Hegels "Phänomenologie des Geistes" heute [Reprint 2014 ed.] 9783050046969, 9783050040554

Die Beiträge des Bandes unterziehen Hegels Phänomenologie des Geistes nicht vorrangig einer erneuten historischen und ph

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German Pages 290 [282] Year 2004

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Hegels "Phänomenologie des Geistes" heute [Reprint 2014 ed.]
 9783050046969, 9783050040554

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Hegels > Phänomenologie des Geistes < heute

Herausgegeben von Andreas Arndt und Ernst Müller

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen

philosophischen Forschung

0

Sonderband O

Hegels >Phänomenologie

des Geistes< heute

Herausgegeben

Andreas Arndt und Ernst Müller von

&

W^ Akademie Verlag

ISBN 3-05-004055-6 © Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2004

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad

Printed in the Federal Republic of Germany

Langensalza

Inhalt

Vorwort. 7 I. Sinnliche Gewißheit

Brady Bowman ,Die unterste Schule der Weisheit'

Hegels Eingang in die Phänomenologie im Fokus eines religionsgeschichtlichen Motivs

.11

Falko Schmieder Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit in fotografietheoretischer Sicht.39

II. Selbstbewußtsein Harald Bluhm Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur Eine Skizze.61 -

Wolfram Bergande Dialektik und Subjektivität Zu Jacques Lacans post-hegelianischer Theorie der Psyche. Christian Iber Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes

83

.98

INHALI

6

III. Vernunft Erzsébet Rózsa Verhaltensweisen des Individuums der ,Lust', des Individuums des ,Gesetzes des Herzens' und des ,tugendhaften Ritters'. Zu Hegels Auffassung der Individualität im Vernunft-Kapitel der Phänomenologie des Geistes

....

121

Patience Moll The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy.145

IV. Geist / absoluter Geist Reinhard Mehring

Unrechtserfahrungen im Recht Zum phänomenologischen Blick auf Die Sittlichkeit.159

Ernst Müller Zur Modernität des

Hegeischen Religionsbegriffs

.175

Walter Jaeschke Das absolute Wissen.194

V.

Ph\l=a"\nomenologische Konzepte

Christine Weckwerth Feuerbachs anthropologische Wendung des Hegeischen Phänomenologie-Konzepts

.217

Andreas Arndt wie halten wir es nun mit der hegel'schen Dialektik?' Marx' Lektüre der Phänomenologie 1844 .245 ,...

Christian Möckel

Hegels Phänomenologie des Geistes als Vorbild für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen

.256

Veit Friemert Hegels Idee vom allgemeinen Leben als Konzept politischer Erfahrung Ein Rekonstruktionsversuch .276

Personenregister

.287

Vorwort

Phänomenologie des Geistes behauptet innerhalb des Hegeischen Werks eine eigentümliche Position. In Jena als erster, hinführender Teil des Systems konzipiert, hatte sie im ausgeführten System keine notwendige Funktion mehr; wesentliche Teile wurden in die Theorie des subjektiven Geistes im Rahmen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften aufgenommen. Gleichwohl hat Hegel sich von diesem Werk nie distanziert und kurz vor seinem Tode auch einer zweiten Auflage der Phänomenologie zugestimmt, die das anhaltende Interesse des philosophischen Publikums befriedigen sollte. Die Verschränkung der systematischen Entwicklung der Gestalten des Bewußtseins mit einer Geschichte des Geistes, die hier überhaupt zum erstenmal als philosophische Konzeption begründet wurde, hat nicht nur weitreichende Folgen für die weitere Auffassung des Zusammenhangs von Geist und Geschichte gehabt. Indem Hegel die Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins nicht nur in philosophiegeschichtliche Kontexte einschrieb, sondern diese ihrerseits wiederum in zum Teil schwer zu entschlüsselnde zeitgeschichtliche Zusammenhänge einbettete, entstand ein vielschichtiger und vieldeutiger Text, der auf Interpreten sowohl aufgrund seiner systematischen Dichte als auch aufgrund seiner Materialfülle bis heute einen besonderen Reiz ausübt. Daher nimmt die Phänomenologie nicht nur innerhalb des Hegeischen Œuvres, sondern auch in der Hegel-Rezeption einen besonderen Platz ein: sie war und ist immer wieder Bezugstext für die Vergewisserung aktueller philosophischer Positionen. Marx' frühes Aperçu über die Phänomenologie als der .wahren Geburtsstätte und dem Geheimnis der Hegeischen Philosophie' ist dafür nur ein Beispiel, das wiederum selbst kontroverse Deutungen provoziert hat. Der vorliegende Band wurde unter dem Gesichtspunkt der fortdauernden Aktualität der Phänomenologie des Geistes konzipiert. Damit läßt er sich dem Kontext einer Reihe von Veröffentlichungen jüngeren Datums zuordnen, die gleichfalls erneut nach der Aktualität der Hegeischen Philosophie fragen, in denen aber die Phänomenologie im allgemeinen eher zurücktritt. In den Beiträgen sollte es dabei also nicht primär um eine Die

-

-

8

Vorwort

philologisch-hermeneutische Interpretation des Textes gehen, diese auch im Rahmen einer gegenwartsbezogenen, systematisch orientierten Interpretation unverzichtbar bleibt und sinnvolle neue Interpretationshorizonte erst eröffnet. Vielmehr sollte die Phänomenologie aus der Erfahrung ihrer Nachgeschichte und aus der Perspektive heutigen Philosophierens systematisch beleuchtet werden, wobei der Titel ,Phänomenologie des Geistes heute' in einem mehrfachen Sinne zu verstehen ist: sei es, daß Transformationen von Gestalten des Bewußtseins selbst gleichsam über den historischen Zeitpunkt der Hegeischen Phänomenologie hinaus in ihrer Dimension geschichtlicher Erfahrung untersucht oder historisiert werden, sei es, daß der methodische Ansatz der Phänomenologie vergleichend oder kritisch ins Verhältais zu jüngeren Philosophien gesetzt wird, oder sei es, daß Hegels systematisch keineswegs abgeschlossener Text in einer eher freien Lektüreweise im Lichte neuerer Theorieansätze interpretiert wird. Daß unter diesen Gesichtspunkten weder in bezug auf ihre Themen noch in bezug auf die Rezeptionsgeschichte der Phänomenologie des Geistes Vollständigkeit angestrebt werden konnte, liegt auf der Hand. Die hier versammelten Beiträge sind daher als Schlaglichter zu verstehen, die einzelne Aspekte in den Vordergrund rücken und Möglichkeiten des systematischen Umgangs mit Hegels eigentümlichem Frühwerk vorfüherneute historische und

wenn

ren.

Die Beiträge von Harald Bluhm, Veit Friemert, Christian Möckel, Ernst Müller und Christine Weckwerth wurden ursprünglich für eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerd Irrlitz konzipiert und als Privatdruck unter dem Titel Phänomenologie und Geschichte (Berlin 2000) in nur wenigen Exemplaren verbreitet; für den vorliegenden Band wurden die Aufsätze überarbeitet und zum Teil erweitert. Das Zusammentreffen verschiedener historischer und systematischer Perspektiven auf die Phänomenologie in diesem Band ließ bei den Herausgebern und Mischka Dammaschke als Lektor des Akademie Verlages den Plan entstehen, die bereits vorliegenden Beiträge außerhalb des Rahmens der thematisch breiteren Festschrift, ergänzt um weitere Texte, in einem der Aktualität der Phänomenologie gewidmeten Band zu veröffentlichen. Die Herausgeber danken allen, die für dieses Projekt einen Beitrag zur Verfügung gestellt haben. Dank gilt auch Stefanie Ertz für die Lektorierung der Texte, Veit Friemert für technische Ratschläge sowie Mischka Dammaschke dafür, daß er die Realisierung des Buches als Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie ermöglicht hat. Andreas Arndt, Ernst Müller Berlin, im April 2004

I. Sinnliche Gewißheit

Brady Bowman

,Die unterste Schule der Weisheit' Hegels Eingang in die Phänomenologie im Fokus eines religionsgeschichtlichen Motivs

Hegels Sinnliche Gewißheit' ist von der neueren Forschung allzu einseitig epistemologisch ausgelegt worden. Die meisten Interpreten verdanken ihre Ansätze einem Vorverständnis von Erkenntnistheorie, welches sich von der empiristischen Tradition in der Philosophie und deren interner Kritik herschreibt,2 und verkennen wohl deshalb, daß Hegel selbst seine philosophischen Anliegen im Rahmen einer anderen Tradition artikuliert hat: der Philosophie des Geistes und dessen Beziehung zur Substanz' oder zur Natur, verstanden als eine Sphäre selbstloser Entäußerung. Was Selbstsein sei und wie es sich zur Substanz verhalte, kann nicht in Unabhängigkeit von erkenntnistheoretischen Erwägungen bestimmt werden, noch bleibt die Antwort auf jene Frage ohne weitreichende Konsequenzen für die Theorie der Erkenntnis. Gleichwohl kann die Frage auch nicht adäquat gestellt werden, solange einseitig nur die Beziehung gegebener »Vermögen' oder ,Stämme' der Erkenntnis zueinander und ihre Rolle bei der Konstitu,

,

tion einzelner Erkenntnisse untersucht werden. Die Einsicht, daß eine ,kritische', ,transzendentale', ,analytische' oder (mit Strawsons Wort) ,deskriptive' Untersuchung geistiger Leistungen das spezifische Anliegen seiner Phänomenologie des Geistes verfehlt, stellt Hegel an den Anfang der ,Einleitung', indem er mediale und instrumentelle

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen der Forschungsarbeiten des an der Friedrich-SchillerUniversität Jena bestehenden Sonderforschungsbereichs Ereignis Weimar Jena. Kultur um 1800, Teilprojekt C5 Skeptizismus Realismus Idealismus. Die Jenaer Skeptizismus-Debatte 1800-1806. Man denke an die in der neueren Hegel-Forschung häufige, interpretationsleitende Bezugnahme auf Wilfrid Sellars' Kritik am ,myth of the given' in seinem Essay „Empiricism and the Philosophy of Mind" (zuerst 1956 in Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. 1, 253-329) oder an die Inanspruchnahme referenz-theoretischer Lehrsätze, um Hegels Eröffhungsargumente in der Phänomenologie zu rekonstruieren. -

-

-

Brady Bowman

12

Theorien der Erkenntnis kritisiert. Doch ist Hegels Gegner in der Phänomenologie nicht nur und nicht in erster Linie der kritische Transzendentalphilosoph, sondern ebenso und mehr noch der spinozistische Substanzmetaphysiker, der (vermeintlich oder wirklich) in seinem Denken der selbstbewußten Freiheit des Subjekts keinen Ort eingeräumt hat. Bereits der Anfang der Phänomenologie mit der ,Sinnlichen Gewißheit' steht im Dienste der Überwindung des substanzmetaphysischen Denkens. Anspruch des vorliegenden Aufsatzes ist es, diesen Zusammenhang aufzuweisen und einige der Konsequenzen zu verdeutlichen, die sich für die Deutung des Kapitels aus ihm ergeben. Der Aufweis kann freilich nicht von vornherein schon in Auseinandersetzung mit den detaillierten systematischen Fragen geführt werden, die Hegels sehr komplexe und z. T. unbefriedigende Argumentation aufwirft. Denn die Problemstellung, in deren Rahmen solche Fragen erst adäquat zu formulieren sind, gilt es noch zu umreißen. Diese Notwendigkeit erfordert daher zunächst eine mehr hermeneutische Anstrengung, um in Absetzung gegen die Mehrzahl gängiger Rekonstruktionen den Horizont neu zu definieren, in dem Hegel den Anfang der Phänomenologie angesiedelt hat. Darum hat der vorliegende Aufsatz den Status einer notwendigen Vorverständigung über den Rahmen, in dem Hegels Argumentation erst zu rekonstruieren sein wird.4 Hegels 1796 entstandene Gedicht Eleusis. An Hölderlin ist bisher noch nicht zur Deutung der .Sinnlichen Gewißheit' herangezogen worden. Verständlicherweise, wie es zunächst den Anschein hat; denn das knappe Jahrzehnt, welches die Texte voneinander trennt, ist das an Wandlungen reichste in Hegels philosophischer Entwicklung, so daß Hegels reife Position in dem 1806 abgeschlossenen Hauptwerk kaum noch Spuren seizumindest keine sichtbaren. Zwar bezieht sich ner Berner oder Frankfurter Zeit trägt in seiner der sinnlichen Gewißheit einmal auf die Eleusischen MysteHegel Darstellung rien, die den Gegenstand seiner frühen Ode bildeten, doch erfolgt der Verweis nunmehr in polemischer Absicht und deutet eine vollständige Verschiebung in seinem Verständnis des antiken Kultes an. Das „Geheimniß des Essens des Brodes und des Trinkens des Weines" gilt ihm nicht mehr wie einst als tiefe Weisheit, sondern als rohe Anfänglichkeit; er spricht diese „offenbaren Mysterien" nunmehr als die „unterste Schule der Weisheit" an, in die sich gerade die Tiere am tiefsten eingeweiht zu sein erweisen,6 und weist später auch die monotheistische Deutung, welche seinem frühen Gedicht zugrundelag, explizit zurück, derzufolge in Eleusis der öffentlichen Religion widersprochen -

Siehe G. W. F. Hegel: Die Phänomenologie des Geistes, hg. v. W. Bonsiepen/R. Heede. Gesammelte Werke (im folgenden zitiert als GW unter Angabe von Band- und Seitenzahl), Bd. 9, Hamburg 1980, 53 ff. Siehe Brady Bowman, Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des Deutschen Idealismus, Berlin 2003.

Hegel:GfT9,69. Vgl. ebd.

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

13

und der Eine Gott gelehrt worden wäre.7 Der Wandel in Hegels Auffassung des antiken Mysterienkultes scheint sich so grundlegend vollzogen zu haben, daß der frühe Text kaum Aufschlüsse über den Anfang der Phänomenologie zu bieten scheint. Zugleich erscheint gerade auch Hegels Interpretation und Beurteilung der Eleusischen Mysterien als relativ isoliert gegenüber seinem übrigen Denken, so daß die Rekonstruktion zunächst auch in dieser Hinsicht keinen Halt zu finden scheint. Ein solches Urteil wäre jedoch verfehlt, wie nähere Beschäftigung zeigt. Weit davon entfernt, ein isoliertes Phänomen in Hegels Entwicklung zu sein, verbindet sich sein Urteil über das kultische Fest in Eleusis in systematischer Weise mit Wandlungen in seiner Auffassung des Status von Sprache und Reflexion in einer Philosophie des Absoluten sowie in seiner Stellung zum Spinozismus, dessen Überwindung das zentrale Anliegen der Phänomenologie des Geistes bildet. Die Komplexität der Bindungen, die das Eleusis-Motiv mit systematischen Motiven des Hegeischen Denkens eingeht, zeigt sich unter anderem an der Tatsache, daß Hegels reife Auffassung jener „untersten Schule der Weisheit" nur scheinbar eine Abwertung gegenüber dem frühen £7ews/s-Gedicht darstellt. Denn während das Gedicht die Mysterien tendenziell mit einer von Hegel später als ,orientalisch' identifizierten Anschauung des Absoluten in Verbindung bringt, ordnet der Autor der Phänomenologie das Eleusische Fest einer höheren Stufe des (religiösen) Bewußtseins des Absoluten zu: dem griechischen Kultus des lebendigen Kunstwerks, in dem sich das einzelne Selbstbewußtsein mit dem für ihn seienden Wesen eins weiß. Mit dieser Verschiebung geht eine Abwertung des zeitweilig

,spinozistischen',8

Hegel: „Vorlesungen über die Philosophie der Religion", hg. v. W. Jaeschke, in GW 17, 156. Ausmaß und Bedeutung der Spinoza-Rezeption in Deutschland nach dem Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn kann kaum überbewertet werden. Sie geht in praktisch alle Aspekte des Denkens und Schaffens jener Zeit ein: in Theologie und Metaphysik, Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik, Geschichtsphilosophie und Ästhetik. Jedoch auch die Vielfalt abweichender Spinoza-Lektüren muß betont werden. (Auf diese verschiedenen Spinoza-Rezeptionen, soweit sie von systematischer Relevanz für die Untersuchung von Jacobis maßgebender Erstlektüre gewesen sind, geht Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000, ein. Zur Bedeutung der Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Fichte um den Spinozismus vgl. auch dieselbe: „Was geht auf dem langen Wege vom Geist zum System nicht alles verloren. Problematische Transformationen in der klassischen deutschen Philosophie", in Deutsche Zeitschrift für Philosophie (3/2002), 363-375, wo der Kontext der Spinoza-Rezeption ebenfalls zur Sprache kommt. Auch sei Hermann Timm genannt: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Frankfurt/M. 1974.) Der ,Spinozismus' bzw. der ,ästhetische Spinozismus', von dem im folgenden die Rede sein wird, ist eine Spielart unter anderen und kann vor anderen Spinoza-Deutungen der Zeit keine besondere Adäquanz beanspruchen; es spricht im Gegenteil einiges dafür, Hegels Verständnis der Spinoza'schen Philosophie als in wichtigen Aspekten verkürzt anzusehen. Dennoch scheint Hegel den Spinozismus zeitlebens mit einer ,unmittelbaren', nur sinnlich-gewissen, sprachlich letztlich inkommunikablen Anschauung des Absoluten identifiziert zu haben, die für ihn eine zwar unabdingbare, gleichwohl aber unbedingt zu überwindende Stufe des Philosophierens darstellt (vgl. etwa Hegel, Theorie-Werkausgabe, hg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt/M. 1979 [im folgenden TWA mit Band- und Seitenzahl], Bd. 20, 165). In diesem Sinne blieb der Spinozismus für Hegel zeitlebens auch ein (bloß) ästhetischer Spinozismus.

Brady Bowman

14

vertretenen ästhetischen

Spinozismus und dessen Sprachinkommensurabilität sowie entsprechende Aufwertung der Sprache einher. Der Bruch mit der sv-xai-iravPhilosophie seiner jungen Jahre koinzidiert mit einer Aufwertung der Sprache; die Sprachkritik des Eleusis-Gedichts kehrt sich in der ,Sinnlichen Gewißheit' geradezu um, so daß nunmehr das Unaussprechliche nicht als das Höhere, sondern als das schlechthin Unvernünftige, ja Nichtige gilt. Vergleichende Betrachtung deckt eine weitere interessante Entwicklung auf. In großer zeitlicher Nähe zu Hegels Eleusis-Gedicht beschäftigte sich auch Friedrich Schiller mit Mythen aus dem Umkreis des antiken Kultes. Seine Klage der Ceres (1797) und Das Eleusische Fest (1798) bringen indes ein Verständnis des Mysterienkultes zum Ausdruck, welches demjenigen des jungen Hegel gerade entgegengesetzt ist. Hebt das Eleusis-Gedicht auf Einsamkeit, Selbstlosigkeit, Sprachinkommensurabilität und Esoterik ab, so deutet dagegen Schiller das kultische Fest als Zivilisationsfeier, die der Mensch zur eigenen Ehre zelebriert; bei ihm liegt der Akzent auf Offenbarkeit, Bürgerlichkeit, Allgemeingültigkeit und Sprachförmigkeit des kultischen Inhalts. Ob Hegel mit diesen Gedichten vertraut war, ist nicht bekannt; unverkennbar ist jedoch die Nähe zur Schillerschen Deutung, in die sich Hegel mit seiner revidierten Konzeption der Eleusischen Mysterien seit der Phänomenologie begibt. Hegel wechselt, wenn man so will, von einer ,spinozistischen' Frühromantik zu einer in der Philosophie des Geistes begründeten Klassik und dieser Wandel schlägt sich in seiner Deutung des antiken Kuleine

Bacchus nieder. Die Anwesenheit der Eleusischen Mysterien im ersten Kapitel der Phänomenologie signalisiert also auf eine sehr direkte Weise wenn man den beschriebenen Zusammenhang erst einmal erkannt hat daß es dort auch um eine Auseinandersetzung mit spinozistischen Ideen geht und daß die Betonung der Sprache vor allem in dieser Beziehung gedeutet werden muß. Der unmittelbare gedankliche Kontext von Hegels ,Eröffnungsargumenten' muß also viel weiter gefaßt werden, als dies bisher geschehen ist. Daß dies so ist, und wie die daraus resultierende Deutung im Detail aussieht, ist im folgenden zu zeigen. Dazu nehme ich Schillers bereits erwähnte Behandlung des mythischreligionsgeschichtlichen Stoffes als Folie (I), um Hegels £7ews,z's-Gedicht zunächst damit zu kontrastieren (II) und dann seine spätere religionsphilosophische Auffassung mit ihr zu vergleichen (III). Damit ist der Rahmen für den letzten Teil des Aufsatzes (IV) gegeben, in dem ich die Fäden noch einmal einzeln spanne, die Hegel zum komplexen Gewebe der Sinnlichen Gewißheit' geknüpft hat. tes der Ceres und des

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-

,

So Charles Taylor: „The opening arguments of the Phenomenology", in Hegel, hg. tyre, Garden City/NY 1972, 151-187.

v.

A. Macln-

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

15

I. Das Volk, das in dem Cultus der Kunstreligion sich seinem Gotte naht, ist das sittliche Volk, das seinen Staat und die Handlungen desselben als den Willen und das Vollbringen seiner selbst weiß.

Schiller behandelte den Eleusischen Kultus und dessen mythologischen Kontext zweimal: zuerst 1797 in seiner Klage der Ceres und ein Jahr darauf im Bürgerlied, welches in der Ausgabe letzter Hand den geänderten Titel Das Eleusische Fest erhielt." Schiller sah in diesen beiden Gedichten und der geschichtsphilosophischen Hymne Die Künstler Werke verwandten Inhalts und ordnete für die Prachtausgabe an, sie sollen zusammen 12 in der eben genannten Reihenfolge abgedruckt werden. Auffallend sowohl an der Klage der Ceres wie auch am Eleusischen Fest ist Schillers Betonung der (sprachlichen) Kommunikation und der Gemeinschaftsstiftung als dominierende Aspekte des mythischen und religionsgeschichtlichen Stoffes. So berücksichtigt der Dichter in der Klage der Ceres zwar auch die traditionell bevorzugte Deutung des Mythos von Ceres und Proserpina als Allegorie des Todes und der Wiedergeburt, doch interessanter ist seine lyrische Umsetzung der Idee einer Kommunikation zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden. Die Kommunikation zwischen Mutter und Tochter ist ausdrücklich durch Zeichen vermittelt. In geschichtsphilosophischer Hinsicht ist ebenfalls interessant, daß Schiller diese Vermittlungssprache zwischen der Sphäre des Lichts und des Lebens und der Sphäre der Finsternis und des Todes mit den Pflanzen und Bäumen identifiziert, die in einer den Ackerbau stiftenden Handlung von Ceres angebaut werden.1 So wird in Schillers anthropologisch reflektierter Mythologie die ursprüngliche Zivilisierung der Menschheit durch Stiftung des Ackerbaus als Episode in der Geschichte der trauernden Göttin der Erde gefaßt, die eine Vereinigung von Leben und Tod herbeizuführen sucht. Im Gedicht erscheint der instituierte Ackerbau mit seinen zivilisatorischen Folgen darum zugleich als Stiftung einer Vermittlungsinstanz zwischen den Mächten der Unterwelt und den Olympischen Kräften, zwischen Tod und Leben. Hervorgehoben werden muß schließlich noch der öffentliche, allgemeine und offenkundige Charakter der Kommunikation zwischen der Mutter Erde und ihrer geraubten Tochter. Das Gedicht endet mit Ceres' Aufforderung zur universellen Zeugenschaft der vollbrachten Vermittlungsleistung:

Hegel: GW9,385.

Siehe Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe (im folgenden als NA unter Angabe der Bandund Seitenzahl zitiert), Bd. 1 hg. v. J. Petersen/F. Beißner, Weimar 1943, 279-282 (Klage der Ceres) u. 426-432. Bd. 2.1 (hg. v. N. Oehlers, Weimar 1983) enthält die Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe); dort findet sich Das Eleusische Fest (376-382). Siehe hierzu die Erläuterungen des Herausgebers in Schiller: NA 2A, 652. Vgl. Schiller: AU 1, 281, 73-96.

Brady Bowman

16 In des Lenzes heiterm Glänze Lese jede zarte Brust, In des Herbstes welkem Kranze Meinen Schmerz und meine Lust.

exponierten Schlußstellung als winziges Detail erscheinen, doch der gesamtgesellschaftliche, öffentliche Charakter, den Schiller mit Ceres und ihrem Kultus verbindet, wird zum prägenden Merkmal seiner ausdrücklich anthropologischen und geschichtsphilosophischen Reflexionen im Eleusischen Fest. Der ursprüngliche Titel Bürgerlied sollte diesen gedanklichen Schwerpunkt sogleich zu erkennen geben. In siebenundzwanzig Strophen schildert der Dichter den Übergang des Menschen vom Troglodyten, Nomaden und Jäger (wie sich Schiller den frühesten, vorzivilisatorischen Zustand der Menschheit vorstellt) zum vollendeten Kreis bürgerlichen Lebens. Die frühesten Menschen kennen nach den ersten Strophen der Hymne weder Ackerbau noch feste Behausung und opfern Menschen gemäß einer primitiven Religion.15 Im Verlauf der im Gedicht besungenen und in Bildern der klassischen Mythologie dargestellten Entwicklung kommt es zum ersten Entstehen eines spezifisch menschlichen Gefühlsvermögens und zu einer ursprünglichen Aufklärung des Verstandes.16 In rascher Folge entstehen Gerichte, das Handwerk, Schiffahrt und Handel; die Wälder werden gerodet und Städte gegründet; die Poesie erblüht; eine menschliche Religion wird gestiftet und die Ehe instituiert.17 Diesen Kreis des bürgerlichen, zivilisierten Lebens krönt eine spezifisch menschliche Freiheit, die nur im gesellschaftlichen, sittlichen Bund entstehen und gedeihen kann. Mit Anklang an Aristoteles Ceres'

Aufforderung

mag unerachtet ihrer

unterscheidet Schiller die Freiheit des Menschen von der eines Tieres und der eines Gottes, denn beide letzteren können auch in der Einsamkeit und ohne Gesetz frei sein. Doch der Mensch, in ihrer Mitte, Soll sich an den Menschen reihn, Und allein durch seine Sitte 18 Kann er frei und mächtig seyn.

Die Entstehung der sittlichen Gesellschaft ist der eigentliche Gegenstand dieses Bürgerliedes in doppeltem Sinne, in welchem einerseits das Bürgerliche im weiten Sinne des Zivilisierten und Gesetzlichen überhaupt besungen wird, und welches andererseits von den Bürgern selbst zur Feier ihres eigenen Werdensprozesses gesungen wird.19 Dieses Bürgerlied ist nun seinerseits so will es die Rahmenfiktion des Gedichts im ganzen

-

-

14 15 16 17 18

19

Schiller: NA 1, 282, Zeilen 129-132. Ebd., 426, 7-28; vgl. auch 427 f., Zeilen 61-64. Ebd., 429, Zeilen 107-112. Ebd., Zeilen 113-192. Ebd., 432, Zeilen 205-208; vgl. auch Zeilen 201-204. Schillers Darstellung des Eleusischen Kultes als ein Fest, das der Mensch zur eigenen Ehre feiert, weist verblüffende Parallelen zu Hegels Verständnis der antiken gel: GW 9, 376-388. Dazu ausführlich weiter unten in Teil III.

,Kunst-Religion'

auf.

Vgl.

He-

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

17

integraler Bestandteil des Festes der Ceres, eben des Eleusischen Festes, dessen mythologisch-geschichtsphilosophische Bedeutung durch es zugleich erschlossen und kundgetan werden soll. Die Bürger, die es singen, sind dieselben, die den Festakt der Eleusi20 sehen Mysterien begehen. Das Bürgerlied ist Gottesdienst und Situierung des Menschengeschlechts im kosmischen Naturgeschehen, Affirmation der eigenen Würde und menschheitsgeschichtliches Andenken zugleich. Das Lied ist selbstreferentiell und selbstauslegend. Fokus der nun in ihrem Gesamtverlauf geschilderten Hymne ist das menschheitsgeschichtliche Schlüsselereignis, welches den Umbruch vom Zustand der Wildheit zu dem der Zivilisation bewirkt, die Einführung des Ackerbaus. In der klassischen Mythologie ist es Ceres, die für diese Wende verantwortlich ist. Auf der Suche nach ihrer geraubten Tochter Proserpina wird die Göttin vom König Keleos in Eleusis freundlich aufgenommen, wo sie die (wiewohl unterbrochene) Wiedervereinigung mit ihrer Tochter feiert. Sie läßt sich dort einen Tempel errichten, gibt Triptolemos, dem Sohn des Königs, Weizen und beauftragt ihn, „den Ackerbau und zugleich ihren Kult überall zu verbreiten".21 In Schillers Behandlung des mythischen Stoffes empfindet die Göttin für die wilde Menschheit, die ihrer Gottebenbildlichkeit unangemessen lebt, Mitleid und ruft die Götter an, mit ihr den Menschen aus seinem Elend emporzuheben, „daß der

übrigen

Menschen werde".22 Bedingung und Mittel der Menschwerdung ist die Stiftung „ewigen Bundes" mit der „frommen Erde", des Menschen ,,natürliche[m] Grund"; aus ihm sollen die erste Gesetzestreue und Ordnungsvorstellungen hervorgehen, indem die ackerbauende Menschheit Naturregelmäßigkeiten zu erkennen und zu beachten lernt: Mensch

zum

eines

Ehre das Gesetzt der Zeiten Und der Monde heiigen Gang, Welche still gemessen schreiten Im melodischen Gesang.

Identifizierung der Bürger mit dem Sänger des Gedichts wird dadurch erreicht, daß die letzte Strophe die erste wieder aufnimmt und signifikant abwandelt (Schiller: NA 1, 432, 209-216). Zusammen mit den zwei vorausgegangenen Strophen machen die abgewandelten Verse die Identität eindeutig. Schiller: NA 2a, 654 f. Vgl. auch The Oxford Classical Dictionary, hg. v. N. G. L. Hammond/H. H. Scullard, Oxford et al. 1970, Art. „Demeter", 324. Für eine verbreitete Quelle aus der Zeit um 1800 siehe auch Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Darmstadt 1986. Art. „Ceres", 675-685. Nach den Herausgebern der Nationalausgabe ist anzunehmen, daß Schiller seine Anregungen aus der Fabelsammlung des Hyginus empfing. Dort (in der 147. Fabel) steht vor allem die Geschichte von Ceres und Triptolemos und dem mythischen Ursprung des Ackerbaus im Mittelpunkt. Die

21

22 23

24

Schiller: NA 1, 427, Zeilen 33^t9. Ebd., Zeilen 50 ff. Ebd., Zeilen 53-56.

18

Brady Bowman

Die erste Ernte bringt Ceres „Vater Zeus" als Opfer dar, der sein Wohlgefallen zu erkennen gibt, indem er seinen „gezackten Blitz" auf dem Altar einschlagen und darüber seinen „geschwinden Aar" schweben läßt.25 Ab dieser Stelle der Schillerschen Fabel geschehen in rascher Folge die bereits geschilderten zivilisatorischen Fortschritte. Weil Ceres sowohl im Zentrum der Eleusischen Mysterien steht, als auch die mythische Stifterin des Ackerbaus verkörpert, kann Schiller sein Eleusisches Fest als Feier einer spezifisch zivilisatorischen Wende der Menschheitsgeschichte darstellen. Ein Vergleich des Gedichts mit der Klage der Ceres wirft zusätzliches Licht auf Schillers anthropologische Deutung des Eleusischen Kultes. Beide Gedichte sind getragen von einem lyrischen Ich, wiewohl im Eleusischen Fest die Identität des Sängers erst durch ein raffiniertes poetisches Spiel enthüllt wird. Doch wie unterschiedlich verfaßt ist das jeweilige Ich! In der Klage der Ceres ist es die einsame Göttin selbst, die ihren Schmerz und ihre Lust zum Ausdruck bringt. Im Eleusischen Fest dagegen ist es ein kollektives Subjekt, welches das eigene triumphale Werden zu sich chorisch feiert. Schillers Selektion der mit Ceres assoziierten Mytheme fällt in den zwei Gedichten entsprechend unterschiedlich aus. Die Klage der Ceres fokussiert die Trauer und Verzweiflung über den Raub der Proserpina und konturiert diejenigen Aspekte des Mythos, die den agraren Zyklus von Frühling und Herbst, Saat und Ernte betreffen. Diese Dimension der CeresGestalt wird im Eleusischen Fest nahezu vollständig ausgeblendet. Statt dessen rückt hier die Triptolemos-Geschichte und die dadurch bezeichnete anthropologische Wende in den Vordergrund. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieser Unterschied in der Selektion als eine Komplementarität in der Sichtweise auf Ceres, die die Gedichte jeweils zur Geltung bringen. Die Klage der Ceres imaginiert eine Kommunikation von kosmischer Dimension zwischen dem Toten und dem Lebendigen. Das planetarische Leben selbst wird als Prozeß der Vermittlung und des Austausches zwischen einem Reich der Finsternis und einem Reich des Lichtes verstanden. Der Ackerbau wird ausdrücklich als Zeichensystem, als Sprache instituiert, um die entgegengesetzten Sphären in Verbindung zu setzen. Ceres erscheint somit als Figur der Vermittlung und der Vereinigung von Gegensätzen. Komplementär dazu verhält sich ihre Rolle im Eleusischen Fest als Figur des Umbruchs, des Ausgangs und des Übergangs von einer Sphäre in eine entgegengesetzte. Das kollektive lyrische Ich der Hymne besingt seine eigene Konstituierung durch den Ausgang aus dem Naturzustand. Zwar geschieht der Übergang, indem ein „ewger Bund" zwischen Menschengeschlecht und Erde gestiftet wird, in welchem sich die kosmischen Zyklen widerspiegeln, doch wird diese Dimension des Ackerbaus Ceres allein zugeordnet, indem ihre Rede an die Götter dargestellt wird.26 Die Funktion der Vereinigung, welche der Ackerbau in der Ceres-zentrierten Sichtweise innehat, vollzieht sich gleichsam hinter dem Rücken des anthropozentrischen KollektivIchs des Eleusischen Festes. Die anthropozentrische Sichtweise auf den Mythos, welche

Ebd., 428, Zeilen 73-104. Vgl. ebd., 427, Zeilen 49-56.

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

19

das zweite Gedicht beherrscht, ist ganz auf den Bruch und den Gegensatz abgestellt, der sich gleichsam unbewußt in eine kosmische Einheit einfügt. Trotz aller Unterschiedlichkeit eint beide Gedichte die unhinterfragte Kommunikabilität, die konstitutive Sprachlichkeit des Dargestellten. Die Kommunikation zwischen Ceres und Proserpina vollzieht sich in der Sprache der Natur, die für jeden, der zu fühlen versteht, lesbar sein soll. Das Bürgerlied, das Eleusische Fest, findet in einer uneingeschränkten Öffentlichkeit statt. Diese idealisierte Öffentlichkeit gehört gewissermaßen mit zur Klassizität von Schillers Position. Die eleusischen Mysterien verlieren in Schillers zivilisationsgeschichtlicher Deutung ihr Mysteriöses ganz und gar; sie werden zu einer auf Universalismus angelegten Selbstverständigung, die sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit im Medium einer allgemeinverständlichen Sprache vollzieht. Betrachtet man denselben Sachverhalt von einer anderen Seite, so heißt dies, daß Schiller in seiner Deutung des Ceres-Mythos und des Eleusischen Kultus ein wichtiges Element vollständig von der Darstellung ausschließt: das Gebot der Geheimhaltung der Mysterien durch die Initiierten. Hederich, dessen mythologisches Handbuch Schiller zweifellos gekannt hat, berichtet sogar von der „Verschwiegenheit", von der das Fest begleitet wird, „daß auch bey Lebensstrafe von dessen Geheimnissen nichts ausgeschwatzt werden durfte. [...] Man nannte es daher auch vorzüglich die Mysterien oder Geheimnisse In Schillers Deutung ist der esoterische Charakter gänzlich verschwunden. Das ,Eleusische Fest' wird von den ,Bürgern' in ganz und gar exoterischer Weise begangen als Volksfest. Wie wir sehen werden, bildet Hegels Deutung des Kultus in seinem Eleusis in diesem Punkt den genauen Gegensatz zu Schillers Darstellung.

[,..]."27

-

II. Ein Zufall mag es gewesen sein, daß Hegels Ode Eleusis im August des Jahres 1796 entstanden ist also just in dem Monat, in dem nach Benjamin Hederich das neuntägige Eleusische Fest im Altertum gefeiert wurde.28 Zufällig sind dagegen keinesfalls Stil und Adressat der in freien Rhythmen gehaltenen und Friedrich Hölderlin gewidmeten Dichtung des damals sechundzwanzigjährigen Hegel. Anders als die zu Strophen geordneten, gereimten Verse Schillers konnotieren Hegels freie Verse eine auf Pindar zurückgehende lyrische Tradition der Erhabenheit, Begeisterung, Regellosigkeit und Tiefe, die in Deutschland durch Klopstock, Goethe und in anderer Weise durch Herder wiederbelebt wurde.2 Auch Hölderlin war mit der Pindarischen Tradition aufs genaueste ver-

Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon (Anm. 21), 680 f. Ebd., 681 f.

Diese Konnotation der „dithyrambischen" Ode pindarischen Stils bestimmte durch Horaz' Lob des Pindar im IV. Buch der Oden maßgeblich die nachfolgende abendländische Rezeption. Siehe

Horaz, carm. 4,2.

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BRADY BOWMAN

Doch nicht nur in der äußeren Form ist Hegels Ode den Gedichten Schillers entgegengesetzt; auch seine Behandlung des mythisch-religionsgeschichtlichen Stoffes bildet einen augenfälligen Kontrast zu derjenigen Schillers. Die inhaltlichen Bestimmungen des Ceres-Mythos wie des Eleusischen Festes selbst treten vor Hegels dominierendem Interesse an dem Redeverbot gänzlich zurück. Gerade das eine Element des antiken Zusammenhangs, das Schiller vernachlässigt, gerät Hegel zum Wesen des Ganzen: das (bei Strafe des Lebens) Unaussprechliche. Dieses frühromantische Thema wird bereits im ersten Teil der Ode vorbereitet. Zu Beginn des Gedichts wird eine Abendstimmung bei Heraufkunft der Mondnacht beschworen, die sich bis in einzelne Elemente hinein wie eine Vorwegnahme von Hölderlins 1800 entstandener Elegie Brot und Wein liest.31 Wendepunkt der einleitenden Verse bildet die Erinnerung ,des alten Bundes' zwischen den Freunden, traut.

des Bundes, den kein Eid besigelte, der freyen Wahrheit nur zu leben, Frieden mit der Sazung, die Meinung und Empfindung regelt, nie nie einzugehn.

Die Bedeutung eines solchen Lebens nur „der freyen Wahrheit" wird erst zum Schluß des Gedichts in der Auslegung der Eleusischen Schweigepflicht greifbar. Der Deutung des Schweigegebots ist der größte Teil der Ode gewidmet. Der Ausgangspunkt für die Deutung ist die Erfahrung eines mystischen Zustands, dessen Schilderung Hegel nachträglich gestrichen hat. In einem Zustand der Selbstvergessenheit erfahrt der Dichter eine seine Individualität tilgende Einheit mit dem Absoluten: Der Sinn verliert sich in dem Anschaun, mein ich nannte schwindet, ich gebe mich dem unermeslichen dahin, ich bin in ihm alles, bin nur es.

was

Die Rede

der

Hingabe ans Unermeßliche erinnert stark (wie die Herausgeber des Textes bemerken) an Schellings Auseinandersetzung mit dem sogenannten ,Dogmatisvon

Hölderlins zweites Tübinger Magisterspecima aus dem Sommer des Jahres 1790 liefert den frühesten Beleg für seine ausführliche Beschäftigung mit der Pindarischen Tradition (siehe Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe, hg. v. D. E. Sattler, Bd. 15: Pindar, 9 f.) Daß sich die Freunde Hölderlin und Hegel darüber vor 1796 unterhalten haben, ist nicht zu beweisen, darf aber mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Für Hegels Frankfurter Zeit lassen sich Gespräche und gemeinsame Rezitationen der Pindarischen Oden jedoch belegen: siehe den Brief von Sinclair an Hegel vom 27. Juni 1806 in Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffrneister, Hamburg 1969, Bd. 1, 110. Hegel wird den freien Rhythmus bewußt gewählt haben. Vgl. Hölderlin: StA II, 1,90 f. Hegel: GW 1, 399, Zeilen 21 ff. Vgl. Hegels Brief an Hölderlin von 10. Juli 1794 in Briefe von und an Hegel (Anm. 30), 9, in dem Hegel ihre gemeinsame Losung „Reich Gottes" bekräftigt. Hegel: GW' 1, 400, Zeilen 2-5.

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

21

Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. Der Passus bei Schelling verdeutlicht in der Tat die Ambivalenz der beschriebenen Erfahrung. In kritischer Entgegensetzung gegen das Fichtesche Primat des Praktischen wird ein ästhetischer Spinozismus35 vorgestellt, der „nicht auf den Kampf, sondern auf Unterwerfung" gehe, „nicht auf gewaltsamen, sondern auf freiwilligen Untergang, auf stille Hingabe meiner selbst ans absolute Objekt [...]". Diese der „kämpfenden Selbstmacht" entgegengesetzte „Hingabe ans Unermeßliche" erscheint nach der einen Seite als Erfahrung der Selbstaufgabe und des Untergangs. Sie hat jedoch zugleich eine andere Seite: In der ich-losen Hingabe überkommt den Menschen eine „stille Anschauung jener Ruhe im höchsten Moment des Lebens. Er gibt sich der jugendlichen Welt hin, um nur überhaupt seinen Durst nach Leben und Daseyn zu stillen".37 Der ästhetische Spinozismus Schellings bildet den gedanklichen Hintergrund für Hegels starke Abwertung des Verstandes in den folgenden Versen. Der Verstand, hier als ,Gedanke' und ,Sinn' bezeichnet, widerstreitet der Erfahrung von Ich- und der Gestaltlosigkeit („staunend fast er dieses Anschauns Tiefe nicht" ). Die Einbildungskraft allein spielt bei dem entstehenden Gegensatz zwischen Verstand und absoluter Anschaumus' im ersten der

ung eine vermittelnde Rolle, indem sie dem Unermeßlichen bestimmte Gestalt verleiht. Mit diesem expliziten Ausweis des Folgenden als Gestaltungen der Einbildungskraft führt Hegel nun eine Gruppe von ,,erhabne[n] ein, unter ihnen besonders die Ceres. Die Apostrophe an die (abwesende) Göttin füllt alle restlichen Verse der Ode. In ihrem Verlauf wird deutlich, daß die Apostrophe die Auslegung der Erfahrung beinhaltet, die Hegel in den später gestrichenen Zeilen 2 bis 10 beschrieben hat. Das selbstvergessene Anschauen des Absoluten wird als die eigentliche Parusie der Göttin begriffen, während die Unfähigkeit des Verstandes, die mystische Erfahrung zu fassen, zum Anlaß genommen wird, Sprache und Reflexion drastisch abzuwerten. Hegel kleidet seine Misologie in eine Begründung des Schweigegebots ein, welches der Eleusische ,Priester' und ,Sohn' der Göttin sich selbst und den Initiierten auferlegt. Hierbei gilt Hegels Interesse einzig dem Gegensatz von Reflexion und Anschauung, so daß er die Mysterien ganz und gar nur von der Schweigepflicht der Epoptai, wie im Altertum die Initiierten

Geister[n]"39

Hegel: GW 1, 642. Die Herausgeber des Textes verweisen auf Schellings Rede von der „stillen Hingabe ans Unermeßliche" im ersten der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, in F. W. J.Schelling: Sämtliche Werke (=SW), Stuttgart-Augsburg, Bd 1, 208) Zum Zusammenhang von Ästhetik und Spinozismus bei Schelling Birgit Sandkaulen: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen 1990. Neuerdings auch dies.: „Kunst und Philosophie bei Schelling. Eine Tragödie", in System als Wirklichkeit. 200 Jahre Schellings .System des transzendentalen Idealismus', hg. v. Christian Danz u. a., Würzburg 2001, 97-111, bes. 101 ff. Schelling: SW, Bd 1, 208. Ebd., 208 f. Hegel: GW 1,400, Zeile 7 f. Ebd., Zeile 11.

Brady Bowman

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genannt wurden, begreift und die Gestalt der Ceres

nur

als nicht weiter bestimmte Per-

sonifizierung des unaussprechlich Erschauten funktionalisiert.40 Die Klage, die auf die im Irrealis gehaltenen Verse folgt, ist nur oberflächlich an Schillers berüchtigte Götter Griechenlands angelehnt. Die ,Entheiligung', .Entweihung' der Welt, die der Dichter beklagt, manifestieren sich in Hegels Ode vor allem durch das Verstummen des Göttlichen.41 Die „Weisheit deiner Priester schweigt", heißt es; „kein Ton der Heil'gen Weihn hat sich zu uns gerettet". Das, was Max Weber später als Krise der ,Entzauberung' durch Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozesse beschreiben wird, gestaltet der junge Hegel als Sprachkrise: Die Anschauung des Göttlichen ist nicht (mehr) sprachlich mitteilbar. Doch zugleich ist klar, daß Hegel den Gegensatz zwischen unmittelbarem Erfassen des Absoluten und dessen verständlicher Reflexion und Vermittlung an Dritte nicht nur und nicht in erster Linie als historisch geworden versteht. Er begründet den Gegensatz vielmehr in der Natur des Verstandes (des ,Gedankens'), dem die Anschauung (die ,Seele') inkommensurabel ist: Schon der Gedanke fast die Seele nicht, die ausser Zeit und Raum in Ahndung der Unendlichkeit versunken sich vergist, und wieder zum Bewußtseyn nun erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte, sprach' er mit Engelzungen, fühlt der Worte Armuth ¡hm graut das heilige so klein gedacht, durch sie so klein gemacht zu haben, daß die Red' ihm Sünde deucht, 43 und daß er bebend sich den Mund verschliest.

Die Abwertung der Sprache ist also lediglich Folge eines tiefer liegenden Gegensatzes zwischen dem ich-haften, durch Selbsterhaltung bestimmten ,Gedanken', ,Sinn' oder ,Bewußtseyn' einerseits und dem mystisch erfühlten Leben des Unendlichen andererseits. Aus diesem Gegensatz von Endlichem und Unendlichem, Leben und Entgegensetzung, um den die Ode organisiert ist, fließt eine Sprachkritik, die für Hegel ihre Gültigkeit bis in die Differenzschrift hinein bewahren wird: Was in Worten gefaßt wird, ist5 schon zu „Staub und Asche"4 geworden; unter solchem „Moder und entseeltem" richten sich jedoch die Schulen und Systeme ein; sie begnügen sich mit bloßen Zeichen ohne beseelendes Leben, denn ohne den „hohen Sinn" bleiben die Gelehrten die „ewigtodten".46 „Neugierige" Forscher und die Philosophen, die die Suche nach der Weisheit mehr lieben als die Weisheit selbst, werden die Weisheit der Ceres nie „meistern", heißt

Vgl. ebd., Zeilen 16-20. Vgl. ebd., Zeilen 24 ff.

Ebd., Zeilen 28 f. Ebd., 401, Zeilen 11-18. Ebd., Zeile 3. Ebd., 400, Zeile 5. Ebd., 401, Zeilen 2 und 6. Man vergleiche Hegels Kritik am .systematischen Prinzip' und seine These von der Unmöglichkeit, das Absolute in einem System auszudrücken, in der Vorerinnerung' der „Differenzschrift" in GW4, 5-34, bes. 20-23, 30-33). -

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

23

„graben" bloß „nach Worten". Denn der Priester der Ceres habe die Mysterien nie in „trockne Zeichen" festgehalten; „der hohen Lehren Fülle des unaussprechlichen Gefühls Tiefe" sei ihm „viel zu heilig" gewesen, als daß er seine Lehren niedergeschrieben und veröffentlicht hätte.48 Hegels nähere Begründung des Redeverbots ist interessant. Als höherer Geist erkennt der Priester der Ceres die Inkommensurabilität von Anschauung und Verstand. Das Absolute läßt sich nicht diskursivieren und darum auch nicht kommunizieren. Die Beschränktheit des Verstandes, des „Bewußtseyns", bewirkt, daß selbst die vollkommenste Sprache („Engelzungen") unfähig ist, die Erfahrung zu artikulieren und anderen zu bezeugen. Der Mystagog verbietet sich aufgrund dieser Einsicht, über seine mystische Erfahrung zu sprechen. Indes seien die „ärmern Geister"49 dieser Einsicht nicht fähig. Diesen Initiierten muß darum von außen das Verbot auferlegt werden. Hierfür bietet Hegel mehrere Gründe. Einmal kundgetan, was „in heiiger Nacht gesehn, gehört, gefühlt" worden ist, würde erstens der „hohle Wörterkram", zu dem der Inhalt der Anschauung verkommen müßte, den wahren Priester „in seiner Andacht" stören.50 Zweitens würde das dergestalt Veröffentlichte dem Verkauf durch die Sophisten (d. h. die Philosophen von Profession) und der Heuchelei ausgesetzt. Es würde zum Gegenstand des geistlosen Auswendiglernens durch Knaben verkommen. Am Ende wäre das lebendig Erschaute von seinem wahren Quell in der unmittelbaren, gegenwärtigen Anschauung ganz getrennt (es soll ja deshalb nicht einmal dem Gedächtnis anvertraut werden!52) und behielte nur noch ein Schattendasein „im Widerhall von fremden" d. h. es; sie

uneingeweihten

-

„Zungen".53

-

Der Dichter beschließt seine Sprachkritik, indem er in die Gegenwart von ,,diese[r] Nacht" zurückkehrt. Er setzt seine Apostrophe an die Göttin dabei fort und unterscheidet zwei Formen, in denen sie sich ihm offenbart. Einerseits „ahnt" sie der Dichter im „Leben" und in den „Thaten" ihrer Söhne, der Priester.55 Dieses Leben wird zwar nicht näher bestimmt, aber es liegt nahe, es mit jenem „alten Bund" der Freunde zu identifizieren, „der freyen Wahrheit nur zu leben". Stimmt der Verweis auf Schellings Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, so ist das in der Anschauung des Unendlichen erfahrene Leben selbst nur als Leben und im Medium des eigenen Lebens überhaupt interpretierbar und kommunizierbar. Andererseits aber „vernimmt"56 der Dichter die Göttin selbst auf direkte Weise in solchen mystischen Erfahrungen des Einsseins mit GW 1,400 f. Ebd., 401, Zeilen 8 ff. Ebd., Zeile 20. Ebd., Zeile 21 ff. Ebd., Zeilen 26-30. Vgl. ebd., 401, Zeile 25 f. Ebd., Zeile 31 f. Hegel: GW 1,402, Zeile 4. Ebd., Zeile 5 f. Ebd., Zeile 4.

Hegel:

Brady Bowman

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wie Hegel sie in der ersten Fassung der Ode geschildert und später gestrichen hat. Diese Erfahrung ist es, die man unter dem Terminus „Glauben"5 zu verstehen hat. Die Gottheit der Eleusischen Mysterien wird also schließlich mit dem mystisch erfahrenen, ,geglaubten' Sein identifiziert, das, „wenn alles untergeht, nicht wankt".58 In der Inkommunikabilität des reinen, selbstlosen und in diesem Sinn ,spinozistischen' Seins liegt der letzte Grund der Sprachkritik des £7ews7's-Gedichts.

dem unendlichen

Leben,

III. unbefestigte Taumel des Gottes muß sich zum Gegenstande beruhigen, und die Begeisterung, die nicht zum Bewußtseyn kam, ein Werk hervorbringen [...]. Ein solcher Cultus ist das Fest, das der Mensch zu seiner eignen Ehre sich gibt [...]. Dieser

Etwa ein Jahrzehnt trennt das Gedicht Eleusis von Hegels Werk der Reife, der Phänomenologie des Geistes. Ohne daß die dazwischenliegenden Schriften und Entwürfe Spuren einer Beschäftigung mit den Eleusischen Mysterien aufwiesen, erscheint das Motiv hier erneut und zwar an exponierter Stelle, nämlich im ersten Kapitel des Werkes, der ,Sinnlichen Gewißheit'.61 Doch finden wir hier das Eleusis-Motiv nicht nur in einem völlig veränderten gedanklichen Kontext, sondern Hegels Bewertung des Mysterienkultes scheint sich umgekehrt zu haben: Waren sie ihm ehedem Chiffre des für den Verstand unbegreiflichen und der Sprache unzugänglichen Lebens des Absoluten, so gelten sie Hegel nunmehr als eine „unterste Schule der Weisheit", als „offenbare Mysterien" (das hieße gar keine), welche „die ganze Natur" unterschiedslos feiert und in die sogar die fressenden Tiere am tiefsten eingeweiht zu sein sich erweisen.62 Wie ist diese Änderung in Hegels Urteil zu deuten? Ist sie tatsächlich so drastisch, wie sie scheint?

Ebd., Zeile 7. Ebd., Zeile 8. Hans-Jürgen Gawoll betrachtet Hegels frühe Konzeption eines „lebensphilosophi-

schen Monismus" im Kontext seiner ersten Rezeption von Jacobis Spinoza-Buch und stellt den Zusammenhang zu Hegels Überlegungen in Glauben und Seyn her; siehe seinen Aufsatz „Von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittlung der Substanz. Hegels ambivalentes Verhältnis zu Jacobi", in Hegel-Studien 33 (1998), 133-151, bes. 135 ff. Hegel: GW9, 387. In inhaltlicher Hinsicht bildet die Eintragung über das Johannesfeuer in Hegels Wastebook (Hegel: TWA 2, 563 f.) eine gewisse Ausnahme, indem Hegel dort der ernsten Freude am Genuß der Naturelemente, wie sie für die Griechen charakteristisch gewesen sei, eine religiöse Bedeutung zuspricht, die sich auch in der späteren Deutung der Eleusischen Mysterien wiederfindet. Die Eintragung hält allerdings nur eine Tendenz fest; Hegel spezifiziert seinen Gedanken nicht auf einzelne religiöse Bräuche unter den Griechen. Den Hinweis auf diese Stelle im Wastebook verdanke ich Ralf Beuthan. Hegel:GF9, 63-70, hier bes. 69. Siehe ebd., 69. -

-

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

25

Hegel adressiert seinen Verweis auf die Mysterien an diejenigen, wie es heißt, welche die „Wahrheit und Gewißheit der Realität der sinnlichen Gegenstände Gemeint sind in erster Linie die Philosophen Gottlob Ernst Schulze und Wilhelm Traugott Krug, wie der Kontext erkennen läßt.64 Beide vertreten Standpunkte, die in unterschiedlicher Weise die Ontologie und die Erkenntnisauffassung der alltäglichen Erfahrung gegen revisionäre Tendenzen der rationalistischen und insbesondere der transzendentalidealistischen Philosophie zu verteidigen bzw. zu rehabilitieren bestrebt sind. Unter Hinweis auf vermeintliche oder wirkliche Inkohärenzen, Widersprüche und ungerechtfertigte Annahmen in den Entwürfen rationalistischer und idealistischer Philosophen suchen Schulze und Krug die Einheit von empirischer Wissenschaft und gemeinem Menschenverstand zu erweisen und eine Ontologie sinnlich direkt erfahrbarer, logisch atomarer, substantiell bestehender Einzeldinge als einzig gangbare philosophische Alternative zu etablieren. Hegels Sinnliche Gewißheit' nimmt dagegen Partei für eine revisionäre Haltung gegenüber der Alltagserfahrung und deren realistische Ausle5 gung durch den sog. gemeinen Verstand. Diesen Standpunkt, für den die Gegenstände und Ereignisse der alltäglichen Erfahrung kein substantielles Sein an sich beanspruchen können, sondern nur abkünftige Modi einer von ihnen unterschiedenen Substanz und darum an sich nichtig sind, versucht Hegel in der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung selbst zu verankern. Recht verstanden, geht nach Hegel, „das natürliche Bewußtseyn" (und das heißt das durch keine „Philosophie des gemeinen Verstands" verfälschte Bewußtsein) „auch zu diesem Resultate, was an ihr das Wahre ist, immer selbst fort".66 Die These der Nichtigkeit an sich der einzelnen Gegenstände des unmittelbaren sinnlichen Bewußtseins bildet den unmittelbaren Kontext für Hegels Bezugnahme auf die

behaupten".63

,

ebd. Hinter dem polemisch angespielten Skeptizismus steht G. E. Schulze, der zuerst mit seinem anonymen Aenesidemus (1792) eine damals vielbeachtete Attacke gegen die Transzendentalphilosophie geführt hatte. 1801 erschien aus seiner Feder eine zweibändige Kritik der theoretischen Philosophie, die Hegel im Kritischen Journal scharf kritisierte (Hegel: GW4, 197-238). An der betreffenden Stelle der .Sinnlichen Gewißheit' ist Krug ebenfalls präsent, aber (wie Schulze) allerdings nur in metonymischer Gestalt. Krug hatte Schelling 1801 herausgefordert, zum Beweis der Gültigkeit seines Idealismus Krugs Schreibfeder zu deduzieren (Krug, Briefe über den neuesten Idealismus, Leipzig 1801, 74; vgl. auch 31-33). Hegel antwortet im ersten Kapitel der Phänomenologie auf die Herausforderung mit Verweis auf ein „dieses Stück Papier" (Hegel: GW 9, 70), welches als nicht an sich Seiendes ohne Wesen, darum undefinierbar und folglich nicht deduktionsfähig ist. Zum systematischen Verständnis des Hintergrunds der Auseinandersetzung mit Schulze siehe Dietmar Heidemann: „Hegels Realismus-Kritik", in Philosophisches Jahrbuch, Jg. 109, 2002 (1. Halbbd.), 129-147. Zur ursprünglichen Auseinandersetzung zwischen Krug, Schelling und Hegel siehe Brady Bowman: „Die Schreibfeder-Kontroverse. Zu Hegels Auseinandersetzung mit W. T. Krug im .Kritischen Journal der Philosophie' und ihrem Hintergrund bei Schelling", in Gegen das unphilosophische Unwesen. Das Kritische Journal der Philosophie von Schelling und Hegel, (= Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 7 [2002]), hg. v. Klaus Vieweg, 131-146. Hegel: 0(^9,68 f.

Vgl.



Brady Bowman

26

„alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus." Das „Geheimniß des Es-

des Brodes und des Trinkens des Weines"68 besteht für den Hegel der Phänomenologie nicht in der mystischen Schau dessen, was wenn alles untergeht, nicht wankt, wie es zum Schluß des is/ewsw-Gedichts hieß; im Gegenteil: Es besteht in der „Verzweiflung" am „Sein der sinnlichen Dinge" im Sinne einer „völligen Gewißheit ihrer Nichtigkeit".69 Und zwar erwächst diese Gewißheit nicht allein aus theoretischer Einsicht, sondern vor allem aus eigener Handlung. Der in diese offenbaren Geheimnisse Eingeweihte „vollbringt in ihnen [sc. den sinnlichen Dingen] teils selbst ihre Nichtigkeit, theils sieht er sie vollbringen". Das handelnde Vollbringen der Nichtigkeit an sich, gewissermaßen ein performatives Aufzeigen der Wesenlosigkeit des Aufgezeigten, assoziiert Hegel in Gestalt des Essens und Trinkens mit dem Verhalten der Tiere; diese „bleiben nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seyenden stehen, sondern [...] langen sie ohne weiteres zu, und zehren sie auf. Dieser Prozeß der Selbstvernichtung kennzeichnet indes „die ganze Natur", die in unaufhörlichem Wechsel sich selber setzt und im selben Zuge auch wieder aufhebt. Worin liegt jedoch der Unterschied zu jenem reinen Sein, das, wenn alles wankt, nicht untergeht? Ist die Einsicht in den unaufhörlichen Wechsel der sinnlichen Dinge, welche den Gehalt der Eleusischen Mysterien nach Auskunft Hegels in der .Sinnlichen Gewißheit' ausmacht, wirklich eine andere als die mystische Schau des EleusisGedichts? Wir werden sehen, daß die neue Akzentuierung des handelnden Vollbringens der Nichtigkeit tatsächlich eine signifikante systematische Verschiebung in Hegels Verständnis des Mysterienkultes signalisiert. Doch auch die geradezu als naiv zu bezeichnende Offenbarkeit und Verständlichkeit des Naturprozesses macht ihn in einer Weise lesbar, die die „offenbaren Mysterien" deutlich von Hegels früherer Darstellung des kultischen Dienstes unterscheidet. Dieser Wandel in Hegels Deutung der Mysterien bringt ihn in die Nähe Schillers, von dessen geschichtsphilosophischer und anthropologischer Interpretation des Eleusischen Festes Hegels frühere Auffassung so eklatant abwichen war. Bei Schiller wird der Naturprozeß als Vorgang der Kommunikation, der sprachlich oder quasi-sprachlich vermittelten Vereinigung zweier entgegengesetzter Sphären imaginiert. Dieser mythologisierte Naturprozeß der communio vollzieht sich in aller Offenheit vor den Augen der ihn bezeugenden Menschen. Als komplementär zur Klage der Ceres erschien das Bild des Eleusischen Festes. Hier ist das Fest der Ceres ein Fest der sens

Ebd., 69. Ebd. Zu Hegels

idiosynkratischem Gebrauch des Wortes Verzweiflung' im Sinne einer Gewißheit der Nichtigkeit vgl. seine Erläuterung des Begriffs eines „sich vollbringenden Skeptizismus" in der Einleitung (Ebd., 56). Ebd., 69. Ebd. Ebd.

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

27

sittlichen Gemeinschaft als solcher, welches die ,Bürger' feiern, indem sie sich selber feiern. In der veränderten Deutung der Mysterien, welche Hegel in der Phänomenologie präsentiert, sind diese beiden Aspekte Naturauffassung und das Bewußtsein sittlicher Allgemeinheit vereint. Die „Kunst-Religion", unter der Hegel den Mysterienkultus nunmehr begreift, ist eindeutig dem „sittlichen Geist" zugeordnet, dem „freyen Volk", wie er schreibt, „worin die Sitte die Substanz aller ausmacht".73 Kunst-Religion ist sie indes aufgrund des spezifischen Naturverhältnisses, das sie sich in der Opferhandlung gibt. Betrachten wir den Zusammenhang dieser beiden Aspekte, so können wir erkennen, daß Hegels revidiertes Urteil der Mysterien der Ceres (und des Bacchus) als „unterster Schule der Weisheit" nicht in erster Linie eine Abwertung bedeutet, sondern vielmehr auf einer Umwertung des zugrundeliegenden mythisch-religiösen Zusammenhangs beruht. Im Einklang mit der ontologischen Pointe des ersten Kapitels der Phänomenologie zielt auch die neue Deutung des Mysterienkultes auf die (bewußte) Aufhebung des an sich Unwesentlichen. Die ,Aufhebung" verwirklicht sich nach Hegel in der Handlung des Opferns. Für das „wirkliche Bewußtseyn", heißt es an betreffender Stelle, stellt sich das Wesen als „wirkliche Natur" dar. Diese gehöre dem Bewußtsein -

-

als Besitz und Eigenthum und gilt als das nichtans/cAseyende Daseyn; anderntheils ist sie eigene unmittelbare Wirklichkeit und Einzelnheit, die von ihm ebenso als Nichtwesen betrachtet und aufgehoben wird. Zugleich aber hat für sein reines Bewußtseyn jene äussere Natur die entgegengesetzte Bedeutung, nemlich das ansichseyende Wesen zu seyn, gegen welches das Selbst seine Unwesentlichkeit aufopfert, wie es umgekehrt die unwesentliche Seite der Natur sich selbst

[...]

seine

-

aufopfert. Aufschlußreich an dieser Deutung der Opferhandlung ist ihre Doppelseitigkeit. In ein und demselben Zug so Hegels Darstellung wird das allgemeine Wesen zur Wirklichkeit vereinzelt und das geopferte, wirkliche Einzelne in die Allgemeinheit erhoben. Solche Identifizierung des Allgemeinen (also des ,Seins') mit der zufälligen einzelnen Gestalt dieses Hauses, Baums usw. ist natürlich das Thema der ,Sinnlichen Gewißheit', wo die Identifizierung durch Einsicht in das gleichgültige Vergehen des sinnlich Einzelnen zustande kommt. Jedoch anders als im Falle der ,Sinnlichen Gewißheit' hat die Doppelseitigkeit der Opferhandlung im Kultus zugleich die Bedeutung des lebendigen Selbstgenusses. Deshalb kann Hegel die Mysterien der Ceres und des Bacchus der Gestalt der sinnlichen Gewißheit als die tiefere, fortgeschrittenere Einsicht in die Natur der sinnlichen Dinge entgegenhalten. Diese positive Bedeutung der Mysterien gilt es nun in mehreren Stufen zu verdeutlichen. -

-

Ebd., 376. Ebd., 383. Ebd.

Vgl. ebd. Die Phänomenologie des Geistes bildet in Hinsicht auf Hegels religionsphilosophisches Denken einen Wendepunkt. Die Auffassung des Mysterienkultes, die er dort vertritt, modifiziert er im

Brady Bowman

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Zunächst eine Reihe von Identifizierungen, die Hegel entweder explizit vornimmt oder durch die Stellung im Aufbau der Phänomenologie nahelegt. Im Gegensatz zur allgemeinen anorganischen Natur, an der es teilnimmt und von dem es sich zugleich losringt, ist das Lebendige zunächst als tierisches Dasein unmittelbar für sich ein Sein, das in sich unterschieden ist. Bereits zum Schluß des Bewußtseinsabschnitts der Phänomenologie, im Kapitel ,Kraft und Verstand', identifiziert Hegel das Unterschiedensein an sich selbst mit Leben, dessen erste Erscheinungsform die Begierde ist.78 Die Begierde ist im Aufbau der Phänomenologie das praktische Analogon der theoretischen Gestalt der sinnlichen Gewißheit. Folgt man den religionsphilosophischen Vorlesungen, so hat das lebendige Tier wie die Gestalt der Sinnlichen Gewißheit' „einen nur beschränkten Inhalt, ist nur in einzelne Zustände versenkt. Die Einfachheit, zu der diese Bestimmtheit zurückgenommen ist, ist ein Beschränktes und nur formell, und der Inhalt ist dieser seiner Form nicht Die Form, von der die Rede ist und die aufgrund der Unangemessenheit ihres Inhalts hier nur formell auftritt, spezifiziert Hegel als „Unendlichkeit des freyen Daseyns" oder „absolute Reflexion".80 Als Lebendiges überhaupt ist absolute Reflexion „Subjectivität, welche gegen die unmittelbare Bestimtheit reagirt und sie identisch mit sich setzt in der Empfindung aber auf eine 1 Weise, so daß die Empfindung des Thieres nur da ist in einem bestimmten Inhalt [...]". Wie das nur theoretische Bewußtsein der sinnlichen Gewißheit, ist also auch das Tier nicht daraus herausgekommen". Anders „ganz nur versetzt in einzelnen Zustand als die der sinnlichen Gewißheit enthält die animalische jedoch Bewußtseinsgestalt Begierde ein proto-praktisches Moment im Verhalten gegenüber ihrem einzelnen, bestimmten Inhalt: Das Lebendige negiert ihn und in der Negation genießt es ihn. Die sinnliche Gewißheit sieht zwar die Nichtigkeit der nur vergehenden einzelnen Elemente des allgemeinen Naturprozesses, die im unaufhörlichen Wechsel der bestimmten Inhalte sich vollbringt; sie nimmt jedoch nicht aktiv teil, indem sie selbst diese Nichtigkeit praktisch vollbringen und das Sein des Allgemeinen für das Bewußtsein im Genuß erfahren würde. Das tierische Begehren (der appetitus) steht für ein seiner selbst noch nicht bewußtes Leben. Die ihrer selbst bewußt gewordene Begierde kehrt jedoch im geistigen Leben im Mysterienkultus wieder. Hier behält der Opfernde „das Nutzbare seinem Genüsse auf. Dieser Genuß ist die negative Macht, welche das Wesen sowie die Einzelnheit aufhebt, -

-

,

angemessen".79

-

-

-

79 80 81

82

Kern auch später nicht, so daß die Vorlesungen über die Philosophie der Religion, die Hegel in seiner Berliner Zeit regelmäßig gehalten hat, mit Gewinn herangezogen werden dürfen. Siehe Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Anm. 7). Siehe Hegel: GW 9, 99 („Diese einfache Unendlichkeit, oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens [...]") und 104. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Anm. 7), 55 Fn. Hegel: GIF 17, 129. Ebd. Ebd.

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

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und zugleich ist er die positive Wirklichkeit, worin das gegenständliche Daseyn des Wesens in selbstbewußtes verwandelt [...] hat".83 Die kultische Bedeutung des Genusses des Geopferten durch den Opfernden hebt Hegel immer wieder hervor. Erst in der Frucht, schreibt er, gewinne die „selbstlose" Natur die Stufe, worin sie sich selbst zubereitend und verdaut, sich dem selbstischen Leben darbietet; sie erreicht in der Nützlichkeit, gegessen und getrunken werden zu können, ihre höchste Vollkommenheit [...].

Entscheidend an der Opferhandlung der Kunst-Religion ist für Hegel, daß der an sich selbstlose Naturprozeß in sich erst zurückzulaufen beginnt, indem er sich dem Genuß durch das selbstische Leben darbietet und darin seinen Zweck erhält. Außerhalb dieser Beziehung zum Selbst bildet der Naturprozeß bloß die endlose Reihe an sich zufälliger Inhalte, die sich an sich selbst verlaufen. In diesem Sinn beschreibt Hegel das Essen und Trinken der Naturgaben im Kultus als eine „höhere Ehre",85 die der Mensch den Natur-

dingen antue. Diese Naturdinge sind ohne Noth es ist ihre Inferiorität, keine Noth zu haben sie verfaulen, vertrocknen ohne dieselbe diese Gaben Naturdinge haben es dem Menschen zu danken daß etwas aus ihnen wird. -

-

-

-

Not leiden zu können, setzt Selbstsein voraus; darum ist der opfernde und genießende Mensch in Hegels Bild des Kultus den Naturdingen superior, und darum ist für ihn auch der Kultus selbst zu nennen [...]. Der Cultus des Bacchus, Ceres ist Besitz, Genuß des Brods und Weins, das Verzehren derselben die unmittelbare Gewährung selbst",87 in welcher „der Gedanke, das Wesentliche, Substantielle seines concreten Lebens erfaßt [...] nicht 88 dumpf m die empirische Einzelnheit des Lebens versenkt und zerstreut bleibt".

„kein Dienst im eigentlichen Sinne

-

-

Es erhellt aus dieser Deutung des Mysterienkultes von selbst, daß es nicht der Naturprozeß als solcher ist, der dort gefeiert wird, erreicht dieser doch in Hegels Sicht erst in im Besitz und Genuß durch den Menschen Vollkommenheit. Zwar ist der Geist der Mysterien der Ceres und des Bacchus „nur der unmittelbare Geist, der Geist der Natur". Damit hängt zusammen, daß Hegel auch später darauf beharrt, der Inhalt der Mysterien seien „Vorstellungen von der allgemeinen Umwandlung in der Natur und von der all„nur in gemeinen Lebendigkeit" und ihre „sinnliche [n] Gebräuche und Darstellungen" ° Symbolen der allgemeinen Operationen der Natur" bestünden. hätten. Doch die allgemeine Umwandlung gewinnt für Hegel ihre Bedeutung in der Erhebung des Men-

Hegel:GW9, 384. Ebd., 386.

Hegel: GW 17,

145.

Ebd.

Ebd., 147. Ebd., 148. Hegel: GW9, 387. Hegel: TWA 12, 303.

30

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sehen über die Natur als ihr eigentliches Wesen, so daß er von dem Kultus schließlich sagen kann, er sei „das Fest, das der Mensch zu seiner eignen Ehre sich gibt". In diesem Sinne erläutert Hegel die Mysterien mehrfach als ein Gedenken der Bewußtwerdung der Substanz,92 die mit dem Zurücktreten der Natur durch die Entstehung von Ackerbau, Recht, Eigentum und Ehe einhergeht; das Eleusische Fest erscheint ihm nun auch als Feier des Ursprungs des sittlichen Lebens überhaupt. Aus diesen Beobachtungen wird deutlich, daß und wie sich Hegel einer Auffassung der Eleusischen Mysterien nähert, die derjenigen Schillers nicht nur sehr ähnlich ist, sondern sie in Hinsicht auf Integration der einzelnen Aspekte noch überbietet. Erschienen bei Schiller Vereinigung und Umbruch als verschiedene, wenngleich komplementäre Aspekte der mythischen Gestalt der Ceres, so finden wir bei Hegel den Übergang von der bloß natürlichen Begierde, mit der das Tier am allgemeinen Naturprozeß teilnimmt, zur selbstbewußten Begierde des Kultus, in dem sich der Mensch über sein natürliches Dasein souverän erhebt, um es zu genießen, geradezu als Bedingung, unter der allein die Natur zu sich selbst kommen und mehr sein kann als nur ein gestaltloses Sichverlaufen. Im Bewußtsein dieses Zusammenhangs, welches nach Hegels religionsgeschichtlichem Verständnis erst im griechischen Kultus zum Ausdruck kommt, ist jene Allgemeinheit erst verbürgt, welche das hervorragende Merkmal von Schillers Behandlung des Stoffes gewesen ist.

IV. In diesem Genüsse ist also jenes aufgehende Lichtwesen verrathen, was es ist; er ist das Mysterium desselben. Denn das Mystische ist nicht Verborgenheit eines Geheimnisses oder Unwissenheit, sondern besteht darin, daß das Selbst sich mit dem Wesen Eins weiß, und dieses 94 also geoffenbart ist. Nur das Selbst ist sich offenbar [...].

Nähert sich der reife Hegel einem klassischen Verständnis des Eleusischen Festes, wie wir es bei Schiller finden, so setzt er sich damit zugleich in eklatanten Widerspruch zu seiner eigenen früheren Auffassung im Eleusis-Gedicht. 1796 fokussierte Hegel ausschließlich die Geheimhaltungspflicht, die den mystisch Initiierten auferlegt wurde. Das Verbot, die Geheimnisse zu veröffentlichen, begründete Hegel aus der Inkommensurabilität von Bewußtsein (und der ihm zugehörigen Sprache) und der selbstlosen Anschauung des Absoluten, die den Kern des Mysteriums ausmachte. Seit der Phänomenologie ist dagegen eine stärker am Inhalt der Mysterien ausgerichtete Beschäftigung zu konstatieren. Mit der inhaltlichen Ausrichtung der Interpretation geht eine markante Veränderung in Hegels Einschätzung der Mysterien einher. Sie gelten ihm fortan nur als

Hegel: Gif 9, 387. Vgl. ebd. Vgl. Hegel: GW 17, Hegel: GW9, 386.

130

f., 152 f, 156 sowie ders.: TWA 12, 280.

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,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

eine „unterste Schule der Weisheit"; das „Vorurteil tiefer Weisheit" weist er zurück und erklärt die Mysterien für einen archaischen Rest, der sich aus der Naturreligion der Anfange griechischer Kultur hinüberrettete.96 Pries Hegel 1796 in Gestalt der Ceres die Gottheit, die, „wenn auch alles untergeht, nicht wankt", so verfallt diese monistische, ja in der Tendenz monotheistische Ausdeutung in den religionsphilosophischen Vorlesungen dem Verdikt der Absurdität. Auch das Sprachverbot deutet Hegel in völlig neuer Weise. Aus Sicht des reifen Hegel resultiert es nicht aus Einsicht in eine etwaige Inkommensurabilität von Reflexion und Anschauung und die darin gründende Inkommunikabilität des Absoluten. Seine reife Erklärung beruht vielmehr auf einem Konzept der Tabuisierung avant la lettre: der unmittelbare Inhalt der Mysterien sei für sich nichts Verborgenes und habe nur dadurch den Charakter des Heiligen erlangen können, „daß diese Anschauungen und Inhalt nicht in den Kreis des gewöhnlichen Daseyns und Bewußtseyns und seines Spiels, Reflectirens gezogen werden".98 Er betont, daß „[ajile athenischen Bürger eingeweyht" gewesen seien, und macht darauf aufmerksam, daß es hier (entgegen der Exklusivität des Geheimnisses im eigentlichen Wortsinn) um „ein Gewußtes von Allen aber als geheim behandeltes" geht, „wie im täglichen Leben umgekehrt zwischen Bekannten und allen Menschen es Dinge, Zustände gibt bekannt aber wovon man nicht spricht". Der Gegensatz zur Auffassung des £7ews7's-Gedichts könnte größer nicht sein. Was dort als mystisches Vorrecht des starken, priesterlichen Geistes imaginiert wurde, assimiliert Hegel nunmehr den allbekannten, aber mit Tabu belegten natürlichen Verrichtungen des Alltags. Daß die frühe Sprachkritik hiermit ihres Fundaments beraubt ist, erhellt von selbst. Folgerichtig kehrt sich die Richtung der Kritik in der Phänomenologie um. Hier gilt die Sprache gegenüber der unmittelbaren Anschauung als das „Wahrhaftere";10 was „der Sprache [...] unerreichbar ist", das „Unaussprechliche", gilt nun als „das Unwahre, Unvernünftige", als das Diese Umkehrung von Hegels früherer Deutung des Eleusischen Festes bedeutet indes keine einfache Abwertung der Mysterien, sondern signalisiert eine durchgreifende systematische Umorientierung. Was in Wahrheit einzig abgewertet wird, ist der ästhetische Spinozismus, den Hegel in Eleusis in seine Apostrophe an die Ceres eingekleidet hatte. Die Änderungen, die bis zur Phänomenologie eintreten, zu skizzieren, erfordert, daß recht komplexe Zusammenhänge zur Sprache kommen. Der Aufweis dieser Zusammenhänge wird uns ins Zentrum der Konzeption der Phänomenologie führen und zum Schluß auch neues Licht auf Hegels Eingang in das Werk mit der ,Sinnlichen Ge-

-

Nichtige.101

Hegel: GW9, 69. Hegel: GW 17, 156 sowie ders.: Ebd., 156.

Ebd.,

154.

Ebd.

Hegel:GPT9,65. Ebd., 70.

TWA

12, 303.

-

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32

wißheit'

werfen, die in einem

unvermuteten

Zusammenhang

mit dem

Spinozismus

steht. Der erste Schritt besteht darin, Hegels implizite Revision seiner Position in Eleusis Folge seiner veränderten Stellung zum Spinozismus zu begreifen. Im voraus sei an Hegels prägnanteste Formulierung des Ziels seiner Phänomenologie erinnert: Es komme alles darauf an, schreibt er in der ,Vorrede', „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken".102 Formuliert ist damit das seit Fichte virulente Projekt einer Überwindung des Spinozismus, verstanden als ein System, welches in letzter Konsequenz das selbstbewußte, rationale Subjekt als Effekt eines ihm vorausliegenden selbst/cwe«, blind wirkenden Realitätsprinzips begreift und somit seines Status als freien Wesens beraubt. Hegels Projekt einer Überwindung des Spinozismus bedeutet demnach das Projekt der schrittweisen Aufhebung der Selbstlosigkeit des Absoluten zugunsten einer Auffassung des Realen als wesentlich identisch mit selbstbewußter Individualität. Nun haben wir oben gesehen, daß die ,Hingabe ans Unermeßliche', welche Hegel in Eleusis beschwört, eine Chiffre für den ästhetischen Spinozismus ist, wie ihn Schelling in den Briefen über Dogmatismus und Kritizismus der Transzendentalphilosophie entgegensetzt. Der „Dogmatismus", dessen „reinästhetische Seite" im ersten Brief stark gemacht wird, ist nur ein anderer Name für den Spinozismus, dem Sprachgebrauch Fichtes in der Grundlage und anderswo genau Mit diesem Befund stimmt ferner Hegels Betonung der Selbstlosigkeit der Anschauung des Absoluten10 sowie die scharfe Entgegensetzung gegen das bewußte Selbst überein, welches sich in der gedanklichen Reflexion von der Substanz abtrennt und gegen sie kehrt. Für Hegel wird der Spinozismus dieses ästhetische Gepräge zeitlebens bewahren. Seit der Phänomenologie wird der Spinozismus vor allem auch mit der Naturreligion des Morgenlands identifiziert. Dies ist am leichtesten zu bemerken, wenn man sich dem frühen Hauptwerk zunächst von der späteren Religionsphilosophie her nähert. Die „natürliche Religion" der Phänomenologie bezeichnet Hegel dort als „unmittelbare Religi5 on" und verortet sie historisch ausdrücklich im Orient. als

entsprechend.103

Es ist im Allgemeinen der Orient die ungetrennte Anschauung [...] Gottes in Allen Dingen ohne Unterschied Gott ist alle Dinge iv xai ttav [...]. Gott nicht vom Irdischen zeitlichen getrennt nicht Schöpfer eigentlich und Herr sondern er ist unmittelbar Alles Er selber Schahinschahna106 meh. -

,

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-

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Die Ungetrenntheit Gottes von der unendlichen Menge zeitlicher, endlicher Dinge hatte bereits Jacobi als ein unterscheidendes Merkmal spinozanischer Theologie herausge-

Vgl. Johann Gottlieb Fichte: „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre", in: Fichtes Werke, hg. v. I. H. Fichte, Zur theoretischen Philosophie, Bd. 1. Berlin 1971, 83-328, hier 120. Vgl. Hegel: GW 1, 400, Zeilen 1-8 sowie 401, Zeilen 11-14. Hegel: GW 17, 87 ff. Ebd., 88.

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,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

Wenige Seiten später wird auch bei Hegel die Identifikation explizit: „Die Nawird tur ist, angeschaut vorgestellt als Gott. Spinozismus".108 Der „metaphysische Begriff", den Hegel von dieser Gestalt der bestimmten Religion gibt, ist ebenso eindeutig und enthält im übrigen dieselbe ontologische Pointe wie die .Sinnliche Gewißheit': stellt.

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-

Weil diese bunte Welt des Mannichfaltigen, des Vielgestalteten und Vielen diese unendliche Menge von Bestimmtheiten des Daseyns, von besonderen Daseyn ist, so ist das reine Seyn, das Einfache, das Allgemeine Im Vielen, besonderen Seyn liegt der Gedanke des allgemeinen reinen Seyns Näher: Das Viele, Besondere hat nothwendig ein Anderes zu seinem Grunde, es begründet sich nicht für sich selbst ist nicht selbstständig. [...] Das Positive, der Grund, Selbstständige in allem Daseyn ist das Seyn. -

-

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die Identität der ,unmittelbaren' oder natürlichen Religion' des Orients, der des ,Lichtwesens' in der Phänomenologie mit Hegels eigenem abgelegtem äsReligion thetischen Spinozismus der frühen Jahre erkannt hat, ist man erst imstande, seine veränderte Einschätzung der Eleusischen Mysterien richtig zu verstehen. Denn der Mysterienkultus ist seit der Phänomenologie gerade diejenige Religionsgestalt, welche die spezifische Vollendung und somit Überwindung der (,spinozistischen) Religion des Lichtwesens darstellt. Im Religionsabschnitt der Phänomenologie kritisiert Hegel also (auch) seinen eigenen früheren Spinozismus in spezifischer Weise, während er den Kultus der Ceres und des Bacchus von dieser Gestalt dissoziiert und mit der Überwindungsgestalt neu identifiziert. Wie wir sehen werden, assoziiert Hegel bereits in der .Sinnlichen Gewißheit' die Tiere mit den kultischen Mysterien, um den impliziten Spinozismus, der die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit ausmacht, zu kritisieren. Wenden wir uns aber zunächst noch dem Verhältnis dieser zwei Religionsgestalten im Detail zu. Das „Lichtwesen"110 zeichnet sich aus durch seine einfache, unmittelbare, durch und durch positive Identität mit sich; wie die Gottheit des £7ews7's,-Gedichts ist auch das Lichtwesen eine Gottheit, die, „wenn auch alles untergeht, nicht wankt". Nicht nur wankt es nicht, sondern das Lichtwesen offenbart sich gerade im Untergang aller einzelnen, bestimmten Gestalten, mit denen es auf eine für es selbst nur gleichgültige Weise identisch ist. Das Untergehen aller endlichen Formen ist selbst das Aufgehen dieser Wenn

man

-

Siehe Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf Grundlage der Ausgabe von K. Hammacher/I.-M. Piske bearbeitet v. M. Lauschke. Hamburg 2000, 28, 47, 89 ff. (Im folgenden zitiert als Über die Lehre des Spinoza.) Hegel: GIF 17, 93; vgl. auch die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, wo Hegel Spinoza ausdrücklich das Verdienst zuschreibt, „die morgenländische Anschauung der absoluten Identität [...] der europäischen Denkweise und [...] dem Cartesianischen Philosophieren unmittelbar nähergebracht, darein eingeführt" zu haben (Hegel: TWA 20, 158). Hegel: GW, 17, 89 f. Die Wendung „Das Sein in allem Dasein" stammt von Jacobi und dient in den Briefen über die Lehre des Spinoza wiederholt, um den „Gott des Spinoza [...] das lautere Principium der Würklichkeit in allem Würklichen" zu bezeichnen, welches „durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich" sei. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza (Anm. 107), 45 und 271. Hegel übernimmt es ohne Zweifel daher. Hegel: GW9, 371 f.

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einen Substanz, und in diesem Sinne spricht Hegel vom ,fichtwesen des Aufgangs, das sich in seiner formlosen Substantialität erhält", einer „Gestalt der Jedoch gerade seine abstrakte Negativität gegen seine eigenen Besonderungen, seine Gleichgültigkeit gegen sich, sofern es in der Gestalt der Andersheit erscheint, bedeutet den Mangel des Lichtwesens:

Gestaltlosigkeit".111

Der Inhalt, den diß reine Seyn entwickelt, oder sein Wahrnehmen ist daher ein wesenloses Beyherspielen an dieser Substanz, die nur aufgeht, ohne in sich niederzugehen, Subject zu werden und durch das Selbst ihre Unterschiede zu befestigen. Ihre Bestimmungen sind nur Attribute, die nicht 112 zur Selbstständigkeit gedeihen, sondern nur Nahmen des vielnahmigen Einen bleiben.

Der spezifische Mangel der allgemeinen Selbstlosigkeit ist es, den die Religion des Kultus überwindet. Das Wesen des Aufgangs wird sich im Kultus erhalten, aber als eines, das „nunmehr in sich untergegangen ist, und seinen Untergang, das Selbstbewußtseyn [...] an ihm selbst hat".113 Entscheidend für die richtige Einschätzung der beiden Religionsgestalten in ihrer Beziehung zueinander ist Hegels Bestimmung des Kultus, in dem das Geopferte vom Opfernden selbst genossen wird, als eigentliche Vollendung der Religion des Lichtwesens. Das Wesen des Aufgangs habe hier „die Bewegung seiner Verwirklichung durchlaufen", indem es in seinen zuvor nur gleichgültigen Äußerungen ein Dasein wird „für das Andere, für das Selbst, von dem es verzehrt wird".114 Das stille Wesen der selbstlosen Natur gewinnt in seiner Frucht die Stuffe, worin sie [...] sich dem selbstischen Leben darbietet; sie erreicht in der Nützlichkeit, gegessen und getrunken werden zu können, ihre höchste Vollkommenheit.

Im Kultus der Religion der Subjektivitätx vollzieht sich dergestalt ein Übergang vom nur theoretischen Verhalten zara praktischen Verhalten gegenüber der sinnlichen Erscheinung des Absoluten für sich selbst. Im Kultus der Ceres und des Bacchus hat das einfache Wesen des Aufgangs „nicht nur das Daseyn, das gesehen, gefühlt, gerochen, geschmeckt wird, sondern ist auch Gegenstand der Begierde, und wird durch den wirklichen Genuß eins mit dem Selbst und dadurch vollkommen an dieses verrathen und ihm offenbar".117 Im Sinne des Verraten- und Offenbart-Seins der Substanz an das Selbstbewußtsein übersteigt der Eleusische Kultus die Licht-Religion. In Hinsicht auf das Projekt der Phänomenologie im ganzen, „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject" zu begreifen, ist die kultische Religion des „lebendigen Kunstwerks" einen 111

112

Ebd., 371. Ebd. Das ,wesenlose Beyherspielen', die ,Unselbstständigkeit' der Bestimmtheiten und die daraus resultierende Bestimmungslosigkeit der allgemeinen Einen Substanz sind Bestimmungen der Religion des Lichtwesens, welche sie eindeutig als eine besondere Totalität des Geistes ausweisen, die in der eigentümlichen Bestimmung der sinnlichen Gewißheit auftritt. Zu diesem Punkt ausführlicher unten. Ebd., 386. Ebd. Ebd. Meine Hervorhebung. Hegel: GW 17, 99. Hegel: G^9, 386. Meine Hervorhebung. -

1,3 114

115 116 117

-

-

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,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

entscheidenden Schritt weiter als diejenige des Orients, die Hegel mit Spinozismus gleichsetzt. Doch ist der Kultus aus Hegels Sicht noch weit davon entfernt, die Substanz mit dem Selbstbewußtsein zu identifizieren. Was im Kultus als wesentlich für das Selbst und daher in Einheit mit ihm erfahren wird, ist nach wie vor das einfache Wesen, das mythische Gegenstück der spinozanischen Substanz. Darum verfehlt der Kultus aus Hegelscher Sicht die Gestalt wahrhafter, selbstbewußter Individualität als die Substanz selbst und alleinige Substanz, die für Hegel die Entdeckung des Christentums ist. Deshalb ist das selbstbewußte Leben des Kultus in dieser Rücksicht „nur das Mysterium des Brodes und des Weines, der Ceres und des Bacchus, [...] noch nicht Mysterium des Fleisches und Blutes".11 In diesem präzisen Sinn, das Selbstbewußtsein als solches noch nicht entdeckt zu haben und sich als Geist darum noch nicht zu wissen, sind die Mysterien der Ceres und des Bacchus eine „unterste Schule der Weisheit", von der in gewisser Weise auch die Tiere nicht ausgeschlossen sind. Ein dritter und letzter Schritt bleibt noch zu tun. Daß Hegel die orientalische Religion des ,Lichtwesens' mit dem Spinozismus identifiziert, haben wir ebenso gesehen, wie daß er die Eleusischen Mysterien als Vollendung und zugleich Überwindung jener Religionsgestalt begreift. Noch bleibt es aber, diese Verhältnisse in die Darstellung der Sinnlichen Gewißheit' zurückzuprojizieren, wo Hegel auf sie in enigmatischer Weise anspielt. Das erste ist Hegels explizite Korrelation der Religion des Lichtwesens mit der Gestalt der ,Sinnlichen Gewißheit'. Daß Hegel die Stellung der zwei Gestalten zur konkreten Fülle der erfahrenen Wirklichkeit in zum Teil identischen Wendungen beschreibt, fiel bereits auf. Dies rührt von der intimen Beziehung der Lichtreligion zum sinnlichen Bewußtsein her: „In der unmittelbaren ersten Entzweyung des sich wissenden absoluten Geistes hat seine Gestalt diejenige Bestimmung, welche dem unmittelbaren Bewußtseyn oder der sinnlichen Gewißheit zukommt."119 Die innere Identität dieser Gestalt der Naturreligion mit der anfänglichen Gestalt des unmittelbaren sinnlichen Bewußtseins gründet in dem Konstruktionsprinzip der Phänomenologie, demgemäß eine geschichtlich sich entwickelnde Makroebene (der Geist in seinen religiösen Erscheinungsformen) mit einer ebenso geschichtlichen Mikroebene (der Reihe bis zum Beginn des Religionsabschnitts fortschreitender ,Bewußtseinsgestalten') vermittels einer Struktur zusammengeschlossen wird, die Hegel als den zeitlosen Aufbau von Geist überhaupt versteht, nämlich die Gesamtheit der .Momente' Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft und (unmittelbarer) Geist.120 Hinsichtlich der Beziehung zwischen der Makroebene des Geistes, wie er in den bestimmten Religionen zum Ausdruck kommt, und der Mikroebene der Bewußtseinsgestalten sind zwei generelle Bestimmungen festzuhalten. (1) Jede Mikrogestalt repräsentiert den Geist in seiner Totalität, jedoch so, daß die Totalität nur in einer einseitigen, sich selbst verkennenden ,

-

118

119

120

Ebd., 387. Meine Hervorhebung. Ebd., 371. -

Siehe hierzu Hegels Ausführungen zu Beginn des siebten Kapitels Religion', in Hegel: GW 9, 363-368, bes. 365-367.

der

Phänomenologie, ,Die

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Bestimmung vorhanden ist. In der Reihe der Bewußtseinsgestalten, schreibt Hegel, „bildet sich jedes Moment, sich in sich vertiefend, zu einem Ganzen in seinem eigenthümlichen Princip aus; und das Erkennen war die Tiefe, oder der Geist, worin sie, die für sich kein Bestehen haben, ihre Substanz hatten".121 (2) Daß die einzelnen Mo-

geschichtliche Ganzheiten darstellen können, obzwar sie für sich kein Bestehen haben, hängt aufs engste mit einem zweiten Punkt zusammen. Jene Gestalten existieren in der Zeit und als geschichtliche Wirklichkeiten nur, insofern sie Ausdruck des Geistes in seiner Makrogestalt unter einer je eigentümlichen Bestimmung sind. Im Brennpunkt dieses Verhältnisses des Ausdrucks erblickt man den tiefen Zusammenhang zwischen Geist, Geschichtlichkeit und Freiheit, der die Konstruktion der Phänomenologie bis in ihre einzelnen Zellen hinein regiert. Die Religion nämlich setzt nach Hegel „den ganzen Ablauf der Gestaltungen voraus, die in der Phänomenologie zu ihr als dem eigentlichen „weltlichen Daseyn" des Geistes führen. Die Religion ist „die einfache Totalität oder das absolute Selbst derselben".122 Doch ist die Religion zu den einzelnen Gestalmente

tungen nicht derart im zeitlichen Verhältnis zu denken, so als käme sie nach bestimmten Gestalten und ginge anderen voraus. „Der ganze Geist nur ist in der Zeit, und die Ge-

stalten, welche Gestalten des ganzen Geistes als solchen sind, stellen sich in einer Aufeinanderfolge dar; denn nur das Ganze hat eigentliche Wirklichkeit, und daher die Form der reinen Freyheit gegen anderes, die sich als Zeit ausdrückt."123 Diese zwei Bestimmungen zusammen bedeuten in unserem Zusammenhang, daß die sinnliche Gewißheit der rein (erkenntnis-)theoretische Ausdruck eines historisch auftretenden Geistes ist, der sich zugleich in der Religion des Lichtwesens und (philosophisch) im Prinzip des Spinozismus Ausdruck verschafft. Das ist der Faden, der einerseits die sinnliche Gewißheit auf eine in der Tat äußerst exponierte Weise mit Hegels Gesamtanliegen einer Überwindung des Spinozismus zu verbinden erlaubt und andererseits die systematisch exakt zu bestimmende Bedeutung anzeigt, welche Hegels Anspielung auf die Eleusischen Mysterien im ersten Kapitel der Phänomenologie zukommt. Es genügt, um dies zu erkennen, wenn man sich die ontologische Pointe der Sinnlichen Gewißheit' noch einmal vor Augen führt. Die .Wahrheit der sinnlichen Gewißheit' besteht ja in der Einsicht in die radikale Veränderlichkeit, Beschränktheit und darum Unselbständigkeit oder ,Nichtigkeit' der einzelnen sinnlichen Gestaltungen, in denen und als die das Absolute hier das reine „Seyn in allem Daseyn" gegenwärtig ist. „Das natürliche Bewußtseyn" geht auch selbst, wie Hegel betont, „zu diesem Resultate, Nun was an ihr das Wahre ist, immer selbst fort, und macht die Erfahrung darüber". ist exakt dieses Resultat (und nicht die anfängliche Identifizierung des Seins mit einer einzelnen zufälligen Gestaltung!) der Spinozismus des sinnlichen Bewußtseins, für welches nur das das Wahre ist, welches, wenn auch alles untergeht, nicht wankt. Die im ,

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Ebd., 367. Denselben Gedanken formuliert Hegel auch in der Vorrede, Hegel: GW9, 25. Ebd., 365. -

Ebd.

Ebd., 68 f.

,DlE UNTERSTE SCHULE DER WEISHEIT'

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Kapitel erreichte ontologische Pointe liegt demnach in der Verhältnisbestimmung Substanz (dem Sein) und Akzidenz (dem einzelnen Daseienden) als rein äußerliche, zufällige Beziehung. Ziehen wir ein letztes Mal noch eine Stelle aus dem Umkreis der religionsphilosophischen Vorlesungen heran: ersten von

Das an und für sich Notwendige ist schlechthin, es hat aber an sich Akzidenzien, welche bestimmt sind als ein Seiendes, das Nichts ist, ein Nichtiges. Diese Akzidenzien sind in beständigem Wechsel und Umschlagen von Sein in Nichts usf. [...] Was besteht, ist nur dieser Wechsel, und dies als Einheit gedacht ist das Substantielle. Dies ist die orientalische spinozistische Substanz. Der Mangel ist nun dieser: Wir haben [...] nicht Selbsttätigkeit der Substanz; diese ist noch nicht Subjekt, noch in sich bestimmungslos.

Wenn

Hegel daher im Resümee des Kapitels, um die „Rücksicht auf das Praktische zu anticipiren",126 auf „die alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus" hinweist, dann nimmt er genau diejenige konkret-historische Geistesgestalt vorweg, in welcher der von der sinnlichen Gewißheit selbst schon erreichte Spinozismus aufgehoben und die Äußerlichkeit der Substanz in der tätigen Begierde praktisch getilgt wird. Die Perspektive auf Hegels Eingang in die Phänomenologie, welche sich dann ergibt, wenn man die ,Sinnliche Gewißheit' im Fokus des religionsgeschichtlichen Motivs des Brotes und des Weines betrachtet, scheint mir genuin neu zu sein. Das Überraschendste an ihr ist vielleicht die Nähe, in welche Denker so unterschiedlicher Dignität wie G E. Schulze und W. T. Krug einerseits und Baruch de Spinoza andererseits in dieser Perspektive rücken. Hat die bisherige Forschung eher auf rein erkenntnistheoretische Fragen abgehoben und gehofft, das Enigmatische und Unbefriedigende an Hegels Darstellung der sinnlichen Gewißheit in der Auseinandersetzung mit historischen Vertretern eines naiven Sensualismus oder direkten Realismus aufzuklären, so zeigt die vorliegende Untersuchung, daß künftige Bemühungen in einer anderen Richtung zu unternehmen sind. Der Komplex, den Hegel als Sinnliche Gewißheit' betitelt hat, lebt als Fortsetzung eines für die klassische deutsche Philosophie insgesamt konstitutiven Streits mit dem sogenannten Dogmatismus. Der Dogmatismus ist seit Fichte Chiffre für eine Position, derzufolge eine Sphäre an sich seiender Realität den menschlichen Geist bestimme. Diese Position artikulierte sich in verschiedenem Maße als orthodoxer Kantianismus, repräsentationaler oder direkter Realismus oder in seinen aus Sicht mancher Zeitgenossen konsequentesten Form als Materialismus, Fatalismus oder Spinozismus. Die Überwindung des Dogmatismus in allen seinen Formen blieb bis zuletzt das zentrale Anliegen der klassischen deutschen Philosophie, die sich von Beginn an als Philosophie der Freiheit verstand. Hat man also einmal den Zusammenhang des von uns betrachteten religionsgeschichtlichen Motivs mit dem Anliegen von Hegels philosophischem Projekt erkannt, so wird es nunmehr als sehr .

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David Friedrich Strauß, „Auszüge aus einer Nachschrift von Hegels Religionsphilosophie-Vorlesung von 1831", in Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2: Die bestimmte Religion (= Vorlesungen: ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. W. Jaeschke, Bd. 4) Hamburg 1985, 611-643, hier 617. Hegel: GW9, 69. Meine Hervorhebung. -

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natürlich erscheinen, daß dogmatische Realisten wie Schurze und Krug in der theoretiin einen gemeinsamen Fokus mit der überragenden Nemesis der schen Philosophie deutschen idealistischen Philosophie behandelt zu finden mit Spinoza. Denn sein System war aus gemeinsamer Sicht deutscher Philosophen um 1800 der konsequente Realismus, dessen nur unvollkommene Formen die erkenntaistheoretischen Realismen der genannten Denker darstellten. Nicht zuletzt muß in der ,Sinnlichen Gewißheit' eine Abrechnung Hegels mit seinem eigenen Standpunkt der Jahre unmittelbar um 1800 erblickt werden, als er selber noch einem ästhetischen Spinozismus anhing. Denn auch die Sprachauffassung zeigt sich in unserer Perspektive als bestimmt durch die Stellung zum Spinozismus. Nicht zufällig wird in der Phänomenologie das Orakel als „nothwendige erste Sprache" dem „allgemeinen Geist des Aufgangs" (also just der ,spinozistischen' Religion des Orients) zugeordnet, während es in der Kunst-Religion seine Funktion im Gottesdienst vollends einbüßt und zur Entscheidungsinstanz in nur zufälligen Angelegenheiten herabgesetzt wird. Wir haben es in der Sinnlichen Gewißheit' demnach mit insgesamt vier Stellungen zur absoluten Substanz zu tun: Die erste ist die naiv-unmittelbare Auffassungen der Gestaltungen des sinnlichen Seins als selbständiger Entitäten. Diese Stellung geht angesichts der insbesondere temporalen Hinfälligkeit des je konkret Gemeinten unmittelbar in den Spinozismus des sinnlichen Bewußtseins über, für welchen das sinnlich Einzelne nur äußerliche,s zufälliges Akzidenz des Einen, reinen Seins (des Allgemeinen oder -

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Notwendigen) ist. Perspektivisch eingeschlossen wird jedoch zugleich die dritte, praktische Stellung, welche Hegel in der Anspielung auf die Eleusischen Mysterien ausdrücklich antizipiert. Eine vierte Stellung bildet schließlich die mitverhandelte Fehldeutung der spinozistischen Erfahrung der sinnlichen Gewißheit durch Vertreter einer Philosophie des ,gemeinen Verstands'. In diesem Rahmen erst sind die Details der Darstellung adäquat zu befragen, und zwar sowohl argumentationsanalytisch wie auch in Hinsicht auf systematische Referenzen.129

Man könnte für die praktische Philosophie mit gleichem Recht Rückert und Weiß hinzufügen. Siehe Joseph Rückert: Der Realismus, oder Grundzüge zu einer durchaus praktischen Philosophie, Leipzig 1801 sowie Christian Weiß: Winke über eine durchaus praktische Philosophie, Leipzig 1801.

Siehe Hegel: GW9,381. Insbesondere die Frage nach der Stellung Jacobis in Hegels Kritik des unmittelbaren sinnlichen Bewußtseins verschärft sich. Wenn Jacobi sich in den Briefen über die Lehre des Spinoza mit systemimmanenten Gründen weigert, den Schritt von der ersten zu der zweiten, spinozistischen Stellung mitzuvollziehen, zugleich jedoch eben praktische Erwägungen für seine theoretische Weigerung geltend macht, die den von Hegel antizipierten praktischen Überlegungen parallel und womöglich gleichwertig sind, dann entsteht die Frage, ob und wie Jacobi sich innerhalb des beschriebenen dreistufigen Rasters der Hegeischen Kritik überhaupt angemessen verorten ließe? Zu diesen Zusammenhängen ausführlich Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000.

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Falko Schmieder

Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit in fotografietheoretischer Sicht1

Hegels Phänomenologie

des Geistes versteht sich als Darstellung der Bildungsstufen des Bewußtseins. Ihr Ziel ist es, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen, zur Einsicht in das Wesen der Geschichte zu fuhren. Dem Einzelnen wird zugemutet, die Erfahrungen, die der Geist im Verlauf seiner Entwicklung bis zum Stadium seiner endlichen Selbsterkenntnis in der philosophischen Idee durchgemacht hat, gedanklich nachzuvollziehen. Er soll sich auf diese Weise von den naturwüchsigen Anschauungen befreien und ein Bewußtsein ausbilden, das sich seiner vielfältigen historischen Vermitteltheit bewußt und das zuletzt imstande ist, die Vernunft in der Geschichte zu erkennen und zu realisieren. Die sinnliche Gewißheit fuhrt Hegel als eine Bewußtseinsform vor, die überwunden werden muß, wenn das Wesen des Geistes erkannt und die Wirklichkeit angemessen aufgefaßt werden soll. Reichlich 30 Jahre später, in Feuerbachs Auseinandersetzung mit Hegel, kehren sich in der Geschichte der Philosophie die Vorzeichen um: Nachdem Feuerbach zehn Jahre lang die Prämissen des spekulativen Systems geteilt und Hegels Geistphilosophie gegen Kritik von verschiedener Seite verteidigt hat, demonstriert er die Abhängigkeit Hegels von der Theologie und fordert einen radikalen Bruch mit dem Hegeischen Idealismus, dessen Unzulänglichkeit und Unzeitgemäßheit Feuerbach u. a. anhand von Hegels Kritik der sinnlichen Gewißheit verdeutlicht. In polemischer Absetzung von der gesamten neuzeitlichen Philosophie propagiert Feuerbach eine neue materialistische Philosophie, die sich unmittelbar auf die Wirklichkeit beziehen möchte und deren primäres Organ eben die von Hegel der Inferiorität überführte sinnliche Anschauung ist.

Der vorliegende Aufsatz stützt sich auf Gedanken, die ich in Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Studien zum revolutionären Umbruch der gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen im 19. und 20. Jahrhundert (Berlin: Junius-Verlag, im Druck) im weiteren Rahmen einer Untersuchung des Verhältnisses von anthropologischem und historischem Materialismus ausgeführt habe.

Falko Schmieder

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Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit und sein Übergang zum anschauenden Materialismus sind in der Literatur kontrovers diskutiert worden. Es lassen sich drei Deutungsmuster voneinander unterscheiden, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Eine erste Interpretation mißt Feuerbachs neue Philosophie an den Maßstäben der Philosophie Hegels, von der Feuerbach sich abzusetzen bemüht hat. Im Zentrum dieser Interpretation steht der Nachweis, daß Feuerbachs Berufung auf sinnliche Unmittelbarkeit in unauflösbaren Widersprüchen endet und im Ganzen einen Rückfall hinter das Problembewußtsein Hegels bedeutet. Als ein Problem von Feuerbachs Bruch mit der Spekulation wird hier angesehen, daß sich Feuerbach bei seinem Bruch mit Hegel ausschließlich auf die von Hegel zur Verfügung gestellten kategorialen Mittel stützt.2 Eine zweite Interpretation betrachtet Feuerbachs Rekurs auf die Unmittelbarkeit als radikale Infragestellung des Idealismus und als eine Position, von der her eine Neuaneignung der Ergebnisse der bisherigen Philosophie auf qualitativ veränderter theoretischer Grundlage möglich wird. Feuerbachs Durchbruch zur Unmittelbarkeit erscheint in dieser Perspektive als Ausgang der klassischen Philosophie, als Bindeglied zwischen der Hegeischen und der Marxschen Philosophie.3 Während die bisher vorgestellten Interpretationen die theoretische Unzulänglichkeit von Feuerbachs Rekurs auf die Unmittelbarkeit herausheben, sieht die dritte Interpretation gerade in diesem Rekurs das große Verdienst von Feuerbachs Philosophie. Indem Feuerbach die Natur in ihrer Unmittelbarkeit wieder zur Geltung bringe, lenke er die Aufmerksamkeit auf eine Problematik, die von den modernen Philosophien der Vermittlung verdrängt worden sei, weshalb Feuerbachs Beitrag auch als eigenständige theoretische Position und nicht lediglich als transitorisches Moment im Theoriebildungsprozeß angesehen werden müsse. Obwohl die Einschätzungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, berühren sie sich doch darin, daß sie Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit letztlich in einer geistesgeschichtlichen Perspektive betrachten. Die folgende Auseinandersetzung mit der Problematik der sinnlichen Gewißheit setzt sich von einer solchen Betrachtungsweise ab und versucht, den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (Löwith) vor dem Hintergrund des kulturell-medialen Umbruchs, genauer: als theoretischen Ausdruck der Erfindung des neuen technischen Mediums Fotografie zu -

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Exemplarisch für diese Interpretation sind die Arbeiten von Erich Thies: „Die Verwirklichung der Vernunft. Ludwig Feuerbachs Kritik der spekulativ-systematischen Philosophie", in FeuerbachSonderheft der Revue Internationale de Philosophie, 26e Année, n° 101, Bruxelles 1972, 275307; ders.: „Zur Einführung in die Erlanger Vorlesungen", in Ludwig Feuerbach. Schriften aus dem Nachlaß, bearb. u. hg. v. E. Thies, Darmstadt 1974; ders.: „Philosophie und Wirklichkeit. Die Hegelkritik Ludwig Feuerbachs", in Ludwig Feuerbach, hg. v. E. Thies, Darmstadt 1976, 431^182. Vgl. dazu die für die marxistische Theorietradition wegweisend gewordene Studie von Friedrich Engels: „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", in Marx/Engels Werke. Bd. 21, Berlin 1962, 259-307. Vgl. dazu Karl Löwith: „Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach", in (ders.) Sämtliche Schriften, Bd. 5, Stuttgart 1988. -

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Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewibheit

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einiges Material herbei, das die These stützen hilft, daß Feuerbachs hegelkritische Rehabilitierung der sinnlichen Gewißheit als erste Manifestation eines kulturellen Umbruchs anzusehen ist, den die heute zu einer Art Leitwissenschaft aufgestiegene Medientheorie als Prozeß der Aushöhlung der Buchkultur und als Eingang in gesellschaftliche Verhältnisse darstellt, die durch die Dominanz von Formen optischer Vermittlung gekennzeichnet sind. Feuerbach, so wird zu zeigen versucht, fällt mit seinem Rekurs auf die Unmittelbarkeit nicht auf eine schon von Hegel kritisierte Position wieder zurück, sondern er vollzieht in der Theorie die zeitgenössische praktische mediale Wende zur Fotografie nach, die den Standpunkt der sinnlichen Gewißheit, der zu Hegels Zeit als eigenständige feste Form noch nicht existiert hat, technisch vergegenständlicht. In dieser Perspektive erscheint die Diskussion um die sinnliche Gewißheit nicht bloß als ein Streit, der innerhalb der Grenzen der philosophischen Fakultät um eine erkenntnistheoretische Position geführt wird, sondern sie erweist sich als theoretische Auseinandersetzung mit einer Form des Bewußtseins, die für die Organisation der gesamtgesellschaftlichen Erfahrung von erheblicher Tragweite und die gerade heutigenverstehen. Sie trägt

tags von eminenter Aktualität ist. Im ersten Abschnitt sollen die grundlegenden Motive der Feuerbachschen Kritik an Hegel und die von Feuerbach proklamierte neue Anschauung interessieren (I). Mit den hier gewonnenen Einsichten soll dann an die Diskussion der sinnlichen Gewißheit herangetreten werden, wobei zuerst Hegels Kritik und danach Feuerbachs Rehabilitierung dieser Gestalt des Bewußtseins interessiert (II). Im letzten Abschnitt wird dann der Versuch unternommen, die philosophische Auseinandersetzung um die sinnliche Gewißheit aus der Perspektive fotografietheoretischer Arbeiten zu erhellen (III).

I.

Feld, auf dem sich Feuerbach zuerst von Hegel abzusetzen beginnt, ist das der Religionsphilosophie. Nachdem Feuerbach in seiner Geschichte der neuern Philosophie die neuzeitliche Gedankenentwicklung unter dem Hauptaspekt des fundamentalen Gegensatzes von Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie untersucht hat, geht ihm an Hegels Religionsphilosophie auf, daß sich auch der absolute Idealismus noch nicht vollständig von den theologischen Prämissen freigemacht hat. Eine Manifestation von Hegels theologischer Befangenheit sieht Feuerbach in dessen identitätsphilosophischer Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Sein. Wie die gesamte neuere Philosophie beginne auch die Hegeische Philosophie mit der unmittelbaren Voraussetzung der Philosophie bzw. mit einem unmittelbaren Bruch mit der sinnlichen Anschauung. Die spekulative Philosophie Hegels habe von der Tradition den Begriff des Absoluten übernommen, ohne nach seinem Ursprung gefragt zu haben, und diesen unkritisch angeeigneten Begriff dann unmittelbar der ganzen weiteren Philosophie vorausgesetzt. Gegen diese Auffassungsweise, deren unkritische Hinnahme des Gegebenen Feuerbach Das

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an Vermittlungstätigkeit und als Mangel an Kritik begreift, geht Feuerbach indem vor, er, erstens, gegen die unkritische Übernahme des Absoluten eine genetischkritische Philosophie einfordert, deren Aufgabe die Untersuchung des Ursprungs der überlieferten Gegenstände ist; und indem er, zweitens, gegen die unmittelbare Voraussetzung der Philosophie eine neue materialistische Philosophie einfordert, deren Aufgabe es ist, den „unvermeidlichen Bruch" zwischen Philosophie und Nichtphilosophie ernstzunehmen und zu vermitteln, indem die Philosophie sich aus der Nichtphilosophie erzeugt. Beide Denkbewegungen beziehen sich polemisch auf die theologische Erblast im Denken des spekulativen Idealismus. Der für die genetisch-kritische Philosophie konsumtive Zweifel, ob dem Gegenstand wirklich gegenständliche Realität zukomme oder ob er lediglich eine Vorstellung, bloß ein subjektiv-psychologisches Phänomen sei, soll den Einfluß aller übersinnlichen Autoritäten auf das Denken des Menschen ausschalten; die Forderung an das Denken, mit der Nichtphilosophie, mit dem Unmittelbaren zu beginnen, setzt dann von vornherein die Geltung theologischer Schöpfungsvorstellungen außer Kraft und zwingt das Denken, sich allein an den Gegebenheiten der materiellen Welt zu orientieren. Der Begriff der Unmittelbarkeit, den Feuerbach der Identitätsphilosophie Hegels vorhält, hat so zunächst eine dezidiert kritische Funktion. Er soll das Denken auf das Feld hinführen, von dem bisher unter dem Einfluß der Theologie in unzulässiger Weise abstrahiert worden ist: auf das Feld des Sinnlichen, der Materie, eben auf das Feld des allem Denken vorausliegenden Unmittelbaren. Zwar kenne auch die Hegeische Philosophie den Begriff des Unmittelbaren, aber dieses Unmittelbare erweise sich in Wahrheit gerade nicht als ein solches, sondern vielmehr als ein vom Denken gesetztes. Das Sein, mit dem sich Hegel am Beginn seiner Phänomenologie und Logik auseinandersetzt, ist, wie Feuerbach kritisch herausstellt, nicht das wirkliche, konkrete Sein, sondern nur die Idee in ihrer Unmittelbarkeit. Es ist das Denken, das, „im Unterschiede von sich, als der Tätigkeit des Vermittelns, das Sein als das Unmittelbare, nicht Vermittelte [bestimmt]". Die Entgegensetzung von Denken und Sein bleibe so eine Entgegensetzung innerhalb des Denkens; das Sein im Gegensatz zum Denken ist bei Hegel selbst wiederum nur ein Gedachtes. Die Hegeische Philosophie trifft deshalb der Vorwurf, die Wirklichkeit immer nur auf eine vermittelte Weise, präokkupiert durch den vorausgesetzten Begriff, angeschaut zu haben. In den zu Lebzeiten Feuerbachs veröffentlichten kritischen Auseinandersetzungen mit Hegel werden diese Voraussetzung des Begriffs und das philosophische Prinzip der „Abstraktion von der Sinnlichkeit" von Feuerbach als Ausdruck der Abhängigkeit Hegels vom Erbe der Theologie angesehen. Im Nachlaß Feuerbachs findet sich dagegen eine Erklärung, die die Annihilierung des Sinnlichen als Ausdruck einer Verselbständigung der Philosophie gegenüber dem Leben, bzw., umfassender, als Ausdruck gesell-

als

6 7

Mangel

Ludwig Feuerbach: „Zur Kritik der Hegeischen Philosophie" [im folgenden: KHP], in Gesammelte Werke [im folgenden GW], hg. v. W. Schuffenhauer, Bd. 9, Berlin 1982, 42 Fn. L.Feuerbach: „Grundsätze der Philosophie der Zukunft" [im folgenden GPZ], in GW 9, 303. Ebd., 323.

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schaftlicher Verhältnisse begreift, die in maßgeblicher Weise durch das Medium der Schrift geprägt sind. „Aller Begriffstätigkeit liegt eine mehr oder weniger umfassende Anschauungstätigkeit zugrunde. Wenn sich die Menschheit auf den Standpunkt geistiger Kultur erhoben, dann entfallt freilich die Notwendigkeit einer unmittelbaren sinnlichen Anschauung. Die Augen der Anderen überheben mich der Notwendigkeit, meine eigenen zu gebrauchen; was Andere gesehen, erlebt haben, das ist für mich, dem es durch Schrift oder Erzählung vermittelt wird, ein Gegenstand bloß des Geistes, der Phantasie, des Denkens. Auf diesem Standpunkte, wo die Tradition, die Schrift, den Menschen der Notwendigkeit unmittelbarer Anschauung überhebt, ist es auch, wo der Mensch den Sinnen sich entfremdet, den Ursprung der Erkenntnis aus den Sinnen vergißt, die mittelbare, traditionelle, gelehrte Erkenntnis über die unmittelbare setzt, das Denken, den Geist zu einem von den Sinnen toto genere, d. i. absolut, der Gattung nach verschiedenen Wesen macht." Feuerbach hat das Verhältnis zwischen beiden Figuren der Kritik an der mittelbaren bzw. begriffsvermittelten Anschauung nirgends problematisiert; viele seiner Ausführungen lassen aber erkennen, daß die neue Philosophie nicht nur als Kritik der von der Theologie abhängigen idealistischen Philosophie zu gelten hat, sondern als ein Versuch verstanden werden muß, Philosophie als solche zu überschreiten. Weil Feuerbach die Hegeische Philosophie als Vollendung der neueren Philosophie begreift, hat er die Notwendigkeit und Rechtfertigung seiner eigenen neuen Philosophie sehr eng an die Kritik der Hegeischen Philosophie gebunden, die sich selbst als Versuch der Wiederherstellung des Gottesprinzips begriffen hat, das der Fortschritt der neuzeitlichen Philosophie unter sich begraben hatte,9 woran es auch liegt, daß die neue Philosophie primär im Zeichen der Absetzung von einem theologisch geprägten Bewußtsein erscheint und das Motiv der radikalen Infragestellung der Form Philosophie eher im Hintergrund bleibt. Immerhin sind die Konturen dieses Unternehmens auch in der Hegelkritik klar zu erkennen, wie die weiteren Ausführungen verdeutlichen können. Feuerbach wendet gegen Hegels Identitätsphilosophie ein, daß das dem Denken Entgegengesetzte nicht wieder das Denken selbst, sondern nur etwas sein kann, das qualitativ vom Denken unterschieden und von dem das Denken fundamental abhängig ist. Dieser Gedanke der Abhängigkeit des Denkens von einem ihm Vorgängigen, das sich nicht in Denken auflösen läßt, wird von Feuerbach nach zwei Richtungen hin entwikkelt. Bezüglich der Seite des Objektes stellt Feuerbach die Frage, warum sich die Idee überhaupt versinnliche, wenn die Sinnlichkeit für sich selbst nichts sei, und er gibt zur Antwort, daß an den Gedanken nur deshalb die Forderung ergehe, „sich zu realisieren, zu versinnlichen, weil unbewußt dem Gedanken die Realität, die Sinnlichkeit, unabhängig vom Gedanken, als Wahrheit vorausgesetzt ist."10 Bezüglich der Subjektseite stellt L. Feuerbach: „Kritische Bemerkungen zu den Grundsätzen der Philosophie", in Sämtliche Werke, neu hg. v. W. Bolin/F. Jodl, Bd. 2, Stuttgart 1904, 324 (erscheint in GW 16). Vgl. G. W. F. Hegel: „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in Werke, Frankfurt/M. 1986, Bd. 20, 312. L. Feuerbach: GPZ (Anm.

6), 315.

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Feuerbach heraus, daß der Gedanke sein Wissen, daß es noch ein anderes Element gibt, nicht aus sich selbst haben kann, sondern nur aus der Anschauung, aus dem Sinn, der dem Denken vorgelagert ist und ihm erst den Stoff für seine Tätigkeit liefert. Hegel erkenne zwar die Wahrheit der Sinnlichkeit an, aber aufgrund seiner Voraussetzung des Begriffs kann ihm diese „nur im Zwielicht der Reflexion" (323), auf eine mittelbare Weise, nur durch die Negativität der Begriffsform hindurch erscheinen. Gegen diese bloß indirekte Anerkennung der Wahrheit der Sinnlichkeit geht Feuerbach mit der Umkehrmethode vor, die er früher bereits gegen die Anschauungen der Religion und der Theologie in Anschlag gebracht hat: Wird bei Hegel die Sinnlichkeit zu einem Prädikat der Idee und die Idee zum Subjekt des Prozesses gemacht, so brauche man Feuerbach zufolge nur alles umzukehren, und die Wahrheit der Hegeischen Philosophie sei gefunden. Statt der Idee wird das Reale, das Sinnliche „zum Subjekt seiner selbst" gemacht, ihm komme „absolut selbständige, göttliche, primative, nicht erst von der Idee abgeleitete Bedeutung" (315) zu. Eingedenk seiner Forderung, das Denken sei aus dem Sein zu erzeugen und diesem nicht einfach vorauszusetzen, hat es zunächst den Anschein, als ob es Feuerbach darum gehe, die Unmittelbarkeit (das Sein) als eine dem Denken vorgelagerte, eigenbestimmte, auf Denken nicht reduzierbare Instanz zu begreifen, die vom Denken gleichwohl begrifflich durchdrungen und aufbereitet werden soll. Feuerbach aber setzt nicht nur das Unmittelbare dem Denken voraus und verteidigt gegen den Idealismus den Primat des Objekts, sondern er spricht dem Unmittelbaren und zwar im Gegensatz zum Denken bzw. zur Vermittlung zu, das Wahre zu sein: ,„Alles ist vermittelt', sagt die Hegeische Philosophie. Aber wahr ist etwas nur, wenn es nicht mehr ein Vermitteltes, sondern ein Unmittelbares ist." (321) Wie auf der Seite des Objekts, so trennt Feuerbach auch auf der Seite des Subjekts die Unmittelbarkeit von der Vermittlung ab: „Das Sein als Gegenstand des Seins [...] ist das Sein des Sinns, der Anschauung, der Empfindung, der Liebe. Das Sein ist also ein Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, der Liebe. Nur in der Empfindung, nur in der Liebe hat ,Dieses' diese Person, dieses Ding -, d. h. das einzelne, absoluten Wert [...]. Aber eben weil ,Dieses' nur in der Liebe absoluten Wert hat, so erschließt sich auch nur in ihr, nicht im abstrakten Denken, das Geheimnis des Seins." (317 f.) Damit hat Feuerbach den Begriff, der kritisch gegen Hegel gewendet den Bruch mit der Spekulation eingeleitet hat, mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. Andreas Arndt hat diese Wende treffend dargestellt: „Die Unmittelbarkeit erhält hier nicht allein die Bedeutung der Antithese oder Negation der Vermittlung im Denken, ist nicht bloß negativer Begriff als das vom Denken Un-vermittelte, sondern erhält eine positive Bedeutung als eine von der Reflexion getrennte aparte Sorte der Selbstvermittlung. Sie wird von der Unmittelbarkeit für ein bestimmtes, d.h. endliches Denken zur Unmittelbarkeit an sich"}1 Mit dieser, wie -

-

-

Andreas Arndt: „Unmittelbarkeit. Zur Karriere eines Begriffs in Feuerbachs und Marx' Bruch mit der Spekulation", in Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, hg. v. Hans-Jürg Braun, Berlin 1990,511.

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in einem anderen Aufsatz nennt, „Verwandlung des negativen Abgrenzungsbegriffs in eine positive Qualität" gerät Feuerbach, so Arndt weiter, „in konzeptionelle und terminologische Schwierigkeiten". „Konzeptionell: ist das Unmittelbare das Wahre, das Denken aber nur Vermittlung, wie kann dann das Denken Wahrheit beanspruchen? Terminologisch: Soll das Denken nicht in dieser Weise verabschiedet werden, wie kann dann etwas begrifflich als unmittelbar ausgezeichnet werden, was doch in die Vermittlung mit dem Denken eingeht und in sich selbst als Totalität ein Mannigfaltiges und darum Vermitteltes darstellt?"12 Nimmt man Feuerbachs Proklamation einer „unverfälschten, objektiven Anschauung des Sinnlichen"13 beim Wort, so ist sie als eine Form der Anschauung zu begreifen, die aufgrund der Abkopplung der Unmittelbarkeit von der Vermittlung auf die punktuelle Erfassung der Wirklichkeit beschränkt bleiben muß; die Totalität der Wirklichkeit schießt in dem einen Punkt suggestiver Unmittelbarkeit zusammen, der sich reflexiv nicht mehr einholen läßt. Im Anschluß an Karl Löwith14 ließe sich der Begriff der Unmittelbarkeit als Chiffre für eine spezifische referentielle Begegnung von Subjekt und Objekt oder als eine Geste verstehen, die auf etwas Konkretes, Individuelles in der Wirklichkeit verweist, das sich mit keinem Begriff aussagen läßt. Feuerbach scheint damit eine Form des Bewußtseins zu affirmieren, mit der sich Hegel in seiner Phänomenologie kritisch auseinandergesetzt hat. Arndt

es

II.

Anfang der Phänomenologie des Geistes setzt sich Hegel mit der sinnlichen Gewißheit auseinander. Charakteristisch für das Weltverständnis derselben ist ihr naiver Objektbezug, das fehlende Bewußtsein von der Vermitteltheit des Objekts und des Subjekts der Erkenntnis. Die sinnliche Gewißheit „sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache."15 Der Gegenstand wird von ihr aufgefaßt als etwas, das „ist, gleichgültig dagegen, ob er gewußt wird oder Am

13 14

15

Andreas Arndt: „Vernunft im Widerspruch. Zur Aktualität von Feuerbachs ,Kritik der unreinen Vernunft'", in Sinnlichkeit und Rationalität. Der Umbruch der Philosophie des 19. Jahrhunderts: Ludwig Feuerbach, hg. v. Walter Jaeschke, Berlin 1992, 32. Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 326. Löwith: Vermittlung (Anm. 4) 201, hat den Vorschlag gemacht, „anstatt vom Unmittelbaren zu reden [...] das damit Gemeinte das Sich-selber-zeigende, Sich-direkt-gebende oder, in Anlehnung an Husserl, originäre Selbstgegebenheit zu nennen." Dieses Interpretament ist in der Forschung dankbar aufgegriffen worden; vgl. u. a. Francesco Tomasoni: Ludwig Feuerbach und die nichtmenschliche Natur. Das Wesen der Religion: Die Entstehungsgeschichte des Werks, rekonstruiert auf Grundlage unveröffentlichter Manuskripte, Stuttgart-Bad Canstatt 1990,216; Ursula Reitemeyer: Philosophie der Leiblichkeit. Ludwig Feuerbachs Entwurf einer Philosophie der Zukunft, Frankfurt/M. 1988, 134 Fn.; Henning Röhr: Endlichkeit und Dezentrierung. Zur Anthropologie Ludwig Feuerbachs, Würzburg 2000, 38. Hegel: „Phänomenologie des Geistes" [im folgenden Ph], Werke, Bd. 3, Frankfurt/M. 1986, 82.

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nicht;

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er bleibt, wenn er auch nicht gewußt wird." (84) Subjekt und Objekt der sinnlichen Gewißheit stehen so scheinbar beziehungslos einander gegenüber. Hegel tritt nun an die sinnliche Gewißheit heran, um sie über ihre Wahrheit zu befragen. Auf die Frage, was das von der sinnlichen Gewißheit gemeinte besondere Dieses, Hier und Jetzt ist, erhalten wir z. B. die Antwort: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, stellt Hegel einen kleinen Versuch an, der auf das mediale Apriori des philosophischen Geistes verweist: „Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch aufschreiben nichts verlieren, ebensowenig, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist. Das Jetzt, welches Nacht ist, wird aufbewahrt, d. h. es wird behandelt als das, für was es ausgegeben wird, als ein Seiendes; es erweist sich aber vielmehr als ein Nichtseiendes." (84) Mit seinem Experiment demonstriert Hegel, daß das Jetzt kein Unmittelbares, sondern ein Vermitteltes ist. Das Jetzt ist Nacht, aber etwas später ist Jetzt Tag, dann Mittag usf. Das Jetzt hält sich als ein Identisches in den Unterschieden von Nacht, Tag oder Mittag durch; als ein Bleibendes ist das Jetzt gerade dadurch bestimmt, daß es die Negation seiner konkreten Inhalte ist, die, wie Hegel sagt, nur beiherspielen, bloße Beispiele sind. Das Jetzt ist so ein NichtDieses, gleichgültig gegen dieses wie jenes. Ein solches Einfaches, das durch Vermittlung ist, nennt Hegel ein Allgemeines. Das Gleiche ergibt sich, wenn statt eines Dieses-jetzt ein Dieses-hier betrachtet wird. Die sinnliche Gewißheit sagt z. B.: das Hier ist ein Baum. Ein bloßes Umwenden jedoch bringt diese Wahrheit der sinnlichen Gewißheit zum Verschwinden; das Hier ist jetzt kein Baum, sondern ein Haus. Dieser Baum und dieses Haus sind gleichgültig gegen das allgemeine Dieses. Zwar meint die sinnliche Gewißheit diesen bestimmten Baum oder dieses bestimmte Haus, aber es ergibt sich der Widerspruch, daß sie das, was sie meint, nicht sagen kann. Damit wird, wie vorher in bezug auf die Dimension der zeitlichen, so jetzt in bezug auf die Dimension der räumlichen Bestimmtheit des Seins der Anspruch der sinnlichen Gewißheit, ihres Gegenstandes unmittelbar gewiß zu sein, zuschanden; es zeigt sich wieder, daß die sinnliche Gewißheit das Sinnliche nur durch die Vermittlung hindurch wahrnehmen und nur als Allgemeines aussprechen kann. Vergleicht man jetzt das Verhältnis, in welchem das Wissen und der Gegenstand anfänglich auftrat, mit dem Verhältnis, wie es nach der Betrachtung des Dieses-hier und Dieses-jetzt erscheint, so ist zu sehen, daß es sich umgekehrt hat: Der Gegenstand, der zuerst das Wesentliche zu sein schien, ist jetzt zu einem Unwesentlichen geworden, und das Allgemeine ist jetzt nicht mehr auf der Seite des Gegenstandes, sondern auf der Seite des Wissens; wurde zuerst der Gegenstand als etwas gefaßt, das da ist, gleichgültig dagegen, ob er gewußt wird oder nicht, so wird er jetzt als etwas gefaßt, das ist, weil Ich von ihm weiß. Die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit liegt nun im Ich, in der Unmittelbarkeit seines Sehens, Hörens usw. Aber auch in diesem Verhältnis erfahrt die sinnliche Gewißheit dieselbe Dialektik wie in dem vorigen, denn auch das Ich erweist sich, wie vorher das Dieses, Jetzt oder Hier, als etwas Allgemeines. Die sinnliche Ge-

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wißheit erfahrt also, daß ihr Wesen weder im besonderen Gegenstand noch im individuellen Ich liegt; ihre Wahrheit ist das Resultat eines doppelten Prozesses der Negation, der Negation ihres scheinbar unmittelbar gegebenen Gegenstandes und der Negation des scheinbar unmittelbar gegebenen Ich. Mit dem Nachweis der doppelten Vermitteltheit des Wissens wird die anfängliche strikte Gegenüberstellung von Erkenntaisobjekt und Erkenntnissubjekt unhaltbar; weder das Erkenntnisobjekt noch das Erkenntnissubjekt sind unmittelbar gegeben. Die Wahrheit, auf die die sinnliche Gewißheit zielt, kann also nur als Verhältnis gefaßt werden; sie läßt sich nur im Ganzen der Beziehung, in der dialektischen Verschränktheit von Subjekt und Objekt finden. Die Dialektik der sinnlichen Gewißheit hat ihre scheinbare Wahrheit schal gemacht, denn das Dieses in seiner Unmittelbarkeit erweist sich als „vermittelte Einfachheit oder als Allgemeinheit" (85), vermittelt durch Denken und Sprache. Weil die sinnliche Gewißheit das besondere Dieses, das sie meint, nicht aussagen kann, und sich immer der Sprache, und damit eines Allgemeinen bedienen muß, kommt Hegel zu dem Schluß, daß „das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit" (85) ist und daß das, „was das Unaussprechliche genannt wird, nichts anderes ist als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte." (92) Feuerbach erhebt gegen diese Behandlung der sinnlichen Gewißheit entschiedenen Protest. Zwar sieht auch er, daß das einzelne Sein sich nicht sagen läßt, aber diese Unmöglichkeit des Aussagens des Einzelnen bedeutet für ihn nicht, daß der Gegenstand ein bloß subjektiv vermeinter ist. Feuerbach macht Hegel den Vorwurf, sich nicht wirklich in das sinnliche Bewußtsein hineingestellt und hineingedacht, sondern das sinnliche Bewußtsein nur so zum Gegenstand gemacht zu haben, wie es Gegenstand des Gedankens ist. Auf dieser Basis mußte Hegel entgehen, daß er „nicht das Hier, wie es Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und uns im Unterschiede vom reinen Denken Gegenstand ist, sondern das logische Hier, das logische Itzt Wie soll aber „das sinnliche Bewußtsein dadurch, daß das einzelne Sein sich nicht sagen läßt, sich widerlegt finden oder widerlegt sein? Das sinnliche Bewußtsein findet eben gerade darin eine Widerlegung der Sprache, aber nicht eine Widerlegung der sinnlichen Gewißheit." (43 f.) Eine Widerlegung der Sprache findet das sinnliche Bewußtsein deshalb, weil die konkreten Inhalte des Begriffs dem Individuum keineswegs gleichgültig, sondern wesentlich sind, was Feuerbach wiederholt anhand von Beispielen aus familiären Verhältnissen verdeutlicht: „Mein Bruder heißt Johann, Adolf, aber außer ihm sind und heißen noch unzählige andere auch Johann, Adolf. Aber folgt daraus, daß mein Johann keine Realität ist, folgt daraus, daß die Johannheit eine Wahrheit ist?" (43) Der zentrale Einwand, den Feuerbach gegen Hegel erhebt, ist der, auf dogmatische Weise die Wahrheit des Begriffs vorausgesetzt zu haben, so daß Hegel letztlich nicht aus dem Denken herauskommt zum wirklichen, konkret bestimmten Sein. Um zu diesem konkreten Sein hinzukommen, bedarf es Feuerbach zufolge des Rückgangs auf die sinnliche Anschauung, die dem Denken erst den Stoff für seine Arbeit liefert und an der das Denken seine

[widerlegt]".16

Feuerbach: KHP (Anm.

5), 45.

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Wahrheit auszuweisen hat. Erst die sinnliche Anschauung führt auf das Substrat zurück, das jedem Denken vorausgesetzt ist: auf die Natur und auf die Leiblichkeit. „Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinn gegeben, nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebene oder identische Objekt ist nur Gedanke. Wo kein Sinn, ist kein Wesen, kein wirklicher Hätte sich Hegel wirklich auf die Anschauung des Konkreten eingelassen, dann wäre er auf die reale Nichtidentität zwischen dem Gedanken und dem Ding, statt auf die Irrealität der sinnlichen Gegenstände auf die Grenzen der Sprache gestoßen: „Dem sinnlichen Bewußtsein sind alle Worte Namen, nomina propria; sie sind für dasselbe an sich ganz gleichgiltig, sie sind ihm nur Zeichen, um auf dem kürzesten Wege seinen Zweck zu erreichen. Die Sprache gehört hier gar nicht zur Sache. [...] Auf dem sinnlichen Gebiete heißt es: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ad rem: Worte hin, Worte her. Zeige mir, was du da sagst. Dem sinnlichen Bewußtsein ist eben die Sprache das Unreale, das Feuerbach hat in seiner Auseinandersetzung mit Hegel die zentrale Schwäche von dessen Philosophie, die identitätsphilosophische Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Sein, erkannt und der Kritik unterzogen. Andererseits bleibt Feuerbach bei der Anschauung, der Affirmation des Unmittelbaren stehen, die, wie oben gesehen, von der Reflexion abgekoppelt und im Gegensatz zum Denken aufgefaßt wird. Daß es Feuerbach nicht vermag, den Hegeischen Gedanken der Vermitteltheit alles Unmittelbaren gegen dessen idealistische Form zu kehren und damit festzuhalten,19 erscheint um so erstaunlicher, als sich Feuerbach selbst gegen Hegel in zentraler Weise auf die Vermitteltheit der Verhältnisse beruft und die Notwendigkeit eines Bruches mit der Hegelschen Philosophie gerade mit der Fülle der modernen Vermittlungen begründet. Es lassen sich drei Vermittlungsebenen unterscheiden. Zunächst einmal verweist die neue Philosophie auf ihre eigene Abhängigkeit von den überkommenen Systemen der Philosophie. Feuerbach sieht in der neuen Philosophie „die Realisation der Hegeischen, überhaupt bisherigen Konsequenterweise weist Feuerbach den Leser seiner Grundsätze der Philosophie der Zukunft dann auch schon im Vorwort darauf hin, daß die neue Philosophie „zu ihrer Würdigung eine genaue Bekanntschaft mit der Phieine Aussage, die in einiger Spannung zur losophie der neuern Zeit voraus behaupteten Popularität der neuen Philosophie steht. Neben diesen vorausliegenden theoretischen sind es weiter die Vermittlungen der gesellschaftlichen Praxis, die Feuerbach zufolge zu einem radikalen Bruch mit der theologischen Denkform nötigen. Die Unmittelbarkeit, von der die neue Philosophie spricht, ist, von der Objektseite her gesehen, eine durch die menschliche Praxis vermittelte, und als theoretische Kategorie ist sie

Gegenstand."17

Nichtige."18

Philosophie".20

[setzt]"21

-

Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 316. Feuerbach: KHP (Anm. 5), 43. Vgl. Alfred Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Materialismus, München-Wien 1988, 25. Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 295. Ebd., 265.

Ludwig

Feuerbachs

anthropologischer

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Reflexionsbegriff, der primär als Reaktion auf die Schwächen der idealistischen Systeme verstanden werden muß. Feuerbach knüpft damit in seinen Grundsätzen an frühere Einsichten in den Zusammenhang von praktischer Tätigkeit des Menschen und theoretischer Emanzipation von den theologischen Autoritäten an. Bereits im Wesen des Christentums, das in dieser Hinsicht Einsichten der Geschichte der neuern Philosophie ein

fortsetzt, hatte Feuerbach in den untrennbar miteinander verflochtenen Prinzipien ,Arbeit' und

,Bildung' die Voraussetzungen gesehen, ohne die es die von der neuen Philosophie proklamierte realistische Sichtweise nicht gegeben hätte.23 In den Grundsätzen lautet es dann folgendermaßen: „Das Sinnliche ist nicht das Unmittelbare in dem Sinne, daß es das Profane, das auf platter Hand Liegende, das Gedankenlose, das sich von selbst Verstehende sei. Die unmittelbare Anschauung ist vielmehr später als die Vorstellung und Phantasie."24 Später ist sie, weil sie Arbeit und Bildung, praktische und theoretische Vermittlungen oder, wie er es als Hegelianer noch ausgedrückt hatte, weil sie „ein bestimmtes Geistesprinzip" als ihren Grund zur Voraussetzung hat. Eng gefaßt ist unter diesem Geistesprinzip das „objektive Geistes- und Weltprinzip der neuern Zeit"26 zu verstehen; weiter gefaßt bedurfte es Feuerbach zufolge der ganzen bisherigen Weltgeschichte, im Verlaufe derer sich der Mensch aus dem Naturzustand herausgearbeitet hat, um zur unmittelbaren Anschauung bzw. zur Anschauung des Unmittelbaren zu kommen. Die Unmittelbarkeit ist so, wie auf der ,objektiven', so auch auf der subjektiven' Seite, Vermittlungsresultat; sie steht nicht am Anfang, sondern am Ende des historischen Prozesses. Zuerst nämlich sehen die Menschen „die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht, wie sie sind, sehen in den Dingen nicht sie selbst, sondern nur ihre Einbildungen von ihnen, legen ihr eignes Wesen in sie hinein, unterscheiden 27 nicht den Gegenstand und die Vorstellung von ihm." Wie diese Ausführungen deutlich belegen, geht der Vorwurf, Feuerbach sehe die praktischen Vermittlungen nicht bzw. er lasse bei seinem Übergang zum Materialismus die Vermittlungen der Praxis außer Betracht, an Feuerbachs ,Anschauung' vorbei; seinen rationellen Kern hat dieser Vorwurf jedoch darin, daß Feuerbach die neue Anschauung als Gegensatz zur Vermittlung begreift. Nachdem er sich im Kampf gegen die Spekulation auf die Vermittlungen der Praxis berufen hat, läßt er diese Vermittlungen in der ,objektiven' Anschauung untergehen, ohne daß Mittel bereitgestellt werden, die die Vermittlungen und damit die historischen Voraussetzungen seiner Hegelkritik und neuen Philosophie wiederzue-

-

-

24

25

26 27

Feuerbach grenzt sich dann auch entschieden vom Unmittelbarkeitsbegriff Jacobis ab; vgl. KHP (Anm. 5), 26. Vgl. zum Zusammenhang von Arbeit und Bildung Ludwig Feuerbach: „Das Wesen des Christentums", in (ders.) GW 5, 236, 363 ff. Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 325. Feuerbach nimmt in dieser Darstellung bis in den Wortlaut hinein Bezug auf seine Konzeption der Erfahrung, wie er sie in der „Geschichte der neuern Philosophie" (im folgenden GPh) entwickelt hatte (vgl. ders.: GW 2, 35). Feuerbach: GPh (Anm. 24), 35. Ebd., 34. Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 326.

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rinnern und zu denken erlauben. Von vielen insbesondere marxistischen Autoren ist Feuerbachs Stehenbleiben bei der Anschauung bzw. sein Fixieren der Unmittelbarkeit als Ausdruck der Befangenheit eines bürgerlichen Denkers interpretiert worden, der die materiellen Voraussetzungen der Herrschaft der Sprache entzieht und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft mit Schweigen belegt bzw. ästhetizistisch verklärt.28 Zweifellos ist mit der These, daß Feuerbachs erkenntaistheoretische Befangenheit letztlich eine klassenpolitische sei,29 ein wichtiger Aspekt der neuen Anschauung berührt. Allerdings ist die Problematik mit dem Hinweis auf die klassenpolitische Dimension noch nicht erschöpft. Wird Feuerbachs Bestreben, ein Bedürfnis der zeitgenössischen Praxis zu erfüllen und mit seiner Proklamation einer neuen Anschauung bzw. eines neuen Sehens nur das theoretisch nachzuvollziehen, was in der Praxis längst Wirklichkeit ist, ernstgenommen, dann läßt sich sehen, daß Feuerbachs Unternehmen, die Dinge „im zu erfassen, als theoretischer Reflex auf das neue Medium Original, in der verstehen das im Jahre 1839 im Jahr von Feuerbachs erster Hegelkriist, Fotografie zu tik erfunden worden ist und das möglich macht, was unter den Bedingungen „der bisherigen menschlichen Erfahrungsmethoden nicht möglich war",32 nämlich die Wirklichkeit „ohne Humanisierungsprozeß, ohne unsere humanisierende Umdeutung" bzw. wie es bei Heide Schlüpmann im Hinblick auf das Nachfolgemedium heißt „ohne Zwischenschaltung eines Denkens"34 sich selbst abbilden zu lassen. Die Kamera, als ein „Apparat zur Fixierung des Besonderen",35 dokumentiert „das Sosein und das Dasein der Dinge"; sie hält das Unaussprechliche, Einmalige, das dem Begriff verschlossen ist, fest. Weil einerseits Hegels Philosophie gesellschaftlichen Wahrnehmungsformen opponiert, die in vielerlei Hinsicht als Antizipation der neuen Wahrnehmungstechnologie erscheinen,37 und gegen die allgemeine zeitgenössische Tendenz einer Ästhetisierung der —

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Ursprache"31

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Vgl. Werner Schuffenhauer: Feuerbach und der junge Marx, Berlin 1965, 150. Vgl. Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit (Anm. 19), 27; Helmut Reichelt: „Zur Entwicklung der materialistischen Geschichtsauffassung", in Texte zur materialistischen Geschichtsauffassung, hg. v. H. Reichelt, Frankfurt/M u.a. 1975, 9. „Nicht zu erfinden zu entdecken, ,Dasein zu enthüllen' war mein einziger Zweck, richtig zu sehen mein einziges Bestreben." Ludwig Feuerbach: „Das Wesen des Christentums", in GW 5, 17. Feuerbach nimmt hier wie auch an anderen Stellen Motive des Realisten Siegfried -

Kracauer vorweg. Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 326. Karl Pawek: Das Bild aus der Maschine. Skandal und Triumph der Photographie, -

1968,35. Ebd., 24.

-

Olten-Freiburg

Heide Schlüpmann: Abendröthe der Subjektphilosophie. Eine Ästhetik des Kinos, Frankfurt/MBasel 1998,80. Pawek: Das Bild aus der Maschine (Anm. 32), 129. Ebd., 35. Vgl. dazu Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt/M. 1995, 126 ff. Obwohl gegen Wolfgang Wieland: „Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit", in Materialien zu Hegels .Phänomenologie des Geistes', hg. v. Hans Friedrich Fulda/Dieter

Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewibheit

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gesellschaftlichen Wirklichkeit als Medium einer wahren Darstellung derselben allein den philosophischen Begriff anerkennt, und weil andererseits Feuerbachs neue Philosophie auf den epochalen Wahrnehmungsumbruch reagiert, den das Aufkommen der Fotografie bedeutet, nehmen sich viele Beiträge, die sich mit der Fotografie und ihrem Verhältnis zur Sprache beschäftigen, wie Kommentare zum Verhältnis Hegel-Feuerbach und wie Paraphrasierungen der von Feuerbach proklamierten objektiven Anschauung aus,38 wie im weiteren hauptsächlich im Rückgriff auf Roland Barthes' klassische Studie zur Fotografie verfolgt werden soll. III. Wie für andere Autoren markiert auch für Barthes die Erfindung der Fotografie eine fundamentale kulturgeschichtliche Zäsur, weil mit der Fotografie ein Medium hervorgebracht worden ist, das auf eine qualitativ neuartige Weise die konkreten Phänomene der Wirklichkeit zu repräsentieren vermag. Während die vorangegangenen historischen Formen der Repräsentation ihre Gegenstände gleich, ob es sich um wirkliche oder rein imaginäre Gegenstände handelt mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durch konstruktive Arbeit erschaffen müssen, so daß selbst dort, wo versichert wird, es handele sich um die Wiedergabe von Tatsächlichem, das Objekt nur in anfechtbarer, dem Mißtrauen und der Kritik ausgesetzter Weise dargeboten werden kann, besteht zwischen der Fotografie und ihrem Gegenstand eine direkte Verbindung. ,„Photographischen -

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Henrich, Frankfurt/M. 1973, 79, der die sinnliche Gewißheit als „ein empirisches, konkretes und geschichtlich vermitteltes Bewußtsein" begreift, „das schon in einer Welt der von 1806 lebt", mit Merold Westphal: „Hegels Phänomenologie der Wahrnehmung" (in: ebd., 91) davon auszugehen ist, „daß mit diesem Namen überhaupt keine wirkliche Bewußtseinsform bezeichnet ist", -

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sind doch in Hegels kritischer Darstellung der sinnlichen Gewißheit eine Reihe von Motiven aufgehoben, die in späteren Werken unter der Form einer Kritik zeitgenössischer Anschauungsformen wiederkehren, so etwa in Hegels Kritik der romantischen Kunst: „[...] der Durst nach dieser Gegenwart und Wirklichkeit selbst, das Sichbegnügen mit dem, was da ist, die Zufriedenheit mit sich selbst, mit der Endlichkeit des Menschen und dem Endlichen, Partikulären, Porträtartigen überhaupt. Der Mensch will in seiner Gegenwart das Gegenwärtige selber, wenn auch mit Aufopferung der Schönheit und Idealität des Inhalts und der Erscheinung, in präsenter Lebendigkeit von der Kunst wiedergeschaffen als sein eigenes geistiges menschliches Werk vor sich sehen." Hegel: „Vorlesungen über die Ästhetik", in (ders.) Werke, Bd. 14, 196. Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Götz Großklaus: „Bewegung und Stillstand. Raumbilder im deutschen Film der siebziger Jahre", in (ders.) Medien-Zeit, Medien-Raum, Frankfurt/M. 1979, 161-167; Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/M. 1985, 83-102; Thomas Meyer: Die Transformation des Politischen, Frankfurt/M. 1994, 132-136; Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, o. O. 1997, 206-209; Jochen Hörisch: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt/M. 1999, 51-56, 140. „Das Auftreten der Photographie [...] schafft die Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet." Roland Barthes: Die helle Kammer. Anmerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1980, 97.

Falko Schmieder

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Referenten' nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv plaziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. [...] Anders als bei diesen Imitationen [gemeint sind die Darstellungen der traditionellen Repräsentationsformen; F. S.] läßt sich bei der Photographie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist." (86) „Die Photographie ist, wortwörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten." (90) Der privilegierte Zugang der Fotografie zu den Phänomenen des unmittelbaren Lebens bedeutet für Barthes weder, daß die Fotografie ihre Gegenstände nicht konstruiert, noch bedeutet er, daß die Fotografie ihrem Referenten notwendig ähnlich sein muß. Das spezifische Wesen der Fotografie ist nach Barthes von dem Umstand her zu erschließen, auf welche Weise das fotografische Bild zustandegekommen ist, nämlich durch eine direkte Einschreibung des Gegenstands auf die empfindliche Schicht. Diese neue Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezuges macht die Fotografie zum Medium der sinnlichen Gewißheit par excellence. „Das Wesen der Photographie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt." (95) „Die Photographie aber verhält sich gleichgültig gegenüber jeder Vermittlung: sie erfindet nicht; sie ist die Bestätigung selbst" (96) „Jegliche Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz." (97) Aufgrund ihres spezifischen Vermögens, die Präsenz des konkreten Einzelnen, des bestimmten Etwas beglaubigen zu können, bestimmt Barthes die Fotografie als Gegenpol zum Medium der Sprache. „Ohnmächtig gegenüber allgemeinen Vorstellungen (der Fiktion), ist ihre Kraft gleichwohl allem überlegen, was der menschliche Geist zu ersinnen vermag und vermocht hat, um uns der Wirklichkeit zu versichern" (96) „Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewißheit geben. Darin liegt das Übel (vielleicht aber auch die Wonne) der Sprache: daß sie für sich selbst nicht bürgen kann." (97) Andererseits kann das Foto „nicht sagen, was es zeigt." (111) „Die Photographie ist immer nur ein Wechselgesang von Rufen wie ,Seht mal! Schau! Hier ist's!'; sie deutet mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber und ist an diese reine Hinweis-Sprache „Eine Photographie ist immer die Verdieser sie das dieses eine ist's! und sonst nichts; da, das, Geste; genau sagt: längerung sie kann nicht in den philosophischen Diskurs überfuhrt werden, sie ist über und über mit der Kontingenz beladen, deren transparente und leichte Hülle sie ist." „Sie ist das absolute Besondere, die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte Kontingenz, sie ist das Bestimmte [...], kurz, die Tyche, der Zufall, das Zusammentreffen, das Wirkliche in seinem unerschöpflichen Ausdruck." Es ist nur wenig übertrieben zu behaupten, daß in der Literatur zu Feuerbach kaum eine Darstellung existiert, die Feuerbachs Bruch mit der bisherigen Anschauungsweise und das Wesen der von Feuerbach proklamierten neuen Anschauung besser als die gar nicht auf Feuerbach bezogenen fotografietheoretischen Ausführungen Barthes' zu illustrieren vermag. Daß es gerade

gebunden."40

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Ebd., 13. Vgl. (Anm. 6) 327.

zum

Motiv der deiktischen Geste Feuerbach: KHP

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Barthes: Die helle Kammer (Anm.

39),

12.

(Anm. 5), 43, sowie

GPZ

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fotographietheoretische Reflexionen sind, die in besonderer Weise Feuerbachs Bemerkungen über die neue Anschauung zu erhellen vermögen, ist kein Zufall, denn Feuerbachs neue Philosophie kommt nicht nur in demselben historischen Moment wie die Fotografie auf, sondern sie setzt sich zum Ziel, den zeitgenössischen Umbruch der gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen auf dem Feld der theoretischen Produktion zu vollziehen. Besonders aufschlußreich ist die Betrachtung von Feuerbachs neuer Anschauung aus der Perspektive einer fotographietheoretischen Arbeit insbesondere deshalb, weil in dieser Perspektive der von Feuerbach intendierte Ausbruch aus der philosophischen Fakultät sowie seine Behauptung, seine neue Philosophie sei zugleich als eine neue Religion zu verstehen, auf eine die Philosophie nachhaltig verstörende Weise in ihrer vollen existenziellen Härte ins Blickfeld treten. Um das weiter zu verdeutlichen, soll dem von Barthes in den zuletzt zitierten Passagen bezeichneten Aspekt der Heterogenität der beiden Formen der Repräsentation noch näher nachgegangen werden, wobei mit einem Blick auf Hegel begonnen werden soll. In Hegels Kritik an der Auffassung der sinnlichen Gewißheit sind im Hinblick auf die Fotografie zwei Dimensionen der Kritik von besonderer Relevanz. Die erste Dimension bezieht sich auf die Sprache. Hegel gibt zu verstehen, daß die sinnliche Gewißheit das bestimmte Etwas, das absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Ding, von dem sie meint, es sei ihr unmittelbar gegeben, nur vermittelt durch das Allgemeine der Sprache als solches namhaft machen, und überhaupt nur in solcher Vermittlung als bestimmtes Etwas wahrnehmen kann. Jeder Akt der Rekognoszierung des Besonderen impliziert Akte der Abstraktion und Negation, also der Vermittlung, die auf die Tätigkeit des Allgemeinen verweist. Die zweite Dimension bezieht sich auf das dynamische Wesen der Wirklichkeit. Hegel gibt zu verstehen, daß der Akt des Zeigens (bzw. der Aufnahme) des Objekts an eine bestimmte raum-zeitliche Konstellation gebunden ist, die sich mit jedem Augenblick verändert. Die sinnliche Gewißheit meint nur ein konkretes Dieses in einem bestimmten Moment des Hier und Jetzt, aber wenn sie versucht, das, was sie meint, zu fixieren, dann muß sie die Erfahrung machen, daß dies unmöglich ist, weil sich das unmittelbar Gemeinte bereits wieder verändert hat. Neben der Vermitteltheit des Unmittelbaren durch die Sprache ist es die Vermitteltheit des Unmittelbaren durch die Zeit, die den Anspruch einer unmittelbaren Fixierung des Besonderen zunichte macht. Hält man allgemein als ein Anliegen der Hegeischen Kritik an der sinnlichen Gewißheit den Nachweis der unhintergehbaren Vermitteltheit alles Unmittelbaren fest,42 dann kann sie universelle Gültigkeit beanspruchen. Andererseits scheint es so, als ob die Erfindung der Fotografie als einer „neuartigen Brücke zwischen Wirklichkeit und Geist"43 die gewissermaßen noch Gutenbergschen Gewißheiten der Hegeischen Auseinandersetzung mit der sinnlichen Gewißheit erschüttert hat; insbesondere von der zweiten Wahr-

Vgl. Thies: Philosophie und Wirklichkeit (Anm. 2), 444, 471. Pawek: Das Bild aus der Maschine Vgl. Hegel: Ph, 84.

(Anm. 32),

11 f.

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heit wird man sagen müssen, daß sie schal geworden ist, denn mit der Fotografie steht ein Medium bereit, das den Augenblick aus dem Zeitfluß herauszusprengen und im Bild dauerhaft zu fixieren gestattet. Aber auch die Hegeische Behauptung der Unhintergehbarkeit der bedeutungsstiftenden Rolle des Subjekts erscheint nach der Erfindung der Fotografie in einem etwas anderen Licht. Wenn Barthes festhält, „die Photographie sei ein Bild „ohne Code",45 sie verhalte sich „gleichgültig gegenüber jeder und lasse „die Sache selbst" sprechen, so sind das natürlich Aussagen, die zu problematisieren sind, denn selbstverständlich gibt die Fotografie, als Form der Vermittlung, selbstverständlich nur wieder eine Interpretation ihres Gegenstandes, mit dem sie nicht identisch ist. Barthes hat dann auch in allen seinen Arbeiten zur Fotografie selbst immer wieder auf die Codiertheit der Fotografie und die mannigfaltigen Vermittlungen aufmerksam gemacht, die in die fotografische Erfassung des Gegenstands einfließen, und ohne die überhaupt keine Fotografie zustandekommt. Wenn Barthes ungeachtet seines Wissens um die vielfachen kulturellen Faktoren, die in der Fotografie zum Tragen kommen, dennoch ganz Feuerbachianisch daran festhält, daß die Fotografie ein Bild ohne Code, oder, in den Worten der Hegeischen Kritik an der sinnlichen Gewißheit ist, dann deshalb, weil in gesprochen, „als Beziehung unmittelbare reine das der der Fotografie Subjekt vom Vorgang eigentlichen Konstituierung des Bildes ausgeschlossen ist. Das Subjekt betätigt eine Form der Vermittlung, die das Subjekt Auch wenn man sich, wie Philippe Dubois in objektiv aus der Vermittlung seiner einfühlsamen Entfaltung des ,,fotografische[n] Paradox[ons] einer ,Botschaft ohne Code'",50 der „Gefahr einer Metaphysik, ja sogar einer Epiphanie der Referenz" bewußt ist und sich vorsetzt, „diese Macht des Wirklichen im Status des Mediums zu relativisieren" (86) und „das fotografische Zeichen von diesem Phantasma einer Verschmelzung mit dem Realen [zu] befreien" (91), so kommt man doch nicht an dem Umstand vorbei, daß die Fotografie auf dem „Prinzip der physikalischen Verbindung, der tatsächlichen Kontiguität und des effektiven Kontakts zwischen dem Zeichen und sei-

Vermittlung"46

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-

-

Beziehung"48

verdrängt.4

Barthes: Die helle Kammer (Anm. 39), 99. Ebd., 96. Ebd., 55; vgl. auch 47. Hegel: Ph, 83. Westphal: Hegels Phänomenologie (Anm. 37), 90, bedient sich in seiner Charakterisierung der Wahrnehmungsform der sinnlichen Gewißheit als „unbefleckte Empfängnis des Gegebenen" eines Bildes, das nicht zufällig in fotografietheoretischen Zusammenhängen wiederkehrt (vgl. dazu Busch: Belichtete Welt (Anm. 37), 208, 221). Erhellend dürfte in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Psychoanalyse sein. „Erscheint das Foto [...] nicht als ein Traumbild oder kann man nicht sagen, daß die Fotografie hier, nach der berühmten Metapher Sigmund Freuds [aus dem Kapitel VII der Traumdeutung, F. S.] buchstäblich die Arbeit des Unbewußten ausführt?" Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam-Dresden 1990, 94. Die Triftigkeit dieser- von Dubois in etwas anderem als dem vorliegenden Zusammenhang gestellten Frage wird deutlich, wenn man sich Freuds Diktum vom Unbewußten als eines Psychischen, das nicht bewußt ist, vergegenwärtigt Ebd., 89. -

Hegels Kritik und Feuerbachs Rehabilitierung der sinnlichen Gewibheit

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nem Referenten" (90) beruht. Im Akt der Aufnahme schließt das Subjekt die Wirklichkeit mit der empfindlichen Platte kurz und löst sich damit für einen kurzen Moment im Akt der Vermittlung aus der Vermittlung heraus. Nur auf diese Weise wird möglich, und d. h. eben: am entscheidenden was Feuerbach als eine ,objektive', unverfälschte' Punkt nicht durch ein Subjekt vermittelte Anschauung der Wirklichkeit bezeichnet hat, wobei nun freilich sogleich festzuhalten ist, „daß sowohl vor als auch nach diesem Moment der natürlichen Einschreibung der Welt auf die empfindliche Fläche (dem Moment der automatischen Übertragung der Äußerlichkeiten) Gesten und Prozesse stattfinden, die zutiefst kulturell und vollständig von persönlichen und sozialen menschlichen Entscheidungen und Optionen abhängig sind. [...] In seiner ganzen Reinheit funktioniert das Prinzip des natürlichen Abdrucks nur zwischen diesem Davor und diesem Danach, zwischen diesen zwei Serien von Codes und Modellen, in dem Sekundenbruchteil, in dem der Lichttransfer selbst stattfindet. Hier liegt seine Grenze. Nur in diesem unendlich winzigen Moment, in diesem Zwischenraum, in dieser Erschütterung der Dauer ist das Foto die reine Spur eines Aktes, nur in diesem Moment unterhält es zu seinem Referenten eine Beziehung der vollständigen Unvermitteltheit, der wirklichen Ko-Präsenz und der physikalischen Kontiguität. Nur dann, in diesem sekundenschnellen Blitz, kann das Foto als ,Botschaft ohne Code' bezeichnet werden, weil hier und nur hier, zwischen dem vom Objekt ausgehenden Licht und dem auf dem Film hinterlassenen Abdruck, der Mensch nicht eingreift und nicht eingreifen kann, wenn er den grundlegenden Charakter der Fotografie nicht modifizieren will." (89) Auch wenn es sich zuletzt nur um einen „unendlich winzigen Moment" handelt, in dem „das Gewicht des Wirklichen, jenseits aller Codes" (50) unmittelbar durchschlägt, so ist es doch eben dieser Moment, der das innerste Wesen der Fotografie ausmacht, und von dem die besondere Faszinationskraft des neuen Mediums, sein vielbeschworener magischer Charakter herrührt. In einer Passage, die für Barthes wichtig geworden ist, hat das Walter Benjamin eindringlich zum Ausdruck gebracht: „die exakteste Technik [die Fotografie; F. S.] kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können."5 Barthes hat das von Benjamin bezeichnete Phänomen der von der Fotografie ausgehenden eigentümlichen Macht mit dem Begriff des punctum zu erläutern versucht. „Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich -

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Bei Pawek: Das Bild aus der Maschine (Anm. 32), 113 heißt es: „irgendwo blitzt das Leben." Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie", in (ders.) Gesammelte Schriften, Bd. II.1., hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1989, 371.

Falko Schmieder

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aber auch verwundet, trifft)." Dieses fesselnde, sprachlos machende Moment der Fotografie wird von Barthes nach dem Vorbild Benjamins aus dem spezifischen Charakter der Fotografie abgeleitet: Weil die Fotografie primär eine Emanation ihres Referenten ist, vermag sie den Betrachter tiefer als herkömmliche Bilder zu ergreifen. Diese stellen zwar auch das Besondere in seiner Besonderheit bzw. als Besonderes vor, aber doch unter Formen, denen es verwehrt ist, die Objekte selbst „im Original, in der Ursprache"55 sprechen zu lassen. Aus der automatischen Einschreibung der Dinge entspringen Bilder, die nicht nur die singulären Gegenstände sprechen lassen, sondern darüber hinaus in einer Weise, die sich prinzipiell der bewußten Kontrolle entzieht. Am Schnittpunkt dieser beiden Dimensionen der Kontingenz konstituiert sich für Barthes „die in der sich für ihn „auf utopische Weise die unmögliche wahre, ,totale Wissenschaft vom einzigartigen Wesen" (81) verwirklicht: Sie vollführt „die unerhörte Verschränkung von Wirklichkeit (,Es-ist-so-gewesen') und Wahrheit (JDas ist es!'); sie wird Feststellung und Ausruf in einem; sie führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt. Sie nähert sich dann tatsächlich der Verrücktheit, holt die ,verrückte Wahrheit' ein." (124) Diese Ausführungen von Barthes über die in der Fotografie verwirklichte unmögliche Wissenschaft vom einzigartigen Wesen sind nicht nur sprechend in bezug auf Feuerbachs Versuch der Errettung der singulären, individuellen Elemente der äußeren Wirklichkeit57 in der und durch die (liebevolle, unmittelbare) Anschauung, sondern vor allem im Hinblick auf das diesen Versuch einrahmende allgemeine Feuerbachsche Projekt einer Versöhnung der um Erkenntnis und Wahrheit bemühten Philosophie mit der am subjektiven Bedürfnis und Gefühl orientierten Religion. Wie oben gezeigt worden ist, muß Feuerbachs Philosophie scheitern, weil sie aufgrund ihrer Fixierung auf die Anschauung das, was einer Philosophie unabdingbar ist, nämlich Selbstreflexion, nicht zu leisten vermag. Als Organ einer neuen Religion dagegen vermag die objektive Anschauung durchaus zu dienen.58 Keineswegs zufällig treten in Barthes'

Photographie'",56

Barthes: Die helle Kammer (Anm. 39), 36. Pawek: Das Bild aus der Maschine (Anm. 32), 117, spricht von einer „erschreckende[n] oder hinreißende[n] Unmittelbarkeit". Feuerbach: GPZ (Anm. 6), 326. Barthes: Die helle Kammer (Anm. 39), 124. Die Anklänge an Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1985, sind beabsichtigt. Sie finden sich, ohne daß der Autor sich dessen bewußt geworden wäre, schon bei Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit (Anm. 19), 172, der treffend bemerkt, Feuerbach wolle „das Unmittelbare, weil Unwiederholbare, Singuläre retten." Vgl. auch die Formulierungen bei Thies: Philosophie und Wirklichkeit (Anm. 2), 444. Schon früh ist das von einem Zeitgenossen Feuerbachs, dem Literaturhistoriker Rudolf Haym, erkannt worden: „Eine Religion beweist sich nicht: sie spricht sich aus; was sinnliche Gewißheit ist, das bedient sich der Sprache und der Argumente der Sinnlichkeit, und das Sinnliche demonstriert man nicht; man zeigt es, man stellt es hin. [...] Die Sinnlichkeit, die Empfindung, die Liebe ist der Inhalt und ist zugleich die Form dieser Lehre [Feuerbachs; F. S.]. Sie will nichts sein, als

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Darstellung der besonderen Macht des fotografischen Bildes dann auch diejenigen Kategorien hervor, die Feuerbach zufolge allgemein für das Wesen der Religion charakteristisch sind: die Kategorien der Liebe, des Gefühls, des Affekts, des Wunders sowie der Kontingenz. Die Inhalte aller dieser Kategorien beziehen sich auf ein ,Unaussprechliches', das in Hegels Interpretation „nichts anderes ist als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte."5 Das Medium der Fotografie verhilft diesem Unaussprechlichen, dem singulär-Einmaligen zu einem direkten Ausdruck. In ihm wird, weil es das bestimmte

Sein „in seiner Unmittelbarkeit unmittelbar beglaubigt",60 die Gestalt der sinnlichen Gewißheit, die zu Lebzeiten Hegels als feste Gestalt noch gar nicht existiert hat, technisch implementiert und gerinnt damit zu einer objektiven Form, an der sich Feuerbach in seinem Kampf gegen die Theologie orientieren konnte. Für Feuerbach war es umso naheliegender, sich in die neue Form hineinzustellen bzw. sich zu ihrem Advokaten zu machen, als sich in ihr das Bedürfnis der Zeit nach einer sinnlichen Vergegenwärtigung der abstrakten Verhältnisse und nach einer ästhetisierenden Verklärung derselben befriedigen ließ, ohne daß der Anspruch der Objektivität (der Faktentreue und der Wissenschaftlichkeit) preisgegeben werden mußte. Wie schon dargetan worden ist, hängt die besondere Anziehungskraft des neuen Mediums, dessen Aufstieg nicht zufällig an das Porträt an die Aufnahme der ,geliebten Person' geknüpft war, mit diesem Doppelcharakter der Fotografie zusammen, der aus der spezifischen Form der Fotografie, ihrer „existenziellen Bindung an den Referenten",61 entspringt. Resümierend läßt sich feststellen, daß Feuerbachs Fixierung der Anschauung nicht nur eine theoretische Position markiert, sondern als theoretischer Reflex auf eine medientechnisch basierte Gestalt des Volksgeistes zu begreifen ist, die für die Konstitution des vorwissenschaftlichen Bewußtseins von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist. Sie ist also nicht nur als eine Position anzusehen, die mit Hegels Philosophie letztlich nicht kritisch fertig geworden ist, sondern ihr Pochen auf Unmittelbarkeit erliegt zugleich auch einem objektiven Schein, der sich aus den Formeigentümlichkeiten des neuen, Hegel noch nicht bekannten Mediums Fotografie ergibt. Die Folgen der gesellschaftlichen Institutionalisierung der Form der sinnlichen Gewißheit für das Hegeische Projekt der Selbsterkenntnis des Geistes liegen auf der Hand. Am eindringlichsten sind sie von Horkheimer/Adorno im Kulturindustrie-Kapitel ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben worden, das an Aktualität nichts eingebüßt hat. -

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die sich gegen die Unwahrheit der Abstraktion auflehnende, die einfache, sich selbst ponierende, sich selbst manifestierende Wahrheit des reinen Empfindens." (zit. n. Thies: Philosophie und Wirklichkeit (Anm. 2), 438 Fn.). Hegel: Ph, 92. So charakterisiert Arndt Feuerbachs objektive Anschauung „als antispekulatives, empirisches Organ". Andreas Arndt: ,„Nicht-Selbst und Selbst'. Bestimmtes Sein, Widerspruch und das Problem der Dialektik bei Ludwig Feuerbach", in Solidarität oder Egoismus, hg. v. Hans-Jürg Braun, Berlin 1994,77. Dubois: Der fotografische Akt (Anm. 49), 65.

II. Selbstbewußtsein

Harald Bluhm

Herr und Knecht

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Transformationen einer

Denkfigur Eine Skizze

Herr und Knecht war lange Zeit ein gängiger Topos, mit dem soziale Beziehungen und Machtverhältnisse beschrieben, kodiert und dekodiert wurden. Die Tradition der HerrKnecht-Beziehung reicht weit zurück. Antike Philosophen denken Herr-Sein als Selbstbeherrschung der Affekte und Triebe. Mehr noch, wie Nietzsche einmal exemplarisch formulierte: „Der griechische Philosoph gieng durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, dass es viel mehr Sclaven gebe, als man vermeine nämlich, dass Jedermann Sclave sei, der nicht Philosoph sei."1 Eine weitere Dimension bekommt der Gedanke beim im alten Rom lehrenden Stoiker und einstigen Sklaven Epiktet, der zeigt, daß man als äußerlich subalterner Mensch Herr seiner selbst und damit frei sein kann. Auch in der Theologie spielt der Topos eine bedeutende Rolle. So ist in das Exodus-Motiv der jüdischen Religion eingeschrieben, daß es gilt, im Namen des Herrn aus dem Haus der Knechtschaft auszuziehen und sich dabei selbst zu verändern. In der christlichen Religion geht es um die Gleichheit vor Gott, und Jesus gilt in der Trinititätslehre als Sohn und Knecht des Herrn. In dieser und anderen Religionen bildet die Transzendierung sozialer Ungleichheit durch geistige Subsumtion unter eine größere Aufgabe, das außerweltliche Heil, einen wesentlichen Gegenstand. Herrschaft und Freiheit sind die gegensätzlichen normativen Bezugspunkte, die diese Topik von Beginn an bestimmen. Erst in der Neuzeit wird die freiwillige Knechtschaft, die individuelle Freiheit suspendierende Selbstunterwerfung bei La Boethie wegweisend problematisiert. Zu mo-

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli/M. Montinari (im folgenden KSA), München 1988, III, 389 f. (Aph. 18). Zur politischen Deutung dieses Motivs vgl. Michael Walzer: Exodus und Revolution, Berlin 1988. Vgl. Stephan von La Boethie: ,Abhandlung von der freywilligen Dienstbarkeit, oder Das wider Einen", in Michel de Montaigne: Essais, Zürich 1992, Bd. 3, 491-538. Dieser Gedanke findet über viele Stationen, z. B. bei Tocqueville, eine Fortsetzung in Erich Fromms Buch Furcht vor der Freiheit (1941, dt. 1966). Foucault wird ausdrücklich festhalten, daß hier nicht das Problem

Harald Bluhm

62

dernen Thematisierungen von Herr und Knecht zählen darüber hinaus eine Reihe grandioser Romane über Don Quijote und Sancho Pansa bis zu Jacques der Fatalist und sein Herr. In der Philosophie nutzten vorzüglich Hobbes, Rousseau und insbesondere Hegel, Marx sowie die an sie anschließenden Philosophen diesen Topos. Vor allem bei den zuletzt genannten Theoretikern wurden nicht nur Herrschaftsverhältnisse, sondern auch deren Erzeugung und zum Teil deren Aufhebung gedacht. Nach dem zweiten Weltkrieg bis in die späten 60er Jahr hinein konkurrierten in Europa mit bezug auf Hegel existentialistische, anerkennungstheoretische, bewußtseinsphilosophische und marxistische Deutungen der Herr-Knecht-Dialektik. Die knapp angedeutete lange Tradition verebbte in den späten 1970er Jahren zunehmend und lief in den achtziger Jahren in der Bundesrepublik weitgehend aus. Insbesondere der aus Frankreich kommende Poststrukturalismus, aber auch die Luhmannsche Systemtheorie lösten das normativ aufgeladene Herr-Knecht-Konzept ab.4 Stefan Breuer bringt die Ablösung dieses Musters auf einen entscheidenden Punkt, wenn er den sozialhistorischen Begriff des Herrn und mit ihm einen strikten Begriff von Herrschaft angesichts polyzentrischer Machtstrukturen und neuer sozialer Figuren für obsolet erklärt.5 Hinter dieser Denkbewegung steckt, wie sich zeigen wird, freilich noch mehr. Im folgenden soll anhand ausgewählter Stationen nachgezeichnet werden, wie Herr und Knecht als mehr oder weniger stark normative Denkfiguren seit Hegel im Kontext europäischer Philosophie mehrfach transformiert wurden. Bei diesen Transformationen handelt es sich nicht um kumulativen Erkenntnisgewinn, sondern um eine Abfolge von Denkmodellen mit spezifischen Stärken und Schwächen. Mich interessiert darüber hinaus, inwieweit in den Transformationen bereits die Auflösung dieses Denkmusters angelegt ist und welche Rolle dabei die in ihm enthaltene Verknüpfung von sozialer und politischer Macht spielt. In einem ersten Punkt wird das von Hegel favorisierte ,Bildungsmodell' von Herr und Knecht, in das Lern- und Veränderungsprozesse eingeschrieben sind, skizziert. Zweitens zeige ich auf, wie Marx Hegels Konzept in ein Emanzipationsmodell verwandelt hat. Demgegenüber stellt Nietzsches Konzept, wie drittens argumentiert werden wird, ein ,Überbietungsmodell' dar, das auf den Kampf um die Position des Herrn fokussiert ist. Danach werden in einem vierten Abschnitt Einschränkungen des Emanzipationsmodells durch die Psychoanalyse, Kojève, Sartre sowie Horkheimer und Adorno skizziert. Anschließend wird vor diesem Hintergrund der Macht liegt, vgl. ders.: „Das Subjekt und die Macht", in Hubert L. Dreyftiss/Paul Rabinow/ Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, 243-261. Hanno Kesting: Herrschaft und Knechtschaft. Die „soziale Frage" und ihre Lösungen, Freiburg 1973; Werner Becker: Idealistische und materialistische Dialektik. Das Verhältnis von .Herrschaft und Knechtschaft bei Hegel und Marx, Stuttgart 1970,31,71. Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/M.-New York 1991, 9 f. Zum historischen Verständnis des Begriffs Herrschaft vgl. v. a. Dietrich Hilger: „Herrschaft", in Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur Historisch-Politischen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, 1-102. Mit der Typisierung der Modelle greife ich einen Vorschlag von Bernd Ladwig auf. '

Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur

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die explizite Auflösung der Herr-Knecht-Modelle in Foucaults ,Fluiditätskonzept der Macht' umrissen. Der Bruch mit der primär juridischen Auffassung der Macht wurde, wie ich zeigen möchte, allerdings gerade in der Tradition der Herr-Knecht-Dialektik vorbereitet. Meine allgemeine Überlegung läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die dualen Modelle von Herr und Knecht die Generierung von Macht, die Verknüpfung von sozialer und politischer Macht sowie die Ubiquität von Macht thematisieren, jedoch die Spezifik politischer Macht verfehlen. Politische Macht ist nämlich mindestens in einer dreistelligen Relation zu denken, und zwar von zwei Akteuren, die vor reellem oder virtuellem Publikum handeln und ihr Handeln legitimieren müssen.7 Wenn man sich vor diesem Hintergrund fragt, warum dennoch immer wieder auf die Denkfigur von Herr und Knecht rekurriert wurde, so liegt der Grund im wesentlichen darin, daß es sich bei ihr um eine reiche, bis zur Überkomplexität aufgeladene Denkfigur handelt, der auf mehrfache Weise Spannungen zwischen Herrschaft und Freiheit eingeschrieben wurden, und diese enorme Bedeutungsvielfalt macht die Attraktivität für politiktheoretisches Denken aus.

1. Das

Bildungsmodell

Dialektik von Herr und Knecht setzt die Konzepte von Hobbes und Rousseau voraus. Hobbes hatte den existentiellen Kampf im Naturzustand zur Grundlage der entstehenden Herrschaft gemacht. Er entwickelte auf dieser Basis sein Nullsummenkonzept der Macht, nachdem die Individuen ihre Macht auf den Staat übertragen, der die Summe der Macht verkörpert. Bei diesem Konzept geht es um die rechtlichpolitische Domestizierung physischer Gewaltsamkeit sowie um die hierauf gegründete Legitimität von Herrschaft. Ist Hobbes ein Staatsdenker, so birgt das Denken von Rousseau anarchistische Züge in sich. Für den vehementen Zivilisationskritiker sind der Staat und die Herrschaft nicht nur historisch entstanden, im Verlaufe der Geschichte wird auch die menschliche Natur deformiert, und gerade diese Deformation liegt den modernen Herrschaftsstrukturen und ihrer Legitimation zugrunde. Rousseaus Ideal ist bekanntlich eine nur unter einer Vielzahl von spezifischen Bedingungen mögliche kleine Republik, in der die Selbstregierung des Volkes realisiert werden kann. Für ihn ist es evident, daß viele moderne Menschen mit ihrer mehr oder weniger stark deformierten Natur sich dünken, Herren zu sein, reell aber nur Knechte sind, da sie unreflektiert ihren natürlichen' Interessen

Hegels

folgen.8

dazu Ronald Hitzler: „Eine formale Bestimmung politischen Handelns" sowie Harald Bluhm: „Hannah Arendt und das Problem der Kreativität politischen Handelns", beide in Konzepte politischen Handelns. Kreativität Innovation Praxen, hg. v. H. Bluhm/J. Gebhardt, BadenBaden 2001, 43-50, 73-94. Zu Hobbes vgl. Leo Strauss: „Hobbes' politische Wissenschaft in ihrer Genesis", in (ders.) Gesammelte Schriften, hg. v. H. Meier, Stuttgart-Weimar 2001, Bd. 3 sowie daran kritisch anschlie-

Vgl.

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64

Harald Bluhm

Hegels politische Theorie, insbesondere die Rechtsphilosophie, kann als Reformulierung

von

Problemen des Rousseauschen und Hobbesschen Denkens verstanden

wer-

den.9 Dies gilt insbesondere für seine Auffassung von Herr und Knecht als typisierten Sozialfiguren, bei der Motive des hobbesianischen existentiellen Kampfes ebenso relevant sind wie die von Rousseau pointierte mögliche Differenz zwischen Schein und Sein in den Rollen von Herr und Knecht. Zunächst sei knapp die theoretische Einbettung des Modells von Herr und Knecht in Hegels Phänomenologie rekapituliert. Sein Konzept ist in den Kampf um die Selbständigkeit des Bewußtsein eingeordnet, die nur in einem Anerkennungsprozeß erlangt werden kann. Er stellt die Aspekte dieses Kampfes logisch durch verschiedene Reflexionsfiguren dar. Aus der unvermittelten Interaktionsbeziehung wird via Kampf eine vermittelte. Der Knecht unterliegt im ursprünglichen Kampf um Leben und Tod; er muß, wenn er am Leben bleiben will, den Herrn als übergeordnet anerkennen. Nach dieser Etablierung eines Subordinationsverhältnisses spielt bekanntlich die gegenständlich vermittelte Tätigkeit (Arbeit) eine große Rolle. Sie ist eine Objektivationsform, in welcher der Knecht als der eigentlich Tätige erscheint. Der Herr bezieht sich nur über den Knecht auf die Gegenstände, er konsumiert und hat es nicht mit den dauerhaften Arbeitsmitteln zu tun. Bei diesen Verhältnisbestimmungen bringt Hegel meist die Denkfigur der selbstbezüglichen Reflexion ins Spiel. Das heißt, er fragt danach, was die über andere vermittelte Beziehung für die Entwicklung des Selbstbewußtsein bedeutet, welche die äußere Interaktion und gegenständlich vermittelte Tätigkeit begleitet. Das Selbstbewußtsein wird als Ergebnis einer Objektivation von Verhältnissen sowie deren Wahrnehmung begriffen und nicht als rein geistigsubjektiver Vorgang. Entfremdung und Selbstentffemdung des Knechtes in seinem Tun sind Seiten der Objektivation. Formuliert man Hegels Einsichten in einer anderen Sprache, so kann man sagen, daß er aus einem existentiellen Kampf10 die Genese eines politisch-sozialen Verhältnisses inklusive seiner Wahrnehmung ableitet.11 Dabei lassen sich in diesem Kontext generell ßend Ludwig Siep: „Der Kampf um Anerkennung bei Hegel. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften", in Hegel-Studien 9 (1974), 155-207, 74 f. Rousseau differenziert eine äußerliche Erscheinung von Herr und Knecht und eine mögliche andere básale Beziehung. So heißt es im Gesellschaftsvertrag: „Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über andere zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie." Jean Jacques Rousseau: Politische Schriften, hg. v. L. Schmidts, Paderborn 1977, Bd. 1,61.- Von hier aus kann dann das Modell emanzipatorisch entwickelt werden. Vgl. dazu auch J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, hg. v. H. Meier, Paderborn 19902, 251. Vgl. Thomas Petersen: Subjektivität und Politik. Hegels .Grundlinien der Philosophie des Rechts' als Reformulierung des Contrat Social Rousseaus, Frankfurt/M. 1992. Hans-Georg Gadamer hat mit Nachdruck daraufhingewiesen, daß für Hegel der Tod der „absolute Herr" ist. Vgl. Gadamer: „Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins", in Materialien zu Hegels .Phänomenologie des Geistes', hg. v. Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich, Frankfurt/M. 1973, 235. Hier folgt Hegel Hobbes (vgl. dazu Enzyklopädie § 433) und läßt aus diesem Kampf die Staaten entstehen. -

'

,

Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur

65

-

drei Perspektiven unterscheiden: das ,äußere' soziale Verhältnis von Herr und Knecht, das wechselnde Muster von Herrschaft und Dienstbarkeit im individuellen Ich sowie die Verschmelzung der äußeren und der inneren Beziehung. Hegel vertritt kein Nullsummenkonzept der Macht, sondern Macht wird im gegensätzlichen Tun der Akteure erzeugt und institutionalisiert. Die eigentliche Dynamik des Verhältnisses setzt nach der äußeren und inneren Anerkennung der Herrschaft als Ergebnis des Kampfes ein. Dann erweist sich der arbeitende Knecht als der aktivere Teil. Hegel thematisiert Konflikte und ihre institutionelle Regelung, aber nicht die Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse; sein Zielpunkt ist die Integration von Gesellschaft in einer gestuften politischen Ordnung. Er entwirft ein Modell, in welchem Herr und Knecht als soziale Figuren in ihrem Kampf Erfahrungen machen und sich bilden, das heißt sich als Akteure formieren und auch verändern. Im Rahmen dieses Bildungsmodells schreibt er dem Konfliktgeschehen eine Richtung zu und sieht den Schwerpunkt der Bildung beim Knecht. Niklas Luhmann erkennt hier eine einseitige Privilegierung in der Beobachtung, da wegen der Fixierung auf die gegenständliche Tätigkeit die Frage einer davon abgekoppelten kognitiven Entwicklung des Herrn außer acht bleibt.13 Man muß allerdings in Rechnung stellen, daß Hegel in historischer Perspektive behauptet, der Bürger kenne keinen eigentlichen Herrn und sei wesentlich auf die Ökonomie bezogen. Damit wird eine zeitdiagnostische Seite der Herr-Knecht-Dialektik deutlich.14 Für Hegel herrschen in der bürgerlichen Ordnung als ganzer nicht primär Individuen oder Schichten, sondern das Gesetz, das in einer institutionell gestuften Gliederung realisiert wird, in welcher der tätige Geist im Staat das wirklich Allgemeine zur Geltung bringt. Als Hüter und Exekutoren dieses Allgemeinen gilt die jenseits von Partikularinteressen konzipierte Beamtenschaft. Prinzipiell sollte man bei Hegel zwischen den sozialen Figuren von Herr und Knecht, die bei ihm eher vorbürgerlich-heroische sind, und dem im Bildungsmodell angelegten generellen Kampf um Anerkennung unterscheiden. Ansätze zu solchen Differenzierungen finden sich schon bei Alexandre Kojève und in jüngerer Zeit insbesondere in Axel Honneths Unterscheidung von Liebe, Recht und Solidarität als Formen gesellschaftli-

Vgl. George Armstrong Kelly: „Bemerkungen zu Hegels .Herrschaft und Knechtschaft'", in Materialien zu Hegels .Phänomenologie des Geistes (Anm. 10), 193. Vgl. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, 88. Ob der Kampf zwischen Herr und Knecht bei Hegel einer historischen Epoche zuzuordnen sei, wurde lange diskutiert. Neben der antiken sind die orientalische Despotie (vgl. Sergio Dellavalle: Freiheit und Intersubjektivität. Zur historischen Entwicklung von Hegels geschichtsphilosophischen und politischen Auffassungen, Berlin 1998, 144 ff), die feudale Gesellschaft (vgl. L. Siep: „Der Kampf um Anerkennung bei Hegel. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften", in Hegel-Studien 9 (1974), 155-207) u. a. m. vorgeschlagen worden. All diese Vorschläge sind problematisch, da sie die Verschränkung von logischen Argumentationen und historischen Exemplifizierungen bei Hegel tendenziell zugunsten der historischen Gestalten auflösen. Demgegenüber sollten die verschiedenen historischen Beispiele und der systematische Gehalt, die Hegels Modell seinen Reichtum und den schillernden Charakter verleihen, gleichermaßen berücksichtigt werden. '

Harald Bluhm

66

Anerkennung.15 Dabei rückt der Akzent allerdings eher auf die moralische Grammatik, die diesen Formen zugrunde liegt, und weniger auf die asymmetrischen Struktucher

und Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht. Zudem wird ein für Hegel zentrales Moment ausgeblendet. Hegel zielt nämlich gerade auf die Verknüpfung von Selbstbewußtsein, Anerkennung, psychischer Verfaßtheit, Interaktion, äußeren Verhältnisse und gegenständlicher Tätigkeit unter ungleichen Bedingungen. Sein leitender Gesichtspunkt ist die Entwicklung des Selbstbewußtseins vermittels Formung von Akteuren und damit mehr als einfache Anerkennung. Zugleich geht es bei ihm nicht im engeren Sinn um politische Macht und Anerkennung legitimer Interessen und Ansprüche, da Hegel gesellschaftliche und politische Akteure in ein Gesamtkonzept des Staates einordnet, in dem stufenweise das wahrhaft Allgemeine verwirklicht wird. Der Staat wird dabei nicht nur als rechtliche und politische, sondern auch als eine sittliche Ordnung aufgefaßt. Auf diese Weise werden zwar soziomoralische Grundlagen und Voraussetzungen von Politik thematisch, aber die eigentlich offene politische Auseinandersetzung, die auf der Grundlage bestimmter sozialer Macht und Herrschaftsstrukturen erfolgt, wird in diesem teleologisch ausgerichteten Konzept von politischer Ordnung nicht zum Problem. Implizit erweitert Hegel sein Herr-KnechtModell des Kampfes um Macht und Anerkennung um die Dimension der Anerkennung in einer politisch-institutionellen Ordnung. Er kann so soziale und politische Auseinandersetzungen verknüpfen, aber sein Verständnis der Politik bleibt wegen der grundbegrifflichen Fixierung auf ein duales Konzept des Machtkampfes und seiner Einbettung in eine teleologisch gestufte Ordnung defizitär. Wiewohl Hegel in seinem Modell von Herr und Knecht letzteren akzentuiert, verknüpft er die Bewußtseinsbildung und die Ausformung beider Sozialfiguren unauflöslich miteinander. Macht und Herrschaft werden in diesem Konzept in handlungs-, Subjekt- und strukturtheoretischer Hinsicht erörtert; gerade die Verknüpfung dieser Perspektiven kennzeichnet das Modell, das damit per se überlastet wird, wie die im folgenden diskutierten Variationen der Herr-Knecht-Topik noch verdeutlichen werden. Zugleich ist es gerade diese Verknüpfung verschiedener Perspektiven, die dieses Konzept für positive und kritische Wiederaufnahmen attraktiv gemacht hat. ren

Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992. Vgl Albrecht Wellmer: „Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen liberalen' und ,Kommunitaristen'", in (ders.) Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt/M. 1993, 54-80; Axel Honneth: Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001.

Vgl.

Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur

67

-

2. Das

emanzipatorische Modell

Karl Marx deutet die

Hegeische Dialektik von Herr und Knecht konflikttheoretisch und 1843 formuliert er seinen kategorischen Imperativ: Alle Verhältemanzipatorisch in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist, sind umzustürnisse, den In zen. Ökonomisch-philosophischen Manuskripten wird die industrielle Arbeit als Verkehrung der Kräfte des Arbeiters in ihren Objektivationen beschrieben, nämlich als Entfremdung und Selbstentfremdung in der Arbeit. In dieser Form werde Herrschaft reproduziert. Zugleich ermögliche die Entwicklung dieser Verkehrung historisch eine praktisch-revolutionäre Umkehr der Verhältnisse, sobald die Reichtumsproduktion groß genug ist. Nur der junge Marx stellt auf eine Vermittlung von äußeren Verhältnissen und psychischen Strukturen ab. Besonders plastisch ist dies in einer religionskritischen Passage. 1843 heißt es, ,futher hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, um.

weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. [...] Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten Dies ist, wie sich noch zeigen wird, auch eine im Überbietungsmodell von Herr und Knecht formulierte Einsicht. Das normative Ideal von Marx wird selten jenseits der Aufhebung von Herrschaft positiv faßlich. In einer Passage zu James Mill hat er es allerdings einmal angedeutet, dort spricht er von den vielfachen Spiegelungen der Subjektivität unter herrschaftsfreien Bedingungen, die jedes Individuum in seinem Tun, seinen Produkten und im Anderen erfahren würde. Dabei wird betont, daß wirkliche Anerkennung heißen würde, die Individuen nicht auf ihre Eigenschaft, bestimmte Rollen zu realisieren, zu reduzieren.19 Hier wird in knappen Zügen ein, wenngleich wenig elaborierter, anerkennungstheoretischer normativer Maßstab für die Kritik der Macht umrissen. Im Konzept der Praxis verbindet der junge Marx die Produktion von Verhältnissen, die Formierung von Akteuren und deren Tun. Er weitet damit Motive von Hegel aus und verknüpft sie mit dem emanzipatorischen Anerkennungsgedanken, der die Folie für seine Herrschaftsanalyse und -kritik bildet. Erst der mittlere und späte Marx buchstabiert die Idee des Kampfes und der Selbständigkeit des Bewußtseins im engeren Sinne klassentheoretisch aus. Statt einer Vermittlung von äußeren Verhältnissen und psychischen Strukturen von Individuen kommen dann nur noch Charaktermasken des Bürgerlichen, Proletarischen sowie die Rollen von Citoyen und Bourgeois ins Blickfeld. Über

gelegt."18

17

18 19

Karl Marx: „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung", in Marx/Engels Werke (im folgenden MEW), Berlin 1956 ff, Bd. 1, 385, 391. Ebd., 386 (Hervorhebung im Original). Vgl. K. Marx: „Auszüge aus James Mills Buch ,Elémens d'économie politique"', in MEW, Erg.bd. 1, 462 f.

Vgl.

68

Harald Bluhm

die Arbeiterklasse heißt es später eher funktionalistisch als praxisphilosophisch, daß sie ein eigenes Bewußtsein ihrer an sich vorhandenen Stärke gewinnen müsse. Marx nutzt generell Hegeische Denkfiguren der wechselseitigen und selbstbezüglichen Reflexion, um die Produktion' von Subjekten in bestimmten Verhältnissen und ihre wechselseitige Bestimmtheit zu denken.20 Die Schaffung der herrschaftsfreien Ordnung bedarf nicht nur eines bestimmten Produktivkraftstandes, sondern erfordert eine transformierte Arbeiterklasse. Dabei setzt Marx gleichermaßen auf strukturfunktionalistische Überlegungen und auf die Konstitution und Transformation der Klasse im revolutionären Prozeß, in dem sie erst zu einer herrschenden Klasse werde, die anschließend durch Selbsttranszendierung Herrschaft überhaupt abschaffen soll. Am Rande sei erwähnt, daß Marx kein Romantiker war, der alle verselbständigten Verhältnisse für aufhebbar hielt; die positiv entwickelte ,Kritik der politischen Ökonomie' ist eine Systemtheorie eigener Art. Der mittlere und späte Marx argumentiert viel weniger subjekttheoretisch als der junge Marx, da er zunehmend Herrschafts- bzw. Abhängigkeitsverhältnisse sowie deren Eigenlogik untersucht. Wenngleich die Kritik an entfremdeten Verhältnissen früh beginnt, wird erst in den ökonomischen Schriften verdeutlicht, daß die modernen kapitalistischen Verhältnisse primär in Kategorien sachlicher Abhängigkeit, von verselbständigten Produktivkräften und Ware-Geld-Beziehungen zu begreifen sind. Die herrschende und die unterdrückte Klasse und mit ihr die allgemeinen Sozialfiguren von Herr und Knecht rücken damit gegenüber den Strukturen und Verhältnissen in den Gerade weil Marx seine strukturellen Überlegungen in ein Emanzipationskonzept einfaßt, rekurriert er für ihre Vermittlung mit dem Klassenkonzept auf das Herr-Knecht-Modell und seine revolutionäre Aufhebung. Systematisch bleibt, wie häufig kritisiert wurde, die Vermittlung von handlungs- und strukturtheoretischen Überlegungen defizitär. Als Unterschiede zwischen Hegel und Marx bei der Verwendung der Denkfiguren von Herr und Knecht lassen sich mit Blick auf die Relationierung sozialer und politischer Macht drei Punkte herausheben:

Hintergrund.21

-

Marx denkt stärker konflikttheoretisch; so wird der Kampf der Klassen und sozialen Gruppen als andauernde und strategische, vor allem sozialökonomische Auseinandersetzung gefaßt, in der die Kombattanten ihr Tun in Formen und Verhältnissen objektivieren, wobei Politik und Ideologie nur abgeleitete Phänomene sind. Der

Die Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, Kap. 1; K. Marx: Das Die Umkehrung der Herr-Knecht-Beziehung in den Saturnalien, bei denen die Knechte für einen Tag den Herrn spielen können, geht für Marx mit enormer Brutalität dieser „Eintagsherren" einher, die nichts mit der wirklichen Aufhebung von Herrschaft zu tun hat. Vgl. MEW, Bd. 8, 354. Schon 1844 zitiert Marx zwei Sprichwörter, die die Differenz von feudalen (nulle terre sans maître) und kapitalistischen (l'argent n'a pas de maître) Verhältnissen verdeutlichen. Vgl. K. Marx: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte", in MEW, Erg.bd. 1, 506 f.

Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, 67.

Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur

69

-

entscheidende Akzent ist dabei die praxisphilosophische Idee der Veränderung der Umstände und der Akteure.

gleichzeitigen

Hegel wird durch Marx radikalisiert, da das Kampf- und Bildungsmotiv allgemeiner gefaßt und von der Ökonomie her auf alle Bereiche der Gesellschaft bezogen wird. Marx konzeptualisiert die Politisierung sozialer Fragen und gibt dem HerrKnecht-Modell im ganzen eine emanzipatorische Wendung, die geschichtsphilosophisch abgesichert wird und bis zur Aufhebung des Staates und der Politik führt. Damit wird nicht nur der konflikttheoretische Zugang enorm verengt, sondern Politik, der ohnehin nur eine höchst relative Eigenständigkeit zugemessen wird, bleibt prinzipiell an ökonomische Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen gebunden. Innerhalb seines emanzipatorischen Konzeptes erschließt Marx die ökonomischen Verhältnisse sowie kollektive soziale Akteure für die Machtanalytik, aber nur in geringem Maße die Politik selbst, also den Staat und die liberale Demokratie. Auch er bleibt in den Grenzen des dualen Modells stecken. Hegel denkt Staat und Politik in der Perspektive der Generierung des wahrhaft Allgemeinen und entwirft eine gestufte politisch-institutionelle Ordnung. Marx verfugt über keine Institutionenlehre, aber er hat einen Blick für die politische Auseinandersetzung, den er in historischen Schriften wie dem 18. Brumaire beweist. Er denunziert allerdings die dramaturgische Dimension politischen Handelns in der liberalen Demokratie als Schauspielerei und Decouvrierung von Klasseninteressen und verstellt sich systematisch den Zugang zur Politik und der Legitimitätsproblematik. Insgesamt vertreten Hegel und Marx ein historisch fundiertes Modell von Herr und Knecht, in dem Macht und Unterordnung ein große Rolle spielen. Es ist aber weder ein bloßes Repressionskonzept noch ein Nullsummenkonzept der Macht. Damit gehen beide über den von Hobbes aufgespannten Denkrahmen hinaus. Ihre dialektischen Konzepte sind dadurch gekennzeichnet, daß eine große Anzahl von Motiven (Arbeit, Herrschaft, Bildung, Selbstbewußtsein, Anerkennung) bis zur Überfrachtung des Modells miteinander verwoben werden. Zudem sind sie gegensätzlich angelegt. Hegels Modell ist das einer Bildung des Knechts, aber keines revolutionärer Emanzipation wie bei Marx. Dadurch, daß Macht hier vermittels der Sozialfiguren von Herr und Knecht gedacht wird, ist sie nicht eng determiniert, sondern bezeichnet ein Möglichkeitsfeld des Handelns dieser Figuren. -

-

3. Nietzsches Wenn am

es um

Überbietungs- und Steigerungsmodell der Macht des Herrn

die

Denkfiguren von Herr und Knecht geht,

dann wird Nietzsches Kritik

Christentum, zumindest in Deutschland, selten beachtet, wiewohl er in diesem Kon-

text ein

sung

Gegenmodell zu Hegel und vor allem zu Marx entwickelt hat. In seiner AuffasHerr und Knecht, letzterer bei ihm meist allgemein als Sklave gefaßt, sind es

von

70

Harald Bluhm

bekanntlich die Knechte, die Subalternen, welche die vormaligen Herren überwinden. Nietzsche begreift den Siegeszug des Christentums als erfolgreichen ,Sklavenaufstand der Moral', bei dem die Christen die Römer subsumieren, indem sie deren Stärke als moralisch schlecht und die eigene Schwäche als moralisch gut umdeuten. Für den aristokratischen Standpunkt, den Nietzsche einnimmt, ist dies ein weltgeschichtlicher Wendepunkt mit verhängnisvollen Folgen. Bei Nietzsche kommen die Knechte bzw. Sklaven vor allem dadurch zur wirklichen Herrschaft, daß sie ihre Moral, die Gleichheits- und Gerechtigkeitsorientierungen beinhaltet, zur Geltung bringen. Ihre Dominanz wird von einem neuen Diskurs begleitet. Es geht hier allerdings nicht um Wertsetzung im eigentlichen, emphatischen Sinne, sondern um das schöpferisch Werden' des Ressentiments. Nietzsche hat diese Kritik am Christentum und dem Sklavenaufstand in der Moral auch gegen den Sozialismus gewandt. So wirft er den Sozialisten, die für ihn offensichtlich auch durch die Dominanz der nivellierenden und moralisierenden Gleichheitsvorstellungen des Christenttims in der Moderne geprägt sind, vor, daß sie selbst die Begriffe Herr und Knecht ablehnen.23 Nietzsche vertritt ein Überbietungsmodell der Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht, das auf die Position der ,Herren' fokussiert ist. Herr ist dabei allerdings nicht im empirisch platten Sinne derjenige, der jemanden beherrscht, sondern derjenige, der sich unter hohem Einsatz und Risiko selbst überwindet. In diesem Sinne fordert er die Entwicklung von Übermenschen, eine außerordentliche Steigerung individueller Fähigkeiten. Macht wird als produktiv begriffen, als eine Steigerung von Fähigkeiten und Möglichkeiten. Nietzsche löst dabei das Herr-Knecht-Konzept von seiner vormals soziologisch-deskriptiven Funktion ab. Zudem faßt er die Beziehung zwischen Herr und Knecht sowie die Selbstbeziehung des ,Herrn' explizit als Machtverhältnisse. Durch Individualisierung verliert die Herr-Knecht-Beziehung die historisch-gesellschaftliche Dimension, die sie bei Hegel und Marx hatte, und damit auch ihre geschichtliche Gerichtetheit. Es ist gerade die Umkehrung der gesellschaftskritischen Herr-Knecht-Dialektik, vermittels deren die Ubiquität und Perspektivität der Macht gedacht und zum Tragen gebracht wird. Die Ausdehnung des Machtkampfes ruht auf anthropologischexistentiellen Prämissen, und von hier aus erfolgt auch Nietzsches Kritik am vernunftzentrierten Subjektbegriff. Er hält dabei aber selbst an einer starken Subjektvorstellung fest, indem er auf einen heroischen Begriff des Herrn, die Möglichkeit der Selbststeigerung zum ,Übermenschen' setzt.24 Damit wird das Kampfmotiv in den Herrn eingelagert; nicht im Kampf mit anderen, sondern primär im Kampf mit sich selbst und durch Selbsttranszendierung können die ,Herren' neue Werte setzen. Nietzsche akzentuiert Homer statt Piaton ist Nietzsches Losung, die seine leistungs-aristokratische Intention und Vorliebe für den Agon verdeutlicht. Vgl. F. Nietzsche: „Zur Genealogie der Moral", in KSA (Anm. 1), Bd. 5,402. Ebd., 125. Vgl. ebd., 213.

Herr und Knecht

Transformationen einer Denkfigur

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-

kaum die äußeren Verhältnisse, sondern stellt vielmehr einen Zusammenhang zwischen den äußeren Machtrelationen und den Moralen der gegensätzlichen Akteure her. Moral wird dabei als historisch erzeugte und objektivierte Form und gleichzeitig als subjektiv variierbare Voraussetzung des Handelns begriffen, die Rückwirkungen auf den Akteur hat. Diese Seiten interessieren Nietzsche und nicht die konkreten Formen und Verhältnisse, in denen Handeln und Kämpfe realisiert werden. Seine produktivistische Wendung der Macht und Herr-Knecht-Problematik ist individualistisch und betont die Fähigkeiten des Individuums zur Wertsetzung; dabei stellt er auf die Körperlichkeit des Individuums, seine Leiblichkeit ab und verfallt nicht selten in eine naturalisierende Sprache. Das produktivistisch-instrumentelle Verständnis von Macht hat Anknüpfungspunkte für autoritäre und totalitäre Vereinnahmungen Nietzsches geliefert. Man muß dem allerdings entgegenstellen, daß Nietzsche metahistorisch-psychologische, zivilisationskritische Erklärungen von Kämpfen und Auseinandersetzungen entwickelt hat, die 25 jenseits solcher zeitdiagnostischen Vereinnahmungen liegen. Das Überbietungsmodell läuft, was soziale und politische Fragen angeht, auf eine strikte Dekontextualisierung hinaus. Damit vollendet Nietzsche die Typisierungstendenz der beiden Sozialfiguren, und aus ihrer Verallgemeinerung speisen sich Stärken und Schwächen seines Konzepts. Zum einen werden gerade auf diese Weise gleichzeitig die Herr-Knecht-Beziehung und die Idee des Machtkampfes universalisiert. Im Kern dreht Nietzsche, was bei Marx eine Unterdrückungsgeschichte ist, um: in einem nicht erklärten Krieg kämpft das Christentum und mit ihm die dominierenden Knechte gegen die .Herren'. Bei dieser Umkehrung wird die Herr-Knecht-Dialektik im Kern metahistorisch begriffen, das heißt, es wird die Universalität des Machtkampfes und seine Unentrinnbarkeit betont. Von einem anthropologisch existentiellen Standpunkt her wird hier der machtanalytische Zugriff auf alle Bereiche der Gesellschaft eröffnet, wobei sich Nietzsche wesentlich auf Fragen der Moral und des Wissens beschränkt. Es geht ihm um eine innere Geschichte des Kampfes um die Macht und die moralisch-geistigen Ressourcen und Strategien, auf denen er beruht. Er nimmt systematisch keinen Brükkenschlag von handlungstheoretischen zu strukturtheoretischen Überlegungen vor, da er den einheitlich gedachten Subjektbegriff, mit dem Hegel und Marx diese Verbindung bewerkstelligten, destruiert. Der Preis seines allgemeinen Konzeptes von Macht ist eine mangelnde Differenzierung zwischen ihren Formen. Jedoch hat erst Nietzsche dem Gesichtspunkt der Ubiquität der Macht zum Durchbruch verholfen und eine Blickwendung auf den ,Herrn' und die Eliten propagiert, die seine Kritik an Emanzipationskonzepten trägt. Sein in eine Zivilisationskritik eingelassenes Konzept der Macht, eines andauernden Machtkampfes ist metapolitischer Art und interessiert sich nicht für die Spezifik von Politik und politischer Herrschaft.

dazu Karsten Fischer: .Verwilderte Selbsterhaltung'. Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno, Berlin 1999.

Vgl.

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Eine hier nur anzudeutende Wendung der Problematik nimmt Max Weber in seiner Herrschaftssoziologie vor. Er schließt zwar an Marx und Nietzsche an, wendet die Problematik aber ins Empirische. Von Marx nimmt Weber die Einsicht in die Bedeutung der Ökonomie und der Bedeutung der Mittel für das Handeln auf, von Nietzsche den Gedanken der Ubiquität der Macht. Vor diesem Hintergrund bestimmt Weber Herrschaft, wobei er wesentlich auf politische Herrschaft abzielt, implizit als eine dreistellige Relation, in der es immer um ihre Legitimität geht. Die Legitimität bezieht sich nun aber nicht nur auf den Herrn und den ihm unterworfenen Personenkreis, es ist zugleich auch immer die Legitimität einer Ordnung berührt, und insofern sind andere Akteure, die in dieser Ordnung leben oder, modern gefaßt, ist die Öffentlichkeit als eine dritte Bezugsgröße immer präsent. Diese Wendung bedeutet nicht nur eine Entnormativierung der Problematik, sondern eine Ablösung vom dualen Modell von Herr und Knecht. Weber hält dabei an einem Begriff des Herrn und der Herrenvölker fest, wie er für das klassisch bürgerliche Zeitalter, das nach dem ersten Weltkrieg zu Ende ging, durchaus charakteristisch war. Die folgenden Variationen und Einschränkungen des Herr-KnechtModells sind vor dem Hintergrund der modernen Massengesellschaft zu begreifen, die die Anwendungsmöglichkeiten dieses Modell massiv verändert hat.

4.

Einschränkungen und Substitution des Herr-Knecht-Modells

Die Herr-Knecht-Topik ist Anfang des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Theoretikern fortgeführt und kritisiert worden; die typisierten Sozialfiguren werden dabei zu Chiffren von Positionen asymmetrischer Über- bzw. Unterordnung. Meine knappen Erläuterungen zu verschiedenen Einschränkungen des emanzipatorischen Modells durch Freud, Adorno und Horkheimer sowie durch Kojève und Sartre sollen wesentliche Veränderungen verdeutlichen und zugleich zeigen, wieweit in diesen Transformationen der Auffassung von Herr und Knecht die Auflösung dieser Denkfiguren vorangetrieben wurde. Freud nimmt parallel zu Nietzsche eine zivilisationskritische Dezentrierung des Subjekts vor, die mit einer Wendung der Herr-Knecht-Problematik ins Innere der IndividuDie berühmte Überlegung aus seinen Vorlesungen zur Einführung in en die Psychoanalyse lautet, seine Theorie laufe auf eine dritte Kränkung des Menschen hinaus; nach dem Ende des anthropozentrischen Weltbildes, nach der Darwinschen Abstammungslehre wird nun gezeigt, daß das Ich nicht einmal Herr im eigenen Haus

einhergeht.26

Philosophiegeschichtlich vollzieht schon Kierkegaard die existentielle Wendung des dialektischen

Denkens nach innen. Sartre wird in diesem Sinne festhalten: „Hier wie überall muß man gegen Hegel Kierkegaard ins Feld führen, der die Ansprüche des Individuums als solchen vertritt." JeanPaul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek 2001, 435.

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-

ist. Damit ist nicht der traditionelle Konflikt von Leidenschaft und Vernunft gemeint, vielmehr stellt Freud auf einen generellen Konflikt zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Ich, Über-Ich und Es ab. Auf diese Weise wird das Ausmaß möglicher Selbstbeherrschung per se limitiert und zugleich ein prinzipielles Konfliktmodell der Person entworfen. Von diesem Ansatz her können alle einfachen Emanzipationsvorstellungen, die auf emphatischen Vorstellungen von Selbstbestimmung der Individuen aufruhen, unterlaufen werden. Freud wendet sich auch direkt gegen marxistische Vorstellungen von Emanzipation, die auf deren ökonomische Grundlagen fixiert sind. Sein Konfliktmodell der Person hat zwar naturalistische Züge, aber es wird als im Kern formales anthropologisches Konzept von ihm universell zur Kritik an der Zivilisation angewandt. Der Mensch liegt in jeglicher Gesellschaft nicht nur mit seiner biologischen Triebverfassung im Konflikt, sondern die gesellschaftlichen Strukturen und insbesondere Abhängigkeitsverhältnisse schlagen sich in der Ausformung des Über-Ich und teilweise des Es nieder. Sie sind repressive bzw. limitierende psychische Instanzen. Aus der Radikalität, mit der Freud den innerpsychischen Konflikt denkt, resultiert seine Ablehnung harmonisierender Vorstellungen und das Problem der Dominanz eines der Seelenbezirke. Daraus folgt für die psychologische Wendung der Herr-Knecht-Topik: Ein Knecht ist äußerlich und innerlich Knecht und kann höchstens teilweise Herr seiner selbst werden, wie umgekehrt gilt, daß auch der Herr kein souveränes Individuum ist, sondern seiner Natur, seinen Sozialisationsbedingungen und der damit im Zusammenhang stehenden psychischen Verfaßtheit unterworfen bleibt. Auf diese Weise wird die Idee des souveränen Individuums deutlich eingeschränkt. Diese bekannte und hier nur angedeutete Argumentation wendet die Herr-KnechtBeziehung und das Konflikt- bzw. Machtproblem nach innen. Sie ist für universelle Kritik an Emanzipationsmodellen geeignet, birgt aber kein einfach operationalisierbares allgemeines Machtkonzept in sich. Von Marx inspirierten Theoretikern, die mit dem orthodoxen Emanzipationsmodell haderten und generelle persönlichkeitstheoretische Defizite erkannten, schien eine Verbindung mit dem freudianischen Ansatz geeignet, um dessen Schwächen zu überwinden. Dabei konnten Freuds methodisch weitreichende Überlegungen oft nur partiell aufgenommen werden.28 Theodor Adorno und Max Horkheimer gehen in der Dialektik der Aufklärung mit Bezugnahme auf Nietzsche und Freud radikal vor. Sie erkennen eine endlose Verstrickung von Herrschaft und Knechtschaft, die klassentheoretisch nicht mehr aufgelöst werden kann, und nehmen eine Inversion So die 18. von S. Freuds „Vorlesungen zur Einführung in Psychoanalyse", in (ders.) Studienausgabe, Band 1, Vorlesungen, Frankfurt/M. 199412, 283 f. Nebenbei gesagt wird hier die HerrKnecht-Topik auf das Haus bezogen und damit indirekt ihre Relevanz für den öffentlichen Raum problematisiert. Eine Verknüpfung von Marx und Freud hat unter anderem Erich Fromm in Escape for Freedom (1941) entwickelt. Fromm untersucht sozialpsychologische Gründe für die Selbstunterwerfung die Grundlage autoritärer und totalitärer Herrschaft. -

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der emanzipatorischen Variante des Bildungsmodells beider Sozialfiguren vor. Herrschaft sowie Rationalität und auch die Auflehnung gegen sie führt demnach, so oder so, Hier kommt die emanzipatorisch gedachte immer zu mehr Herrschaft und Herr-Knecht-Dialektik an ein Ende. Die Kritische Theorie bleibt allerdings diesen Denkmustern insofern treu, als sie nach wie vor eine Folie der Kritik bilden. Vor der nur noch als Horizont denkbaren Idee von Freiheit und Solidarität werden mit Bezug auf dieses Modell Herrschaft, Selbstunterwertung, Manipulation und Deformationen beschrieben.

Regression.29

Auf den ersten Blick scheinen Jean-Paul Sartre und Alexandre Kojève, zwei in Frankreich wirkungsmächtige Theoretiker, die Herr-Knecht-Dialektik zu kontinuieren. Genauer besehen, variieren sie das Modell auf eine andere Weise als Freud und die Kritische Theorie. Auch sie schränken es dabei in seiner Geltung deutlich ein. Die Art der Einschränkung divergiert zwischen beiden Autoren freilich beträchtlich. Kojève nimmt mit seiner Idee vom Ende der Geschichte dem emanzipatorischen Modell das normative Telos. Auch Sartre greift auf Hegels Kampf von Herr und Knecht zurück. Er schränkt das emanzipatorische Modell dadurch ein, daß er das Ideal gelungener Interaktionsbeziehungen näher faßt und normativ auszeichnet. Für beide Philosophen ist Nietzsche und seine Auffassung von Herr und Knecht ein gemeinsamer Bezugspunkt. Schon die übliche einheitliche Übersetzung von ,Herr und Knecht' bei Hegel und Marx sowie ,Herr und Sklave' mit ,maître et esclave' legt im französischen Diskurs eine Verbindung zwischen Hegel und Nietzsche nahe. Kojève hat in seinen den französischen Diskurs stark prägenden Vorlesungen zur Hegeischen Phänomenologie in den 1930er Jahren unter neuen Prämissen auf den existentiellen Kampf zwischen Herr und Knecht rekurriert.31 Für ihn ist Hegels Ansatz ein metahistorischer, bei dem man den Bezug auf die historischen Figuren vernachlässigen und umstandslos für alle Akteure verwenden kann. Es gibt auch zunächst keine unmittelbaren sozialen Zulassungsgrenzen, da der Kampf von allen begonnen werden könne und ergebnisoffen sei. Entscheidend ist zum einen, daß sich der Kampf um Anerkennung dreht,32 und zum anderen, wie hoch der Einsatz ist. Nur wenn ein hoher Einsatz auf dem Spiel steht, so wird hier ganz nietzscheanisch gedacht, also dann, wenn letztMit ausdrücklichem Bezug auf Hegel und jenseits von dessen Bildungsmodell heißt es: „Der Knecht bleibt unterjocht an Leib und Seele, der Herr regrediert. [...] Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, 42. Vgl. Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt/M. 1981, 187 f. Zur jüngeren Kojève-Literatur vgl. Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. VII, hg. v. Piet Tommissen, Berlin 2001, 394—398. Schmitts Auffassung des Politischen als Kampf zwischen Freund und Feind, der öffentliche und existentielle Dimensionen hat, ist eine Variation der Herr-Knecht-Problematik, die hier außer Betracht bleibt. Alexandre Kojève: Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1975, 284 f.

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lieh um das Leben gekämpft wird, gibt es als Ergebnis ein antagonistisches HerrKnecht-Verhältnis. Die Moderne, die Kojève im Horizont des hegelschen Endes der Geschichte deutet, sei eine postheroische Gesellschaft, in der kaum noch „blutige Prestigekämpfe" stattfänden.33 Es gäbe keine großen Fragen und wenig große Spieleinsätze im Kampf. Kojève, dessen Zeitdiagnose nach 1989 noch einmal prominent gemacht wurde, hat schon in den 1950er Jahren in Japan das Ende der Geschichte kommen sehen. Dort erkannte er eine Konsumgesellschaft, in der existentielle Fragen in den Hintergrund gerückt sind. Wiewohl Kojève den heroischen Zeiten nachtrauert, auch aus dieser Quelle speist sich seine Affinität zum Kommunismus, denunziert er das Ende der Geschichte nicht im Sinne von Nietzsches Polemik gegen den letzten Menschen. Vielmehr kann er diesem pazifizierten Endstadium einen Sinn abgewinnen, der in der wenig beschwerten Existenz der Vielen liegt. Sartre deutet Herr und Knecht demgegenüber nicht im Horizont eines Endes der Geschichte, sondern ausstehender Emanzipation. Generell sind Hegel und Marx dabei für ihn bedeutsam. Aber Sartre verändert das Muster vor allem in zweierlei Richtung deutlich: zum einen schraubt er den normativen Maßstab, von dem her Herr-KnechtBeziehungen kritisch beurteilt werden, hoch. Zum anderen löst er das duale Konzept von Herr und Knecht in ein triadisches auf. Der erste Punkt wird schon in seiner Diskussion von Hegels Modell deutlich. Sartre schließt zwar an Hegels Intuition an, daß man sich nur vermittels Spiegelung im Anderen erkenne. Er polemisiert gegen Hegels Verkürzung des Modells auf Erkenntnis und asymmetrische Beziehungen. Sartre dagegen zielt normativ auf symmetrische und reziproke Anerkennung ab und betont die Anerkennung individueller Subjektivität. In der Konsequenz wird das Emanzipationsmodell durch Steigerung des normativen Anspruchs eingeschränkt. Sartre ist im Prinzip davon überzeugt, daß eine gelingende Interaktion kaum möglich ist. Jedes freie Handeln, jeder Entwurf ist der Gefahr der Durchkreuzung und Vereinnahmung durch andere ausgesetzt. Damit drängt Sartre die strukturell-institutionelle Dimension, die bei Hegel und auch bei Marx vorhanden war, zugunsten existentieller Überlegungen zurück. Dennoch hält er am interaktionistischen konflikttheoretischen Ansatz fest.35

Zu den Prestigekämpfen vgl. ebd., 287. Ganz nietzscheanisch heißt es bei Kojève: „diese dritte und letzte Ideologie des Knechtes ist die christliche Ideologie" (ebd., 73). In einem in der Forschung wenig diskutierten Nachlaß-Manuskript „Aufzeichnungen zu einer

Moral" knüpft Sartre direkt an Hegels Herr-Knecht-Auffassung an. Vgl. dazu Kari Palonen: Politik als Vereitelung. Die Politikkonzeption in Jean-Paul Sartres Critique de la Raison dialectique', Münster 1992, 51 ff., 78 ff. In Das Sein und das Nichts (Anm. 26) hat Sartre die HerrKnecht-Problematik erneut aufgegriffen (429-443), als das ausgezeichnete, aber meist auch mißlingende Anerkennungsmuster gilt hier die Liebe. Vgl. ebd., 648 f. In Sartres Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek 1967, 15, heißt es, daß „Konflikte innerhalb einer Person oder einer Gruppe der Motor der Geschichte sind". Sartre kritisiert dort auch die in Hegels Herr-Knecht-Dialektik sichtbar werdende Identität von Sein Handeln Wissen (ebd., 24 f.) und bestimmt als Kern der Dialektik die lebendige Logik der Aktion. ,

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76

Harald Bluhm

Zweitens erweitert Sartre den Anerkennungsgedanken. Für die Anerkennung sind nämlich nicht nur zwei Akteure relevant, sondern Anerkennung bedarf eines fremden Blickes. Erst dann könne man wirkliche Interaktion und Freiheit denken, erst dann könne man die Entstehung von Wir-Bewußtsein begreifen. Zugleich aber nimmt damit das Entfremdungspotential zu. Denn der fremde Blick wird in die Interaktion integriert und zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Der Blick eines dritten, realen oder vorgestellten Akteurs oder Publikums verwandelt das Objekt-Wir ebenso wie das SubjektWir. In letzterem Fall geht es um die Anerkennung von Verantwortung und im ersten um die Erfahrung von Passivität. Ludwig Siep hat diesen Gedanken präzise verallgemeinert: „Dreierbeziehungen setzen Zweierbeziehungen voraus, die aber ihrerseits ohne den Dritten ihrer selbst nicht bewußt werden können."36 Damit wird die Anerkennungsproblematik auf einer existentialphilosophischen Ebene mit jener der Legitimität verknüpfbar. Allerdings führt der hohe normative Maßstab und die Annahme der Unwahrscheinlichkeit gelingender Interaktionsbeziehungen dazu, daß es von der Grundlage her keine Verbindung zur tatsächlichen Legitimitätsproblematik von Herrschaft gibt. Vielmehr werden vielfache Totalisierungsprobleme erkannt, die im Prinzip Diagnosen der Durchsetzung einzelner Standpunkte sind. Das negativistische Intersubjektivitätskonzept eröffnet zudem keinen Horizont für Institutionen. Es verwundert daher nicht, daß Sartre trotz all seines Engagements auch der ,Politik des Knechtes', der Unterdrückten und ihrer intellektuellen Fürsprecher keine inhaltlich positive Rolle zuweist, sondern, wie Kari Palonen treffend akzentuiert hat, letztlich nur eine Politik der Vereite-

lung befürwortet.37 Die Herr-Knecht-Topik

wird in ihren

Einschränkungen

und

Veränderungen bei

Freud, Horkheimer und Adorno sowie Sartre und Kojève nicht mehr zu einem systematischen Modell ausgebildet, das explizit handlungs-, Subjekt- und strukturtheoretische Überlegungen verbinden soll. Die sehr allgemein gefaßten Sozialfiguren und ihre Verbindung mit asymmetrischen Über- bzw. Unterordnungsbeziehungen sind wesentlich Referenzfolien für Konfliktmodelle bzw., im Fall von Kojève, des Endes von Konfliktmodellen von Politik und Herrschaft in der modernen Welt. Diese Autoren eint die Überzeugung, daß Konflikte prinzipiell begriffen werden müssen und daß juridische Konzepte von Macht systematisch zu kurz greifen. Die Rationalität des Rechts und eine darauf gegründete institutionelle Ordnung, die für Hegel noch zentral war, bleibt dabei allerdings weitgehend außer Betracht.

Vgl. Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg-München 1979, 80 f. K. Palonen, Politik als Vereitelung (Anm. 34).

zu

Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur

77

-

5. Foucaults Auflösung der Herr-Knecht-Dialektik

im Fluiditätsmodell der Macht

Die Aneignung von Nietzsches Denken war für Foucault der Weg, sein Machtkonzept entwickeln und die Repressionshypothese zu überwinden. Die Repressionshypothese impliziert, daß Machthaber Unterworfene unterdrücken und generell in ihrer Entfaltung behindern. Demgegenüber betont Foucault, daß Macht immer ein Verhältnis ist und produktiv begriffen werden muß; sie sei „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet organisieren und bevölkern".38 Er knüpft dabei bewußt und selektiv an Nietzsche an. Er nutzt ihn dazu, Traditionen des linken Diskurses zu destruieren, in dem Repression und ihre Überwindung, insbesondere bei Sartre und Kojève, mit der HerrKnecht-Dialektik verbunden waren.39 Aus dem Bildungs-, weit mehr aber noch aus dem Selbststeigerungsmodell wird die These der allgemeinen Produktivität der Macht gewonnen, wobei die älteren Ansätze entnormativiert werden. Foucault entwickelt jedoch kein allgemeines Modell der Macht, sondern von neuen Prämissen her rückt die Realisierung der Macht nun ins Zentrum. Mit Nietzsche kritisiert Foucault die Dialektik: Sie kodifiziere „den Kampf, den Krieg und die Zusammenstöße in einer Logik, einer sogenannten Logik des Widerspruchs; sie integriert sie in den doppelten Prozeß einer Totalisierung und einer zugleich endgültigen, grundlegenden und auf jeden Fall irreversiblen Rationalisierung". Diese radikale Kritik erkennt an, daß die Dialektik vom Motiv des Kampfes getragen ist, aber der Vorwurf einer logifizierenden Aufhebung des Kampfmotivs und Foucaults Kritik des Subjektbegriffs greifen die Verklammerung von handlungs-, Subjekt- und strukturtheoretischen Überlegungen im Zentrum an. Diese Kritik richtet sich gegen Hegel, zu

Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1977, 113, sowie ders.: „Die Macht und die Norm", in Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, 113-123. Sekundär Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin-Hamburg 1997; Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (Anm. 3) sowie darin M. Foucaults Aufsatz „Das Subjekt und die Macht", 243-261. Vgl. zudem Axel Honneth: Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989, Kap. 4 sowie Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1989, Kap. IX, X. Maurice Pinguet formuliert aus biographischer Kenntnis: „Hegel, Marx, Freud, Heidegger, das waren 1953 seine Bezugspunkte, als sich dann die Begegnung mit Nietzsche vollzog". Vgl. Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1991, 92. Vgl. zudem Werner Künzel: Foucault liest Hegel. Versuch einer polemischen Dekonstruktion dialektischen Denkens, Frankfurt/M. 1985, 88 ff, 180 ff. Für die Entwicklung von Foucaults Konzept war in den fünfziger Jahren auch die Kritik am Kommunismus (Stalinismus) wichtig. Dieses Regime zeigte, wie im Namen der Herrschaftsaufhebung Herrschaft kontinuiert und enorm gesteigert wurde. In diesem Kontext begann Foucault seinen Rekurs auf Nietzsche und stellte die Dialektik einer möglichen Umkehrung von Herr und Knecht in Frage. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1999, 71, sowie ders. in Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (Anm. 3), 247, 243.

Vgl.

Harald Bluhm

78

Marx und Sartre. Foucault zielt auf eine Freilegung der in der Herr-Knecht-Dialektik nur rudimentär enthaltenen Praktiken und Institutionen politischer Kämpfe, zu denen die verschiedenen Formen des Objekt-Werdens des Menschen ebenso gehören wie die Verquickung dieser Kämpfe mit Wissensformen und Institutionen. Als Nominalist lehnt er alle Vorstellungen von Kollektivsubjekten, wie sie bei Hegel und Marx sowie in deren Theorietradition häufig anzutreffen sind, ab und öffnet damit das Feld für die konkreten Realisierungsformen von Macht. Er geht dabei so weit, das Konzept der Strategie von Akteuren abzulösen und in Techniken und Konstellationen einzuschreiben. Die zivilisationskritischen Konzepte von Nietzsche und auch der Frankfurter Schule scheitern nach Foucault daran, die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Subjektkonstituierung zu denken. Dagegen wird die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Subjektkonstitution in objektivierenden Praxen und die Auffassung der Macht als Strukturierung von Handlungsfeldern betont. Für Foucault ist Macht nicht etwas Äußeres, sondern durchzieht das Innere des Individuums, aber er sieht bei Marx, Freud und den Freudomarxisten keine wirkliche Verknüpfung dieser beiden Dimensionen. Beide seien dem Repressionskonzept der Macht verhaftet. Foucault begreift dagegen das Subjekt im doppelten Sinne von ,unterworfen sein' und ,souverän sein' als permanent in Machtgeflechte verwoben. In ihnen objektiviere sich das Individuum einschließlich seiner sozial bestimmten Körperlichkeit auf verschiedene Weise.42 Die Macht denkt Foucault nach dem Modell des strategischen Konfliktes, genauer des Krieges als permanenter Auseinandersetzung, und in dieser Auseinandersetzung sind für ihn Inneres und Äußeres gleichermaßen wichtig. Wissen, Ressourcen und Strategien sind ineinander verwobene Aspekte der Macht. Mehr noch, eine fein säuberliche Trennung von gegenständlicher Tätigkeit, instrumentellem Handeln und Interaktionsbeziehungen, wie sie etwa Habermas entwickelt hat, verfehlt nach Foucault das Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte von Konflikten.43 Vor allem gerät dabei aus dem Blick, wie im Bündel der verschiedenen Machtgeflechte und Technologien Subjekte konstituiert werden. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, daß Foucault das soziale Feld als Ausdruck eines andauernden strategischen Machtkampfes faßt. Er wendet sich damit nicht nur vom Modell des einzelnen Kampfes ab, sondern konzeptualisiert das Verhältnis von Zur verwickelten Beziehung von Sartre und Foucault vgl. u. a. M. Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band 1 (1954-1969), hg. v. D. Defert/F. Ewald, Frankfurt/M., 845-854. Das ist im Prinzip gegen Habermas und seine Interpretation des frühen Hegel gerichtet, aber auch generell wendet sich Foucault gegen Souveränitätskonzepte, die nur Subjekt-SubjektBeziehungen denken. Vgl. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft (Anm. 40), 52 f. Axel Honneth (vgl. Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1981, 181) und andere haben gegen dieses Modell eingewandt, daß es zu sehr die strategische Seite des Handelns privilegiere, keine Übereinkünfte zulasse und sich zu wenig auf Institutionen beziehe. Das ist ein Fehlschluß, denn gerade Institutionen und insbesondere die Institutionenbildung im Gefolge von Kämpfen und die Transformationen von Institutionen sind es, die Foucault interessieren, Übereinkünfte sind für ihn ein

Nebenprodukt.

Herr und Knecht

Transformationen einer Denkfigur

79

-

Sozialem und Politischem neu. Statt, wie in der Hegeischen und erst recht der Marxseñen Tradition, Politik als Ausdrucksform von sozialen Verhältnissen zu begreifen, werden die sozialen Beziehungen und Herrschaftsformen aus politischen Kämpfen erklärt. Das impliziert zugleich eine Kritik am Modell normativ anerkannter Herrschaft. Macht wird als fragil sowie stets umkämpft begriffen, und damit ist sie in ihrer Legitimität, v. a. auch in ihren juridischen Regelungsformen bedroht. Der relationale Charakter der Macht und das Denken jenseits der Repressionshypothese werden hier zur Konsequenz gebracht. Der Kampf selbst, die Diskurse und Strategien haben eine enorme Bedeutung und bestimmen nach Foucault die Akteure so weit, daß er den alten Subjektbegriff und mit ihm das Bildungs-, Emanzipations- und Überbietungsmodell verabschieden kann. Insofern Foucault dem Paradigma des Kampfes folgt, schließt er sich der kritischen Radikalisierung des Hegeischen Konfliktmodells von Herr und Knecht durch Marx und Nietzsche an. Das Muster des Kampfes war bei Hegel ein existentieller Kampf auf Leben und Tod, aus dem ein Herrschaftsverhältnis abgeleitet wurde, bei Foucault ist es, wie bei Marx und Nietzsche, ein permanenter Kampf. An die Stelle des einzelnen Kampfes tritt also eine andauernde Auseinandersetzung, die eine gegenüber den Individuen verselbständigte Eigenlogik hat ein strategisches Geschehen, das von verschiedenen Akteuren getragen wird, indem Wissensformation und Machtdispositive das Tun präfigurieren. In dieser Perspektive rücken die Strategien, deren wechselseitige Kreuzung und die Ressourcen der Akteure in den Blick. Foucault akzentuiert die Vielfalt der politischen und sozialen Kämpfe und erhellt viele ihrer verdeckten Formen. Er setzt weder bei allgemeinen Modellen der Macht an, noch logifiziert er die Geschichte, sondern die Rolle der Kontingenz und von Ereignissen wird durchgängig betont. Insgesamt ist der Bruch mit der juridischen Machtauffassung, den Foucault proklamiert, wenn man ihn vor dem Hintergrund der diskutierten Modelle von Herr und Knecht betrachtet, nicht so tiefgreifend, wie von ihm reklamiert. Denn in all diesen Konzepten wird dem existentiellen, sozialen oder politischen Kampf eine große und den Rechtsformen vorgelagerte Bedeutung zugeschrieben. Foucault löst aber die Subjekt- und handlungstheoretische Auffassung der Macht, die in diesen Modellen steckt, auf. Er verflüssigt die Macht. Das geht allerdings mit Verlusten einher, denn die Unterordnungsverhältaisse von Gruppen und Individuen verschwimmen zugunsten einer Vielzahl an Strukturen und Strategien. Erst in den Governmentality Studies wird die Genealogie des Staates mit der von Subjekten verknüpft. Foucault nimmt in diesem Kontext sein Fluiditätsmodell der Macht etwas zurück und differenziert ausdrücklich zwischen Macht und Herrschaft. Herrschaft wird als institutionalisierte und verfestigte Macht Scharnierfunktion zwischen dem Machtkonzept, das auf verflüssigte strategische Spiele abzielt, und der Herrschaft, nämlich verfestigten asymmetrischen -

begriffen.44

Vgl. dazu Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft (Anm. 38), 308.

80

Harald Bluhm

kommt dem Begriff der Regierung, der Governmentality, zu. In diesem Feld sind die Praktiken der Unterwerfung und der Freiheit zu untersuchen. Foucault kommt so auf Gesichtspunkte zurück, die Max Weber in seiner Macht- und Herrschaftssoziologie entwickelte hatte. Dies kann man auch am Begriff der Führung beobachten. Weber versuchte gleichzeitig den Begriff von Herrschaft zu präzisieren und auf eine neue Grundlage zu stellen. 5 In diesem Sinne begriff er Politik in allgemeinster Hinsicht als Leitung von Verbänden. Der späte Foucault setzt hier an. Hervorzuheben ist dabei zunächst, daß er den Herrschaftsbegriff wieder aufnimmt und in sein Fluiditätsmodell der Macht einfügt. Herrschaft bezeichnet fixierte Machtverhältnisse. Aber auch solche fixierten Verhältnisse sind Handlungen, die sich auf Handlungen beziehen. Foucault löst Herrschaft aus dem bei Weber dominierenden Befehlskonzept prinzipiell heraus. Von daher erst kann er seinen Begriff von Macht als Führung von Führungen D. h., es geht bei Macht nicht um die Einwirkung auf konkrete Handlungen, sondern um die Beeinflussung von Handlungsfeldern und Optionen. Für diese ,Meta-Führung' sind nach Foucault die Macht-Dispositive, also Geflechte von Instititutionen, Perzeptionsmuster und Praktiken, wichtig. Bei Weber standen noch der Prozeß von Führung selbst, die direkten Machtmittel und Ressourcen, wie Führungsstäbe, Ämter u. a,. im Mittelpunkt. Die mit Weber beginnende und bei Foucault forcierte Umstellung der Semantik von Herrschaft auf Führung stellt eine definitive Unterminierung der Begrifflichkeit von Herr und Knecht dar.47 Foucault repräsentiert hier das Ende einer längeren Entwicklung und bringt sie zum Abschluß. Er setzt sich dabei im Spätwerk weniger stark von den handlungstheoretischen Prämissen ab.

Machtbeziehungen,

plausibilisieren.46

6. Resümee und Ausblick

Herr-Knecht-Topik erschöpft? Ich hatte eingangs behauptet, daß sie wegen der komplexen Aggregation von Motiven attraktiv bleibt. Ein Beleg dafür ist die jüngere feministische Debatte. In ihr gibt es einen erneuten Rekurs auf das Herr-Knecht-Modell. Ist die

Stefan Breuer hat nicht nur, wie bereits erwähnt, den Begriff der Herrschaft an den des Herrn gekoppelt, sondern weist auch darauf hin, daß Weber die demokratische Legitimität als ein „herrschaftsfremdes Prinzip" einführt. Vgl. Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, 178. Foucault schreibt in „Das Subjekt und die Macht", in Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (Anm. 3): „Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen" (254), und weiter heißt es: „Machtausübung besteht im ,Führen der Führungen' und in der Schaffung von Wahrscheinlichkeit." (255) Von daher kommt der Begriff Gouvernement, Regime ins Spiel, da hier immer auch Freiheit enthalten sei. Vgl. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft (Anm. 44), 302 f. Zum Beginn dieser Umstellung bei Weber vgl. den Ausblick in D. Hilger: (Art.) „Herrschaft" (Anm. 5), 98-102.

Herr und Knecht Transformationen einer Denkfigur

81

-

Carole Pateman, Judith Butler und Nancy Fraser48 machen deutlich, daß die auf dem Weg der Transformation der Denkfiguren von Herr und Knecht bis hin zu deren Verabschiedung gewonnenen theoretischen Einsichten auch von Verlusten begleitet sind. Im Fluiditätskonzept der Macht verschwänden die Konturen der Sozialfiguren von Machtund Herrschaftsbeziehungen, womit zugleich Möglichkeiten der Zuschreibung politischer Verantwortung verlorengingen. Insbesondere Judith Butler plädiert dafür, die Handlungsfähigkeit im Hinblick auf eine Kritische Theorie positiv und nicht nur negativ, wie bei Foucault, zu bestimmen. Programmatisch formuliert sie, es bleibe „zu bedenken: (a) wie in der Formierung des Subjektes die regulierende Formierung der Psyche eingeschlossen ist und wie sich der Diskurs der Macht wieder zusammenführen läßt mit dem Diskurs der Psychoanalyse, und (b) wie eine solche Subjektkonzeption sich als Begriff der politischen Handlungsfähigkeit in postliberalen Zeiten einsetzen läßt".49 Diese Forderungen müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen, ob eine Dialektisierung der Machtanalytik sinnvoll ist und ob nicht auf diese Weise Erkenntnisse verbaut werden. Schon der Rekurs auf den Subjektbegriff legt diese Vermutung nahe, schwerer wiegt, daß die Spezifik politischer Macht so kaum bestimmt werden kann. Rekapituliert man den vorgestellten Gedankengang der Transformationen der HerrKnecht-Figur bis zu ihrer machtrelationalen Verflüssigung bei Foucault, so lassen sich Schübe ihrer Verallgemeinerung, Dekontextualisierung und Einschränkung bis zur schließlichen Auflösung beobachten. Hegel ging normativ vor und bestimmte Herr und Knecht durchaus dekontextualisiert als allgemeine Sozialfiguren innerhalb der Anerkennungsbewegung des Selbstbewußtseins. In seinem Bildungsmodell sind verschiedene Motive handlungs-, Subjekt- und strukturtheoretischer Art verklammert. Marx wendet das Modell auf die Gesellschaft insgesamt mit konflikttheoretischem Akzent an. Dabei wird es klassentheoretisch rekontextualisiert und emanzipatorisch ausgeformt. Insbesondere behält Marx die Verklammerung der verschiedenen theoretischen Motive bei. Sein Konzept ist progressistisch und geht von einer antagonistischen Entwicklung der Akteure aus, bei der sich erst im revolutionären Prozeß die Proletarier bilden und im Akt der Beseitigung von Herrschaft selbst aufheben. Hegel und Marx folgen einem dualen Modell und verbinden soziale und politische Macht miteinander, ohne die Spezifik politischer Macht zu thematisieren. Nietzsche nimmt auf inverse Weise eine dekontextualisierende Ausweitung der Idee des Machtkampfes zwischen Herr und Knecht als Kampf um die Position des Herrn vor. Seine Analyse der siegreichen christlichen Sklavenmoral enthält eine normative, geiCarole Pateman (The Sexual Contract, Stanford 1988) hält ausdrücklich am Herr-Knecht-Modell fest. Judith Butler (Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, New York 1987. Dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M. 2001. Dies.: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt/M. 2001) dagegen entfernt sich von diesem Modell, will aber die Vielzahl seiner theoretischen Motive bewahren. Nancy Fraser (Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Staats, Frankfurt/M. 2001) fordert dazu auf, sich vom Herr-Knecht-Modell zu verabschieden (v. a. Kap. 10). Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (Anm. 49), 22.

82

Harald Bluhm

stesaristokratische Fortschritts- und Zivilisationskritik und mündet in einem SelbstüberHerrn. Auch hier geht es nicht um politische Macht und HerrNach dieser zweiten Transformation des Konzeptes von Herr und Knecht setzt Foucault gedanklich ein. Er spielt Nietzsche gegen Hegel und Marx aus. Vor allem aber nimmt er eine Entethisierung und Entnormativierung des Konfliktansatzes vor. Sein Machtkonzept liegt jenseits des Repressionskonzeptes, das mit dem HerrKnecht-Modell untrennbar verbunden ist. Foucault bewegt sich mit seiner Diskursanalyse und dem fluiden Machtkonzept, das Macht immer an eine größere Anzahl von Akteuren bindet und als Kraftfeld begreift, jenseits der dualen Logik. Es geht weder um eine Privilegierung des Knechts, der Unterdrückten in der Tradition von Hegel, Marx, Sartre und auch Kojève, noch um die der Herren und Eliten, wie sie bei Nietzsche und seinen Nachfolgern akzentuiert wird, sondern um die Relationen, Strukturen und Strategien von beiden. Trotz der Akzentuierung der Verselbständigung von Diskursen und der Bedeutung von Machtdispositiven betont Foucaults relationale Auffassung der Macht die Mitwirkung verschiedener Akteure als konstitutiven Zusammenhang. Die Privilegierung der akteurstheoretischen Perspektive in der Herr-Knecht-Dialektik wird also durch den machtanalytischen Ansatz ebenso behoben wie die von dort erfolgende Verklammerung mit Problemen der Subjekt- und Strukturentwicklung. Es ist eine geradezu dialektische Ironie, daß das mit theoretischen Motiven überfrachtete Herr-Knecht-Modell erst nach erheblichen Dekontextualisierungen und seine Geltung einschränkenden Transformationen von einem Konflikttheoretiker destruiert wurde. Alle am Gegensatz von Herr und Knecht orientierten Theoretiker des Konfliktmodells eint, daß sie nicht auf das Recht, den Vertrag allein setzen. Vielmehr werden rechtliche Beziehungen und Institutionen als Ausdruck und auf der Basis sozialer, existentieller, politischer Kämpfe begriffen. Insofern stehen sie alle dem juridischen Paradigma von Macht und Herrschaft, das Foucault scharf attackierte, kritisch gegenüber. Der Evolution des Rechts haben allerdings nur Hegel und Weber große Bedeutung beigemessen. Wenn im Kampfmodell von Herr und Knecht ein handlungstheoretischer Zugang dominiert, dann hat Foucaults Kritik am Repressionskonzept der Macht eindeutig die Grenzen dieses Paradigmas gesprengt. Aber auch er hat die politische Semantik von Herr und Knecht nicht komplett ad acta gelegt und eine rein positivistische Theorie vertreten. Über Kritik heißt es bei ihm vielmehr programmatisch, sie sei „die Kunst der freiwilligen Unknechtheit, der reflektierten Unfügsamkeit".5

bietungsmodell des schaftsbeziehungen.

M. Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, 15.

Wolfram Bergande

Dialektik und

Subjektivität

Zu Jacques Lacans posthegelianischer Theorie der Psyche

Die Seminare und Schriften Jacques Lacans unterhalten ein ambivalentes Verhältnis zur Philosophie Hegels. Geprägt durch Alexandre Kojèves und Jean Hyppolites anthropologische Interpretationen der Phänomenologie des Geistes hat Lacan einerseits seine Theorie der Psyche seit seiner Doktorarbeit 19321 an den Bewußtseins-Gestalten der Phänomenologie orientiert und sich in seinen Seminaren der 1950er und 60er Jahre insbesondere des Komplexes der „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft"2 als Paradigmas der dialektischen Genese von Subjektivität bedient.3 Dies soweit, daß noch in späteren Seminaren der siebziger Jahre kollektive psychologische Strukturen als intersubjektive Ausfaltung intrasubjektiver Instanzen der dialektisch sozialisierten Psyche erklärt werden. Insofern überrascht es nicht, wenn Lacan einmal Freuds „Ichspaltung" als deutet, also mit einem Begriff, der auch das Unglückliche Bewußtsein der Phänomenologie beschreibt, und in einem anderen Zusammenhang meint, daß die „Faszination Hegels [...] nahezu unmöglich aufzulösen"6 ist. Andererseits verwahrt er sich mehrfach dagegen, „den He-

„Entzweiung*"5

Jacques Lacan: De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité, Paris 1975. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Frankfurt/M. 1993, 145. Vgl. Mikkel Borch-Jacobsen: Lacan. Le maître absolu, Paris 1995; Mireille Delbraccio: „Destins de la dialectique hégélienne dans la psychanalyse. Lacan avec et contre Hegel", in Hegel und die Geschichte der Philosophie, Zweiter Teil, hg. v. Andreas Arndt u.a., Hegel-Jahrbuch 1998, Berlin 1999, 253-257; Slavoj Zizek: Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und Deutscher Idealismus, Frankfurt/M. 20002. Sigmund Freud: „Die Ich-Spaltung im Abwehrvorgang" in (ders.) Gesammelte Werke XVII, Frankfurt/M. 1999, 59 ff. Im Original deutsch. J. Lacan: Le Séminaire XII: Problèmes cruciaux pour la psychanalyse (1964-65), Bregenz: Lacan-Archiv, o. J., 214. Im Original deutsch. Vgl. Hegel: Phänomenologie (Anm. 2), 163-171. J. Lacan: Le Séminaire ¡ivre XVI: D'un Autre à l'autre (1968-69), Bregenz: Lacan-Archiv, o. J., 223. Alle Übersetzungen von mir, W. B. -

Wolfram Bergande

84

gelianismus im Inneren der Freudianischen Debatte"7 propagiert zu haben, und betont, daß das psychoanalytische Subjekt der Rede im Gegensatz zum ,,hegelianische[n] Selbstbewußtsein*" durch eine „originäre Spaltung" gezeichnet ist, die „zu keinem Zeitpunkt aufgehoben [supprimée]"9 ist. Denn ist es auch nicht anders als Hegels Unglückliches Bewußtsein entzweit, „innerlich gebrochen" in „seinem Arbeiten und Genießen",1 so ist es für Lacan doch das Kennzeichen philosophischer „Dialektik und insbesondere der Hegeischen", den Riß zu kitten und den unwiederbringlichen „Verlust" zu „maskieren",11 den das Individuum durch den Eintritt in die Sprache erfahren hat. Hegels Dialektik ist „falsch und widerlegt"12 durch die Naturwissenschaften und den Fortschritt der Mathematik, und ,,[d]ie Aufhebung* ist einer dieser schönen Träume der Philosophie",1 auch dann, wenn sie der ideale Fluchtpunkt des Lacanschen Subjek-

tivitätsmodells bleibt. Als Adaption der Dialektik des Selbstbewußtseins Hegels ist Lacans Theorie der Subjektivität allerdings nicht vorrangig wegen ihres Bestehens auf einer dislozierten Struktur der Psyche interessant. Vielmehr aus folgenden Gründen: Erstens, weil sie jene Sequenz, in der sich die einzelnen Bewußtseinsgestalten Begierde, Herr und Knecht, Stoizismus sowie Skeptizismus schließlich in ein sie allesamt integrierendes Bewußtsein das Unglückliche fügen, derart auf Freuds Topologie des Subjekts rücküberträgt, daß dessen Kategorien Ich und Über-Ich nun als auseinanderfallende Extreme ihrer dialektischen Aufhebung in das Ichideal gefaßt werden können. An einem spieltheoretischen Modellfall aus Lacans Le temps logique et l'assertion de certitude anticider diese dialektische Struktur der Subjektivität veranpée. Un nouveau schaulicht, soll weiter unten verdeutlicht werden, daß dabei nicht nur der Prozeß der Introjektion entwicklungspsychologischer Instanzen beschrieben ist, oder auch die Weise, wie diese Instanzen als Positionen eines Diskurses fungieren, sondern insbesondere in linguistischer Hinsicht die Operation, durch die überhaupt aus der Logik einer signifikanten Konstellation heraus Sinn entsteht, signifikant im Sinne der differenziellen Zeichentheorie Saussures. Das heißt, und darin liegt zweitens sicherlich das Besondere der Lacanschen Rezeption dieser Passage der Phänomenologie, daß der Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, d. h. dessen Schlüsselszene: die Dialektik zwischen Herr und Knecht, zum Strukturprinzip des Substitutionsprozesses der Signifikanten der mündlichen bzw. schriftlichen Rede des Subjekts gemacht wird. Rede (discours) wird -

-

sophisme}4

7

Ebd. Im

8 9 10 11 12 13 14

Original deutsch.

Ebd., 110. Ebd.

Hegel: Phänomenologie (Anm. 2), J. J. J. J.

171. Lacan: Problèmes cruciaux pour la psychanalyse (Anm. 5), 15. Lacan: Les noms du père (1963), Bregenz: Lacan-Archiv, o. J., 416. Lacan: Le Séminaire livre XX: Encore (1972-73), Paris 1975, 79. Lacan: „Le temps logique et l'assertion de certitude anticipée. Un nouveau

Écrits, Paris 1966, 197-213.

sophisme", in (ders.)

Dialektik und Subjektivität

85

eine Dialektik der Signifikanten, an die dann eine psychoanalytische Interpretationslehanschließen kann. Bemerkenswert sind damit drittens die Bedeutungen, die Hegels „Arbeit"16 und Genießen oder „Genuß"17 in dieser sprachtheoreBegriffe tischen Relektüre der Herrschaft-Knechtschaft-Dialektik erlangen. Ist es zwischen einander aufhebenden und so ihre Signifikate differenziell definierenden Signifikanten Si, S2,..., Sn wie zwischen späterem Herrn und Knecht zu einem „Kampf auf Leben und Tod"18 gekommen, dann fungiert die zur knechtischen Arbeit transformierte Begierde in der Rede als deren metonymische Dynamik; Genuß als der „Funke"19 metaphorischen Sinns, den die wenn auch strukturell unvollendete, disloziert arbeitende Aufhebung eines ersten durch einen zweiten (und dann immer weiterer) Signifikanten schlägt. Lacans Schreibweise an Stelle von jouissance, also Genieß-Sinn statt Genießen, weist auf die Analogie zwischen Dialektik und differenzieller Bedeutungsbildung hin. Schließlich bietet Lacans dialektisch-differenzielles Modell viertens alternativ eine intra- wie eine intersubjektive Lesart, so wie Freud in Massenpsychologie und Ichmit den individualpsychologischen Kategorien Ich und Ichideal auch die Psychologie von Gruppen oder Massen erklärt. Entsprechend entwickelt Lacan aus der dialektischen Verfassung des Einzelsubjekts in seinem Seminar 1969/7022 vier exemplarische Diskursformen. Aus der im folgenden in stark geraffter Form wiedergegebenen spieltheoretischen Veranschaulichung des Strukturprinzips von Subjektivität aus Lacans Ecrits (a) soll deutlich werden: (b) wie Lacan Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins aufnimmt, (c) welche subjektivitätsgenetische und (d) sprachtheoretische Dimension dieser dabei zukommt und schließlich, (e) wie das Beispiel als Modell intersubjektiver Konstitution von Subjektivität auf die Psychologie einer Gruppe, genauer: eines Diskurses, übertragbar ist. re

„Begierde"15,

-

-

Jouis-sense"20

Analyse21

16 17 18

Hegel: Phänomenologie (Anm. 2),

151.

Ebd., 153. Ebd., 151. Ebd., 149. Lacan spricht von einer „Angelegenheit von Leben und Tod" in (ders.) Le séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964), Paris 1973, 243. J. Lacan: Écrits (Anm. 14), 518. Siehe Télévision in J. Lacan: Autres écrits, Paris 2001, 517. Auch: ,j'ouis-sense", in (ders.) Le séminaire XXIII: Le sinthome (1975-76), Bregenz: Lacan-Archiv, 0. J., 58. S. Freud: „Massenpsychologie und Ich-Analyse" in (ders.) Gesammelte Werke XIII, Frankfurt/M. 1999,71-161. Freuds Begriff Massenpsychologie wird im Englischen häufig mit group-

19 20

21

psychology wiedergegeben. Gemeint sind die psychischen Beziehungen zwischen zwei oder mehr Individuen. J. Lacan: Le Séminaire XVII: L'envers de la psychanalyse

(1969-70), Paris

1991.

86

Wolfram Bergande

(a) Ein dialektisches Paradigma der Subjektivität: das Gefangenendilemma aus Le temps logique Das Gefangenendilemma datiert noch dem Jahre 1945. Ursprünglich hatte

aus

der

Anfangszeit von Lacans Theoriebildung,

betrachtet, um die besondere Zeitlichkeit konstituierter sprachlich Bewußtseinsbildung herauszustellen, nämlich die Interferenz des Unbewußten in der vorgeblich linear kontinuierlichen Zeit des Selbstbewußtseins, sowie die eigentümliche logische Hast, die den Erkenntnisprozeß im Umschlagspunkt er es

solche ein entscheidendes Instrument der psychoanaer sich immer wieder vereinzelt darauf, auch rund 30 Jahre später im Seminar Encore, wo er auf es zurückblickt als ein diskurspsychologisches Modell dafür, daß „so etwas wie eine Intersubjektivität einen heilsamen Ausgang nehmen kann."23 der Einsicht

beschleunigt und als

lytischen Kur sein kann. Im Laufe seiner Seminare bezieht

Ein Gefängnisdirektor hat drei Insassen in einem Raum versammelt und jedem von ihnen aus einem Sortiment von drei weißen und zwei schwarzen Scheiben jeweils eine auf dem Rücken angebracht, die der betreffende, im Gegensatz jeweils zu den beiden Mitgefangenen, nicht sehen kann. Wer als erster von den dreien die Farbe seiner Scheibe logisch begründet nennen kann, soll, so der Direktor, den Raum durch die Tür verlassen und darf, wenn er sie richtig nennt, als einziger die Freiheit behalten. Nun wurde jeder der Gefangenen mit einer weißen Scheibe versehen, so daß sich aus der Perspektive eines jeden, da er an den beiden anderen je eine weiße Scheibe erkennt, folgendes Kalkül ergibt: Hätte ich eine schwarze Scheibe, so würde der zweite, in Unkenntnis seiner eigenen Farbe, entweder aus dem Loslaufen des dritten, der sich, zwei schwarzen gegenüber, seiner weißen Scheibe sicher sein müßte, schließen, daß er, der zweite, schwarz ist, und ebenfalls loslaufen; oder er, der zweite, würde aus dem Verharren des dritten, der sich dem zweiten als weißem und mir als schwarzem gegenüber befände, schließen, daß er weiß ist, und selbst loslaufen der dritte und ich, der erste, dann natürlich hinterher, da wir nun auch unsere Farben als weiße erschließen könnten. Da tatsächlich aber vom Direktor keine schwarze Scheibe eingesetzt ist und alle Insassen als mit einer weißen Scheibe ausgestattete auch in der selben Position sind, machen alle drei für sich das beschriebene Raisonnement durch, indem sie sich jeweils in die Position eines zweiten versetzen, und zwar gerade insofern dieser zweite sich wiederum in die Position eines dritten versetzt. Sie schließen ein jeder aus einem allen dreien gemeinsamen Moment des Verharrens, daß sie selbst nicht schwarz sind, und stürzen gemeinsam zur Tür in die Freiheit. -

Eine Anmerkung: Der Witz dieser spieltheoretischen Situation ist, daß die Gewißheit des einzelnen Gefangenen, weiß zu sein, in keiner Weise von einer außersprachlichen Verifikation der Zuordnung von Signifikanten zu Signifikaten oder von Scheiben zu Farben abhängt, also etwa davon, daß er anfangs die Farbe der Scheiben seiner Mitgefangenen anschaulich als weiß hätte identifizieren können. Vielmehr folgt sie erst nachträglich aus der Logik der Verteilung des ungleichzahligen Sortiments. In diesem eingeschränkten Sinne gibt es für das Subjekt der Rede laut Lacan „keinerlei prädiskursive Realität".24 Was der Einzelne den Reaktionen der beiden jeweiligen anderen

-

-

23 24

J. Lacan: Encore J. Lacan: Encore

(Anm. 13), 47. Vgl. ders. : „Radiophonie", in Autres Écrits (Anm. 20), 86. (Anm. 13), 33.

Dialektik und Subjektivität

87

entnehmen kann ist strenggenommen nur, daß sie beide Scheiben derjenigen Farbe tragen, von der es drei gibt, sowie schließlich, daß er selbst die dritte dieser Scheiben tragen muß. Er erschließt lediglich die Zuordnung des Signifikanten ,weiß' zu den wahrgenommenen Scheiben der anderen und zur Vorstellung der eigenen. Das Beispiel abstrahiert gerade davon, ob die Scheiben .wirklich' weiß sind oder nicht. Ein weiterer Hinweis: Es wurde bereits angekündigt, daß das zitierte Modell allgemein die Konstitution von Subjektivität illustrieren soll, also wie Freuds Topik von Objekt, Ich und Über-Ich/Ichideal sowohl den Aufbau des einzelnen Subjekts als auch den von Subjekt-Gruppen. Die Personen, die in Lacans Szenario auftreten, der Direktor und die drei Gefangenen, stehen demnach zwar vorderhand für die Identifikations-Positionen, anhand deren sich Gruppen von Subjekten organisieren; siehe Punkt (e). Sie sind aber ebenso lesbar als psychische Instanzen innerhalb eines Subjekts, die sich im Laufe der Ontogenese aus gerade intersubjektiven Identifizierungen bilden. Es ist daher je nach Aspekt eine Subjekt-Gruppe, die am Ende zur Tür hinausläuft, oder ein GruppenSubjekt, d. h. ein einziger Gefangener, der seine beiden Mitgefangenen gleichsam als psychische Instanzen aufgehoben, in sein Selbstbewußtsein integriert hat. Die linguistische, sozusagen Betrachtungsweise (d) abstrahiert vom jeweiligen Aspekt. Sie liest die Scheiben der Gefangenen als Instanziierungen dreier Signifikanten, in Lacans Diskursschemata aus Seminar L'envers de la psychanalyse heißen sie: $, Sj und S2 (übertragen auf das Beispiel aus Le temps logique also: ,weiß/schwarz', ,weiß' und ,schwarz'), die unabhängig von der Ein- oder Mehrzahl der Individuen Subjektivität strukturieren. -

-

-

-

inter-signifikante25

(b) Selbstbewußtsein und Identifizierung Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins hat Lacans Diskursparadigma einen zweistufigen Abstraktions- oder Identifizierungsschritt gemeinsam, nach dem sich die beteiligten Bewußtseine zuletzt als Selbstbewußtseine begreifen sollen, deren „gedoppelte[s] Tun"26 einem jeden von ihnen eine von allen geteilte dialektische Identität vermittelt. Im Prozeß des sich Abstrakt-in-den bzw. die-Gegenüber-Hineinversetzens, den jeder der Gefangenen durchmacht, nämlich im Sich-in-den-zweiten-MitgefangenenHineinversetzen genau insofern dieser sich wiederum in den dritten Mitgefangenen hineinversetzt, und ein jeder so reihum, so daß sich das Subjekt quasi mit den Augen des zweiten durch die Perspektive des dritten hindurch betrachten kann, und derart ein jeder sich von einer für den Diskurs absoluten Position aus in diesem Prozeß nimmt jeder der Beteiligten die anderen und sich selbst als identisch wahr, da jeder den/die anderen zugleich als sich selbst wie auch als kollektiven, d. h. als absoluten Anderen Mit

-

Von „inter-signifiance" anstelle von „intersubjectivité" spricht Lacan in Seminar XVIII: D'un discours qui ne serait pas du semblant (1970-71), Bregenz: Lacan-Archiv, o.J., 3. Hegel: Phänomenologie (Anm. 2), 148.

HS

Wolfram Bergande

erkennt. Im Idealfall erreichen sie Hegels Begriff des Geistes aus der Phänomenologie, die „absolute Substanz", „welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein(e), die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist."27 An dieser Struktur lassen sich im übrigen drei zentrale dialektisch geprägte Begriffe der Psychoanalyse Lacans erläutern: der groß geschriebene Autre, Andere, das Objekt a und der für die Differenzialität eines Diskurses konstitutive Signifikant, der Signifikant des Begehrens/Genießens $, der im Diskurs das in seiner Sprachlichkeit gespaltene Subjekt vertritt. Der Gefängnisdirektor, eigentlich: die von ihm instituierte differenzielle Ordnung der Scheiben und ihrer tatsächlichen Verteilung auf die Insassen, illustriert den Anderen, Autre, als signifikantes Feld des Diskurses, in das ein jedes der Individuen symbolisch eingeschrieben ist als Objekt a, d. h. mittels eines durch den Diskurs bestimmten Bedeutungseffektes, nämlich der (Ungewißheit oder Gewißheit der) weißen Farbe seiner Scheibe. Diese ist ihm selbst nur vorstellungsartig über den Umweg differenzieller Abgrenzung zugänglich, d. h. nachträglich über das intersubjektiv vollzogene Moment des zweistufigen Sich-in-den bzw. die-Anderen-Hineinversetzens. Insofern ein jeder der drei Gefangenen zuletzt das Selbstbewußtsein entwickelt, weiß zu sein, und dieses Weißsein sein Ich ausmacht, ist jeder gegenüber seinen Mitgefangenen ein im Substitutionsprozeß der signifikanten Scheiben gleitender Sinneffekt, das Objekt a „unter dem Blick der anderen". Und weil die zweistufige Identifizierung als Herr-KnechtDialektik zwischen Signifikanten begriffen wird, ist das Objekt a qua Sinneffekt ein Genieß-Sinn analog zu Hegels Begriff des Genießens im Selbstbewußtseins-Kapitel der Phänomenologie dazu unten mehr. Diesem imaginären Identitäts-Signifikat a korrespondiert keiner der Signifikanten Si oder S2, die durch jeweils gleichfarbige Scheiben instanziiert werden, sondern der Signifikant des Begehrens/Genießens $, der widersprüchlich sowohl durch die je eigene Scheibe eines Gefangenen wie auch durch die dritte schwarze Phantomscheibe instanziiert ist, deren konstitutives Fehlen die Ungleichzahligkeit des Sortiments herstellt und daher den differenziellen Definitionsprozeß der Signifikanten in der Gefangenengruppe überhaupt ermöglicht. -

-

-

(c) Die Genese von Subjektivität In Hinsicht auf die Genese von Subjektivität beschreibt das Dilemma die zwei Etappen eines Identifizierungsprozesses, an dessen Ausgang sich das Individuum von der Position des sprachlichen oder wie Lacan sagt symbolischen Anderen aus artikulieren können soll.29 In der psychoanalytischen Dialektik des Subjekts bedeutet dies, daß es sich nicht

Ebd., 145. J. Lacan: Encore (Anm. 13), 47. Vgl. Peter Dews: „The paradigm shift to communication and the question of subjectivity: reflections on Habermas, Lacan and Mead", in Revue internationale de philosophie 4 (1995)

Dialektik und Subjektivität

89

genausowenig wie einer der Gefangenen mit dem oder den phänomenalen anderen (autre) seines Ich identifizieren soll, also mit dem, was es vermeintlich objektiv für seine Scheibe oder für die Scheiben der Mitgefangenen hält; auch nicht mit der Perspektive eines der phänomenalen anderen. Sondern mit der gedoppelten Position des Anderen (Autre), die der Perspektive des Gefängnisdirektors entspricht und aus der, anhand des Verhaltens der Mitgefangenen, die Verteilung des Sortiments und somit deren signifikante Identität erschließbar wird. Parallel zu der zweistufigen Identifizierung eines jeden der Gefangenen soll das Individuum also weder seinen eigenen Körper noch den phänomenalen anderen auf der Position der Begierde zum spiegelbildlichen Objekt seines Ich machen; noch soll es sich bloß mit der abstrakten Negation dieser narzisstischen Beziehung, d. h. mit der Position des Herrn dem Inzestverbot des Über-

-

Ich identifizieren; statt dessen beide Positionen als die auseinanderfallenden und insofern symptomatischen Extreme einer anzustrebenden Vermittlung im Ichideal begreifen, wo Objekt/Körper, Ich und Über-Ich als drei Momente einer einheitlichen Subjektivität ineinanderfallen. So wie im Idealfall des Gefangenendilemmas die drei subjektiven Positionen der Gefangenen am Ende an der Ausgangstür, vor dem Direktor, in ein integrales Metasubjekt konvergieren. Wie gesagt, steht für Lacan dabei außer Frage, daß eine derartige Aufhebung nie rundum gelingt, stets partiell, relativ bleibt. In dem idealtypischen Beispiel wird indes nur von dem einen urverdrängt unbewussten Signifikanten S2 ausgegangen, instanziiert durch die fehlende dritte schwarze Scheibe, was tatsächlicher Verdrängung und ihrer symptomatischen Realität wenig entspricht. Zudem bewegt sich das subjektive Begehren, markiert im Signifikanten $, dort in einer per Definition auf zwei Signifikanten Si und S2 bzw. fünf Scheiben begrenzten, als solche geschlossenen symbolischen Ordnung, in der jedem Signifikanten mit Ausnahme von $ ein Signifikat invariabel zugeordnet ist. Für Lacan aber steht fest: „[...] die Sprache bildet unter keinen Umständen ein geschlossenes Ensemble, anders gesagt: [...] es gibt kein Universum des Diskurses."30 -

-

(d) Die Dialektik der Signifikanten In sprachtheoretischer Hinsicht zeigt das Gefangenendilemma, wie jeder „Augenblick" des Ich, d. h. jeder kleinste subjektive Bewußtseinsmoment, insofern er als kontinuierliches Bewußtsein einer bedeutungstragenden Einheit erscheint, tatsächlich gespalten ist durch den Akt seiner eigenen Artikulation, d. h. den differenziellen KonstiNr. 194,483-519; ders.: „The Truth of the Subject. Language, Validity, and Transcendence in Lacan and Habermas", in Deconstructive Subjectivities, hg. v. Simon Critchley/Peter Dews, Albany 1996, 149-168. J. Lacan: Le séminaire XIV: La logique du phantasme 1966-67), Bregenz: Lacan-Archiv, o. J., 14. J. Lacan: Le temps logique (Anm. 14), 212.

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Wolfram Bergande

tutionsprozeß über die anderen signifikanten Systemelemente, durch den bzw. die vorund unbewußten Signifikanten des Diskurses, in dem sich das Subjekt bewegt; analog dazu, wie der Augenblick, der sich von der Ausgangssituation bis zum gemeinsamen Eintreffen vor dem Direktor spannt, in intersubjektiv vermittelte oder besser: intersignifikante Differenzierungsschritte zerlegt ist, die zwischen die anfängliche Ungewißoder Gewißheit der Gefangenen hinsichtlich ihre Scheibenfarben und das schließliche Behaupten ihrer intersubjektiven Wahrheit, weiß zu sein, geschaltet sind. Ein jedes der drei Gefangenensubjekte ersetzt im Laufe dieses Vorgangs eine zweideutige imaginäre Identifizierung, der gemäß seine Scheibe ebensogut schwarz wie weiß sein könnte, d. h. für deren Farbwert es keine außerdiskursive Verifikation gibt, durch eine solche, die symbolisch artikuliert, in der durchlebten Wirklichkeit eines pragmatischen Kontextes verwurzelt ist. Betrachten wir die beiden Stufen dieser Identifizierung genauer und verfolgen wir die Figuren der Identifizierung, wie sie die Folge selbstbezüglicher Negationen der Hegeischen Dialektik abbilden. Dabei ist zu erinnern, daß die Scheiben der Gefangenen nicht mit den Signifikanten $, S\, S2 gleichzusetzen sind, daß vielmehr ein Signifikant jeweils von gleichfarbigen Scheiben instanziiert wird, also der Signifikant ,weiß' z. B. von Si, d. h. von den Scheiben, deren es per Definition drei gibt, ,schwarz' demnach

von

S2, d. h.

von

denen, deren zwei

mit Ausnahme -

von

$, den zwei

un-

gleichfarbige Scheiben alternativ instanziieren. Gehen wir von der ersten Stufe der Identifizierung einen Schritt auf die Position der Begierde zurück. Dort bezieht sich das Subjekt auf die phänomenalen anderen als bloße Objekte. Diese Position ist nicht unbedingt haltbar, da aus dem Weißsein der anderen nichts Konkretes für seine eigene Identität folgt. Um präzise zu sein erscheinen sie ihm nicht einmal weiß, sondern bloß gleichfarbig, könnten insofern genausogut gleichfarbig schwarz wie gleichfarbig weiß sein. Das Subjekt müßte daher sogar gegenüber zwei schwarzen Scheiben seiner Identität ungewiß bleiben. Auch das Sich-Hineinversetzen in die Perspektive eines der beiden Mitgefangenen bleibt auf der Ebene der phänomenalen Anschauung und löst daher das Dilemma nicht auf. Denn da die beiden anderen Scheiben gleichfarbig sind, ist es ausgeschlossen, sich in narzisstischer Verbrüderung mit einem der beiden gegenüber dem dann ungleichfarbigen Dritten zu positionieren, d. h. das Anderssein oder Ungleichfarbigsein, d. h. je nachdem das Schwarz- oder Weißsein, im Dritten zu verdrängen. Auf dieser Ebene identifiziert sich das Subjekt mit dem Signifikanten $ noch unbewußt, d. h. unvermittelt mit demjenigen seiner beiden Bedeutungswerte schwarz/weiß, den es gerade kontingenterweise vom Anderen gefordert glaubt. Immerhin führt die Ambiguität und das gegenseitige Mutmaßen des Sich-ineinen-der-anderen-Hineinversetzens zu der Option, selbst das Anderssein affirmativ zu ergreifen, von der phänomenalen auf die signifikante Ebene überzugehen, bewußt in die Sprache einzutreten und sich gewaltsam und ad hoc für einen der beiden Signifikanten, ,weiß' (laut Definition S\) oder ,schwarz' (S2), zu entscheiden: Das Subjekt behauptet sich dabei selbst als ungleichfarbig gegenüber den beiden anderen und begibt sich auf die zur Herr-Knecht-Dialektik analoge Position des Genießens bzw. des Herrn. Der

91

Dialektik und Subjektivität

Freud-Interpret Lacan bringt dieses Moment der Dialektik mit der zweiten der drei Identifizierungsformen zur Deckung, die Freud im Kapitel VII Die Identifizierung von Massenpsychologie und Ich-Analyse aufführt und in der die primäre Objektwahl zu einer meist partiellen „Identifizierung regrediert". Den „einzigen Zug"33, der dabei von der Objektperson kopiert wird, interpretiert Lacan als Signifikanten und übernimmt ihn in sein Schema als Si, der als signifikante Wurzel des imaginären Ich für Subjektivität an sich grundlegend ist. Macht sich das Subjekt so zum Herrn, dann identifiziert es sein Ich mit dem „Herren-Signifikanten" Si und dem entsprechenden Signifikat, weiß, und verdrängt den Signifikanten S2 (,schwarz'), indem es das Schwarzsein fälschlich auf die beiden laut Bedingung weißen, für ihn jedoch eigentlich gleichfarbigen Scheiben des zweiten und des dritten Gefangenen projiziert. Es determiniert sie, um für sich auf ein Weißsein zu schließen und in den Genuß der Freiheit zu kommen. Hat es seine Mitinsassen dabei von sich entfremdet, so sind seine Folgerungen, fußen sie auch auf einer unbegründeten Annahme, doch logisch schlüssig. Hätte es umgekehrt anfangs den Signifikanten 2 ,schwarz' gewählt, hätte es als Schwarzes sich selbst von ihnen entfremdet und müßte vor der Tür in die Freiheit scheitern. Was ist das Ergebnis dieser Herren-Lösung des Kampfes auf Leben und Tod? Subjektivitätsgenetisch erreicht sie mit der Trennung von Genießen und Körper oder Körperteil die Plastizität der Libido, die darin besteht, daß es, im Prinzip zumindest, keine notwendige Verbindung zwischen einer Lustempfindung und einem Körper oder Körperteil gibt, d. h. keine somatisch invariable Organlust. Dieses Ablösbar- bzw. Abgelöstsein des Genießens von einem spezifischen Körperorgan ist der Inbegriff des Objekts a. Das Subjekt macht nun nicht mehr, als Begierde, den phänomenalen anderen, d. h. seinen eigenen Körper oder den des anderen, zum Objekt des Genießens, sondern nimmt die dem Über-Ich analoge Position ein, die Genuß nicht mehr aus der Identifizierung, sondern aus der Trennung von Ich und Objekt zieht. In linguistischer Hinsicht nun bedeutet dies, daß die anfängliche Differenz zweier Signifikanten Si und S2, die für eine einfache Bedeutungsunterscheidung weiß-schwarz notwendig ist, in der Negation des S2 durch Si resultiert, in der „Spaltung eines Herren-Signifikanten mit [...] dem verlorenen Körper des Knechts",36 die eine Aneignung des Sinns seitens des Si ist, nämlich das Ablösen, Dekantieren des Genieß-Sinns vom dabei verdrängten Laut- oder Zeichenkörper des Signifikanten S2. Hierin ist das Prinzip der Arbitrarität des Zeichens erreicht, d. h. die Möglichkeit, in der Rede des Subjekts den Sinn (weiß oder schwarz zu sein) von der Materialität des Phonems oder Morphems zu abstrahieren (die Scheiben der anderen können als schwarz oder weiß gelten, genauso wie die eigene). Wenn diese Spaltung subjektivitätsgenetisch betrachtet das Individuum in die Positionen von Über33 34

35 36

F. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (Anm. 21), 117. Ebd. J. Lacan: Le Séminaire livre SXIX: ...oupire (1971-72), Bregenz: J. Lacan: L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 102. Ebd.

Lacan-Archiv, o. J„ 95.

Wolfram Bergande

92

Ich und Ich, Herr und Knecht oder Genießen und Arbeit entzweit, und je nachdem die eine zugunsten der anderen verdrängt, so begründet sie linguistisch betrachtet mit der Arbitrarität des Zeichens die Möglichkeit der Schöpfung neuen Sinns.37 Nichtsdestotrotz: Ob sich das Subjekt nun Si oder S2 zu eigen macht, in beiden Fällen wird die Urverdrängung des Signifikanten 2, der fehlenden dritten schwarzen Scheibe, bloß wiederholt, als unbestimmte Negation repetiert, entweder durch abstrakte Übertragung auf den/die anderen (Affirmation des S\: imaginäres Schwarzsein der anderen) oder durch symptomatisches Ausagieren (Affirmation des S2: imaginäres Schwarzsein des Sub-

jekts). Wie die Herr-Knecht-Dialektik Hegels gerät damit auch ihre zeichentheoretische Reformulierung in eine, wie Kojève es ausdrückte, „existenzielle Sackgasse". Geht das Subjekt im Gefangenendilemma dagegen in die Knechtschaft, so steht ihm das Vollziehen der zweiten Stufe des Identifizierungsprozesses offen, der nach obiger Ideallösung die Gleichfarbigkeit aller Gefangenen erschließt und den der Gefangene, der die Position des Herrn einnahm, einfach kurzgeschlossen hatte. Analog zum gedoppelten Sich-Hineinversetzen in den anderen, also insofern dieser andere sich wiederum in den dritten hineinversetzt, wählt das Subjekt nicht den Eigensinn und identifiziert sich auch nicht mit dem Signifikat (z. B. weiß) eines Signifikanten Sj, das sich durch den Gegensatz von Sj zu S2 definiert. Sondern es identifiziert sich insofern mit Sj, als Si die vermeintlichen Instanziierungen des Signifikanten S2, die vermeintlich schwarzen Scheiben der Mitgefangenen, nicht als ungleichfarbige negiert, sondern den Gegensatz zu ihnen, und damit die Differenz zu S2, dialektisch aufhebt, d. h. diesen Gegensatz als Identität höherer Stufe erweist. Wie geschieht das? Da nicht nur die Instanziierungen von S2, die schwarzen Scheiben, und die von Si, die weißen, jeweils untereinander identisch sind, sondern alle in einer Hinsicht auch miteinander identisch sind, nämlich in ihrer formalen Materialität, der Eigenschaft der Gleichfarbigkeit, wird ein vermeintlicher Gegensatz (zwischen der eigenen Scheibe und den ihrerseits gleichfarbigen anderen) in rückwirkendem Umschlagen zur Voraussetzung seiner eigenen Auflösung in eine substanzielle Identität. Nach diesem zweiten Schritt der Identifizierung kann das Subjekt, parallel zu den Positionen des Stoizismus, Skeptizismus und des Unglücklichen Bewußtseins, das im anderen, der Position des Herrn vereinzelte, entfremdete Genießen zurückholen. Indem es die weiße Farbe seiner bzw. aller drei verteilten Scheiben erschließt, hebt es die in die abstrakte Verdrängung des S2 umgekippte Differenz von Si und S2 für alle beteiligten Subjekte im Selbstbewußtsein des Genieß-Sinns, weiß zu sein, auf. Es wiederholt nicht einfach die ursprüngliche Verdrängung des Signifikanten 2 durch negative Projektion des Schwarzseins auf die Mitgefangenen, sondern holt ihn wieder, im Sinne einer Bergung, Rekuperation, da es das Schwarzsein in eine -

-

Vgl. den Zeichenbegriff der Philosophie des Geistes, in G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10, Frankfurt/M. 1986; Jacques Derrida: „Le puits et la pyramide", in (ders.) Marges de la philosophie, Paris 1972, 79 ff. Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel [1947], Paris 1968, 55.

Dialektik und Subjektivität

93

kollektive Identifizierungs-Bewegung überführt und, indem es dies tut, aus allen drei Positionen eliminiert. In der je zweistufigen Reihum-Identifikation der Beteiligten wird so die ursprünglich fehlende dritte schwarze Scheibe vom ersten an den zweiten, dann an den dritten Gefangenen, und, da alle Subjekte denselben Prozeß durchmachen: im Kreis durchgereicht, bis sie mit dem subjektiven Sinn, weiß zu sein, zu einem jeden von ihnen zurückkehrt. Dieser Kreislauf beschreibt das Glücken einer lacanianischen Kur als das „In-Akt-Setzen der Realität des Unbewußten",39 als Wendung sprachliche Dynamisierung des strukturell verdrängten signifikanten Elements: Das verdrängte Signifikat, die Farbe der virtuellen dritten schwarzen Scheibe, hebt sich im flottierenden Signifikanten $ (,weißl) auf; der sens interdit kehrt sich um in einen sens unique. Damit ist er ein Beispiel für Lacans Definition von therapeutischer Kommunikation wie auch von Rede, discours, überhaupt. Der Sender erhält seine eigene Botschaft: Bin ich schwarz? vom Empfänger, vom Feld des Diskurses, dem Anderen, „in umgekehrter Form" zurück: Wir sind weiß! Oder, da signifikanter Sinn mit Hegels Begriff des Genießens gleichgesetzt ist: Das Subjekt erhält sein „eigenes Genießen in der Form des Genießens des Anderen" zurück. So, wie in Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten der Witzautor durch eines Hörers Lachen über einen Witz, den er selbst kennt und deshalb nicht mehr ursprünglich genießen kann, einen zusätzlichen Genuß ,par ricochet"4 erfahrt, der die „eigene Lust durch die Rückwirkung" vom anderen auf ihn er-

-

gänzt'.43

Allerdings ist in Lacans Begriff von Subjektivität das eigene Genießen nie vollständig im Genießen des Anderen aufgehoben. Wie wenn im Gefangenendilemma die drei Insassen zwar im Selbstbewußtsein ihres Weißseins zur Tür liefen, dort aber nie ankämen, weil immer wieder einer von ihnen zweifelnd stehenbliebe,44 windet sich die dis-

kursive Verkettung der Signifikanten, deren Sinneffekt das Subjekt als sein Ich begehrt und genießt, zu einer Endlosschleife wenn sie nicht von vornherein blockiert geblieben ist. Im gespaltenen Subjekt bleibt so nicht nur die Aufhebung von Begehren und Arbeit in das Genießen unvollständig, es bleibt auch das Genießen gespalten, nämlich in dasjenige auf der Position des Herrn/Uber-Ich und das auf der des arbeitenden Knechts/Ich, d. h. gespalten in sowohl das Genießen des Über-Ich, das seine Tranche in einem „Imperativ des Genießens"45 einfordert, als auch das Sich-Selbst-Genießen des -

J. Lacan: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (Anm. 18), 164. J. Lacan: L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 74. Ebd. S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in (ders.) Gesammelte Werke VI, Frankfurt/M. 1999, 174. Ebd., 174 f. Vgl. dazu ausführlicher J. Lacan: Le temps logique (Anm. 14). J. Lacan: Encore (Anm. 13), 10.

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Ich als

„Lustpunkt" geronnenes Objekt a; allein in ästhetischen oder religiösen Grenzerfahrungen wie z. B. denen der Mystik nähern sich Begehren und Arbeit ihrer7 Aufhebung im Genuß eines „Guts, das nicht durch ein kleines a verursacht wird, [...]" an. Darum bemängelt Lacan an Hegels Konzeption, daß das Genießen, das durch die Arbeit des Knechts produziert wurde, und das er in Anlehnung an Marx' Begriff des zum

Mehrwerts auch „Mehrlust*"4 nennt, ausschließlich dem Herrn zukomme, der damit allen Lustgewinn auf seiner Seite habe: „[...] da es nichts anderes als das Heil seines Körpers ist, um dessen willen der Knecht akzeptiert, beherrscht zu werden, ist es nicht einsichtig, warum, unter einer solchen Erklärungsperspektive, das Genießen nicht seine Angelegenheit bleibt. Man kann nun mal nicht gleichzeitig den Kuchen essen und ihn behalten."49 Stattdessen kann es laut Lacan sinnvoll sein, anzunehmen, daß die Position des Knechts einen Anteil am Genießen erhält.50 Dann ist es zwar einerseits immer noch der signifikante, vor- und unbewußte Diskurs, der in das „der Andere, der Über-Ich als und in den das Subjekt als Ich eingeschrieben ist, der Andere, der Subjekt seinen Genuß schlichtweg aus dem Dekantieren des Sinns zieht. Doch genießt andererseits auch das Ich die arretierte und insofern symptomatische Aufhebung seiner selbst und des Über-Ich in das Ichideal, wie vergleichsweise im Witz aus Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten das Ich von einer „Vorlust" oder „Verlockungsprämie" profitiert, die mit der Produktion des Witzes selbst verbunden ist und ihm allein zukommt, unabhängig vom Lachen des Hörers. Diese Modifizierung der Herr-KnechtDialektik, die auf die Struktur des Unglücklichen Bewußtseins vorausweist, ermöglicht es, der Problematik gerecht zu werden, die laut Lacan eine der Initialzündungen der Psychoanalyse Freuds war, nämlich dem Phänomen des „primären Masochismus"54 als dem, „was in einem Leben immer wiederkehrt [insiste], um in einem gewissen Bereich [...] von Krankheit oder Scheitern zu bleiben",55 einem „verderblichen Genießen",56 das wie die Scheiben aus dem Beispiel gegen eine spezifische Farbe gleichgültig dagegen ist, ob es „Lust" oder „Unlust"57 bereitet. Daß nicht nur auf der Position des Über-

genießt",51

-

46

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50 51

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J. Lacan: La logique du phantasme (Anm. 30), 105. J. Lacan: Encore (Anm. 13), 71. Lacan bezieht sich dort auf Gian Lorenzo Berninis Bildwerk „Verzückung der Hl. Theresa von Ávila" (um 1646, Santa Maria della Vittoria, Rom). Im Original deutsch. J. Lacan: L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 56. J. Lacan: D'un Autre à l'autre (Anm. 6), 89 f. Vgl. J. Lacan: La logique du phantasme (Anm. 30), 276 ff. J. Lacan: Encore (Anm. 13), 26. S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (Anm. 42), 154. Ebd., 153. J. Lacan: La logique du phantasme (Anm. 30), 129. Vgl. ders. : L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 51. J. Lacan: La logique du phantasme (Anm. 30), 129. J. Lacan: L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 52. Ebd., 89.

95

Dialektik und Subjektivität

Ich, sondern auch auf der des Ich die Spaltung der subjektiven Topik genossen wird, ist dann eine

Erklärung für den Widerstand des Ich gegen beider therapeutische Aufhediese Da Spaltung in Lacans Topologie unaufhebbar bleibt, ist auch die Abgrenbung. von Freuds Unbehagen in der Kultur gegenüber Hegels ,Unglücklichem Bewußtzung sein' nicht verhandelbar: Im Unglücklichen Bewußtsein ist ein absolutes Wissen gerade das von Freud beschriebene Unbehagen in der Kultur jenur temporär doch strukturell irreduzibel. Insofern unterscheiden sich, so Lacan, auch die beiden danach entwickelten Dialektiken des Begehrens wesentlich.59

suspendiert,58

(e) Psychologie des Diskurses In

gruppenpsychologischer Perspektive lassen sich die einzelnen Etappen des Gefange-

nendilemmas, wie sie oben als intrasubjektive Stadien den Momenten der Begierde, von Herr und Knecht und zuletzt dem Unglücklichen Bewußtsein zugeordnet wurden, als Diskursformen verstehen, die sich wie die dialektischen Stufen im Gefangenendilemma durch eine spezifische Konstellation der drei Signifikanten $, Si, S2 und des Objekts a auszeichnen, nämlich durch die alternierenden Besetzungen dessen, was Lacan ihre

„Dominante"60, ihre Schlüsselposition nennt. Sie entsprechen in dieser Reihenfolge den vier Paradigmen kollektiver Organisation, die Lacan als Hysterischen, Herren-, Universitären und Analytischen Diskurs im Seminar L'envers de la psychanalyse dargestellt hat. In verschieden gewichteten dialektischen Varianten reproduzieren sie das massenin welchem psychologische Schema aus Freuds Massenpsychologie und sich die Mitglieder einer Gruppe in ihren Ichs miteinander identifizieren, weil sie alle dieselbe Führerpersönlichkeit Lacan würde sagen: denselben signifikanten Zug oder Herren-Signifikanten, d. h. dasselbe in einem Zeichen markierte Charakteristikum an die Stelle ihres Ichideals (respektive ihres Über-Ichs) gesetzt haben, d. h. auf die Position des absoluten, einen Diskurs begründenden Anderen. Es ist der sogenannte Herrendiskurs, ob intra- oder intersubjektiv verstanden, in dem die dominante Position vom Herrensignifikanten Si besetzt ist. Wie oben in der Herren-Lösung des Gefangenendilemmas deutlich wurde, verdrängt er die Ich-konstitutive Spaltung des Subjekts und kaschiert den Verlust des freien Lebens des Knechtes, dessen Wiedergewinnung laut Lacan der wahre Einsatz der Dialektik gewesen ist.62 Ähnlich der letzten Phase des Gefangenendilemmas, in der das Subjekt zusammen mit seinen Mitgefangenen die Lösung ihrer Situation einsieht, ist es dagegen Ziel des Analytischen Diskurses, indem er das Objekt a in die dominante Position bringt, die blockierte Verkettung der involvier-

Ich-Analyse.,61

-

-

Vgl. J. Lacan, Écrits (Anm. 14), 799. Vgl. ebd., 802. J. Lacan: L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 47. Vgl. die Graphik in S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (Anm. 21), Vgl. J. Lacan: L'envers de la psychanalyse (Anm. 22), 118.

128.

Wolfram Bergande

96

Signifikanten nun zwar nicht aufzulösen, aber doch so zu durchschießen, einzufädeln oder zu verklammern,63 daß subjektiver Sinn entsteht durch Aufhebung des Signifikats a im Signifikanten $. Er löst damit gleichsam eine gezielte aus, die selbstbewußte Verwirklichung einer vorher nur „indirekten Kommunikation mit dem Begehren des Anderen"65 (welche die dritte Art der Identifizierung aus Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse kennzeichnet). ten

„Hysterisierung"64

(f) Ausgang offen Welchen Wert hat Lacans post-hegelianisches Subjektivitätsmodell? Rehabilitiert es die Dialektik, widerlegt als ontologisches Prinzip, als gültige Beschreibung psychischer oder intersubjektiver Strukturen? Oder bietet seine Interpretation der Dialektik des Selbstbewußtseins einfach eine weitere, auf den neueren Stand der Psychoanalyse gebrachte Version der rationalen Mythologie Hegels, wenn er den Unterschied der Konzeptionen Hegels und Freuds zuletzt so auf den Punkt bringt: „Das Selbstbewußtsein* Hegels, das ist das ,ich weiß, daß ich denke'; das Freudsche Trauma ist ein ,ich weiß nicht', das selbst undenkbar ist, da es ein ,ich denke' voraussetzt, von dem alles Denken entfernt worden ist"67? Wie auch immer die Legitimität und der Erkenntniswert eines Paradigmas wie des von Lacan verwendeten Gefangenendilemmas bewertet werden mögen festzuhalten ist, daß Lacans Diktum, kein Diskurs bilde ein „geschlossenes Ensemble"68 wie die Gefangenengruppe in Le temps logique, nicht einfach heißt, daß so etwas wie Intersubjektivität unter Umständen keinen heilsamen Ausgang nehmen wird. Dies wird deutlich durch den Vergleich seines Diskursbegriffs mit der ,Geschlossenen Gesellschaft', die Sartres existenzialistische Phänomenologie ebenfalls im Anschluß an Hegel entwirft. Sartres Critique de la raison dialectique beschreibt ein Schema von Intersubjektivität, das auf der phänomenologischen Betrachtungsebene bleibt, auf einer Ebene, die die Konstellation unserer drei Gefangenen als dialektische Konfrontation dreier Bewußtseine vorzeichnet diesseits der Einführung einer unabhängigen signifikanten Dimension. Die wechselseitige Entfremdung zweier Bewußtseine führt dort dazu, daß ihre konfliktgeladene, instabile Dyade zur Totalisation durch ein drittes Bewußtsein tendiert. Nach Sartre delegiert die Zweierbeziehung das in ihr strittige Objekt, das -

63

64 65 66

67 68 69

Ebd., 61. Ebd., 35. J. Lacan: Problèmes cruciaux pour la psychanalyse Anm. 5), 127. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (Anm. 21), 117. Im Original deutsch. J. Lacan: D'un Autre à l'autre (Anm. 6), 224. Siehe Anm. 30. Jean-Paul Sartre: Critique de la raison dialectique, Paris 1960, 178-199: „Abschnitt B: Des relations humaines comme médiation entre les différents secteurs de la matérialité". Zu Sartre und Lacan vgl. Andreas Cremonini: Die Durchquerung des Cogito, München 2003. -

Dialektik und Subjektivität

97

„Element der Desintegration", an eine dritte Instanz, die dieses Element objektiviert und damit die dialektische Zweier-Beziehung als Einheit synthetisiert. Nun kann zwar ein jedes der drei beteiligten Bewußtseine die Rolle des synthetisierenden Dritten einnehmen. Aber das Verhältnis von Triade zu Dyade ist als solches nicht reziprok. Die Asymmetrie zwischen dem jeweiligen Dritten und der von ihm synthetisierten Zweierbeziehung bleibt laut Sartre unabänderlich bestehen, mag sie sich auch reihum verschieben. Das élément de désintégration ist in der Binnenzirkulation der 2+1-Triade gefangen, rotiert im Imaginären. Daß Lacans Interpretation der Dialektik des Selbstbewußtseins keine derart ausweglose Herr-Knecht-Dialektik der Bewußtseine ist, sondern eine Dialektik von 3+1 signifikanten Elementen,71 die nicht auf vorsprachlich gegebenes Bewußtsein reduzierbar sind, wird gerade gegenüber Sartre an der supplementären schwarzen Fehlscheibe des Gefangenendilemmas deutlich, durch die dessen élément de désintégration externalisiert wird als Brückenkopf in die Realität.

70

71

Ebd., 194.

Vgl. dazu Slavoj Zizek: „Why Should a Dialectician Learn to Count to Four?", losophy 58, Summer 1991, 3-9.

in Radical Phi-

Christian Iber

Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes

Um die Thematik in den Blick zu bringen, gehe ich in fünf Schritten vor: In einem ersten Schritt wird der Übergang vom Bewußtsein zum Begriff des Selbstbewußtseins und seine Fundierung im Leben und in der intersubjektiven Dimension des Geistes erörtert. In einem zweiten Schritt wird der normative Begriff der Anerkennung thematisiert, der den Maßstab der Kritik defizitärer Formen der Anerkennung und ihrer selbstbewußtseinsrelevanten Kompensationsgestalten abgibt, die in einem dritten Schritt umrissen werden. Der Begriff der Anerkennung findet im Selbstbewußtseinskapitel keineswegs seine abschließende Behandlung. Vielmehr entwirft es einen historisch gewordenen Problembestand, der seine Lösung erst im Staat der bürgerlichen Gesellschaft erfahrt. In einem vierten Schritt wird deshalb fernperspektivisch die anvisierte Verwirklichung des Begriffs sozialer Anerkennung in der Theorie der modernen Sittlichkeit im Vernunftkapitel und in einem fünften Schritt die Anerkennungsstruktur des sich entfremdenden Geistes und der Moralität im Übergang zur Religion im Geistkapitel skizziert.

I. Das Selbstbewußtsein und seine Fundierung in Leben und Geist 1.

Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein

Der Begriff des Selbstbewußtseins tritt in der Phänomenologie im Übergang vom Bewußtsein auf. In der Enzyklopädie ist dieser Übergang deswegen so dunkel, weil Hegel hier entscheidende Zwischenschritte in der Explikation des Verstandes und seines Gegenstandes ausläßt. Erstens wird die Differenz zwischen den Naturgesetzen und dem Begriff des Gesetzes nur angedeutet, zweitens wird die tautologische Erklärung des Verstandes nur verschlüsselt erwähnt, und drittens wird das Bewußtsein des Lebens, das in der Phänomenologie entscheidend ist, nur im Zusatz zu § 423 angesprochen.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

99

Hegel unter der Tautologie des Erklärens? Der Verstand führt die mannigfaltigen Erscheinungen auf wenige einfache Gesetze zurück, die das ruhige, allgemeine Abbild der wechselhaften Erscheinungen, selbst aber mit dem Mangel der Erscheinung behaftet sind. Denn erstens bleibt in den Erscheinungen immer ein nicht erkannter Rest übrig und zweitens zerfallen die einfachen Gesetze, um diesen Mangel zu beheben, in unendlich viele Gesetze, so daß das ruhige Reich der Gesetze so kompliziert wie die Erscheinungswirklichkeit selbst ist. Daher geht der Verstand auf die Suche nach einem Fundamentalgesetz, das alle bestimmten Gesetze in einer Einheit zusammenfaßt. Die Zurückführung der Erscheinungen auf Gesetze und dieser auf ein Fundamentalgesetz führt aber nicht zur Einheit der bestimmten Gesetze, weil darüber deren empirischer Inhalt verloren geht, wohl aber zum ,ßegriff des Gesetzes". (121)' Im Begriff des Gesetzes sind die unterschiedenen Seiten des Gesetzes „selbst wieder in das Innere als einfache Einheit zurück"-gegangen, die „die innere Notwendigkeit des Gesetzes" (122) zum Ausdruck bringt. Doch kein bestimmtes Naturgesetz erfüllt die Bedingungen, die im Begriff des Gesetzes formuliert sind. Die bestimmten Naturgesetze sind nämlich bloß vorgefundene, deren Seiten einander ebenso äußerlich sind wie ihrer EinWas versteht

heit. Was der Verstand an den bestimmten Naturgesetzen vermißt, findet er jedoch in sich selbst. In der Erklärung der Gesetze der Erscheinung, die selbst der Erscheinung zugehörig sind, aus dem Begriff des Gesetzes trifft der Verstand Unterschiede, die keine sind. So wird z. B. das Fallen eines Gegenstandes durch die Schwerkraft erklärt. Der Form nach sind Fall und Schwerkraft unterschieden, doch die Schwerkraft hat keinen anderen Inhalt als das Fallen selbst. So wird die zu erklärende Sache nur verdoppelt, einmal in das erklärungsbedürftige äußere Phänomen, zum anderen in die nicht wirklich erklärende innere Kraft. Es wird hier nur dem Schein nach erklärt, indem die Form der Reflexion bzw. der Unterschied auf die zu erklärende Sache Anwendung findet. In der Tat aber findet, dem Inhalt nach, keine Erklärung statt, weil der aufgemachte Unterschied leer ist. Denn wenn man fragt, was der Inhalt der Kraft sei, dann wird wieder auf das Phänomen verwiesen. Tautologisch ist die Erklärung mithin dadurch, daß sie zu ihrem Ausgangspunkt, dem erklärungsbedürftigen Phänomen, zurückkehrt. Das Verstandesbewußtsein scheitert also an der Erklärung der bestimmten Gesetze aus dem Begriff des Gesetzes. Zugleich dokumentiert sich darin ein Fortschritt in der Entwicklung des Bewußtseins, denn das Bewußtsein erfahrt in der tautologischen Bewegung des Erklärens nur die Notwendigkeit seiner eigenen Bewegung, d. h. nur die Notwendigkeit seiner selbst, nämlich daß das Ich des Bewußtseins sich selbst Gegenstand ist, ein Gegenstand, der, weil er „nicht von ihm unterschieden ist" (Enz. § 423), kein Gegenstand ist. Diese höhe-

G. W. F. Hegel: „Phänomenologie des Geistes" (1807) wird nach Theorie Werkausgabe (= HW), hg. v. E. Moldenhauer/K. M Michel, Frankfurt/M. 1969 ff. (HW), Bd. 3, ohne Sigle, zitiert.

Christian Iber

100 re

Notwendigkeit bringt

zum

Ausdruck, daß kein Bewußtsein ohne Selbstbewußtsein

ist, was von nun an thematisch zu werden beginnt.

Phänomenologie tritt zwischen die Tautologie des Erklärens der bestimmten Naturgesetze aus dem Begriff des Gesetzes und das Selbstbewußtsein noch das Bewußtsein des Lebens (vgl. 127 ff.). An der Tautologie des Erklärens der mechanischen Naturgesetze erfahrt der Verstand zwar die höhere Notwendigkeit seiner eigenen Bewegung des Setzens von Unterschieden, die keine sind, jedoch ohne sich dessen bewußt zu In der

sein. Doch findet der Verstand diese Struktur der Unendlichkeit an einer neuen Art von Naturgesetzen, den elektromechanischen Gesetzen der Anziehung und Abstoßung, die für Hegel die Gesetze der verkehrten Welt des Lebens sind. An diesen Gesetzen geht dem Bewußtsein die Unendlichkeitsstruktur des Lebens auf, an der das Bewußtsein seine eigene Selbstbewußtseinsstruktur erfahrt, ohne daß dies dem Bewußtsein wiederum bewußt wäre. Die Frage ist, ob der Übergang von der Entdeckung der Unendlichkeitsstruktur des Lebens zum Selbstbewußtsein mehr als ein Analogieschluß ist. Ein Analogieschluß wäre dieser Übergang, wenn die Struktur des Lebens und die des Selbstbewußtseins nur eine Ähnlichkeit Verschiedener wäre. Doch sind für Hegel die Struktur des Lebens und die des Selbstbewußtseins nur zwei Seiten der einen Unendlichkeitsstruktur des Lebens. Die unendliche Struktur des Lebens ist Einheit von Leben und Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein hat seinen Grund im Leben, und das Leben kommt zum Bewußtsein seiner selbst im Selbstbewußtsein. Der Übergang vom Leben zum Selbstbewußtsein ist also ein Übergang im Leben selbst. Entscheidend ist bei dem Übergang vom Bewußtsein in das Selbstbewußtsein, daß in dem Augenblick, wo das selbstgewisse Ich des Bewußtseins sich selbst Gegenstand ist, dieser gerade nicht mehr den Charakter eines Gegenstandes des Bewußtseins hat, so daß mit den Bedingungen von Bewußtsein das Bewußtsein selbst eliminiert bzw. „verschwunden" (135; Enz. § 423) ist. Wie für Fichte, so ist auch für Hegel Selbstbewußtsein nicht aus der Perspektive des Bewußtseins einholbar. Der Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein muß daher als dialektische Selbstüberwindung des Bewußtseins verstanden werden, das ins Selbstbewußtsein umschlägt. Mit Fichte geht Hegel davon aus, daß es ein Mißverständnis der traditionellen Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins ist, daß im Falle des Selbstbewußtseins das Bewußtsein an die Stelle dessen, was sonst Gegenstand des Bewußtseins ist, transportiert und dann mit diesem identifiziert werden könne, ohne in die Gefahr eines fehlerhaften Zirkels oder eines infiniten Regresses von Bewußtseinspositionen zu geraten. Der Sachdienliche Hinweise über die verschlungenen Pfade der Erfahrung des Verstandes und die naturwissenschaftlichen Kontexte gibt Thomas Kaienberg: Die Befreiung der Natur. Natur und Selbstbewußtsein in der Philosophie Hegels, Hamburg 1997, 26—45. Fichte kritisiert die Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins und entwirft seine eigene Theorie vom Selbstbewußtsein als intellektueller Anschauung in seiner Schrift „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre", in (ders.) Werke (= FW), hg. v. I. H. Fichte, Bd. I, 519-534.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

101

Übergang vom Bewußtsein in das Selbstbewußtsein ist weder als bewußtes Wiederer-

kennen des Bewußtseins in seinem äußeren Gegenstand, also als Identifikation des äusseren Gegenstandes mit dem Ich des Bewußtseins zu verstehen, noch als der Ort, wo die gewisse Selbstbezüglichkeit des Ich des Bewußtseins erst in einer Reflexionsbewegung des Bewußtseins auf sich zustande kommt.4 Der springende Punkt beim Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein liegt vielmehr darin, daß hier die im Bewußtsein als solchem liegende gewisse Selbstbezüglichkeit des Ich in einem ungegenständlichen „Wissen von sich selbst" (137) thematisch und explizit wird.

Selbstbewußtsein, Leben und Geist Der Begriff des reinen Selbstbewußtseins ist für Hegel der Widerspruch, daß es nur in Beziehung auf das Entfallen des Objektbewußtseins eintritt. Beim abstrakten Selbstbe-

2.

wußtsein handelt es sich um das Paradox eines bewußtseinslosen Selbstbewußtseins, das paradigma eines C/«gedankens". Das Selbstbewußtsein als solches ist zwar notwendig zu denken, aber es kann bei ihm nicht stehengeblieben werden, denn als solches ist es inhaltsleer, „ohne Realität". (Enz. § 244) In der gewußten gewissen Selbstbeziehung des Ich, in der der Bewußtseinsunterschied entfallt, das Ich „der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst" (137 f.) ist, erscheint das Selbstbewußtsein als „bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich". (138) In Polemik gegen Fichte kann Hegel daher formulieren: „indem ihm [dem Selbstbewußtsein d. Verf.] der Unterschied nicht auch die Gestalt des Seins hat, ist es nicht Selbstbewußtsein" (ebd.). Der Widerspruch impliziert die Forderung, die eliminierte Struktur des Bewußtseins in das Selbstbewußtsein zu integrieren, auf daß dieses sich erfüllte Realität geben kann. Erst durch seine Entwicklung kann daher das Selbstbewußtsein zur „Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" (137) kommen.6 -

Daß der Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein nicht als Identifikation des Bewußtseins mit seinem Gegenstand verstanden werden darf und daß Hegel den Zirkel in der Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins durchschaut, betonen Konrad Cramer: „Bewußtsein und Selbstbewußtsein", in Hegel-Studien, Beiheft 18 (1979), 221, und Petra Braitling: Hegels Subjektivitätsbegriff. Eine Analyse mit Berücksichtigung intersubjektiver Aspekte, Würzburg 1991, 51 ; neuerdings Christof Schalhorn: „Hegels Enzyklopädischer Begriff von Selbstbewußtsein", in Hegel-Studien, Beiheft 43, Hamburg 2000, 163 ff., 176 ff, der sich auch kritisch auf Cramer bezieht (166 f.), und Christian Iber: „In Zirkeln ums Selbstbewußtsein. Bemerkungen zu Hegels Theorie der Subjektivität", in Hegel-Studien, Bd. 35, Hamburg 2002, 58 ff. Anders dagegen Dieter Henrich: „Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie", in Hermeneutik und Dialektik, hg. v. Rüdiger Bubner u.a., Tübingen 1970, 281 und T. Kaienberg: Die Befreiung der Natur (Anm. 2), 61. K. Cramer: Bewußtsein und Selbstbewußtsein (Anm. 4), 223. Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins scheitert in Hegels Augen, weil weder die „Ich bin"Gewißheit von § 1 noch das reflektierende Bewußtsein des Ich in seiner Bezugnahme auf die Sphäre des Nicht-Ich von § 5 der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" (1794/5) die volle Bedeutung des Selbstbewußtseins des Ich verständlich macht. Vgl. FW (Anm. 3),

Christian Iber

102

Als Bewußtsein ist das Selbstbewußtsein zunächst Begierde. In der Begierde verfolgt das Selbstbewußtsein die Selbsterhaltung seiner Ichheit in der Vernichtung der Gegenständlichkeit, die ihm das Negative, Unwesentliche ist. Dabei ist zu beachten, daß der genuine Gegenstand des Selbstbewußtseins als Bewußtsein das ,jZeben", der Gegenstand der Begierde ein lebendiges" (139) ist, und zwar deshalb, weil das Selbstbewußtsein einbegriffen ist in die Struktur des Lebens. In der Begierde hat sich die Unendlichkeitsstruktur des Lebens in den Gegensatz von Selbstbewußtsein und Leben

„entzweit", (ebd.)

Zwar ist das Selbstbewußtsein nichts anderes als das seiner selbst bewußte Leben, aleine höhere Form des Lebens, nämlich das menschliche Leben, das das seiner selbst nicht bewußte Leben der Natur zur Voraussetzung hat. Doch ist dem begehrenden Selbstbewußtsein als solchem dieser Sachverhalt nicht bekannt. Es stellt das Leben vielmehr als jenes Andere vor, das als negativwertiger Gegenstand der Begierde zu vernichten ist. Das begehrende Selbstbewußtsein muß die „Erfahrung der Selbständigkeit" (140) seines Gegenstandes machen, d. h. es muß die Erfahrung machen, daß das Leben eine nicht zu negierende notwendige Bedingung seiner selbst ist. Deshalb entwickelt Hegel die wesentlichen Bestimmungen des Lebens. (140 ff.) 1. Die Substanz des Lebens realisiert sich in der Mannigfaltigkeit vieler selbständiger Individuen, die, wie das Selbstbewußtsein in seiner Begierde im Streben nach Selbsterhaltung, sich wechselseitig das Leben bestreiten und so die Substanz des Lebens aufzehren, der sie ihr Bestehen verdanken. Die sich selbst erhaltende lebendige Gestalt zehrt sich damit in gewisser Weise selbst auf, was ihr schließlich den Tod bringt. Die Erhaltung der Kontinuität des Lebens hat den Verlust der individuellen Selbsterhaltung zum Preis. Das Leben vollzieht und erhält sich in der Negation seiner selbst. 2. Der Prozeß des Lebens faßt sich im Begriff der Gattung zusammen. Hegels These ist, daß das Gattungsleben in der Natur kein Bewußtsein von sich selbst hat, daher notwendig unvollständig ist und auf ein Anderes verweist, nämlich auf ein anderes höheres Leben, für welches das Gattungsleben in der Natur ist und das für sich selbst das Bewußtsein seiner eigenen Gattung hat: das Selbstbewußtsein. 3. Das Selbstbewußtsein, das das Bewußtsein von sich als allgemeiner Lebensgattung hat, ist bereits Geist, denn es hat das Bewußtsein davon, daß es als lebendiges Individuum einer gemeinsamen Gattung des Lebens angehört, die strukturgleiche Individuen umfaßt, die sich also nicht prinzipiell fremd sind, sondern ein gemeinsames Wesen haben. Wenn also gesagt wird, daß das Selbstbewußtsein in seiner Begierde die ,,Erfahrung der Selbständigkeit" (140) des Lebens macht, dann ist damit gemeint, daß das Selbstbewußtsein die Erfahrung macht, daß es seine Befriedigung nicht in der Begierde, d. h. in der Vernichtung und Zerstörung lebendiger Gegenstände der Natur findet, sondern in einem lebendigen Gegenstand, der ihm in seiner Struktur entspricht, d. h. in einem anderen lebendigen Selbstbewußtsein. so

Bd. I, 94 ff, 271 ff. Das Proprium bewußtseins im Leben und Geist.

Hegels gegenüber Fichte besteht in der Fundierung des Selbst-

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

103

Worin entspricht nun der lebendige Gegenstand dem Selbstbewußtsein, das zur Einsicht gekommen ist, daß es seine Befriedigung nicht in der Begierde, d. h. in der Vernichtung anderer lebendiger Wesen der Natur finden kann? Er entspricht ihm darin, daß er als ein mit Bewußtsein ausgestatteter lebendiger Gegenstand „die Negation seiner selbst an sich vollziehft]". (144) Das bedeutet, daß er ebenso wie das zur Einsicht in den Mangel der Begierde gekommene Selbstbewußtsein die Begierde, die Hegel „das Negative" (144) nennt, an sich selbst zu negieren vermag, und zwar im Bewußtsein davon, daß er als lebendiges Individuum einer gemeinsamen Gattung strukturgleicher Individuen angehört. Das Selbstbewußtsein ist jenes höhere Leben, das die Selbstnegationsstruktur des Lebens dadurch vollendet, daß es im Bewußtsein davon, einer allgemeinen Gattung anzugehören, sich nicht nur als Begierde verhält. Mit der Synthese von Selbstbewußtsein und Leben ist die intersubjektive Dimension des Geistes etabliert. Hegel begründet die Einführung der intersubjektiven Relation Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" (144), die gleichsam eine Synthese der bewußten Selbstbeziehung des Ich qua reinem Selbstbewußtsein und der SubjektObjekt-Relation des begehrenden Selbstbewußtseins darstellt, damit, daß nur in ihr das Selbstbewußtsein ein Objekt hat, das ihm wirklich entspricht, weil es ein Gegenstand ist, der zugleich selbst Ich ist. Im Anderen begegnet dem Selbstbewußtsein nicht mehr ein Fremdes, sondern sein eigenes Wesen, das sowohl lebendiges Einzelnes wie auch Gattungsallgemeines ist. Erst wenn der Gegenstand des Selbstbewußtseins selbst ein Selbstbewußtsein ist, ist das Ich Ich des reinen Selbstbewußtseins realisiert und der Gegensatz zwischen Selbstbewußtsein und Bewußtsein aufgehoben. Mit dem Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" (144) ist zwar der intersubjektive „Begriff des Geistes" (145) bereits vorhanden, allerdings nur für uns bzw. an sich. Für das Bewußtsein zeigt erst die weitere Erfahrung, was es mit der intersubjektiven Dimension des Geistes, dem ,Jch, das Wir, und Wir, das Ich ist" (145), auf sich hat. Hegel deutet die Ausbildung der intersubjektiven Dimension des Geistes als Vertiefung der Einheit und zugleich des Gegensatzes der im Wir vereinten Subjekte. Vorausblickend läßt sich die These aufstellen, daß sich das Selbstbewußtsein in der intersubjektiven Dimension des Geistes nur realisieren kann, wenn zugleich der Gegensatz von Selbstbewußtsein und Leben aufhoben ist. Die defizitären Formen der Intersubjektivität sind immer auch mit dem unaufgehobenen Gegensatz von Selbstbewußtsein und Leben behaftet. =

Interessant ist, daß Hegel in der Einleitung zur Enzyklopädie III die Begierde wesentlich den Tieren zuschreibt (vgl. §381 Zus.; HW, Bd. 10,20), wohingegen menschliche Wesen dadurch

ausgezeichnet sind, dieses Stadium, obgleich es auch ihnen eignet, überschreiten zu können.

104

II.

Christian Iber

Hegels normativer Begriff der Anerkennung

In der Genese der intersubjektiven Anerkennung wird die Bedeutung des anderen Selbstbewußtseins für ein sich erst konstituierendes Selbstbewußtsein des Ich deutlich. Die Entwicklung von Intersubjektivität geht mit der Herausbildung von selbstbewußter Subjektivität Hand in Hand. Hegel geht von dem Diktum aus, daß das Selbstbewußtsein „nur als ein Anerkanntes" (145) ist. Das selbstbewußte Ich ist nicht zunächst und dann in einem zweiten Schritt auch ein Anerkanntes. Das Ich verdankt sein Selbstbewußtsein vielmehr seinem Anerkanntsein. Hegels These ist, daß das Ich nur in der Bewegung, die zur intersubjektiven Anerkennung führt, ein Selbstbewußtsein auszubilden Der Begriff der Anerkennung firmiert unter dem Titel der „geistige [n] Einheit" bzw. „Unendlichkeit". (145) Beide Begriffe zeigen an, daß der normative Begriff der Anerkennung symmetrisch-reziprok und reflexiv ist. Die wechselseitige Anerkennung stabilisiert sich nur, wenn es zur reflexiven Anerkennung des Anerkennungsprozesses selbst kommt. Darin unterscheidet sich Hegel von Fichte, für den die Anerkennung nur eine

vermag.8

wechselseitige, symmetrische Struktur hat. Zunächst entfaltet Hegel die Bewegung

der Anerkennung als Tun eines Selbstbewobei die drei Phasen dieser wußtseins, Bewegung jeweils doppelsinnig sind (vgl. 146 f.). In der unmittelbaren Konfrontation mit einem anderen Selbstbewußtsein erfahrt das Selbstbewußtsein, daß es nicht ein Solitäres auf der Welt ist: „es ist außer sich gekommen". (146) Dieses Außersichgekommen- bzw. Anderssein des Selbstbewußtseins weist den Doppelsinn auf: 1. Es hat sich selbst verloren, weil es sich selbst nur als Anderes findet; 2. es sieht das Andere nicht als selbständiges Wesen an, weil es im Anderen nur sich selbst sieht. Das selbstverlorene Sich-selbst-Finden im Anderen ist zugleich eine Vereinnahmung des Anderen. Da dieses selbstlose Sich-selbst-Finden im Anderen der Selbständigkeit des Selbstbewußtseins nicht gerecht wird, muß das Selbstbewußtsein sein Anderssein aufheben. läßt das Selbstbewußtsein des Ich, aber keineswegs das Ich des Selbstbewußtseins „im sozialen Interaktionszusammenhang zustande kommen". D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie (Anm. 4), 281. Seine Anerkennungstheorie verstrickt sich daher nicht in den Zirkel, in den sich die intersubjektive Erklärung von Selbstbewußtsein bei Mead, Tugendhat und Habermas verstrickt, nur im Spiegel der anderen ein Wissen von sich zu gewinnen, dabei aber das Wissen von sich als Subjekt bereits vorauszusetzen. Vgl. Manfred Frank: „Subjektivität und Intersubjektivität" in Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, hg. v. M. Frank, Stuttgart 1991, 410 ff., bes. 457 ff. Zu unterscheiden ist zwischen thematischem, aber ungegenständlichem Wissen von sich (abstraktes Selbstbewußtsein) und expliziter Selbsterkenntnis des Ich in seiner Individualität und Allgemeinheit, die durch intersubjektive Verhältnisse vermittelt ist. Vgl. C. Schalhorn: Hegels Enzyklopädischer Begriff von Selbstbewußtsein (Anm. 4), 202 ff. Die Reflexivität des Hegeischen Anerkennungsbegriffs betont zu Recht Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1988, Bd. 2, 373. Vgl. Fichte: „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" (1796/97), in FF (Anm. 3), Bd. 111,44.

Hegel

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

105

So wie das selbstlose Außersichsein doppelsinnig war, so auch das Aufheben dieses doppelsinnigen Andersseins: Geht das Selbstbewußtsein 1. darauf aus, in der Distanzierung oder Abgrenzung vom Anderen das andere selbständige Wesen aufzuheben, so hebt sich 2. das Selbstbewußtsein selbst auf, denn das Andere ist es selbst. An dieser widersprüchlichen Struktur der zweiten Phase zeigt sich: Versteift sich das Selbstbewußtsein auf sich und versucht, das andere selbständige Wesen aufzuheben, dann kommt es ebenfalls nicht zu sich. Es wird klar, daß das Selbstbewußtsein auf das Andere als selbständiges Wesen angewiesen ist. Der Widerspruch der zweiten Phase zeigt an, daß es bei diesem doppelsinnigen Aufheben des Andersseins der zweiten Phase nicht sein Bewenden haben kann. Die dritte Phase faßt Hegel als „doppelsinnige Rückkehr in sich selbst" (146): 1. Durch das Aufheben des Andersseins erhält das Selbstbewußtsein sich selbst zurück. 2. Durch eben diese Rückkehr zu sich läßt es das Andere wieder frei und gewährt ihm, ein selbständiges Wesen zu sein. Das Außersichsein oder Anderssein, dessen doppelsinnige Aufhebung hier die Bedeutung der doppelsinnigen Rückkehr in sich selbst erhält, war ja dadurch gekennzeichnet, daß das Selbstbewußtsein das Andere vereinnahmend nur sich selbst im Anderen sieht. Die dritte Phase führt zur einer höherstufigen Selbstgewinnung des Selbstbewußtseins, weil sie einhergeht mit dem freien Entlassen des Anderen. Das bedeutet: Nur wenn das Selbstbewußtsein das Andere als solches in seinem Fürsichsein anerkennt, legt es den Grund der Möglichkeit dafür, daß es selbst als solches in seinem Fürsichsein vom Anderen anerkannt wird. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Begriff der Anerkennung bei Hegel aus einer Dialektik des Sich-selbst-Findens im Anderen und der Distanzierung vom Anderen entspringt. Anerkennung ist für Hegel eine Synthese aus Assimilation und Distanz.11 Sie ist weder nur als den Anderen vereinnahmende selbstlose Selbstfindung im Anderen, noch als sich auf sich versteifende Abgrenzung gegen den Anderen möglich,

muß aber durch beide Phasen hindurchgegangen sein. Natürlich ist die Bewegung der Anerkennung nicht nur ein Tun des einen Selbstbewußtseins, sondern ein wechselseitiger Prozeß (vgl. 146 f.). Dem Tun des einen muß die identische Handlung des anderen entsprechen. Beide Subjekte haben das Bewußtsein, daß sie selbst tun müssen, was sie vom anderen fordern, und zweitens, daß beide, was sie tun, nur tun, insofern das andere dasselbe tut. Die Anerkennung ist nur dann nicht hypothetisch, wenn sie wechselseitig ist. Jedes macht die Anerkennung des anderen davon abhängig, daß auch dieses ihm Anerkennung zollt. An der schlußlogischen Vermittlung der Anerkennung (vgl. 147) macht Hegel deutlich, daß die Anerkennung nicht nur symmetrisch-reziprok, sondern auch reflexiv ist: Wenn jedes Subjekt dem anderen die Mitte ist, welche jedes mit sich selbst als aner-

Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Philosophie des Geistes, Freiburg-München 1979, 123, spricht von einer „Synthese von ,Liebe' und ,Kampf ", wobei allerdings unklar bleibt, wie aus einer Distanzierung ein Kampf

Jenaer

entbrennen kann.

106

Christian Iber

kanntem und anerkennendem vermittelt und zusammenschließt, dann wird klar, daß sich die Subjekte nicht nur gegenseitig anerkennen, sondern „als gegenseitig sich anerkennend' (147) anerkennen. Solange die Anerkennung nur wechselseitig ist, solange ist die Gefahr nicht gebannt, daß sie von den Subjekten wieder aufgekündigt wird. In der Anerkennung geht es also um die sich anerkennenden Subjekte als solche, sofern sie am Anerkennungsprozeß in der Weise beteiligt sind, daß sie dessen Norm erfüllen, nämlich das Anerkennungsprinzip anerkennen. In der Reflexivität der Anerkennung ist jene Unendlichkeit bzw. geistige Einheit, an der die Subjekte des Anerkennungsprozesses teilnehmen und darin zugleich selbstbewußte Subjekte werden, realisiert. Mit der reflexiven Anerkennung des Anerkennungsprozesses ist der normative Begriff der Anerkennung entwickelt, der zugleich den Maßstab der Kritik ihrer Realisierung bildet. Das Charakteristische des phänomenologischen Anerkennungsbegriffs ist, daß der normative Begriff der Anerkennung in einer Stufenfolge der Erfahrung defizitärer Anerkennungsverhältnisse realisiert wird.

III. Defizitäre Formen der Anerkennung und ihre Kompensationsgestalten

Kampf um Anerkennung: Ausgangspunkt des Erfahrungsprozesses ist die unmittelbaKonfrontation in der Verfolgung ihrer Lebensinteressen einander ausschließender Individuen, die füreinander beweisen wollen, daß sie mehr sind als lebendige Naturgegenstände, nämlich anerkennenswerte Selbstbewußtseine.12 Jedes der Subjekte ist sich seines Eigenwerts als Selbstbewußtsein bewußt, aber nicht des Eigenwerts des anderen. Damit hat aber auch sein eigener Eigenwert als Selbstbewußtsein noch keine Bedeutung. Die Subjekte können den Eigenwert ihres Selbstbewußtseins nur unter Beweis stellen, wenn sie sich füreinander als selbstbewußte Subjekte zur Darstellung bringen und bereit sind, dafür ihr Leben aufzuopfern. Zugleich würde es jedoch nicht genügen, die eigene Unabhängigkeit vom Leben durch Selbsttötung zu beweisen, denn in diesem Fall hätte das Subjekt nur fur sich selbst bewiesen, ein Selbstbewußtsein zu sein. Die Kontrahenten sind daher genötigt, auf den Tod des anderen zu gehen, weil sie nur auf diese Weise dem anderen ultimativ zeigen können, daß es ihnen um den Eigenwert des Selbstbewußtseins als Selbstzweck geht, welchem der andere nicht umhin kann Respekt zu erweisen. Sie setzen ihr Leben nicht um des Lebens willen ein, sondern für einen über das Leben hinausgehenden 1.

re

Wenn Alexandre Kojève: Hegel. Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1975, 25 von „Begierde nach Anerkennung" spricht, dann verdeckt diese Tendenz zur Anthropologisierung, daß der Kampf um Anerkennung zwar über physische Selbsterhaltung hinausgeht, aber nur aus gesellschaftlichen Verhältnissen entspringen kann, wo auch ein Kampf um materielle Lebensinteressen notwendig wird.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

107

Wert, der ihr Leben erst mit Sinn erfüllt. Sie bewähren sich als selbstbewußte Subjekte

im Kampf auf Leben und Tod.1 Der Kampfjedoch, der zur wirklichen Tötung des Kontrahenten führt, vernichtet mit dessen Selbstbewußtsein die Möglichkeit von Selbstbewußtsein überhaupt, denn ein Toter kann naturgemäß dem anderen keine Anerkennung mehr zollen. Damit zeigt sich, daß der Kampf auf Leben und Tod nicht das erreicht, was er intendierte, nämlich deutlich zu machen, daß die Subjekte mehr sind als bloße Naturgegenstände: Vielmehr lassen sie „einander nur gleichgültig, als Dinge frei". ( 150) Mit dem Tod als Resultat des Kampfes ist nur eine Freiheit vom Leben, keine im Leben erreicht. Das Selbstbewußtsein macht im Kampf auf Leben und Tod die Erfahrung, „daß ihm das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewußtsein ist" (ebd.). Um die abstrakte Negation des Todes, der nur das Leben vernichtet, nicht aber aufbewahrt und erhält, zu vermeiden, gibt einer der Kontrahenten, dem das Leben wesentlich ist, nach. Damit gibt er aber den Anspruch auf Selbständigkeit seines Selbstbewußtseins preis, womit er den anderen in seinem selbständigen Selbstbewußtsein bestätigt. Sein Versuch scheitert, Selbständigkeit und Negativität, Leben und Freiheit zu verbinden. Der Knecht hat nämlich, indem er im Kampf das Leben dem Tod vorzog, bewiesen, daß ihm kein Wert bekannt ist, für den er bereit ist, sein Leben zur Disposition zu stellen. Beide Leben und Selbstbewußtsein werden erneut entgegengesetzt und auf zwei verschiedene Bewußtseinsgestalten verteilt. Das Ergebnis des Kampfes auf Leben und Tod ist die Unterordnung des Knechts unter den Herrn. nur

-

-

Knechtschaft}5

2. Herrschaft und Knechtschaft als eine zweifache

Kampf um materielle Interessen geht leicht in Anerkennungskämpfe über, in denen es nicht materielle Güter, sondern um das Selbstwertgefühl der Individuen geht. Ein großer Teil zwischenstaatlicher Beziehungen besteht nicht in einem Kampf um Interessen, sondern in einem Kampf um Anerkennung als gleichrangiger souveräner Staat. Jürgen Habermas: „Arbeit und Interaktion", in (ders.) Technik und Wissenschaft als .Ideologie', Frankfurt/M 91978, 17, zufolge greift Hegel in der Darstellung des Kampfes um Anerkennung auf die griechische Tragödie zurück. L. Siep: „Zur Dialektik der Anerkennung beim Jenaer Hegel" in Hegel-Jahrbuch 1974, Köln 1975, 389, bezieht den Kampf um Anerkennung auf die naturrechtliche Theorie des Naturzustandes etwa bei Hobbes als Kampf ungeselliger Individuen um Selbsterhaltung. V. Hösle: Hegels System (Anm. 9), 374, deutet an, daß Hegel mit dem Kampf um Anerkennung noch viel weiter in der Geschichte zurückgeht, nämlich auf das vorklassische, heroische Zeitalter. Der Kampf um Anerkennung auf Leben und Tod gehört in die Zeit der Staatenbildung (vgl. „Enzyklopädie" [Anm. 7] § 433 Anm.) und der Konstitution heroischer Freundschaften. In der Neuzeit ist der Kampf um Anerkennung nicht mehr in diesem Sinne ursprünglich, weil, wie Hegel sagt, „was das Resultat jenes Kampfes ausmacht, nämlich das Anerkanntsein, bereits vorhanden ist". Hegel: „Enzyklopädie" [Anm. 7] § 432 Zus. Mit Herrschaft und Knechtschaft verbindet Hegel Sklaverei und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (vgl. „Enzyklopädie" [Anm. 7], § 433 Zus.). Einen Überblick über die Interpretationsgeschichte dieses Abschnitts gibt Karen Gloy: „Bemerkungen zum Kapitel .Herrschaft und KnechtDer

um

14

15

Hegel stellt das Verhältnis von Herrschaft und Vermittlungsstruktur dar: Der Herr, dem das Sein im

108

Christian Iber

Sinne des Lebens „nur als ein Negatives gilt" und der sich im Kampf als die „Macht über dies Sein" (151) erwiesen hat, bezieht sich mittelbar über die Dingheit auf den Knecht, der an die Dingheit gebunden ist, die seine „Kette" darstellt, „von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte". (151) Aufgrund seiner Macht über das Sein hat der Herr Macht über den Anderen, so daß er ihn in diesem „Schlüsse" „unter sich hat".

(151) Zugleich bezieht sich der „Herr mittelbar durch den Knecht auf das Ding". (151) Der Knecht bearbeitet das Ding und überläßt es dem Herrn zum Genuß. Damit überwindet der Herr den Mangel der Begierde, immer wieder mit einem Gegenstand konfrontiert zu sein, der seiner Vernichtung Widerstand entgegensetzt. In der doppelten Vermittlungsstruktur des Herr-Knecht-Verhältnisses erfahrt der Herr Anerkennung durch das knechtische Bewußtsein, das sich in einem zweifachen Sinne als „Unwesentliches" erweist: „in der Bearbeitung des Dinges" und „in der Abhängigkeit von einem bestimmten Dasein" (151), das in der Disposition des Herrn steht. Doch erweist sich die Überlegenheit des Herrn als Scheinüberlegenheit. Zwar wird dem Herrn durch den Knecht die Anerkennung seines Selbstbewußtseins zuteil. Doch ist die Anerkennung defizitär, denn sie wird von einem unwesentlichen Bewußtsein erbracht, das der Herr seinerseits nicht anerkennt, sondern verächtlich findet. Mit dem Recht des Anerkanntwerdens wird dem Knecht auch die Fähigkeit der Anerkennung abgesprochen. Damit krankt die Position des Herrn an dem Widerspruch, daß ihm gar nicht zuteil wird, wofür er in den Kampf um Anerkennung ausgezogen war, nämlich von einem gleichberechtigten Kontrahenten anerkannt zu werden. Zum eigentlichen Anerkennen fehlt das Moment der Wechselseitigkeit. Gemessen am Begriff der Anerkennung ist hier nur „ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden". (152) Da der Herr nur ist, was er ist, in Beziehung auf den Knecht, findet er die „Wahrheit" seines Selbstbewußtseins im unwesentlichen, nicht selbständigen Sein des Knechts: „Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein". (152) Konsequenterweise wird das Selbstbewußtsein des Herrn von allen weiteren Entwicklungsmöglichkeiten des Selbstbewußtseins Die Stationen der Selbstbewußtseinswerdung des Knechts sind folgende: Zunächst ist dem Knecht der Herr das Wesen, ja sein Selbstbewußtsein. Allein der Knecht hat zweitens in der Todesfurcht auf der Gefühlsebene die Wahrheit des Fürsichseins erfahren, nicht Positivität, sondern Negativität zu sein. Damit hat der Knecht das Wesen des Selbstbewußtseins, die „absolute Negativität, das reine Fürsichsein" (153) adäquater „an ihm selbst" (154) als der Herr. Doch ist dieses Fürsichsein nur an ihm. Im übrigen

ausgeschlossen.16

schaft' in Hegels Phänomenologie des Geistes", in Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 39 (1985), Heft 2, 187-213. Zu Unrecht kritisiert der Marxkritiker Werner Becker Kojèves gesellschaftskritische Interpretation, wenn er die Höherwertigkeit des knechtischen Bewußtseins bestreitet. Vgl. Werner Becker: Idealistische und materialistische Dialektik. Das Verhältnis von .Herrschaft und Knechtschaft' bei Hegel und Marx, Stuttgart 1970, 77.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

109

die erfahrene Furcht vor dem Tod, dem „absoluten Herrn" (153), für den Knecht der Grund dafür, das Leben dem Tod vorzuziehen und sich dem weltlichen Herrn zu unterwerfen. Gegenständlich wird dem knechtischen Bewußtsein sein in der Todesfurcht erfahrenes Fürsichsein in der Arbeit, die im Dienst für den Herrn vollzogen wird. Der Knecht kommt nicht wie der Herr durch die Anerkennung seines Gegenübers zum Selbstbewußtsein, sondern auf indirektem Weg, auf dem Weg der Arbeit, die von Anfang an im Kontext von Todesfurcht, der Zucht des Dienstes und des Gehorsams gegenüber dem Herrn steht. Die Position des Knechts krankt also daran, daß ihm sein Selbstbewußtsein nur in entfremdeter Gestalt, nämlich in der Arbeit für den Herrn explizit bewußt wird, der ihn als gleichberechtigtes Wesen gerade nicht anerkennt. Und das bedeutet zugleich, daß der Knecht sein Selbstbewußtsein nur im Rahmen der Knechtschaft zur Ausbildung bringen kann. Nur wenn die Formierung der Arbeit durch die vom Herrn verursachte Todesfurcht vermittelt ist, ist sie nach Hegel mehr als bloße „Geschicklichkeit", nämlich „allgemeines Bilden, absoluter Begriff (155), d. h. Zeichen der Macht des Denkens. Andernfalls bleibt das durch die Arbeit erworbene Selbstbewußtsein des Knechtes ein ,J5igensinn" (155), eine bornierte Freiheit, die innerhalb der Knechtschaft verbleibt. Eine wirkliche Synthese von bildender Arbeit und Negativität der Todesfurcht kommt erst in der Freiheit des denkenden Selbstbewußtseins zustande, die Hegel als subjektimmanente Überwindung der Knechtschaft versteht. 3. Die Freiheit des denkenden Selbstbewußtseins: Die neue Gestalt des Selbstbewußtseins ist ein Bewußtsein „welches denkt oder freies Selbstbewußtsein ist". (156) Im Denken beharrt das Ich nicht mehr wie in dem um seine Selbständigkeit ringenden Selbstbewußtsein auf der Selbsterhaltung seiner Ichheit im Ausschluß alles Anderen, vielmehr durchdringt es denkend die Wirklichkeit. Hat das Ich die Wirklichkeit in Gedanken aufgenommen, so wird ihr die Fremdheit gegen das Ich genommen. Hierdurch löst die denkende Subjektivität ihren Anspruch ein, nichts Äußeres gelten zu lassen. Alle Wirklichkeit ist nur als gedachte. Frei ist das denkende Selbstbewußtsein nicht in tätiger Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sondern nur im Rückzug aus ihr in die Innerlichkeit der reinen Gedankenbewegung. Dementsprechend stellt Hegel zugleich das Defizit des im Denken freien Selbstbewußtseins heraus. Die Dialektik von Einheit und Gegensatz von Wirklichkeit und Gedanke macht den Inhalt der Erfahrung des nur im Denken freien Selbstbewußtseins aus. war

a.

Der Stoizismus verabschiedet sich

vom

realen

Bezug auf die Vielgestaltigkeit der

Lebenswirklichkeit, welche Gegenstand der Begierde und der Arbeit ist. Nicht die Dinge, Gefühle, Begierden und Handlungszwecke als solche sind für den Stoiker der wesentliche Unterschied, sondern all dies gilt ihm nur als gedachter Unterschied, der vom denkenden Ich nicht unterschieden ist. Das Ideal des Stoizismus ist die Apathia, die Leidenschaftslosigkeit, das Freisein des Ich von Affekten, Leidenschaften und Gemüts-

Christian Iber

110

bewegungen, von äußeren Zwängen aller Art. Die Apathia gilt als Voraussetzung zur Erlangung der Eudaimonia. In der Güterlehre herrscht das Ideal der Adiaphora, der Gleichgültigkeit gegenüber den materiellen Gütern. Das stoische Ideal ist das einer prinzipiell enttäuschungsfreien Subjektivität. Hegel deutet den Stoizismus als denkende Kompensation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, die er historisch in der Spätphase der Antike ansiedelt, „in der Zeit einer allgemeinen Furcht und Knechtschaft, [...], welche das Bilden bis zum Denken gesteigert hatte". (157 f.) An die Stelle des passiven Zurückgedrängtwerdens des knechtischen Bewußtseins tritt im stoischen der aktive Rückzug in den Gedanken, in dessen Stärke Hegel zugleich dessen Schwäche begründet sieht. Denn der denkende Rückzug aus der Lebenswirklichkeit in die Fiktion einer selbst vom Leib gänzlich untangierten Subjektivität schlägt in „Leblosigkeit" (157) um, womit auch das im Denken freie Selbstbewußtsein in einen Gegensatz zum Leben tritt. Die Freiheit des stoischen Denkens ist nur der „Begriff der Freiheit, nicht die lebendige Freiheit selbst" (158), denn wer sich in Ketten frei fühlt, ist nicht wirklich frei. Freiheit wird hier in die Frage der inneren, denkenden Stellungnahme zu den äußeren Zwängen verwandelt. Die bloß denkende Distanzierung von den Zwängen der äußeren Wirklichkeit läßt diese als solche zugleich bestehen. Daß alles auf das Denken ankommt, also nur das Denken gilt, heißt am Ende, daß es gar nicht gilt, sondern nur die äußere Wirklichkeit. Das Konzept der von allen Zwängen der äußeren Wirklichkeit freien Subjektivität schlägt in das Programm der Anpassung an das Äußere um. Aufgrund dieses Widerspruchs kann der Stoiker sein Ideal einer prinzipiell enttäuschungsfreien Subjektivität nicht realisieren.17 b. Den Skeptizismus versteht Hegel als Realisierung und immanente Radikalisierung des Prinzips des Stoizismus, der Freiheit des Gedankens. Während der Stoizismus darauf abzielt, der Subjektivität unter Abstraktion von den praktischen Verwicklungen mit der äußeren Wirklichkeit einen inneren Denkraum sichselbstgleicher Ruhe zu verschaffen, bringt der Skeptizismus die Macht und Negativität des Denkens gegen die äußere Wirklichkeit zur Geltung. Der Skeptizismus negiert alle feste Bestimmtheit, indem er deren dialektische Bewegung aufzeigt. Das Prinzip des antiken Skeptizismus ist das des „nicht mehr" (ouden mallon). Dieses Prinzip besagt, daß kein Satz wahrer ist als sein Gegenteil. Kein Satz kann mit Sicherheit als wahr behauptet werden. Dazu dienten dem spätantiken Skeptizismus die sog. Tropen, die ein Instrumentarium der grundsätzlichen Relativierung jeder nur möglichen Behauptung darstellen.18 Aber der Skeptiker schließt auch seine die instruktive Analyse des Stoizismus von Andreas Dorschel: Die idealistische Kritik des Willens. Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel, Hamburg 1992, 176-184. Zu den fünf Tropen des Agrippa, die bei Sextus Empiricus und Diogenes Laertius überliefert sind, vgl. Friedo Ricken: Antike Skeptiker, München 1994, 86-94.

Vgl.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

111

von der Unsicherheit aller Erkenntnis in die Relativierung aller Sätze mit ein. Dies führt zur Epoche von jeglichem Urteil, was zur ersehnten Ataraxia der Sichselbstgleichheit und Unwandelbarkeit des Denkens führen soll. Indem Hegel den performativen Selbstwiderspruch des Skeptizismus freilegt (vgl. 161 f.), der in der Relativierung jedes Wahrheitsanspruchs, einschließlich des Wahrheitsanspruchs seiner eigenen Behauptung liegt, zeigt er auf, daß der Skeptizismus die ersehnte Sichselbstgleichheit des Denkens in der Ataraxia nicht erreichen kann. Wenn nämlich der Skeptizismus auf die Wahrheit seiner Behauptung von der Unsicherheit aller Erkenntnis verzichtet, die er zur Explikation seiner bestimmtheitskritischen Thesen voraussetzen muß, dann ist er zugleich gezwungen, das anzuerkennen, was er negiert. Er liefert sich also ohnmächtig der gegebenen Realität aus, deren Wahrheit er bestreitet. Hegel drückt dies als Widerspruch zwischen Tun und Sagen aus: Das skeptische Bewußtsein „spricht die Nichtigkeit des Sehens, Hörens usf. aus, und es sieht, hört usf. selbst; es spricht die Nichtigkeit der sittlichen Wesenheiten aus und macht sie selbst zu den Mächten seines Handelns". (162) Hegel macht deutlich, daß das Ideal des Skeptizismus, die Omnipotenz der Selbstgewißheit des Denkens gegenüber allem empirisch Gegebenen unmittelbar mit ihrem Gegenteil, der Hilflosigkeit, der Ohnmacht und der völligen Unwesentlichkeit seiner selbst gegenüber dem Empirischen verknüpft ist. Auch im Skeptizismus schlägt die Freiheit des Denkens in die positivistische Anpassung an das Bestehende um. Gipfel subjektivistischer Eitelkeit ist für Hegel jedoch, daß der Widerspruch des skeptischen Bewußtseins zum internen Bestandteil seines Selbstverständnisses gehört. Allerdings bewegt sich das skeptische Bewußtsein in dem Widerspruch zwischen allgemeiner Sichselbstgleichheit und der Unwesentlichkeit und Zufälligkeit seines Bewußtseins gedankenlos hin und her, ohne ihn auf den Begriff zu bringen. Nur aus diesem Grund kann sich der Skeptiker nach Hegel in glücklicher Sorglosigkeit an seinem selbstwidersprüchlichen Geschäft erfreuen (vgl. 162 f.).

eigene Behauptung

zum skeptischen Bewußtsein, das seinen Widerspruch zwar bemerkt und ausspricht, ihn aber nicht ernst nimmt, weil es sich gedankenlos in ihm bewegt, ist sich das unglückliche Bewußtsein seines Widerspruchs ausdrücklich bewußt. Damit schlägt die freudige Sorglosigkeit des skeptischen Bewußtseins in die Melancholie der Verzweiflung um. Historisch macht Hegel damit den Übergang von der Spätantike zum vorneuzeitlichen jüdisch-christlichen Glauben, der für ihn im ganzen eine Internalisierung und religiöse Überhöhung vorbürgerlicher Herrschaftverhältnisse darstellt. Der Widerspruch des unglücklichen Bewußtseins besteht darin, daß es sich einerseits auf Gott als sein unwandelbares Wesen ausrichtet und sich selbst daher als zufälliges und unwesentliches Wesen betrachten muß. Der Widerstreit zwischen Selbstbewußtsein und Leben, zwischen Herrschaft und Knechtschaft wandelt sich zu einem bewußtseinsinternen Widerstreit zwischen einem ins Jenseits projizierten unwandelbaren Gott und c.

Im Unterschied

Christian Iber

112

erlösungsbedürftigen wandelbaren menschlichen Bewußtsein, das sich mit jenem nur Kampf gegen sich selbst versöhnen kann. Doch andererseits gelingt ihm die Befreiung von seiner eigenen nichtigen Endlichkeit zugunsten des wesentlichen Unwandelbaren nicht, weil sie konstitutiv zu seinem Wesen gehört. Das unglückliche Bewußtsein ist die religiöse Bewußtseinsgestalt, die die Sozio- und Psychogenese der Moderne von Beginn des Mittelalters an in Europa prägt. Hegel beschreibt seine Erfahrung als Scheitern der jüdisch-christlichen Verzichtsideologie. Aus ihr und ihrer Überwindung geht die neuzeitliche Vernunftkonzeption hervor, die das Defizit der durch Herrschaft verzerrten Anerkennungsstruktur zu beheben verspricht. Auch nach dem Übergang vom jüdischen zum christlichen Glauben, in dem der gedem

im

staltlose, unwandelbare

Gott durch das einzelne Bewußtsein

zum

durch Jesus Christus

gestalteten Unwandelbaren" (167) transformiert wird, bleibt die Versöhnung ohne Erfüllung. Denn die Beziehung zum gestalteten Unwandelbaren findet erstens auf der Grundlage des Gegensatzes von Bewußtsein des unwandelbaren Gottes und einzelnem Bewußtsein statt. Zweitens ist die Selbstfindung des einzelnen Bewußtseins im gestalteten Unwandelbaren keine geistige, sondern basiert auf der Tatsache, daß es selbst so sinnlich einzeln ist wie die Gestalt des Unwandelbaren. Die Bestimmung von Jesus Christus als Balkensepp und/oder höheres Wesen trägt zur Versöhnung von einzelnem Bewußtsein und unwandelbarem Allgemeinen nichts bei. Die Erfahrung der Versöhnung von menschlichem Bewußtsein und Gott, die erst mit der offenbaren Geistreligion des Christentums eintritt und in der die Melancholie von Erhebung zum Anderen und Selbsterniedrigung in die „Freude" (165) der geistigen Selbstfindung im Anderen umschlägt, ist nach Hegel geschichtlich dadurch verstellt, daß die jüdisch-christliche Tradition im ganzen Herrschaftstheologie ist. Die von Hegel als „unzeitig" (166) zurückgewiesene Antizipation der offenbaren Religion des Christentums macht deutlich, daß die Erfahrung der Versöhnung einerseits nicht allein vom religiösen Bewußtsein ausgehen kann, sondern auch von Gott selbst ausgehen muß, andererseits eine gewandelte Auffassungsweise des Bewußtseins voraussetzt. Das unglückliche Bewußtsein ist für Hegel zwar ein christliches Bewußtsein, das jedoch noch kein richtiges Bewußtsein vom Christentum als der offenbaren Religion ausgebildet hat. Daher stellt Hegel einen Zusammenhang zwischen dem unglücklichen Bewußtsein und dem Begriff des Geistes her und formuliert die These, daß das unglückliche Bewußtsein nur in der schmerzhaften Erfahrung seines widersprüchlichen Wesens die versöhnende Einheit seines Wesens zu realisieren vermag (vgl. 163 f.). Dies erinnert an die Definition des Geistes in der Vorrede, wonach dieser seine Wahrheit nur gewinnt, „indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet". (36) Mit dem Begriff des Geistes macht Hegel deutlich, daß das unglückliche Bewußtsein nur in einer vernünftig Vgl. die Skizze der Stufen der Erfahrung des unglücklichen Bewußtseins von Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels .Differenzschrift' und .Phänomenologie des Geistes ', Frankfurt/M. 2000, 112-118.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

113

gestalteten intersubjektiven Sphäre gesellschaftlicher Wirklichkeit

seine Versöhnung mit sich und seinem Anderen erzielen kann. Es bedarf der geistigen Durchdringung des Christentums in Neuzeit und Moderne, um dessen produktive, versöhnende Vernunftpotentiale für die Intersubjektivität freizulegen.

IV. Das Ideal einer vernünftig realisierten intersubjektiven Anerkennung im Staat der bürgerlichen Gesellschaft Für sich genommen haben die Gestalten des

praktisch-vernünftigen Selbstbewußtseins in Neuzeit und Moderne keine Wahrheit. Ihre praktisch zu verwirklichenden Intentionen auf individuelle Selbstverwirklichung werden allesamt destruiert. Sie scheitern an dem Widerspruch zwischen solipsistischer Grundhaltung und unvermitteltem Allgemeinheitsanspruch. Zugleich kommt in der Einleitung zum Abschnitt über die praktische Vernunft die historisch zu verwirklichende Zielbestimmung der intersubjektiven Anerkennung in den Blick. Antizipierend entwirft Hegel den Grundriß einer Theorie moderner Sittlichkeit, für die in seiner Zeit der Niederlage Preußens gegen Napoleon weder ein Bewußtsein noch die Institutionen vorhanden waren. Das vernünftige Selbstbewußtsein wird erstens an eine die Subjektivität als solche übersteigende intersubjektive Anerkennungsdimension des Geistes zurückgebunden (vgl. 263) und diese zweitens in der Kategorie der Substanz verankert. Das bedeutet, daß die „sittliche Substanz" (264) den Rahmen absteckt, innerhalb dessen die Verschränkung von Selbstbewußtsein und Anerkennung, die am Anfang des Selbstbewußtseinskapitels nur für den Phänomenologen Gültigkeit hatte, beginnt, sich nun auch für das Selbstbewußtsein selbst zu realisieren. Der substanzphilosophische Ansatz der Sittlichkeit macht deutlich, daß die intersubjektive Anerkennung der Subjekte Realität nicht allein in ihrer Beziehung aufeinander, sondern allererst durch ihre Beziehung auf die sittliche Substanz gewinnt. Daß Hegel die intersubjektive Beziehung der Individuen in der wechselseitigen Anerkennung als Einheit von Selbstbewußtsein und Substanz faßt, hat seinen Rechtsgrund darin, daß staatliche Institutionen mehr sind als intersubjektive Relationen. Sie sind zur Macht verfestigte Gestalten von intersubjektivem Verhalten, die dieses als solches transzendieren. Garantiert wird die soziale Anerkennung der Subjekte durch die staatliche Macht der bürgerlichen Gesellschaft. So wie im Selbstbewußtseinskapitel das Selbstbewußtsein als solches Einheit von Selbstbewußtsein und Leben ist, so ist das vernünftige Selbstbewußtsein Einheit von Selbstbewußtsein und sittlicher Substanz. Zwar ist der inter subjektive Geist der sittlichen Substanz in höchsten Maße synthetisch im symmetrisch-reziproken Sinne. Er ist Inbegriff von Subjekten, die einerseits selbständig und für sich, andererseits gerade als solche durchgängig auf das jeweils andere bezogen sind und mit ihnen eine Einheit bilden (vgl. 264). Doch diese geistige Synthese basiert auf einer strukturellen Transformation vorbürgerlicher Herrschafts-

114

Christian Iber

und Knechtschaftsverhältnisse in die moderne staatsbürgerliche Unterordnung und institutionelle Selbstbindung der Individuen an die moderne substantielle Staatsmacht, die Hegel mit Rousseau als politische Realisierung moralischer Tugend darstellt: Nur indem das Individuum sich in seiner Selbständigkeit und Besonderheit für die sittliche Substanz „aufopfert" (265), erhält es seine Selbständigkeit von der Substanz zurück.20 Die intersubjektive Anerkennung der Individuen beruht auf einer bedingungslosen Unterwerfung unter die sittliche Substanz, auf deren Boden sich die ökonomische Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft ausdifferenziert, in der die Individuen ihre gegensätzlichen Sonderinteressen verfolgen.21 Der substanztheoretische Ansatz der Sittlichkeitstheorie macht auch Hegels Forderung plausibel, daß nur im Rückgriff auf die verlorene substantielle Sittlichkeit der Antike der Weg in die moderne Sittlichkeit erfolgreich beschritten werden kann. Die modernen Gestalten des praktisch-vernünftigen Selbstbewußtseins verhalten sich zu ihren Inhalten und Zwecken quasi noch substanzlos in der Abstraktion ihrer eigenen Reflexion. Indem Hegel diese Gestalten in den Kontext der Genese der sittlichen Substanz, und zwar in der höheren Gestalt des Werdens der Moralität einordnet, die nicht auskommen kann ohne Rückgriff auf die verlorene antike Sittlichkeit, unterzieht er sie, aber auch den modernen Standpunkt, der bei der bloßen Moralität stehenbleibt, einer grundsätzlichen Kritik. Sie erweisen sich als Abstraktionsformen des substantiellen Geistes und erhalten in den Momenten des sich entfremdeten Geistes, in der Welt der Bildung und Aufklärung, ihre Bestimmung. Hier zeigt sich, daß die Moralität als das Bewußtsein der sittlichen Substanz etwas Höheres als diese ist. Andererseits vollendet sich die Moralität

Rousseau zufolge konstituiert sich die volonté générale in einem freiwilligen Aufgehen der Einzelwillen in einem allgemeinen Willen. Diese Entäußerung (aliénation) wird auch eine totale, alle Besonderheiten negierende genannt. Als Äquivalent dafür erhalten sie ihre staatsbürgerliche Existenz garantiert. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (1762), hg. v. H. Brockard, Stuttgart 21986, Buch I, Kap. 6. Korrespondierend zur substantiellen Realisierung der intersubjektiven Anerkennung des Selbstbewußtseins im Vernunftkapitel bildet das „allgemeine Selbstbewußtsein" von § 436 der Enzyklopädie den Kernbestand staatsbürgerlichen Selbstbewußtseins. Im allgemeinen Selbstbewußtsein wissen sich die Subjekte als durch das andere anerkannt und das andere anerkennend derart, daß sie sich im Wissen um ihre Identität hinsichtlich ihrer Allgemeinheit substantiell miteinander verbinden. Dies impliziert, daß sie sich in ihrer eigenen Individualität negieren und sich jeweils nur als negierte Individualitäten wahrnehmen. Vgl. C. Schalhorn: Hegels Enzyklopädischer Begriff von Selbstbewußtsein (Anm. 4), 208 ff. Die Anerkennungsstruktur des allgemeinen Selbstbewußtseins enthält mithin den Gegensatz von Individualität und Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, d. h. den Gegensatz von bourgeois und citoyen (vgl. Karl Marx, „Kritik des Hegeischen Staatsrechts" [1843], in Marx/Engels Werke, Bd. 1, Berlin 1956, 281). In der Rechtsphilosophie baut Hegel den substanztheoretischen Ansatz seiner Sittlichkeitstheorie mit Rekurs auf Hobbes und Spinoza aus. Die Sittlichkeit realisiert sich als Macht- und Herrschaftsstruktur der Substanz-Akzidenz-Beziehung. Vgl. Hegel: „Grundlinien der Philosophie des Rechts", § 145, in HW (Anm. 1), Bd. 7, 294). Die Entwicklung der sittlichen Substanz als Geist ist nichts anderes als der Bildungsprozeß des sittlichen Charakters der Individuen (vgl. ebd, § 151 ff, 301 ff.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

in der die

Gegensätze

der Moralität versöhnenden offenbaren

115

Religion

des Christen-

tums, die innerhalb der Phänomenologie die Garantenstellung der historisch noch nicht wirklich gewordenen modernen Sittlichkeit einnimmt.

V. Zur Anerkennungsstruktur des sich entfremdenden

und des absoluten Geistes

Der Anerkennungsprozeß des sich entfremdenden Geistes, der an das unglückliche Bewußtsein erinnert, stellt die neuzeitliche kulturelle Transformation vorbürgerlicher in 22 moderne Herrschaftsverhältnisse dar. Während der eigene Sinn, den der Knecht in seiner Arbeit für sich herauszubilden vermag, noch ,JEigensinn" (155) bleibt, da es ihm in der Arbeit für den Herrn, die er aus Todesfurcht verrichtet, im Grunde nur um den Erhalt seiner Lebensinteressen geht, ist die Bildung die Form, in der die Subjekte auf ihren Eigenwillen Verzicht leisten und auf dem Wege einer bewußten voluntativen Verallgemeinerung ihre Anerkennung zu erreichen suchen. Diese „Entfremdung" (375) kann für Hegel nur in dem allgemeinen Medium der „Sprache" (376) geschehen, in der das sich bildende Bewußtsein seine besondere Einzelheit preisgibt und zu einer Artikulation findet, die das einzelne Ich als allgemeines zur Darstellung bringt. Im Maße der Verständlichkeit seiner Ausdrucksweise ist es als „allgemeines Selbstbewußtsein" (376) akzeptiert. Das sich bildende Bewußtsein, das in der Abarbeitung seiner Partikularitäten zur kultivierten Selbstverallgemeinerung und darin zur Anerkennung kommt, laboriert indes an dem Problem, daß es seinen Bestand nur in dieser Allgemeinheit hat, der gegenüber es in seiner Einzelheit keine Berücksichtigung findet. Es ist nicht als dieses einzelne Ich anerkannt, das zum Ausdruck zu bringen das sich bildende Bewußtsein überhaupt zur sprachlichen Äußerung motivierte. In der „Sprache der Zerrissenheit" (384) von Rameaus Neffen im gleichnamigen Roman Diderots kommt der Widerspruch des sich entfremdenden Geistes der Welt der Bildung zum Ausdruck. Der Neffe gewinnt seine unverwechselbare Individualität nur im Rückzug auf sich, die Triebhaftigkeit seines Lebens, und damit durch die Verweigerung der Vermittlung mit dem gesell2'3 schaftlich Allgemeinen, dem er Mittelmaß vorwirft. In der Anerkennungsstruktur, die Hegel „absolutefrj Geist" (493) nennt, wird dieser Mangel behoben (vgl. 464 ff). Der Kampf der moralischen Subjekte setzt einen Anerkennungsprozeß frei, der ihn zugleich zum Abschluß bringt, wobei auch hierbei die Sprache als das Medium des Geistes eine ausgezeichnete Rolle spielt. Das moralische Bewußtsein, das der Überzeugung ist, daß es in seiner Handlung nur zur Ausführung

Anerkennungsprozeß wird die Bildung von Stefan Majetschak: Die Logik des Absoluten. Spekulation und Zeitlichkeit in der Philosophie Hegels, Berlin 1992, 221 f., interpretiert. Zu Hegels Lektüre von Diderots Roman Rameaus Neffe vgl. Bernhard Lypp: „Die Lektüren von Le Neveu de Rameau durch Hegel und Foucault" in Diderot und die Aufklärung, hg. v. Herbert. Dieckmann, Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 10:, München 1980, 137-159. Als

116

Christian Iber

bringt, was die allgemeine Pflicht gebietet, interpretiert sich selbst als gut. Dabei trennt es seinen moralischen Willen von dessen Betätigung und versucht, seiner inneren Gesinnung sprachlich überzeugend Ausdruck zu verleihen. Andererseits reicht die pure Versicherung seiner Gesinnung zur Erfüllung seiner Pflicht nicht aus. Sie muß im Handeln verwirklicht werden. Dem moralischen Bewußtsein geht es darum, daß die Selbstinterpretation seiner Handlung von den anderen allgemein akzeptiert wird. Doch dieser Anspruch läßt es aufgrund des Auseinanderfallens von Moralität und Handlung in der Auffassung der anderen als ,JHeuchelei" (485) erscheinen, wodurch sich eine Kluft zwischen Eigenund Fremddeutung auftut. Über diesen Gegensatz täuscht sich das moralische Bewußtsein hinweg, weil es seine Erklärungen tatsächlich aufrichtig meint. Der Widerspruch des moralischen Bewußtseins besteht nach Hegel darin, daß es in seiner besonderen Einzelheit zur allgemeinen Geltung gelangen will. Doch die Selbstdarstellung einer besonderen Handlung als allgemeingültig garantiert die allgemeine moralische Akzeptanz keineswegs. Im Kampf der moralischen Subjekte um die Anerkennung ihrer Selbstdeutung erfahrt das moralische Bewußtsein „die Ungleichheit seiner besonderen Einzelheit gegen anderes Einzelnes". (485) Der Kampf besteht darin, daß jedes Subjekt das andere als böse aufgrund der Abweichung von der jeweils eigenen als allgemeingültig ausgegebenen Selbstdeutung beurteilt. Hegel stellt diesen Kampf prototypisch anhand des Streits zwischen dem durch das Handeln schuldig gewordenen moralischen Bewußtsein und dem handlungsabstinenten Bewußtsein der schönen Seele dar. Doch das bloß verurteilende moralische Bewußtsein macht durch seine Tatenlosigkeit selbst nur seine Einzelheit gegen die moralische Allgemeinheit geltend. Der Kampf der moralischen Bewußtseine führt zu einer Anerkennung der sich gleichermaßen als schuldig bekennenden Subjekte, die die Anerkennungstheorie der Phänomenologie zum Abschluß bringt. Sie besteht in der Einsicht in die Ungerechtigkeit der moralischen Subjekte gegeneinander und vollzieht sich als wechselseitiger Verzicht auf die Absolutsetzung des eigenen moralischen Standpunkts. In der „Verzeihung" (492) verzichten die moralischen Subjekte darauf, die anderen in ihrer Einzelheit nur an dem eigenen für allgemeingültig ausgegebenen moralischen Maßstab zu messen und anerkennen sich in ihrer unverwechselbaren moralischen Individualität, wodurch es zur Versöhnung von individuellem Gewissen und allgemeinem moralischem Bewußtsein kommt. Nicht in der sozialen Wirklichkeit, wo die Individuen nur als allgemeine Staatsbürger Anerkennung erfahren, die durch die sittliche Staatsmacht gegen ihre besonderen Interessen erzwungen und garantiert ist, sondern allein in der Sphäre der Moralität realisiert das Bewußtsein selbst aus freier Einsicht den von Hegel konzipierten normativen Begriff der Anerkennung, demzufolge sich die Subjekte in ihrer diskreten „in sich seienden Einzelheit" (493) nicht nur faktisch wechselseitig anerkennen, sondern sich als sich anerkennend anerkennen und so zugleich das „absolut Allgemeine" (ebd.) sind.

SELBSTBEWUßTSEIN UND ANERKENNUNG

117

Zu dieser Konstitution der Gemeinschaft moralischer Subjekte trägt nach Hegel wesentlich das Christentum und die spekulative Philosophie bei. Denn erstens ist die Verzeihung ein ausgezeichneter moralischer Akt, der selbst nicht mehr moralisch einforderbar ist. Deshalb interpretiert Hegel das „versöhnende Ja" (494) als den zur Erscheinung kommenden Gott. Zweitens entdeckt Hegel in der offenbaren Religion des Christentums, dessen Zentrum er in der religiösen Gemeinde erblickt, die über bloße Moralität hinausgehenden versöhnenden Vernunftpotentiale zur Stiftung einer sozialen Kulturgemeinschaft, die sowohl für das säkulare4 als auch das religiöse Bewußtsein explizit zu machen, Aufgabe der Philosophie ist. Und drittens kann nur das spekulative Wissen die Einheit von absolut Allgemeinem „in seinem absoluten Gegenteile" (494), der diskreten Einzelheit, verstehen. Versöhnung finden die in der staatlich sanktionierten sozialen Anerkennung enthaltenen gesellschaftlichen Gegensätze nur in einer durch die christliche Religion fundierten Gemeinschaft moralischer Subjekte, die Hegel anerkennungstheoretisch reformuliert. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Vollendung der Anerkennung im absoluten Geist nur die Form ist, die das bleibende Defizit der Anerkennungsstruktur des objektiven Geistes, die von der besonderen Einzelheit der Subjekte

abstrahiert, kompensiert.25

religiösen Fundierung der Moralität bei Hegel und Schelling vgl. Christian Iber: „Religiös begründete Moral in Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift", in Hegel-Jahrbuch 2001, Erster Teil, hg. v. Andreas Arndt u.a., Berlin 2002, 225-231. Eine wesentliche Aufgabe des absoluten Wissens besteht in der „Vereinigung" von religiöser und moralischer Versöhnung, vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 1), 579 ff. Affirmativ als Vollendung der Anerkennung legen S. Majetschak: Die Logik des Absoluten (Anm. 22), 226 f. und Ludwig Siep: „Die Bewegung der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes", in G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. D. Köhler/O. Pöggeler, Berlin 1998, 118 f., und ders.: Der Weg der Phänomenologie des Geistes (Anm. 19), 214 f., die Anerkennungsstruktur des absoluten Geistes aus. Zur

III. Vernunft

Erzsébet Rózsa

Verhaltensweisen des Individuums der ,Lust', des Individuums des ,Gesetzes des Herzens' und des ,tugendhaften Ritters' Zu Hegels Auffassung der Individualität im Vernunft-Kapitel der Phänomenologie des Geistes 1.

Vorbemerkungen zur Rekonstruktion und Interpretation der Verhaltensweisen im Hinblick auf die theoretische Grundlegung und den Hegeischen Stil

Hegels Phänomenologie des Geistes stellt bis heute eines der meist rezipierten Werke in der Geschichte der Philosophie dar, in dem er auch eine Theorie der Individualität entwickelt hat, die in ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte viele und vielerlei Interpretationen inspiriert hat; das Konzept von Herrschaft und Knechtschaft oder die Problematik des unglücklichen Bewußtseins, die großen Themen dieses Werkes stehen im engen Zusammenhang auch mit der Problematik der Individualität.1 Im folgenden wird aber ein anderer Aspekt der Individualitätsthematik der Phänomenologie hervorgehoben: Es soll zunächst untersucht und nachgewiesen werden, daß Hegel im VernunftKapitel unter Punkt B die »Gestalten' des Selbstbewußtseins auch als verschiedene Verhaltensweisen phänomenologisch darstellt, so das Verhalten des Individuums der ,Lust', das des dem ,Gesetz des Herzens' folgenden Individuums und das des ,tugendhaften Ritters' und daß er sie zugleich in einen engen Zusammenhang mit den in diesem Kapitel behandelten theoretischen Fragen der Vernunft im Hinblick auf die Individualitätsproblematik bringt.2 Im Hintergrund dieses Interpretationsvorschlags steht auch die aktuelle Diskussion über Hegels Philosophie, in der die .Theorie' zugunsten einer 1

Über die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Phänomenologie vor einem entwicklungs- und ideengeschichtlichen Hintergrund liefert einen Überblick: Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg-München 19932. Vgl. Kap. Philosophie und Revolution beim jungen Hegel, bes. 22-24, Kap. Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes, bes. 170-195, Kap. Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins, 231-236, Kap. Philosophie und Geschichte, bes. 356-368. bzw. Kap. Die Verwirklichung der Philosophie. Hegel und Marx und Nachwort zur zweiten Ausgabe.

Folgende Ausgabe wird zitiert: G. W. F. Hegel: „Phänomenologie des Geistes",

Bänden, Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 chel, Frankfurt/M. 1986. (Im Folgenden zitiert als PG.)

neu

ediert

v.

Werke in zwanzig E. Moldenhauer/K.-M. Mi-

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pragmatisch verstandenen praktischen Philosophie eliminiert wird. So gewendet stellt sich die Frage, ob diese Verhaltensformen tatsächlich ausschließlich als ,Praktiken' im Feld des ,modernen Lebens' und im Rahmen ,des praktischen Urteilens', abgetrennt von systematisch-theoretischen Überlegungen Hegels, aufgefaßt werden können? Die Eliminierung der ,Theorie' zugunsten des ,Lebens' mit seinen ,Praktiken' stellt einen Kerngedanken von Pinkards sehr anregender Hegel-Deutung dar. In diesem Sinne ist die auch nicht minder anregende Auslegung von Pippin zu verstehen, „die sich mehr an der Radikalität von Hegels Fichterezeption orientiert, oder an dem ,Primat der Pra«4 X1S

t

.

Um das zentrale Thema dieses

Beitrages genauer umreißen zu können, ist es hilfeinen Blick auf den Stil des zu untersuchenden Textes zu werfen. Die kritischreich, ironische, manchmal sogar sarkastische Ausdrucksweise hat über den ideengeschichtliPinkard geht in seinem Aufsatz davon aus, daß die begrifflichen Gegensätze' bei Hegel als .Abstraktionen' der ,grundlegenderen intersubjektiven Einheit' zu deuten seien, und Hegel „dies auch aus dem Bereich der .Theorie' in den des „,Lebens' [...] verlagert" habe. Siehe Terry Pinkard: „Tugend, Moral, Sittlichkeit. Von Maximen zu Praktiken", in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 49 (2001) 1, 72. Im folgenden wird gegen diese dem Leben entgegengesetzte Theorie argumentiert, obwohl die Grundidee seines Aufsatzes, Hegels Leistung als einen Weg von Kants Maximen zu Praktiken zu deuten, in vielerlei Hinsicht anregend ist. Aber Hegels ,Realitätssinn'als eine Art Theoriefeindlichkeit zugunsten des .Lebens' oder der .Wirklichkeit' zu erklären, ist außerordentlich problematisch; in einer korrekten Interpretation kann man die ,Theorie' vom .Leben' wie auch von der .Wirklichkeit' kaum abtrennen. Ein weiteres Problem ist, daß das präreflexive Verhalten als ,naiver' Ausgangspunkt des natürlichen Bewußtseins und als Kennzeichnung der natürlichen Einstellung des Individuums zur Welt und zu sich selbst nicht automatisch impliziert, daß der Philosoph sich der .Belastung' der Philosophie als Begründungsdisziplin auch des präreflexiven Verhaltens entziehen kann. Der Philosoph ist vielmehr in einer sehr eigenartigen Lage, insofern er zwischen dem Standpunkt des natürlichen Verhaltens bzw. der mit Begrifflichkeit und Wissenschaftlichkeit operierenden Philosophie zu vermitteln gezwungen ist. Über diese besondere, doppelte Position des Philosophen hinaus, die Hegel an mehreren Stellen thematisiert, geht es auch um eine Frage, die mit dem Wegfall der metaphysischen Subjekt-Bestimmung nach Kant nicht etwa verschwindet, sondern gerade wieder auftaucht. Um mit diesem Problem umzugehen, bedarf es „sowohl überhaupt einer ,Ontologie', nach der die Welt überhaupt so etwas wie Wesen mit Bewußtsein / mentalen Zuständen enthält bzw. enthalten kann, als auch gegenständlicher Bestimmungen, Begriffskategorien, Konstruktionsmuster, die die Je-Selbsthaftigkeit, die unvertretbare Individualität vorstellen und intellektuell einzeichnen lassen." Rainer Adolphi: „Das Werden des Menschen im Angesicht der Götter. Bausteine zu einer Anthropologie in Hegels Phänomenologie des Geistes", in Hegel-Jahrbuch, Zweiter Teil 2002, 50-51. Vgl. Robert Pippin: „Naturalität und Geistigkeit in Hegels Kompatibilismus", in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 49 (2001), 46. Brandoms Deutung wird gewiß auch die HegelRenaissance der Gegenwart inspirieren, indem er ihr eine andere Richtung gibt; er bezieht pragmatische Hegel-Deutungen auf die Semantik und auf die „Untersuchung der entsprechenden Gehalte". In Hegels Phänomenologie sieht er einen entscheidenden Beitrag zur „inferentiellen Darlegung des Begrifflichen". Vgl. Robert B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Frankfurt/M. 2000, 155-156. In der vorliegenden Studie wird diese Auslegungsrichtung nicht verfolgt. -

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Verhaltensweisen des Individuums

chen Kontext hinaus auch einen literarischen Hintergrund; neben Kant, Fichte und Schelling spielt auch die Literatur der Aufklärung, der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang' und der Klassik eine wichtige Rolle. Dies alles bleibt aber nicht äußerlich, nur Bildungsmaterial des Philosophen, sondern Hegel hat diesen ideengeschichtlichen Kontext als eine Art Instrumentarium in seine Konzeption integriert, womit er auf inhaltliche Probleme der ausgeführten Verhaltensvarianten einen besonderen Akzent gelegt hat. Das Interessanteste an der zu untersuchenden Stelle ist, wie sich die Verwendung dieses Instrumentariums im Gang der Ausführung intensiviert. Die Beschreibung des Verhaltens des Individuums der ,Lust' erfolgt noch ganz neutral; aber bei der Beschreibung des dem ,Gesetz des Herzens' folgenden Individuums und besonders bei der Verhaltensweise des ,tugendhaften Ritters' spürt man, wie sehr der Philosoph seine Gleichgültigkeit aufgibt und wie tief er in die Explikation der zweiten und dritten Verhaltensweise involviert ist. Auf einer Ebene der folgenden Interpretation geht es um Verhaltensweisen, die Hegel scharfsinnig, geistreich, zugleich auch kritisch betrachtet und ablehnend ausfuhrt. Diese phänomenologische Ebene der Rekonstruktion von Verhaltensweisen könnte mit dem Terminus der heutigen Hegel-Renaissance im angelsächsischen Raum auch als Analyse einer Art von ,Praktiken' interpretiert werden. Bei der Analyse dieser als ,Praktiken' verstandenen Verhaltensweisen könnte man zunächst sogar auf theoretische Fragestellungen verzichten. Auf der zweiten Ebene der Rekonstruktion und Interpretation sollte jedoch deutlich werden, wie sehr die Hegeische Explikation der Verhaltensvarianten, seien sie auch ,Praktiken' genannt, von einem starken theoretischen Anspruch beeinflußt ist; die manchmal im publizistischen Stil aufgeworfenen Probleme stehen im engen Zusammenhang mit der systematisch-theoretischen Begründung und Bearbeitung der Individualitätsproblematik im Vernunft-Kapitel. Daraus folgt, daß die Auswahl und die Einordnung der Verhaltensweisen bei Hegel nicht nur nicht beliebig sind, sondern eine mit stilistischen Mitteln nachdrücklich markierte interne Komponente des inhaltlich-systematischen Konzepts der Phänomenologie über die Individualität darstellen.6 Im folgenden werden die phänomenologische Beschreibung der Verhaltensweisen und der davon untrennbare systematisch-theoretische Deutungsrahmen ins Zentrum der Untersuchung gestellt. Die Einbeziehung der theoretischen Dimension in die Rekonstruktion der Individualitätsauffassung Hegels bedeutet aber nicht, daß ich damit die ,

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,

Zum Einfluß von Goethes Faust, von Rousseau, Jacobis Roman Woldemar und den frühen Dramen Schillers siehe Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels .Differenzschrift' und .Phänomenologie des Geistes'. Frankfurt/M. 2000, bes. 119-124, bzw. 150-154. Unter dem Begriff Theorie verstehe ich in etwa das, was G. Irrlitz folgenderweise charakterisiert: „Hegels .Phänomenologie' sichert den Anspruch systematischer Rationalität als des dominierenden Elements im kulturellen Selbstverständnis der modern-bürgerlichen Zivilisation gegenüber der transzendentalphilosophischen Theorie und gegenüber den Schattierungen verabsolutierter Unmittelbarkeit auf erweiterte Weise." Vgl. Gerd Irrlitz: Das Bild des Weges in der Philosophie. Abschiedsvorlesung, Juli 2000, Manuskript, 24.

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metaphysische oder die logische Dimension des Hegeischen Konzepts in den Vordergrund stellen will.7 Aus dem Komplex der sogenannten ersten Philosophie wird im folgenden die theoretische Grundlegung nur als eine intern-systematische Komponente des zu behandelnden praktischen Problems berücksichtigt, und die thematische Dominanz der praktischen Philosophie an der vorliegenden Textstelle wird keinesfalls in Frage gestellt. Dies soll auch bedeuten: Wenn man den theoretischen Hintergrund ausblenden oder sogar ausschließen will, dann liest, d. h. rekonstruiert und interpretiert man auf andere Weise. Keine Frage, daß die phänomenologische Beschreibung der Verhaltensweisen als ,Praktiken' ohne die Untersuchung von Begründungsfragen auch lesbar, sogar genießbar ist. Aber man steht einer anderen und andersartigen Bedeutung gegenüber, wenn man die an die ideengeschichtlich und literarisch realisierte phänomenologische Beschreibung intern anknüpfenden systematisch-theoretischen Überlegungen hinzunimmt.9 Warum wurden die soeben erwähnten Herangehensweisen zum Gegenstand dieser Studie eigentlich gewählt? Man könnte mit gutem Grund die ideengeschichtliche Dimension Hegels favorisieren. Im Vernunft-Kapitel formuliert Hegel seine kritische Stellungnahme zum ,einseitigen, schlechten Idealismus'. Der Hinweis auf dessen Zusammenhang mit dem ,absoluten Empirismus' ist wichtig, wie auch der Einfluß von Kant, Fichte, Jacobi oder der Romantik. Es steht außer Zweifel, daß die ideengeschichtlichen Kontexte Hegels Auffassung über das Problem des Individuums sehr stark geprägt haben. Außerdem bezieht sich Hegels kritische Stellungnahme gleichermaßen auf Über die Zusammenziehung von Logik und Metaphysik zu einer Wissenschaft in Jena bzw. über die Radikalisierung der Metahysikproblematik in der Phänomenologie siehe aus der neueren Lite-

ratur: Christine Weckwerth: Metaphysik als Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegeischen Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2000, bes. 80-85 und 92-95. Das Vernunft-Kapitel, besonders die Abschnitte B und C, können als praktische Philosophie gedeutet werden. Vgl. L. Siep (Anm. 5), 124. Gegen die Eliminierung des Theoretischen durch einen „pragmatischen Globalbegriff von Sozialität" im angelsächsischen Raum siehe die Kritik von R. Adolphi (Anm. 3), 4—5. Er weist hier auf Interpretations-Strategien hin, die „einen bereinigten Hegel" präsentieren. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund der Phänomenologie sei hier nur einiges aus der Literatur erwähnt, so Pöggeler (Anm. 1), L. Sieps Kommentarband (Anm. 5), Weckwerths Analyse (Anm. 7), bes. Kap. 1, 2. In den heutigen angelsächsischen Interpretationen spielt die Ideengeschichte auch eine Rolle; z. b. entwickelt Pinkard seine Auslegung über die besondere Bedeutung von ,Praktiken' bei Hegel auch im ideengeschichtlichen Kontext; er betrachtet die spekulativen Idealisten, Schelling, Hegel und Hölderlin als ,postkantisch' (und ausgesprochen nicht als ,nichtmetaphysische') Denker und interpretiert das Absolute im Hintergrund des Programms der Einheit als den „Maßstab" der „Einschätzung der eigenen Urteile und der anderer". Siehe Pinkard (Anm. 3), 65, 68. Pinkard verfolgt ein analoges Verfahren wie Horstmann, wenn er, wie Horstmann ,mit Kant über Kant', ,mit Hegel über Hegel' hinausgehen will. Auch McDowell kündigt in Geist und Welt im Grunde genommen ein Programm an, ,mit Hegel über Kant hinauszugehen'. Und es ist unter Hegels Werken die Phänomenologie des Geistes, die seine Position entscheidend beeinflußt hat. Vgl. John McDowell: Geist und Welt, Pademborn u.a. 1998, 138-139. -

-

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fachwissenschaftliche Positionen wie z. B. auf die Psychologie oder Physiognomie. Aber statt der Rekonstruktion des literarischen Hintergrundes, der ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge, der Auseinandersetzung Hegels mit allen diesen Standpunkten und mit der Kritik an der transzendentalphilosophischen Position wird im folgenden ein Aspekt der Individualitätsproblematik hervorgehoben, der über die fachphilosophische Bedeutung hinaus für die heutigen Leser einen faszinierenden Gedanken beinhaltet. Vor allem deshalb, weil Hegel hier Verhaltensweisen beschreibt und modelliert, die in Zeiten, in denen den Individuen und ihrem kulturell geprägten Selbstverständnis ein besonderer Status beigemessen wird, immer wieder Aktualität haben. Und wir, seien wir Kinder der Postmoderne oder der Post-Postmoderne genannt, glauben immer noch gerne, daß wir in einer solchen Zeit leben. Stimmt diese Überzeugung, dann kann Hegels kritische Darstellung über den besonderen Status und die besondere Bestimmung der Individualität im kulturellen Kontext für unsere Selbstdeutung und „Selbstverwirklichung" fruchtbar gemacht werden.

2.

,Beobachtende Vernunft' und ,wirkliche Vernunft'. Zur Begründungsproblematik der Hegeischen Individualitätsauffassung und zu seiner Kritik an den nicht angemessenen Verhaltensweisen

2.1.

„Einzelheit" und das „Andere". Individualität, Intersubjektivität und Interaktivität

Hegels Auffassung der Individualität wird in der vorliegenden Studie zweidimensional rekonstruiert. Die erste Dimension stellt die phänomenologisch beobachteten' und dargestellten ,Formationen' und Varianten als Verhaltensweisen dar, die zweite deren theoretischen Kontext. Die Textstellen findet man im Vernunft-Kapitel, vor allem in der einführenden Beschreibung der Vernunft und der .beobachtenden Vernunft' bzw. unter Punkt B: ,Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst'. Damit ist keinesfalls gemeint, daß sich die Individualitätsproblematik der Phänomenologie nur auf diese Textstellen beschränken läßt. Der Grund, warum eben dieses Kapitel 12 gewählt wurde, liegt darin, daß dies ein sehr aktualisierbarer Text zu sein scheint. Die Bestimmung des Selbstbewußtseins findet hier mit und unter dem Begriff der Vernunft statt. Die Selbstdeutung und die Selbstbestimmung des vernünftigen Selbstbewußtseins Eine umfassende Darstellung dieses Kapitels im Horizont der aktuellen Diskussionen findet man bei L. Siep (Anm. 5), 118-172. Ohne auf die inhaltlichen und strukturellen Probleme der Vernunft hier einzugehen, sei nur an die Einordnungsprobleme der Vernunft in das Gesamtkonzept und die Gesamtstruktur der Phänomenologie erinnert. Dazu Pöggeler, der folgendes feststellt: „Im überlangen Vernunftkapitel zerbricht endgültig Hegels ursprünglicher Plan [...]. Schließlich verlagert sich der Schwerpunkt des Werks [...] auf die Kapitel Geist und Religion." Sodann revidiert Hegel auch die Gliederung. Es ist jetzt weniger von einer Erfahrung die Rede, die das Bewußtsein macht, als vielmehr von einer „Erfahrung des Geistes". Vgl. Pöggeler (Anm.l), 221-223.

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als Grundposition der sich theoretisch' und praktisch' verhaltenden Vernunft fangt auf dieser Stufe des individuellen Selbstbewußtseins mit der beobachtenden Vernunft' an. Die ,beobachtende Vernunft' ist erstens eine epistemische Position, die sich in der Selbstenfwicklung des Selbstbewußtseins entfaltet. Sodann entfaltet sich die Vernunft als Erhebung zur ,wirklichen Vernunft', was eine Art ontologische Position darstellt, die zugleich den Begriff der Individualität auf deren sozial-kulturelle Konstitutionsbedingungen hin bestimmt.13 Beide Positionen der Vernunft, d. h. die epistemischbeobachtende und die sich realisierend-verwirklichende stellen zusammen die grundlegende Einstellung dar, die als Einheit von theoretischem und praktischem Verhalten der Vernunft zugleich nur in einem bestimmten geschichtlich-kulturellen Raum zu verstehen ist.14 Von daher ist einzusehen, daß Hegels Grundlegung einen internen Zusammenhang zwischen der epistemisch-beobachtenden (dem „Verhalten von Meinen und Wahrnehmen"; PG, 185) und einer immer schon auf diesen geschichtlich-kulturellen Raum bezogene ,wirklichen Vernunft' (ebd.) beinhaltet. Aus dieser Perspektive des Selbstbewußtseins kann ,eine neue Kategorie', die der .Einzelheit', eingeführt und entfaltet werden (PG, 183). Diese Art von Einführung der Einzelheit weist auf den theoretischen Anspruch hin, insofern diese auf das Praktische gerichtete, sozial-geschichtlichontologisch verstandene Vernunft von einer theoretischen Grundlegung nicht ausgenommen werden kann.15 Diese ganze Konzeption dient auch der einführenden Begründung des Problems der Individualität, die hier in ihrer ersten Gestalt als ,Einzelheit' auftritt. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie sich das Bewußtsein zunächst als „ausschließendes Bewußtsein" verhält und wie es ein .Anderes' als eine ,äußere Realität' der Einzelheit setzt. Aber in diesem Anderen selbst ist das Bewußtsein ebenso es selbst. (PG, 183) Hier kommt eine grundlegende Einsicht Hegels zum Vorschein, die auch seine spätere Konzeption der Individualität stark geprägt hat: Das Anderssein ist ein internes Strukturmoment all dessen, was dem Geist und dem Menschlichen überhaupt angehört. Der intersubjektive und interaktive Charakter der Hegeischen Geistphilosophie hat auch an dieser Stelle eine entscheidende Bedeutung für seine Auffassung der Individualität. Im ideengeschichtlichen Kontext taucht folgender Gedanke auf: Gegen

ontologischen Bedeutung der Kategorien der Vernunft im ideengeschichtlichen Zusammenhang, siehe L. Siep (Anm. 5), 122-123. Zum ontologischen Status der Kategorien in der Phänomenologie siehe Weckwerth (Anm. 6), 131-136. Zu den Fragen der geschichtlich-kulturellen Probleme in Hinblick auf eine Sozial- oder Gesellschaftsontologie siehe ebd., 88-89. Hier stellt sich die Frage, ob man die sozialphilosophischen Aspekte und Momente der Hegeischen Auffassung auch als eine Art Ontologie deuten darf? Bekanntlich hat Georg Lukács Hegels Sozialphilosophie als eine Ontologie des gesellschaftlichen Seins aufgefaßt. Diese Grundeinstellung der Vernunft zu sich als Selbstbewußtsein und zu der Welt als Wirklichkeit wird systematisch als Einheit von theoretischem und praktischem Verhalten erst später in der Rechtsphilosophie ausgeführt. Siehe dazu besonders § 4 der Rechtsphilosophie Hegels. Zur Frage der verschiedenen Bedeutungsschichten der Vernunft in der Phänomenologie vgl. L. Siep(Anm.5), 118-119, bzw. 122-123. Zur

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14

15

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die Kantische ,Einheit der Apperzeption' als ,einem unwahren Wissen' hat Hegel hier die Einzelheit eingeführt, um seinen eigenen Gedanken zu erläutern, den er auf der sich selbst identifizierenden Konstituente der Einzelheit im Anderen und im Anderssein gründet, die er als ein ,wahres Wissen' bzw. als ,Einheit' von ,Sein' und ,Seinem' deutet. Erst dieses neuartige Verhältnis motiviert das Ich, sich zur Realität zu erheben und das ,leere Meinen' zu erfüllen. Das ,leere Meinen' ergibt sich somit als erste Bestimmung der Einzelheit in bezug auf ihre noch abstrakte Intersubjektivität und Interaktivität, eine Bestimmung, die als ,Besonderung' auf dieser Stufe noch nicht eingeführt werden kann; ihre erste ,Bestimmung' ist noch eine abstrakt-allgemeine. Diese Leere, die Abstraktheit der Einzelheit als ,Meinen', kann durch die ,Erfüllung' der ,Leere des Meinens' aufgehoben werden, wenn sich eine praktische Aufgabe für die Einzelheit stellt, wodurch sich ihre Selbstbestimmung in einem noch abstrakt-sozialen Kontext ergibt. Auf diese Weise entsteht die Einzelheit als erste Gestalt der Individualität mit ihrer beginnenden Soziabilität.1 Aber die hier auftauchenden ,Praktiken' wie die Erfüllung' der ,Leere des Meinens' sind von ihrem theoretischen Hintergrund nicht abzutrennen.

2.2.

.Erfüllung' des .leeren Meinens der .Einzelheit'. Zum Problem der beginnenden Selbstbestimmung und Selbstidentifikation der Individualität '

Die Intention der Einzelheit als erster Gestalt der Individualität, das ,leere Meinen' zu ,erfüllen', bedeutet zunächst, daß das Individuum aus sich selbst heraustreten und sich verwirklichen will. Erst mit diesem latent (inter)aktiven Verhalten wird es möglich, die Leere als ,Seinsform' der Einzelheit aufzuheben. Dies ist in erster Linie kein theoretisches Verhalten, obwohl solche Elemente wie Wissen, Einsicht usw. zur Existenzform eines geistigen Wesens intern hinzugehören. Dennoch ist die hier beginnende SelbstDas Problem der Soziabilität des Individuums bei Hegel stellt eines der spannenden Themen in der Hegel-Diskussion dar, auf dessen Erörterung hier verzichtet werden muß. Bei der untersuchten Textstelle wird die Soziabilität noch auf ihren

.niedrigeren' oder abstrakten Stufen thematisie als elementare Denk- und Existenzform der Individualität überhaupt deutlich betont und nachgewiesen wird. Hier tritt die Frage auf, was man unter dem theoretischen Verhalten bei Hegel verstehen sollte. Um die Frage zu beantworten, sollte man zunächst die Grundannahme der Einheit von theoretischem und praktischem Verhaltens des Geistes im Auge haben. Darüber hinaus ist das theoretische Verhalten nicht nur dem wissenschaftlich-philosophischen Standpunkt zuzuschreiben, sondern dessen Elemente gehören strukturell auch der natürlichen Einstellung zu. Die reine wissenschaftliche Erkenntnis mit ihrer ,esoterischen' Position hat der gereifte Hegel von den ,gemischten' Formen des natürlichen Bewußtseins und von der natürlichen Einstellung mit ihrer ,exoterischen' Position zu sich und zur Welt unterschieden. Der Unterschied zwischen der Auffassung der Phänomenologie und der Enzyklopädie bzw. der Rechtsphilosophie kann hier nicht dargestellt werden. Siehe zum Problem des natürlichen Bewußtsein und der natürlichen Einstellung von der Verfasserin: „,Unser gemeines Bewußtsein' und ,das einfache Verhalten des unbefangenen Gemütes bei Hegel'. Randbemerkungen zum Problem des natürlichen Bewußtseins im Deutschen Idealismus", in Akten des siert,

wo

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bestimmung vor allem ein praktisch-(inter)aktives Verhalten, insofern sie als innerlichsubjektive zugleich auch eine ,wirkliche Aufgabe' in sich hat, die eben die Beziehung der Subjektivität auf das Andere, d. h. sowohl auf den Anderen wie auch auf die gegenständlich-objektive Welt als Hinausgehen über sich selbst, bedeutet. Somit wird die Einzelheit nicht einfach durch ihre ursprünglich subjektive Intention motiviert, sondern ebenso auch durch eine hervorzubringende und hervorgebrachte Beziehung auf das Andere, d. h. auf den Anderen und auf die Welt als vorgefundene und zugleich hervorzubringende Wirklichkeit. Das Individuum orientiert sich im doppelten Sinne einer bloß subjektiven Intention und einer darüber hinausgehenden wirklichen Aufgabe, d. h. im Horizont seiner Selbstdeutung und seiner Selbstbestimmung als ,Selbstverwirklichung'. Dieses Thematisieren des Individuums als Einzelheit wurde von Hegel an dieser Stelle in einem internen Kontext vollzogen, der vom ideengeschichtlichen Kontext nicht abzutrennen ist. Im Gegenteil, die Verbindung Kantischer und postkantischer Epistemologie mit einer geschichtlich-kulturell geprägten, neuartigen Ontologie hat es Hegel ermöglicht, eine Konzeption der Individualität auszuarbeiten, in der die Wirklichkeit und die Gegenwart selbst zum internen Strukturelement der Individualität werden. Es geht in dieser Deutung der Individualität um eine vorwiegend praktische Stellung so-

wohl zu sich als auch zur Wirklichkeit und zur Gegenwart.18 Diese Konstruktion hat den ,vernünftigen' Sinn, die Erfüllung des ,leeren Meinens' der Einzelheit in einem wirklich-gegenwärtigen Kontext zu vollziehen. Das Individuum positioniert' sich auf diese Weise. Sodann handelt es sich bei dieser ,Erfüllung' um eine seiner ,Praktiken', um das selbstdeutende und selbstbestimmende Individuum, welches sich schon in seiner ersten Gestalt, in der .Erfüllung' des ,leeren Meinens' der Einzelheit, als ein intersubjektiv-interaktives Wesen in einem zwar beginnenden, aber bereits sozialgeschichtlichen, wirklich-gegenwärtigen Raum versteht und bestimmt. Es ist nicht zu vergessen, daß die unter dem Gesichtspunkt der Vernunft behandelte Problematik des Individuums Hegels Begriff der Vernunft bereichert hat. Die Vernunft gewinnt auf diese Weise auch eine mehrschichtige Struktur, die ohne die Wirklichkeit und die Gegenwart nicht zu erklären ist. Dieser Gedanke hat eine wichtige Rolle nicht nur bei dem späten Hegel, sondern auch an dieser Stelle.19 Die Vernunft ist hier auch ,Einzelheit', eine Gestalt des Individuums, der Subjektivität mit Intentionen, ,ZwekIX. Internationalen 342.

Kant-Kongresses, hg. v. V. Gerhardt u.a., Berlin-New York 2001, Bd. 5, 331—

Marquard interpretiert den Begriffskreis von Vernunft, Wirklichkeit und Gegenwart im VernunftKapitel als Hegels Argument gegen die Position des Sollens und als „polemische Präsenz des Prinzips der Hermeneutik" gegenüber der Transzendentalphilosophie. Vgl. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1992, 37-39. Einen Schlüsseltext zum internen Zusammenhang von Vernünftigem, Wirklichem und Gegenwärtigem stellt die Vorrede der Rechtsphilosophie dar, der Hegel vor allem eine philosophischpraktische Bedeutung und weniger eine aktualpolitische zugeschrieben hat. Vgl. Verf.: „Hegels Auffassung der Versöhnung und die Metaphorik der .Vorrede' der Rechtsphilosophie Risse am System?" in Hegel-Studien 32 (1997), 137-160. -

Verhaltensweisen des Individuums

129

ken', ,Willen'. Ihr wird auch die Vermittlung zwischen dem Subjektiven (und Intersubjektiven) und dem Gegenständlichen durch deren Medien und .Handlungen' als .Verwirklichung' und .Vergegenwärtigung' der .Einzelheit' zugeschrieben. Die sich in diesem Gefüge mit sich identifizierende Individualität wird so zu einer Komponente der Vernunft. Hegel charakterisiert die im Rahmen der Vernunft erläuterte Selbstidentifikation des Individuums: „Die Vernunft hat daher jetzt ein allgemeines Interesse an der Welt, weil sie die Gewißheit ist, Gegenwart in ihr zu haben, oder daß die Gegenwart vernünftig ist. Sie sucht ihr Anderes, indem sie weiß, daran nichts anderes als sich selbst zu besitzen; sie sucht ihre eigene Unendlichkeit". (PG, 186) In dem Prozeß der Selbstidentifikation überwindet die Individualität die ,Leere des Meinens' und findet sich selbst, wenn sie sich durch den ganzen Weg, durch das Andere im subjektivintersubjektiven Sinne und im objektiv-gegenständlichen Sinne durcharbeitet'. Das Resultat dieses Prozesses als Bei-Sich-Sein des Individuums ist eben seine verwirklichte Selbstidentifikation. Diese durchschlagende, aber auch sehr umstrittene Überlegung Hegels bringt weitgehende Konsequenzen für das Gesamtkonzept der Individualität mit sich. Hier sei nur daran erinnert, daß Hegel in der Tat eine starke Konzeption der Selbstidentifikation der Individualität ausgearbeitet hat, obwohl Charles Taylor seine Leistung in diesem Zusammenhang abwertet. Hegels Beitrag zu den Identitätsproblemen der neuzeitlichen Philosophie reduziert er auf die „Natur als innere Quelle des Selbst".20 Eine weitere Folge des Gesagten ist, daß schon in der Phänomenologie die berühmt-berüchtigte These der Rechtsphilosophie über das Verhältnis zwischen dem Vernünftigen und dem Wirklichen zum Ausdruck kommt, also ein relativ früher Gedanke von Hegel ist. Es wird deutlich, daß der sogenannte Doppelsatz in Hegels Philosophie viel tiefer verwurzelt ist, als man es anzunehmen pflegt.21 Von daher ist auch die gereizte Reaktion Hegels in der Enzyklopädie viel besser erklärbar.22 Schon im Vernunft-Kapitel der Phänomenologie stellen ,Vernunft', .Wirklichkeit' und .Gegenwart' die Grundbegriffe und den Deutungsrahmen dar, vor deren Hintergrund die Hegeische Problematik der sogenannten praktischen Philosophie, darunter sowohl die systematisch-theoretisch begründete praktisch-philosophische Problematik der .Einzelheit' wie auch die in diesem Kapitel beschriebenen Verhaltensweisen des Individuums rekonstruiert werden können.

Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst.

Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/M.

1996, 639. Das Problem des sogenannnten Doppelsatzes hat Hardimon in bezug auf Hegels Versöhnungsproim Horizont seiner Sozialphilosophie behandelt. Er hat damit zwar eine entscheidende Dimension des Doppelsatzes aufgerollt, aber Hegels Position durch die Ausklammerung der theoretisch-systematischen Dimensionen auch trivialisiert. Siehe dazu Michael O. Hardimon: Hegel's Social Philosophy. The Project ofReconciliation, Cambridge 1994, 52-83. Siehe dazu § 6 in Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), (Anm. 2), Bd. 8, 47^t9.

jekt

130

Erzsébet Rózsa

2.3. Zum Problem der Individualität und des sittlichen Lebens in geschichtsphilosophischer Hinsicht

'

,

obige Aufweis des Gefüges der Strukturelemente der Vernunft war eine Vorbedingung dafür, die von Hegel dargestellten Verhaltensweisen einer aktuellen Deutung zugänglich zu machen. Aber ein Strukturmoment der Hegeischen Auffassung der Individualität muß noch aufgezeigt werden, bevor die Problematik der Verhaltensweisen eingehend behandelt werden kann. Es geht um folgende geschichtsphilosophische Überlegung Hegels: Die antike Welt als die eines ,schönen Volkes' und der ,wahren' Tugend bildet einen wichtigen Anhaltspunkt für die Gesamtthematik der Individualität im Vernunft-Kapitel, wobei diese Welt in der Phänomenologie nicht als eine vollkommen Der

relevante und

hinreichend orientierende verstanden wird. Trotzdem hat diese Welt überliefert, was auch nach ihrem Verlust für uns immer noch aktuell bleibt.23 Worin könnte dies bestehen? Hegels folgende Bemerkung bezieht sich auf die Welt und die Epoche, die nach dem Verlust des ,sittlichen Lebens' das Individuum auf Kosten des Sittlichen hervorgebracht hat. Er stellt über ,unsere Zeiten' folgendes fest: „Aber indem unseren Zeiten jene Form derselben näherliegt, in welcher sie erscheinen, nachdem das Bewußtsein sein sittliches Leben verloren und es suchend jene Formen wiederholt, so mögen sie mehr in dem Ausdrucke dieser Weise vorgestellt werden." (PG, 269) Dieser Gedanke Hegels zielt auf das Verhältnis der zwei Epochen der Geschichte und fragt danach, wie sich der Status des ,sittlichen Lebens' als je eigene Welt des Individuums ,in unseren Zeiten' auf Kosten der Polis-Gemeinschaft für ein Individuum, welches diese seine eigene Welt verloren hat, verändert; und er fragt danach, was diese Veränderung für das Individuum selbst bedeutet. Es geht darum, daß für Hegel weniger die verlorene Welt des ,sittlichen Lebens' zur brennenden Frage wird, sondern daß das Individuum sein stabiles Lebensfundament verloren hat. Gerade aus der Perspektive der Individualität der Moderne wird die Frage gestellt, wie die Spaltung zwischen diesen Welten und Zeiten aufzuheben sei? Für das moderne Individuum sucht er, mit dem Ausdruck der Rechtsphilosophie, einen ,festen Boden'; deshalb kann man bei Hegel nur unter Vorbehalt von einer Idee der Reaktivierung und Wiederherstellung einer verlorenen Welt reden. Der Lösung des Problems des modernen Individuums wird auch die Frage zugeordnet, welche unter den Ruinen des schönen ,sittlichen Lebens' auffindbaren Elemente wie zu retten sind. Aus dieser Perspektive ist verständlich, warum Hegel das Individuum zuerst als ,Momente' der ,Einzelheit' des Selbstbewußtseins und des uns

etwas

Siep sieht einen Unterschied der Konzeptionen des frühen und des späten Hegel darin, daß der Hegel der Phänomenologie noch nicht dem weltgeschichtlichen Prozeß der Entzweiung der Sittlichkeit folge. „Er schneidet vielmehr in gewisser Weise das moderne Bewußtsein von seiner antiken Herkunft ab und sieht in den Versuchen einer aus dem Subjekt konstituierten vernünftigen Gemeinschaft die ,Anfange seiner sittlichen Welterfahrung'." Siep folgert daraus: „Nur vor der Folie des philosophischen ,Begriffes' der praktischen Vernunft als Sittlichkeit erscheinen sie (die Gestalten des Selbstbewußtseins E. R.) als scheiternde Vorstufen einer Einheit von moderner Subjektivität und klassischer Polis-Sittlichkeit." L. Siep (Anm. 5), 144. -

131

Verhaltensweisen des Individuums

selbständigen Formen' der Einzelheit thematisiert. Die drei genannten Verhaltensformen, das Verhalten des Individuums der ,Lust', das Verhalten des dem ,Gesetz des Herzens' folgenden Individuums und das Verhalten des tugendhaften Ritters' sind solche erscheinenden', ,selbstständig' gewordenen ,Momente' der Einzelheit' und Gestalten des Selbstbewußtseins im ,modernen Leben', die der Philosoph dann zugleich als Elemente der andersartigen Einheit der ,neueren Zeit' deutet und Verhaltens

von

umdeutet. Die neuen Verhaltensweisen gewinnen, wie Hegel im Vernunft-Kapitel unter Punkt B ausführt, eine Struktur, in der sie als Momente eines Ganzen dargestellt werden.24 Im Horizont dieses Ganzen werden die Individuen einerseits als erscheinende' ,Momente' der ,Einzelheit', als ,selbstständig' gewordene Formen in bezug auf die schöne, harmonische Welt der Griechen interpretiert, andererseits in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und phänomenologischen Konkretheit als verschiedene Verhaltensweisen unter den Umständen des ,modernen Lebens' aufgefaßt. Somit geht es nicht um eine rein spekulative Konstruktion, sondern um eine geschichtlich-kulturell-phänomenologische Kontextualisierung; die Kontrastierung der zwei Welten dient weniger einer Idealisierung als vielmehr der Problematisierung der modernen Individualität. Im Rahmen des Konzepts der Vernunft hat Hegel die erscheinenden' ,selbstständigen Formen' der Einzelheit' systematisch und in begrifflicher Form wie auch in ihren phänomenologisch-, kulturell- und ideengeschichtlichen bzw. fachwissenschaftlichen ,Formationen' dargestellt. Eben diese Hegeische Auffassung der sich emanzipierenden und ihre Emanzipation (miß)deutenden und (miß)bestimmenden Individuen als selbstständig gewordener Gestalten der postgriechischen Welt stellt eine komplexe Grundlage der Individualitätsproblematik im Vernunft-Kapitel dar. Die zu selbständigen Formen gewordenen Momente können aufbewahrt werden, insofern sie im neuen Ganzen einerseits zu seinen Momenten, andererseits zu seinem strukturierenden ,Prinzip' werden. Damit bekommt das Individuum einen doppelten Deshalb muß nicht nur eine ,Stufenfolge' von .Vermögen' als Fundament der Strukturierung der Teile der Phänomenologie betrachtet werden, wie Werner Marx meint, sondern auch eine Stufenfolge von Verhaltensweisen des Selbstbewußtseins. Vgl. W. Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in Vorrede' und .Einleitung', Frankfurt/M. 1971, 15. In der neueren Literatur fokussiert Pinkard Hegels Phänomenologie im .modernen Lebensprojekt'. Vgl. Terry Pinkard: Hegel's Phänonenology. The Sociality of Reason. Cambridge 1994, 79134. bzw. 269-330. Auch Pippin interpretiert Hegel als Denker des ,modernen Lebens', indem er die Freiheit als zentralen Begriff der Unterscheidung von Naturalität und Geistigkeit darstellt. Er betont, daß Hegel eine soziale Freiheitstheorie mit der starken Behauptung ausgearbeitet habe, daß man „allein kein freies Wesen" sei. Aber die Modernität sei bei Hegel als ein „Bruch in der Menschengeschichte", als „eine Zäsur in der Erfahrung" zu verstehen. Er fügt sogleich hinzu, Hegel sei und bleibe „für viele der einzige Philosoph mit den für das Verständnis dieses Ereignisses adäquaten konzeptionellen und phänomenologischen Mitteln. Ich teile diese Ansicht." Vgl. R. Pippin (Anm. 3), 48^19. Aber man sollte vor Augen haben: Hegels feste Überzeugung war in der Phänomenologie eben, daß dieser Bruch trotz allem doch zu überwinden sei. ,

-

Erzsébet RÓZSA

132

Stellenwert, insofern es sich sowohl als ,Moment' wie auch als ,Prinzip' der Moderne positionieren, d. h. ebenso abwerten als auch aufwerten kann. Daraus ergibt sich eine .schwankende' Selbstschätzung des modernen Individuums. Der späte Hegel versteht die .freie', ,unendliche' Individualität als Prinzip der ,neueren Welt' sowohl im geschichtlichen als auch im systematischen Sinne, wobei er auch die Phänomene und die Symptome einer schwankenden' Selbstbewertung des modernen Individuums eingehend behandelt (vor allem in seinen Berliner Vorlesungen). In erster Linie sucht er eine elementare Stabilität für die Individuen. Das im Vernunft-Kapitel auch thematisierer eben diese Stabilität des Geials menschliches Sein aufzuzeigen versucht. Dieses ,Bestehende' als eine elementare Kontinuität und Stabilität des menschlichen Lebens manifestiert sich in ,unseren Zeiten' nicht mehr wie bei den Alten als unmittelbare Einheit von Individuum und Gemeinschaft, sondern in verschiedenen Kulturen von Völker und Nationen wie auch in vielfältigen und sich voneinander unterscheidenden Lebenswelten und Verhältnissen der Individuen. Die ,Welt des Individuums' stellt eine Formel dar, mit der Hegel die neue Verbindung zwischen der Einzelheit und der ,Welt' thematisiert. Bevor sie rekonstruiert wird, soll ein Blick auf eine weitere Begründungsfrage geworfen werden.

te

.Bestehende' ist einer seiner Ausdrücke, mit denen

stigen

2.4. .Ahnende

Vernunft' und .Instinkt der Vernunft'

Die beobachtende Vernunft' „ahnt sich als ein tieferes Wesen, denn das reine Ich ist und muß fordern, daß der Unterschied, das mannigfaltige Sein, ihm als das Seinige selbst werde, daß es sich als die Wirklichkeit anschaue". (PG, 186) Das beobachtende Bewußtsein, welches die Dinge erkennt, verwandelt zugleich ihre Sinnlichkeit in Begriffe. Die »beobachtende Vernunft' betritt den Weg, der vom ,ahnenden' Verhalten zum begreifenden' führt. Dieses epistemische Verhalten der Vernunft, dem Erfahrungen und phänomenologisch beobachtbare Elemente wie auch begriffliche Momente inhärieren, impliziert auch ein praktisch-ontologisches Verhalten, weshalb Hegel feststellt, daß der Begriff ebenso Sein, wie das Denken auch das Gedachte ist. Das ,Tun der Vernunft' ist es, was diesen ganzen Prozeß bewegt, deshalb ist dieses Tun als Einheit von epistemisch-theoretischem und praktisch-ontologischem Verhalten zu deuten und „in den Momenten seiner Bewegung zu betrachten". (PG, 187) Diese Stufe der Vernunft ist mehrfach gegliedert, insofern sie die Natur, den Geist und auch deren Beziehung aufnimmt, und sich darin zugleich ,als seiende Wirklichkeit' gewiß ist. Die in

Konzept der Individualität Hegels beinhaltet die Rechtsphilosophie einen reichen Fundus, und zwar vor allem das Moralitätskapitel. In der Anmerkung des Paragraphen 124 fügt Hegel die systematische und die sozial-geschichtliche Seite der Subjektivität zusammen, womit der moralische Standpunkt der Subjektivität mit ihrem Gewissen bzw. ihrer sittlichen Gesinnung' einen anderen Akzent bekommt, als diese Begriffe in der Phänomenologie haben. Besonders reichlichen Stoff liefern Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1823 für die Darstellung der Phänomene des schwankenden modernen Individuums. Zum

,

-

Verhaltensweisen des Individuums

133

diese Konstruktion eingebettete ,ahnende Vernunft' hat einen internen Zusammenhang mit dem ,Instinkt der Vernunft'. Die ,ahnende Vernunft' als ein epistemisches Verhalten wirkt in ihrer ersten Form aktiv, indem sie die Natur mit dem ,Instinkt der Vernunft' beobachtet. Damit positioniert sich die Vernunft auf doppelte Weise, und zwar vor ihrem Naturhintergrund. Das Individuum ist von der Natur und seiner Natürlichkeit keinesfalls zu trennen; es ist kein Zufall, daß man zuerst an diesem Ort den Begriff der Individualität findet, wobei die Pflanze die „Grenze der Individualität" „nur berührt" (PG, 190). Mit der hier auftretenden Individualität wird es möglich, aber auch erforderlich, die ,Bestimmtheit' und die ,Besonderung' als grundlegende Kennzeichnung der Individualität einzuführen. Das Suchen nach der Bestimmtheit tritt im Jnstinkt der Vernunft' vor dem Hintergrund der Natur auf, und auf diese Weise ist sie auch als ein aktives Moment, als eine Bestrebung zu deuten.27 Damit werden aber auch der Unterschied und das Entgegengesetzte als Grundstrukturen sowohl der Renkenden' als auch der seienden' Vernunft eingeführt. In der Verbindung der ,ahnenden Vernunft' und des ,Instinkts der Vernunft' manifestiert sich ferner auch die Zweidimensionalität von ,Begriff und ,Wirklichkeit'. Das Verhältnis von ,Begriff und ,Wirklichkeit' erscheint im ,Zweckbegriff, der für die Vernunft ein ,bewußter Begriff und ebensosehr als ein ,Wirkliches' vorhanden ist. (PG, 199) Dieser Gedankengang bereitet die Einführung des Tuns vor. (PG, 203) Nach dem Erreichen des ,Prinzips der Individualität' und des „in seiner Realität tuenden Bewußtseins" eröffnet sich für die Beobachtung „ein neues Feld an der handelnden Wirklichkeit des Bewußtseins". (PG, 229) Hegel hat diese Problematik vor dem Hintergrund der Psychologie-Debatte ausgeführt. Uns interessiert aber vielmehr, wie Hegel die hier behandelte Problematik für die Erläuterung und die Erklärung der drei sozial kontextualisierten Verhaltensweisen verwendet. ,

2.5. Die .Besonderheit der Individualität und die Welt des Individuums im sozialen Kontext '

'

,

Der soziale Kontext der Individualität wurde zunächst ganz abstrakt, in bezug auf die Erfüllung' des ,leeren Meinens' der Einzelheit', als erster Gestalt der Individualität thematisiert. Nun setzt Hegel diese Problematik fort, insofern die ,handelnde Wirklichkeit' des Individuums als ein sozialphilosophisches Prinzip zu verstehen ist, welches Hegel als die ,Welt des Individuums' im Hinblick auf seine Selbständigkeit' und .Besonderheit' näher erläutert. Die Welt und die Individualität als sozialphilosophische Kategorien werden mehrdimensional behandelt, indem die Welt als allgemeine wie Das Suchen nach der Bestimmtheit und der Besonderung tritt mit dem Jnstinkt der Vernunft' auf, wodurch nicht nur die Untrennbarkeit des Individuums von der Natur bewiesen wird, sondern auch das Problematische der Eliminierung der theoretischen Dimension aufgezeigt werden kann, wenn die Besonderung qua Befriedigung nur als Praktik, abgeschieden von dem Hegeischen Gesamtkontext, einseitig verstanden wird. Siehe dazu: T. Pinkard (Anm.3), 75-79.

Erzsébet Rózsa

134

auch als besondere, als vorgefundene wie auch als je einige interpretiert wird. Das Individuum verhält sich zu ihr also doppelt, insofern es sich einerseits als ein von dem Vorgefundenen und Allgemeinen abhängiges Wesen versteht und bestimmt. Andererseits begreift es sich als ein Wesen, welches der Welt eine .eigentümliche Modifikation' gibt, ohne ihr zu widersprechen, „oder eine solche, wodurch das Individuum als besondere Wirklichkeit und eigentümlicher Inhalt sich ihr entgegensetzt". (PG, 229) Das letztere Verhalten des Individuums bringt „eine andere Welt, anderes Recht, Gesetz und Sitten an die Stelle der vorhandenen". (Ebd.) Von hier an bedeutet das ,Begreifen' der Individualität kein Abstrakt-Allgemeines mehr, sondern hat die Aufgabe, die ,bestimmte Individualität' aufzufassen. Diese systematisch-begriffliche Struktur des Allgemeinen und Besonderen wird in den sozialkulturell-geschichtlichen Raum der bestimmten Individualität' sowie in ihre Welt bzw. ihre Lebenswelt eingebunden. Die Elemente dieser Konstruktion sind die Individualität selbst bzw. die vorgefundenen Umstände, Gewohnheiten, Sitten, Religion, d. h. Komponenten des sozial-kulturell-geschichtlichen Lebensraums. Hegel ist der Meinung, daß das Individuum nur in bezug auf die Welt als eine allgemein-vorgefundene und zugleich als die seinige zu begreifen ist und daß die hier thematisierten verschiedenen Verhaltensvarianten als unterschiedliche Stellungen der bestimmten Individualität' zur Welt und zu sich selbst zu verstehen sind. Phänomenologisch ist zu beobachten: Das Individuum kann sich entweder so verhalten, daß es innerhalb der vorgefundenen Wirklichkeit stehenbleibt' oder aus ihr heraustritt, welchem letzteren Verhalten zwei Varianten untergeordnet sind. Die eine ist, wenn das Individuum eine ,besondere Modifikation' trifft, ohne der Wirklichkeit wesentlich zu widersprechen. Die andere Variante ist, wenn das Individuum der Welt eine .besondere Wirklichkeit' und einen .eigentümlichen Inhalt' entgegensetzt. (PG, 229) Diese Ausführung ist als eine nähere Begründung der Deutung der drei Verhaltensweisen aufzufassen. Hegel verwendet hier die Metapher ,einer gedoppelten Galerie von Bildern', um die Besonderung und Bestimmung der Individualität näher zu erläutern. Die Metapher lautet: „Wir hätten eine gedoppelte Galerie von Bildern, deren eine der Widerschein der anderen wäre; die eine die Galerie der völligen Bestimmtheit und Umgrenzung äußerer Umstände, die andere dieselbe übersetzt in die Weise, wie sie in dem bewußten Wesen sind; jene die Kugelfläche, dieses der Mittelpunkt, welcher sie in sich vorstellt." (PG, 231-232) Die ,Kugelfläche', d. h. die ,Welt des Individuums' hat eine zweideutige Bedeutung, insofern sie ,Lage' und ,Welt' ist, wozu sich das Individuum in zweifacher Weise verhalten kann. Die eine Verhaltensweise ist, daß das Individuum mit der Welt ,zusammengefloßen' ist und das Individuum in sie ,hineingehen läßt'. Gegen die Welt hat es nur ein formelles Bewußtsein'; dieses Individuum mit seinem Bewußtsein ist ein .ruhiges unmittelbares Zusammenfließen' mit dem vorhandenen Allgemeinen, den Sitten, der Religion, den Gewohnheiten, d. h. mit den vorgefundenen Umständen, anders ausgedrückt, mit der allgemeinen unorganischen Natur' der Individualität. In diesem ersten Verhalten läßt das Individuum an sich den Strom der einfließenden Wirklich,

,

135

Verhaltensweisen des Individuums

keif

,gewähren'. (PG, 230-232)

In diesem Verhalten des Individuums in seiner StelWirklichkeit' manifestiert sich eine Stabilität und eine Kontinuität der Welt lung bzw. des Verhältnisses des Individuums zu ihr, worin man wieder die Bedeutung des ,Bestehenden' für Hegels Konzept der Individualität erkennen kann. Die andere Bedeutung der .Kugelfläche' ist das Verhalten, „Welt des Individuums so zu sein, wie das Vorhandene von ihm verkehrt worden ist." (PG, 232) Somit haben sowohl die Welt als auch das Individuum eine doppelte Bedeutung und eine doppelte Gliederung erhalten, in dem beide nur in ihrer gegenseitigen Beziehung zu deuten sind. Damit hat Hegel eine Konstruktion im Gegensatz zum Auseinanderfallen von Welt und Individualität in der von ihm kritisierten Psychologie gewonnen, die die Identifikation der Individualität ebenfalls erklärt. Hegel stellt ihr die These gegenüber: Die Identifikation mit sich ist nur durch die Identifikation mit der Welt zu verstehen, die eine vorgefundene und gleichzeitig eine der Individualität eigene ist. Sodann ist die Welt nicht mehr eine ,fremde', sondern ,ihrige', wie auch die Individualität ihr selbst nicht mehr fremd ist, sondern die Identität mit sich selbst. „Die Individualität ist, was ihre Welt als die ihrige ist; sie selbst ist der Kreis ihres Tuns, worin sie sich als Wirklichkeit dargestellt hat, und schlechthin nur Einheit des vorhandenen und des gemachten Seins." (PG, 232) Dieser mehrschichtige Identifikationsprozeß stellt bei Hegel eine sozial-kulturelle Komponente der Individualitätsauffassung vor ihrem systematisch-theoretischen Hintergrund dar. zur

3. Die

.Selbständigkeit der Individuen' in bezug auf die drei Verhaltensweisen

,Selbständigkeit der Individuen vor dem Hintergrund des .sittlichen Lebens Im Kapitel B findet man eine Rückkoppelung der selbständig gewordenen Formen des ,sittlichen Lebens' an die geschichtsphilosophische Problematik. Diese Rückkoppelung 3.1.

'

'

erläutert die sozial-kulturelle Dimension der ,Welt des Individuums'. Das ,sittliche Leben' wäre für Hegel zwar eine angemessenere Existenz- und Denkweise des Individuums, aber diese ist ,verloren' gegangen. Dennoch kann es durch seine .Momente', durch die selbständig gewordenen Formen als Individuen und durch die zum Prinzip gewordene Individualität aufbewahrt werden. Diese doppelte Überlegung taucht im Hintergrund der Einführung des ,Reichs der Sittlichkeif auf, indem „in der selbständigen Wirklichkeit der Individuen die absolute geistige Einheit ihres Wesens" wieder thematisiert wird. (PG, 264) Die .selbständige Wirklichkeif der Individuen ist und weiß sich nur als selbständig und wirklich, insofern das Individuum sich, d. h. sowohl seine Selbständigkeit als auch seine Wirklichkeit, in einem Anderen findet, welches ebenfalls ,vollkommene' Selbständigkeit hat'. Somit wird das Individuum als einzelnes Bewußtsein sich des allgemeinen Bewußtseins als seines Seins bewußt und vermag in der Selbständigkeit des Anderen die Einheit mit ihm wie auch seine eigene Selbständigkeit anzuschauen. (Ebd.) Die Selbständigkeit der Individuen' ist nur gültig, wenn sie durch

Erzsébet Rózsa

136

die Anderen mit deren vollkommener Selbständigkeit bestätigt und anerkannt wird. Wie nunmehr zum Vorschein kommt, ist Hegel zur Problematik der intersubjektiven Konstituiertheit des Individuums übergegangen. Dennoch wird hier vor allem die Selbständigkeit der Individuen', weniger ihre Relationalität betont. Diese Selbständigkeit ist nun nicht einfach als ,Erscheinung' zu deuten, sondern auch als ein neues geschichtliches Prinzip im Sinne des späten Hegel. Ein anschauliches Bild stellt die geschichtliche Wende dar, durch die Hegel aufweist, wie das Selbständig-Werden der ,Momente' des ,sittlichen Lebens' vorgestellt werden sollte: Als das Zerspringen des Lichts in Sterne als in unzählige für sich leuchtende Punkte, die sich aber bewußt sind, diese einzelnen selbständigen Wesen dadurch zu sein, daß sie ihre Einzelheit aufopfern. (PG, 265) Aus diesem ,Glücke' ist das Selbstbewußtsein herausgetreten oder es hat es noch nicht erreicht. (PG, 266) Das Heraustreten interessiert Hegel vielmehr als die niedrigere Stufe des Bewußtseins. Er sieht im Heraustreten aus diesem .Glücke', dieser Harmonie, einen notwendigen Prozeß, worin sich zeigt, wie das .Moment der Einzelheit des Selbstbewußtseins' zur Grundstruktur des Geistes und zu einem neuen geschichtlichen Prinzip wurde. In dem den Gesetzen und Sitten der Alten gegenübertretenden Individuum manifestiert sich so ein notwendiger Prozeß. Sodann handelt es sich nicht nur um Verlust, sondern auch um Gewinn, der eben in der Selbständigkeit der Individuen' liegt. Hegel versteht sich mit diesem Gedanken als Kind der ,modernen Zeit', zu der er zugleich aber auch ein kritisches Verhältnis hat. -

3.2. Das Individuum der ,Lust': vom ,Bewußtsein der Selbständigkeit' bis zum .Zerschmettern der Individualität durch das .verkehrte Verhalten '

'

Im Abschnitt Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst' thematisiert Hegel die drei Verhaltensweisen, deren mehrschichtige Grundlegung gerade rekonstruiert wurde. Mit der Selbständigkeit der Individuen', die er eben in den Verhaltensweisen darstellt, kennzeichnet Hegel sowohl typische Phänomene als auch das Prinzip ,unserer Zeiten'. Die Selbständigkeit der Individuen' erscheint zunächst in einer Einstellung, worin das Individuum das „Gesetz der Sitte und des Daseins, die Kenntaisse der Beobachtung und die Theorie als einen grauen, eben verschwindenden Schatten hinter sich" läßt. (PG, 270) Es ist hier in das Individuum der „Erdgeist gefahren, dem das Sein nur, welches die Wirklichkeit des einzelnen Bewußtseins ist, als die wahre Wirklichkeit gilt." (PG, 271) Die plastisch-bildhafte Beschreibung der Einstellung des selbständigen Individuums, welches davon überzeugt ist, daß seine Wirklichkeit' als die ,wahre Wirklichkeit' gilt, setzt sich folgenderweise fort: „Es stürzt also ins Leben und bringt die reine Individualität, in welcher es auftritt, zur Ausführung. Es macht sich weniger sein Glück, als daß es dasselbe unmittelbar nimmt und genießt. Die Schatten von Wissenschaft, Gesetzen und Grundsätzen, die allein zwischen ihm und seiner eigenen Wirklichkeit stehen, verschwinden als ein lebloser Nebel, der es nicht ,

137

Verhaltensweisen des Individuums

mit der Gewißheit seiner Realität aufnehmen kann." (Ebd.) Das ,Bewußtsein der Selbständigkeif, welches ,die Individuen jedes für sich erhält', spielt bei dieser Einstellung eine entscheidende Rolle. Hegel beschreibt das erste Verhalten, das Verhalten des Individuums der ,Lusf, sowohl plastisch-bildlich als auch im Rahmen einer theoretischen Konzeption. Das Individuum der Lust ist ein passives Wesen, welches sich ,weniger sein Glück macht' als .unmittelbar nimmt und genießt'. Als nur genießendes Wesen bleibt auch sein Handeln Das macht das .lebendige Dasein' passiv bestimmt, .Tun' und .Genuß der dieses Individuums aus. Die .genossene Lust' hat die positive Bedeutung, daß das Individuum seinen Zweck erreicht. Aber es erfahrt in der .erreichten Wirklichkeit seiner Einzelheit' auch Negativität, d. h. die Weltlosigkeit, die Leere und die .verzehrende', vernichtende Macht' des .negativen Wesens' der genossenen Lust. Diese Individualität mit dem .Bewußtsein der Selbständigkeif wird dadurch die „ärmste Gestalt des sich verwirklichenden Geistes". (PG, 272) Somit geht es um seinen Selbstverlust, worin aber zugleich die Notwendigkeit oder das Schicksal liegt, von dem „man nicht zu sagen weiß, was es tue". (PG, 273) Das erste Verhalten des Individuums verkehrt sich, denn diese „nur einzelne Individualität", statt aus der „toten Theorie des Lebens in das Leben sich gestürzt zu haben, hat sich vielmehr nur in das Bewußtsein der eigenen Leblosigkeit gestürzt." (Ebd.) Die Verkehrung' bezieht sich auf alle Momente des Individuums der .Begierde' und der .Lusf. Die Wirklichkeit, die ihm gegenübertritt, ist leer, fremd und tot, insofern sie für das Individuum Notwendigkeit als Schicksal ist, die es nicht als seinige aufnimmt. Es scheint so, daß das Individuum zugrunde gegangen und die „absolute Sprödigkeit" der Einzelheit an der ebenso harten Wirklichkeit zerstäubt ist. (Ebd.) Aber der Philosoph blickt hinter die Kulissen und sieht folgendes: Dieser Untergang ist in Wirklichkeit nicht der Notwendigkeit und dem Schicksal als feindlicher Macht zuzuschreiben, sondern er liegt vielmehr in der Natur dieses Verhaltens, und zwar in seinem Doppelsinne. Das Individuum wollte seine Wahrheit finden, aber es ist ihm vielmehr ein Rätsel geworden: Das Individuum der ,Lusf versteht sich selbst nicht, weil es die Folgen seiner Taten nicht als seine Taten auffaßt. Gleichzeitig versteht dieses Individuum die Welt, die Wirklichkeit, auch deswegen nicht, weil es ausschließlich „die nur negative unbe-

Begierde'.28

,

Kojève sieht in der Begierde das Fundament der ,Negation', der regierenden Tätigkeit', die aber nicht als bloß destruktiv' zu deuten sei, sondern als eine .subjektive Wirklichkeit' schaffende Tätigkeit. Er ist der Auffassung, daß die Begierde die Begierde ,nach einem Wert' sei, worin eine Funktion der Begierde nach Anerkennung liegt. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hg. v. I. Fetscher, Frankfurt/M. 1975, 21-24. Neuerdings hat Schmidt am Busch die Problematik der Begierde in bezug auf die Gestalt der ,Knechtschaft' im „zentralen Zusammenhang von Selbsterhaltung und Emanzipation" thematisiert. Siehe Hans Christian Schmidt am Busch: „Begierde und Arbeit. Eine Untersuchung zum ,Selbstbewußtseyn' in der ,Phänomenologie des Geistes'", in Vermittlung und Versöhnung. Die Aktualität von Hegels Denken für ein zusammenwachsendes Europa, hg. v. M. Quante/E. Rózsa, Münster 2001, 69-90. -

Erzsébet Rózsa

138

griffene

Macht der Allgemeinheit" sieht. (PG, 274) Dieses im Doppelsinne verkehrte ,Bewußtsein der Selbständigkeit' und das ihm angemessene verkehrte Verhalten des Individuums der ,Lust' und der ,Begierde' führt dazu, daß die „Individualität zerschmettert wird". (Ebd.) In dem hedonistischen Verhalten hat Hegel aufgezeigt, wie sich das Individuum konzeptuell aufwertet und zugleich durch seine Tat abwertet, und wie es durch diese schwankende und verkehrte Selbstdeutung in die Falle einer verkehrten Selbstverwirklichung gerät, was zu seinem Selbstverlust führt. 3.3. Das Individuum des Gesetzes des Herzens

'

,

Das Individuum hat jetzt eine andere Gestalt aufgenommen, in der es sich selbst nicht mehr in seiner Selbständigkeit im Sinne einer .Isoliertheit' und ,Fixiertheit' versteht und bestimmt, sondern sich als das Notwendige, das Allgemeine oder das Gesetz weiß. Diese neue Art der Selbstdeutung und der Selbstbestimmung des Individuums heißt das ,Gesetz des Herzens'. Nun trägt das Herz ein Gesetz, dessen Verwirklichung zu seinem Zweck wird. Dieses Individuum ist in sich weiterhin auch Wesen' (wie in der vorigen Gestalt), aber nun gilt es ihm als notwendiges und allgemeines. Das zunächst verborgene Gesetz ist nun der Zweck, den das Individuum verwirklichen will, weil ihm eine inakzeptable Wirklichkeit gegenübersteht, von der die ,einzelne Individualität gedrückt' wird. Diese Wirklichkeit ist nämlich eine gewalttätige Ordnung der Welt, welche dem Gesetze des Herzens widerspricht'. Der andere Pol des Widerspruchs ist die darunter leidende Menschheit, die so glaubt dieses Individuum nicht dem ,Gesetze des Herzens' folgt, sondern ,einer fremden Notwendigkeit Untertan ist', welche die Individualität des ,Gesetzes des Herzens' ,erdrückt'. Somit ergibt sich eine neuartige Stellung des Individuums zur Welt wie zu sich selbst. Diese ist nicht mehr wie die vorige eine leichtsinnige' Stellung, die nur die einzelne Lust' will. Die Stellung dieses Individuums zur Wirklichkeit und zu sich ist durch Ernsthaftigkeit' gekennzeichnet, insofern ihm sein ,vortreffliches' eigenes Wesen bewußt ist. Die Ernsthaftigkeit' und die ,Vortrefflichkeit' dieses Verhaltens zeigen sich sowohl in der Selbstdeutung, im Wissen von sich, als auch in der Selbstbestimmung, in seiner Stellung zur Wirklichkeit'.29 Ernsthaftigkeit' und ,Vortrefflichkeit' dieses Indi,

-

,Stellung

Wirklichkeit' ist eine

-

der Vorrede der

Rechtsphilosophie

von

überwindung und zur Selbstdestruktion anzuleiten." Rolf-Peter Horstmann: Die Grenzen der

Ver-

zur

Formulierung

aus

1820, mit der Hegel die Position des Philosophen nicht nur im Hinblick auf Politik und Religion, sondern auch auf das natürliche Bewußtsein und das „einfache Verhalten des unbefangenen Gemütes" als natürliche Einstellung thematisiert hat. Dies belegt, daß Hegel eine Position einnimmt, die Gemeinsamkeiten mit der von Kant, Fichte und Schelling auch hinsichtlich des natürlichen, vorphilosophischen Bewußtseins hat. Hegels Position ist eine viel differenziertere, als R.-P. Horstmann unterstellt, wenn er zur Folgerung kommt: „Insofern trägt für Hegel die Philosophie nicht mehr wie für Kant, Fichte und Schelling dazu bei, das natürliche Bewußtsein über den Sinn, das Recht und die Herkunft gewisser fundamentaler Annahmen seiner selbst aufzuklären, sie hat jetzt in bezug auf dieses Bewußtsein hauptsächlich die Funktion, es zur Selbstaufgabe, zur Selbst-

139

Verhaltensweisen des Individuums

viduums werden als die in seinem Wissen von sich vorhandenen Eigenschaften jetzt zu seinem Zweck. Hegel entfaltet hier, wie die Individualität ihre Selbstdeutung zur Selbstverwirklichung führt, indem sie die dem ,Gesetz des Herzens' widersprechende Notwendigkeit als gewalttätige Ordnung der Weif sowie das dadurch erweckte Leiden aufzuheben hat. Gleichzeitig hat die Individualität das ,Wohl der Menschheit' hervorzubringen und ihr damit identifiziertes ,Gesetz des Herzens' zu verwirklichen. Durch die Verwirklichung dieses Zwecks wird zwar eine allgemeine Ordnung' erreicht, aber in dieser Verwirklichung findet das Individuum auch Nichtintendiertes, weil Folgen auftreten, mit denen das Individuum des .Gesetzes des Herzens' nicht gerechnet hat. Wenn das Individuum seine eigene Ordnung aufstellt, findet es sie nicht mehr als die seinige, sondern als fremde, ja feindliche Übermacht. Eine andere Folge ist, daß das Individuum sich von sich selbst freigelassen und zur Allgemeinheit gemacht, sich von der Einzelheit ,gereinigt' hat; eine Allgemeinheit jedoch, deren ,verkehrte Bedeutung' darin liegt, daß seine Tat Tat seines Herzens und nicht ,freie allgemeine Wirklichkeit' ist. Aber damit widerspricht seine Tat der allgemeinen Ordnung. Ein weiterer Widerspruch tritt auf, insofern dieses Individuums diese Tat als Allgemeines für alle gelten will und soll, obwohl die anderen das ,Gesetz ihres Herzens' darin nicht verwirklicht finden, sondern nur das Gesetz eines anderen. Demzufolge stehen dem Individuum des ,Gesetzes des Herzens' jetzt nicht nur das ,starre Gesetz', sondern auch das ,Herz der Menschen' entgegen. Die Verkehrung betrifft das ganze Verhalten des Individuums, einschließlich seiner Auswirkungen. Ein Grundproblem dieses mehrfach verkehrten Verhaltens ist, daß die Natur der Verwirklichung und der Wirksamkeit diesem Individuum unbekannt ist und bleibt. Dies ist aber nicht nur ein Wissensproblem, sondern auch ein ,Seinsproblem', insofern das Individuum des ,Gesetzes des Herzens' in seiner Existenzform die Entfremdung seiner selbst" erfährt. (PG, 279) Es treten hier extreme Phänomene auf, in denen man die Maßlosigkeit des ,Prinzips der Individualität' und ihrer Selbständigkeit' findet: Die ,Zerrüttung' und die ,innere Verkehrung seiner selbst' manifestieren sich auf extreme Weise in der ,Verrücktheit des Bewußtseins', dessen typische Erscheinung ist, wenn das ,Herzklopfen für das Wohl der Menschheit' in das ,Toben des verrückten Eigendünkels' übergeht. Die Beschreibung der Phänomenologie hat Berührungspunkte auch mit der des Verhaltens der ,Furie der Zerstörung'. Hegel sieht das Wesentliche dieses Verhaltens darin, daß dieses Herz nicht nur das passiv ,Verkehrte' ist, sondern auch das aktiv ,Verkehrende'. Die Folgen der Tat sind nicht einer fremden Individualität oder einer fremden Macht zuzuschreiben, sondern sie

nunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus. Weinheim

1995 39,

40.

,Furie der Zerstörung', Hegels berühmte Metapher, stellt nicht nur einen Ausdruck dar, mit dem

konkrete politisch-geschichtliche Phänomene der Französischen Revolution bildlich beschreibt. Darüber hinaus geht es auch um die in Extreme führende negative Kraft des Geistes überhaupt, wie der Kontext der Metapher offenlegt. er

140

Erzsébet Rózsa

sind Folgen seiner eigenen Tat. Dieses ,verkehrende' Verhalten kritisiert Hegel sehr vehement. Die erste hedonistische Verhaltensweise provoziert ihn nicht so sehr, im Gegensatz zu dieser zweiten Verhaltensweise. Er erblickt in letzterer eine Gefahr, die sogar dem Geist und dessen Geschichte eine andere, inakzeptable Richtung geben kann. Es ist ersichtlich, daß er hier einige typische Merkmale eines fanatisch-politischen Verhaltens beschreibt: „Es spricht also die allgemeine Ordnung als eine von fanatischen Priestern, schwelgenden Despoten und für ihre Erniedrigung hinabwärts durch Erniedrigen und Unterdrücken sich entschädigenden Dienern derselben erfundene und zum namenlosen Elende der betrogenen Menschheit gehandhabte Verkehrung des Gesetzes des Herzens und seines Glücks." (PG, 280-281)31 Die gestehenden Gesetze' hat Hegel hier gegen das ,Gesetz eines Individuums' verteidigt. Das Bestehende ist nicht als politische Ordnung zu deuten, sondern vielmehr als geistige Allgemeinheit, als Substanz der Individuen' aufzufassen. Sofern sich im Bestehenden eine elementare Kontinuität und Stabilität des menschlichen Seins manifestiert, kann man es als Substanz der Individuen' deuten: Substanz der Individuen' heißt eben, daß sie darin leben und sich in ihr ihrer selbst bewußt sind. Diese Relation kann man als eine sozial-geschichtsphilosophische Umdeutung des traditionellmetaphysischen Substanzbegriffs ansehen, die in Hegels Theorie der Moderne eingebettet ist. Das Bestehende ist somit das ,Vernünftige' der Lebenswelt der Individuen, worin sie ihre ,Wirklichkeit' und ,Gegenwart' haben. Hegels folgende Bemerkung erläutert diese Bedeutung des Bestehenden: Es kann sein, daß die Individuen über diese Ordnung klagen, aber sie hängen doch an ihr. Ihr ,Hängen' am Bestehenden ist eine Art von ,Hang' zur Kontinuität und Sicherheit ihres Lebens; eben aus diesem elementaren „Anhängen" heraus werden „die bestehenden Gesetze [...] gegen das Gesetz eines Individuums verteidigt". (PG, 281) Demnach kann Hegels Position nicht als eine Verteidigung einer alten Ordnung oder einer Ordnung im tagespolitischen Sinne aufgefaßt werden, sondern vielmehr als Verteidigung des Fundaments der Lebenswelt der modernen Individuen. Dieser Gedanke hat offensichtlich einen internen Zusammenhang mit späterer Geschichtsphilosophie. Die großen Individuen der Weltgeschichte, Caesar oder Napoleon, haben die Welt nicht verkehrt, weil sie nicht das Gesetz ihres eigenes Herzens unter Ausklammerung des Bestehenden verwirklichen wollten. Sie haben sich auch nicht eingebildet, daß sie dem ,Herzklopfen für das Wohl der Menschheit' folgen sollten, um ihre Bestimmung in der Welt zu vollziehen. Statt einer verkehrten Einbildung, einer falschen Vorstellung von Ernsthaftigkeit' und ,Vortrefflichkeit' haben sie ihre Bestimmung in und aus der Welt erkannt und darin verwirklicht. Und damit konn-

Siep interpretiert diese Hegeische Beschreibung als „Typ des individualistischen Revolutionärs in Sturm und Drang und Frühromantik". Er sieht hier den Einfluß der autobiographischen und nicht der naturrechtlichen Schriften Rousseaus, vor allem von Julie oder Die neue Heloise. „Hegel hat aber wohl in erster Linie bestimmte Züge in den frühen Dramen Schillers sowie in Jacobis Roman Woldemar im Auge." L. Siep (Anm. 5), 152.

Verhaltensweisen des Individuums ten sich viele andere selbst

141

identifizieren, die dann den

neueren

Geist der Geschichte

durchgesetzt haben, ohne daß es ihnen bewußt gewesen wäre. 3.4. Der Zweck des tugendhaften Ritters ': Die Aufhebung der Individualität als des .Prinzips der Verkehrung' ,

Der Ausgangspunkt des Verhaltens des »tugendhaften Ritters' ist, daß ihm das Gesetz das Wesentliche und die Individualität das ,bewußf Aufzuhebende ist. Durch diese Bestrebung als seinen Zweck definiert sich der tugendhafte Ritter' und unterscheidet sich von beiden vorherigen Verhaltensweisen. (PG, 283) Was bedeutet dieses ,bewußte' Aufheben der Individualität? Die ,eigene Individualität' ist „in die Zucht unter das Allgemeine" zu nehmen, was die „Aufopferung der ganzen Persönlichkeit" bedeutet. (Ebd.) Aber im ,tugendhaften Bewußtsein' verhält sich die Individualität sich selbst gegenüber wieder „auf die verkehrte Weise" wie auch ,an dem Weltlauf, der ihr gegenüber steht. Im „tugendhaften Bewußtsein" wird nämlich gedacht, daß das Individuum durch das Aufheben der Individualität als des Prinzips der Verkehrung seine wahrhafte Wirklichkeit erhalten kann. (PG, 285) Mit diesem Zweck hat aber der Ritter der Tugend „den verkehrten Weltlauf wieder zu verkehren." (Ebd.) Die Verkehrung des Verhaltens der Individualität erreicht nun ihre höchste Stufe, insofern sie sich bewußt aufheben will; aber die Aufhebung gründet sich auf ein vollkommenes Mißverstehen von sich und seiner Selbstverwirklichung in der Welt. Der Zweck der Individualität kann zunächst nur ein Glaube sein; im mehrfachen Sinne ist dieses Verhalten nur ein Verhalten des Glaubens. Das Wahre ist im Glauben, daß das Individuum das Gute erst ausführen will. (PG, 285-286) Aber ein verkehrtes Moment kommt bald zum Vorschein, weil dieser Glaube das ,Prinzip der Individualität' doch braucht, damit das ,gläubige' Individuum seinen Zweck verwirklicht. Ein nächstes Problem ist, daß das Allgemeine ebenso gut angewendet als mißbraucht werden kann, weil das Allgemeine an sich ein „passives Werkzeug" ist. (PG, 286) Es bedeutet, daß die hervorgebrachte Wirklichkeit auch zu ihrem ,Verderben' geformt werden kann. Ein wichtiges Moment in diesem Verhalten ist, daß das ,tugendhafte' Individuum sich schlau zu verhalten hat. Der ,Ritter der Tugend' hat seinen Glauben an die Einheit seines Zweckes und des Weltlaufs ,in den Hinterhalt gelegt', um dem Feinde in den Rükken zu fallen, aber er kann und darf sein Tun, d. h. den Kampf nicht für Ernst nehmen; dieses Tun ist nur Spiegelfechterei'. „Denn dasjenige, was er gegen den Feind kehrt und gegen sich gekehrt findet und dessen Abnutzung und Beschädigung er [...] wagt, soll nicht das Gute selbst sein [...], sondern was daran gewagt wird, sind nur die gleichgültigen Gaben und Fähigkeiten." so Hegel. (PG, 287) Weiterhin ist das ,individualitätslose Allgemeine' nur ein Gleichgültiges und kann als der Zweck des ,tugendhaften Ritters' das Gute nicht darstellen. Die normative, uns orientierende Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen ist ohne die Individualität unvorstellbar und un-

sinnig.

Erzsébet Rózsa

142

Dadurch wird deutlich, daß das Gute etwas ganz anderes ist, als der ,tugendhafte Ritter' sich vorstellt und woran er glaubt. Das ,wirkliche Gute' ist nur von der Individualität ,belebt'. Und dem kann sie sich nicht entziehen: Gleichgültig, wo „die Tugend den Weltlauf anfaßt, trifft sie immer auf solche Stellen, die die Existenz des Guten selbst sind". Die Unterscheidung von Gut und Böse als normativer Charakterisierungen des Geistes ist ,in alle Erscheinungen des Weltlaufs unzertrennlich verschlungen'. Somit ist erklärbar, warum der „Weltlauf für die Tugend ,unverwundbar' ist und bleibt (PG, 287): Eben darum, weil die Individualität dem ,Weltlauf das Wesen ist. So ist seine Kraft „das negative Prinzip, welchem nichts bestehend und absolut heilig ist, sondern welches den Verlust von allem und jeden wagen und ertragen kann." (PG, 288) Durch dieses ,Wagen', durch dieses Verhalten eines absoluten Riskierens ist ihm der Sieg an ihm selbst gewiß. Von daher kann der Weltlauf auch den ,tugendhaften Ritter' in seiner Gewalt befestigen. Der Ritter „kann sich davon nicht als von einem äußerlich umgeworfenen Mantel loswickeln und durch Hinterlassung desselben sich frei machen; denn es ist ihm das nicht aufzugebende Wesen." (Ebd.) Wie sich zeigt, hat Hegel den ,Weltlauf als Ritter personifiziert dargestellt, der mit dem ,wachen, seiner selbst gewissen Bewußtsein' kämpft und der im Kampf nicht hinterhältig den Feind angreifen will. Er verhält sich ganz anders, er kommt nicht von hinten wie der ,tugendhafte Ritter', sondern bietet „allenthalben die Stirne". (Ebd.) Deshalb wird die ,Tugend' von dem anderen Ritter, d. h. dem des Weltlaufes besiegt. (PG, 289) Der ,tugendhafte Ritter' soll vor allem besiegt werden, weil er zur Verwirklichung des geglaubten Guten die Individualität aufopfern wollte. Und die Wirklichkeit als Weltlauf sollte ihn besiegen, weil deren Prinzip, die Individualität, untastbar ist und bleiben soll. Der Sieg des Ritters des ,Weltlaufes' ist aber kein großer Sieg, weil sein Feind, der ,tugendhafte Ritter', keine große Gestalt ist. Hegel hat im ironisch-sarkastischen Stil das Verhalten des ,tugendhaften Ritters' bewertet, den er als den ,Ritter' mit ,pomphafter ,

Rede', .leeren Worten', ,Deklamationen', ,Aufschwellung', ,leerer Aufgeblasenheit' kennzeichnet. Die Individualität, gegen die der ,tugendhafte Ritter' gekämpft hat, ist nicht zu besiegen. Eben im Weltlauf und im ihm angemessenen ritterlich-kämpferischen Verhalten manifestiert sich die Unantastbarkeit der Individualität. Hegel erkennt in der Individualität etwas sehr Wertvolles; an der vorliegenden Stelle hebt er gerade die Bedeutung der Individualität als ,Prinzip der Wirklichkeit' hervor. Er fügt erklärend hinzu, wie die Bewegung der Individualität die Realität des Allgemeinen ist (PG, 291) und faßt seine Position folgenderweise zusammen: „Es ist also das Tun und Treiben der Individualität Zweck an sich selbst; der Gebrauch der Kräfte, das Spiel ihrer Äußerungen ist es, was ihnen, die sonst das tote Ansich wären, Leben gibt, das Ansich nicht ein unausgeführtes, existenzloses und abstraktes Allgemeines, sondern es selbst ist unmittelbar diese Gegenwart und Wirklichkeit des Prozesses der Individualität." (Ebd.)

Siep merkt an, daß es hierbei tes annimmt. Ebd., 159.

um

einen

„metaphorischen Kampf gehe, der fast Züge Don Quijo-

Verhaltensweisen des Individuums

143

4. Ausblick

Hegel hat weder eine zeit- und raumbedingte Auffassung, noch eine rein spekulative Konzeption über die Individualität tradiert, sondern er hat eine Deutung von sozialkulturell-geschichtlich kontextualisierten Verhaltensweisen im Horizont der Moderne mit einem starken normativen bzw. theoretischen Anspruch vor dem Hintergrund von literarisch-kulturellen und ideengeschichtlichen Zusammenhängen überliefert. Hegels Gedanken können uns inspirieren, wenn wir unsere eigene Erfahrungen in einer Situation zu verarbeiten versuchen, in der man sowohl für den ausgezeichneten Stellenwert des Individuums als auch gegen ihn starke Argumente liefern kann. Eins kann man aber nicht: Den Anspruch des Individuums außer acht lassen, der darin liegt, sich selbst zu verstehen sowie seine Aufgabe in der Welt und in seinem eigenen Leben zu bestimmen. Hegel hat das Problem der schwankenden Selbstdeutung der Individualität, sowohl die Relativierung und die Abwertung als auch die Verabsolutierung und die Aufwertung des Individuums im geschichtlichen Kontext der Moderne dargestellt. Dieser Gedanke kann uns als Kinder der Spätmoderne ihm nahebringen. Seine Einsicht in die Tendenzen, wie extrem das Individuum sich selbst unter den Umständen der Moderne betrachtet und wie extrem es seine Bestimmung in der Welt versteht und sich zu verwirklichen

versucht, hat an Aktualität nichts verloren. Sei es die ,Lusf oder sei es das ,Gesetz des Herzens', die das Individuum motivieren und worin es seine Identität mit sich zu finden

glaubt, es geht beide Male um ein ähnliches Problem. Beidem Verhalten ist gemeinsam, daß das Individuum sich selbst in den Vordergrund drängt. Hinter der strukturellen Ähnlichkeit dieser Verhaltensweisen findet man auch erhebliche inhaltliche Unterschiede, die eben der wechselnde Hegeische Ton unterscheidet. Die erste Verhaltensform,

die hedonistische Lebensführung, führt er in einem relativ neutralen Stil aus. Dieser Ton hat gewiß auch damit zu tun, daß das Verhalten des Individuums der ,Lusf nach Hegel vor allem für es selbst und nicht so sehr für die anderen schädlich ist; der Hedonismus vertritt eigentlich eine selbstzerstörerische Lebensführung. Die zwei anderen Lebensführungen, die des ,Gesetzes des Herzens' und die des ,tugendhaften Ritters' können aber nicht nur für das Individuum selbst, sondern vor allem für die anderen schädlich, sogar gefährlich werden. Der sich steigernde kritische Ton ist von der normativen Stellungnahme Hegels wie auch von seiner systematisch-theoretisch begründeten Auffassung der Individualität nicht zu trennen. In der Phänomenologie tauchen bereits Gedanken auf, die für die Auffassung der Individualität beim späten Hegel einen besonderen Stellenwert haben. Die Moderne mit ihrem Prinzip der ,freien Individualität' bringt eine radikale Wende mit sich, nach der eine bloße ,Wiederholung' einer verlorengegangenen Welt mit Verhaltensformen eines ,Heros' oder eines ,großen Charakters' nicht nur nicht mehr möglich, sondern auch nicht wünschenswert ist. Hegel hat in den drei Verhaltensweisen des modernen Individuums sowohl die Zeichen der ,neueren Zeit' als auch die Spuren von etwas ElementarKontinuierlichen aufzuzeigen versucht, was zwar in sich zurückgezogen, aber in den

144

Erzsébet Rózsa

Erscheinungen' der .selbstständig' gewordenen .Formen' dennoch zu erkennen ist. Diese .Erscheinungen' weisen auf die zurückgebliebenen Spuren einer untergegangenen, aber im gewissen Sinne nie vollkommen vernichtbaren Welt von Europa hin, die nach Hegel eine normgebende Funktion auch für die Moderne bewahren soll. Somit können sich Vergangenheit und Gegenwart, Verborgenes und Erscheinendes auch in den Verhaltensweisen ,unserer Zeiten' berühren, weil und wenn es die Individuen sind, die dieses Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart vergegenwärtigen auf ihre besondere Weise, die Hegel in den drei Verhaltensweisen zu beschreiben und modellieren versucht hat.33 Die rekapitulierten Verhaltensweisen können dabei auch als »Praktiken' interpretiert werden, die aber von Hegels systematisch-theoretischer Auffassung der Individualität nicht abzulösen sind. -

W. Marx hat recht, wenn er in Husserls Lebenswelt eine Entgegensetzung zu der Position des absoluten Wissens sieht. Aber wenn man Hegels Phänomenologie nur im Horizont des absoluten Wissens interpretiert, läßt man wichtige und bis heute aktuelle Gedanken Hegels einfach beiseite. Die hier thematisierten Verhaltensweisen und die Lebenswelten der Individuen in ihrem geschichtlich-kulturellen Kontext weisen demgegenüber auch eine gedankliche Verwandtschaft mit Husserls Lebenswelt auf. Siehe Werner Marx (Anm. 24), 121.

Patience Moll

The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy

In his explanatory foreword to Miller's English translation of Hegel's Phänomenologie des Geistes, J. N. Findlay acknowledges that while it may seem that the master-servant dialectic should end with universal, active recognition and cooperation among selfconscious, liberated subjects, in fact it cannot; this state must remain ideal at this point because, as he puts it, the reality of „interpersonal existence" does not conform to it. Findlay writes somewhat cryptically that „the world is not as yet so arranged that all can be servants and thus also lords to one another" in order to explain why the selfconsciousness which results from this dialectic proceeds to withdraw from the world of interpersonal existence to make its own painful journey through stoicism, skepticism, and unhappy consciousness. Jean Hyppolite, in a manner similar to Findlay's, ends his own account of the master-servant dialectic with the statement that „the stoic's freedom will be only an ideal freedom, and not an actual, living freedom. Many other developments will be necessary for self-consciousness to realize itself Both of these accounts defer the question of why the dialectic of the master-servant relation ends with the retreat of a single self-consciousness into itself and away from the interpersonal dynamics which characterized the formation of self-consciousness; both thereby defer answering the question of whether or not, and why or why not, actual, universal freedom would ever be possible. These questions were taken up by Judith Butler in a chapter entitled „Stubborn Attachment, Bodily Subjection: Rereading Hegel on the Unhappy Consciousness".3 Butler proposes that the failure of the master-servant dialectic to result immediately in universal freedom has been ignored by a tradition of Hegel scholarship motivated by „progressive political visions", and drawn primarily to the liberationist narrative legible

completely".2

Hegel's Phenomenology of Spirit, Oxford 1977, xvii. Jean Hyppolite, Genèse et Structure de la Phénoménologie p. 171. Judith Butler, The Psychic Life

ofPower:

de

l'Esprit

de

Hegel,

Theories in Subjection, Stanford 1997.

Paris 1946,

Patience Moll

146

(31). Given the more prevalent dystopic mood of today, she suggests, it is now timely why that dialectic ends in the self-enslavement characterizing stoicism, and above all, for her purposes, the unhappy consciousness. Butler's interskepticism, rogation of this latter moment is very helpful and suggestive for understanding how self-enslavement, or internalized .subjection' might be a permanent condition which has to be acknowledged before one can even think of how to engage in effective political action; however, her thesis that the Phenomenology of Spirit ultimately disavows the ,bodily subjection' acknowledged by the chapter on the freedom of self-consciousness, is undercut by her concluding description of the transition of self-consciousness to spirit, insofar as that description barely acknowledges the lengthy, intermediary stage of ,reason' which, according to Hegel's narrative, self-consciousness has to experience before actually becoming „spirit" (53). In itself, Butler's elliptical description of the transition of self-consciousness to spirit, according to which spirit appears, before reason', in the chapter on the unhappy consciousness in the form of the priest, might not be so remarkable. But it becomes more suspicious when read in juxtaposition to her opening claim that there is virtually no direct philosophical reflection on ,bodies' in the Phewithin it

to ask

nomenology, and in the context of her overall thesis that it is precisely a disavowal of the individual's body that effects the transition from unhappy consciousness to communal spirit. Together, the focus on Hegel's disavowal of the body, and the virtual foreclosure of the significance of what Hegel calls ,reason' to the evolution of selfconsciousness into spirit, are remarkable bookends to her essay, since observing reason', the lengthy and difficult first chapter of reason, stages a philosophical, if at first naive, reflection on the observation of bodies inorganic, organic, and finally, in the ,

-

last moment, human. The title of this concluding moment of the dialectic of observing reason is „Observation of the relation of self-consciousness to its immediate actuality. Physiognomy and Phrenology (Beobachtung der Beziehung des Selbstbewußtseins auf seine unmittelbare Wirklichkeit. Physiognomik und Schädellehre)";4 what takes place in it can be described as a direct philosophical reflection on the body, insofar as this philosophical Betrachtung of the physiognomic Beobachtung of the body alludes to Lavaterian physiognomy in order to develop a lengthy discussion of the corporeality of the immediate actuality' of self-consciousness. The problem with physiognomy and phrenology is, in short, that they look for the immediate actuality of self-consciousness in „sensuous being (sinnliches Sein)" (187); what we have to learn from them is how, to the contrary, the so-called „sensuous being" or „body (Leib)" of self-consciousness appears not as being, but as actuality, or Wirklichkeit, and what this means. The task for observing reason is to learn how to think immediacy as actuality rather than as being; it must learn to ,

G. W. F. Hegel: „Phänomenologie des Geistes", in Theorie Werkausgabe, hg. v. E. Moldenhauer/K. M Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 3. All translations are my own. The term appears intermittently throughout the chapter. See for example ibid., 233, 234, 259. -

The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy

147

think the apparently immediate as the effect the Wirkung or wirken of something prior and unapparent. The paradoxical nature of the human body makes it an appropriate object for this lesson, since it never appears as mere sensuous being, but only as a sign; it partakes of being, as the individual's ,Nichtgetanhaben', but it also only ever appears as the individual's It is very important, for the phenomenologist, that the physiognomist realize the truth about his ,science' and learn to think the immediacy of self-consciousness as actuality. In spite of a tendency among critics to dismiss the discussion of physiognomy and phrenology as a kind of material waste of the Phenomenology, included in Hegel's haste as an attempt to address a contemporary fad, the coherency of the entire phenomenological project rests on its implied thesis that the physiognomist recognize that his work is „bad [...] and unholy (schlecht [...] und heillos)" (236), and thereby evolve into a self-conscious, ethically motivated subject. The discussion of physiognomy and phrenology marks the place at which the ,observing' reason born out of unhappy consciousness is supposed to turn into ,active' reason, or self-actualizing self-consciousness; this turn from observation to action, theory to practice, links self-consciousness to the ethical world. The unhappy consciousness, in its relation to the priest, does not straight-away become spirit precisely because this relation is characterized by an unconscious mimicking of the priest which understands neither the consequences nor the basis of what it By placing belief in the priest and the religious community, the unhappy consciousness enacts an universal will through the abnegation of its own particular will, without completely understanding what it is doing; it thereby acts, and actualizes the This action is on the one hand effective; it contributes to universal, without the perpetuation of a community. But it is also dangerously passive; the unhappy consciousness apparently would belong to any community whatsoever as a means of assuaging its own existential pain precisely through relinquishing its own responsibility. The relation of the unhappy consciousness to the priest, though it takes place within and as a community, does not serve as a transition from self-consciousness to spirit for Hegel, because the individual consciousness must still grasp what it is doing. The unhappy consciousness may be both self-conscious and active, but it does not engage in -

-

expression.6

says.9

knowing.1

„Dies Sein, der Leib der bestimmten Individualität, ist die Ursprünglichkeit derselben, ihr Nichtgetanhaben. Aber indem das Individuum zugleich nur ist, was es getan hat, so ist sein Leib auch der von ihm hervorgebrachte Ausdruck seiner selbst". Ibid., 233.

E. g. Findlay, who describes it as „a repulsively long discussion of the crude physiognomic speculations of Lavater and the phrenological fantasies of Gall". J.N. Findlay: Hegel's Phenomenology of Spirit (Anm. 1), xix. In the second chapter of reason, „Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußteins durch sich selbst" Hegel, Phänomenologie des Geistes (Anm. 4), 263-291. See the introductory paragraph of the chapter on reason. Ibid., 178. See the concluding paragraph of „Freedom of self-consciousness". Ibid., 176 f.

Patience Moll

148

self-conscious activity; it must do so, and become „individuality real in and for itself, as the final chapter of reason is called, before it can become spirit. As the Phenomenology's actual articulation of knowledge and action, the chapter on physiognomy can be described as Hegel's attempt to fulfill the dream of German systematic philosophy. The success of such a performance is presumed by the philosopher's claim, discussed in the introduction and enacted throughout the work, to both distinguish himself from the active consciousness which he observes or contemplates (betrachtet), as well as identify with that consciousness, and know the meaning of what it does. In the introduction to the work, this dual role of the philosopher is held together by a dual use of the word Betrachtung, as for example in the following sentence: „The observation of the matter is our contribution, by which the series of the experiences of consciousness is raised to a scientific whole, but which does not appear to the consciousness we are observing (Diese Betrachtung der Sache ist unsere Zutat, wodurch sich die Reihe der Erfahrungen des Bewußtseins zum wissenschaftlichen Gange erhebt und welche nicht für das Bewußtsein ist, das wir betrachten" (79, emphasis added). The use of the one word to designate two relations and two kinds of activity makes it unclear exactly how active or passive the phenomenologist is supposed to be in relation to the consciousness he .observes'. That it is the passivity implied by the metaphor of looking that Hegel wants to stress here in order to ascribe a truth-value to his project, is implied by his claim a few pages earlier that philosophical Betrachtung should be characterized by our leaving aside all of ,our' thoughts, and that our activity should be characterized

by a „pure looking on (reine Zusehen)" (77). Like phenomenological Betrachtung, physiognomic Beobachtung is described as a conscious, interpretive relation to an appearing shape (Gestalt);11 however, while the introduction stresses the passivity of the phenomenologist's ,pure looking on', the discussion of physiognomy rejects the idea that such pure observation is possible, especially and above all when one is confronted by a figure of spirit. It is precisely the pretense to command such purity of vision that characterizes physiognomy as one of the worst (schlechteste) moments of reason (258). The physiognomist appears in the Phenomenology as the „bad [...] and unholy" version of the phenomenologist, and the narrative of the transformation of the impotently beobachtende physiognomist into the effective individual can be read as an allegory of the transformation of the merely betrachtenden phenomenologist into a truly effective philosopher, a transformation which would ensure the truth-value of the Phenomenology as a whole and of the phenomenological method. However, the fact that the physiognomist himself remains blind to this transformation such that his proper outcome is a „box on the ear" (242) helps to explain why this allegory is not an easy read, and suggests that the articulation of -

-

The term appears throughout the discussion of physiognomy, as a synonym for the appearing and signifying body. See for example ibid., 233 f., 236 (where physiognomy is described as the Betrachtung of a Gestalt), 240, 243. -

The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy

149

knowledge and action ultimately cannot be ensured by the unifying, narrative function of phenomenology; perhaps the logos of the Phenomenology of Spirit indicates an articulation of knowledge and action which is other than narrative unification. The high stakes of the chapter on physiognomy are also indicated by Hyppolite's claim, hidden in a footnote at the end of a chapter in Genèse et Structure, that individuality is „the central problem of Hegelianism", since the transition from psychology to physiognomy is introduced as reason's turn to observe not the body, or the individual body -, but „the peculiar determinateness of real individuality (die eigentümliche Bestimmtheit der realen Individualität)". (233) As Hyppolite's claim suggests, individuality for Hegel is not so much a concept as a problem, not so much a figure within, as the horizon of his phenomenology, insofar as throughout the book it is used to designate the ,activity' which links consciousness, the universal, and the absolute, and which prevents them from becoming separate, as they did in the philosophical systems of his contemporaries.13 Since Hegel introduces this chapter as observation's turn or transition to the „object" of individuality, it would seem that his aim here is to present individuality as a figure which could successfully articulate observation and action. However, individuality is almost never described in terms that would allow one to call it a ,figure'. Throughout the discussion of observing reason in the pages leading up to the chapter on physiognomy, in the discussions of philosophical idealism, the study of inorganic nature, of organic nature, and the establishment of psychology, the terms die Individualität, das Individuum, and die Einzelheit are used to designate a kind of blurry asymptote of rational certainty. They are invoked repeatedly to indicate the activity which motivates (or which is) observing reason, but which observing reason nevertheless is unable to observe directly; in its attempt to observe itself in things, by representing the world according to universal law, observing reason always fails to find what it is looking for, namely itself, or itself looking. However, it does catch glimpses of itself escaping its own systems of representation, and gradually learns to call that escaping individuality'. In this chapter, individuality is almost never described as an entity, being, form, or as an identifiable figure in any way. And when it is not used simply to designate spiritual movement, individuality tends to be described in terms of an irreducibly externalized relation of alterity, in which one individual points to another. -

„Le problème de VIndividualité est le problème central de l'Hégélianisme. L'esprit n'est pas V Universel abstrait, il est individuel (esprit d'un grand homme, esprit d'un peuple, esprit d'une

religion, etc.).

Mais

s'efforce de saisir l'Individualité comme négation de la négation, particularité". J. Hyppolite, Genèse et Structure (Anm. 2), 53 As Hyppolite puts it, ,,[c]et effort pour rassembler l'universel et le particulier dans l'individualité spirituelle est ce qui fait l'intérêt de l'hégélianisme, et dans l'hégélianisme, de la Phénoménologie". Ibid., 52. „[Die Individualität] ist der Gegenstand, der jetzt der Beobachtung geworden oder zu dem sie übergeht". Hegel, Phänomenologie des Geistes (Anm. 4), 233

Hegel

mouvement pour surmonter

sa

150

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The very first sentence of the chapter on reason announces that consciousness, as reason, has grasped that singular consciousness is in itself absolute essence (das einzelne Bewußtsein an sich absolutes Wesen ist)". (178) In the discussion of philosophical idealism in the introduction to the chapter, Hegel uses singularity (Einzelheit)' to designate the movement both inherent in and disruptive to categorial thought, the „transition of the category from its concept to an external reality", a movement he describes as „the pointing to another (das Hindeuten auf ein Anderes)". (183) In the ensuing discussion of natural science, ,the individual' is used to designate that in organic nature which actively „maintains itself in its relation to another (im Verhältnisse zu anderem sich zu erhalten)" (190); this is the animal which separates itself both from others and from the universal with its ,weapons', or claws and teeth, and which thereby stands in distinction from the passive plant, on the opposite side of what Hegel calls the „border of individuality (die Grenze der Individualität)" (190).15 Individuality designates the movement of the living organism both away from the universal and away from other individual, living organisms: an animal is an individual; a plant, on account of its immobility, is not. The use of both individuality' and singularity' to designate the principle of pure action within the organic is continued throughout the lengthy discussion of the observation of nature, though gradually ,the individual' tends to be associated with purposeful activity, with singularity' designating activity as such. The terms appear in the second chapter of observing reason, on logical and psychological law, where Einzelheit' is used to introduce „thought in itself, the abstract movement of the negative" (227), and where the transition to psychology begins with the identification of the „principle of individuality" and „active consciousness". (229) Because psychology tries and fails to conceive individuality as an entity, distinct from its external environment, it evolves into physiognomy, which seeks individuality in a more ,immediate' form. Physiognomy, however, will also fail because like psychology, it persists in attempting to represent individuality as a static entity, as simple being rather than as what Hegel calls ,actuality'. On the one hand, the chapter on observing reason associates individuality' with a relation of externalized alterity, while on the other hand ,the individual' is associated with purposeful activity and with observing reason's turn away from nature and toward spirit. For Hegel, the experience of externalized alterity is essential to reason's becoming aware of purpose or Zweck as such. The experience of externalized alterity is therefore essential to reason's becoming actually purposive, to its reaching the endpoint of the chapter, at which it stops looking for itself in things, and is finally able to „produce itself through its activity (durch seine Tätigkeit sich selbst hervorbringen)", and become „itself the end of its own action (Es selbst [ist] sich der Zweck seines Tuns)". (261) This suggests that the politically impotent, unhappy consciousness has to experience the It is at this border that ,the division of sexes appears' as well. Cf. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Anm. 4), e. g. 201 ff.

The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy

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priest's counsel precisely as the counsel of an external other, in order to conceive itself as the product of and as responsible for its own activity. Altough it is difficult to see exactly how, in Hegel's text, the experience of alterity produces the concept of purposiveness, it is clear that this must happen if it is to succeed at presenting a spiritual teleology which does not remain relegated to a Kantian beyond. There is a difference between knowing that purpose exists, and actually having a purpose oneself. According to the concluding summary at the end of the chapter on observing reason, reason moves toward conceiving itself as essentially purposive, by first observing purpose in the natural organism. The natural scientist's observation of purposiveness in the natural organism does not lead immediately to observing reason's seeking to produce itself rather than look for itself in nature; but it does effect a move away from the study of nature to a study of purposiveness, in the form of psychology. Hegel's description of this transition is not easy to follow, but it is clear that it requires a relation between two individuals, one of which displays purpose and one of which sees purpose displayed by the other. The very appearance of purpose as such is simply presented here in syntactical juxtaposition to the appearance of a relation of external alterity; and it is out of this juxtaposition that spirit appears: „The organic process is free in itself, but not for itself; the being-for-self of its freedom appears in purpose, exists as another essence, as a wisdom conscious of itself, and which is outside ofthat organic process. Observing reason thus turns to this, to spirit, to the concept existing as universality, to purpose existing as purpose; and henceforth its own essence is the object" (258, emphasis added).17 The turn of observing reason from a study of ,nature' to a study of .purpose' occurs in this sentence as the simultaneity of the appearance or entrance (Eintritt) of .purpose', and the appearance of a relation of externality -„[...] the being-for-self of its freedom appears in purpose, exists as another essence [...]". The natural organism displays purpose, but is not, apparently, conscious of purpose as such; on the other side, observing reason sees purpose in the organism at the same time that it has no access to the organism's reflection on its purpose. The truth about the failure of psychology and physiognomy is therefore that they try to represent purpose in the form of being, psychology in the form of the distinct individual which is the effect of its environment, physiognomy in the form of the human body, which is taken to represent an individual's character, his or her „innerpossibility, capacity or intention (innere Möglichkeit, Fähigkeit oder Absicht)". (243) The critique of physiognomy is largely directed at a deconstruction of its inside-outside rhetoric and its application of observing reason's belief that „the outer is the expression of the inner" (202) to human individuality. Hegel argues that this rhetoric is not only self-refuting nur frei an sich, ist es aber nicht für sich selbst; im Zwecke tritt das Fürsichsein seiner Freiheit ein, existiert als ein anderes Wesen, als eine ihrer selbst bewußte Weisheit, die außer jenem ist. Die beobachtende Vernunft wendet sich also an diese, an den Geist, den als Allgemeinheit existierenden Begriff oder als Zweck existierenden Zweck; und ihr eigenes Wesen ist ihr nunmehr der Gegenstand". Ibid., 258.

„Der organische Prozeß ist

Patience Moll

152

(235), but also especially reprehensible for denying the existence of the will. His

gen-

individuality does not appear in sensuous being, but rather appears in and as „the will and the deed (in den Willen und in die Tat)". (240) However, the ensuing description of the relation of ,the individual' to ,the deed' inevitably reinscribes the rhetoric of an inside and an outside, of an inner „essence" (240) and its outer appearance; and in the long, final paragraph of the discussion of physiognomy (242244) Hegel acknowledges that the deed does not so much manifest the individual, as serve as the lesser of two evils, or „perverse"18 ways in which individuality appears: „The individual man in fact does not appear in the deed as spirit; [...] but if [...] his twofold being of form and deed are contrasted, with each claiming to be his actuality, then it is rather only the deed that should be maintained as his genuine being" (243).1 And only a particular kind of deed is meant here: the deed is the preferred means of representing individuality only if it endures through, as opposed to vanishing within time: „What makes a deed, is precisely whether it is an actual being which endures (fDJen Charakter der Tat macht eben dies aus, ob sie ein wirkliches Sein ist, das sich hält)," as opposed to that which „fades away into nothing (in sich nichtig vergeht)". (243) Hegel's acknowledgement that .the deed' serves as a kind of stopgap measure for arresting and grasping individuality, and his description of the deed in terms which echo the physiognomic project of arresting individuality in the static form of the drawn body, both suggest that the obvious and relatively simple narrative of this chapter, which replaces the passivity of the physiognomic patient with an active spirit, may not be the main point here. Though Hegel does away with psychology very quickly (within six pages, compared to the thirty-nine devoted to the observation of nature) the discussion of physiognomy and phrenology, at thirty pages, is surprisingly and notoriously as Findlay puts its, perhaps even ,repulsively' long. The discussion of physiognomy is long because it addresses not only Lavater's project, but also explicitly reflects on the implications of the earlier, more subtle association of individuality' with the experience of externalized alterity. The relation of the observer to the purposeful but mute animal is restaged in this discussion at great length, in terms of a relation between an observer and a human body, or an „individual's language (eine Sprache des Individuums)". (259) The dramatic situation implied by physiognomy, that of an interpreter and a face, allows Hegel to conceive „spiritual individuality (geistige Individualität)" (245) in terms of a eral thesis

seems

to be that

-

-

-

-

relation which

can

be described

as

both material and

intersubjective.20 The „relation of

„Die Individualität, die sich dem gegenständlichen Elemente anvertraut, indem sie zum Werke wird, gibt sich damit wohl dem preis, verändert and verkehrt zu sein". Ibid., 243. „[Der individuelle Mensch] ist zwar darin [in der Tat] nicht als Geist gesetzt; [...] aber indem [...] das gedoppelte Sein, der Gestalt und der Tat, sich gegenübersteht und jene wie diese seine Wirklichkeit sein soll, so ist vielmehr nur die Tat als sein echtes Sein zu behaupten". This poses a challenge to Hyppolite's claim that the „presupposition [of intersubjectivity] seems forgotten in the phenomenology of reason" (GS 314), a claim not unrelated to the fact that his

The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy

153

self-consciousness to its immediate actuality" named in the title turns out to be not the relation of a self-consciousness to its own body, but the relation of a self-consciousness to the immediate actuality of the bodies of other self-consciousness individuals facing it. The immediate actuality proper to self-consciousness is not ,its own' body, but rather this appearance of the bodies of others which in their appearance require its active interpretation. The immediate actuality of self-consciousness is a necessary act of inter-

pretation.

Like the animal, and like the sign as such21 which Hegel identifies with „the body"22 the human individual displays purpose, intentionality, or meaning. And, just as the animal did not display consciousness of purpose, or self-consciousness, so too this speaking individual does not manifest what its purpose is. However, there is a significant difference between what the animal indicates and what the human indicates. The fact that throughout the chapter Hegel uses so many different terms to describe the figure appearing to the physiognomist body, face, countenance, gesture, and so on indicates that what is significant about this appearance is not its being but its status as a particular way of indicating. Thus, the ,human body', this ,speaking individual', in distinction from the animal, indicates an indeterminate purpose. The human body appears as self-consciousness it's up to something but we can never know what it's really up to nor could it ever tell us.23 On the other hand, while the animal indicates purpose as such, the human body indicates indeterminate purpose as well as a distinct alterity: like a post erected on a desert island, it indicates that someone else, or „something other" is there. (251) The appearance of indeterminate purpose in observing reason's turn to individuality', a turn described as „being-for-another" (234), „being-for-others" (237) and „existing-for-another (Dasein für Anderes)" (250), causes a crisis for the observing consciousness. The appearance of indeterminate purpose in the form of ,the individual' accounts for the inaccessibility of meaning, irresolvable social confusion, lying, human error in general (235), violence (242), murder (256-257), and for the impossibility of making individual self-consciousness appear at all (241). In the concluding summary of the chapter, physiognomy is described as one alternative of a back and forth movement, or a „comparison (Vergleichung)" between a body that moves and indicates and a body that is frozen, drawn and framed, and to which a definite meaning is ascribed. In this -

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summary of the chapter on reason does not actually address how observing reason becomes active. J. Hyppolite, Genèse et Structure (Anm. 2), 314. Cf. Hegel's definition of the sign: „Miene und Gebärde, Ton, auch eine Säule, ein Pfahl, der auf einer öden Insel eingeschlagen ist, kündigen sich sogleich an, daß noch irgend etwas anderes damit gemeint ist als das, was sie unmittelbar nur sind. Sie geben sich selbst sogleich für Zeichen aus, indem sie eine Bestimmtheit an ihnen haben, welche auf etwas anderes dadurch hinweist, daß sie ihnen nicht eigentümlich angehört". Hegel, Phänomenologie des Geistes (Anm. 4), 251. ,,[I]ndem das Individuum [...] nur ist was es getan hat, so ist sein Leib [...] zugleich ein Zeichen". Ibid., 233. „Denn [...] das einzelne Selbstbewußtsein ist als gemeintes Sein unaussprechlich". Ibid., 241.

Patience Moll

154

physiognomy represents a movement away from ,the immediate actuality of self-consciousness', from the body as the site of an intersubjective encounter, to a position from which the observing consciousness can freeze the moving body in a frame, and ascribe to it a fixed significance. As this aestheticizing movement, physiognomy does not originate directly out of psychology and natural science, but appears as a reaction to what Hegel calls „this changeable language"24 of the immediate actuality of social existence. Physiognomy thus is not, or not only, the symptom of observing reason, afraid to descend into its own depths (187), but at the same time the symptom of an existential, interpersonal crisis of interpretation and of consciousness' inability to look at the appearing other without resorting to an artistic technique of freezing its temporality. Physiognomy reacts to the immediate actuality of self-consciousness by positing the possibility, capacity and intentions of the other in a fictional and capricious manner. Apparently, physiognomy is ,bad' because it willfully passes off these capricious associations as necessary law. However, the context of the overall dialectical progression suggests that the real ,badness' of physiognomy lies elsewhere. Given that the objective here is to get reason to start producing itself by not only conceiving ,purpose' as such, but also by conceiving a particular purpose for itself, the problem with the physiognomist would appear to be not so much that he focuses on possibility and intention instead of action, but that he focuses on the imaginary possibility in the silent, appearing other, so that he does not have to imagine a possibility for himself. By freezing the other in time, he avoids having to freeze himself in a determined possibility, or Zweck. Physiognomy is itself so „pointless",25 that what its author deserves is a box on the ear (eine Ohrfeige) (242); likewise the proper outcome of phrenology is to have the phrenologist's skull bashed in (256-257) so much for the „pure looking on" recommended in the introduction. These responses are in this case „appropriate (treffend)", Hegel writes, because they refute the primary assumptions of these „sciences", namely that „the actuality of a man is his face and so forth (die Wirklichkeit des Menschen sein Gesicht usf.)". (242) They refute that assumption because the supposedly passive individual being observed by the physiognomist, for example, comes alive and disrupts the physiognomist's opinions by acting. And yet, the action being described here is meaningful only to the extent that it simultaneously proves that a man nevertheless actually ¿s his face (or skull): the point of the joke is that the physiognomist and phrenologist would be actually affected by the violence inflicted on them only because ,the actuality of a man is his face and so forth'. In other words, in these joking asides about what really should be done with these charlatans, Hegel attests to the actuality of the situation of which they are symptoms. The jokes proclaim that the epistemological predicament context,

-

„Von dieser wandelbaren Sprache geht darum die Beobachtung endlich Ibid., 259. „End- und Bodenloses" Ibid., 242.

zum

festen Sein zurück".

155

The Purposive Purposelessness of Hegel's Physiognomy

of ,being-for-others' cannot be overcome, because in fact individuality cannot „lay aside its face just as it can lay aside a mask (ebensowohl ihr Gesicht als ihre Maske [...] ablegen kann)" as he writes in a more earnest and idealistic tone a few pages earlier

(240). On the other hand these jokes also indicate that observing reason will overcome, „abandon, and jump over itself, as it „must",26 through the event of an actual conflict between differing viewpoints. And in fact, before this imperative is declared, observing reason does move beyond itself only when Hegel posits another viewpoint to confront, contradict and conflict with it. What matters here is not the resolution of the particular conflict, so much that a conflict actually occur. Thus for example, individuality literally becomes active in this passage, it wakes up and actually, actively „places its essence in work (legt ihr Wesen in das Werk)", and in that act of placement thereby actively „contradicts [...] the rational instinct". In order to describe the truly, essentially active aspect of the observed individual, and thereby articulate theory and action within a dialectical narrative of consciousness-becoming-spirit, Hegel has to introduce into that narrative another, third „viewpoint (Gesichtspunkt)" (240) which belongs neither to the figure of consciousness being observed, nor to the contemplating philosopher; he calls this viewpoint the ,practical' as opposed to the theoretical viewpoint of observing reason. This practical viewpoint, or „practical consciousness (praktische Bewußtsein)" (240) demonstrates observing reason's radical separation between theory and practice simply by entering into conflict with it. It is this other viewpoint, this new character in the dialectic, that will later perform the conflict more dramatically by responding to physiognomy and phrenology in the manner appropriate' to them. And the figure with which ,we' were originally concerned, that of the physiognomist, becomes .active' only insofar as it is brought into this conflict. The Phenomenology''s articulation of theory and practice does not take place systematically, but instead is indicated as the ongoing negotiation of ethical conflict between actually appearing self-conscious individuals. This conflict can be called a negotiation, and ethical, because for Hegel it is what produces self-conscious activity. But if observing reason becomes active through its experience of conflict, how is this conflict supposed to produce meaning? How is observing reason supposed to move from imagining the possibilities of others to becoming self-productive? At the end of the chapter, Hegel makes use of a simile to describe the conversion of the other's indeterminate purpose into the determined purpose necessary to spirit's self-production. The „reversal (Umkehrung)" (258) and jump' of observing reason into acting reason is compared to the situation of the Jews, who are said to actually „make a higher existence possible for themselves (macht sich [...] ein höheres Dasein möglich)" through the experience of god's alienation (Entäußerung). This is because „spirit is all the greater, the greater the

(240)27

„die beobachtende Vernunft [...] sich selbst verlassen und sich Hierin ,widerspricht sie dem [...] Vernunftinstinkte'.

überschlagen muß". Ibid., 257.

Patience Moll

156

opposition from which it has returned into itself (der Geist um so größer ist, aus je größerem Gegensatze er in sich zurückkehrt)". (257) Just as it is the very power or greatness of the alienation which, according to Hegel, accounts for the reversal of the Jews from dejection to a belief which actually ,makes' a higher existence possible, so it is the infinite inaccessibility of the other's intentions that enables observing reason to turn around and jump into its own self-production, as active spirit. Self-conscious activity, .individuality real in and for itself, requires the subject's recuperation of the lost individual facing it, in a determined fiction of its own future possibility; what is preserved in such a recuperation is the fictional status of the other's intentions, along with the ,great', positional potential ofthat status. The teleology of spirit appears here as a necessary fiction or fictioning, which is described later as the imperative of reason's active „production (Hervorbringung)" of itself (261); this self-production inevitably borrows its content from the immediate actuality of social relations the self is ,brought forth' from their alienation -, and also immediately, actually impacts them. The priority of the actual intersubjective relation, of being-for-others, makes a society of distinct, free individuals an abstract ideal, but also makes the possibility of actual freedom dependent on the labor of social interpretation. Since failure is inherent in this necessary work, it takes place alongside, and is always already motivated by the fantastic conversion of loss which Hegel himself imagines in the Phenomenology with the figure of ,the Jewish people'. The actual intersubjectivity of what we call individuality prevents a dialectical realization of universal freedom and recognition occuring in narrative form; but it is also because of the intersubjectivity of individuality that universal freedom and recognition is only actually possible as the ongoing work of dialectical -

confrontation from which all narrative arises.

IV. Geist / absoluter Geist

Reinhard Mehring

Unrechtserfahrungen im Recht Zum phänomenologischen Blick auf 'Die Sittlichkeit'

I. Zur Fragestellung: die didaktische

der

.Phänomenologie des Geistes'

Eigenart und Perspektivik

in ihren systematischen Bestimmungen studieren ist auf die Grundlinien der möchte, Philosophie des Rechts verwiesen, die breit entfalten, was Hegel in den verschiedenen Fassungen seiner Enzyklopädie seit der Nürnberger Zeit als ,objektiven Geist' beschreibt.1 Wer dieses Pensum mit der Jenaer Phänomenologie des Geistes (PdG) vergleichen will, sollte die Eigenart der PdG im System der Wissenschaft' herausarbeiten. Sie bringt den didaktisch-kritischen der Jenaer Schriften zu einem Abschluß, die alle, soweit Hegel sie publizierte, eine vorbereitende Aufgabe haben. Die philosophische Kritik', die er damals forderte, diente ausdrücklich Wer

Hegels praktische Philosophie

,

Zug2

Eindrucksvolle Gesamtdeutung bei Herbert Schnädelbach: Hegel zur Einführung, Hamburg 1999; ders.: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt/M. 2000 (dazu Rez. Verf. in Philosophischer Literaturanzeiger 55, 2002, 9-15) ; Hegel wird hier zitiert nach der Theorie Werkausgabe, hg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt/M. 1970. Der didaktische Zug des Hegeischen Werkes insgesamt wird kaum gesehen, weil dessen absolute' Perspektive heute kaum nachvollziehbar scheint. Hegel allerdings sah das ganz anders (dazu schon Gerhart Schmidt, Hegel in Nürnberg. Zum Problem der philosophischen Propädeutik, Tübingen 1960; breiter angelegt: Otto Pöggeler: „Hegels Bildungskonzeption im geschichtlichen Zusammenhang", in Hegel-Studien 15, 1980, 241-269). Er war davon überzeugt, daß seine Dialektik nicht weniger didaktisch verständlich sei als etwa die Platonische. Er legte auch nicht nur sein gesamtes Jenaer Werk didaktisch zur ,Wegbereitung' des Systems an, sondern wirkte später als Gymnasialdirektor in Nürnberg auch in besonderer Weise pädagogisch. So wurde Hegel durch seine Gutachten zu einem Vater der neueren Philosophiedidaktik. Nach seiner Wissenschaft der Logik publizierte er nur noch didaktische Monographien als Grundriß ,zum Gebrauch' für seine Vorlesungen. Sein letztes monographisches Projekt, die Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, hat ebenfalls einen didaktischen Sinn. Hegel sah seine philosophischen Aufgaben nach seiner Wissenschaft der Logik, getreu der Ankündigung der PdG, eigentlich für vollendet an. ,

160

Reinhard Mehring

der „Wegbereitung für den Einzug wahrer Philosophie". (II, 185) Die Abhandlung Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts trägt diesen methodolo-

nur

gischen Sinn schon im Titel. Hegel führte seinen Vernunftstandpunkt spekulativer und ,absoluter' Begründung zunächst kritisch vor, ohne ihn schon in Publikationen systematisch zu entfalten. Ähnliches gilt für seine anderen Jenaer Schriften. Damals entwickelte Hegel sein System bereits in Vorlesungen und Manuskripten. Die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Jenaer Philosophie erfolgte in den letzten Jahren in der Absicht auf historisch-philologische Rekonstruktion und entwicklungsgeschichtliche Einordnung einerseits, auf der Suche nach einer philosophischen Alternative zum ausgearbeiteten metaphysischen System andererseits. Im Horizont der Marxismusdebatten und im Zuge einer anerkennungstheoretischen, intersubjektivistischen Umschrift entstand die Frage nach einem originären Jenaer Hegel? Sie war teilweise auch von der bei Heidegger wie Henrich zu findenden hermeneutischen Maxime geleitet, initiale Einsichten gegen die spätere systemphilosophische Ausarbeitung abzuheben. Bestanden begründete Zweifel an der Aktualität der Systemphilosophie innerhalb des heutigen, sprachphilosophisch aufgeklärten und intersubjektivistischen Paradigmas,4 so versprach die Jenaer Philosophie eine Alternative.5 Wie verhält sich die PdG zum Jenaer System? Bringt sie einen originären Jenaer Ansatz zu einem Abschluß, oder ist sie als Einleitung in das spätere System' zu lesen? Gibt es hier überhaupt eine Spannung? Könnte ihre Aktualität gerade darin bestehen, daß sie als Einleitung in das System eine originäre Fragestellung und Perspektive entwickelt, die heute, im Zweifel an der spekulativen' Begründungsfigur, eigenes systematisches Interesse verdient? Die Rezeption der Hegeischen Philosophie schied sich stets an der Differenz zwischen der PdG und der Wissenschaft der Logik. Wer die spekulative Begründungsfigur akzeptierte, rezipierte vor allem die spätere Systemphilosophie. Wer dagegen der Perspektive des ,absoluten Wissens' nicht folgte, las die PdG als eine philosophisch anregende positive Geistesgeschichte, ohne ihr Beweisziel und Resultat des ,absoluten Wissens' zu übernehmen. Der folgende Beitrag sucht die Eigenart und Aktualität von Hegels Idee einer .Phänomenologie' in ihrer Unterscheidung vom später ausgeführten Systemansatz zu rekonstruieren. Innerhalb der Jenaer Schriften führt die PdG den Gesichtspunkt eines ,absoluten Wissens' didaktisch ein: Sie präsentiert die spekulative' Begründungsfigur aus der Perspektive des .natürlichen Bewußt-

-

Vgl. dazu H. Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie (Anm. 1), 155 ff. Vgl. dazu Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1988; Engführung auf die politische Philosophie bei Sergio Dellavalle: Freiheit und Intersubjektivität. Zur historischen Einordnung von Hegels geschichtsphilosophischen und politischen Auffassungen, Berlin 1998. Vgl. dazu Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992; ders.: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegeischen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001; Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit bei Hegel, Frankfurt/M. 1996. Vgl. dazu Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 19302.

Unrechtserfahrungen im Recht

161

seins ', das sich gegen die Annahme eines absoluten Wissens sträubt. Diese Eigenart des Ansatzes einer Phänomenologie soll herausgearbeitet und exemplarisch verdeutlicht '

,

werden. Die Exemplifizierung betrifft vor allem den Abschnitt ,Der wahre Geist. Die Sittlichkeit'. Die Eigenart der PdG wird dabei in zwei Richtungen pointiert: Einerseits wird sie gegen frühere Behandlungen des ,Naturrechts' abgesetzt, andererseits als mögliches Forschungsvorhaben umrissen, wie es heute durchzuführen wäre. Zielsetzung ist es, den eigenartigen Blick auf das Naturrecht, den Hegel hier skizziert, zu profilieren.7

II. Politische Problemsicht und naturrechtlicher

Staatsbegriff

Von Hause aus ist Hegel Theologe. Seine theologischen' Jugendschriften gelten sachlich aber auch dem Problem der politischen Einheitsbildung. Hegel war von den ersten Frühschriften an intensiv an Politik interessiert.8 Die philosophische Fundamentierung der ,Staatswissenschaft'9 faßte er früh schon als wichtige Aufgabe auf. Stärker als Kant und Fichte stellte er die Frage nach dem ,Naturrecht' dabei in den Horizont einer histo-

risch-politischen Diagnostik. Die Verfassungsschrift schildert

den Zerfall Deutschlands seit dem Westfälischen Frieden. Seitdem Deutschland mit diesem Frieden zum bloßen Objekt der internationalen Politik wurde, organisierte sich die „Staatlosigkeit". (I, 546) Dafür macht Hegel die habe vor den Aufgaben des Wissenschaft mit verantwortlich. Die Staatsrechtler" helfe sich Naturrechts versagt. „Der gegenwärtig damit, „dass er den Titel ,Reich' als einen Begriff gibt". (I, 471) Ein Reichsbegriff ohne Staatsbegriff"aber sei Unfug. Ich zitiere Hegels erste Sätze ausführlicher, um seine Einwände gegen die Staatsrechtslehre zu erinnern:

Reichspublizistik10

Deutschland ist kein Staat mehr. Die älteren Staatsrechtslehrer, welchen bei der Behandlung des deutschen Staatsrechts die Idee einer Wissenschaft vorschwebte und welche also darauf ausgingen, von der deutschen Verfassung einen Begriff festzusetzen, konnten über diesen Begriff nicht einig werden, bis die neueren es aufgaben, ihn zu finden, und das Staatsrecht nicht mehr als eine Wissenschaft, sondern als eine Beschreibung von dem, was empirischerweise,

10

Der rechtsphilosophische Blick auf das Naturrecht ist vom staatsphilosophischen Blick auf den Staat zu unterscheiden. Die Eigenart der .Phänomenologie des Staatsbewußtseins' gegenüber dem späteren System stellte schon Martin Busse (Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat, Berlin 1931) heraus. Er kritisierte dabei Franz Rosenzweigs entwicklungsgeschichtliche These vom Wandel der Staatsanschauung und faßte sie als Perspektivendifferenz. Dies betonte unter Hinweis auf ökonomische Studien erneut Georg Lukács: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Oekonomie, Zürich 1948; zur politischen Geschichte der Hegel-Bilder eingehend Henning Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Band I: Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin 1977. Vgl. dazu H. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie (Anm. 1), 165 ff; Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, Frankfurt/M. 2001, 81 ff, 124 ff. Übersicht bei Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: 1600-1800, München 1988.

Reinhard Mehring

162

ohne einer vernünftigen Idee sich anzupassen, vorhanden ist, behandeln und dem deutschen Staate nichts mehr als den Namen eines Reichs oder eines Staatskörpers geben zu können glauben. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr. (I, 461)

Deutlich klingt hier an, daß Hegel die wissenschaftliche Begriffsbildung für eine politisch wirksame Macht hält. Vielleicht würde Deutschland wieder ein Staat, wenn nur die Staatsrechtslehrer über einen vernünftigen Staatsbegriff verfugten. Als wichtigste Aufgabe sieht Hegel deshalb die Entwicklung des Staatsbegriffs an. Er erörtert ihn in der Verfassungsschrift aber nur indirekt, als historische Bestandsaufnahme des Zerfalls der Einheit der deutschen Staatsgewalt in einzelne Momente.11 Während die Verfassungsschrift von 1800/02 unveröffentlicht blieb, schon weil ihr Aufruf zur nationalen Erhebung einige Jahre zu früh kam, publiziert Hegel 1802/03 in dem gemeinsam mit Schelling herausgegeben Kritischen Journal der Philosophie eine lange Abhandlung Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Wissenschaften. Er unterscheidet darin zunächst 12zwei Behandlungsarten des Naturrechts, die „empirische" und die „formelle" (II, 439). Dann geht er zu seinem Begriff der „absoluten Sittlichkeit" (II, 480) über und setzt dabei ohne voraus, „dass die absolute sittliche Totalität nichts anderes als ein Volk ist" (II, 481), das sich in Krieg und Frieden gegen andere Völker als Individuum behauptet. Für die Verfassung des -

-

Begründung13

unlängst eindrucksvoll Hans Maier: „....Diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes'. Weltgeschichtliches Denken in Hegels Verfassungsschrift", in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. Elisabeth Weisser-Lohmann/Dietmar Köhler, Bonn 1998, 1533; zur damaligen Diskussionslage vgl. Matthias Pape: „Revolution und Reichsverfassung. Die Verfassungsdiskussion zwischen Fürstenbund und Rheinbund", in Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungsdiskussion und die Revolutionen der Neuzeit, hg. v. Elisabeth WeisserLohmann/Dietmar Köhler, Hamburg 2000, 40-84. Als .empirisch' bezeichnet er zunächst das neuzeitliche Naturrecht (Hobbes), das die theoretische „Abstraktion" und „Fiktion des Naturzustands" sowie die Annahme eines „Triebs zur GeselligDazu

keit" entwickelte. Ausdrücklich unterscheidet er diese abstraktive „Theorie" von der „Philosophie" (II, 451). Hegel kritisiert diese Theorie als eine „Vermischung" (II, 453) von Empirie und Philosophie, verteidigt das „relative Recht" (II, 453) der „Empirie", fordert aber einen philosophischen Standpunkt, der der Empirie ihre Grenzen zieht. Nach der „empirischen" Behandlungsart untersucht er dann Kants und Fichtes formelle Behandlungsart des Naturrechts. Dabei gibt er einen eigenen Begriff von der „Unendlichkeit" vor (II, 453 f.), wonach das Absolute die „reine Identität" der Idealität und Realität sei (II, 454 ff). Hegel identifiziert das Absolute mit der wahren „Sittlichkeit" und „Freiheit". Die kritische Philosophie habe die Sittlichkeit dagegen nur „empirisch" und populär (II, 458) als Sittlichkeit des Menschen verstanden und auf die Seite des menschlichen Willens gestellt. Dadurch komme es zu einer Entgegensetzung von „Maxime" und „Materie" der Willkür und einem „Formalismus" (II, 461) der Pflichtbestimmung. Fichtes Naturrecht stelle den allgemeinen Willen als System des Rechtszwangs dar (II, 470 ff.) und scheitere daran, die „wirkliche Gewalt" zugleich als System der Freiheit aufzufassen. Hegel meint dagegen, daß Herrschaft „in Wahrheit" Freiheit sei. So H. Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie (Anm. 1), 42 f. '

Unrechtserfahrungen im Recht

163

Volkes bezieht er sich auf Piaton, Aristoteles und die attische Tragödie (II, 482 ff). Mit Rekurs auf die antike Polis will er zeigen, daß die .absolute Sittlichkeit' sich im Volk als „Seele" (II, 505) des Einzelnen beweist. 1802/03 schon bringt er den (klassischen) Standpunkt der Sittlichkeit gegen die überlieferte Unterscheidung von Legalität und Moralität zur Geltung. Im letzten Abschnitt zieht er Konsequenzen für das „Verhältnis des Naturrechts zu den positiven Rechtswissenschaften (II, 509): Die Selbständigkeit der Rechtswissenschaft sei bloßer Schein. Nur die Philosophie könne über die Wahrheit der ,Erfahrung' urteilen. Die Rechtswissenschaft habe von der Idee der ,absoluten Sittlichkeit' eines Volkes auszugehen und die Perspektive des Absoluten als Standpunkt der Sittlichkeit und Freiheit einzunehmen. Daß sie dies kann, setzt Hegel voraus: „Es gehört nicht hierher, die Natur der Unendlichkeit und ihrer mannigfaltigen Verwandlungen darzustellen." (II, 454) Ebenso setzt er voraus, daß sich die ,absolute Sittlichkeit' in den Sitten eines Volkes individuiert. So ist die Naturrechtsabhandlung ein kritisches Unternehmen, das die Plausibilität des absoluten Idealismus gegenüber den zeitgenössischen Naturrechtslehren darstellt, ohne die Philosophie des »absoluten Geistes' schon zu entwickeln. Verglichen mit der Verfassungsschrift ersetzt sie die nationalpolitische Betrachtungsweise durch eine Konfrontation der antiken Polis-Sittlichkeit mit dem Not- und Verstandesstaat der Gegenwart. Die Abhandlung zeigt, daß die naturrechtliche Betrachtung erst in einer Philosophie der Sittlichkeit (II, 529) eingelöst wäre, die die positive Rechtswissenschaft umfaßt. Verfügt Hegel schon am Beginn seiner Jenaer Zeit über eine derart elaborierte naturrechtliche Problemsicht, überrascht es geradezu, daß er in seiner PdG auf die Rechtsphilosophie im weiten Sinne systematisch kaum eingeht. Das ist nur aus der spezifischen Blickrichtung verständlich, die die PdG einnimmt. Sie entfaltet nicht das »System', sondern dient nur seiner ,Wegbereitung'. "

,

'

III. Zur Idee einer Phänomenologie als der Erfahrung des Bewußtseins'

.Wissenschaft

Mit der PdG findet die Jenaer Zeit ihren Abschluß. Das Werk ist ausdrücklich nur der ,erste', einleitende Teil in das ,System der Wissenschaft'. Die spekulative' DurchfühAus der neueren Literatur einführend Werner Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in Vorrede' und .Einleitung', Frankfurt/M. 1971; G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Dietmar Köhler/Otto Pöggeler, Berlin 1998; Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels .Differenzschrift' und .Phänomenologie des Geistes ', Frankfurt/M. 2000; zur spezifischen Sichtweise der PdG eingehend Henning Ottmann: Das Scheitern einer Einleitung in Hegels Philosophie, München 1973; ,

eindringlich arbeitet Heidegger diese Eigenart in einer nachgelassenen Abhandlung von 1942 heraus, wobei er den Wandel des Hegeischen Denkens nach 1807 betont und ein „PhänomenologieSystem" vom späteren .Enzyklopädie-System abhebt: Martin Heidegger: Hegel, GesamtAusgabe Bd. 68, hg. v. I. Schüßler, Frankfurt/M. 1993, 65 ff., 95 ff; vgl. ders.: Hegels Phänome'

164

Reinhard Mehring

rung kündigt Hegel für die Logik, als dem zweiten und eigentlichen Teil des Systems', an. Er schickt eine ,Vorrede' voraus, die sich auf das ganze System der Wissenschaft bezieht, und gibt dem ersten Teil deshalb auch eine eigene Einleitung'. Im Oktober 1807 publiziert Hegel eine Selbstanzeige, in der er die PdG eine „Vorbereitung zur Wissenschaft aus einem Gesichtspunkte" (III, 593) nennt. In einer späten Notiz zur geplanten Neuausgabe heißt es: ,,a.) Voraus der Wissenschaft / das Bewußtsein auf diesen Standpunkt zu bringen, b.) Gegenstand für sich fortbestimmen, Logik hinter dem Bewusstsein / c.) Eigentümliche frühere Arbeit, nicht umarbeiten auf die damalige Zeit der Abfassung bezüglich in Vorrede: das abstrakte Absolute herrschte damals."15 Diese Formulierungen nennen die Absicht: Die PdG dient der Vorbereitung' des Lesers auf das System. Sie holt ihn bei seinem Vorverständnis ab und hebt ihn auf den Standpunkte' der .Wissenschaft', d. h. des ,absoluten Wissens' der Philosophie. Als zeitgenössisches Vorurteil bezeichnet Hegel dabei die ,abstrakte' Auslegung des Absoluten. Abstrakt heißt ihm jene Auslegung, die das Absolute nur als Substanz', nicht auch als Subjekt' und ,Geist' auffaßt. Hegel sieht es dagegen als seine Aufgabe an, ,das Ganze' als ,werdendes Wissen' zu begreifen. Das ist ontologisch wie metaphysisch gemeint: als Seinsgeschichte ebenso wie als Wissen von diesem Prozeß. Für Hegel fällt beides im absoluten Subjekt zusammen: Der absolute Geist entäußert sich um seines Selbstbewußtseins willen. Es ist seine ,Natur', seine ,negative' Bewegung und sein ,Leben', sich zum ,absoluten Wissen' zu entwickeln. Es ließe sich von einer Prozeßmetaphysik sprechen, die das Werden des Ganzen beschreibt. Theologisch heißt dieses Absolute ,Gotf. Hegel unterscheidet seine metaphysische Aufgabe jedoch von der theologischen Auslegung. Zwar stimmt er im Begriff vom Absoluten als ,Geist' mit der christlichen Theologie überein (IV, 273: „Gott ist der absolute Geist"). Er betont jedoch schon in seiner PdG, daß diese Übereinstimmung nur den ,Inhalf und Gegenstand, nicht aber die ,Form' des Wissens vom Absoluten betrifft (vgl. III, 556 ff). Die wissenschaftliche Form der Erfaßung des absoluten Geistes sei der philosophische .Begriff. Hegel stellt sich die Aufgabe philosophischer Darstellung der Ganzheit und Einheit. Weil überhaupt etwas (für ein Bewußtsein) ist, gibt es Fragen. Religion und Theologie sind vorläufige Antworten auf philosophische Fragen. Nichts läßt sich klarer begreifen als Gott. Das Absolute ist ein Gegenstand möglichen Wissens. Diese Überzeugungen stehen spätestens mit der PdG fest. Was den ,Begriff der Philosophie angeht, gibt es nach der PdG keinen wesentlichen Wandel, weshalb Hegel -

-

nologie des Geistes, Gesamt-Ausgabe, Bd. 32, Frankfurt/M. 19882; ders.: „Hegels Begriff der Erfahrung", in (ders.) Holzwege, Frankfurt/M. 1950, 105-192; zur Verzeichnung der Phänomenologie als Metaphysik jüngst Christine Weckwerth: Metaphysik als Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegeischen .Phänomenologie des Geistes ', Würzburg 2000. „Zur Feststellung des Textes", in G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 19526, 575-581, hier 578; vgl. Otto Pöggeler: „Die Komposition der Phänomenologie des Geistes", in Materialien zu Hegels .Phänomenologie des Geistes ', hg. v. Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich, Frankfurt/M. 1973, 329-390.

165

Unrechtserfahrungen im Recht

dieses Werk auch nicht widerrief. Seine späte Notiz rechtfertigt den Wiederabdruck entwicklungsgeschichtlich als eigentümliche, frühere Arbeit', bestreitet die Wissenschaftlichkeit der PdG aber nicht. Deren doppelte Perspektive liegt in der Voraussetzung des absoluten Wissens 'für die didaktische Beschreibung der Erfahrung des .natürlichen Bewußtseins vom Absoluten. Wenn Hegel in seiner Notiz von einem Voraus der Wissenschaft' spricht, setzt er das absolute Wissen der Phänomenologie, nicht die PdG seiner späteren Wissenschaft voraus. Die Methodik dieser Voraussetzung ist eine ,Logik hinter dem Bewußtsein'. Dieses ,logische' Verfahren ist in der Forschung umstritten. Viele Ausführungen und Übergänge wirken ziemlich beliebig. Hegel spricht von einer Logik des .Gegenstandes'. In seiner Selbstanzeige schreibt er, die PdG bringe den ,Reichtum der Erscheinungen des Geistes' in eine .wissenschaftliche Ordnung'. Sein leitender Ordnungsgesichtspunkt ist der philosophische Gedanke, daß Selbstbewußtsein für alle Formen von Bewußtsein konstitutiv ist und die .Gestalten des Bewußtseins' sich deshalb reflexiv entwickeln. Diese .Dialektik' von Bewußtsein und Selbstbewußtsein bestimmt auch die wenig transparente Gliederung der PdG: Nach der Vorrede und Einleitung führt Hegel zunächst den Gegensatz von Bewußtsein (A.) und Selbstbewußtsein (B.) ein. Der namentlich nicht betitelte Teil (C.) gliedert sich dann in vier Teile, die annähernd als doppelter Kursus der Dialektik von Bewußtsein und Selbstbewußtsein lesbar sind. Diese Disposition kann hier nicht genauer untersucht werden. Deutlich ist jedoch ihre Eigenart gegenüber dem späteren ,System'. Wie legt Hegel nun die Eigenart der PdG gegenüber der späteren, sich nach 1807 auch wandelnden systematischen Darstellung fest? Woraus ergibt sich der spezifisch phänomenologische Blickwinkel gegenüber der spekulativ-systematischen Behandlung? Vorrede und Einleitung geben darüber einigen Aufschluß. Die Vorrede handelt „vom wissenschaftlichen Erkennen" als der „Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft" (III, 12). Hegel hebt seinen Begriff vom Absoluten vom ,Formalismus' der Gegenwartsphilosophie ab und gibt ihn positiv vor. Die Formeln sind bekannt: „Das Wahre ist das Ganze." (III, 24). „Es kommt [...] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrükken." (III, 22f). „Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subjekt, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht" (III, 28). Das Individuum aber hat in der „unmittelbaren Gewißheit seiner selbst" sein „unbedingtes Sein" (III, 30). Es beharrt gerne auf dem ,Standpunkt' seines .natürlichen' Bewußtseins. Die besondere Aufgabe der PdG ist es deshalb, seine Bildungsgeschichte als „Werden der Wissenschaft überhaupt" (III, 31) darzustellen. Das individuelle Bewußtsein muß überzeugt werden, daß es sich einer Bildungsgeschichte verdankt, um sich auf den spekulativen' Standpunkt einzulassen. Hegel beansprucht dafür den Titel einer ,Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins' oder Phänomenologie des Geistes. Deren Methodik erläutert er in der Vorrede noch am spekulativen zwar

,

'

,

Reinhard Mehring

166

Satz';16 er führt das Unverständnis,

das der spekulativen' Methode entgegenschlägt, Gewohnheit abstrakter auf die grammatische Trennung zwischen Subjekt und Prädikat zurück. Dadurch komme ein deflnitorischer Stil und eine abstrakte Auffassung in die Philosophie, der Hegel seine Phänomenologie entgegenstellt. Die Einleitung geht von der natürlichen' Erwartung erkenntnistheoretischer Voruntersuchungen aus und stellt der instrumentellen Vorstellung vom „Erkennen als einem Werkzeuge und Medium" (III, 70) die Idee einer wissenschaftlichen „Geschichte der Bildung des Bewußtseins" (III, 73) gegenüber, für die der Gegenstand des Wissens, die kulturellen Werke und Schöpfungen des ,Geistes', mit der Form ihres Begreifens identisch sind. Diese Identität von .Gegenstand' und .Begriff resultiere aus einer dialektischen Bewegung', die Hegel auch eine ,Geschichte der Erfahrung' nennt. Seine spekulative' Idee ist es also, daß die wissenschaftliche Vergegenständlichung der Produkte des Geistes das Selbstbewußtsein des Beobachters verändert; er begreift seine unmittelbaren Gewißheiten nun als Resultate einer Geschichte der ,Gestalten des Bewußtseins' und ,Momente' eines Ganzen. Terminologisch antizipiert Hegel in der Vorrede und Einleitung ebenso wie bei der Durchführung seinen Totalitätsstandpunkt ,absoluter' Begründung. Deutlich ist dies in singularisierenden Wendungen wie Geschichte ,des' Bewußtseins, ,des' Geistes. Der .natürliche' Standpunkt des Individuums ist hier vor aller Auffassung des .Weges' schon überholt. Hegel schreibt seine Phänomenologie deshalb nicht als positive, historisch-kritische Geistesgeschichte, die die Entstehung kultureller Werke klären wollte, sondern als reflexive Bildungsgeschichte der Wirkung dieser Geistesgeschichte; er schreibt aus der Antizipation der vollendeten Bildung der spekulativen Philosophie. Liest man diese Rhetorik des absoluten Wissens als Reflexion des philosophischen Geltungsanspruchs auf Wahrheit, so schreibt die PdG eine Bildungsgeschichte vom Werden ihres Autors. Buchstäblich aber meint sie das Wissen um die Einheit des Ganzen als Selbstbewußtwerdung eines .absoluten Geistes'. Es ist also eine doppelte Perspektivik zu unterscheiden: die .spekulative' Perspektivik des .absoluten Wissens' und die .phänomenologische' Perspektivik des natürlichen Bewußtseins. Beide berühren sich im Aufweis reflexiver Erfahrungen. Hegel argumentiert mit einer Differenz und Dialektik von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Die .Gestalten des Bewusstseins' haben, so Hegel, ein überlegenes Vorverständnis und Selbstbewußtsein. Sie können reflexive Erfahrungen machen, wenn und weil sie sich von der Grenze anderer Gestalten her immer schon besser verstanden haben, als sie meinen. -

-

16 17

Dazu kritisch H. Schnädelbach: Hegel zur Einführung (Anm. 1), 14 ff, 22 ff. Eingehende und genaue Darlegung von Hegels innovativem Ansatz bei Klaus Düsing: „Hegels ,Phänomenologie des Geistes und die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins", in HegelStudien 28 (1993), 103-126. '

Unrechtserfahrungen im Recht

167

So einleuchtend dieser Gedanke heute, im Rahmen der neueren philosophischen Hermeneutik,18 auch sein mag, rechtfertigt er doch den starken terminologischen Vorgriff auf ein ,absolutes Wissen' nicht. Sachlich begründet Hegel ihn durch die metaphysische Aufgabe, das wahre Ganze zu begreifen. Zwar hat Philosophie eine solche umfassende Aufgabe. Auch ist Hegels Unterscheidung der philosophisch-metaphysischen Aufgabe von theologischen Auslegungen richtig. Durch den Inhalt' des Absoluten ist der didaktische Vorgriff des .absoluten Wissens' aber nicht gerechtfertigt. Er ist es auch dann nicht, wenn Hegel mit der Rhetorik des ,absoluten Wissens' nur seinen Geltungsder anspruch auf Wahrheit reflektierte. Gerade wenn dieses die heute noch und die es ist, Philosophie gilt Aufgabe philosophischer .Spekulation' Einheit des Ganzen zu denken, läßt sich der Standpunkt des ,absoluten Wissens' nicht als Rhetorik der Wahrheit verteidigen. Hegels Vorgriff auf das ,absoluten Wissens' ist deshalb Aus ihm resultieren auch viele Schwierigkeiten im Umgang mit der PdG. Und er gefährdet die didaktische Zielsetzung der Schrift, weil es eines solchen starken Vorgriffs nicht bedarf, um reflexive Bildungserfahrungen der ,Gestalten des Bewußtseins' herauszuarbeiten. Es gibt also eine Spannung zwischen der doppelten wie Phänomenologie zu sein. Perspektivik der PdG, ontotheologische Wer die Eigenart der phänomenologischen Perspektive entwickeln will, muß vom metaphysischen Vorgriff des .absoluten Wissens' absehen. Erst wenn dies geschieht, läßt sich der Gesichtspunkt einer Bildungs- bzw. Erfahrungsgeschichte konturieren. ,

.Einheitsversprechen'19

problematisch.20

Metaphysik21

IV. Die

.Erfahrung'

der

.Gerechtigkeit' als .Schicksal'

Abstrahiert man von der Voraussetzung des ,absoluten Wissens', so wechselt das Subjekt der Geistesgeschichte. Es ist dann nicht mehr der absolute Geist, der hier erscheint. Zahlreiche typische Formulierungen fallen dann aus. Eine solche lautet: ,Der Geist ist also [...]'. Die Phänomenologie bedarf keiner solchen metaphysischen Voraussetzung eines ,absoluten' Subjektes. Ihr genügt die Perspektive der Rezeption. Auch die Spannung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein braucht kein absolutes, singulares Subjekt des Prozesses. Es genügt die intersubjektivistische Annahme einer Pluralität individueller Perspektiven, um sie zu begründen. Auch im Abschnitt ,Der wahre Geist. Die Sittlichkeit' exponiert Hegel den absoluten Geist als Subjekt des Prozesses, dem gegenüber

,Selbstdurchsichtigkeit' und .Selbstverständnis' einführend vgl. Hans-Georg Gadamer, „Hermeneutik als praktische Philosophie", in (ders.) Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, Frankfurt/M. 1976, 78-109. Vgl. dazu Gerd Irrlitz: „Über die Struktur philosophischer Theorien", in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996), 1-30, hier 11. Zum positivismuskritischen Sinn des Totalitätsstandpunkts vgl. Verf.: „.Glauben und Wissen' als Limitation einer Glaubensgeschichte der Moderne", in Hegel-Jahrbuch 2003, 104-109. Vgl. dazu Martin Heidegger: „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik", in (ders.) Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 35-73. Zur hermeneutischen

Spannung

von

Reinhard Mehring

168

die Individuen zu Schatten' entmächtigt. So schreibt er: „Die einfache Substanz des Geistes teilt sich als Bewusstsein" (III, 323). Eine Umschrift dieser metaphysischen Aussage in die phänomenologische könnte lauten: „Die sittliche Welt eines Gemeinwesens wird von ihren Teilnehmern individuell und unterschiedlich wahrgenommen." Die genauere Untersuchung des einschlägigen Abschnitts muß zeigen, wie Hegel seinen spezifischen Gesichtspunkt der „ursprünglichen Erfahrung" des Bewußtseins durchführt. Sie präzisiert, wie Hegel das ,absolute' Wissen aus der Perspektive der Differenzerfahrung eines natürlichen Bewußtseins thematisiert. Thematisch nimmt der Abschnitt ,Der wahre Geist. Die Sittlichkeif frühere, am Modell der Tragödie orientierte Erörterungen der griechischen Sittlichkeit auf. Lapidar gesagt, hat er vor allem Antigone im Blick. Aber es verfehlt seinen Anspruch, den Text nur als eigenartige Anonymisierung und Fiktionalisierung der abendländischen Geschichte zu lesen.23 Beabsichtigte Hegel lediglich Geschichtsdeutung, so ließe sich die PdG ohne philosophischen Substanzverlust historisch-kritisch auffassen und beispielsweise in eine Art Einleitung in die Geisteswissenschaften' (W. Dilthey) oder Apokaübersetzen. Es geht aber nicht nur um lypse der deutschen Seele' (H. U. v. die Geschichte, sondern auch um die metahistorische Tragödie von Rechtsansprüchen und Unrechtserfahrungen. Ein Minimalziel ist der Nachweis, daß Erfahrungen möglich sind, die die ,Gestalten des Bewußtseins' miteinander verbinden. Hegel führt diesen Nachweis im ganzen wie in den Teilgeschichten. So entwickelt auch der Abschnitt Sittlichkeif die Erfahrung einer Identität von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Sein Ausgangsgedanke ist es, daß „sich" die Sittlichkeit „in ein menschliches und göttliches Gesetz" (III, 328) „spaltet". Hegel führt vor, wie historische Individuen als Anwälte dieser Spaltung gegeneinander auftreten und sich über das wahre Verhältnis beider ,Mächte' täuschen, bis sie die gewaltsamen Folgen dieser Täuschung als ihr Schicksal' anerkennen. Er geht (mit ,Antigone') davon aus, daß sich der Gegensatz des .menschlichen' und .göttlichen' Gesetzes in ,Mann' und ,Weib' verkörpert. Der Mann repräsentiert das sittliche Gesetz des Staates, die Frau aber das der Familie. Hegel zeigt zunächst eine höhere sittliche Bedeutung des Staates gegenüber der Familie auf, um dann die „Rache" der Familie am „Unrecht" (III, 340) des menschlichen Gesetzes aufzuzeigen. Beide manifestieren im Handeln gemäß ihrem Gesetz ihre Schuld' und ihr Schicksal'. Jede Handlung gemäß solcher Erwartungen ist ein gewaltiges „Verbrechen" (III, 346). Hegel nennt das Beispiel der Antigone (III, 348), um das tragische Pathos der Anerkennung des „Schicksals" gegenüber der Spaltung der .Gerechtigkeit' in ein göttliches und ein menschliches Gesetz vorzuführen. Er generalisiert diese Überlegungen auch und meint in einer charakteristischen, ungreifbar ansprechenden Formulierung: „Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseliger

"



Balthasar)24

So G. Schmidt: Hegel in Nürnberg (Anm. 2), 167; vgl. Heidegger, Hegel (Anm. 14), 132 ff. Dazu jedoch anregend Friedrich Kittler: Die Nacht der Substanz, Bern 1989. Vgl. dazu Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele, Salzburg 1937, 562 ff.

Unrechtserfahrungen im Recht

169

keit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen inneren Feind" (III, 352). Er überträgt diese „negative Seite des Gemeinwesens" (III, 353), durch gesetzliche ,Unterdrückung' Feindschaft zu erzeugen, auf das kriegerische Verhältnis der Völker zueinander. Die Auflösung des Konflikts in den ,Rechtszustand', die Pazifizierung der tragischen Kollision durch abstrakte Anerkennung der ,Person' im ,Recht', schildert er dann im dritten Teilabschnitt erstaunlich knapp und abwertend. Die Überlegenheit des Rechts gegenüber der Sitte sieht er darin, einen Modus der Schlichtung von Kollisionen und eine Form der Anerkennung von Subjektivität anzubieten. Die Überlegenheit der Sitte liegt in der Berechtigung des Rechtsgefühls der Akteure; sie identifizieren sich mit der jeweiligen sittlichen Macht als ihrem Gesetz, wogegen ihnen der Rechtszustand ungerecht und unsittlich erscheint. Hegels wortgewaltigen Ausführungen lassen sich zahlreiche Perlen und Aspekte abgewinnen. Die selektive philosophische Interpretation des Sophokles mag eine gewisse Repräsentanz für einen moralphilosophischen Begriff von der attischen Tragödie und dem Selbstverständnis ihrer Vertreter haben. Eine Gesamtgeschichte der griechischen ,Sittlichkeit' läßt sich ihr jedoch kaum ablesen. Die Rezeption greift immer wieder einige anregende Interpretamente heraus. Nicht zuletzt goutiert sie die PdG ästhetisch. Eine interessante philosophische Lesart der ,Tragödie im Sittlichen' entwickelt Christoph Menke;25 er profiliert eine intersubjektivistische Auslegung von Hegels praktischer Philosophie anhand der diversen Interpretationen der attischen Tragödie, bewegte sich dabei aber weitgehend im Rahmen des Hegeischen Textes. Nimmt man Hegels systematischen Anspruch ernst, so wollte er die Differenz der Gerechtigkeit zu ihrer tragischen Erfahrung exemplifizieren. Die antike Formulierung der Spannung und Spaltung ist historisch kontingent. Das ,göttliche' Gesetz ist ebenso ,wahr' oder irrig wie das menschliche. Hegel stellt sich auf den Standpunkt,absoluten' Rechts gegenüber dem Untergang der Individuen.26 In der gewaltsamen Kollision der Rechtsansprüche erfahren Individuen die Differenz ,wahrer Gerechtigkeit' zu allen einseitigen Auslegungen. Hegel schreibt: „Das Ganze ist ein ruhiges Gleichgewicht aller Teile [...] Dies Gleichgewicht kann [...] nur dadurch lebendig sein, daß Ungleichheit in ihm entsteht und von der Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird." (III, 340) Die ,Gerechtigkeit des menschlichen Rechts' aber wird von den Agenten des göttlichen Gesetzes als ,Unrecht' erfahren. Solche Unrechtserfahrungen provozieren sittliche Handlungen wider das staatliche Gesetz. Im sittlichen Leben gibt es kein ruhiges Gleichgewicht, sondern nur stete Spannung. Hegel konkretisiert dies für die sittliche Welt der attischen Tragödie als Spannung des menschlichen und göttlichen Gesetzes.

Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996; vgl. auch Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels, hg. v. Christoph Jamme, Hamburg 1996. Dazu kritisch H. Schnädelbach:

Hegels praktische Philosophie (Anm. 1), 322 ff, 347 ff.

Reinhard Mehring

170

Innerhalb dieses Abschnittes bezeichnet er den Streit aus der Perspektive der betroffenen Teilnehmer mit einem Schlüsselbegriff schon seiner Frankfurter Schriften: mit dem Begriff des Schicksals'. Die ,Gerechtigkeit' erscheint den Akteuren tragisch. Was dem ,absoluten Wissen' gerecht ist, nehmen sie als unergründliches Schicksal wahr. Hegel führt vor, wie Akteure ihr Unrecht einseitiger Auslegungen der Gerechtigkeit erfahren. Die weitere Phänomenologie des objektiven Geistes, in wenigen Etappen skizziert, ist merkwürdig. Hegel schreibt eine Verfallsgeschichte der Sittlichkeit als Fortschrittsgeschichte moralischer Reflexion und verzichtet 1807, unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena, auf eine Darstellung der gegenwärtigen Wirklichkeit der sittlichen Idee'. Der Teil ,Geist' ist gegliedert: ,A. Der wahre Geist. Die Sittlichkeit; B. Der sich entfremdete Geist. Die Bildung; C. Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität'. Den Abschnitt ,Die Bildung' hätte Hegel später vielleicht zur ,Moralität' gerechnet. Die Orientierung am geschichtsphilosophischen Prozeß ist äußerst skizzenhaft. Deutlich ist aber die phänomenologische Perspektive. So thematisiert Hegel den neuzeitlichen Staat nur aus der Perspektive des „Staatsbewusstseins" der Untertanen (vgl. III, 367 ff). Er skizziert eine Geschichte neuzeitlicher Moralvorstellungen und der ,Dialektik' der Aufklärung, nach der die Wahrheit' der Aufklärung mit dem Kampf gegen den religiösen ,Aberglauben' derart verbunden war, daß die Freiheitsidee der Aufklärung im ,Schrekken' der Revolution untergehen mußte. Sie rettete sich in die ,moralische Weltanschauung' der kritischen Philosophie, die den Dogmatismus der Aufklärung jedoch als ,Formalismus' perpetuierte und deshalb zur romantischen ,Verstellung' des moralischen Gewissens in die Gestalt der schönen Seele' führte. Damit ist Hegel erneut beim Schicksal' angekommen. Erörtert er an der antiken Sittlichkeit die Schuld' des Handelns, so problematisiert er an der zeitgenössischen Moralität ,das Böse' des Handlungsverzichts um der Reinheit des Gewissens willen. Seine ganze Geschichte der Sittlichkeit, die er im Teil ,Geist' entwickelt, läßt sich damit als metahistorische Analyse der Problematik sittlichen Handelns lesen. Für diese Analyse notwendigen Unrechts gibt es wahres sittliches Handeln eigentlich nicht. Aus der phänomenologischen Sicht des Selbstbewußtseins oder Selbstverständnisses der Akteure betont Hegel die Schuldhaf ,

,

In der Frühschrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal

(1798-1800) erörtert Hegel

als

.Schicksal' des Christentums, das jüdische Gesetz im ,Geist' der ,Liebe' zu verneinen und zu überwinden. Er kritisiert die „Immoralität der Positivität" (II, 337) des jüdischen Gesetzes und betrachtet die Überschreitung dieses Gesetzes als Schicksal. „Im Schicksal aber erkennt der Mensch sein eigenes Leben". (I, 345) .Schicksal' heißt Hegel ein Leben gemäß einem eigenen Gesetz in der Kollision mit anderen. In der Kollision versöhnen sich Individuen mit ihrem Schicksal: „Dies Gefühl des Lebens, das sich selbst wiederfindet, ist die Liebe, und in ihr versöhnt sich das Schicksal." (II, 346). Hegel zeigt dann im Durchgang durch die Evangelien eingehend, wie Jesus ein solches Schicksal, eine „Erfahrung vom „Reich Gottes" in der Gemeinschaft der Liebe, stiftete und dafür von der Gemeinde in der Erinnerung eine „Deifikation" (II, 409) erhielt. Zu diesem Diktum von Eduard Gans vgl. Karl Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben, Berlin 1844,228.

Unrechtserfahrungen im Recht

171

tigkeit

allen Handelns einerseits und das Böse des Handlungsverzichts andererseits. Dabei abstrahiert er von der „Wirklichkeit der sittlichen Idee", schreibt nur eine „Phänomenologie des Staatsbewusstseins" (M. Busse) und zeigt, wie Akteure mit der Idee der Gerechtigkeit auch deren Wirklichkeit verfehlen. Die Gerechtigkeit erscheint als etwas Unverfügbares, das sich hinter dem Rücken der Akteure zur Geltung bringt. Nach Hegel bringen Akteure es bestenfalls zur Einsicht in ihr Scheitern: zum Eingeständnis ihrer ,Schuld' in der Erfahrung des ,Schicksals', zum ,Schrecken' über den Dogmatismus ,absoluter Freiheit' und zur religiösen Bitte um ,Verzeihung' für das ,Böse' ihres reinen, untätigen Gewissens.

V. Zur akademischen Aktualisierung der Phänomenologie der Gerechtigkeit

zeigen, daß eine philosophische Wissenschaft vom positiver, historisch-kritischer Geisteswissenschaft durch die reflexive Thematisierung ihrer Bildungsfunktion unterscheidet und das Selbstbewußtsein des Beobachters über die Beschreibung verändert. Die PdG ist eine genetische „Geschichte des Selbstbewusstseins" (K. Düsing). Hegel schreibt sie retrospektiv vom Standpunkt des ,absoluten Wissens' her. Im Selbstbewußtsein absoluten Wissens erinnert er die „Schädelstätte des absoluten Geistes" (III, 591) als seine Bildungsgeschichte. Retrospektiv spielen die Autoren der Geistesgeschichte, die historischen Individuen, als solche keine Rolle mehr. Hegel schreibt diesen Untergang der positiven Geistesgeschichte in die reflexive Bildungsgeschichte für ein Publikum, zur Einleitung in seine Philosophie, um einer Bildungserfahrung willen. Er will nicht nur in die .absolute' Philosophie einleiten, sondern auch elementar zeigen, daß sich Selbstbewußtsein geschichtlich entwickelt. Abstrahiert man von der Voraussetzung eines ,absoluten Wissens' in der doppelten Lesart als Metaphysik oder retrospektiver Bildungsroman vom auktorialen Autor, so erhält die Geistesgeschichte ihre historischen Autoren zurück. Es bleibt dann als philosophischer Grundgedanke die These einer Dialektik von Bewußtsein und Selbstbewußtsein: Machen Akteure in der Auseinandersetzung ihrer Positionen reflexive Erfahrungen, die ihr Selbstverständnis verändern? Diese Möglichkeit läßt sich kaum bestreiten. Gewinnen Leser an Einsicht, wie sich ihr Selbstverständnis einer Bildungsgeschichte verdankt? Das erweist sich schon in der Rezeption der PdG und Hegels philosophischer Geschichte des ,absoluten Geistes' überhaupt. Hegels Werk setzte einen neuen Typus philosophierender Geschichte' (Kant) durch, der als philosophische Sinnbestimmung geschichtlicher Forschung bei aller nötigen Detailkritik maßgebend blieb.29 Fassen wir

Hegel

will

,Geist' möglich ist, die sich

von

zusammen:

dazu Ulrich Johannes Schneider: Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft Jahrhundert, Hamburg 1998; ferner Petra Kolmer: Philosophiegeschichte als philosophisches Problem. Kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel, Freiburg 1998.

Vgl.

im 19.

Reinhard Mehring

172

Die PdG entwickelt aber keine positive Antwort auf das Problem des Naturrechts. In phänomenologischer Lesart ist ihre Idee der Gerechtigkeit nur schwach zu deuten als Hinweis auf eine doppelte Unrechtserfahrung von Akteuren: auf die handlungsmobilisierende Erfahrung des Unrechts mangelnder Gerechtigkeit einerseits und auf die kritische Erfahrung des Unrechts moralischer Empörung andererseits. Hegel stellt in der PdG zwar erneut die Frage nach dem Naturrecht, die seine ganze praktische Philosophie durchzieht; und er antwortet schon, daß sich das Naturrecht eschatologisch vom Ende her gegen alle einseitigen Auslegungen beweist.30 Doch im Unterschied zur Systemphilosophie verzichtet er auf einen systematischen Schluß. Er fixiert keinen Rechtsbegriff und beschränkt sich auf die Geschichte der Erfahrung, die Akteure machen. Er zeigt die tragische Kollision subjektiver Rechtsansprüche in ihrer Differenz zu einer eschatologischen Idee der Gerechtigkeit. Der spezifische Blickwinkel, den er entwickelt, ist die relative Berechtigung beschränkter Rechtsansprüche und Unrechtserfahrungen. Ein Fazit könnte deshalb lauten, daß historische Akteure Rechtsansprüche mit absolutem Geltungsdrang stellen, ohne über die Gerechtigkeit selbst zu verfügen. Eine akademische Aktualisierung müßte von der metaphysischen Voraussetzung eines ,absoluten' Subjekts und Wissens absehen, ohne den philosophischen Anspruch aufzugeben und zur historisch-kritischen Geisteswissenschaft zu geraten; sie müßte sich konkreter Untersuchungen der Unrechts- bzw. Gerechtigkeitserfahrungen historischer Akteure in normativer Absicht zuwenden. Eine solche Phänomenologie kollidierender Rechtsansprüche gewinnt ihr philosophisches Profil durch die normative Ausrichtung auf das Unrecht einseitiger Auslegungen. Es fragt sich aber, ob ihre leitende Gerechtigkeitsidee normativ-praktisch gehaltvoll und trennscharf ist. Hegel wertet die Gerechtigkeit nur metaethisch aus der Sicht der Erfahrung der Verfehlung, die Akteure im Scheitern machen. Darin liegt eine ,Theodizee' und Metaphysik, die oft kritisiert wurde. Wenn er das Scheitern der Akteure als Erfahrung von Gerechtigkeit beschreibt, setzt er die Faktizität ins Recht. So nimmt er eigentlich gar keine Wertung vor. Die Gerechtigkeit fällt mit dem „Gleichgewicht" zusammen, das Hegel (III, 340) von einer praktischen Auslegung als Gerechtigkeit unterschied. Mit dieser ethischen Indifferenz geht er aus der philosophischen Teilnehmerperspektive in eine historische Beobachterperspektive über.31 Systematisch läßt sich die Idee der Gerechtigkeit nur normativ-praktisch vertreten. Sie muß praktische Stellungnahmen von Individuen ermöglichen, um kriteriell sinnvoll zu sein. Weil Hegels transindividuelle Eschatologie der Gerechtigkeit das aber nicht leistet, liegt ihre akademische Aktualität wohl weniger in der normativ wertenden Philosophie als in der Rechtsgeschichte.

eschatologischen Beglaubigung der Geschichte des Naturrechts vgl. Erik Wolf: Das Problem der Naturrechtslehre, Karlsruhe 19643; dazu Verf.: „Zur Entwicklung von Erik Wolfs Rechtsgedanken", in Zeitschriftfür Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), 140-156; hier 152 ff. Herbert Schnädelbach kritisiert dies und betrachtet es philosophiegeschichtlich als eine Wendung von Kant zu Aristoteles. Zur

Unrechtserfahrungen im Recht

173

von ,Mentalitätsgeschichte' Erforschung der ,Lebens- und Weltanschauungen' historischer Individuen im Zusammenhang ihrer Lebensverhältnisse eingebürgert. Hegels ,Gestalten des Bewußtseins' wären einer mentalitätsgeschichtlichen Beschreibung zugänglich. Rechtsgeschichtliche Untersuchungen müssen das Rechtsbewußtsein der Akteure mit berücksichtigen. Eine Mentalitätsgeschichte kollidierender Rechtsansprüche, als Kampf um Gerechtigkeit, muß sich auf das moralische Pathos und die interne Reflexivität der Rechtsansprüche der Akteure einlassen. Eine solche Untersuchung ist akademisch zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaft beheimatet. Die Geschichtswissenschaft diskutiert heute die Methodik einer „Neuen Ideengeschichte" von Grenzen des ,gesellschaftsgeschichtlichen' Paradigmas ausgehend und findet so zur Ideengeschichte zurück. Fachhistoriker können Fachphilosophen vielfältig darüber belehren, welche ,Rahmenbedingungen'33 philosophische Geschichten der ,Selbstentfaltung der Begriffe' mit berücksichtigen sollten, wollen sie nicht Gefahr laufen, die Eigenlogik philosophi4 scher Rationalität naiv zu unterstellen. Gerechtigkeitsfragen haben heute Konjunktur. Akademisch durch John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit neu angestoßen, erhielten sie durch die Systemwandel nach 1989 ungeahnte Aktualität. Der Gerechtigkeitsanspruch der Akteure verdichtete sich im Diktum der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: ,Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen.' Die eschatologische Erwartung metapositiver Gerechtigkeit klingt hier in der präzisen Formulierung einer „Antinomie der Rechtsidee" (G. Radbruch) noch an. Das Diktum verrät einen Schock über die Kollision der Systeme, den Zwang zur Positivierung von Gerechtigkeitsvorstellungen und ein Erstaunen über den eigenlogischen Funktionsmodus des positiven Rechts; es formuliert auch den berechtigten Anspruch an den Rechtsstaat, den Gerechtigkeitserwartungen der Bürger im demokratischen Prozeß offen und flexibel zu begegnen. Das naturrechtliche Pathos metajuristischer Forderung demokratischer Alternativen prallte auf das in der Systemkonkurrenz bestätigte, selbstgerecht und -zufrieden gewordene Systemvertrauen des Westens. Es läßt sich als eine ,Moralisierung' beschreiben, die dem Aufbruchspathos nach 1945 verbunden war und die andere Geschichte der DDR jenseits ihres politischen Selbstverständnisses als ,Diktatur' einer Avantgarde des Pro-

In der neueren Geschichtswissenschaft hat sich die Rede

für die

-

beschließt.36

letariats'

Das moralische Pathos des

demokratischen Aufbruchs'

war

-

So der Titel des Themenheftes der Fachzeitschrift Geschichte und Gesellschaft (2000). Ein Muster dieser ,neuen Ideengeschichte' ist Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2002, 20. Zur ,Wiederkehr der Gerechtigkeitsfrage vgl. Hasso Hofmann: Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, 193 ff. Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Stuttgart 19636, 168 ff. So Gerd Irrlitz: „Vier Wellen der Moralisierung von Politik", in Politik und Ethik, hg. v. Kurt Bayertz, Stuttgart 1996, 63-90. '

Reinhard Mehring

174

berechtigt. Demokratie ist auch eine Lebensform. Es ist deshalb richtig, Systemfragen im Horizont umfassender Gerechtigkeitsvorstellungen zu stellen. Dennoch bleibt fraglich, ob die PdG als Phänomenologie des Rechts heute akademisch aktuell ist. Die Philosophie der Rechtsgeschichte38 kann, wie gesagt, nicht mehr im Namen des .absoluten Geistes' auftreten und die Akteure als Agenten und .Schatten' absoluter Gerechtigkeit übergehen. Sie muß sich konkreten Analysen konfligierender Rechtsansprüche zuwenden. Hegels an die antike Sittlichkeit angelehnte Unterscheidung zwischen einem .menschlichen' und .göttlichen' Gesetz ist zwar historisch kontingent. Hegel selbst nimmt nicht die Sprache der Akteure auf und vertritt kein .göttliches' Gesetz. Die dogmatische Spaltung' von richtigem Recht und positiver Gesetzgebung gibt es aber auch heute. Die Rechtsprechung ist „an Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 Abs. 3 GG). Eine Ideologiekritik des Naturrechts, die das positive Gesetz verabsolutiert,3 ist überspannt. Die Idee der Gerechtigkeit bleibt ein kritisches Korrektiv. Eben deshalb ist sie nicht eschatologisch als Ende aller Rechtsansprüche auszulegen. So bemerkenswert Hegels phänomenologischer Ansatz, Rechtsansprüche gegeneinander zu profilieren, auch ist, genügt er doch weder den Rechts- und Sozialwissenschaften noch der Philosophie. Er ist historisch-politisch zu vage und philosophisch-systematisch zu enthaltsam, um heute noch akademisch besonders anzuregen. Jedenfalls müßte eine akademische Fortschrittsgeschichte des Kampfes um Recht heute anders aussehen. Sie müßte historisch-politisch konkreter argumentieren und ihren leitenden Rechtsbegriff systematisch ausweisen. Von Hegels Phänomenologie der Gerechtigkeit bleibt dann wenig mehr als die Beobachtung, daß normative Forderungen strittig sind.

Aus dem Demokratiediskurs der frühen Bundesrepublik dazu etwa Carl Joachim Friedrich: Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, Heidelberg 1959. Dazu an Hegel anschließend Gerhard Dulckeit: Philosophie der Rechtsgeschichte. Die Grundgestalten des Rechtsbegriffs in seiner historischen Entwicklung, Heidelberg o. J. So Hans Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Berlin 1928; ders, Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, hg. v. E. Topitsch: München 19892.

Ernst Müller

Zur Modernität des

Hegeischen Religionsbegriffs

Das Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes spielt heute außerhalb historischer Kommentare kaum noch eine Rolle. Das hat offenbar nicht allein mit dem historischen Abstand zu tun. Wird doch dem Religionsbegriff von Hegels Zeitgenossen Schleiermacher noch zum 200. Jahrestag der Reden Über die Religion (1799) Modernität' bescheinigt und erneut eine ,Renaissance' Dagegen wird ein anderes, von Hegel am gleichen Ort, nämlich am Übergang von der ,Kunstreligion' zur ,Religion der Offenbarung' entwickeltes Thema, die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst, heute noch als durchaus interessante Provokation empfunden, während umgekehrt die Ästhetik Schleiermachers nie die Wirkung der Hegeischen erlangte. Ausgehend von dieser rezeptionsgeschichtlichen Asymmetrie soll im folgenden gezeigt werden, daß beide Positionen Hegels aufeinander bezogen sind und von ihm zugleich in einem Kontext entwickelt werden, in der eine Kritik Schleiermachers ununterscheidbar mit der kritischen Revision eigener früherer Positionen verbunden ist. Der Wandel der Einschätzung Schleiermachers in Jena könnte Symptom für die Veränderung der Hegelschen Position sein, wie er ebenso davon zeugen könnte, daß Hegel seine eigene Auffassung in Auseinandersetzung auch mit Schleiermacher modifiziert hat. Die Jenenser Entwicklung der Hegeischen Auffassungen zur Kunst und Religion wird in der Literatur als Auseinandersetzung vorrangig mit Positionen Schellings beschrieben. Dabei wird vielleicht verdeckt durch die spätere vehemente Polemik übersehen, daß Schleiermachers Reden einen wichtigen Bezugspunkt für die Ausbildung des Hegelschen Religionsbegriffs und seiner Differenzbestimmung zur Kunst bilden. Übersehen wird dieser Bezug dann, wenn allein der Begriff gleichsam natürlicher' Religiosität der zweiten der Reden Über die Religion herangezogen, dabei aber dessen ,Annihilation' (Friedrich Schlegel) in der fünften, von Hegel besonders beachteten Rede vernach-

prophezeit.1

-

-

Vgl. z.B. Ulrich Barth: „Begrüßung und Einführung in den Kongreß", in 200 Jahre .Reden über die Religion (Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle), hg. v. Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener, Berlin-New York 2000, 3-10. '

Ernst Müller

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lässigt wird, in der Schleiermacher überhaupt erst das (protestantische) Christentum beschreibt und es als eine Sehnsucht, Wehmut, Elegie hervorrufende Religion der Entzweiung vorstellt; es sind diese Bestimmungen, die auch in Hegels Kennzeichnung des unglücklichen Bewußtseins' der Phänomenologie wiederkehren werden; die jüngere Rezeption Schleiermachers erreicht oftmals nicht einmal dessen Protestantismus, sondern verbleibt beim einer modernisierten natürlichen Religion. Die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst ist durch Hegels Kritik des romantischen Religionsbegriffs im allgemeinen, des Schleiermacherschen im besonderen mitbestimmt, wie umgekehrt Hegels Religionsbegriff durchaus die ,Modernität' Schleiermachers erreicht, jedoch im Gegensatz zu ihm die Konsequenz zieht, daß dieser nachaufklärerische Religionsbegriff zugleich in ein Gebiet verweist, das begrifflich, d. h. innerhalb der Philosophie zu erfassen ist.2 1. Hegels ästhetisches Christentum Abseits der kaum zu entscheidenden Frage, ob und wann Hegel Schleiermachers Reden zuerst zur Kenntnis genommen hat, ist es erstaunlich, wie ähnlich beider Positionen um 1800 waren.3 Bis etwa 1800 bestand eine relative theoretische Einigkeit der jüngeren, über Kant hinausstrebenden Generation; die Differenzen zwischen romantischer und idealistischer Theoriebildung traten erst in den folgenden Jahren schärfer hervor. Wie Schleiermacher geht es auch Hegel zunächst um die Kritik der Orthodoxie, der natürlichen Theologie und des Kantischen Dualismus sowie um die Frage einer subjektiven, lebendigen Religion. Schleiermachers Rekurs auf das Christentum stand Hegels eigenen Arbeiten näher als etwa Schlegels gleichzeitiges Konzept einer neuen Mythologie. Hatte Hegel in Bern das Christentum in seiner Erstarrung und als Privatreligion noch überwiegend kritisch und im Kontrast zur Religion der schönen Phantasie der Griechen behandelt, so ändert sich sein Verhältnis zum Christentum in den Frankfurter Schriften. Der Maßstab bleibt das ästhetische Ideal der antiken Religion, aber Hegel versucht dieses nun, angeregt durch Schillers Kantkritik, im Christentum selbst aufzufinden. Schillers Ideal der Versöhnung von Gesetz und Neigung, Sinnlichkeit und Vernunft projiziert Hegel auf die Figur Jesus, der aufgetreten sei, um den Menschen in seiner Ganzheit

Der ursprünglich für die Gerd Irrlitz gewidmete Festschrift verfaßte Beitrag ist in veränderter Form zugleich in Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004 aufgenommen worden. Andreas Arndt: „Schleiermacher und Hegel. Versuch einer Zwischenbilanz", in Hegel-Studien 37, Hamburg 2002, 55-68, bezieht das Verhältnis Hegel-Schleiermacher vorrangig auf die Dialektik. Wiewohl Hegel in der Differenzschrift schreibt, daß Schleiermacher die Spekulation nicht direkt angehe, ist zu beachten, daß Spekulation hier nur den einen Teil seines philosophischen Systementwurfs (neben der Kunst, einschließlich der Religion) ausmacht.

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Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs

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wiederherzustellen. Dabei führt der ästhetisch-säkularisierende Maßstab zugleich dazu, daß Hegel den Gebotscharakter der jüdischen Religion, den er mit der Kantischen Pflichtenethik analogisiert, in scharfer Form moralisch ablehnt. Als das Höchste des menschlichen Geistes, als Trieb nach Religion bestimmt Hegel im Geist des Christentums das „Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, einem Gott zu vereinigen". (406) Hegel verbindet einen ästhetisch Piatonismus und Spinozismus mit einem johanneischen Geistchristentum. Religiöse Handlungen, heißt es, seien das Geistigste, Schönste, dasjenige, was durch alle Trennungen hindurch sich zu vereinigen strebe. Ein wesentliches Moment in Hegels versöhnungsphilosophischem Ansatz bildet dabei die Idee, daß die geistige Einheit sich zugleich auch darstellen müsse. Wie Hegel sich die Erfüllung des Ideals einer „vollständigere^] Vereinigung in der Religion, eine solche Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben" ausgemalt hat,5 wird aus dem etwa gleichzeitig entstandenem Systemfragment von 1800 deutlich: Eine „zweckmäßige Verschönerung" habe auf das Andere zu deuten, so daß es das Wesen des Gottesdienstes sei, „die beschauende und denkende Betrachtung des objektiven Gottes aufzuheben oder vielmehr mit Subjektivität Lebendiger in Freude zu verschmelzen, [vermittels] des Gesanges, der körperlichen Bewegung, einer Art von subjektiver Äußerung, die, wie die tönende Rede durch Regel objektiv und schön, zum Tanze werden kann".6 Der Geist des Christentums stellt die Geschichte des Frühchristentums als eine Abfolge von Versöhnungen und Entzweiungen dar, wobei letztere insbesondere darin gegründet sind, daß das Christentum zu keiner objektiven Darstellung der Vereinigung mit Gott kommt. Die Einbildungskraft, heißt es in einer an Schleiermachers Über die Religion erinnernden Wendung, habe „kein Bild zu geben, worin sich Anschauung und Gefühl Die ästhetische Darstellung ihrer Gehalte ist für Hegel dabei so wesentlich, daß er die erfüllte Religion geradezu mit ihr identifiziert. In dieser logischen Verbindung von Geistreligion und ihrer ästhetischen Darstellung liegt offenbar der

vereinigten".7

Hegel: „Der Geist des Christentums", in:

6

Theorie Werkausgabe (im folgenden HW), hg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 1, 324. Dilthey sieht in dieser Formulierung Hegels eine Kritik Schleiermachers. Wilhelm Dilthey: „Die Jugendgeschichte Hegels", in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Göttingen 61990, 150. Hegel: „Systemfragment von 1800", in: HW, Bd. 1, 425. Den Wandel der aisthetischen Seite der Religion vom Griechentum zum Christentum kennzeichnet Hegel in einer Jenaer Notiz: „Die Gottheit wird im Kunstwerk, im schlechten, wie im vorzüglichen, angebetet. Die Schauer der Gottheit, die Vernichtung des Einzelnen, durchdringen die Versammlung. [...] Uebersprungen ist dieser Genuß im Essen der Gottheit, aber es drückt tief den unendlichen Schmerz, das völlige Zerbrechen des Innersten aus. Gott opfert sich auf, gibt sich zur Vernichtung hin. Gott selbst ist todt; die höchste Verzweiflung der völligen Gottverlassenheit." Hegel: „Aus dem Jenaer Tagebuch", in HW, Bd. 1,505. Hegel: Geist des Christentums (Anm. 4), 369. -

7

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Grund für die bis in die Phänomenologie des Geistes durchgehaltene Verbindung von Kunst und Religion. Hegel kommt zu der Einsicht, daß es sich beim Christentum um eine Religion der Entzweiung handelt und gerade dieser Gesichtspunkt macht bis in den Wortlaut hinein die erstaunliche Analogie zu Schleiermacher aus, der in der letzten seiner Reden die Entzweiung und Sehnsucht nach Vereinigung am Christentum herausgestellt hatte. Auch bei Hegel wird der ,tiefste Trieb nach Religion' nicht erfüllt, sondern das Christentum macht ihn „zu einem unendlichen, unauslöschlichen und ungestillten Sehnen [...]; denn dem Sehnen steht in seiner höchsten Schwärmerei, in den Verzückungen der [...] Seele immer das Individuum, ein Objektives, Persönliches gegenüber, nach der Vereinigung mit welchem alle Tiefen ihrer schönen Gefühle schmachteten". Dadurch werde „die Religion nie zum vollständigen Leben". (417) Und, wiederum mit Schleiermacher übereinstimmend, resümiert Hegel im letzten Satz die universelle Entzweiung im Christentum, die sowohl den Protestantismus wie den Katholizismus betreffe: „es ist gegen ihren weltlichen Charakter, in einer unpersönlichen lebendigen Schönheit Ruhe zu finden; und es ist ihr Schicksal, daß Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in eins zusammenschmelzen können." (418) —

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2. Kunst als Werk -

Religion als Kunst ohne Werk

In seinen Jenaer Schriften bezieht sich Hegel an zwei nicht unwesentlichen Stellen direkt auf Schleiermacher. Zum einen in der Differenzschrift, zum anderen in Glauben und Wissen. In beiden Schriften nennt er Schleiermacher nicht namentlich, sondern nur den Titel seiner Reden sei es aus Gründen der Geringschätzung, sei es, weil er die Anonymität des Autors achtete. Hegels erste eigenständige Druckschrift würdigt an zentraler Stelle, am Ende der programmatischen Vorrede, die Reden Über die Religion als eine Erscheinung des „besseren Geistes besonders in der unbefangeneren, noch jugendlichen Welt", die zwar das spekulative Bedürfnis nicht unmittelbar anginge, deren „Aufnahme, noch mehr aber die Würde, welche, mit dunklerem oder bewußterem Gefühl, Poesie und Kunst überhaupt in ihrem wahren Umfange zu erhalten anfangt, auf das Bedürfnis nach einer Philosophie hin[deute], von welcher die Natur für die Mißhandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichteschen Systeme leidet, versöhnt und die Vernunft selbst in Übereinstimmung mit der Natur gesetzt wird, nicht in eine solche, worin sie auf sich Verzicht tut oder eine schale Nachahmerin derselben werden müßte, sondern eine Einstimmung dadurch, daß sie sich selbst aus innerer Kraft gestaltet."8 Hegel bezieht sich hier auf jene Passagen in den Reden, in denen Schleiermacher der Transzendentalphilosophie inbesondere Fichte vorwirft, das Universum „zu -

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-

Hegel: „Differenz des Fichteschen schrift), in HW, Bd. 2, 13.

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und

Schellingschen System

der

Philosophie" (=

Differenz-

Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs

179

einem nichtigen Schattenbilde unserer eigenen Beschränktheit" herabzuwürdigen, und zugleich einen höheren, spinozistischen Realismus fordert. Wie Schleiermacher kritisiert auch Hegel die ,unphilosophischen Tendenzen des Zeitalters', in denen der

„Verstand und die Nützlichkeit sich Gewicht

zu

verschaffen und beschränkte Zwecke

sich geltend zu machen wissen".10

Abgesehen von einigen begriffsgeschichtlich interessanten Befunden, wonach Hegel die Begriffe ,Weltgeist', ,Weltanschauung' sowie das erst in den Reden geprägte Kunstwort ,Kunstreligion' auch Schleiermachers Schrift entnommen haben könnte, und abgesehen von Schleiermachers eingefordertem Realismus als Gegengewicht zur Transzendentalphilosophie, die die von Hegel begrüßte objektive Wendung der Schellingschen Philosophie diskursiv zu stützen vermochte, scheint die programmatisch klingende Zitierung der Reden allerdings für die systematische Durchführung der Differenzschrift ohne Bedeutung zu sein. Im grundlegenden Kapitel der Differenzschrift über das Bedürfnis der Philosophie konstatiert Hegel als Resultat der modernen Bildung eine notwendige Entzweiung der Kultur.11 Ein Moment dieses Differenzierungsprozesses, in dem sich die Kulturformen polar „in ganz abgesonderte Gebiete trennen, für deren jedes dasjenige keine Bedeutung hat, was aus dem andern vorgeht", ist die Kunst „als ästhetische Vollkommenheit wie sie sich in einer bestimmten Religion formt". Die „tiefere ernste Beziehung lebendiger Kunst" werde nicht mehr verstanden, sie habe den Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen verloren und sei in Aberglauben bzw. „unterhaltendes Spiel" übergegangen. Hegel vertritt offenbar die Auffassung, daß die Entzweiung von Spekulation und Kunst als Religion unüberwindbar ist. Dennoch geht er davon aus, daß beide Seiten der Entzweiung in je unterschiedlicher Form, aber gleichberechtigt die Totalität des Lebens oder das Absolute repräsentieren können. Das Verhältnis wird hier noch polar, nicht als genetische Hierarchie gedacht. Kunst scheint in ihrer Funktion als Religion noch restituierbar, Religion umgekehrt ist in ihrer höchsten Gestalt noch Religion der Kunst, nicht der Offenbarung. Sie ist noch keine vergangene, abgelegte Stufe des Geistes. Dieser Ansatz kommt im vierteiligen Systementwurf der Differenzschrift zum Ausdruck, in dem Hegel auch erstmals Kunst und Religion einen systematischen Ort zuweist. Der Systementwurf, in dem es um die Formen der „Anschauung des sich selbst in -

Friedrich Schleiermacher: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799), in Kritische Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 2, hg. v. G. Meckenstock, Berlin-New York

1984,208.

10 1'

12

Hegel: Differenzschrift (Anm. 8), 13. Von der notwendigen Entzweiung geht auch Schleiermacher aus: "Ihr wißt daß die Gottheit durch ein unabänderliches Gesez sich selbst genöthiget hat, ihr großes Werk bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes bestimmte Dasein nur aus zwei entgegengesezten Kräften zusammenzuschmelzen, und jeden ihrer ewigen Gedanken in zwei einander feindseligen und doch nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwillingsgestalten zur Wirklichkeit zu bringen." Schleiermacher, Über die Religion (Anm. 9), 191. Hegel: Differenzschrift (Anm. 8), 23.

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objektiv werdenden Absoluten" geht, unterscheidet zwischen beund wußter Spekulation unbewußter Kunst. „Beides, Kunst und Spekulation sind in ihrem Wesen der Gottesdienst beides ein lebendiges Anschauen des absoluten Lebens und somit Einssein mit ihm." (113) Auf der Seite der Anschauung, als der einen Seite der philosophischen Systematik, unterscheidet Hegel eine Polarität, je nachdem, ob eher die Seite des Bewußtseins oder die des Bewußtlosen als das Überwiegende gesetzt wird. Bildet die Seite des Bewußtseins die Spekulation, so die andere Seite die Kunst, innerhalb deren Hegel ,Kunst als Werk' und Religion (ohne Werk) unterscheidet. Im Vergleich mit Hegels späterem Systemaufbau ist es auffallend, daß er hier nicht die Kunst der Religion unterordnet, sondern die Religion der Kunst. „Jene Anschauung [des sich selbst als Totalität objektiv werdenden Absoluten E. M.] erscheint in der Kunst mehr in einen Punkt konzentriert und das Bewußtsein niederschlagend, entweder in der eigentlich sogenannten Kunst als Werk, das als objektiv teils dauernd ist, teils mit Verstand als ein totes Äußeres genommen werden kann, ein Produkt des Individuums, des Genies, aber der Menschheit angehörend, oder in der Religion als ein lebendiges Bewegen, das als subjektiv, nur Momente erfüllend, vom Verstände als ein bloß Inneres gesetzt werden kann, das Produkt einer Menge, einer allgemeinen Genialität, aber auch jedem Einzelnen Die kurze Passage enthält wesentliche Differenzbestimmungen zwischen Kunst und Religion, wobei die eigentliche Kunst' eher negativ, die Kunst als Religion positiv gefaßt wird: die Kunst (als Werk) ist dauerhaft, objektiv, tot, äußerlich und das Produkt Einzelner, die Kunst als Religion dagegen lebendig, subjektiv, innerlich und gehört der Menge an. Kunstwerk und Religion bilden (unter dem Titel der Kunst) gemeinsam das Gegenstück zur Spekulation; wesentlich ist aber auch, daß es die Kunst ist, der die Anschauung zum toten Produkt oder zur Positivität gerinnt, während die Religion die gleichen Inhalte im lebendigen Produzieren bewahrt. Wenn man also überhaupt schon beim Hegel der Differenzschrift eine wertende Hierarchie zwischen Religion und Kunst ausmachen will, dann wird hier die ,lebendige' Religion der Kunst vorgeordnet. In der Lesart des jungen Hegel hat die Kunst einen niedrigeren Wert, weil sie Produkt des Einzelnen ist, die Religion dagegen „das Produkt einer Menge, einer allgemeinen Genialität, aber auch jedem Einzelnen angehörend". (113) Die unter den Begriff der Kunst gefaßte Einheit von Kunstwerk und Religion synthetisiert Produzieren und Produkt, Individuum und Gesellschaft. Verschiedene Interpreten haben versucht, diese Einordnung der Kunst und Religion aus Schellings Identitätsphilosophie im allgemeinen, seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst im speziellen herzuleiten. Doch Schelling hat diese Vorlesungen erst mehr als ein Jahr später gehalten. Was von Schelling zur Kunst tatsächlich vorlag, war dessen gerade erschienenes System des transzendentalen Idealismus (1800). Freilich behandelt Schelling hier Kategorien, die auch bei Hegel wiederkehren (produktive Anvollendeter Totalität

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angehörend."13

Hegel: Differenzschrift (Anm. 8),

112 f.

Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs

181

schauung, Unterscheidung zwischen bewußter und unbewußter Tätigkeit u. a.). Doch wird die Kunst in der berühmten Formulierung, daß sie „das einzige wahre und ewige Organon und Dokument der Philosophie sei", am Ende des Systemaufrisses zur ,neuen Mythologie' gesteigert.14 Eben darin aber schließt sich Hegel Schelling nicht an. Die Einheit von Philosophie (Spekulation) und Kunst als Religion hat er schon in der Differenzschrift verabschiedet. Anschauung wird zwar von Schelling ubiquitär verwendet, aber die Parallelisierung von Kunst und Religion als Modi der Anschauung gibt es zu dieser Zeit bei ihm nicht. Die Idee, daß sich Spekulation und Religion auf unterschiedliche Weise auf das Absolute beziehen, findet sich vor Schelling dagegen bereits ebenso in Schleiermachers Reden wie die Auffassung, daß Kunst und Religion „beide Quellen der Anschauung des Unendlichen" oder der „Selbstbeschauung" des Universums seien.15 Wie Hegel hatte Schleiermacher zwischen den Inhabern einer ,paßiven Religiosität', „die ohne selbst Kunstwerke hervorzubringen, dennoch von jedem was zu ihrer Anschauung kommt, gerührt und ergriffen werden", und jenen unterschieden, die die „Richtung auf das in sich Vollendete, auf die Kunst und ihre Werke" haben.1 3. Kritik der

.schönen Subjektivität des Protestantismus'

Für einen Schleiermacher-Bezug der Systemgliederung in der Differenzschrift spricht noch ein anderes Indiz. Denn in seinem ein Jahr später erschienenen Aufsatz Glauben und Wissen kommt Hegel gerade anläßlich seiner Behandlung Schleiermachers auf die wesentliche Unterscheidung zwischen ,Kunst als Werk' und ,Kunst ohne Kunstwerk' und thematisch verwandte Gegenstände zurück. Für die Genesis der Kunst- und Religionsphilosophie Hegels ist dieser Aufsatz zumindest in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen ordnet Hegel die Darstellung und Kritik der Reflexionsphilosophie dem Zeitalter des Protestantismus zu. Dadurch gelangt er zu einem schärferen Begriff der Moderne. Im Gegensatz zu Epochengliederungen, in denen der Antike die Kunst und der Moderne die christliche, zugleich anästhetische Religion zugeordnet werden, entwirft Hegel einen Begriff der jüngeren Moderne, in der Kunst und Religion auf spezifische Weise verbunden sind. Die hier entwickelten Bestimmungen kehren später in der Charakterisierung der romantischen Kunstform und ihrem Übergang zur christlichen Religion wieder. Zum anderen gelangt Hegel zu einem Begriff der christlichen Religion, der die Formel der Phänomenologie des Geistes (1807), daß die Substanz zugleich als Subjekt gefaßt werden müsse, vorwegnimmt. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit,

Schelling: System des transzendentalen Idealismus, hg. v. S. Dietzsch, Leipzig 1979, 272 f. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 9), 263. „Kunst und Religion stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch unbekannt ist". Ein stringenterer wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang ergibt sich, wenn man auch Schellings Philosophie der Kunst durch Schleiermacher mitbestimmt sieht. Ebd., 251, 261

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geistige Religion gefaßten, in den spekulativen Begriff übergehenden ChristenSchelling sie der neuen Mythologie unterstellte. In Glauben und Wissen (1802) hat sich die Sicht auf Schleiermacher gänzlich gewandelt. Als theoretische Figur ist sein Religionsbegriff für Hegel zwar nach wie vor wesentlich, aber im Gegensatz zum Vorwort der Differenzschrift bildet er nicht mehr den Gegenpol zur Kantisch-Fichteschen Philosophie, sondern gehört als ,höchste Potenz' der Jacobischen Philosophie und als Mitte zwischen dem Übergang zu absolut Entgegengesetzten prinzipiell der gleichen Denkfigur wie die Philosophien Kants und Fichtes, nämlich der unversöhnten Reflexionsphilosophie an. Der Ton hat sich grundlegend geändert, die Reden sind für Hegel nun nicht mehr der Ausdruck des besseren Geistes, sondern Gegenstand einer scharfen polemisch-ironischen Darstellung. Von allen behandelten Autoren erfahrt Schleiermacher die vehementeste Kritik. Hegels Stellung zu Schleiermacher muß sich geändert haben. Bevor darauf zurückzukommen ist, soll zunächst auf den Ansatz von Glauben und Wissen eingegangen werden. Für die Intention der Aufklärung durchaus Partei ergreifend, resümiert Hegel hier geradezu deren Scheitern, wenn er den glorreichen Sieg der Vernunft über den Glauben in der Kantischen Philosophie als bloßen Pyrrhussieg beschreibt, weil die aufklärerische dem als

tum nun eine Kraft zuzutrauen, wie

Vernunft zwar der „äußeren Herrschaft nach die Oberhand behalten habe, dem Geiste nach aber dem Überwundenen" erlegen sei. Hegel unterstellt in Glauben und Wissen den zeitgenössischen, gemeinhin als höchst gegensätzlich geltenden Philosophien ihren vollständigen Zyklus' bilden Kant, Jacobi (Schleiermacher) und Fichte eine übergreifende Figur, nämlich eine Entzweiung, die die Religion nur als etwas Positives nimmt, weil sie als endliche Verstandesphilosophie „das Bessere [...] als ein Jenseits in einem Glauben über und außer sich setzt", so daß die Philosophien Kants, Jacobis und Fichtes als Konsequenz des Scheiterns der Aufklärung „sich wieder zur Magd eines Glaubens" machen. (288) Die von diesen Philosophien gesetzte neue Transzendenz erscheint als bloße Negativität als der „unendlich leere Raum des Wissens" der mit der bloßen Subjektivität des Sehnens und Hoffens erfüllt ist. Diese Figur der Entzweiung identifiziert Hegel mit einer ,großen Form des Weltgeistes', indem er sie in philosophischer Hinsicht der Aufklärung, in religiöser Hinsicht dem Zeitalter des Protestantismus zuordnet: als „die Subjektivität, in welcher Schönheit und Wahrheit in Gefühlen und Gesinnungen, in Liebe und Verstand sich darstellt. Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde." (289) Das endliche Verstandesdenken der Aufklärung ist auf der Seite der Religion mit dem unendlichen Schmerz verbunden, daß ,Gott tof ist. Hegel bezieht sich hier den ,verlorenen Gott'des Jansenisten Pascal, der ja tatsächlich Reaktion auf Descartes' Mathematisie-

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Hegel: „Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität", in HW, Bd. 2,

287 f.

183

Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs

rung der Philosophie war. Dieses Bewußtsein führt zur Verinnerlichung des Absoluten in die schöne Subjektivität. In Glauben und Wissen geht es Hegel zwar nicht um Kunst oder Kunstphilosophie im

engeren Sinne, aber der Aufsatz zeigt, daß er auch den ästhetischen Diskurs seiner Zeit im Auge hat. Der religiös-ästhetische Zauber der Welt so ließe sich Hegel wohl verstehen wird in einer durch Wissenschaft und Verstand entzauberten Welt zur objektund anschauungslosen ästhetischen Innerlichkeit, zum bloßen Sehnen der Subjektivität nach dem Absoluten. Das Spezifische der protestantischen Form des Weltgeistes erscheint als Entzweiung zwischen einer entzauberten Welt des Verstandes und einer gleichsam nach innen geschlagenen, ästhetisch amalgamierten Religiosität. Hatte Hegel im Geist des Christentums die Entzweiung von objektivierendem Verstand und ästhetischer Darstellung noch beklagt, so wird sie nun nüchtern als Resultat der Geschichte konstatiert. Im gleichen Zuge, wie das Schöne zum Ding wird, sieht Hegel die Religion sich in Empfindung und Innerlichkeit wandeln: „die sehnsuchtsvolle Liebe" hat „ihre erhabene Seite darin, daß sie an keiner vergänglichen Anschauung noch Genüsse hängenbleibt, sondern nach ewiger Schönheit und Seligkeit sich sehnt." (291) Die moderne Subjektivität, wie sie sich nach Hegels eigentümlicher Interpretation im Protestantismus am reinsten ausspricht, ist unverkennbar ästhetisch konnotiert: Hegel spricht von der ,schönen Subjektivität des Protestantismus', von der ,Poesie des Schmerzes', von der subjektiven' oder ,inneren Schönheit', vom ,schönen' und lyrischen Sehnen' etc. Die in der Periode des Protestantismus verortete Entzauberung oder Anästhetisierung der gegenständlichen Welt bei gleichzeitiger Ästhetisierung der Innerlichkeit präfiguriert die Figur des Übergangs von Kunst in Religion bzw. von der klassischen in die roman18 tische Kunstform. Auch wenn Hegels Diktion in Glauben und Wissen zunächst eher kritisch oder polemisch bleibt, so erarbeitet er sich hier einen Teil des begrifflichen Instrumentariums, mit dem er später die romantische Kunstform und den Übergang von Kunst zur Religion beschreiben wird; und schon hier kritisiert Hegel die Denkfiguren der Reflexionsphilosophie vom Standpunkt der Philosophie oder Begrifflichkeit. Die Denkfigur, die Hegel aus der Analyse der subjektivitätsphilosophischen Gegenwartsphilosophie gewinnt und deren Ursprung er zunächst nur bis zur Reformation bzw. bis zu Pascal zurückverfolgt, wird später aufs Christentum allgemein bezogen. Die theoretische Entzweiung zwischen Verstandesphilosophie und ästhetisch-religiöser Subjektivität kann nur innerhalb der Philosophie versöhnt werden. Der allgemeine Charakter der Reflexionsphilosophie besteht nach Hegel darin, daß das Wissen ein formales und die Vernunft als reine Negativität dessen absolutes Jenseits bleibe. Eine Grundflguration der ,Reflexionsphilosophie der Subjektivität' findet Hegel -

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Hegels kritische Diagnose ist später von Ritter und seinen Schülern geradezu programmatisch gelesen worden. „Die ästhetische Urteilskraft übernimmt im Schönen und Erhabenen nach dem Ende der Metaphysik die Vermittlung des Übersinnlichen." Joachim Ritter: (Art.) „Ästhetik", in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter u.a, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 565.

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auch in Kants Kritik der Urteilskraft. (322 f.) Gerade der Modus der ästhetischen, bloß reflektierenden Urteilskraft gilt Hegel als bloße Steigerung der Reflexionsphilosophie, weil die Erfahrung der schönen Natur selbst nur wieder etwas Zufälliges, Subjektives, Endliches bleibt. Die ästhetische Idee, die nach Kant viel zu denken veranlasse, ohne daß ihr irgendein Begriff adäquat sei, lasse die Produkte der Einbildungskraft als ein Jenseits bestehen, „als ob nicht", so Hegel, „die ästhetische Idee in der Vernunftidee ihre Exposition, die Vernunftidee in der Schönheit dasjenige, was Kant Demonstration nennt, nämlich Darstellung des Begriffs in der Anschauung, hätte." (323) „Es wird also", so Hegel zusammenfassend, „vom Übersinnlichen, insofern es Prinzip des Ästhetischen ist, wieder nichts gewußt", es bleibt „schlechthin etwas Endliches und Subjekti-

(324)19

ves." Die Glaubensphilosophie Jacobis bildet den entgegengesetzten Pol der Kantischen Form von Reflexionsphilosophie. Innerhalb dieser Figur wird Schleiermacher eine herausgehobene Position eingeräumt: „Wenn das Diesseits, was Wahrheit hat, statt die Wirklichkeit zu sein, das Universum, als Empfindung unendliche Liebe, als Anschauung aber Religion ist, aber so, daß diese Identität selbst, es sei mehr als Passivität des Auffassens und inneren Nachbildens oder mehr als Virtuosität, etwas schlechthin Subjektives und Besonderes bleiben, ihre Äußerung nicht befestigen, noch ihre Lebendigkeit der Objektivität anvertrauen und hiermit eben die vorige Reflexion der Sehnsucht auf das Subjekt behalten soll, so hat das Jacobische Prinzip die höchste Potenzierung erreicht, deren es fähig ist, und der Protestantismus, der im Diesseits Versöhnung sucht, hat sich auf das höchste getrieben, ohne aus seinem Charakter der Subjektivität herauszutreten. In den Reden über die Religion ist diese Potenzierung geschehen." Schleiermachers Reden sind für Hegel also zunächst Ausdruck der Entwicklung, an dem das Prinzip des Protestantismus als Religion der Subjektivität, das Hegel als historischen Hintergrund sämtlicher Figuren der Reflexionsphilosophie beschrieben hatte, aufs höchste gesteigert ist und die entzweite Reflexionsphilosophie überschritten zu sein scheint. Von Schleiermachers Reden heißt es nun aber: „der Protestantismus, der im Diesseits Versöhnung sucht, hat sich auf das höchste getrieben, ohne aus seinem Charakter der Subjektivität herauszutreten." (391) Es sei der Punkt erreicht, wo die Natur konsequent als Universum gefaßt und die religiöse Substanz und Jenseitigkeit völlig ins Subjektive aufgelöst werde, „die Natur als Sammlung von endlichen Wirklichkeiten ist vertilgt und als Universum anerkannt, dadurch die Sehnsucht aus ihrem [...] ewigen Jenseits zurückgeholt, die Scheidewand zwischen dem Subjekt oder dem Erkennen und Die Interpretation kehrt in Hegels Religionsphilosophie im Kapitel ,Die Religion der geistigen Individualität' wieder, dessen Untergliederung dem Aufbau der Kritik der Urteilskraft entspricht: die jüdische Religion verhandelt Hegel als Religion der Erhabenheit, die griechische als Religion der Schönheit, die römisch-christliche als Religion der Zweckmäßigkeit. Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 17), 390 f. Daß das Christentum „die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet, und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das unterscheidendste seines Charakters". Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 10) 317. -

Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs

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dem absoluten unerreichbaren Objekt niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen Hegels eigene Strategie besteht darin, das in der Reflexionsphilosophie ausgebildete Prinzip der Subjektivität in seiner Negativität zu überbieten, indem er es als Allgemeines interpretiert und alles Jenseitige', das sich selbst als bloß Empirisches erweist, als geistige Vermittlung zu begreift. Man muß zunächst sehen, daß Schleiermacher und Hegel in der allgemeinen Bestimmung der Religion tatsächlich kaum differieren. Noch in den Vorlesungen zur Religionsphilosophie wird Hegel die Religion zunächst entsprechend der von Schleiermacher initiierten subjektiven Wende des Religionsbegriffs bestimmen: Auf dem Standpunkt der jetzigen Zeit sei die Religion bloße subjektive, plurale Religiosität oder Frömmigkeit, die Gott nicht erkenne und deren Hauptsache es sei, daß sie nur fromm sei. Gerade dies gilt Hegel als wichtiger Fortschritt, daß das Bewußtsein die Subjektivität als absolutes Moment erkannt habe.22 Der Unterschied zwischen Schleiermacher und Hegel tritt indes dort zutage, wo Hegel die Subjektivität religiöser Gewißheit nicht als Jenseitiges bestehen läßt, sondern durch begriffliche Explikation zugleich objektiviert. Schon die Entfaltung der Religion als einer späten logisch-historischen Stufe des Geistes impliziert deswegen die grundlegende Distanz zur Konstruktion des romantischen Religionsbegriffs im Sinne Schleiermachers: Religion ist nicht der mythische Ursprung unvermittelter Identität, sondern in sich bereits hochgradig vermittelt. Teilt Hegel Schleiermachers Religionsbegriff bis zu diesem Punkt, so schlägt seine Interpretation sogleich in eine vernichtende Kritik um. Denn die Subjekt-Objektivität der Anschauung des Universums bleibe ein Besonderes und Subjektives, insofern die ,Virtuosität des religiösen Künstlers' die Form der Anschauung, letztlich also die Gestalt der positiven Religion bestimmen solle. Tatsächlich spricht Schleiermacher in den Reden dem religiösen Individuum (Virtuosen) die synthetisierende Kraft zu, als neuer Mittler zwischen Endlichem und Unendlichem das Universum auf je individuelle Weise anschauen zu können. Für Hegel ist Schleiermachers Individualitätsbegriff wiederum bloßer Ausdruck eines unaufgelösten Empirismus, eine Form der Subjektivität und Partikularität, die die Entzweiung auf höherer Stufe wiederholt. Hegel sieht die Hypertrophierung des Subjekts, die ,Virtuosität des religiösen Künstlers' in eine ,Vergöttlichung des Individuums' umschlagen. Sie führe, so Hegel, zu einer .allgemeinen Atomistik', zu einer Eigenheit der Anschauung, oder, nun geradezu böse, zum Idiotismus als Prinzip der Gemeinde; die Gemeindchen und Besonderheiten machten sich bis ins Unendliche geltend. Hegels Vorbehalte gegenüber Schleiermachers Religionsbegriff sind vor allem politisch motiviert, zumal Hegel die religiöse Atomisierung mit Schleiermachers Gedanken der „aufgeklärten Trennung der Kirche und des

befriedigt".21

Glauben und Wissen (Anm. 17), 390. Hegel bezieht sich hier wie an anderen Stellen, denen er das Sehnen als eine zentrale Figur beschreibt auf Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 9), 228: „Sehnsucht nach Religion ist es was zum Genuß der Religion hilft." Gerade die unerfüllte Sehnsucht nach Genuß ist eine Bestimmung des .unglücklichen Bewußtseins'. Hegel: „Vorlesungen über die Philosophie der Religion I", in HW, Bd. 16, 102 ff.

Hegel:

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Staates" zusammendenkt. Hier schwingt erkennbar noch der alte Gedanke der Mythologie der Vernunft mit, dessen Ersetzung durch Subjektivität und Individualität der Religion Hegel nur konzedieren will, wenn mit ihm eine geistige Allgemeinheit zu verbinden ist. Was Geist ist, so Hegel, kann aber im Zustand von Atomen nicht als Universum vorhanden sein. In diesem Sinne wirft er Schleiermacher vor, daß „die Katholizität der Religion nur in der Negativität und der Allgemeinheit des Einzelseins besteht", die Subjektivität keine Objektivität in „Gesetzen und in dem Körper des Volkes und einer allgemeinen Kirche" erhalten soll. Auch wenn diese Auffassung zunächst einen antiliberalen Affekt auszudrücken scheint, so wittert Hegel offenbar in Schleiermachers ästhetischer Virtuosen-Religion die Gefahr der Herrschaft Einzelner. Wie dem Virtuosen im Orchester käme ihm eine besondere, durchaus nicht herrschaftsfreie Rolle zu. Neben dieser eher politisch motivierten Argumentationslinie läßt sich ein zweiter Argumentationszusammenhang erkennen, der mit dem angesprochenen Werkcharakter der Kunst zu tun hat. Hegel nimmt Schleiermachers Begriff des virtuosen oder religiösen Künstlers auf und wirft ihm vor, er perenniere die „Kunst ohne Kunstwerk".25 Die religiöse Äußerung verbleibe als schlechthin Inneres' und objektiviere sich nicht zum Kunstwerk. Diese Polemik ist bei Hegel doppeldeutig: zum einen könnte sie bedeuten, daß Hegel das religiöse Gefühl Schleiermachers im Kern für ein ästhetisches hält; zum anderen hatte Hegel bereits Jacobi vorgehalten, daß er sich mit der „subjektiven Schönheit dem Protestantismus nähert, welcher den Umgang mit Gott und das Bewußtsein des Göttlichen nicht in der sättigenden Objektivität eines Kultus [...] erkennt, sondern [...] die fixe Form eines inneren behält." (389) Wenn Hegel Schleiermacher vorhält, das schlechthin Innere' nehme nicht die ,wahrhafte Äußerung eines Kunstwerks' an, dann formiert sich hier eine Figur, die Hegel später ausführt: daß eben der Übergang von der Kunst zur Religion darin bestehe, daß die äußere Anschauung in die Innerlichkeit oder Vorstellung der Subjektivität zurückgeht. Insofern schließt sich Hegel Schleiermacher an, auch wenn er die Gefahren der (religiösen) Subjektivität für das Allgemeine sogleich dadurch auffangt, daß er die Religion nur als Übergang zur Allgemeinheit des Begriffs der Philosophie in Geltung läßt. Die Kritik an Schleiermacher läßt sich also auch als Selbstkorrektur Hegels gegenüber seiner eigenen Bestimmung der Religion in der Differenzschrift verstehen. Denn Hegel hatte dort selbst im Gegensatz zur Bestimmung der Kunst als Werk die Kunst als Religion dahingehend bestimmt, daß sie lebendig und Momente erfüllend sei, dabei subjektiv und innerlich bliebe. Eben diese Auffassung Hegels ist es, die er nun an Schleiermacher kritisiert. Hegels meint die kritisierte Reflexionsphilosophie dadurch überwinden zu können, daß er die moderne (als protestantisch gekennzeichnete) Subjektivität selbst in ihrer in der Negativität gegründeten Allgemeinheit als Absolutes geltend macht. Die Subjektivi-

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Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 17), 392. Ebd.- Vgl. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 10), (zur Trennung von Kirche und Staat). Hegel: Glauben und Wissen (Anm. 17), 392.

279 ff.

(zur Virtuosenreligion),

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als eine geistige gefaßt, die ihre adäquate Darstellungsform weder in der Kunst noch in der Innerlichkeit, sondern allein im explizierten Begriff findet. Die berühmte Passage am Ende von Glauben und Wissen verdeutlicht das. Das Gefühl, auf dem die moderne Religion beruht: Gott selbst ist tot, findet seine Versöhnung im spekulativen Karfreitag'. Das heißt, daß das Absolute oder die Religion nur in begrifflichphilosophischer Form und als Vermittlung im Endlichen expliziert werden kann. Im Unterschied zu Schleiermachers Idee des virtuosen, religiös-ästhetischen Mittlers, von Hegel als .Vergöttlichung des Subjekts' kritisiert, führt Hegels spekulative Interpretation der Kreuzigung zu einer religiösen Vergleichgültigung der Welt, des Individuums und der Kunst. In der Entfaltung der ,romantischen Kunstform' wird dieser Gedanke wiederkehren: dem Christentum (als Protestantismus) entspricht letztlich ein BeliebigWerden der Gegenstände der Kunst, aber diese Beliebigkeit (etwa in der holländischen Malerei) wäre nicht unvermittelt profan, sondern Konsequenz des Protestantismus. Der Trennungspunkt zwischen Hegel und Schleiermacher besteht in der unterschiedlichen Antwort auf die Frage, ob Religion in Philosophie aufgehoben werden soll oder nicht. Erst in dem Moment seiner systematischen Entwicklung, an dem Hegel Kunst/Religion und Philosophie nicht mehr nur als zwei gleichberechtigte und auch unabhängige Formen begreift, das Absolute zu fassen, sondern die Religion in der Philosophie spekulativ aufhebt (spekulativer Karfreitag'), Hegel also die Philosophie über die Religion stellt, tritt an die Stelle des wohlmeinenden Verweises auf Schleiermacher dessen Kritik. Eine Kritik, die vielleicht auch deswegen so scharf ausfallt, weil sie zugleich die Selbstkritik einer eigenen früheren Position ist. Macht man Hegels Kritik an Schleiermacher an diesem Punkt fest, dann steht das im Einklang mit der wiederkehrenden Polemik Hegels gegen Schleiermacher in späteren Schriften. An der Einheit von Kunst und Religion hält Hegel offenbar nur so lange fest, wie er im Zuge der französischen Revolution die Sittlichkeit der antiken Polis als Ideal in seine Gegenwart spiegelt; der Zeitpunkt der klaren Verabschiedung dieses Ideals fällt nicht zufällig mit dem von Napoleon verkündeten und von Hegel in dieser Form begrüßten Endes der französischen Revolution zusammen. Glauben und Wissen enthält die Figuren der Phänomenologie in nuce: die Gestalten des Bewußtseins (der zeitgenössischen Philosophie), die dort als „die Totalität der für das Prinzip möglichen Formen" (296) eher systematisch dargestellt werden, entwickelt Hegel in der Phänomenologie genetisch. So kehren verstreut, insbesondere im Kapitel über das ,unglückliche Bewußtsein', die Argumente wieder, die Hegel in Glauben und Wissen gegen Schleiermacher ins Feld geführt hatte. Der auffälligste Unterschied aber zum Systemaufriß der Differenzschrift besteht darin, daß Hegel nun Kunst und Religion nicht mehr als die zwei Formen der Kunst, sondern umgekehrt die Kunst als Moment der Religion faßt.

tat wird

nun

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4. Kunst- und Offenbarungsreligion in der Phänomenologie des Geistes Das Religionskapitel der Phänomenologie ist als das dem Absoluten Wissen vorausgehende besonders interpretationsbedürftig. Seine Interpretation reicht von der These, daß in der Theologie (und auch im Religionskapitel der Phänomenologie) das eigentliche Geheimnis der Hegeischen Philosophie liege, bis zur entgegengesetzten, daß Hegel das Absoluten Wissens am Ende des Geist-Kapitels bereits erreicht habe und deswegen die Darstellung hier von der Erfahrung des Bewußtsein in Religionsphilosophie übergehe. 6 Tatsächlich ist es verwunderlich, daß Hegel die Religion erst am Ende seiner Entdeckungsreise des Geistes' behandelt. In genetischer Hinsicht ist es keineswegs plausibel, daß Hegel mit Zarathustra und den Pyramiden anhebt, nachdem er bereits die Aufklärung, die Philosophie Kants und die Figur der schönen Seele' entfaltet hat. Sein Kunstgriff, die Religion (einschließlich der Kunstreligion) erst am Ende der Phänomenologie zu behandeln, leistet zumindest zweierlei: zum einen umgeht Hegel die romantische Figur einer ursprünglichen, in Mythos und Religion gegründeten Identität und Unmittelbarkeit, die sich so als hochgradig vermittelte Konstruktion erweist. Die Formen der Religion sind zugleich geistige Totalitäten und übergreifende historischkulturelle Formen. Indem Hegel das Religionsproblem im Bildungsgang des Geistes so spät behandelt, enthebt er sich der Aufgabe, eine vergangene Kultur in ihrem Selbstverständnis rekonstruieren zu wollen. Mythos und Religion sind keineswegs der Urgrund, aus dem heraus sich die Kulturformen entfalten. Re-ligion ist bei ihm Erinnerung eine etymologische Akzentuierung, die Hegel selber vornimmt. Zum anderen trägt Hegel damit dem auch begriffsgeschichtlich verifizierbaren Befund Rechnung, daß der Begriff der Religion als kultureller Ordnungsbegriff erst der Aufklärung zuzurechnen ist. Zur Religion wird der Glaube erst in seinem Verlust, das „Reich des Glaubens" sieht 7 Hegel in der „Religion der Aufklärung" untergehen. Erst wenn das Übersinnliche als Selbstbewußtsein des Geistes gefaßt wird und die „Gestalt sich vollkommen durchsichtig" ist, so Hegel, könne von Religion gesprochen werden. Was Hegel als geschichtliche Stufen darlegt, erweist sich vorrangig als ein Problem der neuzeitlichen Aufklärung und ihres Widerparts. Unter dem Gesichtspunkt der Religion „ordnen sich nun die Gestalten, die bisher auftraten, anders, als sie in ihrer Reihe erschienen." (447) Die Religionsgeschichte wird in der Phänomenologie nicht etwa als Kulturgeschichte dargestellt, sondern sie erhält ihren Ort dort, wo das Problem für das philosophische Wissen relevant wird.28 Das Lichtwesen ist das des nachantiken mystischen Judentums,29 die Kunstreligion die klassizistische Sicht der Antike, das Christen-

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Vgl. Herbert Schnädelbach: Hegel zur Einführung, Hamburg 1999, 76. Hegel: Phänomenologie des Geistes, neu hg. v. H.-F. Wessels/H. Clairmont, Hamburg, 1988, 444. Siep konstatiert, Hegels Darstellung des Christentums in der Phänomenologie beschreibe weniger „das Bewußtsein des frühen Christentums, sondern eher das seiner Zeit". Ludwig Siep: Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 2000, 235. Diesen Hinweis verdanke ich Stefanie Ertz.

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protestantisch. Sieht man, wie im 18. Jahrhundert die Ästhetik in das Christentum eingelesen bzw. die Kunst zur Religion überhöht wird, dann hat Hegels Lektüre des Übergangs von der griechischen Kunstreligion zum modernen Christentum abseits der spekulativen Konstruktion durchaus Plausibilität. Die Logik des Religionskapitels läßt sich so auf mindestens zwei Ebenen lesen: zum einen als Geschichte von der ägyptischen Erhabenheits- über die griechische Kunstreligion bis zur christlichen Offenbarung, zum anderen als jüngste Geschichte und damit durchaus als ,Erfahrung des Bewußtseins' der Weg von der neuhumanistisch-klassizistischen Kunstreligion zur (christlichen) Offenbarungsreligion der Romantiker weist diese Analogie (oder Wiederholung) auf, mit der Hegel zumindest spielt bzw. die er als zweite Ebene mitlaufen läßt. Es ist also nicht das Ereignis der Offenbarung, das Hegel spekulativ aufhebt, sondern das bereits hochgradig vermittelte Christentum, wie es die neuere Philosophie entwikkelt hat. Gleichzeitig faßt Hegel die Moderne in gewisser Weise als vom Mittelalter bloß unterbrochene Spätantike auf; das römische Rechtssystem, in dessen Rahmen sich der Wandel zur Religion der Offenbarung vollzieht, wird in der Moderne herrschend. Hegel faßt zu Beginn des Religionskapitels der Phänomenologie die erscheinenden Formen der Religion zusammen, die auf den vorhergehenden Stufen (Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft, Geist) zwar strukturell bereits vorliegen, jedoch zumeist nicht unter dem Begriff der Religion gefaßt wurden. Wie in den anderen Kapiteln läßt sich eine dreigliedrige Figur erkennen, indem Hegel die Vorgeschichte einer Denkfigur resümierend synthetisiert, in ihrer begrifflichen Fassung kulminieren läßt, um sie dann in ihr Anderes übergehen zu lassen. Insofern läßt sich die Struktur der Phänomenologie neben der berühmten Kreisfigur auch als die sich überschneidender oder überlagernder Kreisbögen beschreiben, bei denen der aufsteigende Bogen einer Kulturform zugleich dem absteigenden Bogen der vorhergehenden entspricht. Jeder Prozeß ist so in bezug auf ein Paradigma Verfall, in bezug auf das neue Paradigma zugleich Aufstieg; Diskontinuität und Kontinuität von Geschichte werden so gleichermaßen erklärbar. Indem Hegel die logischen Bestimmungen zu historisch bestimmter Konkretheit qualitum

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fiziert, überschreitet auch des frühen

er

den Formalismus kultureller Formen insbesondere Kants, aber

Schelling. eigentlich ausgearbeiteten Begriff wird Kunstreligion erst in Hegels Phänomenologie des Geistes, also paradoxerweise erst in einem Kontext, in dem ihr Begriff zugleich eine abgelegte Stufe des Geistes ist. Die Kunstreligion ist eingeschlossen zwischen der natürlichen Religion' als unmittelbarer Gestalt und der offenbaren Religion' als Einheit beider. Die Grundgliederung der Philosophie der Kunst ist hier vorbereitet: die in der Phänomenologie unter dem Titel natürliche Religion' verhandelten Themen werden in den späteren Vorlesungen zur Ästhetik in die symbolische Kunstform' oder der ,Kunst der Erhabenheit' überführt. Nicht nur das im Kapitel Kunstreligion verhandelte Material geht später in die Philosophie der Kunst ein, sondern jede der in der Phänomenologie entwickelten Religionsformen hat in sich eine ästhetische Seite. So sieht Zum

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Hegel in der natürlichen Religion die „Wurzel der freien Architektur", Pyramiden und Obeliske sind die Werke der symbolischen Kunstform' .Im Abschnitt das .geistige Kunstwerk' entwickelt Hegel Formen der Poesie (Epos, Tragödie, Komödie). Den Begriff der Kunstreligion verwendet Hegel in der Phänomenologie in seiner Doppeldeutigkeit: zum einen als Kunst, die selbst zur Religion wird, zum anderen als „künstliche Religion" im Sinne aufgehobener Natürlichkeit, in der das Bewußtsein zu sich selbst kommt, das Gestalten hervorbringt, in denen es sich selbst anschaut. (449). Kunstreligion oder .absolute Kunst' sind für Hegel an die sittliche Substanz eines Volkes, die konkrete Einheit von Individuum und Gattung gebunden. „Das Volk, das in dem Kultus der Kunstreligion sich einen Gott naht, ist das sittliche Volk, das seinen Staat und die Handlungen desselben als den Willen und das Vollbringen seiner selbst weiß." (470) Hegel parallelisiert damit die Figur der Kunstreligion mit der ersten Stufe im Kapitel Der Geist, die von der antik-griechischen Sittlichkeit bis zum (römischen) Rechtszustand reicht. Der Kunstreligion entspricht die konkrete Sittlichkeit, der Offenbarungsreligion die abstrakte Allgemeinheit bürgerlicher Rechtsverhältnisse: „Die Religion der Kunst gehört dem sittlichen Geiste an, den wir früher in dem Rechtszustande untergehen sahen, d. h. in dem Satze: das Selbst als solches, die abstrakte Person ist absolutes Wesen." (489) Hegel verortet die Entstehung der Offenbarungsreligion im Rechtszustand: in ihm „ist also die sittliche Welt und die Religion derselben in dem komischen Bewußtsein versunken, und das unglückliche das Wissen dieses ganzen Verlusts." (490) Der Zustand des bürgerlichen und politischen Lebens ist für Hegel vernünftig, gerade deswegen aber, gemessen am poetischen Weltzustand der Antike, nicht mehr schön. Indem Hegel Religion letztlich als ein gesellschaftliches Problem faßt, kann er den Untergang der griechischen Kunstreligion und die Entstehung der christlichen Offenbarung ins Verhältnis setzen. Dem abstrakten Selbstbewußtsein entspricht die Religion der Offenbarung. Die christliche Religion der Offenbarung, in der Gott Mensch geworden und gestorben ist, übernimmt in ihrer Negativität die übergreifende Funktion der Kunstreligion. „Es ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewißheit seiner und des Verlustes eben dieses Wissens von sich der Substanz wie des Selbst, es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist." (490) Ihr entspricht in der Phänomenologie noch nicht die Eigenständigkeit der ,romantischen Kunstform', die erstmals in der Enzyklopädie von 1827 erscheint. Die sinnlich-ästhetische Entäußerung des Geistes, wie Hegel sie als natürliche und Kunstreligion beschrieben hatte, wird in die Innerlichkeit des Selbst zurückgenommen, „dieser Gott wird unmittelbar als Selbst, als ein wirklicher einzelner Mensch, sinnlich angeschaut." (494) Die Werke der antiken Kunstreligion verlieren ihre religiöse Aura, die Bildsäulen werden zu Leichnamen. Die Kunstwerke werden zur „Er-Innerung des ihnen noch veräußerten Geistes, er ist der Geist des tragischen Schicksals, das alle jene individuellen -

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Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 28), 456.

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Götter und Attribute der Substanz in das Eine Pantheon versammelt, in den seiner als Geist selbstbewußten Geist". (491) Der Gedanke der vergangenen Kunst als Moment der Bildung bzw. der Musealisierung der Kunst ist hier bereits ausgeprägt die Religion, die sich in der Vergangenheit bewegt, wird zur bloßen Vorstellung. In der Entwicklungsgeschichte des Geistes hat die Kunstreligion für Hegel zugleich eine wichtige logisch-systematische Bedeutung. „Durch [!] die Religion der Kunst ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten". (488) „Diese Menschwerdung des göttlichen Wesens geht von der Bildsäule aus, die nur die äußere Gestalt des Selbsts an ihr hat, das innre aber, ihre Tätigkeit, fällt außer ihr; im Kultus aber sind beide Seiten eins geworden, in dem Resultate der Religion der Kunst ist die Einheit in ihrer Vollendung zugleich auch auf das Extrem des Selbsts herübergegangen". (488) Das Selbst ist durch die Religion der Kunst absolutes Wesen geworden und gehört nun dem nichtreligiösen oder wirklichen Geist an. Für Hegel kommt das Subjekt in der Kunst zum Selbstbewußtsein, an ihrem Ende zum Bewußtsein des Selbstbewußtsein. Wenn daher Schleiermacher später Religion als Gefühl ,schlechthiniger Abhängigkeit' beschreiben wird und Hegel dagegen mit dem berühmt gewordenen Aperçu reagiert, dann wäre ein Hund das religiöseste Wesen, so korrespondiert das Bild der Herr-Hund-Abhängigkeit durchaus der theoretischen Figur der Phänomenologie, wonach das Selbstbewußtsein durch Anerkennung der Herr-Knecht-Dialektik entspringt. Es ist Jaeschke zuzustimmen, wenn er das Ende der Kunst im Kontext ihres Verhältnisses zur Religion faßt.31 Es ist aber nicht zwingend, deswegen andere Argumente, wie die Partikularität der Kunst in der Reflexionskultur oder die rechtlich-politischen Veränderungen als Ursache der Depotenzierung der Kunst abzuweisen. Der römische Rechtszustand, den Hegel als Initialpunkt der Versachlichung und Individuierung faßt, ist geschichtliche Bedingung dafür, daß die Substanz zugleich als Subjekt gefaßt wird, die Kunstreligion als Repräsentationsform des Absoluten in die Krise gerät und durch die Religion der Offenbarung abgelöst wird. Man muß wiederum sehen, daß Hegel damit eine geschichtliche Gestalt weit in die Geschichte hineinprojiziert, die erst oder erneut in seiner Gegenwart virulent ist. Hegels spekulativ-genetische Verknüpfung von Kunst und Religion hat einen wesentlichen Grund in der Abwehr zeitgenössischer romantisch-religiöser Denkfiguren der Unmittelbarkeit. Der Kernpunkt besteht darin, daß Hegel die christliche Religion im gleichen Zuge wie die Kunst verabschiedet, oder schärfer gefaßt: die Kunst verabschiedet, weil es ihm um begriffliche Aufhebung der Religion geht. Beide werden zur Erinnerung, können also nur reflektiert bewahrt werden. Im Tod Gottes ist auch das Ende der Religion angelegt. Hegels spekulative Interpretation des Christentums ist nicht vor-

„Das Ende der Kunst ist ausschließlich im Kontext ihres Verhältnisses zur Religion zu erörtern." Walter Jaeschke: „Kunst und Religion", in Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, hg. von F.W. Graf/F. Wagner, Stuttgart 1982, 184.

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rangig als Versuch zu interpretieren, die Religion philosophisch zu retten; vielmehr ist in der spekulativen Fassung ein religionskritisches Moment zu erkennen. In der Phänomenologie tritt die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst bereits klar hervor. Wie andere Formen des absoluten Geistes kommen die Künste, bezogen auf die von ihnen repräsentierte geschichtliche und weltanschauliche Struktur, gleichsam immer zu spät. Kulminationspunkte der politisch-gesellschaftlichen und der kulturell-künstlerischen Entwicklung fallen also für Hegel durchaus nicht zusammen. Erst als das „Freiwerden des Selbst zu Grunde" gegangen, das „Vertrauen gebrochen, die Substanz des Volks in sich geknickt" ist, der „in sich gewisse Geist [...] über den Verlust seiner Welt trauert, [...] tritt die absolute Kunst hervor." Die Kunst repräsentiert je nur Vergangenes. Hegel formuliert allgemeiner: auch die Religion tritt in ihrer Vollendung erst im Verschwinden ihrer Grundlagen auf. Das Epos selbst ist, im Unterschied zum Kult, Er-Innerung. Daß gerade Hegels These vom ,Ende der Kunst' bis heute weitgehend isoliert diskutiert wurde, muß allerdings überhaupt verwundern, weil in diesem Sinne bei Hegel sämtliche Geistformen und ihre Geschichte an ihr Ende kommen, zugleich aber in ihrer Negation auch bewahrt werden; insofern handelt es sich nur um den Spezialfall eines Problems, das Hegels ganzes System betrifft. Das Thema wird offenbar insbesondere in Philosophien exklusiv, in denen auf die Kunst als kulturstiftendes Phänomen der Sozialordnung zurückgegriffen wird. Hegels These bedeutet in ihrer schwächeren Interpretation, daß nicht die Kunst, wohl aber der religiöse, die Totalität unter sich begreifende Charakter der Kunst geschichtlich überholt und aufgehoben ist. Es geht nicht um das empirische Ende der Kunst, sondern um die Einsicht, daß der in den Künsten liegende Anspruch in dieser Form nicht mehr realisierbar ist; das hat mit der Formbestimmtheit der Kunst als Kunst und nicht mit der Frage zu tun, ob weiterhin Kunstwerke produziert werden. Da es Hegel immer nur um das Fortschreiten des Geistes in seiner avanciertesten Gestalt geht, kann der Schein entstehen, als ob mit dem Übergang zur Religion (im gleichen Zuge zur Philosophie) auch die Geschichte der Kunst zu Ende wäre. Hegel behauptet für die Moderne allein das Ende der Kunst in ihrer Funktion als Religion, also zum einen die Befreiung der Kunst von heterogenen Bestimmungen, zum anderen das Ende ihrer kulturübergreifenden Funktion. Kunst sollte in den Frühschriften versinnlichte oder ästhetisierte Religion sein. Diese Funktion verabschiedet Hegel tendenziell bereits in der Differenzschrift. Kunst wirkt nicht mehr unmittelbar über die Sinne gemeinschaftsbildend, das Ende der Kunst meint also das Ende ihrer Ästhetisierung (als sinnliches Scheinen der Idee). Als übergreifende Praxisform wird die Kunst durch Philosophie (Wissenschaft) abgelöst. Hegel hat durchaus zukünftige Kunstformen (Darstellung des Humanum, ,objektiven Humors') entworfen und damit Tendenzen des 19. Jahrhunderts weitsichtig beschrieben. Zugleich sieht er für die Moderne eine freie Verfügbarkeit der geschichtlichen Stoffe und Formen; mit der Ablösung vom verpflich-

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 28), 460.

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Zur Modernität des Hegelschen Religionsbegriffs

tenden, kulthaften Charakter der Kunst wird dem Einzelnen eine freie Kunstrezeption als Bildung zugestanden. Hegel hält daran fest, daß die Kunst in der Antike ihren Scheierreicht und damit die Funktion der Religion verloren hat. Er ist Klassizist nicht allein aus geschmacklichen, sondern vor allem aus strukturellen Gründen. Hegels These vom Ende der Kunst ist nicht frei von spekulativen Voraussetzungen und bleibt der kritisierten romantischen Position noch in der Negativität verpflichtet. Im Lichte einer Kritik der Hegelschen Spekulation kann man sagen, daß sie innerhalb des Fortschrittsschemas des Geistes dem Negativen der Kunst keinen Raum läßt: daß Kunst auch in ihrer Negativität, daß auch die Zerstörung klassischer Normen Ausdruck der Gattungserfahrung sein kann, erfaßt Hegels Historisierung nicht. Zugleich hängt Hegels Verabschiedung der Kunst mit seinem Idealismus zusammen. Entfremdung setzt Hegel mit Gegenständlichkeit gleich, die nur geistig-begrifflich aufgehoben werden kann, wobei die Entfremdung in der Religion der Offenbarung gegenüber dem sinnlichen Scheinen der Idee in der Kunst sogar noch gesteigert wird. Die Gegenwart der Kunst fällt bei Hegel einer Argumentationsstruktur zum Opfer, die für den Religionsbegriff durchaus plausibel ist; wobei die Verknüpfung von Kunst und Religion ein romantisches Relikt ist, dem Hegels Ästhetikvorlesungen freilich substantiell entgegenarbeiten. Der entscheidende Unterschied zwischen dem frühen Schleiermacher und Hegel besteht also nicht in ihrer Charakterisierung der Religion, sondern darin, welchen Ort sie der Religion in der Moderne zuschreiben und damit eng verbunden ob dieser Religionsbegriff nicht selbst über sich hinaus in ein Gebiet verweist, das adäquat nur begrifflich zu erfassen ist. Nach Schleiermacher wird Religion nicht durch den Gegenstand bestimmt, sondern durch den Modus seiner Aneignung: nicht theoretisch, nicht praktisch, sondern in der Unmittelbarkeit von Anschauung und Gefühl. Schleiermacher hat die Überführung der Theologie in Anthropologie bis an die Grenze der Selbstaufhebung geführt. Entgegen der Erwartung Feuerbachs hat diese Nähe zur Anthropologie der theologischen Rezeption nicht geschadet. Schleiermachers Rückzug in vorreflexive Gefühl und in die Innerlichkeit macht Religion immun gegen Kritik. Der romantische Gegensatz, so Marx, begleite die bürgerliche Gesellschaft bis an ihr Ende und, so möchte man hinzufügen, in manischen Zeiten eher im Modus einer quasireligiösen Ästhetik reiner Fiktionalität, in rezessiven Zeiten eher als (dennoch ästhetische) Religion der Abhängigkeit die endlose Wiederholung auch dieser Gestalten des Bewußtsein mag gegen Hegels Optimismus fortschreitender Erfahrung sprechen.

telpunkt

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Walter Jaeschke

Das absolute Wissen1

Sauve qui peut! Rette sich, wer kann!"2 Mit dieser Antizipation des Entsetzensschreis derjenigen, die mit abstraktem Denken konfrontiert zu werden befürchten, beginnt der Text, den Hegel nur wenige Monate nach dem Schlußkapitel der Phänomenologie über ,Das absolute Wissen' geschrieben hat. Es dürfte in Hegels Sinn liegen, jenen Ausruf auch auf dieses Schlußkapitel zu beziehen und ihn nur leicht zu variieren: ,Wissen? Absolut? Sauve qui peut! Rette sich, wer kann!' Zweifellos trifft diese Variante eine zumindest ebenso weit verbreitete Bewußtseinslage wie die ursprüngliche Form des Zitats. Die Rede vom ,absoluten Wissen' läßt sogar noch mehr als die vom ,abstrakten Denken' befürchten, daß .von Metaphysik die Rede ist'. Wer die Möglichkeit eines .absoluten Wissens' behauptet oder sich gar selbst ein solches Wissen zuschreibt, muß seiner Ignoranz nicht mehr eigens überführt werden: Er hat sich selbst gerichtet. Die Bildung des Terminus ,absolutes Wissen' enthalte nicht allein ein Mißverständnis der Natur allen Wissens, da Wissen' immer nur gestimmtes', vermitteltes, also relatives, und niemals ,absolutes Wissen' sein könne. Sie gilt zudem als Gipfel philosophischer Hybris, und man ist immer schon im Recht, wenn man sich mit einem resignierten ,Sapienti saf von demjenigen abwendet, der ein absolûtes Wissen' für möglich hält oder gar für sich beansprucht. Und wer weniger rigoros nicht zugleich mit dem Unbegriff des ,absoluten Wissens' auch den Philosophen stehen lassen will, der von solchem Wissen redet, der findet von ihm noch andere Texte genug, selbst in der Phänomenologie, die weniger prätentiös und deshalb weniger anstößig erscheinen wie etwa die Ausführungen über Herrschaft und Knechtschaft. Sie

„Denken? Abstract?

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Abhandlung ist die überarbeitete Fassung des gleichnamigen Vortrags auf dem HegelKongreß Zagreb 2000, erschienen in Hegel-Jahrbuch 2001, Phänomenologie des Geistes, Erster Teil, hg. v. Andreas Arndt u.a., Berlin 2002, 286-295. Insbesondere Miriam Wildenauer danke ich für mannigfache Kritik und Verbesserungsvorschläge. Hegel: „Wer denkt abstract?", in (ders.) Gesammelte Werke (GW), hg. von der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff, Bd. 5, 381. Diese

Das absolute Wissen

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ist ja ein Buch, das von vorne gelesen zu werden pflegt, von der sinnlichen Gewißheit' oder der ,Einleitung' her, und häufig genug von ganz vorne, nämlich von dort, wo sie noch gar nicht begonnen hat: von der Vorrede zum System, die ja immer wieder irrtümlich als Vorrede zur Phänomenologie' angesprochen wird. Nun gibt es Autoren auch philosophische -, deren Texte vom Anfang her gelesen werden wollen, weil sie dort ihre Problemstellung entfalten, die sie im folgenden durchführen. Hegel gehört nicht zu diesen Philosophen. Seine Texte sind wie der Gedanke, den sie formulieren auf ein Telos hin angelegt: die Phänomenologie auf das ,absolute Wissen', wie die Wissenschaft der Logik auf die ,absolute Idee', die Naturphilosophie auf den Begriff des Lebens und die Enzyklopädie auf den Abschnitt ,Philosophie'. Dort liegt jeweils ihr gedankliches Zentrum auch wenn der Weg dorthin keineswegs als überflüssig oder gar als Umweg mißverstanden werden darf. Der gespannten Erwartung, daß diese Werke sich von diesen Zielpunkten her erschließen, steht jedoch die Lese-Erfahrung entgegen, daß Hegel von ihnen her nur noch auf das Vorangegangene zurückzublicken behauptet und damit häufig genug die Enttäuschung. Und selbst diese Rückblicke gestaltet Hegel in einer Weise, die seinen Kommentatoren den stereotypen Seufzer entlockt, daß hier, wo der Schlüssel zum Verständnis liegen solle, am wenigsten zu verstehen sei. Der Verdacht gegen den Anspruch auf Wissen und gar auf ,absolutes Wissen' begleitet die Philosophie auf ihrem Weg und dies nicht erst in der Gegenwart. Oft genug hat sie diesen Verdacht selber genährt und immer dann, wenn sie dieses skeptische Geschäft selber übernommen hat, hat sie sich einer gesteigerten Aufmerksamkeit, wo nicht gar Beliebtheit erfreuen dürfen. Der wohl berühmteste Satz der Philosophie verdankt seine Berühmtheit ja gerade dem Umstand, daß er das Wissen zu dementieren und das wahre Wissen in das Nichtwissen zu setzen scheint: Philosophie wäre demnach nicht ,absolutes Wissen', sondern Wissen des Nichtwissens. Ein Nachhall davon ob historisch zu Recht oder nicht ist auch zu Hegels Zeit vernehmbar. Dem nicht einmal mit der Prätention der Absolutheit auftretenden Wissen, das die Transzendentalphilosophie beansprucht, wird die Berufung auf das philosophische Nichtwissen entgegengestellt, und dies mit dem Anspruch, daß solches Nichtwissen dem Wissen überlegen sei. Für diese Kritik des philosophischen Wissens im Namen des Nichtwissens erweist es sich dann zwar als schwierig, die Grenze nicht allein zwischen dem (wissenden) philosophischen Nichtwissen und dem puren Nichtwissen, sondern auch zwischen dem Nichtwissen sowie der .Nichtphilosophie' einerseits und dem .Glauben' andererseits zu ,

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etwa die bei Schmidt genannten Arbeiten: Josef Schmidt: .Geist', .Religion' und .absolutes Wissen'. Ein Kommentar zu den drei gleichnamigen Kapiteln aus Hegels Phänomenologie des Geistes. Stuttgart u.a. 1997, 436. „Jacobi an Fichte" (1799), in (ders.) Werke, hg. v. K. Hammacher/W. Jaeschke. Bd. 2, Hamburg 2004, 192: „Da ich nehmlich das Bewußtseyn des Nichtwißens für das Höchste im Menschen, und den Ort dieses Bewußtseyns für den der Wissenschaft unzugänglichen Ort des Wahren halte".

Vgl. 4

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Walter Jaeschke

ziehen und darüber hinaus den dem philosophischen Wissen überlegenen Wissenscharakter dieses philosophischen Nichtwissens überzeugend darzutun. Trotz dieser Probleme aber erscheint das philosophische Nichtwissen heute als die weniger prätentiöse und deshalb vertrauenswürdigere Variante philosophischen Wissens. Den Mangel jedoch, daß die im europäischen Denken durch Sokrates wie auch durch Paulus (I Kor 8,2 f.) gleich doppelt wenn auch sehr unterschiedlich verankerte Hochschätzung des Nichtwissens theoretisch nur schwer zu rechtfertigen ist, allenfalls als Kritik an einer Überschätzung des Wissens, muß die moralische Auszeichnung des Bewußtseins des Nichtwissens bzw. die moralische Disqualifikation des Wissensanspruchs kompensieren: Wissen gilt nicht allein als (theoretisches) Stückwerk, sondern als (moralische) Torheit. Und wenn schon der Anspruch auf Wissen' weithin Verdacht erregt, so a fortiori der Anspruch auf absolutes Wissen' wie auch sonst auf alles, was in der Philosophie als ,absoluf ausgezeichnet worden ist. Unter den Auspizien der Rede vom Ende der Metaphysik' scheint das Wort ,absolut' seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach seiner kurzfristigen Rückkehr bei Husserl aus der Philosophie weitgehend verbannt worden und in die Alltagssprache emigriert zu sein,5 als sprachlich nicht ganz korrekte, aber geläufige Bezeichnung eines Superlativs. ,Absolutes Wissen' hingegen gilt als ,obsoletes Wissen'. ,Absoluf kann nur noch eines gewußt werden: daß kein Wissen den Titel eines ,absoluten Wissens' beanspruchen dürfe, wenn es sich denn nicht selbst aufheben wolle. Der sich selbst legitimierenden Koketterie des Nichtwissens, mit der sich ein gewichtiger Strang der Gegenwartsphilosophie mit Schelling zu reden selbst „aus dem Munde der Kinder und Säuglinge [...] Lob bereitet", steht freilich Hegels Begriff des ,absoluten Wissens' entgegen, und damit die Aufforderung an seine Interpreten, den Sinn dieses Begriffs herauszuarbeiten vielleicht ja auch seinen guten, zumindest einen diskutablen Sinn. Es ist jedenfalls kein fruchtbarer hermeneutischer Grundsatz, daß der zu interpretierende Autor fraglos immer schon Unsinn rede und allenfalls auf Nachsicht, nicht aber auf Einsicht hoffen dürfe. Er hat einen Anspruch auf unsere Bemühung darum, wie sein Gedanke zu verstehen sei selbst dann, wenn er ihn unter den ominösen und provokanten Titel ,absolutes Wissen' stellt. -

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knappe Anspielung will nicht als Geschichte des Terminus verstanden werden, sondern als Formulierung einer weitreichenden opinio communis. Etwaige gelegentliche Funde der Rede von etwas .Absolutem' lassen sich schwerlich zu einem eindrucksvollen Dementi dieser hier diagnostizierten Regel der gegenwärtigen Absolutheitsphobie stilisieren. Schelling an Hegel, Dreikönigsabend 1795, in Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister,, Diese

Bd. 1,

Hamburg31969, 13.

Das absolute Wissen

I.

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Vorklärungen

Die Schwierigkeiten, die das Kapitel über das ,Absolute Wissen' einem detaillierten Verständnis bereitet, sind nicht gering. Gleichwohl lassen sich die Grundlinien der Argumentation Hegels problemlos freilegen sofern man sich nur von dem Vorverständnis dessen befreit, was dieser Ausdruck seiner natürlichen Semantik zu folge besagen müsse, wie auch von anderen Hegel zeitgenössischen Weisen, von einem solchen .absoluten Wissen' zu reden insbesondere aber von dem Generalverdacht, daß unter diesem Titel notwendigerweise nur von den pudenda der Hegelschen Philosophie die Rede sein könne. Es geht hier trotz des Epithetons ,absolut' -ja keineswegs um philosophische, namentlich erkenntnistheoretische Allmachts- und Allwissenheitsphantasien, von denen wir immer schon geradezu ,absolut' wissen, daß sie nichtig seien. Es geht vielmehr um Einsicht in die Natur und auch um den Wandel der Natur des Wissens und damit auch desjenigen Wissens, das wir als Denkende mit unserem Anspruch auf Wissen immer schon beanspruchen. Dieses .absolute Wissen' möchte ich zunächst unter vier Gesichtspunkten kurz charakterisieren: unter den Gesichtspunkten -

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der Reflexivität, der Geistigkeit, der Geschichtlichkeit und der Faktizität.

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Reflexivität: Wie ,absoluter Geist' keine ins Unendliche gesteigerte geistige Person und auch sonst nichts Mysteriöses ist, sondern diejenige Gestalt des Geistes, in der er sich auf sich selber richtet, reflexiv wird, um sich zu erkennen in Kunst, Religion und Philosophie, deren Existenz ja nicht sinnvoll bestritten werden kann -, so ist auch das ,absolute Wissen' reflexives Wissen wenn auch sicherlich nicht in der Weise der insbesondere zu Beginn der Jenaer Jahre kritisierten ,Reflexion'. ,Absolut' ist es, sofern es nicht auf einen außerhalb seiner gelegenen Gegenstand bezogen, sondern selbstbezügliches Wissen ist, Wissen des Wissens von sich. Geistigkeit: Die Reflexivität ist jedoch nur ein erstes, formelles Charakteristikum des ,absoluten Wissens' sonst wäre ja jedes Wissen absolut, zumindest sofern man jedem Wissen eine reflexive Struktur zuschreiben kann, da allem Bewußtsein Selbstbewußtsein zugrunde liegt. Das ,absolut' genannte Wissen ist deshalb nicht schon durch diejenige formale und banale Struktur der Selbstbezüglichkeit bestimmt, die man jedem Wissen (in einem vielleicht ins Unendliche gehenden Progreß) zuschreiben kann, sofern zu jedem Wissen der Gedanke des Wissens von diesem Wissen hinzutreten kann, absolutes Wissen' ist Wissen nicht eines ,Gegenstandes' oder gar desjenigen erträumten Gegenstandes, der ,das Absolute' wäre, sondern es ist Wissen des Geistes von sich, von seinem Wesen. Dieses Wissen liegt darin, daß das Denken das ihm vermeintlich vorgegebene, ihm gegenüberstehende Objekt in Bestimmungen der Subjektivität transfor-

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Walter Jaeschke

198

miert oder besser, daß es erkennt, daß diese Transformation immer schon geschehen ist und nur noch ins Bewußtsein gehoben werden muß: indem es den Gegensatz des Bewußtseins überwindet, nämlich erkennt, „daß die Entäußerung des Selbstbewußtseyns es ist, welche die Dingheit setzt".7 Eben hiermit überwindet es die Entäußerung und Gegenständlichkeit und weiß somit in seinem Gegenstand, in seinem Anderen sich und ist in ihm bei sich selbst. Geschichtlichkeit: Anders als der erste, básale Selbstbezug ist dieses Sichwissen des Geistes im Anderen seiner selbst nicht eine der Zeit enthobene Struktur jeglichen Wissens. Es ist geschichtlich, weil Geistiges immer Geschichtliches ist, oder anders: weil Geschichte die spezifische Form der Wirklichkeit des Geistes ist. Hegel macht ernst mit der Formel von der ,Geschichte der Vernunft', die Kant zwar an exponierter Stelle, nämlich am Schluß der Kritik der reinen Vernunft, einführt, allerdings ohne ihre systematische Brisanz zu entfalten. Dies ist jedoch die Aufgabe der Phänomenologie: Wie sie generell das Wissen „in seinem Werden" aufzeigt, „die Momente des eigentlichen Begriffes oder reinen Wissens in der Form von Gestaltungen des Bewußtseyns", so auch das .absolute Wissen' als eine besondere, und zwar als letzte der Gestalten des Bewußtseins: Das „Resultat" der ist selbst das Resultat einer Jahrhunderte, ja Jahrtausende übergreifenden Bewußtseinsgeschichte, die im Kern Geschichte des Denkens, eben deshalb jedoch nicht gegen die Ausbildung und geschichtliche Entfaltung anderer Bereiche des Lebens isoliert ist. Näher ist es diejenige Gestalt der Gewißheit des Geistes von sich selbst, die in der Bewußtseinsgeschichte der Neuzeit heraufgeführt wird insbesondere durch die neuzeitliche Philosophie und im letzten Schritt durch Hegels Philosophie. Diese Gewißheit bildet die geschichtliche Voraussetzung und die systematische Grundlage der ,Wissenschaft' und das heißt für Hegel: letztlich des Systems der Philosophie als der eigentlichen Wissenschaft. Faktizität: In dieser geschichtlichen Konkretion liegt bereits inbegriffen, daß das ,absolute Wissen' wirkliches Wissen sei. Sein Begriff ist nicht normativ zu verstehen, im Sinne eines von außen auferlegten Sollens, so daß das absolute Wissen allererst in der Zukunft von uns zu realisieren wäre. Wenn es nicht schon geschichtliches Resultat und damit wirklich wäre, würde es unserer Bemühung um seine Realisierung ebenso spotten wie ein von uns nur gedachtes und nicht bei uns seiendes Absolutes. Hegel führt den Begriff des absoluten Wissens nicht als ein vielleicht fernes Ziel ein, das die Philosophie einmal erreichen werde, und ebensowenig als ein Ziel, auf das sie hinstreben solle, gar mit einem eindringlichen Appell, es zu verwirklichen, sondern im Rückblick auf seine geschichtliche Realisierung. In seinen Augen ist es nicht nur eine vielleicht leere Möglichkeit, sondern eine Wirklichkeit, die sich geschichtlich herausgebildet hat (freilich eine Wirklichkeit, vor der man wie vor aller Wirklichkeit die Augen auch -

Phänomenologie9

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8 9

Hegel: Phänomenologie des Geistes, in GW, Bd. 9, 422. Ebd., 423.

Hegel: Wissenschaft der Logik I (1832), in GW (Anm. 2), Bd. 21, 32 f.

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Das absolute Wissen

199

verschließen kann). Gegen seinen Verweis auf die Wirklichkeit solchen Wissens ist die oft gehörte Versicherung, daß es ,absolutes Wissen' nicht gebe, eine leere Versicherung auch wenn sie den heutigen Regeln der philosophical correctness entsprechen mag. Man kann Hegel ja nicht ohne nähere Prüfung seiner Ausführungen unterstellen, er habe von etwas als von einem Faktum gehandelt, was allein in seiner Phantasie existiert habe, also lediglich Träume eines Geistersehers erzählt zumindest wäre auch dies ein mißliches hermeneutisches Prinzip. Hegels Behauptung, daß solches Wissen als eine Gestalt des Bewußtseins geschichtlich wirklich geworden sei, erfordert eine andere Antwort als die schlechthinnige Behauptung seiner Unmöglichkeit nämlich zunächst die Rückfrage, welches Wissen Hegel denn als ,absolutes' bezeichnet habe. Dann mag man bezweifeln oder bestreiten, daß dasjenige geschichtlich vorhandene Wissen, auf das Hegel sich bezieht, in seiner geschichtlichen Genese und seinem systematischen Sinn von ihm richtig verstanden und zudem als ,absolutes Wissen' glücklich oder zumindest angemessen bezeichnet sei. Letzteres allerdings wäre ein Streit nur um Worte. Wer sich unter ,absolutem Wissen' etwa, phantasievoll, eine göttliche Allwissenheit vorstellt, ist sicherlich im Recht mit der Behauptung, daß solches Wissen der Philosophie und selbst der Hegelschen verschlossen sei. Derartiges ist aber damals in keines Menschen Sinn gekommen, und am wenigsten in Hegels Sinn. Deshalb sollte man ihn auch nicht verdächtigen, daß seine Phänomenologie in einem solchen Unbegriff kulminiere und daß er ihn zudem noch zur Basis des auf diesen Begriff gebauten Systems der Wissenschaft erkläre. -

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II.

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Begriff des absoluten Wissens

Nach diesem kurzen, notwendig abstrakten ,Vorbegriff ist zu fragen, wie dieses Sichwissen des Geistes, das Hegel als das wirkliche Resultat einer geschichtlichen Entwicklung bestimmt, näher zu denken sei. Zur Signatur dieser von ihm herausgehobenen Gestalt der Geistigkeit gehört es, daß sie Momente der theoretischen und der praktischen Erkenntnis ebenso in sich schließt wie auch Momente des Wissens der Religion. Die der Religion angehörende Vorform dieses Wissens nimmt die Form eines gewußten Inhalts gegenüber der Seite der Form an, nämlich der Selbstgewißheit des Geistes, deren Wirklichkeit Hegel primär durch Bezug auf die Philosophie konkretisiert. Hierdurch erscheint die Dualität von Religionsgeschichte und Philosophiegeschichte als konstitutive Voraussetzung der Genese des ,absoluten Wissens' auch wenn Hegel daneben eine Fülle von Gestalten des Bewußtseins nennt, die nicht im strengen Sinne einer dieser beiden Geschichten zuzuordnen sind, bis hin zu Ereignissen der politischen Geschichte wie der Französischen Revolution. Gleichwohl, scheint mir, kann die Entwicklung des .absoluten Wissens' am besten im Rückgang auf diese beiden Geschichten begriffen werden. Ich möchte hier Hegels Hinweisen zur Genese des .absoluten Wissens' folgen, aber etwas anders als er differenzieren und akzentuieren. -

Walter Jaeschke

200

1. Absolutes Wissen und theoretische Erkenntnis

(1) Einen wichtigen Beleg für die Überwindung des Bewußtseinsverhältnisses, für die Auflösung der Gegenständlichkeit in die Selbstgewißheit des Ich bietet bereits die theoretische Philosophie der Neuzeit. Im Zuge eines knappen Rückblicks auf die Geschichte dieser Philosophie rekapituliert Hegel kurz seine in den vorhergehenden Kapiteln verstreuten Aussagen zu diesem Thema. Aus seiner pointierten, auch eigenwilligen und zu seiner Zeit revolutionären, aber durchaus erwägenswerten Deutung dieser Geschichte möchte ich zwei Epochen herausheben.

zur Überwindung des epistemologischen Dualismus, der Kluft zwischen Wissen und Gegenstand, sieht Hegel bereits für die frühe Neuzeit als bestimmend die antike Philosophie erwähnt er hier nicht -, und zwar für die beiden sich dort an komplementär gegenüberstehenden Gestaltungen der Philosophie: den Empirismus und den Rationalismus. Bereits die beobachtende Vernunft' des frühneuzeitlichen Empirismus deutet Hegel als Überwindung der bloßen Entgegensetzung des Subjekts gegen einen Gegenstand denn sie suche und finde sich selber in dem ihr vermeintlich bloß gegenüberstehenden „gleichgültigen Dinge", und sie spreche ihre Bestimmung in dem .unendlichen' und fraglos von Hegel provokant formulierten Urteil aus, „daß das Seyn des Ich ein Ding ist." Schon die Beobachtung finde „das Daseyn als Gedanken" wie umgekehrt der Rationalismus „in seinem Denken das So spreche das Denken bereits zu Beginn der Neuzeit, also sowohl bei Bacon als bei Descartes, ,die unmittelbare Einheit des Denkens und Seyns' aus und in seinem weiteren Verlauf die Mit dieser Interpretation ebnet Hegel die „Einheit der Ausdehnung und des dualistischen Momente des Cartesianismus ein, die dessen Rezeption bis in seine Zeit bestimmt haben, und zwar zugunsten desjenigen Moments, in dem er später, in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, das zentrale Problem der Philosophie sehen wird: das Problem der Einheit von Denken und Sein. Seine Ausarbeitung bestimmt er als das zentrale Thema der Geschichte der Philosophie im allgemeinen und insbesondere der neuzeitlichen: An ihrem Beginn stehe das Denken „als ein Subjektives, mit der Reflexion seines Insichseins, so daß es einen Gegensatz am Seienden überhaupt hat. Das Interesse ist dann ganz allein, diesen Gegensatz zu versöhnen, die Ver-

(2) Die Tendenz -

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Daseyn".11

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Seyns".12

Hegel: Phänomenologie des Geistes, (Anm. 7), 423. Diese Deutung der beobachtenden Vernunft' deckt sich allerdings insofern nicht völlig mit der zuvor, ebd. 137 ff., vertretenen, als bei der eigentlichen Abhandlung der beobachtenden Vernunft' das Moment des ,sich Suchens' nicht -

akzentuiert ist.

Ebd., 430. Ebd. Daß Hegel hier, im Blick auf Spinoza, den Bogen zurück zum .ersten Lichtwesen' schlägt, ist eine zusätzliche Bestätigung für meinen Nachweis, daß das ,Lichtwesen' der Phänomenologie der Gott Israels sei. Siehe Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart 1986, 209-214. -

Das absolute Wissen

201

in ihrem höchsten Extrem zu begreifen, die abstrakteste, höchste Entzweiung des Seins und des Denkens zu fassen. Alle Philosophie von da an hat das Interesse die-

söhnung ser

Einheit."13

Mit dieser Betonung des monistischen Interesses der Philosophie im Kontrast der dualistischen Verfassung, die ihr Erscheinungsbild fast ausnahmslos prägt steht Hegel damals nicht allein. Sie deckt sich mit dem Bild, das Jacobi in seinem Sendschreiben Jacobi an Fichte entwirft: „Unleugbar ist es Geist der speculativen Philosophie, und hat darum von Anbeginn ihr unabläßiges Bestreben seyn müßen, die dem natürlichen Menschen gleiche Gewißheit dieser zwey Sätze: Ich bin, und es sind Dinge außer mir, ungleich zu machen. Sie mußte suchen den Einen dieser Sätze dem andern zu unterwerfen; jenen aus diesem oder diesen aus jenem zulezt vollständig herzuleiten, damit nur Ein Wesen und nur Eine Wahrheit werde unter ihrem Auge, dem Allsehenden! Gelang es der Speculation diese Einheit hervorzubringen, indem sie das Ungleichmachen so lange fortsezte, bis aus der Zerstörung jener natürlichen eine andere künstliche Gleichheit deßelben im gewißen Wißen einmal offenbar vorhandenen Ich und Nicht-Ich entsprang eine ganz neue Creatur, die ihr durchaus angehörte! Gelang ihr dieses: so konnte es ihr alsdann auch wohl gelingen, eine vollständige Wißenschaft des Wahren alleinthätig Doch was Jacobi hier in kritischer Absicht als den „Geist aus sich der speculativen Philosophie" anprangert, das sieht Hegel affirmativ als den Motor der Entwicklung insbesondere der theoretischen Philosophie der Neuzeit. -

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hervorzubringen."14

(3) Doch obgleich Hegel auch der theoretischen Philosophie der frühen Neuzeit Einsichabgewinnt, die seine Deutung stützen: Die eigentliche Beweislast für seine These, daß das Gegenstandsbewußtsein sich in die Selbstgewißheit des Ich auflöse, trägt die Transzendentalphilosophie oder, um nochmals mit Jacobi zu sprechen: Die restlose Auflösung des Gegenstandsbewußtseins in die Selbstgewißheit des Ich erfolge durch die ten

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„reine Flamme" des transzendentalen Idealismus,15 die allen dem Ich entgegenstehenden

Stoff verzehre. Als ein dem erkennenden Subjekt bloß Entgegengesetztes ist das Ding aufgehoben: „es hat nur Bedeutung im Verhältnisse, nur durch Ich und seine Beziehung auf dasselbe."16 Deshalb schreibt Hegel nicht schon dem Rationalismus, sondern erst der Transzendentalphilosophie die dem Empirismus komplementäre Einsicht zu: ,JDas Ding ist Ich."11 Aufgrund der gegenstandskonstitutiven Leistungen der Subjektivität ist das,

ein ,an sich' zu sein schien, als etwas zu erkennen, das ,für uns' ist ein ,an sich' für uns, aufgenommen in die Einheit des Bewußtseins, im Blick auf deren Fundierungsfunktion Hegel die damaligen Auseinandersetzungen um Idealismus und Realismus für

was

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1

14 15

16 17

Hegel: Vorlesungen

über die Geschichte der

V9),71.

Jacobi: Werke (Anm.

Ebd., 195.

4), Bd. 2,

Philosophie, hg. v. Garniron/W. Jaeschke, Bd. 4 (=

194.

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 7), 423. Ebd., 423.

202

Walter Jaeschke

obsolet erklärt.18 Das, was etwas an sich selbst ist, ist gerade nicht seine Wahrheit weil es außerhalb des Wissens gar keine Wahrheit geben kann. Da der Gegenstand immer schon durch Leistungen der Subjektivität konstituiert ist, bezieht das Subjekt sich in der Beziehung auf ihn zugleich auf sich selbst; sein Wissen wird vom Objektwissen zum Sichwissen im Objekt, zum Fürsichsein des Selbstbewußtseins oder anders: es setzt ,¿ich als Gegenstand, oder den Gegenstand um der untrennbaren Einheit des Fürsichseyns willen als sich selbst."19 Der provokative Charakter der beiden komplementären Sätze, „daß das Seyn des Ich ein Ding ist" und ,f>as Ding ist Ich", verleitet allerdings dazu, den berechtigten Sinn dieser Relation von ,Ich' und ,Ding' zu übersehen und dies um so mehr, als im Horizont des Protestes gegen ,Verdinglichung' jeder derartige Zusammenhang im Verdacht einer Fehlentwicklung steht. Doch für Hegel ist dieser sehr komplexe Akt der Dingkonstitution durch das Ich ein notwendiger Schritt auf dem Wege zum ,absoluten Wissen'. ,Dinge' sind ja nichts Natürliches, dem Selbstbewußtsein Entgegenstehendes allenfalls im selben Maße, als auch das ,Natürliche' immer schon ein Konstituiertes und somit im naiven Sinne ein nicht-Natürliches ist. Der erste, zeitlose und im allgemeinen nicht thematisierte Aspekt dieses Aktes liegt in der kategorialen Bestimmung des ,Dinges': Das ,Ding' ist stets ein ,Gedachtes'. Diese Deutung kann sich auch auf Kants Begriff der Objektivität berufen; sie stützt sich aber fraglos insbesondere auf diejenige Form des transzendentalen Idealismus, die das von der Kantischen Philosophie noch übrig gelassene Gespenst des Ding an sich vertrieben hat:20 auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Darin folgt Hegel der Deutung der Wissenschaftslehre Fichtes als der gegenüber Kant konsequenter durchgebildeten Transzendentalphilosophie einer Deutung also, die Jacobi um 1800 der damals jungen Philosophengeneration eingeschärft hat, insbesondere in seiDiesen transzendentalen Idealismus der strennem Sendschreiben Jacobi an Fichte. gen Observanz nimmt Hegel als eine der konstitutiven philosophiegeschichtlichen Vorbedingungen für das schließliche Erreichen des ,absoluten Wissens' in Anspruch und doch wohl nicht zu Unrecht. Zum ,Ding' im emphatischen Sinne wird etwas jedoch nicht schon durch seine kategoriale Bestimmung oder durch seine Ausdehnung oder Materialität oder Endlichkeit, sondern erst dadurch, daß es von der Besetzung durch ein fremdes, göttliches oder dämonisches Selbstbewußtsein befreit ist. ,Dingheif setzt diese Befreiung und die Ausbildung eines Komplementärverhältnisses zum wirklichen Selbstbewußtsein voraus. -

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Siehe vom Verf: „Zum Frankfurt/M. 2004. 19

Begriff des Idealismus",

in

Hegels Erbe, hg.

v.

Christoph Halbig

u.a.,

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 7), 422. neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Erste Einleitung" (1797), in (ders.), Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I, Bd. 4, 190 und 192 f.: „Das Ding an sich wird zur völligen Chimäre."

20

Fichte: „Versuch einer

21

Siehe Anm. 4.

Das absolute Wissen

203

Was durch ein fremdes Selbstbewußtsein besetzt

ist, ist weder Komplement noch gar Manifestation des wirklichen Selbstbewußtseins. Der Satz ,Das Ding ist Ich' setzt die frühneuzeitliche Aufhebung einer derartigen Unterstellung von Gegenständen unter die Absichten eines fremden Selbstbewußtseins voraus: die Ausbildung eines prosaischen 22 Weltzusammenhangs oder die Entzauberung der Welt. Und dieser Schritt verändert nicht allein das ,Ding', sondern mit dem ,Ding' auch das Selbstbewußtsein, das dieses ,Ding' als solches konstituiert. Trotz allen Unbehagens, das man gegenüber solcher Dingkonstitution verspüren mag: Die Verdinglichung des Dings ist zugleich ein Akt der Befreiung des Selbstbewußtseins, der bewußtseinsgeschichtlich von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der modernen Welt ist. Doch so unverzichtbar diese Konstitution von Objektivität im Interesse der Ausbildung freier Subjektivität ist, so ist das Verhältnis dieser Objektivität zum Subjekt doch nicht symmetrisch. Das Objektive ist ein Endliches, ein Negatives, ein Gegenstand des Verstandes; der Verstand scheidet es „genau von dem Subjectiven, und es wird dasjenige, was keinen Werth hat, und Nichts ist".23 Dem Selbstbewußtsein gilt das „Ding" zwar einerseits „als ein fürsichseyendes, [...] aber diß Fürsichseyn selbst als Moment, das nur verschwindet, und in sein Gegentheil, in das preisgegebene Seyn für anderes übergeht." Oder wie Hegel im Kapitel über das ,Absolute Wissen' akzentuiert: Das Ding hat keinen Selbstwert, sondern nur einen Wert für Anderes; es ist ein Nützliches: „Die Dinge sind schlechthin nützlich, und nur nach ihrer Nützlichkeit zu betrachten."24 (4) Mit diesem Aspekt der Nützlichkeit ist bereits der Schritt vom Bereich des Theoretischen zum Praktischen angedeutet. Hegel vermerkt bereits in diesem theoretischen Kontext die Insuffizienz einer Genealogie des ,absoluten Wissens' lediglich aus dem theoretischen Wissen und nicht allein in dem Sinne, daß der Bereich des Praktischen den des Theoretischen in einem zweiten Schritt durch äußerliches Hinzutreten vervollständigen müsse. Elemente des Praktischen sowohl in Gestalt der Philosophie als auch der politischen Wirklichkeit liegen bereits der Ausbildung der konsequenten Gestalt der Transzendentalphilosophie als notwendige Formationsbedingungen zugrunde: Erst indem der Geist „das Daseyn als seinen Willen erfaßt, kehrt er somit den Gedanken seiner innersten Tiefe heraus".25 -

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v. Verf: „Der Zauber der Entzauberung", in Hegel-Jahrbuch 2004, Glauben und Wissen, Berlin 2004. Hegel: „Glauben und Wissen", in GW, Bd. 4, 317. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 7), 423 f. Ebd., 430.

Vgl.

Walter Jaeschke

204

2. Absolutes Wissen und praktische Erkenntnis

Die Funktion des Bereichs des Praktischen beschränkt sich jedoch nicht auf diese temporäre Hilfestellung für die Entwicklung des theoretischen Wissens. Die Auflösung des Gegenstands in Ich fällt sogar primär auf die Seite des Praktischen. Die Asymmetrie, die zwischen der epistemischen Einstellung in der theoretischen Erkenntnis und im Gebiet des Praktischen zu herrschen scheint, wird hierdurch einerseits begradigt und andererseits doch insofern implizit anerkannt, als dem Gegenstandsbezug im Praktischen die entscheidende Bedeutung für die Auflösung des Gegenstands in das Selbstbewußtsein zugesprochen wird: Nicht das theoretische, sondern erst das moralische Selbstbewußtsein „weiß sein Wissen als die absolute Wesenheit, oder das Seyn schlechthin als den reinen Willen oder Wissen; es ist nichts, als nur dieser Willen und Wissen". In der sittlichen Autonomie gibt sich der seiner selbst gewisse Geist sein Dasein. Er erkennt nichts Daseiendes als etwas für ihn Bestimmendes an oder, mit Hegel: „Der seiner selbst in seinem Daseyn gewisse Geist hat zum Elemente des Daseyns nichts anderes, als diß Wissen von sich".26

(1)

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(2) Es ist vielleicht aufschlußreich, Hegels äußerst knappe Hinweise auf den konstitutiven Beitrag der praktischen Philosophie zur Genese des ,absoluten Wissens' von ihrer ausschließlichen Orientierung an Kant und Fichte und der von ihnen geprägten transzendentalphilosophischen Schulsprache abzulösen und sie in den weiteren problemgeschichtlichen Horizont zu stellen, dessen Erhellung die Voraussetzung auch für das Verständnis der praktischen Philosophie des transzendentalen Idealismus bildet. Die europäische Rechtsphilosophie der frühen Neuzeit vollzieht ja eine fundamentale Umstrukturierung des Rechtsbegriffs: Ihre geschichtliche Voraussetzung und ihren Ausgangspunkt bildet die traditionelle Verankerung aller Normativität im Gedanken Gottes als des Gesetzgebers oder, davon abgeleitet, in einer selbst noch von diesem Gott geschaffenen und deshalb als normative Instanz auftretenden ,Natur'. Erst diese Philoso-

phie entdeckt den Willen des Menschen als die Quelle allen Rechts wie auch aller Verpflichtung. Trotz des Vorgangs von Hugo Grotius und Thomas Hobbes gewinnen auch noch John Locke und Samuel Pufendorf den Rechtsbegriff erst auf dem Umweg über den Pflichtbegriff und diese Pflichten wiederum unter Rückbezug auf Gott und die Natur.27 Erst ein Jahrhundert nach ihnen stabilisieren Kant, Fichte und Hegel die spezi-

Ebd., 424. Grotius: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625, nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707. Neuer deutscher Text u. Einl. v. W. Schätzel, Tübingen 1950,1, 3, 8 (4). Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/III), eingel. u. hg. v. G. Gawlick, Nachdruck Hamburg 1977. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. u. eingel. v. I. Fetscher. Frankfurt/M. 1984. John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. u. eingel. v. W. Euchner. Frankfurt/M. 1977. Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, hg. v. W. Schmidt-Biggemann, Bd. 4/1 und 4/2, Berlin 1998.

Hugo

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Das absolute Wissen

205

fisch neuzeitliche Umorientierung in der Begründung des Rechts und der Moral im Willen des Subjekts und in Antizipation ebenso stereotyper wie verfehlter Einwände sei sogleich hinzugefügt, daß dieser Wille stets ein gemeinsamer und nirgends ein einsamer Wille ist, den man erst durch die nachträgliche Erfindung der Intersubjektivität aus seiner solipsistischen Not und Langeweile erretten müßte. -

(3) Erst unter dieser philosophiegeschichtlichen Bedingung der Verlagerung der Quelle aller Normativität in den Willen der rechtsetzenden Subjekte kann man mit Grund behaupten, daß das Selbstbewußtsein sein Wissen und Wollen als die absolute Wesenheit wisse. Solange hingegen Gott der Ursprung allen Rechts und aller Moral ist, ist auch kein ,absolutes Wissen' möglich: Das Selbstbewußtsein kann dann nicht mit Grund seinen Willen als Dasein und das Dasein als seinen Willen aussprechen. Nur unter dieser Bedingung der völligen Umstrukturierung von Moral und Recht kann Hegel übrigens mit gutem Grund erklären, daß das Selbstbewußtsein den gesamten -

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erzeuge.28

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Auch im Bau der Wesenheiten der Substanz in sich ziehe und sie aus sich Blick auf die praktische Philosophie zieht also Hegels Beschreibung der Genese des ,absoluten Wissens' das Resümee der neuzeitlichen Entwicklung bis hin zu dem Stand der Ausbildung, den diese Genese in seiner Gegenwart gefunden hat und dessen Grundzug auch für unsere Gegenwart bestimmend bleibt auch wenn wir ihn nicht mehr unter den Titel des »absoluten Wissens' stellen. -

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3. Absolutes Wissen und Religion

(1) Das ,absolute Wissen' ist für Hegel aber das Resultat nicht allein der Philosophiegeschichte im engeren Sinn, sondern der Bewußtseinsgeschichte überhaupt. Mein Versuch, es als Resultat der neuzeitlichen Philosophie sowohl nach der theoretischen als der praktischen Seite zu begreifen, hat bisher insbesondere diejenige Gestalt der Wirklichkeit ignoriert, die Hegel in diesem Kontext vor allen anderen auszeichnet: die Religion. Ihr wendet Hegel sich zu, noch bevor er detailliert auf die neuere Philosophiegeschichte eingeht, und er weist ihr insofern eine herausgehobene und zentrale Stellung zu: Zwar sei das Bewußtsein „in der Ordnung, in der uns seine Gestalten vorkamen, theils zu den einzelnen Momenten derselben, theils zu ihrer Vereinigung längst gekommen, ehe auch die Religion ihrem Gegenstande die Gestalt des wirklichen Selbstbewußtseyns gab." Hingegen komme der Religion Priorität gegenüber der Wissenschaft' zu: „Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit, als die Wissenschaft, es aus, was der Geist ist". Diese Priorität ist jedoch ausschließlich als zeitliche -

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Ders.: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, v. K. Luig. Frankfurt/M. 1994. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 7), 428 f. Ebd., 425.

hg.

u.

übers.

206 zu

Walter Jaeschke

verstehen, und so schließt Hegel diesen Satz: „aber diese ist allein sein wahres Wis-

sen von

ihm

selbst."30

(2) Es bietet sich an, die Bedeutung der Religion für die Genese des absoluten Wissens unter Rückgriff auf die beiden Sätze zu erläutern, durch die Hegel seine knappe Skizze der Religionsgeschichte strukturiert: Das Selbst ist ein Unmittelbares, und das Unmittelbare ist das Selbst. Die Analogie zur neuzeitlichen Bewußtseinsgeschichte drängt sich auf: Das Ich ist Ding, und das Ding ist Ich. Analog konstruiert ist auch die Aufhebung der Einseitigkeit beider Sätze durch ihre Vereinigung. Insofern ist es plausibel, daß Hegel der Religion eine Bewegung des Gedankens zuschreibt, die diejenige der Bewußtseinsgeschichte der frühen Neuzeit vorwegnimmt. Dies jedoch nicht etwa, weil die Religion durch Offenbarung früher zu der Einsicht und Vereinigung gekommen wäre, die durch die allgemeine Bewußtseinsgeschichte erst allmählich herausgearbeitet werden muß, sondern weil der Religion derselbe ,Mechanismus' des Geistes zugrunde liegt wie dem Bewußtsein überhaupt. Er ist hier aber zunächst im vortheoretischen Bereich wirksam, und das, was als Struktur des Geistes selbst erkannt werden muß, wird als ein bloß äußeres Geschehen vorgestellt. Eben wegen dieser Identität der beiden unterschiedlichen Gestalten des Bewußtseins einerseits, aber des höheren theoretischen Aufwandes der Begriffsform andererseits hat der Doppelsatz der allgemeinen Bewußtseinsgeschichte wie auch die Versöhnung der beiden unterschiedlichen Doppelsätze, die Hegel der neueren Bewußtseinsgeschichte zuschreibt, ein geschichtlich früheres Pendant in derjenigen Versöhnung, die die christliche Religion in der Form der Vorstellung Welt, daß der Geist als ein Selbstbewußtsein, d. h. als ausspricht: Es sei der Glaube der ' ein wirklicher Mensch da sei.

(3) Hegels Formulierungen sehen das Resultat der Religionsgeschichte in weitgehender Analogie zum begrifflichen Gehalt der neueren Bewußtseinsgeschichte und so manch ein Kommentator hört an dieser Stelle schon die Glocken läuten. Aber spricht die christliche Religion den Satz, daß der Geist ein Selbstbewußtsein sei, wirklich aus d. h.: Spricht sie ihn in einem Sinne aus, der die Interpretation stützt, die Hegel von ihm gibt? Daß sie ihn früher ausspricht als die Wissenschaft', wird niemand bestreiten, und daß sie ihn in der Lehre von der Menschwerdung Gottes ausspricht, ist trivial. Damit sie ihn aber im Sinne der Genese des absoluten Wissens ausspräche, müßte sie wissen, was sie da sagt. Und genau dies ist auch nach Hegel nicht der Fall, und zwar unvermeidlicher Weise nicht. Man könnte dies die Tragik der Religion nennen: Sie spricht die Wahrheit aus aber sie spricht sie, als Religion, unvermeidlich in der Form der Vorstellung aus, in der die Wahrheit eben nicht ausgesprochen werden kann. Das, was sie zum Inhalt hat, ihr ,Ansich', ist nicht für sie. Sie verlegt das, was an sich ist, die Einheit des Geistes und des Selbstbewußtseins, die Substantialität des Subjekts, in einen dem Be-

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,

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Ebd., 430. Ebd., 404.

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Das absolute Wissen

207

wußtsein

gegenüberstehenden, räumlich und zeitlich definiten Gegenstand und folgemit dem Verschwinden dieses Gegenstands in ein Einst der Vergangenheit und ein Einst der Zukunft.32 Damit hält sie das für das Wahre, was der genaue Gegensatz des ,absoluten Wissens' ist. Und weil sie das Wahre zwar ausspricht, aber nur verzerrt, entstellt, bildet sie ungeachtet des hohen Ranges, den Hegel ihr zuspricht, zugleich die tiefste Form der Entzweiung. Diese Konsequenz des inneren Widerspruchs zwischen ihrem Bewußtsein und ihrem Selbstbewußtsein hebt Hegel mit großem Nachdruck hervor: „Die religiöse Gemeine, insofern sie zuerst die Substanz des absoluten Geistes ist, ist das rohe Bewußtseyn, das ein um so barbarischeres und härteres Daseyn hat, je tiefer sein innerer Geist ist, und sein dumpfes Selbst eine um so härtere Arbeit mit seinem Wesen, dem ihm fremden Inhalte seines Bewußtseyns."

richtig

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Trotz dieser desillusionierenden Diagnose der Denkform der Religion könnte ihr eine nicht allein heuristische, sondern eine für die Genese des ,absoluten Wissens' letztlich konstitutive Funktion zukommen. Der von ihr vorgestellte geistige Gehalt, dem sie durch seine räumliche und zeitliche Fixierung und damit Entstellung die Bedeutung eines ,Ansich' abspricht, könnte einmal in der geistigen Welt ausgesprochen aus sich heraus eine Dynamik entfalten, die diese Fixierung durchbräche und so den entscheidenden Anstoß für die Erkenntnis der Substantialität des Selbstbewußtseins gäbe. Dann wäre die Genese des ,absoluten Wissens' gleichwohl durch die Religion bedingt und insofern gehörte die religiöse Versöhnung zu den geschichtlichen und systematischen Bedingungen, die Hegel für das Erreichen des ,absoluten Wissens' als des sich als Geist wissenden Geistes nennt: „Diese Versöhnung des Bewußtseyns mit dem Selbstbewußtseyn zeigt sich hiemit von der gedoppelten Seite zu Stande gebracht, das einemal im religiösen Geiste, das anderemal im Bewußtseyn als solchem." Jedoch kann es nicht bei solchem Nebeneinander bleiben, und: „Die Vereinigung beyder Seiten ist noch nicht aufgezeigt; sie ist es, welche diese Reihe der Gestaltungen des Geistes be-

(4)

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schließt".34

Diese Annahme ist sowohl in systematischer als auch in historischer Perspektive zu diskutieren wobei allerdings über einen Punkt kein Zweifel bestehen kann: Auch durch eine derartige einmal unterstellte geschichtliche Bedingtheit des ,absoluten Wissens' auch durch die Religion wäre die Wahrheit jenes Wissens keineswegs von äußeren Instanzen, von einem Akt der Offenbarung abhängig gemacht. Es wäre auch nicht aus zwei Stücken „übel deren eines aus dem „Jenseits" und -

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zusammengenäht",35

Ebd., 420 f. Ebd., 430. Ebd., 425. Diesen Ausdruck gebraucht Schleiermacher, um eine Bestimmung der Religion durch Addition Metaphysik und Moral abzuwehren; siehe Friedrich Schleiermacher: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799), in (ders.) Kritische Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 2, hg. v. G. Meckenstock, Berlin-New York 1984, 199.

von

208

Walter Jaeschke

deren anderes aus dem „Diesseits" stammte. Denn die ,Offenbarung', von der hier im Kontext des erscheinenden Wissens wie auch später im ,System' allein die Rede sein kann, ist selber nichts anderes als ein Wissen nämlich dasjenige Wissen, das vom Bewußtsein notwendig als ein ihm von außen zukommendes Wissen vorgestellt wird, solange die Substantialität des Selbstbewußtseins noch nicht begriffen ist. Es ist derselbe Geist, dessen ,Arbeif das Wissen der Religion wie auch die Philosophiegeschichte prägt wenn auch in unterschiedlicher Weise. Wirklich ,offenbar' aber, wie Hegel recht gut weiß und auch ausspricht, ist „nur die Gewißheit seiner selbst".36 Heute mag es eher überraschend erscheinen, daß Hegel der Religion überhaupt einen Beitrag zur Genese des ,absoluten Wissens' zuspricht, der strukturell demjenigen der Seite des nicht-religiösen Bewußtseins analog ist. Es spricht aber vieles dafür, daß er damit die Bedeutung des Beitrags der Religion sehr realistisch eingeschätzt habe: daß ihr Beitrag, zumindest bis in Hegels Zeit, demjenigen der anderen Bereiche der Bewußtseinsgeschichte gleichwertig gewesen sei. Kunst, Philosophie und Wissenschaft haben sich ja erst langsam genug von der Dominanz der Religion befreit. Die Frage, ob der Religion die ihr von Hegel zugesprochene Funktion für die Genese derjenigen Gestalt des neuzeitlichen Wissens zukomme, die Hegel das ,absolute Wissen' nennt, ist nicht durch systematisch-philosophische Erwägungen zu beantworten, sondern allein durch eine umfassende Bewußtseinsgeschichte, wie Hegel sie mit seiner Phänomenologie angeregt und in einem ersten Umriß ausgearbeitet hat. Ich darf hier vielleicht meinen Eindruck aussprechen, daß wir fast zweihundert Jahimmer noch entschieden zu wenig über solche bewußtre nach ihrer Veröffentlichung seinsgeschichtlichen Prozesse wissen und daß Ansätze zu ihrer Analyse auch heute noch in ideenpolitischen Grabenkämpfen steckenzubleiben drohen. Soweit ich sehe, zeigt die Bewußtseinsgeschichte insgesamt einen ambivalenten Charakter teils Anzeichen einer solchen initiativen und über Epochenschwellen hinweg dominierenden Funktion der Religion, teils jedoch schwerwiegende Belege dafür, daß nichts die Einsicht in die Substantialität des Selbstbewußtseins so sehr blockiert hat wie die autoritative Fixierung der früheren Antizipation dieser Einsicht durch das religiöse Bewußtsein. Seine eigene Einschätzung dieses Prozesses hat Hegel in der »Vorrede« zum ,System' hinreichend prägnant ausgesprochen: „Jene Anticipation, daß das Absolute Subject ist, ist daher nicht nur nicht die Wirklichkeit dieses Begriffs, sondern macht sie sogar unmöglich, denn jene setzt ihn als ruhenden Punkt, diese aber ist die Ich darf in diesem Zusammenhang an meine Bemerkungen über die frühneuzeitliche Geschichte der praktischen Philosophie erinnern: Erst die Überwindung der religiösen Blockaden und erbittert verteidigten Barrikaden hat den Weg zur Einsicht in die Substantialität des Selbstbewußtseins eröffnet. Dies spricht für die Richtigkeit der Analyse Hegels, daß die „Vereinigung beyder Seiten', also der der Religion und des allgemeinen -

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Selbstbewegung."37

Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 7), 428. Ebd., 21.

209

Das absolute Wissen

Bewußtseins, derjenigen Seite angehöre, „die im Gegensatze die Seite der Reflexion in sich, also diejenige ist, die sich selbst und ihr Gegentheil, und nicht nur an sich oder auf eine allgemeine Weise, sondern für sich oder entwickelt und unterschieden enthält."3 Und erst wenn die Philosophie sich im Laufe ihrer Geschichte in den Besitz des Begriffs und damit auch des Schlüssels zum Verständnis der Religion gesetzt hat, deutet sie jene Aussage der Religion als eine sich selbst mißverstehende, für das Selbstbewußtsein der Religion dem Gehalt nach nicht durchsichtige Antizipation des der Philosophie eigentümlichen Wissens: „Denn das Vorgestellte hört nur dadurch auf, vorgestelltes und seinem Wissen [sc. dem Wissen des Selbstbewußtseins] fremd zu seyn, daß das Selbst es hervorgebracht hat und also die Bestimmung des Gegenstandes als die seinige, somit sich in ihm anschaut." Deshalb beschränkt Hegel in seinem knappen Rückblick die bewußtseinsgeschichtliche Rolle der Religion auf Antike und Mittelalter und läßt sie mit der Renaissance auf die theoretische und praktische Philosophie übergehen.40 Das Stück des Weges, auf dem die Religion das ,absolute Wissen' antizipiert, erweist sich bewußtseinsgeschichtlich als eine Sackgasse, aus der erst durch das Wissen der Philosophie wieder herauszufinden ist: „Erst nachdem es [sc. das Bewußtsein] die Hoffnung aufgegeben, auf eine äusserliche d. h. fremde Weise das Fremdseyn aufzuheben, wendet es sich, weil die aufgehobne fremde Weise die Rückkehr ins Selbstbewußtseyn ist, an sich selbst, an seine eigne Welt und Gegenwart, entdekt sie als sein Eigenthum und hat somit den ersten Schritt gethan aus der Intellectualwelt herabzusteigen, oder vielmehr deren abstractes Element mit dem wirklichen Selbst zu begeistern"41 Die Bereinigung' der Seiten der Substanz und des Selbst, von der Hegel zuvor spricht, ist deshalb nicht in Form einer Addition der beiden Resultate der beiden Partialgeschichten vorzustellen, als deren gemeinsames Resultat sich dann das ,absolute Wissen' ergäbe. Sie ist vielmehr ein Prozeß, in dem diejenige partielle Vereinigung, die zuvor auf der Seite der Religion erfolgt ist, in ihrer traditionellen Form aufgelöst wird und nunmehr auf der Seite des Subjekts verwirklicht wird. Wegen des geschichtlich späteren Auftretens der Begriffsgestalt des Wissens „gehören dem SWfoibewußtseyn daher von der Substanz nur die abstracten Momente an; aber indem diese als die reinen Bewegungen sich selbst weiter treiben, bereichert es sich, bis es die ganze Substanz dem Bewußtseyn entrissen, den ganzen Bau ihrer Wesenheiten in sich gesogen, und [...] sie aus sich erzeugt und damit für das Bewußtseyn zugleich wieder hergestellt hat."4 Denn trotz seiner Beschreibung dieses Prozesses als .Entreißen' und .Insichsaugen des religiösen Inhalts' verdeutlicht Hegel, daß dieser Prozeß, der seit Hegels Schülern häufig mit dem unscharfen Wort Säkularisierung' bezeichnet wird, ebenso als ein Setzen des Neuen durch das Bewußtsein zu begreifen ist, und nicht als ein bloß negatives Ver-

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,

Ebd., 425. Ebd., 369, 425 f. Ebd., 430. Ebd.

Ebd., 428 f.

Walter Jaeschke

210

halten oder gar, wie man hinzufügen kann, als ein Prozeß, dessen Resultate von dem in ihm Negierten abhängig blieben. Die antizipierte Gestalt ist abhängig von der wahren Gestalt dessen, was da antizipiert wird, und nicht etwa diese Gestalt von ihrer vorzeitigen und vorläufigen Antizipation.

III. Absolutes Wissen und Freiheit

(1) Die Genese des ,absoluten Wissens' fällt in eine Bewußtseinsgeschichte, die sich in einzelnen herausgehobenen Gestalten, in Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Religion manifestiert, deren entscheidende Phase aber durch die neuzeitliche Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie eingeleitet und geprägt wird. Philosophie ist das methodisch entfaltete Selbstbewußtsein des Menschen und deshalb muß der Gehalt dieser Bewußtseinsgeschichte in der Philosophie sich selbst durchsichtig werden. Weil das ,absolute Wissen' für Hegel das Resultat dieser Geschichte als einer begriffenen Geschichte ist, ist es nicht nur partiell verfügbar und schon gar nicht für Sonntagskinder reserviert: Jede oder jeder -, die oder der dieses Resultat gedanklich nachvollzieht oder wie Hegel sagt die Reflexion darauf macht, zu welcher Gestalt sich das Wissen entwickelt hat, ist im Besitze dieses ,absoluten Wissens'. Es bedarf in der Tat nicht mehr als dieser Reflexion, um sich in den Besitz des ,absoluten Wissen' zu versetzen nämlich desjenigen ,absoluten Wissens', in dessen Begriff die Phänomenologie kulminiert und das die geschichtliche und systematische Voraussetzung des Hegeischen Systems bildet. Und von einem anderen Wissen ist hier ohnehin nicht die Rede. Es ist zwar eine beliebte, aber nicht sehr erhellende und ebensowenig fruchtbare Form der Kritik an Hegel, ihm unsinnige Erkenntnisansprüche zu unterstellen und dann mit triumphalem Gestus zu verkündigen, daß er sie nicht eingelöst habe und auch gar nicht einlösen konnte, weil sie unsinnig seien. Berechtigt ist freilich die historische Frage nach der Stimmigkeit seiner Deutung der Bewußtseinsgeschichte sowohl nach der Seite der in ihr aufgehobenen neuzeitlichen Geschichte der theoretischen und der praktischen Philosophie als einer Philosophie der Subjektivität, als auch nach der anderen Seite des Beitrags der Religion zu dieser Geschichte. Diesen Fragen wäre nachzugehen und es ist offenkundig, daß sie weit über die Interpretation von Hegels Phänomenologie hinausweisen und von übergreifender Bedeutung für unser Selbstverständnis sind. -

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(2) Das ,absolute Wissen' ist ein geschichtliches Resultat, weil alle Formen des Geistes sich geschichtlich entwickeln. Es gibt nichts Geistiges, das nicht auch ein Geschichtliches wäre. Geschichtlich ist es aber nicht im Sinne eines Zufälligen, das ebensogut anders sein könnte. Die Notwendigkeit, mit der sich die geschichtliche Herausbildung des ,absoluten Wissens' vollzieht, macht es zu einem normativen Konzept, das zur Beurteilung auch früherer Gestalten des Wissens als defizienter Formen dienen kann. Seinen Normcharakter verdankt

es

nicht einem hinter ihm stehenden externen Sollen,

Das absolute Wissen

211

sondern ausschließlich der Einsicht in die Notwendigkeit seiner geschichtlichen Herausbildung. Die Phänomenologie bietet ja nicht eine bloß historische Deskription; sie erkennt im Rückblick auf den Gang des erscheinenden Wissens diese „Nothwendigkeit" seiner Herausbildung auch wenn sie diese nur in einer locker erscheinenden Folge von Bewußtseinsgestalten herausarbeitet. Hierdurch leistet sie zugleich mit der Freilegung der geschichtlichen Voraussetzungen des Hegelschen Systems der Philosophie die „Be3 gründung des Wissens". -

(3) Die Leistung dieses .absoluten Wissens', die Überwindung des Bewußtseinsverhältnisses, die Erkenntnis der Auflösung des Gegenstandes in das Selbstbewußtsein bezeichnet Hegel mehrfach mit einem Wort, das uns primär einem anderen Kontext anzugehören scheint: mit dem Wort ,Versöhnung'. ,Versöhnung' als Resultat setzt die Überwindung von Streit voraus und dies gibt Anlaß zur Frage, ob sich hier nicht ein entwicklungsgeschichtlich überholtes Modell von Entzweiung und Vereinigung einschiebe, das nicht mehr in den neuen begrifflichen Rahmen passe. Man mag im Zweifel -

sein, ob denn auf dem Gebiet des theoretischen Erkennens die Subjekt-Objekt-Differenz sinnvoll als eine zu versöhnende ,Entzweiung' zu beschreiben sei. Denn diese Differenz wirft zwar erkenntnistheoretische Probleme auf, doch kann man von ihr nicht sagen, daß sie nicht sein solle und nach Möglichkeit zu tilgen sei; sie ist eine strukturelle Entzweiung, unter der wir nicht leiden und zu deren Überwindung wir nicht das Wort Versöhnung' bemühen würden. Es ist zumindest nicht selbstverständlich, auf dem Gebiet des theoretischen Wissens die Auflösung des Gegenstands in das Selbstbewußtsein als ,Versöhnung' anzusprechen. Und das Alltagsbewußtsein nimmt eher daran Anstoß, die von Hegel behauptete Einheit des Wissens und seines Gegenstandes zu verstehen, als daß es sich durch die Struktur des Bewußtseinsverhältnisses in seinen Rechten, seinen Wünschen und seinem Wohlbefinden tangiert sähe. Problematischer stellt sich dies jedoch im Gebiet des Praktischen dar und auch auf dem Gebiet der Religion. Zur Illustration der Intention, die Hegel hier von Versöhnung' sprechen läßt, möchte ich Ausführungen heranziehen, die aus denselben Monaten stammen wie das Kapitel über das Absolute Wissen'. Am Schluß seiner Jenaer Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie charakterisiert Hegel das ,absolute Wissen' zunächst mit einer Wendung, die an Giordano Bruno erinnert und es bedarf keiner besonderen Rechtfertigung, in einer Abhandlung über Hegel an Bruno zu erinnern, nicht nur aus Anlaß der vierten Säkularfeier seiner Verbrennung: „In der Einheit den Gegensatz, und in dem Gegensatz die Einheit zu wissen, dieß ist das absolute Wissen". Dieses Wissen des Gegensatzes in der Einheit und der Einheit im Gegensatz ist aber nicht wie es zunächst scheinen könnte ein spielerisches und ruheloses Oszillieren zwischen diesen beiden Polen von der Einheit zum Gegensatz und wieder zurück. Hegel faßt diese Überwindung der Entzweiung vielmehr unmittelbar darauf in einer dramatischen, ja martiali-

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,

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Ebd., 446.

Walter Jaeschke

212

sehen Wendung: „Es scheint, daß es dem Weltgeiste jetzt gelungen ist, alles fremde gegenständliche Wesen sich abzuthun, und endlich sich als absoluten Geist zu erfassen, und was ihm gegenständlich wird, aus sich zu erzeugen, und es, mit Ruhe dagegen, in seiner Gewalt zu behalten. Der Kampf des endlichen Selbstbewußtseyns mit dem absoluten Selbstbewußtseyn, das jenem außer ihm erschien, hört auf."44 Von ,Versöhnung' also ist deshalb die Rede, weil mit dem Erreichen des ,absoluten Wissens' dieser Kampf endigt, dessen Schauplatz die Weltgeschichte und insbesondere die Philosophiegeschichte sind. Beide sind dort an ihr Ziel gelangt, „wo dieß absolute Selbstbewußtseyn, dessen Vorstellung sie hat, aufgehört hat, ein Fremdes zu seyn, wo also der Geist als Geist wirklich ist." Erst dort also, wo die nur auf der Seite des Ansich geschehene Versöhnung, nämlich das von der Religion nur vorgestellte und deshalb bei aller Bemühung um Vereinigung stets ein Fremdes bleibende, fälschlich so genannte „absolute Selbstbewußtseyn" überwunden ist, kann der Geist als Geist, und das Subjekt als Sub-

stanz, und das Wissen als absolutes Wissen wirklich sein.

(4) Man kann den Zustand am Ende dieses Kampfes als Versöhnung' ansprechen. Man kann ihn aber auch mit einem Wort charakterisieren, das in dem betreffenden Abschnitt der Jenaer philosophiegeschichtlichen Vorlesungen nicht vorkommt und im Schlußkapitel der Phänomenologie, wie überhaupt beim frühen Hegel, keine ausgezeichnete Bedeutung hat: mit dem Wort ,Freiheif. Der Kampf des endlichen Selbstbewußtseins mit ,

dem absoluten Selbstbewußtsein, der mit der Überwindung der Endlichkeit des endlichen und mit der Wirklichkeit des absoluten und mit dem Erreichen des .absoluten Wissens' endet, ist ein Kampf der Befreiung und ein Denken, das in diesem Kampfe die Position der Neutralität einnehmen zu können glaubte, würde sich selber mißverstehen. Das ,absolute Wissen' ist die philosophische Gestalt dieser geschichtlich gewordenen Freiheit des Geistes. -

IV.

Schlußbetrachtung

(1) Hegels Begriff des ,absoluten Wissens' markiert den Einheitspunkt, von dem aus die geistige Wirklichkeit insgesamt zu deuten ist; er ist die knappe und sicherlich provozierende Formel für eine integrale Theorie des geistigen Lebens, als dessen Resultat eben das ,absolute Wissen' verwirklicht wird. Dieses vereinigt die Selbstgewißheit des Geistes

und

zwar

sowohl die theoretische Erkenntnis wie auch die Rechts- und Mo-

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ralphilosophie mit demjenigen Wissen, das sich in der Religion in Form einer vermeintlich objektiven Erkenntnis ausspricht, die ihren Ursprung jenseits der Selbstgewißheit des Ich habe. So umfaßt sie die Totalität der geistigen Formen. Diese bilden nicht différente, partikulare Sphären, die unterschiedlichen Gesetzen gehorchen. Die mit -

44

45

Hegel: Werke, Bd. XV, 689. Ebd., 690.

Das absolute Wissen

213

dem Stichwort ,absolutes Wissen' bezeichnete integrale Theorie hat den Charakter einer freilich nur impliziten, zunächst nur antizipierten Prinzipienwissenschaft: Sie exponiert die Grundbegriffe der Wissenschaften, des Rechts, der Moral, Religion, Geschichte und bringt sie in ein einheitliches System, indem sie die vermeintlich unüberwindbaren Gegensätze der Erkenntnistheorie wie auch der Ontologie, der geschichtlichen Wirklichkeit und selbst der Religion als integralen Zusammenhang in Form einer stufenweisen Selbstdifferenzierung und Selbstreflexion einer einzigen geistigen Wirklichkeit zu denken erlaubt, die nichts dem erkennenden Subjekt Fremdes ist. In einer Hinsicht greift Hegels Begriff des ,absoluten Wissens' aber sicherlich zu kurz: Der Kunst kommt im Religionskapitel der Phänomenologie bekanntlich noch keine eigenständige Bedeutung zu, und so auch nicht im Blick auf die Genese des .absoluten Wissens'. Der späte Hegel hätte die Kunst fraglos und nicht allein aus Gründen der Systemeinheit, sondern auf Grund des herausragenden Beitrags der Kunst für die Genese des Wissens des Geistes von sich als eine eigenständige, für das .absolute Wissen' konstitutive Gestalt des Selbstbewußtseins des Geistes neben Religion und Philosophie eingeführt. Und gerade an der Kunst hätte sich sein Gedanke der Genese der Selbstgewißheit des Geistes in einer hervorragenden Weise explizieren lassen. -

-

Diese mit der Formel .absolutes Wissen' bezeichnete integrale Theorie ist fundiert in einer freilich nur skizzenhaften Analyse der frühneuzeitlichen Bewußtseinsgeschichte, der antiken und mittelalterlichen Religionsgeschichte und schließlich der neuzeitlichen Philosophiegeschichte. Sie begreift die in der Religionsgeschichte und insbesondere in der Philosophiegeschichte formulierten Einsichten als konstitutiv für unser Denken nicht in dem Sinne, als ob sie durch die nachträgliche Rezeption dieser beiden Geschichten von außen her in unser Denken hineinwirkten und es bestimmten, sondern als die methodische Erkenntnis der uns im allgemeinen gar nicht bewußten geschichtlichen Entwicklung des Denkens. Deshalb gibt es auch kein ,absolutes Wissen', ehe nicht der Geist als Weltgeist vollendet ist. Bereits hier und nicht erst unter den Bedingungen der politischen Restauration erhebt die Eule der Minerva ihre Schwingen erst bei Einbruch der Dämmerung. Und bereits hier besteht die Aufgabe der Philosophie darin, die Vernunft in der Wirklichkeit zu erkennen. Sie vollendet diese Aufgabe in der Rekonstruktion der geschichtlich sukzessiven Auflösung des Gegenstands in das Selbstbewußtsein oder, etwas moderner gesprochen, in der Rekonstruktion der Genese des Paradigmas der Subjektivitätsphilosophie, das sie im Begriff des absoluten Wissens ausspricht und retrospektiv als Resultat der vorausgegangenen Bewußtseinsgeschichte, prospektiv als systematische Voraussetzung eines Systems der Philosophie erkennt. Denn es „erscheint in der Zeit und Wirklichkeit die Wissenschaft nicht eher, als bis der Geist zu diesem Bewußtseyn über sich gekommen ist."47

(2)

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Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 7), 428-430. Ebd. 428.

214

Walter Jaeschke

(3) Gerade diese geschichtliche Fundierung des Begriffs des absoluten Wissens könnte sich freilich als geeignet erweisen, dessen Geltung zu untergraben: wenn sich denn herausstellte, daß der Geist sich doch noch nicht als Weltgeist vollendet habe und dem sich erfassenden Begriff noch nicht gelinge, was Hegel ihm zubilligt: die Zeit zu tilgen. An beidem dürfte kein Zweifel bestehen. Dann aber bleiben zwei Fragen: zum einen, ob und inwiefern die neuere geschichtliche Entwicklung und die philo-

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sophiegeschichtliche Forschung Hegels damalige Analyse der Auflösung der Gegenständlichkeit in das Selbstbewußtsein widerlegt habe, und zum anderen, ob der weitere Fortgang der Bewußtseinsgeschichte und der Philosophiegeschichte neue Wege eingeschlagen habe, die die von Hegel zu seiner Zeit vielleicht mit gutem Recht diagnostizierte Tendenz der Bewußtseinsgeschichte dementieren.

Ich möchte diese Fragen hier nur noch im Sinne eines Ausblicks formulieren, sie jedoch nicht mehr beantworten obschon mir zumindest im Blick auf die erste Frage Hegels Analyse der Auflösung der Gegenständlichkeit in das Selbstbewußtsein also aller Form von Positivität einschließlich des Gehalts der Religion eindrucksvoll bestätigt zu sein scheint auch wenn derartige Analysen heute in anderer Sprache vorgetragen werden. Und auch im Blick auf die zweite, den Gang der nachhegelschen Bewußtseinsgeschichte betreffende Frage scheint mir die Tendenz zu immer weiterer Auflösung der Gegenständlichkeit in das Selbstbewußtsein, also die Tendenz zur stetigen Steigerung der Reflexivität offenkundig zu sein. Ich beschränke mich jedoch auf diese Andeutungen und möchte nicht in einen Wettbewerb um die Proklamation kurzatmiger Paradigmata eintreten, die ihrerseits der Dialektik der sinnlichen Gewißheit unterliegen und trotz ihres vollmundig-epochalen Anspruchs im nächsten Hier und Jetzt verschwunden sind. Statt dessen möchte ich ihre Beantwortung lieber einer künftigen Bewußtseins- und Philosophiegeschichte der beiden letzten Jahrhunderte anheimstellen. -

-

-

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V.

Phänomenologische Konzepte

Christine Weckwerth

Zur anthropologischen Wendung

des Hegelschen Phänomenologie-Konzepts

Hegels Phänomenologie des Geistes läßt sich als Versuch beschreiben, die Genese der Kategorien, die Theorie der geschichtlich-kulturellen Geistformen und erste Wissenschaft zusammenzudenken. Damit bildet dieses Werk zweifellos eine Zäsur in der Entwicklung des philosophischen Kategorienproblems der Neuzeit. Eingefaßt in die Form einer idealistischen Geistmetaphysik, hat Hegels Phänomenologie-Konzept zugleich auf seine Überschreitung gedrängt. Die Junghegelianer, Feuerbach und Marx, aber auch Dilthey und Marcuse bezogen sich auf Hegels erste publizierte Systemschrift entsprechend im Sinne eines noch zu reformierenden Ansatzes. Einen wesentlichen Anstoß in dieser Entwicklung hat Feuerbachs anthropologische Wende der idealistischen Subjektphilosophie gegeben. Der Vormärz-Denker Feuerbach hat darin nicht nur eine theoretische Notwendigkeit gesehen; gegenüber dem neuzeitlichen Rationalismus wie der Theologie, den in seinen Augen ideellen Stützen der überlebten christlich-bürgerlichen Welt, erkannte er in der Anthropologie vielmehr einen „Wendepunkt der Weltgeschichte",1 der auf eine neue, nach-christliche Gemeinschaft und Einheit der Menschen hinausläuft. Ungeachtet dieser praktischen Konnotation hat die anthropologische Reform das Problem einer Neubegründung der Kategorientheorie aufgeworfen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht die Frage, wie die Phänomenologie-Problematik aus ihrer Einbettung in Hegels idealistisches Objektivierungskonzept in ein anthropologisches Konzept überführt wurde. Zur Klärung dieser Thematik soll zunächst die Grundintention von Hegels phänomenologischem Konzept sowie die Feuerbachsche Kritik daran betrachtet werden. Anschließend wird nach den Modifikationen gefragt, die aus Feuerbachs Anthropologie bezogen auf die PhänomenologieProblematik hervorgehen. Der Rückgriff zweier zentraler Philosophiekonzepte auf Feuerbach, der materialistischen Gesellschaftstheorie von Marx sowie der vom HeideggerFeuerbach: „Das Wesen des Christentums", in (ders.) Gesammelte W. Schuffenhauer [im folgenden: GW], Bd. 5, Berlin 21984, 444.

Vgl. Ludwig

Werke, hg.

v.

Christine Weckwerth

218

angestrebten Strukturanalyse des Miteinanderseins, zeigt, daß die anReform mit dessen neuer Philosophie nicht abgegolten war, sondern bis thropologische ins zwanzigste Jahrhunderts hinein gewirkt hat. Im Bestreben, den anthropologischen Ansatz zu fundieren, haben Marx und Löwith die phänomenologische Problematik in spezifischer Weise weiterentwickelt. Am Beispiel dieser beiden Ansätze sollen abschließend die Folgen und auch Schwierigkeiten beleuchtet werden, die aus Feuerbachs anthropologischer Wende des Hegeischen Phänomenologiekonzepts hervorgegangen sind. schüler Löwith

Die Phänomenologie des Geistes als Zusammengehen von Wissensgenese und erster Wissenschaft

Geisttheorie,

publiziertes Systemwerk läßt sich als Anknüpfung sowie gleichzeitige Überschreitung der Transzendentalphilosophie verstehen. Sein Ansatz erwächst aus der Intention, die im Subjektbegriff Kants und Fichtes festgeschriebene Trennung zwischen der vom Subjekt vollzogenen transzendentalen Strukturierung der Gegenstände sowie der natürlichen und geschichtlich-kulturellen Realwelt zu überschreiten. Hegels Kritik gilt im besonderen der Fichteschen Auffassung, die wirkliche Welt als Produkt der Handlungen des reinen Selbstbewußtseins zu begreifen. Sein Weg in Jena läßt sich als Übergang von den reinen Handlungen des Ich zu einer Theorie der geschichtlichkulturellen Objektivationen des Geistes interpretieren.2 Sein erster größerer Entwurf der Geistphilosophie, das System der Sittlichkeit, ist der Versuch, den Prozeß der kulturellen Mittenbildung in den heterogenen Verhaltensmustern Arbeiten, Lieben und Sprechen zu begründen, und zwar in der Perspektive sozialer Objektivierungen der Menschen.3 Die Phänomenologie, die den systematischen Abschluß der Jenaer Entwürfe bildet, dehnt diesen Prozeß der Vermittlungen weitergehend auf die menschliche Geschichte aus. Aufbauend auf seine früheren Entwürfe, entwickelt Hegel den Bildungsprozeß der Individuen in diesem Werk über verschiedene Gegenstandsbildungen (alltagspraktische, systematisch rationale, gegenständlich praktische, ästhetische, religiöse, moralische usw.), denen die Funktion von Sozialisierungs- und geschichtlichen Weltbildungskomponenten zukommt. Darin liegt zugleich das Grundproblem der phänomenologischen Hegels

erstes

Vgl. zu dieser Problematik Gerd Irrlitz: „Der Weg des Bildes in der Philosophie", in Öffentliche Vorlesungen. Humboldt-Universität zu Berlin, Heft 106, Berlin 2000, 32-36; ebenso Christine Weckwerth: Metaphysik als Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegelschen Phänomenologie des Geistes ", Würzburg 2000. Vgl. G. W. F. Hegel: „System der Sittlichkeit. Reinschriftentwurf (1802/03)", in (ders.) Gesammelte Werke, in Verb, mit der deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften [im folgenden: HGW], Bd. 5, Hamburg 1998, bes. 280-295; ebenfalls dazu Jürgen Habermas: „Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser .Philosophie des Geistes'", in Frühe politische Systeme, hg. v. G. Göhler, Frankfurt/M. „

u.a.

1974,786-814.

Zur anthropologischen Wendung des Hegelschen Phänomenologie-Konzepts

219

Objektivationstheorie. Es besteht im systematischen Aufzeigen der Heterogenität wie zugleich des genetischen Zusammenhangs der einzelnen Gegenstandsbildungen, die in ihren geschichtlich realisierten Formen reflektiert werden. Zur Bewältigung dieser Problematik wird in der Phänomenologie methodisch zwischen drei Vermittlungsebenen unterschieden: zwischen der Bildungsgeschichte des individuellen, sozialisierten sowie seiner kulturellen Formierung bewußten Subjekts. Im späteren enzyklopädischen System treten diese Ebenen als subjektiver, objektiver und absoluter Geist auf. Diese drei Bildungsstränge werden von Hegel im Horizont der realen geschichtlichen Entwicklung gedacht. In der Phänomenologie legt er dazu ein dreigliedriges Grundschema zugrunde: Ausgang ist die sittliche Einheit in der Antike, die in einem allmählichen Auflösungsprozeß zur auf dem (römischen) Recht begründeten, modernen Sozialitätsform hinführt. Das Ziel, erneute kulturelle Einheit aufzuzeigen, wird nach Hegel nicht auf der Ebene des reellen Bildungsprozesses erreicht; der Status der ausschließenden Person fuhrt Terror der Französischen Revolution wie auf der Individualebene zur die sich ins Böse verkehrt. Eine übergreifende Synthese der kulturellen SphäMoralität, konstituiert sich ren Hegel zufolge erst auf der Idealebene des philosophischen Wissens in Form einer systematisch begriffenen Zusammenschau aller Geistformen. Die Bildungsgeschichte des Geistes wird in der Phänomenologie damit in der übergreifenden Struktur einer Entäußerung (Entfremdung) sowie einer Zurücknahme der Entäußerung dargestellt. Der Geist als ursprünglich ideale Substanz geht nach Hegel in sein dingliches Anderssein über, in dem er als begriffenes Anderssein am Ende wieder zu sich zurückkehrt.4 Dahinter tritt unverkennbar das Grundmuster der idealistischen Vergegenständlichungsproblematik hervor. Innerhalb dieses idealistischen Geistkonzepts zeigt Hegel die reale Bildungsgeschichte der menschlichen Gattung in Form permanenter Verkehrungen auf. Der Prozeß der kulturellen Objektivierung wird in der Phänomenologie als eine durchgehende Versachlichung subjektiver Potentiale aufgezeigt, deren Erscheinungsform selbst immer zugleich auf eine Transzendierung ihres Erscheinens drängt. Der geschichtliche Bildungsprozeß der Menschheit schließt auf diese Weise notwendig das Moment des kulturellen Scheins ein. Aus der Scheinhaftigkeit und Relativität der einzelnen Geistgestalten man denke an die reine Unmittelbarkeit anstrebende ,sinnliche Gewißheit', an das .geistige Tierreich' oder an den im Rechtszustand entstehenden .sich entfremdeten Geist' geht nach Hegel nicht zuletzt die Dynamik der sozialen und kulturellen Sozialisierungsprozesse hervor. Seine Geisttheorie überschreitet hier tendenziell die idealistische Grundkonstellation einer Dualität von Geist und Wirklichkeit. Die reellen Verkehrungen führen zu bleibenden kulturellen Formationen, denen ein notwendiges Moment im Bildungsgang der menschlichen Gattung zukommt. Die Phänomenologie erschöpft sich nicht in einer systematischen Theorie der Geistformen; diese Form ist eher für Hegels späteres enzyklopädisches System auszeichnend.

vielmehr

zum

-

-

Vgl. stes"

dazu bes. die Vorrede und das letzte Kapitel in G. W. F. [im folgenden: PdG], in: HGW9, 18 ff. und 422, 433 f.

Hegel: „Phänomenologie des

Gei-

Christine Weckwerth

220

Im Anschluß

Fichtes Wissenschaftslehre wie auch an Schellings transzendentalphilosophisches System faßt Hegel die Bildungsgeschichte der Geistformen vielmehr zugleich als eine Genese des Wissens auf, in der das Subjekt im Wissen von der Welt zugleich zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. Die Phänomenologie tritt in dieser Intention als eine „Geschichte der Bildung des Bewußtseyns"5 auf. Dahinter steht der Versuch, den Standard des Wissens am Ende des achtzehnten wie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts als Ergebnis der gattungsgeschichtlichen Evolution des Bewußtseins aufzuzeigen. In Abgrenzung vom Apriorismus des transzendentalen Wissens begründet Hegel den Wissensprozeß ausdrücklich auf Erfahrung. Ausgangspunkt sind die Phänomene, nicht ein letztbegründendes Prinzip. Damit stellt er sich bewußt in die Tradition des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs, den er in spezifischer Weise erweitert.6 Gegenüber dem Aufklärer Condillac, der in Weiterentwicklung des Lockeschen Ansatzes die Erkenntnis allgemein auf die heterogenen Sinnesempfindungen zurückführte am Beispiel einer allmählich zum Leben erwachenden Statue zeigte Condillac den Erkenntnisprozeß als sukzessives Durchlaufen der Ebenen des Geruchs-, Gehör-, Geschmacks-, Gesichts- und Tastsinnes auf7 -, oder auch gegenüber Kant, der die Erkenntnis am Modell der Naturwissenschaften (Newtonsche Physik) ausrichtete, dehnt Hegel den Erkenntnisprozeß, zurückgreifend auf Evolutionskonzepte der Aufklärung, weitergehend auf die gesamten geschichtlich-kulturellen Erfahrungen aus. Grundlage dafür sind die qualitativ verschiedenen Gegenstandsbildungen. Das sinnliche und mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen bilden für Hegel nur noch besondere Momente im Konstitutionsprozeß des Wissens, denen ein bestimmter systematischer und geschichtlicher Ort darin zukommt. Das sinnliche, alltagspraktische Wissen bleibt auch beim Phänomenologen Hegel Ausgangsform, allerdings als ein abstraktes, zu überschreitendes Wissen. Wie die anderen Wissensformen wird es von Hegel einem spezifischen Umkehrungsakt unterworfen, an dem seine Einseitigkeit und Relativität demonstriert wird. Die Eigentümlichkeit der Phänomenologie besteht darin, daß sie die Erfahrung generell als einen über scheinhaftes Wissen verlaufenden Prozeß begreift. Den Versachlichungen im Realprozeß des Geistes stellt Hegel damit eine ideelle Verdinglichungstendenz zur Seite, die er bestimmter in der Form eines Spannungsverhältnisses von naivem, alltagspraktischem und philosophisch-reflektiertem Bewußtsein entwickelt. In die Phänomenologie gehen in dieser Ausrichtung die verschiedensten geschichtlich realisierten Wissensformen ein: das stoische, skeptische und christliche an

-

G. W. F. Hegel: PdG, 56. Vgl. z. B. E. Cassirers Ausführungen zur „Denkform des Zeitalters der Aufklärung": „Die Phänomene sind das Gegebene; die Prinzipien das Gesuchte." Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, mit einer Einl. v. G. Härtung und einer Bibliographie der Rezensionen von A. Schubbach, Hamburg 1998, 7, allgemein \-W. Vgl. Etienne-Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen, auf der Grundlage der Übersetzung v. E. Johnson, neu bearb., mit Einleitung, Anmerkungen und Literaturhinweisen versehen und hg. v. L. Kremendahl, Hamburg 1983, 1-174.

221

Zur anthropologischen Wendung des Hegelschen Phänomenologie-Konzepts

Bewußtsein, die modernen Naturwissenschaften, das transzendentale Wissen oder der

Subjektbegriff, wobei erst aus der Zusammenschau aller dieser in ihrer Generalisierung scheinhaften Wissensformen die wahre Erkenntnis hervorgeht. In

romantische

-

einer solchen Überführung von Scheinwissen in wahres Wissen tritt die Phänomenologie in der Funktion einer Methodenschrift auf. Sie läßt sich in dieser Ausrichtung mit Descartes' Abhandlung über die Methode, mit Lamberts Neuem Organon oder auch mit Kants Kritik der reinen Vernunft vergleichen. Die Phänomenologie des Geistes wird von ihrem Verfasser schließlich als erste Wissenschaft bestimmt.8 Das erscheinende Wissen enthält nach Hegel in potentia das gesamte System der Wissenschaft, wie der Weg zur Wissenschaft seiner Auffassung nach bereits die Wissenschaft selbst ist.9 Hegel überfuhrt das Kategorienproblem der traditionellen Metaphysik mit diesem Schritt in eine Genese der geschichtlich-kulturellen Erfahrungen der menschlichen Gattung. Die Metaphysik erscheint auf diese Weise in unauflöslichem Zusammenhang mit dem in die Zeit (Geschichte) fallenden Erhebungsprozeß des unvermittelten Individuums in den kulturellen Raum des Geistes. Die Gewinnung der metaphysischen Kategorien wird damit zu einem genuin methodischen Problem. Mit dieser Ausrichtung überschreitet Hegel perspektivisch den außerzeitlichen und formalen Horizont, wie er die vormalige Ontologie, aber auch die Kategorientheorie auf Basis des reinen Selbstbewußtseins auszeichnete. Die Phänomenologie weist in dieser Programmatik in die Metaphysikproblematik des 19. und auch 20. Jahrhunderts. Daß sie den Boden einer idealistischen Substanzmetaphysik dennoch nicht verläßt, liegt an Hegels spekulativer Einfassung des phänomenologischen Problems. Die natürliche und kulturelle Welt werden von ihm als Realisierungen des absoluten Geistes begriffen, den er in seinem Kern als ein ideelles Substrat logischer Formen begreift. Für den phänomenologischen Ansatz folgt daraus, daß die verschiedenen Vermittlungsformen des Individuums wie der Gesellschaft als wohl zu unterscheidende Wissensstufen im Prozeß des sich bewußtwerdenden Geistes bestimmt werden. Individuelles und gesellschaftliches Sein werden in der Phänomenologie entsprechend unter der Formbestimmtheit von Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft, Geist, Religion und Philosophie gefaßt, die wiederum als Formen des absoluten Geistes auftreten. Nach der spekulativen Seite betrachtet, sind geschichtlich-kultureller und logischer Prozeß identisch. Die Gestalten des Geistes treten als Hüllen einer zeitlosen logischen Formenwelt auf. Eine solche Identität wird in der Phänomenologie allerdings nur postuliert. Der Entwicklungsgang auf den einzelnen Darstellungsebenen folgt unter der Hand der Logik reeller kultureller Vermittlungsprozesse, so als Kampf um Anerkennung, der über die Sphäre der Arbeit in -

Hegel kündigt in seiner Verlagsanzeige die Phänomenologie als eine „neue, interessante, und die erste Wissenschaft der Philosophie" an; vgl. ders.: „Selbstanzeige der Phänomenologie", in: HGW9, 446. Jedem abstrakten Moment der Wissenschaft entspricht „eine Gestalt des erscheinenden Geistes überhaupt. Wie der daseyende Geist nicht reicher ist, als sie, so ist er in seinem Inhalte auch nicht ärmer." G. W. F. Hegel: PdG, 432.

Christine Weckwerth

222

das Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis umschlägt, oder als Zerfall der griechischen Stadtstaaten, aus dem der entfremdete Zustand im Römischen Reich hervorgeht. Nicht umsonst sind Versuche gescheitert, durchgehende Entsprechungsverhältnisse zwischen phänomenologischen Gestalten und logischen Formen aufzuzeigen.10 Die Identitätsthese ist gerade der Punkt, an dem das Hegeische System in der nachfolgenden Rezeption aufgebrochen wird.

Feuerbachs Kritik des Hegeischen Geistkonzepts und im besonderen des Anfangs der Phänomenologie

erfolgt ursprünglich vom Rand aus. Sie setzt bei Hegels spekulativer Religionsphilosophie ein, die Religion und Philosophie in ihrem Wesen identifiziert hatte. In Zurückweisung einer solchen Wesensidentifikation geht es dem ehemaligen Theologiestudenten Feuerbach darum, die Religion in ihrem besonderen Sein zu begreifen, und zwar als eine auf dem Gefühl beruhende, vorrationale Sphäre. Die Philosophie darf Religion nach ihm nicht dem Denken unterordnen, sondern muß deren eigenen Standpunkt genetisch entwickeln; sie muß eine „Phänomenologie der Religion" sein." In seiner Bayleschrift spricht er in diesem Zusammenhang auch von kritisch-genetischer Philosophie. In seiner Hegel-Kritik von 1839 dehnt er diesen Einwand auf die Hegelsche Philosophie insgesamt aus, in der er nunmehr einen unhaltbaren Logizismus erkennt. Den letzten Grund für die Logifizierung der Wirklichkeit sieht Feuerbach in Hegels Identitätsthese von Subjekt und Objekt. Dagegen setzt der frühere Hegelianer eigens die Differenz von Subjektivem und Objektivem, die er zur „Urbedingung aller Kritik" erhebt.13 Indem Hegel das philosophische Erkennen unter Voraussetzung der Identitätsthese als reinen, sich selbst erzeugenden Denkprozeß auffaßt,14 bleibt seine Philosophie in der Konsequenz nach Feuerbach ein geschlossener Formenkreis, der das Andere des Gedankens nicht wirklich erreichen kann. Ein Vorwurf, den im übrigen Feuerbachs Kritik

Insbesondere in der

Rezeptionsgeschichte hat es Versuche gegeben, zwischen Hegels und phänomenologischem logischem System eine unmittelbare Strukturidentität darzulegen. Dazu wurde allerdings nicht die Wissenschaft der Logik, sondern frühere Logikentwürfe Hegels zugrunde gelegt. Vgl. stellvertretend Johannes Heinrichs: Die Logik der .Phänomenologie des Geistes', Bonn 1974 oder Hans-Friedrich Fulda: „Zur Logik der Phänomenologie von 1807", in Hegel-Studien. Beiheft (1966), 75-102. Vgl. L. Feuerbach: „Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie", in GW 3, 121, 123. L. Feuerbach: „Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit", in GW 4, 340 f. L. Feuerbach: „Zur Kritik der Hegeischen Philosophie" [im folgenden: KHP], in GW9, 51. Hegels System sollte „gleichsam die Vernunft selbst sein, die unmittelbare Tätigkeit in die mittelbare rein aufgehen, die Darstellung nichts voraussetzen, d. h. hier: nichts in uns drinnen und übrig lassen, uns rein aus- und erschöpfen." L. Feuerbach: KHP, 33. Ebd., 25,45.

neueren

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223

auch Schelling, Herbart, Fries, Bachmann oder Trendelenburg vorgebracht haben. Einen wesentlichen Anstoß zu diesem Urteil hat Feuerbach durch die pantheistische Philosophietradition erhalten, die seine Aufmerksamkeit noch als Hegelianer auf das Problem einer Einheit von Natur und Geist gelenkt hatte. Feuerbachs Kritik zeichnet aus, die idealistische Philosophie seines Lehrers nicht einfach als theoretischen Fehler zu verwerfen; er sieht darin vielmehr eine verdinglichte Wissensform, die den Menschen sich selbst entfremdet hat.16 Den absoluten Geist entschlüsselt er entsprechend als den ,,abstrakte[n], von sich selbst abgesonderte[n], sogenannte[n] endliche[n] Geist". Auf der Grundlage dieses Begriffs hat Hegel seiner Auffassung nach das Wesen des Denkens außer den Denkakt gesetzt. Er interpretiert die Hegeische Philosophie als den ,,letzte[n] Zufluchtsort, die letzte rationelle Stütze der Theologie".1 In dieser Funktion sieht er sie als Ausdruck einer realen Entzweiung in der Gesellschaft, wo das menschliche Dasein durchgängig in versachlichte Beziehungen umgeschlagen ist. Der Mensch erscheint aufgespalten in abstrakte Qualitäten, in ein Dasein als Person, Subjekt, Familienmitglied und Bürger, welche Bestimmungen von Hegel abgelöst und verselbständigt werden.19 Wenn der spätere Demokrat Feuerbach seine Philosophie als universalen „Selbstenttäuschungsakt" begreift, spricht sich darin ein starker emanzipatorischer Anspruch aus; steht dahinter doch die Erwartung einer Sozialitätsstufe, in der die intellektuellen und gesellschaftlichen Potenzen des Menschen wieder angeeignet werden und die Philosophie in wirkliche Selbst- und Welterkenntnis der menschlichen Gattung umschlägt. Der Ausgang aus der idealistischen Subjektphilosophie liegt für den Hegel-Kritiker Feuerbach in einer genetisch-kritischen Theorie der kulturellen Phänomene. Gegen Hegels logisch strukturierte Zeitvertikale setzt er den „toleranten Raum", in dem das Gemeinschaftliche, Gleiche oder auch Identische der einzelnen Kultursphären aufgezeigt werden soll. Statt geistphilosophischer Subordination und Sukzession ist Feuerbach bestrebt, die kulturellen Felder in ihrer Koordination und Koexistenz zu entwikkeln.22 Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Ursprungsproblem zu. Darin liegt die Intention, Hegels Geisttheorie auf ihr reelles Fundament zurückzuführen. Feuerbachs Kritik zielt in dieser Hinsicht nicht auf eine Negation der idealistischen Philosophie; er

Vgl. L. Feuerbach: „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie" [im folgenden: Thesen], 17

18 19 20

21

22

in GW9, 247. Ebd., 246. Ebd., 258. Vgl. ebd., 261. Ebd., 260.

Kritisch-genetische Philosophie ist diejenige Philosophie, „welche einen durch die Vorstellung gegebenen Gegenstand [...] nicht dogmatisch demonstriert und begreift, sondern seinen Ursprung untersucht, welche zweifelt, ob der Gegenstand ein wirklicher Gegenstand oder nur eine Vorstellung, überhaupt ein psychologisches Phänomen ist, welche daher aufs strengste zwischen dem Subjektiven und Objektiven unterscheidet." L. Feuerbach: KHP, 52. Ebd., 17.

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224

beabsichtigt vielmehr, die in der absoluten Theorie „auf indirekte, verkehrte Weise" ausgesprochene Wahrheit wieder freizulegen.23 Eine solche erneute Umkehr der Verkehrung sieht er dadurch realisiert, daß die Geistformen wieder an den endlichen Geist oder das wirkliche, konkrete Subjekt zurückgebunden werden. Diese Ausrichtung zeigt sich exemplarisch in seiner Stellung zur Phänomenologie. Er wendet sich hier vor allem gegen die Ausgangsform, die ,sinnliche Gewißheit', die nach ihm bereits den Kardinalfehler einer idealistischen Verkehrungsform den Bruch mit der sinnlich gegebenen, erfahrbaren Welt enthält. Auf diese Kritik soll im folgenden eingegangen werden; scheint hier doch vermittelt bereits Feuerbach eigener Ansatz durch. -

-

Feuerbachs Kritik der .sinnlichen

Gewißheit'

Die Gestalt der ,sinnlichen Gewißheit' steht in der Phänomenologie für die unmittelbare Seinsgewißheit des lebensweltlichen Bewußtseins. Gegenstand dieses Bewußtseins ist nach Hegel eine sich aus unmittelbar gewissen Seienden zusammensetzende Welt, die in dinghafte Singularitäten wie in einzelne selbständige Ich zerfallt. Hegels erklärtes Ziel ist die Dekonstruktion dieser Wissensform: Die reine Unmittelbarkeit wird als bloßer Schein aufgezeigt; bereits die sinnliche Beziehung zwischen Bewußtsein und Gegenstand ist nach ihm eine vermittelte. Zur Unterstützung dieser Auffassung verweist er auf die traditionelle Bestimmung des Individuums als eines ,ineffabile'. „Sage ich ein einzelnes Ding, so sage ich es vielmehr ebenso als ganz allgemeines, denn Alle sind ein einzelnes Ding; und gleichfalls dieses Ding ist alles, was man will." Daraus zieht Hegel den Schluß: „daher, was das Unaussprechliche genannt wird, nichts anderes ist, als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeynte."25 An diesem Punkt setzt Feuerbachs Kritik ein. Er hält Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit entgegen, daß diese das Seinsgewicht von vornherein ins Allgemeine legt, der Seite des Einzelnen, Existierenden, Individuellen oder, um einen Schellingschen Ausdruck zu gebrauchen, des Daß-Seins dagegen nur Irrealität und Unwahrheit zuerkennt. „Ist das Allgemeine dadurch als das Reale bewiesen? Wohl für den, dem das Allgemeine schon im voraus als das Reale gewiß ist, aber nicht für das sinnliche Bewußtsein, nicht für uns, die wir auf diesem Standpunkt stehen oder in ihn uns hineinstellen und uns nun von der Irrealität des sinnlichen Seins und von der Realität des Gedankens wollen überzeugen lassen!" Dahinter steht bei Feuerbach kein Plädoyer für reine Unmittelbarkeit, sondern der Rückgang auf das Daseiende, Existierende, dessen Realität Die Wahrheit des Endlichen wird in der absoluten Philosophie nach Feuerbach „auf indirekte, verkehrte Weise" ausgesprochen. „Alles steckt zwar in der Hegeischen Philosophie, aber immer zugleich mit seiner Negation, seinem Gegensatze." L. Feuerbach: Thesen, 249, 247. Das „Bewußtseyn ist Ich, weiter nichts, ein reiner dieser; der einzelne weiß, reines dieses, oder das einzelne." G. W. F. Hegel: PdG, 63. G. W. F. Hegel: PdG, 70. L. Feuerbach: KHP, 43.

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225

unabhängig von Bewußtsein, Geist und Sprache besteht. Eine vergleichbare Kritik kehrt später etwa bei Adorno wieder: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Désintéressement bekundete: beim Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen". Den Grund für diese Auffassung bei Hegel sieht Feuerbach in einer Generalisierung der theoretischen Einstellung. „Er widerlegt den Gedanken des Diesseins, die haecceitas; er zeigt die Unwahrheit des Einzelseins, wie es in der Vorstellung als eine (theoretische) Realität fixiert wird."28 Das zeigt sich für ihn auch daran, daß Hegel das sinnliche Sein von vornherein in seiner sprachlichen Fixierung, d. h. in der Aussage „Dieses ist" nimmt. Die Sprache gehört nach Feuerbach dagegen zunächst „hier gar nicht zur Sache". Der Ausgang von der theoretischen Einstellung, in der einzelne Gegenstände intentional im Bewußtsein gegeben sind, ist für ihn offensichtlich eine zu schmale Basis, das menschliche Gattungswesen in seinem ursprünglichen Dasein wie in seinen Vermittlungen zu begreifen. Wenn er in diesem Zusammenhang darauf verweist, daß die Realität des sinnlichen Seins „uns eine mit unserm Blute besiegelte Wahrheit" ist, wo die Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn" gilt,30 deutet sich an, daß der phänomenologische Ausgang für ihn in einer elementareren Schicht im Subjektbegriff liegt. Die neue Philosophie hat nach ihm das Sein zu betrachten, wie es für uns nicht nur als denkende, sondern als wirklich seiende Wesen ist. Feuerbach deutet diesen Bezug in der Konsequenz als ein vor allem Bewußtsein liegendes Seinsverhältnis „das Sein also als Objekt des Seins".31 Seine Kritik in den sechziger Jahren bringt diesen Grundeinwand noch pointierter zum Ausdruck. Als Grundmangel des Idealismus stellt er dort heraus, daß dieser „die Frage von der Objektivität oder Subjektivität, von der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt nur vom theoretischen Standpunkte aus sich stellt und löst, während doch die Welt ursprünglich, zuerst, nur weil sie ein Objekt des Wollens, des 32 Sein- und Haben-Wollens, ist, Objekt des Verstandes ist." Damit hängt für ihn zusammen, daß das Ich, welches im Idealismus die Existenz der sinnlichen Dinge aufhebt, nur als ein gedachtes, unwirkliches aufgefaßt wird. Dem hält er entgegen: „Das wirkliche Ich ist nur das Ich, dem ein Du gegenübersteht und das selbst einem andern Ich gegenüber Du, Objekt ist".33 Das Subjekt erweist sich immer schon als Subjekt-Objekt; man könnte ergänzen, ebenfalls als ein Subjekt-Subjekt. Das Ich ist nach Feuerbach ein Ich-Du, wie der Mensch Welt- und Naturmensch ist.34 -

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 61990, 19 f. L. Feuerbach: KHP, 45. Ebd., 43. Ebd. Vgl. L. Feuerbach: „Grundsätze der Philosophie der Zukunft" [im

GW9,3\1.

L. Feuerbach:

„Über Spiritualismus

Willensfreiheit", in G W 11, 173 f. Ebd., 171. Ebd., 175.

folgenden: Grundsätze],

und Materialismus, besonders in

Beziehung

in

auf die

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226

Feuerbachs anthropologischer Ansatz und seine für die Phänomenologie-Problematik

Konsequenzen

Über die Zwischenstufe einer anthropologischen Entschlüsselung der Religion geht Feuerbach in den vierziger Jahren zu einer anthropologischen Neubegründung der Philosophie über. Anthropologie, in den Rang einer Fundamentalwissenschaft gesetzt, erhält bei ihm eine Bedeutung, die sie erst wieder in der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert erlang hat.35 Ausgangspunkt der neuen Philosophie ist für Feuerbach der existierende, konkrete Mensch in seinem unaufhebbaren Bezug zum anderen Menschen, welchen Bezug er zum neuen Einheits- und Erkenntnisprinzips setzt. Der Bezug des Menschen zum Menschen avanciert in seiner Anthropologie weitergehend zur Elementarzelle aller Sozialisierung und Vergegenständlichung. „Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des Menschen mit dem Menschen. Alle wesentlichen Verhältnisse die Prinzipien verschiedener Wissenschaften sind nur verschiedene Arten und Weisen dieser Einheit." Diese soziale Relation zum allgemeinen Prinzip der anthropologischen Philosophie erhoben, gelangt Feuerbach im Anschluß an Hegels Phänomenologie zur Aufgabe, die Bestimmungen der geschichtlichkulturellen Welt genetisch aus einfachen Bausteinen sozialer Bezogenheit und Tätigkeit zu entwickeln. Darin liegt der systematische Grundgehalt seiner Anthropologie. Als Elementarform der sozialen Beziehungen erkennt er wiederum die unmittelbare Beziehung von Ich und Du an, zu der er im Rahmen seiner anthropologischen Religionsphilosophie vorgedrungen war. Sie avanciert bei ihm zum realgenetischen und methodischen Ausgangsprinzip aller sozialen und gegenständlichen Realisierungen, wie er sie im Spannungsfeld leiblich-bedürfnishafter, emotionaler, phantastisch-fiktiver und sprachlich-logischer Akte denkt. Wenn auch nur in fragmentarischer Form, ist er bis in seine späte Moralphilosophie bestrebt, kategoriale Formbestimmungen und Zusammenhänge aufzuzeigen, die die natürliche und sozial-kulturelle Welt von diesem Elementarprinzip aus erschließen sollen. Sein theoretischer Weg von dem frühen hegelianisch geprägten Gattungskonzept über die Religionsanthropologie zu einer anthropologisch begründeten Philosophie läßt sich entwicklungslogisch als ein Aufstieg von der konkreten Gattungsproblematik zu dem abstrakten Prinzip sozialer Relationalität begreifen. Ausgehend von der Frage nach erneuter Einheit der Menschheit wie von Mensch und Natur, entwirft er auf Basis seines frühen Gattungsbegriffes eine genetische Theorie der sozial-kulturellen Objektivationen, zu der seine in Thesenform dargelegten Entwürfe der vierziger Jahre die methodische Voraussetzung geben. Die Relation zwischen wirklichen Menschen -

-

Michael Landmann, Philosophische Anthropologie, Berlin-New York 1982, 37, hat Feuerbach in diesem Zusammenhang als einen „Vorläufer der Gegenwartssituation" charakterisiert. „Die neue Philosophie hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht den absoluten, d. i. abstrakten, Geist, kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen." L. Feuerbach: Grundsätze, 333. Ebd., 340.

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227

fungiert als

abstraktes Prinzip der im frühen Ansatz antizipierten Stufentheorie der geschichtlich-kulturellen Objektivierungen. Phänomenologisch ausgerichtete Anthropologie tritt bei Feuerbach unter dieser Voraussetzung im Status einer Methode auf. In Anbindung an die Realisationen der sozial agierenden Individuen bestimmt Feuerbach Philosophie allgemein als das theoretische Bewußtsein des menschlichen Gattungspround wird zum Weltzesses. Sie verliert den Status eines „actus purus ohne Subjekt" und Selbstbewußtsein des denkenden Menschen. Der Philosoph muß nach Feuerbach allein „in der Existenz, in der Welt als ein Mitglied derselben" denken und nicht etwa aus der Außenperspektive eines absoluten Monarchen oder außerweltlichen Gottes.40 Das Wissen, das die Philosophie auszeichnet, ist für ihn auf diese Weise nicht prinzipiell von dem Wissen des naiven Bewußtseins unterschieden. Feuerbach entwickelt in dieser Hinsicht die These, daß der subjektive Ursprung und Gang der Philosophie auch ihr objektiver Ursprung und Gang ist.41 Feuerbach nimmt die Phänomenologie-Problematik damit auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht in seinen Ansatz auf. Er folgt seinem Lehrer Hegel darin, Erkenntnisprozeß und Gattungsgeschichte allgemein zusammenzudenken, wobei die Anthropologie nunmehr als erste Wissenschaft erscheint. Feuerbachs anthropologische Transformation der Phänomenologie-Problematik wirkt sich entsprechend auf die kategoriale Rekonstruktion des kulturellen Prozesses wie auch auf das Erkenntnis- und Methodenproblem aus. Obgleich er seine neue Philosophie nicht systematisch ausarbeitet und damit in einem Entwurfscharakter beläßt ein Umstand, der für die Ansätze des Vormärz insgesamt auszeichnend ist -, treten dennoch spezifische kategoriale Umbildungen zutage. Eine grundlegende Modifikation zeigt sich bezogen auf den phänomenologischen Ausgangspunkt. Geht Feuerbach vergleichbar mit Hegel von der Sinnlichkeit aus, versteht er darunter doch nicht primär eine theoretisch-beobachtende Einstellung. Sinn meint bei ihm ursprünglich Empfindung, Liebe, Leidenschaft und Begehren, im weiteren auch ästhetischen (künstlerischen), religiösen (sittlichen) und philosophischen (wissenschaftlichen) Sinn.42 Später spricht er bezogen auf den elementaren Weltzugang auch vom Sein- und Haben-Wollen der Welt. Sinnlichkeit steht auf der Subjektseite damit in übergreifender Weise für die Sphäre der praktisch-konkreten Individuen, die hier zunächst als leibliche, bedürfhishafte, affektivemotionale und sinnlich-empfindende Wesen erscheinen. Phänomenologischen Zugriff -

38

Ebd., 337. „Die neue Philosophie ist keine abstrakte Qualität mehr, keine besondere Fakultät sie ist der denkende Mensch selbst der Mensch, der ist und sich weiß als das selbstbewußte Wesen der Natur, als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Staaten, als das Wesen der Religion der Mensch, der ist und sich weiß als die wirkliche (nicht imaginäre) absolute Identität aller Gegensätze und Widersprüche, aller aktiven und passiven, geistigen und sinnlichen, politischen und sozialen Qualitäten". L. Feuerbach: Thesen, 259 f. L. Feuerbach: Grundsätze, 334. „Ehe du die Qualität denkst, fühlst du die Qualität. Dem Denken geht das Leiden voran." L. Feuerbach: Thesen, 250. Vgl. L. Feuerbach: Grundsätze, 317, 337. -

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228

Sphäre erhält der frühere Theologiestudent vor allem durch die christliche Religion und Mystik, die er im Sinne einer verschlüsselten Metaphorik des sinnlichen, gefühlshaften Wesens des Menschen deutet. Als Akteur auf der Ebene der konkreten Lebenswelt erscheint nicht das einzelne Individuum, sondern Ich und Du in ursprünglicher Bezogenheit aufeinander. Auf der sinnlichen Realisierungsebene tritt nach Feuerbach zunächst ein Individuum einem leiblichen, konkreten Du gegenüber. Er umreißt hier eine Sphäre, die Alfred Schütz später als soziale Umwelt kennzeichnete: Das leibliche Du erscheint in einer erlebbaren Symptomfülle bzw. als „Leben im inhaltserfüllten Wir". Feuerbachs Darlegungen zufolge wird die gegenständliche Welt generell zunächst über die Beziehung zum Du erschlossen, in welchem Zusammenhang er auf die kindliche Entwicklung verweist. Allgemeines Muster der elementaren sozialen Relatiauf diese

ist für ihn die Liebe zwischen Frau und Mann, womit er ein zentrales Motiv der romantischen Tradition aufgreift. Der Mensch ist nach ihm bereits in seiner leiblichen, geschlechtsspezifischen Existenz durch den anderen bestimmt.45 Dieser Tatbestand dient ihm zugleich als Argument gegen Stirners Indem die Individuen im emotional-liebenden Bezug nach Feuerbach in ihrer Besonderheit und Ganzheit zur Geltung gelangen, sind sie darin weder auf bloßes Leibsein noch auf reines Person- oder Subjektsein zu reduzieren. Die natürliche Fundierung der Ich-Du-Beziehung läuft in dieser Hinsicht nicht auf ein naturalistisches Konzept hinaus, in dem das Individuum auf seine psychische Existenz bzw. Triebnatur beschränkt wird. Das Prinzip sozialer Relationalität wird von Feuerbach ebenfalls auf der Wissensebene aufgezeigt. Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen stellt für ihn das erste Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit dar. Er führt Dialektik in dieser Ausrichtung genetisch auf den Dialog zwischen Ich und Du zurück. Der kulturelle und soziale Erfahrungsprozeß entspringt damit nicht allein aus der Dialektik von naivem Bewußtsein und (nachträglicher) philosophischer Reflexion, sondern wird zunächst im Horizont der on

Einzigen'.46

Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/M.51991, 231. „Der Begriff des Objekts ist ursprünglich gar nichts andres als der Begriff eines anderen Ich so faßt der Mensch in der Kindheit alle Dinge als freitätige, willkürliche Wesen auf -, daher ist der Begriff des Objekts überhaupt vermittelt durch den Begriff des Du, des gegenständlichen Ich." L. Feuerbach: Grundsätze, 316. Die Geschlechtsdifferenz ist „die Nabelschnur, durch welche die Individualität mit der Gattung zusammenhängt". „Wo kein Du, ist kein Ich; aber der Unterschied von Ich und Du, die Grundbedingung aller Persönlichkeit, alles Bewußtseins, ist nur ein realer, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib." L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums (Anm. 1), 293, 178. Vgl. L. Feuerbach: „Über das Wesen des Christentums' in Beziehung auf den ,Einzigen und sein Eigentum'", in GW 9, 433 f. Vgl. L. Feuerbach: Grundsätze, 324; dort auch folgendes Zitat: „Die Gewißheit selbst von dem Dasein anderer Dinge außer mir ist für mich vermittelt durch die Gewißheit von dem Dasein eines andern Menschen außer mir. Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist gewiß." Vgl. ebd., 339. -

,

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229

immanenten kommunikativen Bezüge auf der Ebene der natürlichen Einstellung selbst betrachtet. Darin liegt auf erkenntnistheoretischem Gebiet die anthropologische Auflösung des logischen Apriorismus. Der phänomenologische Ausgang von praktischsinnlichen Bezügen zwischen Ich und Du modifiziert ebenfalls die Bestimmungen der gegenständlichen Welt. Über den Status eines reinen Bewußtseinskorrelats hinaus tritt die Welt nach Feuerbach zunächst als realen, äußerer Widerstand auf. Sie erweist sich nicht nur als Ding mit sinnlichen Eigenschaften, sondern wird vom Individuum als eine diffuse Ganzheit heterogener Bestimmtheiten erlebt als Objekt des Begehrens, als belebte Natur, als phantastische Wundererscheinung oder allmächtige, undurchschaubare Realität, die zunächst nach Analogie zu menschlichen und mitmenschlichen Formbestimmungen vorgestellt wird.49 Die Auffassung vom realen Widerstand der Objektwelt bezieht bereits der junge Feuerbach nicht nur aus der Hegelschen Philosophie; er greift hier ebenfalls auf den Mystiker Böhme zurück, für den, wie er zitiert, ohne Gegensatz und Widerwärtigkeit nichts offenbar wird.50 Den Widerstand interpretiert Feuerbach weder als idealen Gegenstoß im Ich noch als Trieb vernünftiger Allgemeinheit; er resultiert nach ihm ursprünglich aus einer wirklichen, gegenständlichen Entität, die im Individuum Verlangen oder Widerwillen, nicht zuletzt auch körperlichen Schmerz hervorruft. Für Feuerbach ist es vor allem der andere Mensch, das Du, das zunächst die Selbsttätigkeit im Ich hemmt und auf die Realität einer „außer mir seiende[n] Aktivität" verweist.51 In seiner späten Ethik fällt diese Funktion dem verletzten Du zu, das sich ins Gewissen des Ich einschreibt und dort einen Gegenstoß auslöst. Gegenüber dem Hegelschen Phänomenologie-Konzept führte der Ausgang von den sinnlich-praktischen Bezügen konkreter Individuen dazu, daß die verschiedenen subjektiven Äußerungsformen nicht mehr als auseinander hervorgehende Wissensstufen entwickelt werden, die bei Hegel einer strengen Werthierarchie unterlagen. Der einzelne muß bei Feuerbach die Welt prinzipiell nicht erst sprachlich fixieren und theoretisch erkennen, ehe er in ihr wirksam werden kann; bezogen auf die Vernunftebene folgt daraus, daß er die Wirklichkeit nicht erst systematisch beobachten muß, um in ihr moralisch handeln zu können. Das Individuum ist nach Feuerbach vielmehr ursprünglich ein -

Zu letzterem Aspekt vgl. ebd., 324. Zur unmittelbaren Präsenz der Natur wie dem Abhängigkeitsgefühl von der Natur vgl. L. Feuerbach: „Das Wesen der Religion", in GW 10, 4 f., 31 f., 34 u. a. und „Vorlesungen über das Wesen der Religion", in GW6, 32 f., 39-42 u. a.; zum sinnlichen Phänomen des Wunders ders.: „Über das Wunder", in GW8, bes. 308-314. Vgl. L. Feuerbach: „Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedict Spinoza", in GW2, 181-182. L. Feuerbach: Grundsätze, 316-317. Vgl. ähnliche Auffassungen zum Problem der primären Widerstandserfahrung später bei Dilthey und Löwith; Wilhelm Dilthey: „Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Aussenwelt und seinem Recht" (1890), in (ders.) Gesammelte Schriften, Bd. V, hg. v. G. Misch, Stuttgart 21957, bes. 110-114, 125 und Karl Löwith: „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. 1928" [im folgenden: IRM], in (ders.) Sämtliche Schriften, Bd. 1. Mensch und Menschenwelt, hg. v. K. Stichweh und M. B. de

Launay, Stuttgart 1981, 57-60.

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sozial geprägtes Wesen, das sich auf der elementaren Äußerungsebene gerade nicht rational systematisch und reflektierend verhält. Intersubjektivität konstituiert sich unter dieser Voraussetzung nicht erst über das Vehikel des (theoretischen) Ich-Bewußtseins, das in seinem ausschließenden Fürsichsein seine Anerkennung Ich und das korrelative Du sind als bewußte Manifenur kämpfend durchsetzen kann. stationen nach Feuerbach überhaupt nur ein vermitteltes Wissen, das aus dem Status gemeinschaftlicher Unmittelbarkeit erst allmählich hervortritt. Dieser phänomenologische Ausgangspunkt unterscheidet ihn nicht nur von Hegel, Schelling oder Fichte, sondern ebenfalls von Kant, der in seiner Anthropologie den Ausgangspunkt vergleichbar ins (monologische) Selbstbewußtsein setzte.53 Eine solche anthropologische Fundierung des Subjekts vorausgesetzt, stellt sich die Frage, wie von der elementaren sinnlichen Bezugsebene zur Problematik der objektiven (geschichtlichen) Weltbildung übergegangen und auch die geforderte Erhebung in systematisch-rationale Erkenntnis dargelegt wird. Daß die Individuen ihr unmittelbares Dasein überhaupt transzendieren, ist für den ehemaligen Hegelschüler ein unbezweifelbarer Tatbestand; er liegt im universalen, tätigen Gattungswesen des Menschen begründet. Feuerbach zeigt den Erhebungsprozeß im besonderen als Reaktion auf den Widerstand der gegenständlichen Welt auf, der das Individuum aus seiner vertrauten Für-es-Welt herausreißt. Ein solches Herausgerissenwerden aus der unmittelbar präsenten Welt bewirkt, daß die Individuen die Ebene ihres alltagspraktischen Daseins tätig überschreiten.55 Ausgerichtet auf die zwischenmenschlichen Bezüge, reflektiert er hierbei vornehmlich die Erhebung zur moralischästhetischen Sphäre der Liebe wie zu ihrer religiösen Verkehrungsform. Die Liebe avanciert in Feuerbachs Entwürfen der vierziger Jahre zum anthropologischen Grundmuster schlechthin; sie erhält bei ihm den Rang eines allgemeinen Seinskriteriums.56 Darin kontinuiert sich die schon seinen frühen Ansatz prägende pantheistische Erostradition. Ich und Du, aber auch gegenständliche Dinge gelangen in ihrer Individualität

emotional

bedürfnishaftes,

Zur Mitwelt

gelangt Hegel in der Phänomenologie bezeichnenderweise erst auf der Selbstbewußtzwar über das (theoretische) Wissen von sich selbst. Ist damit potentiell der Begriff des Geistes gegeben „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist" -, steht am Anfang der sozialen Beziehung nach Hegel der Modus des ausschließenden Fürsichseins, woraus der Kampf um Anerkennung hervorgeht. G. W. F. Hegel: PdG, 108; allgemein 103-116. Kants Anthropologie beginnt in der Tradition der Vermögenspsychologie mit dem Erkenntnisvermögen, hier wiederum mit dem „Bewußtsein seiner selbst"; vgl. Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", in Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie seinsebene, und

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der Wissenschaften, 1. Abt., VII. Bd., Berlin 1917, 127 f. Feuerbach begreift die Erkenntnis ganz im Sinne Kants als eine Synthese von Anschauung und Denken. Der Erkenntnisprozeß geht über die Elementarebene von Gefühl und Anschauung für ihn damit notwendig hinaus. Vgl. L. Feuerbach: Grundsätze, 331-332. Vgl. ebd., 326. „Wie aber objektiv, so ist auch subjektiv die Liebe das Kriterium des Seins das Kriterium der Wahrheit und Wirklichkeit. Wo keine Liebe, ist auch keine Wahrheit." Ebd., 319. -

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Einmaligkeit in der Liebe zu absolutem Wert. Das Endliche wird Unendliches.57 Feuerbach charakterisiert diesen Erhebungsprozeß im Sinne einer Annäherung an die Ansichstruktur der Wirklichkeit, was er auch als ein Bewußtwerden des Originals oder auch der Ursprache der Dinge umschreibt.58 Im Gegensatz zu Hegel, der im einzelnen, sinnlich zufälligen Leben nur ein „thierisches Leben, und verlornes Selbstbewußtseyn"59 sieht, kommt es bei Feuerbach zu einer deutlichen Aufwertung der Gefühlssphäre wie des individuellen Daseins überhaupt, und zwar auch im Hinblick auf den Erkenntnisprozeß. Als Gegenstandsbildungen, die aus der unmittelbaren Sozialitätsstufe von Liebe und Empfindung hervorgehen, zeigt Feuerbach in seinen Schriften Familie, Moral (Gewissen), im weiteren auch den Staat sowie Kunst, Religion und Philosophie auf. Im Mittelpunkt steht darin zweifellos die Religion. Er bestimmt diese als eine phantastisch-bildhafte Objektivierung des menschlichen (subjektiven) Wesens, die auf idealoptative Weise die Kluft zwischen der Partikularität des gefühlshaften Individuums und dem universalen Gattungssein schließt. Bereits in seinem Wesen des Christentums dechiffriert er Gott als phantastisch imaginierte Einheit von Ich und Du, wie sie exemplarisch im Christentum in der Beziehung zu einem konkreten, vertrauten Individuum (Jesus, Maria), das als Mittler fungierte, zum Vorschein kam. Indem er Religion später ebenfalls als Poesie deutet, Poesie im Sinne einer Objektivierungssphäre, wo die Produkte der Phantasie und Einbildungskraft nicht mehr als reale, transzendente Wesen erschienen, stellt er vermittelt auch Kunst in den Horizont der Ich-Du-Beziehung. Die religiöse Objektivierung schließt nach Feuerbachs Darlegung zugleich einen allgemeinen Verkehrungsprozeß ein; die vom Menschen erzeugten religiösen Symbole werden als Formen einer fremden, transzendenten Realität begriffen. „Der Mensch dies ist das Geheimnis der Religion vergegenständlicht sich sein Wesen und macht dann wieder sich zum Objekt dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Objekt, aber als Objekt eines Objekts, eines andern Wesens." Dieses Verkehrungsmodell läßt sich bis zur Théogonie wie zu den Schriften der sechziger Jahre verfolgen. Feuerbach dehnt dieses Konzept zugleich auf die menschliche Gattungsevolution aus, die er in der Grundstruktur eines triadischen Prozesses begreift: Sie umfaßt einmal die Verdinglichung der menschlichen Wesenskräfte in transzendente, religiöse Symbole, die mit einem Zerfall der ursprünglichen Gemeinschaft der Menschen verbunden ist. In seiner Extremform führt dieser Verdinglichungsprozeß nach Feuerbach in den atomisierten Zustand einer Gesellschaft sich ausschließender Personen, als deren exemplarischen Ausdruck er die christliche Personalität anerkennt. Die menschliche Geschichte umfaßt zum anderen den Prozeß einer erneuten Aneignung der Gattungskräfte, mit der zugleich die ursprüngliche Gattungseinheit wieder hergestellt wird. Wendepunkt in diesem Prozeß ist nach Feuerbach die erwartete Überschreitung und

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Vgl. ebd., 317. Ebd., 326.

G. W. F. Hegel: PdG, 120. L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums

(Anm. 1), 71.

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des Christentums. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der praktische Atheismus, den er als das neue ,Band der Staaten' wie als das Fundament des kommenden politischen Republikanismus Die menschliche Gattungsevolution wie die religiöse Objektiviehiermit in der übergreifenden Struktur einer Entäußerung und erneuten erscheinen rung Rücknahme der Entäußerung. Hinter dieser Grundstruktur scheint offensichtlich das idealistische Entfremdungsschema wieder durch. Orientiert an der Religion, entwickelt Feuerbach die Objektivierungsproblematik insgesamt aus der Perspektive eines übergreifenden Entäußerungs- und Verkehrungsprozesses. Der Gedanke eines durchgehenden Gemeinschaftskerns der menschlichen Gattung, der am Ende in unversehrter Form wieder zum reellen Dasein kommt, stellt in der Konsequenz eine die Zeitdimension tilgende, ungeschichtliche Auffassung dar. Das phänomenologische Problem kulturell erfüllter Zeit tritt notwendig in den Hintergrund. Das Verkehrungsmodell besetzt bei Feuerbach eine Stelle, an der eigentlich eine bestimmtere Darlegung der zeitlichen Ausdifferenzierung der kulturellen und sozialen Formen zu erwarten wäre. An diesem Punkt tritt ein wesentlicher Mangel seiner Anthropologie wie der darin zugrunde gelegten Umkehrmethode hervor. Feuerbach fuhrt auf der Basis der Umkehrmethode die sozialen und kulturellen Objektivationen wie die menschliche Gattungsgeschichte auf elementare Beziehungen konkreter Individuen zurück. Die Frage, wie aus dem tätigen Verhalten von Ich und Du die sozialen und kulturellen Vermittlungsebenen systematisch wieder hervorgehen, und zwar nicht nur im Sinne einer Verkehrung des menschlichen Wesens, kann auf Basis dieser Methode nicht mehr adäquat geklärt werden. Man stößt bei Feuerbach in dieser Hinsicht vielmehr auf die Tendenz, an die Stelle einer genetischen Theorie der Vermittlungen von Ich und Du das abstrakte anthropologische Prinzip selbst zu setzen, das in Überschreitung seines methodischen Charakters unzulässig zu einem Realprinzip ausgedehnt wird. Auch seine spätere Hinwendung zur Natur wie zur Trieb- und Bedürfhissphäre der Menschen konnte das Problem der objektiven Weltkonstitution nicht bestimmter auflösen. Nicht zuletzt dieser Mangel einer positiven Vermittlungs- bzw. Strukturtheorie drängte auf eine Weiterführung seines anthropologischen Ansatzes.

begreift.61

Die Fortführung der anthropologischen Reform der Phänomenologie-Problematik bei Marx und Löwith

Ungeachtet differenter theoretischer Interessen greifen sowohl Marx als auch Löwith auf Feuerbach als maßgebende theoriegeschichtlichen Quelle zurück: Erkennt Marx allein Feuerbach die Leistung zu, nach Hegels idealistischer Philosophie eine wirkliche Dieses gattungsgeschichtliche Konzept findet sich in konzentrierter Form in Feuerbach:: „Grundsätze der Philosophie. Notwendigkeit einer Veränderung", in (ders.) Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, hg. v. W. Jaeschke und W. Schuffenhauer, Hamburg 1996, 119-135, bes. 131 ff.

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theoretische Revolution vollzogen zu haben,62 so sieht Löwith fast ein Jahrhundert später in Feuerbach einen Denker, der das formale Grundproblem des Idealismus (Subjekt Objekt) auf neuen Boden gestellt hat.63 Der Bezug auf Feuerbachs Anthropologie ist bei beiden allerdings nicht ungebrochen; sowohl Marx wie auch Löwith sehen die Notwendigkeit einer weitergehenden Transformation seines anthropologischen Ansatzes. Geht ihre Kritik in eine ähnliche Richtung, so fallt die Antwort bei beiden divergent aus; sie denken die Phänomenologie-Problematik jeweils in eine unterschiedliche Richtung weiter. Zunächst soll die Wegnahme des Früheren interessieren. Der junge Marx schließt an Feuerbachs Anthropologie sowohl in kritischer als auch in positiver Hinsicht an. Er bezieht sich zum einen auf Feuerbachs Kritik der Religion und spekulativen Philosophie, zum anderen auf seine Begründung eines Materialismus, der „das gesellschaftliche Verhältnis ,des Menschen zum Menschen'" zum Grundprinzip der Theorie macht.64 Marx greift damit bewußt auf Feuerbachs intersubjektives Grundprinzip zurück, das er bei seinem Vorgänger allerdings nicht adäquat begründet sieht. Feuerbach bleibt nach ihm auf halbem Wege stehen, weil er die geschichtlichgesellschaftliche Welt nicht als Produkt der praktisch-gegenständlichen Tätigkeit begreift, wodurch diese in ihrer positiven (theoretischen) Gegenständlichkeit belassen wird. Sinnlichkeit wird auf diesem Standpunkt nach Marx nur als Anschauung, nicht aber als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit interpretiert.65 Vergleichbar hatte der Kritisierte einst gegen Hegel argumentiert. Hinter dieser Kritik, die Feuerbach zweifellos nicht gerecht wird, steht Marx' Einsicht, daß die moderne Industriegesellschaft auf der Basis der anthropologischen Grundmuster Liebe und Empfindung wie auch der Religion nicht genetisch zu erklären ist. Feuerbachs anthropologischen Ansatz überschreitend, begründet Marx die menschliche Sozialität spezifisch auf dem gegenständlich-praktischen Verhalten, das er in seinem Kern als Arbeit interagierender Individuen bestimmt. Der junge Marx beschränkt die Arbeitskategorie dabei nicht auf die praktisch-gegenständliche Tätigkeit, sondern versteht darunter weitergehend alle Formen menschlicher Produktion, so auch Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft oder Kunst. Arbeit (Produktion) in diesem weiten Sinn bildet für ihn die Quelle ökonomischer Wertbildung wie darüber hinaus den Ausgangspunkt zur Erzeugung der sozialen und kulturellen Welt insgesamt. Den Schwerpunkt setzt Marx dabei auf den realen Vergegenständlichungscharakter der Arbeit. Darin ist nicht nur die praktische Bearbeitung und Umformung von erster und zweiter Natur eingeschlossen, sondern ebenfalls der Aspekt einer gegenständlichen Selbstverwirklichung der Menschen, bei -

Vgl. Karl Marx: „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte" [im folgenden: ÖPM], in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke [im folgenden: MEW], Erg.bd. 1, Berlin 1981, 468, 569. K. Löwith: IRM, 18. Vgl. K. Marx: ÖPM, 569 f. Zu Marx' Kritik vgl. ders.: „Thesen über Feuerbach", in MEW, Bd. 3, 5-7 sowie K. Marx/F. Engels: „Die deutsche Ideologie", in MEW, Bd. 3, bes. 42-45. K Marx: ÖPM, 537, 574.

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der sie ihr produktives, soziales Gattungsleben in die geschichtlich-kulturelle Welt einschreiben und sich darin praktisch und intellektuell wiederfinden. Das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie, wie Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten festhält, ist das „aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte". Die Beziehung des Menschen zum Menschen tritt unter dieser Voraussetzung immer schon als eine gegenständlich vermittelte auf. Vergegenständlichung in der Bestimmtheit von Selbstverwirklichung schließt nach Marx wechselseitige soziale Beziehung in der Hinsicht ein, daß die Individuen sich über ihre gegenständlichen Realisationen aufeinander beziehen und ergänzen sowie darin wechselseitig in ihrer Eigentümlichkeit zur Geltung gelangen. Der Arbeitsbegriff eliminiert auf diese Weise nicht die Möglichkeit einer gegenseitigen Ich-Du-Relation, fundiert diese jedoch auf gegenständlich vermittelten Beziehungen konkreter Individuen.68 Bereits der junge Marx gelangt auf diese Weise zu einem Ansatz, der über Feuerbachs Anthropologie-Entwurf hinausgeht. Überschreitet Feuerbach den idealistischen Subjektbegriff auf Basis des Prinzips der Intersubjektivität, so fundiert Marx dieses Prinzip auf einer materialistischen Handlungs- und Objektivationstheorie. Wie Feuerbach geht er von intersubjektiv produzierenden, praktisch-tätigen Individuen aus; im Unterschied zu ersterem zeigt er den Tätigkeitsbegriff als einen Ausdruck realer Vergegenständlichungsprozesse auf, wobei in Umwandlung von erster und zweiter Natur bleibende soziale und kulturelle Objektivationen entstehen, die das Verhalten der Menschen wiederum determinieren. Damit treten die strukturellen Vermittlungen der sozial tätigen Individuen ins theoretische Zentrum, wie sie auf Feuerbachs analytischem Standpunkt unmittelbarer Ich-Du-Beziehungen nicht reflektiert wurden. Marx fällt mit diesem Ansatz nicht in das alte Subjekt-Objekt-Schema zurück, im Sinne, daß ein monologisches Subjekt die Gegenstände strukturiert.69 Unter Arbeit (Produktion) versteht er vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis, das nicht nur instrumenteile Beziehungen, sondern potenziell auch Selbstzweck und Gegenseitigkeit konkreter Individuen einschließt. Objektkonstitution und Intersubjektivität bilden bei ihm zwei untrennbare die auf der praktischMomente im gattungsgeschichtlichen Realisierungsprozeß Ebene anderen als auf der moralischen Ebene gegenständlichen allerdings Formgesetzen Die theoretische besteht für im Anschluß Marx an Feuerbach gerade folgen. Aufgabe darin, Gegenseitigkeit und Solidarität sowie Selbstverwirklichung unter Voraussetzung praktisch-gegenständlich vermittelter Intersubjektivität zu denken. „Objektgerichtete -

K. Marx: ÖPM, 542. Vgl. bes. ebd., 511; dazu ebenfalls K. Marx: „Auszüge aus James Mills Buch ,Élémens d'économie politique'", in MEW, Erg.bd., 1. T., 443-463. Zur Charakteristik des Marxschen Ansatzes als Theorie des zweckrationalen, instrumenteilen Handels auf der Basis des Subjekt-Objekt-Verhältnisses vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1973, 36-59 und ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1988, 75-86 oder auch Axel Honneth/Hans Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur, Frankfurt/M.-New York 1980, 24-29.

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Rationalität und solidarische Innerlichkeit"70 sollen allgemein miteinander synthetisiert werden. Auf dem Fundament seiner materialistischen Vergegenständlichungstheorie interpretiert Marx den Begriff der menschlichen Gattung spezifisch in den Begriff der Gesellschaft um.71 Das menschliche Gattungswesen wird von vornherein in seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Formbestimmtheit, als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, begriffen. Eine solche Auflösung des menschlichen Gattungswesens in ein Formengefüge geschichtlich-gesellschaftlicher Verhältnisse, das als Produkt der interagierenden Menschen selbst verstanden wird, eröffnet die Perspektive, die Vergegenständlichungsproblematik im übergreifenden Zusammenhang eines sozialen und kulturellen Evolutionsprozesses der menschlichen Gattung zu begreifen. Damit kann Marx sowohl das im Geistbegriff verankerte Entäußerungsmodell Hegels als auch Feuerbachs geschichtlich extrapoliertes religiöses Verkehrungsmodell überschreiten. Hegels Phänomenologie des Geistes interpretiert er entsprechend als eine idealistisch verstellte Theorie der Selbsterzeugung des Menschen durch seine eigene Arbeit.72 Die Hegeische Systemschrift ist unter dieser Voraussetzung in ein reales Vergegenständlichungskonzept zu überführen. Das phänomenologische Grundproblem, die Darlegung der Heterogenität und Einheit der einzelnen Gegenstandsbildungen, wird in dieser Intention auf den praktisch-gegenständlichen Objektivierungsprozessen fundiert. In seiner Einleitung in die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von 1857 entwirft Marx dazu ein Schema, das sich von den Bestimmungsebenen Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit über Staat, internationale Produktionsverhältnisse und Weltmarkt zu abgeleiteten Verhältnissen wie Rechtsverhältnissen, Familienverhältnissen bis hin zum Verhältnis von materieller und ästhetischer Produktion erstreckt.73 Systematisch ausgeführt hat er dahinsichtlich der von nur die Darstellung der Ausgangsform, des Kapitalverhältnisses Unentfaltetheit seines Programms läßt er sich insofern mit Feuerbach vergleichen. Blieben die positiven systematischen Ausführungen auf die Genese des Kapitalverhältnisses beschränkt, so zielt Marx' Gesellschaftstheorie dennoch weitergehend auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturverhältnisse. Wie der Einleitung von 1857 und auch anderen Schriften zu entnehmen ist, entwarf er dazu ein übergreifendes Schichtenmodell der Gesellschaft, das er bestimmter in die aufeinander folgenden Vermittlungsebe-

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Vgl. Gerd Irrlitz: „Notizen zu Marx, nach dem Marxismus", in Marxismus. Versuch einer Bilanz, hg. v. V. Gerhardt, Magdeburg 2001, bes. 72. Gerd Irrlitz sieht in der angestrebten Synthese von objektgerichteter Rationalität und solidarischer Innerlichkeit bei Marx nicht nur einen Ausgleich des Antike-Moderne-Verhältnisses, sondern zugleich ein Zusammengehen zweier Grundlinien der europäischen Kulturgeschichte: „des Denkens der europäischen Oberschichten mit Akzent auf der operationalen Rationalität und dem kritischen Gegenwurf der Unterschichten mit dem Ton auf

Gleichheit und Solidarität." Ebd., 73 f. Vgl. K. Marx an L. Feuerbach, Brief vom 11. August [1844], in MEW, Bd. 27, Berlin 1984, 425. K. Marx: ÖPM, 574. Vgl. K. Marx: „Einleitung [zu den ,Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie']", in MEW, Bd. 42, 42^*5.

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materielle Produktions- und Austauschverhältnisse (Basis) Recht, Staat, Familie, Moral, Kunst u. a Bewußtseinsformen (Überbau) gliederte. Diesem Schema liegt eine spezifische Stufung von Handlungs- und Objektivationsformen zugrunde, die bei den materiellen Bedürfhissen und ihrer kollektiven praktischen Befriedigung durch zweckrationale Aneignung und Umwandlung der Natur einsetzt und über soziale Integrationsformen hinauf zur Ebene ästhetischer, religiöser und wissenschaftlicher Weltaneignung führt. Familie, Recht, Staat, Moral, Kunst und Wissenschaft werden als Objektivierungsebenen darin nicht eliminiert, in der Fundierung auf der ökonomischen Basis jedoch abgeleitet gesetzt. Hinter diesem Schema läßt sich unschwer die dreigliedrige Struktur des Hegeischen Geistkonzepts erkennen. Marx zeigt die gesellschaftlichen Verhältnisse dabei nicht nur in einem vertikalen Querschnitt auf; vergleichbar mit Hegel, der die Geistformen in den Horizont eines bestimmten wirklichen Geistes stellte, begreift er das Gefüge der gesellschaftlichen Beziehungen jeweils innerhalb einer bestimmten historischen Formation. Sein gesellschaftstheoretischer Ansatz läuft in dieser Hinsicht auf eine kausal-genetische Theorie der Gattungsevolution hinaus, die in ihrem Kerngehalt an der Entwicklung der geschichtlich realisierten Produktionsweisen orientiert ist. Marx nimmt damit in spezifischer Weise die Zeitdimension in seinen Gesellschaftsbegriff auf; erst auf dieser Grundlage wird der geschichtliche Prozeß wie das Problem kulturell erfüllter Zeit für ihn überhaupt erklärbar. Nach der objektiven Seite resultiert die Dynamik dieses Prozesses seiner Darstellung nach aus der Entwicklung der Produktivkräfte (Technik, Technologien, Wissenschaft), denen jeweils bestimmte Produktions- und Verteilungsverhältnisse entsprechen. Die objektiven Strukturverhältnisse wirken nach Marx zugleich auf die Beziehungen der Menschen in der konkreten Lebenswelt zurück. Unter Voraussetzung einer bestimmten Stufe der Arbeitsteilung und Verteilungsverhältnisse gestalten sie sich in der übergreifenden Bestimmung von Klassenbeziehungen, wobei diese sich in der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf den Grundgegensatz von Bourgeoisie und Arbeiterklasse zuspitzen. Vom ökonomischen Standpunkt erweisen sich die Individuen als „ökonomische Charaktermasken",74 die notwendig den Gesetzen der materiellen Produktion folgen. Ein solcher ökonomischsoziologischer Standpunkt ist für Marx nicht lediglich eine theoretische Abstraktion, sondern der Ausdruck einer reellen Subsumtion der konkreten Alltagswelt unter die kapitalistischen Arbeits- und Produktionsbedingungen, mit der individuelles Dasein auf die Klassenzugehörigkeit festgeschrieben wird. Akteure im gesellschaftlichen Prozeß sind nicht mehr Individuen, sondern Klassen und Schichten, deren Lebensverhältnisse, Bewußtseinsformen wie auch sozialen Bindungskräfte von den objektiven Produktionsund Verteilungsverhältnissen geprägt sind. Die Beziehungen der Klassen gestalten sich nach Marx in der Grundbewegung von Gegensatz und Kampf. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, ist die Geschichte nen

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K. Marx: „Das

Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band", in MEW, Bd. 23,

163.

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Klassenkämpfen. Die gesellschaftliche Realität von gegenseitigen, solidarischen Beziehungen zwischen Ich und Du wird von Marx und auch Engels nicht generell negiert, jedoch an Sozialitätsstufen gebunden, in denen keine Klassenstruktur existiert an eine naturwüchsige, auf Gemeineigentum beruhende (urgemeinschaftliche) wie an die antizipierte kommunistische Gesellschaft. Einen Ausblick auf die neue Sozialitätsstufe erkannte Marx in der über den bloßen Produktionsprozeß hinausgehenden Vereinigung der Arbeiter, in der, wie er konstatierte, das Gefühl von Einheit und Solidarität von

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hervortrat und die solidarische Gemeinschaft bereits zu einem Selbstzweck wurde.76 Hier ist bei ihm der Ort, an dem der Feuerbachsche Gedanke einer erlebnishaften Gemeinschaft von Ich und Du wiederkehrt. Die Emanzipation der Gesellschaft, als Aufhebung des Privateigentums gedacht, hatte bereits der junge Marx als Arbeiteremanzipation gedeutet.77 Auch dem späten Marx ging es in dieser Hinsicht nicht allein um eine Strukturanalyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Bewegungsgesetze; ein zentrales Anliegen war vielmehr, unter den Voraussetzungen der modernen Industriegesellschaft eine erneute soziale und kulturelle Synthese zu begründen. Die Einheitsproblematik begründet Marx seinem Ansatz entsprechend auf der Synthesefunktion der gesellschaftlichen Arbeit. Eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation ist für ihn nur unter Voraussetzung eines realen Strukturwandels der gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsverhältnisse zu denken. Erneute soziale Einheit wie auch Einheit von Mensch und Natur geht seiner Auffassung nach, zumindest nach der objektiven Seite, aus dem ökonomischen Prozeß selbst hervor. Als treibende Grundkraft in diesem Prozeß stellt Marx die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit heraus, wie sie unter dem Druck des Kapitalverhältnisses, vor allem durch Wissenschaft und neue Technologien, zu steigender Effizienz und Naturbeherrschung führt. Darin liegt für ihn zugleich die zivilisatorische Funktion des Kapitals. Aus der unmittelbaren materiellen Produktion heraustretend, erhalten die Menschen nach Marx einen Freiraum für Betätigungen außerhalb physischer Selbsterhaltung und ökonomischer Effizienz. Dieser Prozeß läuft seiner Darstellung nach zugleich auf eine neue Einheit der Menschen hinaus, indem die bisherige Funktionsteilung der Arbeit (in geistige und körperliche) und das ungleiche Verteilungssystem des gesellschaftlichen Reichtums, damit die trennenden Klassenunterschiede aufgehoben wird. Seinen Ausführungen ist zu entnehmen, daß er diesen Prozeß einmal auf Basis einer immanenten Transformation des Kapitalverhält-

(moralische) Empfindungen im Verkehr mit anderen, wie Engels später in kritischer auf Feuerbach herausstellte, mußten unter den Bedingungen von Klassengegensatz und Klassenherrschaft notwendig verkümmern. F. Engels: „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", in MEW, Bd. 21, 285. Menschliche

Bezugnahme

K. Marx: ÖPM, 553 f. Marx hält fest, daß „die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von der Knechtschaft, in der politischen Form der Arbeiteremanzipation sich ausspricht [...], weil in ihrer Emanzipation die allgemein menschliche enthalten ist". K. Marx: ÖPM, 521. Zu diesem Terminus vgl. dazu Habermas: Erkenntnis und Interesse (Anm. 69), 36 ff.

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nisses denkt; von der Umbruchserwartung des Vormärz geprägt, faßt er diesen Prozeß zugleich als eine revolutionäre Wende auf, bei der die unterdrückte Klasse in einem politischen Akt das Kapitalverhältnis gewaltsam aufhebt und sich die Produktions- und Verkehrsmittel aneignet. Ungeachtet der Differenz beider Wege tritt in beiden eine eigentümliche Kluft zwischen technischer und ökonomischer Rationalisierung der Produktion auf der einen und der Etablierung einer solidarischen Gemeinschaft auf der anderen Seite zutage: Dem hochkomplexen Produktions- und Austauschsystem der modernen Industriegesellschaft korrespondierte eine Vergesellschaftungsform, in der alle sachlich verselbständigten sozialen Beziehungen in die Lebenseinheit der unmittelbar assoziierten Produzenten zurückgenommen waren. An diesem theoretischen Eckpunkt treten deutlich die Grenzen der Marxschen Auflösung der PhänomenologieProblematik hervor. Sie entspringen nicht der ökonomischen Fundierung der Vergesellschaftungsprozesse schlechthin, sondern daraus, daß die Evolution der menschlichen Gattung nur nach der Seite der materiellen Produktionsweisen und der wissenschaftlichtechnischen Entwicklung reflektiert wird. Eine wirkliche Evolution der sozialen Beziehungen, wie sie sich im Bezugsrahmen von Recht, Staat, Moralität oder Religion vollzog, wird von Marx nicht positiv aufgezeigt. Die eigenständigen, symbolisch vermittelten Strukturierungs- und Sozialisierungsleistungen, aber auch Versachlichungstendenzen der (außerökonomischen) konkreten Lebenswelt wie der Objektivierungssphären des sog. Überbaus, von Recht, Staat, Religion, Kunst oder Philosophie, treten in seinem Ansatz in den Hintergrund. Überschreitet Marx Feuerbachs Anthropologie durch eine Struktur- und Prozeßtheorie der Gesellschaft, so fundiert er dessen Prinzip sozialer Relation allgemein auf der praktisch-gegenständlichen Vermittlungssphäre; der moralische Gehalt der Ich-Du-Beziehung kommt innerhalb der .Vorgeschichte' der menschlichen Gattung dagegen nicht zum Tragen bzw. wird klassentheoretisch eingeschränkt. Ein zentraler Aspekt der Feuerbachschen Anthropologie bleibt auf diese Weise unentfaltet. Der Übergang zur Gesellschaftstheorie und materialistischen Geschichtsauffassung wirkte sich in spezifischer Weise auf den Philosophiebegriff aus. War Marx über Hegels phänomenologische Geisttheorie und Dialektik sowie über Feuerbachs anthropologische Philosophie zu seinem neuen gesellschaftstheoretischen Ansatz gelangt, so wirft er diese theoretischen Leitern in den vierziger Jahren bewußt ab. An die Stelle der vormaligen (bürgerlichen) Philosophie setzt er allgemein die Wissenschaft der Gesellschaft.80 Der Philosophie bleibt in positiver Hinsicht die Funktion einer Wissenschaftsmethode, eine Auffassung, die Engels später explizit vertrat.81 Marx und Engels

Vgl. K. Marx: „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie", in MEW, Bd. 42, 601. In den programmatischen Ausführungen der Deutschen Ideologie sprechen Marx und sein theoretischer Mitstreiter, Engels, von einer einzigen, übergreifenden Wissenschaft der Geschichte, die sich in Geschichte der Natur und der Menschen untergliedert. K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie (Anm. 65), 18. Vgl. z. B. F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (Anm. 75), 306.

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erkennen der Philosophie so nur noch einen methodischen Gebrauch zu, den sie im Sinne einer (formalen) Selbstverständigung der Natur- und Gesellschaftswissenschaften begreifen. Bezogen auf die Funktion der Philosophie als Wissenschaftsmethode gelangt Marx gegenüber seinen Vorgängern offenkundig zu weiterführenden Bestimmungen. Kommt er mit dem Phänomenologen Hegel und auch mit Feuerbach darin überein, die Kategorien anhand des geschichtlichen Bildungsprozesses der menschlichen Gattung zu entwickeln die Kategorien sind nach ihm „Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten" einer bestimmten Gesellschaft -, so überschreitet er in methodischer Hinsicht sowohl Hegels Gleichsetzung von phänomenologischer und logischer Wissensgenese als auch Feuerbachs am vorwissenschaftlichen, emotional-sinnlichen Dialog von Ich und Du orientiertes Erkenntniskonzept. Ausgerichtet auf die politische Ökonomie als gesellschaftstheoretische Leitdisziplin, begründet Marx die Erkenntnis allgemein auf einer Einheit von empirischem Forschungs- und systematischmethodischem In diesen doppelt gerichteten Prozeß fließen nach ihm Aspekte der logischen Erkenntnis (Aufstieg vom Logisch-Abstrakten zum Konkreten), der historischen Erkenntnis (Rekonstruktion geschichtlich komplexer Bildungsformen aus geschichtlich früheren, einfachen Formen) sowie der phänomenologischen Erkenntnis (Genese des Wissens über geschichtlich-kulturelle Erscheinungsformen) ein. Marx legt damit eine spezifische Einheit von logischem, historischem und phänomenologischem Prozeß zugrunde, ohne diese Prozesse zu identifizieren. Der phänomenologische Aspekt kommt in seinem Ansatz darin zum Ausdruck, daß die ökonomischen Kategorien durchgehend in kritischer Reflexion auf die bürgerliche Ökonomie entwikkelt werden, d. h. anhand einer Wissenschaft, die im Ausgang vom vereinzelt produzierenden Individuum wie von der Waren produzierenden Tätigkeit als natürlicher Realisierungsform Marx zufolge ein untilgbares Scheinmoment besitzt. Entwickelt er Hegels Dialektik auf diese Weise in Richtung einer Wissenschaftsmethode weiter, ohne ihre vormalige spekulativ-logische Begründung zu übernehmen, so zieht er Philosophie im Sinne einer eigenständigen, die gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse überschreitenden Reflexionsform insgesamt nicht mehr in Betracht. Was an der idealistischen Subjekttheorie und Dialektik sowie an Feuerbachs Anthropologie philosophisch war, rechnet Marx nunmehr einer vorwissenschaftlichen (ideologischen) Theoriestufe zu, die es gerade zu überwinden gilt. Befreit er die Gesellschaftstheorie auf diese Weise tendenziell vom Ballast idealistischer und ideologisch-geschichtsphilosophischer Prämissen und greift damit auf die späteren Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaften vor, löst er sie gleichfalls aus dem philosophischen Reflexionshorizont, in dem sich seine eigene Gesellschaftstheorie ausbildete. Fachwissenschafter Erkenntnis überantwortet, transformiert sich die phänomenologische Einheitsproblematik bei ihm -

Darstellungsprozess.83

K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Vgl. ebd., 34 ff. Vgl. dazu ebd., bes. 37 f., 41.

Ökonomie (Anm. 79), 40.

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perspektivisch zur Frage nach der Einheit der Wissenschaftsmethoden. Die Thematik der Formgesetze der heterogenen Objektivierungssphären, wie sie der konkreten Lebenswelt entspringen und auf diese zurückwirken, sowie auch die Frage nach der Einheit der differenten Vermittlungsebenen in ihrer Rückbezogenheit auf die lebensweltliche Sphäre konnten auf dieser Basis nur noch formal behandelt werden. Mit dieser Einschränkung gab Marx ein kritisches Reflexionsinstrumentarium preis, mit dem zugleich die anthropologischen und phänomenologischen Wurzeln seiner Gesellschaftstheorie in den Hintergrund traten. Seine Transformation der anthropologischen Philosophie in Gesellschaftstheorie erweist sich auch in methodischer Hinsicht als eine spezifische Fortbildung der Phänomenologie-Problematik, wobei diese zugleich auf die Problematik wissenschaftlicher Erkenntnis eingeschränkt wird. Darin ging das phänomenologische Philosophiekonzept, wie es Hegel und im Anschluß an ihn Feuerbach entwickelt hatten, allerdings nicht auf. Einen anderen Weg hat der junge Löwith eingeschlagen. In Anknüpfung an Feuerbach ist er bestrebt, Miteinandersein spezifisch in Richtung der (moralischen) Ich-DuBeziehung weiterzudenken.85 Auf Feuerbachs „unklassische Philosophie" geht der Heideggerschüler zurück, weil er darin ein Gegenmodell zum idealistischen Subjektbegriff sieht, in dem die Welt und Mitwelt allein auf dem monologischen Selbstbewußtsein (Bewußtsein, Geist) begründet werden. Diesen Ansatz erkennt er noch bei seinem Lehrer in Ausrichtung auf das Dasein als ,je eigenes". Feuerbachs wesentliche Leistung begreift er darin, von der Sinnlichkeit, vor allem aber vom Verhältnis des Menschen mit dem Menschen auszugehen. Dahinter steht seine Einsicht, daß der Mensch „ein an Andern wesentlich teilhabender Mitmensch" sowie der Geist grundlegend in Abhängigkeit 7 von der Natur wie dem leiblichen Dasein zu begreifen ist. Bezogen auf das MenschSein erkennt Löwith dem Miteinandersein nicht nur wie Scheler und Heidegger eine abgeleitete oder negative, sondern eine ursprünglich konstitutive Funktion zu. Teilt er Karl Löwith: IRM, 18 f. Folgende Ausführungen beziehen sich vornehmlich auf Löwiths Habilitationsschrift und seine Probevorlesung „Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie". Erstere wurde unter dem Titel „Phänomenologische Grundlegung der ethischen Probleme" 1927 an der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg eingereicht. Ihr Hauptgutachter war Martin Heidegger. Löwith stimmt in diesem Punkt grundlegend mit der sich herausbildenden dialogischen Philosophie überein. Bereits Hans Ehrenberg hatte in Feuerbachs Philosophie in dieser Hinsicht eine Gegenkraft zum idealistischen Subjektbegriff gesehen. Im Zusammenhang mit der Neuherausgabe von Feuerbachs „Grundsätzen" bemerkte Ehrenberg, daß die Zeit nahe, „wo sich das philosophische Denken von dem Bann der idealistischen Systeme befreit sehen wird, und dann wenn die Subjekt-Objekt-Philosophie den Ich-Du-Philosophien weicht, ist auch die Stunde gekommen, wo jene Philosophie der Zukunft [Feuerbachs C. W.] eine Philosophie der Gegenwart sein wird." Hans Ehrenberg: „Einleitung", in: L. Feuerbach: Philosophie der Zukunft, hg. und erl. v.

Vgl.

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H. Ehrenberg, Stuttgart 1922, 11. K. Löwith: „Ludwig Feuerbach und der

in (ders.) Sämtliche Schriften, Bd. 5,

Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. 1928", Stuttgart 1988, 25; vgl. auch ders.: IRM, 20-26.

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diese Ansicht mit Feuerbach, so nimmt er wahr, daß das Verhältnis von Ich und Du bei Feuerbach nicht ausreichend entwickelt wird. Ich und Du werden, wie er bemerkt, durch keine Welt verbunden. Das unmittelbare Füreinandersein, wie es Feuerbach anhand der Liebe zwischen Ich und Du umschreibt, ist für Löwith bereits eine vermittelte, exklusive Beziehung und bedarf daher einer genetischen Begründung. Er beabsichtigt in diesem Zusammenhang, die anthropologische Reform in Richtung einer phänomenologischen Strukturanalyse des Miteinanderseins weiterzuentwickeln.90 Erst auf dieser Grundlage läßt sich für ihn die ethische Problematik wie auch die Frage nach dem eigenen und fremden Verstehen wirklich klären. Die Erkenntnisfrage und soziale Konstitution des Menschen werden damit auch von Löwith in unmittelbarer Verschränkung gedacht; vergleichbar mit Marx liegt die Lösung des phänomenologischen Problems für ihn in einer Strukturtheorie des sozialen Seins. Reeller und methodischer Ausgangspunkt ist für Löwith das umgänglich alltagspraktische Da zu sein der Menschen. Hier zeigt sich unverkennbar der Einfluß seines Lehrers Heidegger. Das alltägliche Dasein und Miteinander ist für ihn das Fundament, aus dem die Ich-Du-Beziehung im weiteren erst hervortritt. Den vorherrschenden Modus dieser Ebene bestimmt er als „sachhaft orientiertes einander-Gebrauchen" oder auch „zweckdienliches Zusammenkommen und Auseinandergehen" der Menschen.91 Als Grundkategorie erscheint das Dasein für ein anderes oder auch das Sein-für-Andere(s). Löwith geht bei diesen kategorialen Bestimmungen theoriegeschichtlich auf Hegels Analyse des Etwas wie auch auf Kants Unterscheidung von Person und Sache zurück. Das Miteinandersein erweist sich auf der alltagspraktischen Ebene entsprechend als ein gebräuchliches Sein-für-Andere, was Löwith auch im Begriff des personalen Seins zusammenfaßt. Person (persona) ist für ihn jemand, der eine oder mehrere Rollen innehat.92 Dieser Begriff besetzt bei ihm die Stelle, die bei Marx der Klassenbegriff eingenommen hatte. Das personale Dasein wird von Löwith auf verschiedensten sozialen Ebenen reflektiert, so als Alters-, Geschlechts- und Berufsverhältnis, aber auch als Beichtverhältnis oder Verhältnis zwischen Autor und Leser. Perspektivisch denkt er es in Bezugnahme auf alle kulturellen Sphären. Löwith unternimmt in seiner soziologischphilosophischen Analyse des Miteinanderseins keine bestimmtere Differenzierung oder K. Löwith: IRM, 72. Zu dieser Kritik vgl. ebd., 72-74 und K. Löwith: „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", in (ders.) Sämtliche Schriften, Bd. 5, 18-20. Vgl. K. Löwith: IRM, 16-19. Vgl. ebd., 86. Zur Kennzeichnung des alltäglichen Seins greift Löwith augenscheinlich auf Heideggers Daseinsanalytik zurück; vgl. M. Heidegger: „Sein und Zeit", in (ders.) Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, 90 ff. „Die prinzipielle Struktur der Verhältnisse besteht also immer darin, daß das S ich-verhalten des einen mitbestimmt ist durch den andern". Der einzelne handelt als persona, „d. h. als einer, der eine .Rolle' hat, nämlich die, welche ihm durch sein Verhältnis zum andern schon eo ispo erteilt ist, auch dann, wenn einer gar nicht ausdrücklich im Sinne des ,wir' spricht und handelt." K. Löwith: IRM, 94-95.

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Schichtung der einzelnen sozialen Rollen; sein phänomenologisches Interesse gilt vielmehr dem Prozeß ihrer Verselbständigung. Eine solche Verselbständigung tritt nach ihm ein, wo das sachliche Verhältnis zu allgemeiner (absoluter) Geltung gelangt. Es entsteht ein Zustand, wo sich jeder allein nach dem anderen richtet, die Initiative des Tun und Lassens „weder beim einen noch beim andern, sondern aus ihrem Verhältnis als solchem" entspringt. In Orientierung an Pirandellos Stück Cosi è (se vi pare) zeigt Löwith in diesem Kontext eine Welt auf, in welcher der einzelne in seiner Selbständigkeit eliminiert und in seinem sachhaft vermittelten Rollendasein vollständig aufgelöst wird. In ihrer Scheinhaftigkeit erinnert diese Welt nicht nur an Heideggers existentialen Modus des Verfallenseins, sondern ebenfalls an Hegels ,geistiges Tierreich', wo jeder sich selbst und den anderen betrügt. Wie der Verfasser der Phänomenologie führt Löwith die Scheinproblematik auf eine Generalisierung der Perspektive des Seins-fürAndere(s) zurück.94 Die Zweideutigkeit der personalen Verhältnisse kontinuiert sich für Löwith bis zur Sphäre des Miteinander-Sprechens, in der die Strukturen des Miteinanderseins, nunmehr im Modus der Ausdrücklichkeit, noch einmal wiederholt werden. Angesichts der latenten Versachlichungstendenz der personalen Beziehungen ist zu fragen, wie zum antizipierten Ich-Du-Verhältnis übergegangen wird, in dem sich nach Löwith die Menschen in ihrer Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit frei anerkennen. Zur Lösung dieser Schwierigkeit greift Löwith auf Kants praktische Vernunft zurück. Als wahre Seinsart und Ansichsein des Menschen bestimmt er in Rückbeziehung auf Kant die freie Selbsttätigkeit oder auch Freiheit des Könnens, die nach ihm nichts Gegen6 ständliches ist. In Kants Darlegung der Freundschaft als Vereinigung von Liebe und Achtung erkennt er das ideale Muster zweckfreien Füreinanderseins, „in dem keiner zu etwas anderem, sondern beide unmittelbar füreinander da sind." In diesem Füreinander sind Ich und Du sich gegenseitig die ganze Welt. Eine solche freie Verbindlichkeit zwischen Ich und Du realisiert sich Löwith zufolge nicht auf Basis gegenständlicher, personaler Vermittlungen, sondern bedarf grundsätzlich eines „inneren Haltes". Dieser liegt für ihn in der un-verhältnismäßigen, idealen Innerlichkeit des Individuums. Ein reeller Übergang von den sachhaft vermittelten, personalen Beziehungen zur Ebene zweckfreier Ich-Du-Bezüge läßt sich unter dieser Voraussetzung nicht mehr denken. Eine vergleichbare Kluft hatte bereits Buber in seiner dialogischen Philosophie errichtet, wo er die Welt des Ich-Du grundsätzlich von der Welt des Ich-Es abgeschieden hatte.98 Das Primat setzen sowohl Buber als auch Löwith auf die Welt von Ich und Du. Bei Löwith spricht sich diese Auffassung auch in der These vom ontologischen Vorrang Ebd., 84. Zu dieser Problematik C. Weckwerth: Metaphysik als Phänomenologie (Anm. 2), 131-150. Vgl. K. Löwith: IRM, 118 ff. Ebd., 167 f. Ebd., 178. Zu dieser Problematik bei Martin Buber: Das dialogische Prinzip, 61992, bes. 7-38.

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Hegelschen Phänomenologie-Konzepts

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der Mitwelt vor der Umwelt aus.9 Die duale Konzeption wurzelt bei Löwith letztlich auf einer abstrakten Gegenüberstellung reiner Subjekt-Subjekt- und instrumenteller Subjekt-Objekt-Bezüge. Hinsichtlich des Ich-Du-Verhältnisses kehrt der Heideggerschüler offensichtlich zu einem idealistischen (substantiellen) Subjektbegriff zurück. Ausgehend von einem un-verhältnismäßigen, idealen Wesenskern des Menschen, faßt er Sozialität in der Konsequenz wieder als ein abgeleitetes, nachträgliches Verhältnis. Er durchbricht nach der oberen Seite damit den phänomenologischen Ansatz; gegenständliches Erkennen und Selbst- bzw. Fremdverstehen fallen notwendig auseinander. Seine Darlegung der personalen Verhältnisse trägt dagegen Züge eines materialistischen Objektivismus, in der Weise, daß die gegenständliche Welt der Objekte nach ihm hier unaufhebbar über die Mitwelt der Personen herrscht.100 Die Vergegenständlichungsproblematik erscheint entsprechend unter dem Grundaspekt einer Versachlichung, Entfremdung der menschlichen Subjektivität. Die verschiedenen Vergegenständlichungssphären enthalten nach Löwith keine moralischen Sozialisierungspotentiale, sondern führen vom ansichseienden Subjektkern prinzipiell ab. Der Gedanke, Gegenseitigkeit und Gemeinschaft von Ich und Du wie auch Individualität im Prozeß der Bildung zur Person zu suchen, eine Frage, die Hans Robert Jauß in diesem Zusammenhang aufgeworfen hat,101 liegt für den Habilitanden Löwith fern; herrscht im gegenständlichen Bildungsprozeß der Person doch der Grundmodus des instrumenteilen Gebrauchens vor. Das personale Dasein wird in diesem Modus als Gegebenheit vorausgesetzt, nicht aber genetisch (historisch) entwickelt. Indem Löwith das Verhältnis von Ich und Du prinzipiell jenseits der geschichtlich-kulturellen Welt faßt, bricht er der anthropologischen Reform Feuerbachs zugleich ihre materialistische und emanzipatorische Spitze ab. Eine Trennung der Ich-Du-Thematik von der Problematik Mensch und Welt konnte dem Vormärzdenker Feuerbach augenscheinlich nicht genügen. Die Ausrichtung auf die Einheit beider Seiten kontinuiert sich bis zu seiner späten Gefühlsethik, wo er Moralität in unauflöslichem Zusammenhang mit den äußeren Gütern und der Natur, aber auch mit dem leiblichen Dasein Löwith selbst sind die Mängel seines frühen Ansatzes

begreift.1

Vgl. K. Löwith: IRM, 27, 58, passim. Vgl. ebd., 79.

Hans Robert Jauß: „Karl Löwith und Luigi Pirandello. Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen wiedergelesen", in (ders.) Probleme des Verstehens. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1999, 116. Jauß weist in diesem Zusammenhang auf Helmuth Plessner hin, der im Unterschied zu Löwith Selbstsein und Rolle wie auch Innerlichkeit, Eigentlichkeit und Öffentlichkeit, Uneigentlichkeit zusammengedacht hat. Zur Kritik von Löwiths Konzept vgl. auch Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin-New York 21977, bes. 416 ff., 435 ff. Vgl. L. Feuerbach: „Zur Moralphilosophie (1868)", in Solidarität und Egoismus. Studien zu einer Ethik bei und nach Ludwig Feuerbach, sowie kritisch revidierte Edition „Zur Moralphilosophie" (1868) besorgt von W. Schuffenhauer, hg. v. H.-J. Braun, Berlin 1994, 404. Im Bestreben, Feuerbachs anthropologische Philosophie in Richtung eines an Geltungsansprüchen orientierten Verständigungskonzepts zu deuten, wurde in neuerer Zeit bezogen auf seine Anthropologie zwischen -

Christine Weckwerth

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bald bewußt geworden. Rückblickend auf seine theoretische Entwicklung, verweist er in dieser Hinsicht aufschließenderweise auf das Erscheinen der Frühschriften von Marx (1927), die ihn veranlaßten, „diesen allzumenschlichen Horizont von Welt zu erweitern und die objektive Macht der geschichtlich gewordenen Gesellschaftsstruktur in den Umkreis der eigentlichen Existenz einzubeziehen". Der Weg von Hegel über Feuerbach zu Marx und Löwith macht deutlich, daß die anthropologische Wendung der idealistischen Geisttheorie die phänomenologische Problematik in spezifischer Weise fortgebildet hat. Hegels Theorie der kulturellen Objektivationen des Geistes wurde im Zuge der Feuerbachschen Reform nicht naturalistisch eingeebnet, eine solche Ausrichtung ist eher für eine Anthropologie im Sinne Stirners, Nietzsches, Freuds oder auch Gehlens auszeichnend; der Rückgang auf die Beziehungen praktisch-konkreter Individuen hat die phänomenologische Objektivierungsproblematik in ihrer ganzen Tragweite vielmehr erst hervortreten lassen. Als eigentliche theoretische Schwierigkeit erwies sich dabei, die geschichtlich-kulturellen Vergegenständlichungsprozesse mit der reellen und ideellen Konstitution der Gattungseinheit, und zwar auf der Ebene der konkreten Lebenswelt wie auf der Ebene der gesellschaftlichen Vermittlungen, zusammenzudenken. Wurde diese Aufgabe auch unterschiedlich gelöst, so liegt im anthropologischen Ausgang vom Prinzip sozialer Relationalität doch ein unabweisbarer, bleibender Problemgehalt, der über die Ursprungsfrage hinaus auf eine systematische Erfassung der heterogenen Weltbildungs- und Sozialisierungskomponenläßt sich in dieser theoriegeschichtlichen Linie doch nicht zuletzt ein ten verweist Korrektiv gegen einen einseitig erkenntnistheoretischen (sprachanalytischen, diskurstheoretischen) und auch naturalistischen Ansatz sehen. -

einer positiv gewerteten, dialogischen Subjekt-Subjekt-Dialektik und einer unheilsamen, erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Dialektik geschieden. Letztere wurde in ihrem Rekurs auf das sinnlich Gegebene und auf die Anschauung als Rückfall in eine dogmatische Metaphysik gesehen. Vgl. Udo Tietz: „Die Entfaltung des Produktionsparadigmas. Ein blinder Fleck in der Feuerbach-Kritik von Marx", in Marxismus. Versuch einer Bilanz (Anm. 70), bes. 416 ff. Wie bereits Löwiths Ansatz wird eine solche Deutung der materialistischen Anthropologie Feuerbachs m. E. nicht gerecht; wird das factum brutum der gegenständlichen Welt damit auf das Bedingungsproblem von Verständigungsakten zwischen Ich und Du beschränkt. Der Objektbezug des Subjekts, den Feuerbach gerade nicht genuin erkenntnistheoretisch faßt und hinter dem der Gedanke eines vom Menschen unabhängigen Seins steht, das in allen menschlichen Bezügen durchschlägt, ist in seinem anthropologischen Ansatz ein irreduzibles Moment des Gattungsprozesses. Feuerbachs Anthropologie allein auf eine rational gefaßte Subjekt-Subjekt-Dialektik zu stellen, beläßt diese in einem idealistischen Ansatz; zur Klärung der Frage nach unversehrter Intersubjektivität bedarf es mit Feuerbach meines Erachtens einer weitergehenden Begründung. K. Löwith: „Curriculum vitae. 1959", in (ders.) Sämtliche Schriften, Bd. 1 (Anm. 51), S. 452; vgl. auch Löwiths modifizierten späteren Ansatz in „Welt und Menschenwelt" von 1960, in: ders.: Sämtliche Schriften, ebd., S. 295-32S.liche Schriften, ebd., 295-328.

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Andreas Arndt

wie halten wir es nun mit der hegel'schen Dialektik?' ,...

Marx' Lektüre der Phänomenologie 1844

Im dritten Heft der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 stellt Marx relativ unvermittelt die Gretchenfrage: „wie halten wir es nun mit der hegel'schen Dialektik?" Anlaß für diese Frage ist Marx' Darlegung der Aufhebung der Selbstentfremdung im Kommunismus: „Der Communismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung nothwendige Moment der menschlichen Emancipation und Wiedergewinnung." (274 f.) Mit dem Ende der Entfremdung ist aber die Geschichte nicht am Ende: „Der Communismus ist die nothwendige Gestalt und das Energische Princip der nächsten Zukunft, aber der Communismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung die Gestalt der menschlichen Gesellschaft." (275) Auf den ersten Blick hält Marx es mit der Hegeischen Dialektik wie andere Junghegelianer: er folgt dem zuerst wohl von August von Cieszkowski 1838 verfolgten Programm einer Historisierung der Hegeischen Dialektik, die darauf hinausläuft, sie als eine historische Dialektik zu rekonstruieren und auf die Hegeische Philosophie so anzuwenden, daß Hegels Abschluß des Systems transzendiert und eine noch herbeizuführende, höhere Stufe der geschichtlichen Entwicklung aufgezeigt wird.2 Mit diesem Programm einher ging ein Paradigmenwechsel von der Logik zur Phänomenologie, den zuvor z. B. auch Moses Hess und Friedrich Koppen vollzogen hatten.3 -

Karl Marx: Werke, Artikel, Entwürfe März 1843 bis August 1844 (MEGA I, 2), Berlin 1982, 275. Seitenzahlen in Klammern innerhalb des Textes beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe. Vgl. August von Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie, mit einer Einleitung v. R. Bubner u. einem Anhang v. J. Garewicz, Hamburg 1981, Einleitung, VIII. Vgl. Moses Hess: „Die europäische Triarchie" (1841), in (ders.) Philosophische und sozialistische Schriften 1837-1850, hg. v. W. Mönke, Berlin 21980, 77-166; Karl Friedrich Koppen: „Zur Feier der Thronbesteigung Friedrichs II:" (1840), in Die Hegeische Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, hg. v. Heinz u. Ingrid Pepperle, Leipzig 1985, 128-146, bes. 138: „die einfache Gliederung der Weltgeschichte ist [...] diese: 1. die Geschichte der unmittelbaren, natürlichen, naiven Vernunft die alte Zeit; 2. die Geschichte der außersichseienden, sich jenseitigen Vernunft das Mittelalter; 3. die Geschichte der in sich zurückgekehrten, selbstbe-

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Andreas Arndt

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Nicht gegen diese Fraktion der Hegelianer richtet sich Marx' Kritik, sondern an die Adresse der wenig später (in der Heiligen Familie) so genannten „kritischen Kritik" namentlich Bruno Bauers und David Friedrich Strauss'. Ihnen wirft Marx ein „völlig kritikloses Verhalten zur Methode des Kritisirens, und eine völlige Bewußtlosigkeit über die scheinbar formelle, aber wirklich wesentliche Frage" (275) vor, nämlich über die eingangs zitierte Gretchenfrage. Strauss und Bauer seien „wenigstens der Potenz nach noch vollständig innerhalb der hegel'schen Logik befangen", ohne ein Bewußtsein „über das Verhältniß zur Hegel'schen Dialektik" erlangt zu haben. Das Bewußtsein über dieses Verhältnis kann Marx zufolge nur ein kritisches sein, sofern die Hegeische Dialektik bereits durch die „stoffliche Kritik" infrage gestellt worden war. Marx' Frage nach der Hegelschen Dialektik setzt also einen Standpunkt voraus, bei dem es nicht mehr um die Verwirklichung der (Hegelschen) Philosophie geht, sondern um ihre Kritik im Namen einer anderen Auffassung der Wirklichkeit. Sie müßte also eigentlich lauten: was können wir noch mit der Hegelschen Dialektik anfangen?

1. Die neue Situation ist für Marx durch Feuerbach geprägt, denn dieser habe „die alte Dialektik und Philosophie dem Keim nach umgeworfen" (276), weshalb „man sich nun kritisch mit seiner Mutter, der hegelschen Dialektik auseinanderzusetzen" und ein Verhältnis „zur Feuerbachischen Dialektik" zu gewinnen habe. Dieses Verhältnis zur „Feuerbachischen Dialektik" nach Feuerbach ist die „wahre Dialektik [...] kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du"5 ist jedoch für Marx selbst ein kritisches. Für ihn hat Feuerbach die Grundlage eines anderen, kritischen Umgangs mit der Hegelschen Dialektik zugleich geschaffen und, zumindestens teilweise, wieder verstellt. Und diese Kritik findet sich nicht erst im Zusammenhang mit der Deutschen Ideologie und den Thesen ad Feuerbach, sondern ist bereits hier angelegt, in denjenigen Aufzeichnungen, die mit vielfachem Recht als Höhepunkt des Marxschen Feuerbach-Kultes gelten.6 -

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wußten Vernunft." Eine umgearbeitete und erweiterte Fassung der Abhandlung erschien 1840 separat bei Otto Wigand in Leipzig unter dem Titel Friedrich der Große und seine Widersacher. Eine Jubelschrift; sie war „Meinem Freunde Karl Heinrich Marx aus Trier gewidmet" (Wiederabdruck in Karl Friedrich Koppen: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, hg. v. H. Pepperle, Berlin -

2003, 135-227).

Marx bezieht sich hierbei auf Bruno Bauers Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker, Leipzig 1841. Ludwig Feuerbach: „Grundsätze der Philosophie der Zukunft", in Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff, Bd. 9, 339 (§ 64). Vgl. Andreas Arndt: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum 1985, 37 ff. Zum Verhältnis Marx-Feuerbach insgesamt ist noch immer grundlegend Werner Schuffenhauer: Feuerbach und der junge Marx, Berlin 1972.

„...

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WIE HALTEN WIR ES NUN MIT DER HEGEL'SCHEN DIALEKTIK?"

Feuerbachs „grosse That" faßt Marx in drei Punkten zusammen. Er habe (1) den Beweis erbracht, daß die Philosophie „nichts andres ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion"; (2) den „wahren Materialismus" und die „reelle Wissenschaft" begründet, indem er das Verhältnis des Menschen zum Menschen zum „Grundprincip der Theorie" gemacht habe; und schließlich (3) habe er der „Negation der Negation [...] das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive entgegengestellt". (276) Während der zweite Punkt auf die „wahre Dialektik" des Ich und Du bei Feuerbach rekurriert, betrifft der letzte den Ausgang seiner Philosophie von einem schlechthin Unmittelbaren, das unmittelbar die Affirmation ist und daher schlechthin keines Beweises bedarf, denn der Beweis wäre wiederum eine vermittelnde Bewegung, als deren Grundfigur die Negation der Negation gilt. Wenn der Kommunismus für Marx die Position als Negation der Negation, aber nicht das Ziel der Geschichte ist, dann zeichnet sich eine doppelte Abgrenzung ab. Gegen Hegel behauptet Marx die Unabgeschlossenheit der Geschichte, die nicht an ein Ende kommt; gegen Feuerbach aber behauptet er, daß das Wahre Resultat einer vermittelnden geschichtlichen Bewegung sei, für welche die Figur der Negation der Negation einstehe. Wenn Feuerbach diese ablehnt, abstrahiert er im Grunde, so muß man Marx verstehen, von der Geschichte. Der erstmals in den Thesen ad Feuerbach ausdrücklich erhobene Vorwurf, Feuerbachs Denken ignoriere die Geschichte,8 ist bereits hier implizit vorhanden. Die Frage nach der Hegeischen Dialektik ist für Marx also deshalb eine Frage, weil er einerseits das Grundprinzip, welches Feuerbach gegen Hegel wendet, akzeptiert und für die Gründung des „wahren Materialismus und der reelen Wissenschaft" (276) hält, andererseits aber diese Wissenschaft als Wissenschaft der Geschichte mit Hegeischen Mitteln durchführen möchte. Feuerbach, so erklärt Marx, greife zu kurz, wenn er die Negation der Negation (und mit ihr das Konzept der Hegeischen Widerspruchsdialektik) kritisiere. Er fasse „die Negation der Negation nur als Widerspruch der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie (Transzendenz etc) bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Gegensatz zu sich selbst bejaht." (277) Der Akzent liegt hier auf dem „nur", denn die Behauptung, die Philosophie Hegels sei die wiederhergestellte Theologie, rechnet Marx ja zu den epochemachenden Entdeckungen Feuerbachs. Nach Marx' Auffassung jedoch trägt die Figur der Negation der Negation nicht nur diese Konsequenz, weshalb Feuerbach sie zu Unrecht im ganzen verwirft. Er „faßt auch die

Vgl. z. B. Feuerbach: Grundsätze (Anm. 5), 321 (§ 39): „Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar durch sich selbst gewiß ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht". Zum Problem der Dialektik bei Feuerbach vgl. Andreas Arndt: „,Nicht-Selbst und Selbst'. Bestimmtes Sein, Widerspruch und das Problem der Dialektik bei Ludwig Feuerbach", in Solidarität oder Egoismus. Studien zu einer Ethik bei und nach Ludwig Feuerbach, hg. v. Hans-Jürg Braun, Berlin 1994, 58-80. Vgl. die 6. der „Feuerbachthesen" in Marx/Engels Werke, Berlin 1956 ff. (im folgenden: MEW), Bd. 3, 6. -

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Negation der Negation, den konkreten Begriff als das sich im Denken überbietende und als Denken unmittelbar Anschauung, Natur, Wirklichkeit sein wollende Denken." (277). Hierzu heißt es bei Feuerbach: „Das Denken negiert alles; aber nur um alles zu setzen in sich. [...] So wird [...] das Konkrete zu einem Prädikate des Gedankens, das Sein zu einer bloßen Gedankenbestimmtheit gemacht; denn der Satz: .Der Begriff ist

konkret ', ist identisch mit dem Satz: Das Sein ist eine Gedankenbestimmtheit." Dem stellt Marx nun eine historisierte Auffassung der Hegelschen Dialektik entgegen. In der Negation der Negation liege „der positiven Beziehung nach [...] das wahrhaft und einzig Positive" (177), d. h., daß entgegen Feuerbachs Behauptung das wahre Positive Resultat einer (geschichtlichen) Vermittlung ist und der Negation nicht unvermittelt als ein auf sich selbst gegründetes entgegengesetzt werden darf. Denn die Negation der Negation sei „der negativen Beziehung nach, die in ihr liegt" als der „Selbstbethätigungsakt alles Seins" (177) aufzufassen. Beide Momente zusammengenommen konstituieren für Marx die eigentliche Bedeutung der Negation der Negation. Sie besagen, daß das wahre Positive, das Subjekt der Entwicklung, dieser nicht als ein in sich selbst gegründetes Positives unmittelbar zugrunde liegt, sondern erst wird; und sie besagen weiter, daß dieses Werden in einem durch die Negativität strukturierten Prozeß erfolgt. Damit, so resümiert Marx, habe Hegel „den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjekts, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist." (177) Marx unterscheidet demnach zwischen dem geschichtlichen Werden des menschlichen Subjekts das hier, 1844, weitgehend mit dem Feuerbachschen Gattungssubjekt identisch ist und der Geschichte, die von diesem Subjekt in die eigene Regie genommen wird. Diese Differenz von „Vorgeschichte" und „eigentlicher" Geschichte des Menschen findet sich noch in dem Vorwort des ersten Heftes Zur Kritik der politischen Ökonomie Der Kommunismus ist für Marx derjenige Zustand, in dem der Mensch als Subjekt der Geschichte geworden ist; dieser Zustand bezeichnet aber, anders als bei Hegel, kein Ende der Geschichte, sondern er eröffnet erst die eigentliche, nicht-entfremdete Geschichte der Menschheit. Der Einsatz der Hegelschen Dialektik für die Kritik des Kapitalismus besteht zunächst darin, den Kommunismus als notwendige Position aus der Geschichte der Ent-

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(1859).10

Feuerbach: Grundsätze (Anm. 5), 311 (§ 29). „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." („Zur Kritik der politischen Ökonomie", MEW, Bd. 13,9).

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WIE HALTEN WIR ES NUN MIT DER HEGEL'SCHEN

DIALEKTIK?'

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femdung hervorgehen zu lassen. Darüber hinaus aber wird Marx in ihr als Dialektik der Negativität den Ausdruck der Arbeit als der Grundfigur der Geschichte entdecken.11 2.

Ausgehend von den referierten Überlegungen wirft Marx einen „Blick auf das hegelsche System. Man muß beginnen mit der hegel'schen Phänomenologie, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimniß der hegel'schen Philosophie." (277) Dieses Urteil entspringt der Grundüberzeugung derjenigen linkshegelianischen Fraktion, der an einer Historisierung der Hegeischen Dialektik gelegen war; die Phänomenologie des Geistes als „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" (so ihr ursprünglicher Titel) wurde gelesen als Wissenschaft der Geschichte des Bewußtseins, an deren Ende das Selbstbewußtsein des Menschen als des Subjekts der Geschichte herausgebracht bzw. der selbstbewußte Mensch als Subjekt der Geschichte konstituiert ist. In einem ersten Anlauf bevor er sich in dem Heft wieder ökonomischen Themen zuwendet rekapituliert Marx zunächst anhand der Gliederung der Phänomenologie diesen Gang, der ins absolute Wissen mündet. Worauf diese offenbar nur zur Selbstverständigung niedergeschriebenen Notizen inhaltlich hinauswollen, erhellt aus den Anmerkungen zu Hegels Enzyklopädie, die sich unmittelbar anschließen. Indem die Enzyklopädie mit der Logik beginne, „mit dem reinen spekulativen Gedanken und mit dem absoluten Wissen [...] aufhört, so ist die ganze Encyklopädie nichts als das ausgebreitete Wesen des philosophischen Geistes". (278) Beide, Phänomenologie und Enzyklopädie, enden mit dem absoluten Wissen, aber die Enzyklopädie beginnt mit dem spekulativen Bewußtsein, dessen Genese die Phänomenologie beschreibt; in diesem Sinne ist sie nicht Geschichte, sondern Ausbreitung des in der Logik konzentrierten Wesens des Geistes, wobei diese Formulierung nahelegt, daß die logischen Formen auf den realphilosophischen Feldern bloß iteriert werden, d. h. letztlich nur eine quantitative Ausdehnung, aber keine qualitative Fortbestimmung erfahren. Eben deshalb sei die Logik auch „das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwerth des Menschen und der Natur". (278) Diese Formulierung steht durchaus in Einklang mit Marx' ökonomischer -

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Bestimmung des Geldes.12 Der Geistesphilosophie kommt indes eine besondere Bedeutung zu: denn der Geist ist das „in seine eigne Geburtsstätte heimkehrende Denken" (278), womit Marx aber offenbar nicht die Logik meint, sondern eben die Phänomenologie als die Geburtsstätte des Hegeischen Systems, denn was Marx hier akzentuiert, ist die Entwicklung des -

Hiermit schließt Marx an eine Tradition an, welche bis in die Anfange der Geschichtsphilosophie zurückreicht. Vgl. Andreas Arndt: Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, 105-119. „Die Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige mächtige Eigenschaft; wie es alles Wesen auf seine Abstraktion reducirt, so reducirt es sich in seiner eignen Bewegung als quantitatives Wesen." (279)

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Andreas Arndt

Geistes, sein Werden zu sich. Mit anderen Worten: die Geistesphilosophie läßt sich, wie die um

Phänomenologie, als historische Dialektik interpretieren; und letztere gilt eben darals die Geburtsstätte der Hegelschen Philosophie.13

Im Blick auf diese Geburtsstätte läßt sich aber für Marx auch der Geburtsfehler der Hegelschen Philosophie festmachen. Dem „doppelten Fehler" bei Hegel, der in der Phänomenologie „am klarsten" hervortrete (284), sind die weiteren Ausführungen gewidmet. Der erste Fehler besteht darin, daß das „abstrakte philosophische Denken" also der Philosoph als „selbst eine abstrakte Gestalt des entfremdeten Menschen" zum Maßstab der Entfremdung gemacht werden: „Nicht daß das menschliche Wesen sich unmenschlich, im Gegensatz zu sich selbst vergegenständlicht, sondern, daß es im Unterschied vom und im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesezte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung." (284) Dieser Einwand läuft darauf hinaus, daß der Realprozeß an der Identität des abstrakten Denkens mit sich gemessen werde, während dieses abstrakte Denken selbst Ausdruck realer Entfremdung sei, weil es von der sinnlichen Natur des Menschen abstrahiere. Dementsprechend besteht der zweite Fehler auch, kurz gesagt, darin daß der Mensch nur als geistiges, nicht aber als sinnliches Wesen angesehen werde; seine Produktionen seien ebenso nur geistige, wie er sich die Wirklichkeit nur als eine geistige aneignet: „Die Menschlichkeit der Natur und der von der Geschichte erzeugten Natur, der Producte des Menschen, erscheint darin, daß sie Producte des abstrakten Geistes sind und insofern also geistige Momente, Gedankenwesen." (285) Hierbei handelt es sich nicht um eine immanente Kritik an dem Argumentationsgang der Phänomenologie, den Marx ganz unberührt läßt; vielmehr macht er gegen die Hegelsche Fassung der Identität von Denken und Sein eine Differenz geltend, die ihm durch das von ihm angenommene philosophische Prinzip Feuerbachs das gesellschaftliche Verhältnis des Menschen zum Menschen vorgegeben ist: erst in der Beziehung auf ein Gegenüber, das in diesem Verhältnis mehr ist als bloßes Moment einer Selbstbeziehung, erlangt der Mensch das Bewußtsein von sich und den Gegenständen. Im Blick auf Hegel bedeutet dies, daß Marx mit Hegel im Unterschied zu Feuerbach an der Figur eines vermittelten Selbst- und Gegenstandsbewußtseins festhält, diese Vermittlung im Unterschied zu Hegel aber als gegenständliche fassen möchte. „Gegenständlich" zeigt hier das an, was Adorno den „Vorrang des nennt: ein nicht in das Subjekt bzw. Bewußtsein aufzuhebendes Gegenüber. Indes: Marx verläßt damit die nicht nur junghegelianischen Bahnen der Hegel-Kritik, die Hegels Vermitt-

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Objekts"1

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Tatsächlich ist ja der für das spätere System konstitutive Gedanke der Geschichtlichkeit des Geiin der Phänomenologie erstmals durchgeführt; vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, Stuttgart-Weimar 2003, 198. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, 184 ff.

stes 14

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lungsdenken unvermittelte und angeblich unvermittelbare Unmittelbarkeiten entgegenhält.15 Dieses Festhalten an der Vermittlungsfigur ermöglicht es Marx, ein kritisches Potential der Hegeischen Dialektik freizulegen. Zwar bewirke die Aufhebung der Gegenständlichkeit in die Gedankenbewegung in Hegels Realphilosophie so etwas wie einen unkritischen „Positivismus" und „Idealismus" durch „diese philosophische Auflösung und Wiederherstellung der vorhandnen Empirie" (285),17 jedoch lägen gerade in der Phänomenologie „alle Elemente der Kritik verborgen und oft schon in einer weit den hegel'schen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet und ausgearbeitet." (285) Es handelt sich in der an Feuerbach orientierten Theoriesprache des jungen Marx um die Kritik der Entfremdung innerhalb der Entfremdung, nämlich durch die Aufhebung der entfremdeten Gegenständlichkeit in das abstrakte und insofern selbst entfremdete philosophische Denken. Kritisch ist die Hegeische Dialektik in der Phänomenologie gerade deshalb, weil sie die Position als Resultat einer vermittelnden Bewegung auffaßt und damit, so wird man hinzufügen dürfen, die entfremdete Wirklichkeit als historisch gewordene und insofern auch geschichtlich zu überwindende begreift; sie löst das Gegebene in den Fluß der geschichtlichen Bewegung auf. Die Hegeische Dialektik gilt Marx aber nicht einfach als Strukturprinzip von Geschichte, sondern als Grundstruktur dessen, wodurch Geschichte gemacht wird: der Arbeit. „Das Grosse an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultate der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Princip ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Proceß faßt [...]; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift." (292) Der Begriff dieser Arbeit bleibt jedoch der der entfremdeten Arbeit: „Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen" (292f). Er sehe „nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative", indem sie das ,Fürsichwerden des Menschen -

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Vgl.

Andreas Arndt: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des

Vernunftbegriffs, Hamburg

1994, Kap. IV.

Noch im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des Kapital heißt es, die Hegeische Dialektik sei in ihrer „rationellen Gestalt [...] ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär".

(MEGA II, 6, 709).

Den Vorwurf eines unvermittelten Umschlags in den Empirismus hat Marx bereits in dem Manuskript Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie 1843 erhoben; hier heißt es, Hegel nehme „unkritischerweise eine empirische Existenz als die wirkliche Wahrheit der Idee"; seine Konzeption der Wirklichkeit sei in Wahrheit ein „Umschlagen von Empirie in Spekulation und von Spekulation in Empirie". (MEW. Bd. 1, 241) Vgl. hierzu auch ebd., 289, wo Marx nun wieder ganz bezogen auf den politisch-ökonomischen Diskurs und namentlich Proudhon die Alternative zur „altdeutschen Weise [...] der hegel'schen Phänomenologie" so zuspitzt: „Um den Gedanken des Privateigenthums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Communismus vollständig aus. Um das wirkliche Privateigenthum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche communistische Aktion." -

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Andreas Arndt

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innerhalb der Entäusserung" sei. Und hiermit mit der denkenden Aufhebung der Entfremdung innerhalb der Entfremdung hänge zusammen, daß Hegel allein die „abstrakt geistige" Arbeit kenne und anerkenne (293). Diese „Einseitigkeit und Grenze" Hegels will Marx nun am Schlußkapitel der Phänomenologie über das absolute Wissen darlegen. Zuvor ist jedoch zu fragen, welche Rolle die Arbeit als Arbeit des Geistes in Hegels Phänomenologie tastsächlich spielt.19 -

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3. In der ,Vorrede' zur Phänomenologie des Geistes spricht Hegel von der ,,ungeheure[n] Arbeit der Weltgeschichte", welche der Weltgeist unternommen habe, um „das Bewußt20 sein über sich" zu erreichen. Diese Arbeit sei auch dem Individuum abzuverlangen, welches seine Substanz begreifen wolle, wobei dies jedoch an sich schon (durch die Arbeit des Geistes) vollbracht sei: der Inhalt sei schon „ein Gedachtes" und damit „Eigentum der Individualität"; es ist nicht mehr das Dasein in das Ansichsein, sondern nur das Ansich in die Form des Fürsichseins umzukehren".21 Von Seiten des Individuums aus geht es, wie Hegel formuliert, darum, das „bereits erworbene Eigentum" des allgemeinen Geistes, welches dem Individuum als äußeres erscheint, zu „erwerben" und „in Besitz zu nehmen", kurz: sich Von Seiten des allgemeinen Geistes, welcher die Substanz des Individuums ist, bedeutet dies, daß sie (die Substanz) „sich ihr Selbstbewußtsein gibt, oder ihr Werden und Reflexion in sich".23 In diesem Zusammenhang macht Hegel eine aufschlußreiche methodische Bemerkung hinsichtlich des Ganges der Phänomenologie, die dieses Werden des Wissens zu sich darstellt: „Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer Ausführlichkeit und Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente und Eigentum des Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist." Die bildende Bewegung, von der hier die Rede ist, ist nicht, wie man meinen könnte, die Arbeit des Geistes im allgemeinen, als Weltgeist. Von Bildung redet Hegel in diesem Kontext vielmehr im Blick auf die Bildung des Individuums, welche Erwerb und Inbesitznahme, also das Sich-Einbilden dessen sei, was der (allgemeine) Geist bereits als Eigentum erworben habe. Mit anderen Worten: es geht hierbei um das Sich-Einbilden oder Zueignen der Resultate der Arbeit des Geistes. Diese Resultate werden hierbei also vorausgesetzt und nicht erst erzeugt.

anzueignen.22

folgende Abschnitt ist eine geraffte Fassung dessen, was in meinem Buch Die Arbeit der Philosophie (Anm. 11), 98 ff. ausgeführt wurde. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Neu hg. v. H.-F. Wessels/H. Clairmont, Hamburg Der

1988,23. Ebd., 24. Ebd., 23. Ebd. Ebd.

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WIE HALTEN WIR ES NUN MIT DER HEGEL'SCHEN

DIALEKTIK?"

253

In dieser Hinsicht liegt zugespitzt formuliert die Arbeit des Geistes größtenteils schon hinter der Phänomenologie und ist auch nicht, jedenfalls nicht als lebendige Tätigkeit, deren eigentliches Thema. Das erklärt auch, weshalb die eigentlichen Kernaussagen zur Arbeit des allgemeinen Geistes sich nahezu ausschließlich in der ,Vorrede' zur Phänomenologie finden. Vom Standpunkt der Phänomenologie aus treten vielmehr die Resultate der Arbeit des Geistes im allgemeinen der Bildung des Bewußtseins zur Wissenschaft als äußere Voraussetzungen entgegen. Die Tätigkeit des allgemeinen Geistes wird demgemäß im Schlußkapitel auch im Modus des anamnetischen SichErinnerns betrachtet, in welchem er die Resultate seiner vergangenen Arbeit sich als sein Eigentum vergegenwärtigt. Dies geschieht indessen dadurch, daß die zu Vorstellungen und abstrakten Gedankenformen geronnenen und bekannten Resultate der Arbeit des Geistes ihrerseits wieder durch den subjektiven Geist bearbeitet werden, durch „die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht."25 Im Ergebnis löst dieses Tun die fixen Vorstellungen und Gedankenformen in Begriffe auf, deren Selbstbewegung den Inhalt des Prozesses ausmacht. Die Arbeit des Begriffs allein, so heißt es am Ende der ,Vorrede' der Phänomenologie, könne die „Allgemeinheit des Wissens" hervorbringen, d. h. „die zu ihrer einheimischen Form gediehene Wahrheit, welche fähig ist, das Eigentum aller selbstbewußten Vernunft zu sein."26 Der Begriff kann dies deshalb, weil in ihm das individuelle Bewußtsein mit dem allgemeinen Geist zusammengeht und jener sich darin selbst reflektiert, ohne auf ein Fremdes bezogen zu sein. Die Bildung (welche diese zweite Form der Tätigkeit oder der Arbeit bezeichnet) geht demnach von dem bereits erworbenen Eigentum des allgemeinen Geistes aus, welches als schon Gedachtes ebenso schon das Eigentum der Individualität ist.27 Die Arbeit, durch welche das Ansichsein des Eigentums in die Form des Fürsichseins „umgekehrt" wird, ist daher diejenige Arbeit, welche die Resultate der Arbeit des allgemeinen Geistes oder der Substanz auf ihrer eigenen Grundlage reproduziert. Es geht demnach nicht um die (historische) Konstitution dieser Resultate der Gestaltungen des allgemeinen Geistes -, sondern um ihre interne Reproduktion. Die Einsicht, welche die Phänomenologie vermittelt, ist die in die Geschichtlichkeit des sich selbst erfassenden Geistes, aber nicht in die Geschichte des Geistes. Letztere wäre die Geschichte des Weltgeistes als Weltgeschichte, dessen Vollendung Voraussetzung dafür ist, daß er als selbstbewußter Geist seine Vollendung" erreicht. -

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Ebd., 25. Ebd., 52. Vgl. ebd., 23 f. Ebd., 525 f.

254

Andreas Arndt

4. Die These von der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit im Rahmen einer Lektüder Phänomenologie als historischer Dialektik geht an dieser Problemlage vorbei. Aufschlußreich hierzu ist ein paraphrasierendes Marxsches Exzerpt zum Schlußkapitel der Phänomenologie. Es bricht dort ab, wo Hegel auf die Arbeit des allgemeinen Geistes als wirkliche Geschichte zu sprechen kommt.29 Vermutlich war Marx der Ansicht, hier beim eigentlichen Kern der Phänomenologie angekommen zu sein. Die Differenz dieser Arbeit zur Aneignung ihrer Resultate spielt in Marx' Überlegungen dagegen keine Rolle. Dennoch hat die Marxsche These eine Wahrheit, sofern sie nicht auf die verfehlte Rekonstruktion der Phänomenologie insgesamt als einer mit der Geschichte des Menschen zu identifizierenden Geschichte der Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung bezogen wird. Die Dialektik der Negativität kann als Vermittlungsfigur auch jenseits der Entfremdungsromantik mit der Struktur der wirklichen Arbeit in Verbindung gebracht werden, und zwar gerade dann, wenn wie dies bei Marx der Fall ist die Dialektik im oben erörterten Sinne als gegenständliche Vermittlung gefaßt wird. Die Marxschen Überlegungen zum Schlußkapitel der Phänomenologie über ,Das absolute Wissen' geben hierzu entscheidende Hinweise. „Die Hauptsache", notiert Marx, „ist, daß der Gegenstand des Bewußtseins nichts andres als das Selbstbewußtsein [...] ist." (293) Thema ist also das, was Hegel die „Überwindung des Gegenstandes des Bewußtseins" nennt. Marx hebt daran vor allem die Konsequenz hervor, daß die „Dingheit" überhaupt (in Abstraktion von den wirklichen, natürlichen Gegenständen menschlicher Tätigkeit) als Setzung oder ,ßntäusserung des Selbstbewußtseins" (295) verstanden werde, welche in das Bewußtsein zurückgenommen werden könne. Dem stellt Marx seine Auffassung des Menschen als eines durch Gegenstände bestimmten und gegenständlich tätigen Naturwesens gegenüber: „Es schafft, sezt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesezt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner ,reinen Tätigkeit' in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Product bestätigt nur seine gegenständliche Thätigkeit, seine Thätigkeit als die Thätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens." (295) Es ist diese Position, die Marx als der „durchgeführte Naturalismus oder Humanismus" gilt, der sich „sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist." (295) Der Idealismus besteht darin, von den realen Voraussetzungen des „Setzens" zu abstrahieren, während der Materiare

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Vgl. ebd., 526: „Die Bewegung, die Form seines Wissens von sich hervorzutreiben, ist die Arbeit, die er als wirkliche Geschichte vollbringt." Das Marxsche Exzerpt bricht nach „Wissens von sich" ab; vgl. MEGA I, 2 (Anm. 1), 444. Vgl. Peter Furth: „Romantik der Entfremdung", in (ders.): Phänomenologie der Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär, Frankfurt/M. 1991, 44 ff. Hegel: Phänomenologie (Anm. 20), 516.

„...

WIE HALTEN WIR ES NUN MIT DER HEGEL'SCHEN

DIALEKTIK?"

255

lismus vom Setzen abstrahiert und nur das Gesetztsein des Menschen durch die Gegenstände anerkennt. Dieser Materialismus ist derjenige, den Marx auch als „anschauenden" Materialismus bezeichnet und welchen Feuerbach überwunden habe. Beide, Idealismus und Materialismus, sind somit Abstraktionen von dem realen Prozeß der Vermittlung im menschlichen Naturverhältnis. Dieses ist Einheit von „Setzen" (Umformen) der bestimmten Gegenstände und deren Vorausgesetztsein; diese Einheit realisiert sich in der menschlichen Arbeit. Jenseits der Entfremdungsromantik legt Marx die Struktur der wirklichen Arbeit frei. Für Hegel habe die Aufhebung der Entfremdung „zugleich oder sogar hauptsächlich die Bedeutung, die Gegenständlichkeit aufzuheben, weil nicht der bestimmte Charakter des Gegenstandes, sondern sein gegenständlicher Charakter für das Selbstbewußtsein das Anstössige und die Entfremdung ist." (298) Sofern sich aber die Gegenständlichkeit nach Marx nicht aufheben läßt, bleibt sie ein Gegen-ständiges, Anderes, strukturell Fremdes im Verhältnis zu dem, der sich tätig auf sie bezieht. Der Rekurs auf die wirkliche Arbeit als gegenständliche Vermittlung kehrt sich gegen die Entfremdungsromantik, die meinte, alle Fremdheit in einem Reich der Freiheit tilgen zu können, wie es auch bei Marx noch in der Gleichsetzung des vollendeten Naturalismus mit dem vollendeten Humanismus aufscheint. Gegen Hegel aber macht Marx nun geltend, daß Bewußtsein (Wissen, Denken) nicht „unmittelbar das andere seiner selbst" (298) sein könne, weil die Gegenständlichkeit keine bloß gedachte sei. Im Ergebnis gehen bei Marx eine historisierende, an der Entfremdungsromantik orientierte Lesart der Phänomenologie und ihrer Dialektik und eine andere Lesart, welche die Dialektik unabhängig davon als gegenständliche Vermittlung rekonstruiert, relativ unvermittelt und oftmals ununterscheidbar zusammen. Hierin reflektiert sich nicht zuletzt auch das komplexe Verhältnis von Geschichtlichkeit und Systematizität der Gestalten des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes selbst. In der Folge ist Marx von dem Programm einer Historisierung der Dialektik weitgehend abgerückt zugunsten einer Historisierung bestehender Verhältnisse mit Hilfe einer in der Auseinandersetzung mit Hegel gewonnenen Dialektik. Hierbei geht es jedoch um den Nachweis der Endlichkeit oder Widersprüchlichkeit bestehender Verhältnisse durch die Rekonstruktion ihres systematischen Für diese Rekonstruktion steht das Konzept gegenständlicher Vermittlung, das sich nun aber nicht mehr an der Phänomenologie, sondern an der Wissenschaft der Logik orientiert. Im Verhältnis dazu sind die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte das, was die Phänomenologie letztlich auch für Hegel war: ein Laboratorium produktiver Gedankenexperimente; für sie könnte auch gelten, was Hegel wohl im Herbst 1831 für die geplante zweite Auflage der Phänomenologie niederschrieb: „Eigenthümliche frühere Arbeit [...] auf die damalige Zeit der Abfassung bezüglich -".33

Zusammenhangs.32

-

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-

Vgl. ausführlicher Andreas Arndt: Karl Marx, (Anm. 6), Kap. V. Hegel: Phänomenologie (Anm. 20), 552.

Christian Möckel

Hegels ,Phänomenologie des Geistes' als Vorbild für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen' ,

„Wir müssen überzeugt sein, daß das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen, und daß es nur erscheint, wenn diese gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint, noch ein unreifes Publikum findet".

In den Jahren des Vormärz hatte der junge Karl Marx, selbst auf dem Wege, die Selbstentfremdung des Geistes als eine Form der Entfremdung des in Gesellschaft lebenden

Menschen zu erfassen, eine „Bewußtlosigkeit [...] über das Verhältnis der modernen Kritik zur Hegelschen Philosophie überhaupt und zur Dialektik namentlich" beklagt. Zugleich stellte er fest, daß ein „Blick auf das Hegeische System [...] mit der Hegelschen Phänomenologie, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimnis der Hegelschen Philosophie", beginnen müsse. Wie sich Marx trotz gewichtiger Einwände die Größe „der Hegelschen Phänomenologie" und ihr Endresultat, die „Dialektik der Negativität als [das] bewegende[...] und erzeugende^..] Prinzip", sehr eindrücklich erschloß,2 wird der philosophischen Öffentlichkeit erst ein Jahrhundert nach Hegels Tod, im Jahr 1932, bekannt. Die Einhundert] ahrfeier von Hegels Todestag (1931) hatte Martin Heidegger dagegen speziell dazu auserkoren, sich in einer Vorlesung der Phänomenologie des Geistes als ,,absolute[r] Selbstdarstellung der Vernunft" in „wirklicher Auseinandersetzung" zu nähern, um sich auf ihr Wesentliches das Absolute einzulassen und nach dem „lebendigen Geist' der Hegelschen Philosophie" zu suchen.3 -

-

G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Nach dem Texte der Originalausgabe [1807], hg. J. Hoffmeister, Berlin 1971, 58. Karl Marx: „Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt" (in Ökonomischphilosophische Manuskripte [1844]), in Marx/Engels Werke, Erg.bd. 1, Berlin 1973,568,571, 574 Martin Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes [1930/31], in (ders.) Gesamt-Ausgabe (=GA), Bd. 32, Frankfurt/M. 1988, 42, 44, 45, 215. v.

Hegels .Phänomenologie des Geistes'

als

Vorbild für Cassirer

257

Die Tatsache, daß mit Ernst Cassirer ein auf vereinfachende Weise dem ,Marburger Kantianismus' zugerechneter Philosoph wenige Jahre zuvor ebenfalls eine hohe Wertschätzung für Hegels Phänomenologie des Geistes und deren dialektische Methode zum Ausdruck bringt, darf dennoch etwas überraschen. Und noch mehr erstaunt der sich bei einer zielgerichteten Lektüre der drei Teile seines Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929) festigende Eindruck, daß wir es hier nicht einfach mit einem kritischen Bekenntnis zu Hegel zu tun haben, sondern vielmehr mit dem Versuch, eine erneuerte genetische Phänomenologie der symbolischen Geistesfunktionen bzw. geistigen Objektivationen zu entwerfen. Dieser Zusammenhang soll im folgenden erläutert und begründet werden. -

I.

-

Philosophiegeschichte und Systematik

Cassirer

hat, in einer Tradition der ,Marburger Schule' (Cohen, Natorp) stehend, ein

umfangreiches philosophiehistorisches Werk von der Antike bis in seine Gegenwart hinterlassen. Nicht nur die systematischen Positionen, sondern auch das eigene Philosophieverständnis werden anhand umfangreicher und tiefgründiger Studien zur Philosophiegeschichte begründet, belegt und legitimiert. Im Vorwort zum III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1929) unterstreicht er diese Arbeitsweise mit dem Hinweis, daß ihm „der jetzt wieder so vielfach beliebte Brauch, die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen, [...] niemals forderlich und fruchtbar erschienen [ist]".5 Die Kehrseite der bevorzugten philosophiegeschichtlichen Orientierung ist allerdings, daß die historischen Systeme und Denker gelegentlich eine Deutung als Vorläufer erfahren oder uns gar im Lichte der Cassirerschen Philosophie entgegentreten.

Ein aus methodischen Erwägungen der Philosophiegeschichte verpflichteter Arbeitsstil kennzeichnet auch die beiden großen philosophischen Projekte, an deren Realisierung Cassirer Zeit seines Lebens arbeitet. Das bereits früh begonnene Projekt zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, d. h. von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert, wirft die Frage nach der Herausbildung einer an-

Gerd Irrlitz hatte bereits anläßlich seines Projektes zur Struktur philosophischer Theorien von „Cassirers Konzept der genetisch-phänomenologischen Theorie symbolischer Objektivierungen" gesprochen. Siehe G. Irrlitz: „Über die Struktur philosophischer Theorien", in Deutsche Zeitschrift ßr Philosophie, Berlin, 44 (1996), Heft 1, 23 f. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], in (ders.) Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. B. Recki, Hamburg 1999 ff. (im folgenden ECW mit Bandzahl), Bd. 13, XI. Auch Martin Heidegger appelliert in seiner Hegel-Auslegung, „die längst in [historischen C. M.] Werken wirkliche Philosophie nicht zu mißachten", sie nicht einfach „den Historikern der Philosophiegeschichte" zu überlassen (Heidegger: GA, Bd. 32,45 f.). -

Christian Möckel

258

gemessenen, modernen Weise der

Begriffsbildung in den Naturwissenschaften auf. In auch die 1910 veröffentlichte Schrift Substanzbegriff und gehört Funktionsbegriff. Aus der Beschäftigung mit der theoretischen Erkenntnis in ihrer naturwissenschaftlichen Form des ,exakten' Wissens erwächst Cassirer Schritt für Schritt die Einsicht, daß diese geistige Form nicht isoliert betrachtet werden darf, da sie auf ,niederen', anderen Formen der Weltkonstitution aufbaut bzw. diese in sich trägt. Aus der so notwendig gewordenen neuen Richtung des Forschens geht als zweites großes Projekt die Philosophie der symbolischen Formen des menschlichen Geistes hervor, dessen Umrisse 1920 erstmals in ,,eine[r] erkenntnistheoretischefn] Studie" formuliert werden.7 Es bildet nunmehr eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des ursprünglichen Vorhabens. Die sich zeitlich anschießenden Untersuchungen bekräftigen bei Cassirer die Erkenntnis, daß „echte theoretische Formmomente und Formmotive" nicht erst in der exakten Naturwissenschaft, sondern bereits in „der Gestaltung des natürlichen Weltbildes', des Weltbildes der Wahrnehmung und Anschauung", in der Welt des Mythos und in der Welt der Sprache obwalten (ECW 13, VII). Diejenigen .geistigen Schichten', die die Sprachwelt und die Mythoswelt formend gestalten, bilden für ihn nun den ,Unterbau', auf dem sich der ,Oberbau' der Wissenschaft erhebt, die selbst von der „Schicht der begrifflichen, der ,diskursiven' Erkenntnis" getragen ist (ebd.). Eine wichtige Klammer, die beide philosophischen Großprojekte umfaßt, bildet eben das durchgehende Interesse Cassirers an Hegel, auch wenn sich dies bis heute in der Cassirer-Forschung noch nicht wirklich niedergeschlagen hat. Vielmehr wird vor allem seiner Rezeption der Philosophie Kants, der Renaissance und Goethes große Aufmerksamkeit zuteil.8 Die uns interessierende Phänomenologie des Geistes findet erstmals im I. Band des Erkenntnisproblems (1906) in einer Bemerkung über antiken Skeptizismus und Stoizismus Erwähnung,9 bereits in der Einleitung des Bandes hatte er Zellers Kritik am Philosophiehistoriker Hegel zurückgewiesen (ECW 2, 14). Selbstverständlich erfolgt Cassirers Hinwendung zur Philosophie Hegels nicht außerhalb des geistigen Kondiesen Problemkreis

Siehe dazu Christian Möckel: „Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer", in Göttingische Gelehrte Anzeigen, 253. Jg., Heft 3/4, Göttingen 2001, 277-296. E. Cassirer: „Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Studie", in (ders.) Idee und Gestalt. FünfAufsätze, Berlin 1921, 28-76. Die wenigen Ausnahmen unterstreichen diesen Befund eher noch. Siehe z. B. Paolo Rossi: „Die magische Welt: Cassirer zwischen Hegel und Freud", in Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, hg. v. E. Rudolph, Hamburg 1999, 133 ff. Auch M. Ferrari verweist in seiner Studie zu Cassirers Weg vom Neukantianismus zur Kulturphilosophie mehrfach auf dessen Bezüge und Annäherungen an Hegel: Massimo Ferrari: Ernst Cassirer. Dalla scuola di Marburgo alia filosofía délia cultura, Firenze 1996, 21 f., 27 f., 31 ff. E. Cassirer: „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neuen Zeit. Erster Band" [1906], in ECW 2, 152.

Hegels ,Phänomenologie des Geistes'

als

Vorbild für Cassirer

259

textes, für den u. a. entsprechende Schriften Diltheys und Windelbands stehen. Nachdem er zunächst ausführlich dessen Rechtsphilosophie kritisch gewürdigt hat,1 kommt es just in dem Zeitraum, in dem Idee und Konzept der Philosophie der symbolischen Formen Gestalt

annehmen,

zur

systematischen, grundsätzlichen Auseinandersetzung

mit Hegels Phänomenologie des Geistes, was sich in dem umfangreichen Hegel-Kapitel Die des 1919 fertiggestellten dritten Bandes des Erkenntnisproblems Konzipierung der Philosophie der symbolischen Formen und die umfassende Hegeldeutung treffen also zeitlich zusammen.1 Ohne diese Selbstverständigung, die den Zusammenhang zwischen Hegels Jugendschriften, der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik herstellt und kritisch würdigt, bleibt das in allen drei Teilen des Hauptwerkes formulierte Bekenntnis zu Hegels dialektischer Methode und zu den Grundgedanken seiner Phänomenologie weitgehend unverständlich. Viele der im Erkenntnisproblem III niedergelegten, Hegel betreffenden Passagen tauchen zudem in den Überlegungen des Hauptwerkes wieder auf. Das ist eine Besonderheit im Schaffen Cassirers: Einzelne Aussagen kehren in neuen Schriften teilweise wortwörtlich wieder, nicht immer wird dies klargestellt. Es empfiehlt sich deshalb, bei der Lektüre eines thematischen Werkes die anderen Schriften mit ähnlicher Problematik im Hinterkopf zu haben. Unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Erkenntnisproblems interessiert Cassirer 1918/19 an Hegels philosophischer Entwicklung von den Frühschriften bis zur Logik sowohl dessen tiefes Verständnis für das Auseinanderfallen der immer zahlreicheren Objektivationen des Geistes als auch die Vision, diese Zersplitterung (Besonderungen) im wissenschaftlichen Bewußtsein als einem absoluten Bewußtsein (Allgemeinem) aufgehoben zu finden bzw. aufheben zu können. Beide bei Hegel vorgefundenen Momente, die Einsicht in die zunehmende Zersplitterung unserer Kultur und das Bestreben, all die Zerklüftung in einer übergreifenden, allerdings nicht substantiellen, sondern rein funktionalen Einheit zusammenhalten zu können, was „der Mittelpunkt seiner Logik

niederschlägt.12

Wilhelm Windelband: „Die Erneuerung des Hegelianismus" (Heidelberger Akademierede) [1910], in (ders.) Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 1, Tübingen 19196; Wilhelm Dilthey: „Jugendgeschichte Hegels" [1906], in GS, Bd. IV, LeipzigBerlin 19252. Außerdem hat Dilthey, wenn er den Terminus ,Phänomenologie' der Metaphysik mehrfach in seiner, Cassirer gut bekannten, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) einsetzt (GS I., 395, 400, 406), offenbar die Hegeische Phänomenologie des Geistes und ihren schrittweisen Aufbau, ihre Abfolgen und Durchgangsstufen im Auge. E. Cassirer: „Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte" [1916], in ECW 1, 375-387. E. Cassirer: „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band: Die Nachkantisehen Systeme" [1919], in ECW, Bd. 4, 274-363. So erklärt Cassirer 1925 im II. Teil seines Hauptwerkes, daß 1919, also im Jahr der Veröffentlichung des Erkenntnisproblems III, „die Entwürfe und Vorarbeiten für diesen Band bereits weit fortgeschritten waren". E. Cassirer: „Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken" [1925], in ECW 12, XV.

260

Christian Möckel

und Methodenlehre geblieben [sei]", nachdem dieser Gedanke bereits die Religionsund Staatsphilosophie beherrscht habe (ECW 4, 297), prägen auf besondere Weise auch das Philosophieverständnis Cassirers. Die Phänomenologie des Geistes mit ihrem Blick des erkennenden Bewußtseins auf seine Objektivationen ist für ihn „nichts anderes, als die vollständige Entfaltung und Darlegung des Objektivitätsproblems in der neuen Fassung, die Hegel ihm gegeben hatte" (ebd., 315).

II. Kritische

Würdigung der dialektischen Methode

Bevor die

eingangs formulierte These, wonach sich Cassirer mit seinem Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen willentlich und nicht ganz unberechtigt in der Nachfolge Hegels sieht, näher begründet und belegt wird, soll kurz zur Sprache kommen, anhand welcher Gesichtspunkte Cassirer im Erkenntnisproblem III die Phänomenologie des Geistes und ihre dialektische Methode kritisch würdigt. Die dabei aus seiner Sicht aufweisbaren Grenzen und Defizite Hegels glaubt er durch seinen eigenen Entwurf einer Phänomenologie des in zahlreichen symbolischen Formen tätigen, aufbauenden Geistes überwinden zu können. Nicht unbeeinflußt durch seine Marburger Lehrer und Vorbilder streitet Cassirer insbesondere in seiner frühen Schaffensphase gegen die psychologistischen und empiristischen Theorien bzw. Verfahren der Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaften. Die durch ihn befürwortete und propagierte ,neue' Denkart, ,neue' Logik der Begriffsbildung setzt auf mathematisches mittelbares Konstruieren und Erzeugen der Erkenntnisgegenstände und wertet nicht nur Erkenntnisfunktion der sinnlichen Anschauung ab, sondern bekämpft sowohl jegliche unmittelbare intellektuelle Intuition des Absoluten als auch die Intuition des Lebens.14 Deshalb schätzt er an Hegels Vorwort zur Phänomenologie des Geistes bzw. zum System der Wissenschaft'15 außerordentlich sowohl „die große methodische Abrechnung" mit Schellings intellektueller Intuition (ECW 7, 379), als auch die damit verbundene sichtbare Hinwendung Hegels zum wissenschaftlichen Begriff, zum diskursiven Denken, zu vermittelnden Beziehungen in der objektiven Erkenntnis. „Die Phänomenologie des Geistes bedeutet den endgültigen Bruch mit dieser methodischen Grundansicht [der Intuition C. M.]. In der Wertschätzung und Wertordnung zwischen Begriff und Anschauung scheint sich jetzt eine völlige Umkehr voll,

-

Siehe dazu Ch. Möckel: „Die anschauliche Natur des ideierend abstrahierten Allgemeinen. Eine Kontroverse zwischen Edmund Husserl und Ernst Cassirer", in Phänomenologische Forschungen, 2001, Bd. 1-2 (Hamburg), 233-257. Mit dem Verhältnis von Phänomenologie des Geistes und dem von Hegel angestrebten System der Wissenschaft' beschäftigt sich auch Heidegger 1930/31 in der Einleitung seiner Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes (GA, Bd. 32, 1-46). Zu Zweck und Anliegen der Hegelschen Vorrede von 1806/07 siehe ebenfalls: F. Nicolin/O. Pöggeler: „Zur Einführung", in G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), neu hg. v. F. Nicolin/O. Pöggeler, Berlin 1966, XVIII, XLI. ,

Hegels .Phänomenologie des Geistes'

als

Vorbild für Cassirer

261

zogen zu haben" (ECW 4, 291). Vertritt doch Cassirer grundsätzlich die Position, daß sich ohne „die nüchterne Arbeit des Begriffs" keine intellektuelle Anschauung mit wirklichem Gehalt füllen lasse (ebd., Diese Wende bzw. Umkehr von der Anschauung zum Begriff lasse bei Hegel den Entwicklungsgedanken des Ganzen, Absoluten zum Durchbruch kommen, bilde das Absolute doch für die Begriffsphilosophie nicht mehr „ihren unmittelbaren Anfang, sondern ihr Ende; nicht mehr ihre Voraussetzung, sondern ihr Resultat" (ECW 4, 291). Die Hegeische Begriffsphilosophie verfalle jedoch einem logischen Reduktionismus bzw. einem Logizismus, dem in der späteren Wissenschaft der Logik Züge der bei Schelling bekämpften intuitiven Urbildlichkeit anhaften. Der ,kritische Idealist' Cassirer wirft dem ,absoluten Idealisten' Hegel ,logischen Enthusiasmus' vor, weil dessen Große Logik als „die Logik des intuitiven Verstandes [fungiere]; eines Verstandes, der Weil der absolute nur das außer sich hat, was er selbst aus sich erzeugt" (ebd., Idealist meine, die Wesenheiten und ihre Konkretionen inhaltlich urbildlich erzeugen, ableiten zu können, „schlägt [...] die Sprache des Hegeischen Panlogismus unvermittelt in die Sprache des Mythos um", so beim Übergang zur Naturphilosophie (ebd., 360). Als Konsequenz ergebe sich jene Umbildung der Form des organischen Werdens in die Form logischen Werdens, an der Goethe in seinen Äußerungen von 1812 Anstoß genommen habe (ebd., 361). Cassirer kritisiert deshalb wenig später, daß „die Phänomenologie des Geistes, indem sie diese Forderung [des logischen Reduktionismus C. M.] zu erfüllen strebt, damit nur der Logik den Boden [bereitet]". Das ,nur' bringt zum Ausdruck, daß er die Einschränkung des lebendigen, sich objektivierenden Geistes auf die logische Dimension nicht teilt. Bei Hegel sei der Begriff nicht nur das Mittel, das konkrete Leben des Geistes darzustellen, sondern gelte als das eigentliche substantielle Element des Geistes selbst. Dennoch ist die Wertschätzung für Hegels Philosophie mit deren Verständnis des lebendigen Geistes eng verbunden. Erblickt Cassirer doch ihre große Leistung im dialektischen Gedanken einer Entwicklung sowohl des Ganzen des objektiven Geistes als

238).16

349).17 -

-

Wer, wie Schelling, „die Vermittlung des Begriffs verschmäht [...]", verfallt „damit nur gefährlicheren Medien", zwischen „sein Denken und die Wirklichkeit schiebt sich immer von neuem gleichsam ein magischer Schleier" (ECW 4, 273). Eine ähnliche Gewichtung zwischen Begriff und

Anschauung nimmt Heinrich Rickert etwa zur gleichen Zeit in seinem gegen die Lebensphilosophie gerichteten Buch vor. Siehe H. Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit [1920], Tübingen 1922, 34 ff. Bei Frischeisen-Köhler, der Rickerts Buch rezensiert, findet sich die Andeutung, daß gerade in Hegels Phänomenologie des Geistes Begriff (System) und organisch-geistiges Leben eine Einheit bilden. Max Frischeisen-Köhler: „Philosophie und Leben. Bemerkungen zu Heinrich Rickerts Buch: 'Die Philosophie des Lebens'", in Kant-Studien 26 (1921), 137 f. Auf diese Weise werden „die Schöpfungsgedanken des absoluten Geistes selbst [...] in der Logik nachgedacht und nachgezeichnet". ECW4, 350. E. Cassirer: „Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache" [1923], ECWU,

13.

262

Christian Möckel

auch seiner Teile, Momente oder Entfaltungsstufen. Der „Begriff der Entwicklung" sei eben der ,,Grundgedanke[...] der Hegelschen Lehre" (ECW 4, 336). Als Werdendes und Gewordenes ist das Absolute hier als ein Ganzes „in der Totalität seiner Bestimmungen", in „der Gesamtheit seiner ,Formen'" aufgefaßt (ebd., 348). Das Entwicklungsprinzip, das auch als Gedanke der logischen Selbsterzeugung der objektiven Wahrheit formuliert wird, erlaube, das ,Ende' des Geistes aus dem ,Anfang' und den dazwischen liegenden ,Mittelgliedern' aufzubauen, die als Mythos, Religion, Staatsleben, Wissenschaft etc. die Zersplitterung in Objektivationen und deren mögliche Einheit auf je unterschiedliche Weise thematisieren. In der Phänomenologie des Geistes folgen die Mittelglieder als unterschiedliche Betrachtungsweisen in einer bestimmten Stufenfolge aufbzw. auseinander und sollen auch als bereits durchlaufene Stufen eine untergeordnete, relative Bedeutung im Ganzen des sich entwickelnden Geistes behalten. „Die .Phänomenologie des Geistes' umfaßt alle diese Betrachtungsweisen, indem sie versucht, sie in notwendiger Stufenfolge auseinander hervorgehen zu lassen und damit jeder von ihnen zugleich mit ihrer Stelle im System ihr relatives Recht zu bestimmen" (ebd., 297). Dieser dialektische Gedanke kehrt in der Philosophie der symbolischen Formen als konstitutives Prinzip wieder. So z. B., wenn Cassirer immer wieder betont, daß die elementare emotionale Ausdrucksfunktion menschlichen Geistes auch in höherstufigen Funktionen als Rest präsent ist. Weiterhin thematisiert Cassirer, Hegel würdigend, das Zusammenfallen sowohl von historischer und logischer Entwicklung, sei doch „Hegels Dialektik [...] schon in ihrem Ursprung ebensowohl logisch, wie historisch, ebensowohl in der Richtung auf den reinen Begriff, wie in der Richtung auf die Wirklichkeit konzipiert" (ebd., 296), als auch von individuellem und geschichtlichem Werden des Menschen. Die „tiefste Schwierigkeit für das Verständnis der ,Phänomenologie des Geistes' liegt darin, daß sie das psychologische [Material für den Aufbau des individuellen Selbstbewußtseins C. M.] und das historische Material [für das empirisch-geschichtliche Werden der Menschheit C. M.] völlig auf dieselbe Stufe stellt und beide als Glieder ein und derselben Entwicklung begreift" (ebd.). Allerdings wendet Cassirer gegen das „natürliche und individuelle Bewußtsein" als dem Ausgangspunkt des dialektischen Aufstiegs in der Phänomenologie des Geistes ein, daß es bei Hegel „nicht aus der Notwendigkeit des Begriffs erzeugt, sondern als ein gegebenes faktisches Dasein schlechthin hingenommen [werde]" (ebd., 316). Für den kritischen Idealisten und Rationalisten ist alles scheinbar ,Gegebene' der Anschauung in einer mathematischen konstruktiven Genesis zu Außerdem sei das natürliche Bewußtsein' vom Standpunkt des Begriffs aus gar kein Einfaches, sondern ein „Konkret-Mannigfaltiges", „also ein durch und durch Vermitteltes", und habe deshalb nicht als ein Anfang, sondern bereits als ein Resultat der Erkenntnis zu gelten (ebd.). In der Philosophie der symbolischen Formen wird Cassirer -

-

erzeugen.19

Siehe dazu Ch. Möckel: Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer (Anm. 6), 282 ff.

Hegels

,Phänomenologie des Geistes

'

als

Vorbild für Cassirer

263

das in der mythischen Weltsicht aufscheinende emotionale Ausdrucksbewußtsein an den Anfang des dialektischen Aufbaus setzen und das natürliche Bewußtsein' dem empirisch darstellenden Bewußtsein als zweiter systematischer Stufe zuordnen (emotionaler Ausdruck anschauliche Darstellung reine Bedeutung). Auch bezweifelt er, daß es Hegel in der Phänomenologie des Geistes gelungen sei, das postulierte Eigenrecht der durchlebten und überwundenen Momente (Stufen) der Entwicklung zu gewährleisten. Vielmehr drohe in der Endstufe der dialektischen Entwicklung, die alle durchlaufenen Stadien .aufheben' soll, „die Eigenart dieser Vorstufen [...] zu verschwinden und zu verlöschen" (ebd., 354). Der ganze aufbauende Prozeß scheint nur wegen des Endes dagewesen zu sein, haben doch mit seinem Erreichen alle Vorstufen ganz offensichtlich „ihre selbständige Bedeutung verloren" (ebd.). Cassirer gelangt zu dem Schluß, daß hier durch Hegel „die rein immanenten Geltungsunterschiede innerhalb der Erkenntnis" beseitigt werden (ebd., 362), während er selbst immer schärfer erfaßt, daß z. B. der Raumbegriff der sinnlichen Anschauung und der ideelle Raumbegriff in der nichteuklidischen Mathematik genau solche Bedeutungsunterschiede setzen. Das Einebnen der Geltungsunterschiede erstrecke sich bei Hegel zudem nicht nur auf „die rein theoretischen Erkenntnisformen", die in der Wissenschaft bzw. im wissenschaftlichen Selbstbewußtsein gipfeln, sich vollenden, sondern generell auf „die Gesamtheit der geistigen Kulturformen" (Religion, Kunst, Sittlichkeit etc.), deren aufbauende Entwicklung in seiner Philosophie ihren Abschluß findet. Damit setze diese „ihre Ergebnisse, als die höheren und abschließenden, den untergeordneten Ergebnissen der anderen Kulturformen entgegen" und entziehe „ihnen ihre autonome und selbständige Geltung" (ebd., 358). Leider begnüge sich der absolute Idealist Hegel nicht damit, auf kritizistische Weise ausschließlich „Prinzipien und Richtlinien des geistigen Lebens aufzustellen", sondern wolle „den Gesamtgang dieses Lebens vorwegnehmen und [...] zusammenfassen" (ebd., 355). Das hierbei angewandte Verfahren, den „Inhalt des einen Moments aus dem Inhalt des anderen" abzuleiten bzw. aus dem Begriff der Einheit die Vielheit der Formen des Geistes deduktiv herzuleiten, hält Cassirer für unzulässig, müsse doch die Einheit der vielfaltigen Formen nicht in ihrem Inhalt, sondern in ihrer gemeinsamen Funktion, ihrer gemeinsamen Leistung gesucht und aufgewiesen werden. Aus dem funktional gefaßten Einheitsbegriff lasse sich aber unter keinen Umständen Wenn er betont, daß „die Vielheit der Formen deduktiv her[...]leite[n]" (ebd., 356 die funktional aufzufassenden Formen des lebendigen Geistes in keinem Verhältnis einer Ableitung zueinander stehen, dann hat Cassirer offenbar schon sein System symbolischer Formen bzw. geistiger Energien im Kopf, in welchem die Forderung nach strikter Autonomie der geistigen Kulturformen verwirklicht ist. -

-

f.).20

Die kritische Philosophie leite die „Mannigfaltigkeit der Kulturformen und des geistigen Kulturbesitzes" nicht aus der logischen Vernunft ab, sondern erweise „die Einheit der Vernunft in ihren verschiedenen Grundrichtungen, im Aufbau und in der Gestaltung der wissenschaftlichen, der künstlerischen, der sittlichen und religiösen Welt". ECW4, 358.

Christian Möckel

264

Trotz der Kritik am Ausgangspunkt und den Ableitungen in Hegels Philosophie verfolgt Cassirer mit großem Interesse, wie in der Phänomenologie des Geistes auf den drei Stufen Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Vernunft (Geist) jeweils „ursprüngliche Entzweiungen" Bewegungen entfalten, die zwar zunächst in einer „absoluten Einheit" aufgehoben werden, letztlich aber doch über sie hinausdrängen und in die nächst höhere Stufe eintreten, ohne dazu durch äußerliche Ursachen gezwungen zu werden. Ihn beschäftigt folglich die von Hegel aufgewiesene antinomische Quelle der Selbstentwick-

lung des erkennenden Denkens und des ,,konkrete[n] Leben des Geistes" (ebd., 297).21 An Hegel gewinnt oder verifiziert Cassirer damit eine komplexe Einsicht, die eine der zentralen theoretischen Herausforderungen für die Philosophie der symbolischen Formen bewältigen hilft.22 Der ,Anfang' der sich in immer mehr Richtungen zerlegenden objektivierenden Bewegung des lebendigen Geistes bedarf einer immanenten antinomischen Differenz, er kann folglich nicht aus absoluter Unmittelbarkeit bloßen Erlebens anheben, erzeugt sich die Einheit des geistigen Lebens doch „erst aus der Entzweiung" (ebd., 297). Gleichzeitig darf diese aber nicht als Gegensatz absolut getrennter, eigenständiger antinomischer Pole aufgefaßt werden, da diese niemals zu wirklicher Einheit zu bringen wären. Das in dieser Frage Neue und Originelle sieht Cassirer bei Hegel in dessen „Begriff der Synthesis als des Zusammenschlusses und der absoluten Identität eines Ungleichartigen", die als Ausgangspunkt der Betrachtung diene (ebd., 315). Damit habe Hegel das Problem der Synthesis „von dem Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten Lebens, in der Totalität seiner Äußerungen, versetzt" (ebd., 280). Dennoch kommt er zu dem Schluß, daß sich die dialektische Selbstbewegung der Begriffe, die keine äußere Quelle und Ziele kennt, bei Hegel letztlich als „bloßer Schein" erweise, da die ganze Bewegung durch ein vorwärtstreibendes Prinzip den Begriff des Absoluten vorweggenommen sei, obwohl es sich eigentlich erst im Resultat herstellen solle (ebd., 352). Die „schon vollendete Anschauung des Ganzen" werde vorausgesetzt, um „die Einseitigkeit der Teile" und Momente zu überwinden und im Ganzen aufzuheben.23 Als eine echte historische Leistung der Phänomenologie Hegels erkennt Cassirer das legitime Bestreben an, „den letzten Rest des ,Dualismus' aus der Kantischen Grundauffassung [zu] tilgen" (ebd., 362). Dieses Tilgen vollbringe Hegel, indem „er jenen Überrest der dinglichen Weltansicht, der bei Kant noch im ,Ding an sich' erhalten schien, -

-

C. M.] demnach in demselben Sinne antinomisch, wie das konkrete Leben des Geistes selbst es ist". Ebd., 297. Die Problematik des Charakters der antinomischen Quelle jeglicher Bewegung durchzieht auch seine spätere Kritik an Georg Simmel und Max Scheler. Siehe dazu Ch. Möckel: „,Leben' als Quell symbolischer Formen. Eine Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel und Scheler", in Logos. Zeitschriftfür systematische Philosophie, NF, Bd. 5 (1998), Heft 4, 355-386. „Das Absolute soll wesentlich Resultat sein, also erst am Ende des Gesamtprozesses heraustreten: aber eben dieses Resultat wirkt schon in jeder Phase des Prozesses, in jedem neuen Übergang als das eigentlich bestimmende und vorwärtstreibende Prinzip. Nur von der schon vollendeten Anschauung des Ganzen aus kann die Einseitigkeit der Teile [...] überwunden werden". ECW4, 352.

„Das Denken ist [für Hegel

-

Hegels .Phänomenologie des Geistes als Vorbild für Cassirer '

265

vernichtet." In der Konsequenz gelange er zu einem philosophischen Standpunkt, für den sich ,,[d]as echte ,An sich' [...] nur in der Grund- und Urform des geistigen Lebens selbst erfassen [läßt]. In der Richtung [...] liegt das Verdienst" der Phänomenologie des Geistes (ebd., 362). Diese übt außerdem deshalb eine so große Attraktivität als Modell einer „genetisch-phänomenologischen Theorie symbolischer Objektivierungen" (Irrlitz) auf Cassirer aus, weil in ihr der zum Wissen um sich selbst führende Entwicklungsgang des Geistes und seiner Objektivationen in der Wissenschaft bzw. im wissenschaftlichen Bewußtsein kulminiert (ebd., 292). Der damit bei Hegel verbundene Gedanke, daß die Wissenschaft dem individuellen Bewußtsein diese aufsteigende Entwicklung zu erklären bzw. ihm durch die Handreichung einer ,Leiter' dabei behilflich zu sein habe, sie selbst zu vollziehen, fällt bei Cassirer auf fruchtbaren Boden.24 Das Bild der hilfreichen ,Leiter' kehrt in den einzelnen Teilen der Philosophie der symbolischen Formen wieder (u. a. ECW 12, XII; ECW 13, VIII). Die „Aufgabe der Phänomenologie des Geistes" bestehe darin, „das Einzelbewußtsein fortschreitend [...] zum Standpunkte des Wissens und der philosophischen Spekulation hinzuleiten" (ECW 4, 292). Es sei aber nicht ihre Aufgabe, „dieses System der Wissenschaft in objektiver Vollständigkeit darzulegen", vielmehr habe sie es als eine Totalität von nicht ausschöpfbaren Beziehungen oder Momenten sich dialektisch aufbauen, entwickeln zu lassen. Und das erfordere, „die Stufenfolge der Erkenntnis" „als ein stetiges Ganzes darzustellen, das von den ersten Anfangen des sinnlichen Bewußtseins bis zum höchsten Standpunkte des absoluten Wissens hinaufreicht" (ebd., 301). Die methodische Besonderheit, daß Hegels Phänomenologie den Geist nicht in seinem systematischen ,Bestand' abschreite, sondern ihn mit Hilfe der dialektischen Methode als ein strukturiertes Ganzes „in seinen notwendigen gedanklichen Vermittlungen" entwickele und darstelle, hebt Cassirer später noch einmal hervor (ECW 13, VIII). Diesen Gesichtspunkt nennt er gelegentlich den „phänomenologischen", wenn er die „phänomenologische Entwicklung" im Blick hat (ECW 4,

313).25

„Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige." G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 1), 25. ,Phänomenologisch' meint aber in anderen Zusammenhängen auch das zeitlose ideelle Moment gegenüber psychologischen Momenten in der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Siehe dazu Ch. Möckel: Die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Begriff der Lebensordnung in der rationalistischen Philosophie des frühen Ernst Cassirer (Anm. 6), 285.

Christian Möckel

266

III. Modellcharakter der Phänomenologie des Geistes Für die These, wonach Hegels Phänomenologie des Geistes für die Philosophie der symbolischen Formen eine Vorbild- und Modellrolle spielt, wenn Cassirer diese zwischen 1918 und 1922 als eine erneuerte Phänomenologie entwirft, wobei er das Vorbild bzw. Modell von seinen Grenzen und Irrtümern zu befreien sucht, lassen sich in mehrfacher Hinsicht Belege in den Cassirerschen Texten selbst aufzeigen. Bevor zunächst einige Bezugnahmen auf die Termini ,Phänomenologie' und ,phänomenologisch' zur Sprache kommen sollen, ist auf die Schwierigkeit hinzuweisen, die dem Inbeziehungsetzen der Projekte beider Kulturphilosophen daraus erwächst, daß insbesondere im III. Teil (1929) der Philosophie der symbolischen Formen mehrfach von der Phänomenolo6 gie Edmund Husserls die Rede ist. Sowohl Cassirers Rezeption der Husserlschen Phänomenologie, die bereits 1906 im Erkenntnisproblem I einsetzt und bis in die letzten Schriften 1945 anhält, als auch ein methodisch-systematischer Vergleich beider Philosophien bilden 7einen eigenen Untersuchungsgegenstand, für den es eine Reihe von Vorarbeiten gibt. Genauso, wie Cassirer niemals Hegelianer war, wollte er nie ein Husserlscher Phänomenologe sein. Ihn interessierten vielmehr gemeinsame Frage- und Problemstellungen, inhaltliche und methodische Berührungspunkte, Annäherungen etc. historischer und zeitgenössischer philosophischer Systeme an das eigene Philosophieren im Geiste der ,neuen Denkart' bzw. an die Philosophie der symbolischen Formen. Exemplarisch gibt das gegen 1940 entstandene Fragment Über Basisphänomene Aufschluß über diese

Haltung.28

E. W. Orth vermutet sogar, daß Cassirer gelegentlich (so in ECW 13, 106) mit dem Terminus ,phänomenologisch' eine hermeneutische Auslegung umschreibt. Ernst Wolfgang Orth: „Das Verhältnis von Ernst Cassirer und Wilhelm Dilthey mit Blick auf Georg Misch", in DiltheyJahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 12/1999-2000, Göttingen, 129. Siehe u. a. Ernst Wolfgang Orth: „Phänomenologie in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen", in Symbolische Formen, mögliche Welten Ernst Cassirer (Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaft, 1995/1), hg. v. E. Rudolph/H. J. Sandkühler, Hamburg, 47-60; Ch. Möckel: „Cassirers Theorie der Basisphänomene und ihr Bezug auf Husserl und Natorp", in (ders.) Phänomenologie. Probleme, Bezugnahmen und Interpretationen, Berlin 2003, 149-168. E. Cassirer: „Über Basisphänomene" [1940], in (ders.) Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Hamburg 1995 ff. (im Folgenden ECN mit Bandzahl), Bd. 1, hg. v. J. M. Krois/O. Schwemmer, 113-198. Hier heißt es u. a., daß den Leistungen der Phänomenologie wie der rekonstruierenden Psychologie (Natorp) in der Genese der Philosophie der symbolischen Formen zwar eine beachtliche Rolle zukomme, nicht aber die entscheidende Anregung. Diese greife nämlich auch auf wichtige Vorleistungen Diltheys und Kants zurück (ebd., 160 ff, 190 ff). -

Hegels .Phänomenologie des Geistes'

als

Vorbild für Cassirer

267

Mit der Husserlschen Phänomenologie teilt Cassirer u. a. den Antipsychologismus und den Idealismus in der Bildung allgemeiner Begriffe, das Setzen auf die Vielfalt von Einstellungen der Intentionalität bzw. Weltauffassung und ihrer intentionalen Gegenstände (ECW 13, 224), das Auslegen des lebendigen Ich als eines ,Basisphänomens' (ECN 1, 143 ff., 169 ff.). Der von Cassirer betonte Grundgedanke einer Korrelation zwischen gerichteten geistigen Energien und ihren bedeutungs- oder geltungsmäßigen Objektivationen stimmt ebenso mit Husserls Phänomenologie zusammen wie die Betonung der Autonomie der vielfältigen kulturellen Bedeutungssysteme. Ganz im Sinne der Husserlschen Auffassung von Korrelativität unterscheidet auch er zwischen der „Methodik der phänomenologischen Analyse", die die subjektiven noetischen Bewußtseinsphänomene geistigen Leistens zum Gegenstand hat, und der „Methodik einer rein objektiv gerichteten ,Philosophie des Geistes', welche den noematischen „objektiven Bestand" der symbolischen Kulturformen untersucht. Wenn es heißt, beide Methodiken

seien „eng miteinander verknüpft und [...] notwendig aufeinander angewiesen" (ECW 13, 82), dann ist damit ein korrelatives Verhältnis von Objektivieren und Objektivierung beschrieben. Kritik an Husserlschen Positionen meldet der Philosoph des mittelbaren konstruktiven Erzeugens, der symbolischen Repräsentation und der ursprünglichen sinnhaft-sinnlichen Differenz überall da an, wo von unmittelbar gebender und ergreifender Intuition, vortheoretisch-unmittelbar Gegebenem oder ,primären Inhalten' die Rede ist.30 Dennoch betont Cassirer gerade im III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen, der den Titel Phänomenologie der Erkenntnis trägt und in dessen Vorrede ausführlich aus Hegels Phänomenologie des Geistes zitiert wird, daß er den Terminus Phänomenologie eher mit Hegel und als Husserl verbunden wissen will. Er „knüpfe [...] hierin nicht an den modernen Sprachgebrauch an, sondern [...] gehe auf jene Grundbedeutung der ,Phänomenologie' zurück, wie Hegel sie festgestellt und wie er sie systematisch begründet und gerechtfertigt hat" (ECW 13, VIII).31 Das stellt, wie bereits gesagt, nicht in Frage, daß er sich in den drei Teilen (Sprache, Mythos, Erkenntnis) dennoch ebenfalls mit Husserl auseinandersetzt. 2 Terminologische Bezugnahmen auf Hegel werden Siehe dazu Ch. Möckel: Die anschauliche Natur des ideierend abstrahierten Allgemeinen. Eine Kontroverse zwischen Edmund Husserl und Ernst Cassirer (Anm. 14), 233 f., 249 ff. Wenn Cassirer meint, bei Husserl befanden sich real im Bewußtseinserlebnis Darstellendes und ideell in ihm Dargestelltes in einer rein symbolischen, repräsentierenden Beziehung (ECW 13, 225 f.), dann ist das eine Deutung, die diesem nicht gerecht wird. Die Husserlsche Klärung des Verhältnisses von primären Inhalten und Noesen ist wiederum für Cassirer problematisch und inakzeptabel. Bei ihm gibt es für die „phänomenologische Betrachtung" dank ihres Korrelationsprinzips keine Präsenz ohne Repräsentation und umgekehrt (ebd., 227 f.). Auf die Notwendigkeit einer genauen Unterscheidung und Abgrenzung beider Begriffe von ,Phänomenologie' dringt 1930/31 auch Heidegger in seiner Hegel-Vorlesung (GA, Bd. 32, 40 f.). Seine Abgrenzungsabsichten dürften aber über die Cassirers weit hinausgehen. So enthält etwa der II. Teil Das mythische Denken die berühmte Würdigung der Husserlschen Phänomenologie (ECW 12, 14 Anm. 12), während sich im III. Teil Phänomenologie der Erkennt-

268

Christian Möckel

deutlich, wenn im 1922 fertiggestellten I. Teil (Die Sprache) außer der vorliegen„Phänomenologie der sprachlichen Form" (ECW 11, V) eine nachfolgende „Phänomenologie des mythischen [...] Denkens" (ebd., VIII) in Aussicht gestellt wird, wobei eben symbolische Sprachform und mythische Form dialektisch entfaltet, stufenweise aufgebaut werden sollen. Und dies nach dem Vorbild des Hegelschen Projektes einer Phänomenologie des Geistes. Zwar verwendet Cassirer den Ausdruck .Phänomenologie' in den Titelüberschriften des II. Teils (Das Mythische Denken) nicht, wohl aber vielfach im Text. So bezeichnet er mehrfach seine Philosophie des Mythos als „eine kritische Phänomenologie des mythischen Bewußtseins" (ECW 12, 16, 196). Eine gezielte Lektüre des Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen läßt aber auch den Eindruck immer stärker hervortreten, daß Cassirer mit dem Hegel entlehnten Titel einer Phänomenologie nicht nur dessen Werk von 1807, oder gar nur die neue philosophische Richtung Husserls, im Sinn hat. Der Terminus bezeichnet vielmehr eine eigene wissenschaftliche Disziplin. Deshalb ist mehrfach im Zusammenhang mit den Disziplinen Psychologie, Erkenntniskritik und Metaphysik auch von der Phänomenologie die Rede (ECW 13, X). Diese Disziplin Phänomenologie hat, im Gegensatz zu dem analytischen Abschreiten seines systematischen Bestandes, die dialektischgenetische Rekonstruktion oder Entwicklung der ganzheitlichen Totalität des objektivierenden und objektivierten ,Geistes', d. h. der ,Kultur', zu leisten. Dazu ist die Ganzheit der Kultur aus ihren Momenten, Vermittlungen, Durchgangsstufen, Stadien aufzubauen. Deshalb spricht Cassirer von seiner Phänomenologie des symbolisch objektivierten Geistes als einer Totalität, in der sprachliche Form, mythisches Denken und theoretische Erkenntnis sowohl Stufenfolgen als auch eine Einheit bilden (ebd., 46 f.). Innerhalb der Phänomenologie der Erkenntnisform als eines Kreises oder einer Stufe der Kultur und gleichzeitig eines eigenen dialektischen Ganzen unterscheidet er die Phänomenologie der ,Wahrnehmung' bzw. der emotionalen Ausdrucksfunktion (ebd., 36 f.), die Phänomenologie der empirischen ,Anschauung' bzw. der repräsentierenden Darstellungsfunktion und die Phänomenologie der rein ,signitiven Erkenntnis' bzw. der reinen Bedeutungsfunktion. In diesem Sinne beginnt die Phänomenologie der Erkenntnis mit der Phänomenologie der Ausdruckswahrnehmung als ihrem Anfangsmoment (ebd.). Wenn dagegen der Begriff,reine Phänomenologie' fällt (ebd., 53 f.), dann hat Cassirer in der Regel die Abgrenzung der Disziplin, die auf eine ideelle Bewegung bzw. Entwicklung zielt, von ,empirischer Psychologie' im Auge, eine Abgrenzung, die er, wie bereits gesagt, mit Husserls transzendentaler Phänomenologie teilt. Deshalb sind die Übergänge beim Gebrauch des Terminus .Phänomenologie' im Sinne Hegels und Husserls wohl manchmal fließend. Zumal Cassirer auch in bezug auf Natorps Kritische Psychologie von einem „universellen Programm einer Phänomenologie des Bewußtu. a.

den

nis das

Kapitel .Symbolische Prägnanz' 218-233).

den Ideen I befaßt (ECW 13,

ausführlich mit Husserls Logischen

Untersuchungen und

Hegels .Phänomenologie des Geistes' als Vorbild für Cassirer

269

seins" spricht, das allerdings nicht den Hegeischen Grundgedanken der werdenden und gewordenen Totalität erfaßt (ebd., 59 f.). Auch die Termini ,reines Phänomen', ,reines Ausdrucksphänomen' oder .Urphänomen' der Wahrnehmung (ebd., 69, 98) implizieren Bedeutungsnuancen, die sich bei Hegel, Husserl und auch bei Goethe finden. Wir haben es dabei mit einem ,letzten' bzw. ursprünglichen' Befund zu tun, der allein abstraktiv noch gegliedert bzw. zergliedert werden kann.33 Dafür, daß die Hegeische Phänomenologie Cassirer als Vorbild für sein Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen dient, gibt er selbst in den drei veröffentlichten Teilen eine ganze Reihe von Hinweisen und Fingerzeigen. So steht für ihn grundsätzlich der allgemeine Problemkreis der Objektivation des Geistes, „den Hegel als phänomenologie des Geistes' bezeichnet hat", im Mittelpunkt des Interesses (ECW 12, XII). Wie Hegel faßt es auch Cassirer als das Ziel jeder Objektivationsform des subjektiven Geistes auf, „daß der Geist in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift" (ebd., 32). Das ist eine Aufgabe, denn während wir alltäglich im unmittelbaren Wahrnehmen leben, ist uns nicht bewußt, daß wir bereits symbolische, theoretisch-ideelle Akte vollziehen (ebd., 17). Die Art und Weise, wie eine geistige Symbolform (Sprache, Kunst, Wissenschaft) Wissen von sich selbst erlangt, mache eine sie auszeichnende Besonderheit aus (ebd., 32). Außerdem geht es Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen genau wie Hegel um das „Ganze des geistigen Lebens", um alle in und an ihm wirkenden vielfältigen „Gestaltungsweisen" bzw. ,,geistige[n] Grundfunktionfen]" und deren entsprechende geistige Objektivationen (ECW 11,6 f.). Wobei er unter geistigen Grundfunktionen die Wege versteht, „die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt" (ebd., 7). Nur vom Standpunkt der Ganzheit oder Totalität der Formen aus lasse sich die „immanente Dynamik des Geistes" als eines lebendigen Prozesses entschlüsseln (ECW 13, 17). Die unterschiedlichsten Grundfunktionen, die sich z. B. als mythisches oder logisch-theoretisches Bewußtsein artikulieren, haben bei all ihrer Autonomie etwas Gemeinsames: die ihnen innewohnende „ursprünglich-gestaltende [...] Kraft" (ECW 11, 7). Und die habe eine echte phänomenologische Philosophie, die selbst aber keine symbolische Grundfunktion ist, zu erschließen (ebd.). Für solch eine Philosophie nimmt sich Cassirer, um selbst das „Ganze des geistigen Lebens" umgreifen und aufklären zu können, Hegels Phänomenologie des Geistes zum Vorbild. Und dies, weil Hegel an die philosophische Erkenntnis „die Forderung stellt, die Totalität der geistigen Formen zu umspannen, und weil diese Totalität [...] nicht anders als im Übergang von der einen zur anderen Form sichtbar werden kann" (ECW 13, VIII). Diese

In dem Sinne ist bei Cassirer auch im unpubliziert gebliebenen Nachtrag von 1928 zum III. Teil der Philosophie der symbolischen Formen von der „phänomenologischen Analyse" die Rede

(£CAM,5).

270

Christian Möckel

zentralen methodischen Überlegungen und Weichenstellungen findet Cassirer insbesondere in Hegels Vorrede von 1807 bestätigt, weshalb er aus ihr gern und viel zitiert. So, wenn er mehrfach deutlich macht, daß er den dialektischen Gedanken Hegels aufnimmt und durchführt, wonach die ,Totalität' des sich objektivierenden bzw. objektivierten Geistes ausschließlich als Bewegung bzw. Entwicklung der Totalität zu rekonstruieren ist. Dabei verwendet er, mit und ohne ausdrücklichen Verweis, Hegels Argumentation aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes (ECW 13, VIII f.). In diesem Zusammenhang bringt Cassirer seine Wertschätzung ganz eindeutig zum Ausdruck: „In diesem Grundprinzip der Betrachtung stimmt die ,Philosophie der symbolischen Formen' mit dem Hegelschen Ansatz überein; so sehr sie in der Begründung wie in der Durchführung desselben andere Wege gehen muß" (ebd., IX). Die Übereinstimmung bezieht sich u. a. auf die Maßgabe, daß sowohl die Form theoretischer Erkenntnis als auch die Totalität geistiger Formen aus elementaren und bereits durchlaufenen Formen aufgebaut werden muß. Zeigen sich doch bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen diesen Durchgangsformen und der ,Endform'. Auf den unteren Stufen der logischen Genese der reinen Bedeutungserkenntnis spielen z. B. die Etappen des reinen Ausdrucksphänomens der Wahrnehmung und der darstellenden Anschauung noch eine wichtige Rolle. Und „auch die Welt unserer unmittelbaren Erfahrung [...], in der wir alle [...] beständig leben und sind enthält eine Fülle von [mythischen C. M.] Zügen", d. h. Züge einer symbolischen Weltform, die nunmehr scheinbar völlig überwunden ist (ECW 12, 17). Der Mythos, die mythischmagische Weltsicht erwächst ebenso aus dem reinen Ausdrucksphänomen der unmittelbaren Wahrnehmung, wie auch das „empirische Weltbild" der Anschauung sich nicht ohne dieses Phänomen erklären läßt. Letztlich muß sich auch das „theoretische Weltbild" des signitiven Denkens aus niederen Momenten des Ausdrucksphänomens und der empirischen darstellenden Anschauung erst aufbauen (ECW 13, 68 f.). Hegels markanter methodischer Gedanke eines dialektischen Aufbaus des Ganzen bzw. des Endes aus seinem Anfang und seinen Mittelgliedern findet sich also nicht nur in der Gesamtanlage der Philosophie der symbolischen Formen wieder (Mythos Sprache Wissenschaft bzw. Ausdruck Darstellung Bedeutung), sondern eben auch in der Anlage der drei entsprechenden Teil- oder Stufenphänomenologien des Ganzen der symbolischen Formen. Gelegentlich ist auch davon die Rede, daß einzelne geistige Formen, wie die „Bildwelt des Mythos" oder die Sprache, in ihrer Entwicklung die Goethe entlehnten drei Stadien „des mimischen, analogischen und des symbolischen Ausdrucks" durchlaufen (ECW 12, 277 f.). Vielleicht meint dies aber auch, daß der lebendige Geist auf jeder seiner konkreten exemplarischen „Stufen" der Objektivation (Mythos Sprache theoretische Wissenschaft) diese „drei Stadien" zu durchlaufen hat. Auf alle Fälle macht auch die elementarste autonome geistige symbolische Form einen dreistufig-aufsteigenden „Prozeß der [...] Bildung" durch, der sich auf höherer -

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Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 1), 25.

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Hegels .Phänomenologie des Geistes'

als

Vorbild für Cassirer

271

Stufe in den anderen Bewußtseinsformen wiederholt und der eine Ursprungsverwandtschaft aller symbolischen Formen zum Ausdruck bringt. Entsprechend gliedert sich der Erste Teil (Die Sprache) der Philosophie der symbolischen Formen in die Abschnitte bzw. Stufen I. Sinnlicher Ausdruck, II. Anschaulich-darstellender Ausdruck, III. Ausdruck des begrifflichen Denkens, IV. Ausdruck der logischen Beziehungs- und Relati-

onsbegriffe. Im Dritten Teil (Phänomenologie der Erkenntnis) verfolgen drei Abschnitte den „Aufstieg" der geistigen Form „theoretische Erkenntnis" durch die Stufengänge I. Ausdruckswahrnehmung (Mythos), II. Repräsentation, Dingwahrnehmung (Sprache, empirische Anschauung) und III. Bedeutungsfunktion (mathematische Naturwissenschaft). Deshalb sind für Cassirer die ,,Gestaltenwelt[en]" der autonomen symbolischen Formen auch „dem geistigen Ursprung nach verwandt", also in ihrer formenden, gestaltenden, symbolisierenden prägnanten Funktion (ECW 11, 18). Oswald Schwemmer, der diese Ursprungsverwandtschaft in der mythischen Symbolform gründen sieht, spricht sich allerdings dafür aus, dem „Stufenschema" Ausdruck Darstellung Bedeutung keine konstitutive Rolle im kulturphilosophischen „Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen als solchem" zuzugestehen, man habe es vielmehr „als einen Rest5 -

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,

Neukantianismus' bei Cassirer zu lesen". Allerdings weist Cassirer, wie bereits betont, eine systematische Deduzierbarkeit seiner symbolischen Formen aus irgendeinem Ausgangsbegriff grundsätzlich ab. Wenn er hinsichtlich der symbolischen Formen Mythos, Sprache oder Kunst von einem vergleichbaren „Stufengang der geistigen Ausdrucksformen" spricht (ECW 12, 32), dann ist damit gemeint, daß sie alle sowohl eine emotionale Ausdrucks- als auch eine anschauliche Darstellungsstufe durchleben. Diese ,Stufen' bilden in jeder konkreten symbolischen Form des geistigen Lebens eine anders akzentuierte, sich anders entwickelnde, .aufsteigende' Einheit oder Totalität. Dabei schließen die Stufen bzw. Stadien, Dimensionen oder Funktionen „qualitativ verschiedene Arten der Sinngebung in sich ein" (ECW 13, 62 f.), was es geradezu verbietet, die Phänomenologie der unteren Stufe (Ausdruck, Mythos) an den Phänomenologien der höheren Stufen zu orientieren. Vielmehr biete sich allein der Mythos als ursprünglichste Form (Stufe) als Orientierung für die übrigen an, da er noch keine gewußte symbolische Repräsentation, sondern bloße echte Präsenz kennt, also noch ausschließlich auf dem rein emotionalen Ausdruck ruht (ebd., 74 f.). Unaufgeklärt bleibt zunächst, warum Cassirer seine Phänomenologie der symbolischen Formen nicht mit der elementarsten geistigen Form, dem mythischen Denken (Ausdruckswahrnehmung), sondern mit der mittleren systematischen geistigen Form, der Sprache als darstellender und repräsentierender Anschauungsform, beginnt. In gewisser Weise entspricht diese mittlere Stufe Hegels sinnlichem, anschauendem Bewußtsein.

Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein 42, 85 (Fn.).

Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 40,

Christian Möckel

272

System der Philosophie der symbolischen Formen bildet mit der wissenschaftlichen Erkenntnisform (reine Bedeutungsfunktion) ein Gegenstand, der im Projekt der Geschichte des Erkenntnisproblems bzw. der Herausbildung der ,neuen Denkar' seit 1906 im Mittelpunkt von Cassirers Aufmerksamkeit steht, die höchste Stufe der Entfaltung des sich objektivierenden lebendigen Geistes, wobei sie die anderen Stufen aufgehoben' in sich trägt und aus ihren ,Vorformen' phänomenologisch aufgebaut werden muß. Dennoch tritt bei ihm die theoretische wissenschaftliche Erkenntnis nicht als das ,Ganze' des Geistes auf, das letztlich alle symbolischen Formen in ihren korrelativen Beziehungen umfaßt. Diese alles umfassende und aufklärende Funktion fällt vielmehr der Philosophie der symbolischen Formen zu, die Cassirer allerdings immer auch als eine umfassende philosophische „Erkenntnistheorie" bezeichnet, die als „eine Phänomenologie der Erkenntnis" kein Teilgebiet der Objektivierung des Geistes verabsolutieren oder auslassen darf.37 Wie bei Hegel hat es die symbolisch-genetische Phänomenologie aber mit dem Geist als Wissenschaft zu tun, ,„der sich [...] entwickelt als Geist Mehrfach findet Hegels Bild von der Wissenschaft, die uns weiß'" (ECW 12, eine „Leiter" bzw. „Sprossenleiter" reiche, um die Stufen „mythische, [...] sprachliche, [...] künstlerische Formung" zu ihr hinauf mit notwendigen Schritten zu erklimmen, Eingang in den Text (ECW 12, XIII; ECW 13, IX; ECN 1, 84).39 Bereits an der Hegeldarstellung im Erkenntnisproblem III war deutlich geworden, daß Cassirer die Hegeische Phänomenologie abzuwandeln, zu modifizieren bestrebt ist, was sich in der Philosophie der symbolischen Formen fortsetzt. Eine erste Neuerung ergibt sich daraus, daß er das Substanzdenken Hegels durch das Funktionsdenken der ,neuen Denkart' ersetzt. Folglich wird die Einheit des lebendigen Geistes bzw. seiner vielfältigen objektivierenden Formen nicht in einem ,,gemeinsame[n] ideelle[n] Gehalt", sondern in der gemeinsamen symbolischen Funktionalität aller Formen des Geistes gesehen. Und Cassirer findet sie in der allgemeinen Funktion, die einen ideellen Gehalt (Sinn, Bedeutung) per Zeichen bzw. Symbol zur „Äußerung", zum „Ausdruck" bringe, was es der Philosophie der symbolischen Formen ermögliche, „eine Art Grammatik der symbolischen Formen" zu schaffen (ECW 11, 14 ff.). Wenn er in dem Zusammenhang beschreibt, wie „ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen ,Bedeutung'" wird, dann nimmt er einen weiteren Gedanken der dialektischen Methode Hegels auf. Die sinnliche Einzelheit steht in dem Falle nämlich nicht für sich allein, sondern „[fügt] sich einem Bewußtseins-Ganzen ein [...] und [erIm

XII).38

„Diese Entfaltung [des Ganzen C. M.] macht erst das Sein und das Wesen der Wissenschaft aus", denn das Spezifische der Aufklärung von Wissenschaft ist „die Bewegung [ihres] Werdens" (ECW 13, Will). E. Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in ECN, Bd. 2, hg. v. K. Ch. Köhnke/J. M. Krois, 12. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 1), Vorrede, 24. -

Hegels .Phänomenologie des Geistes'

als

Vorbild für Cassirer

273

von diesem erst ihren qualitativen Sinn" (ebd., 25). Später bezeichnet Cassirer diesen Tatbestand als symbolische Prägnanz' (ECW 13, 230 f.). Das einzelne Moment ist hier das, was es bedeutet, nur dadurch, daß es als Teil eines Bedeutungsganzen fungiert. Das Ganze ist damit folglich mit- und vorausgesetzt. Der Gedanke der Repräsentation Cassirer spricht von der „Urfunktion der Repräsentation" (ECW 11,32)- scheint einiges mit Hegels Verständnis des lebendigen Geistes als eines Organismus zu ton zu haben. Die Philosophie der symbolischen Formen hat folglich die „Leistung der [geistigen C. M.] Symbolfunktion" zu erforschen, die sich nicht allein in der Form des begrifflichen, ,abstrakten' Denkens, sondern auch in Sprache und Mythos, soweit alle drei Formen etwas ,darstellen', wenn auch in je eigenen Bedeutungsdimensionen, bewährt (ECW 13, 51 f.). Ihr „systematisches Grundproblem" entpuppt sich als die Frage nach der allgemeinen Symbolfunktion, die erst in der Gesamtheit aller drei Grunddimensionen (unmittelbare Wahrnehmung empirische Anschauung theoretische Wissenschaft) den „geistigen Sehraum" des Menschen konstituiert (ebd., 52). Diese drei Grunddimensionen treten in den großen Kulturformen Mythos, Religion, Wissenschaft oder Kunst in unterschiedlichen Konstellationen auf40 Das für das geistige Leben ursprüngliche Verhältnis von Symbolisierung oder Repräsentation, das ein sinnliches und ein korrelatives Bedeutungsmoment als Geltungs- oder Richtungsunterschied einschließt (ECW 13, 220), ohne daß davon ein Wissen vorliegen muß, woran es der mythischen Ausdruckswahrnehmung auch ermangelt, deutet Cassirer als den endlich gefundenen „entzweiten" Ausgangspunkt, als die ursprüngliche Differenz, hinter die es kein wirkliches Zurück in eine reine Erlebnisunmittelbarkeit gebe, wie dies jedoch von den Lebensphilosophen (Bergson) für die ,Intuition des Lebens' in Anspruch genommen werde. Der „entzweite" Anfang bilde in der natürlichen Anschauung bzw. Wahrnehmung allerdings ein als Einheit erlebtes ,,ursprünglich-gewisse[s] und ursprünglich-bekannte[s] Phänomen", das durch die Verstandesabstraktion zu einem absoluten Gegensatz zerlegt werde (ECW 11, 38). Wegen der „Urfunktion der Repräsentation" gebe es aber im Bewußtsein „von Anfang an kein abstraktes ,Eines', dem in gleich abstrakter Sonderung und Loslösung ein ,Anderes' gegenübersteht", vielmehr erweise sich, daß „beide sich wechselseitig bedingen und sich wechselseitig

hält]

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repräsentieren" (ebd., 39).41 Das ursprüngliche sich wechselseitige Bedingen und Repräsentieren der beiden gegensätzlichen Aspekte mache „die natürliche' Symbolik" des Bewußtseins aus, die durch eine „künstliche Symbolik" ergänzt werde, die sich das Bewußtsein in der Spra-

der u. a. als „symbolische Kunstform" entwickelt wird, und der ebenfalls sinnlichen Ausdruck und ideelle Bedeutung vereint (siehe G. F. W. Hegel: Ästhetik [1835], Bd. I, Berlin-Weimar 1976, 298 ff.), scheint Cassirer nicht speziell zu rezipieren, er verbindet den Symbolbegriff immer mit Leibniz, Goethe und Humboldt. Hegel hatte dies sinngemäß mit dem ,Begriff der Synthesis' umschrieben, die den Zusammenschluß und die „absolute Identität eines Ungleichartigen" leistet, dies aber substantial und nicht funktional gemeint (ECW 4, 315).

Hegels Symbolbegriff,

274

Christian Möckel

che, in der Kunst, im Mythos etc. „erschafft". (ECW 11, 39). Mit dem Ansatz symbolischer

Repräsentation glaubt Cassirer eine Reihe kritischer Einwände gegen Hegels Phänomenologie des Geistes ausgeräumt zu haben, ohne die methodischen Grundgedanken dieses Konzeptes aufgeben zu müssen. Der alte dualistische Gegensatz (das Eine und das Andere, Sinnliches und Ideelles) erscheint nun in der symbolischen Funktion des Bewußtseins dargestellt und vermittelt (ebd., 44), „der Schein einer ursprünglichen Trennung zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen" ist in diesem Verhältnis von Sinn (Bedeutung) und sinnlichem Bedeutungsträger verschwunden (ebd., 45). Hegels Phänomenologie hält Cassirer allerdings vor, daß sie „das Reich des Sinnes, das Reich der ,Idee' als ein für sich bestehendes, als die eigentliche Substanz des Geistes zuvor setzt." Und so „tritt es zwar in der Geschichte hervor, wird aber in keiner Weise durch sie [...] konstituiert" (ECN 1, 102). Mit der Aufklärung des ,entzweiten Anfangs' scheint auch die letzte Quelle der selbsttranszendierenden Bewegung der einzelnen Formen oder Stufen des lebendigen Geistes endlich aufgedeckt. Die bereits im Erkenntnisproblem III kritisierte Art und Weise, wie Hegels Phänomenologie die einzelnen Stufen des Geistes bzw. seine Entwicklungsmomente nur mit Blick auf das Ende oder das Ganze auseinander hervorgehen läßt, glaubt Cassirer nunmehr in der Philosophie der symbolischen Formen besser und endgültig gelöst. So habe er überzeugend aufgeklärt, wie an einer bestimmten Stelle „sich [...] im Kreise des mythischen Bewußtseins selbst eine Entwicklung [vollzieht], die dazu bestimmt ist, über seine Grenzen hinauszuführen" (ECW 12, 201). Ganz im Gegensatz zu Hegels Phänomenologie des Geistes komme dieser Nachweis ohne Zuhilfenahme des Endpunktes der Entwicklung aus. Der wegen seiner Bildlichkeit dem Mythos einwohnende Konflikt spalte das „mythische Bewußtsein in sich selbst" und decke doch „eben in dieser Spaltung zugleich seinen letzten Grund und seine Tiefe erst wahrhaft auf (ebd., 276 ff). Seine eigene symbolisch-genetische Phänomenologie des geistigen Lebens will Cassirer als eine Erweiterung, Vertiefung oder Ausweitung der Hegeischen um die Objektivationsformen des Mythos und der Sprache verstanden wissen. Vollziehe doch auch der Mythos eine „Form der Objektivierung" des subjektiven Geistes, nicht nur das logische oder theoretische Bewußtsein (ebd., 16). Damit ist die bereits erwähnte „tiefere Stufe" des Anfangs für die dialektische Entwicklung des lebendigen Geistes gefunden, ist die helfende wissenschaftliche „Leiter noch um eine Stufe tiefer angesetz[t]". Nunmehr hat sich das sinnliche Bewußtsein Hegels als „natürliche Anschauung" und damit als bereits entwickelte Form der Objektivation und Sinngebung erwiesen.42 Und „der eigentliche Ausgangspunkt für alles Werden der Wissenschaft, ihr Anfang im Unmittelbaren, liegt nicht sowohl in der Sphäre des Sinnlichen als in der der mythischen Anschauung" (ebd.,

„sinnliche Bewußtsein" als ein Wahrnehmungsbewußtsein, das eine Wahrnehmungswelt gliedert, „ist selbst bereits das Produkt einer Abstraktion, einer theoretischen Bearbeitung des .Gegebenen'." (ECW 12, XIII)

Das

Hegels

.Phänomenologie des Geistes

'

als

Vorbild für Cassirer

275

XIII). Allerdings gelte Hegels Kennzeichnung des ,,Verhältnis[ses] der .Wissenschaft' zum sinnlichen Bewußtsein" „in vollem Umfang [...] für das Verhältnis der [theoretischen C. M.] Erkenntnis zum mythischen Bewußtsein" (ebd.). Während in Hegels Phänomenologie des Geistes die einzelnen Momente, Stufen des Ganzen bzw. des Endes letztlich doch ihre Eigenständigkeit wieder verlieren, so würden gemäß der Philosophie der symbolischen Formen dem symbolisch fungierenden Geist wirklich völlig autonome Richtungen (Energien) einwohnen, in denen sich jeweils ein eigenes Bildungsprinzip verwirklicht. Deshalb gilt Cassirer seine erneuerte Phänomenologie des lebendigen Geistes als eine genetische Strukturlehre der verschiedenen geistigen Energien und objektiven Gebilde. Die „verschiedenartigen repräsentativsymbolischen Leistungen" werden hierbei eben nicht als „Äußerungen einer ,Grundkraft' betrachteft]" (ECW 13, 319). Es sei dagegen aber ein Vorzug auch der „Husserlschen Phänomenologie", eine Lehre der verschiedenen Strukturformen des intentionalen Bewußtseins einzuschließen (ECW 12, 14, Anm. 12). Mit der Betonung bzw. dem Nachweis der wirklichen Autonomie der unterschiedlichen symbolischen Formen des lebendigen Geistes und dem Hinzufügen weiterer Formen glaubt Cassirer den an Hegel kritisierten logischen Reduktionismus (Logizismus) endgültig überwunden zu haben. Bereits die Arbeiten an der Geschichte der Erkenntnis im Erkenntnisproblem III hatten ihn zu der Einsicht geführt, daß Geist mehr sei als logisches Denken, daß die durch die Logik favorisierte Identität von Geist und Denken vielmehr in Richtung einer Philosophie der ganzen Kultur zu überwinden sei (ECW 11, 13). Als Resümee bietet sich die Überlegung an, daß Hegels Entwurf einer Phänomenologie des Geistes von Cassirer modifiziert und durchgeführt, nicht aber verworfen wird. Das von ihm in den drei Teilen der Philosophie der symbolischen Formen vollzogene ideelle Aufsteigen vom Mythos über verschiedene Durchgangsstufen bis zur Wissenschaft vollbringt auf dialektische und symbolisch-repräsentierende Weise den Aufbau sowohl des ganzen geistigen Lebens als auch des ganzen ,,System[s] der Geisteswissenschaften" (ECW 12, XIV). Seine „universelle ,Phänomenologie des Geistes'" läßt auf -

beeindruckende Weise die „Welt des ,Geistes'" als eine konkrete Einheit vermittelter Gegensätze entstehen, in der ,jegliche Gestalt, durch die das geistige Bewußtsein überhaupt hindurchgeht, in irgendeiner Weise auch zu seinem bleibenden und dauernden Bestand [gehört]". (ECW 13, 87)

Veit Friemert

Hegels Idee vom allgemeinen Leben als Konzept politischer Erfahrung Ein Rekonstruktionsversuch

Die Marxsche Revision der Staats- und Rechtsphilosophie Hegels, die mit der Kritik des Hegelschen Staatsrechts beginnt und in ihren Konsequenzen bis ins Spätwerk der Kapitaltheorie reicht, folgt dem Gedanken der Aufhebung unvermittelter Subjektivität in ihre sozialen und kulturellen Objektivationen.1 Praktischer Ausgangspunkt der Kritik ist der Befund einer kapitalistische Gesellschaften charakterisierenden Entzweiung des Privaten und Öffentlichen. Der „Abstraktion des Privatlebens"2 entspricht die Beschädigung des allgemeinen. Wechselseitig unterminiert beides die Möglichkeit der politischdeliberativen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Einzelnen, die in der Aneignung der materiellen und kulturellen Potentiale ihrer Bildung sowie im sorgsamen Umgang mit ihrer inneren und äußeren Natur münden könnte. Im argumentativen Fluchtpunkt des Gedankens liegt deshalb die Rehabilitierung sowie die zeitgemäße Interpretation des Begriffs des Politischen. Diese ist Hegel mehr verpflichtet, als Marx zuzugeben bereit gewesen war schuldet sie ihm doch ein Konzept dialektischer Erfahrung, das Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes entworfen hatte. Der Aufhebungsgedanke hat als philosophisches Konzept zwei Seiten, einen explikativen und einen normativen Aspekt: In explikativer Hinsicht sucht er die Mittel zu hinterfragen, vermöge deren wir uns in unserer modernen Wirklichkeit orientieren. Diese philosophische Vergegenwärtigung ist erforderlich, weil die alltagspraktische Orientierung problematisch, die Stellung des Gedankens zur gesellschaftlichen Objekti-

Diesen Gedanken hat Gerd Irrlitz zur konzeptionellen Leitlinie seiner philosophischen Arbeit gemacht. Vgl. Gerd Irrlitz: „Über die Struktur philosophischer Theorien", in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44 ( 1996), Heft 1,3-30. Karl Marx: „Kritik des Hegelschen Staatsrechts", in Marx/Engels Werke, Berlin 1956 ff. (im folgenden: MEW), Bd. 1, Berlin 1956, 233. Vgl. Herbert Schnädelbach: „Die Philosophie und die Wissenschaften vom Menschen", in (ders.) Zur Rehabilitierung des .animal rationale'. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt/M. 1992, 116-136, insbes. 130-136.

Hegels Idee vom allgemeinen Leben

277

vität unklar ist. In Frage stehen damit auch die normativen Leitvorstellungen gesellschaftlicher Lebensführung. Auch diese hat das Aufhebungskonzept kritisch zu hinterfragen schon deshalb, weil sich mit der Revision des traditionellen Orientierungsrahmens die Koordinaten der Leitvorstellungen ändern, mit der Gewinnung neuer Koordinaten andererseits noch nicht deutlich ist, wie man sich zu ihnen verhält. Zur philosophischen Zeitdiagnostik gehört nun auch die immer wieder erneut vorzunehmende Vergegenwärtigung, also die Aktualisierung jenes Gedankens selber. Im folgenden möchte ich einen Versuch in dieser Richtung unternehmen: Einerseits frage ich also nach dem aktuellen Bedeutungsgehalt der Aufhebungsfigur und gehe zu diesem Zwecke erst einmal zurück zu Hegel, der sie m. E. zuerst für die moderne Gesellschaft entworfen hat. Ausgangspunkt meiner Analyse ist seine in der Rechtsphilosophie von 1820 zu Beginn des staatsphilosophischen Schlußkapitels geäußerte These, daß es die Bestimmung der Individuen sei, ein allgemeines Leben zu führen. Die kritische Erläuterung wird dann Anlaß geben, noch einen weiteren Schritt zurück in der Philosophiegeschichte zu gehen. Der fragliche Befund der Hegeldiskussion soll am Titelbild des Leviathan gewissermaßen gespiegelt werden. Zum Schluß werde ich dann mit Verweis auf Richard Sennett die zeitdiagnostische Überlegung präzisieren, mit der ich meine Aus-

führungen beginne.

zwanzig Jahren hat Michael Theunissen in einer thematisch ähnlich gelagerten Abhandlung die Behauptung aufgestellt, daß das moderne Bewußtsein unter einem charakteristischen Konflikt leide: Das jedem eigene Streben nach Selbstverwirklichung liege im Widerstreit einerseits mit seinem faktischen, ihm vorgegebenen gesellschaftlichen Dasein (eine Rolle spielen, als-etwas-sein), das seinem Bestreben, authentisch zu leben, im Wege steht. Andererseits liege Selbstverwirklichung aber auch im Widerstreit mit einer kontrafaktischen gesellschaftlichen Allgemeinheit. Mit letzterer habe sie zwar gemeinsam, vorbildlos und Ziel des je eigenen Strebens zu sein. Sie widerstreite jedoch dieser Allgemeinheit ihrer asozialen Grundtendenz wegen, sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen oder gar aus zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt herauszulö1. Vor

sen.

Nun frage ich mich, ob diese Diagnose im ganzen noch zutrifft. Das gegenwärtige moderne Bewußtsein läßt sich offensichtlich unbefangener auf soziale Vorgaben ein, es scheint, genauer gesagt, das als-etwas-Sein zur Aufgabe je eigener Selbstverwirklichung zu machen mit anderen Worten, es gibt sich heutzutage sozial verträglicher. Man könnte vermuten, daß der authentisch ist, dem es gelingt, sich in hochkomplexen Lebenslagen und angesichts ihrer jähen Wandlungen zu behaupten. Selbstbestätigung erwüchse ihm aus der Befähigung flexibler Anpassung. Der Zusammenhang von persönlichen Dispositionen, beruflichen Ausbildungsprofilen, wechselnden Beschäftigungsverhältnissen und lebensklugen Zielvorgaben ist ja als biographische Schlängelli-

Michael Theunissen:

Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin-New York 1982.

Veit Friemert

278

nie unverwechselbar individuell und mag so dem Einzelnen als Ausweis seiner Besonderheit gelten. Authentizität stellte sich im Gelingen von Selbsterhaltung ein und Selbsterhaltung gelänge offenbar nur als flexible Anpassungsleistung. Nun wäre die Glättung des Widerstreits, den das moderne Bewußtsein mit dem faktischen sozialen Dasein unterhalten hatte, die eine Sache, die andere, sozusagen die Kehrseite der Medaille, bestünde darin, daß mehr als nur die Zuversicht das Interesse an einem sozialen Wandel zum Erliegen gekommen wäre. Gerade letzteres scheint zuzutreffen: Das, was nach hegelmarxistischem Verständnis ihre gesellschaftlichen, praktisch ,aufzuhebenden' Objektivationen waren, ist den Einzelnen zu einer Vielzahl von Oberflächen geworden, auf denen sie sich spiegeln, wobei sie in ihren Spiegelungen, statt einander zu begegnen, allein sich selbst zu Gesicht bekommen. Um dieser Erläuterung eine größere Tiefenschärfe, d. h. sozialanalytische Prägnanz zu verleihen, ist die Philosophiegeschichte zu Rate zu ziehen. Wir sollten uns vorerst an Hegels Rechtsphilosophie halten und betrachten, was mit der eingangs zitierten Allgemeinheit gemeint ist und was es heißt, sie ins Leben zu holen. -

-

2. Hegels Idee einer allgemeinen Lebensführung erschließt sich nur im Zusammenhang seiner Konzeption bürgerlicher Gesellschaft, genauer gesagt, im Lichte der Deutung, die er diesem tradierten Bestandstück des Begriffsinstrumentariums praktischer Philosophie angedeihen läßt. Der Hegel der Berliner Rechtsphilosophie löst vom Begriff der bürgerlichen Gesellschaft dessen Verbindung zum Politischen, die dieser Terminus traditionell als societas civilis unterhalten hatte. Statt dessen knüpft er ihn an die Ökonomik, nur daß Ökonomie nun nicht mehr, wie im antiken Verständnis, den Haushalt, die societas domestica (einschließlich der ihr innewohnenden Dominanz- und Subordinationsverhältnisse zwischen Mann, Frau, Kindern und meint, sondern die Welt des modernen Industriekapitalismus. Die von Hegel gegebene Darstellung des durch die moderne bürgerliche Gesellschaft verkörperten Allgemeinen ist ambivalent. Einerseits spricht er von einem System allseitiger Abhängigkeit der ihre selbstsüchtigen Zwecke verfolgenden Einzelnen. Dieser Interpretation zufolge wird also das Allgemeine der bürgerlichen Gesellschaft als Mittel selbstsüchtiger Zwecke interpretiert. Andererseits verkennt auch Hegel nicht den normativen Gehalt jener Gesellschaft, wenn er betont, daß sie das Prinzip der selbständigen, in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit enthalte, womit auch deutlich wird, daß ihm dieses Potential menschenrechtliche Dimensionen

Bediensteten)5

Siehe hierzu Renate

Zoepffel: „Einleitung in die Texte der pseudoaristotelischen Oikonomik", in u. übers, v. R. Zoepffel, Erster

Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 10/11, erläutert Teilband, Berlin 2004 (im Erscheinen).

Zur Genese des Hegeischen Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft siehe Manfred Riedel: „Hegels Begriff der .Bürgerlichen Gesellschaft' und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs", in Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, hg. v. Manfred Riedel, Bd. 2, Frankfurt/M. 1975, 247276.

Hegels Idee vom allgemeinen Leben

279

besitzt: Die bürgerliche Gesellschaft ist, mit den Worten Theunissens gesagt, ihrem Anspruch nach eine solche, die alles das aufnimmt, was Menschenantlitz trägt. Und so sagt auch Hegel, daß in ihr der Mensch gelte, weil er Mensch, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener ist. Nun weiß er aber auch, daß diese Gesellschaft dem fraglichen Anspruch nicht zu entsprechen vermag. Die moderne bürgerliche Gesellschaft gebiert, wie Hegel betont, Armut in dem Maße, wie sie Reichtum schafft, und untergräbt damit schon das Prinzip elementarer Verteilungsgerechtigkeit, das sie andererseits postuliert. Nun könnte man vermuten, daß Hegel im Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat eine Rekonstruktion der politischen Verfassung in der Absicht betreibt, den normativen Gehalt der bürgerlichen zu realisieren. Die Aussage von der Bestimmung der Individuen, ein allgemeines Leben zu fuhren, die in diesem Zusammenhang fällt, würde dann eine Bürgertugend der Beförderung und Bewahrung von Institutionen und Praktiken meinen, welche subjektive Freiheit gleichermaßen ins Recht setzte und zwar in dem ihr angemessenen Umfang, d. h. bis hin zur Teilnahme an der politischen Willensbildung. Bekanntlich entspricht Hegel dieser Erwartung nicht. Die Rechtsphilosophie nimmt in ihrem staatsphilosophischen Schlußkapitel, das mit dem Postulat des allgemeinen Lebens einsetzt, das subjektive Freiheitsrecht geradezu zurück und zwar sowohl in den äußeren Staatsverhältnissen als auch im staatlichen Binnenraum. Nach außen hin wird es durch Hegels strikte Weigerung untergraben, ein Völker- oder internationales Friedensrecht überhaupt nur in Erwägung zu ziehen. Anders als Kant besteht er auf der absoluten, vorbehaltlosen Souveränität des substantiellen', also letztendlichen Willens, als der ihm der Staat gilt. Es ist diese Fetischisierung des Staatswillens, die auch im Binnenraum des staatlichen Gemeinwesens das subjektive Freiheitsrecht untergräbt: Die These von der substantiellen Sittlichkeit des Staates, dessen Stilisierung zum monologischen Selbstbewußtsein widerstreitet der Forderung nach allgemeiner demokratischer Partizipation der Einzelnen als Staatbürger. Wie die Eule der Minerva kommt deren politische Einsicht gemessen an der ihnen vorgeordneten objektiven Staatsvernunft nämlich immer schon zu spät, so daß es in den Augen Hegels töricht wäre, die Vernünftigkeit jenes Staates von der politischen Willensbildung seiner Bürger abhängig zu machen. Daß Hegel auch hier das Recht subjektiver, oder, wie er auch sagt, negativer Freiheit ignoriert, kann er kaschieren, weil er es in der letztlich dominierenden Interpretationsrichtung eineindeutig mit dem selbstsüchtig seine Privatziele verfolgenden Egoisten identifiziert. Diese handlungstypologische Zusammenstellung aber ist nicht akzeptabel. Allgemein gesehen ist negative Freiheit nicht nur dort im Spiele, wo ich mir nützliche Dinge zu eigen mache, sondern schon da, wo ich nachdenke, aus freien Stücken spreche und aus eigenem Ermessen handle. Sicherlich kann mein Gedanke abwegig, meine Rede unvernünftig oder sinnlos und mein Handeln nutzlos oder verwerflich sein. Sind sie aber in irgendeinem ausweisbaren Sinne vernünftig, so läßt sich die Vernünftigkeit dieser Akte mir nur dann zurechnen, wenn mein Denken, Sprechen und Handeln -

Veit Friemert

280

Leitung eines anderen zustande gekommen sind. Zurechnungsfähigkeit ist ohne subjektive Freiheit nicht denkbar. So kann man der Hegeischen Kritik subjektiver Freiheit nicht nur insoweit entgegenkommen, als man konzediert, daß Willkür nicht schon Zurechungsfähigkeit ist, sondern auch, daß letztere sich allererst im Zusammenhang bereits bestehender sozialer Institutionen wie etwa der Familie ausbildet. So gesehen ohne

kommen die Einzelnen in der Tat immer schon zu spät, weil ihre eigenen Verstandesund Vernunftvermögen gerade nicht ohne Leitung anderer zustande kommen, in deren Lebensverhältnisse sie hineingeboren werden. Das aber besagt nichts gegen die Möglichkeit, sich ihrer Vernunft letztlich eigenständig zu bedienen und den fraglichen Verhältnissen eine modifizierte Gestalt zu verleihen. Bekanntlich hat dann auch Marx genau in diesem Sinne einer Veränderbarkeit der von Menschen gemachten Geschichte gegen Hegel polemisiert: Die .radikale' Theorie demonstriere, so der bekannte Passus, ad hominem. „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst."8 Andererseits aber bleibt Marx in dem hier fraglichen Punkt des Freiheitsrechts unkritisch. Seine an der Frage sozialer Gerechtigkeit interessierte Kritik des Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft beläßt es bei der Identifikation von subjektiver Freiheit und Egoismus, womit er dann ideologiekritisch über das Ziel hinausschießt und wider seine Intention die Idee der Menschenrechte unter Ideologieverdacht stellt. Die Menschenrechte gelten ihm als abstrakt, als Rechte des, wie er sagt, egoistischen, vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen. Folglich kann er Hegel dann der Inkonsequenz bezichtigen, im Versuch der Aufhebung unvermittelter Subjektivität ins allgemeine Leben halbherzig geblieben zu sein. Hegel hat es ja faktisch bei der Entzweiung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat belassen und die Vermittlung nur abstrakt in der Imagination betrieben. 3. Ich komme nun zum Leviathan des Thomas Hobbes. Die Unterschiede zwischen Hobbes und Hegel sind offensichtlich, sie betreffen nicht nur die sozialontologischen Vorannahmen und Fragen der Herangehensweise; auch die jeweiligen Staatsbegriffe sind alles andere als deckungsgleich. Instruktiv ist der Vergleich aber allemal, weil sich in den begrifflichen Kontrastierungen das hier verhandelte Problem des vernünftigen Umgangs der Einzelnen mit ihrer Gesellschaftlichkeit ausweisen läßt: Hobbes' Sozialphilosophie nimmt im Unterschied zu Marx, jedoch entsprechend der Vorstellung Hegels über die bürgerliche Gesellschaft ihren normativen Ausgang beim negativen Freiheitsrecht der Einzelnen. Denn die Grundlage derselben sind, wie Hegel betont hat, die konkreten, ihre jeweils besonderen Zwecke verfolgenden Personen in ihrer Wech-

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7

8

9 10

Siehe dazu Albrecht Wellmer: „Freiheitsmodelle in der modernen Welt", in (ders.) Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt/M. 1993, 15-53, insbes. 39, 43 f. Karl Marx: „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung", in MEW, Bd. 1, 385. Marx: „Zur Judenfrage", in MEW, Bd. 1, 364. Marx: „Kritik des Hegeischen Staatsrechts", in MEW, Bd. 1, 327.

Hegels Idee vom allgemeinen Leben

281

selseitigkeit (§ 182). Anders als Hegel aber, und gewissermaßen im Vorgriff auf Marx, verfahrt Hobbes im Ganzen seines Begründungszusammenhangs: Er demonstriert ad hominem. Der Hobbessche Staat ist, so hat Carl Schmitt betont, ein „homo artificialis", ein „von Menschen verfertigtes Werk, bei dem Stoff und Künstler, materia und artifex, ' [...] dasselbe sind, nämlich Menschen". Zum Vergleich soll hier, wie bereits angedeutet, das von Wenzel Hollar oder Abraham Bosse geschaffene Titelbild dienen, weil es in seiner bildsprachlichen Interpretation Hobbesscher Gedanken dem ad hominem-Argument Prägnanz verleiht und das Aufhebungsproblem aus gewandelter Perspektive erhellt. Um zuerst an Bekanntes zu erinnern: Vom Horizont einer hügeligen Landschaft her erhebt sich, offensichtlich aus dem Meer, der kolossale Oberkörper eines Imperators. Er breitet die Arme weit über das Land, wobei die Insignien der Macht, die er in den Händen hält, die Gestik des Schutzes, den er gewährt, verstärken. Der Koloß wirft bezeichnenderweise keinen Schatten, sorgt er doch augenscheinlich für friedvolles Gedeihen von Stadt und Land. Der Schuppenpanzer, den er auf den ersten Blick zu tragen scheint, erweist sich beim zweiten als eine Ansammlung von Menschen, die seine Gestalt bis in die Finger hinein prägen. Allein sein Haupt und die Machtinsignien, die er trägt, sind frei von Menschenleibern, sind sozusagen natürlich. Der Blick der Person ist in horizontaler Richtung auf ein Gegenüber gerichtet: Den, der ihm ins Gesicht schaut, blickt er an. Über dem Kopf findet sich ein Zitat aus Hiob 41,24, das davon spricht, daß es keine ihm vergleichbare Macht auf Erden gebe. Der Schriftzug wird dadurch, daß ihn die Krone sowie die oberen Spitzen von Bischofsstab und Schwert unterbrechen, der fraglichen Person zugeordnet, die sie trägt. Letztere ist damit (also nicht nur durch die Buchüberschrift in der Bildmitte) als Leviathan identifiziert. Am Bild sind für mich nun die folgenden Aspekte interessant: Erstens die Vertikale des Bildraums, die ihren Nullpunkt in der Stadt unten im Tal hat und deren Obergrenze das Hiobzitat bildet, welches wiederum das Herrscherhaupt einfaßt. Die Vertikale läßt sich, angesichts des abschließenden alttestamentlichen Schriftzugs, als Linie nach oben zunehmender Dignität verstehen, die im ganzen gesehen natürlich dem Souverän zukommt, den Hobbes ja auch als ,sterblichen Gott' bezeichnet. Allerdings werden auch die einzelnen Menschen einer höheren Würde teilhaftig, sofern sie nämlich als Bürger die Herrschergestalt bilden. Sie schweben engelsähnlich am höheren Ort, weit oberhalb ihrer alltäglichen Lebenswelt von Stadt und Land. Auch bei Hobbes finden wir also eine Aufhebungsstrategie. Aus neuzeitlicher Perspektive aber, jener also, die Hobbes als einer der Pioniere einübt, erscheinen die Stufen zunehmender Dignität als kognitive Reflexionsniveaus. Damit wird nun aus der graduellen Differenz zwischen Souverän und Bürger eine qualitaCarl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Stuttgart 1982, 54. Diesen subtilen Zusammenhang hat Bredekamp herausgestellt. Siehe Horst Bredekamp: Thomas Hobbes visuelle Strategien, Berlin 1999, 13, 27. '

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tive. Eine geistige Überschau erreicht nicht schon der, welcher sich an einem höheren Ort befindet; er muß sich dem, was es zu begreifen gilt, auch zuwenden. Die Bürger aber fixieren ihre Blicke auf das Gesicht des Leviathan, abgekehrt von ihrem eigenen Alltagsleben, das allein der Souverän in Augenschein zu nehmen vermag. Ihren Grund hat diese Differenz darin, daß der body politic des Leviathan von Hobbes nicht als atomistische Aggregation Einzelner gedacht ist, sondern als anthropomorpher Kompositkörper, der eine organologische Staatshierarchie vorstellt. Wir können damit die Parallele zu Hegel weiterziehen: Auch Hobbes staatsphilosophischer Aufhebungsversuch ist mit der Preisgabe subjektiver Freiheit verbunden. Wenden wir uns nun dem Blick des Leviathan zu, so ist zu fragen, wem er da ins Gesicht schaut. Diese Frage ist legitim, weil Hobbes und der Künstler sicher nicht zufällig eine Kompositionstechnik nutzen, die, wie Hans Blumenberg mit Verweis auf Jakob Burckhardt mitteilt, zu den Innovationen der beginnenden Neuzeit gehört: die Gewinnung des Blicks „von oben".14 Dadurch wird der Blickwinkel auf ein dem Riesen gleichwertiges Niveau gehoben der, mit welchem er den Blick wechselt, muß augenscheinlich von gleicher Statur sein. Man könnte also annehmen, daß es sich beim Gegenüber um einen anderen Souverän, einen Behemoth vielleicht, handelt, dessen machtpolitische Kapazität also der des Leviathan ebenbürtig ist. Diese Lesart ist insofern durch den Text gesichert, als Hobbes bekanntlich die Einzelstaaten gegeneinander im Naturzustand beläßt, also eine globale Friedensordnung ablehnt. Der leviathanische Staat gibt wie derjenige Hegels subjektive Freiheit nicht nur im inneren, sondern auch im äußeren Staatsverhältnis preis. Um die Parallelen ins rechte Licht zu setzen, müssen natürlich auch die Unterschiede zur Sprache kommen. Obwohl es, wie gesagt, Sinn macht, die im Bild vakante Stelle des Gegenübers mit der Figur eines zweiten Souveräns zu besetzen, dürfte es den methodologischen Intentionen des Hobbes eher entsprechen, statt dessen die Person in Szene zu setzen, an die man ohnehin zuerst denkt den Leser nämlich, also sich selbst: ,Nosce te ipsum, read thyself lautet dann auch der Ratschlag, den Hobbes seinem Leser einleitend erteilt. Daß der Souverän den Leser anschaut, ist nicht eigentlich eine Vermutung, sondern manifeste Erfahrung, die sich immer dann einstellt, wenn man dem Leviathan ins Gesicht blickt: Schaut man ihn an, so haben sich die Blicke schon getroffen. Zweitens ist der Souverän als künstliche Person der Vertreter der Vielzahl der Einzelnen, die ihn durch gegenseitige Akte individuellen Machtverzichts zu dieser Funktion autorisieren. Hobbes vergleicht ihn an dieser Stelle mit einem Schauspieler, mit der eine Rolle aufführenden Person. Die gibt sich, wie Hobbes betont, unmißverständlich im Tragen einer Maske zu erkennen, und so ist auch der Leviathan im Bildnis, noch prägnanter in der späteren Version der Molesworth-Ausgabe von 1839, ein Maskenträ-

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ger.

So Horst Bredekamp: Thomas Hobbes visuelle Strategien (Anm. 12), 81. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1988, 397 f., 223 Fn.

Hegels Idee vom allgemeinen Leben

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Beide Punkte sind natürlich für Hegel, den ausgemachten Gegner der Vertragstheorie, abzuweisen: Für ihn ist es unakzeptabel, den Einzelnen als Gegenüber des Souveräns zu betrachten, einen solchen, der mit dem sterblichen Gott, auf gleichem Reflexionsniveau stehend, den Blick wechselt und in foro interno, also aus eigenem Ermessen, über seine Zugehörigkeit zum politischen Körper befinden soll. Unakzeptabel ist für Hegel auch die Interpretation des Souveräns als eines Schauspielers, widerspricht das doch seiner souveränitätstheoretischen Vorstellung, der zufolge die besonderen Willen der Individuen in der Einheit des Staats als ihrem einfachen Selbst ihre letzte Wurzel haben. Hegel hat, was den ersten Punkt betrifft, mit seiner Kritik sicherlich insofern recht, als es sich bei dem einzelnen Menschen der Hobbesschen Vertragstheorie, gewissermaßen dem Hinzutretenden, um ein dekontextualisiertes Subjekt handelt. Das ist auch am Bild ablesbar, insofern das Gegenüber des Souveräns außerhalb des Bildrahmens steht. Es bleibt unsichtbar, weil es an der Inszenierung der Repräsentation nicht teilnimmt. Andererseits scheint mir aber gerade die Idee einer Maske im öffentlichkeitstheoretischen Sinne interessant zu sein. Der amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett hat auf die Analogie zwischen Schauspieler und Staatsbürger verwiesen, die darin besteht, daß sich der einzelne als Bürger einen allgemeinen, d. h. öffentlich kommunizierbaren Ausdruck verleiht, mit dem er, gleichsam in der Verdoppelung seines Selbstbewußtseins, ein hermeneutisches Feedback unterhält. Er vermag diesen Ausdruck zugleich als Konvention, als Maske, zu nutzen, um sich öffentlichen Anmaßungen zu entziehen, die auch und gerade sein Selbstverständnis als Bürger betreffen. Wenn Hegel also recht hat mit seinem Verweis darauf, daß der Einzelne immer schon Bürger ist, Hobbes aber insoweit, als dieser die Konstitution des politischen Gemeinwesens an die Urteilsfähigkeit des Einzelnen bindet, dann dürfte statt des Souveräns der Einzelne der Maskenträger sein. Dessen Blick, d. h. der kritischen Prüfung seines eigenen Selbstverständnisses als Bürger, als öffentlicher Person, dürfte der homo magnus, der sterbliche Gott schwerlich standhalten.16 Daß der Einzelne damit zugleich seines politischen Daseins verlustig ginge, die ,Furie des Verschwindens', wie Hegel sagt, drohte, ist Hegels eigenes VorurRichard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1998; ders.: Autorität, Frankfurt/M. 1985. Für Carl Schmitt scheitert das politische Symbol des Leviathan. Der Fehlschlag münde in der Trennung von „Innen und Außen, Öffentlich und Privat", in welchem Schmitt den Verfall des Politischen sieht. Richtig scheint mir zu sein, daß die allgemeine Gedanken- und Urteilsfreiheit jene Trennungen zur Folge hat, von denen er spricht. Allerdings ist diese Konsequenz nicht der elementaren, unkalkulierbaren Deutungsmacht mythischer Bilder geschuldet. Ob sich „mythische Namen", wie er glaubt, „nicht ungestraft zitieren lassen", sei hier dahingestellt. Seinen Fehlschlag zeigt das Bild des politischen Symbols an dem, was es nicht darstellt, sondern provoziert: dem Blickwechsel. Bestritten werden kann auch, daß die Trennung unweigerlich zur „Neutralisierung", der Privatisierung des Öffentlichen führt. Daß sie dazu fuhren kann, ist eine der Ausgangsthesen meiner Argumentation. Vgl. C. Schmitt: Der Leviathan (Anm. 11), 9, 79, 123 f.; ders.: Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 21991, 79-95.

284

Veit Friemert

teil. Das jedoch läßt sich bereinigen, interessanterweise unter Rückgriff auf Vorstellungen, die Hegel andernorts, nämlich in seiner Phänomenologie des Geistes entwickelt hat.

Einleitungskapitel der Phänomenologie bietet Hegel einen dialektischen Erfahrungsbegriff, indem er den Zusammenhang herausstellt, welcher zwischen dem Subjekt der Erfahrung, dem Erfahrungsinhalt und dem Prüfmaßstab besteht, den das Subjekt im Prozeß der Erfahrung in Anschlag bringt. Genuine Erfahrung ist für Hegel wesentlich negativ, sie generiert nicht nur ein neues Wissen, sondern revidiert auch den Maßstab der Prüfung dieses Wissens, lebt also von der Enttäuschung des Standards. Die Enttäuschung ist natürlich die desjenigen, der diese Erfahrung macht, denn aus der vermeintlichen Gewißheit seines voraufgehenden Maßstabs hatte er sein Selbstbewußtsein gezogen. Erfahrung ist damit aber auch bestimmte Negation, denn sie fängt nicht mit dem reinen Nichts an, sondern setzt immer schon gemachte Erfahrung voraus, die sie in der Bestimmtheit, in welcher sie enttäuscht, negiert. Für den hier zu verhandelnden Sachverhalt des allgemeinen oder, wie Hegel auch sagt, öffentlichen Lebens ergibt sich daraus m. E. Folgendes: Die politischen Konflikte, die jemand erfahrt, setzen ein bestehendes politisches oder staatsbürgerliches Selbstverständnis voraus und sind nur in diesem Zusammenhang erfahrbar. Diese Konflikte können sowohl den Umständen geschuldet sein, in denen sich die fragliche Person befindet, als auch den politischen Vorstellungen, die sie hegt, also ihrem Prüfmaßstab. Entscheidbar ist das in jedem Falle nur anhand eines Standards zweiter Ordnung, den man mit Gadamer in der Offenheit der Erfahrung finden kann. Die Dialektik der Erfahrung habe, so schreibt Gadamer, ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt werde.17 In diesem Zusammenhang fällt auch eine andere Bemerkung, die zur Interpretation dessen herangezogen werden kann, was Offenheit im Problemkontext des öffentlichen Selbstverständnisses unserer Zeit oder, mit Theunissen gesagt, des zeitgenössischen Bewußtseins besagen mag. Wenn Gadamer mit Hegel genuine Erfahrung so 4. Im

versteht, daß sich das Bewußtsein im Fremden, Anderen selbst erkennt, so bedeutet das für unseren Fall ein Gebot der Zivilisiertheit, Verkehrsformen zu entwickeln, welche

Menschen voreinander schützen und es ihnen zugleich ermöglichen, an der Gesellschaft anderer, wie Sennett sagt, Gefallen zu finden. Daß sich Menschen in der Öffentlichkeit als einander Fremde begreifen sollen, ist falsch verstanden, wenn man dies als Produkt eines modus vivendi-Liberalismus interpretiert. Letzterer hat den gesellschaftlichen Umständen gegenüber schon resigniert. Sich im Fremden, Anderen selbst als Fremder zu erkennen, ist nichts, was sich unvermittelt einstellte, sondern Leistungsresultat einer Distanzierung auch von sich selbst.

Georg Gadamer: Tübingen 1990,361. Hans

Wahrheit und Methode.

Grundzüge

einer

philosophischen Hermeneutik,

Hegels Idee vom allgemeinen Leben

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Fremdheit in dem hier gemeinten normativen Sinn ist als eine kulturelle Objektivation prekär, womit ich abschließend auf die zeitdiagnostischen Überlegungen zurückkomme.

Gefahr droht ihr einerseits dadurch, daß die Einzelnen mit ihrer öffentlichen Maske verschmelzen, andererseits dadurch, daß sie sich hinter ihr verstecken. Im einen Fall gerät die öffentliche Darstellung zur undistanzierten Selbstinszenierung: Sie tendiert dazu, gesellschaftliche Konflikte zu Problemen persönlicher, vornehmlich moralischer Einstellung zu machen. Es ist dann insbesondere die Religion, welche die Allgemeinverbindlichkeit und Verläßlichkeit des guten Charakters identifizieren und sichern soll. Dem Gegner wiederum wird Machtbesessenheit und Unberechenbarkeit als moralisches Defizit anlastbar sei es, daß er an den falschen Gott glaubt, auf falsche Weise an den richtigen oder schlechtweg an gar keinen. Wer sich hingegen der Schlachtordnung im Glaubenskampf verweigert früher gegen das ,Reich des Bösen' und heute gegen ,den Terror' -, unterliegt als Feigling ebenfalls dem moralischen Verdikt. Im anderen Fall gerät die öffentliche Darstellung zur eingangs genannten klugen Registratur des eigenen wie des fremden Verhaltens. Beides bedeutet das Ende des öffentlichen Lebens, von dem Hegel gesprochen hatte. In beiden Fällen wird eine elementare Voraussetzung zur Gestaltung sozialer Verhältnisse untergraben: deren konkret-allgemeine Einschätzung, also eine solche, die unpersönlich ist, aber diese Distanznahme von sich als Teil der eigenen Persönlichkeit betrachtet. -

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Personenregister

Adolphi, Rainer 122,

124

Adorno, Theodor W. 53, 62, 71 ff, 76, 225, 250, 286 Arendt, Hannah 63 Aristoteles 16, 163, 172, 178 Arndt, Andreas 44 f., 57, 176, 247, 249, 255

Bachmann, Carl Friedrich 223 Balthasar, Hans Urs von 168

Bredekamp, Horst 281 f. Breuer, Stefan 62, 80 Bruno, Giordano 211

Buber, Martin 242 Burckhardt, Jakob 282 Busch, Bernd 50, 54 Busse, Martin 161, 171 Butler, Judith 81, 145 f.

Bauer, Bruno 256 Becker, Werner 62, 108

Cassirer, Ernst 220, 256-275 Cieszkowski, August von 245 Cohen, Hermann 257 Condillac, Étienne-Bonnot de 220

Benjamin, Walter 55 f. Bergson, Henri 273

Cramer, Konrad 101 Cremonini, Andreas 96

Barth, Ulrich 175 Barthes, Roland 51-56

Bernini, Gian Lorenzo 94 Beuthan, Ralf 24 Bleek, Wilhelm 161 Bluhm, Harald 63

Blumenberg, Hans 282. Bohley, Bärbel 173 Böhme, Jakob 229 Borch-Jacobsen, Mikkel 83 Bosse, Abraham 281 Bowman, Brady 12, 25

Braiding, Petra

101

Brandom, Robert 122

Darwin, Charles 74 Delbraccio, Mireille 83 Dellavalle, Sergio 65, 160 Derrida, Jacques 92 Descartes, René 182, 200, 221 Descombes, Vincent 74 Dews, Peter 89 Diderot, Denis 115 Dilthey, Wilhelm 168, 177, 217, 229, 259, 266

Diogenes Laertius

110

Personenregister

288

Dorschel, Andreas 110 Dubois, Philippe 54, 57 Dulckeit, Gerhard 174 Düsing, Klaus 166, 171

Habermas, Jürgen 77 f., 88 f., 104, 107, 218, 234, 237 Hardimon, Michael O. 129

Ehrenberg, Hans 240 Engels, Friedrich 40, 68, 233, 237 f. Epiktetól

167 f., 217, f., 242 f., 256 f., 260, 267 Heidemann, Dietmar 24 Heinrichs, Johannes 222 Henrich, Dieter 51, 101, 104, 160 Herbart, Johann Friedrich 223 Herder, Johann Gottfried 19 Hess, Moses 244 Hilger, Dietrich 62, 80 Hitzler, Ronald 63 Hobbes, Thomas 62 ff., 69, 107, 114, 162, 204, 280 ff. Hofmann, Hasso 173 Hölderlin, Friedrich 12, 19 ff., 124 Hollar, Wenzel 281

Eribon, Didier 77 Ertz, Stefanie 188

Ferrari, Massimo 258 Feuerbach, Ludwig 39-57, 193, 217-244, 246 ff., 250 f., 255 Fichte, Johann Gottlieb 13, 21, 32, 37, 100 ff, 104, 122 ff., 138, 161 f., 178, 182, 195, 201 f., 204, 218, 220, 230 Findlay, John Niemeyer 145, 147, 152 Fischer, Karsten 71 Foucault, Michel 61 ff., 77, 81 ff, 114 Frank, Manfred 104 Fraser, Nancy 81 Freud, Sigmund 54, 71 ff., 76, 78, 83 ff., 87, 91, 93 ff., 244, 258 Friedrich, Carl Joachim 174 Fries, Jakob Friedrich 223 Frischeisen-Köhler, Max 261 Fromm, Erich 61, 73 Fulda, Hans-Friedrich 222 Furth, Peter 254

Gadamer, Hans-Georg 64, 167, 284 Gall, Franz Joseph 147 Gans, Eduard 170 Gawoll, Hans-Jürgen 24 Gehlen, Arnold 244

Gloy, Karen

107

Goethe, Johann Wolfgang 258, 261, 269 f., 273 Großklaus, Götz 51 Grotius, Hugo 204

Haym, Rudolf 56 Hederich, Benjamin 17, 19 Heidegger, Martin 77, 160, 163, 240

Homer 70 Honneth, Axel 65 f., 77, 160, 234 Horaz 19 Hörisch, Jochen 51 Horkheimer, Marx 57, 62, 72 ff, 76 Horstmann, Rolf-Peter 124, 138 Hösle, Vittorio 104, 107,160 Humboldt, Wilhelm von 273 Husserl, Edmund 44, 144, 196, 259, 266 ff, 275 Hyppolite, Jean 83, 145 f., 149, 152 f.

Iber, Christian 101, 117 Irrlitz, Gerd 123, 167, 173, 176, 218, 235, 257, 265, 276 Jacobi, Friedrich Heinrich 13, 24, 32 f., 38, 49, 123 f., 140, 182, 184, 186, 195, 201 f. Jaeschke, Walter 191, 194, 200, 202, 250 Jauß, Hans Robert 243

Personenregister

289

100 f. Immanuel 122 ff, 127, 138, 151, 161 f., Kant, 176 171 f., ff, 182, 184, 188 f., 198, 202, 204, 218, 220 f., 230, 241 f., 257 f., 264, 266, 279 Kelly, Georg Armstrong 65 Kelsen, Hans 174 Kesting, Hanno 62 Kierkegaard, Sören 72 Kittler, Friedrich 168 Klopstock, Friedrich Gottlieb 19 Kojève, Alexandre 62, 65, 72, 74 ff, 82 f., 92, 106, 108, 173 Kolmer, Petra 171 Koppen, Friedrich 254 Kracauer, Siegfried 50, 56 Krug, Wilhelm Traugott 25, 37 f. Künzel, Werner 77

Kaienberg, Thomas

La Boethie,

Stephan von 61

Marx, Werner 131, 144, 163 McDowell, John 124 Mead, George Herbert 88, 104 Mehring, Reinhard 159, 167, 172 Mendelssohn, Moses 13 Menke, Christoph 160, 169

Meyer, Thomas 51 Mill, James 67, 234 Miller, Arnold Vincent 145 Misch, Georg 266 Möckel, Christian 259 ff, 264 ff.

Montaigne, Michel de 61 Müller, Ernst 176

Napoleon 113, 140,187 Natorp, Paul 257, 266, 268 Newton, Isaak 220 Nicolin, Friedrich 260 Nietzsche, Friedrich 61 f., 69 ff, 74 f., 77 ff, 81 f., 244

Lacan, Jacques 83-97

Ladwig, Bernd 62 Lambert, Johann Heinrich 221 Landmann, Michael 226 Lavater, Johann Kaspar 146 f., 152 Leibniz, Gottfried Wilhelm 173 Lemke, Thomas 77, 79 Locke, John 204, 220 Löwith, Karl 40, 45, 218, 229, 232 f., 240 ff. Luhmann, Niklas 62, 65 Lukács, Georg 126, 161 Luther, Martin 67 Lypp, Bernhard 115

Orth, Ernst Wolfgang 266 Ottmann, Henning 161, 163 Palonen, Kari 75 f. Pape, Matthias 162 Pateman, Carole 81 Pawek, Karl 50, 53 f., 56 Petersen, Thomas 64 Pindar 19 f. Pinguet, Maurice 77

Marcuse, Herbert 217

Pinkard, Terry 122, 124, 131, 133 Pippin, Robert 122, 131 Pirandello, Luigi 242 Piaton 70, 163 Plessner, Helmuth 243 Pöggeler, Otto 121, 124 f., 159, 164, 260

Marquard, Odo

Postman, Neil 51

Maier, Hans 162

Majetschak, Stefan 115,

117

128 Karl Marx, 40, 44, 50, 62, 67 ff, 71 ff, 74 f., 77 ff, 81 f., 94, 114, 193, 217 f., 232 ff, 238 ff, 244-256, 276, 278, 280 f.

Pufendorf, Samuel 204 Radbruch, Gustav 173

Personenregister

290

Rawls, John 173 Reichelt, Helmut 49

Reitemeyer, Ursula 45 Ricken, Friedo 110 Rickert, Heinrich 261 Riedel, Manfred 278 Ritter, Joachim 183 Röhr, Henning 45 Rosenkranz, Karl 170

Rosenzweig, Franz

161

Rossi, Paolo 158 Rothacker, Erich 160 Rousseau, Jean-Jacques 62 ff, 114 f., 140 Rózsa, Erzsébet 127 f., 138

Rückert, Joseph 38 Sandkaulen, Birgit 13, 21, 38 Sartre, Jean-Paul 62, 72, 74 ff., 82, 96 f.

Schwemmer, Oswald 271 Seilars, Wilfrid 11 Sennett, Richard 277, 283 f. Sextus

Empiricus

110

Sieg, Ulrich 173 Siep, Ludwig 64 f., 76, 78, 105, 107, 112, 117, 123 f., 126, 130, 140, 142, 163, 187 Simmel, Georg 64

Sophokles 169 Spinoza, Baruch de 13, 33 ff, 37 f., 114, 200 Stirner, Max 228 Stolleis, Michael 161 Strauß, David Friedrich 37 Strauss, Leo 63 Strawson, Peter Frederick 11

Taylor, Charles 14,

129

Saussure, Ferdinand de 84

Theunissen, Michael 243, 277, 279, 284 Thies, Erich 40, 53, 55, 57

Schalhorn, Christof 101, 104, 114 Scheler, Max 240, 264

Tietz, Udo 244 Timm, Hermann

Friedrich Wilhelm 20

f., 23 f., 32, 117, 123 f., 138, 162, 175, 178 f., 196, 220, 223 f., 230, 259, 261 Schiller, Friedrich 14-20, 22, 30, 123, 140,

Schelling,

14

Tocqueville, Alexis-Charles de 61 Tomasoni, Francesco 45

Trendelenburg, Friedrich Adolf 223 Tugendhat, Ernst 104

176

Schlegel, Friedrich

175 Friedrich 175-193 Schleiermacher, Schlüpmann, Heide 50 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 137 Schmidt, Alfred 48, 50, 56

Walzer, Michael 61 Weber, Max 22, 62, 71 f., 80, 82 Weckwerth, Christine 124, 126, 164, 186, 242 Weiß, Christian 38 Wellmer, Albrecht 66, 280

Schmidt, Gerhart 159, 168 Schmidt, Josef 195 Schmieder, Falko 39 Schmitt, Carl 74, 181,283 Schnädelbach, Herbert 158 ff, 166, 169, 172, 188,276 Schneider, Ulrich Johannes 171 Schuffenhauer, Werner 50, 247 Schulze, Gottlob Ernst 25, 37 f. Schütz, Alfred 228

Westphal,Merold51,54 Wieland, Wolfgang 50 Wildenauer, Marion 194 Windelband, Wilhelm 259 Winkler, Hartmut 51 Wolf, Erik 172 Zeller, Eduard 258 Zizek, Slavoj 83

Zoepffel, Renate 278