria potestas bleiben die Kinder bis zum Tod des Vaters in der väterlichen Gewalt und somit in Abhängigkeit von ihrer Ursprungsfamilie, statt noch zu Lebzeiten des Vaters als selbständige Rechtspersonen, die eigentumsfähig sind, anerkannt zu werden. Der Familienzusammenhang ist dadurch ein Zusammenhang der »fortdauernde(n) Unmündigkeit – von Geschlecht zu Geschlecht.«909 Erst im modernen bürgerlichen Recht kommt es zu einer Vermittlung von allgemein-sittlichen Institutionen einerseits und persönlichen Rechten andererseits, die in der griechischen Sittlichkeit und im römischen Recht jeweils nur einseitig verwirklicht waren. Dies findet im modernen bürgerlichen Familienrecht darin Ausdruck, dass jede volljährige Rechtsperson eigentumsfähig ist und das Recht hat, selbst eine Familie als allgemein-sittlichen Zusammenhang zu gründen. Die persönliche Willkür der Individuen hat darin ebenso Geltung wie das natürlich-sittliche Prinzip der Familie. Die Individuen sind damit nicht mehr bloß dem natürlichen Familienzusammenhang der Ur908 909
Vgl. Gr, S. 463, 18 f. GW 14,2, S. 771, 15.
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sprungsfamilie untergeordnet, sondern haben ein selbständiges Verhältnis zu diesem Zusammenhang; damit haben sie auch ein anderes Verhältnis zu der von ihnen neu gegründeten Familie, die sie als Ausdruck ihres freien Willens begreifen können, auch wenn sie sich darin zugleich bewusst dem neuen Familienzusammenhang unterordnen, indem sie mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner eine Person ausmachen. Ad c) Tod der Eltern: Das letzte Moment, das notwendig zur Auflösung der Familie führt, ist der Tod der Ehepartner/Eltern (c). Diese »natürliche Auflösung der Familie«910 ist ihr immanent, da der Tod nach Hegel die Form ist, in der sich die Gattung als Negativität an den einzelnen Individuen darstellt.911 Während der Tod eines oder mehrerer Kinder nicht zur Auflösung der Familie führt, da die Keimzelle der Familie, das Ehepaar, als eine Person weiterhin Bestand hat, ist der Tod der Eltern mit der Auflösung der Familie verbunden.912 Sterben die Eltern, muss rechtlich geregelt werden, wie mit dem Familienvermögen verfahren wird, das noch zuvor die äußerliche Realität der nun aufgelösten Familie dargestellt hat; dies leistet das Erbrecht.913 Hegel weist in einem Nebensatz darauf hin, dass insbesondere der Tod des Mannes die Erbschaft zur Folge hat.914 Dies muss darauf zurückgeführt werden, dass der Mann Haupt der Familie und Verwalter des Familienvermögens ist.915 Da alle Familienmitglieder an sich immer schon Anteil am Familienvermögen haben, ist die Erbschaft Hegel zufolge ursprünglich nichts anderes, als die Übergabe der Verwaltungsrechte an die Verwandtschaft und somit für die erbenden Familienmitglieder das »Eintreten in den eigentümlichen Besitz des an sich gemeinsamen Vermögens«916. Der sittliche Grund für die Erbschaft liegt also nach Hegel darin, dass das Familienvermögen die äußerliche Realität der sittlichen Einheit der Familie ist und deshalb für die Familienmitglieder kein fremdes Eigentum darstellt, das sie nach dem Tod des Familienoberhauptes erhalten, sondern an sich immer schon auch ihr Eigentum ist, das sie bisher lediglich nicht selbständig zu verwalten befugt
910
GPR, § 178. Vgl. EPW, § 370; Ho S. 555, 24 f. (Petit); II.2.2.2. 912 Vgl. Ho, S. 556, 26 f. 913 Im Kapitel zu Hegels Theorie des Familienvermögens wurden bereits einige Aspekte von Hegels Position zum Erbrecht vorweggenommen, die hier nicht mehr diskutiert werden sollen. Dazu gehört insbesondere Hegels Kritik an der feudalen Institution des Familienfideikommiss’, die er im § 180 Anm. behandelt (vgl. dazu II.2.3). 914 Vgl. GPR, § 178. 915 Vgl. ebd., § 171. 916 Ebd., § 178. 911
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
287
waren. Das Familienvermögen ist demnach nie bloß persönliches Eigentum des Familienoberhauptes gewesen, sondern immer schon Eigentum der familiären Gemeinschaft – einer Gemeinschaft, die nicht bloß auf dem Naturzusammenhang, sondern auf der sittlichen Gesinnung der Liebe beruht. Hegel wendet sich mit seiner Theorie des Erbrechts explizit gegen Fichtes Position. In seiner Schrift Grundlage des Naturrechts hatte Fichte behauptet, dass das positive Recht der Familie auf das Erbe sich durch das Gewohnheitsrecht eingeschlichen habe.917 Das Erbe sei ursprünglich ›herrenloses Gut‹ gewesen, das bloß zufällig von den Verwandten als erstes in Besitz genommen wurde, da sie dem Toten am nächsten gewesen seien. Diese Theorie lässt Hegel zufolge »die Natur des Familienverhältnisses unberücksichtigt.«918 Lag in der Einheit des Familienverbandes im Oikos bzw. im Großen Haus einst der sittliche Grund für die Vererbung des Vermögens auch an entferntere Verwandte, so änderte sich dies mit der Entwicklung der Familie zur bürgerlichen Kleinfamilie. In der Neuzeit fordert die bürgerliche Gesellschaft von den Individuen, ihre Subsistenz außerhalb der Familie zu sichern und trägt damit zur Entfremdung der Familienmitglieder bei, die früher auf dem Familiengut nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen vereint waren.919 Der größere Familienverband verliert für die Individuen immer mehr an Bedeutung und wird dadurch abstrakt; dagegen wird im Zuge der Ausbildung der Familie als einer Gefühlsgemeinschaft die eigene Kleinfamilie zum wesentlichen Bezugspunkt der Individuen.920 Das Verwandtschaftsverhältnis wird ein »aüsserlicher, gemüths und gesinnungsloser Zusammenhang«921. Je mehr die Mitglieder einer Kleinfamilien den Bezug zu ihren entfernteren Verwandten verlieren, desto mehr verliert sich auch »die Gesinnung der Einheit (…)«922 und desto ungerechtfertigter scheint es, dass ein Erblasser Verwandten, zu denen er keinerlei Kontakt oder Bezug hatte, sein Vermögen überlassen soll. Denn der sittliche Grund für die Erbschaft sollte eigentlich in der Gesinnung der Liebe unter den Familienangehörigen liegen, die aber bei Verwandten, die keinerlei Kontakt haben, nicht mehr vorhanden sein kann.923 Da die Einheit der Familie mit Entstehung der bürgerlichen Gesell-
917 918
Vgl. GNR, 1. Anhang, § 60. GPR, § 178 Anm.; zu Hegels Kritik an Fichte vgl. auch Ho, S. 556, 7–32; AnL, S. 145,
16 f. 919
Vgl. GPR, § 238; II.2.5. Vgl. Ho, S. 557, 3–18. 921 GW 14,2, S. 767, 15. 922 GPR, § 178. 923 Um die Absurdität des Festhaltens an entfernten Verwandtschaftsbeziehungen im Erbrecht zu unterstreichen, zitiert Hegel in seinen Notizen den im Theater oder in Ro920
288
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
schaft und der bürgerlichen Kleinfamilie auseinandergefallen ist in viele autarke und voneinander unabhängige Kleinfamilien, kann Hegel zufolge dem Erblasser zugestanden werden, mit seinem Erbe nach eigener Willkür zu verfahren und ein Testament zu machen, in dem er bis in die Einzelheiten willkürlich festlegt, wem er welchen Anteil seines Erbes vermachen möchte, wobei als Erben auch Menschen eingesetzt werden können, die nicht zur Familie gehören.924 Es ist jedoch Hegel zufolge keineswegs notwendig, dass der Staat den Bürgern ermöglicht, ein Testament zu machen, sondern es ist reine Kulanz des Staates, ein solches Recht zu gewähren und insofern abhängig von der positiven Gesetzgebung.925 Um ein strenges Recht, das als solches notwendig für das Dasein der Freiheit sein müsste, kann es sich ohnehin nicht handeln; denn nach Hegel enthält das Testieren einen logischen Widerspruch: Ich verfüge nämlich als Erblasser, dass mein Eigentum nach meinem Tod wie bei einer Schenkung an andere vermacht wird. Um etwas zu verschenken, muss ich jedoch wirklicher, aktueller Eigentümer sein – sonst handelt es sich nicht um ein Geschenk.926 Da aber im Falle meines Todes »mein Eigenthum ohnehin aufhört, mein zu seyn«927, weil ich selbst als freier Wille nicht mehr bin, dessen Ausdruck das Eigentum zu sein beansprucht, kann ich es auch nicht verschenken. Wer ein Testament verfasst, kann sich daher zwar anderen gegenüber als Wohltäter darstellen, aber faktisch ist er es nicht.928 Zwar ist es Ausdruck von Pietät, den Willen eines Toten zu respektieren, aber es ist nicht rechtlich notwendig, denn der freie Wille, dem es Recht zu verschaffen gölte, ist nicht mehr. Dass der letzte Wille des Toten anerkannt und realisiert wird, ist somit Ausdruck des wirklichen Daseins der freien Willkür der Hinterbliebenen bzw. der Gesellschaft, nicht aber Ausdruck des freien Willens des Verstorbenen, denn dieser hat kein Dasein mehr. Indem die moderne Gesellschaft das Testament der Verstorbenen anerkennt, bringt sie zum Ausdruck, dass der freie Wille der Person selbst über den Tod hinaus geachtet wird. Wird den Bürgern das Recht zu Testieren zugestanden, können als Erben an die Stelle der Familie z. B. Freunde treten, die für den Erblasser »gleich-
manen gern eingesetzten »Onkle in Ostindien« (GW 14,2, S. 767, 16), der als ein Deus ex Machina jemandem ein Vermögen vermacht, der ihn zu Lebzeiten nie zu Gesicht bekommen hat. 924 Vgl. GPR, § 179. 925 Vgl. GW 14,2, S. 769, 3 f.; Gr, S. 467, 15–26. 926 Vgl. Ho, S. 557, 27 f. 927 GPR, § 179. 928 Vgl. ebd.; Gr, S. 465, 8 f.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
289
sam eine geistige Familie«929 darstellen; die Gesinnung der Freundschaft, die dem Entschluss, das Erbe den Freundinnen und Freunden zu vermachen, zugrunde liegt, kommt der sittlichen Gesinnung der Liebe, auf die es bei der Vererbung ursprünglich ankam, sehr nah, denn Liebe und Freundschaft gleichen als Gesinnungen einander.930 Auch die Freundschaft kennt Hegel zufolge eine Gemeinschaft an äußeren Gütern.931 Im Vergleich zum bloß natürlichen Band durch Blutsverwandtschaft unter entfernten Verwandten ist die Verbindung unter Freunden sogar gewissermaßen als höher zu betrachten, weil sie geistiger und nicht bloß natürlicher Art ist.932 Da jedoch der Willkür des Erblasser überlassen ist, wie er mit seinem Vermögen verfahren möchte, ist keineswegs gesichert, dass er es in sittlicher Gesinnung vererbt. Es kann vielmehr geschehen, dass er sein Erbe nutzt, um noch zu Lebzeiten Menschen in seiner Nähe unter Druck zu setzen oder von sich abhängig zu machen, indem er ihnen unter bestimmten Bedingungen eine Erbschaft in Aussicht stellt. Ebenso kann er durch sein Testament auch über seinen Tod hinaus Angehörige und Freunde schikanieren, indem er unzumutbare Auflagen macht, die der potenzielle Erbe erfüllen muss, wenn er das Erbe antreten will. Kurz: Er kann an das Erbe »Bedingungen der Eitelkeit und einer herrischen Quälerey (…) knüpfen«933. Selbst wenn er gewillt ist, mit seinem Erbe sittlich zu verfahren, kann er Opfer von Erbschleicherei werden, denn Freundschaft oder geistige Verbindung kann auch vorgegaukelt werden.934 Da durch die Willkür des Testierens also die Sittlichkeit in vielfacher Form verletzt werden kann, muss diese Willkür nach Hegel rechtlich eingeschränkt werden und darf nicht, wie z. B. im römischen Recht, verabsolutiert werden.935 Auch hier gilt es, zwischen den allgemeinen Ansprüchen der Sittlichkeit einerseits und der Willkür der Rechtsperson andererseits – historisch gesehen zwischen griechischer Sittlichkeit und römischem Recht – zu vermitteln. Es ist darauf zu achten, dass »durch diese Willlkühr nicht die Totalität der [sittlichen; Anm. EB] Substanz und durch diese nicht die Totalität der Willkühr verletzt wird.«936 Eine sittliche Beschränkung der Willkürfreiheit im Testieren liegt schon in dem substanziellen Recht der Mitglieder der Kleinfamilie. Gegenüber seiner Ehepartnerin und seinen ei929 930 931 932 933 934 935 936
AnL, S. 146, 6. Vgl. Ho, S. 119, 32 ff. Vgl. Ho, S. 560, 14–23. Vgl. ebd., S. 557, 6–15. GPR, § 179 Anm. Vgl. ebd.; Gr, S. 468, 2 f. Vgl. GPR, § 180 Anm.; Gr, S. 466 f. Ho, S. 559, 17 f. (Petit).
290
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
genen Kindern darf der Erblasser nur sehr beschränkt willkürlich verfahren, da sonst das sittliche Grundverhältnis, die familiäre Sittlichkeit also, verletzt würde.937 »Eine solche Willkühr enthält für sich nichts, das höher als das Familienrecht [der Kleinfamilie; Anm. EB] selbst zu respectiren wäre; im Gegentheil.«938 Der Staat muss also durch entsprechende Gesetze dafür sorgen, dass den Kindern als den »natürlichen Erben«939 zumindest ein Pflichtanteil des Erbes zugesprochen wird.940 Dies gilt selbst dann, wenn auch zwischen den Eltern und Kindern bereits ein Rechtsverhältnis eingetreten ist, da die Kinder bereits ihre Ursprungsfamilie verlassen und eigene Familien gegründet haben. Zwar kann der Erblasser im Testament auch seinen Kindern je nach Nähe der Gesinnung, die er zu ihnen hat, jeweils ein ungleiches Vermögen vermachen, aber nur, soweit es eben die Sittlichkeit zulässt.941 Die Primogenitur, das Majorat und feudale Institutionen wie das Familienfideikommiss, die mit einer enormen Ungleichbehandlung der Kinder und (wegen der patrilinearen Erbfolge) vor allem einer erheblichen Benachteiligung der Töchter einhergehen, kritisiert Hegel daher scharf.942 Insgesamt scheint Hegel jedoch skeptisch gewesen zu sein, dass selbst ein klar geregeltes Erbund Testierrecht sittliche Zustände herstellen kann. In der Nachschrift von Hotho heißt es gleichsam zusammenfassend: »Das Erbrecht ist eine der schwierigsten Parthien für die Gesetzgebung, weil es sich auf ein Verhältniß bezieht, wo die Liebe soll die Hauptbestimmung sein, gesetzliche Bestimmungen aber gerade können statt der Gesinnung der Liebe Selbstsucht und Willkühr einschleichen laßen. Verwandte sollen einerseits als Liebende sich behandeln, nach den rechtlichen Bestimmungen aber werden sie veranlaßt als fremde, als Feinde sich zu behandeln. Erben und Außereinandersetzungen des Vermögens überhaupt sind die unangenehmsten Zustände des menschlichen Lebens.«943 Es hat sich gezeigt, dass sich die Familie auflösen kann, weil sie auf einer natürlichen Empfindung beruht, die zwar als Ehe eine rechtlich-sittliche Form
937
Vgl. GPR, § 180 Anm. Ebd. 939 Ebd., § 180. 940 Vgl. An , S. 146, 3 f.; Gr, S. 466, 15 f.; Ho, S. 559, 10–17. L 941 Vgl. GPR, § 180. 942 Vgl. ebd., § 180 Anm. und GW 14,2, S. 771. Zu Hegels Kritik des Fideikommiss’ in § 180 Anm. vgl. II.2.3. Nicht nur die Primogenitur und das Majorat, auch seltenere Erbfolgeprinzipien wie die Ultimogenitur und das Minorat sind nach Hegels Verständnis unstatthaft, da sie zu einer Ungleichbehandlung der Kinder führen. 943 Ho, S. 546, 21 f. 938
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
291
bekommt, nicht aber rechtlich eingefordert werden kann, wenn die Empfindung erloschen ist. Zugleich wurde deutlich, dass sie sich auflösen muss: erstens, weil die Ehepartner als natürliche Lebewesen sterblich sind und sich mit ihrem Tod eben diese bestimmte Familie, die sie durch ihren Ehebund gestiftet haben, auflöst. Jede Familie ist eine Einheit, in der zwei bestimmte, unverwechselbare Individuen eine Person ausmachen, und stirbt eines dieser Individuen, so kann auch diese eine Person nicht mehr weiter bestehen. Zweitens gehört es zur Familie als sittliche Liebeseinheit, dass die Ehepartner als Eltern ihre Kinder, sobald sie erwachsen sind, in die Selbständigkeit entlassen. Die Kinder verlassen somit als Volljährige die Familieneinheit, um als selbständige Rechtspersonen eine neue, eigene Familie zu gründen und mit einer Partnerin oder einem Partner eine Person auszumachen. Sie sind mit der Volljährigkeit also gegenüber ihren Eltern, die eine Person ausmachen, selbständige, freie Rechtspersonen und nicht mehr Moment der Einheit ihrer Ursprungsfamilie. Die Auflösung der sittlichen Einheit der Familie in viele einzelne, selbständige Rechtspersonen, die wiederum neue Familien gründen, ist dem Begriff der Familie immanent, weil der Begriff der Familie nur in der natürlichen Generationenabfolge Realität haben kann. An die zwei notwendigen Gründe für die Auflösung der Familie erinnert Hegel im § 181, wenn er festhält: »Die Familie tritt auf natürliche Weise, und wesentlich durch das Princip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbstständige concrete Personen und daher äußerlich zu einander verhalten.«944 Indem die Familie ihre Mitglieder in die freie Selbständigkeit entlässt, differenziert sich die in der Familie noch undifferenzierte sittliche Idee aus und entfaltet ihre Momente. Die unmittelbare, natürliche Einheit der Familie geht dabei verloren, und es entsteht die bloß formelle Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Individuen als selbständige Rechtspersonen ihren besonderen Interessen nachgehen können. Die bürgerliche Gesellschaft ist formelle Allgemeinheit, weil sie die bloß äußerliche »Verbindung der Glieder als selbständiger Einzelner«945 ist. Während die Familie also eine vorausgesetzte Einheit ist, in der die Individuen wesentlich unselbständige Mitglieder sind, erscheint die bürgerliche Gesellschaft als ein Agglomerat selbständiger Einzelner. Diese Einzelnen sind dabei jedoch nicht bloß abstrakt-einzelne Rechtspersonen wie im abstrakten Recht, sondern es sind in 944 945
GPR, § 181. Ebd., § 157.
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II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
erster Linie Männer, die als Häupter ihrer neu gegründeten Familie die personelle Einheit der Familie nach außen vertreten. In der bürgerlichen Gesellschaft treten somit in erster Linie Familien gegeneinander als Rechtspersonen auf; unverheiratete Männer oder Frauen sind potenzielle Ehemänner bzw. Ehefrauen, die zwar als Rechtspersonen anerkannt werden, von denen allerdings nach Hegel sittlich zu erwarten ist, dass sie ihrer Pflicht, zu heiraten, nachkommen, d. h. ihre Persönlichkeit aufgeben, um mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin eine Person auszumachen. Der Übergang von der Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ist vom Standpunkt der Sittlichkeit aus betrachtet ambivalent: Einerseits kann der Geist bei der bloß unmittelbaren Sittlichkeit der Familie nicht stehen bleiben, denn zur Sittlichkeit als Idee der Freiheit gehört, dass in ihr auch das »Recht der Individuen an ihre Besonderheit«946 enthalten ist. Dazu ist es notwendig, dass die Familie ihre Mitglieder, die in ihr noch als gebundene Momente sind, in die Selbständigkeit entlässt, in der sie sich in ihrer individuellen Besonderheit entfalten können.947 Die sittliche Idee geht in ihrer Entwicklung somit von der Familie als dem noch unentfalteten Begriff der sittlichen Idee über zur bürgerlichen Gesellschaft, der Seite ihrer Realität. Der Übergang ist um der Verwirklichung der Freiheit willen notwendig und als Stufe der Realisierung der Freiheit auch begrüßenswert. Andererseits stellt er aber einen – vorübergehenden – »Verlust der Sittlichkeit«948 dar. Denn die Sittlichkeit ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht bloß formelle Allgemeinheit ist, in der das Einzelne als Besonderes dem Allgemeinen entgegengesetzt ist, sondern substanzielle Einheit, in der das Allgemeine gewusst und gewollt wird. Indem die Allgemeinheit in der bürgerlichen Gesellschaft nur noch als äußerliches Band erscheint, das für die Individuen zum bloßen Mittel wird, ihren besonderen Interessen nachzugehen, ist sie die Stufe des Scheins, in der sich Wesen und Erscheinung trennen, wie Hegel mit Bezug auf die Wesenslogik deutlich macht.949 In der bürgerlichen Gesellschaft scheinen die Bürger abstrakte Atome zu sein, denen die Allgemeinheit bloß äußerlich ist; es wird sich jedoch erweisen, dass die Allgemeinheit das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ist. Die Allgemeinheit bleibt somit eine Voraussetzung für die Existenz der einzelnen Individuen, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft unabhängig und selbständig wähnen. In der Familie konnte sich die Besonderheit noch nicht realisieren, die Mitglieder wussten sich als Ein-
946 947 948 949
Ebd., § 154. Vgl. ebd., § 181. Ebd. Vgl. ebd., § 181; EPW, §§ 112 ff. und §§ 131 ff.; Schnädelbach 2000, S. 267–269.
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zelne in der Allgemeinheit der Familie aufgehoben und distanzierten sich nicht von ihr. In der bürgerlichen Gesellschaft tritt nun die Besonderheit der Allgemeinheit entgegen, sodass die sittliche Einheit verloren scheint, da sie nur noch ein äußerliches Band ist. Erst im Staat gelingt es, beide auf befriedigende Weise miteinander zu vermitteln. Während die bürgerliche Gesellschaft als »Noth- und Verstandes-Staat«950 bezeichnet werden kann, weil es ihr wesentlich um die Sicherheit der Person und des Eigentums sowie der äußeren Ordnung geht, ist der wahre Staat nach Hegel keine solch bloß formelle Allgemeinheit, sondern konkrete Allgemeinheit. Er ist eine in sich differenzierte Einheit, die wie ein Organismus den Gliedern ermöglicht, sich in ihrer Besonderheit zu entfalten, ohne dass dabei die organische Einheit verloren geht, an die sie gebunden sind. In ihm sind Familie und bürgerliche Gesellschaft bloße Momente, die sich entwickeln können und in ihrem Recht anerkannt werden, aber nur in ihm Bestand haben.951 Der Übergang der Familie in die bürgerliche Gesellschaft ist selbstverständlich kein einmaliges Ereignis, sodass die Familie gänzlich von der bürgerlichen Gesellschaft abgelöst würde. Beides sind vielmehr bleibende, unselbständige Momente im Staat. Da es ohne Familien auch keine Bürger gibt, müssen immer wieder neue Familien gegründet und in ihnen Kinder gezeugt werden, die zur Selbständigkeit erzogen und als Erwachsene schließlich in die Selbständigkeit entlassen werden. In der Regel gründen die erwachsenen Individuen, nachdem sie ihre Ursprungsfamilie verlassen haben, irgendwann eine eigene Familie und zeugen Kinder, die wiederum denselben Prozess durchlaufen. Weil die Familie auf dem natürlichen Gattungsprozess und damit auf der Generationenabfolge beruht, ist die Gründung und Auflösung von Familien ein immerwährender Prozess.952 Wie in der Natur im Kreislauf von Geburt und Tod immer wieder neue Individuen entstehen und vergehen, so werden auch immer wieder neue Familien gegründet, die sich auflösen, und an deren Stelle andere Familien treten. Die Auflösung der Familie und der Übergang in die bürgerliche Gesellschaft müssen also im neuzeitlichen Staat immer wieder vollzogen werden. In der Anmerkung zu § 181 macht Hegel jedoch darauf aufmerksam, dass man die Auflösung der Familie in die bürgerliche Gesellschaft auch noch in einem anderen Sinn verstehen muss: als Übergang, der den Sprung von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte ermöglicht. Historisch gesehen ist die Familie das erste allgemeine gesellschaftliche Prinzip, d. h. zunächst 950 951 952
GPR, § 183. Vgl. ebd., § 260. Vgl. ebd., § 173.
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bestimmt der natürliche blutsverwandtschaftliche Zusammenhang oder das, was dafür gehalten wird, das Leben der Menschen völlig. Das Zusammenleben in solchen Familienverbänden, die noch nicht staatlich verfasst sind, gehört nach Hegel in die Vorgeschichte.953 Dieser Zusammenhang erweitert sich jedoch zu einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang eines Volkes oder einer Nation, die dann im Laufe der Zeit auch eine staatliche Form erhält. Mit dem staatlich verfassten Volk beginnt erst Geschichte. Die Erweiterung der Familie zu einem Volk kann entweder auf natürliche Weise stattfinden, indem sich die Verwandtschaftsgrade innerhalb eines Familienbandes so verzweigen, dass sich die entfernten Verwandten kaum noch kennen und man aufgrund der schieren Masse an Menschen nicht mehr von einer Familie, sondern von einem Volk spräche, das in diesem Fall einen »gemeinschaftlichen natürlichen Ursprung hat.«954 Sie kann aber auch durch einen politischen Akt geschehen, der zerstreute Familiengemeinden vereint, entweder nach kriegerischen Auseinandersetzungen oder aber durch freiwillig aufgenommene Handelsbeziehungen unter verschiedenen Familiengemeinden, die sich aufgrund wechselseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten zusammenschließen.955 Während die naturwüchsige Erweiterung von Familienverbänden zu Völkern in der Regel patriarchalische Staatsformen hervorbringt, deren Organisation also noch dem Prinzip der Familie entspricht – man denke an das chinesische Reich –, gehen freie sittliche Gesellschaften, wie z. B. das griechische Reich, nach Hegel eher aus einer Vereinigung einer Vielzahl von Familiengemeinden hervor. Es ist nach Hegel der Lebendigkeit des Geistes gemäßer, sich nicht in einem natürlich gewachsenen, patriarchalischen Zusammenhang zu realisieren, sondern aus der Fremdartigkeit heraus eine freie Gesellschaft erst hervorzubringen.956
II.2.5 Familie und bürgerliche Gesellschaft Mit dem Übergang der Familie in die bürgerliche Gesellschaft kommt die Besonderheit der Personen zu ihrer Entfaltung und damit zu ihrem Recht. Gleichzeitig wird dadurch das Prinzip der Solidarität und Gemeinschaft, das in der Familie vorherrschend ist, durch das Prinzip der freien Konkurrenz und Atomistik abgelöst, sodass die Sittlichkeit zeitweise verloren scheint. Al-
953 954 955 956
Vgl. I.3. GPR, § 181 Anm. Vgl. ebd. Vgl. TWA 12, S. 277 f.; I.3.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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lerdings versucht Hegel zu zeigen, dass sich die Verfolgung selbstsüchtiger, besonderer Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft hinter dem Rücken der Individuen, d. h. ohne ihr Wissen und Wollen, in eine Beförderung des allgemeinen Zwecks verkehrt.957 Durch diese Verkehrung geht die bürgerliche Gesellschaft in den Staat über, in dem sie neben der Familie nur noch ein Moment ist, dessen Recht jedoch anerkannt ist. Im § 260 bestimmt Hegel das Verhältnis von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat in der Moderne: »Der Staat ist die Wirklichkeit der concreten Freyheit; die concrete Freyheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelnheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwickelung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen theils übergehen, theils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck thätig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben, und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben. Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjectivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.«958 Der moderne Staat ist also wie die Familie eine substanzielle Einheit, aber nicht bloß eine unmittelbare und auf einem natürlichen Gefühl basierende Einheit, sondern eine vermittelte und aus Vernunft gewusste und gewollte Einheit. Während in der Familie die Besonderheit der Individuen keinen Raum hat, da die Einzelnen als Mitglieder der Familieneinheit untergeordnet sind, kann sie sich im modernen Staat frei entfalten, ohne dass dabei die Substanzialität des Staates gefährdet wäre. Es wird oft beklagt, dass Hegel die Rückwirkung der Konkurrenz in der bürgerlichen Gesellschaft auf die Solidarität der Familie nicht genügend berücksichtigt habe. Es mag sein, dass Hegel das Ausmaß der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bis zum modernen Kapitalismus unterschätzt hat und damit auch die Auswirkungen, die die unbeherrschte Entfaltung des Konkurrenzprinzips mit sich bringt. Dennoch war Hegel durchaus sensibel 957 958
Vgl. GPR, §§ 186–187. Ebd., § 260.
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dafür, dass die Sphäre der Familie nicht von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft unberührt bleibt. Dies zeigte sich bereits bei seiner Behandlung des modernen Erbrechts, das eine Folge der Auflösung der Familie und ihres Übergangs in die bürgerliche Gesellschaft ist. Da die Mitglieder der Familie im Erbfall als selbständige Rechtspersonen gegeneinander auftreten, ist ihr Verhältnis nicht selten bestimmt durch Missgunst und Konkurrenz statt durch Liebe und Solidarität, weshalb nach Hegel die Erbschaft »eine der schmutzigsten und häßlichsten Seiten der Menschen im Verkehr miteinander«959 ist. Neben dem Erbrecht zeigen aber auch einzelne Paragrafen im Abschnitt Die bürgerliche Gesellschaft, insbesondere innerhalb des Unterabschnitts C. Die Polizei und Korporation (§§ 230–256), dass Hegel sich intensiv mit den Auswirkungen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft auf die Familie beschäftigt hat. Zunächst sollen hier die Paragrafen mit dem Titel Die Polizei (§§ 230–249) behandelt werden. Dass das Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft ausgerechnet in den Paragrafen zur Polizei eine Rolle spielt, mag auf den ersten Blick erstaunen, hängt allerdings mit dem sehr weit gefassten Polizei-Begriff des 18. und 19. Jahrhunderts zusammen. Die Polizei ist nicht vornehmlich eine Institution zur Verbrechensbekämpfung, sondern hat eine ordnungspolitische Funktion.960 Sie umfasst »die gesamte öffentliche Verwaltung, bezogen auf das Leben und Treiben der bürgerlichen Gesellschaft«961. Zu den Aufgaben der Polizei gehört wesentlich die Sorge um die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen gerade da, wo die Rechtspflege allein nicht ausreicht, um dies auch wirklich durchzusetzen.962 Warum wird somit im Unterabschnitt Die Polizei auch das Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft thematisch? Um diese Frage zu klären, muss die historische Entwicklung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft in den Blick genommen werden, auf die Hegel in diesem Zusammenhang zu sprechen kommt. Die Familie war bis in die frühe Neuzeit hinein nicht nur Ort der Reproduktion, sondern auch der Produktion, zumeist als landwirtschaftlicher Betrieb oder als Handwerksstätte in der Stadt – wobei die Landwirtschaft allgemein vorherrschend war. Auf dem Land betrieb man Subsistenzwirtschaft, produzierte also fast alle Güter für den täglichen Gebrauch selbst. Die Subsistenz des Einzelnen war 959
AnL, S. 146, 25 f.; vgl. II.2.4.2; Ho, S. 546, 21 f. Vgl. Jaeschke 2003, S. 389. 961 Schnädelbach 2000, S. 288. Obwohl Hegel einen sehr weiten Begriff der Polizei vertritt, warnt er doch davor, den Aufgabenbereich so auszuweiten, dass der Staat zu einem Polizeistaat verkommt (vgl. GPR, § 234; Ho, S. 694, 1 ff.; Schnädelbach 2000, S. 288). 962 Vgl. GPR, § 230. 960
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durch seine Arbeit innerhalb der Familie (auf einem mehr oder weniger hohen Lebensstandard) gesichert. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Neuzeit, der sich entwickelnden Manufakturproduktion (Protoindustrie) und schließlich der Industrialisierung setzt jedoch ein Prozess der Urbanisierung ein. Die landwirtschaftliche Produktion verliert an Bedeutung. Damit setzt der Prozess der Trennung der Sphäre der Familie von der Sphäre der Ökonomie ein: Die Familie verliert ihre Produktionsfunktion und wird zur Sphäre der Reproduktion, die bürgerliche Gesellschaft dagegen wird zur Sphäre der arbeitsteiligen Produktion. Die Arbeitsteilung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Folgen stellt Hegel in den Paragrafen zum System der Bedürfnisse (§§ 189–208) dar, in denen er sich auch mit der ökonomischen Theorie seiner Zeit auseinandersetzt, was innerhalb eines rechtsphilosophischen Werks ein Novum darstellt. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft sind die Individuen gezwungen, ihre Subsistenz durch Arbeit außerhalb der Familie zu sichern. Im Zuge dieses Prozesses setzt sich die Trennung von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre sowie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung durch: Die Frauen übernehmen vornehmlich die Aufgabe, die notwendigen reproduktiven Tätigkeiten innerhalb des privaten Raums der Familie zu verrichten, während die Männer durch ihre Tätigkeit in der öffentlichen (wenn auch nicht politischen) Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft die Subsistenz der Familie sichern. Gerade in den nicht-bürgerlichen Schichten tragen auch die Frauen in der Regel durch Heim- oder Industriearbeit zum Lebensunterhalt der Familie bei – zusätzlich zur Familienarbeit, was dann zur Doppelbelastung führt. Letzteres Problem thematisiert Hegel jedoch nicht, da er vornehmlich die Familienstruktur der Bourgeoisie im Blick hat; deren geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist allerdings im 19. Jahrhundert und noch lange darüber hinaus auch das propagierte gesellschaftliche Ideal, der Alleinverdienerhaushalt gilt als erstrebenswert. Ein ›guter‹ und ›tüchtiger‹ Ehemann ermöglicht dieser Vorstellung nach seiner Frau, nicht arbeiten gehen zu müssen, damit sie sich ganz dem Haushalt und den Kindern widmen kann; diese Tätigkeiten entsprechen angeblich ihrem natürlichen wie sittlich-intellektuellen Geschlechtscharakter.963 Hegel trägt der Tatsache Rechnung, dass die landwirtschaftliche Produktion in der Moderne an Bedeutung verliert und zu einem Wirtschaftszweig neben anderen wird, wenn er sie angesichts der Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft einem der drei ökonomischen »Stände«964 zuord963 964
Vgl. II.2.2.9. Hegel geht nicht von fixen, politischen Ständen aus, wie sie für den Feudalismus
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net: dem substanziellen (unmittelbaren) Stand, d. i. den Bauern bzw. dem großgrundbesitzenden Adel.965 Der substanzielle Stand hat nach Hegel noch »die substantielle Gesinnung einer unmittelbaren, auf dem Familien-Verhältnisse und dem Zutrauen beruhenden Sittlichkeit.«966 Der Ackerbau hat sich nach Hegel nicht bloß zufälligerweise historisch parallel mit der Einführung der Ehe durchgesetzt; vielmehr ist »für das Princip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung«967, da die Familie auf Sicherung ihres Fortbestandes in Form eines bleibenden Besitzes aus ist.968 In der Landwirtschaft vollzieht sich daher nach Hegel, anders als in den anderen Wirtschaftszweigen, nicht die moderne Trennung von Reproduktions- und Produktionsstätte.969 Diese findet vielmehr vornehmlich in den Städten statt und betrifft v. a. den kontinuierlich wachsenden »Stand des Gewerbs«970 – dazu gehören der Handwerks-, Fabrikanten- und Handelsstand. Auch für den »allgemeine(n) Stand«971, den Beamtenstand, gilt, dass Wohn- und Arbeitsstätte getrennt sind. Den Umbruch, der in der Neuzeit mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft einhergeht, und die Auswirkungen, die er auf den traditionellen, vorindustriellen Familienzusammenhang hat, schildert Hegel in § 238 in aller Drastik. »Zunächst ist die Familie das substantielle Ganze, dem die Vorsorge für diese besondere Seite des Individuums sowohl in Rücksicht der Mittel und Geschicklichkeiten, um aus dem allgemeinen Vermögen sich [etwas] erwerben zu können, als auch seiner Subsistenz und Versorgung im Falle eintretender Unfähigkeit, angehört. Die bürgerliche Gesellschaft reißt aber das Individuum aus diesem Bande heraus, entfremdet dessen Glieder einander, und anerkennt sie als selbständige Personen; sie substituirt ferner statt der äußern unorganischen Natur und des väterlichen Bodens, in welkennzeichnend waren. Der Stand kann in der Moderne durchaus nach Willkür gewechselt werden, auch wenn dafür nicht immer die wirklichen Voraussetzungen gegeben sind (vgl. Jaeschke 2003, S. 388). In diesem Sinne sind die Stände ökonomische, nicht politische Stände. 965 Vgl. GPR, §§ 202–203. 966 Ebd., § 203. 967 Ebd., § 247. 968 Vgl. ebd., § 170; § 203 Anm.; auch II.2.3. 969 Vgl. GPR, § 256 Anm. Hegel hat mit dieser These für seine Zeit sicherlich recht, allerdings wird sie im weiteren Verlauf der Geschichte widerlegt, da auch die Landwirtschaft zunehmend industrialisiert wird, womit eine Trennung von Produktions- und Reproduktionsstätte auch auf dem Land einsetzt. Vgl. dazu Krzymowski 1961. 970 GPR, § 204. 971 Ebd., § 205.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
299
chem der Einzelne seine Subsistenz hatte, den ihrigen und unterwirft das Bestehen der ganzen Familie selbst, der Abhängigkeit von ihr, der Zufälligkeit. So ist das Individuum Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden, die eben so sehr Ansprüche an ihn, als er Rechte auf sie hat.«972 Die Gewalt, mit der die bürgerliche Gesellschaft den traditionellen, vorindustriellen Familienverband auflöst, ist nach Hegel jedoch ambivalent: Sie ist ganz im Sinne der bestimmten Negation nicht bloß negativ zu verstehen. Denn der Bruch mit der alten Wirtschafts- und Familienordnung bringt eine neue Gesellschaftsordnung hervor, mit der auch neue Rechte (und damit zugleich neue Freiheiten) der Individuen einhergehen. Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Individuen ihrer Subsistenzsicherung durch die Arbeit im Familienverband beraubt, so ist es aufgrund der Identität von Rechten und Pflichten973 zugleich ihre Pflicht, den Individuen neue Möglichkeiten zu bieten, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies tut sie im »System der Bedürfnisse«, in der arbeitsteiligen Gesellschaft also, allerdings nur der Möglichkeit nach. Es gibt vielerlei subjektive wie objektive Gründe, warum die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft trotz der prinzipiellen Möglichkeit, ihre Subsistenz im »System der Bedürfnisse« zu sichern, dennoch ohne gesellschaftliche Hilfeleistung nicht in der Lage sind, dies auch wirklich zu tun.974 In § 237 nennt Hegel einige solcher Gründe: »Wenn nun die Möglichkeit der Theilnahme an dem allgemeinen Vermögen für die Individuen vorhanden und durch die öffentliche Macht gesichert ist, so bleibt sie, ohnehin daß diese Sicherung unvollständig bleiben muß, noch von der subjectiven Seite den Zufälligkeiten unterworfen und um so mehr, je mehr sie Bedingungen der Geschicklichkeit, Gesundheit, Capital u.s.w. voraussetzt.«975 Es ist nach Hegel Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft, die Auswirkungen eben dieser Zufälligkeiten einzudämmen und zu mildern. Da sie die Individuen von sich abhängig gemacht hat, muss sie für das Individuum Aufgaben übernehmen, die bisher ihre Familie für sie übernommen hat. Sie bekommt damit nach Hegel in der Neuzeit gegenüber den besonderen Familien den »Charakter der allgemeinen Familie«976. Nach Hegel ist es eine der Aufgaben der Polizei, in der Praxis dafür zu sorgen, dass die bürgerliche Gesellschaft 972 973 974 975 976
Ebd., § 238. Vgl. II.1.3.3. Vgl. GPR, § 230. Ebd., § 237. Ebd., § 239.
300
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
wo nötig die Rolle der »allgemeinen Familie« übernimmt. Als »allgemeine Familie« kann die bürgerliche Gesellschaft nur auftreten, indem sie zugleich die Rechte der besonderen Familien einschränkt. Dies kann gegenüber den besonderen Familien einen Eingriff in ihre Privatsphäre darstellen, ist aber nach Hegel v. a. dann gerechtfertigt, wenn damit die Rechte der Individuen an die bürgerliche Gesellschaft gesichert werden. Die Familie als rechtsfreier Raum behandelt die Individuen nicht als Rechtspersonen, was für die Familienmitglieder von Vorteil sein kann, weil sie dabei bedingungslose Liebe und Geborgenheit erfahren können, aber auch von Nachteil, da sie diese Liebe und die aus ihr folgende Fürsorge nicht rechtlich einfordern können.977 Für die Familienmitglieder kann es sehr wichtig sein, dass die bürgerliche Gesellschaft auch gegen den Familienwillen durchsetzt, dass ihre Persönlichkeitsrechte gewahrt sind. Nach Hegel muss die bürgerliche Gesellschaft dazu beitragen, dass der Einfluss der Familie auf die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums verringert wird. Die zufällige Tatsache, in welche Familie man hineingeboren wird, darf nicht mehr so maßgeblich das Leben der Individuen bestimmen. Eine Maßnahme der bürgerlichen Gesellschaft ist daher z. B. die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die dazu beitragen soll, dass der Bildungsstand der Kinder nicht mehr allein von der Willkür und Zufälligkeit der Eltern abhängt.978 Nach Hegel hat sie sowohl die Pflicht als auch das Recht, selbst gegen den Willen der Eltern für die schulische Erziehung und Bildung der Kinder zu sorgen. Die Einführung der Schulpflicht ist ihr Recht, denn sie kann von den Individuen verlangen, dass sie sich bilden, um ›funktionstüchtige Bürger‹ zu werden, die durch Arbeit ihre Subsistenz sichern können; zugleich ist es aber auch ihre Pflicht, da sie die Rechte der Individuen, hier der Kinder, gegenüber dem Einflussbereich der Familie schützen muss. Da die Erziehung zum Bürger und Staatsbürger gegen die besondere Familie negativ ist,979 ist nicht gesichert, dass die Familie dieser Aufgabe adäquat nachkommt. Modern gesprochen geht es hier also um Eingriffe in die Erziehungsautonomie, um einerseits beschäftigungsfähige Individuen für die bürgerliche Gesellschaft zu produzieren und andererseits zur Entwicklung der Kinder beizutragen. Hegel hat in seinen Vorlesungen eingeräumt, dass es nicht immer einfach ist, die Grenzen der 977
Vgl. II.2.1.3. Dass es auch in der bürgerlichen Gesellschaft noch immer gewaltige Differenzen hinsichtlich der Bildungs- und Entwicklungschancen gibt, soll damit nicht bestritten werden und darf nicht übersehen werden. Es geht hier lediglich darum, zu zeigen, welche Kräfte mit der neuen Wirtschafts- und Sozialordnung im Vergleich zum Feudalismus frei werden konnten, und welche neuen Freiheiten der Individuen damit einhergehen. 979 Vgl. II.2.4.1. 978
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
301
Eingriffsrechte der bürgerlichen Gesellschaft in die Privatsphäre der Familie genau zu bestimmen. Der Eingriff führt jedenfalls nicht selten zu Konflikten, und so haben die Schilderungen der Streitigkeiten zwischen Eltern und Lehrern an öffentlichen Schulen, die sich in der Mitschrift von Griesheim finden, an Aktualität nichts eingebüßt.980 Auch die Forderung nach Durchsetzung einer gesetzlichen Impfpflicht für Schulkinder bei aktuellen Epidemien (zu Hegels Zeit gegen Pocken) spricht einen immer wiederkehrenden Konfliktfall an.981 Neben der Durchsetzung der Schulpflicht ist die bürgerliche Gesellschaft als »allgemeine Familie« auch berechtigt und zugleich verpflichtet, einzugreifen, wenn Familienmitglieder »durch Verschwendung die Sicherheit ihrer und ihrer Familie Subsistenz vernichten«. Die bürgerliche Gesellschaft kann dann einen Vormund einsetzen, um für die verschwenderischen Personen »den Zweck der Gesellschaft und den ihrigen auszuführen.«982 Das Problem der Verschwendung des Familienvermögens betrifft in der Regel Familienväter, die das gemeinschaftliche Familieneigentum – Hegel geht ja von der Gütergemeinschaft aus – verwalten.983 Es ist das Recht der bürgerlichen Gesellschaft, bei Verschwendung einzugreifen, denn sie kann verlangen, dass die Individuen die Möglichkeiten der Subsistenzsicherung, die sie ihnen bietet, auch nutzen. Zudem muss sie die Entstehung des »Pöbels« verhindern, der nach Hegel das Gefühl »des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Thätigkeit und Arbeit zu bestehen«,984 verliert und die bürgerliche Ordnung dadurch gefährdet. Zugleich ist es die Pflicht der bürgerlichen Gesellschaft, den Bürger »zu schützen gegen ihn selbst«985, nur so kann sie zugleich das Recht der Individuen auf Subsistenzsicherung gewährleisten. Zu guter Letzt muss die bürgerliche Gesellschaft als »allgemeine Familie« auch Fürsorgeleistungen übernehmen, für die früher die Familie zuständig war. Da sie die Individuen von sich abhängig gemacht hat, muss sie sich um die Individuen kümmern, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht (oder nicht mehr) in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt und ihr Wohl zu sorgen. Die Armenfürsorge stellt damit eine wichtige Aufgabe der bür980
Vgl. Gr, S. 602, 25 ff. Vgl. ebd., S. 603, 5 ff. Zwar gibt es bspw. in Deutschland im Gegensatz zu einigen anderen mitteleuropäischen Ländern aktuell keine Impfpflicht für Schulkinder, aber über deren Einführung z. B. gegen Masern, wird immer wieder diskutiert. 982 GPR, § 240. 983 Vgl. II.2.3. 984 GPR, § 244. Zu Hegels Begriff des Pöbels vgl. Ruda 2011. 985 Gr, S. 604, 20. 981
302
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
gerlichen Gesellschaft dar. Die Verarmung zahlreicher Menschen ist nach Hegel eine unmittelbare Folge der Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft den Individuen »die natürlichen Erwerbmittel (§. 217.) entzogen [hat] und das weitere Band der Familie als eines Stammes aufhebt (§. 181.)«986. Die fortschreitende Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bringt nach Hegel notwendigerweise – d. h. nicht nur durch die subjektiven Schwächen der Individuen verschuldet – Massenverelendung mit sich, die die bürgerliche Gesellschaft auch nicht in den Griff bekommen kann, da sie sie selbst systematisch durch ihre Produktionsweise hervorbringt.987 Hegel verharmlost die verheerenden Auswirkungen des sich entwickelnden Kapitalismus nicht. Er polemisiert vor dem Hintergrund seiner Moralitätskritik in diesem Zusammenhang gegen die Überlegung, die Besorgung der Armenfürsorge, die Einrichtung von Krankenhäusern usw. allein der Mildtätigkeit der Bürger zu überlassen. Damit gäbe sie das Schicksal der Armen und Notdürftigen der zufälligen moralischen Gesinnung der Bürger preis, statt allgemeine Regelungen zu finden, um der Not Abhilfe zu schaffen.988 Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren neuen Produktionsverhältnissen enthält nach Hegel eine dialektische Dynamik, die sie permanent über sich selbst hinaustreibt.989 Die sich stetig entwickelnde Industrie braucht immer neue Absatzmärkte; ihr Element ist nicht mehr, wie noch in der bedarfswirtschaftlich orientierten, landwirtschaftlichen Produktion der Familie, der feste Grund und Boden, sondern das wankende, flüssige Meer, das ihr ermöglicht, neue Handelsbeziehungen aufzunehmen und so neue Konsumenten zu gewinnen.990 Das kann so weit führen, dass sie zum Mittel der Kolonisation greift, »wodurch sie teils einem Teil der Bevölkerung in einem neuen Boden die Rückkehr zum Familienprinzip« (der Landwirtschaft also) ermöglicht, »theils sich selbst damit einen neuen Bedarf und Feld ihres Arbeitsfleißes verschafft.«991 Auch wenn durch die Kolonisation vorläufig neue Arbeitsmärkte für die wachsende Bevölkerung entstehen, ist jedoch aus der Dynamik heraus klar, dass dies zu keiner dauerhaften Lösung des Problems der Massenverelendung führt, sondern lediglich dieselbe Entwicklung und Dynamik innerhalb der Kolonien in Gang bringt. Neben der Polizei haben nach Hegel die Korporationen die Aufgabe, einen Ersatz für den Verlust der familiären Bande in der bürgerlichen Ge986 987 988 989 990 991
GPR, § 241. Vgl. ebd., §§ 243 f. Vgl. Schnädelbach 2000, S. 289–294. Vgl. GPR, § 242. Vgl. ebd., § 246. Vgl. ebd., § 247. Ebd., § 248.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
303
sellschaft zu bieten. Diese Korporationen sind »berufständische, genossenschaftliche Organisationen der drei zuvor genannten Stände, insbesondere des Gewerbes.«992 Während die Polizei von außen dazu beiträgt, »das Allgemeine, welches in der Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist«, zu verwirklichen und zu erhalten, stellen die Korporationen die Form dar, wie die bürgerliche Gesellschaft von innen heraus dieses dem Besonderen immanente Allgemeine »zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Thätigkeit macht.«993 Dadurch »kehrt das Sittliche als ein immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück«994, weshalb die Korporationen schließlich auch den Übergang der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat darstellen. Die Korporationen stellen insbesondere für das Gewerbe eine wichtige Organisationsform dar, weil der Gewerbestand nach Hegel im Gegensatz zu den zwei anderen Ständen »auf das Besondere wesentlich gerichtet«995 ist. Der Bauernstand bzw. großgrundbesitzende Adel »hat an der Substantialität seines Familien- und Naturlebens in ihm selbst unmittelbar sein concretes Allgemeines, in welchem er lebt.«996 Er hat damit im Sinne der Familienpietät auf unmittelbare Weise das Allgemeine zum Gegenstand, weshalb Hegel ihn auch als den »Stand der natürlichen Sittlichkeit«997 bezeichnet. Auch der Beamtenstand hat Hegel zufolge in seinem Dienst für die Regierung wesentlich »die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte«, und Hegel bestimmt ihn folglich als den »allgemeine(n) Stand«998. Sowohl der substanzielle wie der allgemeine Stand bedürfen deshalb nicht notwendig der Organisation in Korporationen, sie sind schon für sich selbst auf das Allgemeine gerichtet und haben eine sittliche Seite. Für die Versittlichung des Gewerbestands ist dagegen die Korporation eine notwendige Institution: »Das Arbeitswesen der bürgerlichen Gesellschaft zerfällt nach der Natur seiner Besonderheit in verschiedene Zweige. Indem solches an sich 992
Jaeschke 2003, S. 389. GPR, § 249. 994 Ebd. 995 Ebd., § 250 996 Ebd. 997 Ebd., § 305. Nach Hegel kommt dem »substantiellen Stand« deshalb auch gegenüber dem Gewerbestand eine besondere politische Funktion zu: Ihm wird im zweigliedrigen Kammernsystem der gesetzgebenden Gewalt eine eigene Repräsentation eingeräumt, ein »Herrenhaus«, ähnlich dem »House of Lords« im britischen Parlament (vgl. Fetscher 1986, S. 219; vgl. GPR, §§ 305–307). 998 GPR, § 205; vgl. auch § 250. 993
304
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Gleiche der Besonderheit als Gemeinsames in der Genossenschaft zur Existenz kommt, faßt und bethätigt der auf sein Besonderes gerichtete, selbstsüchtige Zweck zugleich sich als allgemeinen, und das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, nach seiner besonderen Geschicklichkeit Mitglied der Corporation (…).«999 Übernimmt die bürgerliche Gesellschaft in der polizeilichen Vorsorge für die Individuen die Funktion der allgemeinen Familie gegenüber den besonderen Familien, so erweist sie sich nun in der Korporation für den gewerbetreibenden Bürger Hegel zufolge als »zweite Familie«1000; denn wie die (erste, natürliche) Familie sich liebevoll um ihre Mitglieder sorgt, so kümmert sich die Korporation als zweite Familie im Namen der Standesehre um ihre Korporationsmitglieder. Dazu gehört z. B., dass sie die Interessen ihrer Mitglieder nach außen vertritt, für fairen Wettbewerb innerhalb des Gewerbes sorgt, ihren Mitgliedern Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen in ihrem Gewerbezweig anbietet und sie durch Einrichtung von Berufskrankenkassen im Krankheitsfall schützt. Die Korporation ist damit »zweite Familie« in einem ähnlichen Sinne, wie die Sitte »zweite Natur« ist: Sie erfüllt ähnliche Funktionen wie die natürliche, erste Familie, aber in einer reflektierten, nicht mehr auf natürlich-unmittelbaren Voraussetzungen basierenden Form. Während die bürgerliche Gesellschaft als allgemeine Familie noch »von den Individuen und ihrer besondern Nothdurft«1001 entfernter ist, kann die Korporation als »zweite« und damit zugleich besondere Familie unmittelbarer und besser die besonderen Interessen der Individuen wahrnehmen, vertreten und schützen. So haben nach Hegel z. B. die Hilfeleistungen für verarmte Mitglieder durch die Korporationen nicht denselben – zu Unrecht – demütigenden Charakter wie die Armenfürsorge durch die bürgerliche Gesellschaft; denn erstens sind diese Fürsorgeleistungen durch die einstige Arbeit der Mitglieder vermittelt und zweitens erfolgen sie nicht durch den abstrakten, allgemeinen Zusammenhang der Gesellschaft überhaupt, sondern durch die konkrete, besondere Gemeinschaft der Korporation.1002 Im Gegensatz zum ländlichen Familienverband, der seine Sicherheit und sein Vermögen in Form von festem Grund und Boden besitzt, haben die gewerbetreibenden Familien ihre Sicherheit in ihrer Befähigung und dem daraus resultierenden Vermögen. Die Korporation prüft sowohl die berufliche Fähigkeit der Individuen als auch ihre Liquidität, die dadurch allgemein 999 1000 1001 1002
Ebd., § 251. Ebd., § 252. Ebd. Vgl. ebd., § 253 Anm.; § 245.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
305
anerkannt ist, sodass ein Korporationsmitglied »seine Tüchtigkeit und sein ordentliches Aus- und Fortkommen, (…) durch keine weitere äußere Bezeigungen darzulegen nöthig hat.«1003 Durch seine Mitgliedschaft in der Korporation beweist es zugleich, dass es nicht nur seine besonderen, eigennützigen Interessen in Konkurrenz zu allen anderen verfolgt, sondern als Mitglied der Korporation »für den uneigennützigern Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemühung hat.«1004 Indem die Korporation innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft für die dauerhafte Subsistenzsicherung der gewerbetreibenden Individuen sorgt, leistet sie als Institution in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft einen ähnlichen Beitrag wie einst in den traditionellen Gesellschaften die Einführung von Ackerbau und Ehe, die »zur Ruhe des Privatrechts und zur Sicherheit der Befriedigung des Bedürfnisses«1005 führten. Wie die Ehe trägt auch die Korporation zur Stabilität und Ordnung der von sich aus zunächst einmal instabilen und unbeherrschten Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft bei, sodass Hegel anmerkt: »Heiligkeit der Ehe, und die Ehre in der Corporation sind die zwey Momente, um welche sich die Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft dreht.«1006 Die Korporation ist durch ihre Bestimmung als »zweite Familie« neben der natürlich-sittlichen (ersten) Familie ein wesentliches Moment der modernen Sittlichkeit und macht nach Hegel neben ihr »die zweyte, die in der bürgerlichen Gesellschaft gegründete sittliche Wurzel des Staats aus.«1007 Während die natürlich-sittliche Familie »die Momente der subjektiven Besonderheit und der objektiven Allgemeinheit in substantieller Einheit« enthält und diese Momente somit auf unmittelbare Weise vereinigt, bringt die Korporation die Einheit dieser beiden Momente auf vermittelte Weise hervor; denn in der bürgerlichen Gesellschaft sind Besonderheit und Allgemeinheit zunächst entzweit zur »in sich reflektierten Besonderheit des Bedürfnisses und Genusses« einerseits »und zur abstracten rechtlichen Allgemeinheit«1008 andererseits. In der Korporation aber wird bewusst und willentlich im Besonderen zugleich der allgemeine Zweck verfolgt, sodass in ihr die bürgerliche Gesellschaft aus sich selbst heraus eine sittliche Organisation erschafft.
1003 1004 1005 1006 1007 1008
Ebd., § 253. Ebd. Ebd., § 203; vgl. GPR, § 253 Anm. Ebd., § 255 Anm. Ebd., § 255. Ebd.
306
II Die Grundlinien der Philosophie des Rechts
Diese sittliche Organisation bleibt jedoch in ihrem allgemeinen Zweck noch beschränkt und endlich, wie auch die Polizei die sittliche Identität von Besonderem und Allgemeinem nur auf äußerliche Weise herbeiführen kann.1009 Da die bürgerliche Gesellschaft auch mit Polizei und Korporationen nicht in der Lage ist, die Probleme eigenständig zu lösen, die sie selbst hervorbringt, geht sie nach Hegel notwendig über in den Staat. In dem »an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit«1010, dem Staat, haben Polizei und Korporation somit ihre Wahrheit. Der Staat kann sich nach Hegel gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft als allgemeine Macht realisieren, sie zu einem bloßen Moment seiner selbst herabsetzen und dadurch die unsittlichen Seiten der bürgerlichen Gesellschaft beherrschen. Angesichts der weiteren Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hin zum modernen Kapitalismus muss bezweifelt werden – und dies wird auch regelmäßig gegen Hegels Staatstheorie eingewandt –, dass es dem Staat möglich ist, die bürgerliche Gesellschaft zu beherrschen. Vielmehr scheint es der bürgerlichen Gesellschaft im modernen Kapitalismus zu gelingen, den Staat für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Auch Hegels Hoffnung, dass berufständische oder genossenschaftliche Korporationen zu Solidarität innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft führen, scheint nicht zuletzt angesichts der weiteren Entwicklung verfehlt. Sie sind in erster Linie Ausdruck der Konkurrenz verschiedener Gewerbe und nur in zweiter Hinsicht der Solidarität ihrer Mitglieder. Wenn Hegels Einschätzung der Beherrschbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft auch fraglich ist, so ist dennoch seine Liberalismuskritik sehr hellsichtig. Sie zeigt, dass sich Hegel intensiv mit der sogenannten ›Sozialen Frage‹ und den Verhältnissen im England seiner Zeit auseinandergesetzt hat, wo die Industrialisierung und der Kapitalismus schon viel weiter fortgeschritten waren als in Preußen. Die englischen Verhältnisse galten ihm, wie vielen seiner Zeitgenossen, zu Recht als Vorbote der Entwicklung, die auch auf dem europäischen Festland und letztlich auf der ganzen Welt zu erwarten war. Wenn es auch heute eher abwegig erscheint, die bürgerliche Gesellschaft als »allgemeine Familie« und berufständische Organisationen als »zweite Familie« zu bezeichnen, so formuliert Hegel dennoch einen Anspruch an die gesellschaftlichen Verhältnisse, der auch heute immer wieder formuliert wird: dass sie nämlich letztlich nicht allein von Konkurrenzverhältnissen beherrscht sein sollten, sondern auch gesellschaftliche Solidarität erfahrbar machen sollten. Rechtsverhältnisse allein reichen nach Hegel nicht aus, damit sittliche Verhältnisse auch wirklich sind. Als Mus1009 1010
Vgl. ebd., § 256. Ebd.
II.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in den Grundlinien
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ter für eine solidarische Gemeinschaft, die sittlich ist, ohne auf Rechtsverhältnissen zu fußen, dient Hegel die Familie – vorausgesetzt, sie entspricht ihrem Begriff. Die Familie ist aber noch von natürlichen Voraussetzungen bestimmt. Der Staat hat nach Hegel die Aufgabe, innerhalb von Rechtsverhältnissen bewusst sittliche und damit auch solidarische Verhältnisse hervorzubringen. Ob, und wenn ja, wie dies möglich ist, bleibt eine Frage auch für die Gegenwart.
III Die Phänomenologie des Geistes III.1 Einleitung III.1.1 Vorbemerkungen Kaum ein philosophischer Text ist philosophisch so faszinierend, so gedankenreich und zugleich so schwer lesbar wie Hegels Phänomenologie des Geistes, und so verwundert es nicht, dass fast jede Arbeit zur Phänomenologie eine Bemerkung über die Schwierigkeit der Lektüre und die ›Dunkelheit‹ dieses Buches vorwegschickt. Lediglich das wiederholte Versprechen der Kennerinnen und Kenner, dass sich die harte Arbeit am Text auch philosophisch auszahlt, macht dabei Mut, sich an dieses eigentümliche frühe Werk Hegels heranzuwagen.1 Aufgrund der Komplexität dieser Schrift sowie der zahlreichen versteckten Zitate, die Hegels Zeitgenossen vermutlich vertraut waren, uns heute aber nicht immer bekannt sind, aber auch schlicht wegen der eigentümlichen Terminologie bedarf der Text einer gründlichen Kommentierung. Wie schwer es ist, einen Kommentar zu liefern, der allgemein verständlich ist, hat kürzlich Siep sehr treffend charakterisiert.2 Diese Schwierigkeit verschärft sich im Falle dieser Arbeit noch dadurch, dass hier ein Kommentar zu einem Abschnitt gegeben werden soll, der sich mitten in der Phänomenologie befindet: Es geht um das Unterkapitel VI.A. Der wahre Geist, die Sittlichkeit aus dem Kapitel VI. Der Geist, in dem Hegel Familie und Geschlecht in der griechischen Antike thematisiert. Diesem Abschnitt geht eine lange und komplexe begriffliche Entwicklung voraus, die für sein Verständnis vorausgesetzt und von Hegel immer wieder in Erinnerung gerufen wird, die aber unmöglich in wenigen verständlichen Worten zusammengefasst werden kann. Auch ist es nicht möglich, die Forschungsliteratur mit ihren Debatten zu Aufbau, Inhalt und Methode der Phänomenologie hier angemessen darzustellen, die im Falle der Phänomenologie nicht zuletzt aufgrund der ungeklärten Entstehungsgeschichte des Werkes ganze Regale füllt.3 Grundkenntnisse der Phänomenologie sowie der über sie geführten Forschungsde1
Als »eigenthümliche frühere Arbeit« bezeichnete Hegel die Phänomenologie von 1807 selbst, wie sich einer Überarbeitungsnotiz entnehmen lässt, die er kurz vor seinem Tod niederschrieb (vgl. PhG, S. 448, 11). 2 Vgl. Siep 2000, S. 9–13. 3 Zur Entstehungsgeschichte der Phänomenologie vgl. Weckwerth 2000, die auch einen Überblick über die Forschungsdebatten zur Phänomenologie gibt.
310
III Die Phänomenologie des Geistes
batte müssen also für die Lektüre des folgenden Kommentars zum Abschnitt VI.A. des Geistkapitels vorausgesetzt werden. Das vorliegende Kapitel richtet sich an Menschen, die selbst an diesem Abschnitt arbeiten und sich den hegelschen Text aneignen möchten. Wer zur leichteren Lektüre des detaillierten Kommentars vorab einen Überblick über Hegels Hauptthesen zu Familie und Geschlecht in der Phänomenologie wünscht, sei auf die Einleitung (I.3) der vorliegenden Arbeit verwiesen. Für die vorliegende Arbeit hat der detaillierte und aufschlussreiche Kommentar von Josef Schmidt eine große Hilfe dargestellt.4 Anders als die Arbeit von Schmidt versteht sich die vorliegende Arbeit jedoch nicht als ein allgemeiner Kommentar zu einem Abschnitt der Phänomenologie, denn sie hat einen bestimmten Fokus: Hegels Familien- und Geschlechtertheorie. Hegel thematisiert die Familie und das Geschlechterverhältnis im Unterkapitel VI.A. Der wahre Geist, die Sittlichkeit keineswegs beiläufig, wie schon der Titel des Abschnitts VI.A.a. Die sittliche Welt, das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib deutlich macht. Für Hegel ist vielmehr eine bestimmte Konstellation des Geschlechterverhältnisses und mit ihm auch ein bestimmtes Verhältnis von Familie und Staat bzw. Polis5 kennzeichnend für die Sittlichkeit der griechischen Antike. Der Kommentar kann sich deshalb nicht auf die Aussagen beschränken, die Familie und Geschlecht allein betreffen, sondern muss deutlich machen, in welchem thematischen und systematischen Zusammenhang Hegel die Familie und das Geschlechterverhältnis innerhalb der Phänomenologie behandelt. Die Schwierigkeit liegt dabei in der Gratwanderung, weder dem inhaltlichen Kontext zu wenig Rechnung zu tragen noch den eigentlichen Fokus, die Familien- und Geschlechtertheorie, aus den Augen zu verlieren.
III.1.2 Die Phänomenologie des Geistes als »Geschichte der Bildung des Bewußtseyns«6 und die Stellung des Geistkapitels Die Einzigartigkeit von Hegels Phänomenologie des Geistes besteht darin, dass hier erstmals die Geschichtlichkeit7 des Geistes systematisch begriffen 4
Vgl. Schmidt 1997. Hegel spricht von ›Staat‹ nicht ausschließlich bezogen auf die neuzeitliche Herrschaftsform, sondern schließt auch frühere Herrschaftsformen wie die Polis mit ein (vgl. Jaeschke 2003, S. 402). 6 PhG, S. 56, 20. 7 Der Ausdruck »Geschichtlichkeit« taucht zwar in der Phänomenologie noch nicht explizit auf, aber wird dennoch inhaltlich bereits gedacht (vgl. Jaeschke 2003, S. 405). 5
III.1 Einleitung
311
wird.8 Der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Geistes und in die Geistigkeit der Geschichte verdankt die Phänomenologie wohl auch maßgeblich ihre Wirkungskraft. Hegels Programm der Phänomenologie ist dabei nicht gleichzusetzen mit verschiedenen »Geschichten des Selbstbewusstseins«, wie sie bereits in der Transzendentalphilosophie von Fichte und Schelling entwickelt wurden.9 Zwar gibt es selbstverständlich Anknüpfungspunkte zu diesen Systementwürfen, denn Hegels Phänomenologie ist nicht zuletzt Produkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie;10 dennoch ist die Phänomenologie vor allem Resultat einer Kritik der philosophischen Systeme Fichtes und Schellings. Hegel geht mit seiner These der Geschichtlichkeit des Geistes weit über den transzendentalphilosophischen Ansatz hinaus. ›Geschichte‹ meint hier nicht wie noch in der Transzendentalphilosophie bloß die Historie eines invarianten Aufbaus des Selbstbewusstseins; vielmehr verändert sich in der Geschichte des Geistes das Wissen selbst qualitativ; die Geschichte des Geistes hat somit für die Erkenntnis selbst konstitutive Bedeutung. Nur durch das Begreifen der eigenen Geschichte kann das philosophische Wissen seinen Erkenntnisanspruch begründen – und somit Wissenschaft werden.11 Ein solches neues Programm einer Geschichte des Geistes erfordert auch eine neue Methode, die sich von der der Transzendentalphilosophie abhebt. In seiner Einleitung in die Phänomenologie12 gibt Hegel einen Überblick über Inhalt und Methode der Phänomenologie, der hier in seinen Grundzügen in Erinnerung gerufen werden soll.13 Nach der Einleitung der Phänomenologie kann diese als Darstellung des »Weg(s) des natürlichen Bewußtseyns, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntniß desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.«14
8
Vgl. Jaeschke 2003, S. 198. Vgl. Jaeschke 2009. 10 Vgl. Düsing 1993; Düsing 1995; Siep 2000. 11 Vgl. Jaeschke 2009. 12 Vgl. PhG, S. 53, 1 – S. 62, 5. 13 Zu Inhalt und Methode der Phänomenologie gibt es eine eigene Forschungsdebatte, die hier nicht dargestellt werden kann. Zu Inhalt und Methode nach Vorrede und Einleitung vgl. Jaeschke 2003, S. 181–185; Siep 2000, S. 63–82, Siemens 2010. 14 PhG, S. 55, 35–39. 9
312
III Die Phänomenologie des Geistes
Die Reihe der Gestaltungen, von denen hier die Rede ist, erweist sich im Laufe der Entwicklung als Sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Verstand, Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist und Religion; Resultat dieser Entwicklung ist schließlich das absolute Wissen, in dem die vorangegangene Erfahrung vollständig aufgehoben und das Bewusstsein zur Kenntnis seiner selbst gelangt ist.15 Diese Kenntnis seiner selbst ist erreicht, wenn »der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriffe entspricht«16 und beides nicht mehr, wie noch auf den vorangegangenen Stufen, auseinanderfällt. Der Weg des natürlichen Bewusstseins17 zum wahren Wissen der Wissenschaft mit seinen Stationen ist nach Hegel keineswegs bloß zufällig oder willkürlich konstruiert; er ist vielmehr notwendiges Resultat der Selbstkritik des Bewusstseins, das den Maßstab seiner Überprüfung selbst mitbringt. Das Bewusstsein ist gekennzeichnet durch den von ihm selbst gesetzten Gegensatz von Bewusstsein und Gegenstand. Es enthält damit einen Widerspruch, es »unterscheidet nemlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie diß ausgedrückt wird, es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens, oder des Seyns von Etwas für ein Bewußtseyn ist das Wissen. Von diesem Seyn für ein anderes, unterscheiden wir aber, das an sich seyn; das auf das Wissen bezogene wird eben so von ihm unterschieden, und gesetzt als seyend auch ausser dieser Beziehung; die Seite dieses an sich heißt Wahrheit.«18 Das Bewusstsein unterscheidet demnach einerseits Wissen und Wahrheit, »Für-es-Sein« des Gegenstandes und »An-sich-Sein« des Gegenstandes, voneinander. Andererseits hat es aber, indem es Wissen vom »An-sich-Sein« des Gegenstandes hat, auch ein »Für-es-Sein« dieses »An sich.« Der Unterschied von »An sich« und »Für es« fällt somit in das Bewusstsein selbst und 15
Eine einführende Kurzdarstellung der verschiedenen »Gestalten des Bewußtseins« in der Phänomenologie mit Hinweisen zur Forschungsliteratur gibt Jaeschke 2003, S. 186– 197, eine ausführlichere einführende Darstellung findet sich bei Siep 2000, S. 83–258; vgl. auch Hansen 1994. 16 PhG, S. 57, 20 f. 17 Siep weist darauf hin, dass der Begriff des »natürlichen Bewußtseins« nicht misszuverstehen ist als Begriff »völliger Naivität, des Common sense oder der Lebenswelt« (Siep 2000, S. 65), sondern von Hegel terminologisch gebraucht wird, nämlich »als Standpunkt (…) von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst, und von sich selbst im Gegensatze gegen sie zu wißen« (PhG, S. 23, 9–11). Aufgrund dieser Struktur enthält das natürliche Bewusstsein einen Widerspruch, der es über sich hinaustreibt (vgl. PhG, S. 57, 52 f.). 18 PhG, S. 58, 25–31.
III.1 Einleitung
313
ist Resultat seiner eigenen Unterscheidungsleistung, was ihm jedoch nicht bewusst ist. Genau an dieser Unterscheidung hat es nun den Maßstab der Überprüfung seines Wissens: Es überprüft sein Wissen an dem, was es »innerhalb seiner für das an sich oder das Wahre erklärt«19. Es bringt aber nicht nur den Maßstab selbst mit, sondern prüft sich auch noch selbst. Es beansprucht nämlich Wahrheit und geht darauf aus, dass sein Wissen vom Gegenstand der Wahrheit des Gegenstandes entspricht. Weil das Bewusstsein nicht nur Bewusstsein des Gegenstandes ist, sondern zugleich Bewusstsein seiner selbst, also »Bewußtseyn dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewußtseyn seines Wissens davon«20, ist mit dem Bewusstsein auch schon gegeben, dass es diese zwei Seiten, die in es fallen, vergleicht: »Indem beyde für dasselbe sind, ist es selbst ihre Vergleichung; es wird für dasselbe, ob sein Wissen von dem Gegenstande diesem entspricht oder nicht.«21 Das natürliche Bewusstsein hat also in sich selbst gewissermaßen den Trieb, sein eigenes Wissen zu hinterfragen und damit seinen ihm immanenten Widerspruch aufzuheben. Gerade weil es in Wahrheit das schlechthin NichtNatürliche ist, sondern Geist, Begriff, ist es »das hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm diß Beschränkte angehört, über sich selbst.«22 In der vergleichenden Prüfung macht das Bewusstsein nun die Erfahrung der Nichtigkeit sowohl seines Wissens als auch seines Gegenstandes wie auch der Beziehung beider. Für es hat diese Erfahrung bloß negative Bedeutung, es erlebt sie als Verlust seiner selbst, als »Weg der Verzweiflung«23. In Wahrheit ist Resultat dieser Nichtigkeit jedoch nicht »Nichts«, sondern aus der bestimmten Negation geht mit immanenter Notwendigkeit eine neue Bewusstseinsgestalt hervor, in der das Bewusstsein die vorher gemachte Erfahrung auf unmittelbare Weise zum Gegenstand hat – auf bloß unmittelbare Weise deshalb, weil es die vorangegangene Erfahrung vergessen hat. Erfahrung lässt sich nach der Einleitung der Phänomenologie also bestimmen als
19 20 21 22 23
Ebd., S. 59, 11 f. Ebd., S. 59, 32 f. Ebd., S. 59, 33–35. Ebd., S. 57, 25 f. Ebd., S. 56, 6.
314
III Die Phänomenologie des Geistes
»(d)iese dialektische Bewegung, welche das Bewußtseyn an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt.24« Die jeweils neue Bewusstseinsgestalt hat also die Nichtigkeit der vorangegangenen Bewusstseinsgestalt selbst zum Gegenstand und ändert dabei nicht nur ihr Wissen, sondern auch den Maßstab ihres Wissens. Der neue Gegenstand der neuen Bewusstseinsgestalt ist also nicht ein bloß willkürlicher, äußerlich gefundener Gegenstand, dem sich das Bewusstsein nun zuwendet, sondern er ist Resultat der Negation der vorangegangenen Gestalt. Dies ist jedoch dem Bewusstsein, das in dieser Bewegung begriffen ist, selbst nicht bewusst, sie geht vielmehr »gleichsam hinter seinem Rücken«25 vor. Diese Betrachtung ist vielmehr »unsere Zuthat«26. Wer aber sind »wir«, die diese Betrachtung vornehmen? Es sind die Leserinnen und Leser der Phänomenologie des Geistes, die die Geschichte der Erfahrung des Bewusstseins nachvollziehen, weil sie sich ihres eigenen Wissens vergewissern wollen und sich selbst als Resultat dieser Geschichte begreifen. Unser Wissen – das ist die Pointe der Phänomenologie – ist Resultat der bereits vollzogenen Entwicklung des Geistes, die bereits an sich bei der Philosophie als Wissenschaft angelangt ist und von der wir ein Moment sind. Diese Entwicklung ist aber noch nicht von uns begriffen, weshalb die Philosophie als Wissenschaft noch selbst bloß Erscheinung ist – und damit ihren Wahrheitsanspruch gegenüber denjenigen, die ihn nicht gelten lassen, nur trocken versichern, nicht aber einsichtig machen kann.27 Unsere eigene Geistesgeschichte ist uns also zunächst selbst noch bloß äußerlich und noch nicht für uns. Der Weg der Phänomenologie des Geistes ist daher aus unserer Perspektive der Weg, auf dem wir die Fortbestimmung des Geistes als Widerlegung der Trennung von Bewusstsein und Gegenstand, von Form und Inhalt des Wissens begreifen. Dabei begreifen wir zugleich den Geist als unsere Selbstverwirklichung, d. h. uns als allgemeines Moment des Begriffs des Geistes. Im Gegensatz zum natürlichen Bewusstsein, das seine Erfahrung vergisst, können wir die Bewegung der Fortbestimmung des Geistes begreifen und erinnern. Für uns geht die vermittelnde Bewegung, die Bewegung des Geistes nicht hinter unserem Rücken vor, sondern wir können den neuen Gegenstand in jeder neuen Bewusstseinsgestalt »als geworden, durch eine Umkehrung des Bewußtseyns
24 25 26 27
Ebd., S. 60, 15–18. Ebd., S. 61, 22. Ebd., S. 61, 5. Vgl. ebd., S. 55, 12–31.
III.1 Einleitung
315
selbst«28 begreifen. Wir können also die Untersuchung durchführen, weil die Bewegung, die wir begreifen, die wirkliche Bewegung des Geistes ist, von der wir selbst ein Moment sind. Die wirkliche Bewegung des Geistes kann daher begriffen werden als die Mitte, die uns als Wissenschaft mit dem natürlichen Bewusstsein zusammenschließt.29 Wir dürfen bei dieser Betrachtung nach Hegel nichts an dem Bewusstsein, wie es unmittelbar auftritt, verändern, sondern müssen bloß zusehen, wie es selbst aufgrund seines Widerspruchs die Erfahrung der Unwahrheit seines Wissens macht. Unser Tun besteht nicht darin, einen äußeren Maßstab an das Bewusstsein heranzutragen, sondern die Erfahrung, die das Bewusstsein macht, zu erinnern und den Zusammenhang zwischen den Bewusstseinsgestalten, die vermittelnde Bewegung des Geistes, zu begreifen. Was für das Bewusstsein als »Weg der Verzweiflung« erscheint, als Verlust seiner selbst, ist für uns vielmehr als der »sich vollbringende Skepticismus«30 der Weg der Realisierung des Geistes, in dem sich der Bewusstseinsgegensatz, an dem das natürliche Bewusstsein festhält, als unwahr erweist. Da der Fortgang der Entwicklung sich jeweils aus der bestimmten Negation der vorangegangenen Bewusstseinsgestalten ergibt und dabei alle Bewusstseinsgestalten durchlaufen werden, kann Hegel in seiner Einleitung abschließend feststellen: »Durch diese Nothwendigkeit ist dieser Weg zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft, und nach ihrem Inhalt hiemit Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns.«31 Es gibt nun nicht nur eine rege Forschungsdebatte darüber, ob das Programm einer »Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns« methodisch eingelöst werden kann bzw. wie es genau zu verstehen ist;32 es wird auch darüber diskutiert, ob Hegel überhaupt an diesem Programm festgehalten hat oder ob er es im Laufe der Arbeit an der Phänomenologie zugunsten einer »Phänome28
Ebd., S. 61, 4 f. Diese These steht im Gegensatz zu der umstrittenen Behauptung Heideggers, die Phänomenologie bewege sich »von Anfang an im Element des absoluten Wissens« (vgl. Heidegger 1988, S. 43). Zur Forschungsdiskussion über diese Frage vgl. Marx 1986, S. 8, Anm. 7. 30 PhG, S. 56, 12 f. 31 Ebd., S. 61, 28–30. 32 Einen guten Überblick über die Forschungsdebatte zu Hegels Darstellung der Methode einer »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« in der Einleitung zur Phänomenologie liefern die verschiedenen Beiträge in Karásek/Kunês/Landa 2006. Zur Kritik an Inhalt und Methode der Phänomenologie bereits bei den Neuhegelianern vgl. auch Weckwerth 2000, S. 103–127, Siep 2000, S. 259–268. Literaturangaben zu den wichtigsten Forschungsarbeiten zur Phänomenologie finden sich bei Siep 2000 und Jaeschke 2003. 29
316
III Die Phänomenologie des Geistes
nologie des Geistes« aufgab. Die Interpreten, die von einem solchen Wechsel ausgehen, wie z. B. Otto Pöggeler, berufen sich u. a. darauf, dass Hegel den Zwischentitel des Werkes während des Drucks von »Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns« zu »Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes« änderte33 und dass mit dem neuen Titel auch ein verändertes Programm einhergehe.34 Während ein erster Teil der Phänomenologie tatsächlich die Erfahrung des Bewusstseins darstelle und damit die Funktion einer Einleitung in das System habe, sei ein zweiter Teil ab dem Geistkapitel »Phänomenologie des Geistes« und somit Teil des Systems.35 Dagegen vertreten andere Interpreten, wie z. B. Siep, die Position, dass »Wissenschafft der Erfahrung des Bewusstseyns« und »Phänomenologie des Geistes« lediglich zwei Aspekte derselben Sache sind:36 Betrachtet man die Phänomenologie als »Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns«, so verfolge man die Entwicklung des natürlichen Bewusstseins hin zum absoluten Wissen, in dem sich das Bewusstsein selbst als Moment des absoluten Geistes begreift. Bestimmt man diese Entwicklung als »Phänomenologie des Geistes«, bringt man dagegen zum Ausdruck, dass alle Bewusstseinsgestalten mehr oder weniger adäquate Erscheinungsweisen des Geistes sind, dass dieser Weg des Bewusstseins also nichts anderes als das Zu-sich-Kommen des Geistes ist. In dem einen Fall betrachtet man also die Entwicklung von ihrem Anfang an, in dem anderen Fall betrachtet man das, woraufhin diese Entwicklung als Resultat geht – oder wie Ludwig Siep es formuliert: In dem einen Fall schaut man die Entwicklung »von unten« an, im anderen Fall »von oben.«37 Nach dieser Interpretation wäre der Titelwechsel also nicht Ausdruck eines Konzeptionswechsels, sondern die Zusammenführung von Bewusstseins- und Geistbegriff wäre 33
Zur Druckgeschichte der Phänomenologie vgl. den editorischen Bericht (PhG, S. 456–463). Zum Titelproblem vgl. auch Nicolin 1967. 34 Otto Pöggeler vertritt die These, dass Hegel im Laufe der Arbeit an der Phänomenologie im Sommer 1806 »die Herrschaft über seine Arbeit verloren habe« (Pöggeler 1993, S. 216), wodurch das Werk in zwei Teile auseinanderbreche: Der erste Teil – von der Sinnlichen Gewißheit bis zum Selbstbewußtsein – ist nach Pöggeler noch als »Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins« konzipiert. Bereits mit dem Selbstbewußtseinskapitel, endgültig aber mit dem Vernunftkapitel komme es zu einem Bruch und es schließe sich ein zweiter Teil an – von Geist bis Absolutes Wissen –, der nicht mehr eine »Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins« sei, sondern »Phänomenologie des Geistes (vgl. Pöggeler 1993, S. 221–223). Pöggeler widerspricht mit seiner These Haering, der ebenfalls von einem Bruch innerhalb der Phänomenologie ausging, diesen aber erst nach dem Vernunftkapitel verortete (vgl. Haering 1934, S. 119). Eine Zusammenfassung der Thesen von Haering und Pöggeler gibt Weckwerth 2000, S. 106 ff. 35 Vgl. Haering 1934, S. 133; Pöggeler 1993, S. 339 ff. 36 Vgl. Siep 2000, S. 63; Jaeschke 2003, S. 177. 37 Vgl. Siep 2000, S. 63.
III.1 Einleitung
317
gerade »Hegels systematische These«38. Neben der Tatsache, dass es einen gedanklichen Zusammenhang zwischen der »Geschichte der Erfahrung des Bewusstseins« und der »Phänomenologie des Geistes« gibt, spricht für diese These auch, dass Hegel noch in der Vorrede, die er erst ganz am Schluss verfasst hat, als er den Titel bereits verändert hatte, festhält: »Die Wissenschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht.«39 Es lässt sich zwar ein anderer Fokus der Vorrede im Vergleich zur Einleitung feststellen, nicht aber ein konzeptioneller Bruch zwischen Vorrede und Einleitung, oder ein Wechsel der Idee, wie Pöggeler behauptet.40 Auch dass in der Phänomenologie bis zum Schlusskapitel durchgehend von einer Erfahrungsgeschichte die Rede ist, die dann im »absoluten Wissen« ihr Ende findet, spricht gegen die These eines Methoden- oder Konzeptionswechsels in der Phänomenologie.41 Die Stellung des Geistkapitels innerhalb der Phänomenologie ist nun gerade aufgrund der Debatte um einen etwaigen Methodenwechsel innerhalb der Phänomenologie umstritten, denn die Interpreten, die von einem solchen Wechsel ausgehen, meinen, dass mit dem Geistkapitel ein neuer Teil der Phänomenologie beginnt, der nicht mehr auf der anfänglichen Methode beruht.42 Unabhängig davon, welche Position man zu der These eines Methodenwechsels einnimmt, ist allgemein unbestritten, dass mit dem Geistkapitel ein entscheidender Einschnitt innerhalb der Phänomenologie erreicht ist, den auch Hegel selbst in seiner Einleitung zum Kapitel VI.43 konstatiert: Erstens erweisen sich auf der Stufe des Geistes alle vorangegangenen Bewusstseinsgestalten – Sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Verstand, Selbstbewusstsein und Vernunft – als bloße Abstraktionen des Geistes, für die seine Existenz in Wahrheit immer schon Voraussetzung ist.44 Zweitens sind die immanenten Entwicklungsstufen des Geistes nicht mehr »Gestalten nur des Bewußtseyns«45, sondern »Gestalten einer Welt«, wodurch nun die chronologische Abfolge verschiedener Epochen der Weltgeschichte Berück-
38 39 40 41 42 43 44 45
Iber 2006, S. 135. PhG, S. 29, 18 f. Vgl. Pöggeler 1993, S. 222, dagegen Jaeschke 2003, S. 184. Vgl. Siep 2000, S. 244. Vgl. Haering 1934, S. 119; Pöggeler 1993, S. 221 f. Vgl. PhG, S. 238, 1 – S. 240, 26. Vgl. ebd., S. 239, 15–39. Ebd., S. 240, 6 f.
318
III Die Phänomenologie des Geistes
sichtigung findet.46 Zwar sind auch schon in den vorangegangenen Bewusstseinsgestalten immer wieder historische Aspekte thematisch gewesen, aber die Abfolge der jeweiligen Gestalten folgte nicht streng dem historischen Verlauf, sondern allein der immanenten Logik, mit der diese Gestalten zum Geist führen.47 Auf der Stufe des Geistes stellt sich nun auch heraus, warum die vorangegangenen Gestalten nicht der realhistorischen Abfolge gemäß auftreten mussten: Sie sind ja in Wahrheit nur Abstraktionen des Geistes und haben nicht in demselben Maße Wirklichkeit wie die »Gestalten einer Welt«, von denen sie bloße Momente sind. Bevor Hegel aber in seiner Einleitung in das Geistkapitel genauer auf die herausragende Stellung des Geistes innerhalb der bisherigen Entwicklung eingeht, gibt er zunächst eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen Entwicklungsstufen der Vernunft, wie sie im vorangegangenen Vernunftkapitel entwickelt wurden, um in Erinnerung zu rufen, wie aus ihnen der Geist hervorging.48 Im Vernunftkapitel setzte sich Hegel mit den Naturwissenschaften seiner Zeit und ihrer philosophischen Begründung als Wissenschaften in der idealistischen Philosophie Kants und Fichtes auseinander.49 Im Kantischen und Fichteschen Idealismus ist die Vernunft Hegel zufolge bestimmt als »die Gewißheit des Bewußtseyns alle Realität zu seyn.«50 Sie wird nun Geist, indem diese bloße Gewissheit zur Wahrheit erhoben wird;51 mit dieser Entwicklung von der bloßen Gewissheit zur Wahrheit geht einher, dass die in der Vernunft bloß unmittelbar und subjektiv vorausgesetzte Einheit von Subjektivität und Wirklichkeit, die noch bloß formal ist, weil beide noch als unterschieden gedacht werden, zu einer wirklichen Einheit wird. Während für die Vernunft die Substanz als »das an- und fürsichseyende geistige Wesen (…) noch nicht Bewußtseyn seiner selbst ist«52, ist der Geist bestimmt als das »an und fürsichseyende Wesen (…), welches sich zugleich als Bewußtseyn wirklich und sich sich selbst vorstellt.«53 Der Geist ist nach Hegel »das Selbst des wirklichen Bewußtseyns, dem er oder vielmehr das sich als gegenständliche wirkliche Welt gegenübertritt, welche aber ebenso für das 46
Vgl. ebd., S. 240, 8–21. Vgl. Siep S. 175. 48 Vgl. PhG, S. 238, 3–27. 49 Zu Hegels Begriff der Vernunft in der Phänomenologie sowie seine Auseinandersetzung mit Kant und Fichte im Kapitel V. Gewißheit und Wahrheit der Vernunft vgl. Düsing 2006, S. 145–164; Kaehler/Marx 1992; Siep 2000, S. 118–173, sowie die Beiträge in dem Sammelband Vieweg/Welsch 2008, S. 311–411. 50 PhG, S. 133, 6. 51 Vgl. ebd., S. 238, 3 f. 52 Ebd., S. 238, 24 f. 53 Ebd., S. 238, 25 f. 47
III.1 Einleitung
319
Selbst alle Bedeutung eines Fremden, so wie das Selbst alle Bedeutung eines von ihr getrennten, abhängigen oder unabhängigen Fürsichseyns verloren hat.«54 Wie aber ist ein solches Selbst zu denken? Es ist eine Einheit, die einerseits das Denken und Handeln der Individuen bestimmt und ihnen somit vorausgesetzt ist, andererseits aber dennoch nur ist, indem sie von den Individuen durch ihr Denken und Handeln hervorgebracht wird.55 Der Geist ist damit wirkliche und lebendige Sittlichkeit, in der die Individuen aufgehoben sind, die aber nur durch die Individuen hervorgebracht wird.56 Die Individuen erfassen die Substanz als ihre Wirklichkeit, die sie bestimmt, die ihnen aber dennoch nicht fremd ist, weil sie ihr eigenes Werk ist. Mit dem Geist ist also ein Bewusstsein der Sittlichkeit der Individuen erreicht, die Grundlage für alles geistige Leben der Menschen und selbst geistig ist. Mit dem Geistkapitel erscheint nun der Geist erstmals als Geist. Zwar waren die vorangegangenen Bewusstseinsgestalten ebenfalls Erscheinungen des Geistes, aber sie erweisen sich nun, da der Geist sich als Geist Gegenstand ist, als bloße »Abstractionen desselben«57: »Alle bisherigen Gestalten des Bewußtseyns (…) sind diß, daß er [der Geist; Anm. EB] sich analysirt, seine Momente unterscheidet, und bey einzelnen verweilt. Diß Isoliren solcher Momente hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen, oder es existirt nur in ihm, der die Existenz ist. Sie haben so isolirt den Schein, als ob sie als solche wären, aber wie sie nur Momente oder verschwindende Größen sind, zeigt ihre Fortwälzung und Rückgang in ihren Grund und Wesen; und diß Wesen eben ist diese Bewegung und Auflösung dieser Momente.«58 Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft sind also entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis in Wahrheit keine selbständigen Gestalten, sondern nur einseitige und deshalb abstrakte Formen der Selbsterkenntnis des Geistes.59 Es »gibt« sie nur als Momente des Ganzen, des Geistes60, der »Individualität und Sozialität, Kultur und Natur umfasst«61. 54
Ebd., S. 238, 29 – S. 239, 2. Vgl. Siep 2000 S. 177; Jaeschke 2003, S. 190; Schmidt 1997, S. 70 f. 56 Vgl. PhG, S. 239, 2–14; II.1.3.3. 57 Ebd., S. 239, 16. 58 GW 9, S. 239, 16–23. 59 Vgl. Siep 2000, S. 178. 60 Wie die verschiedenen vorangegangenen Bewusstseinsgestalten aus der Analyse des Geistes hervorgehen, ruft Hegel an dieser Stelle kurz in Erinnerung (vgl. PhG, S. 289, 34 – S. 290, 17). 61 Siep 2000, S. 176. 55
320
III Die Phänomenologie des Geistes
Mit Beginn des Geistkapitels ist der Geist jedoch wieder zunächst bloß unmittelbares Resultat der bestimmten Negation der Vernunft. In seiner Unmittelbarkeit ist er »das sittliche Leben eines Volks (…); das Individuum, das eine Welt ist«62. Er realisiert sich in seiner Unmittelbarkeit nach Hegel im »schöne(n) sittliche(n) Leben« der griechischen Antike, in der die Individuen sich noch ganz unmittelbar mit den Sitten und Gesetzen der Gemeinschaft im Einklang wussten. Diese Unmittelbarkeit widerspricht jedoch der eigentlichen Natur des Geistes, denn er ist wesentlich Vermittlung und Entzweiung. Um zur wahren Selbsterkenntnis zu gelangen, kann er daher nicht bei dieser ersten Unmittelbarkeit stehen bleiben, sondern muss sich weiterentwickeln, indem er wie bisher auch eine Reihe von Gestalten durchläuft, die nun aber nicht mehr bloß »Gestalten des Bewußtseyns« sind, sondern »Gestalten einer Welt« – »reale Geister«, »eigentliche Wirklichkeiten«63 d. h. ganz konkrete gesellschaftliche Formationen einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte. Auch im Geistkapitel ergibt sich die jeweils folgende Gestalt einer Welt aus der Erfahrung, die das Bewusstsein mit der vorangegangenen Weltgestalt und den in ihr inhärenten Widersprüchen macht. Sie ist also Resultat der bestimmten Negation der jeweils vorangegangenen Weltgestalt. Im Geistkapitel wird somit die Weltgeschichte entwickelt, wie sie sich als Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins mit dem Bewusstseinsgegensatz (von Wissen und Gegenstand, bzw. Denken und Sein) darstellt.64 Hegel gibt abschließend einen Ausblick auf die (historischen) Gestalten, die der Geist durchlaufen wird: von der griechischen Sittlichkeit65 über das römische Recht66 bis zum Mittelalter und der frühen Neuzeit67; dann über die Aufklärung zur Französischen Revolution68 und schließlich zur Moralität des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts69. Die sittliche Welt der griechischen Antike, die im römischen Recht untergeht, die in das Diesseits und Jenseits zerrissene Welt vom Mittelalter bis zur Aufklärung, sowie die Moralität der Moderne sind somit die großen Weltgestalten, die Hegel im Geistkapitel in ihrer historischen Abfolge darstellt.70 Diese Bewe-
62 63 64 65 66 67 68 69 70
PhG, S. 240, 1 f. Vgl. ebd., S. 240, 5 f. Vgl. Siep 2000, S. 73. Vgl. VI.A.a und VI.A.b; vgl. PhG, S. 240, 8. Vgl. VI.A.c; vgl. PhG, S. 240, 10. Vgl. VI.B.I; vgl. PhG, S. 240, 10–14. Vgl. VI.B.II und VI.B.III; vgl. PhG, S. 240, 14–16. Vgl. VI.C.; vgl. PhG, S. 240, 17–21. Vgl. PhG, S. 240, 22 f.
III.1 Einleitung
321
gung geht in »das einfache fürsichseyende Selbst des Geistes«71, die Religion (VII.), zurück. Endgültiges Ziel und Resultat der Entwicklung ist schließlich »das wirkliche Selbstbewußtseyn des absoluten Geistes«72: das absolute Wissen (VIII.). Der Geist, wie Hegel ihn hier im Geistkapitel in der Phänomenologie behandelt, entspricht – da er die Religion noch nicht thematisiert – im Grunde dem, was Hegel später im Kontext der Geist-Philosophie als »objektiven Geist« behandelt.73 Allerdings wird der objektive Geist hier nicht systematisch-begrifflich behandelt, wie später in der Enzyklopädie und in den Grundlinien, sondern in seiner geschichtlichen Bewegung.74 Dadurch erklärt sich auch, warum Hegel hier erst die Sittlichkeit, dann das abstrakte Recht, dann die Moralität verhandelt, während er im systematisch-begrifflichen Kontext erst abstraktes Recht, dann Moralität, dann Sittlichkeit auseinander entwickelt: Historisch früher ist die unmittelbare griechische Sittlichkeit, aus der sich historisch erst das abstrakte Recht und die moderne Moralität entwickeln müssen. Systematisch-begrifflich muss dagegen gezeigt werden, wie sich begrifflich aus dem unmittelbaren, abstrakten Recht zunächst die Moralität entwickelt und daraus schließlich die vermittelte, moderne Sittlichkeit hervorgeht, die als vollkommene Realisierung der Idee des Rechts abstraktes Recht und Moralität in sich aufhebt und somit in Wahrheit die Voraussetzung für diese ihre Momente ist.75 Familie und Geschlecht werden nun im Geistkapitel der Phänomenologie ganz am Anfang der historischen Entwicklung, in der ersten Weltgestalt, thematisch: in der unmittelbaren Sittlichkeit der griechischen Antike. Hegels Darstellung der Familie und des Geschlechterverhältnisses in der Phänomenologie entspricht, gerade weil sie die Familie und das Geschlechterverhältnis in einer konkreten historischen Gestalt, der griechischen Sittlichkeit, zum Gegenstand hat, nicht der Darstellung in den Grundlinien, die den systematischen Familienbegriff entwickeln. Letzterer kann sich nach Hegel nur in der Moderne voll entfalten und setzt insbesondere die Entwicklung des Begriffs der Rechtsperson voraus.76 Dennoch werden auch in der historischen Darstellung, die die Phänomenologie bietet, bereits wichtige systematische Aspekte des Begriffs der Familie entwickelt, die auch noch für die moderne
71 72 73 74 75 76
Ebd., S. 240, 24. Ebd., S. 240, 25. Vgl. Siep 2000, S. 174. Vgl. Jaeschke 2003, S. 190. Vgl. II.1.3.3. Vgl. I.3; II.1.3.3.
322
III Die Phänomenologie des Geistes
bürgerliche Kleinfamilie gelten sollen.77 Anders wäre nicht begreiflich, warum Hegel auch bei der Familie der griechischen Sittlichkeit, welche anders verfasst ist als die moderne bürgerliche Kleinfamilie, die nach Hegel allein dem Begriff der Familie vollendet entspricht, bereits von ›Familie‹ spricht. Es muss nach Hegel ein systematisch-begrifflicher Zusammenhang zwischen der Familie der griechischen Sittlichkeit und der modernen bürgerlichen Kleinfamilie bestehen, der es möglich macht, in der archaischen Familie der griechischen Antike bereits eine – wenn auch noch unvollkommene – Realisierung des Begriffs der Familie zu erkennen.
77
Vgl. Siep 2000, S. 183.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie (PhG, S. 240, 27 – S. 260, 23) III.2.1 »Der wahre Geist, die Sittlichkeit« (VI.A.) (PhG, S. 240, 27 – S. 241, 20) Zu Beginn des Unterkapitels VI.A. Der wahre Geist, die Sittlichkeit78 stellt Hegel zunächst die Momente des Geistes in seiner »unmittelbaren« oder »einfachen Wahrheit«79 dar und erläutert dann in einer kurzen Vorausschau, welche Erfahrung der Geist als das unmittelbare sittliche Selbstbewusstsein machen wird.80 Die eigentliche Erfahrung des Geistes als unmittelbar sittliches Bewusstsein wird dann in den Abschnitten a–c geschildert. Der Geist stellt sich als unmittelbarer Geist wie schon in den vorangegangenen Entwicklungsstufen zunächst in der einfachen Bewusstseinsdifferenz dar, d. h., er setzt in sich selbst den Unterschied des Bewusstseins und der gegenständlichen Substanz.81 Die zwei Momente der Bewusstseinsdifferenz, das Bewusstsein einerseits und die gegenständliche Substanz andererseits, sind für den Geist auf dieser Stufe, in der der Geist erstmals als Geist erscheint, jedoch nicht mehr bloß unmittelbar gegebene Momente, wie noch für das natürliche Bewusstsein, sondern er weiß sie als vom Geist selbst handelnd hervorgebracht. Der Geist selbst setzt also handelnd die Differenz von Bewusstsein und Substanz. Da der Geist in Wahrheit die Einheit der Einheit und der Differenz von Bewusstsein und Gegenstand ist, erscheint die Differenz auch jeweils in den Momenten (Bewusstsein und Substanz), sodass, wie sich noch zeigen wird, sowohl das Bewusstsein als auch die Substanz nochmals in sich unterschieden sind. Zu einer solchen doppelten Trennung kommt es, weil der Gegenstand des Geistes (der Geist als Substanz) notwendig dieselbe Struktur hat wie das Bewusstsein des Geistes selbst, denn er ist nichts anderes als das als Gegenstand gesetzte Bewusstsein.82 Hegel behandelt jedoch zuerst die Trennung des Geistes in Bewusstsein und Substanz,83
78
Vgl. PhG, S. 240, 30 – S. 241, 20. Vgl. ebd., S. 240, 1 f. und 30. 80 Auch alle anderen Kapitel der Phänomenologie sind so aufgebaut, dass Hegel zur besseren Orientierung der Leserinnen und Leser zu Beginn die Erfahrung, die das jeweilige Bewusstsein der Gestalt machen wird, kurz skizziert. 81 Vgl. III.1.2. 82 Dies ist auch auf allen anderen Entwicklungsstufen des Geistes der Fall, denn aufgrund der bestimmten Negation hat jede neue Bewusstseinsgestalt immer die Erfahrung der vorangegangenen Gestalt zum (unmittelbaren) Gegenstand (vgl. III.1.2). 83 Vgl. PhG, S. 240, 32 – S. 241, 5. 79
324
III Die Phänomenologie des Geistes
bevor er dann zeigt, wie sowohl Bewusstsein als auch Substanz nochmals in sich unterschieden sind.84 Die Trennung des Geistes in ein Bewusstsein und eine ihm gegenständliche Substanz stellt sich so dar, dass der Geist als sittliches Selbstbewusstsein den in ihm bloß subjektiv vorhandenen »Zweck, die nur gedachte Substanz«85, auch objektiv, in der Substanz als der »vereinzelnte(n) Wirklichkeit«86 realisieren will. In der sittlichen Handlung wird dem sittlichen Selbstbewusstsein bewusst (für sich), dass es »an sich Einheit seiner und der Substanz«87 ist, denn es realisiert in der zunächst bloß vorgefundenen, vereinzelten Wirklichkeit den von ihm im Denken gesetzten sittlichen Zweck und erhebt damit zugleich diese vereinzelte Wirklichkeit zum Allgemeinen. Die Substanz ist somit kein bloß vorgefundener, vorausgesetzter Gegenstand mehr, denn das Selbstbewusstsein bringt in seinem sittlichen Handeln selbst die in ihm subjektiv vorhandene Substanz zur Wirklichkeit. Das Selbstbewusstsein als die »unendliche Mitte«88 ist somit die Einheit zweier Extreme, die durch die Tätigkeit des Selbstbewusstseins identisch bestimmt sind. Diese Extreme sind die gedachte Substanz einerseits und die vereinzelnte Wirklichkeit andererseits. Das Selbstbewusstsein bringt »die Einheit seines Selbsts und der Substanz als sein Werk und damit als Wirklichkeit hervor«89 Die Trennung des Geistes in das sittliche Selbstbewusstsein einerseits und in die sittliche Substanz andererseits spiegelt sich in der Trennung innerhalb des Selbstbewusstseins und innerhalb der Substanz.90 Diese Trennung entspringt der »Natur des Bewußtseyns«91, das in sich selbst einen Gegensatz setzt.92 Die Substanz wird sich auf der Stufe des unmittelbaren Geistes daher, wie sich noch genauer herausstellen wird, spalten »in ein menschliches und göttliches Gesetz.«93 Das Selbstbewusstsein wird sich ebenfalls spalten in zwei verschiedene sittliche Bewusstseine, die jeweils einem dieser zwei sittlichen Gesetze oder »Mächte« dienen wollen.94 Zur Orientierung sei hier 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Vgl. ebd., S. 241, 6–13. Ebd., S. 241, 3 f. Ebd., S. 241, 2. Ebd., S. 241, 1. Ebd., S. 240, 34. Ebd., S. 241, 4 f. Vgl. ebd., S. 241, 6–13. Ebd., S. 241, 8. Vgl. III.1.2. PhG, S. 241, 10. Vgl. ebd., S. 241, 10–12.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
325
bereits darauf hingewiesen, dass es sich nach Hegel dabei zum einen um das sittliche Bewusstsein der Frauen handelt, die in der Familie dem ›göttlichen Gesetz‹ dienen, zum anderen um das sittliche Bewusstsein der Männer, die in der Polis das ›menschliche Gesetz‹ vertreten.95 Jedes sittliche Bewusstsein wird eine Spaltung in sich selbst erfahren, denn ihm ist immer nur ein Teil seines eigenen Tuns bewusst: Jedes sittliche Bewusstsein teilt sich somit »als Wissen in die Unwissenheit dessen, was es thut, und in das Wissen desselben, das deßwegen ein betrognes Wissen ist.«96 Männer wie Frauen werden schmerzlich erfahren, dass ihr Wissen ein solches betrogenes Wissen ist – betrogen freilich durch sie selbst, durch ihr eigenes Unwissen.97 Zwar erscheint es ihnen anfangs so, als würden sie gerade von den jeweiligen Vertretern des entgegengesetzten Gesetzes bzw. durch das jeweils andere Geschlecht betrogen.98 Aber sie müssen erfahren, dass in Wahrheit ihr eigener sittlicher Anspruch an ihr Handeln getrübt ist durch ihr mangelndes Begreifen des an und für sich Sittlichen. Jedes sittliche Bewusstsein, ob nun das der Frau oder des Mannes, »erfährt also in seiner That sowohl den Widerspruch jener Mächte, worein die Substanz sich entzweite, und ihre gegenseitige Zerstörung, wie den Widerspruch seines Wissens von der Sittlichkeit seines Handelns – mit dem, was an und für sich sittlich ist, und findet seinen eignen Untergang.«99
95
Vgl. III.2.2.5. PhG, S. 241, 12 f. Dass jedes Bewusstsein der sittlichen Substanz in sich geteilt ist in Wissen und Unwissenheit, ist zwar an dieser Stelle nicht eindeutig, geht aber klar hervor aus PhG, 255, 1–7 (vgl. dazu auch II.2.2.3). Noch deutlicher wird es im Abschnitt VII.B.c. Das geistige Kunstwerk, in dem Hegel denselben Zusammenhang unter religionsphilosophischen Aspekten interpretiert. Dort heißt es: »Hingegen der Unterschied des Wissens und Nichtwissens fällt in ein jedes der wirklichen Selbstbewußtseyn – und nur in der Abstraction, im Elemente der Allgemeinheit, vertheilt er sich an zwey individuelle Gestalten.« (PhG, S. 395, 19–22) 97 Vgl. PhG, S. 255, 1 – S. 256, 14; III.2.3.3. 98 Vgl. PhG, S. 252, 15–34; vgl. III.2.3.1. 99 PhG, S. 241, 13–17. 96
326
III Die Phänomenologie des Geistes
III.2.2 »Die sittliche Welt, das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib« (VI.A.a) (PhG, S. 241, 21 – S. 251, 4) III.2.2.1 Allgemeinheit und Einzelheit als Bestimmungen des menschlichen und göttlichen Gesetzes (PhG, S. 241, 21 – S. 243, 5) Wie Hegel bereits in den einleitenden Absätzen des Abschnitts VI.A angedeutet hat, teilt sich die Substanz des Geistes, die an sich einfach ist, als Bewusstsein in zwei Substanzen bzw. in zwei Weisen, in denen diese Substanz existiert.100 Um den Übergang zu den zwei Existenzweisen der Substanz, die sich uns als zwei Gesetze präsentieren werden, zu erläutern, verweist Hegel auf den Übergang von der Sinnlichen Gewissheit zur Wahrnehmung,101 da dieser Übergang eine wichtige Parallele zu dem Übergang von der unmittelbaren Gewissheit der Vernunft (V.C)102 zum Geist (VI) aufweist. Die sinnliche Gewissheit, die nur das abstrakte sinnliche Sein in seiner Unmittelbarkeit zum Gegenstand hatte, ein »reines dieses«103, ging aufgrund ihrer eigenen Dialektik über in die sinnliche Wahrnehmung. Diese hatte nicht mehr bloß ein abstraktes »reines dieses« zum Gegenstand, sondern »ein Ding von vielen Eigenschafften«104. Auch die unmittelbare Gewissheit des realen sittlichen Seins (vgl. V.C.b und V.C.c) geht nun über in ein »sittliches Wahrnehmen«; für die »gesunde Vernunft«105, die unmittelbare Gewissheit des realen sittlichen Seins, war unmittelbar gewiss, was sittlich ist: »So unmittelbar sie es weiß, so unmittelbar gilt es ihr auch, und sie sagt unmittelbar: diß ist recht und gut. Und zwar diß; es sind bestimmte Gesetze, es ist erfüllte, inhaltsvolle Sache selbst.«106 Für die Vernunft bestand das Sittliche demnach in den »unmittelbare(n) sittliche(n) Gesetze(n)«107, die ein unmittelbares ›Dieses‹ sind. Darin liegt die Parallele zur Sinnlichen Gewissheit. Für das sittliche Bewusstsein auf der 100
Vgl. ebd., S. 242, 32 f. Vgl. Phänomenologie, Kapitel I und II. Zu den Kapiteln Sinnliche Gewissheit und Wahrnehmung vgl. Graeser 2006; Hagner 2006; Kettner 1990; Westphal 1973, Wieland 1973; Siep 2000, S. 83–91. 102 Hegel macht bereits im Abschnitt V.C.b auf den Zusammenhang der unmittelbaren Gewissheit des sittlichen Bewusstseins in der gesetzgebenden Vernunft mit der sinnlichen Gewissheit aufmerksam (vgl. PhG, S. 229, 27–31). 103 PhG, S. 63, 20. 104 Ebd., S. 241, 28; vgl. auch PhG, S. 71, 30. 105 Ebd., S. 229, 23 f. 106 Ebd., S. 229, 24 f. 107 Ebd., S. 229, 34 f. 101
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
327
Stufe des Geistes stellt sich das Sittliche dagegen nicht mehr als eine Vielzahl unmittelbar gegebener sittlicher Gesetze dar. Wie die sinnliche Wahrnehmung ein Ding von vielen Eigenschaften zum Gegenstand hatte, so bezieht sich die sittliche Wahrnehmung in ihrem Handeln auf eine sittliche Wirklichkeit von vielen sittlichen Beziehungen. Bereits in der sinnlichen Wahrnehmung ließ sich die Vielheit der Eigenschaften in den wesentlichen Gegensatz der Einzelnheit und Allgemeinheit zusammenfassen. Dasselbe geschieht nun im sittlichen Bewusstsein: Die vielen »unmittelbar seyenden Massen des sittlichen Wesens«108, d. i. die vielen unmittelbar geltenden sittlichen Gesetze, die die sittliche unmittelbare Gewissheit noch zum Gegenstand hatte, lassen sich auf den wesentlichen Gegensatz zweier sittlicher Gesetze reduzieren, von denen das eine der Einzelnheit, das andere der Allgemeinheit verpflichtet ist. Neben dieser Parallele der sittlichen Wahrnehmung und der sinnlichen Wahrnehmung gibt es jedoch auch einen wichtigen Unterschied beider Formen: In der sinnlichen Wahrnehmung wurde noch vorausgesetzt, dass der Gegensatz von Allgemeinheit und Einzelnheit die Dinge wesentlich bestimmt. Die sinnliche Wahrnehmung war daher bemüht, beide Momente strikt zu unterscheiden, und verteilte die Bestimmungen an ihrem Gegenstand.109 Während in der Wahrnehmung der Gegensatz von Einzelnheit und Allgemeinheit somit noch substanziell war, lassen sich die beiden sittlichen Gesetze nur oberflächlich durch diesen Gegensatz charakterisieren. Hegel betont daher: »Jede dieser Massen der Substanz bleibt (…) der ganze Geist«110, d. h., beide Gesetze haben die sittliche Substanz in ihrer Totalität zum Gegenstand.111 Da der Geist selbst die vermittelte Einheit von Einzelnheit und Allgemeinheit ist, müssen beide Momente, Allgemeinheit und Einzelnheit, an beiden Gesetzen als Momente vorkommen, jedoch so, dass eine der beiden Bestimmungen sich zumindest oberflächlich einseitig als das Bestimmende darstellt. Das eine Gesetz macht deshalb an der Oberfläche die Einzelnheit zu seinem Gesetz, hat aber die Allgemeinheit ebenso an sich, denn es hat, wie sich noch zeigen wird, das Einzelne als Allgemeines zum Gegenstand. Das andere dagegen macht die Allgemeinheit zum Gesetz, ist aber ebenso durch die Einzelnheit bestimmt, indem es auf das Allgemeine als Einzelnes geht. Nach Hegel lassen sich die Bestimmungen der Einzelnheit und der Allgemeinheit ohnehin nicht getrennt denken, sondern sie gehen notwendig ineinander über, wie sich uns auch schon an der Dialektik der Wahrnehmung gezeigt hat. 108 109 110 111
Ebd., S. 229, 30 f. Vgl. Hagner 2006. PhG, S. 241, 34 f. Vgl. auch ebd., S, 242, 32 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
Um nun die beiden Gesetze näher bestimmen zu können, macht Hegel zunächst eine wichtige Bemerkung, in der er erläutert, was auf der Stufe des Geistes unter Einzelnheit zu verstehen ist. Mit Einzelnheit ist hier nämlich nicht mehr ein einzelnes zufälliges Bewusstsein gemeint,112 wie das z. B. noch in der Sinnlichen Gewissheit und der sinnlichen Wahrnehmung der Fall war, in denen die Einzelnheit der Allgemeinheit noch bloß entgegengesetzt wurde. Einzelnheit hat hier vielmehr »die Bedeutung des Selbstbewußtseyns überhaupt.«113 Hegel bezieht sich mit diesem Hinweis auf den Begriff des Selbstbewusstseins, der sich uns, den Leserinnen und Lesern der Phänomenologie, im Kapitel IV. Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst bereits als Resultat des reinen Begriffs der Anerkennung erwiesen hat.114 Dort zeigte sich, dass jedes einzelne Selbstbewusstsein als Selbstbewusstsein zugleich allgemein ist, weil es im anderen Selbstbewusstsein bei sich und somit »Einheit seiner selbst in seinem Andersseyn« ist.115 Allerdings muss sich der reine Begriff des Selbstbewusstseins und der Anerkennung erst noch für das Selbstbewusstsein selbst als Resultat seiner eigenen Erfahrung ergeben – was erst vollständig im römischen Recht der Fall ist. Im Selbstbewusstseinskapitel wird also nur die Erfahrung des Selbstbewusstseins dargestellt, durch die sich das Selbstbewusstsein in seiner Allgemeinheit entfalten kann. Der reine Begriff des Selbstbewusstseins bzw. der Anerkennung wird zu Beginn des Selbstbewußtseinskapitels von Hegel nur zur Orientierung für die Leserinnen und Leser vorweggenommen, da er für sie schon Resultat der Dialektik des Verstandes ist. Schon dort weist Hegel darauf hin, dass wir mit »dem Selbstbewußtseyn (…) in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten«116 sind, denn damit ist der Begriff des Geistes für uns bereits vorhanden, auch wenn das Bewusstsein erst noch erfahren muss, was diese seine Wahrheit ist: »Was für das Bewußtseyn weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freyheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nemlich verschiedener für sich seyender Selbstbewußtseyn, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtseyn hat erst in dem Selbstbewußtseyn, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigten Scheine des sinnlichen Disseits, und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.«117 112 113 114 115 116 117
Vgl. ebd., S. 242, 3 f. Ebd. Vgl. ebd., S. 108, 29 – S. 110, 29. Ebd., S. 108, 30 f. Ebd., S. 103, 28 f. Ebd., S. 108, 35 – S. 109, 3.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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Damit wird deutlich, wie im Geist Einzelnheit und Allgemeinheit eins sind: Der Geist ist selbstbewusste, an und für sich seiende Einheit, d. h. Einzelnheit, »Ich«. Die Einzelnheit ist aber allgemein, weil sie sich in dem Verhältnis vieler Einzelner zueinander realisiert. Der Geist übergreift die verschiedenen Selbstbewusstseine und ist deren allgemeines Selbstbewusstsein, d. h. »Wir«. Auf diesen Gedanken bezieht sich Hegel, wenn er im Geistkapitel schreibt: »Die sittliche Substanz ist also in dieser Bestimmung [der Einzelnheit, Anm. EB] die wirkliche Substanz, der absolute Geist in der Vielheit des daseyenden Bewußtseyns realisiert.«118 Diese »Vielheit des daseyenden Bewußtseyns« ist das Gemeinwesen,119 das Hegel auch wiederholt als das »sittliche Leben eines Volks«120 bezeichnet. Für uns, die Leserinnen und Leser der Phänomenologie, hatte sich bereits im vorangegangenen Kapitel, dem Vernunftkapitel, im Unterkapitel V.B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst gezeigt, dass das Gemeinwesen bzw. das sittliche Leben eines Volkes das Dasein des Geistes ist.121 Allerdings war das wieder nur für uns der Fall, noch nicht für die Vernunft selbst. Erst auf der jetzigen Entwicklungsstufe, der Stufe des Geistes, ist das Gemeinwesen sowohl für sich selbst eine selbstbewusste Einheit als auch für das einzelne Bewusstsein, das auf der Stufe des Geistes steht, das Wesentliche. Es gibt deshalb auf dieser Stufe ein gesellschaftliches Bewusstsein, und jedes einzelne Bewusstsein kann sich als Teil des gesellschaftlichen Ganzen erfassen. Das Gemeinwesen ist damit an und für sich seiender Geist: Der Geist ist als Gemeinwesen für sich, denn er realisiert sich »im Gegenschein der Individuen.«122 Damit ist die wechselseitige selbstbewusste Beziehung der Bürger123 gemeint, durch die das Gemeinwesen sich als ein sich seiner selbstbewusstes Ganzes hervorbringt. Indem der Geist als Ge-
118
Ebd., S. 242, 5–7. Vgl. ebd., S. 242, 7. 120 Ebd., S. 240, 1. 121 Vgl. ebd., S. 194, 1–29. Dass Hegel sich hier auf das Unterkapitel V.B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst bezieht, zeigt sich daran, dass er von dem »Eintritt in die praktische Gestaltung der Vernunft überhaupt« (PhG, S. 242, 7 f.) spricht. 122 PhG, S. 242, 11. 123 Hegel spricht im Zusammenhang mit der griechischen Sittlichkeit mehrfach vom ›Bürger.‹ Dies ist hier selbstverständlich nicht im Sinne der modernen Unterscheidung von ›Bourgeois‹ und ›Citoyen‹ zu verstehen, die in der griechischen Polis ja noch gar nicht vorhanden ist, da es noch keine Privatsphäre der Bürger neben der öffentlichen Sphäre des Staates gibt. Es geht vielmehr um den Bürger der politiké koinonia bzw. societas civilis. 119
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III Die Phänomenologie des Geistes
meinwesen für sich ist, ist er Subjekt. Zugleich ist er an sich oder Substanz, indem er die Individuen »in sich erhält«124. Das Wahre ist auf dieser Stufe somit auch für das Bewusstsein, das unser Gegenstand ist, sowohl Substanz als auch Subjekt, wie Hegel es in der Vorrede zur Phänomenologie gefordert hatte.125 Als Substanz ist der Geist hier ein Seiendes, das Voraussetzung für die Existenz der Individuen ist. Auch wenn es zunächst so aussehen kann, als brächten die einzelnen Bewusstseine den Geist erst hervor, indem sie sich wechselseitig aufeinander beziehen, ist es doch in Wahrheit nach Hegel ein umgekehrtes Bedingungsverhältnis: Der Geist ist Voraussetzung dafür, dass die einzelnen Bewusstseine sind und sich aufeinander beziehen können. Der Geist als Gemeinwesen wird also nach Hegels Verständnis nicht durch die einzelnen Bürger und ihre Beziehung produziert, sondern er produziert sich selbst im »Gegenschein der Individuen«126, seiner Bürger. Das Ganze des Gemeinwesens ist daher nicht Resultat des wechselseitigen Verhältnisses seiner Teile, der einzelnen Bürger, sondern nur in dem Ganzen haben die einzelnen Bürger überhaupt Bestand. Der Geist realisiert sich in seiner Gedoppeltheit, als Substanz und Subjekt, im ganzen Volk einerseits und im einzelnen Bewusstsein des Bürgers andererseits.127 Während auf der Stufe der praktischen Vernunft nur für uns Leserinnen und Leser das Gemeinwesen das Wahre war, ist nun auf der Stufe des Geistes auch für das einzelne Bewusstsein, das wir betrachten, der Geist das Wesen, in dessen Wirklichkeit, dem Volk, es seine Gewissheit hat. Der ›Gegenschein der Individuen‹ kann als eine unmittelbare Realisierung des Anerkennungsverhältnisses gelten, dem allerdings aufgrund seiner bloßen Unmittelbarkeit ein wesentlicher Aspekt des reinen Begriffs der Anerkennung noch fehlt: die Anerkennung des einzelnen Bürgers als selbständiges Bewusstsein, als Rechtsperson, als die er zugleich im Gegensatz zur allgemeinen Substanz steht und »negatives allgemeines Selbst«128 ist. Zwar werden die Bürger in ihrer Einzelheit anerkannt, insofern sie Momente des Gemeinwesens sind, aber für den voll realisierten Begriff der reinen Anerkennung ist entscheidend, dass auch ihre Selbständigkeit anerkannt wird.129 Dies ist nach Hegel in vollendeter Weise erst im modernen
124
PhG, S. 242, 12. Vgl. ebd., S. 18, 3 f. 126 Ebd., S. 242, 11. 127 Vgl. ebd., S. 242, 12 f. 128 Ebd., S. 261, 6 f. 129 Schulte behauptet dagegen, der Mann werde als Erwachsener weder in der Sphäre der Familie noch in der Sphäre der Polis als Einzelner anerkannt. Nur solange er noch Jüngling sei, erhalte er Anerkennung, nämlich durch die Schwester (vgl. Schulte 1992, S. 143). Zu einer Kritik dieser Interpretation vgl. III.2.2.4.2.3. 125
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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Rechtsstaat der Fall,130 für den die Anerkennung der Individuen als Rechtspersonen, die erstmals im römischen Recht realisiert ist, eine notwendige Voraussetzung ist. Den Geist als das sich seiner selbst bewusste Gemeinwesen nennt Hegel »das menschliche Gesetz«131, weil es ein vom Menschen bewusst hervorgebrachtes Gesetz ist. Als eine Darstellungsform des Geistes müssen beide Momente, Einzelnheit und Allgemeinheit, an ihm sein. Die Allgemeinheit des menschlichen Gesetzes stellt sich durch die allen Bürgern bekannten und öffentlichen Gesetze dar, die in der Sitte eines Volkes gelebt werden. Das Moment der Einzelnheit realisiert sich, wie wir bereits gesehen haben, in zweifacher Hinsicht: erstens, indem sich die einzelnen Bürger als Einzelne jeweils der Einheit des Geistes bewusst sind; zweitens in der Regierung, die nach Hegel selbst das Bewusstsein des Gemeinwesens in seiner Totalität als Einheit darstellt.132 Dem Bewusstsein, das sich dem menschlichen Gesetz verpflichtet fühlt, ist das Wahre »die offene an dem Tag liegende Gültigkeit«133 – denn die Gesetze und die Sitten des Volkes sind allen Staatsbürgern bekannt134, und an sie sollen sich alle halten. Da der Geist auf dieser Stufe unmittelbar ist, muss diese Wahrheit für das Bewusstsein die Form des äußeren Daseins haben; sie kann demnach nicht bloß innerlich bleiben, sondern sie muss sich im Dasein frei entfalten. Das »menschliche Gesetz« wird sich – dies sei hier zur Orientierung vorweggenommen – als das Gesetz herausstellen, das die Männer vertreten.135 Es tritt als sittliche Macht mit seinen öffentlichen Gesetzen in Form der Staatsmacht auf.136 Da wir uns noch auf der Stufe des unmittelbaren Geistes befinden, ist die Bewusstheit des Geistes, wie sie von der Staatsmacht im menschlichen Gesetz als Wahrheit und Wirklichkeit behauptet wird, jedoch nur eine Seite der sittlichen Substanz. Die Staatsmacht als Vertreterin des menschlichen Gesetzes meint zu wissen, was sie tut, aber sie hat in Wahrheit nur die am Tage liegende Seite der Substanz zum Gegenstand. Sie ist sich ihrer eigenen Voraussetzungen nicht bewusst und hat daher »an dem innern Wesen noch ein Anderes als sie ist«, denn sie hat es nur mit dem äußeren, offenbaren, daseienden Wesen zu tun. Ihre Einseitigkeit zeigt sich darin, wie sie sich als Allgemeinheit realisiert: Sie richtet sich nämlich mit Gewalt ge130 131 132 133 134 135 136
Vgl. II.2.2.3. Vgl. PhG, S. 242, 18 f. Vgl. ebd., S. 242, 20 f. Ebd., S. 242, 23. Vgl. auch ebd., S. 242, 20. Vgl. ebd., S. 248, 11–32; vgl. III.2.2.5. Vgl. PhG, S. 242, 22–29.
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III Die Phänomenologie des Geistes
gen das »individuelle fürsichseyn«137. Die Allgemeinheit des Staates und die Besonderheit der Individuen sind in der antiken Polis dadurch noch nicht auf befriedigende Weise miteinander vermittelt, denn sie bilden nur eine unmittelbare Einheit. Aufgrund der Unmittelbarkeit des Geistes treten sie auch in einen Gegensatz. Erst der moderne bürgerliche Rechtsstaat hat nach Hegel »diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjectivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.«138 Dem menschlichen Gesetz tritt somit ein anderes Gesetz, das »göttliche Gesetz«, entgegen, das ebenso unmittelbar sein Recht behauptet. Das Gesetz der Götter war bereits auf der vorangegangenen Stufe, der Vernunft, durch ein Zitat aus der Antigone von Sophokles dadurch charakterisiert worden, dass »keiner weiß, von wannen es erschien.«139 Es ist demnach im Gegensatz zum menschlichen Gesetz gerade kein von Menschen selbst bewusst hervorgebrachtes Gesetz, sondern wird als ein den Menschen durch die Götter vorgeschriebenes, ewiges Gesetz gedacht, dem sich die Menschen unterordnen müssen. Hegel bezeichnet es auch deshalb als »göttlich«, weil es nicht auf »rationale Vereinbarungen zurückgeht, sondern auf die Kräfte der Natur und ihre Deutung im Mythos und in der Religion.«140 Das göttliche Gesetz hat die Form eines unmittelbar seienden Gesetzes,141 das den Menschen vorausgesetzt ist. Als menschliches Gesetz ist die Substanz die Wirklichkeit der Sittlichkeit, als göttliches Gesetz ist sie dagegen die Voraussetzung für Sittlichkeit überhaupt: »allgemeine Möglichkeit der Sittlichkeit.«142 Als Wirklichkeit hat der Begriff auch äußere Realität, Dasein, als bloße Möglichkeit ist er dagegen der bloß »innre Begriff«143. Wenn Hegel das göttliche Gesetz als den bloß innren Begriff bezeichnet, heißt das, dass der eigentlich sittliche Inhalt des göttlichen Gesetzes kein adäquates äußeres Dasein hat, sondern bloß »unmittelbares (…) Sein«144. Er ist gerade nicht »offen an dem Tage«, wie beim menschlichen Gesetz, denn das göttliche Gesetz ist, wie sich noch genauer zeigen wird, ein unterirdisches Gesetz.145
137 138 139 140 141 142 143 144 145
Ebd., S. 242, 30. GPR, § 260; vgl. Ho, S. 716, 31 ff.; II.1.3.3. PhG, S. 236, 11. Siep 2000, S. 182. Vgl. PhG, S. 242, 35. Ebd., S. 242, 36. Ebd., S. 242, 36. Ebd., S. 243, 3 f. Vgl. ebd., S. 249, 1–5.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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Da das göttliche Gesetz ebenfalls Geist ist, kann es jedoch nicht bloß unmittelbare Substanz sein. Es muss auch das Moment des Selbstbewusstseins an ihm vorkommen, denn der Geist in der Entwicklungsstufe, auf der wir uns befinden, ist wesentlich seiner selbst bewusste Substanz. Das göttliche Gesetz hat nach Hegel ein Selbstbewusstsein als »natürliches sittliches Gemeinwesen«, als Familie, denn in der Familie realisiert sich nach Hegel auf naturwüchsige und noch unbewusste Weise das, was der Staat frei und bewusst hervorbringt: eine sich ihrer selbst bewusste Einheit, die sich in dem Anerkennungsverhältnis der Individuen realisiert. Wie den Staatsbürgern bewusst ist, dass sie ihre Substanz nur in dem Volk haben, so empfinden auch die Familienmitglieder, dass sie nicht unmittelbar selbständige Individuen sind, sondern dass sie ihr Sein und ihr Bewusstsein dem Dasein anderer verdanken. Die Familie ist damit »ein unmittelbares Bewußtseyn seiner wie als Wesens so als dieses Selbsts in einem Andern«146, womit die Familie ein natürlich-sittliches Anerkennungsverhältnis darstellt.147 Ebenso wie die Polis in der Regierung eine sich ihrer selbst bewusste einfache Individualität ist, hat auch die Familie ein Bewusstsein ihrer selbst als Einheit in der Familienpietät, in der den Penaten gehuldigt wird.148 Die Familienpietät bestimmt Hegel in seiner nur wenige Jahre nach der Phänomenologie geschriebenen Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse aus seiner Zeit als Rektor an einem Nürnberger Gymnasium folgendermaßen: »Bei den Alten hieß die Gesinnung der Familienliebe, das Handeln in ihrem Sinn pietas. Die Pietät hat mit der Frömmigkeit, die auch mit diesem Wort bezeichnet wird, gemeinschaftlich, daß sie ein absolutes Band voraussetzen, die an und für sich seiende Einheit in einer geistigen Substanz, ein Band, das nicht durch besondere Willkür oder Zufall geknüpft ist.«149 Die Familie, die das göttliche Gesetz vertritt, tritt also dem Staat, der das menschliche Gesetz vertritt, entgegen. Sie ist nach Hegel »der bewußtlose
146
Ebd., S. 242, 39 f. Vgl. dazu auch ebd., S. 246, 27– S. 248, 10; II.2.2.3. 148 Vgl. PhG, S. 242, 37– S. 243, 5; II.2.2.9.2. Die Pietät der Familie ist in der Antike mit der Verehrung der verstorbenen Vorfahren einer Familie, den sogenannten ›Penaten‹ verknüpft, die die Familie und deren Haushalt schützen sollen. Der Name ›Penaten‹ leitet sich etymologisch von lat. ›penus‹ ab, was übersetzt ›das Innere des Hauses‹ oder ›die Vorratskammer‹ heißt, so dass die Penaten ›die Götter des Inneren‹ sind (vgl. Linderski 2000). In der Verehrung der Penaten als Hausgötter wird somit die Familie als ein Zusammenhang vieler Generationen vorgestellt. 149 GW 10,1, S. 413, 11 f., § 49. 147
334
III Die Phänomenologie des Geistes
noch innre Begriff«, das bloße »Element der Wirklichkeit des Volks«, bloß »unmittelbares sittliches Seyn«150. Der Staat ist dagegen die ihrer selbst bewusste Wirklichkeit, das wirkliche Volk, das sich »durch die Arbeit für das Allgemeine«151 als Sittlichkeit bildet und erhält. Er ist damit nicht bloß unmittelbar und naturwüchsig, sondern durch Tätigkeit vermittelt und Ausdruck der Freiheit des Bewusstseins. Der Familiengeist als Geist der Penaten tritt somit dem Staatsgeist als dem »allgemeinen Geist«152 gegenüber. Es wird sich später herausstellen, dass es die Frauen sind, die das göttliche Gesetz vertreten und damit den Männern gegenübertreten, welche Vertreter des menschlichen Gesetzes sind.153
III.2.2.2 Auf der Suche nach der »eigenthümliche(n) Sittlichkeit« der archaischen Familie (PhG, S. 243, 6 – S. 244, 13) Wenn Hegel die Familie in der Phänomenologie als ein natürliches Gemeinwesen154 bestimmt, so fragt sich, inwiefern sie zugleich als eine sittliche Substanz bezeichnet werden kann, denn das Sittliche ist doch wesentlich geistig und gerade nicht natürlich. Dieser Frage geht Hegel im nächsten Abschnitt nach,155 in dem er untersucht, worin die »eigenthümliche Sittlichkeit«156 der Familie besteht – das also, was die Familie zu einer sittlichen Institution macht.157 Dabei muss es sich notwendig um etwas Allgemeines handeln, da »das Sittliche das an sich allgemeine ist«158 – gerade dadurch zeichnet es sich ja als etwas Geistiges aus. Um die eigentümliche sittliche Handlung der Familie positiv bestimmen zu können,159 gibt Hegel zunächst all die Handlun150
PhG, S. 243, 3 f. Ebd., S. 243, 4. 152 Ebd., S. 243, 5. 153 Vgl. ebd., S. 248, 11–32; Ebd., S. 250, 29–33; vgl. III.2.2.5. 154 Vgl. PhG, S. 243, 1. 155 Vgl. ebd., S. 243, 6 – S. 244, 13. 156 Ebd., S. 243, 11. 157 Nach Brauer gehört die Familie in der Phänomenologie noch nicht »in die Reihe der sittlichen Institutionen« (Brauer 2007, S. 21), da sie das Merkmal der Unmittelbarkeit und Partikularität aufweist. Hegel habe diese Einschätzung erst in den Nürnberger Schriften geändert. Sie zieht für diese Interpretation die Stelle PhG, S. 243, 6–9 heran. Dem liegt jedoch ein Missverständnis zugrunde. Hegel möchte im Abschnitt S. 243, 6 – S. 244, 13 gerade zeigen, dass die Familie auch schon in der antiken Sittlichkeit keine Naturgemeinschaft ist, sondern ein natürlich-sittliches Gemeinwesen. Im Vollzug der Bestattung der Toten erweist sich ihr sittlicher Charakter. 158 PhG, S. 243, 12 f. 159 Vgl. ebd., S. 244, 2–13. 151
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
335
gen an, die die Sittlichkeit der Familie nicht ausmachen können, obwohl sie dafür geeignet zu sein scheinen:160 1) Zunächst scheint es nahe zu liegen, die Sittlichkeit der Familie in dem liebevollen Verhältnis der Familienmitglieder untereinander zu suchen.161 Liebe ist jedoch nach Hegel eine bloße Empfindung und als solche unmittelbar, zufällig, subjektiv und einzeln.162 Sie kann deshalb nicht allgemein-sittlich sein. Nach Hegel kann die Sittlichkeit der Familie erst auf der Stufe des bürgerlichen Rechts auf Liebe beruhen, weil die Liebe erst in der bürgerlichen Ehe einen ihr entsprechenden sittlichen und institutionalisierten Ausdruck bekommt, durch den sie in ein objektives und allgemeines Verhältnis transformiert wird. Dies hängt damit zusammen, dass erst im modernen bürgerlichen Rechtsstaat der Begriff der Rechtsperson entwickelt ist, sodass die Liebe dort bestimmt werden kann als der Akt, in dem die Ehepartner beide ihren Status als selbständige Rechtspersonen aufgeben und gemeinsam eine Person ausmachen.163 In der griechischen Sittlichkeit ist der Begriff der Rechtsperson jedoch noch nicht entwickelt, denn dieser wird erst im römischen Recht eingeführt. In ihr hat die Liebe daher Hegel zufolge noch keinen objektiven Charakter und kann nicht die allgemeine sittliche Handlung darstellen. 2) Ebenfalls könnte man meinen, dass die Sittlichkeit der Familie gerade in der Unterordnung des Einzelnen unter die Familieneinheit als seine Substanz zu suchen sei.164 Indem jedes Familienmitglied in seinem Tun immer das Familienganze im Auge hat und nur es »zum Zweck und Inhalt hat«165, scheint es als Einzelnes gerade auf das Allgemeine (als das Familienganze) zu gehen. Auch diese Lösung verwirft Hegel jedoch. Denn das Familienganze, das sich mittels des Tuns der Familienmitglieder selbst erhält, ist selbst ein bloß Einzelnes, da die Familie im Verhältnis zum Gemeinwesen, welches das wahrhaft Allgemeine ist, als bloße Einzelnheit mit beschränkten Interessen auftritt. Hegel verdeutlicht dies an einem Beispiel: Um das Ganze der Familie zu erhalten, bemühen sich die Familienmitglieder, Macht und Reichtum der Familie zu mehren. Dies kann jedoch aus verschiedenen Gründen 160 161 162 163 164 165
Vgl. ebd., S. 243, 11 – S. 244, 2. Vgl. ebd., S. 243, 12–14. Vgl. EPW, § 400; TWA 10, § 400 Z. Vgl. dazu II.2.2.6. Vgl. PhG, S. 243, 14 f. Ebd., S. 243, 16.
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III Die Phänomenologie des Geistes
nicht das eigentlich Sittliche der Familie ausmachen, denn entweder a) die Familienmitglieder erwerben Macht und Reichtum lediglich um der Bedürfnisbefriedigung aller Familienmitglieder willen; dann handelt es sich dabei um bloße »Begierde«166. Das Wesen der Begierde hatte sich jedoch im Kapitel IV. als »in der That ein anderes, als das Selbstbewußtseyn«167 dargestellt; die Begierde ist also gerade nicht geistig und allgemein, sondern sie geht auf das bloß Natürliche und kann deshalb nicht das eigentlich Sittliche der Familie sein. Oder b) die Familienmitglieder handeln in der hehren Gesinnung, nach der Macht und Reichtum ihrer Familie für sie lediglich Mittel sind, um ihre Mitglieder zu möglichst tugendhaften Staatsbürgern zu erziehen und die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie am Staatsleben aktiv teilnehmen können. Diese Gesinnung wäre durchaus sittlich zu nennen, aber sie kann schwerlich als die eigentümliche Sittlichkeit der Familie bezeichnet werden – denn ihr Zweck geht ja gerade nicht auf die Familie, sondern verneint diese zugunsten des Staates und ist daher »negativ gegen die Familie«; in dieser Gesinnung ist also der Staat der eigentliche Zweck, und die Familiensittlichkeit wird darin dem Staatsleben untergeordnet. Dies ist eine durchaus sittliche Haltung, die aber eben sittlich im Sinne der Sittlichkeit des Staates ist, nicht im Sinne der Sittlichkeit der Familie. Während die Erziehung der Familienangehörigen zu guten Staatsbürgern gegen die Familie negativ ist, ist der eigentlich positive Zweck der Familie nach Hegel »der Einzelne als solcher«168. Die gesuchte sittliche Handlung muss sich deshalb auf den Einzelnen als solchen beziehen. Nun kann eine Handlung sich in vielerlei Hinsicht auf den Einzelnen beziehen. Im familiären Alltag gibt es eine Fülle von Tätigkeiten, die die einzelnen Familienmitglieder füreinander verrichten. Als Handlungen, die die eigentliche Sittlichkeit der Familie ausmachen sollen, kommen jedoch bloß zufällige und einzelne Handlungen, wie z. B. vereinzelte Dienstleistungen innerhalb einer Familie, nicht in Betracht. Das Wesen der familiären Sittlichkeit kann nur in Handlungen realisiert werden, die substanziell und allgemein sind. Die gesuchte Handlung, die die Sittlichkeit der Familie wesentlich ausmacht, muss sich daher »auf den ganzen Einzelnen, oder auf ihn als allgemeinen beziehen«169. Welche Handlung könnte das sein?
166 167 168 169
Ebd., S. 243, 19. Ebd., S. 107, 38 f. Ebd., S. 243, 25. Ebd., S. 243, 30.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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3) Es reicht nicht aus, dass sich die Handlung bloß in der Vorstellung auf den Einzelnen in seiner Allgemeinheit bezieht, indem der Handelnde sich vorstellt, seine Handlung könne das ganze Glück des Einzelnen, für den er handelt, nachhaltig befördern.170 Bei dieser Vorstellung handelt es sich um eine bloße Einbildung, denn in der Wirklichkeit ist die vollzogene Handlung doch bloß einzeln und unmittelbar und kann daher gar nicht leisten, etwas Allgemeines und Vermitteltes wie das ganze Glück des Einzelnen zu realisieren.171 4) Am ehesten kann man von der Erziehung der Kinder behaupten, dass sie auf das einzelne Individuum als Ganzes geht, denn sie möchte den heranwachsenden Menschen in seiner Totalität fördern.172 Aber auch die Erziehung der Kinder kann die Sittlichkeit der Familie nicht ausmachen. Denn erstens ist die Erziehung der Kinder wiederum mit dem »gegen die Familie negativen Zwecke«173 verbunden, diese zu guten Staatsbürgern zu erziehen, sie kann also nicht die Sittlichkeit der Familie ausmachen. Und zweitens ist die Erziehung nicht eine Handlung, sondern sie besteht aus vielen einzelnen Erziehungshandlungen, die in ihrer Wirklichkeit auch jeweils nur einen beschränkten Inhalt haben, auch wenn sie zusammengenommen auf die Erziehung des Einzelnen als Ganzen gehen. Als einzelne Erziehungshandlungen sind sie lediglich vereinzelte Tätigkeiten und beziehen sich auf die konkrete, beschränkte Erziehungssituation. Die gesuchte sittliche Handlung muss jedoch als einzelne Handlung auf den Einzelnen in seiner Allgemeinheit gehen, nicht bloß auf ihn in einer beschränkten Hinsicht, wie es in der einzelnen Erziehungssituation der Fall ist, und auch nicht bloß zusammen mit anderen Handlungen, wie es in der Erziehung insgesamt geschieht. 5) Jemandem, der in einer großen Notlage ist, das Leben zu retten, wäre zweifelsohne eine einzelne sittliche Handlung, die auf den Einzelnen als Ganzen geht und damit substanziell und allgemein ist.174 Da es jedoch glücklicherweise nicht alle Tage vorkommt, dass jemand in einer so großen Not ist, dass er in seinem Leben bedroht ist, wäre es allerdings letztlich schlichter Zufall, wenn ein Familienmitglied in die Lage käme, in dieser Weise an einem Verwandten sittlich zu handeln.175 Zur 170 171 172 173 174 175
Vgl. ebd., S. 243, 30 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 243, 33 f. Ebd., S. 243, 35. Vgl. ebd., S. 243, 36 f. Vgl. ebd., S. 244, 1 f.
338
III Die Phänomenologie des Geistes
Bestimmung der Familiensittlichkeit taugt daher auch der Akt der Lebensrettung nicht – vielmehr, wie sich nun zeigen wird, gewissermaßen sein Gegenteil. Die sittliche Handlung der archaischen Familie bezieht sich nämlich nicht auf das lebende, sondern auf das tote Familienmitglied.176 Und dies gerade, weil sie sich auf den Einzelnen in seiner Totalität und Allgemeinheit beziehen möchte, nicht bloß auf Einzelheiten und Zufälligkeiten an diesem Individuum.177 Man kann den Einzelnen in seiner Totalität und damit in seiner Allgemeinheit jedoch erst nach seinem Tod erfassen, denn erst dann hat er alle seine vereinzelten Bestimmungen entfaltet. Erst dann kann sein Leben als ganzes, in seiner einfachen Allgemeinheit, in der all diese einzelnen Bestimmungen aufgehoben sind, betrachtet werden. Das Leben des Einzelnen wird mit dem Tod gleichsam zusammengefasst und lässt sich damit als eine vollendete Bewegung in seiner Einheit begreifen. Mit seinem Tod hat sich das Individuum nach Hegel »aus der Unruhe des zufälligen Lebens (…) in die Ruhe der einfachen Allgemeinheit erhoben.«178 Die Handlung, in der sich die Familie auf den Einzelnen in seiner Totalität bezieht und in der sich die eigentümliche Sittlichkeit der archaischen Familie realisiert, ist daher die Bestattung und die Erinnerung der verstorbenen Familienmitglieder in Form der Penaten, der Hausgötter. Diese Handlung bezieht sich positiv auf die Familie, denn sie hat den Einzelnen als solchen zum Gegenstand und damit ihn als Familienmitglied, nicht ihn als Bürger.179 Nur in der Familie nämlich gilt »der Einzelne als solcher«,180 und durch die Bestattung wird dieser Einzelheit nochmals Geltung verschafft. Als Bürger hört das Individuum dagegen auf, als einzelnes zu gelten, und muss sich dem Staat als der sittlichen Allgemeinheit unterordnen, weshalb die Staatsmacht »eine Gewalt gegen das individuelle fürsichseyn«181 darstellt. Anders als die genannten familiären Handlungen, die nach Hegel gegen die Familie negativ bestimmt sind, ist die Bestattung und Erinnerung der Toten die familiäre Handlung, die auf
176
Vgl. ebd., S. 244, 2–13. Das etwas skurrile Beispiel der Lebensrettung dient hauptsächlich dazu, deutlich zu machen, wie eine einzelne, unmittelbare Handlung sich auf den Einzelnen als solchen, d. h. auf das Dasein seiner Einzelheit überhaupt, beziehen kann. Wie die Lebensrettung bezieht sich auch die Bestattung auf den Einzelnen als Ganzen. Während die Bestattung jedoch erfolgen muss, da jedes Individuum mit Notwendigkeit sterben wird, ist die Lebensrettung zufällig, denn nicht jeder Mensch erlebt eine lebensbedrohliche Situation. 178 PhG, S. 244, 9 f. 179 Vgl. ebd., S. 244, 2–13. 180 Ebd., S. 243, 25. 181 Ebd., S. 242, 30. 177
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
339
die Familie als positiven Zweck geht. Deshalb kann sie als die eigentümliche sittliche Handlung der Familie gelten. Wichtig ist, zu sehen, dass nach Hegel die archaische Familie der griechischen Sittlichkeit mit der Bestattung der toten Familienmitglieder nur auf den Einzelnen als solchen oder auf das Individuum als allgemeines geht, nicht auf den Einzelnen als Einzelnen, in seiner bestimmten Individualität. Nach Hegel kann die Familie in der griechischen Sittlichkeit nicht das Individuum in seiner Individualität in den Blick nehmen, da sich diese im eigentlichen Sinne nicht in der Familie, sondern im öffentlichen Leben der Polis realisiert; denn die Individualität kommt Hegel zufolge wesentlich in der wirklichen Tätigkeit eines Individuums zum Ausdruck, die in der griechischen Sittlichkeit im öffentlichen Leben der Polis ihren Ort hat. Der Einzelne ist somit auf der Stufe des unmittelbaren Geistes nach Hegel »nur als Bürger wirklich und substantiell«182. Als Bürger soll er jedoch »aufhören (…) als dieser Einzelne zu gelten«183, denn seine Tätigkeit als Individuum fällt dort unmittelbar mit dem allgemeinen Staatszweck zusammen und ist diesem dadurch untergeordnet. In der Familie wiederum gilt er als Einzelner, aber dort ist er nicht im eigentlichen Sinne tätig. Von seiner Tätigkeit in der Polis oder von seinem Bürgerdasein muss die Familie abstrahieren, denn als Bürger ist er nicht Familienmitglied, sondern in seiner Tätigkeit für den Staat gegen die Familie negativ. Die Familie hat somit zwar den Einzelnen zum Zweck, aber eben nur als allgemeinen, den Einzelnen als solchen, nicht den Einzelnen, wie er sich wirklich in seiner Tätigkeit als Individuum realisiert. Sie hat es somit gar nicht mit dem bestimmten, wirklich tätigen Individuum zu tun, das wesentlich Bürger ist, sondern mit dem toten Individuum: »(D)er Einzelne, wie er nicht Bürger ist, und der Familie angehört«, ist »nur der Unwirkliche marklose Schatten.«184 Hegel orientiert sich in seiner Darstellung der Familiensittlichkeit im weiteren Verlauf vor allem an der Tragödie Antigone von Sophokles. Dass Hegel zum Begreifen der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Antike auf den Stoff der griechischen Tragödien zurückgreift, ist darauf zurückzuführen, dass die griechischen Tragödien eine wichtige Quelle darstellen, um das Selbstver182
Ebd., S. 244, 11. Ebd., S. 244, 4 f. 184 Ebd., S. 244, 9 f. Ravven missinterpretiert diese Stelle, wenn sie schreibt: »In both [polis and the familiy, Anm. E. B.], the particular person is merely a ›shadowy unreality‹.« (Ravven 1988, S. 150) In der Polis ist der Bürger kein bloß unwirklicher, markloser Schatten, sondern als Bürger ist er Hegel zufolge »wirklich und substantiell« (PhG, S. 244, 11). Wahr ist jedoch, dass er auch als Bürger nicht als Einzelner vorkommt, weil er sich in der Polis ganz dem Allgemeinen unterordnet. 183
340
III Die Phänomenologie des Geistes
ständnis der Menschen in der griechischen Antike erfassen zu können. Anhand von Hegels Interpretation der Antigone lässt sich erklären, was Hegel meint, wenn er behauptet, dass die archaische Familie den Einzelnen nur als allgemeinen zum Gegenstand hat. Wenn Antigone ihren Bruder Polyneikes, unangesehen seines Verbrechens gegen den Stadtstaat Theben, bestattet, so beruft sie sich auf das göttliche Gesetz, das von der Familie einfordert, jedes Familienmitglied, unangesehen seiner einzelnen Handlungen, die seine bestimmte Individualität ausmachen, zu bestatten. Zöge Antigone in Betracht, wie ihr Bruder Polyneikes seine Individualität im öffentlichen Leben realisiert hat, so müsste sie sich zumindest damit auseinandersetzen, dass er als ›Staatsfeind‹ und noch dazu gegen ihren gemeinsamen Bruder Eteokles gehandelt hat. Für Antigone spielt das jedoch gar keine Rolle – er ist ihr Bruder, der als einzelnes Familienmitglied ein Recht darauf hat, von seinen Blutsverwandten bestattet zu werden, unangesehen seiner Tätigkeit im Einzelnen. In der von Erdmann und Walter verfassten Nachschrift der Vorlesung über die Philosophie des Geistes vom Wintersemester 1827/28 heißt es: »Diese Bruderliebe (sie geht es nicht an, was der Bruder im Staat ist) in die legt sie ihre ganze Individualität.«185 Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zur christlichen Religion, in der in der Auseinandersetzung mit der Bestattung des Toten durch die Familie oder die Gemeinde auch die bestimmte Individualität des Toten, sein wirkliches Tun, thematisch ist – wenn es dem christlichen Glauben gemäß auch Gott ist, der über das Individuum letztlich richten oder ihm gegenüber Gnade walten lassen wird. Ein solches Verhältnis zur Individualität des Toten ist dagegen in der griechischen Religion Hegel zufolge nicht auszumachen, weshalb für Antigone das Handeln ihres Bruders Polyneikes, das Hegel als seine eigentliche Wirklichkeit auffasst, nicht von Bedeutung ist. Auch anhand der Verehrung der Penaten kann man sich klarmachen, inwiefern der Einzelne in der archaischen Familie nicht in seiner bestimmten Individualität Gegenstand der Familiensittlichkeit ist: In den Penaten werden die verstorbenen Familienmitglieder verehrt, aber nicht so, dass dabei an bestimmte Individuen zu denken ist, sondern an die Familienmitglieder überhaupt, die die Form abstrakter Hausgötter angenommen haben. Sie sind weder geschlechtlich noch sonst in irgendeiner Form bestimmt, sondern lediglich ihre Funktion, der Schutz der Familie, kann bestimmt angegeben werden. Die bestimmte Individualität der Ahnen geht in dieser allgemeinen Individualität der Penaten auf. 185
V 13, S. 253 (=GW 25,2, S. 902, 9 f.).
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
341
Der sittliche Akt der Bestattung ist in der griechischen Polis nach Hegel deshalb von größter Wichtigkeit, weil in ihm das Recht des Individuums überhaupt zum Ausdruck gebracht wird. Während der Staat das individuelle Fürsichsein unterdrückt, wird in der Familie das geistige Prinzip der allgemeinen Individualität gewürdigt. Das Individuum in seiner Individualität kommt aufgrund der Unmittelbarkeit der griechischen Sittlichkeit jedoch noch nicht zu seiner Geltung; die bestimmte Individualität kann nach Hegel erst mit dem Christentum, der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der Moralität usw. in den Blick gerückt werden.186 Im christlichen Glauben weiß sich das Individuum in seiner Individualität durch Gott anerkannt. Es hat daher Hegel zufolge ein anderes Verhältnis sowohl zu seinem Leben als auch zu seinem Tod als die Individuen in der Antike. In der griechischen Religion und Sittlichkeit fallen dagegen Individualität und Allgemeinheit noch so unmittelbar zusammen, dass das Individuum sich gar nicht in seiner bestimmten Individualität als frei weiß und wissen kann. Die Sittlichkeit der Familie realisiert sich in der christlichen Moderne Hegel zufolge nicht mehr wesentlich im Vollzug der Bestattung und Verehrung der Toten, sondern in der familiären und besonders der ehelichen Liebe.187
III.2.2.3 Die Bestattung der Toten als eigentlich sittliche Handlung der Familie (PhG, S. 244, 14 – S. 245, 30) Aus der gedanklichen Entwicklung ging als Resultat hervor, dass die eigentümliche sittliche Handlung der Familie sich auf das verstorbene Familienmitglied beziehen muss, weil sie sich nur dadurch als einzelne Handlung auf den Einzelnen in seiner einfachen Allgemeinheit beziehen kann.188 Die eigentümliche sittliche Handlung der Familie ist nach Hegel daher die Bestattung und Erinnerung der Toten.189 Dieser Akt ist deshalb notwendig und vor allem sittlich, weil er dem Schein, dass mit dem Tod die Natur als Macht gegenüber der geistigen Individualität des Menschen gesiegt hat, bewusst entgegenwirkt. Der Tod ist zunächst »das reine Seyn«, »das unmittelbare natürliche Gewordenseyn, nicht das Thun eines Bewußtseyns«190; denn weder ist der Tod ein bewusster Akt noch kann sich das Individuum nach seinem
186 187 188 189 190
Vgl. GPR, § 124 Anm., S. 110, 9–14. Vgl. dazu II.2.2.3. Vgl. III.2.2.2. Vgl. dazu Wang 2004, S. 93. PhG, S. 244, 14 f.
342
III Die Phänomenologie des Geistes
Tod seiner selbst in seiner einfachen Allgemeinheit bewusst sein. Es sieht daher so aus, als sei der Tod und mit ihm das ganze Leben des Einzelnen in seiner Allgemeinheit ein bloßer Naturprozess, in dem die geistige, selbstbewusste Seite dieses Lebens verschwindet. Nach Hegel ist es jedoch eine Anmaßung der Natur,191 dass sie durch den Tod diesen Schein erweckt. Denn die »Ruhe und Allgemeinheit des seiner selbstbewußten Wesens«192 gehört selbst dem Geist an und nicht eigentlich der Natur – schließlich kann die einfache Allgemeinheit des Einzelnen, selbst wenn sie sich unter anderem auch im natürlichen Lebensprozess darstellt, als Allgemeinheit nur gedacht werden, was nur der Geist, nicht die Natur kann. Um also dieser Anmaßung der Natur entgegenzuwirken, muss die Familie durch ihre bewusste Tätigkeit des Bestattens das am Einzelnen zum Ausdruck bringen, was das verstorbene Individuum nicht mehr zum Ausdruck bringen kann: dass auch sein Tod Ausdruck seiner Geistigkeit ist, weil es sich durch den Tod als selbstbewusstes Individuum vollendet hat. Sie zeigt damit, dass auch der Tod etwas Vernünftiges ist. Die Bestattung ist somit die »Pflicht des Familiengliedes«193, da nur durch sie »dem Recht des Bewußtseyns«194 des Toten gegenüber der bloßen Natur Geltung verschafft werden kann. Sie muss erstens bewusst vollzogen werden, weil gerade in der Bewusstheit die geistige Seite des Todes zum Ausdruck kommt. Zweitens darf sie kein bloßes Angedenken sein, sondern sie muss mit einer Handlung verbunden, d. h. »ein gethanes«195 sein, da gerade die Tätigkeit Ausdruck der Subjektivität und Geistigkeit ist, wodurch sie dem bloß seienden Naturprozess aktiv und willentlich entgegenwirken kann.196 Betrachtet man das Leben eines Individuums allein von der natürlichen Seite her, stellt es sich als die Bewegung eines bloß Seienden dar. Als Seiendes geht es in der allgemeinen Gattung unter. Sein Leben, in dem es sich als allgemeines entfaltet, führt zugleich notwendig in den Tod, denn es kann sich auf Dauer nicht als Einzelnes gegenüber der allgemeinen Gattung behaupten.197 Indem im Tod des Individuums zum Ausdruck kommt, dass der ganze Lebensprozess und mit ihm die Tätigkeit des Individuums der Gattung untergeordnet ist, ist der Tod zugleich Darstellungsform der Aufopferung des Individuums für das sittliche Gemeinwesen, die Polis, die ihm als das 191 192 193 194 195 196 197
Vgl. ebd., S. 244, 22. Ebd., S. 244, 20 f. Ebd., S. 244, 16. Ebd., S. 244, 19. Ebd. Vgl. dazu auch TWA 15, S. 389. Vgl. II.2.2.2.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
343
Allgemeine Zweck seiner Tätigkeit ist. Der Tod ist deshalb nach Hegel auch »die Vollendung und höchste Arbeit, welche das Individuum als solches« für das sittliche Gemeinwesen übernimmt198 – so z. B., wenn es im Krieg das Gemeinwesen unter Einsatz seines Lebens verteidigt. Sein »Werden zum Allgemeinen«199 führt deshalb sowohl von der natürlichen als auch von der sittlichen Seite her zum Tod, in dem es sich nicht mehr als Einzelnes gegenüber dem Allgemeinen behaupten will, sondern ihm untergeordnet ist bzw. sich ihm unterordnet. Betrachtet man den Tod von dieser Seite, fehlt allerdings ein wichtiger Aspekt. Denn das Individuum ist nicht bloß ein natürliches Moment des allgemeinen Lebens, es ist nicht bloß ein Lebendiges, sondern es ist selbst geistig, es ist Selbstbewusstsein. Es darf daher nicht bloß als Moment der Gattung begriffen werden, sondern es ist als Selbstbewusstsein zugleich »für sich selbst Gattung«200; es ist somit als für sich seiendes Einzelnes allgemein. Als Selbstbewusstsein muss es nach Hegel in sich zurückkehren, sich also als Einzelnes in seiner Allgemeinheit begreifen können. Durch seinen Tod gelangt das Individuum an sich zu seinem Fürsichsein, denn damit ist sein Lebensprozess abgeschlossen und kann als eine einheitliche Bewegung begriffen werden. Weil es aber tot ist, ist es nicht für sich ein solches Fürsichsein, denn als verstorbenes Individuum kann es nicht mehr selbst die Einheit seines Lebensprozesses als solche erfassen. Der Tod stellt daher die Entzweiung des seienden Individuums von seinem Fürsichsein dar.201 Die doppelte Entzweiung des unmittelbaren Geistes in zwei unmittelbare Bewusstseine und zwei Substanzen findet somit auch im Tod ihren unmittelbaren Ausdruck: Denn das unmittelbar Seiende, das im natürlichen Prozess untergegangen ist, ist ein Anderes als das Bewusstsein, das dieses Seiende als selbstbewusste Einzelnheit begreift.202 Es ist daher nicht das einzelne Individuum selbst, das sich in seiner Einzelnheit begreift, sondern es ist seine Verwandtschaft, die für es diese Aufgabe übernimmt und das Einzelne mit seinem Tod, durch den es dem Allgemeinen untergeordnet wird, versöhnt. Diese Versöhnung muss das Individuum »wesentlich durch eine wirkliche und äußerliche Handlung empfangen«203, weil es als verstorbenes selbst nicht mehr in der Lage ist, sich mit seinem Tod zu versöhnen; es ginge daher bloß im Allgemeinen unter. Diese bewusste, wirkliche und äußerliche Handlung der Verwandtschaft, die dem bloß natürlich erscheinenden Tod »die Bewe198 199 200 201 202 203
PhG, S. 244, 26 f. Ebd., S. 244, 24. Ebd., S. 107, 20 f. Vgl. ebd., S. 244, 31–34. Vgl. ebd. Ebd., S. 244, 38.
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III Die Phänomenologie des Geistes
gung des Bewußtseyns hinzufügt«204, ist die Bestattung. Der natürliche Tod und die damit einhergehende »Zerstörung«205 des Individuums ist die abstrakte Negation der Individualität. Die Individualität erscheint darin als bloß allgemeines Sein, nicht als Sein eines einzelnen Selbstbewusstseins. Durch die Bestattung wird diese Negation wiederum selbst negiert, indem der oder die Tote der Zerstörung durch die Natur nicht einfach überlassen wird, sondern bewusst der Zerstörung anheimgegeben wird.206 Durch diese doppelte Negation wird das allgemeine Sein, der Lebensprozess des Individuums, in seiner Einheit begreifbar. Er wird dadurch ein Fürsichsein. Die zwei Seiten, die vorher durch den unmittelbaren, natürlichen Tod getrennt wurden, die Allgemeinheit des Seienden einerseits und die abstrakte Einzelnheit andererseits, werden dadurch miteinander vermittelt zur allgemeinen Individualität: »Es kömmt hiedurch zu Stande, daß auch das todte, das allgemeine Seyn ein in sich zurückgekehrtes, ein Fürsichseyn, oder die krafftlose reine einzelne Einzelnheit zur allgemeinen Individualität erhoben wird.«207 Der tote Mensch ist nur noch Sein, weil er nicht mehr tätig sein kann. In seiner Tätigkeit war er ein negatives Eins,208 denn er hat sich als Einheit gegen die äußere Allgemeinheit behauptet. Da er mit dem Tod seine Tätigkeit aufgegeben hat, überlässt er sich als bloß Seiender dieser äußeren Allgemeinheit; er ist »nur ein passives Seyn für anderes«209, was darin zum Ausdruck kommt, dass sein Leichnam der Zerstörung durch Tiere oder Kleinstorganismen und der Zersetzung durch anorganische Substanzen ausgesetzt ist. Die Organismen in ihrer »niedrigen vernunftlosen Individualität«210 können sich als Lebendige den bloß toten Körper einverleiben. Die anorganischen Substanzen sind als ›abstrakte Stoffe‹ negativer Natur und gehen gegen die organische Natur an; beide sind dem Toten überlegen, da er sowohl das Leben als auch seine Negativität verloren hat.211 Die Familie will den toten Verwandten vor der »bewusstlosen Begierde« der Tiere und Organismen bewahren und ihn nicht schutzlos den zersetzenden Kräften »abstracter Wesen« aussetzen,
204 205 206 207 208 209 210 211
Ebd., S. 245, 1 f. Ebd., S. 245, 3. Vgl. ebd., S. 244, 39 – S. 245, 4. Ebd., S. 245, 4–7. Vgl. ebd., S. 245, 8. Ebd., S. 245, 9. Ebd. Vgl. ebd., S. 245, 7–11
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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denn der Tote wird dadurch entehrt.212 Er wird nämlich dadurch nicht gebührend wie ein selbstbewusstes geistiges Wesen, sondern wie ein bloß seiendes Ding behandelt und kann sich nicht mehr gegen diese Behandlung zur Wehr setzen. Statt ihn einfach der Zerstörung zu überlassen, »vermählt [die Familie, Anm. EB] den Verwandten dem Schoße der Erde, der elementarischen unvergänglichen Individualität; sie macht ihn hierdurch zum Genossen eines Gemeinwesens, welches vielmehr die Kräffte der einzelnen Stoffe und die niedrigen Lebendigkeiten, die gegen ihn frey werden und ihn zerstören wollten, überwältigt und gebunden hält.«213 Mit »Erde«214 ist hier die griechische Göttin Gaia gemeint, wie sie von Hesiod in der Theogonie besungen wurde. Sie steht als weibliche Urgottheit und Mutter allen Lebens gleichsam für das Prinzip der Familie, die Hegel hier wie schon früher als »Gemeinwesen« bezeichnet.215 Gaia schenkt das Leben, ernährt die Menschen und nimmt sie nach ihrem Tod wieder in ihren Schoß auf. Sie ist zugleich die Rächerin der verletzten Familienpietät: Nach Hesiod gebar sie aus Rache nach der Entmannung des Uranos durch ihren gemeinsamen Sohn Kronos mit dem Blut aus dem Glied des Uranos die Erinnyen, die unterirdischen Rachegottheiten, die jeden verfolgen, der die Familienpietät verletzt. Auf die Erinnyen spielt Hegel im weiteren Verlauf mehrfach an.216 In den Vorlesungen über die Ästhetik betont er, dass sie nicht mit Furien zu verwechseln sind, die einfach unbegründet »gehässig, wild und grausam« sind, denn im Gegensatz zu den Furien haben sie »zu ihrer Verfolgung ein wesentliches Recht«: »das Recht der Familie, insofern dieselbe im Blute wurzelt.«217 Die Familie hat dafür zu sorgen, dass die toten Familienmitglieder im Schoße der Gaia zur Ruhe kommen: »Diese letzte Pflicht [der Bestattung, Anm. E. B.] macht also das vollkommene göttliche Gesetz, oder die positive sittliche Handlung [der Familie, Anm. E. B.] gegen den Einzelnen aus.«218 Alle anderen familiären Handlungen sind entweder gar nicht sittlich, sondern sie bleiben auf dem Niveau des bloß natürlichen Gefühls der Liebe; oder aber sie sind sittlich, haben aber nicht eigentlich die Familie zum 212 213 214 215 216 217 218
Vgl. ebd., S. 245, 11 f. Ebd., S. 245, 13–17. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 243, 1. Vgl. ebd., S. 250, 8–10; ebd., S. 254, 5 f. TWA 14, S. 58 f. PhG, S. 245, 18 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
Zweck, sondern im Gegenteil das Familienmitglied als (zukünftigen oder aktuellen) Staatsbürger, weshalb sie bloß negative Bedeutung gegen die Familie haben.219 Letztere gehören daher in Wahrheit nicht dem göttlichen Gesetz der Familie, sondern dem menschlichen Gesetz des Staates an, auch wenn sie innerhalb der Familie vollzogen werden. Betrachtet man nun das Verhältnis von Familie und Staat, so scheint es auf den ersten Blick so zu sein, dass die sittliche Macht allein aufseiten des Staates liegt, gegen den die Familiensittlichkeit machtlos ist. Denn der Staat hat als Vertreter des menschlichen Gesetzes »die wirkliche ihrer bewußte sittliche Substanz, das ganze Volk«220 zu seiner Wirklichkeit; die Familie, die das göttliche Gesetz vertritt, hat dagegen nur den Toten, der »jenseits der Wirklichkeit ist«,221 zum Inhalt und scheint deshalb auch keine Macht haben zu können. Dies ist jedoch eine Fehleinschätzung, wie Hegel schon hier andeutet222 und im weiteren Verlauf genauer erläutern wird. Denn die Macht des verstorbenen Einzelnen ist »das abstracte rein Allgemeine«223 – das Allgemeine also, das nicht ein in sich Lebendiges ist, sondern das, wie der Tod selbst, alles Einzelne negiert. Das Einzelne muss sich, um zu existieren, von dem abstrakt Allgemeinen losreißen und sich ihm entgegensetzen – das gilt auch für ein jedes Gemeinwesen, das sich als einzelnes gegen andere Gemeinwesen behaupten will. Das abstrakt Allgemeine reißt alles Einzelne aber auch wieder in sich zurück und vernichtet es – dies zeigt sich auch am Untergang der einzelnen Gemeinwesen bzw. Völker. Somit hat das abstrakt Allgemeine sehr wohl eine Macht, die sich auch noch als »Macht am Volke selbst«224 darstellen wird.225
III.2.2.4 Unterschiede und Stufen der zwei Gesetze (PhG, S. 245, 31 – S. 248, 10) Nachdem Hegel neben der Sittlichkeit des Gemeinwesens die eigentümliche Sittlichkeit der Familie entwickelt hat, geht er nun auf die Struktur des Gemeinwesens und der Familie bzw. auf ihre Gesetze, das menschliche und das göttliche Gesetz, im Einzelnen ein. Beide Gesetze sind Resultat der doppelten Spaltung des Geistes, in zwei Substanzen und zwei Bewusstseine. Da 219 220 221 222 223 224 225
Vgl. ebd., S. 245, 19–23. Ebd., S. 245, 24 f. Ebd., S. 245, 25. Vgl. ebd., S. 245, 26–30. Ebd., S. 245, 26. Ebd., S. 245, 30. Vgl. III.2.2.4.2; PhG, S. 246, 23–26; II.2.3.3.4; PhG, S. 257, 37 – S. 258, 18.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
347
beide Gesetze »das Moment des Bewußtseyns an ihnen haben«226, entfalten sich nach Hegel innerhalb ihrer jeweils Unterschiede und Stufen. Dies erklärt sich daraus, dass das Bewusstsein gerade dadurch bestimmt ist, dass es etwas von sich »unterscheidet (…), worauf es sich zugleich bezieht.227
III.2.2.4.1 Die Unterschiede und Stufen des »menschlichen Gesetzes« – der Polis (PhG, S. 245, 31 – S. 246, 26) Das menschliche Gesetz realisiert sich als Gemeinwesen, das Hegel als das »obere und offenbar an der Sonne geltende Gesetz«228 charakterisiert. Seine Wirklichkeit als ein seiner selbst bewusstes und gewisses Individuum hat das Gemeinwesen nach Hegel in der Regierung.229 Das Gemeinwesen wird hier von Hegel also bereits wie ein Organismus aufgefasst, der in der Regierung sein »einfache(s) Selbst«230 hat und sich als Einheit begreift. Wie ein Organismus231, der sich in verschiedene Organe mit speziellen Funktionen gliedert und dabei doch eine Einheit ausmacht, ist auch das Gemeinwesen ein in sich gegliedertes Ganzes, innerhalb dessen »jedem Theile Bestehen und eigenes Fürsichseyn«232 gegeben wird, ohne dass dabei die Einheit des Gemeinwesens verloren ginge. Was unter solchen ›Teilen‹ zu verstehen ist, wird wenige Zeilen später deutlicher: Es handelt sich um »die Systeme der 226
PhG, S. 245, 32 f. Vgl. ebd., S. 58, 25 f. 228 Ebd., S. 245, 38. Vgl. auch ebd., S. 242, 23 f. 229 Vgl. ebd., S. 242, 22 f.; ebd., S. 245, 38 f. 230 Ebd., S. 246, 1. 231 Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass Hegel bereits das sittliche Gemeinwesen der Antike als einen Organismus denkt, wenn auch nicht als vollständig entwickelten Organismus. Erstens spricht er davon, dass sich das Gemeinwesen in Systeme ›gliedert‹ und ›organisiert‹ (vgl. PhG, S. 246, 8–12), beides Begriffe, die den Organismus auszeichnen. Zweitens denkt er das Gemeinwesen als lebendiges Ganzes (vgl. PhG, S. 245, 39) – und der Organismus ist gerade die höchste Form, wie sich das Lebendige in der Natur darstellt (vgl. EPW, § 337). Drittens bezeichnet er in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie auch den Platonischen Staat als Organismus (vgl. TWA 19, S. 115 f.). Durch die Bestimmung des Gemeinwesens als organisch wird zum Ausdruck gebracht, dass es eine in sich gegliederte Einheit ist, in der den Gliedern keine wirkliche Selbständigkeit zukommt. Es ist darum nach Hegel kein bloß äußerer, mechanischer Zusammenhang, in dem die Teile zu einer bloß äußerlichen Einheit zusammengenommen sind, sodass keine wirkliche, lebendige Einheit besteht. Aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und der mangelhaften Entfaltung des Prinzips der Subjektivität ist die griechische Polis nach Hegel jedoch noch nicht im vollendeten Sinne ein Organismus, sondern erst der moderne Rechtsstaat (vgl. Gr, S. 676, 12 ff.). 232 PhG, S. 246, 3 f. 227
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III Die Phänomenologie des Geistes
persönlichen Selbstständigkeit und des Eigenthums, des persönlichen und dinglichen Rechts (…), die Weisen des Arbeitens für die zunächst einzelnen Zwecke,– des Erwerbs und Genusses« sowie die Gliederung »zu eigenen Zusammenkünften.«233 Es handelt sich also um Vorformen dessen, was in der Moderne zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft gezählt werden wird, z. B. das Recht auf Eigentum, das Erbrecht, das Gewerberecht, das Korporationsrecht und andere Bürgerrechte. Wohlgemerkt handelt es sich nur um Vorformen – denn der Mangel der griechischen Sittlichkeit besteht nach Hegel nicht zuletzt darin, dass sie den Begriff der Rechtsperson noch nicht entwickelt hat und somit der persönlichen Selbständigkeit der Individuen noch nicht den Raum geben kann, der ihr um der Freiheit willen eigentlich gebührte.234 Es gibt im antiken Griechenland daher noch keine eigene Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft wie im neuzeitlichen Rechtsstaat. Wenn auch innerhalb der griechischen Sittlichkeit nur Vorformen solcher »Systeme der persönlichen Selbstständigkeit« ermöglicht werden, so bedarf doch der Geist schon auf dieser Stufe solcher »Systeme« oder »Teile«, denn sie stellen sein Dasein dar, d. h., er kann sich äußere Realität nur verschaffen als ein in sich gegliedertes Ganzes. Nur als solches kann er sich selbst gegenständlich, objektiv werden. Das Element dieser Realität des Geistes und somit auch der Glieder des Gemeinwesens ist nach Hegel die Familie,235 denn erstens besteht die Polis aus einer Vielzahl von Familien und zweitens schenkt die Familie der Polis die Individuen, die in ihr und für sie tätig sind. Ohne Familien, die neue Individuen hervorbringen, kann das Gemeinwesen seine Lebendigkeit nicht bewahren – es kann sich buchstäblich ›nicht am Leben erhalten,‹ denn ohne neue Mitglieder stürbe die Polis mangels in ihr tätiger Individuen aus. Obwohl der Geist als unmittelbares sittliches Gemeinwesen um seiner Realisierung willen solcher Glieder bedarf, muss er sich doch zuletzt gegenüber diesen Teilen als die »Krafft des Ganzen«236 beweisen und ihnen zeigen, dass sie nur innerhalb dieses Ganzen Bestand haben können, sonst kann er sich nicht als die übergreifende Einheit dieser Teile realisieren. Er ist nach Hegel das »negative Eins«237, weil er die Teile auch immer wieder negiert und in sich zurückholt, wodurch er ihnen »das Gefühl ihrer Unselbstständigkeit gibt.«238 In der »allgemeinen Zusammenkunft«239 – damit ist die Ekklesia, die 233 234 235 236 237 238 239
Ebd., S. 246, 8–12. Vgl. GPR, § 356, § 357; TWA 12: 137 f. Vgl. PhG, S. 246, 4 f. Ebd., S. 246, 5 f. Ebd., S. 246, 6. Ebd., S. 246, 7. Ebd., S. 246, 12 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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Volksversammlung gemeint –, in der alle Bürger der Polis sich darauf besinnen, dass sie Mitglieder eines allgemeinen Gemeinwesens sind, realisiert sich daher nach Hegel der wahrhafte Geist des Gemeinwesens, in dem die »sich isolirenden Systeme«240 negiert werden. Erwiese der Geist sich nicht immer wieder als negierende Macht gegenüber seinen Teilen, isolierten sich diese nach Hegel wahrhaft und würden dadurch zu selbständigen, getrennten Systemen, die nicht mehr bloß Glieder der Einheit des Ganzen wären. Damit wäre der Geist verflogen, der doch eigentlich die Sittlichkeit und Lebendigkeit des Ganzen ausmacht.241 Da sich der Geist Hegel zufolge als negative Macht erweisen muss, macht Hegel eine Bemerkung, die geradezu zynisch klingt und vielfach kritisiert worden ist: Damit sich die Bürger nicht allzu gemütlich in ihrer Privatsphäre einrichten, sondern wissen, dass es ihre patriotische Gesinnung sein muss, sich für das Gemeinwesen aufzuopfern, »hat die Regierung sie in ihrem Innern von Zeit zu Zeit durch Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtgemachte Ordnung und Recht der Selbstständigkeit dadurch zu verletzen und zu verwirren, den Individuen aber, die sich darin vertieffend vom Ganzen losreißen und dem unverletzbaren Fürsichseyn und Sicherheit der Person zustreben, in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen zu geben.«242 Um diese Legitimierung von Kriegen durch Hegel für die griechische Antike zu plausibilisieren, macht Josef Schmidt in seinem Kommentar auf die Bedeutung der Perserkriege in der Blütezeit Griechenlands für die Einheit der Stadtstaaten aufmerksam.243 Dass der Krieg sittliche Bedeutung hat, weil er den Individuen ihre eigene Endlichkeit und Unselbständigkeit zu fühlen gibt, gilt allerdings – wie auch Schmidt anmerkt244 – nach Hegel keineswegs nur für die archaischen, antiken Gemeinwesen, sondern auch für die modernen Rechtsstaaten.245 Hegel relativiert seine Theorie über die sittliche Bedeutung von Kriegen nicht dadurch, dass er dem Krieg nur für eine ganz bestimmte Epoche der geschichtlichen Entwicklung eine Bedeutung zuschreibt; vielmehr sind freie Staaten im Verhältnis zueinander ohne Kriege nach Hegel prinzipiell nicht denkbar, da die Staaten Individuen sind und sich daher auch voneinander abgrenzen müssen, wodurch notwendiger240
Ebd., S. 246, 13. Vgl. ebd., S. 246, 14 f. 242 Ebd., S. 246, 15–20. 243 Vgl. Schmidt 1997, S. 82, dort auch Anm. 20. 244 Vgl. ebd., S. 82, Anm. 20. 245 Vgl. GPR, § 324 und Gr, S. 733, 25 ff. Zu Hegels Theorie des Krieges vgl. Jaeschke 2003, S. 398 – S. 400; Avineri 1972, S. 194 ff. 241
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III Die Phänomenologie des Geistes
weise Konflikte entstehen.246 Auch Staatenbünde ändern nichts daran, denn auch sie bedürfen eines »Außen«, gegen das sie als Bund auftreten. Ein universeller Weltstaat ist nach Hegel ebenfalls nicht denkbar, denn dieser widerspräche dem Begriff der Individualität des Staates und würde aufgrund dieses Widerspruchs von innen ausgehöhlt.247 Hegel trägt also ein logisches Argument vor, mit dem sich aus dem Begriff des Staates, seiner Individualität, entwickeln lässt, warum es zu Kriegen kommt. Er wendet sich damit gegen Kants Schrift Zum ewigen Frieden, die nach Hegel nur den Charakter eines moralischen Appells haben kann. Zwar sind auch nach Hegel Kriege dazu bestimmt, vorüberzugehen, aber sie gehören zur Wirklichkeit von Staaten und sind deshalb unvermeidbar. Nach den Grundlinien vollziehen die Völker durch Kriege auf sittliche Weise bewusst das, was ohne Krieg nur als Werk der Notwendigkeit der Natur erschiene: Sie erfüllen selbst bewusst und gewollt das Vergehen des Endlichen, indem sie im Krieg das Endliche vernichten. Die notwendige Vergänglichkeit werde dadurch »zum Werke der Freyheit, einem Sittlichen erhoben.«248 Hegel greift im § 324 Anm. der Grundlinien in der Form eines Selbstzitats ein Argument auf, das er bereits im Naturrechtsaufsatz von 1802/03 vertreten hatte. Demnach habe der Krieg die höhere Bedeutung, dass »die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulniß249 bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Frieden versetzen würde.«250 Diese Argumentation findet sich auch in der Phänomenologie, nach der der Krieg verhindert, dass das Gemeinwesen in das natürliche Dasein zurücksinkt; im Krieg erhebe der Geist »das Selbst seines Bewußtseins in die Freyheit und in seine Krafft«251. Der Krieg ist nach Hegel nicht nur für die Realisierung der Freiheit des Gemeinwesens von Bedeutung, das sich im Krieg als die übergreifende geistige Einheit erweist, für die die Individuen zu sterben bereit sind und sein müssen. Er ist nach Hegel auch für die Realisierung der Freiheit der Individuen wesentlich. Denn durch die Todesdrohung erfahren 246
Vgl. GPR, § 324, Anm. und Gr, S. 734, 31 ff.; auch GPR, §§ 333–339. Vgl. Jaeschke 2003, S. 400. 248 GPR, § 324 Anm., S. 265, 34. 249 Mit dieser Formulierung spielt Hegel auf eine Passage in Platons Theätet an (vgl. Theaet., 153 c) an. Diesen Hinweis verdanke ich Walter Jaeschke. 250 GPR, § 324 Anm. 251 PhG, S. 246, 22 f. 247
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
351
sie, dass ihre eigentliche Freiheit, ihre sittliche Substanz, nicht in der endlichen Besonderheit ihrer individuellen Zwecke wie z. B. ihrem Eigentum liegt, sondern in der unendlichen Allgemeinheit des Gemeinwesens, das Ausdruck des allgemeinen freien Willens ist. Wenn Hegel in dem obigen Abschnitt aus der Phänomenologie252 die Bedeutung der Konfrontation der Individuen mit dem Tod als ihrem »Herrn«253 hervorhebt, so greift er damit einen Gedanken wieder auf, den er in der Phänomenologie schon im Unterkapitel IV.A im Rahmen seiner Behandlung der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft entwickelt hat.254 Auch dort wird der Tod als ›absoluter Herr‹ bezeichnet,255 wodurch er sich von der bloß endlichen und relativen Herrschaft des irdischen Herrn über den Knecht unterscheidet.256 Die Erfahrung der Todesangst ist nach Hegel insbesondere für die Entwicklung des Knechts von Bedeutung. In der unmittelbaren Bedrohung durch den Tod hielt der Knecht an keinerlei Besonderheiten mehr fest, die er sonst für sich als wesentlich erklären könnte. In ihr hat er »nicht um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst gehabt, sondern um sein ganzes Wesen.«257 Er ist »innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles fixe hat in ihm gebebt.«258 In der Angst vor dem Tod hat der Knecht somit erfahren, dass alle endlichen Zwecke nichtig sind angesichts der Todesdrohung. Das Festhalten an besonderen Zwecken bezeichnet Hegel als Eigensinn, der keine wahrhafte Freiheit ist, da er noch »innerhalb der Knechtschafft stehen bleibt.«259 Erst das vollständige Aufgeben jedes Eigensinns und jeder Borniertheit sowie die vermittelte Aneignung des Allgemeinen in der Arbeit als formierendem Tun ermöglichen es dem Knecht, sich zur wahren menschlichen Freiheit zu erheben, in der dem Selbstbewusstsein seine eigenen Negativität und Allgemeinheit gegenständlich ist. Durch diese vermittelte Aneignung verkehrt sich das Verhältnis von Herr und Knecht, sodass gerade der Knecht zum eigentlichen Motor der Entwicklung hin zur wahren Freiheit wird, nicht zuletzt, weil er von aller Besonderheit abgelassen hat. Wie schon der Knecht in der Todesdrohung 252
Vgl. ebd., S. 246, 15–20. Ebd., S. 246, 20. 254 Vgl. ebd., S. 109, 5–116, 5. 255 Vgl. ebd., S. 114, 23. 256 Dass der Tod der absolute Herr ist, der die bloß endlichen, irdischen Herrschaftsverhältnisse negiert und als nichtig erweist, wird in der mittelalterlichen Kunst eindrucksvoll durch die »Totentänze« bildhaft dargestellt. Dort tanzt der Tod mit den Individuen eines jeden Standes gleichermaßen, auch mit den Vertretern des Klerus. 257 PhG, S. 114, 21 f. 258 Ebd., S. 114, 24 f. 259 Ebd., S. 116, 1. 253
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III Die Phänomenologie des Geistes
erfahren hat, dass er wesentlich nicht besonderes Individuum, sondern allgemeines freies Selbstbewusstsein ist, so soll auch für die Bürger in der Polis oder im modernen Staat die Todesdrohung durch den Krieg nach Hegel dazu dienen, den Individuen ins Gedächtnis zu rufen, dass es für die Realisierung auch ihrer Freiheit als Individuen gerade nicht auf endliche Zwecke und Interessen ankommt, sondern auf die Realisierung ihrer wahrhaften Allgemeinheit. Durch den Krieg wird ihnen wieder bewusst, dass nicht die Besonderheit ihres Willens, sondern der allgemeine Wille, der im Gemeinwesen oder im Staat zum Ausdruck kommt, ihre Freiheit und Substanz ausmacht. Hegels Theorie des Krieges müsste sicher eingehender diskutiert und hinterfragt werden; sie kann hier jedoch nicht in ihrer Gesamtheit dargestellt und kritisiert werden, sondern soll nur im Kontext der griechischen Sittlichkeit erläutert werden. Innerhalb des Kapitels VI.A. der Phänomenologie ist neben dem bereits genannten Aspekt, dass sich durch den Krieg und die mit ihm verbundene Todesdrohung das Gemeinwesen nach Hegel als eine die Individuen in ihrer Endlichkeit übergreifende Einheit darstellt, die für die Individuen der substanzielle Ausdruck ihrer Freiheit ist, noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung, der speziell das Verhältnis des menschlichen und göttlichen Gesetzes betrifft: Indem sich nämlich das Gemeinwesen gegenüber der Einzelheit und Selbständigkeit der Individuen und ihrem Eigentum als »negative(s) Wesen«260 offenbart, kommt seine unmittelbare Verknüpfung mit dem Wesen des göttlichen Gesetzes, dem »unterirdischen Reiche«261, zum Ausdruck, das doch zunächst sein Gegenteil zu sein scheint. Das menschliche Gesetz, das sich im Gemeinwesen realisiert, bedarf nämlich, wie sich gezeigt hat, der Macht des Todes, um sich selbst als Macht zu realisieren – der Macht also, die aufseiten des göttlichen Gesetzes steht und durch die Familie von der natürlichen Seite her gebannt wird. Das menschliche Gesetz hat damit »die Wahrheit und Bekräfftigung seiner Macht« an seinem Gegenteil, dem göttlichen Gesetz, und geht in dieses über. Dieselbe Dialektik wird sich am göttlichen Gesetz erweisen, das seine Verwirklichung ebenfalls nur im menschlichen Gesetz hat, sodass Hegel an späterer Stelle über die zwei Gesetze festhalten wird: »Wir sehen sie [die Macht, Anm. EB] zwar in zwey Wesen und deren Wirklichkeit sich theilen; aber ihr Gegensatz ist vielmehr die Bewährung des Einen durch das Andere, und, worin sie sich unmittelbar als wirk-
260 261
Ebd., S. 246, 23. Ebd., S. 246, 26.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
353
liche berühren, ihre Mitte und Element ist die unmittelbare Durchdringung derselben.«262 Für uns, die Leserinnen und Leser, ist an dieser Stelle somit erkennbar, dass die beiden Gesetze keine Selbständigkeit haben, sondern in Wahrheit in einer Einheit sind. Da beide Gesetze notwendig ineinander umschlagen, werden die Individuen, die die beiden Gesetze realisieren, im Laufe der Entwicklung die Erfahrung dieser unmittelbaren Durchdringung der beiden Gesetze machen, die ihrem ›Selbstbild‹, oder wie Hegel sagen würde, ihrem Bewusstsein ihrer selbst, zunächst völlig widerspricht.
III.2.2.4.2 Die Unterschiede und Stufen des »göttlichen Gesetzes« – der Familie (PhG, S. 246, 27 – S. 248, 10) Das sittliche Gemeinwesen der Polis hat sich uns nach Hegel als ein in sich gegliedertes Ganzes dargestellt. Auch das göttliche Gesetz, »das in der Familie waltet«263, ist, weil es das Moment des Bewusstseins an sich hat, in sich unterschieden.264 Nach Hegel sind darin drei Verhältnisse unterschieden, die – im Sinne eines disjunktiven Urteils – gemeinsam die Totalität der Familie ausmachen: a) das Verhältnis der Ehepartner (Mann und Frau) b) das Eltern-Kind-Verhältnis und c) das Verhältnis der Geschwister, das Hegel allerdings nur als Verhältnis von Bruder und Schwester untersucht.265 In der Beziehung dieser drei unterschiedenen Verhältnisse realisiert sich die Familie als lebendige, d. h. in sich differenzierte Einheit. Folglich lässt sich nach Hegel der Familienzusammenhang anhand von zwei Generatio262
Ebd., S. 250, 23 f. Ebd., S. 246, 27. 264 Vgl. ebd., S. 245, 32 f.; III.2.2.4. Die Familie ist als natürlich-sittliches Gemeinwesen demnach nicht völlig unbestimmt, wie Ravven behauptet, sondern in sich gegliedert in diverse Beziehungen der Familienmitglieder zueinander (Ehemann/Ehefrau; Eltern/Kind; Bruder/Schwester). Ravven vergleicht Hegels Begriff der Familie mit Aristoteles’ Begriff der ersten Materie: »Hegel’s position may hark back to Aristotle’s concept of matter. The latter is, at the same time, paradoxically, the basis of both empirical particularization and a total lack of characterization.« (Ravven 1988, S. 154, Anm. 26). Dieser Vergleich trifft nicht zu, da die Familie nicht durch ein «total lack of characterization” gekennzeichnet ist. 265 Zu der Frage, warum Hegel nur das Verhältnis von Bruder und Schwester, nicht aber von Schwester-Schwester oder Bruder-Bruder untersucht, vgl. III.2.2.4.2.3. 263
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III Die Phänomenologie des Geistes
nen vollständig erfassen. Denn in dem Verhältnis der einen Generation zur nächsten stellt sich das natürliche Gattungsverhältnis unmittelbar dar. Alle weiteren Verhältnisse innerhalb einer Familie (z. B. Großeltern – Enkel, Onkel/Tante – Nichte/Neffe usw.) sind nur Erweiterung des zugrunde liegenden Kerns der Familie, der sich im unmittelbaren Verhältnis der Kleinfamilie abbildet. Das soll nicht heißen, dass Hegel die Familie in der griechischen Sittlichkeit anachronistisch als moderne Kleinfamilie betrachtet. Vielmehr betont er, wie sich am Verhältnis von Bruder und Schwester zeigen wird, dass in der griechischen Sittlichkeit die Familie noch als Sippe existiert und dass die Kleinfamilie noch nicht wie in der Moderne zu ihrem vollen Recht kommt.266 Dass Hegel nur die Verhältnisse der Kleinfamilie betrachtet, ergibt sich lediglich aus dem unmittelbaren Begriff der Familie, der sich als Gattungszusammenhang in zwei Generationen erschöpfend darstellt. Der weitere Familienzusammenhang basiert demgegenüber lediglich auf dem Verhältnis mehrerer Generationen zueinander und lässt sich als vermitteltes Verhältnis aus dem zugrunde liegenden Verhältnis zweier Generationen zueinander ableiten. Hier ist der Ort, noch eine allgemeine Bemerkung zu Hegels Behandlung der Familie in der Phänomenologie zu machen: Es ist auffällig, dass Hegel im Rahmen seiner Familientheorie in der Phänomenologie nicht das Verhältnis von Herr und Sklave thematisiert. Im Oikos als Wirtschaftszusammenhang spielen die Sklaven eine wesentliche Rolle, weshalb auch Aristoteles neben dem Verhältnis von Mann und Frau sowie Eltern und Kindern das Verhältnis von Herr und Sklave behandelt.267 Überhaupt fällt die Abwesenheit der wirtschaftlichen Seite des ›Hauses‹ in der Darstellung der Phänomenologie auf. Das liegt jedoch nicht daran, dass Hegel dieser Zusammenhang nicht vor Augen stand, wie sich u. a. in den Grundlinien zeigen lässt.268 Es hat vielmehr mit der ›Logik‹ der Phänomenologie zu tun. Hegel möchte in der Phänomenologie zeigen, wie sich in der griechischen Sittlichkeit Allgemeinheit und Einzelheit oberflächlich an zwei Substanzen verteilen – an Polis und Familie.269 Allgemeinheit und Einzelheit müssen im weiteren Verlauf befriedigend miteinander vermittelt werden, damit der Geist all seine Momente vollendet entfalten kann. Aufgrund dieser ›Logik‹ der Phänomenologie steht bei seiner Behandlung des Oikos in der Phänomenologie im Vordergrund, inwiefern dort der Einzelne als Allgemeiner Gegenstand der Familie ist. Der
266 267 268 269
Vgl. III.2.2.4.2.3. Vgl. Pol., 1253b–1255b. Vgl. II.2.5. Vgl. III.2.2.1.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
355
Einzelne ist jedoch nicht als Sklave Gegenstand der Familie – der Sklave ist ja bekanntlich nach Aristoteles ein bloßes ›Werkzeug‹ –, sondern er ist es in den blutsverwandtschaftlichen Zusammenhängen. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte wie auch in den Grundlinien, die beide einen anderen Fokus auf den Familienbegriff haben, thematisiert Hegel die Sklaverei in Griechenland. Er macht dort darauf aufmerksam, dass die Sklaverei Voraussetzung für das politische Leben der freien Bürger war, und wertet dies als Ausdruck der mangelnden Aneignung der Natur und damit der mangelnden Freiheit.270 Will man sich mit Hegels Familientheorie in der Phänomenologie beschäftigen, muss man also akzeptieren, dass aufgrund der eigentümlichen Methode der Phänomenologie die wirtschaftliche Seite der Familie in der Antike zu kurz kommt. III.2.2.4.2.1 Das Verhältnis der Ehepartner (PhG, S. 246, 27 – S. 247, 2) Zunächst untersucht Hegel das Verhältnis von (Ehe-)Mann und (Ehe-)Frau, weil diese die kleinste Einheit der Familie ausmachen, da sie gemeinsam auf unmittelbare Weise die natürliche Gattung darstellen. Hegel charakterisiert das Verhältnis von Mann und Frau in der archaischen Familie als ein unmittelbares Anerkennungsverhältnis, wenn er schreibt, es finde darin ein »unmittelbare(s) sich Erkennen des einen Bewußtseyns im andern, und das Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseyns«271 statt. Die Ehepartner machen somit nach Hegel gemeinsam eine Einheit aus, in der sich der Geist darstellen kann, der sich uns im Kapitel IV. bereits erwiesen hatte als »absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freyheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nemlich verschiedener für sich seyender Selbstbewußtseyn, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir das Ich ist.«272 Indem Hegel das Verhältnis der Ehepartner als Anerkennungsverhältnis bestimmt, zeichnet er es als ein geistiges Verhältnis aus, das deshalb auch sittlich ist. Es handelt sich jedoch noch nicht um ein reines Anerkennungsverhältnis, denn die »Pietät des Mannes und der Frau gegeneinander ist (…) mit natürlicher Beziehung und mit Empfindung vermischt.«273 In der antiken Familie basiert das Anerkennungsverhältnis der Ehepartner nämlich noch
270 271 272 273
Vgl. TWA 12, S. 311; GPR, § 356. PhG, S. 246, 31 f. Ebd., S. 108, 36 f. Ebd., S. 246, 39 f.
356
III Die Phänomenologie des Geistes
auf einer bloß natürlichen Grundlage, denn beide anerkennen sich lediglich in ihrer Natürlichkeit, als Geschlechtspartner. Sie erfassen also in der Form einer Empfindung, dass sie nur gemeinsam die Gattung hervorbringen können und dass sie daher einander bedürfen, wenn sie sich vom jeweils anderen Geschlecht sexuell angezogen fühlen. Sich-Erkennen bzw. Sich-Anerkennen ist somit an dieser Stelle in der biblischen Bedeutung274 zu nehmen. Eine höhere Form der Anerkennung, die nicht mehr bloß unmittelbar durch das natürliche Geschlechts- und Gattungsverhältnis bestimmt ist, ist innerhalb der archaischen Familie nach Hegel nur im Bruder-Schwester-Verhältnis möglich. Zwischen Mann und Frau kann sich eine höhere Form der Anerkennung erst im modernen bürgerlichen Rechtsstaat entwickeln. Zwar hat die Anerkennung von Mann und Frau auch im bürgerlichen Rechtsstaat noch das natürliche Geschlechter- und Gattungsverhältnis zur Grundlage, aber durch die bürgerliche Ehe werden das bloß natürliche Verhältnis und die bloß natürliche Empfindung in die Form der selbstbewussten, rechtlich-sittlichen Liebe verwandelt.275 Das bloß natürliche Gattungsverhältnis verliert dadurch Hegel zufolge in der bürgerlichen Ehe an unmittelbarer Bedeutung und wird zu einem bloßen Moment der Ehe herabgesetzt. In der antiken Familie bestimmt es dagegen das Verhältnis der Ehepartner noch wesentlich. Auch hier wäre eigentlich zu berücksichtigen, dass die Familie erst zu einer ›sittlichen Gefühlsgemeinschaft‹ werden konnte, nachdem sie im Zuge der Neuzeit als Hausgemeinschaft aufgelöst wurde, was von Hegel jedoch in der Phänomenologie anders als in den Grundlinien nicht thematisiert wird.276 Das (An-)Erkennen der Ehepartner in der archaischen Familie ist als bloß natürliches nach Hegel noch nicht der wirkliche Geist, sondern nur »das Bild des Geistes«277. Denn das natürliche Gattungsverhältnis, auf dem die natürliche Anerkennung beruht, stellt zwar in der Natur die vermittelte Einheit des Geistes dar, aber auch nur im Medium der Natur, die nach Hegel durch bloße Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit bestimmt ist.278 In der Natur fällt die Einheit der Gattung, die durch die zwei Geschlechter hervorgebracht wird, immer wieder in differente Individuen auseinander, sodass sie als Einheit keinen adäquaten Ausdruck findet.279 Das natürliche Verhältnis von Mann und Frau ist somit noch nicht im vollendeten Sinne ein sittliches bzw. geistiges Verhältnis. Ein Bild ist jedoch (Ab-)Bild von etwas anderem, das seine 274 275 276 277 278 279
Vgl. Gen 4, 1. Vgl. GPR, § 161; Gr, S. 426, 4 f.; II.2.2.1–II.2.2.6. Vgl. III.2.2.4.; II.2.5. PhG, S. 246, 34. Vgl. II.2.2.2; EPW, § 369. Vgl. II.2.2.2.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
357
Wirklichkeit ausmacht. Die Wirklichkeit der Einheit der Ehepartner ist nach Hegel auf der Stufe der griechischen Sittlichkeit das Kind, denn das Kind ist eine wirkliche Einheit, die von den geschlechtsdifferenten Ehepartnern, deren Einheit in der Natur noch bloß innerlich ist, als gegenständliche Einheit hervorgebracht wird.280 Da das Anerkennungsverhältnis von Ehemann und Ehefrau ein bloß natürliches ist, hat es also »seine Rückkehr in sich nicht an ihm selbst«.281 Als vermittelte Einheit in sich selbst zurückkehren zu können, ist eine Fähigkeit, die allein den Geist auszeichnet. In der Natur kann sich die Rückkehr in sich nur an einem anderen Seienden, dem Kind, darstellen und bleibt deshalb mangelhaft. Nach Hegels Naturphilosophie der Enzyklopädie gehen die Geschlechtspartner, indem sie im Nachwuchs ihrer Gattungseinheit Wirklichkeit geben, zugleich notwendig zugrunde, denn die Gattung kann sich in der Natur nur im unendlichen Progress des Generationenwechsels darstellen.282 Diesen Gedanken aus der Enzyklopädie nimmt Hegel bezogen auf das geschlechtliche Verhältnis der Ehepartner in der Phänomenologie bereits vorweg, wenn er schreibt: »diß Verhältniß hat daher seine Wirklichkeit nicht an ihm selbst, sondern an dem Kinde, – einem andern, dessen Werden es ist, und worin es selbst verschwindet; und dieser Wechsel der fortwälzenden Geschlechter hat seinen Bestand in dem Volke.«283 Was sich in der Natur als Gattung realisiert, verwirklicht sich nach Hegel demnach im Bereich des Sittlichen als Volk, das sich im unendlichen Prozess der Generationenfolge als übergreifender Zusammenhang darstellt und die Individuen zu Mitgliedern dieser Einheit macht. Dadurch kommt bereits an dem unmittelbaren familiären Verhältnis, dem Verhältnis von Mann und Frau, zum Ausdruck, dass die Familie als Gattungseinheit nur in dem ihr entgegengesetzten Gesetz, dem menschlichen Gesetz, wirklich ist, denn sie hat Hegel zufolge nur in dem übergreifenden Zusammenhang des Volkes Bestand.
280
Im modernen Rechtsstaat hat die Einheit der Ehepartner nach Hegel auch schon im sittlichen Liebesverhältnis der Ehepartner geistige Wirklichkeit, selbst wenn keine Kinder vorhanden sind (vgl. II.2.2.1–II.2.2.6; II.2.2.8). Zwar spiegelt auch dort das Kind den Eltern ihre geistige Einheit und vervollkommnet sie gleichsam (vgl. II.2.4.1). Aber das Verhältnis der Ehepartner ist auch für sich genommen schon ein wahrhaft sittliches Verhältnis, da die Liebe in der modernen Ehe keine bloß zufällige Empfindung mehr ist, sondern in der Institution der Ehe sittlichen Charakter bekommt (vgl. II.2.2.6). 281 PhG, S. 247, 1 f. 282 Vgl. EPW, § 370, vgl. II.2.2.2. 283 PhG, S. 246, 36 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
Da das Verhältnis der Ehepartner den Geist nur als Bild zum Ausdruck bringen konnte, kann es nicht das Verhältnis sein, das die Familiensittlichkeit im eigentlichen Sinne ausmacht, auch wenn es als eine der unterschiedlichen familiären Beziehungen zumindest im beschränkten Sinne sittlich zu nennen ist. Als natürliches Verhältnis hatte die eheliche Verbindung ihre Wirklichkeit an einem anderen, dem Kind, womit sie nach Hegel selbst den Übergang gemacht hat zu einem anderen familiären Verhältnis, dem Verhältnis von Eltern und Kindern. Dieses Verhältnis gilt es nun, auf seine Geistigkeit und Sittlichkeit hin zu prüfen. III.2.2.4.2.2 Das Eltern-Kind-Verhältnis (PhG, S. 247, 2–10) Das zweite familiäre Verhältnis, das Eltern-Kind-Verhältnis, geht aus dem ersten, unmittelbaren familiären Verhältnis von Mann und Frau hervor, da diese nach Hegel nur an dem Kind die Wirklichkeit ihres Verhältnisses haben. Auch das Eltern-Kind-Verhältnis ist nach Hegel »mit natürlicher Beziehung und mit Empfindung vermischt« und hat, wie schon das Verhältnis der Ehepartner, »seine Rückkehr in sich nicht an ihm selbst.«284 Dies zeigt sich sowohl am Verhältnis der Eltern zu den Kindern als auch am Verhältnis der Kinder zu den Eltern. Die Eltern haben zwar in ihrem Kind das Fürsichsein ihrer Einheit zum Gegenstand, aber das Kind entwickelt sich zu einem erwachsenen, selbständigen Menschen. Dadurch, dass ihr eigenes Fürsichsein im Kind als ein Gegenstand außer ihnen gesetzt ist, erhalten die Eltern dieses Fürsichsein nicht zurück.285 Sie müssen vielmehr anerkennen, dass das Kind eine »fremde eigne Wirklichkeit«286 ist, über die sie nicht verfügen, obwohl sie es doch selbst hervorgebracht haben. Die Eltern haben somit eine starke natürliche Empfindung für ihr Kind und sind gerührt bei seinem Anblick, weil sie sich in ihm ihrer eigenen Verbindung bewusst werden. Aber sie erleben zugleich die schmerzliche Seite, dass sie ihr Kind, das Produkt ihrer Vereinigung, in die Selbständigkeit entlassen müssen. Für das Kind stellt sich das Problem aus der entgegengesetzten Perspektive. Es ist beim Anblick seiner Eltern ebenfalls von natürlichen Empfindungen und einer natürlichen Rührung ergriffen, denn in ihnen hat es seinen Ursprung zum Gegenstand – sein Ansichsein.287 In dem gleichen Maße, in
284 285 286 287
Ebd., S. 247, 1 f. Vgl. ebd., S. 247, 3 f. Ebd., S. 247, 6. Vgl. ebd., S. 247, 7.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
359
dem das Kind sich zum erwachsenen, selbständigen Menschen entwickelt, gehen seine Eltern auf den Tod zu, denn die Gattung kann sich in der Natur nur in der Generationenabfolge darstellen. Das Kind hat deshalb in seinen Eltern nicht nur seinen Ursprung, sondern auch die Vergänglichkeit seines Ansichseins zum Gegenstand. Es muss sich von seinen Eltern, seinem Ansichsein trennen, um zu einem eigenen Fürsichsein, zu einer selbständigen Person, zu werden. Das Verhältnis zu den Eltern ist insofern auch für das Kind ambivalent: Einerseits liebt es seine Eltern, in denen es den Grund für seine eigene Existenz zum Gegenstand hat, andererseits muss es sich von seinen Eltern trennen, um sich selbst als Individuum voll entfalten zu können. Mit dem Prozess des Erwachsenwerdens ist somit notwendig auch der Verlust der Eltern als Vergegenständlichung des Ansichseins verbunden. Dennoch ist nach Hegel für die Eltern der Prozess der Trennung schmerzlicher als für die Kinder: Denn die Eltern kommen gerade in der Kontinuität mit dem Kind zu sich, zu ihrem Fürsichsein, das symbiotische Verhältnis mit dem Kind ist für sie also Ausdruck ihrer Identität; das Kind kann dagegen nur zu sich kommen und ein selbständiges Fürsichsein erlangen, wenn es sich aus der symbiotischen Beziehung mit den Eltern löst, sich von den Eltern trennt. In der Nachschrift der Vorlesung über die Philosophie des Rechts von Griesheim heißt es dementsprechend zum Eltern-Kind-Verhältnis: »Die Kinder lieben im Ganzen die Aeltern weniger, denn sie gehen der Selbständigkeit entgegen, sie erstarken.«288 Insgesamt liegt die Mangelhaftigkeit des Eltern-Kind-Verhältnisses nach Hegel darin begründet, dass sich die zwei Seiten des Begriffs, Ansichsein und Fürsichsein, in diesem natürlichen Verhältnis auf die zwei Relata, die Eltern einerseits und das Kind andererseits, verteilen. Dadurch stehen Ansichsein und Fürsichsein nicht wie im rein geistigen Verhältnis in einer vermittelten Einheit, in der beide Relata sich in gleicher Weise anerkennen und sich in ihrer Einheit begreifen können, sondern es entsteht eine Ungleichheit der Partner, die eine echte Form der Anerkennung verunmöglicht.289 Zu der Trennung von Ansichsein und Fürsichsein und der einseitigen Verteilung an die Glieder des Verhältnisses kommt es nach Hegel, weil sich die begrifflichen Momente in der Natur nur an einem Seienden darstellen können. Eine vermittelte Einheit kann sich somit in der Natur nur als äußerlicher Prozess an dem Seienden darstellen, während die geistige Einheit diesen Prozess als Bewegung des Begriffs realisieren kann. 288 289
Gr, S. 459, 20 f. Vgl. PhG, S. 247, 11 f.
360
III Die Phänomenologie des Geistes
Weder das Verhältnis von Mann und Frau, noch das Eltern-Kind-Verhältnis kann somit auf der Ebene der griechischen Sittlichkeit eine befriedigende Form der Anerkennung innerhalb der Familie darstellen. Beide Verhältnisse sind insofern nicht geeignet, um die Familie als sittliches Verhältnis auszuweisen, denn ein sittliches Verhältnis unter Individuen ist nur gegeben, wo zugleich ein Anerkennungsverhältnis realisiert wird. Während das Verhältnis der Ehepartner auf dieser Stufe nach Hegel mangelhaft ist, da es »innerhalb des Uebergehens«290 stehen bleibt, weil es nur in einem andern, dem Kind, seine Wirklichkeit hat, ist das Eltern-Kind-Verhältnis nach Hegel unvollkommen, weil in ihm eine »Ungleichheit der Seiten«291 vorhanden ist. Es stellt sich nun die Frage, ob das dritte familiäre Verhältnis, das Verhältnis von Bruder und Schwester, den Individuen innerhalb der Familie Anerkennung ermöglichen kann. III.2.2.4.2.3 Das Verhältnis von Bruder und Schwester (PhG, S. 247, 11 – S. 248, 32) Wie das Eltern-Kind-Verhältnis das Verhältnis von Mann und Frau zur Voraussetzung hat, so hat auch das dritte zu untersuchende Verhältnis, das Verhältnis der Geschwister, die beiden vorangegangenen Verhältnisse zur Voraussetzung. Geht man von der Kleinfamilie als kleinster Darstellungsform der Gattungseinheit aus, so ist das Verhältnis der Geschwister das letzte grundlegende familiäre Verhältnis. Weitere Verhältnisse ergeben sich nur dadurch, dass weitere Generationen zum Familienbegriff hinzugezogen werden (z. B. Großeltern-Enkel usw.) bzw. dass die Eltern nicht als unmittelbare Einheit der Familie betrachtet werden, sondern selbst als Glieder einer ihnen vorausgesetzten Familie (z. B. Onkel/Tante – Nichte/Neffe usw.). Es ist somit konsequent, dass Hegel das Geschwister-Verhältnis als letztes untersucht. Es fällt allerdings auf, dass Hegel nur das Verhältnis von Bruder und Schwester, nicht aber das Verhältnis gleichgeschlechtlicher Geschwister behandelt. Der Grund dafür soll im Folgenden angegeben werden. Das Verhältnis von Mann und Frau sowie das Eltern-Kind-Verhältnis sind nach Hegel »mit natürlicher Beziehung und mit Empfindung vermischt«292; in beiden Fällen handelt es sich daher nicht um rein geistige, sittliche Verhältnisse. Das Bruder-Schwester-Verhältnis stellt dagegen ein »unvermischte(s)
290 291 292
Ebd., S. 247, 11. Ebd., S. 247, 11 f. Ebd., S. 246, 39 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
361
Verhältniß«293 dar, das mit den beiden vorherigen Verhältnissen einerseits in einer entscheidenden Hinsicht übereinstimmt, sich andererseits aber in einer bestimmten Hinsicht von ihnen unterscheidet: 1) Bruder und Schwester sind, wie (Ehe-)Mann und (Ehe-)Frau auch, sexuell unterschieden. Im Gegensatz zu Mann und Frau begehren sich Bruder und Schwester nach Hegel jedoch nicht sexuell.294 Ihr »Blut (…)« ist daher, anders als bei Mann und Frau, nicht aufgrund sexueller Erregung in Wallung, sondern in »Ruhe und Gleichgewicht«.295 2) Wie Eltern und Kind, sind auch Bruder und Schwester »dasselbe Blut«296, da sie beide Produkte derselben Eltern sind. Die Blutsverwandtschaft ist insofern von Bedeutung, als sie auf natürliche Weise einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Individuen darstellt. Als Blutsverwandte sind Bruder und Schwester einzelne Mitglieder eines allgemeinen, sie übergreifenden Familienzusammenhangs. Im Gegensatz zum Verhältnis von Eltern und Kindern beruht das Verhältnis der Geschwister jedoch nicht darauf, dass eins das andere gezeugt hat bzw. von ihm gezeugt wurde. Es besteht also nicht wie im Eltern-Kind-Verhältnis ein Bedingungs- oder Abhängigkeitsverhältnis, das zu einer Ungleichheit der Relata führt. Weil sich Bruder und Schwester weder begehren wie Mann und Frau, ihr Verhältnis nach Hegel also nicht durch ein sexuelles Interesse bestimmt ist, und weil ihr Verhältnis anders als das Eltern-Kind-Verhältnis kein Bedingungsund Abhängigkeitsverhältnis darstellt, sind sie – anders als Mann und Frau bzw. Eltern und Kind – nach Hegel »freye Individualität gegeneinander.«297 Diese Bestimmung macht nach Hegel aus, dass das Bruder-Schwester-Verhältnis innerhalb der familiären Beziehungen der griechischen Sittlichkeit eine herausragende Stellung einnimmt.298 Es stellt nach Hegel innerhalb der 293
Ebd., S. 247, 12 f. Vgl. ebd., S. 247, 15. 295 Ebd., S. 247, 14. An dieser Stelle klingt es so als gebe es nach Hegel zwischen Geschwistern ein natürliches Inzesttabu, weshalb Hegel für diese Äußerung in der Literatur häufig kritisiert wird, z. B. von Mills 1986, S. 135 und S. 137 Anm. 19. Aus den Paragrafen zum Inzestverbot in den Grundlinien geht allerdings hervor, dass sich Hegel sehr wohl darüber im Klaren ist, dass das Inzesttabu sittlichen Wesens ist. Es handelt sich also um eine zur Gewohnheit gewordene ›zweite Natur‹ (vgl. II.2.2.10.2). 296 PhG, S. 247, 13 f. 297 Ebd., S. 247, 16. 298 Hegels Überlegungen zum Bruder-Schwester-Verhältnis in der Phänomenologie werden in der Forschungsliteratur anhand seines Verhältnisses zu seiner Schwester Christiane sozusagen biografisch auf den Prüfstand gestellt (vgl. dazu Lucas 1988; Kriegel 2011; 294
362
III Die Phänomenologie des Geistes
archaischen Familie die höchste Form dar, in der sich die Anerkennung der Individuen realisieren kann, zu der wesentlich gehört, dass sich die Individuen freilassen.299 Das freie, gleiche Verhältnis von Bruder und Schwester kommt somit der sittlichen Beziehung der Staatsbürger am nächsten, auch wenn es noch auf dem Verwandtschaftsverhältnis beruht und kein rein gesellschaftliches Verhältnis darstellt. Hegel macht einen Vorgriff, wenn er darauf hinweist, dass diese Form der Anerkennung innerhalb der Familie insbesondere für die Frauen von Bedeutung ist, wenn er feststellt: »das Weibliche hat daher als Schwester [Hervorhebung E. B.] die höchste Ahndung des sittlichen Wesens.«300 Es handelt sich nur um eine »Ahndung des sittlichen Wesens«301, weil in der Familie mehr als eine ›Ahndung‹ der Sittlichkeit nicht möglich ist: Als göttliches Gesetz liegt das Wesen der Familie nicht »am Tage des Bewußtseyns«302, sondern es bleibt bloß »innerliches Gefühl«303. Man kann die Anerkennung von Bruder und Schwester deshalb als ein ›intimes Anerkennen‹304 beschreiben. Die Sittlichkeit bleibt somit auch noch auf den Familienzusammenhang beschränkt und wird noch nicht in ihrer Allgemeinheit begriffen.305 Nach Hegel haben die Frauen in der Familie ihre sittliche Wirkungsstätte, die sie deshalb auch nicht verlassen: An »diese Penaten ist das Weibliche geknüpft.«306 Für die Männer hat die Anerkennung durch die Schwester dagegen nicht dieselbe Bedeutung, da diese auch in der Öffentlichkeit der Polis Anerkennung finden können, in der ihr eigentlicher sittlicher Wirkungskreis
Cobben 2007; zur Biografie von Hegels Schwester vgl. Birkert 2008). Unabhängig davon, wie Hegels Verhältnis zu seiner eigenen Schwester gewesen sein mag, wird hier im Folgenden argumentiert, dass Hegels Bemerkungen zum Bruder-Schwester-Verhältnis ohnehin nur auf die Antike bezogen sind, dass dieses Verhältnis Hegel zufolge in der Moderne also an Bedeutung verliert. Die Bedeutung des Bruder-Schwester-Verhältnisses für die antike Sittlichkeit spiegelt sich nach Hegel auch in der Götterwelt wider: So ist Apollo, »der Weissagende und Wissende«, der im Falle des Muttermordes von Orest die Macht der familiären Rachegeister, der Erinnyen, zugunsten des Rechts des Fürsten zurückdrängt, nach Hegel »rein«, denn »er hat keine Gattin, sondern nur eine Schwester und ist nicht in viele häßliche Geschichten wie Zeus verwickelt.« (TWA 12, S. 300 f.) 299 Vgl. PhG, S. 109, 32 f. 300 Ebd., S. 247, 17 f. 301 Ebd. 302 Ebd., S. 247, 20. 303 Ebd. 304 Vgl. Menke 1996, S, 167. 305 Vgl. Schmidt 1997, 84 f. 306 PhG, S. 247, 21.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
363
liegt und in der sich die Anerkennung bewusst vollzieht.307 Dass Hegel im Folgenden das Verhältnis von Bruder und Schwester vornehmlich aus der Perspektive der Frau als Schwester untersucht,308 wird nur durch die spätere vermeintliche Ableitung gerechtfertigt, in der die sittliche Sphäre der Familie der Frau zugeordnet wird, die des Staates dem Mann.309 Um zu erläutern, warum die weiblichen Familienmitglieder nur in ihrem Bruder eine Ahndung der Anerkennung und somit eine Ahndung des zugrunde liegenden sittlichen Verhältnisses erhalten können, ruft Hegel zunächst zwei wesentliche Momente des Begriffs der Anerkennung in Erinnerung: Allgemeinheit und Einzelnheit.310 In einer gelungenen Anerkennungsbewegung muss das Individuum sich sowohl als Moment einer es übergreifenden Allgemeinheit begreifen (oder zumindest erfahren) als auch in seiner individuellen Einzelnheit erfassen können. Genauer gesagt muss das Individuum erfassen, dass es als einzelnes zugleich allgemein ist und dass es vom anderen Individuum sowohl in seiner Allgemeinheit als auch in seiner Einzelnheit anerkannt wird. Dafür ist zugleich Voraussetzung, dass es selbst das andere Individuum in seiner Allgemeinheit und Einzelnheit anerkennt.311 Hegel untersucht nun, inwieweit die drei anderen Verhältnisse (zu den Eltern, zum Ehemann oder zu den Kindern) in der Lage sind, der Frau ein solches Anerkennen und Anerkannt-Werden zu ermöglichen. In ihrer Beziehung zu den Eltern kann sich, wie sich bereits angedeutet hatte, die Anerkennung nicht realisieren. In ihnen kommt die Frau (als Tochter) nur zu einer negativen Anschauung ihrer Einzelnheit oder ihres Fürsichseins, denn in dem Verhältnis zu ihren Eltern ist sie damit konfrontiert, dass die Eltern vergehen müssen, damit sie sich zu einem selbständigen erwachsenen Menschen, einem selbständigen Fürsichsein, entwickeln kann.312
307
Nach Schulte erhält der Mann nur Anerkennung durch die Schwester und dies nur, solange er als Jüngling in der Familie bleibt. Als Erwachsener werde er dagegen weder in der Polis noch im Staat anerkannt (vgl. Schulte 1992, S. 143). Hegels Pointe ist jedoch genau umgekehrt: Sobald der Bruder die Familie verlässt und in die Sphäre der Öffentlichkeit eintritt, bedarf er nicht mehr notwendig der Anerkennung durch die Schwester. Nur die Schwester ist ihr Leben lang auf die Anerkennung durch den Bruder angewiesen, da sie im Bereich der Familie bleibt und dort nur durch ihn eine Ahnung der Anerkennung und damit zugleich der Sittlichkeit hat. 308 Vgl. PhG, S. 247, 23 – S. 248, 10. 309 Vgl. ebd., S. 248, 11 – S. 32. 310 Vgl. ebd., S. 247, 22. 311 Vgl. ebd., S. 110, 14–16. 312 Vgl. ebd., S. 247, 24–27.
364
III Die Phänomenologie des Geistes
Auch als Ehefrau oder Mutter kommt sie zu keiner befriedigenden Anschauung ihrer Einzelnheit, ihres Fürsichseins: Als Ehefrau bekommt sie ihre Einzelnheit nur »als etwas natürliches, das der Lust angehört« gespiegelt, weil das Verhältnis der Ehepartner in der griechischen Sittlichkeit noch ganz vom Fortpflanzungszusammenhang und der Sexualität bestimmt ist. Sie bekommt ihre Einzelnheit deshalb nur in einer beschränkten, natürlichen Hinsicht gespiegelt. Als Mutter ist sie hauptsächlich mit der Vergänglichkeit ihrer Einzelnheit und ihres Fürsichseins konfrontiert, denn das Kind, ihr Fürsichsein, strebt in eben dem Maße der Selbständigkeit zu, wie sie selbst auf den Tod zugeht; sie hat ihre Einzelnheit darin wieder nur als etwas Negatives zum Gegenstand.313 Da das Verhältnis der Frau zu ihrem Ehemann von der natürlichen Sexualität bestimmt ist und sich ihr Verhältnis zu ihrem Kind durch Vergänglichkeit auszeichnet, ist für sie Hegel zufolge sowohl die individuelle Einzelnheit des Mannes als auch der Kinder sittlich gesehen »etwas zufälliges«, das durch eine andere individuelle Einzelnheit »ersetzt werden kann.«314 Der Mann wie auch die Kinder sind ihrer Individualität nach letztlich austauschbar – worauf es für die Frau sittlich gesehen ankommt, ist »ein Mann, Kinder überhaupt«315. Hegel bezieht sich damit nochmals auf den Gedanken, dass die Empfindung der Liebe zum Ehemann oder aber zu den Kindern in der griechischen Sittlichkeit noch nicht die eigentliche Sittlichkeit der Familie ausmachen kann, weil sie bloß natürlich ist316 und noch nicht, wie in der Moderne, in geistige Liebe transformiert worden ist. Sittlich ist das Verhältnis der Frau zu Mann und Kindern daher lediglich, inso-
313
Nach der hier vorgeschlagenen Interpretation wird das »theils (…) theils« (PhG, S. 247, 27–31) so gelesen, dass sich »theils als etwas natürliches (…)« auf das Verhältnis der Ehefrau zum Ehemann bezieht, »theils als etwas negatives« dagegen auf das Verhältnis der Mutter zu ihrem Kind. Der Satzteil »theils ist sie ebendarum etwas zufälliges (…)« bezieht sich jedoch auf beide Verhältnisse, wie im nächsten Satz deutlich wird. Schmidt bezieht dagegen alle drei Teilsätze auf Ehefrau und Mutter. Seiner Meinung nach erfährt die Ehefrau auch im Verhältnis zum Ehemann ihr Verschwinden (vgl. Schmidt 1997, 85, Anm. 24); vermutlich bezieht sich Schmidt damit auf das »Einswerden« oder »Verschmelzen« mit dem Partner in der Begattung. Diese Interpretation muss allerdings das Wort »erblicken« durch »erfahren« ersetzen (vgl. Schmidt 1997, ebd.). »Erblicken« bezieht sich jedoch auf das sinnlich-gegenständlich Werden des eigenen Verschwindens, was nur im Verhältnis zum Kind der Fall ist, nicht im Verhältnis zum Ehemann. Die Interpretation von Schmidt lässt sich auch schlecht damit vereinbaren, dass Hegel zu Beginn seiner Untersuchung das Verhältnis von Mann und Frau als Anerkennungsverhältnis bestimmt hat, das lediglich durch das natürliche Verhältnis (der Lust) getrübt wird (vgl. PhG, S. 246, 29 f.). 314 PhG, S. 247, 30 f. 315 Ebd., S. 247, 32. 316 Vgl. ebd., S. 243, 12–14; vgl. auch III.2.2.2.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
365
fern sich die Frau darin auf das allgemeine der Familiensittlichkeit selbst, auf den Fortbestand einer Familie überhaupt bezieht,317 denn »das sittliche ist an sich allgemein«318. Insofern sich die Frau sittlich auf die Einzelnheit des Mannes oder des Kindes bezieht, geht es ihr zugleich immer um das Allgemeine, um den Einzelnen als solchen319, nicht um die bestimmte Individualität von Mann und Kind. Zwar bezieht sich die Frau auch getrieben von sexueller Lust auf ihren Ehemann, aber weil es ihr dabei immer zugleich um den Fortbestand der Familie selbst geht, bleibt ihr – anders als dem Mann – die bloße »Einzelnheit der Begierde fremd.«320 Bei der Frau fallen somit in ihrer Beziehung zu ihrem Mann Einzelnheit und Allgemeinheit unmittelbar zusammen. Gerade dadurch kann sie nach Hegel die Anerkennung nicht realisieren. Insofern sich die Frau nämlich auf den Mann und ihre Kinder in ihrer Einzelnheit bezieht – was ihr ermöglichte, sich selbst in ihrer Einzelnheit zu erkennen und darin anerkannt zu werden –, bezieht sie sich nur auf ihre natürliche Einzelnheit, weshalb ihr Verhältnis zu ihnen nicht rein sittlich und allgemein ist.321 Insofern sich die Frau jedoch sittlich und allgemein auf Mann und Kinder bezieht, spielt für sie deren Individualität und Einzelnheit keine Rolle, sodass sie auch ihre eigene Einzelnheit nicht gespiegelt bekommen kann.322 Damit ist das Anerkennungsverhältnis nicht befriedigend realisiert. Für den Mann stellt dies nach Hegel kein Problem dar, weil er in einem anderen Zusammenhang seine Allgemeinheit und Einzelnheit selbstbewusst realisiert: als Bürger in der Polis.323 Somit kann der Mann, anders als die Frau, sich auf seine Ehefrau getrieben von der Einzelnheit der Begierde beziehen, ohne darin seinen sittlichen Status aufgeben zu müssen. Er kann sich frei zu seiner sexuellen Begierde verhalten, weil sie für ihn nicht unmittelbar mit seiner sittlichen Allgemeinheit zusammenfällt und seine Sittlichkeit ›verunreinigt‹. Sein Bürgerstatus gibt ihm somit zugleich »das Recht der Begierde« wie auch »die Freyheit von derselben«324, während die Frau weder ein Recht auf sexuelle Begierde hat noch frei von ihr ist.325 Hegel bringt damit die widersprüchliche Konzeption von Sexualität bei Mann und Frau auf den Punkt: Der Mann kann sich seiner sinnlichen Be-
317 318 319 320 321 322 323 324 325
Vgl. Schmidt 1997, S. 85. PhG, S. 243, 9. Vgl. ebd., S. 243, 25. Ebd., S. 247, 36. Vgl. ebd., S. 247, 39 f. Vgl. ebd., S. 248, 2 f. Ebd., S. 247, 37 f. Ebd., S. 247, 38 f. Vgl. Mills 1986, S. 133 f.
366
III Die Phänomenologie des Geistes
gierde voll und ganz hingeben, ohne dabei auf seine Geschlechtlichkeit reduziert zu werden, weil er sich in der Polis als sittlicher Bürger erweist und dort sowohl seine Allgemeinheit als auch seine Einzelnheit zum Gegenstand hat. Die Frau dagegen gibt sich ihrer Sexualität nicht voll hin, ist aber trotzdem auf ihre Geschlechtlichkeit reduziert, weil sie ihre sittliche Allgemeinheit nur im Gattungszusammenhang der Familie realisieren kann, der sich nur durch sexuelle Aktivität realisieren lässt. Schmidt äußert sein Befremden über Hegels Behauptung, der Frau gehe es in der griechischen Sittlichkeit nicht um die Individualität von Mann und Kindern, sondern um Mann und Kinder überhaupt; er bezieht sich dabei auf Lucas, der diese Vorstellung sogar als »barbarisch« bezeichnet.326 Bei genauerem Hinsehen ist Hegels Darstellung aber – gerade historisch betrachtet – alles andere als abwegig. Hegel möchte ja nicht behaupten, dass die Frau sich überhaupt nicht auf die Individualität ihrer Familienmitglieder bezieht, sondern dass sie, sofern sie das tut, sich gerade nicht sittlich verhält. Tatsächlich wird von der Frau, wie übrigens in abgeschwächter Form auch vom Mann, erwartet, dass es ihr um einen Mann überhaupt, um Kinder überhaupt geht. Im antiken Griechenland besteht gemäß der gesellschaftlichen Verhältnisse die gesellschaftliche Aufgabe der Frau darin, sich um eine Familie überhaupt zu kümmern. Auch für die Moderne (mindestens bis in das letzte Jahrhundert hinein) ist dieser Aspekt keinesfalls obsolet. Nach Hegel kommt dies darin zum Ausdruck, dass auch noch zu seiner Zeit der Mann eine Frau wählt und nicht umgekehrt. Der Mann kann somit seine Begierde, sofern sie sich gerade auf eine ganz bestimmte Frau richtet, bei der Wahl einer Frau in den Vordergrund rücken, statt das eigentliche sittliche Verhältnis, nach dem es darauf ankommt, dass er überhaupt eine Frau zur Ehefrau nimmt und eine Familie gründet, zu berücksichtigen.327 Eine Frau zu Hegels Zeiten konnte sich diesen Luxus kaum leisten, denn sie konnte nicht selbst um Männer werben. Ihr musste es daher vielmehr darum gehen, überhaupt einen Mann zum Ehemann nehmen zu können, da sie erst dadurch als Frau galt und gesellschaftliche Anerkennung erhielt – anders als der Mann, der schon vor der Hochzeit als Mann anerkannt wurde. Nicht durch Zufall ist dies ein immer wiederkehrendes Thema in der Literatur, von der Antike bis zur Gegenwart. Schmidt und Lucas haben insofern recht, wenn sie darüber empört sind, denn es ist ein empörendes gesellschaftliches Verhältnis, das
326
Vgl. Schmidt 1997, S. 85, Anm. 25; Lucas 1988. Vgl. GW 14,2, S. 735, 11 f.: »Mann wegen grösserer Eigenwilligkeit Selbstaendigkeit außer der Ehe α) theils noch gleichgültiger für ihn, wie die Frau beschaffen, – β) theils – im Gegentheil ebenso eigensinniger, waehlender«. 327
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
367
auch Hegel kritisieren möchte und in dieser extremen Form für prämodern hält. Sowohl als Ehefrau als auch als Mutter steht die Frau also vor dem Dilemma, dass sie, insofern sie sittlich ist, ihre Einzelnheit nicht gespiegelt bekommt, und, insofern sie ihre Einzelnheit gespiegelt bekommt, nicht sittlich ist. Nach Hegel kann der Frau ihr Verhältnis zum Bruder einen Ausweg aus diesem Dilemma und eine Anerkennung ihres einzelnen Selbst ermöglichen, »weil es mit dem Gleichgewichte des Blutes und begierdeloser Beziehung verknüpft ist«328. Die Blutsverwandtschaft macht aus, dass die Schwester sich im Verhältnis zum Bruder als Mitglied eines allgemeinen Zusammenhangs, der Familie, begreift, sodass die sittliche Allgemeinheit gewährleistet ist. Da sich die Frau auf den Bruder ohne sexuelles Interesse bezieht, kann sie ihn in seiner ganzen individuellen Einzelnheit anerkennen und nicht nur in beschränkter Hinsicht, als Geschlechtspartner. Indem sie den Bruder in seiner Einzelnheit anerkennt, kann sie zugleich ihre eigene Einzelnheit gespiegelt bekommen. Sie kann also in ihm sowohl ihre Einzelnheit als auch ihre Allgemeinheit erkennen, was Voraussetzung dafür ist, dass die Anerkennung gelingen kann. Das Verhältnis ist nach Hegel nicht sittlich zufällig, denn der Bruder ist, anders als Ehemann und Kinder, nicht ersetzbar. Während die Frau sich einen neuen Ehemann suchen kann, mit dem sie gemeinsam weitere Kinder zeugen kann, liegt es nicht in ihrer Macht, sich einen neuen Bruder zu suchen oder hervorzubringen. Wer ihr Bruder ist, ist durch das Gattungsverhältnis bestimmt und vorgegeben. Hegel hält deshalb fest: »Der Verlust des Bruders ist daher der Schwester unersetzlich, und ihre Pflicht gegen ihn die höchste.«329 Mit der Pflicht der Schwester gegen den Bruder ist hier die zuvor entwickelte »letzte Pflicht«330 der Familie gemeint: die Bestattung. Es ist wesentliche Pflicht der Schwester, den Bruder zu bestatten. Umgekehrt besteht eine solche Verpflichtung nicht in derselben Weise, denn es ist vornehmlich Aufgabe der anderen weiblichen Mitglieder der Familie, sich um die Bestattung der Toten zu kümmern; schließlich sind die Frauen verantwortlich dafür, die Pietät der Familie zu wahren.331
328
PhG, S. 248, 8 f. Ebd., S. 248, 9 f. 330 Ebd., S. 245, 18. 331 Vgl. III.2.2.5. Dass dennoch selbstverständlich auch Männer, sofern keine weiblichen Angehörigen vor Ort sind, aufgefordert sind, sich um die Bestattung der Toten zu 329
368
III Die Phänomenologie des Geistes
Hegel hat seine These, dass in der griechischen Sittlichkeit für die Frau das Verhältnis zum Bruder gegenüber dem Verhältnis zu Ehemann und Kindern vorrangig ist, in der griechischen Tragödie bestätigt gefunden. Besonders deutlich wird die Austauschbarkeit von Ehemann und Kindern sowie die sittliche Bedeutung des Bruders nach Hegel in Sophokles Antigone, »dem absoluten Exempel der Tragödie«332. Antigone, die gegen das offizielle Verbot des Herrschers Kreon verstößt und ihren Bruder Polyneikes beerdigt, betont, dass sie einen solchen Frevel nur für den Bruder in Kauf genommen hat, nicht aber für Ehemann oder Kinder begangen hätte: »Niemals, wenn ich Mutter von Kindern geworden wäre, noch wenn ein Gatte mir sterbend dahinschmolz, hätte ich gegen die Bürger diese Mühsal unternommen. Welchen Gesetzen zuliebe sage ich dies? Einen anderen Gatten bekäme ich, wenn er sterben, und ein Kind von einem anderen Mann, wenn ich es verlieren würde. Nachdem aber Mutter und Vater im Hades geborgen sind, gibt es keinen Bruder, der nachwachsen könnte. Nach diesem Naturgesetz habe ich dir Ehre erwiesen und in Kreons Augen dieses falsch gemacht und Ungeheures gewagt, o brüderliches Haupt. Und nun führt er mich dahin, an den Händen greifend, ohne Brautbett, ohne Hochzeit, die ich weder der Ehe Teil noch den der Kindererziehung erlange.«333 Dass Hegel sich mit seinem Verweis auf Antigones Liebe zu ihrem Bruder insbesondere auf diese Stelle bezieht, geht deutlich aus der Nachschrift von Wannenmann hervor.334 Nach Hegel konnte das Bruder-Schwester-Verhältnis erst an sittlicher Bedeutung verlieren und an seiner Stelle das Verhältnis der Ehepartner sittliche Bedeutung erhalten durch das Christentum. Denn die christliche Lehre, dass Gott jedes Individuum – mit all seinen natürlichen Unterschieden wie z. B.
kümmern, z. B. im Krieg, zeigt eine Bemerkung in den Vorlesungen über die Ästhetik (vgl. TWA 15, S. 389). 332 TWA 17, S. 132. 333 Ant., Verse 905–918. Wie Antigone Ehemann und Kinder prinzipiell für austauschbar hält, so geht auch Kreon umgekehrt von der prinzipiellen Austauschbarkeit der Ehefrau aus, wenn er auf die Frage von Antigones Schwester Ismene »Du willst also die Braut des eigenen Kindes töten?« (Ant., Vers 568) mit zynischer Nüchternheit antwortet: »Zu bepflügen sind auch noch die Äcker anderer!« (Ant., Vers 569) 334 Vgl. V 1, S. 111, 983 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
369
seinem Geschlecht – als geistiges Individuum anerkennt, hat auch Auswirkungen auf die Konzeption der Ehe: Nach christlicher Auffassung anerkennen sich Mann und Frau nicht nur als natürliche Geschlechtspartner (wie noch nach dem Alten Testament), sondern zugleich in ihrer geistigen Individualität.335 Die Ehe wird Hegel zufolge durch das Christentum in ein Verhältnis der geistigen Liebe verwandelt, in der die Sexualität nur ein Moment darstellt. In der griechischen Sittlichkeit ist dagegen die geistige Liebe Hegel zufolge noch nicht das Bestimmende dieses sittlichen Verhältnisses, sondern ein bloß zufälliges Moment eines Verhältnisses, das wesentlich auf der Fortpflanzung beruht. Da das Verhältnis der Ehepartner in der griechischen Sittlichkeit noch stark sexuell bestimmt ist, kann es nach Hegel keine Anerkennung ermöglichen, die jedoch wesentlich ist für ein wahrhaft sittliches Verhältnis. Nur das Verhältnis von Bruder und Schwester ist ein echtes Anerkennungsverhältnis, weil es frei von sexueller Begierde ist. Der Fortschritt der modernen (auf christlichen Grundsätzen beruhenden) Ehe ist nach Hegel, dass sie es ermöglicht, die Sexualität zu einem bloßen Moment zu machen und damit innerhalb eines auch auf Sexualität beruhenden Verhältnisses ein echtes Anerkennungsverhältnis zu schaffen. Die bürgerliche Ehe stellt insofern einen höheren Schritt der geistigen Aneignung der eigenen Natur dar, als in ihr die Sexualität in das Verhältnis integriert wird und nicht, wie im Verhältnis von Bruder und Schwester, ausgeklammert werden muss. Aus den dargelegten Argumenten lässt sich entwickeln, warum Hegel in der griechischen Sittlichkeit nur das Bruder-Schwester-Verhältnis als sittliches Verhältnis betrachtet, nicht aber das Verhältnis von SchwesterSchwester oder Bruder-Bruder. Für Hegel ist entscheidend, dass das BruderSchwester-Verhältnis die sexuelle Differenz enthält, ohne ein sexuelles Verhältnis zu sein. Es ist gewissermaßen ein asexuelles Verhältnis, in dem der Geschlechtsunterschied vorhanden ist, ohne dass er das Verhältnis durch sexuelle Begierde bestimmte. In der vorhandenen sexuellen Differenz greift das Bruder-Schwester-Verhältnis ein wesentliches Moment des natürlichen Verhältnisses von Ehemann und Ehefrau auf, geht aber aufgrund der fehlenden sexuellen Begierde zwischen Bruder und Schwester zugleich über das natürliche Verhältnis der Ehepartner hinaus und ermöglicht dadurch, dass sich die Individuen mit ihrer sexuellen Differenz in ihrer Individualität anerkennen können. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Verhältnis von Bruder und Schwester innerhalb der griechischen Sittlichkeit als die Einheit der beiden ersten sittlichen Verhältnisse der Familie auftreten kann. Das Bruder-Bruder-Verhältnis ist als familiäres Verhältnis für He335
Vgl. II.2.2.10.1.
370
III Die Phänomenologie des Geistes
gel sittlich gesehen nicht relevant, da der Bruder als Mann auch außerhalb der Familie, im Staat, Anerkennung erhalten kann und das auf eine höhere Weise, als es in der Familie jemals der Fall sein kann, weil die Polis anders als die Familie auf einem bewussten gesellschaftlichen Verhältnis beruht. Der Mann bedarf also nicht eines Bruders (wie auch nicht einer Schwester), um sich als dieses Selbst anerkannt zu wissen. Die Schwester kann nun der Frau nicht den Bruder ersetzen, weil sie ihr nicht zugleich ihre Sexualität spiegeln kann. Diese lässt sich nur durch die Differenz zum anderen Geschlecht erfahren. Die Erfahrung ihrer Geschlechtlichkeit ist für die Schwester aber von größter Bedeutung, weil es nicht nur um die Anerkennung ihrer selbst überhaupt geht, sondern dabei auch um die Anerkennung ihrer »sittlichen Bestimmung.«336 Schließlich ist ihre Sittlichkeit wesentlich mit ihrer Sexualität verknüpft. Denn die Familie, die die sittliche Sphäre der Frau ausmacht, beruht – anders als der Staat, in dem der Mann seine Anerkennung erhält – wesentlich auf der sexuellen Differenz. Innerhalb der Familie ist die sexuelle Differenz daher von großer Bedeutung, während sie in der öffentlichen Sphäre keine Rolle spielt – freilich, weil die Frauen vorher in den Bereich der Familie verbannt wurden und somit in der öffentlichen Sphäre nicht mehr vorkommen. Nur ein Mann als Vertreter des anderen Geschlechts kann somit der Frau ihre eigene Geschlechtlichkeit und die daraus erwachsende ›sittliche Bestimmung‹ spiegeln. Die Bedeutung der sexuellen Differenz von Bruder und Schwester wird erst wirklich verständlich, wenn man den weiteren Fortgang betrachtet, dessen Konsequenzen von Hegel implizit bereits vorausgesetzt werden. Denn das Bruder-Schwester-Verhältnis stellt nach Hegel »zugleich die Gräntze« dar, »an der sich die in sich beschlossene Familie auflöst, und außer sich geht.«337 Der Bruder verlässt nämlich die Familie, um sich als freier Bürger zu bewähren; er geht vom göttlichen Gesetz der Familie zum menschlichen Gesetz des Staates über, vom Gesetz der Einzelheit zum Gesetz der Allgemeinheit. Er muss diesen Schritt tun, um sich zu einem selbstbewussten Individuum zu entwickeln und seine geistigen Kräfte entfalten zu können. Er verlässt also die »unmittelbare, elementarische und darum eigentlich negative Sittlichkeit der Familie, um die ihrer selbstbewußte, wirkliche Sittlichkeit zu erwerben«338. Hegel spielt damit auf den formalisierten und ritualisierten Übergang des Mannes vom Kinde zum Erwachsenen an: Der junge Mann erhielt mit Ende der Pubertät, der ephebeia, die Anerkennung als Polis-Bür336 337 338
PhG, S. 248, 32. Ebd., S. 248, 11 f. Ebd., S. 248, 14 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
371
ger, wurde in alle kulturellen, sozialen und militärisch-politischen Bereiche eingeführt und galt rechtlich als vermögens- und heiratsfähig.339 Während der Bruder somit das Haus verlässt zugunsten seiner Aktivität in der Polis, bleibt die Schwester dagegen dem göttlichen Gesetz der Familie treu. Hegel schreibt dazu: »Die Schwester aber wird, oder die Frau bleibt der Vorstand des Hauses und die Bewahrerin des göttlichen Gesetzes.«340 Während sich für den jungen Mann mit der ephebeia ein neuer Lebensbereich auftut, ändert sich für die junge Frau kaum etwas: Sie wechselt mit der Heirat, der der Vater zustimmen muss, lediglich das Haus, den Oikos; sie bleibt damit letztlich in derselben Sphäre, der Familie. Anders als der Mann wird sie nicht mit der Pubertät als politisch mündig anerkannt.341 Erst an der unterschiedlichen Bestimmung von Bruder und Schwester wird somit deutlich, dass die zwei Seiten der Substanz, göttliches und menschliches Gesetz, jeweils von einem der Geschlechter vertreten werden. Während Mann und Frau als Ehemann und Ehefrau aufeinander nur als Geschlechtspartner bezogen waren, zeigt sich jetzt am Verhältnis von Bruder und Schwester, dass die natürlichen Geschlechter zugleich eine sittliche Bestimmung haben.342 Sie sind aufeinander nicht nur bezogen als Geschlechtspartner, sondern sie haben zugleich sittliche Bedeutung, indem sie als geschlechtlich bestimmte Individuen jeweils eine Seite der sittlichen Substanz realisieren: Die Frau repräsentiert den Geist der Familie, des göttlichen Gesetzes, der Mann den Geist der Polis, das menschliche Gesetz. »Auf diese Weise überwinden die beyden Geschlechter ihr natürliches Wesen, und treten in ihrer sittlichen Bedeutung auf, als Verschiedenheiten, welche die beyden Unterschiede, die die sittliche Substanz sich gibt, unter sich theilen.«343 Der Geschlechtsunterschied ist damit nach Hegel nicht mehr bloß als natürlicher Unterschied vorausgesetzt, sondern kann als ein in Wahrheit vom Geist gesetzter, sittlicher Unterschied begriffen werden. Der Geist stellt die zwei Seiten der sittlichen Substanz auf dieser Stufe deshalb an den unterschiedenen Geschlechtern dar, weil er noch bloß unmittelbarer Geist ist.
339 340 341 342 343
Vgl. Gehrke 1997. PhG, S. 248, 18 f. Vgl. Gehrke 1998, Sp. 409. Vgl. GW 9, S. 248, 32; vgl. III.2.2.5. PhG, S. 248, 19 f.
372
III Die Phänomenologie des Geistes
Unmittelbar kann der Geist jedoch nur an einem Seienden in Erscheinung treten. Da der Geist jedoch nicht nur Substanz, sondern zugleich Selbstbewusstsein ist, erscheint er an einem Seienden, das zugleich seiner selbst bewusst ist – an den natürlichen, ihrer selbst bewussten Geschlechtern: »Diese beyden allgemeinen Wesen der sittlichen Welt haben ihre bestimmte Individualität darum an natürlich unterschiedenen Selbstbewußtseyn (sic!), weil der sittliche Geist die unmittelbare Einheit der Substanz mit dem Selbstbewußtseyn ist; – eine Unmittelbarkeit, welche also nach der Seite der Realität und des Unterschieds zugleich als das Daseyn eines natürlichen Unterschieds erscheint.«344 Auch auf der Stufe der Vernunft war der Geist bereits »nach der Seite der Realität und des Unterschieds«345 an natürlich unterschiedenen, sich ihrer selbst bewussten Individuen erschienen.346 Dort waren die Individuen jedoch noch auf bloß unbestimmte und zufällige Weise unterschieden, nach ihren jeweiligen Anlagen und Fähigkeiten, durch die sich jedes Individuum von jedem anderen Individuum unterscheidet. Hier erscheint der Geist dagegen an Individuen, die auf bestimmte und notwendige Weise unterschieden sind: Er erscheint an dem »Gegensatz der zwey Geschlechter, deren Natürlichkeit zugleich die Bedeutung ihrer sittlichen Bestimmung erhält.«347 Er erscheint somit an einem bestimmten Unterschied, dem Geschlecht, nach dem ein Teil der Individuen wesentlich dadurch bestimmt sein soll, dass sie Männer sind, ein anderer Teil dadurch, dass sie Frauen sind. Nach Hegel ist es als Fortschritt zu werten, dass die Individuen auf der Stufe des Geistes nicht nur in ihrer natürlichen Individualität (wie noch auf der Stufe der Vernunft), sondern zugleich aufgrund einer wesentlichen natürlichen Bestimmtheit hinsichtlich ihrer sittlichen Funktion bestimmt sind. Denn dadurch kann der Geist auf bestimmtere Weise an den Individuen seine Momente realisieren.348 Dass diese Bestimmtheit mit einer Subsumtion der Individuen unter bestimmte Tätigkeitsbereiche einhergeht, hält Hegel nicht für einen Mangel an Freiheit, sondern für einen Zuwachs an sittlicher Bestimmtheit, die allein es den Individuen ermöglicht, sich in bestimmter Weise zu realisieren. Diese Perspektive auf das Geschlechterverhältnis bzw. auf gesellschaftliche Sub344
Ebd., S. 248, 22 f. Ebd., S. 248, 26. 346 Vgl. das Kapitel V.C, insbesondere PhG, S. 216, 10 – S. 217, 27. 347 PhG, S. 248, 31 f. 348 Man verharmlost Hegels Anspruch bei dieser ›Ableitung‹ der Geschlechtscharaktere, wenn man sie, wie Schmidt, als »holzschnittartige Typisierung, vorgenommen um der Markierung willen« (Schmidt 1997, S. 85) bezeichnet. 345
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
373
sumtionsverhältnisse überhaupt (sei es der Subsumtion unter Stände, Berufszweige o. ä.) hat für die betroffenen Individuen eine zynische Seite: Denn jede Subsumtion geht mit einer deutlichen Beschränkung einher. Die Unterordnung unter eine solche Beschränkung soll nach Hegel erstens deshalb gerechtfertigt sein, weil der Geist nur in den Subsumtionsverhältnissen die Vielheit seiner Momente realisieren kann, und zweitens, weil die Bestimmtheit der Individuen nach Hegel tatsächlich mit ihrer sittlichen Funktion zusammenfällt. Demnach wäre ein Individuum ohne solche gesellschaftlichen Subsumtionsformen völlig unbestimmt und könnte sich auch nicht in seiner bestimmten Individualität realisieren.
III.2.2.5 Die sittliche Bestimmung der Geschlechter und ihre Bedeutung für das »sittliche Reich« (PhG, S. 248, 33 – S. 251, 4) Hegel hatte von Beginn an betont, dass wir es in der griechischen Sittlichkeit in Wahrheit mit nur einer Substanz zu tun haben, die sich jedoch aufgrund der Unmittelbarkeit des Geistes auf zwei entgegengesetzte Weisen darstellt: als göttliches Gesetz einerseits und als menschliches Gesetz andererseits. Resultat der bisherigen Entwicklung ist nun, dass die natürlichen Geschlechter jeweils zu den sittlich-geistigen Vertretern dieser zwei Darstellungsweisen der Substanz werden. Die Geschlechter machen jeweils eines der Gesetze zu ihrem sittlichen Inhalt. Die Einheit der Substanz realisiert sich somit in dem »bleibende(n) Werden«349 des Geschlechtsunterschieds und der damit verbundenen sittlichen Inhalte. Indem die Töchter einer Familie auch als erwachsene Frauen im Familienkreis bleiben und die Söhne als erwachsene Männer diesen verlassen, teilt sich die Substanz immer wieder in ihre zwei Daseinsweisen, bleibt jedoch durch die Bezogenheit der zwei Gesetze in einer Einheit. Während die Familie »ihre allgemeine Substanz und Bestehen«350 nur im Gemeinwesen hat, da sie nur in einem Gemeinwesen überhaupt existieren kann, kann es umgekehrt kein Gemeinwesen ohne Familien geben, da diese die zukünftigen Bürger der Polis hervorbringen: »Keins von beyden [Gesetzen, Anm. EB] ist allein und an und für sich; das menschliche Gesetz geht in seiner lebendigen Bewegung von dem göttlichen, das auf Erden geltende von dem unterirdischen, das bewußte vom bewußtlosen, die Vermittlung von der Unmittelbarkeit aus, und geht
349 350
PhG, S. 248, 34. Ebd., S. 248, 37.
374
III Die Phänomenologie des Geistes
ebenso dahin zurück, wovon es ausging. Die unterirdische Macht dagegen hat auf der Erde ihre Wirklichkeit; sie wird durch das Bewußtseyn Daseyn und Thätigkeit.«351 Der Geist, der zugleich Substanz und Selbstbewusstsein ist, erscheint in seiner Unmittelbarkeit also in zwei »allgemeinen sittlichen Wesen«352: Er ist einerseits menschliches Gesetz, das seine allgemeine Substanz im Volk bzw. Gemeinwesen hat und sein Selbstbewusstsein als einzelnes Bewusstsein an der Individualität des Mannes realisiert. Andererseits ist er göttliches Gesetz, das sich in der Familie realisiert und sein Selbstbewusstsein als einzelnes Bewusstsein an der Individualität der Frau hat.353 Der Geist ist somit auf dieser Stufe unmittelbare Einheit von Substanz und Bewusstsein und geht damit über die »vorhergehenden substanzlosen Gestalten des Bewußtseyn«354 hinaus. Hegel zeigt in einem Vergleich mit den einzelnen Stufen der Vernunft, wie der Geist als Sittlichkeit das realisieren kann, was die Vernunft realisieren wollte, aber nicht zu realisieren vermochte: 1) Das sittliche Bewusstsein findet die Sitte zwar als gegebenes Gesetz vor, aber es weiß sie zugleich als seine eigene Tat und sein eigenes Werk. Dagegen ging das Bewusstsein in der beobachtenden Vernunft davon aus, dass es an dem Vorgefundenen keinen Anteil hat,355 sodass Substanz und Selbstbewusstsein auseinanderfielen.356 2) Das sittliche Bewusstsein (des Mannes) kann Lust und Notwendigkeit miteinander vereinbaren, denn es findet die Lust seiner Einzelnheit in der Familie und die Notwendigkeit des Allgemeinen in seiner selbstbewussten Tätigkeit für das Volk als Bürger.357 Beide sind in der Sittlichkeit – zumindest im Bewusstsein der männlichen Bürger – miteinander versöhnt, während die Vernunft, die sich als reine Lust realisieren wollte, erleben musste, wie ihr eigenes Tun ihr nur die Macht der Notwendigkeit, die sie als Schicksal ereilte, bewies.358 3) Das sittliche Bewusstsein weiß nun sein Gesetz des Herzens als das »Gesetz aller Herzen«, als »anerkannte allgemeine Ordnung«359, während
351 352 353 354 355 356 357 358 359
Ebd., S. 248, 39 f. Ebd., S. 249, 6. Vgl. ebd., S. 249, 6 f. Ebd., S. 249, 10 f. Vgl. ebd., S. 249, 13 f. Vgl. V.A. Beobachtende Vernunft, PhG, S. 137–192. Vgl. PhG, S. 249, 15–17. Vgl. V.B.a. Die Lust und die Notwendigkeit, PhG, S. 198 – S. 201. PhG, S. 249, 18 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
4)
5) 6)
7)
375
die Vernunft noch meinte, das eigene Gesetz des Herzens erst noch allgemein realisieren zu müssen und dabei in den Wahnsinn des Eigendünkels umschlug.360 Dem sittlichen Bewusstsein gelingt es, das, was es für das Wesentliche hält, auch zu realisieren. Es opfert sich für das Allgemeine, aber kann zugleich das Resultat seiner Aufopferung, das Allgemeine selbst, genießen und darin bei sich sein,361 während der Vernunft sowohl Tugend und Weltlauf als auch aufopferungsvolles tugendhaftes Handeln und Selbstbezogenheit noch auseinanderfielen.362 Die Sache selbst, die die Vernunft zu realisieren trachtete,363 ist dem sittlichen Bewusstsein Gegenstand in der realen sittlichen Substanz. Das sittliche Bewusstsein hat ein substanzielles sittliches Gesetz zum Gegenstand, während die gesetzgebende Vernunft bloß substanzlose Gebote zu geben vermochte, die dadurch bloß formalen Charakter bekamen.364 Das sittliche Bewusstsein hat damit einen substanziellen und bestimmten Maßstab seines eigenen Tuns und nicht mehr bloß, wie noch die gesetzprüfende Vernunft, einen Maßstab für die Prüfung der Gesetze, der selbst in Widersprüche und zu Beliebigkeit führt.365
Das sittliche Bewusstsein ist damit mit sich selbst und der Welt, in der es lebt, im Einklang. Anders als noch auf der Stufe der Vernunft ist auf dieser Stufe deshalb »(d)as Ganze (…) ein ruhiges Gleichgewicht aller Theile, und jeder Theil ein einheimischer Geist, der seine Befriedigung nicht jenseits seiner sucht, sondern sie in sich darum hat, weil er selbst in diesem Gleichgewichte mit dem Ganzen ist.«366 Das soll nicht heißen, dass es sich bei der sittlichen Ordnung um ein starres Gefüge handelt. Die sittliche Wirklichkeit ist nach Hegel vielmehr eine lebendige Einheit, d. h., sie ist in Bewegung – gerade das ist ihre Stärke und macht ihre Geistigkeit aus. In ihr entstehen daher notwendig auch Ungleich360
Vgl. V.B.b. Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels, PhG, S. 202 – S. 207. 361 Vgl. PhG, S. 249, 19–22. 362 Vgl. V.B.c. Die Tugend und der Weltlauf, PhG, S. 208 – S. 214. 363 Vgl. V.C.a. Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst, PhG, S. 216 – S. 228. 364 Vgl. V.C.b. Die gesetzgebende Vernunft, PhG, S. 228 – S. 232. 365 Vgl. V.C.c. Gesetzprüfende Vernunft, PhG, S. 232 – S. 237. 366 PhG, S. 249, 29 f.
376
III Die Phänomenologie des Geistes
heiten. Aber sie ist dennoch in dem Sinne sich gleich bleibend, als die Ungleichheiten, die entstehen, in der Bewegung immer wieder zur Gleichheit zurückgeführt werden. Die Rückführung der Ungleichheit in die Gleichheit leistet die Gerechtigkeit, die nicht als eine jenseitige Macht oder als unbegreiflicher Zufall erscheint, sondern diesseitig und notwendig ist. Die Gerechtigkeit tritt gemäß den zwei Gesetzen in zweifacher Hinsicht auf: einerseits als Gerechtigkeit des menschlichen Rechts, andererseits als Gerechtigkeit des göttlichen Rechts. Die Gerechtigkeit des bewusst gesetzten menschlichen Rechts wird durch die Regierung garantiert, die nach Hegel selbst nichts anderes ist als eben die Gerechtigkeit des menschlichen Rechts. Denn die Regierung ist als bewusstes Individuum der »eigne selbstbewußte Willen Aller.«367 Sie muss sich darum kümmern, dass kein einzelnes Individuum durch Verabsolutierung seiner Besonderheit oder seines individuellen Fürsichseins das ruhige Gleichgewicht stört und Ungleichheit erzeugt. Die Regierung sorgt daher dafür, dass sich die Individuen der Allgemeinheit und damit dem Willen aller unterordnen.368 Umgekehrt sorgt die Gerechtigkeit des göttlichen Rechts dafür, dass das Allgemeine nicht »über den Einzelnen übermächtig«369 wird. Denn die Übermacht des Allgemeinen führte ebenfalls zu einem Ungleichgewicht, das zur Gleichheit zurückgeführt werden müsste. Auch das göttliche Recht tritt jedoch nicht als jenseitige, undurchschaubare Macht auf, sondern ist nichts anderes als »der einfache Geist desjenigen, der Unrecht erlitten,« vorgestellt als »seine Erinnye, welche die Rache betreibt«370. Unrecht widerfährt dem Einzelnen jedoch nicht durch die Regierung oder den Staat, sondern durch die Natur, die ihn durch seinen natürlichen Tod »zu einem reinen Dinge«371 macht, sodass er darin nicht mehr als selbstbewusstes Individuum erscheint. Der Einzelne muss sich deshalb nicht an der Regierung oder dem Gemeinwesen rächen, sondern an der Natur, die die Allgemeinheit des abstrakten Seins ist und die versucht, den seiner selbst bewussten Einzelnen ebenso zum bloß abstrakten Sein zu machen.372 Die Rache an dieser Ungerechtigkeit, die dem Einzelnen durch die Natur widerfährt, übernimmt für ihn die Familie, denn in ihr – nicht im Staat (Polis), sondern in der Sphäre der Familie, »im Hause« (Oikos) – lebt »seine Individualität, sein Blut, (…) fort«373. Indem die Familie den Toten 367 368 369 370 371 372 373
Ebd., S. 250, 4 f. Vgl. ebd., S. 250, 1 f. Ebd., S. 250, 5 f. Ebd. S. 250, 7. Vgl. Hösle 1984, S. 41, Anm. 61 und S. 53. PhG, S. 250, 13. Vgl. III.2.2.3. PhG, S. 250, 9 f.; vgl. Hösle, S. 53.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
377
bestattet und seiner gedenkt, macht sie den natürlichen Tod selbst zu etwas Vernünftigem:374 »Das Bewußtseyn des Bluts des Individuums löst diß Unrecht [des natürlichen Todes, Anm. EB] (…) so auf, daß was geschehen ist, vielmehr ein Werk wird, damit das Seyn, das Letzte [d.i. der Tod, Anm. EB], auch ein gewolltes und hiemit erfreulich sey.«375 Indem die Gerechtigkeit immer wieder das ruhige Gleichgewicht des allgemeinen Rechts mit dem Recht des einzelnen Fürsichseins herstellt, ist die griechische Sittlichkeit nach Hegel »eine unbefleckte durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt.«376 Das menschliche und das göttliche Gesetz stehen sich nicht als feindliche Mächte gegenüber, sondern sie gehen als Gegensätze ineinander über, erhalten sich gegenseitig und bringen sich sogar wechselseitig hervor.377 In der sittlichen Wirklichkeit durchdringen sie sich dabei gegenseitig. Das menschliche Gesetz, als das eine Extrem, wird mit dem göttlichen Gesetz, dem anderen Extrem, »durch die Individualität des Mannes zusammen geschlossen«378, der als selbstbewusster Bürger zugleich Teil einer Familie ist. Umgekehrt wird das göttliche Gesetz mit dem menschlichen Gesetz durch die Frau dadurch verknüpft, dass sie den »bewußtlose(n) Geist des Einzelnen«379 zum Bewusstsein erhebt, indem sie die letzte familiäre Pflicht vollzieht, die toten Familienmitglieder zu bestatten, womit sie sie der Macht der Natur entzieht. Sowohl der Mann als auch die Frau vermitteln somit die beiden Extreme, sodass Hegel von einem »Schluss«380 spricht, in dem sie jeweils die Mitte darstellen.381 Indem sich nun Mann und Frau miteinander vereinigen, entsteht die sittliche Wirklichkeit in ihrer Totalität, die
374
Vgl. PhG, S. 244, 14 – S. 245, 17. Ebd., S. 250, 16 f. 376 Ebd., S. 250, 20 f. Ravven missinterpretiert diese Stelle. Sie schreibt: »For Hegel, the Greek polis and the family, in large part, represent the same ethical phenomenon. Each is an immediate social whole, an ›immaculate world, unsullied by internal dissension.‹« (Ravven 1988, S. 150). Ihrer Meinung nach ist also weder die Polis noch die Familie durch einen Zwiespalt verunreinigt. Hegel geht es jedoch darum, dass die griechische Sittlichkeit als Ganze durch keinen Zwiespalt verunreinigt ist. Ravven behandelt Polis und Familie von Anfang an als zwei selbständige soziale Gemeinschaften, statt sie als Moment des Ganzen aufzufassen, wie Hegel das tut. 377 Vgl. PhG, S. 250, 21 f. 378 Ebd., S. 250, 28 f. 379 Ebd., S. 250, 30. 380 Vgl. ebd., S. 250, 33 – S. 251, 4. 381 Vgl. Siep 2000, S. 184. 375
378
III Die Phänomenologie des Geistes
somit selbst ein Schluss aus zwei Schlüssen ist, deren Mitte Mann und Frau als vereinte Kräfte sind: »Die Vereinigung des Mannes und des Weibes macht die thätige Mitte des Ganzen und das Element aus, das, in diese Extreme des göttlichen und menschlichen Gesetzes entzweyt, ebenso ihre unmittelbare Vereinigung ist, welche jene beyden ersten Schlüsse zu demselben Schlusse macht, und die entgegengesetzte Bewegung, der Wirklichkeit hinab zur Unwirklichkeit, – des menschlichen Gesetzes, das sich in selbstständige Glieder organisirt, herunter zur Gefahr und Bewährung des Todes; – und des unterirdischen Gesetzes herauf zur Wirklichkeit des Tages und zum bewußten Daseyn, – deren jene dem Manne, diese dem Weibe zukommt, – in Eine vereinigt.«382 Die sittliche Wirklichkeit ist somit vollständig nur erfassbar, wenn man sie aus der Einheit und Bezogenheit der Geschlechter sowie ihrer sittlichen Gesetze heraus begreift. Beide Gesetze sind nur zwei Daseinsweisen der einen Substanz, die deshalb auch jeweils ineinander umschlagen und sich gegenseitig bedingen. Aus der Analyse der familiären Verhältnisse383 ergibt sich jedoch, dass die Einheit der Geschlechter in der griechischen Sittlichkeit sich nach Hegel fundamental von dem Geschlechterverhältnis in der Moderne unterscheidet. Auch in der Moderne geht Hegel davon aus, dass die sittlichen Sphären der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft durch Mann und Frau miteinander vermittelt werden und im Staat in einer vermittelten Einheit aufgehoben sind. Während die Vermittlung von Mann und Frau in der Moderne jedoch durch die bürgerliche Ehe vollzogen wird, findet sie in der griechischen Sittlichkeit nicht vorwiegend in der Ehe statt, da diese noch wesentlich durch die Sexualität bestimmt ist, sondern als Verbundenheit unter Blutsverwandten, im Verhältnis von Bruder und Schwester.384 Familie und Polis werden durch die Geschlechter in sittlicher Weise dadurch miteinander verknüpft, dass sich Bruder und Schwester wechselseitig in ihrer sittlichen Bestimmung anerkennen. Zwar löst sich auch in der Antike die Familie gewissermaßen auf, wenn der Bruder in die Polis eintritt bzw. wenn die Schwester heiratet. Aber die Individuen bleiben dennoch wesentlich Mitglied ihrer Sippe. Der Bruder vertritt damit auch weiterhin wesentlich seine Sippe nach außen. Durch den Bruder, der in der Polis aktiver Bürger ist, wird der Geist der Familie »zur Individualität (…), die gegen anderes sich kehrt, 382 383 384
PhG, S. 250, 33 – S. 251, 4. Vgl. ebd., S. 246, 27 – S. 248, 10. Vgl. ebd., S. 247, 11 – S. 248, 10. Vgl. Schulte 1992, S. 172.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
379
und in das Bewusstsein der Allgemeinheit übergeht.«385 Dies nicht in erster Linie dadurch, dass der Bruder heiratet und als Ehemann die neu gegründete Familie nach außen vertritt, sondern dadurch, dass er in der Polis wesentlich als Mitglied einer bestimmten Sippe auftritt, der die Schwester auch noch als verheiratete Frau zugeordnet wird.386 In der griechischen Sittlichkeit gilt also nicht die neu gegründete Kleinfamilie als der wesentliche Familienzusammenhang, sondern die Ursprungsfamilie als Sippe. Erst im modernen bürgerlichen Rechtsstaat bekommt die Kleinfamilie Vorrang gegenüber der Sippe. Dies ist nach Hegel ein Fortschritt, weil damit der natürliche Zusammenhang der Sippe, in dem die Individuen noch wesentlich dem natürlichen Gattungszusammenhang untergeordnet sind, zurückgedrängt wird zugunsten eines geistigen, sittlich-rechtlichen Liebesverhältnisses zwischen Mann und Frau in der Ehe.387 In der modernen bürgerlichen Ehe gewinnen die Individuen eine neue Form der Selbständigkeit gegenüber dem natürlichen Gattungszusammenhang. Diese Selbständigkeit ist in der griechischen Sittlichkeit noch nicht vorhanden, weil der Begriff der Rechtsperson noch nicht entwickelt ist.388 Erst im modernen bürgerlichen Rechtsstaat hat die Kleinfamilie den Status einer Rechtsperson, die vom Ehemann (und nicht vom Bruder) nach außen rechtlich vertreten wird. Für die Frau ist somit in der Moderne nicht mehr der Bruder, sondern der Ehemann die männliche Person, die für sie zwischen ihrer sittlichen Sphäre, der Familie, einerseits und der bürgerlichen Gesellschaft bzw. dem Staat andererseits vermittelt.
III.2.3 »Die sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal« (VI.A.b) (PhG, S. 251, 5 – S. 260, 23) Im Abschnitt VI.A.a hat sich uns die griechische Sittlichkeit zunächst als ruhiges Gleichgewicht dargestellt, in dem die zwei Gesetze, das menschliche Gesetz einerseits und das göttliche Gesetz andererseits, miteinander in har385
PhG, S. 248, 13. Nach Mills ist das Bruder-Schwester-Verhältnis nur relevant, solange der Bruder noch als Jüngling in der Familie lebt bzw. die Schwester unverheiratet ist (vgl. Mills 1986, S. 136 f.). Sie übersieht, dass in der griechischen Sittlichkeit die Sippe die Individuen ihr ganzes Leben lang bestimmt. Polyneikes hat ja bereits die Familie verlassen, und dennoch ist es Antigones höchste Pflicht, ihn zu bestatten. Die Bedeutung der Sippe für das Leben der Individuen in der Antike kommt auch darin zum Ausdruck, dass z. B. der Fluch über die Sippe des Ödipus über viele Generationen hinweg wirksam ist. 387 Vgl. II.2.2.6. 388 Vgl. II.1.3.3. 386
380
III Die Phänomenologie des Geistes
monischem Einklang stehen. Auch die Geschlechter, die die beiden Gesetze realisieren, sind trotz ihrer Differenz nicht Gegner, sondern in ihrer Vereinigung »die thätige Mitte des Ganzen.«389 Im Abschnitt VI.A.b möchte Hegel nun zeigen, dass die Gesetze notwendig in Widerspruch geraten. Damit geraten auch Mann und Frau als die Vertreter jeweils eines der Gesetze in Konflikt, an dem die griechische Sittlichkeit schließlich zugrunde geht und der Herrschaft der Römer (VI.A.c) Platz macht, in der das Prinzip der abstrakten Rechtsperson erstmals historisch entwickelt wird. Erst mit diesem Abschnitt VI.A.b beginnt also die Erfahrungsgeschichte, die das Bewusstsein der griechischen Sittlichkeit im Vollzug seiner sittlichen Handlung macht.390
III.2.3.1 Die sittliche Handlung (PhG, S. 251, 5 – S. 252, 34) Obwohl in der griechischen Sittlichkeit zwei gegensätzliche sittliche Gesetze vorhanden sind, ist sie in ihrer Unmittelbarkeit ein harmonisches Ganzes, und die zwei Gesetze sind in Einklang miteinander. In beiden Gesetzen gilt die Allgemeinheit als das Wesentliche, und die einzelne Individualität gilt nur, insofern sie allgemein ist: im menschlichen Gesetz als »allgemeiner Willen«391, d. h. als ein der Polis untergeordneter Bürger, oder aber als Regierung;392 im göttlichen Gesetz als »Blut der Familie«393, d. h. als ein dem Familienzusammenhang untergeordnetes Familienmitglied oder aber als dieser Familienzusammenhang selbst, der in den Penaten als Einheit vorgestellt wird. Während die Bürger der Polis und die Mitglieder der Familie also nur als untergeordnete Momente erscheinen, treten die sozialen Zusammenhänge der Polis bzw. der Familie hier als Individuen auf. Die einzelnen Individuen realisieren in ihrem Handeln lediglich diese allgemeinen Substanzen der Polis und der Familie – sie treten noch nicht selbst als bestimmte einzelne Individualitäten in ihrer Besonderheit auf. Das Selbstbewusstsein erscheint daher bisher nur in den allgemeinen Substanzen der Polis und Familie, noch nicht als bestimmtes einzelnes Individuum. »Dieser Einzelne« konnte bisher nicht sein Recht als Selbstbewusstsein behaupten, sondern trat nur als der »unwirkliche Schatten«394, d. h. als toter Mensch395 in Erscheinung, 389 390 391 392 393 394 395
PhG, S. 250, 33 f. Vgl. auch Siep 2000, S. 181 uns S. 185. PhG, S. 251, 11. Vgl. ebd., S. 242, 20 f. Ebd., S. 251, 12. Ebd. Dass »der unwirkliche Schatten« das tote Familienmitglied bezeichnen soll, ergibt
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
381
als der er jedoch nur Moment des Bluts der Familie ist, Einzelner als solcher. Das einzelne Individuum ist somit bisher dem Allgemeinen völlig untergeordnet und geht ganz in ihm auf. In der harmonischen griechischen Sittlichkeit kommt daher vor allem zum Vorschein, dass die Individuen nur innerhalb einer Polis bzw. einer Familie existieren können, aber es kommt noch nicht ausreichend zum Ausdruck, dass Familie und Polis umgekehrt auch nur in einzelnen Individuen Bestand haben. Da die Individuen die Familie und die Polis tätig hervorbringen, muss es zu einem Widerspruch innerhalb der unmittelbaren Sittlichkeit kommen, dann nämlich, wenn die einzelnen Individuen als selbstbewusste Individuen eine Tat begehen, in der sich nach Hegel »das wirkliche Selbst«396 realisiert. Durch die Tat aber werden, wie sich noch zeigen wird, die zwei sittlichen Wesen zu Entgegengesetzten, die nicht mehr in einer harmonischen Ordnung stehen. In der Tat beweist jedes Wesen »sich vielmehr als die Nichtigkeit seiner selbst und des andern (…), denn als die Bewährung.«397 Die Veränderung, die durch die Tat in die sittliche Welt hereinbricht, wird schon durch einen Vergleich der Überschriften von VI.A.a und VI.A.b deutlich: Die harmonische Ordnung der sittlichen Welt als Substanz wird nun gestört durch die trennende sittliche Handlung des Selbstbewusstseins; das objektive allgemeine menschliche und göttliche Gesetz wird durch das Selbstbewusstsein zum subjektiv besonderen menschlichen und göttlichen Wissen; die wechselseitige harmonische Ergänzung von Mann und Weib wird zur leidvollen Erfahrung von Schuld und Schicksal. Durch die Handlung werden nicht nur die Gesetze, sondern auch die Individuen, die diese Gesetze vertreten, untergehen – die ganze sittliche Welt der Griechen also – und übrig bleiben wird nur das »absolute Fürsichseyn des rein einzelnen Selbstbewußtseyns«398, das im römischen Recht im Begriff der Rechtsperson zum abstrakten Prinzip erhoben wird. Tätig hervorgebracht wird die negative Bewegung399, in der die sittliche Welt ihren Untergang findet, durch das sittliche Selbstbewusstsein.400 Als eine Entwicklungsstufe des Geistes hat die sittliche Welt sowohl das Moment der Substanz als auch des Selbstbewusstseins an sich. Die negative Bewegung, die durch das sittliche Selbstbewusstsein hervorgebracht wird, ist sich aus dem Abschnitt PhG, S. 244, 2–13, in dem das tote Familienmitglied ebenfalls als der »Unwirkliche marklose Schatten« (PhG, S. 244, 13) bezeichnet wird. 396 PhG, S. 251, 13. 397 Ebd., S. 251, 17 f. 398 Vgl. ebd., S. 251, 22. 399 Vgl. ebd., S. 251, 18 f. 400 Vgl. ebd., S. 251, 24 f.
382
III Die Phänomenologie des Geistes
somit keine der sittlichen Welt äußerliche Bewegung, sondern sie geht von dieser Welt selbst aus und in ihr selbst vor.401 Die sittliche Welt enthält also in sich selbst ihren eigenen Untergang und erfährt ihn nicht nur passiv als ein sie von außen ereilendes zufälliges Schicksal. Das sittliche Bewusstsein ist gerade dadurch sittlich zu nennen, dass es sich in seiner Handlung entschlossen auf das Allgemeine richtet und keinen Unterschied setzt zwischen seinen subjektiven Überzeugungen über das sittlich Gebotene und den objektiven Ansprüchen an sein Handeln, wie das noch die gesetzgebende oder gesetzprüfende Vernunft tat, auf die Hegel in diesem Zusammenhang nochmals anspielt.402 Es kennt die sittliche Wesenheit, seine Pflicht: Sie »ist ihm das Unmittelbare, Unwankende, Widerspruchslose.«403 Das »sittliche Bewußtseyn weiß« also, »was es zu thun hat; und ist entschieden, es sey dem göttlichen oder dem menschlichen Gesetze anzugehören.«404 In der harmonischen sittlichen Welt sind die Mächte nur an sich oder potenziell405 unterschieden; sie haben noch keine eigene Wirklichkeit, sondern sind lediglich zwei Weisen der Substanz, sich selbst darzustellen; in Wahrheit sind sie in einer Einheit, in der sie aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig ergänzen. Indem nun die Individuen sich unmittelbar einem der sittlichen Gesetze verpflichten, »erhalten sie [die Gesetze] die Bedeutung, sich auszuschliessen und sich entgegengesetzt zu seyn; – sie sind in dem Selbstbewußtseyn für sich, wie sie im Reiche der Sittlichkeit nur an sich sind.«406 Im sittlichen Bewusstsein kommt es daher weder zu einer Kollision zwischen Leidenschaften und Pflichten, die nach Hegel Gegenstand schlechter Schauspiele ist, noch ist das sittliche Bewusstsein zwischen zwei widersprechenden Pflichten hin- und hergerissen, wie das nach Hegel in der Komödie der Fall ist.407 Vielmehr wird sich noch zeigen, dass gerade die Sittlichkeit des Bewusstseins, seine unmittelbare Entschlossenheit, zu einem tragischen
401
Vgl. ebd., S. 251, 24. Vgl. ebd., S. 251, 27 f. 403 Ebd., S. 251, 29 f. 404 Ebd., S. 252, 7 f. 405 Vgl. Schmidt 1997, S. 90 f., Anm. 31. 406 PhG, S. 252, 18 f. 407 Komisch ist das Hin- und Hergerissenwerden des Selbstbewusstseins zwischen zwei Pflichten nach Hegel deshalb, weil das Selbstbewusstsein sich dabei unmittelbar selbst widerspricht: Denn es setzt etwas als absolut (als Pflicht) und zugleich als relativ, weil es ein anderes ebenso absolut setzt. Es kann jedoch nur ein Absolutes geben (vgl. PhG, S. 252, 4–7). 402
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
383
Konflikt führt, der nach Hegel Gegenstand der großen griechischen Tragödien ist. Das sittliche Selbstbewusstsein ist deshalb unmittelbar entschieden, weil der Geist auf dieser Stufe die unmittelbare Einheit von Substanz und Selbstbewusstsein ist. Da sich der Geist jedoch in zwei verschiedenen substanziellen Gesetzen darstellt, ist das sittliche Bewusstsein in seiner Entschiedenheit nur auf eines der Gesetze gerichtet, entweder auf das göttliche Gesetz oder aber auf das menschliche. Es wählt jedoch nicht willkürlich, welchem der Gesetze es sich verschreibt, sondern Hegel erinnert daran, dass es aufgrund seines Geschlechts einem der Gesetze verpflichtet ist: »(D)ie Natur, nicht das Zufällige der Umstände oder der Wahl, theilt das eine Geschlecht dem einen, das andere dem andern Gesetze zu, – oder umgekehrt, die beyden sittlichen Mächte geben sich an den beyden Geschlechtern ihr individuelles Daseyn und Verwirklichung.«408 Da der Geist aufgrund seiner Unmittelbarkeit den in ihm vorhandenen substanziellen Unterschied nur an einem natürlich unterschiedenen Selbstbewusstsein409 zum Ausdruck bringen kann, wählt er die natürlich unterschiedenen Geschlechter, um dem Unterschied der zwei sittlichen Gesetze Dasein zu geben.410 Es kommt nun zu einer feindlichen Entgegensetzung der beiden Geschlechter als Repräsentanten der zwei Gesetze, die in der sittlichen Welt noch bloß an sich entgegengesetzt waren und in einer spannungsgeladenen Harmonie nebeneinander bestehen konnten. Aufgrund seiner unmittelbaren Entschiedenheit kann sich das Selbstbewusstsein nur jeweils einem der Gesetze verpflichten. Nur ein Gesetz, das Gesetz nämlich, das ihm aufgrund seiner geschlechtlichen Natur zugeordnet ist, gilt ihm absolut. Dadurch, dass es sich nun selbstbewusst handelnd auf das ihm zugeordnete Gesetz bezieht, kommt sein jeweiliges Gesetz, das vorher nur an sich war, nun in ihm zum Fürsichsein und erhält Wirklichkeit. Dem Mann gilt somit nur noch ein Gesetz, das menschliche Gesetz, absolut, und indem er es handelnd realisiert, setzt er es wirklich dem göttlichen Gesetz entgegen. Der Frau gilt dagegen 408
PhG, S. 252, 10 f. Wenn Schmidt schreibt, es könne nicht überraschen, »daß Hegel die Doppelgestalt, in der die Sittlichkeit sich grundsätzlich darstellt (…), mit der eindeutigsten und seelisch relevantesten alternativen Naturbestimmtheit in Verbindung bringt, nämlich dem Geschlecht« (Schmidt 1997, S. 92), dann folgt er Hegel in einer problematischen Voraussetzung: darin nämlich, dass der Geschlechtsunterschied ›von Natur aus‹ ›seelisch relevant‹ sei. 410 Vgl. PhG, S. 248, 22–25; vgl. III.2.2.5. 409
384
III Die Phänomenologie des Geistes
das göttliche Gesetz einseitig als das Wahre, das sie gegen den Absolutheitsanspruch des menschlichen Gesetzes verteidigen muss. Durch diese unmittelbare und damit einseitige Entschiedenheit des sittlichen Selbstbewusstseins ist es nach Hegel wesentlich Charakter. Da diese Bestimmung im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielt, soll an dieser Stelle näher erläutert werden, was genau unter »Charakter« zu verstehen ist. Im Zusatz des § 395 aus dem Abschnitt Anthropologie der Enzyklopädie wird Charakter neben Naturell und Temperament als eine Form der Eigentümlichkeit411 des Individuums folgendermaßen bestimmt: »Zum Charakter gehört erstlich das Formelle der Energie, mit welcher der Mensch, ohne sich irremachen zu lassen, seine Zwecke und Interessen verfolgt und in allen seinen Handlungen die Übereinstimmung mit sich selber bewahrt. Ohne Charakter kommt der Mensch nicht aus seiner Unbestimmtheit heraus oder fällt aus einer Richtung in die entgegengesetzte. An jeden Menschen ist daher die Forderung zu machen, daß er Charakter zeige. (…). Zum Charakter gehört aber, außer der formellen Energie, zweitens ein gehaltvoller, allgemeiner Inhalt des Willens. Nur durch Ausführung großer Zwecke offenbart der Mensch einen großen, ihn zum Leuchtturm für andere machenden Charakter; und seine Zwecke müssen innerlich berechtigte sein, wenn sein Charakter die absolute Einheit des Inhalts und der formellen Tätigkeit des Willens darstellen und somit vollkommene Wahrheit haben soll. Hält dagegen der Wille an lauter Einzelheiten, an Gehaltlosem fest, so wird derselbe zum Eigensinn. Dieser hat vom Charakter nur die Form, nicht den Inhalt. Durch den Eigensinn, diese Parodie des Charakters, erhält die Individualität des Menschen eine die Gemeinschaft mit anderen störende Zuspitzung.«412 Charakter darf also nach Hegel nicht verwechselt werden mit Eigensinn, Idiosynkrasien oder anderen Formen der Beschränktheit. Im Charakter kommt vielmehr zum Ausdruck, dass das Individuum sich das Allgemeine zum Zweck und Inhalt macht und dieses mit seiner ganzen Lebensenergie verfolgt. Die Festigkeit des Charakters kann nach Hegel durch den Willen entwickelt werden, sodass der Charakter Ausdruck der Freiheit des Geistes ist und auch erst in der Sphäre des freien Geistes voll entwickelt werden kann.413 Trotzdem gehört er zur qualitativen Naturbestimmtheit der Seele,
411
Das griechische Wort χαρακτήρ heißt übersetzt auch ›Stempel‹ oder ›Eigentümlichkeit‹. 412 TWA 10, § 395 Z. 413 Vgl. ebd.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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denn nach Hegel sind »einige Menschen zu einem starken Charakter von der Natur mehr disponiert (…) als andere.«414 Allerdings ist der Charakter der Heldinnen und Helden der griechischen Tragödie nicht gleichzusetzen mit dem, was z. B. in der modernen Malerei unter Charakter verstanden wird.415 In der Moderne gehört zur Darstellung eines Charakters auch die Darstellung der zufälligen Partikularität von Individuen, denn in ihr bilden »die Innigkeit der Seele und deren lebendige Subjektivität den Mittelpunkt.«416 In der antiken griechischen Kunst und Kultur ist die Einzelheit des Subjekts dagegen Hegel zufolge noch nicht ausgebildet. Die Einzelheit der Individualität spielt dort noch keine Rolle, sondern das Individuum ist wesentlich allgemeines.417 Wir können dennoch in der Antike bei den Heldinnen und Helden der Tragödie von »Charakteren« sprechen, denn an ihnen tritt eine bestimmtere Besonderheit hervor, auf der diese Gestalten als auf etwas zu ihrem Wesen Gehörigen bestehen und sich darin erhalten. Aber in Agamemnon, Ajax, Odysseus usf. bleibt die Besonderheit doch immer noch allgemeiner Art, der Charakter eines Fürsten, des tollen Mutes, der List in abstrakterer Bestimmtheit; das Individuelle schließt sich zu enger Verschlingung mit dem Allgemeinen zusammen und hebt den Charakter in die ideale Individualität hinein.«418 Ihr Charakter, die unmittelbare Entschlossenheit der Heldinnen und Helden der griechischen Tragödie für nur eines der beiden Gesetze, ist nach Hegel Ausdruck davon, dass ihnen keine Wahl offen stand, dass ihre Entschiedenheit also nicht Ausdruck von Willkür ist – was nach Hegel positiv ist, da der 414
Vgl. ebd. Vgl. TWA 15, S. 100. 416 TWA 15, S. 101. 417 Vgl. dazu die Stelle im Abschnitt VI.A.b.: »(E)s erhellt unmittelbar soviel, daß es nicht dieser Einzelne ist, der handelt (…); denn er als dieses Selbst ist nur der unwirkliche Schatten, oder er ist nur als allgemeines Selbst, und die Individualität rein das formale Moment des Thuns überhaupt, und der Inhalt die Gesetze und Sitten, und bestimmt für den Einzelnen, die seines Standes; er ist die Substanz als Gattung, die durch ihre Bestimmtheit zwar zur Art wird, aber die Art bleibt zugleich das Allgemeine der Gattung. Das Selbstbewußtseyn steigt innerhalb des Volkes vom Allgemeinen bis zur Besonderheit, nicht bis zur einzelnen Individualität herab, welche ein ausschließendes Selbst, eine sich negative Wirklichkeit in seinem Thun setzt.« (PhG, S. 254) 418 Vgl. TWA 15, S. 100. So sind auch die Götter in der griechischen Kunst nach Hegel nicht »bloße Abstraktion geistiger Allgemeinheiten und dadurch sogenannte allgemeine Ideale, sondern insofern sie Individuen sind, erscheinen sie als ein Ideal, das an sich selbst Dasein und deswegen Bestimmtheit hat, d. h. als Geist Charakter hat. Ohne Charakter tritt keine Individualität hervor.« (TWA 14, S. 82) 415
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III Die Phänomenologie des Geistes
Wille als Willkür endlich und einzeln ist,419 in seiner Entschlossenheit für einen allgemeinen sittlichen Inhalt dagegen unendlich und allgemein: »Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen.«420 Aufgrund seines Charakters, seiner unmittelbaren Entschiedenheit, erscheint dem Selbstbewusstsein im Verhältnis zu der absoluten Pflicht, die ihm sein Gesetz auferlegt, das jeweils andere Gesetz als bloß rechtlose Wirklichkeit,421 die mit seiner Pflicht kollidiert. Es will diese rechtlose Wirklichkeit dem eigenen Gesetz unterwerfen – sei es durch Gewalt (womit Hegel wohl militärische Gewalt des menschlichen Gesetzes meint) oder durch Täuschung (die der Geschlechtsstereotypie zufolge den Frauen als Vertreterinnen des göttlichen Gesetzes zuzuordnen ist).422 So meint die Frau im Recht zu sein, wenn sie im Handeln der Männer bloß »menschliche zufällige Gewaltthätigkeit«423 sieht und sich gegen das menschliche Gesetz auflehnt, während der Mann sein Recht behaupten möchte gegen den bloßen »Eigensinn und den Ungehorsam des innerlichen Fürsichseyns«424, den er den Frauen unterstellt, wenn diese in frevelhafter Weise mit ihrem Handeln gegen die öffentlichen und bekannten Gesetze des Staates verstoßen. Da oberflächlich betrachtet die Familie durch die Einzelheit bestimmt zu sein scheint, erkennt der Mann nicht, dass es in ihr um den Einzelnen als solchen und somit ebenfalls um das Allgemeine geht. Er sieht in dem Handeln der Frauen nur die Auflehnung der Einzelheit des Fürsichseins gegen das allgemeine menschliche Gesetz.
419
Vgl. II.1.2.2. TWA 15, S. 546. Gerade weil ihnen keine Wahl offenstand, sondern sie unmittelbar entschieden sind, kann man sie in gewisser Weise unschuldig nennen – vorausgesetzt, man hält die Menschen nur für das schuldig, wozu sie sich willkürlich entschlossen haben (vgl. TWA 15, S. 545). 421 Vgl. PhG, S. 252, 23. 422 Vgl. ebd., S. 252, 26. Diese Vermutung lässt sich auch dadurch stützen, dass nach Hegel die Frauen »durch Intrigue den allgemeinen Zweck der Regierung in einen Privatzweck« (PhG, S. 259, 5) verkehren. 423 PhG, S. 252, 29. 424 Ebd., S. 252, 30. 420
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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III.2.3.2 Das menschliche und göttliche Wissen (PhG, S. 252, 35 – S. 253, 30) Es hat sich gezeigt, dass die Verdopplung der Substanz in zwei Gesetze zu einer Verdopplung in zwei sittliche Bewusstseine führt. Schmidt spricht von einer »vierfachen Gebrochenheit (…), die Folge der Unmittelbarkeit [ist], mit der der sittliche Geist zunächst auftritt.«425 Indem das sittliche Bewusstsein in seiner Handlung sich unmittelbar auf nur eine Seite der Substanz bezieht, werden die zwei Seiten der Substanz, die zunächst nur an sich unterschieden sind und deshalb gleichgültig nebeneinander bestehen können,426 für sich, wodurch sie zu wirklichen Gegensätzen werden, die notwendig miteinander in Konflikt geraten. Indem das Bewusstsein sich einem der Gesetze verschreibt, wird das menschliche und göttliche Gesetz zum menschlichen und göttlichen Wissen. – Das Bewusstsein des menschlichen Gesetzes besteht gerade auf seiner Bewusstheit. Es hat den Anspruch, selbstbewusst Gesetze geben zu können und damit das Zusammenleben der Menschen bestimmen zu können. Das Bewusstsein des göttlichen Gesetzes ordnet sich dagegen ganz den von den Göttern vorgegebenen Gesetzen unter und setzt daher voraus, dass das eigentlich Sittliche nicht von ihm bewusst gesetzt wird, sondern ihm unbewusst ist und in den Gesetzen der Götter verborgen liegt. Die Gedoppeltheit des sittlichen Bewusstseins in Bewusstheit (als menschliches Gesetz) einerseits und in Unbewusstheit (als göttliches Gesetz) andererseits spiegelt sich jedoch auch in jedem der beiden sittlichen Bewusstseine selbst wider: Denn sowohl das Bewusstsein des menschlichen Gesetzes als auch das Bewusstsein des göttlichen Gesetzes ist nach der Seite »des Wissens (…) in ein Bewußtes und Unbewußtes entzweyt«427. In dem Wissen des ihm geltenden Gesetzes ist ihm das Wesen der Substanz bewusst, aber da es nur eine Seite dieses Wesens der Substanz weiß und für wahr hält, ist ihm zugleich die andere Seite der Substanz nicht bewusst. Dem Mann als dem Vertreter des menschlichen Gesetzes ist nicht bewusst, dass das göttliche Gesetz ebenfalls eine Seite der Substanz ist, und dass sein Wissen und seine Bewusstheit somit einseitig sind. Der Frau als der Vertreterin des göttlichen Gesetzes ist dagegen nicht bewusst, dass neben dem unbewussten göttlichen Gesetz, das sie für wahr hält, auch das menschliche Gesetz mit seinem Anspruch auf Bewusstheit zum Wesen der Substanz gehört. Die Spaltung in ein Wissen des bewussten (menschlichen) Gesetzes und in ein Wissen des unbewussten (göttlichen) Gesetzes spiegelt sich daher jeweils in 425 426 427
Schmidt 1997, S. 93. Vgl. PhG, S. 256, 21 f. Ebd., S. 256, 25 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
beiden sittlichen Bewusstseinen, die zugleich wissen, was sie tun, und nicht wissen, was sie tun. Wenn Hegel also schreibt, »das absolute Recht des sittlichen Selbstbewußtseyns kommt mit dem göttlichen Rechte des Wesens in Streit«428, so meint dies sowohl den Streit des Bewusstseins des menschlichen Gesetzes mit dem Bewusstsein des göttlichen Gesetzes, als auch den Konflikt des jeweiligen sittlichen Bewusstseins mit dem ihm nur einseitig bekannten sittlichen Wesen. Auch Hegels Hinweis, dass am Bewusstsein der »Gegensatz des Gewußten und des Nichtgewußten«429 entsteht, kann man einerseits darauf beziehen, dass das Bewusstsein des menschlichen Gesetzes das Gewusste, das Bewusstsein des göttlichen Gesetzes dagegen das Nichtgewusste zum Gegenstand hat; andererseits muss man es aber auch auf den Gegensatz innerhalb jedes der beiden Bewusstseine selbst beziehen. Hegel hatte bereits in der Einleitung angedeutet, dass jedes der sittlichen Bewusstseine sich als Wissen teilt »in die Unwissenheit dessen, was es thut, und in das Wissen desselben, das deßwegen ein betrognes Wissen ist.«430 Zu der Teilung kommt es, weil das sittliche Bewusstsein in seinem Gesetz zwar die Totalität zu ihrem Gegenstand hat, aber auf noch einseitige Weise, sodass es einerseits um die Totalität weiß, andererseits ihm die Einseitigkeit seines Wissens noch nicht bewusst ist. Für uns Leserinnen und Leser der Phänomenologie ist das sittliche Selbstbewusstsein Resultat der vorangegangenen Entwicklung. Im Gegensatz zum Bewusstsein, das irgendeinen Gegenstand von sich unterscheidet, der ihm dann das Wesen ist, weiß das Selbstbewusstsein aufgrund der vorangegangenen Erfahrung an sich, dass der ihm entgegengesetzte Gegenstand nur ein Moment seiner selbst ist und für sich genommen eine Vereinseitigung darstellt. »(D)er Gegenstand als dem Selbstbewußtseyn entgegengesetzt, hat darum gänzlich die Bedeutung verloren, für sich Wesen zu haben.«431 Das sittliche Selbstbewusstsein weiß an sich, dass dies nicht nur für Gegenstände als äußere Dinge gilt, wie sie dem Gegenstandsbewusstsein noch das Wesen waren (Phänomenologie I–III), sondern auch für Gegenstände des Bewusstseins, in denen das Bewusstsein ein Moment seiner selbst verabsolutiert und zum Wesen macht (Phänomenologie IV–V).432 Letzteres war die Er-
428 429 430 431 432
Ebd., S. 253, 1 f. Ebd., S. 252, 35 f. Ebd., S. 241, 12 f. Ebd., S. 253, 5 f. Vgl. ebd., S. 253, 7 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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fahrung, die das Selbstbewusstsein und die Vernunft machen mussten: Die Einseitigkeit der von ihnen verabsolutierten Momente wurde ihnen durch die Wirklichkeit selbst aufgezeigt, die »eine eigene Krafft«433 hat, mit der sie das Bewusstsein widerlegt. Aufgrund dieser vorangegangenen Erfahrung weiß das sittliche Selbstbewusstsein also an sich, dass die gegenständliche Wirklichkeit zwar keine Selbständigkeit hat, aber dennoch ein wesentliches Moment seiner selbst ist. Es dürfte aufgrund dieser Erfahrung weder den Fehler machen, die gegenständliche Wirklichkeit für nichtig zu erklären, noch den Fehler, ein Moment dieser Wirklichkeit zu verabsolutieren, denn es weiß um die darin enthaltene Einseitigkeit. Es ist deshalb zunächst umso erstaunlicher, dass es selbst genauso wie die ihm vorangegangenen Bewusstseine eine solche Vereinseitigung vornimmt, indem es sich einseitig einem der Gesetze verschreibt. Nach der vorangegangenen Erfahrung ist das sittliche Selbstbewusstsein eigentlich davor gefeit, in einen Konflikt seiner sittlichen Pflicht mit der Wirklichkeit zu kommen, denn es selbst ist seinem Begriff nach die Einheit der gewussten Pflicht und der sittlichen Wirklichkeit. Es hat die Erfahrung gemacht, dass die sittliche Wirklichkeit ihm nicht als fremdes (gar »rechtloses«434) Wesen gegenübersteht, sondern ein wesentliches Moment seiner selbst ist. Zu der Vereinseitigung im sittlichen Bewusstsein kann es daher nur kommen, weil das sittliche Selbstbewusstsein in der griechischen Sittlichkeit noch bloß unmittelbar auftritt. Als unmittelbares sittliches Selbstbewusstsein hat es seine eigene Vermittlung, die vorangegangene Bewegung des Geistes, vergessen. Dass es selbst Gefahr laufen könnte, sein eigenes Fürsichsein einseitig zu verabsolutieren, ist ihm nicht mehr bewusst, weil es meint, unmittelbar zu wissen, was das Wesen ist. Es hat von dem Wasser des Styx getrunken und darin »zugleich alle eigne Wesenheit und selbstständige Bedeutung der gegenständlichen Wirklichkeit ertränkt.«435 Wie schon bei den vorangegangenen Entwicklungsstufen des Bewusstseins ist auch hier das Vergessen der vorangegangenen Erfahrung und Vermittlung436 Ausdruck der anfänglichen Unmittelbarkeit des sittlichen Selbstbe433
Ebd., S. 253, 10. Dass die Wirklichkeit »eine eigene Krafft« hat, liegt in ihrem Begriff. Vgl. dazu auch Ho, S. 284, 1 ff.: »Wirklichkeit ist das was wirkt, sich erhält in seinem Anderssein. Das bloße Sein ist unmittelbar, unbefangen, noch der Negation empfänglich.« Weil die Wirklichkeit wirkt, d. h. tätig ist, lässt sie sich also nicht bloß einseitig negieren, sondern ist in der Lage, ihre eigene Negation zu negieren. 434 PhG, S. 252, 23. 435 Ebd., S. 253, 14 f. 436 Zum »Vergessen« vgl. z. B. PhG, S. 68, 36 – S. 69, 2. Gerade weil das Bewusstsein
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III Die Phänomenologie des Geistes
wusstseins. Das sittliche Selbstbewusstsein geht davon aus, dass es unmittelbar weiß, was zu tun ist, und dass es in seinem Handeln in der Wirklichkeit nichts anderes als das Wesen der sittlichen Substanz selbst realisiert. Es setzt daher voraus, dass es, »indem es nach dem sittlichen Gesetze handelt, in dieser Verwirklichung nicht irgend etwas anderes finde, als nur die Vollbringung dieses Gesetzes selbst, und die That nichts anders zeige, als das sittliche Thun ist.«437 In der modernen Moralität unterscheidet man zwischen Handlung einerseits und Tat andererseits: Während die Handlung nur das umfasst, was »dem Vorsatze und Wissen der Umstände« entspricht, bezieht die Tat auch die »äußerliche Begebenheit«438 mit ein. Die Tat hat also einen größeren Umfang als die Handlung, weil zu ihr auch die Folgen der Handlung gehören, die nicht mit der einzelnen Handlung bezweckt wurden.439 Will man bestimmen, wie weit die Tat dem handelnden Individuum zugerechnet werden kann, untersucht man daher, welche dieser Folgen von dem handelnden Individuum bewusst bezweckt wurden, welche Folgen seines Handelns in seinem Wissen und Wollen lagen; oder in anderen Worten: was es vorsätzlich getan hat.440 Die antiken Heldinnen und Helden, deren sittliches Handeln hier in der Phänomenologie nun untersucht wird, sind nach Hegel noch nicht »zur Reflexion des Unterschiedes von That und Handlung (…), so wie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen (…).«441 Sie gehen aufgrund ihrer Unmittelbarkeit davon aus, dass sie in ihrer Tat nichts anderes verwirklichen als das, was sie dabei auch bezwecken: das Sittliche selbst hervorzubringen. Sie trennen nicht zwischen dem Zweck ihrer Handlung und der sittlichen Wirklichkeit, in der sie handeln. Weil das Sittliche das Wirkliche ist, muss es sich auch in dieser Wirklichkeit realisieren lassen. Das Sittliche kann daher auch »keine Verkehrung seines Inhalts
die vorangegangene Erfahrung jedes Mal vergisst, geht seine eigene Entwicklung »hinter seinem Rücken« (PhG, S. 61, 22) vor. 437 PhG, S. 253, 16 f. 438 GPR, § 118. 439 Zu Hegels Begriff der Tat im Gegensatz zum Begriff der Handlung vgl. auch Derbolav 1975. Nach Derbolav ist »unter Tat das Ganze des realisierten Zwecks und seiner empirischen Folgen« zu verstehen« (ebd., S. 206). Einige Interpreten diskutieren den Unterschied von Tat und Handlung in Hegels Rechtsphilosophie dagegen gar nicht, so z. B. Peperzak 1991, vgl. dazu die Kritik von Quante 1993, S. 141. 440 Vgl. EPW, § 504. 441 GPR, § 118.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
391
erleiden«442, wie das noch der Vernunft geschah, der sich eine an sich gute Handlung in der Realisierung in ihr Gegenteil verkehren konnte. Das Sittliche ist auf dieser Stufe des unmittelbaren Geistes zugleich absolutes Wesen und absolute Macht.443 Um zu verstehen, was damit gemeint ist, ist es am einfachsten, wenn man sich fragt, wie eine Trennung von absolutem Wesen und absoluter Macht aussähe: Wäre das Sittliche nur das absolute Wesen, nicht die absolute Macht, so könnte es von dem Individuum, das ihm als eine solche Macht gegenüberträte, verkehrt werden. Es hätte keine Möglichkeit, sich gegen eine solche Verkehrung zur Wehr zu setzen. Wäre es dagegen die absolute Macht, ohne das absolute Wesen zu sein, so könnte seine Macht, für die das fürsichseiende Individuum steht, von dem absoluten Wesen verkehrt werden, das dem bloßen Fürsichsein als Wesen entgegentritt. Nach Schmidt wäre diese Macht ohne Wesen »blind und ein Opfer desjenigen Wesens, das sich hinter ihrem Rücken ihres Treibens bediente.«444 In der griechischen Sittlichkeit ist es jedoch so, dass Substanz und Subjekt nicht getrennt, sondern in einer unmittelbaren Einheit sind, und dass deshalb auch Wesen und Macht unmittelbar zusammenfallen. Das Individuum hat seine Macht daher nur vom absoluten Wesen, das es in seiner sittlichen Handlung realisiert, und umgekehrt ist das absolute Wesen nur, weil es von dem Individuum realisiert wird. Eine Verkehrung des sittlichen Inhalts kann es für das sittliche Selbstbewusstsein also nicht geben, denn wahr ist nur das Sittliche selbst. Da das Individuum selbst das absolute Wesen zum Gegenstand und sein einseitiges Fürsichsein aufgegeben hat, kann sich ihm sein Inhalt in der Realisierung nicht ins Gegenteil verkehren. Das sittliche Bewusstsein als Individualität versteht sich selbst als die bloße Form, die den Inhalt – die sittliche Substanz – realisiert, ohne dass es sich dabei um einen Gegensatz handelte. Das Individuum versteht seine Tat als »Uebergehen aus dem Gedanken in die Wirklichkeit, nur als die Bewegung eines wesenlosen Gegensatzes, dessen Momente keinen besondern von einander verschiedenen Inhalt und Wesenheit haben. Das absolute Recht des sittlichen Bewußtseyns ist daher, daß die That, die Gestalt seiner Wirklichkeit, nichts anders sey, als es weiß.«445
442 443 444 445
PhG, S. 253, 19 f. Vgl. ebd., S. 253, 18 f. Schmidt 1997, 94, Anm. 41. PhG, S. 253, 26 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
In seinem wirklichen Handeln wird es jedoch die Erfahrung machen, dass die sittliche Substanz gedoppelt ist und dass sein vermeintliches Wissen seines eigenen Tuns deshalb einseitig ist. In dieser Erfahrung kann es sich nicht in die Behauptung flüchten, seine gute Absicht habe sich ins Gegenteil verkehrt, denn eine solche Verkehrung kann es für das sittliche Bewusstsein nicht geben. Es wird vielmehr seine eigene Schuld erkennen und anerkennen. Indem es erfährt, dass seine Handlung nicht das realisiert, was an und für sich sittlich ist, muss es untergehen.446 Diese Erfahrung stellt Hegel nun im Folgenden dar.
III.2.3.3 Die Schuld und das Schicksal (PhG, S. 253, 31 – S. 256, 34) Das sittliche Bewusstsein, sei es als menschliches oder als göttliches Wissen, besteht »auf dem absoluten Rechte (…), daß ihm als sittlichem das Wesen erschienen sey, wie es an sich ist«447. Es hat einen Absolutheitsanspruch, weil es in seinem jeweiligen Gesetz tatsächlich die absolute Substanz zum Gegenstand hat. Aber als unmittelbares, einfaches Bewusstsein hat es das Absolute, das sich selbst in zwei Daseinsweisen gespalten hat, nur einseitig zum Gegenstand. Die Substanz, das Wesen, besteht deshalb gegen den einseitigen Absolutheitsanspruch des sittlichen Bewusstseins auf »dem Rechte seiner Realität, oder darauf gedoppeltes zu seyn.«448 Auf den vorangegangenen Stufen der Entwicklung des Geistes hat das Bewusstsein seine Einseitigkeit noch äußerlich erfahren, indem ihm das Wesen als äußerliche Wirklichkeit gegenübertrat. Auf der Stufe des Geistes erfährt das sittliche Selbstbewusstsein dagegen seine eigene Einseitigkeit unmittelbar als seine eigene Tat, denn es selbst bringt allererst eine Trennung seiner selbst und des sittlichen Wesens hervor. An sich ist es in einer unmittelbaren Einheit mit dem sittlichen Wesen, der Substanz, und es selbst meint, in seinem Handeln auch nur diese unmittelbare Einheit zu realisieren. In Wahrheit erhebt es sich jedoch aus dieser Unmittelbarkeit, indem es selbstbewusst handelt, und entzweit durch seine Handlung das sittliche Wesen wirklich, das vorher nur an sich gedoppelt war.449 Indem es in seiner Tat die vorgefundene Wirklichkeit verändert, um das, was es für das Sittliche hält, zu realisieren, erklärt es die Wirklichkeit für nichtig. In seiner Tat setzt das Selbstbewusstsein also
446 447 448 449
Vgl. ebd., S. 241, 6–17. Ebd., S. 253, 33 f. Ebd., S. 253, 35. Vgl. ebd., S. 254, 2 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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»die Trennung seiner selbst, in sich als das Thätige und in die gegenüberstehende für es negative Wirklichkeit.«450 Damit widerspricht es sich selbst, denn es hat den Anspruch, »die einfache Gewißheit der unmittelbaren Wahrheit zu seyn«.451 Es hält sich jedoch in seiner Tat nicht an diese Unmittelbarkeit, sondern an das, was es nur vermittels seiner Tat hervorbringt. Die Gedoppeltheit, durch die das Wesen in seiner Realität bestimmt ist, ist also zugleich das Wesen des Selbstbewusstseins selbst, das in seinem Vollzug diese Gedoppeltheit selbst allererst wirklich hervorbringt, weil es selbst wesentlich die Bewegung der Entzweiung ist. In Wahrheit ist das »Uebergehen aus dem Gedanken in die Wirklichkeit«, das im Tun vollzogen wird, eben nicht die »Bewegung eines wesenlosen Gegensatzes«452, weil durch das Handeln im Wesen selbst der Gegensatz entsteht zwischen der vorhandenen Wirklichkeit, die negiert wird, und dem Zweck, der realisiert werden soll. Da die Trennung die eigene Tat des Selbstbewusstseins ist, die nicht bloß zufälliges Resultat seiner Handlung ist, sondern wesentlich mit ihr zusammenhängt, wird das Selbstbewusstsein »durch die That zur Schuld«453. ›Schuld‹ ist hier jedoch nicht ›wertend‹ gemeint, sondern soll lediglich zum Ausdruck bringen, dass die Tat auf den Täter zurückgeführt werden kann.454 Das Selbstbewusstsein in der Antike anerkennt seine Schuld und nimmt die Folgen seiner Handlung im vollen Umfang auf sich. In der Moderne, in der nach Hegel zwischen Handlung und Tat unterschieden wird, bekommt der Begriff der Schuld einen Doppelsinn. Nach Hegels Rechtsphilosophie ist mit »Schuld« zunächst gemeint, dass ein Individuum durch seine Handlung etwas verursacht hat, dass sein Handeln also einen Zweck hervorbringt, der zugleich mannigfache unbeabsichtigte Folgen hat. Das heißt jedoch nicht, dass ein Mensch für den gesamten Umfang seiner Tat, für alle Folgen dieser Tat, für schuldig befunden wird. In einem engeren Sinne ist mit Schuld nur das gemeint, was dem handelnden Individuum zugerechnet werden kann, was also in seinem Vorsatz, in seinem Wissen und Wollen lag.455 Das moderne moralische Bewusstsein wehrt sich dagegen, die Verantwortung für die Gesamtheit der Folgen seiner Handlung zu tragen. Der Mensch in der
450
Ebd., S. 254, 5 f. Ebd., S. 254, 4 f. 452 Ebd., S. 253, 26 f. 453 Ebd., S. 254, 7. 454 Vgl. Schmidt 1997, S. 95; GPR, § 115; zu Hegels Begriff der Schuld im Kontext seiner Handlungslehre vgl. auch Caspers 2012. 455 Vgl. EPW, § 504. 451
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Moderne beansprucht, »in seiner That nur dieß als seine Handlung anzuerkennen, und nur an dem Schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem Vorsatze lag.«456 Schließlich sei die Handlung »als der in die Aeußerlichkeit gesetzte Zweck, den äußerlichen Mächten preis gegeben, welche ganz Anderes daran knüpfen, als sie für sich ist (…).«457 Eine solche Trennung von Tat und Handlung liegt den griechischen Heldinnen und Helden Hegel zufolge völlig fern, und folglich haben sie auch einen anderen Begriff von Schuld, als er in der Moralität der Neuzeit üblich ist: »In dem Unterschied von Tat und Handlung liegt der Unterschied der Begriffe von Schuld, wie sie vorkommen in den tragischen Darstellungen der Alten und in unsern Begriffen. In den ersteren wird [eine] Tat nach ihrem ganzen Umfang dem Menschen zugeschrieben. Er hat für das Ganze zu büßen und es wird nicht der Unterschied gemacht, daß er nur eine Seite der Tat gewußt habe, die anderen aber nicht. Er wird hier dargestellt als ein absolutes Wissen überhaupt, nicht bloß als ein relatives und zufälliges oder das, was er tut, wird überhaupt als seine Tat betrachtet. Es wird nicht ein Teil von ihm ab und auf ein anderes Wesen gewälzt.«458 Vor diesem Hintergrund versteht man besser, was Hegel in seiner Abhandlung zur griechischen Sittlichkeit in der Phänomenologie meint, wenn er schreibt: »Die Schuld ist nicht das gleichgültige doppelsinnige Wesen, daß die That, wie sie wirklich am Tage liegt, Thun ihres Selbsts seyn könne oder auch nicht, als ob mit dem Thun sich etwas Aeußerliches und Zufälliges verknüpfen könnte, das dem Thun nicht angehörte, von welcher Seite das Thun also unschuldig wäre.«459 Die Differenzierung des Schuldbegriffs in Verursachung einerseits und Zurechenbarkeit andererseits, die für die Moderne kennzeichnend ist, kommt den handelnden Individuen in der griechischen Sittlichkeit Hegel zufolge
456
GPR, § 117. Zum Schuldbegriff in der Antike vgl. auch TWA 15, S. 545 f. GPR, § 118. 458 GW 10,1, S. 383, 15–23, § 17. Hegel bringt in diesem Zusammenhang einen der großen Helden des Trojanischen Krieges, Ajax, als Beispiel: Ajax, »als er die Rinder und Schafe der Griechen im Wahnsinn des Zorns, daß er die Waffen Achills nicht erhalten hatte, tötete, schob nicht die Schuld auf seinen Wahnsinn, als ob er darin ein anderes Wesen gewesen wäre, sondern er nahm die ganze Handlung auf sich als den Täter und entleibte sich aus Scham.« (GW 10,1, S. 383, 23–27, § 17) 459 PhG, S. 254, 11 f. 457
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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nicht in den Sinn. Sie rechnen sich auch das als Schuld an, was nach modernen Maßstäben genommen nur durch sie verursacht ist, ihnen aber nicht zugerechnet werden kann. Das Handeln, das in jedem Fall ein Verursachen ist, führt in der griechischen Sittlichkeit nun mit all seinen Folgen zum Schuldigwerden, weil das Selbstbewusstsein sich mit seinem Tun aus der unmittelbaren Einheit mit der Wirklichkeit erhebt, sich von der Wirklichkeit trennt und diese dadurch als nichtig setzt, dass es seinen eigenen Zweck in der Wirklichkeit hervorbringt. Es widerspricht darin seinem eigenen Selbstverständnis und muss deshalb, wie sich noch zeigen wird, an diesem Widerspruch zugrunde gehen. Für die griechische Sittlichkeit gilt daher: »Unschuldig ist (…) nur das Nichtthun wie das Seyn eines Steines, nicht einmal eines Kindes.«460 Auch diese Aussage steht im Gegensatz zum Rechtsverständnis des modernen, moralischen Bewusstseins, für das z. B. Kinder noch nicht für schuldig befunden werden können, weil sie noch ohne Vorsatz und eher instinktiv handeln.461 Nach modernen Maßstäben sind sie gar nicht zurechnungsfähig: Sie können nicht eigentlich vorsätzlich handeln, denn zum Vorsatz gehört Wissen und Wollen, Kinder sind aber weder als Denkende noch als Wollende voll anerkannt.462 Während formal jede Handlung in der griechischen Sittlichkeit zur Schuld führt, so wird sie durch einen inhaltlichen Aspekt sogar zum Verbrechen,463 d. h., in ihr wird durch das handelnde Individuum geltendes Recht verletzt.464 Gäbe das Individuum mit seinem Handeln den Anspruch auf unmittelbare Gewissheit selbst auf, müsste es nicht notwendig zu einer Rechtsverletzung kommen. Wollte es also lediglich einzelne, zufällige Handlungen verrichten, um seine besonderen Zwecke zu verfolgen, hätte das keine weiteren Folgen. 460
Ebd., S. 254, 17 f. Vgl. GW 10,1, S. 383, 11 f., § 16; GPR, § 120 Anm. 462 Vgl. GPR, § 120. 463 Vgl. PhG, S. 254, 8 f. 464 Hegel erläutert den Begriff des Verbrechens in der Phänomenologie nicht näher. Ein Vergleich mit Hegels Ausführungen zum Verbrechen im Abschnitt Abstraktes Recht der Grundlinien hilft jedoch weiter – auch wenn man dabei nicht vergessen darf, dass es in der griechischen Sittlichkeit noch keine Sphäre des abstrakten Rechts gibt, weil der Begriff der Rechtsperson noch nicht entwickelt ist. In den Grundlinien bestimmt Hegel das Verbrechen als den »erste(n) Zwang als Gewalt von dem Freyen ausgeübt, welche das Daseyn der Freyheit in seinem concreten Sinne, das Recht als Recht verletzt« (GPR, § 95). Zum Verhältnis von Handlung und Verbrechen in den Grundlinien und der Enzyklopädie vgl. Quante 1993, S. 30–33. 461
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Es hat jedoch den Anspruch, in seiner Handlung unmittelbar die sittliche Wirklichkeit als Totalität zu realisieren, deren es sich unmittelbar gewiss zu sein meint. Ihrem Inhalt nach wird die sittliche Handlung somit zum Verbrechen, weil sie »als unentzweyte Richtung auf das Gesetz innerhalb der natürlichen Unmittelbarkeit bleibt«465, was zu einem Widerspruch führt. Der Widerspruch besteht darin, dass das handelnde Individuum durch seine Handlung die Unmittelbarkeit »in der That« selbst durchbricht, dabei aber seine unmittelbare und deshalb noch naturbehaftete Bestimmung nicht aufhebt. Durch das einseitige Festhalten an dem unmittelbaren Gesetz, das dem Individuum von Natur zugeschrieben ist, kommt es notwendig zu einer Verletzung des jeweils anderen Gesetzes. Dieser Widerspruch kann nur gelöst und der sittlichen Handlung der Charakter des Verbrechens genommen werden, wenn zugleich die unmittelbare Sittlichkeit selbst aufgegeben wird zugunsten einer Vermittlung. Darin müsste dann aber auch »die natürliche Vertheilung der beyden Gesetze an die beyden Geschlechter«466 aufgehoben werden. Wie ein Zusammenleben der Geschlechter möglich ist, in dem der (von Hegel vorausgesetzten) natürlichen Bestimmung der Geschlechter zwar Rechnung getragen wird, aber zugleich in einer angeeigneten, vermittelten Form, in der die bloß unmittelbare Naturbestimmtheit aufgehoben ist, hat Hegel in den Grundlinien zu zeigen versucht. Es ist bemerkenswert, dass Hegel davon ausgeht, dass es notwendig zu einem Konflikt zwischen den Geschlechtern und sogar zu einem Verbrechen gegenüber dem jeweils anderen Geschlecht kommen muss, wenn die Naturbestimmtheit die sittlichen Verhältnisse noch so stark bestimmt, wie das in der griechischen Antike der Fall ist. Wenn Hegel die Schuld und das Verbrechen der handelnden Individuen so stark macht, so betont er in diesem Abschnitt zugleich, dass in der griechischen Sittlichkeit nicht »dieser Einzelne« handelt und schuldig wird. In der griechischen Sittlichkeit gibt es noch keine »ausgeprägten Einzelpersönlichkeiten«467, denn die Individuen ordnen sich in ihrem Handeln noch ganz dem Allgemeinen unter. Als Einzelne kommen die Individuen nur vor, insofern sie tot sind, »unwirkliche Schatten«468, und als solche sind sie ebenfalls bloß allgemein.469 Die wirkliche, lebendige Individualität ist in der griechischen Sittlichkeit nach Hegel also »rein das formale Mo-
465 466 467 468 469
PhG, S. 254, 21 f. Ebd., S. 254, 19 f. Schmidt 1997, 96. PhG, S. 254, 28. Vgl. III.2.2.3.
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ment des Thuns überhaupt«470; Handeln können schlechterdings nur selbstbewusste Individuen, und so handeln auch in der Antike selbstverständlich Individuen, aber sie handeln nicht als Individuen mit bloß individuellen, endlichen, partikularen Zwecken. In der griechischen Sittlichkeit haben die Individuen Hegel zufolge nicht den Anspruch, sich in der ihnen eigenen Individualität, als »diese Einzelne« zu realisieren, sondern sie möchten durch ihr Tun lediglich die geltenden Sitten und Gesetze verwirklichen. Sie sind gewissermaßen das Medium, durch das sich das Allgemeine realisiert, und als ein solches Medium verstehen sie sich selbst. Ihre Individualität ist also die Form, in der sich der allgemeine Inhalt, die allgemeinen Sitten und Gesetze, verwirklichen. Der sittliche Inhalt ist für die Individuen »die Substanz als Gattung.« Zwar gibt es durchaus Unterschiede in den Aufgaben der Individuen, je nach Stand471 und Geschlecht. Indem der Inhalt ihres Tuns sich nach Stand und Geschlecht bestimmt, wird die Gattung zur Art, d. h., die Individuen verrichten nicht »das Allgemeine überhaupt«, sondern sie verrichten es in einer bestimmten Art, je nachdem, was gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. Das Allgemeine bekommt damit in der Antike nach Hegel zwar die Form der Besonderheit (der Art), aber nicht der Einzelnheit der Individualität. Innerhalb des Volkes gibt es somit Unterschiede der Stände und des Geschlechts (Besonderheiten), nicht aber Individuen, die als einzelne ihrer bloßen Subjektivität nachgehen. Während sich die Individuen in der Vernunft noch als Einzelne im Gegensatz zu der zum Teil als feindlich angesehenen Welt setzen, liegt dem Handeln der Individuen in der griechischen Sittlichkeit »das sichre Vertrauen zum Ganzen zu Grunde, worin sich nichts Fremdes, keine Furcht noch Feindschafft einmischt.«472 Mit dem Bedürfnis, die einzelne Individualität zu entfalten, setzt das Individuum zugleich »ein ausschließendes Selbst, eine sich negative Wirklichkeit«473, die sich von dem vorausgesetzten Ganzen abgrenzt. Um sich als Individuum in der Einzelnheit der Individualität zu realisieren, muss man sich von dem Ganzen unterscheiden. Einen solchen Unterschied zu setzen kommt dem Individuum in der griechischen Sittlichkeit jedoch gar nicht in den Sinn. Erst in der Sittlichkeit des modernen Rechtsstaats, der nicht mehr auf einer bloß unmittelbaren Gliederung der Gemeinschaft beruht, sondern einen in sich
470 471 472 473
PhG, S. 254, 29. Vgl. ebd., S. 254, 30. Ebd., S. 254, 35 f. Ebd., S. 254, 34.
398
III Die Phänomenologie des Geistes
gegliederten, vermittelten Staat darstellt, können die Individuen ihre Subjektivität und Einzelheit als Besonderheit des Subjekts realisieren: »Das Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjectiven Freyheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Alterthums und der modernen Zeit. Dieß Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christenthum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Princip einer neuen Form der Welt gemacht worden. Zu dessen nähern Gestaltungen gehören die Liebe, das Romantische, der Zweck der ewigen Seligkeit des Individuums, u.s.f., – alsdann die Moralität und das Gewissen, ferner die andern Formen, die theils im Folgenden als Princip der bürgerlichen Gesellschaft und als Momente der politischen Verfassung sich hervorthun werden, theils aber überhaupt in der Geschichte, insbesondere in der Geschichte der Kunst, der Wissenschaften und der Philosophie auftreten. – Dieß Princip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes, und zunächst wenigstens eben so wohl identisch mit dem Allgemeinen, als unterschieden von ihm. Die abstracte Reflexion fixirt aber dieß Moment in seinem Unterschiede und Entgegensetzung gegen das Allgemeine und bringt so eine Ansicht der Moralität hervor, daß diese nur als feindseliger Kampf gegen die eigene Befriedigung perennire (…).«474 Während die griechische Sittlichkeit an dem Anspruch der Individuen auf ihre individuelle Einzelheit, ihre subjektive Besonderheit, zugrunde gehen wird, ist es nach Hegel die Stärke des modernen Rechtsstaates, diese Entzweiung aushalten zu können: »Die selbstständige Entwicklung der Besonderheit (vergl. §. 124. Anm.) ist das Moment, welches sich in den alten Staaten als das hereinbrechende Sittenverderben und der letzte Grund des Untergangs derselben zeigt. Diese Staaten, theils im patriarchalischen und religiösen Prinzip, theils im Princip einer geistigern, aber einfachern Sittlichkeit, – überhaupt auf ursprüngliche natürliche Anschauung gebaut, konnten die Entzweyung derselben und die unendliche Reflexion des Selbstbewußtseyns in sich nicht aushalten, und erlagen dieser Reflexion, wie sie sich hervorzuthun anfing, der Gesinnung und dann der Wirklichkeit nach, weil ihrem noch einfachen Prinzip die wahrhaft unendliche Kraft mangelte, die allein in derjenigen Einheit liegt, welche den Gegensatz der Vernunft zu seiner ganzen Stärke auseinandergehen läßt, und ihn überwältigt hat, in ihm somit sich erhält 474
GPR, § 124 Anm., S. 110, 9–27.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
399
und ihn in sich zusammenhält. – (…). Das Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjectiven Freyheit, das innerlich in der christlichen Religion und äußerlich daher mit der abstracten Allgemeinheit verknüpft in der römischen Welt aufgegangen ist, kommt in jener nur substantiellen Form des wirklichen Geistes nicht zu seinem Rechte. Diß Prinzip, ist geschichtlich später als die griechische Welt, und ebenso ist die philosophische Reflexion, die bis zu dieser Tiefe hinabsteigt, später als die substantielle Idee der griechischen Philosophie.«475 Zwar ist nach Hegel auch die griechische Polis in sich in Stände gegliedert, aber sie ist es nur »objectiv von selbst«, weil eine solche Gliederung »an sich vernünftig ist.«476 Die Gliederung ist nicht, wie im modernen Rechtsstaat, selbst noch einmal durch die subjektive Besonderheit, die Willkür vermittelt. Erst in der Moderne hat diese Gliederung »für das subjective Bewußtseyn die Gestalt (…), das Werk seines Willens zu seyn.«477 Für uns hat sich bereits gezeigt, dass mit dem Handeln wesentlich verknüpft ist, dass es die unmittelbare Einheit der Individuen mit der sittlichen Wirklichkeit entzweit, auch wenn die handelnden Individuen das nicht beabsichtigen und ihnen diese Seite ihres Handelns zunächst nicht bewusst ist. Wir müssen nun – gemäß der Methode der Phänomenologie des Geistes 478 – zusehen, wie das Individuum selbst in seiner sittlichen Tat die »entwickelte Natur des wirklichen Handelns erfährt.«479 Das Individuum macht diese Erfahrung unabhängig davon, welchem der beiden Gesetze es sich verschreibt bzw. seiner Natur nach verschrieben ist. Da die beiden Gesetze wesentlich miteinander verknüpft sind, verletzt das handelnde Individuum durch sein Handeln notwendig das jeweils andere Gesetz, weil es sich nur einem der Gesetze einseitig verschrieben hat. Das handelnde Individuum erfährt dabei, dass das sittliche Wesen nicht nur das eine, einseitige, ihm offenbare Gesetz ist, sondern »die Einheit beyder.«480 Da dem Handelnden die Wahrheit des sittlichen Wesens nur einseitig bewusst ist, muss es die Rache des anderen Gesetzes der Sittlichkeit erdulden, die es verletzt hat. Das handelnde Individuum weiß noch nicht, dass mit dem Entschluss selbst zusammenhängt, dass darin ein Unterschied zwischen dem Wissen und der Wirklichkeit gesetzt wird. Die Wirklichkeit, die durch das handelnde Individuum negiert 475 476 477 478 479 480
Ebd., § 185 Anm. Ebd., § 206 Anm. Ebd., § 206. Vgl. III.1.2. Vgl. PhG, S. 255, 1. Ebd., S. 255, 4.
400
III Die Phänomenologie des Geistes
wurde, rächt sich am Individuum dafür, dass es diesen Unterschied setzt, indem sie ihm zeigt, dass sein Wissen einseitig ist: »Das ihm offenbare Gesetz ist im Wesen mit dem entgegengesetzten verknüpft; das Wesen ist die Einheit beyder; die That aber hat nur das Eine gegen das Andere ausgeführt. Aber im Wesen mit diesem verknüpft, rufft die Erfüllung des Einen das Andere hervor, und, wozu die That es machte, als ein verletztes, und nun feindliches, Rache forderndes Wesen. Dem Handeln liegt nur die eine Seite des Entschlusses überhaupt an dem Tage; er ist aber an sich das Negative, das ein ihm Anderes, ein ihm, der das Wissen ist, Fremdes gegenüberstellt.«481 Dass die Tat, die ein Verbrechen darstellt, weil sie das Recht des Wesens verletzt, notwendig Vergeltung hervorruft und den Handelnden mit den Konsequenzen seiner Tat konfrontiert, macht Hegel auch in den Grundlinien deutlich: »Die That des Verbrechens ist nicht ein Erstes, Positives, zu welchen die Strafe als Negatives käme; sondern das Verbrechen darum daß es eine That, eine Existenz ist, ist seiner Natur nach eine Negation, und dieser Negation Negation ist die Strafe (…). Die That des (…) Verbrechens ist also selbst nur Vernichtung, und die Strafe Vernichtung der Vernichtung und so wirkliches Recht durch Aufhebung seiner Verletzung, das seine Gültigkeit zeigt. Denn nur das Recht ist wirklich reell, die That des Verbrechens nur ein Schein von Dasein.«482 Es sieht so aus als sei es der Tat äußerlich, dass sie Rache oder in einer entwickelteren Form Strafe hervorruft, aber in Wahrheit hängt es mit der Tat selbst zusammen, die das Wesen verletzt, indem sie eine Seite dieses Wesens negiert. »Die Eumeniden483 schlafen, das Verbrechen ruft sie auf, sie sind die eigene That des Verbrechers, und es ist nur die eigene That des Verbrechers die sich geltend macht.«484
481
Ebd., S. 255, 3 f. Ho, S. 307, 17 ff. vgl. auch GPR, § 98. Zu Hegels Begriff des Verbrechens in den Grundlinien vgl. Quante 1993, S. 30–33. 483 Die Eumeniden (dt.: ›die Wohlmeinenden‹) entsprechen den (verwandelten und besänftigten) Erinnyen, die als Rachegötter diejenigen verfolgen, die das Gesetz der Familie verletzt haben (vgl. dazu I.3). 484 Ho, S. 320, 34 ff. 482
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
401
Das Verbrechen und die Rache bzw. Strafe sind somit scheinbar zwei Bestimmungen, die aber nach Hegel in Wahrheit in einer Identität sind, weil die Rache bzw. Strafe nur die Negation der Negation ist, die durch die Tat ausgeführt wurde. Hegel bringt nun verschiedene Beispiele aus der griechischen Tragödie, um seinen Begriff des sittlichen Handelns in der Antike zu veranschaulichen. An den Beispielen verdeutlicht er, wie die Protagonistinnen und Protagonisten in der griechischen Tragödie durch ihr sittliches Handeln Schuld auf sich laden und aufgrund ihrer unmittelbaren Bezogenheit auf nur ein Gesetz dabei ein Verbrechen begehen, das Rache hervorruft.
III.2.3.3.1 Ödipus (PhG, S. 255, 1–24) Das erste Beispiel für Hegels Theorie des sittlichen Handelns in der Antike ist das Schicksal von Ödipus485, das Sophokles in den zwei ersten Teilen seiner thebanischen Trilogie, dem König Ödipus und dem Ödipus auf Kolonos darstellt. Sophokles’ König Ödipus wird auch von Aristoteles in seiner Poetik als eine Tragödie angeführt, die allen Regeln der Kunst genügt.486 Ödipus muss auf leidvolle Weise erfahren, dass sein bewusstes sittliches Handeln, das aufgrund des Anspruches auf Bewusstheit dem menschlichen Gesetz verpflichtet ist, das göttliche Gesetz verletzt hat: Er begeht – unbewusst – nicht nur Vatermord, sondern auch Inzest mit seiner Mutter. Er verletzt das göttliche Gesetz also in doppelter Weise. Ödipus wird erst nach der begangenen Tat mit der Kehrseite seines Handelns konfrontiert, denn erst durch die Tat selbst ist die andere Seite der Sittlichkeit, die Seite des göttlichen Gesetzes, verletzt worden. Das unbewusste, unter dem Tage liegende göttliche Gesetz stellt ihm daher als »eine lichtscheue Macht nach«487, es schickt die Rachegeister,488 die Erinnyen, Töchter der Gaia, um sich an ihm für die Verletzung der Familienpietät zu rächen. Ödipus erfährt somit in der Tat, dass sein Bewusstsein wesentlich mit der ihm fremden Wirklichkeit, dem Unbewussten, verknüpft ist. Solange das sittliche Selbstbewusstsein noch nicht in einem bewussten Entschluss handelt, war noch kein Unterschied zwischen dem Bewusstsein und der Wirklichkeit gesetzt. Erst durch die Tat wird ein Unterschied ge-
485
Vgl. PhG, S. 255, 10–24. Zu Hegels Interpretation des Ödipus, insbesondere in seinen Vorlesungen über die Ästhetik vgl. Flashar 1996. 486 Vgl. Poet., 1453a7–10. 487 PhG, S. 255, 14. 488 Vgl. ebd., S. 255, 7 f.
402
III Die Phänomenologie des Geistes
setzt, der zur Folge hat, dass dem Bewusstsein an den Konsequenzen seines Handelns seine eigene Einseitigkeit bewusst wird.489 So muss auch Ödipus, der Wissende, seine eigene Unwissenheit einsehen. Schon Aristoteles hatte den »Umschlag von Kenntnis in Unkenntnis« als ein wesentliches Merkmal der Tragödie überhaupt bestimmt und den »König Ödipus« des Sophokles als ein Beispiel genannt, in dem ein solcher Umschlag auf höchst wirkungsvolle Weise stattfindet.490 Ödipus löst das Rätsel der Sphinx, denn er kennt die Antwort auf die Frage, was morgens auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf dreien geht: Es ist der Mensch. »Aber diese alte Lösung des Ödipus, der sich so als Wissender zeigt, ist mit ungeheurer Unwissenheit verknüpft über das, was er selbst tut. Der Aufgang geistiger Klarheit in dem alten Königshause ist noch mit Greueln aus Unwissenheit gepaart, und diese erste Herrschaft der Könige muß sich erst, um zu wahrem Wissen und sittlicher Klarheit zu werden, durch bürgerliche Gesetze und politische Freiheit gestalten und zum schönen Geist versöhnen.«491 Der Anspruch des Ödipus, selbstbewusst über Theben herrschen zu wollen und auch vor der alten Macht der Sphinx, die für die Herrschaft des Undurchschaubaren, Göttlichen steht, nicht zurückzuschrecken, ist ehrenwert. Die Sphinx, das Symbol Ägyptens, »halb Tier, halb Mensch und zwar Frau (…) ist der menschliche Geist, der dem Tierischen sich entreißt, der sich aus dem Tier befreit, und schon um sich blickt, aber noch nicht vollkommen sich gefaßt hat, noch nicht frei ist, auf seinen Beinen noch nicht steht.«492 Ödipus löst als Mann das Rätsel des weiblichen Doppelwesens der Sphinx und verhilft damit der Menschheit in einem ersten Schritt aus dem Versenktsein in die Natur. Er formuliert mit seiner Antwort zugleich das Ziel des Geistes, sich als Geist zu wissen und durch bewusstes sittliches Handeln die Freiheit zu realisieren.493 Aber sein Bemühen um Bewusstheit und um politische Herrschaft ist noch erst der Anfang der Realisierung des (objektiven) Geistes, und es muss aufgrund der Unmittelbarkeit und Einseitigkeit noch scheitern. Der Anspruch der Bewusstheit, den Ödipus an seine Herrschaft
489 490 491 492 493
Vgl. ebd., S. 255, 10–18. Vgl. Poet., 1452a30. TWA 12, S. 272. V 12, S. 268, 121 f. Zum Ziel oder ›Endzweck der Geschichte‹ vgl. Jaeschke 2003, S. 409 f., S. 417.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
403
stellt, kann nach Hegel erst im modernen Rechtsstaat realisiert werden.494 Aufgrund der Unmittelbarkeit seines Wissens ist der Wissende der griechischen Sittlichkeit zugleich der Unwissende, denn die Unmittelbarkeit widerspricht noch dem Wissen, das wesentlich Vermittlung ist. Die Griechen haben den Anspruch der Selbsterkenntnis des Geistes; er wird formuliert im Gebot des Apoll »Erkenne Dich selbst«. Aber weil sie erst den Anfang des Lebens des Geistes darstellen, können sie ihrem eigenen Gebot nach Hegel noch nicht gerecht werden. So ist auch die Selbsterkenntnis des Ödipus noch mangelhaft und mit ihrem Gegenteil, der Unwissenheit, unmittelbar behaftet. Das Tragische an dem sittlichen Handeln des Ödipus ist, dass er zwar bewusst handelt, ihm aber nicht bewusst ist, welches Gesetz er dabei zugleich verletzt. Er weiß eben nicht, dass es seine Eltern sind, an denen er sich durch sein Handeln vergeht, und dass er damit gegen das göttliche Gesetz verstößt. Schlimmer noch, gerade indem er versucht, diesem Schicksal zu entgehen, das ihm das Orakel prophezeit hat, erfüllt er es selbst. Er verlässt seine Zieheltern, weil er sie für seine wirklichen Eltern hält, und trifft dadurch auf seine wirklichen Eltern, die er nicht als diese erkennt. Ihm ist nicht bewusst, dass schon sein Entschluss zu handeln und darin die vorhandene Wirklichkeit zu negieren, selbst schuldbeladen ist.495 Das moderne Bewusstsein würde Ödipus die Schuld gar nicht zurechnen: »Ödipus hat den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet, in blutschänderischem Ehebette Kinder gezeugt, und dennoch ist er, ohne es zu wissen und zu wollen, in diese ärgsten Frevel verwickelt worden. Das Recht unseres heutigen, tieferen Bewußtseins würde darin bestehen, diese Verbrechen, da sie weder im eigenen Wissen noch im eigenen Wollen gelegen haben, auch nicht als die Taten des eigenen Selbst anzuerkennen; der plastische Grieche aber steht ein für das, was er als Individuum vollbracht hat, und zerschneidet sich nicht in die formelle Subjektivität des Selbstbewußtseins und in das, was die objektive Sache ist.«496 Nach modernen Maßstäben wäre es nicht Teil seiner Handlung, sondern nur seiner Tat, dass er Vatermord und Inzest begangen hat, denn es lag nicht in seinem Vorsatz, »in seinem Wissen und Wollen«, dies zu tun. Im Gegenteil, er wollte gerade das vermeiden. In der Antike wird dagegen der Vorsatz als die subjektive Seite des Handelns noch nicht allgemein berücksichtigt, 494 495 496
Vgl. Bourgeois 1997, S. 223. Vgl. PhG, S. 255, 25 f. TWA 15, S. 545.
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III Die Phänomenologie des Geistes
weil Handlung und Tat noch nicht wie im modernen Recht getrennt werden.497 Eine solche Rechtfertigung akzeptierten nicht nur die Bürger Thebens nicht, sondern auch Ödipus selbst nicht. Er spricht sich nicht dadurch von seiner Schuld frei, dass er auf seinen subjektiven Vorsatz verweist. Er akzeptiert seine Schuld in vollem Umfang seiner Tat, er kann »das Verbrechen und seine Schuld nicht verleugnen«498, denn es ist unmittelbar mit seiner Tat selbst verknüpft: »(D)ie That ist dieses, das Unbewegte zu bewegen und das nur erst in der Möglichkeit verschlossene hervor zu bringen, und hiemit das Unbewußte dem Bewußten, das Nichtseyende dem Seyn zu verknüpfen. In dieser Wahrheit tritt also die That an die Sonne; – als ein solches, worin ein Bewußtes einem Unbewußten, das Eigne einem Fremden verbunden ist, als das entzweyte Wesen, dessen andere Seite das Bewußtseyn, und auch als die seinige erfährt, aber als die von ihm verletzte und feindlich erregte Macht.«499 Auch Aristoteles lobt Ödipus gerade deshalb, weil darin der Held Ödipus »nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers«500; wobei mit Fehler (gr.: ἁμαρτία) »die falsche Einschätzung einer Situation« gemeint ist, »die durch ein Versagen der διάνοια (…) bedingt ist, die also auf mangelnder Einsicht beruht.«501 Ödipus macht also gerade als sittlich Handelnder einen Fehler, den er auch als seinen anerkennt und anerkennen muss. Ödipus wird damit schuldig am göttlichen Gesetz, obwohl er es anerkennt und nicht beabsichtigt, es zu verletzen. An ihm zeigt sich also, wie es aufgrund der Spaltung des sittlichen Bewusstseins »in die Unwissenheit dessen, was es thut, und in das Wissen desselben«502 zu einer Kollision zwischen dem Recht des wachen Bewusstseins und dem Recht der Götter kommt, zwischen dem also, »was der Mensch mit selbstbewusstem Wollen vollbringt«, und dem, »was er unbewusst und willenlos nach der Bestimmung der Götter wirklich getan hat.«503
497 498 499 500 501 502 503
Vgl. Ho, S. 362, 1 ff.; GPR, § 118. PhG, S. 255, 17 f. Ebd., S. 255, 18–24. Poet., 1453a5–15. Ebd., K. 13, Anm. 6 des Hg., S. 118. PhG, S. 241, 12 f. TWA 15, S. 545.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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Nach Hegel ist aber das sittliche Bewußtseyn (…) vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenüber tritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt, und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht.«504 Antigone, die Heldin des dritten Teils der thebanischen Trilogie des Sophokles, ist daher neben Ödipus ein weiteres und nach Hegel ein besonders geeignetes Beispiel aus der griechischen Tragödie, will man die griechische Sittlichkeit und den ihr immanenten Konflikt verstehen.505
III.2.3.3.2 Antigone (PhG, S. 255, 25 – S. 256, 34) Sophokles’ Tragödie Antigone, auf die im Text schon mehrfach angespielt wurde,506 ist nach Hegel, wie er in seiner Ästhetik bemerkt, eines »der allererhabensten, in jeder Rücksicht vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten.«507 504
PhG, S. 255, 27–30. Vgl. ebd., S. 255, 25 – S. 256, 4. 506 Vgl. ebd., S. 236, 7 f.; ebd., S. 248, 9 f.; II.2.2.2; III.2.2.3; III.2.2.4.2.3. 507 TWA 14, S. 60; vgl. auch TWA 15, S. 549. Zur Diskussion von Hegels AntigoneInterpretation im Kontext seiner Tragödientheorie vgl. Fan 1998; Menke 1996; Pöggeler 2004; Schulte 1992. Hegels Deutung der Antigone ist auch Gegenstand der Arbeit zahlreicher feministischer Philosophinnen und Philosophen ganz verschiedener Richtungen. Die aktuellsten Beiträge mit Angabe der wichtigsten Literatur zum Thema finden sich im Band Hutchings/Pulkkinen 2010; eine zusammenfassende Darstellung der feministischen Diskussion gibt Hoy 2009; vgl. auch die Beiträge in Owl of Minerva 33, 1 (2001/2002) und in Mills 1996 sowie die ebenfalls in diesen Diskussionszusammenhang gehörende poststrukturalistische Deutung von Butler 2002 und Derrida 1974 (vgl. dazu auch Cobben 2007). Zudem sei auf folgende Einzelbeiträge verwiesen: Cutrofello 1994; De Boer 2003; Donougho 1989; Hoff 2006/2007; Mills 1986; Nussbaum 1986; Ravven 1988; Ravven 1992; Swindle 1992. Die feministische Diskussion über Sophokles’ Antigone im Allgemeinen (vgl. Söderbäck 2010) und über Hegels Antigone-Interpretation im Besonderen ist mittlerweile so umfangreich, dass man ihr eine eigene Arbeit widmen könnte. Sie kann deshalb hier nicht ausreichend berücksichtigt werden. Bei einem Großteil der Beiträge ist es zudem schwierig, sie für die vorliegende Arbeit zu nutzen, da die meisten feministischen Interpretinnen und Interpreten mit gänzlich anderen Prämissen an den sophokleischen Text gehen als Hegel und Antigone zumeist eine subversive Funktion zuschreiben. Diese Prämissen müssten jeweils erläutert werden, einerseits, um diesen Beiträgen gerecht werden zu können, andererseits, um auf dieser Grundlage prüfen zu können, wie weit diese Beiträge eine treffende Kritik der hegelschen Interpretation liefern. Dies sprengt den Rahmen dieser Arbeit, die in erster Linie einen Kommentar zum hegelschen Text bieten möchte. Wenn auch keine ausführliche Darstellung der feministischen Diskussion über Hegels Antigone505
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III Die Phänomenologie des Geistes
An dem Handeln der Antigone zeigt sich nach Hegel der in der griechischen Sittlichkeit angelegte Konflikt der beiden Gesetze und ihrer gesellschaftlichen Repräsentanten – Staat und Familie – in besonderer Klarheit und Deutlichkeit.508 Während Antigone als Frau sich ganz dem göttlichen Gesetz, dem Gesetz der Familie verschreibt, vertritt Kreon als Mann einseitig das menschliche Gesetz, das Gesetz der Polis. Beide sind völlig ergriffen vom Pathos für eine der zwei Seiten der sittlichen Substanz: »(D)as öffentliche Gesetz des Staats und die innere Familienliebe und Pflicht gegen den Bruder stehen einander streitend gegenüber, das Familieninteresse hat das Weib, Antigone, die Wohlfahrt des Gemeinwesens Kreon, der Mann, zum Pathos.«509 Unter »Pathos« ist nach Hegels Ästhetik in der Antike nicht bloße Leidenschaft zu verstehen, wie das in der modernen romantischen Poesie der Fall ist, in der die Individuen nach Hegel ihre bloß subjektiven, zufälligen und endlichen Zwecke dem allgemeinen und substanziellen Zweck mit Pathos gegenüberstellen.510 Das Pathos der griechischen Heldinnen und Helden ist vielmehr selbst das Substanzielle und Allgemeine, das sie sich als Individuen zum Zweck machen. Es ist deshalb auch nicht bloß zufällig und subjektiv: »Die Individuen in der hohen Tragödie der Alten, Agamemnon, Klytämnestra, Orest, Ödipus, Antigone, Kreon usf. haben zwar gleichfalls einen individuellen Zweck; aber das Substantielle, das Pathos, das sie als Inhalt ihrer Handlung treibt, ist von absoluter Berechtigung und ebendeshalb auch in sich selbst von allgemeinem Interesse.«511 Das Pathos der griechischen Heldinnen und Helden hat – anders als die subjektive Leidenschaft der modernen Heldinnen und Helden – »einen für sich notwendigen Inhalt«512 und eben deshalb auch absolute sittliche Berechti-
Deutung möglich ist, wird dennoch an einzelnen Stellen auf Beiträge aus der feministischen Debatte verwiesen, um deutlich zu machen, welche Diskussionen über einzelne Fragen der hegelschen Interpretation geführt werden. 508 Andere griechische Tragödien, in denen der Konflikt von Staat und Familie den Hauptgegensatz darstellt, sind nach Hegel z. B. Iphigenie in Aulis von Euripides, Orestie von Aischylos (bestehend aus Agamemnon, Choephoren, Eumeniden) sowie die Elektra des Sophokles (vgl. TWA 15, S. 544). 509 TWA 14, S. 60. 510 Vgl. TWA 15, S. 534–538. 511 TWA 14, S. 189. 512 Ebd.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
407
gung. Es ist – wie Hegel auch in der Phänomenologie deutlich macht – selbst nichts anderes als die allgemeine Substanz.513 Während Ödipus sich nicht bewusst gegen die Herrschaft des göttlichen Rechts wendet, sondern lediglich erfahren muss, dass er dieses durch sein Handeln nach dem menschlichen Gesetz verletzt hat, weiß Antigone, dass sie durch ihr Handeln nach dem göttlichen Gesetz gegen das menschliche Gesetz, das öffentliche Recht der Polis verstößt. Kreon – der als Bruder der Iokaste, und damit als Onkel (und Schwager) des Ödipus, der rechtmäßige Erbe des Thrones ist514 – hat es öffentlich verkünden lassen. Sie negiert mit ihrer Handlung die Berechtigung des durch Kreon erlassenen Gesetzes, nach dem ihr Bruder Polyneikes als ›Verräter‹ der Polis nicht bestattet werden darf. Sie hält dieses Gesetz Kreons für eine bloß rechtlose Wirklichkeit,515 für »menschliche zufällige Gewaltthätigkeit«516, gegen die das göttliche Recht auf Bestattung das eigentlich sittliche, wirkliche und notwendige ist. Nach Hegel muss Antigone jedoch nach vollbrachter Tat der Bestattung ihres Bruders leidvoll die Einseitigkeit ihres Handelns erfahren. Wäre das göttliche Recht für sich allein genommen wahr, so müsste es als sittliches wirklich sein können. Antigone müsste es also durch ihre Tat verwirklichen und seine alleinige sittliche Geltung zum Ausdruck bringen können. Sie hat in ihrem Handeln selbst den Anspruch, dass das sittliche Wesen und die Wirklichkeit in einer Einheit sind. Kann sie dieses sittliche Wesen nicht in der Wirklichkeit zum Wirken bringen, so zeigt sich, dass es sich nicht um das Wesen selbst handelt. Weil sich in ihrem Handeln das Entgegengesetzte, das menschliche Recht als wirklich beweist, muss Antigone ihre Schuld anerkennen.517 Antigone muss die Einseitigkeit ihres Handelns, die Berechtigung des ihr entgegengesetzten Gesetzes, ebenso leidvoll erfahren wie Ödipus. Hätte ihre Handlung absolute Berechtigung, so ließen die Götter nicht zu, dass Antigone durch Kreon bestraft werden kann. Antigone stellt auf dem Weg zu ihrer Hinrichtungsstätte fest: »weil wir leiden anerkennen wir, daß wir gefehlt«518 513
Vgl. PhG, S. 256, 24 f. Hegel behandelt den Begriff des ›Pathos‹ in der Phänomenologie nochmals im Rahmen seiner Tragödientheorie im Abschnitt VII.B.c. Das geistige Kunstwerk (vgl. dazu Schmidt 1997, S. 372ff; Siep 2000, S. 232 ff.). 514 In Interpretationen der Antigone wird häufig übersehen, dass Kreon der rechtmäßige Herrscher über Theben ist. Hegel legt darauf sehr viel Wert, denn dies ist Voraussetzung dafür, dass Kreons Handeln gleichermaßen berechtigt ist wie das der Antigone. 515 Vgl. PhG, S. 252, 23. 516 Ebd., S. 252, 29. 517 Vgl. ebd., S. 255, 36 f. 518 Diese Stelle ist eine Übersetzung des Verses 926 aus Sophokles’ Antigone, die ver-
408
III Die Phänomenologie des Geistes
Wäre das göttliche Recht die ganze sittliche Wirklichkeit, so könnte durch Antigones Handeln kein Leiden entstehen, sondern es brächte, wie die Gerechtigkeit selbst, die harmonische Wirklichkeit wieder ins Gleichgewicht. Die Gerechtigkeit stellt sich aber nur dadurch wieder her, dass beide einseitig handelnden Individuen, Kreon und Antigone, untergehen, worin sich ihre Einseitigkeit zeigt. Indem Antigone nach Hegel anerkennt, dass ihr Begriff der sittlichen Wirklichkeit einseitig war, kehrt sie zurück »zur sittlichen Gesinnung (…), die weiß, daß nichts gilt, als das Rechte.«519 Der Begriff »sittliche Gesinnung« greift eine Formulierung wieder auf, die den Übergang von der »gesetzprüfenden Vernunft« zum Geist darstellte: »Die sittliche Gesinnung besteht eben darin, unverrückt in dem fest zu beharren, was das Rechte ist, und sich alles Bewegens, Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten.«520 Das Handeln stellt ein solches Bewegen dar, gegen das das sittlich Rechte seine Wirklichkeit behauptet.521 Die sittliche Gesinnung anerkennt, dass es einen Zwiespalt zwischen dem sittlichen Zweck und der Wirklichkeit nicht geben kann. Da Antigone erkennen muss, dass ihr eigenes Handeln einen solchen Zwiespalt hervorgebracht hat, kann sie nicht mehr an dem einseitigen sittlichen Zweck festhalten. Mit der Rückkehr zur sittlichen Gesinnung geht die Heldin Antigone jedoch notwendig unter, denn das handelnde Individuum gibt in der Anerkennung seiner Einseitigkeit »seinen Charakter und die Wirklichkeit seines Selbsts auf.«522 Es kann also nicht an seiner Wirklichkeit und an der Substanzialität seines sittlichen Gesetzes festhalten, wenn es zugleich ein anderes Gesetz als sittlich wirklich anerkennen muss, denn sein Gesetz galt ihm absolut. Sein Charakter bestand gerade in seiner unmittelbaren Entschiedenheit für nur eines der beiden Gesetze.523 Mit dem Verlust seimutlich von Hegel selbst stammt (vgl. dazu die Anmerkung der Herausgeber, PhG, S. 510, Anm. 256,1). Hegels Interpretation dieser Stelle ist umstritten. Während Hegel die Stelle so liest, dass schon Antigone selbst die Einseitigkeit ihres Handelns anerkennt, da ihr die Götter auf Erden nicht zur Seite stehen, wird sie häufig so gelesen, dass sie erst im Hades von den Göttern einen Richtspruch erwartet. Vgl. dazu Schmidt 1997, S. 98, Anm. 52; Mills 1986, S. 140; Fan 1998, S. 99 f. 519 PhG, S. 256, 3 f. 520 Ebd., S. 236, 16 f. 521 Für die sittliche Gesinnung stehen Handeln und Gesinnung daher in einem Gegensatz. Die moralische Weltanschauung wird sich zur Aufgabe machen, Gesinnung und Handeln wieder in Einklang zu bringen, »denn diese [die Gesinnung, E. B.] geht darauf, nicht Gesinnung im Gegensatze des Handelns zu bleiben, sondern zu handeln oder sich zu verwirklichen.« (Vgl. VI.C.a, PhG, S. 325, 10f) 522 PhG, S. 256, 4 f. 523 Vgl. ebd., S. 252, 15 f.; III.2.3.1.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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nes Charakters verliert es seine Bestimmtheit und damit auch seine Individualität, denn Individualität ist ohne eine solche Bestimmtheit Hegel zufolge nicht denkbar. Die sittliche Substanz, das jeweilige Gesetz, erschien an dem Individuum als sein Pathos.524 Zwar wurde diese Substanz nur durch die Individualität »belebt«525, aber trotzdem kann das Individuum sich nach dem Untergang der sittlichen Macht, die es vertrat, nicht einfach wieder anderen Gesetzen zuwenden. Das setzte ein reflektiertes, vermitteltes Verhältnis zu dem Gesetz voraus, nach dem es handelt, wodurch auch das jeweilige Gesetz in seiner Geltung relativiert würde. Das Individuum machte sich jedoch die sittliche Substanz zu seiner eigenen, individuellen Bestimmtheit, zu seinem Charakter. Das Individuum war also in einer unmittelbaren Einheit mit dieser Substanz, war mit ihr identisch und vermag daher »den Untergang, den diese sittliche Macht durch die entgegengesetzte leidet, nicht zu überleben.«526 Antigones Tod sowie Kreons Untergang als Herrscher ist somit Hegel zufolge der literarische Ausdruck für ihre unmittelbare Verknüpfung mit dem jeweiligen sittlichen Gesetz, dem sie sich verpflichtet haben. Beide können eine Verletzung ihres Gesetzes nicht überleben. Sie anerkennen, dass es die Gerechtigkeit selbst ist, die das Gleichgewicht zwischen den beiden Gesetzen wiederherstellt, aber sie können als Individuen nicht fortbestehen, ohne an ihrem Gesetz festzuhalten. Antigones Leiden ist Konsequenz ihrer eigenen Tat. Es ist nur die Kehrseite ihrer eigenen sittlichen Handlung und deshalb proportional zu dem Leid, das sie selbst zugefügt hat. Das Leid, das sie Kreon zugefügt hat, ist ebenso proportional zu dem Leid, das Kreon selbst durch seine eigene Handlung verursacht hat, denn es ist selbst nur die ihm unbewusste Seite seiner eigenen Handlung. Antigone kann sich deshalb gewiss sein, dass die Seite des menschlichen Gesetzes »nicht mehr Uebel erleidet, als sie zugefügt«.527 Diese Proportionalität ergibt sich aus dem substanziellen Zusammenhang der beiden Gesetze, die in Wahrheit nur Moment der einen Substanz sind und sich daher wechselseitig bedingen und ineinander übergehen. Antigone und Kreon übersehen beide, dass die Seite der Substanz, die sie vertreten, der anderen Seite der Substanz bedarf, um existieren zu können; in ihrer einseitigen Entschiedenheit übersehen sie, dass die Familie das Element
524 525 526 527
Vgl. PhG, S. 256, 9 f.; II.2.3.3.2. PhG, S. 256, 10. Ebd., S. 256, 13 f. Ebd., S. 256, 16 f. ; vgl. Ant., Vers 926.
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III Die Phänomenologie des Geistes
des Gemeinwesens ist, der Staat also von der Existenz der Familie abhängt, ebenso wie die einzelnen Familien nur innerhalb des Gemeinwesens existieren können, da sie in ihm ihre Substanz haben.528 Sie übersehen damit auch, dass ihre eigene individuelle Existenz wesentlich von der Existenz des ihnen feindlich gegenüberstehenden Gesetzes abhängt. Der Konflikt von Antigone und Kreon kann sich nach Hegel deshalb so konsequent und rein entwickeln, weil sie »ihrem konkreten Dasein nach, an sich selbst jedes als Totalität auftreten, sodass sie an sich selber in der Gewalt dessen stehen, wogegen sie ankämpfen, und daher das verletzen, was sie ihrer eigenen Existenz gemäß ehren sollten. So lebt (…). Antigone in der Staatsgewalt Kreons; sie selbst ist die Königstochter und Braut des Hämons, so daß sie dem Gebot des Fürsten Gehorsam zollen sollte. Doch auch Kreon, der seinerseits Vater und Gatte ist, müßte die Heiligkeit des Bluts respektieren und nicht das befehlen, was dieser Pietät zuwiderläuft. So ist beiden an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselseitig erheben, und sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen Daseins gehört. Antigone erleidet den Tod, ehe sie sich des bräutlichen Reigens erfreut, aber auch Kreon wird an seinem Sohne und seiner Gattin gestraft, die sich den Tod geben, der eine um Antigones, die andere um Hämons Tod. Von allem Herrlichen der alten und modernen Welt (…) erscheint mir nach dieser Seite die Antigone als das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk.«529 Da beide Seiten, menschliches und göttliches Gesetz, Kreon und Antigone, in gleicher Weise ein wesentliches Moment der Substanz zum Gegenstand haben, müssen sie beide in gleicher Weise untergehen: »(K)eine der Mächte hat etwas vor der andern voraus, um wesentlicheres Moment der Substanz zu seyn.«530 Solange »noch keine That begangen«531 war, konnten die zwei Gesetze als zwei Momente in ruhiger harmonischer Einheit nebeneinander bestehen – dies war ihr »selbstloses Seyn.«532 Durch die Tat bzw. »in der That«533 beka-
528 529 530 531 532 533
Vgl. PhG, S. 248, 35–39. TWA 15, S. 549. PhG, S. 256, 19 f. Ebd., S. 251, 13. Ebd., S. 256, 22. Ebd.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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men sie dagegen ein Selbst, ein Fürsichsein: Indem das sittliche Bewusstsein nämlich entschieden war, einem der Gesetze anzugehören,534 erhielten »die sittlichen Mächte in dem Selbst des Bewußtseyns (…) die Bedeutung, sich auszuschliessen und sich entgegengesetzt zu seyn; – sie sind in dem Selbstbewußtseyn für sich, wie sie im Reiche der Sittlichkeit nur an sich sind.«535 Sie werden also durch die Tat des sittlichen Bewusstseins zu »Selbstwesen«536, zu selbständigen und verschiedenen Gesetzen und widersprechen damit der unmittelbaren Einheit des Selbst, die in der griechischen Sittlichkeit vorausgesetzt wurde. Dass sie eigentlich bloß an sich seiende Momente sind, im sittlichen Bewusstsein jedoch zu selbständigen Selbstwesen werden, ist ein Widerspruch. Als Momente haben sie nur partielle Berechtigung, durch die Tat wird für sie dagegen absolute Berechtigung beansprucht. Dieser Widerspruch sowie ihre Rechtlosigkeit als selbständige Selbstwesen führen nach Hegel notwendig zu ihrem Untergang.537 Der Charakter muss aus zwei Gründen ebenfalls untergehen: Erstens ist er Teil des Widerspruchs, denn er gehört aufgrund des Pathos nur einem der Gesetze, nur einer Seite der Substanz an.538 Zweitens ist er – unabhängig davon, welchem Gesetz er angehört – »nach der Seite des Wissens (…) in ein Bewußtes und Unbewußtes entzweyt.«539 Die unbewusste Seite seiner Tat hat seinen eigenen Untergang zum Resultat, das ihm in objektiver Dialektik als eine äußerliche Macht, als das entgegengesetzte, durch seine Tat verletzte Gesetz erscheint. Indem »durch die That auch das Nichtwissen sein Werk ist, setzt er sich in die Schuld, die ihn verzehrt.«540 Ginge nur eines der beiden Gesetze unter, wäre das nicht gerecht, denn beide Gesetze haben gleichermaßen recht, da sie ein Moment der Substanz sind, und unrecht, da sie nur ein Moment der Substanz sind. Die Gerechtigkeit oder »das absolute Recht«541 ist deshalb nur da hergestellt, wo es ein Gleichgewicht der beiden Mächte gibt, was nur durch Unterwerfung beider Seiten unter die Einheit der sittlichen Substanz möglich ist. Die sittliche Substanz beweist sich darin »als die negative Macht,
534 535 536 537 538 539 540 541
Vgl. ebd., S. 252, 15 f. Ebd., S. 252, 17–19. Ebd., S. 256, 22. Vgl. ebd., S. 256, 22 f. Vgl. ebd., S. 256, 24 f. Ebd., S. 256, 25. Ebd., S. 256, 27 f. Ebd., S. 256, 32.
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III Die Phänomenologie des Geistes
welche beyde Seiten verschlingt«542. Sie ist negative Macht, weil sie sich selbst als Einheit dadurch erhält, dass sie ihre Momente, die sich verselbständigen und absolut setzen wollen, in sich aufhebt. In dem Untergang der beiden sittlichen Mächte und der ihnen angehörigen Individuen oder Charaktere verwirklicht sich somit das »allmächtige und gerechte Schicksal«543. Um Hegels Äußerungen über das »allmächtige und gerechte Schicksal«544 in der Phänomenologie genauer zu verstehen, hilft ein Blick in seine Vorlesungen über die Ästhetik. Im Abschnitt Die Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten545 schreibt Hegel, es sei ein falsches Verständnis der griechischen Schicksalsvorstellung, wenn man meint, das Schicksal sei »ein blindes Schicksal, d. h. ein bloß unvernünftiges, unverstandenes Fatum, das viele antik nennen.«546 Das Schicksal ist Hegel zufolge vielmehr vernünftig und auch als vernünftig anerkannt, weil darin deutlich wird »daß die höchste Gewalt, die über den einzelnen Göttern und Menschen steht, es nicht dulden kann, daß die einseitig sich verselbständigenden und dadurch die Grenze ihrer Befugnis überschreitenden Mächte sowie die Konflikte, welche hieraus folgen, Bestand erhalten. Das Fatum weist die Individualität in ihre Schranken zurück und zertrümmert sie, wenn sie sich überhoben hat.«547 Das Schicksal, das die jeweiligen Charaktere, die nur eines der Gesetze einseitig vertraten, erleiden, ist daher nicht unverständlich oder ungerecht, sondern das absolute Recht,548 das den Charakteren deshalb auch ermöglicht, sich mit ihrem eigenen Schicksal zu versöhnen. Das tragische Ende, in dem die Individuen untergehen, dürfen die Leserinnen und Leser nach Hegel deshalb auch nicht »als einen bloß moralischen Ausgang auffassen, demgemäß das Böse bestraft und die Tugend belohnt ist (…). Auf diese subjektive Seite der in sich reflektierten Persönlichkeit und deren Gut und Böse kommt es hier gar nicht an, sondern, wenn die Kollision vollständig war, auf die Anschauung der affirmativen Versöhnung und das gleiche Gelten beider Mächte, die sich bekämpften.«549 542 543 544 545 546 547 548 549
Ebd., S. 256, 32 f. Ebd., S. 256, 33. Ebd. TWA 15, S. 538–574. Ebd., S. 547. Ebd., S. 547. Vgl. PhG, S. 256, 32. TWA 15, S. 547.
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Dass sich die Heldinnen und Helden mit ihrem Schicksal versöhnen können, ergibt sich nach der Darstellung der Phänomenologie daraus, dass sie einerseits erkennen können, dass sowohl die Verletzung ihres Gesetzes gerächt wurde, wie dass sie selbst aufgrund ihrer eigenen Tat zu Recht leiden. Sie können selbst erkennen, dass durch ihren Untergang und den Untergang ihrer Antagonisten das Gleichgewicht der sittlichen Substanz wiederhergestellt ist. Weil das Pathos, das sie trieb, zudem von »absoluter Berechtigung«550 war, ist »(d)as Los, das sie ihrer Tat wegen betrifft (…) auch nicht rührend, weil es ein unglückliches Schicksal, sondern weil es ein Unglück ist, das zugleich absolut ehrt, indem das Pathos, welches nicht ruht, bis es Befriedigung erlangt hat, einen für sich notwendigen Inhalt hat. Wenn (…) die Verletzung, welche Antigone als Schwester erfährt, nicht aufgehoben wird, so ist dies ein Unrecht an sich. (…).«551 Zwar werden die Individuen in dieser Versöhnung nicht von ihrer Schuld befreit, aber doch von ihrem Verbrechen, wie Hegel später in der Phänomenologie, im Abschnitt VII.B.c. Das geistige Kunstwerk,552 in dem er erneut die griechische Tragödie behandelt,553 feststellt: »Die Wahrheit (…) der gegeneinander auftretenden Mächte des Inhalts und Bewußtseyns ist das Resultat, daß beyde gleiches Recht und darum in ihrem Gegensatz, den das Handeln hervorbringt, gleiches Unrecht haben. Die Bewegung des Thuns erweist ihre Einheit in dem gegenseitigen Untergange beyder Mächte und der selbstbewußten Charaktere. Die Versöhnung des Gegensatzes mit sich ist die Lethe der Unterwelt im Tode, – oder die Lethe der Oberwelt, als Freysprechung, nicht von der Schuld, denn diese kann das Bewußtseyn, weil es handelte, nicht verläugnen, sondern vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung. Beyde sind die Vergessenheit, das Verschwundenseyn der Wirklichkeit und des Thuns der Mächte der Substanz, ihrer Individualitäten, und der Mächte des abstracten Gedankens des Guten und des Bösen, denn keine für sich ist das Wesen, sondern dieses ist die Ruhe des Ganzen in sich selbst, die unbewegte Einheit des Schicksals, das ruhige Daseyn und damit die Unthätigkeit und Unlebendigkeit der Familie und der Regierung, und die gleiche Ehre und
550 551 552 553
TWA 14, S. 189. Ebd. Vgl. PhG, S. 388 – S. 399. Vgl. ebd., S. 391–397.
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damit die gleichgültige Unwirklichkeit Apolls und der Erinnye, und die Rückkehr ihrer Begeistung und Thätigkeit in den einfachen Zeus.«554 Ihre Schuld muss bestehen bleiben, denn wäre »ihr Leiden schuldlos oder ihr Schicksal unvernünftig, würde statt sittlicher Beruhigung nur Indignation in der Seele des Zuschauers«555 hervorgebracht. Weil ihr Schicksal aber vernünftig und ihr Leiden Ausdruck ihrer eigenen Tat ist, können sich sowohl die Zuschauer als auch die Heldinnen und Helden selbst mit dem Ausgang versöhnen. In manchen Tragödien, in denen die Kollision nicht vollständig und konsequent durchgeführt wird, findet sogar eine Versöhnung statt, in der die Individuen nicht den Preis ihres Untergangs zahlen, so z. B. in der Orestie des Aischylos und im Ödipus auf Kolonos von Sophokles.556
III.2.3.3.3 »Die Sieben gegen Theben« (PhG, S. 256, 35 – S. 257, 31) Dem Konflikt von Antigone und Kreon geht der Kampf der beiden Brüder Antigones, Eteokles und Polyneikes, voraus, den Aischylos in seiner Tragödie Die Sieben gegen Theben geschildert hat. In dem Kampf der beiden Brüder zeigt sich nach Hegel der Widerspruch, der der griechischen Sittlichkeit aufgrund ihrer Unmittelbarkeit zugrunde liegt, von einer anderen Seite, als das in der Antigone der Fall ist, von einer nicht so sehr inhaltlichen als eher formellen Seite nämlich, weshalb Hegel ihm einen eigenen kurzen Abschnitt widmet. Die sittlichen Mächte, das menschliche und das göttliche Gesetz, haben ihren bestimmten Inhalt in Polis und Familie und ihre Individualisierung in Mann und Frau, die diese Gesetze jeweils vertreten.557 Geraten die sittlichen Mächte in Streit, kommt es inhaltlich betrachtet zu einem »Zwiespalt des göttlichen und menschlichen Gesetzes«,558 wie er sich z. B. in der Antigone dargestellt hat.559 Betrachtet man den Konflikt der beiden Mächte dagegen nicht dem Inhalt, sondern der Form nach,
554
Ebd., S. 396, 13–24. TWA 15, S. 547. 556 Vgl. ebd. 15, S. 550–552. Hegel grenzt allerdings in seiner Ästhetik die Versöhnung, die in der griechischen Tragödie stattfindet, von dem Versöhnungsgedanken, der mit der christlichen Religion verbunden ist, ab (vgl. TWA 15, S. 551). 557 Vgl. II.2.2.5. 558 PhG, S. 257, 4 f. 559 Vgl. III.2.3.3.2. 555
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»so bietet sich das Bild ihres gestalteten Widerstreits (…) als der Widerstreit der Sittlichkeit und des Selbstbewußtseyns mit der bewußtlosen Natur und einer durch sie vorhandenen Zufälligkeit«560. Der Konflikt kann sich formell deshalb in dieser Weise darstellen, weil das Selbstbewusstsein und die bewusstlose Natur jeweils die Formen der sittlichen Mächte, der Polis einerseits und der Familie andererseits, sind. Denn die Polis, das menschliche Gesetz, war von Hegel gleich zu Beginn des Kapitels als der Geist »in der Form der ihrer selbstbewußten Wirklichkeit«561, die Substanz »als das seiner bewußte wirkliche Thun«562 bestimmt worden – und ist in diesem Sinne ihrer Form nach Selbstbewusstsein. Die Familie, das göttliche Gesetz, hatte demgegenüber »die Form der unmittelbaren oder seyenden Substanz«563 und ist somit – zumindest formell und damit gewissermaßen oberflächlich betrachtet – ihrer Form nach »bewußtlose Natur.« Es ist wichtig, festzuhalten, dass es sich hier um eine formelle Betrachtungsweise handelt, weil man sonst aus den Augen verlöre, dass auch die Familie in Wahrheit »das Moment des Selbstbewußtseyns ebenso an ihr«564 hat, denn auch sie ist eine Darstellungsform der Substanzialität des Geistes und nicht bloße Natur. Während im Konflikt von Antigone und Kreon die Familie nicht bloß formell, also nicht bloß als bewusstlose Natur auftrat, tritt hier den beiden Brüdern, die beide das menschliche Gesetz vertreten, das göttliche Gesetz tatsächlich formell als bewusstlose Natur entgegen. Das göttliche Gesetz wird diesmal also nicht von einem Individuum vertreten und kommt nicht in seinem wahren Inhalt, der Familienpietät, zum Ausdruck, sondern es erscheint als mit der bewusstlosen Natur verbundene Zufälligkeit, als mit der Geburt gesetzte natürliche Zufälligkeit. Bevor Hegel genauer erläutert, wie sich dieser Konflikt nun formell darstellt, erläutert er noch, warum es überhaupt zu einem solch formellen Konflikt kommen kann, in dem die zufällige, bewusstlose Natur als ›Partei‹ auftritt; dies ist insofern erklärungsbedürftig, als wir uns bereits auf der Entwicklungsstufe des Geistes befinden, auf der die zufällige Natur nicht mehr das eigentlich Wirkliche und Bestimmende sein kann. Der Grund, warum hier der bewusstlosen Natur ein Recht gegen das Selbstbewusstsein und die Sittlichkeit zugestanden werden kann, liegt in der schon mehrfach problematisierten Unmittelbarkeit des Geistes, wegen 560 561 562 563 564
PhG, S. 256, 36 f. Ebd., S. 242, 19. Ebd., S. 242, 34. Ebd., S. 242, 35. Ebd., S. 242, 37.
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der das Selbstbewusstsein wahrer Geist nur »in unmittelbarer Einheit mit seiner Substanz ist« – die eben hier als natürlicher Gattungszusammenhang erscheint.565 Der Geist hat noch kein vermitteltes Verhältnis zu dieser seiner Substanz und muss deshalb in Konflikt mit ihr geraten, wenn er sie bloß zu negieren versucht. Die beiden sittlichen Mächte sind in Wahrheit in einer Einheit, sie sind aufeinander angewiesen und gehen ineinander über. Der Zusammenhang der zwei Seiten der Substanz stellt sich z. B. darin dar, dass jeder Mann im Kindesalter Mitglied der Familie ist und sein muss, bevor er dann als Jüngling schließlich den Übergang in das Gemeinwesen machen kann,566 in dem er seine eigentliche sittliche Bestimmung hat, die ihm aufgrund seines natürlichen Geschlechts zukommt.567 Er muss einen Bruch mit seiner Familie vollziehen, sie verlassen, um »die ihrer selbstbewußte, wirkliche Sittlichkeit«568 der Polis erwerben und hervorzubringen zu können. Wenn er auch einen solchen Bruch machen muss, so bleibt er dennoch in Wahrheit verbunden mit der anderen Seite der Substanz, der Familie. Die notwendige Verwurzelung des öffentlichen Gemeinwesens in den natürlich-sittlichen Familienbanden, die »das formale Element seiner Wirklichkeit«569 darstellen, muss auch in dem Gemeinwesen selbst zum Ausdruck kommen; sie zeigt sich insbesondere dann, wenn die Regierung der Polis diesen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren droht, formell als Bedrohung der Sittlichkeit durch die Zufälligkeit der Natur. So wird im Kampf von Eteokles und Polyneikes nicht unmittelbar deutlich, dass es sich inhaltlich um die Frage des Verhältnisses von Familie und Polis handelt, sondern nur mittelbar, indem sich zeigt, dass auch innerhalb der Polis selbst die Herrschaft nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Natur nicht einfach ignoriert wird, sondern in sie integriert wird.570 Dass der Jüngling, der in die Polis übergeht »der Natur, der er sich entriß [d. i. die Familie, E. B.], noch angehöre, erweißt sich so, daß er in der Zufälligkeit zweyer Brüder heraustritt, welche mit gleichem Rechte sich desselben [des Gemeinwesens, E. B.] bemächtigen«571.
565 566 567 568 569 570 571
Vgl. I.3. Vgl. PhG, S. 248, 14–18. Vgl. ebd., S. 248, 11 – S. 249, 5. Ebd., S. 249, 16. Ebd., S. 248, 38. Vgl. Schmidt 1997, S. 102. PhG, S. 257, 7 f.
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Beide Brüder wollen nun, da sie den natürlichen Zusammenhang der Familie verlassen haben zugunsten der selbstbewussten Sittlichkeit des öffentlichen Gemeinwesens, mit gleichem Recht die Herrschaft über die Polis übernehmen. Als Söhne des Ödipus sind sie beide legitime Erben des Thrones von Theben. Ein »Recht des Erstgeborenen« erkennen sie nicht an, denn der Zeitpunkt der Geburt ist ein bloß natürlicher Aspekt, der vielleicht im Naturzusammenhang der Familie, nicht aber im sittlich-geistigen Zusammenhang der Polis eine Rolle spielen kann.572 Die Brüder sind zudem Zwillinge, sodass besonders willkürlich zu sein scheint, darauf Rücksicht zu nehmen, welcher der Brüder früher auf die Welt gekommen ist, da es sich doch in der Regel nur um einen Vorsprung von einigen Minuten handelt. Dass die Brüder den natürlichen Aspekt des Zeitpunkts der Geburt nicht zum Maßstab für einen sittlichen Zusammenhang machen möchten, ist nach Hegel durchaus berechtigt, denn sie bringen darin zum Ausdruck, dass der Geist höher steht als die Natur; sie zeigen damit, dass sie die geistige, selbstbewusste Sittlichkeit erwerben und hervorbringen wollen, statt im unbewussten, natürlichsittlichen Zusammenhang der Familie zu verharren. Obwohl in ihrem Verhalten also ein partielles Recht liegt, ist dennoch diese Ignoranz gegenüber natürlichen Voraussetzungen ein Unrecht, weil sie damit die Natur, statt sie als substanziell anzuerkennen und geistig zu transformieren, einfach ignorieren. Die Natur ist aber nichts anderes als die formelle Erscheinungsweise einer wesentlichen Seite der Substanz und lässt sich nicht einfach ignorieren, wie sich in dem sich anbahnenden Konflikt zeigt. Nach Hegel muss es deshalb zu einem Konflikt kommen, weil »die Regierung, als die einfache Seele oder das Selbst des Volksgeistes, (…) eine Zweyheit der Individualität«573 nicht verträgt. Die Regierung ist nach Hegel der Geist als »die Gewißheit seiner als einfacher Individualität«574, in ihr hat »(d)as Gemeinwesen (…) seine wirkliche Lebendigkeit (…), als worin es Individuum ist.«575 Damit sich das Gemeinwesen als substanzielle Einheit begreifen kann, ist es nach Hegel also entscheidend, dass sich diese Einheit tatsächlich in einem einzelnen Individuum Individualität gibt. Die Einheit des sittlichen Geistes des Gemeinwesens kann deshalb nicht in einer Vielheit von Individuen erscheinen, die die Macht unter sich teilen, sondern sie muss als ein einzelnes Individuum, als einzelner Herrscher, Gestalt bekommen. Die Herrschaft, die Regierung, kann demnach nicht unter den Brüdern aufgeteilt
572 573 574 575
Vgl. ebd., S. 257, 9 f. Ebd., S. 257, 11 f. Ebd., S. 242, 22. Ebd., S. 245, 38 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
werden – nur einer kann an der Spitze des Staates stehen. Der »sittlichen Nothwendigkeit dieser Einheit« tritt nun die Natur »als Zufall der Mehrheit gegenüber auf.«576 Die Sittlichkeit fordert, dass nur einer regiere, aber der Zufall der Natur bringt es mit sich, dass zwei gleichermaßen Anspruch auf die Regierungsgewalt haben. Die zwei Brüder »werden darum uneins, und ihr gleiches Recht an die Staatsgewalt zertrümmert beyde, die gleiches Unrecht haben.«577 Sie haben beide gleichermaßen recht, weil sie sich über bloße Naturverhältnisse hinwegsetzen wollen, aber sie haben auch gleichermaßen unrecht, weil sie dabei die Substanzialität der Natur verkennen, die ihre Wirklichkeit im Element der Sittlichkeit, in der Familie hat. Sie verabsolutieren ihren Anspruch auf selbstbewusste Herrschaft und übersehen dabei die natürlichsittliche Grundlage, die Voraussetzung für eben diese Herrschaft ist. Ihr unmittelbares Verhältnis zum menschlichen Gesetz hat wegen seiner Unmittelbarkeit selbst noch einen natürlichen Charakter, weshalb ihnen auch die Natur als Macht gegenübertreten kann. Eteokles übernimmt nun als Erster die Macht. Als er nach dem ersten Regierungsjahr die Herrschaft nicht, wie versprochen, abzugeben bereit ist, greift sein Bruder Polyneikes Theben an, um seinem legitimen Herrschaftsanspruch Geltung zu verschaffen. Nach menschlichem Gesetz ist es jedoch das ärgste Verbrechen, von außen die Polis anzugreifen. Die Polis ist gegen jeden – und habe er noch so legitime Ansprüche – zu verteidigen, denn Ziel ist nicht, die Ansprüche einzelner Individuen zu berücksichtigen, sondern die Sicherheit des öffentlichen Gemeinwesens zu erhalten. Aus der Perspektive der Polis ist der Streit der Brüder bloß Streit der »leeren Einzelnheit«578, auf die es nicht ankommt. So »überlebt« die Polis den Streit, während die Kontrahenten beide untergehen: »Das von der leeren Einzelnheit angegriffene [Anspielung auf Polyneikes, E. B.] und vertheidigte [Anspielung auf Eteokles, E.B.] Gemeinwesen erhält sich, und die Brüder finden beyde ihren wechselseitigen Untergang durch-einander; denn die Individualität, welche an ihr für sich seyn die Gefahr des Ganzen knüpft, hat sich vom Gemeinwesen ausgestossen, und lößt sich in sich auf.«579
576 577 578 579
Ebd., S. 257, 12 f. Ebd., S. 257, 14 f. Vgl. ebd., S. 257, 21. Ebd., S. 257, 21 f.
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Die Brüder müssen beide untergehen, weil sie beide bereit waren, um ihren persönlichen und partikularen Machtanspruch zu realisieren, die Polis insgesamt in Gefahr zu bringen; sie knüpften an »ihr für sich seyn die Gefahr des Ganzen« und müssen untergehen, weil sie damit ihre eigene Substanzialität aufs Spiel gesetzt haben. Denn ohne das Ganze der Polis wären auch sie nicht, was sie sind. Sie begriffen nicht mehr, dass ihre Regierungsmacht bedeutete, dass sie das einfache Selbst des Gemeinwesens sind – dass sie ohne es also nichts sind. Wenn nun beide Brüder notwendig untergehen, weil sie ihr Fürsichsein gegenüber dem Wohl der Polis, auf das es eigentlich ankommt, verabsolutierten, heißt das dennoch nicht, dass die Polis die zwei Toten in derselben Weise als Verräter behandelt. Nach dem menschlichen Recht der Polis hat der eine, Eteokles, für die Polis gekämpft und ist daher zu ehren, denn er hat die Polis gegen den Angriff des Bruders verteidigt.580 Der andere, Polyneikes, hat dagegen die Polis angegriffen und muss dafür bestraft werden. Die neue Regierung, die »wiederhergestellte Einfachheit des Selbsts des Gemeinwesens«581 – Kreon also – wird ihn, nach menschlichem Recht zu Recht, »um die letzte Ehre bestraffen.«582 Diese letzte Ehre ist die Bestattung, in der »die krafftlose reine einzelne Einzelnheit zur allgemeinen Individualität erhoben wird.«583 In der Bestattung wird gegen die Anmaßung der Natur, die den Schein erweckt, als sei der Tote bloß natürliches Sein, »das Recht des Bewußtseyns (…) behauptet«584, indem gezeigt wird, dass auch der Tod nicht bloß natürlich ist, sondern Ausdruck des Fürsichseins.585 Durch Kreons Bestattungsverbot wird Polyneikes somit »der Ehre seines ganzen vollendeten Wesens, der Ehre des abgeschiedenen Geistes, beraubt«586, denn er hat sich »an dem höchsten Geiste des Bewußtseyns, der Gemeine«587 vergriffen. Wer das Gemeinwesen, das die Substanzialität des Bewusstseins ausmacht, angreift, dem wird für immer die Anerkennung als selbstbewusstes Fürsichsein genommen. Dass es durch diese Entscheidung Kreons, die nach menschlichem Recht Hegel zufolge vollkommen berechtigt ist, zu einem Konflikt mit der Familie kommen muss, die für das Recht der Bestattung eintritt, zeigte sich bereits in der Antigone; die weitreichenden Folgen dieses Konflikts wer580 581 582 583 584 585 586 587
Vgl. ebd., S. 257, 25 f. Ebd., S. 257, 27 f. Ebd., S. 257, 28. Ebd., S. 245, 6 f. Ebd., S. 244, 19. Vgl. III.2.2.3. PhG, S. 257, 29 f. Ebd., S. 257, 28 f.
420
III Die Phänomenologie des Geistes
den aber erst in Euripides’ Die Schutzflehenden dargestellt, auf die Hegel im Folgenden anspielt.588
III.2.3.3.4 »Die Schutzflehenden« (PhG, S. 257, 32 – S. 258, 18) Mit Kreons Entscheidung, Antigone zu bestrafen, weil sie ihren Bruder Polyneikes, den »Staatsverräter«, wider sein Verbot bestattet hat, scheint das Gemeinwesen zunächst »über das sich empörende Princip der Einzelnheit, die Familie, (…) den Sieg«589 davonzutragen. Das Gemeinwesen hat lediglich »die reine Spitze seiner Pyramide«590 abgestoßen, d. h. es hat die Regierung ausgetauscht, was für es ein leichtes Spiel zu sein scheint, da es doch auf das Ganze, das Allgemeine, ankommt, nicht auf eben diese Spitze, die bloße Einzelnheit. Das Gemeinwesen kann deshalb zunächst als Sieger hervorgehen, weil es die am Tage liegende, selbstbewusste Macht ist. Das göttliche Gesetz ist dagegen das unterirdische, bewusstlose Gesetz; die Gewalt des göttlichen Gesetzes »gilt unten [d. i. im Hades, E. B.], nicht auf Erden«591, und unterliegt deshalb zunächst der auf der Erde waltenden Macht des menschlichen Gesetzes. Das menschliche Gesetz ist jedoch in Wahrheit mit dem göttlichen Gesetz in der Einheit der Substanz. Hegel macht hier nochmals darauf aufmerksam, dass das Gemeinwesen des Todes, der unterirdischen Macht des göttlichen Gesetzes, bedarf, um seine eigene Macht gegenüber dem einzelnen Fürsichsein, den Bürgern, zu erhalten und zu bekräftigen.592 Der Eid des Gemeinwesens hat seine Grundlage im Eid vor den »Wässern der Vergessenheit«593, Lethe. Es ist gerade die Todesdrohung, durch die das Gemeinwesen den Einzelnen ihre Abhängigkeit von dem Allgemeinen zu fühlen gibt. Aufgrund der substanziellen Abhängigkeit des menschlichen Gesetzes vom göttlichen vernichtet es somit sich selbst, wenn es das göttliche Gesetz verletzt. Es muss erfahren, dass »sein höchs-
588
Die Herausgeber der Phänomenologie machen im Abschnitt PhG, S. 257, 32 – S. 258, 18 nur auf Verweise aus der Antigone aufmerksam (vgl. PhG, S. 510, Anm. zu S. 258, 9–18). Schmidt zeigt jedoch überzeugend, dass Hegel zugleich auf Euripides’ Die Schutzflehenden anspielt, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Stück des Aischylos (vgl. Schmidt 1997, S. 102; S. 103, Anm. 67). 589 PhG, S. 257, 33 f. 590 Ebd., S. 257, 32. 591 Ebd., S. 258, 1. 592 Vgl. ebd., S. 258, 3 f., vgl. auch ebd., S. 246, 23–26. 593 Ebd., S. 258, 6. Hegel spielt hier darauf an, dass die olympischen Götter ihre Eide bei den Wässern der Unterwelt schworen.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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tes Recht das höchste Unrecht, sein Sieg vielmehr sein eigener Untergang ist.«594 Da das göttliche Gesetz selbst wirklich und wesentlich ist, weiß der »Todte, dessen Recht gekränkt ist, (…) für seine Rache Werkzeuge zu finden, welche von gleicher Wirklichkeit und Gewalt sind mit der Macht, die ihn verletzt.«595 Wäre sein Recht nicht substanziell, hätte er auch keine Macht. Das Unrecht der Entehrung des Polyneikes wird in mehrfacher Weise gerächt: erstens durch den Konflikt von Antigone und Kreon. Der souveräne Herrscher über Theben muss seine Verwurzelung in der Familienpietät, über die er sich hinwegsetzen wollte, schmerzlich erfahren: Sein Sohn Haimon nimmt sich aus Trauer über den Tod seiner Verlobten, Antigone, das Leben. Das wiederum verkraftet Haimons Mutter und Kreons Ehefrau Eurydike nicht, weshalb sie ebenfalls Selbstmord begeht. Zweitens aber – und dies ist die Darstellung in Euripides’ Die Schutzflehenden – wird Theben aufgrund seiner schändlichen Verletzung der Familienpietät, auch von anderen Gemeinwesen angegriffen: Theseus, der Herrscher Athens, bestraft Theben und sorgt dafür, dass all diejenigen, die in der Schlacht um Theben an der Seite von Polyneikes gekämpft haben und gefallen sind, bestattet werden.596 Theseus prophezeit dort auch noch, dass die Epigonen, die Söhne der gefallenen Heerführer, die an der Seite des Polyneikes gekämpft hatten, die Stadt erneut angreifen und dabei siegreich hervorgehen werden. Diese Prophezeiung geht dem Mythos zufolge zehn Jahre später in Erfüllung: Die Epigonen greifen Theben an und töten Laodamas, den Sohn des Eteokles, der zu diesem Zeitpunkt die Herrschaft über Theben innehat. Diese doppelte Rache, erst an Kreon durch die Folgen von Antigones Verurteilung, dann an Theben insgesamt durch die Rache des Theseus und später der Epigonen, bringt Hegel in seiner Deutung eines Zitats aus Sophokles Antigone zum Ausdruck, nach dem die Hunde und Vögel die Altäre mit der zu Unrecht nicht bestatteten Leiche besudeln.597 Da es sich um ein Zitat aus der Antigone handelt, ist der Zusammenhang mit der Rache an Kreon eindeutig, und Hegel spielt mit dieser Paraphrase bewusst auf diesen Zusammenhang an. Er deutet dieses Zitat jedoch zugleich als eine Prophezeiung des Angriffs durch Athen und durch die Epigonen, wenn er schreibt, dass die besudelten Altäre die Altäre anderer Gemeinwesen seien, die sich durch die Schändung der Leichen zur Rache aufgefordert fühlen: 594
PhG, S. 258, 8. Ebd., S. 258, 9 f. 596 Vgl. Schmidt 1997, S. 103, Anm. 67. 597 Vgl. PhG, S. 258, 11 f.; vgl. dazu Ant., Vers 1016 f. und 1064 f., vgl. auch PhG, S. 510, Anm. der Hg. zu S. 258, 9–18; Schmidt 1997, S. 103. 595
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III Die Phänomenologie des Geistes
»Sie [die anderen Gemeinwesen, Anm. E. B.] machen sich feindlich auf, und zerstören das Gemeinwesen, das seine Krafft, die Pietät der Familie, entehrt und zerbrochen hat.«598 Wird der Tote nicht durch die Familie bestattet, wird seine Leiche also »nicht durch die ihr gebührende Zurückgabe an das elementarische Individuum«599 – damit ist wieder Gaia, die Erde, als Lebens- und Todesgöttin gemeint – »in die bewußtlose Allgemeinheit erhoben«, muss sie »über der Erde im Reiche der Wirklichkeit« bleiben. Sie erhält dadurch »als die Krafft des göttlichen Gesetzes, nun eine selbstbewußte wirkliche Allgemeinheit.«600
III.2.3.4 Die ewige Ironie des Weiblichen (PhG, S. 258, 19 – S. 260, 6) In der Kunstform der griechischen Tragödie wird der eigentliche Zusammenhang zwischen der Allgemeinheit der Gesetze und der Einzelheit der Handlung noch nicht begriffen, sondern es handelt sich um eine Vorstellung.601 In dieser Vorstellung scheint es zufällig zu sein, dass es jeweils einzelne Individuen sind, die handeln. Die Individualität und das individuelle Tun sind jedoch keineswegs eine bloß zufällige Seite dieser Bewegung. Die tätige Individualität ist vielmehr »das Princip der Einzelnheit überhaupt«602, das nichts anderes ist als der substanzielle Inhalt des göttlichen Gesetzes selbst. Hegel hatte von Beginn an betont, dass der Gegensatz von Allgemeinheit und Einzelnheit, den man den beiden Gesetzen zuordnen kann, auf der Stufe des unmittelbaren Geistes bloß oberflächlich ist.603 Beide Gesetze enthalten die sittliche Substanz »ganz und alle Momente ihres Inhalts.«604 Das Prinzip der Einzelnheit kann deshalb nicht nur im göttlichen Gesetz realisiert sein, sondern es muss auch an dem offenbaren Gemeinwesen, »wirkliches Daseyn und Bewegung«605 haben. Bisher wurde das Prinzip der Einzelnheit nur in der Form des »individualisirten Pathos vorgestellt«606 und konnte aufgrund dieser Form als eine dem öffentlichen Gemeinwesen äußerliche und zu-
598 599 600 601 602 603 604 605 606
PhG. S. 258, 16 f. Ebd., S. 258, 12 f. Ebd., S. 258, 13–16. Vgl. ebd., S. 258, 19. Ebd., S. 258, 23. Vgl. ebd., S. 241, 34 – S. 242, 2. Vgl. ebd., S. 242, 32 f. Ebd., S. 258, 27. Ebd., S. 258, 28 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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fällige Macht oder »Wirksamkeit«607 erscheinen. Die Rache des verletzten göttlichen Gesetzes war kein dem öffentlichen Gemeinwesen offensichtlich immanentes Prinzip, sondern erschien als individuelles Tun, das sich von außen gegen den Stadtstaat richtet – auch wenn es für uns, die Leserinnen und Leser der Phänomenologie, eindeutig als die Kehrseite des eigenen Handelns der Regierung der Polis begriffen werden konnte. Auch wenn für uns das individuelle Pathos weder zufällig noch dem öffentlichen Gemeinwesen gegenüber bloß äußerlich ist, so hat es doch für die Bürger der Polis diesen Anschein, und es wird von ihnen in dieser Form vorgestellt. Wenn man nun also nicht – wie im Konflikt von Kreon und Antigone – vom individualisierten Pathos ausgeht, sondern betrachtet, wie das Prinzip der Einzelnheit in der öffentlichen Sphäre selbst präsent ist, dann bekommt die Bewegung des menschlichen und göttlichen Gesetzes »ein anderes Aussehen, und das Verbrechen und die dadurch begründete Zerstörung des Gemeinwesens die eigentliche Form ihres Daseyns.«608 Im folgenden Abschnitt zeigt Hegel nun, wie sich das Prinzip der Einzelnheit als ein von der öffentlichen Sphäre selbst anerkanntes und ihr immanentes Prinzip darstellt, an dem sie innerlich – und nicht bloß äußerlich – zugrunde geht.609 Die Bewegung des öffentlichen Gemeinwesens ist zunächst gegen das Prinzip der Einzelnheit negativ, denn das Gemeinwesen erhält sich wesentlich dadurch, dass es die Familie, die (oberflächlich betrachtet) für das Prinzip der Einzelnheit steht, unterdrückt. Darin beweist sich das menschliche Gesetz, das »in seiner Bethätigung überhaupt die Männlichkeit, in seiner wirklichen Bethätigung, die Regierung«610 ist, oberflächlich als das Prinzip der Allgemeinheit, das »die selbstständige Vereinzelung in Familien, welchen die Weiblichkeit vorsteht, in sich aufzehrt, und sie in der Continuität seiner Flüssigkeit aufgelößt erhält.«611 Es kommt dadurch, wie wir schon gesehen hatten, zu einem Konflikt zwischen Staat und Familie: »Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseyns in das allgemeine, sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen innern Feind. Diese, – die ewige Ironie des Gemeinwesens – verändert durch die Intrigue den allgemeinen Zweck der Regierung in einen Privatzweck, verwandelt 607 608 609 610 611
Ebd., S. 258, 26. Vgl. ebd., S. 258, 29 f. Vgl. ebd., S. 258, 31 – S. 260, 6. Ebd., S. 258, 31 f. Ebd., S. 258, 34 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
ihre allgemeine Thätigkeit in ein Werk dieses bestimmten Individuums, und verkehrt das allgemeine Eigenthum des Staats zu einem Besitz und Putz der Familie.«612 Wird das Prinzip der Familie unterdrückt, nehmen die Frauen, die dieses Prinzip vertreten, Rache. Da sie nicht in der Öffentlichkeit agieren dürfen, intrigieren sie. Die Intrige der Frauen besteht darin, dass sie in der Familie die jungen Männer anstacheln, im Sinne des Familieninteresses, d. h. gemäß dem Prinzip der Einzelnheit zu handeln; damit ist jetzt allerdings nicht mehr das Prinzip der Einzelnheit als allgemeiner, sondern der Einzelnheit als Einzelnheit gemeint. Die jungen Männer, die gerade auf der Schwelle zwischen dem natürlichen Gemeinwesen der Familie und dem öffentlichen Gemeinwesen der Polis stehen und deshalb noch stark im Einflussbereich der Familie sind, lassen sich gerade aufgrund ihrer Jugend gerne von den Frauen dazu bewegen, denn die Jugend tendiert nach Hegel ohnehin noch dazu, die Einzelnheit zu verabsolutieren und das allgemeine Interesse zu verachten.613 So wird den heranreifenden jungen Männern in den verschiedenen familiären Beziehungen, die sie zu Frauen haben – sei es zur Mutter, zur Schwester oder zur jungen Ehefrau – schon früh eingepflanzt, dass gerade »die Krafft der Jugend«614, die Einzelnheit des Jünglings das eigentlich Geltende ist, gegenüber der »die ernsthaffte Weisheit des reifen Alters«615 nur verspottungswürdig sei. Hegel spielt hier auf die Verspottung der Alten in den Komödien des Aristophanes an.616 Da die Frauen selbst keine Macht in der öffentlichen Sphäre entfalten können und von dieser unterdrückt werden, erobern sie ihre Macht mittelbar – über die Männer in der Familie. Die Dialektik besteht darin, dass das Gemeinwesen, gerade weil es das Prinzip der Einzelnheit, die Familie, unterdrückt und unterdrücken muss, dieses Prinzip selbst mit erzeugt und es durch diese Unterdrückung sogar zusätzlich anstachelt.617 Wenn die Frauen versuchen, durch Intrige mittelbar über ihre Männer der einzelnen Familie Geltung zu verschaffen, so ist dies nach Hegel aber immer noch nicht die Form, in der – wie angekündigt – das Prinzip der Einzelnheit »ein eben so offenbares an dem wirklichen Volke wirkliches Daseyn und Bewegung«618 hat. Es ist in dieser Form zunächst noch
612 613 614 615 616 617 618
Ebd., S. 258, 37 – S. 259, 8. Vgl. Ho, S. 526, 10 ff.; II.2.2.9.2. PhG, S. 259, 12. Ebd., S. 259, 8 f. Vgl. De Boer 2010. Vgl. PhG, S. 259, 15–19. Ebd., S. 258, 26 f.
III.2 Hegels Familien- und Geschlechtertheorie in der Phänomenologie
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ein dem öffentlichen Gemeinwesen äußerliches Prinzip, das es eigentlich zu unterdrücken in der Lage wäre, wenn es nur von der Familie bzw. von den Frauen als den Akteurinnen der Familie ausginge. Die Intrige der Frauen könnte nicht gelingen, »wenn nicht das Gemeinwesen selbst die Krafft der Jugend, die Männlichkeit, welche nicht reiff noch innerhalb der Einzelnheit steht, als die Krafft des Ganzen anerkännte.«619 Es sind nicht die Frauen, die das Prinzip der Einzelnheit zum geltenden Prinzip innerhalb der Polis erheben, sondern es ist die Polis selbst, die das tut, indem sie nämlich öffentlich die tapferen jugendlichen Helden feiert, die im Krieg das Gemeinwesen heroisch verteidigen. Zwar stacheln die Frauen die jungen Männer mit an, ihrer Einzelnheit besondere Geltung zu verschaffen, aber die Frauen wären machtlos, bedürfte nicht die Polis ihrerseits der jungen Männer in ihrer Einzelnheit. Zwar erhält sich die Polis nach innen hin nur durch Unterdrückung der Einzelnheit. Nach innen hin ist sie wesentlich negative Einheit, die sich als Einheit nur dadurch hervorbringt, dass sie die in ihr vorhandene Einzelnheit negiert. Sie ist ihrer selbstbewusste Individualität, indem sie sich gegenüber ihren Bürgern als das allgemeine, sie übergreifende Ganze realisiert, in dem die Bürger nur Momente sind. Als ihrer selbstbewusste Individualität verhält sie sich jedoch zugleich gegenüber anderen Individualitäten als »ausschließendes Eins.« Nur ihr Verhältnis nach innen hin zu betrachten ist also einseitig – sie steht auch wesentlich in einem Verhältnis zu anderen Gemeinwesen außer ihr. Sie verhält sich somit auch nach außen negativ, indem sie sich von anderen Gemeinwesen abgrenzt, wodurch es notwendig auch zu Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. Die Polis will sich also gegenüber anderen Gemeinwesen behaupten und ihre Unabhängigkeit und Individualität erhalten. Genau dazu bedarf sie der einzelnen Individuen, die für sie kämpfen. Zwar erfahren im Krieg die Individuen ihre prinzipielle Abhängigkeit vom Gemeinwesen, das ihnen darin »die Krafft des negativen zu fühlen gibt«620, aber zugleich sind es im Krieg gerade die einzelnen Individuen, die für das Gemeinwesen kämpfen und bereit sind, sich für es aufzuopfern. Ohne die tapferen Jünglinge621, die heldenhaft für es kämpfen, kann das Gemeinwesen sich nicht im Krieg behaupten. Indem das Gemeinwesen angewiesen ist auf junge, kampfesfähige Männer, Kriegshelden, ist es »die natürliche Krafft, und das, was als Zufall des Glücks erscheint, welche über das Daseyn des sittlichen Wesens und die geistige Noth-
619 620 621
Ebd., S. 259, 20 f. Ebd., S. 259, 32; vgl. dazu auch ebd., S. 246, 12–23; III.2.2.4. Vgl. PhG, S. 259, 33 f.
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III Die Phänomenologie des Geistes
wendigkeit entscheiden;«622 hier zeigt sich erstmals, dass das Prinzip der Einzelheit dem Gemeinwesen selbst immanent ist, und zwar nicht in Form der Familie, sondern durch seine Angewiesenheit auf die »Krafft der Jugend«623. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte bezeichnet Hegel das griechische Leben folglich auch als »eine wahre Jünglingstat. Achill, der poetische Jüngling, hat es eröffnet, und Alexander der Große, der wirkliche Jüngling, hat es zu Ende geführt.«624 Nach Hegel ist erst in der Neuzeit der Staat nicht mehr in dieser Weise auf die persönliche und heroische Tapferkeit einzelner Individuen angewiesen, da in ihm das Naturmoment stärker zurückgedrängt ist.625 Die Abhängigkeit des Gemeinwesens von der natürlich bedingten und deshalb auch zufälligen Tapferkeit der Individuen widerspricht seiner Geistigkeit, Allgemeinheit und sittlichen Notwendigkeit und führt daher notwendig zu ihrem Untergang: »Wie vorhin nur Penaten im Volksgeiste, so gehen die lebendigen Volksgeister durch ihre Individualität, itzt in einem allgemeinen Gemeinwesen zu Grunde, dessen einfache Allgemeinheit geistlos und todt, und dessen Lebendigkeit das einzelne Individuum, als einzelnes, ist. Die sittliche Gestalt des Geistes ist verschwunden, und es tritt eine andere an ihre Stelle.«626
622
Ebd., S. 259, 34 f. Ebd., S. 259, 21. Nach Hegel hätte die Intrige der Frauen keine Chance, wäre nicht das Gemeinwesen selbst in Wahrheit auf das Prinzip der Einzelnheit angewiesen. Der Untergang der griechischen Sittlichkeit kann somit nicht allein den Frauen zugeschrieben werden, sondern ist Resultat des immanenten Widerspruchs der antiken Polis. Mills übersieht dies und lässt die Passage PhG, S. 259, 15 – S. 260, 6 gänzlich außer Acht (vgl. Mills 1986, S. 138 f.). Dadurch kommt sie zu dem Schluss, dass Hegel für den Untergang der griechischen Polis einseitig die Frauen verantwortlich mache. Sie meint, das der Polis immanente Prinzip der Einzelnheit sei die Familie. Die Pointe der Argumentation ist an dieser Stelle jedoch, dass innerhalb der öffentlichen Sphäre selbst (von der die Familie ausgeschlossen ist, der sie also nicht immanent ist) das Prinzip der Einzelnheit als »die Krafft des Ganzen« (PhG, S. 259, 22) anerkannt wird, dann nämlich, wenn einzelne Heroen das Gemeinwesen nach außen verteidigen müssen, d. i. im Krieg. 624 TWA 12, S. 275 f. 625 Vgl. GPR, § 150 Anm.; § 328 Anm. 626 PhG, S. 260, 1–5. 623
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III.2.3.5 Der Untergang der sittlichen Substanz (PhG, S. 260, 7–23) Die sittliche Substanz muss nach Hegel untergehen und in eine neue Gestalt, in den Rechtszustand des Römischen Reiches, übergehen, weil »das sittliche Bewußtseyn auf das Gesetz wesentlich unmittelbar gerichtet ist.«627 Der Geist ist aber wesentlich durch Vermittlung bestimmt, während die Unmittelbarkeit eine Bestimmung der Natur ist. Weil in der griechischen Sittlichkeit das sittliche Bewusstsein selbst noch bloß unmittelbar ist, ist sein Handeln noch durch die Natur bestimmt. Die Transformation der Natur in den Geist gelingt hier, da der Geist das erste Mal als Geist erscheint, noch nicht vollends. Das unmittelbare sittliche Handeln kann sich noch nicht zur Totalität der sittlichen Substanz verhalten – denn ein solches Verhalten erforderte eine Vermittlung, die z. B. darin bestünde, das eigene Gesetz zu relativieren und in Verhältnis zu dem anderen Gesetz zu setzen. Dass der Natur in der griechischen Sittlichkeit noch eine so große Rolle zukommt,628 zeigt, wie widersprüchlich der Geist in seiner Unmittelbarkeit noch ist. Die Wirkmächtigkeit oder Wirklichkeit der Natur offenbart nach Hegel »nur den Widerspruch und den Keim des Verderbens, den die schöne Einmüthigkeit und das ruhige Gleichgewicht des sittlichen Geistes eben an dieser Ruhe und Schönheit selbst hat; denn die Unmittelbarkeit hat die widersprechende Bedeutung, die bewußtlose Ruhe der Natur, und die selbstbewußte unruhige Ruhe des Geistes zu seyn.«629 Der Widerspruch liegt also in der Unmittelbarkeit des Geistes selbst begründet, der in Wahrheit absolute Vermittlung oder vermittelte Unmittelbarkeit ist, in seiner Anfänglichkeit aber noch bloß unmittelbar und deshalb widersprüchlich erscheint. Da die Natur das sittliche Gemeinwesen noch wesentlich bestimmt, ist es eine bloß beschränkte Individualität, die über das andere nicht wie das reine
627
Ebd., S. 260, 8 f. Auf die große Bedeutung, die der Natur in der griechischen Sittlichkeit selbst für politische Entscheidungen zugesprochen wird, macht Hegel z. B. auch in den Grundlinien sowie in den Vorlesungen über die Ästhetik aufmerksam: So werden politische Entscheidungen häufig aufgrund von Orakeln gefällt, die sich auf die Richtung des Vogelflugs o. ä. beziehen, statt dass sie als selbstbewusste Willensakte eines Subjekts vollzogen werden (vgl. GPR, § 279; TWA 14, S. 50 f.). Dass nicht nur die Familie, sondern auch die Polis aufgrund ihrer Unmittelbarkeit noch stark von der Natur bestimmt ist, betont Ravven (vgl. Ravven 1988, S. 154). Sie zeigt, dass erst der moderne Rechtsstaat diese Bestimmtheit aneignen und aufheben kann – jedenfalls nach Hegel. 629 PhG, S. 260, 11–15. 628
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III Die Phänomenologie des Geistes
Selbstbewusstsein übergreift und darin bei sich ist630, sondern durch das andere seine eigene Endlichkeit vorgeführt bekommt. Es wird deshalb auch im Laufe der Zeit durch ein anderes Gemeinwesen vernichtet, es findet an ihm seine »Aufhebung«631. Die Gestalt, in die die griechische Sittlichkeit übergeht, der römische Rechtszustand, ist zwar nicht mehr in dieser Weise durch die Natur beschränkt, sie ist aber genau deshalb zugleich nicht mehr lebendiger, sondern »gestorbene(r) Geist«632. Während in der griechischen Sittlichkeit das Gemeinwesen nach Hegel noch ein lebendiger Zusammenhang, d. h. selbst als Ganzes ein natürlich bestimmtes Individuum war, in dem die einzelnen Individuen sich als Momente des organischen Ganzen erfassen konnten, ist das Römische Reich nicht mehr eine solche »in Allen ihrer selbstbewußte Substanz«633, sondern eine bloß »formelle Allgemeinheit«634. Diese formelle Allgemeinheit ist nicht mehr selbst das Ganze, in dem die Bürger bloß Momente sind, sondern sie ist »das Allgemeine«, das »in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert«635 ist: »(D)ie einfache Gediegenheit ihrer Individualität ist in viele Punkte zersprungen.«636
III.2.4 Ausblick: Der Rechtszustand (VI.A.c) (PhG, S. 260, 24 – S. 264, 6) Der Rechtszustand – wie Hegel das Römische Reich hier bezeichnet – ist für Hegel höchst ambivalent.637 Er ist zunächst einmal das Resultat des Zerfalls des »schönen(n) sittliche(n) Leben(s)«638 der griechischen Sittlichkeit. Im Kontrast mit ihr erscheint er auf den ersten Blick auch als bloßer Verfall einer harmonischen Welt. Er ist gleichsam der Leichnam des einst so lebendigen Geistes der griechischen Sittlichkeit: »gestorbene(r) Geist«639, ein »geistlose(s) Gemeinwesen«640. Dies ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite, die ihm epochale Bedeutung verleiht, ist, dass in ihm Hegel zufolge das Prinzip der Rechtspersönlichkeit entwickelt wird: Es gelten »alle als Jede, als 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640
Vgl. II.2.2.3. PhG, S. 260, 17. Ebd., S. 260, 31. Ebd., S. 260, 20. Ebd., S. 260, 21. Ebd., S. 260, 30 f. Ebd., S. 260, 22 f.; vgl. auch TWA 12, S. 383 f. Vgl. I.3. Vgl. Jaeschke 2009a, S. 287. PhG, S. 240, 1. Ebd., S. 260, 31. Ebd., S. 260, 27.
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Personen:«641 Erst im Römischen Reich beginnt somit die Rechtsgeschichte im engeren Sinn.642 Während in der griechischen Sittlichkeit »der Einzelne wirklich nur als das allgemeine Blut der Familie«643 war, ist er nun »aus seiner Unwirklichkeit hervorgetreten.«644 Die Individuen gelten im römischen Rechtszustand »nach ihrem einzelnen Fürsichseyn als Selbstwesen und Substanzen«645, sie werden in ihrer Selbständigkeit anerkannt.646 Dies freilich noch ganz formell, aber diese formelle Anerkennung der Selbständigkeit der Rechtsperson ist der Beginn des Bewusstseins subjektiver Freiheit. Was für das griechische Reich Hegel zufolge den Untergang bedeutete – das Hereinbrechen des Prinzips der Subjektivität – ist gerade das Prinzip der modernen Freiheit. In den Grundlinien heißt es dazu: »Das Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjectiven Freyheit, das innerlich in der christlichen Religion und äußerlich daher mit der abstrakten Allgemeinheit verknüpft in der römischen Welt aufgegangen ist, kommt in jener nur substantiellen Form des wirklichen Geistes nicht zu seinem Rechte. Das Prinzip ist geschichtlich später als die griechische Welt (…).«647 Im Gegensatz zur bloßen Unmittelbarkeit der griechischen Sittlichkeit ist das Römische Reich durch beginnende Reflexion und Abstraktheit gekennzeichnet, die mit dem Begriff der Rechtsperson auf noch äußerliche und abstrakte Weise eben das Prinzip herausbildet, das für die Moderne entscheidend ist. An seiner Abstraktheit wird das Römische Reich auch untergehen.648 Mit der Einführung des positiven, abstrakten Rechts aber hat es nach Hegel dennoch den Weg zur modernen Freiheit geebnet und damit mittelbar dazu beigetragen, dass in der Moderne auch das Geschlechter- und Familienverhältnis als Ausdruck subjektiver Freiheit begriffen werden kann.649
641
Ebd., S. 260, 31. Vgl. Jaeschke 2009a, S. 286. 643 PhG, S. 261, 2; III.2.2. 644 Ebd., S. 261, 4. 645 Ebd., S. 260, 29. 646 Vgl. ebd., S. 260, 12–17. 647 GPR, § 185 Anm. 648 Vgl. I.3. Zum Untergang des Rechtszustands und dem Übergang vom wahren Geist zum sich entfremdeten Geist vgl. Siep 2000, S. 187–193; Schmidt 1997, S. 109–125. 649 Vgl. I.3; Kapitel II. 642
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