Führung heute: Erfolgsfaktoren des New Leadership 3662677792, 9783662677797, 9783662677803

Sollen die aktuellen Herausforderungen wie Krieg, Migration und Klimawandel gemeistert und die Welt in eine positive Zuk

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German Pages 321 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Einführung
Literatur
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1: Einleitung und Auslegeordnung
Literatur
Teil I: Persönlichkeit und Kompetenzen von Leadern
2: Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften
2.1 Dunkle Triade der Persönlichkeit
2.1.1 Psychopathie
2.1.2 Narzissmus
2.1.3 Machiavellismus
2.2 Weitere kritische Eigenschaften
2.3 Erkennen von problematischen Leader-Figuren
2.3.1 Professionelle Personenbeurteilung
2.3.2 Schein und Sein bei Führungsstärke
Literatur
3: Ethik und Werte als Merkmal echter Leader
3.1 Nachhaltigkeit
3.2 Corporate Governance und organisationale Fairness
3.3 Ethik und ethische Führung
3.4 Werte und Prinzipien
Literatur
4: Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-Persönlichkeiten
4.1 Fach- und Methodenkompetenz
4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung
4.2.1 Lernbereitschaft und -vermögen
4.2.2 Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung
4.2.3 Motivationsorientierte Selbstkenntnis und Warum
4.2.4 Selbstkompetenz und zentrale Selbstbewertungen
4.2.5 Emotionale Stabilität, Ausgeglichenheit und Gelassenheit
4.2.6 Resilienz und Belastbarkeit
4.2.7 Frustrationstoleranz und Umgang mit Fehlern
4.2.8 Umgang mit Unsicherheit
4.3 Leistungsvermögen und operative Fähigkeiten
4.3.1 Zielsetzungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft
4.3.2 Umsetzungsstärke und Tatkraft
4.3.3 Effektivität und Effizienz
4.3.4 Verantwortungsübernahme und Eigeninitiative
4.4 Emotionale Intelligenz und emotionale Kompetenz
4.4.1 Emotionen im Berufsalltag
4.4.2 Emotionale Selbstführung
4.4.3 Emotionale Kompetenzen als Bindeglied
4.5 Soziale Kompetenzen
4.5.1 Perspektivenübernahme
4.5.2 Wertepluralismus und „Open-Mindedness“
4.5.3 Altruismus und Hilfsbereitschaft
4.5.4 Durchsetzungsfähigkeit und Zuhören
4.5.5 Kontaktverhalten und Networking
4.5.6 Konfliktfähigkeit
4.5.7 Kritik- und Feedback-Fähigkeit
4.5.8 Vertrauensfähigkeit und -bereitschaft
4.5.9 Allgemeine Kommunikationsfähigkeit
4.5.10 Gesprächsführung und Verhandlungsgeschick
4.5.11 Spezifische kommunikative Fähigkeiten
4.5.12 Teamarbeit und Kooperationsfähigkeit
4.5.13 Inklusion und Umgang mit Diversität
4.5.14 Interkulturelle Kompetenz
4.6 Intellektuelle Fähigkeiten
4.6.1 Allgemeine Intelligenz
4.6.2 Spezifische intellektuelle Fähigkeiten in Praxis
4.6.3 Kreativität
4.6.4 Problemlösungskompetenz
4.6.5 Projektmanagement
Literatur
5: Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil
5.1 Persönlichkeitsprofil
5.2 Kompetenzprofil
5.3 Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit
Literatur
Teil II: Führung in der Unternehmenspraxis
6: Führung im Wandel
6.1 Globalisierung und Führung
6.2 Digitalisierung und Führung
6.3 Agiler Wandel und Führung
6.4 Ambidextrie (beidhändige Führung)
6.5 Selbstorganisation und Führung
Literatur
7: Führungsaufgaben
7.1 Strategische Aufgaben
7.2 Führungstechnik
7.3 Transformative Aufgaben (Leadership)
Literatur
8: Führungsverhalten und Führungsstile
8.1 Klassische Taxonomien von Führungsstilen
8.2 Aufgaben- versus Beziehungsorientierung
8.3 Situative Führung
8.4 Transaktionale und transformationale Führung
8.5 Aktuelle Leadership-Ansätze
8.5.1 Servant Leadership
8.5.2 Authentische Führung (Authentic Leadership)
8.5.3 Empowering Leadership/Super-Leadership
8.5.4 Respektvolle Führung
8.5.5 Neuroleadership
8.5.6 Positive Leadership
Literatur
9: New Leadership
9.1 Verhalten von New Leadern
9.2 Entwicklung zum New Leader
10: Zusammenfassung und Fazit
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Führung heute: Erfolgsfaktoren des New Leadership
 3662677792, 9783662677797, 9783662677803

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Thomas Frehner

Führung heute

Erfolgsfaktoren des New Leadership

Führung heute

Thomas Frehner

Führung heute Erfolgsfaktoren des New Leadership

Thomas Frehner Betterleadership.org Zürich, Switzerland

ISBN 978-3-662-67779-7    ISBN 978-3-662-67780-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3  

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Christine Sheppard Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Vorwort

Konkreter Auslöser für dieses Buch war der Ausbruch der Covid-Pandemie im Jahr 2020. Die Überforderung und Inkompetenz der Verantwortlichen löste bei mir neben Unverständnis und Wut auch den Wunsch aus, etwas gegen die offensichtlich global grassierende Führungsschwäche zu unternehmen. Unterdessen ist einiges passiert, und es wird von einer eigentlichen Zeitenwende gesprochen. Neben der bereits länger bestehenden Klimakrise sind diverse akute Probleme dazugekommen (u. a. Krieg in der Ukraine). Sollen diese gelöst werden, braucht es mehr als alles andere eine höhere Zahl fähiger Personen an den Schalthebeln der Macht. Es herrscht eine eigentliche globale Führungskrise. Als erfahrener Management-Diagnostikspezialist kann ich einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten, indem ich aufzeige, welche Art von Personen nicht mehr und welche Menschen stattdessen künftig die zentralen Führungsaufgaben in Politik und Wirtschaft bekleiden sollten. Gefragt ist Leadership! Wie zu zeigen sein wird, beginnt dieses als Selbstführung bei jedem Einzelnen. Es braucht mehr reife Persönlichkeiten, die selbst einen aktiven Beitrag leisten wollen und nicht nach dem großen Führer oder anderen vermeintlichen Heilsbringern rufen. Was geeignete Führungskräfte und gutes Leadership ausmacht, ist Gegenstand des New Leadership, das in der Wirtschaft momentan eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Die Erkenntnisse und bewährten Rezepte lassen sich auf die Gesellschaft und die Politik übertragen. Dieses Buch liefert im II.  Teil eine Zusammenstellung der wichtigsten Erfolgsfaktoren des New Leadership in der Wirtschaft. Die Ausführungen im I. Teil sind dagegen allgemeingültig, weshalb auch gesellschaftliche und politische Themen adressiert werden. Der Zweck (Purpose) dieses Buches besteht darin, die Bedeutung von New Leadership aufzeigen und dazu beitragen, zu einem tiefgreifenden Wandel in Richtung mehr bessere Führung beizutragen. Zweifellos ist dies dringend notwendig! Zürich, Schweiz Juni 2023

Thomas Frehner

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Einführung

Sind wir gerade Zeugen einer Zeitenwende? Und wenn ja, wo führt diese hin? Über die Veränderungen, die sich aus der aktuellen Zeit mittel- bis langfristig ergeben werden, lässt sich momentan nur spekulieren, erst die Zukunft wird sie zeigen. Klar ist, dass mit der Pandemie, dem fast gelungenen Putsch in den Vereinigten Staaten und dem schrecklichen Krieg in der Ukraine in letzter Zeit mindestes 3 Ereignisse eingetreten sind, die man noch vor wenigen Jahren für kaum möglich gehalten hätte. Handelt es sich nur um eine zufällige Häufung „schwarzer Schwäne“ (Taleb, 2018) oder tatsächlich um den Beginn einer neuen Epoche? Zu erwarten sind auf jeden Fall eine zunehmende Aufrüstung und eine stärkere Trennung der geopolitisch wichtigsten Staaten und Bündnisse sowie möglicherweise weitere Kriege (z. B. Taiwan). Aber kann diese Phase auch positive Impulse bringen? Unglücklicherweise deutet momentan kaum etwas darauf hin. Vielmehr scheint gerade alles auseinanderzudriften, und dies, obwohl mit dem seit Längerem drohenden und zunehmend wahrscheinlicher werdenden ökologischen Kollaps eine existenzielle Bedrohung für die ganze Welt besteht. Themen wie der Klimawandel, die schleichende Zerstörung des Bodens und der Weltmeere sowie die zunehmende Wasserknappheit geraten angesichts der Machtgelüste einzelner Staatsführer in den Hintergrund, obwohl die Zeit drängt. Gleich wie diese ökologischen Herausforderungen lassen sich auch andere große Themen wie zum Beispiel die Migration nur gemeinsam und staatenübergreifend wirksam in den Griff bekommen, was ein Zusammenrücken und eine verstärkte Zusammenarbeit der Weltgemeinschaft erforderlich machen würde. Zu beobachten ist leider das genaue Gegenteil. Alle aktuellen Krisen haben gemeinsam, dass sie menschengemacht sind. Abgesehen vom mutwillig herbeigeführten Krieg in der Ukraine liegen die Ursachen oft eher in Unwissenheit oder Fahrlässigkeit einzelner Politiker oder vieler Menschen, die beispielsweise schlicht leugnen, dass sich die Welt aufgrund des Klimawandels auf eine Katastrophe zubewegt. Leider scheint sich nur ein geringerer Teil der Menschheit der Dringlichkeit der zu lösenden Aufgaben bewusst, auf jeden Fall hapert es überall mit der Bewältigung der aktuellen Ereignisse und Entwicklungen. Neben der mangelnden Reaktionsgeschwindigkeit erschreckt vor allem die Tatsache, dass kurzfristige Partikularinteressen und das Verfolgen einer ideologischen Agenda weiterhin oder gar zunehmend über die echten ­Gesamtinteressen gestellt werden und die wirklichen Probleme ungelöst bleiben. SymbolVII

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Einführung

politik und wenig fruchtbare Debatten bestimmen das Bild, während konkrete Maßnahmen allenfalls unter unmittelbarem Druck ergriffen werden. Die vielen Konflikte werden oft mit dem Aufeinanderprallen der demokratischen, freiheitlichen Gesellschaften und den autokratischen Staaten erklärt. Besonders im Umgang mit der Pandemie haben allerdings beide Systeme mehr oder weniger versagt. Entweder aufgrund von zu unentschlossenem Handeln und Überforderung (Westen) oder wegen zu extremer Eingriffe (v. a. China). Betrachtet man das Gesamtbild, lässt sich gerade eine Art gigantische globale Führungskrise feststellen. Als Bürger steht man ohnmächtig daneben, und als professioneller Management-Diagnostiker fragt man sich, wie es sein kann, dass so viele offensichtlich inkompetente Personen hohe Ämter bekleiden, dass das Krisenmanagement von Politik und Behörden scheinbar nie auf einem hohen Niveau funktioniert, dass aus Fehlern nichts gelernt wird und dass jeder entscheiden, aber kaum jemand Verantwortung übernehmen will. Unter den Staatsführern der G20-Staaten finden sich einige Personen, die in einem professionellen Assessment zweifellos als wenig geeignet für eine höhere Führungsfunktion eingeschätzt würden. Dies umso mehr, als in der Privatwirtschaft seit einigen Jahren ein Umdenken stattfindet, das sich besonders auch in der Führung auswirkt. Die vielbeschworenen „alten weißen Männer“ gehören hier zunehmend der Vergangenheit an. Der stattfindende Generationenwechsel ist ein sichtbarer Ausdruck eines veränderten Führungsverständnisses, bei dem Kooperation und Empowerment der Mitarbeitenden im Zentrum stehen, während hierarchische und autoritäre Führungsansätze weitgehend ausgedient haben. Das ingenieurwissenschaftliche „Maschinenparadigma“ wird durch das Verständnis von Organisationen als soziale Systeme verdrängt, und das unheilvolle Shareholder-Value-Denken wird durch das Stakeholder-Value-Paradigma ersetzt. Zusätzlich verlangen die aktuellen wirtschaftlichen Trends, speziell Digitalisierung, Agilisierung und New Work, nach einem neuen Führungsverständnis und Leader-­ Persönlichkeiten, die sich durch veränderte Kompetenzen auszeichnen. Dominant und selbstherrlich agierende Alleinentscheider verlieren ebenso laufend an Boden wie streng hierarchisch aufgestellte Organisationen. Ursprünglich hatte ich das Ziel, die sich wandelnden Bedingungen in der Wirtschaft und die damit verbundenen neuen Anforderungen aus der Perspektive eines Management-Diagnostikprofis zu beschreiben und zu analysieren. Seit Beginn der Pandemie haben mich die Inkompetenz und Gefährlichkeit vieler Politiker und die Langsamkeit und Unfähigkeit vieler Behörden dazu bewogen, den Kreis größer zu fassen. Zweifellos besteht aktuell besonders auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene dringender Aufklärungs- und Handlungsbedarf hinsichtlich Leader­ ship. Die Anzahl von ungeeigneten Führungspersonen und gefährlichen ideologischen Strömungen kann einem Angst machen. Und es scheinen immer mehr zu werden. Wenn sich dieser Trend weiter fortsetzt, steuert die Welt unweigerlich auf weitere Katastrophen zu. Die Erkenntnisse aus der neuen Managementliteratur und Führungsforschung lassen sich weitgehend auf die Politik und Verwaltung, teilweise auch auf die Gesellschaft übertragen. Die Führungsaufgabe von Politikern mag sich von derjenigen von Managern ­unterscheiden, die für den Führungserfolg relevanten Eigenschaften und Kompetenzen sind aber weitgehend dieselben. Im Unterschied zum Management im engeren Sinne gilt dasselbe auch für Leadership.

Einführung

IX

Sowohl die herauszuschälenden Kompetenzen einer modernen Leader-Persönlichkeit in der Wirtschaft als auch die zentralen Prinzipien der neuen Führung wie etwa Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Chancengleichheit können als allgemeingültig betrachtet werden. Grenzen bestehen natürlich bei der Anwendung auf bereits existierende autokratische Systeme und problematische Staatsführer. Hat ein Psychopath erst einmal die Macht ergriffen und jegliche Opposition ausgeschaltet, ist es im Grunde schon zu spät. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass es in der Regel nicht ausreicht, die Person an der Spitze auszutauschen, weil diese bereits ein psychopathisches System kreiert hat. Menschen, die langfristig einem autoritären Führer folgen, sind in der Regel entweder Opportunisten oder Gesinnungstäter, die womöglich noch radikalere Ansichten vertreten. Außerdem bewirken Propaganda und Vorbildwirkung bezüglich unethischem Verhalten der Führungsriege eine Verrohung bis auf die unterste Ebene (z.  B.  Kriegsverbrechen). Von außen etwas dagegen zu unternehmen, ist selbstverständlich nur bedingt möglich, ein grundlegender Wandel muss von innen her erfolgen. Es hilft aber, wenn man weiß, wie Psychopathen oder bösartige Narzissten ticken, damit sie entweder von der Macht ferngehalten werden oder zumindest in Schach gehalten werden können. Dass im Kontakt mit diesen Personen nur Härte und Konsequenz Erfolg versprechen, wird klar, wenn man sich mit diesen beschäftigt und nicht an naiven Vorstellungen über das menschliche Wesen festhält. Obwohl die meisten Menschen wissen, dass sich die Menschen in ihrer Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten ebenso unterscheiden wie in ihrem Verhalten, spielt dieses Wissen bei der Laienbeurteilung in der Praxis kaum eine Rolle – zu stark sind die erworbenen Denkgewohnheiten sowie primär sympathie- oder einstellungsbezogene Bewertungsmuster. Statt an Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften orientieren sich die meisten psychologisch unkundigen Personen eher an irgendwelchen stereotypischen Vorstellungen (z. B. Geschlechtsunterschiede) oder Einstellungen. Soll dies grundlegend geändert werden, muss sich auch die breite Masse ein Minimum an professioneller Beurteilungskompetenz aneignen. Während die obersten Führungskräfte in der Wirtschaft meist professionell ausgewählt werden und in der Regel einen soliden Leistungsausweis vorweisen können, werden die Politiker – zumindest in den demokratischen Staaten – von den Bürgern gewählt. Dabei geschieht die Auswahl in hohem Maße auf der Basis sogenannter Laientheorien hinsichtlich vermeintlicher Merkmale von Führungsstärke (z. B. starkes Auftreten) sowie ideologischer Präferenzen. Gleichzeitig bestehen allenfalls lückenhafte Kenntnisse darüber, was die zur Wahl stehenden Personen bislang überhaupt geleistet haben. Soll die Qualität des Führungspersonals in der Politik gesteigert werden, muss also die Kompetenz der Wählenden bei deren Beurteilung erhöht werden. Die entsprechenden Kenntnisse sind momentan auf einen kleineren Kreis von Experten und Expertinnen beschränkt. Dieses Wissen zu teilen, ist ein wesentliches Nebenziel dieses Buchs. Zentral dabei ist zunächst die Tatsache, dass diejenigen Eigenschaften, die bewirken, dass jemand eine Führungsrolle für sich in Anspruch nimmt oder von anderen zugewiesen erhält, nicht die gleichen sind, die einen nachhaltigen Führungserfolg versprechen. So ernten vordergründig Führungsstärke ausstrahlende Despoten und Ideologen mitunter zumindest kurzfristig eine breite Zustimmung und Unterstützung. Die Geschichte zeigt aber, dass sie langfristig meist einen Scherbenhaufen hinterlassen, weil es ihnen an Realitätssinn, Kompromissbereitschaft und

X

Einführung

Umsetzungsqualitäten mangelt. Eigennutz und Ideologie wird über das Wohl des Staates und der Menschen gestellt. Nachhaltiger Führungserfolg basiert auch auf freiwilliger Gefolgschaft infolge einer starken Persönlichkeit des Leaders sowie der Fähigkeit, andere dafür zu gewinnen, langfristig bestimmte Ziele zu erreichen. Die Erkenntnis, dass Ideologen und Autokraten – egal welcher politischer Couleur – in der Regel nur Unheil anrichten, muss auf der gesellschaftlichen Ebene weiter verbreitet werden. Die große Herausforderung auf dieser Ebene stellt die vielerorts feststellbare Spaltung der Gesellschaft dar. So scheinen in den USA die Gräben zwischen den Anhängern der beiden großen politischen Lager kaum mehr überbrückbar zu sein. Man bewegt sich in abgeschotteten „Bubbles“, und die Argumente der Gegenpartei werden kaum mehr angehört. Stattdessen werden Redeverbote erteilt und die Erkenntnisse der seriösen Wissenschaften infrage gestellt. Immer mehr Menschen verabschieden sich in irgendwelche Splittergruppen, die sich lautstark für ihre spezifischen Interessen einsetzen, aber kaum gewillt sind, einen Beitrag für das Ganze zu leisten. Werden weiterhin Ideologien und Einstellungen oder vermeintlich „starke Männer“ gewählt, werden die wirklich wichtigen Probleme nicht oder auf eine sehr einseitige Weise angepackt. Große Sprünge in die richtige Richtung (wie z. B. die Charta der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg) sind nur von kompromissbereiten, integrativen sowie sachlich lösungsorientierten Personen zu erwarten. Eigentlich sollte klar sein, dass die Lösungsfindung auf der Basis überprüfbarer Fakten und möglichst objektiver Kriterien erfolgen sollte. Leider hat sich die Verheißung des Internets nach einer Demokratisierung und Verbreiterung des Wissens nicht realisiert, sondern geradezu in das Gegenteil verkehrt. Statt geteiltes Wissen dominieren unterschiedliche „Wahrheiten“ und diverse Verschwörungstheorien. So erinnert etwa die Annahme einer sich von Kinderblut ernährenden Elite (QAnon) ebenso an das Mittelalter wie jene Bewegung, die allen Ernstes glaubt, dass die Erde eine Scheibe ist. Die zunehmende gesellschaftliche Zersplitterung ist stark mit Narzissmus und Selbstüberschätzung auf der einen und einer wie auch immer gearteten echten oder vermeintlichen Opferrolle auf der anderen Seite verbunden. Narzissmus, Ideologisierung und Zersplitterung sind die treibenden Kräfte, die die Gesellschaft auseinanderbringen. Das Internet scheint vor allem den Narzissmus zu fördern und dazu beizutragen, dass er sich in den letzten Jahren zu einer eigentlichen Volkskrankheit entwickelt hat. Statt nur Forderungen zu stellen und die eigenen Interessen zu verfolgen, sind mehr Gemeinsinn und geteilte Werte gefragt. Dazu braucht es mehr geeignete Leader und reife (Leader-)Persönlichkeiten. Führung oder Leadership bezieht sich nicht nur auf die Beziehung zwischen einer Führungskraft und einer unterstellten Person, sondern umfasst sämtliche zielgerichteten Beeinflussungsaktivitäten. Den Ausgangspunkt bildet dabei die „Selbstführung“, die sich auf die Entwicklung der eigenen Person bezieht. In der Forschung und in der Praxis besteht ein breiter Konsens, dass nur Personen, die sich selbst führen können oder zumindest im Griff haben, auch andere Menschen führen können und sollen. Die konkrete Ausgestaltung der Führung bei mehreren Beteiligten hängt auch von den spezifischen Bedingungen des Umfelds und der zu leistenden Aufgaben ab. Dazu passend lässt sich eine Vielzahl verschiedener Führungsarten (vgl. Kap.  6) und Führungsstile (vgl. Kap.  8)

Einführung

XI

unterscheiden. Je nach Situation sind auch bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten mehr oder weniger bedeutsam. Wichtig in diesem Zusammenhang ist ein anderer Aspekt des veränderten Führungsverständnisses in der Wirtschaft. Führung wird hier vermehrt als Funktion verstanden, die von verschiedenen Personen gleichzeitig wahrgenommen werden kann – und eben weniger als hierarchisch definierte Aufgabe einer Einzelperson. Damit und dem Empowerment (vgl. Kap. 7 und 8) der Mitarbeitenden verbunden sind höhere Ansprüche an die Geführten respektive Beteiligten. Mitwirken und mitbestimmen ist zweifellos anspruchsvoller als nur Befehle auszuführen. Mehr Personen müssen die Initiative ergreifen, Verantwortung übernehmen und eigene Ideen vorantreiben. Dies ist gut für die Gesellschaft und sollte über die fortschrittlicheren Unternehmen hinaus zum Verhaltensstandard erwachsener Personen werden. Mit ihrer diesbezüglichen Vorreiterrolle kann die Wirtschaft einen Beitrag zu einem gesamtgesellschaftlichen Persönlichkeitsentwicklungsprozess leisten. Momentan zeichnet sich auf dieser Ebene nämlich eher ein gegenteiliger Trend ab; es scheint eine Art befindlichkeitsorientierte Infantilisierung stattzufinden. Viele Menschen scheinen zunehmend nur noch die eigenen Bedürfnisse im Blick zu haben und eine zunehmend narzisstische Gesinnung zu pflegen. Zudem wird gegenüber Expertenwissen oft eine kritische, teilweise sogar besserwisserische Haltung eingenommen, selbst wenn man keine nennenswerte Bildung vorweisen kann. Auch diesbezüglich ist eine Trendumkehr erforderlich. Es braucht möglichst viele Leader, die wissen, wovon sie reden, und bereit sind, die wirklichen Probleme anzupacken. Unter einer Leader-Persönlichkeit werden in diesem Buch grundsätzlich gefestigte, charakterfeste sowie initiative Problemlöser und Problemlöserinnen verstanden. Diese Menschen bringen nicht nur die Wirtschaft voran, sondern sind auch ein Bollwerk gegen irgendwelche totalitären Entwicklungen. Diese treten eher auf, wenn es zu vielen Menschen an Orientierung mangelt. Eine reife Person braucht keine Führung durch jemand anderen, sie führt sich weitgehend selbst. Gefragt ist eher eine Vision und allenfalls eine konstruktive Begleitung beim Entwicklungsprozess. Die Kernaussage dieses Buchs ist, dass die Welt für ein langfristiges Überleben vor allem eines braucht: mehr gutes Leadership und fähige Führungskräfte sowie reife Personen auf allen Ebenen und in allen Bereichen – sprich New Leadership. Konkret bedeutet dies: integre und integrative Politiker, verantwortungswusste Wählende, nachhaltig wirtschaftende Unternehmensführende sowie selbstverantwortliche Mitarbeitende und Bürger. Kurz: Statt Führer und Lautsprecher braucht es reife, integrative Machertypen. Das hier vertretene Verständnis von New Leadership bezieht sich auf die Gesamtheit aller Menschen und bedeutet, dass alle etwas dazu beitragen können. Dabei wird jede Person, die sich durch ein bestimmtes Bündel an Eigenschaften und Verhaltensweisen auszeichnet, als Leader-Persönlichkeit betrachtet. Eine Führungskraft ist dagegen eine ­Leader-­Persönlichkeit, die tatsächlich irgendwelche Führungsaufgaben wahrnimmt. Konkret beinhaltet eine grundlegende Verbesserung der Führungsqualität in Politik und Wirtschaft die folgenden Elemente: 1. Mehr geeignete Personen in Top-Funktionen, 2. eine professionellere Auswahl von Führungskräften und eine entsprechende Aufklärung der Wählenden sowie 3. ein gesamtgesellschaftlicher Reifeprozess zur Überwindung von Nar-

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Einführung

zissmus und Ideologien und zur Stärkung eines Gemeinsinns auf der Basis geteilter Werte (z.  B.  Freiheit, Mitbestimmung und Chancengleichheit). Es braucht mehr Leader-­ Persönlichkeiten und weniger Narzissten, Opportunisten und Follower-Typen. New Leader zeichnen sich neben einer reifen Persönlichkeit und einem klaren Werteprofil vor allem durch ein zumindest angemessenes Führungspotenzial sowie ein modernes Führungsverhalten aus. Worin dieses besteht und wie man es erkennt, wird ebenfalls detailliert aufgezeigt. Dieses Buch vernetzt diverse aktuelle Konzepte aus der Management-Literatur und empirische Erkenntnisse aus der Führungsforschung mit meinen langjährigen konkreten Erfahrungen bei der Auswahl von Führungskräften im Rahmen von Assessments sowohl für die Privatwirtschaft als auch die Verwaltung. Die theoretischen Erkenntnisse bilden einen Orientierungsrahmen und bieten einen Überblick über die relevanten Kompetenzen. Für die Beurteilung des Einzelfalls sind dagegen vor allem die konkreten Beobachtungen bedeutsam. So liefert etwa der empirische Befund, dass bei der Einflussnahme ein mittleres Maß an Dominanz am meisten Erfolg verspricht, keine Hinweise hinsichtlich der Umsetzung. Welche Strategien funktionieren und welche nicht, lässt sich vor allem in professionell durchgeführten Rollenspielen beobachten. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Beobachtung tausender interaktiver Übungen bilden den Schwerpunkt und den Mehrwert dieses Buchs. Dabei wird auf die Anwendung in der Praxis besonders Wert gelegt. Der Beruf des Management-Diagnostikers bietet einem nicht nur die Gelegenheit, das Verhalten unterschiedlichster Personen aus verschiedensten Branchen zu beobachten, um den Unternehmen zu helfen, kostspielige Fehlbesetzungen zu vermeiden, sondern hat auch einen höheren Zweck. Als Assessment-Spezialist kann ich dazu beitragen, ungeeignete und potenziell schädliche Personen von den Schaltheben der Macht fernzuhalten. Das auf einer 20-jährigen Erfahrung basierende Wissen zu teilen, trägt hoffentlich dazu bei, dass auch außerhalb professioneller Beurteilungssettings vermehrt die richtigen Personen ausgewählt werden und mehr fähige Menschen danach streben, als Leader die Verantwortung für wichtige Ämter oder Aufgaben zu übernehmen. Im Teil I des Buchs stehen die Persönlichkeit sowie die Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-Persönlichkeiten im Mittelpunkt, wobei die entsprechenden Überlegungen für Politik und Wirtschaft gleichermaßen Gültigkeit besitzen, obwohl sich die notwendigen Kompetenzen teilweise unterscheiden. Kap. 2 beschäftigt sich mit toxischen und schädlichen Persönlichkeitsmerkmalen, die bei Führungskräften unerwünscht sind und teilweise im Grunde ein „No-Go“ für hoch angesiedelte Funktionen darstellen. Gute Leader zeichnen sich nicht zuletzt durch das Einhalten der ethischen Maßstäbe und das Vorhandensein verhaltensbestimmender Werte aus. Ethik, Werte und Prinzipien stehen im Kap. 3 im Mittelpunkt. Einen großen Raum nehmen die Kompetenzen und Fähigkeiten von Leadern ein. Die entsprechende Zusammenstellung umfasst verschiedene Konzepte aus der Literatur, diverse praktische Kompetenzmodelle und Erfahrungen aus der Praxis. Der in Kap. 4 dargestellte Katalog wünschenswerter Kompetenzen und Fähigkeiten ist primär auf Vollständigkeit bedacht, während konzeptionell ein pragmatischer Zugang gewählt wird. Dieses Kapitel ist sehr umfassend und kann auch übersprungen oder selektiv konsultiert werden,

Einführung

XIII

da die wichtigsten Erkenntnisse im Kap. 5 zusammengefasst werden. Den Abschluss des I. Teils bildet also eine Übersicht über die Persönlichkeit und die Kompetenzen eines New Leaders. In Teil II stehen die Aufgaben und das Verhalten von modernen Führungskräften in der Wirtschaft im Mittelpunkt. In Kap. 6 werden der grundlegende Wandel im Verständnis von Führung sowie die wichtigsten aktuellen Trends dargestellt. Kap.  7 beschäftigt sich mit den Führungsaufgaben und den dazu passenden zusätzlichen Kompetenzen, während Kap. 8 eine Übersicht über die wichtigsten Theorien bezüglich Führungsstil und Leadership bietet. Kap. 9 fasst alle diese Angaben in einem Verhaltensprofil von New Leadern zusammen. Zusätzlich wird ein Entwicklungsprozess zum Servant Leader dargestellt. Dieser Ansatz stellt hier das erstrebenswerte Ideal von Leadership dar. Den Abschluss bilden einige weiterführende Überlegungen im Rahmen eines Fazits. Das Buch ist prinzipiell genderneutral verfasst. Bei englischen Begriffen wie Leader sind beide Geschlechter gemeint. Grundsätzlich wird das Geschlecht als keine zentrale Kategorie verstanden, der Fokus liegt vielmehr auf der Persönlichkeit und den Kompetenzen, das heißt Aspekte wie Geschlecht, Ethnie o. Ä. sind zweitrangig. Grundsätzlich stehen bei der Einleitung und der Zusammenfassung sowie den Kap. 2, 3 und 5 der normative Charakter und der Zweck des Buchs, nämlich die Förderung von New Leadership, im Zentrum. Sie richten sich an ein breites Publikum. Kap. 4 dient hauptsächlich als wissenschaftliche Grundlage des in Kap.  5 dargestellten Modells einer New-Leader-Persönlichkeit. Es richtet sich eher an ein Fachpublikum. Teil II ist hauptsächlich für Praktiker in der Privatwirtschaft gedacht. Aus theoretischen Konzepten und praktischen Erfahrungen wird das in Kap. 9 aufgeführte integrierte Konzept von New Leadership hergeleitet. In der Einführung dominieren kritische Überlegungen, weil angenommen wird, dass sich die Welt gerade in einer gravierenden allgemeinen Führungskrise befindet. Angesichts zu vieler ungelöster Probleme und zu vieler ungeeigneter Führungspersonen besteht eine große Dringlichkeit, etwas zu verändern. Gewissermaßen als Gegengewicht soll das nachstehende positive Extrembeispiel aufzeigen, was bei wirklich gutem Leadership möglich ist: Ein Ehepaar (Özlem Türeci und Uğur Şahin) hatte in der deutschen Provinz eine kleine Biotech-Firma im Bereich der Krebsforschung aufgebaut (BioNTech). Nach unspektakulärem Beginn kam der 24.  Januar 2020, der alles veränderte. An diesem Tag lasen die beiden in einer Fachzeitschrift einen Bericht über die ersten Covid-Toten in China. Sie erkannten sofort die weltweite Gefahr und beschlossen umgehend, die Krebsforschung vorübergehend einzustellen, um stattdessen einen Impfstoff für Covid zu produzieren. Dass sie von Viren keine große Ahnung hatten und dass BioNTech bis zu jener Zeit nicht einen einzigen Impfstoff auf den Markt gebracht hatte, konnte sie nicht von ihrer großen Mission abhalten. Geboren war das Projekt „Lightspeed“, das seinem Namen alle Ehre machen sollte. Schon am nächsten Tag waren Aufsichtsrat und Vorstand über den Richtungswechsel informiert und ins Boot geholt. Anschließend arbeitete die gesamte Belegschaft Tag und Nacht und trotzte allen Einschränkungen durch strikte Covid-Maßnahmen und Lieferengpässe. Normalerweise dauert die Entwicklung eines Impfstoffs 5–10 Jahre und kostet 1–2 Mrd. Dollar. BioNTech hatte zu Beginn 300 Millionen Euro und 1 Jahr

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Einführung

Zeit. Bereits nach 2 Monaten hatte man zusätzliche Investoren gefunden und einen globalen Pharmakonzern (Pfizer) für eine weitreichende Zusammenarbeit gewonnen. Im Sommer war eine Produktionsstätte übernommen und im November nicht nur eine riesige klinische Studie mit großem Erfolg abgeschlossen, sondern auch ein Vertrag mit der Europäischen Union unterzeichnet. Bereits vor Jahresende erhielt man als erste Firma überhaupt Notzulassungen in den USA und in Europa und konnte mit der Auslieferung des Impfstoffs beginnen. Der verdiente Lohn für diese unfassbare Leistung war unter anderem auch ein Milliardengewinn für das mutige Unternehmerpaar (Miller et al., 2021).

Literatur Miller, J., Sahin, U., & Türeci, Ö. (2021). Projekt Ligthspeed. Der Weg zum BioNTech-Impfstoff – und zu einer Me-dizin von morgen. Rowohlt Buch verlag. Taleb, N. N. (2018). Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Pantheon.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung und Auslegeordnung�����������������������������������������������������������������������    1 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������    7 Teil I  Persönlichkeit und Kompetenzen von Leadern 2 Toxische  und kritische Persönlichkeitseigenschaften ������������������������������������   11 2.1 Dunkle Triade der Persönlichkeit����������������������������������������������������������������   12 2.1.1 Psychopathie ����������������������������������������������������������������������������������   12 2.1.2 Narzissmus��������������������������������������������������������������������������������������   15 2.1.3 Machiavellismus ����������������������������������������������������������������������������   17 2.2 Weitere kritische Eigenschaften������������������������������������������������������������������   21 2.3 Erkennen von problematischen Leader-Figuren ����������������������������������������   27 2.3.1 Professionelle Personenbeurteilung������������������������������������������������   29 2.3.2 Schein und Sein bei Führungsstärke ����������������������������������������������   33 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   41 3 Ethik  und Werte als Merkmal echter Leader ������������������������������������������������   43 3.1 Nachhaltigkeit ��������������������������������������������������������������������������������������������   43 3.2 Corporate Governance und organisationale Fairness����������������������������������   46 3.3 Ethik und ethische Führung������������������������������������������������������������������������   47 3.4 Werte und Prinzipien����������������������������������������������������������������������������������   50 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   54 4 Kompetenzen  und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten ����������������������   57 4.1 Fach- und Methodenkompetenz������������������������������������������������������������������   59 4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung����������������������������������������   61 4.2.1 Lernbereitschaft und -vermögen ����������������������������������������������������   62 4.2.2 Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung ������������������������������������   65 4.2.3 Motivationsorientierte Selbstkenntnis und Warum ������������������������   73 4.2.4 Selbstkompetenz und zentrale Selbstbewertungen ������������������������   81 4.2.5 Emotionale Stabilität, Ausgeglichenheit und Gelassenheit������������   86

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Inhaltsverzeichnis

4.2.6 Resilienz und Belastbarkeit������������������������������������������������������������   88 4.2.7 Frustrationstoleranz und Umgang mit Fehlern ������������������������������   92 4.2.8 Umgang mit Unsicherheit ��������������������������������������������������������������   93 4.3 Leistungsvermögen und operative Fähigkeiten������������������������������������������   96 4.3.1 Zielsetzungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft����������������������������   96 4.3.2 Umsetzungsstärke und Tatkraft������������������������������������������������������   99 4.3.3 Effektivität und Effizienz����������������������������������������������������������������  101 4.3.4 Verantwortungsübernahme und Eigeninitiative������������������������������  103 4.4 Emotionale Intelligenz und emotionale Kompetenz����������������������������������  106 4.4.1 Emotionen im Berufsalltag ������������������������������������������������������������  107 4.4.2 Emotionale Selbstführung��������������������������������������������������������������  110 4.4.3 Emotionale Kompetenzen als Bindeglied ��������������������������������������  111 4.5 Soziale Kompetenzen����������������������������������������������������������������������������������  112 4.5.1 Perspektivenübernahme������������������������������������������������������������������  114 4.5.2 Wertepluralismus und „Open-Mindedness“�����������������������������������  115 4.5.3 Altruismus und Hilfsbereitschaft����������������������������������������������������  117 4.5.4 Durchsetzungsfähigkeit und Zuhören ��������������������������������������������  121 4.5.5 Kontaktverhalten und Networking��������������������������������������������������  122 4.5.6 Konfliktfähigkeit ����������������������������������������������������������������������������  124 4.5.7 Kritik- und Feedback-Fähigkeit������������������������������������������������������  131 4.5.8 Vertrauensfähigkeit und -bereitschaft ��������������������������������������������  133 4.5.9 Allgemeine Kommunikationsfähigkeit ������������������������������������������  135 4.5.10 Gesprächsführung und Verhandlungsgeschick ������������������������������  138 4.5.11 Spezifische kommunikative Fähigkeiten����������������������������������������  142 4.5.12 Teamarbeit und Kooperationsfähigkeit ������������������������������������������  150 4.5.13 Inklusion und Umgang mit Diversität��������������������������������������������  156 4.5.14 Interkulturelle Kompetenz��������������������������������������������������������������  159 4.6 Intellektuelle Fähigkeiten����������������������������������������������������������������������������  164 4.6.1 Allgemeine Intelligenz��������������������������������������������������������������������  164 4.6.2 Spezifische intellektuelle Fähigkeiten in Praxis ����������������������������  166 4.6.3 Kreativität ��������������������������������������������������������������������������������������  174 4.6.4 Problemlösungskompetenz ������������������������������������������������������������  179 4.6.5 Projektmanagement������������������������������������������������������������������������  182 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  184 5 Zusammenfassendes  Persönlichkeits- und Kompetenzprofil������������������������  191 5.1 Persönlichkeitsprofil ����������������������������������������������������������������������������������  191 5.2 Kompetenzprofil������������������������������������������������������������������������������������������  197 5.3 Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit������������������������������������������������������  205 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  208

Inhaltsverzeichnis

XVII

Teil II  Führung in der Unternehmenspraxis 6 Führung im Wandel ������������������������������������������������������������������������������������������  211 6.1 Globalisierung und Führung ����������������������������������������������������������������������  218 6.2 Digitalisierung und Führung ����������������������������������������������������������������������  221 6.3 Agiler Wandel und Führung������������������������������������������������������������������������  223 6.4 Ambidextrie (beidhändige Führung)����������������������������������������������������������  226 6.5 Selbstorganisation und Führung�����������������������������������������������������������������  227 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  234 7 Führungsaufgaben ��������������������������������������������������������������������������������������������  237 7.1 Strategische Aufgaben��������������������������������������������������������������������������������  240 7.2 Führungstechnik������������������������������������������������������������������������������������������  257 7.3 Transformative Aufgaben (Leadership)������������������������������������������������������  261 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  269 8 Führungsverhalten und Führungsstile������������������������������������������������������������  273 8.1 Klassische Taxonomien von Führungsstilen����������������������������������������������  273 8.2 Aufgaben- versus Beziehungsorientierung ������������������������������������������������  277 8.3 Situative Führung����������������������������������������������������������������������������������������  278 8.4 Transaktionale und transformationale Führung������������������������������������������  279 8.5 Aktuelle Leadership-Ansätze����������������������������������������������������������������������  282 8.5.1 Servant Leadership��������������������������������������������������������������������������  283 8.5.2 Authentische Führung (Authentic Leadership)������������������������������  284 8.5.3 Empowering Leadership/Super-Leadership������������������������������������  285 8.5.4 Respektvolle Führung ��������������������������������������������������������������������  287 8.5.5 Neuroleadership������������������������������������������������������������������������������  289 8.5.6 Positive Leadership ������������������������������������������������������������������������  291 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  292 9 New Leadership��������������������������������������������������������������������������������������������������  295 9.1 Verhalten von New Leadern������������������������������������������������������������������������  295 9.2 Entwicklung zum New Leader��������������������������������������������������������������������  299 10 Zusammenfassung und Fazit����������������������������������������������������������������������������  303

Abbildungsverzeichnis

Abb. 4.1 Ikigai. (Quelle: eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������  77 Abb. 4.2 Zusammenfassende Darstellung globale Führungskompetenz nach Deller & Osland (2013)������������������������������������������������������������������������ 163 Abb. 5.1 Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit�������������������������������������������������������� 205 Abb. 7.1 Sinn-Matrix nach Rose (2020), eigene Darstellung������������������������������������� 262 Abb. 7.2 Verantwortlichkeit und psychologische Sicherheit. (Hoffmann & Hanisch, 2021) ���������������������������������������������������������������������� 267 Abb. 8.1 Full-Range-of-Leadership-Modell nach Avolio und Bass (1991)���������������� 281 Abb. 9.1 Entwicklung zum New Leader��������������������������������������������������������������������� 300

XIX

Tabellenverzeichnis

Tab. 1.1 (Un)erwünschte Eigenschaften von Führungskräften gemäß GLOBE-Studie. (House et al., 2004)������������������������������������������������������������   4 Tab. 1.2 Zusammenstellung der Facetten der Big Five nach Ostendorf & Angleitner (2004)������������������������������������������������������������������������������������������   6 Tab. 2.1 Manipulationstechniken nach Externbrink und Keil (2018)������������������������  18 Tab. 3.1 ESG-Kriterien nach ESG-Handbuch der DWS. (Wöhrmann, 2019)������������  46 Tab. 4.1 Auszug Vergleich kreative und innovative Person nach Guldin (2012)�������� 178 Tab. 6.1 Führungskompetenzen im digitalen Zeitalter, nach IFIDZ-Metastudie (2019)������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 223 Tab. 7.1 Managerial Performance Requirements nach Borman und Brush (1993) ������������������������������������������������������������������������������������������������ 238 Tab. 7.2 Aufgaben von Führungskräften, eigene Darstellung������������������������������������ 239 Tab. 8.1 Dimensionen von Empowering Leadership nach Furtner (2017)���������������� 286 Tab. 8.2 Aspekte, die Grundbedürfnisse befriedigen, nach Hoffmann (2019) ���������� 290

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Einleitung und Auslegeordnung

Was haben Jack Welch, Mao, Gandhi und Steve Jobs gemeinsam? Es handelt sich um Personen, denen eine fast mystische Eigenschaft, nämlich Charisma, zugeschrieben wird. Damit gemeint ist eine persönliche Wirkung, mit der als charismatisch wahrgenommene Personen andere Menschen für sich und ihre Ideen gewinnen können. Zweifellos handelt es sich dabei um diejenige Eigenschaft, an die Laien als Erstes denken, wenn sie eine typische Eigenschaft speziell erfolgreicher Führungspersonen nennen sollen. Charisma gehört zu denjenigen Eigenschaften, die überall auf der Welt positiv bewertet werden und als Zeichen für Führungsstärke gelten. Bis zu einem gewissen Grad gilt dasselbe auch für die Forschung (charismatische Führung oder Teil der transformationalen Führung). Dabei ist zu beachten, dass es sich bei Charisma weniger um eine natürliche Eigenschaft als eine Zuschreibung durch andere Personen handelt. Dies kann auch nachträglich geschehen. So ist etwa kaum zu erwarten, dass Hitler von irgendjemandem als charismatisch eingeschätzt worden wäre, wenn er ein gescheiterter Kunstmaler geblieben wäre. Entgegen der sehr positiven Konnotation des Begriffs sind die von charismatischen Leadern in der Politik und Wirtschaft hinterlassenen Wirkungen keinesfalls immer positiv. Besonders einfach lässt sich der zwiespältige Charakter von Charisma an den politischen Führungspersonen der Vergangenheit aufzeigen. Während Mahatma Gandhi Indien ohne größere kriegerische Auseinandersetzungen in die Unabhängigkeit führte, taten sich andere „Charismatiker“ vor allem durch Zerstörung oder Massenmord hervor (z. B. Hitler, Stalin, Mao). Eine gesunde Skepsis gegenüber vermeintlichen Charismatikern ist also angebracht. Charismatisch erscheinende Personen finden sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Einige haben die Welt mit nützlichen Produkten und guten Ideen vorangebracht (z. B. Elon Musk, Steve Jobs), andere vor allem Schaden angerichtet oder einen Scherbenhaufen hinterlassen (z. B. Bernie Madoff). Für charismatische Wirtschaftsführer ist typisch, dass sie die Entscheidungsmacht auf sich konzentrieren und das Außenbild der Firma repräsentieren, jedoch wenig einbeziehend agieren. Dennoch schaffen sie es

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_1

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1  Einleitung und Auslegeordnung

z­ umindest kurzzeitig, dass sich die Mitarbeitenden stark mit dem Produkt oder der Firma identifizieren. Bei einem Patron alter Schule können die Mitarbeitenden zudem unter Umständen viel persönliche Zuwendung erfahren. Der charismatische Führungsstil ist eine Form von transformationaler Führung, weil es die entsprechenden Personen schaffen, andere zu glühenden Verehrerinnen zu machen und insofern zu transformieren. Gemäß ­Finckler (2016) zeichnen sich charismatische Persönlichkeiten durch die folgenden Eigenschaften und Merkmale aus: (1) kommunikative Kompetenzen, (2) klare Vision, (3) großes Selbstvertrauen, (4) Ansprechen von Emotionen, (5) symbolisches Verhalten und (6) hohe Erwartungen an die Anhänger. Auf diese Aspekte wird später eingegangen, wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass es sich um ein zweischneidiges Schwert handelt. Wenn Charisma nicht mit einer integren, prinzipiengeleiteten Grundhaltung gepaart ist, ist es eine potenziell schädliche Eigenschaft. So zeichnen sich etwa gewiefte Betrüger oft durch eine starke Ausstrahlung aus. Mit Charme und rosigen Versprechungen gelingt es diesen, andere Menschen in den Bann zu ziehen und etwaige Bedenken immer wieder zu zerstreuen. Die spektakuläre Geschichte des Hochstaplers und „falschen Piloten“ Frank William Abagnale Jr. wurde sogar verfilmt („Catch me if you can“). Ausstrahlung ist fraglos die schillerndste, aber keineswegs die einzige Persönlichkeitseigenschaft, die mit Führungsstärke assoziiert wird oder den Erfolg einer Führungskraft mitbestimmt. Die Forschung beschäftigt sich seit Langem mit diesem Thema, wobei im Rahmen der sogenannten „Great Man Theory“ (Carlyle, 1841) zunächst davon ausgegangen wurde, dass es so etwas wie natürliche Leader gibt respektive dass die typischen Führungseigenschaften angeboren sind. Heute wird mehrheitlich postuliert, dass sich nicht nur Management- und Leadership-Fähigkeiten, sondern bis zu einem gewissen Grad auch Persönlichkeitseigenschaften erlernen respektive entwickeln lassen. Die eigenschaftstheoretische (resp. skillorientierte) Führungsforschung konzentriert sich auf die Bestimmung derjenigen Persönlichkeitsmerkmale, die den Führungserfolg erhöhen. Dieser Ansatz hat seit einigen Jahren wieder stark an Interesse gewonnen, er hat aber bereits eine lange Tradition. So veröffentlichte Stogdill (1974) schon vor bald 50 Jahren eine vielzitierte Metaanalyse zu diesem Thema. Aus dutzenden von Studien und mehreren hundert verschiedenen Eigenschaften extrahierte er die folgenden 5 Merkmalsgruppen: (1) Befähigung (u.  a. Intelligenz, Wachsamkeit, Ausdrucksfähigkeit, Originalität, Urteilskraft), (2) Leistung (u. a. Wissen, Vorbildung, bisherige Erfolge), (3) Verantwortlichkeit (Zuverlässigkeit, Selbstsicherheit, Initiative, Dominanzstreben, Ausdauer), (4) Partizipation (u. a. Kontakt- und Kooperationsverhalten, Einsatzwille, Anpassungsfähigkeit, Humor), (5) Status (u. a. soziale und wirtschaftliche Lage, Position, Popularität). Insgesamt spiegeln diese Eigenschaften ein Weltbild wider, bei dem sich eine Führungskraft wesentlich durch ihre gedanklichen Fähigkeiten und ihren Werdegang von anderen abhebt. Bemerkenswert ist die Kategorie Partizipation, die auch in ein modernes Verständ-

1  Einleitung und Auslegeordnung

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nis von gutem Leadership passt respektive dessen Kern vorwegnimmt. Bei Merkmalen wie Urteilskraft, Zuverlässigkeit, Initiative, Ausdauer und Anpassungsfähigkeit handelt es sich eher um zeitlose Stärken, die auch in Zukunft von höchster Bedeutung sind. Im Unterschied dazu wirken Themen wie Dominanzstreben und Status überholt. Grundsätzlich lässt sich bei einigen Aspekten darüber streiten, ob es sich um Persönlichkeitseigenschaften (sogenannte „Traits“) oder um Kompetenzen und Fähigkeiten handelt. Wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sich alle Eigenschaften oder Fähigkeiten erwerben oder zumindest verbessern lassen, ist das aber nicht von Bedeutung – zumindest nicht in der Praxis. Versucht man, sich einen Überblick über die aktuelle Literatur hinsichtlich erfolgsrelevanter Eigenschaften und Kompetenzen zu verschaffen, fällt zunächst die schiere Menge an populärwissenschaftlichen Publikationen auf. Eine gewisse Tradition haben Bücher ehemals erfolgreicher Leader-Persönlichkeiten aus Politik (z. B. Giuliani & Kurson, 2002) oder Wirtschaft (z. B. Jack Welch, 2005, der legendäre CEO von General Electric). Diese Ratgeber richten sich an Personen, die bewusst oder unbewusst daran glauben, dass sich deren Erfolgsrezepte eins zu eins übernehmen lassen. Dabei wird ausgeblendet, dass es sich um andere Persönlichkeiten handelt, die in anderen Zeiten und Umständen gewirkt hatten. Eine zweite Art von Managementratgebern beschäftigt sich mit der Frage, welche Eigenschaften oder Kompetenzen heute und in Zukunft besonders wichtig sind. In Buchform und vor allem in einer unüberschaubaren Zahl von Blogs werden entweder einzelne neue Skills „entdeckt“ oder verkauft oder ein Bündel vermeintlich speziell wichtiger Themen identifiziert. Wie im nachstehenden Beispiel von Johanson (2012) wird eine mehr oder weniger detaillierte Liste relevanter Schlüsseleigenschaften und -kompetenzen zusammengestellt. Der genannte Autor unterscheidet 8 überdauernde (Erkennen von Opportunitäten, physische und psychische Gesundheit, aktive Aufmerksamkeit, Antizipationsvermögen, Balance zwischen Geduld und Vorwärtsdrang, Storytelling und Zuhören, Mischung aus Mut und Bescheidenheit und Synchronität, d.  h. Sinngebung durch Erklärungen) sowie 10 künftig besonders wichtige Führungsmerkmale (kooperativer Macherinstinkt, Klarheit, Umgang mit Dilemmata und Widersprüchen, allgemeine Lernfähigkeit und -bereitschaft, „Bio-Empathie“/ökologisches Verständnis, konstruktive Depolarisierung/verbindend wirken, Transparenz, Rapid Prototyping, informelle Vernetzung und virtuelle Plattformen anbieten). Auch diese Liste enthält diverse relevante Eigenschaften. Aus persönlichkeitspsychologischer Sicht fällt auf, dass sich kein Gesamtbild ergibt und die verschiedenen Konstrukte etwas erklärungsbedürftig erscheinen und zudem unterschiedlich breit gefasst sind. So stehen Einzelaspekte (z. B. Prototyping) neben sehr breiten Themen (v. a. physische und psychische Gesundheit). Seit einigen Jahren wird auch der Mindset von Führungskräften als besonders relevant herausgestellt. In einer neueren und sehr umfassenden Studie (240 CEOs und 14.000 Mitarbeitende) hat Morgan (2020) die folgenden 4 Schlüsselkompetenzen identifiziert, wobei er diese anhand verschiedener Rollen 4  verschiedenen Mindsets und 5  Skills zuordnet: Mindset 1): Explorer: ist neugierig und anpassungsfähig, Mindset 2) Chef: hält eine ausgewogene Balance zwischen humaner Firma und technologischer Entwicklung, Mindset 3) Servant: unterstützt andere Menschen, Teams, Klienten und sich selbst, Mindset 4) Global Citizen: ist offen für neue Erfahrungen, Kulturen und Perspektiven; Skill 1) Futurist: ent-

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wickelt Zukunftsvisionen und -szenarien, Skill 2) Yoda: nutzt Empathie zum Kreieren von psychologischer Sicherheit und Kollaboration, Skill 3) Translator: effektiver Kommunikator und Zuhörer, wirkt verbindend, Skill 4) Coach: motiviert, aktiviert, inspiriert und erklärt, Skill 5) Technology Teenager: zeigt einen angstfreien und spielerischen Umgang mit Technologie. Die Rollenbezeichnungen erscheinen teilweise etwas eigenwillig, die diesen zugeordneten Fähigkeiten sind aber mehrheitlich sehr relevant und zeichnen auch einen New Leader aus. Wichtig hinsichtlich Führung ist die bereits angedeutete Unterscheidung zwischen der Zuschreibung von Führungspotenzial durch andere und den tatsächlichen Führungsfähigkeiten einer Person. Wie noch näher zu beleuchten sein wird, sind diejenigen Eigenschaften, die aus der Sicht von Laien auf Führungsstärke hinweisen und dazu beitragen, dass jemand eine Führungsrolle erhält (z. B. Auftreten, Selbstmarketing oder äußere Erscheinung), leider nicht dieselben, die einen nachhaltigen Führungserfolg versprechen. Eine Darstellung der universellen Laienvorstellungen hinsichtlich typischer Führungsmerkmale stammt aus dem weltweiten Forschungsprojekt GLOBE (Global Leader and Organizational Behaviour Effectiveness Research Programm, House et  al., 2004), das sich im weitesten Sinne mit dem Zusammenhang von Kultur und Führung beschäftigt. Den Ergebnissen dieser Studien zufolge werden die in Tab.  1.1 aufgeführten Eigenschaften mehr oder weniger überall auf der Welt als positive respektive unerwünschte Merkmale von Führungskräften betrachtet. Verschiedene dieser Eigenschaften decken sich mit dem zu entwickelnden Profil eines New Leaders, etwa die Aspekte Sicherheit vermitteln, nach Exzellenz streben und Ermutigen. Grundsätzlich fällt die hohe Zahl an Werten und Prinzipien auf. Themen wie Vertrauenswürdigkeit, Fairness, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit werden weltweit geschätzt und sind in hohem Maße typisch für nachhaltig erfolgreiche Leader-Persönlichkeiten. Der bekannte Managementvordenker Jim Collins (2001) ging der Frage nach, welche Führungsmerkmale mit nachhaltigem wirtschaftlichem Unternehmenserfolg einhergehen. Im Rahmen von Längsschnittstudien und Spitzenleistungen bei der langfristigen Unternehmensperformance als Kriterium für Führungserfolg fand er heraus, dass das Top-­ Tab. 1.1  (Un)erwünschte Eigenschaften von Führungskräften gemäß GLOBE-Studie. (House et al., 2004) Erwünschte Eigenschaften Vertrauenswürdig Weitsichtig/vorausschauend Optimistisch/positiv Sicherheit vermittelnd Intelligent Win-win-orientiert Streben nach Exzellenz Gerecht/fair Dynamisch

Motivierend Entschlossen Kommunikativ geschickt Ehrlich Ermutigend Verlässlich Verhandlungsstark Informiert Teamorientiert

Unerwünschte Eigenschaften Einzelkämpferisch Impulsiv Unbarmherzig Asozial Unklar Diktatorisch Unkooperativ Egoistisch

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Management-­Team langfristig erfolgreicher Unternehmen typischerweise aus Personen besteht, die sich durch die sogenannte „Level-5-Führungskompetenz“ auszeichnen. Dieser Merkmalskomplex umfasst die Eigenschaften Bescheidenheit, Entschlussstärke, Zurückhaltung, Härte im Sinne von Konsequenz sowie das Fehlen von persönlichen Starallüren. Aus der Sicht seiner Studienergebnisse ist also eine Kombination aus persönlich zurückhaltender Grundhaltung und Entschlossenheit und Konsequenz bei der Verfolgung der avisierten Ziele nachhaltig erfolgsentscheidend. Statt primär eigene Ziele zu verfolgen, nehmen „Level-5-Manager“ ihr Ego zurück und stellen sich in den Dienst der Sache, wobei sie über einen gewissen Zeitraum ihrer Strategie treu bleiben (statt strategisches Hü und Hott zu betreiben). Außerdem orientieren sie sich gern an überprüfbaren Daten und Fakten und nicht an ideologischen Meinungen und machen nicht jede Mode mit. Dabei stellt er das Führungspersonal insofern über die Strategie, als er postuliert, dass sich vor der Strategiefindung zuerst ein geeignetes Team zusammenfinden muss. Augenfällig ist der Unterschied zur Laienvorstellung, wonach es sich bei den herausragenden Führungskräften um Charismatiker oder Haudegen handelt. Nachhaltig Erfolg versprechend ist aus der Sicht von Collins eher genau das Gegenteil. In der empirischen Forschung steht ansonsten der individuelle Führungserfolg im Zentrum, wobei als Kriterien besonders häufig die Leistung und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden herangezogen werden. Es existiert eine Vielzahl von Fragebogen zur Erfassung der Führungskompetenzen und verschiedener Führungsstile (z. B. MLQ, Bass & Avolio, 2000), aber kein Instrument, das sich universell durchgesetzt hat und das gesamte Spek­ trum an Eigenschaften und Verhaltensweisen umfasst. Dies im Unterschied zur Erfassung der menschlichen Persönlichkeit im Allgemeinen. Diesbezüglich nimmt in der Forschung das sogenannte „Big Five-“- respektive OCEAN-­ Persönlichkeitsmodell (Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism) eine überragende Stellung ein (NEO-FFI und NEO PI-R, Costa & McCrae, 1985 bzw. 1992). Die Big Five sind 5 breite Eigenschaften, die sich in unterschiedlichen Kulturen und Sprachräumen nachweisen lassen. Entstanden ist es auf der Basis des sogenannten lexikalischen Ansatzes, bei dem Hunderte Adjektive aus Wörterbüchern zusammengestellt und mittels faktorenanalytischer Methoden auf eine überschaubare Zahl von Oberdimensionen zusammengefasst werden. Die auf diese Art extrahierten Big Five heißen im deutschen Sprachraum 1) Neurotizismus (emotionale Instabilität), 2) Extraversion, 3) Offenheit für Erfahrung, 4)  Verträglichkeit und 5)  Gewissenhaftigkeit. Dieses übergeordnete 5-Faktoren-Konzept wurde mittlerweile in Tausenden Forschungsprojekten erfolgreich eingesetzt. Auf der individualdiagnostischen Ebene steht zudem seit einigen Jahren ein differenzierteres Modell mit je 6 Subdimensionen zur Verfügung (Ostendorf & Angleitner, 2004, vgl. Tab. 1.2). Dieses eignet sich auch für die Anwendung in Assessments. In einem Gesamtmodell der Eigenschaften eines New Leaders dürfen die Big Five nicht fehlen. Zum Zusammenhang zwischen den Big Five und Führungseffektivität liegt eine Reihe von empirischen Studien vor. Gemäß Sarges (2013) ist eine beachtliche Prognosefähigkeit der Big Five als Ganzes für die Eignung als Führungskraft gegeben. Eine insgesamt deutlich positive Korrelation zwischen Führungsfähigkeiten besteht zur Dimension Gewissenhaftigkeit, und auch Extraversion hat tendenziell einen positiven Effekt. Speziell bei dieser

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1  Einleitung und Auslegeordnung

Tab. 1.2  Zusammenstellung der Facetten der Big Five nach Ostendorf & Angleitner (2004) Neurotizismus Ängstlichkeit Reizbarkeit Depression Soziale Befangenheit Impulsivität Verletzlichkeit

Extraversion Herzlichkeit Geselligkeit Durchsetzungsfähigkeit Aktivität Erlebnishunger Frohsinn

Offenheit Für Fantasie Für Ästhetik Für Gefühle Für Handlungen Für Ideen Offenheit des Wertesystems

Gewissenhaftigkeit Kompetenz Ordentlichkeit Pflichtbewusstsein Leistungsstreben Selbstdisziplin Besonnenheit

Verträglichkeit Vertrauen Freimütigkeit Altruismus Entgegenkom­ men Bescheidenheit Gutherzigkeit

Dimension wird allerdings diskutiert, ob nicht Untersuchungen zu einzelnen Facetten zielführender sind, weil es sich bei den Big Five um sehr umfassende Konstrukte handelt. Dabei steht bei Extraversion der Aspekt Durchsetzungsfähigkeit im Mittelpunkt. Erkenntnisse auf dieser Ebene zeigen, dass ein mittleres Durchsetzungsvermögen den größten Erfolg verspricht (Yukl, 2010). Wer sich gar nicht durchsetzt, erreicht die anderen Menschen nicht, wer es zu stark versucht, schreckt diese hingegen eher ab. Logisch erscheint, dass sich Neurotizismus (resp. emotionale Instabilität) tendenziell negativ auf den Führungserfolg auswirkt. Reizbare und impulsive Personen erzeugen Abwehr und eine allenfalls widerwillige Gefolgschaft, indem sie Angst verbreiten. Ängstliche, sozial unsichere und sehr verletzliche Menschen vermitteln keine Sicherheit und laufen Gefahr, nicht akzeptiert zu werden. Bei der Extraversion können es die Facetten Herzlichkeit und Geselligkeit erleichtern, Nähe herzustellen und auf diese Weise Vertrauen aufzubauen, während sich Frohsinn positiv auf die Stimmung auswirken dürfte. Eher schädlich wirken dürfte ein übersteigerter Erlebnishunger. Generell besteht bei einer hohen Ausprägung von Extraversion die Gefahr, sich zu verzetteln und einen unsteten Eindruck zu vermitteln (Piccolo Judge, 2013). Bei der Offenheitsdimension fördert die Offenheit für Gefühle ein emotional kompetentes und empathisches Verhalten, jene für Ideen das Auftreten kreativer Ansätze. Als besonders wichtig erachtet wird in diesem Buch die Facette „Offenheit des Wertesystems“. Diese stellt die Grundlage dar, um sich in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen, was als absolute Schlüsselkompetenz betrachtet wird. Bei der Gewissenhaftigkeit kann von Kompetenz, Pflichtbewusstsein und Leistungsstreben eine Vorbildwirkung ausgehen, die auf andere motivierend wirken kann. Selbstdisziplin und Besonnenheit sind eher Ausdruck einer effektiven Selbstführung. Dabei könnte etwa postuliert werden, dass Personen, die sich gut selbst führen können, eine höhere Akzeptanz genießen. Bei Verträglichkeit ist insgesamt zu erwarten, dass eine mittlere Ausprägung den größten Erfolg verspricht. Wer zu unverträglich ist, schürt zu viele Konflikte, wer zu harmonieorientiert ist, geht diesen aus dem Weg. Letzteres kann eine aggressionsgehemmte („pinke“) Kultur bewirken und Lernprozesse hemmen. Auf der Ebene der Facetten sind Bescheidenheit und Vertrauen hervorzuheben. Insbesondere das Vermögen, eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen, gehört zu den Schlüsselkompetenzen neuer Führungsansätze.

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Literatur Bass, B. M., & Avolio, B. J. (2000). MLQ Multifactor Leadership Questionnaire. Mind Garden. Carlyle, T. (1841). Heros und hero worship. Adams. Collins, J. (2001). Good to great. HarperBusiness. Costa, P. T., & McCrae, R. R. (1985). The NEO Personality Inventory. Manual Form S and Form R. Psychological Assessment Resources. Finckler, P. (2016). Transformationale Führung. Wegweiser für nachhaltigen Führungs- und Unternehmenser-folg. Springer. Giuliani, R., & Kurson, K. (2002). Leadership. Verantwortung in schwieriger Zeit. Meine Prinzipien erfolgreicher Führung. Bertelsmann. House, R. J., Hanges, P. J., Javidan, M., Dorfman, P. W., & Gupta, V. (Hrsg.). (2004). Culture, leadership, and organizations: The GLOBE study of 62 societies. Sage publications. Johanson, B. (2012). Leaders Make the Future. Ten New Leadership Skills for an Uncertain World. Berrett-Koehler. Morgan, J. (2020). The Future Leader. 9 Skills and Mindsets to Suceed in the Next Decade. Wiley. Ostendorf, F., & Angleitner, A. (2004). NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae: revidierte Fassung. Hogrefe. Piccolo, R. F., & Judge, T. A. (2013). Die positiveb und negativen Eigenschaften bei Führungspersonen. In W. Sarges (Hrsg.), Management-Diagnostik (S. 427–442). Hogrefe. Sarges, W. (2013). Management Diagnostik. In W. Sarges (Hrsg.), Managementdiagnostik (S. 23–32). Hogrefe. Stogdill, R. M. (1974). Handbook of Leadership. Free Press. Welch, J. (2005). Winning. HarperBusiness. Yukl, G. A. (2010). Leadership: Building sutainable organizations. Pearson Custom Publishing.

Teil I Persönlichkeit und Kompetenzen von Leadern

Der I. Teil des Buchs widmet sich den Eigenschaften und Kompetenzen, durch die sich geeignete Führungskräfte und Leader (nicht) auszeichnen. Erwähnt werden sowohl toxische und kritische als auch wünschenswerte Eigenschaften. Außerdem wird aufgezeigt, worauf und auf welche Weise in einem professionellen Setting (Management Diagnostik) geachtet wird. Berücksichtigt werden Erkenntnisse aus der führungspsychologischen Fachliteratur, aus der Management-Literatur ebenso wie konkrete Beobachtungen im Rahmen professioneller Assessments. Das Ziel ist ein umfassender Katalog aller führungsrelevanten Merkmale und Kompetenzen.

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Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

Einführung Lange Zeit nur eine geringe Beachtung erfuhren negative Eigenschaften von Führungs­ kräften, weil sich ein Leader in einem traditionellen Verständnis ja durch eine hohe, bei Bedarf durchaus auch autoritäre Durchsetzungsstärke auszeichnen musste. Speziell bei der Diskussion der charismatischen Führung wurde kein Unterschied zwischen unethi­ schen, oft schädlichen und positiven Praktiken und Zielsetzungen gemacht. Im Zentrum der aktuellen Debatte steht die erstmals von Paulhus & Williams (2002) beschriebene „dunkle Triade der Persönlichkeit“, die die Aspekte Psychopathie, Narzissmus und Machi­ avellismus umfasst. Für das Thema Leadership sind diese Eigenschaften von besonderer Bedeutung, weil sich gerade Narzissten und Psychopathen oft durch eine charismatische Wirkung auszeichnen und unter Umständen viel Einfluss nehmen können. Weitere charak­ teristische Eigenschaften wie starkes Selbstvertrauen, oberflächlicher Charme, Furchtlo­ sigkeit und Risikobereitschaft wirken sich zudem bis heute in vielen Unternehmen oder Staatsgebilden vorteilhaft auf die Karrierechancen aus. Aus normativer Sicht ist diesbe­ züglich definitiv ein Umdenken angezeigt. Nicht jede Person, die auf den ersten Blick ver­ meintliche Leadership-Qualitäten zeigt, ist tatsächlich geeignet, eine Führungsrolle zu be­ kleiden. Die nachstehend diskutierten Persönlichkeitseigenschaften können bei stärkeren Ausprägungen oder kombiniert unter Umständen desaströse Auswirkungen zeitigen. In Zukunft muss es darum gehen, zumindest die extremeren Vertreter der dunklen Triade von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. Sie repräsentieren ein veraltetes Verständnis von Leadership und richten in aller Regel vor allem langfristig mehr Schaden an als sie nutzen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_2

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

2.1 Dunkle Triade der Persönlichkeit 2.1.1 Psychopathie Besonders im Zentrum des Interesses stehen die Psychopathen, weil die schlimmsten Ver­ brecher, Despoten und Serienkiller sich mehrheitlich aus dieser Gruppe rekrutieren. Schät­ zungen gehen davon aus, dass circa 1–2 % der Menschen als klinische Psychopathen gel­ ten müssen (Dutton, 2012), während 5–15 % der Gesamtbevölkerung mildere (d. h. „sub­ klinische“) psychopathische Züge aufweisen. Diese Personen werden zwar in der Regel nicht kriminell, sind aber ebenfalls keine angenehmen Zeitgenossen, sondern richten eher subtil Unheil an. Im Unterschied zu Narzissmus und Machiavellismus spielen bei der Psy­ chopathie genetische Faktoren eine entscheidende Rolle. Es bestehen ­physiologische Ab­ weichungen, die sich mit bildgebenden Verfahren nachweisen lassen. Werden Versuchs­ personen etwa mit potenziell furchterregenden Reizen konfrontiert (z.  B. verstörendes Bildmaterial), zeigen Psychopathen eine viel geringe Hirnaktivität als „normale“ Men­ schen. In einem Experiment konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass „normale“ Menschen in Erwartung eines durch einen Countdown eingeleiteten Stressauslösers (lau­ tes Geräusch mit Blitzlicht) bereits im Voraus körperliche Reaktionen zeigen; bei den Psy­ chopathen passiert dagegen nichts (Kehse, 2020). Unterfunktionen im limbischen System sorgen dafür, dass sie weder Furcht noch Empathie oder Reue empfinden können. So sind sie etwa fähig, schlimmste Verbrechen völlig emotionslos zu begehen und zu schildern. Wenn das stammesgeschichtlich jüngere Zentrum zur Impulskontrolle (im präfrontalen Cortex) normal funktioniert, können sie gleichzeitig sehr überlegt, berechnend und plane­ risch vorgehen. Bei auffallend unbeherrschten, impulsiven Menschen ist vor allem dieses eher vernunftgesteuerte Kontrollzentrum weniger funktionstüchtig. Solche Personen las­ sen sich vor allem von ihren aktuellen Bedürfnissen leiten und wären beispielsweise kaum fähig, ein kompliziertes Wirtschaftsdelikt langfristig zu planen. Wichtig ist, dass Psycho­ pathen keineswegs zwingend kriminell werden müssen, sondern unauffällig in der Gesell­ schaft agieren können. Klar scheint jedoch, dass traumatische Erfahrungen in der Kindheit schwerwiegend abweichendes Verhalten begünstigen können, sofern die entsprechende Veranlagung vorhanden ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass nur Psychopathen krimi­ nell werden, obwohl deren Zahl in den Gefängnissen sehr hoch ist (ca. 30 %, Birbaumer, 2015). Das bekannteste Instrument zur Feststellung von Psychopathie ist die Psychopa­ thie-Skala von Robert Hare (2003), dem international bekanntesten Psychopathieforscher. Es umfasst insgesamt 20 Charakteristika, unter anderem folgende: • • • • • • •

oberflächlicher Charme (oft sprachgewandter Blender), grandiose Selbstüberzeugung/erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl, Erlebnishunger/Suche nach dem Kick, pathologisches Lügen und manipulatives Verhalten, Fehlen von Reue und Schuldgefühlen, oberflächliche Affekte und Fehlen von Empathie, Verantwortungslosigkeit und parasitärer Lebensstil.

2.1 Dunkle Triade der Persönlichkeit

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Ein weiteres Instrument, das Persönlichkeits-Inventar (PPI-R, Alpers & Eisenbarth, 2008) erfasst 7 Subskalen, die sich zu 2 Faktoren der Psychopathie zusammenfassen lassen. Fak­ tor 1 „Furchtlose Dominanz“ beinhaltet die Skalen 1) Sozialer Einfluss, 2) Stressimmunität und 3) „Furchtlosigkeit“. Faktor-2 „Impulsive Antisozialität“ umfasst die Skalen 4) Sorg­ lose Planlosigkeit, 5) Rebellische Risikofreude, 6) Machiavellistischer Egoismus und 7) Schuldexternalisierung. Gemäß Dudeck (2018) korreliert Furchtlose Dominanz positiv mit akademischer Leistung, sozialem Einfluss, Anpassungsfähigkeit und Wohlbefinden, wäh­ rend Stress und negative Emotionen selten auftreten und keine auffallende Aggression nach sich ziehen. Faktor 2, Impulsive Antisozialität, korreliert hingegen positiv mit kriminellem und aggressivem Verhalten, Stresserleben und negativen Emotionen, während Wohlbefin­ den und akademische Leistung schwächer ausfallen. Prototypisch gesehen, fallen Serien­ killer typischerweise unter Typ  2, gewiefte Wirtschaftskriminelle hingegen eher unter Typ  1. Es liegt auf der Hand, dass der wesentliche Unterschied in der Impulsivität und damit in der Funktionsweise des angesprochenen Kontrollsystems im Stirnhirn besteht. Dass Psychopathen mehr oder weniger unauffällig bleiben und auf verschiedensten Ge­ bieten Karriere machen können, soll folgende Anekdote illustrieren. James Fallon (2015), ein amerikanischer Psychopathieforscher, studierte im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit diverse Scans von menschlichen Gehirnen. Als er bei einem eine besonders nied­ rige Aktivität in den genannten Hirnregionen feststellte, war er zunächst davon überzeugt, das idealtypische Gehirn eines Mörders vor sich zu sehen. Bei genauerem Hinsehen ent­ puppte sich das abgebildete Hirn allerdings als sein eigenes. In der Wirtschaft wird psy­ chopathisches Verhalten mit den gravierendsten Unternehmenszusammenbrüchen (z.  B. Enron, Worldcom, Wirecard) und Betrugsfällen in Verbindung gebracht, wobei eine Ab­ grenzung zu einem extremen boshaften Narzissmus nicht immer möglich ist. Gemäß Hof­ mann (2020) treten Psychopathen in den „Teppichetagen“ gehäuft auf (2–6 %), eben weil sie viele für den beruflichen Erfolg (vermeintlich) wichtige Eigenschaften aufweisen. Her­ vorzuheben ist unter anderem die erhöhte Risikobereitschaft, die nicht nur für den proto­ typischen Investmentbanker, sondern auch für viele speziell erfolgreiche Unternehmer ty­ pisch ist. Besonders schillernde Vertreter dieser Kategorie von Unternehmern sind etwa Elon Musk (SpaceX, Tesla) oder Steve Jobs, einer der Mitbegründer von Apple. Letzterer war für seine geringe soziale Verträglichkeit berüchtigt, weshalb er sogar zeitweilig seine eigene Firma verlassen musste. Neben seinen Tobsuchtsanfällen und seiner Pedanterie wurde ihm vor allem ein extremes Kontrollbedürfnis nachgesagt (Isaacson, 2015). Es ist anzunehmen, dass diese Eigenschaft nicht nur sein Sozialverhalten bestimmte, sondern auch sein strategisches Bestreben, ein möglichst in sich geschlossenes und abgeschottetes Apple-System aufzubauen. Insgesamt wies Jobs verschiedene eher toxisch erscheinende Persönlichkeitszüge auf. Gleichzeitig wurde ihm aufgrund seiner Außenwirkung stets ein überragendes Charisma attestiert. Etwaige Kritik verblasste hinter den von ihm eingeführ­ ten Innovationen (iPhone, iPod etc.) und seinem bemerkenswerten Selbstmarketing. Zwei Negativbeispiele der jüngsten Vergangenheit sind Jan Marsalek (Wirecard) und Elizabeth Holmes (Theranos). Ersterer brachte es nie zu einem richtigen Schulabschluss,

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

schaffte es bei Wirecard aber rasch in den Vorstand (als COO). Er gilt als Hauptverant­ wortlicher für die milliardenschweren Bilanzmanipulationen, die das Unternehmen am Ende in die Insolvenz führten. Dem Zugriff der Justiz entzogen ist er heute ein „mysteriö­ ses Phantom“, dem etwa enge Verbindungen zum russischen Geheimdienst nachgesagt werden (Schmitt, 2022). Ähnlich schillernd ist Elisabeth Holmes, die über längere Zeit als weiblicher Steve Jobs abgefeiert worden war. Sie kleidete sich wie dieser und legte sogar ihre Stimme eine Oktave tiefer, um mehr Eindruck zu schinden. Der von ihr vertriebene Bluttest-Apparat „Edison“ machte sie reich und verhalf ihr zum Status einer allseits be­ gehrten Vorzeige-Unternehmerin, entpuppte sich aber als völlig unwirksam. Da ihr dies offenbar stets bekannt war, handelte es sich im Prinzip nur um einen gigantischen, milli­ ardenschweren Bluff (Carreyrou, 2018). Schaffen es psychopathische Personen an die Spitze, besteht die Gefahr, dass sich mit der Zeit eine toxische Unternehmenskultur eta­ bliert resp. eine Art psychopathische Organisation entsteht. Dies könnte etwa bei einigen Investmentbanken vor der Finanzkrise der Fall gewesen sein. Wenn sich solche Aus­ wüchse nicht wiederholen sollen, müssen psychopathische Personen von übergeordneten Führungspositionen ferngehalten werden. Im Rahmen der „Great British Psychopathy Survey“ untersuchte Dutton (2012) die Verbreitung psychopathisch veranlagter Personen in verschiedenen Berufen in Großbritannien, wobei er den öffentlich-­rechtlichen Bereich einschloss. Seinen Resultaten zufolge finden sich in den folgenden zehn Berufen die meis­ ten Psychopathen: 1. CEO (Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzende), 2. Anwälte, 3. Journalisten (TV/Radio), 4. Verkäufer, 5. Chirurgen, 6. Journalisten, 7. Polizisten, 8. Geistliche, 9. Köche, 10. Beamte. Dass sich an der Unternehmensspitze besonders viele Psychopathen tummeln, bestätigt die entsprechenden Vorurteile. Hossiep und Ringelband (2014) haben in einer Studie fest­ gestellt, dass sich die Persönlichkeit von Top-Managern generell in einigen Aspekten deut­ lich von der Normalbevölkerung unterscheidet: So sind sie insbesondere dominanter, sta­ tusorientierter, extravertierter, selbstkontrollierter, flexibler und leistungsmotivierter. Auch diese Autoren stellen fest, dass psychopathische Züge verbreitet sind und durch das Um­ feld teilweise sogar positiv bestärkt werden (v. a. Machtposition und positive Einschät­ zung bestimmter Verhaltensweisen wie Dominanz oder Risikobereitschaft). Spannend ist, dass sich die Allgemeinmediziner und das Pflegepersonal unter den (hier nicht aufgeführ­ ten) Berufen mit den wenigsten Psychopathen finden, dieser Menschentyp unter den Chi­ rurgen jedoch besonders häufig auftritt. Einerseits ist es bestimmt kein Nachteil, wenn man bei Operationen kaum durch Gefühle oder Ängste hinsichtlich der möglichen Konse­ quenzen abgelenkt wird, andererseits dürften Psychopathen auch von der Macht über Leben und Tod angezogen werden. Zu denken geben die Geistlichen, denn damit sind nicht nur die radikalsten Vertreter gemeint. Vergegenwärtigt man sich gleichzeitig, dass die Beamten unter den Top Ten sind, scheint es möglich, dass sich einige domestizierte Psychopathen bewusst besonders stark reglementierte Umfelder suchen. Weil sie selbst kaum nach eigenen moralischen Prinzipien beurteilen können, was richtig und was falsch ist, geben ihnen eventuell glasklare Regeln Halt und Orientierung. Die Assessment-Praxis zeigt, dass es solche Personen tatsächlich gibt. Ihre strikte Regelorientierung lässt sie un­ flexibel, rigide und unempathisch wirken.

2.1 Dunkle Triade der Persönlichkeit

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Im Assessment Psychopathen zu erkennen, ist nicht ganz einfach, denn nicht selten sind sie Meister der Täuschung. Die Abgründe lauern hinter einer oft sehr einnehmenden Maske. Der Einsatz spezifischer Fragebogen (z. B. TOP) oder Integritätstests ist bei heik­ len Funktionen auf jeden Fall zu empfehlen. In den Interviews ist vor allem auf Anzeichen von Selbstüberschätzung, mögliche Unwahrheiten sowie Brüche in den Erzählungen oder unvermittelt unpassende Gedanken zu achten. Es gilt aber, stets auf der Hut zu sein, denn Psychopathen erkennen oft rasch, was das Gegenüber von ihnen hören will. In geeigneten Rollenspielen und deren Diskussion stellen vor allem ein völliger Mangel an Empathie oder unethische Lösungsansätze Alarmsignale dar. Jemanden in einem Bericht offen als Psychopathen zu bezeichnen, verbietet sich übrigens aus verschiedenen Gründen und wäre auch nicht angemessen. Ob wirklich eine extreme Ausprägung in Psychopathie oder auch Narzissmus vorliegt, lässt sich im Rahmen eines Assessments kaum mit letzter Si­ cherheit feststellen, weil klinische Verfahren tabu sind. Auch auf eine explizite Etikettie­ rung als Psychopath oder Machiavellist sollte verzichtet werden. Eine Beurteilung sollte deswegen eher auf der Basis von Kompetenzen erfolgen: Themen wie weitgehende Empa­ thielosigkeit, mangelnde Integrität oder Verlässlichkeit, Gleichgültigkeit gegenüber mög­ lichen negativen Konsequenzen von Handlungen oder fehlendes Interesse für andere Men­ schen resp. an der Führung stehen hier im Vordergrund. Treten zwei dieser Aspekte auf, sollte eine Nichtempfehlung in Betracht gezogen werden. Ob im Einzelfall eher Psycho­ pathie oder Narzissmus vorliegt, ist dabei unerheblich, weil auf diese Begriffe ohnehin verzichtet wird. Allerdings lassen sich viele Narzissten relativ leicht an ihrer Kränkbarkeit resp. mangelnden Kritikfähigkeit erkennen.

2.1.2 Narzissmus Nur etwa 1 % der Gesamtbevölkerung weist eine klinische narzisstische Persönlichkeits­ störung auf (z. B. Chamorro-Premuzic, 2019), die milderen Formen können jedoch gera­ dezu als Volkskrankheit bezeichnet werden. Dies lässt sich besonders in den Sozialen Me­ dien gut erkennen. Tausende Menschen aus allen Schichten überbieten sich in selbstdar­ stellerischen Aktivitäten, gieren um möglichst viele Follower und hoffen auf die sprichwörtlichen fünfzehn Minuten Ruhm. Erstaunlich oft wird für das perfekte Selfie sogar das eigene Leben aufs Spiel gesetzt – und nicht selten verloren. Ein erster wesentli­ cher Unterschied zur Psychopathie besteht darin, dass Narzissmus nicht angeboren ist, sondern in der Regel entweder auf zu überbehütende Eltern oder auf soziale Vernachlässi­ gung zurückgeht (Brummelman et  al., 2015). Im ersten Fall handelt es sich um kleine Prinzen und Prinzessinnen, die es gewohnt sind, dass sie stets im Mittelpunkt stehen und dass ihnen jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wird. Im Unterschied dazu können schwer vernachlässigte Kinder kompensatorisch ein übersteigertes Selbstwertgefühl ent­ wickeln. Zweitens wird in der Literatur – nicht aber in diesem Buch – die These vertreten, dass ein gewisses Maß an Narzissmus sogar wünschenswert sei, damit mit man etwa ei­ gene Bedürfnisse angemessen durchsetzen kann. Die Forschung zeigt, dass es normal und menschlich ist, sich eher zu positiv wahrzunehmen (Luerweg, 2020). Prinzipiell neigen

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

Menschen generell dazu, ihren Beitrag zu Erfolgen zu über-, jene zu Misserfolgen dage­ gen zu unterschätzen. Bemerkenswerterweise trifft dies auf depressive Personen weniger zu. Insofern zeichnen sich diese diesbezüglich durch einen höheren Realitätssinn als Ge­ sunde aus. Gemäß dem amerikanischen Klassifikationssystem für psychische Störungen DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Aufl.) lässt sich Nar­ zissmus durch folgende Aspekte charakterisieren • • • • • • • •

grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit, Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe, Glaube, „besonders“ und einzigartig zu sein, übersteigertes Anspruchsdenken, ausbeuterische Beziehungsgestaltung, mangelnde Empathie, Neid, Arroganz und Überheblichkeit.

Damit eine klinisch relevante narzisstische Persönlichkeitsstörung vorliegt, müssen min­ destens 5 dieser Aspekte gegeben sein. Die Liste zeigt Überschneidungen mit den zuvor aufgelisteten Merkmalen von Psychopathie, vor allem in Bezug auf mangelnde Empathie und ausbeuterische Beziehungsgestaltung. In einer Beziehung mit einer Narzisstin oder einem Narzissten darf man damit rechnen, dass man nie genug tun kann, um deren Aner­ kennungsbedürfnis zu stillen, während eigene Bedürfnisse oder Nöte kein Gehör finden. Bei Psychopathen läuft man zusätzlich Gefahr, irgendwann dem eigenen Verstand nicht mehr zu trauen, weil diese Menschen oftmals selbst dann notorisch lügen, wenn es eigent­ lich gar nicht nötig ist. So kann ein veritables Lügengebäude entstehen, das mit einer sol­ chen Gewissheit vertreten wird, dass das Umfeld irgendwann am eigenen Realitätssinn zu zweifeln beginnt. Dieser Effekt wird als „Gaslighting“ bezeichnet. Sowohl Psychopathen als auch Narzissten bekunden Mühe mit Kritik und zeigen wenig Einsicht in ihr Verhalten. Gleichberechtigte und langfristige Beziehungen sind mit beiden Typen nur schwer mög­ lich, wobei man bei einem Narzissten vor allem dann in Ungnade fällt, wenn man zu wenig schmeichelt, während man von den Psychopathen fallen gelassen wird, sobald man diesen nichts mehr nützt oder ausgesaugt ist. Im Arbeitskontext umgeben sich Narzissten bevorzugt mit Personen, die sie bewundern und zu ihnen hochschauen. Ein weiterer Unterschied zwischen Narzissten und Psychopa­ then besteht darin, dass sich erstere vor allem deshalb nicht für die Bedürfnisse anderer interessieren, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, während letztere zwar nur ein sehr flaches Gefühlsleben besitzen, jedoch oft sehr gut andere Menschen lesen und vor allem deren Schwächen erstaunlich treffsicher herausfinden können. Dass sie in manipu­ lativer Hinsicht eine gewisse Meisterschaft erlangen können und kein Gewissen besitzen, macht die Psychopathen besonders gefährlich. Für sie zählt nur das Erreichen ihrer Ziele. Narzissten sind vor allem gefährlich, weil sie sich selbst stets in das Zentrum stellen und deshalb beispielsweise strategische oder personelle Fehlentscheidungen fällen können. Da

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sie für sie potenziell bedrohliche Personen meiden oder ausschalten, umgeben sie sich be­ vorzugt mit ungefährlichen Jasagern. Dieser Effekt spielt in vielen Leistungsgremien in Politik und Wirtschaft eine Rolle. Beim dunklen Leadership in Zusammenhang mit Narzissmus denkt man unweigerlich an die Politik, in der sich besonders viele (männliche) Vertreter dieser Kategorie auszuto­ ben scheinen. Das Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen und der Größte sein zu wollen, ist keine gute Voraussetzung für Kooperation und Verständigung. Ansonsten f­ ördert Narziss­ mus logischerweise eine auf kurzfristige Erfolgserlebnisse ausgerichtete Politik  – denn Narzissten brauchen ja laufend Bestätigung und Anerkennung. Die politische Agenda folgt weniger der Wichtigkeit und Dringlichkeit der zu lösenden Sachfragen als dem Po­ tenzial, sich publikumswirksam zu inszenieren und im Mittelpunkt zu stehen. Für Psycho­ pathen sind Narzissten übrigens leichte Beute. Indem sie deren Bedürfnis nach Aufmerk­ samkeit und Bewunderung bis zu einem gewissen Grad bedienen, bringen sie diese dazu, ihnen buchstäblich aus der Hand zu fressen. Das narzisstische Streben nach Anerkennung als Schwäche auszunutzen, fällt den Psychopathen leicht. Wenn es der Ziel­erreichung dient, können Psychopathen auch schmeichlerisch agieren.

2.1.3 Machiavellismus Im Unterschied zu Narzissmus und Psychopathie wird Machiavellismus auch in einer ex­ tremen Ausprägung nicht als psychische Störung eingestuft. Das Buch „Il Principe“ des Namensgebers ist uralt, scheint aber bis heute nichts an seiner Aktualität verloren zu haben, wie etwa in Ratgebern, wie man sich im Dschungel von Organisationen erfolgreich nach oben kämpft, suggeriert wird (z. B. Bachmann & Noll, 2020). Ähnlich wie psycho­ pathische Serienkiller eignen sich auch besonders bösartige und manipulative Strippenzie­ her hervorragend als Filmfiguren, weshalb dieser Menschenschlag einer breiten Öffent­ lichkeit bestens bekannt ist. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass für Machiavellisten ein Verhalten nach dem Motto „der Zweck heiligt die Mittel“ typisch ist. Diese für sie typi­ sche Überzeugung basiert in der Regel auf einem Menschenbild, wonach alle anderen ebenfalls alles tun, um sich Vorteile zu verschaffen und vorwärtszukommen. Aus der Optik der Machiavellisten muss man sich deshalb behaupten und schlauer als die anderen sein. Im Grunde wähnen sie sich als Spieler in einem großen Schachspiel und versuchen, ihren „Gegnern“ immer einen Schritt voraus zu sein. Während impulsive Psychopathen grund­ sätzlich Mühe haben, sich an irgendwelche Regeln zu halten, werden diese von den Machi­ avellisten sehr bewusst überschritten, wenn sie sich davon einen Vorteil erhoffen. Außer­ dem werden Intrigen gesponnen, und es wird alles getan, um Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. In der Folge kreieren machiavellistische Persönlichkeiten in der Führung eine Umgebung, in der ähnliche Verhaltensweisen gehäuft auftreten, weil sich die anderen an diesen Stil anpassen oder sich anders orientieren. Gemäß Christie und Geis (1970) lässt sich das Persönlichkeitskonstrukt durch die folgenden vier Merkmale charakterisieren: 1) geringe affektive Beteiligung bei personalen Kontakten, 2) geringe Bindung an konventi­

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

onelle Moralvorstellungen, 3) Realitätsangepasstheit (Pragmatismus) sowie 4) geringe ideologische Bindung. In einer neueren Arbeit nennen Dahling et al. (2009) die folgenden Aspekte: ( 1) Misstrauen gegenüber anderen Personen, (2) Bedürfnis nach Erfolg, (3) Bedürfnis nach Kontrolle, (4) amoralische Manipulation. Kurz gesagt, besitzen Machiavellisten ein zynisches Menschenbild, glauben an die Wirk­ samkeit manipulativer Taktiken und praktizieren eine konsequente persönliche Nutzenma­ ximierung. Eigentlich ist das Konzept des Machiavellismus dem in der Betriebswirtschaft immer noch stark verbreiteten „Homo oeconomicus“ nicht unähnlich, was vielleicht auch erklärt, dass ihr Verhalten von Teilen der Wirtschaft nicht als eindeutig verwerflich, son­ dern auch als Ausdruck von mikropolitischem Geschick interpretiert wird. Je nach Umfeld und kulturellem Hintergrund scheiden sich allerdings die Geister, ob es sich bei machia­ vellistischen Techniken um eine Art Fähigkeit handelt, die man bis zu einem gewissen Grad entwickeln sollte, wenn man nach einer Machtposition strebt, oder ob auf solche Vorgehensweisen aus ethischen Gründen weitgehend verzichtet werden sollte. Das gleiche gilt im Grunde für die Mikropolitik ganz generell. Gemäß Externbrink und Keil (2018) verfolgt man damit folgende Ziele: 1) Unterstützung von anderen erhalten, 2) Aufgaben auf andere abwälzen, 3) persönliche Wünsche realisieren, 4) eigene Ideen durchsetzen sowie 5) ein positives Image in der Organisation aufbauen. Bei genauerem Hinsehen fallen einem nur wenige wirklich positive Aspekte ein, zum Beispiel das Gewin­ nen von Verbündeten für eine nicht für die betreffende Person, sondern vor allem für das Unternehmen potenziell Gewinn bringenden Idee. Dass mikropolitische Verhaltensweisen von Führungskräften sogar bis zu einem gewissen Grad erwartet werden, kommt den ­Machiavellisten entgegen, denn sie sind die Meister dieser Disziplin. Kennzeichnend für machiavellistische Personen ist, dass sie sich einer Vielzahl unterschiedlicher Techniken bedienen – je nachdem, was in einer spezifischen Situation oder bei einem bestimmten ­Gegenüber Erfolg verspricht. Während Psychopathen hauptsächlich harte Beeinflussungs­ techniken (z.  B. drohen) und Narzissten  – solange sie nicht gekränkt werden  – weiche Techniken (z.  B. schmeicheln) bevorzugen, bespielen geschickte Machiavellisten die ganze Klaviatur an Beeinflussungsstrategien. Oft zeigen sie gegen oben weiche, gegen unten harte Techniken. Die genannten Autoren (Externbrink & Keil, 2018, S 44 ff.) führen die in Tab. 2.1 aufgeführten Techniken auf. Tab. 2.1 Manipulationstechniken nach Externbrink und Keil (2018)

Weiche Techniken Einschmeicheln Austausch anbieten Koalitionen bilden Rationales Begründen

Harte Techniken Manipulation Druck machen Einschüchtern/Schikanieren Eskalieren/Vorgesetzte einschalten

2.1 Dunkle Triade der Persönlichkeit

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Denkt man an Machiavellisten, erscheinen neben politischen Marionettenspielern etwa Winkeladvokaten, windige Funktionäre und opportunistische Mitläufer vor dem geistigen Auge. Die manipulativen Taktiken ähneln jenen der der Psychopathen, werden aber be­ wusster eingesetzt und dienen einem langfristigen Ziel. Machiavellisten agieren oft ge­ schickt, bleiben meist im Hintergrund und werden nicht immer durchschaut. Oft handelt es sich um Menschen, die als aalglatt beschrieben werden. Ein berühmt-berüchtigter Ver­ treter dieser Spezies ist beispielsweise Edgar Hoover, der erste FBI-Direktor. Um seine Macht zu erhalten und auszubauen, sammelte er belastendes Material über Freund und Feind und machte sich so unangreifbar (Aronson, 2012). Um ihre volle Wirkung entfalten zu können, benötigen machtorientierte Personen ohne nennenswertes Charisma vor allem ein intransparentes und auf undurchsichtigen Mechanismen beruhendes Umfeld. Ein be­ sonders leuchtendes Beispiel ist der Weltfußfallverband FIFA, der mit seinem Monopol auf die Durchführung der Fußballweltmeisterschaft einen Goldesel besitzt, an dem ­buchstäblich alle Welt partizipieren will, sei es als Land oder Verband, der die Fußball­ weltmeisterschaft durchführen darf, sei es als Partnerfirma bei der Vermarktung und Wer­ bung. An der Spitze dieser Organisation steht der Generalsekretär als Vorsitzender des Kongresses, dem sämtliche 209 Mitgliedsländer angehören und der theoretisch die Be­ schlüsse fasst. Daneben gibt es ein für die Umsetzung verantwortliches Exekutivkomitee mit nicht weniger als 24 Mitgliedern, das ebenfalls vom Generalsekretär geleitet wird – außerdem diverse Kommissionen sowie ein Generalsekretariat. Die Macht des Generalse­ kretärs ist so groß, dass sich der ehemalige FIFA-Verantwortliche Sepp Blatter damit rühmte, die weltweit einzige Person zu sein, die von jedem Staatschef empfangen wird. Will man Generalsekretär werden, muss man möglichst viele Vertreter der Mitgliedsver­ bände gewinnen – selbstverständlich einschließlich der Repräsentanten jener Länder, wel­ che im Korruptionsindex die hintersten Ränge belegen. So überrascht es nicht, dass sämt­ liche Wahlen der letzten Jahre skandalumwittert waren und gegen einige Exponenten strafrechtliche Untersuchungen wegen Bestechlichkeit stattfanden (z. B. Kistner, 2014). Wenig Raum für politische Machtspiele bieten moderne agile Organisationen. Transpa­ renz, selbstorganisierte Teams und flache Hierarchien begünstigen Personen, die sich pri­ mär durch Leistung und eigene Ideen hervortun. Gemeinsamkeiten und Schlussfolgerungen für die Praxis Allen 3 Kategorien der dunkeln Triade gemeinsam ist ein antisozialer Kern (Externbrink & Keil, 2018). Machtanspruch, Dominanz und Prinzipienlosigkeit bestimmen das Verhalten der betreffenden Personen, wobei die Narzissten Resonanz und Bewunderung benötigen, während den Machiavellisten und Psychopathen andere Menschen eigentlich egal sind. Ge­ meinsam ist auch ein Mangel an Aufrichtigkeit. Alle haben keine persönlichen Prinzipien und halten sich nicht oder nur teilweise an Normen und Regeln, weil sie es entweder nicht anders können (impulsive Psychopathen), es je nach Situation nicht wollen (Machiavellis­ ten) oder weil sie sich in ihrer Grandiosität als über dem Gesetz stehend wahrnehmen (ex­ treme Narzissten). Während entsprechende Verfehlungen für Psychopathen keine Rolle spielen, werden sie von Machiavellisten als für die Zielerreichung notwendig erachtet.

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

Selbstherrliche Narzissten können sogar glauben, dass das konsequente Verfolgen ihrer ei­ gennützigen Interessen auch das Beste für ihr Land oder Unternehmen ist. Eine weitere wichtige gemeinsame Eigenschaft ist Empathielosigkeit: Andere Menschen werden auf der einen Seite ausgenutzt, skrupellos in den Dienst der eigenen Interessen und Bedürfnisse ge­ stellt und als Objekte behandelt, auf der anderen Seite aber kaum als Subjekte mit ebenfalls berechtigten Anliegen und Wünschen betrachtet. Weitere ­verbindende Attribute sind Man­ gel an Einsicht, Verantwortungslosigkeit und Unberechenbarkeit. Teilweise wird in der Literatur bei diesen 3 Eigenschaften eine helle und eine dunkle Seite gegenübergestellt. Furtner (2017) fasst eine entsprechende Recherche zusammen und nennt für Narzissmus etwa die Aspekte charismatisch, innovativ, visionär, zuversicht­ lich und inspirierend als positive Seiten. Hinsichtlich Führungserfolg erachtet er ein durch­ schnittlich ausgeprägtes Niveau als wünschenswert, während sowohl ein besonders gerin­ ger (fehlender Führungsanspruch) als auch ein zu starker Narzissmus seiner Meinung nach kontraproduktiv wirken. Im Unterschied dazu wird in diesem Buch die These vertre­ ten, dass Narzissmus keine positiven Seiten hat, sondern ab einem gewissen Maß nur schädlich ist. Die positiven damit in Verbindung gebrachten Eigenschaften treten nicht nur bei Narzissten auf. Bei Machiavellismus hebt der genannte Autor Selbstkontrolle, Anpas­ sungsfähigkeit, Managementfähigkeiten, Verhandlungsgeschick sowie taktisches und stra­ tegisches Denken als positive Attribute hervor. Dem steht gegenüber, dass Machiavellisten meist keine besonderen Leistungen zeigen, oft das Klima vergiften und vorzugsweise di­ rektiv führen. Insofern sollte Machiavellismus eine leichte Ausprägung nicht übersteigen, zumal sich die aufgeführten vorteilhaften Seiten ja nicht auf sie beschränken. Ähnliches gilt für die Psychopathen, an denen der genannte Autor allerdings gar keine hellen Seiten findet. Sie sind an Menschenführung im Grunde nicht interessiert, können aufgrund ihrer Unberechenbarkeit Geführte jedoch in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis bringen und diese ausbeuten. Typische Folgen sind etwa ein Klima der Angst, geringe Motivation und Arbeitszufriedenheit, hohe Fluktuation und Krankenstände. Diese feinstofflichen Konse­ quenzen können sich schon bei milderen Formen von Psychopathie ergeben, sie können jedoch über eine gewisse Zeit unentdeckt bleiben. Bemerkenswert sind die Ergebnisse einer Metaanalyse hinsichtlich Arbeitsleistung der 3 Typen (O’Boyle Jr. et al., 2012). Dieser zufolge besteht kein Zusammenhang zwischen Arbeitsleistung und den 3 Aspekten der dunklen Triade. Kontraproduktives Arbeitsverhal­ ten korreliert jedoch stark mit Narzissmus, moderat mit Machiavellismus und kaum mit Psychopathie. Dies deutet in hohem Maße darauf hin, dass man Narzissmus und dessen Konsequenzen immer noch unterschätzt, weil er sich bei so vielen Menschen in irgendei­ ner Form zeigt. Gemäß einer Metaanalyse der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften und der dunklen Triade (Muris et al., 2017) handelt es sich bei Narzissten um eher auffällige, bei Machiavellisten jedoch um eher zurückhaltende Per­ sonen (positive resp. negative Korrelation mit Extraversion), während die Psychopathen diesbezüglich unauffällig sind. Bemerkenswerterweise trifft Ähnliches auch auf die Ei­ genschaft „Bescheidenheit“ zu. Statistisch können sich nämlich Narzissten und Machia­

2.2 Weitere kritische Eigenschaften

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vellisten, nicht aber Psychopathen auch durch mangelnde Bescheidenheit verraten. Inte­ ressant ist, dass bei allen 3 Typen kein Zusammenhang zu emotionaler Stabilität besteht. In der Assessment-Praxis fällt es verhältnismäßig leicht, Narzissten zu erkennen, weil sie leicht kränkbar sind und meist auch mit geringfügigen Provokationen nicht umgehen können. Gemäß Russ et  al. (2008) existieren neben dem allseits bekannten grandios-­ bösartigen Narzissmus noch 2  weitere Typen, nämlich eine exhibitionistische (z. B. ­Showbusiness, Instagram) und eine vulnerable Variante. Letztere ist oft verbunden mit einer passiv-aggressiven Opferhaltung und kann einzelne Personen oder ganze Grup­ pen betreffen. Hier wird nicht aus Selbstüberschätzung, sondern aus einer wie auch immer gearteten Opferrolle heraus Macht angestrebt oder ausgeübt. Bezüglich Kränkbarkeit be­ steht wohl kein wesentlicher Unterschied zwischen den verschiedenen Typen. Bei Psycho­ pathen muss man hingegen sehr genau hinsehen und hinhören, um etwa Lügen oder Brü­ che in ihren Geschichten oder Lebensläufen zu erkennen (Siegfried, 2016). Die cleversten unter ihnen zu entlarven, ist eine echte Herausforderung. Wesentlich für den vorliegenden Text ist die Feststellung, dass es bei den 3 Facetten der dunklen Triade – anders als bei den folgenden Eigenschaften  – keine mehr oder weniger extreme Überausprägung braucht, damit sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit toxisch wirken. Es reicht ein im Vergleich zur Norm überdurchschnittlicher Wert. Neben der Tatsache, dass diese Merkmalsbündel Eigenschaften enthalten, die sich positiv auf das berufliche Fortkommen auswirken kön­ nen, macht sie ihre geringe Berechenbarkeit besonders gefährlich. Als New Leader kom­ men Vertreter und Vertreterinnen dieser Gruppe prinzipiell nicht in Betracht.

2.2 Weitere kritische Eigenschaften McCall und Lombardo (1983) prägten den Begriff Management Derailment, als sie der Frage nachgingen, weshalb talentierte Personen irgendwann einen unerwarteten Karriere­ knick erleben oder sogar gänzlich aus der Spur geraten können. Dabei war das ursprüng­ liche Verständnis der möglichen Fehlentwicklungen sehr breit gefasst und schloss sämtli­ che Arten des „Entgleisens“ von Burnout bis Wirtschaftskriminalität ein. Selbstredend bergen die bereits diskutierten Komponenten der dunklen Triade im Falle einer höheren Ausprägung ein beträchtliches Derailment-Risiko. Im Unterschied zu den folgenden Per­ sönlichkeitseigenschaften gilt dies jedoch weitgehend situationsunabhängig. So werden psychopathische Führungskräfte zumindest auf der kulturellen Ebene fast immer mehr oder weniger gravierende Spuren hinterlassen. Grundsätzlich gilt ansonsten, dass eine Entgleisung nicht nur von der Persönlichkeit, sondern auch dem Umfeld und der Aufgabe sowie der Situation im weitesten Sinne abhängt. So wird sich ein ausgeprägter Machiavel­ list an die Regeln halten, wenn er davon ausgehen muss, dass Verletzungen des internen Code of Conduct hart sanktioniert werden. Besteht hingegen offen oder unterschwellig eine Kultur, in der im Erfolgsfall Regelverletzungen zumindest geduldet werden, wird er sich entsprechend anders verhalten. Was auf den ersten Blick banal erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als nicht ganz so eindeutig, denn Persönlichkeitseigenschaf­

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

ten können sich nicht selten auch dosisabhängig entweder positiv oder negativ auswirken. Piccolo & Judge (2013) zeigen dies in einem Übersichtsartikel zu positiven und negativen Eigenschaften von Führungskräften detailliert auf. Als positive Eigenschaften erwähnen sie unter anderem Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, emotionale Stabilität, Offenheit für neue Erfahrungen und Intelligenz, während sie als negative Merkmale Nar­ zissmus, Hybris (übersteigertes Selbstwertwertgefühl und Selbstüberschätzung), ­Dominanz, Machiavellismus, Machtmotiv sowie Gier aufführen. Auf der einen Seite kann sich die prinzipiell wünschenswerte Gewissenhaftigkeit im Übermaß zu Pedanterie und kleinlichem Kontrollverhalten auswachsen. Sehr extravertierte und offene Personen kön­ nen dagegen dazu neigen, sich zu verzetteln, und übertrieben verträgliche Personen be­ kunden meist Mühe mit Konflikten. Auf der anderen Seite ist ein gewisser Führungsan­ spruch unerlässlich, oder es können machiavellistische Techniken auch konstruktiven Zwecken dienen (z. B. Verbündete für eine gute Sache finden). Eine schon ältere, jedoch immer noch brauchbare Zusammenstellung weiterer Derailment-­Faktoren stellt die Hogan Development Survey dar (1997, nach Puckett & Neubauer, 2018). Sie umfasst 11 persönlichkeitsbedingte Derailment-Faktoren: (1) sprunghaft (launisch, leicht genervt, schwer zufriedenzustellen, emotional instabil), (2) skeptisch (misstrauisch, zynisch, reagiert empfindlich auf Kritik, fokussiert auf Ne­ gatives), (3) vorsichtig (zögerlich, widerwillig gegenüber Veränderungen, risikoscheu, langsame Entscheide), (4) distanziert (unnahbar, gleichgültig den Gefühlen anderer gegenüber, wenig kommu­ nikativ), (5) passiver Widerstand (nach außen kooperativ, aber innerlich reizbar, stur und unko­ operativ), (6) anmaßend (überhöhtes Selbstvertrauen, arrogant, überzogenes Selbstwertgefühl), (7) draufgängerisch (charmant, risikofreudig, testet Grenzen aus, sucht den Ner­ venkitzel), (8) buntschillernd (dramatisch, sucht nach Aufmerksamkeit, kann schlecht zuhören), (9) fantasiereich (kreativ, exzentrisch im Denken und Handeln), (10) pedantisch (akribisch genau und präzise, Neigung zu Mikromanagement), (11) dienstbeflissen (will gefallen, handelt ungern unabhängig oder gegen die allgemeine Meinung). Selbstverständlich lassen sich die Hauptmerkmale der dunklen Triade auch in diesem Ka­ talog finden, weil dieses Konzept zur Zeit der Entstehung des Hogan-Verfahrens noch gar nicht bekannt war. Es ist klar, dass auch launenhafte, emotional instabile Personen keine guten Leader sind, weil es ihnen an Verlässlichkeit und Konstanz mangelt. Auch einen kontrollierenden Micromanager schätzen die wenigsten Personen als Vorgesetzten. Diese beiden Führungstypen richten zumindest insofern Schaden an, als sie fähige und selbst­ ständige Mitarbeitende vergraulen. Die Assessment-Praxis zeigt, dass emotional instabile

2.2 Weitere kritische Eigenschaften

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Führungskräfte meist wenig belastbar sind, weshalb sie unter Druck und in Krisensituati­ onen überfordert reagieren können. Pedanten bewegen sich gedanklich bevorzugt auf der operativen Ebene und bekunden nicht selten Mühe, das Wesentliche vom Unwichtigen zu unterscheiden. Dies kann beispielsweise ihre strategischen Fähigkeiten limitieren, wäh­ rend ihr Stil im Controllingbereich auch Vorteile hat. Grundsätzlich gilt, dass sich viele der oben genannten Eigenschaften primär negativ auf die Karrierechancen und das Wohlbefin­ den der Betreffenden auswirken und nicht unbedingt einen größeren Schaden anrichten. Gelegenheit macht Diebe, sagt der Volksmund. Damit ist gemeint, dass unter Umstän­ den auch prinzipiell anständige Personen entgleisen können. Hat man sich etwa im Glücks­ spiel verschuldet, sieht man eventuell keinen anderen Ausweg, als den eigenen Arbeitge­ ber zu bestehlen. Ein bekannter forensischer Psychiater erzählte mir die Geschichte einer Familie, die mit ihrem Familienunternehmen in Schieflage geraten war. Mit der grundsätz­ lich positiven Intention, die eigene Firma zu retten, wurden schrittweise immer betrügeri­ schere Maßnahmen angewendet, wobei der moralische Kompass zugunsten der „höheren guten Sache“ zunehmend verlorenging. Neben den bereits erwähnten potenziell kritischen gehören aus Sicht des Autors einige weitere Eigenschaften besonders hervorgehoben: Kränkbarkeit resp. fehlende Kritikfähigkeit, Misstrauen und Ängstlichkeit sowie Gier. Auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene ist zudem ideologische Verblendung jegli­ cher Art als problematisch zu bezeichnen. Dabei handelt es sich zweifelllos um die wich­ tigste Quelle von Hass und Gewalt. Darauf wird an anderer Stelle eingegangen. Fehlende Kritikfähigkeit und Kränkbarkeit Eine übersteigerte Kränkbarkeit wurde bereits als typisches Merkmal von Narzissten vor­ gestellt, ist aber nicht auf diese beschränkt. Vielmehr ist eine mangelnde oder fehlende Kritikfähigkeit bei den meisten Menschen mit einem nicht gefestigten oder niedrigen Selbstwertgefühl zu erwarten. Während Narzissten auf Kritik in der Regel reagieren, indem sie ihre vermeintlichen Gegner persönlich angreifen und abwerten, ziehen sich an­ dere Personen entweder zurück und reagieren eher depressiv oder aber sinnen womöglich auf Rache. Wichtig ist, dass sich wahrgenommene Demütigungen oder Kränkungen gera­ dezu im Hirn festsetzen und so mächtig werden können, dass für die Rache an den wahr­ genommenen Aggressoren sogar der eigene Untergang in Kauf genommen wird. Ein typi­ sches Beispiel sind die Amokläufer an Schulen, die sich mehrheitlich für ihren Außensei­ terstatus revanchieren wollten. Zu beachten ist ferner, dass sich nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen oder gar Völker in eine generalisierte Opferhaltung hi­ neinsteigern können. Mit der Zeit kann sich ein Extremismus entwickeln und das Gefühl entstehen, aufgrund eines ungerechtfertigten Opferstatus das moralische Recht zu besit­ zen, drastische Gegenmaßnahmen gegen die vermeintlichen Ungerechtigkeiten und Täter zu ergreifen (z. B. Amoklauf oder Attentat). In der heutigen durch Desinformation geprägten Zeit begünstigen die sozialen Massen­ medien die Entstehung abgeschotteter Gruppierungen, die sich weitgehend von der fakti­ schen Realität und den „normalen“ Informationsmedien abkoppeln. Typisch ist Miss­

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

trauen gegenüber den Regierungen resp. der Eindruck, diese würden die Wahrheit vertu­ schen oder geheime Organisationen unterhalten. In einem aktuellen Artikel vertritt Eberle (2020) die These, dass Demütigungen und Kränkungen geradezu die Wurzel der meisten menschlichen Übel darstellt. Sie verweist auf eine Studie von Luckenbill, der sämtliche Morde in einem amerikanischen Landkreis über einen Zeitraum von 10 Jahren untersuchte und herausfand, dass – zumindest aus Tätersicht – in allen Fällen eine ­Beleidigung am An­ fang stand. Dasselbe nimmt die genannte Autorin auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene an. In der soziologischen Konfliktforschung nehmen ethnische, religiöse oder andere Ab­ wertungen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Kriegen oder Bürgerkriegen ein (z. B. Genozid von Ruanda). Kränkungen können sich also nicht nur auf der individuellen Ebene festsetzen und eine toxische Wirkung entfalten, sondern auch in das kollektive Ge­ dächtnis eingehen und sich erst zu einem viel späteren Zeitpunkt entladen (z. B. ethnische Konflikte in Ex-Jugoslawien). Der für Deutschland demütigende Versailler Vertrag und die „Dolchstoßlegende“ – eine Verratsverschwörungstheorie – trugen nicht unwesentlich zum Aufstieg von Hitler und somit letztlich zum Zweiten Weltkrieg bei. Zentral auf der Ebene einzelner Menschen ist der verletzliche (vulnerable) Narzissmus, vor allem aber das Selbstwertgefühl im Allgemeinen. Ist dieses schwach ausgeprägt, bedarf es für Kränkun­ gen keiner harten Abwertungen, Auslöser kann schon eine unbedachte, für die meisten Menschen neutrale Bemerkung sein. Ein Teilnehmer eines Assessments wurde von einer auf einem Ohr gehörlosen Person des Mobbings bezichtigt, weil er in ihrer Gegenwart einer anderen Person den gutgemeinten Rat gegeben hatte, von der anderen Seite mit ihr zu sprechen. Personen oder Gruppen, die sich in einer permanenten Opferrolle sehen, sind praktisch ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Ihr Narzissmus zeigt sich unter ande­ rem darin, dass sie auf Kritik sehr empfindlich reagieren, sich dem Umfeld gegenüber aber wenig sensibel verhalten sowie meist sehr fordernd und wenig entgegenkommend auftre­ ten. Der Umgang mit sehr empfindlichen Personen fühlt sich wie ein Gang durch ein Mi­ nenfeld an. Mit der Zeit kann in einem Team etwa eine Gruppenkultur entstehen, in der alle jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen. Im Assessment wird eine mangelnde Kritikfähigkeit vor allem bei Feedbacks gut beobachtbar. Nicht kritikfähige Personen nei­ gen dazu, sich und ihr Verhalten ausführlich zu erklären und zu rechtfertigen. Im Extrem­ fall stellen sie sämtliche kritischen Teile der Beurteilung in Abrede. Bei ausgesprochenen Narzissten ist dieses Verhalten eher die Regel als die Ausnahme. Misstrauen und Ängste Spätestens seit der Prospect-Theorie von Kahneman und Tversky (1979) ist bekannt, dass Menschen grundsätzlich eher bestrebt sind, Verluste zu vermeiden als Gewinne zu erzie­ len. Starke materielle oder soziale Verlustängste können sich auf gravierende Weise im zwischenmenschlichen Verhalten niederschlagen. Speziell zu erwarten sind ein überstei­ gertes Kontrollbedürfnis oder gar ein Kontrollzwang, der der Umgebung die Luft zum Atmen nimmt und den Umgang mit der betreffenden Person zum Spießrutenlauf werden lässt. Entweder man versucht, sich anzupassen, und droht, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten, oder man leistet Widerstand und muss mit ständigen Konflikten rechnen. Die

2.2 Weitere kritische Eigenschaften

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Praxis zeigt, dass ein übersteigertes Misstrauen auch auf die betroffenen Personen selbst zersetzend wirkt. In der Regel ist man sich dieser Eigenschaft bewusst, aber zu wenig in der Lage, das beziehungsschädliche Verhalten einzustellen. In Organisationen tritt außer­ dem der „Trickle-Down-Effekt“ auf, was bedeutet, dass misstrauisches Verhalten kaska­ denartig nach unten weitergegeben wird. Verhält sich das Top-Management der B ­ elegschaft gegenüber misstrauisch, wird sich mit der Zeit im ganzen Unternehmen eine entspre­ chende Kultur etablieren. Am Ende dominiert ein Klima der Angst, in dem niemand ane­ cken oder etwas riskieren will sowie Fehler vertuscht oder anderen in die Schuhe gescho­ ben werden. Misstrauen entsteht bekanntlich aus Ängsten, meist aus der Angst vor Kon­ trollverlust. Ängste sind stark mit der stresstheoretisch basalen Fluchtreaktion verbunden (Angriff oder Flucht, z. B. Birbaumer, 2015) und, wie der Volksmund zu Recht sagt, selten ein guter Ratgeber, weil unter großer Angst oder Stress ein klares Denken und ein zielge­ richtetes Handeln kaum möglich sind. Rosemann (1978) hat nachgewiesen, dass ein gerin­ ges Maß an Angst eher leistungsfördernd wirkt, da sie Konzentration und Aufmerksamkeit erhöht. Wird ein bestimmtes Maß überschritten, wirkt die Angst dagegen leistungsmin­ dernd resp. blockierend. In den Klassifikationssystemen psychischer Störungen (ICD-10, DSM-5) wird grundsätzlich zwischen unspezifischen Ängsten und Phobien aller Art unter­ schieden. Letztere sind hier eher unerheblich und lassen sich oft gut bekämpfen (z. B. Angst, vor Publikum zu sprechen), problematisch sind erstere. Im Assessment ist darauf zu achten, dass Ängste nicht mit einem introvertierten und eher zurückhaltenden Auftreten verwechselt werden. Entscheidend ist in der Regel das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, das nicht immer offensiv zur Schau gestellt wird. Pedantische und unsichere Personen sowie solche, die es immer allen recht machen wol­ len, neigen tendenziell dazu, auch die Leistungen anderer skeptisch zu beurteilen. In einer Führungsrolle können ängstliche Personen Unsicherheit säen oder zu viel von anderen er­ warten. Schädlich ist, dass sie oft keine klare Erwartungshaltung und konsistente Linie haben: Da sie sich leicht von Vorgesetzten, Kunden oder Dritten beeinflussen lassen und meist wenig Rückgrat haben, neigen sie dazu, oft ihre Meinung oder ihre Erwartungen zu wechseln. Außerdem sind sie meist sehr mit sich selbst beschäftigt und kaum darauf aus­ gerichtet, andere zu fördern. Misstrauische Vorgesetzte tendieren in der Regel zu einem zu kontrollierenden Führungsstil, denn anderen Vertrauen zu schenken, fällt ihnen schwer. Nehmen die Mitarbeitenden das Misstrauen persönlich, laufen sie Gefahr, an Selbstver­ trauen zu verlieren, weil sie die Erfahrung machen, scheinbar nie zu genügen. Wenn man sich nicht abgrenzen kann, sollte man sich als Mitarbeiter überlegen, eine andere Stelle zu suchen, statt sich andauernd einer permanenten Unsicherheit auszusetzen. Gier und Maßlosigkeit Nicht zufällig findet sich die Gier sowohl unter den sieben christlichen Todsünden als auch unter den drei buddhistischen Geistesgiften, während sein Antipode, die Mäßigung, eine der Kardinaltugenden von Aristoteles darstellt. Speziell die Finanzkrise 2007 hat gezeigt, was passiert, wenn die Gier ganze Unternehmen resp. eine ganze Branche in Beschlag

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

nimmt. Es mag bei den Urmenschen vorteilhaft gewesen sein, sich möglichst viele Vorräte zu beschaffen, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot, denn man wusste nie, wann sich die nächste Chance dafür bieten würde. Heute wäre eigentlich genug für alle da, wenn die Ressourcen fair verteilt würden. Gier ist eine Art Sucht, speziell Geldgier kann in einen eigentlichen Dopaminrausch münden. Im Grunde handelt es sich bei der Gier nach immer mehr Geld um einen sehr basalen Belohnungsprozess auf der Ebene der operanten ­(Selbst-) Konditionierung. Ein bestimmtes Verhalten bewirkt eine bestimmte Belohnung  – eben noch mehr Geld. Wie die sprichwörtliche Ratte im Käfig wird immer wieder der gleiche Hebel betätigt, wobei die Befriedigung durch zusätzliches Einkommen immer weniger lang anhält. Gemäß Elger und Schwarz (2009) geht von Geld eine stärkere Stimulanz aus als etwa von Sex, und bei Geld- oder Investitionsfragen spielen unbewusste Mechanismen eine besonders starke Rolle  – sprich, der Verstand setzt aus, und irrationale Entschei­ dungsmechanismen nehmen Überhand, während etwa Anzeichen einer sich anbahnenden Krise ausgeblendet werden. Verstärkend wirkt, dass Menschen bei Geldfragen eher relativ als absolut denken. Wenn der Nachbar mehr Geld hat, führt dies auch dann zu Neid, wenn man selbst eigentlich mehr als genug zum Leben hat. Und es gibt bekanntlich immer je­ manden, der ein noch dickeres Bankkonto oder ein schickeres Auto hat. Als Ausweg aus dieser Spirale schlagen die genannten Autoren vor, sich nicht an Zahlen, sondern an der Wertigkeit der erworbenen Güter zu orientieren. Dies bedeutet, dass man sich überlegt, welchen psychologischen Wert materielle Güter für einen tatsächlich haben. Zweifellos sind Menschen, die mit einem Teil ihres Geldes Gutes tun, glücklicher als diejenigen, die sich nur immer überlegen, wie sie noch mehr beschaffen können. Sobald man genug zum Leben hat, liefert zusätzliches Einkommen keinen psychologischen Mehrwert mehr. Ähn­ liche Mechanismen können sich etwa beim narzisstischen Streben nach immer mehr Likes im Internet abspielen. Aus Selbstsucht giert man nach ständiger Bestätigung. Brewer (2018) zufolge kann diese narzisstische Störung dadurch entstehen, dass die Eltern das Kind permanent loben (und nie kritisieren). Um aus der Suchtspirale herauszukommen, schlägt er Achtsamkeit vor. Als Belohnung sieht er Ruhe und Konzentration. Die einzige Gier, die echte Belohnung und nachhaltiges Glück verspricht, ist die Neugier. Neues dazu­ zulernen macht zufrieden und weckt den Wunsch nach mehr. Solange man sich nicht völ­ lig in irgendwelchen Recherchen verliert, kann auch nicht Schlimmes passieren. Das Aufkommen unfähiger Leader-Persönlichkeiten wird außerdem durch ausgespro­ chene Follower-Typen verursacht. Wer verunsichert ist, sich ohnmächtig fühlt oder nicht für sich die Verantwortung übernehmen will, läuft Gefahr, sich an vermeintlich besonders starke Leader anlehnen zu wollen. Eine zu hohe Zahl von abhängigen und unmündigen Personen kann auf der politischen Ebene deshalb negative Auswirkungen haben, weil po­ tenziell toxische Personen gewählt werden. Dasselbe gilt für Menschen, die sich in einer Opferrolle wähnen, jedoch keine Initiative zeigen. Bei einer hohen Zahl an aufgeklärten und reifen Menschen sind günstigere Wahlergebnisse zu erwarten. Zudem sollten mehr Personen in der Lage sein, Bewerber und Bewerberinnen für ir­ gendwelche hohen Ämter nach den richtigen Kriterien zu beurteilen. Dazu gehört auch das

2.3 Erkennen von problematischen Leader-Figuren

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Erkennen der roten Flaggen und Warnsignale. Weist eine Person hohe Ausprägungen auf einer oder mehrerer der in der folgenden Übersicht genannten Eigenschaften auf, bewegt sie sich nicht auf einem für eine wichtige Führungsfunktion wünschenswerten oder erfor­ derlichen Reifeniveau. Gewisse Menschen (v. a. Psychopathen, bösartige Narzissten) kön­ nen sich auch kaum zu einer geeigneten Führungskraft entwickeln.

Fazit: 10 Merkmale, bei denen besondere Vorsicht geboten ist (1) Narzissmus, Selbstüberschätzung und mangelnder Realitätssinn (2) Skrupelloses und ausbeuterisches Verhalten (auch im Kleinen) (3) Fehlender moralischer Kompass/mangelnde Integrität (4) Berechnender Opportunismus (der Zweck heiligt die Mittel), Gier und Maßlosigkeit (5) Opferhaltung, Selbstgerechtigkeit, übertriebene Empfindlichkeit und Kränkbarkeit (6) Fehlende Bereitschaft, für sich und andere die Verantwortung zu übernehmen (7) Extrem launenhaftes und unberechenbares Verhalten (8) Mangelnder Respekt, Gleichgültigkeit und fehlende Vertrauensbereitschaft (9) Sturheit, Rechthaberei, fehlende Kommunikations- und Kompromissbereitschaft (10) Unfähigkeit und Unwille, die Perspektive zu wechseln

2.3 Erkennen von problematischen Leader-Figuren Das Personal in politischen Führungs- und Machtpositionen ist nicht das Produkt einer Art natürlicher Ordnung, sondern kann – sofern es sich nicht um ein autokratisches System handelt – von den Wählenden beeinflusst werden. Diese Bemerkung trifft insbesondere auf das Führungspersonal in den westlichen Demokratien zu, was aber nicht bedeutet, dass dieses dem Ideal von New Leadership mehr entsprechen würde als die aktuellen Wirt­ schaftsführer – ganz im Gegenteil. Dass dem so ist, lässt sich nicht nur durch die Persön­ lichkeit der Betreffenden oder irgendwelche Umstände erklären, sondern hat auch mit dem Wahlverhalten zu tun. Gewählt werden Personen, die in der Öffentlichkeit einen guten Eindruck hinterlassen, weil sie etwa eine überdurchschnittliche Auftrittskompetenz ausstrahlen oder es schaffen, die Leute mit ihren oft nur halbwahren, eher emotionalen Botschaften zu erreichen. Im postfaktischen Zeitalter scheint der Zweck die Mittel zu hei­ ligen, weshalb die Wahrheit nicht selten auf der Strecke bleibt – sofern die Betreffenden die gesamte Komplexität einer Thematik überhaupt selbst zu begreifen vermögen. Wahr ist, was wahr sein soll – sei es für die Politiker oder die Wählenden. Einen großen Einfluss in der Meinungsbildung haben natürlich auch die Medien. Ebenso wie weiten Teilen der Bevölkerung fehlt es jedoch auch den Journalisten, Influencern und Meinungsmachern an einem tieferen Verständnis, was eine fähige Leader-Figur überhaupt ausmacht. Im Vorder­ grund der Berichterstattung stehen eher vorgeschobene politische Inhalte oder Themen, für die sich jemand vermeintlich einsetzt. Sollen die angesichts der anstehenden Probleme

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

nötigen grundlegenden Veränderungen erreicht werden, bedarf es auch einer höheren Kompetenz der Wählerschaft bei der Beurteilung der Fähigkeiten von Personen, die eine Führungsfunktion anstreben. Im Vergleich zu den Laien weisen Beurteilungsprofis selbstredend größere theoretische Kenntnisse und praktische Erfahrung hinsichtlich der tatsächlich wichtigen Persönlich­ keitseigenschaften und Kompetenzen einer geeigneten Führungskraft auf. Zusätzlich un­ terscheidet sich eine fundierte und professionelle Beurteilung auch durch die (trainierbare) Weise, Menschen und ihr Verhalten zu analysieren. Zuerst gilt es aber, auf zwei in diesem Zusammenhang wichtige Effekte hinzuweisen, die eigentlich jeder und jede kennen sollte. Zum Ersten zeigen Forschungsergebnisse, dass es bei der Zuschreibung von Führungsfä­ higkeiten sowie der Übernahme (Emergenz) von Führung tatsächlich so ist, dass narzissti­ sche und extravertierte Personen im Beruf oder in Alltagssituationen nicht nur eher eine formelle oder informelle Führungsrolle für sich beanspruchen, sondern dass sie auch von den anderen eher in diese Rolle gedrängt werden (Externbrink & Keil, 2018). In der Stein­ zeit war es auf jeden Fall sinnvoll, solche Personen vorzuschicken, wenn es darum ging, sich gegen einen rivalisierenden Stamm durchzusetzen oder ein Mammut zu erlegen. Heute und in Zukunft sind für den langfristigen Führungserfolg andere Eigenschaften wichtiger. Bei einer vorschnell oder unüberlegt getroffenen Entscheidung kann sich he­ rausstellen, dass die in eine bestimmte Person hineinprojizierte Führungsstärke gar nicht vorhanden ist. Im digitalen Wissenszeitalter führen die im Gehirn angelegten Präferenzen in die Irre, sodass nicht die für die modernen Herausforderungen richtigen Personen als Führungskräfte gewählt werden, sondern eben solche, die vordergründig so etwas wie Führungsstärke ausstrahlen. Insofern ist es notwendig, gewissen im Hirn verankerten An­ lagen bewusst entgegenzusteuern. Mit Blick auf einen größeren Teil des politischen Führungspersonals scheint auch die Kenntnis des Dunning-Kruger-Effekts (Dunning et al., 2003) zentral: Dieser besagt, dass inkompetente Menschen dazu neigen, ihre Kenntnisse zu überschätzen. Etwas plakativ könnte man also sagen, dass oft gerade die dümmsten Menschen das Gefühl haben, richtig viel Ahnung zu haben. Die zur Schau gestellte Gewissheit, mit der eine faktisch nicht durchdachte Meinung vertreten wird, kann nun tatsächlich irrtümlich als Ausdruck von Kompetenz wahrgenommen werden. Im Laienverständnis wird nämlich implizit angenom­ men, dass man umso sicherer auftritt, je kompetenter man ist. Die Beurteilungspraxis zeigt, dass dem ganz und gar nicht so ist. Vielmehr sind sich gerade die kompetentesten Personen ihrer Sache oft nicht sicher, weil sie in der Regel auch wissen, was sie nicht wissen. Die ge­ bildeten Schichten kennen mehrheitlich das berühmte – und bis heute gültige – Zitat von Sokrates, dass er mehr wisse als die anderen, weil er eben auch wisse, dass er nicht viel wisse. In der Corona-Pandemie wurden diese Effekte schon fast erschreckend gut sichtbar. Weite Teile der Bevölkerung haben nur noch wenig Vertrauen in die Virologen oder in an­ dere Experten, weil sich diese untereinander nicht immer einig sind und als Wissenschaftler keine einfachen Wahrheiten vermitteln können und wollen – weil es diese eben meistens auch gar nicht gibt. Im Unterschied dazu ist es für einen professionellen Diagnostiker in der Regel ein schlechtes Zeichen, wenn jemand im Brustton der Überzeugung einfache Wahr­

2.3 Erkennen von problematischen Leader-Figuren

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heiten zu komplexen Themen zum Besten gibt. Die wahrscheinlichsten Gründe für ein sol­ ches Auftreten sind entweder Halbbildung oder mangelnder Realitätssinn – in der Politik auch ideologische Verblendung oder gar bewusstes Lügen, wenn man gewisse Parolen gegen besseres eigenes Wissen verkündet, weil man den eigenen Wählern die Wahrheit nicht zumuten möchte resp. Angst hat, von diesen dann nicht wiedergewählt zu werden, falls man es doch tut. Gewissheit oder das Gefühl, sich im Besitz einer alleinseligmachen­ den Wahrheit zu befinden, sind Formen von Dummheit, die in aller Regel nichts Gutes her­ vorbringen. Bei New Leadern wollen wir das nicht sehen, weshalb diese sorgfältiger ausge­ wählt werden müssen. Dazu notwendig ist eine treffendere Beurteilung anderer Personen. Damit möglichst viele Menschen dazu in der Lage sind, echte von falschen Leadern sowie äußeren Schein von echter Führungskompetenz zu unterscheiden, wird im Folgenden auf­ gezeigt, worauf es bei einer professionellen Personenbeurteilung ankommt. Selbstverständ­ lich sind die entsprechenden Hinweise auch nützlich für den Alltag.

2.3.1 Professionelle Personenbeurteilung Der Hauptunterschied zwischen professioneller und laienhafter Personenbeurteilung be­ steht darin, dass sich professionelle Beurteilende an einer spezifischen geistigen Land­ karte, das heißt einem vorgegebenen Raster hinsichtlich der im Beurteilungsprozess ­(Assessment) zu erfassenden Fähigkeiten sowie klar definierten erwünschten und weniger erwünschten Verhaltensweisen orientieren. Dieses „Kompetenzmodell“ setzt einen Rah­ men, kategorisiert die wichtigen Komponenten und definiert, welche Verhaltensweisen für die verschiedenen Kompetenzen charakteristisch sind. Damit wird sichergestellt, dass im Assessment-Prozess alle Beobachtenden auf die gleichen Verhaltensweisen achten und ihre Beobachtungen weitgehend identisch einordnen. Um ein möglichst objektiviertes Bild der Assessment-Kandidaten zu gewinnen, gilt zudem immer mindestens das Vierau­ genprinzip. Wenn die Teilnehmenden von mehreren Beobachtenden beurteilt werden, kann verhindert werden, dass subjektive Wahrnehmungen einer einzelnen Person ein zu großes Gewicht erhalten. Ziel ist eine möglichst objektive, faire und ausgewogene Bewer­ tung der Kandidaten. In Unterschied dazu wenden Laien mehrheitlich unbewusst soge­ nannte „implizite Persönlichkeitstheorien“ an (Kanning, 1999). Darunter fallen beispiels­ weise implizite Führungstheorien betreffend die Eigenschaften, die eine Führungspersön­ lichkeit ausmachen Dabei handelt es sich um mehr oder weniger detaillierte, persönliche Theorien über die Persönlichkeit. Weil sich diese Vorstellungen im Laufe des Lebens er­ fahrungsbasiert entwickeln, sind sie individuell und bis zu einem gewissen Grad einzigar­ tig. Allerdings sind sich die meisten Menschen dessen kaum bewusst, geschweige denn sind sie in der Lage, ihre Theorien differenziert zu beschreiben. Spürbar werden diese Theorien eher als Vorurteile oder als irgendwelche Annahmen zu bestimmten Themen. Ohne geeignete geistige Landkarten und ausreichend Übung ist man kaum in der Lage, sich ein treffendes Bild von anderen zu machen. Außerdem ist eine gute Selbstkenntnis vonnöten. Wichtig ist diesbezüglich vor allem die Kenntnis der – oft durch die eigenen

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

Stärken und Entwicklungsthemen und diverse Wahrnehmungsverzerrungen geprägte  – Brille, mit der man die anderen beurteilt. Ist man in dieser Hinsicht mit Blindheit beschla­ gen, sieht man sich in den anderen vor allem selbst – wenn auch meist eher wie ein Nega­ tiv in der Fotografie. Was einem Laien an anderen gefällt oder stört, sagt also mithin mehr über die beurteilende als die beobachtete Person aus. Wichtig ist es also, zunächst die ei­ gene Wahrnehmung zu schulen. So besteht eine zweite große Differenz zwischen Profis und Laien darin, dass erstere den Fokus der Aufmerksamkeit gezielt auf das beobachtbare Verhalten inklusive aller ver­ balen und nonverbalen Signale der Kandidaten richten, während Vorurteile aufgrund äuße­ rer Merkmale oder Einstellungen möglichst vermieden werden. Diese sehr bewusste Auf­ merksamkeit ist zentral, denn aus der Wahrnehmungspsychologie ist bekannt, dass das Gehirn nur eine begrenzte Zahl von Impulsen wahrnehmen kann und eintreffende Infor­ mationen auf vielfältige Weise gefiltert werden (Goldstein, 2015). Ist man eine fokussierte und gezielte Verhaltensbeobachtung nicht gewohnt und kennt die bei der Wahrnehmung relevanten Prozesse nicht, entsteht das Bild, das man sich von einer anderen Person macht, eher zufällig. Zu erwarten ist ein beliebiger Mix aus Einzelbeobachtungen, Interpretation und Meinungen. Ist dieses Bild einmal gemacht, braucht es viel, damit es noch einmal ernsthaft hinterfragt wird. So ist etwa denkbar, dass ein erster Eindruck (z. B. arrogant) als eine überdauernd dominierende Wahrnehmung haften bleibt (Priming) und sich aufgrund einer verzerrten Wahrnehmung scheinbar immer wieder bestätigt. Ebenso können ­irgendwelche Einzelbeobachtungen in einer bestimmten Situation das Gesamtbild des Ge­ genübers nachhaltig beeinflussen. Ein professionelles Vorgehen zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sämtliche Verhaltensweisen in verschiedenen Situationen neutral aufge­ nommen und ohne sofortige Beurteilung gesammelt, klassifiziert und dokumentiert wer­ den. In der Praxis besteht die Kunst darin, sich einerseits eine Art innere Bibliothek an be­ obachteten positiven und kritischen Verhaltensweisen anzulegen, sich im Hinblick auf die weiteren Beobachtungen jedoch nicht von den bereits erfassten Eindrücken beeinflussen zu lassen. Stattdessen muss versucht werden, dem Gegenüber in jeder neuen Situation neu und unvoreingenommen zu begegnen, das heißt, gewissermaßen immer wieder bei null anzufangen. Mit der Zeit zeigen sich bestimmte charakteristische Verhaltensmuster, die durchaus Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlauben. Auf den ersten Blick tönt das relativ einfach – und das ist es technisch gesehen auch. Die Schwierigkeiten liegen nicht auf der methodischen Ebene, sondern bestehen darin, dass eine solche Herangehensweise der natürlichen Funktionsweise des menschlichen Gehirns zuwiderläuft. Dieses ist nämlich im Grunde „faul“ und darauf ausgerichtet, eine andere Per­ son möglichst schnell einer bestimmten Kategorie zuzuteilen (Stereotypisierung) oder auf der Basis möglichst weniger, „charakteristischer“ Aspekte abzuspeichern, um diesen Ein­ druck bei der nächsten Begegnung einfach wieder hervorzukramen und nicht auf dessen aktuelle Gültigkeit zu prüfen (Ross, 2014). Das Gehirn vermeidet es nicht nur, andere immer wieder neu beurteilen zu müssen, sondern wehrt sich sogar dagegen, indem es bei anderen primär das wahrnimmt, was dem bereits bestehenden Bild entspricht (selektive Wahrnehmung). Dabei wird die Interpretation deutlich stärker durch echte oder vermeintli­

2.3 Erkennen von problematischen Leader-Figuren

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che Erinnerungen als durch das tatsächliche aktuelle Geschehen bestimmt. Gemäß Hornga­ cher (2021) greift das Gehirn zu 99 % auf bestehende Inhalte zurück und kreiert nur 1 % neu. Damit eine Information oder Beobachtung wirklich mit hoher Aufmerksamkeit aufge­ nommen wird, muss sie dem genannten Autor zufolge neu und bedeutsam sein sowie ent­ weder einen Nutzen versprechen oder einen möglichen Schaden abwenden. Ist man nicht konzentriert bei der Sache, werden dem eigenen Bild widersprechende gegenläufige Beob­ achtungen kaum aufgenommen, weil das Gehirn unnötige Arbeit vermeidet. Aus der Sicht der Theorie von Kahneman (2012) muss dem Gehirn bei der Personenwahrnehmung also bewusst langsames Denken aufgezwungen und schnelles Denken möglichst unterdrückt werden. Statt rascher und unbewusster Entscheidungsprozesse ist ein sorgfältiges und be­ wusstes Vorgehen angezeigt. Dies bedarf einer hohen Konzentration und kostet entspre­ chend viel Energie. Ist die Informationsgewinnung mit der gebührenden Aufmerksamkeit vonstattengegangen, dürfen mit gutem Gewissen Interpretationen vorgenommen werden. Einen erfahrenen Assessment-Profi erkennt man nicht zuletzt auch daran, dass er weiß, wann eine Interpretation möglich sowie ausreichend fundiert ist und wann beispielsweise Widersprüche nicht erklärbar sind und einfach stehengelassen werden müssen. Ein wichtiger erster Schritt zu einer verbesserten Personenwahrnehmung liegt also in der Kenntnis der wichtigsten kognitiven Verzerrungen und typischen Wahrnehmungsfeh­ ler. Bei der folgenden Liste handelt es sich nur um eine kleine Auswahl (vgl. z. B. The ­Cognitive Bias Codex). (1) Ähnlichkeitseffekt und Sympathiefehler: Zu wohlwollende Beurteilung, weil eine Person einem ähnlich erscheint oder besonders sympathisch wirkt. (2) Attributionsfehler: Vor allem scheinbar unangemessenes Verhalten einer anderen Person wird durch deren Charakter oder bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und nicht durch situative Aspekte erklärt. Beim Erklären eigener Misserfolge oder Fehlleistung gilt hingegen das Gegenteil: Da sind in der Regel andere oder situative Aspekte schuld. (3) Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): Informationen werden so ausgewählt und interpretiert, dass sie den eigenen Vorannahmen entsprechen resp. zu den bestehen­ den Erfahrungswerten passen. Diese Art der selektiven Informationsverarbeitung passiert ständig. (4) Bias blind Spot: Überzeugung, sich selbst für unbeeinflusst und unparteiisch zu halten. (5) Erinnerungsfehler: Falsche Erinnerungen, weil das Gedächtnis Erinnerungen ständig verändert. (6) Halo-Effekt: Tendenz, von einer bekannten Eigenschaft einer Person auf unbekannte Merkmale zu schließen (z. B. eine intelligente Person ist auch in den meisten The­ mengebieten kompetent). (7) Hierarchie-Effekt: Personen der oberen Hierarchieebenen werden besser beurteilt. (8) Interpretationsfehler: Aussagen, Gesten oder Handlungen anderer werden falsch oder überinterpretiert.

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(9) Kleber-Effekt: Die bisherige Geschichte und frühere Beobachtungen bestimmen die Wahrnehmung des aktuellen Verhaltens (z. B. früher gezeigte Leistungen). (10) Kontrast-Effekt: Der Vergleich zweier sehr unterschiedlich stark ausgeprägter Eigen­ schaften akzentuiert deren Beurteilung (z. B. etwas Schönes neben etwas Hässlichem). (11) Milde-Strenge-Effekt: Eigenes, zu hohes oder niedriges Anspruchsniveau bestimmt die eigene Beurteilung anderer. (12) Primacy-Effect: Der erste Eindruck beeinflusst alle weiteren Beobachtungen, Wahr­ nehmungen und Interpretationen. (13) Recency-Effect: Die letzten Beobachtungen bestimmen die Gesamtwahrnehmung (z. B. letzte Worte einer Präsentation). (14) Selektive Wahrnehmung: Der Fokus auf einen bestimmten Aspekt macht blind für andere Aktivitäten oder Eigenschaften; zudem: selektive Wahrnehmung aufgrund vorgefasster Meinungen. (15) Stereotype: Vorgefasste Urteile über bestimmte Gruppen (z. B. Männer oder Frauen). Im Alltag sind vor allem diejenigen Wahrnehmungsfehler von Bedeutung, welche die Be­ urteilenden selbst betreffen. So werden etwa vermeintlich ähnliche Menschen als sympa­ thischer wahrgenommen oder erwünschte Eigenschaften in andere hineinprojiziert (z. B. Politiker). Denkbar ist auch, dass eigene (bewusste oder unbewusste) Schwächen fälschlicherweise bei anderen wahrgenommen werden. Bei mehrmaligem oder ständigem Kontakt mit einer anderen Person kommen vor allem Prozesse der selektiven ­Wahrnehmung zum Tragen. Speziell hervorzuheben ist der „Confirmation Bias“: Hat man jemandem ein­ mal eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben, nimmt man vor allem diejenigen Verhal­ tensweisen wahr, die diesem (eigenen) Bild entsprechen, während anderes ausgeblendet wird. Hält man beispielsweise jemanden für ungeschickt, werden definitiv alle Situatio­ nen, die dieses Bild bestätigen, registriert. Sollte die betreffende Person bei irgendeiner Aufgabe eine hohe Geschicklichkeit zeigen, wird dies allerdings mit einer hohen Wahr­ scheinlichkeit übersehen werden. Ebenfalls relevant ist das Gedächtnis, das von Laien fälschlicherweise als eine Art Com­ puter resp. als objektiver Datenspeicher wahrgenommen wird („Computer-­Metapher“). Tatsächlich handelt es sich beim Erinnern um einen dynamischen Prozess, der alles andere als zuverlässig ist und vergleichsweise einfach manipuliert werden kann (z. B. Shaw, 2016). Die grundlegende Aufgabe des Gedächtnisses ist eher, eine selbstwertstützende Geschichte des eigenen Lebens zu erzählen, als Informationen korrekt abzuspeichern. Und so werden sämtliche Erinnerungen so lange verändert, neu zusammengesetzt oder vergessen, bis das große Ganze für einen „einen Sinn“ ergibt resp. das eigene Selbstwertgefühl gestützt wird. So lassen sich etwa Erinnerungen an verflossene Liebschaften fast beliebig verklären, wäh­ rend eine Person, die einen früher einmal verletzt hat, im Laufe der Jahre zunehmend kriti­ scher beurteilt werden kann. Ein weiterer Hinweis betrifft den „Bias Blind Spot“: In der Praxis begegnet man immer wieder Personen, die von sich behaupten, andere unvoreinge­ nommen beurteilen zu können, obwohl sie sich oft nicht einmal selbst wirklich kennen. Frei von Vorurteilen zu sein, ist eine Illusion. Teilweise kursiert in der Praxis auch ein falsches

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Verständnis von wertfreier Beurteilung in dem Sinne, dass es als ideal angesehen wird, an­ dere überhaupt nicht zu bewerten. Dummerweise funktioniert das gar nicht, weil eine Grundfunktion des Gehirns gerade darin besteht, alles zu bewerten. Das beginnt bei einer sekundenschnellen Beurteilung, ob etwa von einem unbekannten Gegenstand eine Gefahr ausgeht, und hört bei komplexen Überlegungen zu gesellschaftlichen Fragen auf. So unter­ scheiden sich Menschen nicht darin, in welchem Maße sie andere beurteilen, sondern im Umfang, in dem sie sich der eigenen Urteile und Vorurteile bewusst sind. Von sich zu be­ haupten, andere nicht bewerten zu können, ist aus psychologischer Sicht in etwa so, als würde man behaupten, nicht atmen zu können. Stattdessen sollte man sich der eigenen Vor­ urteile bewusst werden und konstruktiv damit umgehen. Außerdem lohnt es sich, die dargestellten Prinzipien professioneller Beurteilung auch im Alltag zur Bewertung des persönlichen Umfelds (Vorgesetzte, Kollegen, Freunde etc.) anzuwenden. Allerdings ist das noch schwieriger, weil man – anders als in einem professi­ onellen Setting – nur noch bedingt Distanz wahren kann, weil man selbst Teil der psycho­ logischen Dynamik wird, ist das Verhalten der anderen auch eine Reaktion auf die eigene Persönlichkeit und Ausdrucksweise. Die Beurteilung wird dann komplexer und beinhaltet die folgenden Fragen: Was ist wirklich der andere? Was bin eigentlich ich selbst? Was ist unsere gemeinsame Dynamik? Diese Fragen sind auch entscheidend, wenn man etwa einen Konflikt mit jemanden analysieren möchte (mein Beitrag, der Beitrag des anderen und unser Zusammenspiel). Es lohnt sich auf alle Fälle, sich einmal pro Jahr das Bild, das man von den wichtigeren Bezugspersonen hat, bewusst zu vergegenwärtigen und darauf zu überprüfen, ob es noch angemessen ist. Menschen können sich nämlich entwickeln.

2.3.2 Schein und Sein bei Führungsstärke Als Assessment-Praktiker ist man unter anderem darauf sensibilisiert, Schein und Sein voneinander zu unterscheiden. Ohne Kenntnisse hinsichtlich der Merkmale, die tatsäch­ lich mit dem zu erwartenden Führungserfolg in Zusammenhang stehen, läuft man Gefahr, sich von oberflächlichen oder irreführenden Aspekten leiten zu lassen. Dies trifft insbe­ sondere auf die „Führungsemergenz“ zu, das heißt die Zuschreibung von Führungseigen­ schaften. So zeigen Studien, dass Laien neben durchaus nachvollziehbaren Merkmalen wie Attraktivität oder Extraversion (z. B. Breuer, 2008) auch Aspekte wie Körpergröße oder Selbstsicherheit mit Führungseignung in Zusammenhang bringen (Chamorro-­ Premuzic, 2019). Bei Männern können beispielsweise auch ein energisches Auftreten oder eine markante Kinnpartie als Ausdruck von Maskulinität und diese wiederum als Indikator für Führungsstärke interpretiert werden. Wird Führung über eine gewisse Zeit konkret er­ lebt, verändert sich der Fokus der Mitarbeitenden auf die Einschätzung der erlebten Qua­ lität der Führung („Führungseffektivität“). Dabei treten eher Aspekte wie Verbindlichkeit und Gewissenhaftigkeit in den Vordergrund, während andere Merkmale an Bedeutung ver­ lieren oder gar zunehmend als nervtötend wahrgenommen werden. Narzissten vermitteln bei geringer Bekanntschaft auf viele Menschen den Eindruck eines guten Führungspoten­

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zials. Lernt man sie näher kennen, verblasst der vermeintliche anfängliche Glanz jedoch rasch. Aufgrund der starken Ich-Bezogenheit können sich die Personen in ihrem Umfeld kaum entfalten oder Entscheidungen beeinflussen, wenn der Narzisst von etwas überzeugt ist. Man muss sich anpassen oder gehen. Langfristig bleiben so vor allem unsichere Jasa­ ger und machiavellistische Pfründenjäger in ihrer Nähe. Dieses Phänomen lässt sich be­ sonders bei Politikern immer wieder beobachten. Problematisch an den impliziten Füh­ rungstheorien ist, dass diejenigen Eigenschaften, die bestimmen, ob jemand von Laien als führungstauglich eingeschätzt wird, allenfalls teilweise mit denjenigen übereinstimmen, die tatsächlich einen nachhaltigen Führungserfolg bewirken. Bei den folgenden oberfläch­ lichen Merkmalen ist Vorsicht geboten. Sie können den Blick auf das wirkliche Wesentli­ che trüben. Physische Attraktivität  Speziell dann, wenn man Menschen hauptsächlich in den Me­ dien „begegnet“, besteht die Gefahr, dass man sich bei der Beurteilung ihrer Kompetenz von ihrer äußeren Erscheinung oder ihrem Auftreten blenden lässt. Obwohl es bei genau­ erem Hinsehen logisch ist, dass weder die physische Attraktivität noch die Selbstdarstel­ lung einer Person etwas über die tatsächliche Eignung für eine Führungsfunktion aussa­ gen, wird im Laienverständnis genau dies angenommen. Dies geschieht selbstverständlich nicht bewusst. Hintergrund ist vielmehr eine Art genetisch vorgegebene Prägung, die man kennen und der man sich ganz bewusst entziehen muss. Wie schwierig das ist und dass auch Fachleute vor dieser Wahrnehmungsverzerrung nicht gefeit sind, zeigt etwa der mehrfach bestätigte Befund, dass bei Stellenbesetzungen attraktive Bewerber bevorzugt werden (z. B. Gerleigner, 2020). Werden fiktive, sich nur durch das beigelegte Foto unter­ scheidende Lebensläufe vermeintlicher Stellensuchender an HR-Verantwortliche ver­ schickt, erhalten die gutaussehenden Personen eher eine Einladung zu einem Bewerbungs­ gespräch. Bei Beurteilungsprozessen gilt es, sich immer wieder bewusst zu fragen, ob et­ waige Gefühle von Sympathie nicht vor allem durch Äußerlichkeiten geweckt werden. Kleidung  Ebenfalls kein echter Anhaltspunkt für die Führungseignung ist die Kleidung. Adrette Kleidung und säuberlich geputzte Schuhe sagen etwas darüber aus, ob jemand Wert auf ein gepflegtes Äußeres legt oder nicht – und sonst gar nichts, es sei denn, es han­ delt sich um ein Statement – zum Beispiel die Turnschuhe im Deutschen Bundestag vom späteren Außenminister Joschka Fischer. Entscheidend ist letztlich immer die Authentizi­ tät. So wird in Teilen der Wirtschaft der saloppe Kleidungsstil von Start-ups nachgeahmt, weil man jugendlich erscheinen möchte. Je nach Träger oder Trägerin kann dies sehr un­ angemessen erscheinen, speziell wenn sich die betreffende Person in ihrem „coolen“ Auf­ zug sichtlich unwohl fühlt. Sieht jemand fast übertrieben wie aus dem Ei gepellt aus, kann dies auch ein Zeichen für Eitelkeit oder eine mangelhaft ausgebildete Persönlichkeit sein. Bei letzterem ist die perfekte Schale vor allem Ausdruck von Unsicherheit. Hinter der pro­ peren Fassade verbirgt sich dann – nichts. Selbstverständlich wird mit Kleidung auch oft die Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck gebracht (z. B. Springerstiefel oder ökologische Kleidung). Soziale Identität geht dann über das Bedürfnis und das Vermögen, einen indi­

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viduellen Stil zum Ausdruck zu bringen. Gilt bei einem bestimmten Anlass eine Kleider­ ordnung, sollte man sich daran anpassen und ein gewissen Minimalstandard einhalten. Sich bewusst auf der Kleiderebene abgrenzen zu wollen, ist eher unreif. Fitness  Ohne Frage stellt eine einigermaßen robuste physische Konstitution eine wün­ schenswerte Voraussetzung für eine Führungsfunktion dar. Allerdings können auch Perso­ nen mit körperlichen Benachteiligungen gute Führungspersönlichkeiten abgeben. In der Politik trifft dies besonders auf Franklin D. Roosevelt, den 32. Präsidenten der USA, zu. Der Sieg über Japan und Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg geht ebenso auf sein Konto wie der New Deal, ein Maßnahmenpaket zur Überwindung der Weltwirtschafts­ krise der 1930er- Jahre. Infolge einer Krankheit (wahrscheinlich Polio) war er während der gesamten Amtszeit an den Beinen gelähmt, schaffte es allerdings mittels allerhand Tricks, dass die Öffentlichkeit von seiner Krankheit kaum etwas mitbekam. Im Zeitalter der Selbst­ optimierung ist ein eigentlicher Fitnesskult entstanden. Speziell viele Führungspersonen in der Wirtschaft frönen diesem, um damit Gesundheit und Stärke auszustrahlen. Es ist klar, dass eine robuste Gesundheit dabei hilft, mit Belastungen umzugehen; ob man sich als Führungskraft eignet, hängt allerdings stärker von anderen Faktoren ab. Gefragt ist hauptsächlich geistige Fitness, was – eher als körperliche Gebrechen – dafür spricht, künf­ tig weniger alte Männer in wichtige Ämter zu hieven. Dass Alter zwangsläufig Weisheit mit sich bringt, ist ohnehin längst als Mythos enttarnt. Denn nur eine bewusst ausgewer­ tete Erfahrung bewirkt persönliches Wachstum. Wird eine Erfahrung nicht bewusst inte­ griert, verändert sich nichts. So zeigt die Assessment-Praxis beispielsweise, dass es durch­ aus möglich ist, 20 Jahre lange Menschen zu führen, darüber aber kaum etwas zu lernen. Entscheidend sind eine nie erlahmende Lernbereitschaft und Offenheit für Erfahrungen. Umgangsformen  Nicht sehr aussagekräftig ist auch ein perfektes Einhalten der Eti­ kette – entsprechende Fauxpas sind meist auf Unkenntnis zurückzuführen und können leicht jederzeit korrigiert werden. So etwas Banales wie Anstandsformen kann eigent­ lich jeder und jede lernen. Entzieht sich jemand bewusst allen Anstandsregeln, liegt meist ein fehlgeleiteter, Ich-bezogener Versuch, etwas Besonderes zu sein, vor – oder schlicht Flegelhaftigkeit infolge mangelnder persönlicher Reife. Auch wenn diverse Hochglanzmagazine und die Sozialen Medien etwas anderes suggerieren, hat Stil wenig mit Äußerlichkeiten oder materiellem Besitz zu tun. Aus psychologischer Sicht ist da­ runter eher eine eigene Linie im Sinne eines eigenständigen Persönlichkeitsformats zu verstehen. Damit explizit nicht gemeint sind Einstellungen, insbesondere Meinungen zu politischen oder gesellschaftlichen Themen. Geschmeidige Umgangsformen wecken Sympathie, sofern sie authentisch wirken. Bei Schmeicheleien ist dagegen Vorsicht ge­ boten. Die Grenzen zu den weichen Formen der Manipulation sind fließend. Bis zu einem gewissen Grad sind angemessene Umgangsformen Konventionen, die eingehal­ ten werden müssen. Sie erleichtern es natürlich, sich sicher auf dem politischen Parkett zu bewegen oder den Zugang zu bestimmten Kreisen zu erlangen, mit nachhaltiger Füh­ rungsstärke haben sie aber nichts zu tun.

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Auftreten  Neben dem angesprochenen charismatischen oder besonders energischen und energievollen Auftreten kann auch die Zuschreibung einer hohen Kompetenz oder Seniori­ tät den Eindruck von Führungsstärke erwecken. In der Schweiz avancierte zu Beginn der Pandemie ein kurz vor seiner Pensionierung unvermittelt in den Brennpunkt des öffentli­ chen Interesses geratener Chefbeamter aus dem Bundesamt für Gesundheit zum „Mister Corona“. Seine vermeintliche stoische Gelassenheit im Angesicht der sich anbahnenden Krise wurde von gewissen Medien und Teilen der Bevölkerung wohl als Standfestigkeit oder Unerschrockenheit interpretiert – der Fels in der Brandung gewissermaßen. Vielleicht wirkte auch seine optimistische Sicht auf die Dinge auf viele Menschen tatsächlich beruhi­ gend, oder es wurde womöglich seine nüchterne Art als Zeichen von Kompetenz gedeutet. Auf mich als professionellen Beurteiler wirkte dieser Beamte bei seinen Auftritten eher spröde als souverän sowie eher überfordert als kompetent. Obwohl eine spätere Analyse in­ terner Dokumente aus dem Bundesamt (Brönnimann, 2020) tatsächlich ein sehr unvorteil­ haftes Bild seiner Tätigkeit in der Krise zeichnete, zeigte der Mann meines Wissens nie Ein­ sicht oder die Bereitschaft, sein Wirken kritisch zu hinterfragen. Stattdessen versuchte er, seine unverhoffte Popularität mit gut bezahlten Beratungsmandaten zu vergolden. Sturheit und Unbelehrbarkeit sind überaus problematische Eigenschaften. Konflikte, bei denen es im Grunde letztlich ums Rechthaben geht, gehören nicht nur zu den überflüssigsten, son­ dern auch zu den am schwierigsten lösbaren – eben, weil keine Konsens- und Kompromiss­ bereitschaft besteht. Im Unterschied dazu sind eine gewisse Beharrlichkeit und ein mutiges Einstehen für seine Prinzipien tatsächlich Ausdruck von Führungspotenzial. Rhetorische Fähigkeiten  Ohne Zweifel ist es von Vorteil, eigene Meinungen überzeu­ gend vertreten zu können. Wie das geht, wird an anderer Stelle näher ausgeführt. Die mög­ liche Wirkung ist unbestritten, wie sich gerade am Beispiel des ukrainischen Präsidenten Selenski zeigt. Dieser versteht es extrem gut, die Menschen über seine Heimat hinaus mit seinen emotionalen Botschaften zu erreichen. Dabei wirkt er bescheiden und bodenstän­ dig und nimmt seine Person zurück. Das Gegenteil sind Volksverhetzer, die eher versu­ chen, die Zuhörenden aufzupeitschen, wobei sie es mit der Wahrheit nicht besonders genau nehmen. Diese Art von Rhetorik gilt es, als schädlich zu begreifen und zu erkennen. Letztlich sind Taten immer besser als Worte. So basiert die Glaubwürdigkeit von Selenski vor allem darauf, dass er in der Hauptstadt bleibt, obwohl ihn das sein Leben kosten kann. Diese Botschaft hat wirklich Kraft. In der freien westlichen Welt ist es einfach und unge­ fährlich, sich als Lautsprecher zu betätigen, um kurzfristig Aufmerksamkeit zu erregen. Besser ist es, die Initiative zu ergreifen und konkrete Aktionen anzupacken, um etwas zu bewegen, sprich die einem am Herzen liegenden Themen tatsächlich voranzubringen. Ab­ zulehnen sind dagegen ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und missionarischer Eifer. Konstruktive Lösungen entstehen auf dieser Basis kaum. Ansonsten gilt, dass man Worten Taten folgen lassen sollte. Wer keine konkreten Aktionen initiieren möchte, ist im Grunde genommen ein Sprücheklopfer. Reden allein bewirkt nichts. Von außen betrachtet, vermit­ teln allerdings viele Politiker den Eindruck, als wäre es gar nicht ihr Ziel, tatsächlich etwas Konstruktives zu leisten oder wirkliche Veränderungen auf den Weg zu bringen. Stattdes­

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sen gefallen sie sich darin, sich in verschiedenen Gremien mit Gleichgesinnten auszutau­ schen. Gegenseitige Bestätigung ist dann das wahre Motiv, die Sache selbst, „rechts oder links“ dagegen erscheint austauschbar. Was in einem Assessment entweder als Geschwät­ zigkeit oder mangelnde Umsetzungsstärke kritisiert würde, scheint in den Medien und in der Politik in gewisser Hinsicht akzeptiert oder sogar wünschenswert zu sein. Gut tö­ nende, inhaltsleere Beiträge werden als rhetorische Fähigkeiten schöngeredet und die be­ treffenden Personen in Talkshows eingeladen. Stattdessen sollten bei den kommunikativen Fähigkeiten die inhaltliche Substanz und das Vermögen, eigene Gedanken realitätsnah, verständlich und für jedermann nachvollziehbar zu vermitteln, beurteilt werden. Im As­ sessment entlarvt man hohles Gerede mittels konkreter Nachfragen. Müssen eigenen Po­ sitionen begründet oder daraus konkrete Maßnahmen abgeleitet werden, geraten Blender und inkompetente Personen relativ rasch an Grenzen. Ihre Antworten fallen oberflächlich und wenig durchdacht aus. Kommunikative Fähigkeiten sind dann eine Qualität, wenn es gelingt, andere zu inspirieren oder dazu zu bringen, für eine nützliche und ethische Vision aktiv zu werden. In Zukunft sind zudem vermehrt ausgeprägte Zuhörfähigkeiten gefragt. Selbstvertrauen  Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist die Selbstsicherheit, mit der je­ mand auftritt. Wie schon dargestellt, kann ein starkes Selbstvertrauen auch auf Selbstüber­ schätzung hindeuten. Keinesfalls darf man blindlings davon ausgehen, dass ein großes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das eigene Urteilsvermögen auch berechtigt ist. Die Erfahrung zeigt, dass bei auffallend offensiv auftretenden oder überaus selbstsicheren Personen eher Vorsicht geboten ist – es könnte sich um Blender, Narzissten oder auch Psy­ chopathen handeln. In aller Regel ein positives Signal ist eine gelassene, gleichzeitig be­ scheiden und souverän – aber keinesfalls selbstgefällig – wirkende Haltung. Gefragt ist innere Stärke statt zur Schau gestelltes Selbstvertrauen. Personen mit einem ausgeprägten Persönlichkeitsformat haben es nicht nötig, nach Aufmerksamkeit zu gieren oder sich ständig in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt in der Wirtschaft den Spruch, dass A-Leute (d. h. Top-Profis) A-Leute suchen, während sich B-Leute lieber mit C-Leuten umgeben. Erstere besitzen die innere Stärke, Widerspruch auszuhalten, und stellen die Sache über ihr persönliches Ego. Besonders fähige Personen zeichnen sich unter anderem gerade da­ durch aus, dass sie es schätzen, durch andere kompetente Personen herausgefordert zu werden. Sie sind bereit dazuzulernen und streben vor allem nach der besten Lösung. Es könnte ja sein, dass ein kritischer Beitrag dazu beiträgt, das Unternehmen oder die Pro­ dukte besser zu machen. B-Leute und Narzissten neigen dazu, sich durch Kritik oder Kompetenz bedroht zu fühlen, weshalb sie den Umgang mit unbedarften und unkritischen Personen vorziehen. Das Denken in A- und B-Leuten mag das moralische Empfinden ei­ niger Leute ritzen, ist aber eine Realität, die im Spitzensport allgemein akzeptiert ist und sich auch in der professionellen Personalbeurteilung immer wieder bestätigt. Dabei stehen das Potenzial und die Leistung im Vordergrund und nicht die Wertigkeit als Mensch. Statt sich an pseudomoralischen Kriterien oder Einstellungen zu orientieren, sollte man sich bei designierten Leadern immer auf die tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten konzentrieren. Folgende Fragen können dabei nützlich sein: Welche Qualität haben die Personen, die er

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oder sie um sich schart? Lässt sich die Führungskraft von diesen kritisch hinterfragen? Ist sie in der Lage, sich zugunsten anderer zurückzunehmen und bei Bedarf geeigneteren Per­ sonen den Vortritt zu lassen? Wie einbeziehend resp. partizipativ ist ihr Umgang? Fördert jemand primär kompetente, kritische Personen? Fühlt er sich seiner Sache so sicher, dass er Widerspruch nicht scheut, sondern sucht? Dies wiederum bedeutet, dass jemand die Ziele oder die Ergebnisqualität über das eigene Ego stellt. Einstellungen und Ansichten  Es besteht kein Zweifel, dass sich viele Menschen bevor­ zugt mit Personen umgeben, die ihre gesellschaftlichen und politischen Ansichten teilen. Solange diese Einstellungen nicht identitätsstiftend wirken und auf der kollektiven Ebene Ausgrenzungsmechanismen bewirken, ist dagegen eigentlich auch nichts einzuwenden. Nimmt irgendeine Ideologie zu sehr von jemanden oder einer Gruppe von Leuten Besitz, sieht es anders aus. Eine zunehmende Ab- und Ausgrenzung ist zu erwarten, wobei belie­ bige Eskalationsmöglichkeiten bestehen. Die Mechanismen sind in allen ideologischen Gruppen dieselben, und im Extremfall können selbst Gewalttaten von Mitgliedern der ei­ genen Gruppe verharmlost oder sogar verherrlicht werden, während genau das gleiche Verhalten der „Gegner“ auf das schärfste verurteilt wird. Die in einigen Ländern (v. a. Ver­ einigte Staaten) erschreckend stark zunehmende Polarisierung (Sinek, 2017) bewirkt, dass die Bereitschaft, sich gegenseitig zuzuhören, ständig abnimmt. Egal ob Religion oder Ideologie, ein zu starkes, selbstwertrelevantes Festhalten an fixen und simplen Vorstellun­ gen bewirkt eigentlich nie Gutes. Dies bestätigt sich gerade in der Ukraine auf eine er­ schreckende Weise. In der Regel schaden Ideologen der von ihnen angeblich vertretenen Sache eher, weil sie mit ihren Positionen selbst gemäßigte Befürworter abschrecken und meist unrealistische, unausgewogene Ziele verfolgen. Schlimmstenfalls wird dazu überge­ gangen, die eigenen Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Wird die Zahl der Extremis­ ten zu hoch, können sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften in Gefahr geraten (z. B. die Demokratie). Im Hinblick auf die zunehmend unsicherer werdende Welt ist die Tatsache zu beachten, dass persönliche Unsicherheitsgefühle eine politische Radikalisie­ rung begünstigen. Dies bedeutet letztlich, dass unbewusst versucht wird, eigene Ängste mit extremen Ansichten zu reduzieren. Führung, die diese Effekte ausnutzt und weiter ver­ stärkt, ist auf jeden Fall als Dark Leadership zu bezeichnen. Auf der Ebene der Normalbevölkerung existiert das Phänomen der „Moral Credenti­ als“. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass eine vermeintlich gute Tat oder moralische Statements als eine Art Freibrief für unsoziales Verhalten verstanden werden können. In einem Experiment an der Universität Toronto (Mazar & Zhong, 2014) handelten die Ver­ suchsteilnehmer egoistischer und waren eher bereit zu stehlen und zu betrügen, nachdem sie zuvor fiktiv Bioprodukte statt möglichst günstige Produkte gekauft hatten. Vieles deu­ tet darauf hin, dass man das Gefühl hat, sich eine Art Guthaben für asoziales Verhalten zu erarbeiten, wenn man sich – mit Worten oder symbolischen Gesten – für eine vermeintlich gute Sache einsetzt. Das ist natürlich praktisch: Man muss noch nicht einmal aktiv werden oder sich womöglich die Hände schmutzig machen, es reicht es schon, wenn man etwa im

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Internet Likes und Dislikes verteilt oder sich mit Gleichgesinnten über moralisch wert­ volle Themen unterhält und sich gegenseitig bestätigt. Die unerwünschte Eigenschaft da­ hinter ist die Selbstgerechtigkeit. Auch sehr selbstgerechte Personen gehören nicht in po­ litische Ämter. In der Wirtschaft sind ideologische Vorstellungen eher auf der Makroebene zu beachten (z. B. Shareholder-Value-Doktrin). Keinesfalls darf davon ausgegangen wer­ den, dass sich etwa sozialen Idealen verpflichtete Personen auch wirklich sozial verhalten. Nicht selten ist das Gegenteil der Fall, und die humanistische Gesinnung erweist sich als leeres Gerede. Bei extremer Doppelmoral wie zum Beispiel bei kirchlichen Würdenträger, die sich sexueller Verfehlungen an Minderjährigen schuldig machen, kann eine übertrie­ bene Frömmelei auch Ausdruck von kompensatorischen Schuldgefühlen sein. Zusammen­ fassend lässt sich festhalten, dass bei Personen, die sich besonders stark mit bestimmten ideologischen Vorstellungen identifizieren oder auffallend missionarisch auftreten, Vor­ sicht geboten ist. Positiv zu werten sind konkrete Aktivitäten, die dazu beitragen, auf ir­ gendeinem wichtigen Gebiet eine Verbesserung zu erzielen.

Tipps zur Personenbeurteilung (1) Sich eine gedankliche Landkarte zu Führungsqualitäten aneignen. Daraus konkrete (erwünschte und unerwünschte) Verhaltensweisen ableiten. Bei der Beurteilung anderer Personen stets den gleichen Maßstab und die gleichen Kriterien anwenden. (2) Die wichtigsten Wahrnehmungsverzerrungen kennen. Bewusst auf diese achten. Zum Beispiel gezielt versuchen, bei den sympathischen Personen auch die negativen Seiten, bei den unsympathischen Personen hingegen auch die guten Seiten zu sehen. (3) Sich selbst kennenlernen. Vor allem die eigenen Stärken, Schwächen und gemachten Erfahrungen in den Blick nehmen. Herausfinden, wie sich diese auf die Beurteilung anderer auswirken. (4) Zwischen vermeintlichen Signalen von Führungsstärke und echten entsprechenden Merkmalen unterscheiden. Dem Impuls widerstehen, sich von oberflächlichen Aspekten blenden zu lassen. (5) Anderen immer wieder neu begegnen. Versuchen, eine unvoreingenommene Haltung zu bewahren. Bereits getätigte Urteile immer wieder auf den Prüfstand stellen. (6) Auf die Kongruenz von Reden und Handeln achten. Ausführungen anderer auf inhaltliche Substanz und Machbarkeit prüfen. Herausfinden, ob realistische Umsetzungspläne bestehen. (7) Sich nicht von Äußerlichkeiten, Gerede oder irgendwelchen Einstellungen blenden lassen. Stattdessen Persönlichkeit und Verhalten in den Mittelpunkt der Beurteilung stellen. (8) Wenn möglich, eigene Eindrücke und Beobachtungen durch andere Personen spiegeln lassen. Einen Abgleich der Wahrnehmungen vornehmen.

Als Wähler oder Mitarbeiter sucht man Führungskräfte, denen man trauen kann und die das eigene Unternehmen oder Land voranbringen. Auf welche Eigenschaften und Fähig­ keiten man dabei achten sollte, wird in den folgenden Ausführungen gezeigt. Ein zentra­ les, wenn nicht das wichtigste Merkmal fähiger Leader stellt die Ausrichtung an Grund­

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werten und Prinzipien – und eben nicht Einstellungen – dar. Die zunehmende gesellschaft­ liche Zersplitterung in Extremgruppen dürfte auch auf den Zerfall der traditionellen Werte zurückzuführen sein. Menschen benötigen eine gemeinsame Bindung an eine wie auch immer geartete Philosophie. Handelt es sich dabei um einen positiven Wertekodex, sind positive Wirkungen zu erwarten, bei Ideologien dagegen unnötige Konflikte. Fazit Eine gute Führungskraft zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie einen für sich stimmigen Wertekompass vertritt und als Vorbild vorlebt. Ist dies in einem hohen Maße der Fall, wird dies im Assessment rasch erkennbar. Solche Personen vermitteln einem das Ge­ fühl, dass man sofort weiß, woran man bei ihnen ist. Wichtig dabei ist, dass es sich um all­ gemeine Prinzipien und nicht fixe Regeln oder ideologische Vorstellungen handelt. Wäh­ rend persönliche Grundwerte den Charakter prägen und einem Format verleihen, verengen ideologische Haltungen den Blick und bewirken, dass man sich im Extremfall nur noch mit Gleichgesinnten umgibt. Die Grundwerte Integrität, Ehrlichkeit, Verbindlichkeit und Ver­ lässlichkeit können „erlernt“ werden. Ein eigenständiges Prinzipienprofil bringt eine unver­ wechselbare Identität und eine klare eigene Linie zum Ausdruck. Das rigide Festhalten an unhinterfragten Prinzipien oder vor allem an bestimmten ideologischen Glaubenssätzen jeglicher Natur ist hingegen ein starker Hinweis für einen Mangel an Persönlichkeitsformat. Im Assessment oder im Kontakt gilt es herauszufinden, ob man es mit einem Blender oder einer Macherpersönlichkeit zu tun hat. Am einfachsten lässt sich dies bewerkstelli­ gen, indem man die Person nach konkreten Aktivitäten und den damit erzielten Erfolgen befragt. Auch bei den Werten kann es Überausprägungen geben. Hin und wieder trifft man beispielsweise auf Ehrlichkeitsfanatiker, die glauben, dass man jederzeit die (eigene) Wahrheit auf ungeschönte Weise allen Beteiligten mitteilen muss. Handelt es sich um Ba­ gatellen oder wird jemand völlig unnötig verletzt, kann sogar eine gute Eigenschaft wie Ehrlichkeit des Guten zu viel werden. Ebenfalls eine überflüssige Übertreibung ist eine permanente Prinzipienreiterei. Redet jemand dauernd von Werten, ist es angebracht, hell­ hörig zu werden. Mitunter handelt es sich nur um eine Taktik, um gut anzukommen, oder es ist sogar ein Signal, dass es der Person an echten Werten fehlt. Als eine einfache Richtschnur für werteorientiertes Verhalten kann die folgende Formel dienen: „do what you say, say what you mean and mean what you say“. Einen individuellen, über die von allen einzufordernden Grundwerten wie Integrität, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit hinaus gehenden Wertekompass entwickelt man am einfachsten, wenn man sich zuerst genau überlegt, was man von sich und anderen erwartet. Für welche Werte will ich einstehen? Welche (Vorbild-)Wirkung will ich im Alltag ausstrahlen? Welche Ansprüche will ich an mein Umfeld stellen? Aus den Antworten auf diese Leitfragen lässt sich eine eigene per­ sönliche Linie ableiten. Insbesondere bei Politikern sollte vermehrt Reden und Handeln gegeneinander abgewogen werden. Wasser predigen und Wein trinken scheint in der Poli­ tik nicht nur gang und gäbe, sondern auch akzeptiert zu sein. Es reicht offenbar, wenn man sich in Reden mit den vermeintlich richtigen Themen profiliert. Glaubwürdigkeit durch

Literatur

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Vorbild wird nicht verlangt. Würden Vorgesetzte in der Privatwirtschaft das Gegenteil von dem tun, was sie von den Mitarbeitenden verlangen, hätten sie ziemlich rasch ein größeres Akzeptanzproblem.

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2  Toxische und kritische Persönlichkeitseigenschaften

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3

Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

Einleitung Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich im Umkehrschluss eine Annäherung an die grundsätzlichen Merkmale guter Führung respektive geeigneter Führungskräfte ableiten. Zentral sind Aspekte wie Gemeinsinn statt Ichbezogenheit, Lösungsorientierung statt ideologischem Dogmatismus, Umsetzungsorientierung statt leerer Rhetorik, Authentizität statt Schein sowie der Wille und das Vermögen, konkrete Ziele oder Ergebnisse zu erzielen und dabei sowohl als Vorbild auf andere inspirierend zu wirken als auch selbst immer weiter dazuzulernen. Bevor die dafür relevanten Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen detailliert diskutiert werden, sind zwei aus normativer Sicht speziell für die New Leader charakteristische Merkmale hervorzuheben. Vor allem die Umweltproblematik, aber auch die die zunehmende Anfälligkeit der gesamten Infrastruktur aufgrund der digitalen Vernetzung (Stichworte Cybercrime, Cyberwar) machen es unabdingbar, dass sich künftige Führungspersonen 1) durch eine umweltbewusste und nachhaltige Grundhaltung sowie 2) durch eine ethische oder besser prinzipiengeleitete Vorgehensweise beziehungsweise als Person durch eine ausgeprägte Werteorientierung, besonders durch Integrität und Vertrauenswürdigkeit, auszeichnen.

3.1 Nachhaltigkeit Auf der politischen Ebene muss es sich bei den Staatsoberhäuptern um Personen handeln, die bei allen möglichen Bündnispartnern Vertrauen schaffen und diese für gemeinsame Vorhaben im Bereich nachhaltige Entwicklung gewinnen können. Dabei ist Augenmaß gefragt, denn ökologischer Fundamentalismus lässt vor allem Abwehr und unversöhnliche Fronten erwarten. Was die Umweltthemen betrifft, so ist die Notwendigkeit und Dringlichkeit staatenübergreifender Lösungen zwar mittlerweile unbestritten, trotzdem sind

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_3

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3  Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

echte Erfolge rar und größere Visionen Mangelware. Gesetzte Ziele werden nicht erreicht, es fehlt an Kooperationsbereitschaft, und zu wenige Politiker und Menschen sind bereit, ihren Ressourcenverbrauch zugunsten der kommenden Generationen einzuschränken. Ökologische Maßnahmen werden in der Regel nur begrüßt, wenn sie einem kein eigenes Engagement oder gar Einkommenseinbußen abverlangen. Hinsichtlich Führungspersonal ist also ein Wandel notwendig. Mit narzisstischen, sturen sowie nicht kompromissfähigen oder ideologischen Personen sind kaum Einigungen zu erzielen, bei denen sich alle Parteien bewegen oder Konzessionen machen müssen. Im Moment entsteht der Eindruck, dass eher machtpolitische Strategien vorherrschen, was Zweifel aufkommen lässt, ob innerhalb nützlicher Frist langfristig tragfähige Übereinkünfte erzielt werden können. Als Vorbild für eine inklusive Politikerin kann etwa die langjährige deutsche Kanzlerin Angela Merkel herangezogen werden. Glaubwürdig dem Multilateralismus und der Sache selbst verpflichtet, versuchte sie, andere Politiker zur Zusammenarbeit und Kooperation zu bewegen. Selbst bei ihrer kontroversen Entscheidung, in Deutschland kurzfristig eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, vermittelte sie nie den Eindruck, sich mit ihrer entsprechenden Vision („wir schaffen das!“) vor allem selbst in Szene setzen zu wollen. In den Medien wirkte sie stets bescheiden, unaufgeregt sowie sachlich lösungsorientiert. Unterschwellig wurde bei ihr durchwegs erkennbar, dass sie sich für die internationale Verständigung einsetzt. Leider zeigt sich allerdings gerade, dass eine einbeziehende Vorgehensweise nicht für den Umgang mit Psychopathen taugt, weil diese Entgegenkommen als Schwäche interpretieren und nur Härte verstehen. Solange problematische Führungspersonen in wichtigen Staaten an der Macht sind, ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kaum möglich. Umso mehr gilt, dass es auf der internationalen Ebene eine Mehrheit an integrativ ausgerichteten Personen braucht, wenn die aktuellen globalen Themen nachhaltig angegangen und gelöst werden sollen. Diese Personen müssen allerdings auch gewählt werden (können). Dazu erforderlich ist, dass sich mehr Wählende für andere Persönlichkeiten entscheiden, statt sich als Follower einer vermeintlich starken Führungsperson zu positionieren. Mehr Menschen müssen zudem selbst aktiv werden und versuchen, konkrete Projekte voranzutreiben. Nur Forderungen zu stellen und sich über einem nicht genehme Personen zu ärgern, bringt dagegen nicht viel. Mehr Grund zum Optimismus besteht in der Wirtschaft. Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene findet gerade ein erfreulicher Paradigmenwechsel statt. Die unsägliche Shareholder-Value-Doktrin (Rappaport, 1986), die besagt, dass der Unternehmenszweck allein darin besteht, das Vermögen der Eigner zu mehren, wird zunehmend kritisch betrachtet. So unterzeichneten vor einigen Jahren 200 CEOs der größten amerikanische Firmen einen Brief, der eine Abkehr von der Shareholder-Philosophie fordert. Dies, weil der darin geforderte Fokus auf die Steigerung des Aktienwerts bewirkt, dass alles getan wird, um die Kurse kurzfristig hochzutreiben, wofür nicht selten sogar langfristig schädliche Konsequenzen in Kauf genommen werden. So meint selbst Larry Fink, der CEO von Blackrock, dem weltgrößten Vermögensverwalter, dass der Kapitalismus zu weit gegangen sei. In seinem jährlichen Brief an die CEOs (Fink, 2020) plädiert er für eine stärkere Ausrichtung an „Purpose“ und fordert, dass sich die großen Unternehmen stärker auf der

3.1 Nachhaltigkeit

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gesellschaftlichen Ebene engagieren. Gemäß Denning (2017) setzt sich zunehmend der Stakeholder Value durch. Er postuliert, dass die Interessen aller für ein Unternehmen wichtigen Anspruchsgruppen berücksichtigt werden, wobei er die Gesellschaft, nicht aber die Umwelt einbezieht. Auf der organisationalen Ebene bilden Themen wie Unternehmensethik, CSR („Corporate Social Responsibility“) oder das neuere ESG („Environment, Social, Governance“) den Rahmen, in dem sich die Führungskräfte bewegen. Gemeinhin verbindet man mit Unternehmensethik vor allem Themen wie Risk Management und Compliance, beispielsweise Verhaltenskodizes („Codes of Conduct“) zum Vermeiden von Bestechung oder Korruption. CSR wird in der breiten Öffentlichkeit vor allem mit irgendwelchen publikumswirksamen, wohltätigen Aktionen zur Imageförderung in Verbindung gebracht. Je nach Sichtweise und Breite des Konzepts ist CSR jedoch weit mehr als das und umfasst neben der gesellschaftlichen Verantwortung und Nachhaltigkeitsaspekten auch Werte wie Inte­ grität oder verantwortliches Handeln als Arbeitgeber. Wenn die entsprechenden Bekenntnisse in den Homepages und Hochglanzbroschüren wirklich die Unternehmenskultur und das alltägliche Handeln des Top-Managements durchdringen, geht davon eine nicht zu unterschätzende Vorbildwirkung aus. Es ist dann klar, dass es der Firma ernst ist und dass entsprechendes Verhalten positiv beurteilt wird. Als Beispiel eines gesellschaftlich verantwortungsbewussten Top-Managers kann Howard Schultz, der ehemalige CEO von Starbucks, genannt werden. Weil sein Vater ein Kriegsveteran war, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten musste, kam er eher aus ärmlichen Verhältnissen (Schultz & Gordon, 2011). Nicht zuletzt deshalb setzte er sich immer wieder für verschiedene gesellschaftliche Anliegen ein, wobei er etwaige negative Konsequenzen in Kauf nahm. So sorgte er nicht nur dafür, dass alle Starbucks-­ Mitarbeitenden krankenversichert sind (was in den USA nicht selbstverständlich ist), sondern packte auch das hoch emotionale Thema Rassendiskriminierung an. Für seine Aktion „Racetogether“, bei der die Starbucks-Baristas die Kunden in eine Diskriminierungsdebatte verwickeln sollten, erntete er jede Menge negative Reaktionen und Spott (Taylor, 2019). Trotzdem wurde mit dieser Aktion einer der von Starbucks propagierten CSR-­ Werte „Kampf gegen Diskriminierung“ wirklich umgesetzt und über kurzfristige wirtschaftliche Interessen gesetzt. ESG bezieht sich stärker auf nachhaltige Investments. Die Anleger achten immer stärker und in größerer Zahl auf die Einhaltung bestimmter Kriterien und machen so Druck auf die Firmen, sich konform zu verhalten. Neben Nichtregierungsorganisationen (NGOs) können auch die einzelnen Bürger und Bürgerinnen einen Beitrag leisten, die Verbreitung von Unternehmensethik und CSR zu fördern, etwa durch ihr Konsumverhalten oder durch die Wahl des Arbeitgebers. In Zeiten des „War for Talents“ haben viele Unternehmen ein Interesse, sich als gute Arbeitgeberin zu präsentieren. Eine Orientierung dazu liefert etwa Great Place to Work. Führungskräfte können sich an den Kriterien verschiedener Rating-Firmen (MSCI, ISS) orientieren. In Tab. 3.1 findet sich ein Beispiel eines solchen Kriterienkatalogs (Wöhrmann, 2019). Im Alltag gilt es, sensibel mit diesen Themen umzugehen und sich stets zu fragen, ob einer dieser Aspekte tangiert wird, auch wenn er sich allenfalls der eigenen Ein-

3  Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

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Tab. 3.1  ESG-Kriterien nach ESG-Handbuch der DWS. (Wöhrmann, 2019) Umwelt Ressourcen, Abfall, Klimawandel Klimastrategie

Soziales Menschengerechte Gesellschaft Arbeitgeber-, Arbeitnehmerbeziehung

Umweltmanagement

Chancengleichheit

Energiemanagement und Versammlungsfreiheit Abwasser Treibhausgas Gesundheit und Sicherheit Ökoeffizienz und Fußabdruck Gebäudemanagement Umweltwirkungen Produktportfolio inkl. Lieferanten und Auftragnehmer

Soziale Wirkungen Produktportfolio inkl. Lieferanten und Auftragnehmer

Unternehmensführung Unternehmensethik und -richtlinien Abbau Korruption, Bestechung, Betrug Abbau wettbewerbswidrige Praktiken Compliance Vielfalt im Aufsichts-/ Verwaltungsrat Unabhängigkeit des Verwaltungsrats Vergütung etc.

flussmöglichkeiten entzieht. Auf der Ebene der Führungsstile wird das Nachhaltigkeitsthema vor allem im Servant Leadership explizit aufgegriffen. Auch deswegen stellt dieses den Endpunkt der in diesem Buch vorgeschlagenen Führungsentwicklung dar. Klar ist, ein umfassendes Streben nach Nachhaltigkeit muss von den künftigen Leader-­Persönlichkeiten zwingend gefordert werden. So wie bisher kann es nicht weitergehen.

3.2 Corporate Governance und organisationale Fairness Einen wichtigen Bestandteil der Unternehmensethik stellt die Corporate Governance (CG) dar. Diese umfasst Strukturen, Grundsätze und Regeln zur Steuerung und Überwachung des Unternehmens. In einem engen Verständnis umfasst die CG sämtliche Regelungen zur Gestaltung der Beziehungen zwischen den Aktionären, dem Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung. Mit den entsprechenden Grundsätzen und Regeln sollen die Strukturen und das Verhalten der obersten Führungskräfte gesteuert und überwacht werden (z. B. Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance). In einem breiteren Verständnis beinhaltet CG außerdem das Compliance- und das Risk-Management sowie das interne Kontrollsystem. Compliance heißt Einhaltung aller gesetzlichen Bestimmungen durch das Unternehmen und hat in der Regel die Form eines für alle Beschäftigten verbindlichen und unmissverständlichen Regelwerks (Code of Conduct). Typische Themen sind etwa Korruption oder Datenschutz, wobei dieser betriebliche Verhaltenskodex vor allem die Aufgabe erfüllt, die für ein bestimmtes Unternehmen wichtigsten Gesetze auf eine für die Mitarbeitenden verständliche Weise aufzubereiten. Das interne Kontrollsystem (IKS) beinhaltet die Mechanismen zur Sicherstellung der Ziele von Compliance und Risk-Management mit Fokus auf der Verhinderung und Aufdeckung von Fehlern und Unregelmäßigkeiten, die sich negativ auf

3.3  Ethik und ethische Führung

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Buchführung und finanzielle Berichterstattung auswirken können. Je nach Unternehmen können die Bestimmungen über das vom Gesetzgeber vorgegebene Maß hinausgehen und so eine spezifische ethische Haltung zum Ausdruck bringen. Obwohl natürlich keinesfalls für alle Menschen selbstverständlich, wird eine angemessene Gesetzestreue bei guten Führungskräften grundsätzlich vorausgesetzt und nicht als typisches Merkmal betrachtet. Wie erwähnt, halten sich auch Machiavellisten an die Regeln, wenn sie sich davon einen Vorteil erhoffen oder bei Nichteinhaltung Sanktionen zu befürchten haben. Neben mehr oder verbindlichen Bestimmungen aller Art ist auch das Prinzip der Fairness wichtig. Bestehen in einem Unternehmen grundsätzlich unfaire Bedingungen, ist zum einen mit unerwünschten Reaktionen der Mitarbeitenden zu rechnen (z. B. Dienst nach Vorschrift, kontraproduktives Arbeitsverhalten). Zum anderen ist es auch für die ethischste und fairste Führungskraft schwierig, unter sehr ungünstigen strukturellen oder kulturellen Bedingungen ihre Ideale umzusetzen oder einen wirksamen Kontrapunkt dazu zu setzen. Um dem entgegenzuwirken und um ein hohes freiwilliges Arbeitsengagement zu bewirken, empfiehlt sich eine Kultur der organisationalen Fairness respektive eine primär auf den Prinzipien der Fairness beruhende Führungskultur. Streicher & Frey (2012) unterscheiden dabei die folgenden vier Bereiche: (1) Distributive Gerechtigkeit bzw. Ergebnisfairness: Im Wesentlichen geht es hier um eine faire Verteilung der vorhandenen Ressourcen sowie ein für alle Mitarbeitenden stimmiges Verhältnis zwischen Input und Output im Vergleich zu den anderen Beschäftigten. Diese Aspekte müssen gegeben sein, damit die Beschäftigten ihre Belohnung für ihre Leistungen als fair empfinden. (2) Prozedurale Gerechtigkeit: Dieser Aspekt bezieht sich auf die Fairness der Abläufe und Entscheidungsprozesse. So müssen die Regeln und Prozesse für alle Mitarbeitenden gleich sein und dürfen nicht auf Eigeninteresse der Entscheidenden beruhen. Wichtig ist hier zudem das Recht, seine Meinung äußern zu können – allerdings ohne eigentliches Mitspracherecht. (3) Interpersonale Gerechtigkeit meint den freundlichen, respektvollen und wohlwollenden Umgang der Führungskräfte mit den Mitarbeitenden und schließt auch empathische Kommunikation und Verständnis für die individuelle Situation der einzelnen Mitarbeitenden ein. (4) Informationelle Gerechtigkeit bezieht sich auf die Quantität und Qualität der Informationen, die über bestimmte Maßnahmen abgegeben werden. Wichtig ist, dass vor allem unpopuläre Aktivitäten ehrlich, zeitnah und angemessen verständlich erklärt werden.

3.3 Ethik und ethische Führung Gemäß Northouse (2019, S. 335) existieren verschiedene Ansätze zu ethischer Führung, es hat sich daraus jedoch noch kein eigentlicher ethischer Führungsstil herausgeschält. Anspruchsvoll ist etwa die Frage, ob Ethik bei der Absicht oder bei den Konsequenzen einer Handlung ansetzen soll (Hemel, 2005). In der Praxis zeigt sich, dass bei Ersterem gut

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3  Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

gemeint oft das Gegenteil von gut gemacht ist. Sprenger (2018) zeigt beispielsweise auf, dass übertriebene Fürsorge seitens der Arbeitgeberin oder der Führungskraft genau nicht bewirkt, dass die Mitarbeitenden mehr Verantwortung übernehmen, weil sie dadurch eher infantilisiert als partnerschaftlich behandelt werden. Kerschreiter und Eisenbeiss (2015) unterscheiden (1) eine traditionelle Tugendethik (z. B. die noch zu diskutierende Kardinaltugenden von Aristoteles oder die sieben Todsünden), (2) eine subjektive, prozedurale Gewissensethik (z. B. kategorischer Imperativ) und (3) eine intersubjektive Dialogethik. Als Beispiele von Gewissensethik bekannt sind etwa Kants kategorischer Imperativ, „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“, oder die sogenannte goldene Regel, wonach man andere so behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden möchte. Kants kategorischer Imperativ basiert auf einem unrealistisch vernunftbasierten Menschenbild und überfordert die meisten Personen, weshalb er im Alltag kaum anwendbar scheint. Die goldene Regel wird dagegen vor allem in einem internationalen Kontext problematisch, weil man allfällige kulturelle Unterschiede negiert. Aber auch innerhalb des gleichen Kulturraums besteht viel Raum für Missverständnisse, wollen Menschen aus psychologischer Sicht doch auf eine Weise behandelt werden, die ihrem jeweiligen Selbstbild entspricht und ihr Selbstwertgefühl stabilisiert. Es gibt also individuelle Unterschiede, und man kann beidseitige Frustrationen auslösen, wenn man beispielsweise bei Hilfestellungen von den eigenen Bedürfnissen ausgeht und annimmt, dass die hilfesuchende Person dieselben hat. Die Dialogethik gibt keine Normen vor, sondern postuliert, dass „richtiges Handeln“ durch den gleichberechtigten Dialog zwischen Führungskraft und Geführten definiert werden soll. Gemäß Kerschreiter & Eisenbeiss (2015, S. 29) hat sich in der Forschung die folgende Definition ethischer Führung von Brown & Trevino (2006) durchgesetzt: „The demonstration of normatively appropriate conduct through personal actions and interpersonal relationships, and the promotion of such conduct to followers through two-way communication, reinforcement, and decision-making“. Für die Praxis wichtig ist, dass sich die Führungsarbeit in einer konfliktären Doppelverantwortung zwischen Erfolgs- respektive Ergebnisverantwortung und Humanverantwortung (Verwirklichung von Arbeits- und Lebensqualität der Mitarbeitenden) vollzieht, was es nicht immer einfach macht, höheren ethischen Standards zu genügen. Northouse (2019) identifiziert folgende Prinzipien des ethischen Leadership (S. 346 ff.): (1) Ethische Leader respektieren andere: Andere Menschen dürfen nicht als Mittel zum Zweck missbraucht werden. Ihre individuelle Persönlichkeit ist zu respektieren und zu schützen. Respekt meint partnerschaftlich im Umgang – Mitarbeitende sind keine Befehlsempfänger oder Kinder. (2) Ethische Leader dienen anderen: Die Bedürfnisse des Umfelds werden über die eigenen gestellt. Der Autor subsumiert darunter nicht nur ein dienendes Führungsverhalten (Servant Leadership), sondern auch Stewardship im Sinne von Senge (2011). In diesem Verständnis sieht der Leader seine eigene Vision als Teil von etwas Größerem und will darüber verbindend wirken.

3.3  Ethik und ethische Führung

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(3) Ethische Leader sind gerecht: Im Vordergrund stehen ein unparteiischer Umgang mit den Mitarbeitenden sowie besonders große Sorgfalt, Umsicht und Gerechtigkeit bei der Verteilung knapper Güter (z. B. Belohnungen, spannende Projekte). Die angewendeten Entscheidungsprinzipien sollten nachvollziehbar und transparent sein. (4) Ethische Leader sind ehrlich: Zentral ist der Verlust von Vertrauen im Falle von mangelnder Ehrlichkeit. Solche Personen werden als unzuverlässig und unverbindlich wahrgenommen. Sofern man nicht als glühender Anhänger beide Augen zudrückt, sind eine Abnahme des Respekts für die Führungskraft und eine nicht tragfähige Beziehung die wahrscheinlichen Folgen von Unehrlichkeit. Damit ist aber nicht gemeint, dass immer alles transparent allen kommuniziert werden muss, teilweise sprechen berechtigte Argumente dafür, Informationen für sich zu behalten. (5) Ethische Leader bauen eine Gemeinschaft (Community) auf: Hier wird hervorgehoben, dass gemeinsame, für die Leader-Persönlichkeit und das Umfeld attraktive Ziele angestrebt werden, wobei der Prozess der gemeinsamen Zielfindung beide Seiten transformiert (Burns, 1978). Andere Menschen zur Erreichung eigener Ziele (nicht) zu missbrauchen, stellt für den Autor den Unterschied zwischen einem authentischen und einem pseudotransformationalen Leader dar. Ein Instrument zur Messung der ethischen Führung ist der Ethical Leadership at Work Questionnaire von Kalshoven et al. (2011), der mittlerweile auch in einer deutschen Fassung vorliegt (Block et al., 2015): Das Verständnis von ethischem Handeln ist ebenfalls sehr breit gefasst und beinhaltet sowohl den Nachhaltigkeitsaspekt als auch Ethik im engeren Sinne. Erfasst werden die folgenden sieben Themenbereiche: 1 ) Fairness (Mitarbeitende werden gleich, fair und prinzipientreu behandelt), 2) Machtteilung (Mitarbeitende können mitbestimmen, ihre Ideen und Ängste werden berücksichtigt), 3) Rollenklärung (Verantwortlichkeiten, Erwartungen und Leistungsziele sind klar festgelegt), 4) Mitarbeiterorientierung (Beistand durch die Führungskraft), 5) Integrität (die Führungskraft hält, was sie verspricht), 6) Ethische Anleitung (ethische Regeln werden erklärt, Einhaltung belohnt, Missachtung bestraft), 7) Interesse an Nachhaltigkeit (Nachhaltigkeitsbewusstsein der Vorgesetzten). In der Praxis wird ethische Führung tendenziell eher wörtlich verstanden und vor allem auf das Einhalten der gängigen ethischen Richtlinien reduziert. Die Führungskraft handelt selbst ethisch, ist diesbezüglich Vorbild und fordert ethisches Verhalten auch von den Mitarbeitenden ein. Vor allem aufgrund der großen Überschneidungen des erweiterten Verständnisses von Ethik mit dem Servant Leadership wird in diesem Buch die eng gefasste praktische Definition übernommen. Ethische Führung wird dann zu einem Teil des breiter verstandenen Servant Leadership.

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3  Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

3.4 Werte und Prinzipien Auf der gesellschaftlichen Ebene existiert in den Vereinigten Staaten das Konzept eines „Good Citizen“ (z. B. Develin, 1973). Dabei handelt es sich um eine Art „guten“, das heißt ethisch und verantwortlich handelnden Staatsbürger. Hinsichtlich der Merkmale von Good Citizenship werden typischerweise Attribute wie Gesetzestreue, Engagement auf der lokalen Ebene, Respekt für die Rechte und das Eigentum anderer, teilweise auch ein bewusster Umgang mit den vorhandenen Ressourcen sowie Werte wie Vertrauenswürdigkeit oder Ehrlichkeit genannt. Insgesamt entsteht das Bild eines gesetzestreuen, dem eigenen Land verbundenen, lokal engagierten sowie anständigen und braven Bürgers. Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden: Im Unterschied zu einem betrieblichen Verhaltenskodex besteht auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene die Gefahr, dass ein normatives Konzept missbraucht wird, wenn daraus ein detaillierter Verhaltenskatalog zu erwünschtem und nicht erwünschtem Verhalten abgeleitet wird. Zu denken ist vor allem an China, wo ein allumfassender Überwachungsstaat gutes, das heißt dem autokratischen Regime als wünschenswert erscheinendes Alltagsverhalten belohnt, abweichendes Verhalten (z. B. bei Rot über die Straße zu gehen) jedoch sanktioniert wird (z. B. geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt). Gute Bürger und Bürgerinnen im Sinne dieses Buchs sind Personen, die sich durch eine integre Art auszeichnen, Verantwortung übernehmen und sich aus eigenem Antrieb selbst engagieren. Idealerweise wählen sie Persönlichkeiten, auf die genau dasselbe zutrifft. Mit Blick auf den Nutzen für die Praxis empfiehlt sich eine Zusammenstellung der wichtigsten Werte und Prinzipien ethisch handelnder Leader-Persönlichkeiten, das heißt ein an der traditionellen Tugendethik ausgerichteter Ansatz. Die Tugendethik ist eine philosophische Richtung, die auf Aristoteles zurückgeht. Dieser propagierte die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Hochsinn. In einer aktuelleren Arbeit schlägt Velasquez (2013) für Manager die folgenden Tugenden vor: 1) Beharrlichkeit, 2) Gemeinschaftsgefühl, 3) Integrität, 4) Wahrhaftigkeit, 5) Vertrauenswürdigkeit, 6) Wohlwollen und 7) Bescheidenheit. Eine bis auf das Mittelalter zurückreichende ethische Handlungsempfehlung stellt das Modell des ehrbaren Kaufmanns dar. Es handelt sich um ein Leitbild für verantwortliche Teilnehmer am Wirtschaftsleben und steht für Verantwortungsbewusstsein für das eigene Unternehmen, für die Gesellschaft und für die Umwelt. In seiner traditionellen Variante werden die folgenden – teilweise altertümlich, teilweise bis heute sinnvoll und gültig wirkenden  – Tugenden „Redlichkeit, Sparsamkeit, Weitblick, Ehrlichkeit, Mäßigung, Schweigen, Ordnung, Entschlossenheit, Genügsamkeit, Fleiß, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Reinlichkeit, Gemütsruhe, Keuschheit und Demut“ genannt. Grundsätzlich handelt es sich beim ehrbaren Kaufmann nicht um ein klar umrissenes, fixes Konzept, sondern eine Grundhaltung, die immer wieder aktualisiert werden muss. So hat beispielsweise der deutsche Bundesverband für die mittelständische Wirtschaft die folgenden 10 Grundsätze daraus abgeleitet (vgl.bvmw.de): „Der ehrbare Kaufmann … (1) … hört auf sein Gewissen und seine Mitarbeiter, er ist kritisch dem Zeitgeist gegenüber und orientiert sich an den bleibenden Werten.

3.4  Werte und Prinzipien

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(2) … beachtet die Menschenwürde und ist respektvoll im Umgang mit seinen Mitarbeitern. (3) … setzt sich für den nachhaltigen Aufbau und Erhalt von Arbeitsplätzen ein. (4) … handelt wahrheitsgemäß und lehnt unfairen Wettbewerb ab. (5) … unterstützt das Engagement des Bundesverbands für die mittelständische Wirtschaft in Bezug auf Leistung, Forschung, Aus- und Weiterbildung. (6) … setzt sich für die soziale Marktwirtschaft ein und trägt dadurch zu einem positiven Unternehmerbild in der Öffentlichkeit bei. (7) … fühlt sich an das gesprochene Wort gebunden. Sein Wort zählt. (8) … handelt lösungsorientiert in Konfliktfällen. Es ist sein Ziel, eine Einigung zu erzielen. (9) … achtet das geistige und materielle Eigentum Anderer. (10) … pflegt einen konstruktiven Dialog mit anderen Unternehmen“. Eine wichtige Frage betrifft die Universalität von ethischen Wertvorstellungen respektive deren Gültigkeit in unterschiedlichen Kulturräumen. Die Ergebnisse der bereits angesprochenen Globe-Studie (Javidan et al., 2006) zeigen beispielsweise, dass Integrität in allen untersuchten Kulturkreisen positiv bewertet wird, während speziell Egoismus abgelehnt wird. Mit dem Ziel, kulturübergreifend verbindende Werte zu finden, haben Schwartz et al. (2012; Schwartz 1992) 10 Werteklassen identifiziert, die sich in verschiedenen Kulturen in ähnlicher Weise nachweisen lassen: 1) Selbstbestimmung, 2) Stimulation, 3) Hedonismus, 4) Leistung, 5) Macht, 6) Sicherheit, 7) Konformität, 8) Tradition, 9) Wohlwollen und 10) Universalismus. Darauf wird unter interkultureller Kompetenz näher eingegangen. Auf der hier interessierenden individuellen Ebene wird vor allem das „Inventory of Strengths“ (bzw. „Values in Action“), eine aus der positiven Psychologie stammende Klassifikation von Charakterstärken, als besonders relevant und nützlich erachtet (Peterson & Seligman, 2004). Dieser auch in einer deutschen Fassung vorliegende Fragebogen (Ruch et al., 2010) erfasst insgesamt 24 Charakterstärken, die 6 Tugenden zugeordnet sind: (1) Weisheit und Wissen: Kognitive Stärken hinsichtlich Erwerb und Gebrauch von Wissen (Kreativität, Neugier/Interesse, Urteilsvermögen, Liebe zum Lernen, Weisheit). (2) Mut: Mut und Tapferkeit sowie emotionale Stärken zum Überwinden von Barrieren bei der Zielerreichung (Authentizität/Ehrlichkeit, Ausdauer und Enthusiasmus/Tatendrang). (3) Menschlichkeit: soziale Kompetenzen: Fähigkeiten in der Beziehungsgestaltung (Freundlichkeit, Bindungsfähigkeit und soziale Intelligenz  – Motive und Gefühle von sich selbst und anderen verstehen). (4) Gerechtigkeit: Ethische und integrative Stärken (Fairness, Führungsvermögen und Teamwork). (5) Mäßigung: Stärken, die ein maßvolles Vorgehen sicherstellen (Vergebungsbereitschaft, Bescheidenheit, Vorsicht und Selbstregulation  – regulieren, was man tut und fühlt).

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3  Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

(6) Transzendenz: Spirituelle und sinnstiftende Stärken (Sinn für das Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung, Humor und Spiritualität – kohärente Überzeugungen hinsichtlich des Sinns des Lebens). Beispielsweise unter „wertesysteme.de“ findet sich eine mehr oder weniger vollständige Liste aller Werte und Prinzipien. Für den Zweck einer Zusammenstellung der wichtigsten Werte und Prinzipien reichen die bisherigen Ausführungen.

Fazit: Werte und Prinzipen geeigneter Leader-Persönlichkeiten (1) Verlässlichkeit und Verbindlichkeit (2) Ehrlichkeit und Transparenz (3) Nachhaltigkeit und Verantwortungsbereitschaft (4) Undogmatische Lösungs- und Umsetzungsorientierung (5) Bescheidenheit und persönliche Zurückhaltung (6) Mut, Unabhängigkeit und Integrität (7) Fairness und Gerechtigkeit (8) Respekt und partnerschaftliche Grundhaltung (9) Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Akzeptanz (10) Kongruenz von Sprechen und Handeln sowie wertebezogene Vorbildwirkung

Verlässlichkeit und Verbindlichkeit sind die Voraussetzung, dass man überhaupt mit anderen Menschen zusammenarbeiten kann. Es ist absolut zentral, dass man sich gegenseitig darauf verlassen kann, dass man tut, was man sagt und auch wirklich meint, was man anderen kommuniziert. Damit Vertrauen entstehen kann, sind Ehrlichkeit und ein hohes Maß an Transparenz erforderlich. Man muss nicht immer alles sagen, was man denkt, aber das, was man sagt, muss wahr sein. Natürlich kann es trotzdem immer wieder passieren, dass jemand etwas faktisch Falsches sagt, weil er es nicht besser weiß. Bei Kleinigkeiten ist das kein Problem, vor allem wenn sich die Person gegebenenfalls eines Besseren belehren lässt. Verwerflich ist dagegen das seit einigen Jahren zunehmend beobachtbare manipulative Nutzen des sogenannten Wahrheitseffekts („Illusory Truth Effect“, Hackett Renner, 2004). Dieser ist primär aus der Werbung bekannt und macht sich zunutze, dass wiederholte Botschaften dem Gehirn Vertrautheit suggerieren und auf diese Weise immer glaubwürdiger erscheinen. So entscheidet man sich etwa beim Kauf eines Waschmittels für diejenige Marke, die man aus der Werbung kennt, obwohl man im Grunde nichts über die tatsächliche Reinigungswirkung weiß. Lügen und Falschdarstellungen bleiben zwar Unwahrheiten, auch wenn man sie beliebig oft wiederholt, subjektiv werden sie jedoch immer wahrer. Auf der politischen Ebene können auf diese Weise etwa Mythen oder irgendwelche Dogmen entstehen. Wird diese Überzeugung von anderen geteilt (v. a. Social Media) können daraus gedankliche Parallelwelten entstehen, wobei natürlich jede Gruppierung davon ausgeht, die einzig echte Wahrheit zu kennen. Zur Immunisierung gegen-

3.4  Werte und Prinzipien

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über der Wahrheit und zum Diskreditieren und Abwerten gegenteiliger Ansichten ist dann der Weg nicht mehr weit. Notorisches Lügen ist nicht nur ein starkes Indiz für das Vorhandensein unerwünschter dunkler Persönlichkeitsanteile (v.  a. Psychopathie), sondern für eine Führungsrolle schlichtweg ein No-Go. Ein New Leader bleibt bei den Fakten, ist integer und verbreitet keine Unwahrheiten gegen eigenes besseres Wissen. Ebenso werden grundsätzlich keine wichtigen Informationen zurückgehalten, die nicht einer Geheimhaltungspflicht unterliegen. Nicht nur ein machtbezogener (sich Informationsvorteile verschaffen), sondern auch ein patronaler Umgang mit Informationen gehört überwunden. Erwachsene wie Kinder zu behandeln, indem man ihnen – vorgeblich zu ihrem Schutz – wichtige Informationen vorenthält, geht gar nicht. Oft werden damit im Grunde auch nur die eigene Inkompetenz oder die eigenen Fehler verdeckt. So wollten beispielsweise die Schweizer Behörden mit der Maskenlüge vor allem vertuschen, dass sie es versäumt hatten, einen ausreichenden Vorrat an Hygienemasken anzulegen. Verantwortungsbereitschaft und Lösungsorientierung beschreiben die Bereitschaft und das Vermögen, sich ergebende Probleme oder erkannte Herausforderungen aus eigenem Antrieb meistern zu wollen, statt nur zu klagen oder politische Forderungen zu stellen. Ebenso sind Umsetzungsfokus, Realitätssinn und Pragmatismus statt ideologischer Ansätze gefragt. Bescheidenheit bedeutet vor allem, sich nicht im Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit zu wähnen, sondern offen andere Erkenntnisse und Theorien zu prüfen sowie bewusst auch die Meinungen Andersdenkender abzuholen. Eine ausgewogene, der Sache dienliche Lösung steht über Rechthabenmüssen oder eigener egoistischer Ziele. Man sollte sich eher dem höheren Zweck als dem eigenen Ego verpflichtet fühlen. Gleichzeitig erforderlich ist der Mut, sich bei Bedarf für die eigenen Überzeugungen zu exponieren oder für unpopuläre Maßnahmen einzustehen, sofern diese aus sachlichen Gründen ­geboten erscheinen. Integre Personen bleiben ihrer wertebezogenen Linie treu, weshalb sie berechenbar sind und Glaub- und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen. Ihr Umgang mit anderen Menschen wird bestimmt durch Fairness und die Überordnung von Kompetenz und erbrachter Leistung gegenüber sympathiegeleiteten Überlegungen. Ein New Leader umgibt sich gern mit den fähigsten Personen auf ihrem jeweiligen Gebiet und sieht sich eher als Vermittler und Berater hinsichtlich der zu verfolgenden Prioritäten. Fairness und Respekt zeigen sich im Alltag, wenn der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem tatsächlich gezeigten Verhalten liegt und persönliche Merkmale wie Geschlecht, Ethnie etc. keine Rolle spielen. Das Sozialverhalten ist geprägt durch einen respektvollen Umgang auf Augenhöhe sowie eine prinzipiell wohlwollende Grundhaltung. Ein wertschätzender Umgang bedeutet nicht, anderen unkritisch zu begegnen, vielmehr müssen auch heikle und unangenehme Themen angesprochen werden, wenn Lerneffekte erzielt werden sollen. Besonders wichtig ist auch Vertrauen statt ständiger Kontrolle. Man geht grundsätzlich davon aus, dass die anderen einen positiven Beitrag leisten wollen und dazu in der Regel auch in der Lage sind. Ist dies nicht der Fall, kann man immer noch reagieren. Ein New Leader nimmt seine Vorbildwirkung wahr und ernst, wobei er nicht versucht, andere zu Klonen seiner selbst zu machen, sondern diese unterstützt, ihre individuelle Persönlichkeit nutz-

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3  Ethik und Werte als Merkmal echter Leader

bringend zu entwickeln. Eine hohe Kongruenz zwischen Reden und Handeln lässt inhaltlich Freiheiten für ein eigenständiges Wertekonzept. Die persönliche Linie wird im Verhalten jederzeit spürbar und vermittelt auf diese Weise Orientierung. Als sich vor einigen Jahren herausstellte, dass sich unter den Mitgliedern des deutschen Bundestags ausgerechnet die Grünen durch eine exzessive Reisetätigkeit hervortaten, wurde in gewissen Kreisen und Teilen der Medien allen Ernstes behauptet, man könne sich auch für etwas einsetzen, an das man sich selbst nicht hält. Nein, Wasser predigen und Wein trinken, das geht gar nicht. Man könnte meinen, dass es für alle logisch ist, dass man der Sache und der eigenen Akzeptanz schadet, wenn man offensichtlich das Gegenteil von dem tut, was man sagt. Kongruenz zwischen Reden und Handeln bewirkt dagegen Glaubwürdigkeit und ist ein Hauptmerkmal reifer Führungspersonen. Bestehen Unstimmigkeiten, zählt das Verhalten, nicht die Worte.

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Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Einleitung Im Folgenden steht die Frage im Zentrum, welche Fähigkeiten und Eigenschaften eine Leader-Persönlichkeit auszeichnen. In der Praxis wird diese Frage im Rahmen von Eignungsbeurteilungen, insbesondere „Assessments“ beantwortet. Diese Assessments können etwa die Eignung einer Person für eine Führungsfunktion oder etwaigen Entwicklungsbedarf bestimmen. Die entsprechende Methodik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ständig weiterentwickelt und genügt heute hohen wissenschaftlichen Standards, wenn sie seriös angewendet wird. Früher wurden etwa Übungen eingesetzt, die nichts mit der Realität der Führungskräfte zu tun hatten, oder Berichte verfasst, die eher an eine psychoanalytische Abhandlung erinnerten. Teilweise gibt es immer noch Führungskräfte, die einem bevorstehenden Assessment mit Respekt begegnen, weil sie befürchten, tiefenpsychologisch durchleuchtet zu werden. In professionellen Auswahlverfahren sind derartige Bedenken völlig unbegründet, sind doch etwa Fragen zur Kindheit oder therapeutische Vorgehensweisen tabu. Neben Übungen, die auf die Zielfunktion abgestimmt sind, wird im Vorfeld auch definiert, welche Fähigkeiten und Verhaltensweisen überhaupt beobachtet werden sollen. Dieses sogenannte Kompetenzmodell gibt das Raster der zu beschreibenden Dimensionen vor und sorgt für eine einheitliche Beurteilung. Dabei gibt es Fähigkeiten und Kompetenzen, die in gewisser Hinsicht zeitlos und in jedem Umfeld von Bedeutung sind, beispielsweise Belastbarkeit resp. Resilienz oder kommunikative Fähigkeiten. Kompetenzmodelle kommen nicht nur in Assessments zum Einsatz. Viele Unternehmen entwickeln eigene Modelle, um auszudrücken, welche Kompetenzen sie als besonders bedeutsam erachten. Dabei kann es sich grundsätzlich um Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten oder andere Merkmale wie beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften handeln („Knowledge, Skills, Abilities and Other Characteristics“, KSAO, vgl. Montel, 2013; Kauffeld & Paulsen, 2018).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_4

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Dörr et al. (2012) haben für den deutschsprachigen Raum ein führungsbezogenes Kompetenzmodell erarbeitet, das sich von den meisten vergleichbaren Ansätzen dadurch unterscheidet, dass es evidenzbasiert und empirisch entwickelt worden ist. In einem ersten Schritt wurde neben bereits existierenden Taxonomien von Führungskompetenzen auch die bisherige theoretische Befundlage hinsichtlich für den Führungserfolg relevanter Fähigkeiten aufgearbeitet. Das auf diese Weise entwickelte theoretische Modell wurde anschließend durch die Ergebnisse einer umfassenden Studie in der Praxis erweitert. Am Ende herausgekommen ist das nachstehende LEAD-Modell (LEAD = Leadership Effectiveness And Development), das die folgenden Dimensionen beinhaltet: (1) Strategieorientierung (Marktchancen erkennen, Zukunftsperspektive formulieren, Innovationen treiben), (2) Ergebnisorientierung (Ziele vereinbaren, Probleme analysieren, Ergebnisse bewerten), (3) Mitarbeiterförderung (Verantwortung übertragen, Mitarbeiter coachen, Feedback geben, Perspektiven übernehmen), (4) Interaktionsgestaltung (effektiv kommunizieren, Ressourcen bereitstellen, Konflikte managen, Veränderungen umsetzen, Arbeitsbeziehungen gestalten), (5) Werteorientierung (Selbstvertrauen und Authentizität vermitteln, Ambiguitäten managen). Wie bei allen gängigen Kompetenzmodellen beinhaltet das Konzept neben betriebswirtschaftlichen Aspekten und Managementfähigkeiten auch persönliche und soziale Kompetenzen. Die meisten sind mehr oder weniger rasch erlernbar. Erstaunlich selten sind ausgeprägte unternehmerische Fähigkeiten (Marktchancen erkennen und Zukunftsvisionen formulieren). Für das zu entwickelnde Kompetenzmodell des New Leaders sind alle aufgeführten Dimensionen relevant. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Aspekte Selbstvertrauen und Authentizität vermitteln voraussetzen, dass die Führungskraft diese Eigenschaften auch selbst besitzt. Personen ohne Selbstvertrauen strahlen eher Unsicherheit aus und sind kaum geeignet, etwa die Zuversicht in einem Team zu stärken. Als zweites Beispiel sei das Kompetenzmodell des IMD erwähnt. Dieser führenden Business School zufolge lässt sich modernes Leadership anhand der folgenden Eigenschaften und Fähigkeiten beschreiben (www.imd.org): (1) Fokus; Das Ziel nicht aus den Augen verlieren („concentrate on the goal“) (2) Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten („trust your capabilities“) (3) klare Vision und Zweck/Sinn („know your purpose“) (4) Demut/Bescheidenheit („humility“) (5) kommunikative Fähigkeiten („strong communication skills“) (6) Team Player (7) Ehrlichkeit und Transparenz („honesty & Transparency“) (8) Innovationsfreude und Kreativität („innovation & Creativity“) (9) Geduld („patience“)

4.1 Fach- und Methodenkompetenz

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(10) Open-Mindedness, (11) Entschlossenheit („decisiveness“), (12) Positivität/Freude („positivity“), (13) Verantwortung/Rechenschaftsverpflichtung („accountability“), (14) Mut („courage“), (15) emotionale Intelligenz („emotional intelligence“), (16) Stressresistenz („resilience“), (17) Diplomatie („diplomacy“), (18) Problemlösungsfähigkeit („problem solving ability“), (19) Eigeninitiative/Veränderungsbereitschaft („ability to initiate“), (20) Verlässlichkeit („reliability“), (21) Empathie/Perspektivenwechsel („put yourself in other people’s shoes“). Sämtliche Aspekte sind relevant und werden deshalb im Folgenden näher betrachtet. An dieser Stelle sei vor allem der Aspekt Empathie im Sinne des Vermögens, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen, hervorgehoben. Im IMD-Modell beinhaltet dieser Aspekt auch das Zuhören. Wie noch zu zeigen sein wird, nimmt diese Fähigkeit aus der Sicht des Autors dieses Buchs eine besondere Stellung ein. Wie bei allem solchen Modellen stellen die gewählten Aspekte eine Auswahl dar und können dadurch etwas willkürlich erscheinen. Besonders gilt das für in der Praxisliteratur häufig zu findende Zusammenstellungen sogenannter Schlüsselkompetenzen, das heißt Fähigkeiten, die für die Zukunft als matchentscheidend postuliert werden (z. B. die bereits gezeigte Auswahl von Johanson). In der Führungspsychologie wird meist ein generisches Kompetenzmodell mit den Aspekten 1) Fach-, 2) Methoden-, 3) soziale und 4) personale Kompetenz eingesetzt (Hardt & Felfe, 2013). Die nachstehende Zusammenstellung der Kompetenzen einer Führungskraft folgt ebenfalls einem generischen und pragmatischen Kompetenzmodell. Im Zen­ trum steht die Darstellung einer möglichst vollständigen Liste der relevanten Kompetenzen, wobei sich diese auch überschneiden dürfen.

4.1 Fach- und Methodenkompetenz Fachkompetenz beschreibt die Kenntnisse, Fertigkeiten und das Know-how, um eine spezifische Aufgabe erfolgreich zu meistern. Dabei wird Wissen, eine Qualifikation oder ein Talent (Potenzial) in konkretes Handeln umgesetzt. Selbstverständlich ist die Fachkompetenz in der Praxis von größter Bedeutung, denn man sollte schon wissen, wovon man redet und was man tut. Methodenkompetenz wird im Sinne von Heyse und Erpenbeck (2004, S. 448) pragmatisch als Wissen darüber, wie etwas gemacht werden muss und was dabei „best practices“ sind, verstanden. Es handelt sich um die Fähigkeit zur Anwendung von Arbeits- und Analysetechniken sowie Lernstrategien aller Art (z. B. Anwendung von Management- oder Führungstechniken). Die für den beruflichen Erfolg notwendige Fachkompetenz unterscheidet sich von Funktion zu Funktion und wird hier deshalb weit-

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

gehend ausgeklammert. Methodische Aspekte spielen hingegen auch bei den extrafunktionalen Fähigkeiten eine große Rolle, weshalb sie immer wieder auftauchen (z. B. Gesprächs- oder Führungstechnik). Wichtig an dieser Stelle ist der Hinweis, dass Kompetenzen oder Fähigkeiten nicht mit Qualifikation verwechselt werden dürfen. Letzteres meint absolvierte Ausbildungen, erhaltene Zertifikate und Ähnliches. Bei der Einstellung von Personen spielen diese noch immer eine große Rolle. Theoretisch macht dies Sinn, weil der Erfolg in einer bestimmten Funktion mit dem Umfang der angeeigneten theoretischen Kenntnisse zunehmen sollte. Allerdings ist die in der Praxis geforderte Fähigkeit, theoretisches Wissen auf eine konkrete Situation anzuwenden, nicht immer vorhanden. Keinesfalls reicht eine hohe ­berufliche Qualifikation aus, um etwa erfolgreich andere Menschen zu führen. Grundsätzlich hängt die Bedeutung des Fachwissens auch stark vom Fachbereich ab. So wird bei Lösungen von betriebswirtschaftlichen Fallstudien meist durchaus erkennbar, ob jemand betriebswirtschaftliche Kenntnisse oder vertiefte praktische Erfahrungen besitzt oder nicht. Die methodischen Kenntnisse in Form bestimmter Modelle und Konzepte (z. B. SWOT-­Analyse) bilden eine gedankliche Landkarte, in der man sich bewegt und mit der man vergleichbar ausgebildete Personen erreicht, weil man dieselbe Sprache spricht (v. a. Fachbegriffe). Allerdings scheint die Anwendungskompetenz oft auf den Kontext beschränkt, in dem man diese erlernt hat (z. B. eine bestimmte Fallstudie im Rahmen der Ausbildung). Augenfällig wird dies besonders beim strategischen Denkvermögen, das idealerweise beinhalten sollte, dass man sämtliche Themen aus einer strategischen, ganzheitlichen Optik beurteilen kann. Oft hapert es schon, wenn im Assessment von den Kandidaten etwa gefordert wird, eine Standardmethode wie die SWOT-Analyse differenziert auf das Unternehmen anzuwenden, für das sie sich bewerben. Dass den externen Bewerbern natürlich die Detailkenntnisse und Interna nicht bekannt sind, ist dabei meist weniger das Problem als eine mangelnde Transferkompetenz im Sinne des Vermögens, ein Konzept soweit zu abstrahieren, dass es auf unterschiedliche Kontexte oder Unternehmen angewendet werden kann. Werden nicht irgendwelche Konzepte direkt erfragt, sondern eher ein allgemeines betriebswirtschaftliches Verständnis, sieht es noch schlechter aus. Es zeigt sich immer wieder, dass zum Beispiel Personen, die vor Kurzem ein MBA absolviert haben, die ökonomischen Aspekte in der Instruktion für eine bestimmte Übung völlig übersehen oder nicht berücksichtigen. Gleichzeitig finden sich immer wieder erfahrungsorientierte Praktiker, die diese Themen erfassen und mit einem gesunden Menschenverstand in ihre Lösungen einfließen lassen. Um erworbenes Wissen kontextunabhängig zielführend einsetzen zu können, sind also auch kognitive und soziale Fähigkeiten zentral. In der Praxis prallen beispielsweise in cross-funktionalen, das heißt interdisziplinär zusammengesetzten Teams Personen mit unterschiedlichem Fachhintergrund aufeinander. Aufgrund ihres jeweils spezifischen Ausbildungshintergrunds nutzen sie unterschiedliche geistige Landkarten, was eine Verständigung untereinander erschwert. Um diese trotzdem zu gewährleisten, müssen die Beteiligten in der Lage sein, sich in die Gedankenwelt der anderen Personen hineinzuversetzen und die eigenen Überlegungen für diese nachvollziehbar sowie adressatengerecht zu vermitteln. Dabei sind neben einem gewissen Abstraktionsvermögen

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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unter anderem das Vermögen, die Perspektive zu wechseln, und ausreichende kommunikative Fähigkeiten gefragt. Dass Theorie allein nicht ausreicht, zeigt sich am stärksten beim Führungsverhalten. Bemerkenswerterweise kommt es immer wieder vor, dass hochqualifizierte Kandidaten nicht in der Lage sind, ein eigenständiges Führungskonzept zu formulieren. Nicht selten wird die entsprechende Frage mit ein paar Plattitüden oder einem unhinterfragten theoretischen Konzept beantwortet. Wenn eine typische Standardfloskel wie „Ich führe kooperativ!“ mit der Nachfrage „Wie genau sieht das denn bei Ihnen aus?“ hinterfragt wird, sind nicht wenige Kandidaten mit ihrem Latein bereits am Ende. Gleichzeitig gibt es Praktiker, die sich auf autodidaktische Weise ihren persönlichen Stil angeeignet haben, indem sie ihre praktischen Erfahrungen laufend ausgewertet und daraus gelernt haben. Oft handelt es sich dabei um eher bodenständige Personen (z. B. in der Industrie) mit einer charakteristischen eigenständigen Linie, die ihr gesamtes Beziehungs- und Führungsverhalten konsistent bestimmt, obwohl ihnen dies oft nur teilweise bewusst ist. In der Führung bevorzugen sie meist einen zu ihrer Art und zum Umfeld passenden, eher einfachen, gradlinigen und berechenbaren, wenn auch nicht selten etwas patronalen Stil. Ebenso könnte man meinen, dass es selbstverständlich ist, dass gestandene Führungskräfte eine genaue Vorstellung haben, wie sie ihren praktischen Führungsalltag gestalten wollen. Nicht selten kommt von ihnen dazu aber nicht viel mehr als der Hinweis auf die halbjährlichen Gespräche im Rahmen des festgelegten MBO-Prozesses oder Ähnliches. Besonders entscheidend, ob jemand Gelerntes situationsangemessen anwenden kann, ist die Gesprächsführung. Viele Personen lassen erkennen, dass sie diverse Kommunikations- und Gesprächsführungskurse hinter sich haben, indem sie etwa in einem Rollenspiel brav den angelernten Gesprächsleitfaden abarbeiten und einzelne wirklich gute Fragen stellen. Dabei sind sie allerdings so mit sich und ihrer eigenen Agenda beschäftigt, dass sie auf unerwartete Wendungen nicht reagieren oder wichtige Hinweise des Gegenübers nicht aufnehmen können. Relevant ist dies vor allem im Hinblick auf das Erfordernis, dass Führungskräfte künftig vermehrt die Rolle eines Coaches bekleiden müssen. Bei kaum etwas klafft theoretische Qualifikation und praktische Anwendungskompetenz so weit auseinander wie beim Coaching. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein fundierter fachlicher Hintergrund meist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für gute ­Arbeitsergebnisse ist. Die fähigsten Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unterschiedliche Konzepte situativ stimmig und für Menschen aus verschiedensten Fachrichtungen verständlich anwenden und vermitteln können.

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung Neben der bereits besprochenen Werteorientierung zeichnen sich Leader-Persönlichkeiten durch eine Reihe weiterer Merkmale aus. In der Forschung und Praxis nimmt das Thema Selbstführung (Self-Leadership) insofern eine Schlüsselrolle ein, als niemand ernsthaft bestreiten möchte, dass nur eine Person, die sich selbst im Griff hat respektive sich selbst

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

kompetent führen kann, auch andere Menschen führen kann und vor allem sollte. Selbstführung meint die Beeinflussung der eigenen Gedanken, Gefühle und Ressourcen zwecks Erreichens einer höheren Effektivität. Sie umfasst neben einer guten Selbstkenntnis vor allem verschiedene Aspekte des Selbstmanagements (z. B. Zeit-, Energie- und Stressmanagement) sowie die Bereiche Selbstmotivation und Selbstentwicklung. Gemäß Manz (1986, nach Furtner & Baldegger, 2016, S. 61) lassen sich drei Klassen der Selbstbeeinflussung unterscheiden: 1)  Selbstregulation bezieht sich auf automatisierte und unbewusste Prozesse, wobei das Ziel darin besteht, Diskrepanzen zwischen Ist- und Soll-­ Zustand zu reduzieren. 2) Das Selbstmanagement sind diejenigen Aktivitäten, die getan werden sollten (z. B. bestimmte Anzahl Einheiten verkaufen, Wäsche waschen). Das hier wichtige 3) Self-Leadership ist auf einer höheren Ebene angesiedelt und stärker bewusst steuerbar. Es geht darum, was eine Person tun will und warum, wobei die intrinsische Motivation gesteigert werden soll. Die genannten Autoren unterscheiden drei Ansätze von Self-Leadership: (1) Verhaltensfokussierte Strategien: Selbstbeobachtung (eigenes Verhalten im Alltag beobachten und analysieren), Selbstzielsetzung, Selbstbelohnung und -bestrafung, Selbsterinnerung. (2) Natürliche Belohnungsstrategien: Wecken natürlicher, intrinsischer Motivatoren wie Begeisterung, Spaß, Interesse und Freude an der Arbeit, entweder durch Fokus auf die freudvollen Aspekte der Arbeitsaufgabe oder die Integration genussvoller Elemente in die Tätigkeit. (3) Konstruktive Gedankenmusterstrategien: Imagination erfolgreicher Leistungen (sich positive Erlebnisse und Erfolge vorstellen), positive Selbstgespräche. Auf Selbstmanagement und Selbstführung wird im Folgenden an unterschiedlichen Stellen eingegangen. Da sich Selbstführung auf einem hohen Niveau nicht einfach von selbst einstellt, bildet die Bereitschaft, an sich zu arbeiten, deren Grundlage. Das Streben nach persönlichem Wachstum ist charakteristisch für reife Persönlichkeiten. Da man immer noch besser werden kann, ist dieser Prozess nie abgeschlossen, sondern kann und sollte einen zeitlebens begleiten. Auf dem Weg zur Leader-Persönlichkeit sind zunächst die Altlasten aufzuarbeiten. Anschließend kann man mittels kontinuierlicher Selbstreflexion und gezielter Selbstentwicklung nach persönlicher Exzellenz streben.

4.2.1 Lernbereitschaft und -vermögen Es ist kein Zufall, dass die Lernorientierung hier an erster Stelle erwähnt wird, denn sie ist die Basis eines evolutionären Entwicklungsverständnisses. Individuelle Lernprozesse finden grundsätzlich entweder auf der fachlichen und methodischen oder der persönlichen und sozialen Ebene statt. Weil die Halbwertszeit des Wissens immer mehr abnimmt, sich dauernd neue Lernthemen ergeben und zunehmend mehr berufliche Flexibilität gefordert wird, ist

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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„lebenslanges Lernen“ heute und in Zukunft unabdingbar. Es gilt, auf dem eigenen Fachgebiet stets à jour zu bleiben sowie sich in immer wieder neue Themen hineinzuarbeiten. Das fachliche Lernvermögen wird logischerweise primär durch die Intelligenz und die Lernmotivation bestimmt. Die Assessment-Praxis zeigt, dass sich auch mit Disziplin und Fleiß viel erreichen lässt. So sind beispielsweise viele durchschnittlich intelligente Personen fähig, eine höhere Ausbildung zu absolvieren oder eine Doktorarbeit zu schreiben. Ebenfalls zu beachten ist die Unterscheidung von fluider und kristalliner Intelligenz (Cattell, 1971). So ist das Vermögen, rasch neue Informationen zu verarbeiten, im Alter von knapp 20 Jahren am höchsten, während etwa der Wortschatz bis ins höhere Alter laufend anwachsen kann (z. B. Hartshorne & Germine, 2015). Heutzutage unbestritten ist, dass das Hirn als eine Art Muskel verstanden werden kann. Mittels Training und kontinuierlicher Anregung kann seine Leistung – und auch der Intelligenzquotient – bis zu einem gewissen Grad gesteigert und langfristig erhalten werden. In der Praxis wichtig ist das Erfahrungswissen, das sich Menschen aneignen, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum mit einem bestimmten Fachgebiet oder einer Arbeit beschäftigen. Personen, die einen profunden praktischen Erfahrungsschatz mit einem gesunden Menschenverstand verbinden, können auch bei geringeren analytischen Fähigkeiten sehr gute Ergebnisse erzielen und sind oft besonders geeignet, ihr Wissen an andere weiterzugeben, weil sie kaum etwas als selbstverständlich voraussetzen. Wird bei der Eignungsbeurteilung älterer Kandidaten nur auf die Ergebnisse in den Intelligenztests abgestellt, werden die Fähigkeiten dieser Personen unterschätzt. Gleichzeitig benötigen sie oft vermehrt Zeit, wenn sie sich in ein völlig unvertrautes Gebiet eindenken müssen, weshalb bei der Übergabe völlig unvertrauter Problemstellungen eine gewisse Vorsicht geboten ist. Die fachliche Lernbereitschaft und -fähigkeit steht hier allerdings weniger im Zentrum, diese wird bei den Leadern der Zukunft vielmehr vorausgesetzt. Immer wichtiger wird das Streben nach persönlichem Wachstum, denn die eigene Reifeentwicklung voranzutreiben, wird hier als Grundlage für das künftige Leadership erachtet. Voraussetzung dafür ist zunächst die Überzeugung, dass die eigene Persönlichkeit und das eigene Sozialverhalten grundsätzlich veränderbar sind. Dweck (2012) unterscheidet in diesem Zusammenhang einen „Fixed Mindset“ und einen „Growth Mindset“. Personen mit einem Fixed Mindset glauben, dass man sich und andere nicht ändern kann. Damit verbunden ist in der Regel eine gewisse Veränderungs- und Beratungsresistenz. Kritische Rückmeldungen werden allenfalls angehört, bewirken aber kein Bestreben, an sich zu arbeiten. Eine Art Zwischenschritt ist die von Kandidaten oft vorgebrachte Argumentation, dass es mehr bringe, eigene Stärken zu entwickeln, als „Defizite“ zu beheben. Das stimmt zwar im Grundsatz, allerdings weisen die meisten Menschen mindestens ein Entwicklungsfeld auf, das in seiner Wirkung so gravierend ist, dass es der Umwelt nicht nach dem Motto „Ich bin halt so“ zugemutet werden sollte. Bei diesen Entwicklungsthemen ist es zwar wenig erfolgversprechend, ein Top-Niveau anzustreben, sie sollten aber auf ein ausreichendes, zumindest durchschnittliches Level gebracht werden. Im Alltag entscheidend sind eine hohe Bewusstheit hinsichtlich der eigenen persönlichen Eigenheiten sowie das Bestreben, diese dosiert und umweltverträglich zum Ausdruck zu bringen. Im Unterschied dazu glauben Menschen mit einem Growth Mindset nicht nur an persönliche Entwicklung

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

und Wachstum, sondern zeigen auch die Bereitschaft, aktiv an sich zu arbeiten. Die genannte Autorin nimmt an, dass die erste Gruppe Rückschläge persönlich nimmt, ein niedriges Selbstwertgefühl aufweist und sich eher zurückzieht, wenn ein Misserfolg passiert, während die zweite dadurch eher angestachelt wird, es ein weiteres Mal zu versuchen oder das eigene Engagement zu intensivieren. In der Literatur (z. B. Nowotny, 2018; Brandes et al., 2014) werden zuweilen Entwicklungstheorien herangezogen, um die persönliche Reifeentwicklung darzustellen. Kohlbergs (1996) kognitive Entwicklungstheorie der Moralentwicklung stellt die Wertebene in den Mittelpunkt, wobei er annimmt, dass sich die moralische Entwicklung in spezifischen Schritten und prinzipiell immer gleich vollzieht. Allerdings erreichen nicht alle Menschen die höheren Stufen, sondern bleiben auf einer der unteren Ebenen stecken. Grundsätzlich differenziert er zwischen einer präkonventionellen (Stufen 1 und 2, Kinder und einige sehr unreife Erwachsene), einer konventionellen (Stufen 3 und 4, die meisten Erwachsenen) und einer höherwertigen postkonventionellen Ebene (Stufen 5 und 6, eine geringe Zahl von Erwachsenen). Auf den mittleren Stufen wird moralisches Handeln aus dem Wunsch, die Erwartungen anderer zu erfüllen (Stufe 3) oder aus Einsicht in die Bedeutung von Regeln und Normen für die Gesellschaft (Stufe 4) praktiziert. Auf der Stufe 5 vollzieht sich der Wechsel von der Anpassung an Normen hin zu einer eigenständigen Prinzipienorientierung. Im Grunde kann man sagen, dass Personen auf dieser Ebene eine eigene Linie vertreten und durch ihre individuelle Prinzipientreue Format ausstrahlen und anderen Richtung geben können. Dieser Aspekt ist insofern besonders wichtig, als mit der Abnahme formaler und positionsbedingter Autorität eine Führungskraft vermehrt mittels ihrer natürlichen Autorität führen muss. Das Vorhandensein eines persönlichen Wertekompasses und dessen stimmige Umsetzung im Alltag ist demzufolge ein absolutes Kernmerkmal reifer Leader-Persönlichkeiten und begründet deren Vorbildwirkung auf der Verhaltensebene. An ihnen können sich andere Menschen orientieren. Ein noch detaillierteres Entwicklungsmodell geht auf Loevinger (1976) zurück. Es umfasst insgesamt 9 menschliche Entwicklungsstufen von einem triebgesteuerten Impulswesen zu einer Art spiritueller Leader-Figur, die sich durch die volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit auszeichnet (Stufe 9). Wiederum wird angenommen, dass die höchsten Ebenen nur von ganz wenigen Menschen erreicht werden. Gemäß Hofert (2018) wird der jeweilige Entwicklungsstand einer Person anhand der folgenden 4 Bereiche der Ich-­Entwicklung bestimmt: 1 ) Charakter: Unabhängigkeit von Meinungen und Einflüssen anderer, 2) interpersonaler Stil: Umgang mit Andersdenkenden, 3) Bewusstseinsfokus: Wahrnehmung von psychologischen Prozessen; Entwicklungsorientierung, 4) kognitiver Stil: Ausmaß, in dem man von festen Annahmen ausgeht. Eigentlich sollten alle Menschen zu einem Prozess der persönlichen Reifeentwicklung imstande sein, die das wollen und die dazu bereit sind (Growth Mindset). Entscheidend ist die

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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Bereitschaft, sich kritisch zu hinterfragen sowie entsprechendes Feedback durch andere einzuholen. Beim Erarbeiten notwendiger Entwicklungsschritte können diverse Lernangebote (z. B. Kurse) oder auf jeden Fall ein Coaching nützlich sein. Klar scheint, dass eine etwaige Stagnation in der persönlichen Entwicklung eher auf eine Verweigerungshaltung infolge mangelnder Kritikfähigkeit oder Motivationsdefizite als auf eine mangelnde Entwicklungsfähigkeit zurückzuführen ist. Angesichts der vielen drängenden Probleme ist zu wünschen, dass sich möglichst viele Menschen für ein persönliches undogmatisches Wachstumsstreben entscheiden und Entwicklung eher als Reifeprozess begreifen und nicht hauptsächlich mit Statusgewinn oder materiellen Aspekten in Verbindung bringen. Für die New Leader ist die Reife- und Führungsentwicklung ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags. Sie versuchen, sich stetig einer maximalen Führungseffektivität anzunähern, indem sie jeden Tag besser werden wollen, sowohl als Führungskraft als auch als Mensch.

4.2.2 Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung Grundlegende Aspekte wie Persönlichkeit und Bindungsverhalten werden wesentlich durch genetische Faktoren und frühkindliche Erfahrungen geprägt. Bereits in sehr jungen Jahren werden einige wichtige Charakterunterschiede erkennbar. Darauf wird hier nicht eingegangen, es lohnt sich aber zu überlegen, ob man beispielsweise eher introvertiert oder extravertiert, ängstlich oder zuversichtlich ist. Bei Bedarf kann dazu ein entsprechender Persönlichkeitsfragebogen ausgefüllt werden (z.  B.  NEO-PI-R). Wichtig ist, dass Merkmale wie etwa Extraversion einerseits relativ stabil sind, weshalb sich ein schüchternes, introvertiertes Kind kaum zu einem extravertierten Künstlertypen entwickeln wird. Andererseits sind auch diese Eigenschaften nicht gänzlich unveränderlich, und es können speziell auf der Verhaltensebene durchaus gewünschte Entwicklungen vollzogen werden, sofern man sich ausdauernd bemüht. Beispielsweise wird sich eine Scheu, auf andere zuzugehen, abschwächen, wenn man sich ein paar Mal dazu überwindet. Theoretisch ist es sogar denkbar, dass man daran irgendwann Freude bekommt. Gleichzeitig wird eine introvertierte Person in aller Regel immer auch Zeit für sich selbst brauchen und beispielsweise nicht den ganzen Tag kommunizieren wollen. Selbstführung und Selbstentwicklung setzen eine gewisse Selbstkenntnis voraus. Wesentlich ist das Verständnis dafür, woher man kommt, wo man hinmöchte, was man kann und welche Neigungen vorhanden sind. Erkennen der eigenen Prägungen  Das Elternhaus und die Umstände, unter denen man aufwächst, stellen wohl die wichtigsten nicht genetisch bedingten Prägungen dar. So dürfte der Alltag der meisten Somalier vor allem aus Aktivitäten zwecks Sicherns des eigenen Überlebens bestehen, während in der Schweiz kaum jemand wirklich existenzielle Not erleben muss. Durchaus auch hierzulande benachteiligt sind Kinder, die in schlechten Quartieren aufwachsen und/oder einer faktisch schlechter gestellten Bevölkerungsgruppe angehören. So zeigt die Forschung, dass es beispielsweise für Angehörige von bildungsfernen Haushalten schwieriger ist, eine akademische Karriere einzuschlagen, als für Kin-

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

der bildungsaffiner Eltern (z. B. Boll & Lagemann, 2018). In der Praxis zeigt sich, dass Personen aus gehobenen Verhältnissen oder aus Unternehmerfamilien nicht nur mehr Mittel und eine bessere Förderung mit auf den Weg erhalten, sondern auch eher lernen, „wie man es zu etwas bringt“. Zudem werden sie auf ihrem späteren beruflichen Weg in der Regel besser unterstützt und haben eher einflussreiche Mentoren auf ihrer Seite. Trotzdem gilt, dass die sprichwörtliche „Tellerwäscherkarriere“ möglich ist und hierzulande eigentlich allen fast alle Türen offenstehen. Begabte und engagierte Personen finden oft andere Menschen, die sich für sie einsetzen. Eine besonders schwierige Benachteiligung erfahren vor allem Personen, die in traumatischen Verhältnissen aufwuchsen und etwa mit einer kriegerischen Auseinandersetzung konfrontiert oder geschlagen oder missbraucht wurden. Der Weg zu sich und zu einem erfüllten Leben ist für sie besonders steinig und langwierig. Grundsätzlich wachsen in der Schweiz jedoch die meisten Kinder in mehr oder weniger geordneten Verhältnissen auf und haben jedwede Chance, etwas aus sich und ihrem Leben zu machen, sofern sie sich ausreichend einsetzen. Die Assessment- und Coaching-Praxis lässt annehmen, dass es sich bei den folgenden Themen um Aspekte handelt, die zumindest teilweise mit der Herkunft zusammenhängen: 1 ) Beziehungsverhalten (Nähe und Distanz, Umgang mit Autoritäten, Konfliktverhalten), 2) Leistungsverhalten und Anspruchsniveau, 3) Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, 4) berufliche Interessen und Karrierewünsche, 5) Offenheit versus Dogmatismus und unbewusst Denkmuster aller Art. Es lohnt sich, einige dieser Themen näher zu beleuchten. Teilweise wird auch anderer Stelle darauf zurückzukommen sein (z.  B.  Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen). Dass die beruflichen Ambitionen oft einen Zusammenhang mit dem Elternhaus haben, ist logisch und wird nicht näher erklärt. Nähe und Distanz  Je nach individueller Prägung suchen wir zu uns passende Freunde oder Kollegen. Vieles läuft eher unbewusst ab und kann ohne Selbstreflexion ein Leben lang verborgen bleiben. So kann sich beispielsweise jemand immer wieder in Personen verlieben, die in Persönlichkeit und Verhalten einem Elternteil gleichen. Grundsätzlich bewirkt ein unreflektiertes, rein intuitives Beziehungsverhalten, dass man mit Menschen zusammenkommt, die einem aus irgendeinem Grund vertraut (oder ähnlich) sind, wobei dies einem nicht unbedingt guttun muss. Was die „Vorbildwirkung“ der Eltern betrifft, scheint vor allem relevant, ob diese einen distanzierten oder liebevollen Umgang pflegten und wie dominant oder kontrollierend sie auftraten. Es gibt Kandidaten im Assessment, denen es spürbar schwerfällt, Nähe herzustellen und die im Beruf die persönliche Ebene am liebsten gänzlich ausklammern. Diese Distanziertheit oder Nüchternheit ist oft mit einem geringen Verständnis für gefühlsbezogene Themen verbunden. So kann man etwa schlecht nachvollziehen, dass andere Menschen bestimmte Aussagen persönlich nehmen oder rasch verletzt reagieren. Ist man sehr sachlich und distanziert, sollte man sich dessen be-

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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wusst sein. Implizit anzunehmen, dass die meisten Menschen ähnlich gelagert sind oder sein sollten, funktioniert ebenso wenig, wie zu erwarten, dass sich alle anderen einem anpassen. Stattdessen gilt es festzustellen, welche Mitarbeitenden einen gewissen persönlichen Austausch benötigen, und diesem Bedürfnis, so gut es eben geht, entgegenzukommen. Dabei ist es nicht notwendig, künstlich zu versuchen, so etwas wie Wärme auszustrahlen, wenn einem dies nicht entspricht. Für eine Führungskraft ist es viel wichtiger, dass man Interesse an den Mitarbeitenden zeigt, diesen respektvoll begegnet und versucht, sich in deren Perspektive hineinzuversetzen. Dafür muss man sich vor allem ausreichend Zeit nehmen und zuhören. Umgang mit Autoritäten  Immer wieder erstaunlich ist die Beobachtung, dass sich gestandene Manager in unterwürfige „Kinder“ verwandeln, wenn sie mit einer hochrangigeren Person konfrontiert werden. Viele Top-Manager fühlen sich nicht zuletzt deshalb in gewisser Hinsicht einsam, weil nicht wenige Menschen in ihrer Gegenwart ein serviles Verhalten zeigen und nicht in der Lage sind, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, geschweige denn Kritik zu äußern. Die praktische Erfahrung deutet darauf hin, dass gegen oben unterwürfige Personen eher dazu neigen, sich gegen unten besonders direktiv zu verhalten. Hintergrund dieser hierarchischen Ausrichtung ist in der Regel eine besonders dominante Vater- oder Mutterfigur. Im Einzelfall kommen auch andere Personen infrage, es empfiehlt sich aber auf jeden Fall, sich vertieft mit den Verursachern einer stark hierarchischen Denkweise zu beschäftigen, um sich von deren Einfluss ein für allemal zu befreien. Dafür geeignet ist ein Coaching oder im Extremfall eine Therapie. Klar ist, dass ein Umdenken notwendig ist, denn das Beziehungsmodell der Zukunft ist eindeutig ein partnerschaftlicher Umgang. Vertrauen entsteht am einfachsten unter Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen und sich gegenseitig respektieren. Konfliktverhalten  Obwohl teilweise temperamentabhängig und insofern genetisch bedingt, erweist sich im Coaching auch der Umgang mit Konflikten oft als typisches Kindheitsthema. Haben die Eltern ihre Konflikte ausgetragen oder nicht? Wurde im Elternhaus oft und laut gestritten oder alles unter den Teppich gekehrt? Wurden die Kinder in die Lösung von Konflikten einbezogen oder nicht? Grundsätzlich gibt es auch in dieser Beziehung zwei Extreme: konfliktscheue und -vermeidende Personen auf der einen, sehr direkte und konfrontative Typen auf der anderen Seite. Erstere bewirken ein Umfeld, in dem alle potenziell konfliktträchtigen Themen möglichst negiert oder unterdrückt werden, während letztere im Extremfall dauernd (unnötige) Konflikte provozieren. Es ist im Grunde unstrittig, dass konfliktträchtige Themen – wenn auch mit der gebotenen Diplomatie – thematisiert statt tabuisiert werden sollten, denn sie verschwinden ja nicht von selbst. Das klingt auf den ersten Blick einfach, hat aber seine Tücken: So sollte nicht jede Kleinigkeit angesprochen werden, sondern nur die relevanten oder besonders störenden Themen. Außerdem entsteht die Botschaft in der menschlichen Kommunikation bekanntlich beim Empfänger. Narzissten und Personen mit einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl ertragen keine Kritik und werden immer behaupten, die erhaltene Kritik sei ungerechtfertigt oder res-

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pektlos formuliert. Auf der anderen Seite gibt es unemotionale oder taktlose Personen, die tatsächlich zu druckvoll oder abwertend vorgehen. Ein ausgewogenes und respektvolles Konfliktverhalten ist eine zentrale Grundlage des New Leadership. Um dieses zu entwickeln, muss man zunächst die eigenen typischen Verhaltensmuster in heiklen Situationen verstehen. Sobald man sich die entsprechende Selbstkenntnis angeeignet hat, können die richtigen Maßnahmen ergriffen werden. Konfliktbewältigungsstrategien sind prinzipiell gut lernbar. Leistungsverhalten und Anspruchsniveau  Trifft man auf Personen, die sich zu sehr unter Druck setzen oder übersteigerte Erwartungen an sich haben, lohnt es sich nachzufragen, ob und auf welche Weise ihre Eltern früher versuchten, auf ihre schulische Leistung Einfluss zu nehmen. Nicht selten wurden deren Leistungserwartungen internalisiert und entfalten eine bleibende Wirkung. Besonders verheerend und potenziell nachhaltig schädlich ist es, wenn es jemandem als Kind nie gelingt, die (übersteigerten) Erwartungen sehr ehrgeiziger Mütter oder Väter zu erfüllen. Oft ist dies bei den sogenannten „Insecure Overachievern“ der Fall. Wird beispielsweise jemand von einer „Tigermama“ von frühester Kindheit an nur auf Erfolg und Leistung getrimmt, ist es später schwierig, diesen anerzogenen Überehrgeiz loszuwerden. Zu erwarten sind etwa übersteigerte Ansprüche an sich oder Versagensängste. Zum anderen ist der eingeschlagene berufliche Weg oft fremdbestimmt, weil er stärker den Wünschen der Eltern als den eigenen entspringt. In der Praxis wird ebenfalls häufig erwähnt, dass ein Elternteil vermeintlich unerfüllbare Erwartungen an seine Nachkommen stellte, weshalb diese später zeitlebens bewusst oder unbewusst versuchen, dessen Ansprüchen gerecht zu werden. Etwas anders verhält es sich mit Kindern von „Helikoptereltern“, die ihnen alle Wünsche erfüllen und sämtliche Probleme aus der Welt schaffen. Häufige Folgen sind Narzissmus und eine mangelnde Frustrationstoleranz, das heißt eine Unfähigkeit, mit Schwierigkeiten oder Rückschlägen umzugehen. Diese Prinzen und Prinzessinnen sehen beispielsweise nicht ein, weshalb sie auch ungeliebte Aufgaben übernehmen sollten. Tun sie es doch, mangelt es ihnen oft an Disziplin und Sorgfalt, sodass die Ergebnisse meist eher fehlerhaft oder schludrig ausfallen. Nicht selten ist diese Einstellung mit einem unrealistischen Selbstbild verknüpft. So sieht man sich etwa trotz mangelnder schulischer Leistungen als erfolgreichen Arzt oder gefragte Anwältin. Erreicht man das gewünschte Ziel nicht, haben entweder die Lehrer oder die Gesellschaft Schuld. Eine Integration in die Arbeitswelt ist unter diesen Umständen schwierig. Erfahrungsgemäß sind nicht nur zu hohe, sondern auch keine Erwartungen an sich selbst schädlich. Wenn man in einem Umfeld aufwächst, in dem die Eltern entweder selbst keine Ziele haben und/oder antriebslos sind, fällt es schwer, eine gesunde Haltung zu Entwicklung und Engagement auszubilden. Gleichzeitig ist es so, dass sich besonders resiliente und willensstarke Kinder auch aus solchen Verhältnissen hocharbeiten können. Die anderen benötigen neben zusätzlicher Unterstützung vor allem geeignete Vorbilder und Mentoren. Oft anzutreffen ist auch der Glaubenssatz „Ich muss immer und bei allem perfekt sein“. Abgesehen davon, dass Perfektion unmöglich und auch un-

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menschlich wäre, wirkt dieser (oft unbewusste) Antrieb in mehrerer Hinsicht hemmend. Zum einen führt er dazu, Fehler unter allen Umständen vermeiden zu wollen, und verursacht zum anderen eine wenig selbstbestimmte Ausrichtung, weil der Fokus der Aufmerksamkeit eigentlich permanent auf der Frage liegt, was denn in der jeweiligen Situation idealerweise von einem erwartet werden könnte. Die Folge ist oft ein verbissen und regelorientiert wirkender Perfektionismus, der auf andere eher streberhaft wirkt. Personen, die sich dieser Ausrichtung gar nicht bewusst sind, neigen außerdem dazu, ihre Erwartungshaltung auf andere zu übertragen. Gemäß dem Motto „Everything worth doing is worth doing well“ ist es empfehlenswert, die Aufgaben, die man übernimmt, auch richtig zu machen. Es gilt, sein Bestes zu geben, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dogmatismus und Rigidität vs. Offenheit für andere Meinungen  Von hoher Bedeutung und stark identitätsprägend sind die Wertvorstellungen, die im Elternhaus resp. nahen Umfeld gelebt und gepredigt wurden. Im Extremfall können die frühen Vorbilder entweder eine völlig tolerante und offene oder eine stark ideologische Sicht einnehmen und vermitteln. Egal ob es sich um bestimmte religiöse Vorstellungen, eine politische Ideologie oder einen bestimmten Lebensstil handelt, der ausgeübte Druck, das jeweilige Weltbild oder bestimmte Feindbilder zu übernehmen, ist in einem ideologisierten Umfeld in der Regel hoch. Je stärker bestimmte Weltanschauungen vertreten werden, desto wahrscheinlicher ist zudem, dass man sich von Andersdenken abgrenzt und separiert. Verlässt man die vertraute Umgebung, ändert sich der bisherige Mindset nicht automatisch. So wird sich etwa jemand aus einer ausgeprägten Macho-Kultur nicht über Nacht verwandeln und Frauen wirklich als gleichwertig wahrnehmen können. Der amerikanische Spruch „Man kann Personen aus dem Ghetto bringen, aber nicht das Ghetto aus der Person“ zeigt anschaulich, dass man die Wirkung erworbener Einstellungen und Überzeugungen nicht unterschätzen darf. Menschen, die in einem gedanklich rigiden Umfeld aufwachsen, haben es also nicht leicht, sich später von den eingetrichterten Wahrheiten zu befreien, sofern sie dies überhaupt versuchen. Tiefsitzende Vorstellungen, was richtig und was falsch ist, zu überwinden, braucht viel Selbstreflexion und Geduld. Erschwerend kommt dazu, dass eine Abkehr von den indoktrinierten Wahrheiten oft mit einem Bruch mit der eigenen Familie verbunden ist (z. B. bei Sekten). Bemerkenswerterweise kommt es auch vor, dass sich Personen im Erwachsenenalter bewusst einer abgeschlossenen Gesellschaft anschließen, weil sie mit freiheitlichen Idealen Mühe bekunden resp. klare Regelungen und gedankliche Vorgaben benötigen (z. B. Konvertiten). Entscheidend ist letztendlich das Verständnis, dass wir im Grunde alle in unserer eigenen Welt leben und unbewusst annehmen, dass die Wirklichkeit so ist, wie wir sie sehen, resp. so, wie wir das seit unserer Kindheit in einem spezifischen Umfeld erlernt haben. Vor allem ein häufiger Gebrauch von Floskeln wie „Es ist so, man macht das so“ etc. ist ein Indiz dafür, dass sich jemand stark an unhinterfragten Überzeugungen ausrichtet. Eine solche Person tendiert dazu, die eigene Sicht der Dinge als die einzig richtige wahrzunehmen. Es ist für sie herausfordernd, wenn jemand eine „Wahrheit“ anders interpretiert. Diese

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Grundannahmen entstammen dem lokalen Umfeld, in dem man aufgewachsen ist, und bleiben unerkannt und unbewusst, solange man es mit Personen aus der gleichen R ­ egion zu tun hat. Nur spezielle Ereignisse wie etwa eine Pandemie oder kritische Lebensereignisse können einem drastisch vor Augen führen, dass das Selbstverständliche eben nicht immer selbstverständlich ist. Zieht man in einen völlig anderen Kulturkreis um, erweisen sich unter Umständen auch einige der grundlegendsten „Wahrheiten“ als nur eine von mehreren Möglichkeiten, etwas zu sehen. Personen, die sich in einem internationalen oder sehr diversen Umfeld bewegen, kommen nicht umhin, sich bis zu einem gewissen Grad zu öffnen. Reife Persönlichkeiten benötigen keine fixen Wahrheiten oder identitätsstiftenden Dogmen, sondern betrachten unterschiedliche Perspektiven als bereichernd. Berufs- und karrierebezogene Selbsterkenntnis  Die meisten Menschen besitzen eine mehr oder weniger klare Vorstellung davon, was sie karrieretechnisch erreichen möchten. Einige kennen auch ihre besonderen Stärken und Entwicklungsfeder oder wissen, welche Wirkung sie als Führungskräfte entfalten möchten. Insgesamt bewegt sich die Selbstreflexion im Schnitt allerdings nicht auf einem besonders hohen Niveau. Erstaunlicherweise kommt es beispielsweise nicht selten vor, dass Kandidaten im Assessment sogar Mühe haben, die Stelle, für die sie sich bewerben, differenziert zu beschreiben. Folgerichtig fällt es diesen auch schwer, ihre Eignung dafür treffend zu beurteilen. In beruflicher Hinsicht lohnt es, sich über die nachstehenden Themen Gedanken zu machen: 1) berufliche Ambitionen und Möglichkeiten, Aus- und Weiterbildmöglichkeiten, 2)  eigene Fähigkeiten, Kompetenzen und Grenzen, 3) Werte und Prinzipien, 4) Offenheit des eignen Weltbilds. Dass man sich regelmäßig mit den eigenen Karrieremöglichkeiten und seiner Employability beschäftigen sollte, scheint logisch und braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Die Werte und Prinzipien sind bereits diskutiert worden. Im Folgenden stehen die Kompetenzen und das Weltbild im Zentrum. Fähigkeiten, Kompetenzen und Grenzen  Die meisten Menschen glauben, sich selbst genau zu kennen und detailliert über ihre besonderen Stärken und Entwicklungsthemen Bescheid zu wissen. Die Realität zeigt jedoch, dass dem nicht so ist – und zwar ganz und gar nicht. Die Assessment-Praxis lässt vielmehr annehmen, dass davon ausgegangen werden muss, dass sich – selbst unter den angehenden oder bereits arrivierten Führungskräften – eher eine Minderheit regelmäßig aktiv mit sich selbst beschäftigt, obwohl sich bei den jüngeren Generationen ein Trend in die richtige Richtung feststellen lässt. Eine typische Frage in Bewerbungsprozessen ist jene nach den wichtigsten Stärken und Schwächen, die man bei sich wahrnimmt. Obwohl dies bekannt ist und sich die meisten Kandidaten im Assessment darauf vorbereiten, fallen die Antworten – speziell bei den Entwicklungsfeldern – oft vage und oberflächlich aus. Ein Klassiker unter den Schwächen ist das Thema „Ungeduld“. Offenbar sind die meisten Menschen schneller im Denken und Handeln als die anderen, weshalb sie ungeduldig werden, weil es ihnen zu wenig schnell vorwärts geht. Dieses Beispiel zeigt auch, dass eine beliebte Taktik darin besteht, Schwächen als verkappte Stärken zu ver-

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kaufen. Häufig zu beobachten sind auch Hinweise auf mangelnde Sprachkenntnisse oder fachliche Skills sowie Plattitüden in der Art von „Ich bin sozial kompetent oder kommunikativ“. Erstaunlicherweise gelingt es selbst Personen, die bereits Assessmenterfahrung aufweisen, nicht immer, ihre Persönlichkeit differenziert zu beschreiben geschweige denn darzustellen, wie sie sich seit dem letzten Assessment entwickelt haben. Das (seltenere) Gegenstück sind Menschen, denen es sichtlich Freude bereitet, von sich zu erzählen und die ein Assessment gern als Plattform für eine narzisstische Nabelschau nutzen. Selbstreflexion als Selbstzweck ist wenig zielführend, und man läuft Gefahr, sich nur um sich selbst zu drehen, ohne sich dabei wirklich zu entwickeln. Wirklich überraschend ist, dass es Leute gibt, die im Assessment ein rundes und klares Format und eine reife Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, es aber nicht schaffen, ihren entsprechenden Entwicklungsprozess nachvollziehbar zu erklären. Vor allem bei Angelsachsen verbreitet ist eine sehr praktische Art der Selbstentwicklung, bei der man sich nach allen wichtigen Situationen fragt, was man gut gemacht hat und was man noch besser machen könnte. Im deutschsprachigen Raum dominiert dagegen die Vorstellung, dass man sich auf abstrakte Weise mit sich selbst auseinandersetzen sollte, um ein differenziertes Selbstbild zu entwickeln. Soll vor allem die Effektivität im alltäglichen Handeln laufend gesteigert werden, ist letzteres nicht unbedingt notwendig. Ideal ist aber eine Kombination von beidem. Fast wichtiger als die Kenntnis der eigenen Fähigkeiten ist, dass man seine Grenzen kennt. Auf der einen Seite kann jeder und jede bei ihren spezifischen Talenten eine gewisse Meisterschaft erlangen und in den eigenen Entwicklungsthemen große Fortschritte machen, aber kein Mensch kann es in allen Dingen und in allen Eigenschaften auf ein sehr hohes Niveau bringen. Der Glaube, alles besonders gut zu können oder anderen überlegen zu sein, ist vielmehr ein starkes Anzeichen für narzisstische Selbstüberschätzung und für professionelle Assessoren ein Signal, wachsam zu sein. Tritt jemand als völlig von sich selbst überzeugter Blender auf, bedarf es kritischer Nachfragen, um herauszufinden, was die Person wirklich kann. Zu beachten ist der bereits angesprochene Dunning-Kruger-­ Effekt, wonach inkompetente Leute ihre Fähigkeiten überschätzen. Nicht ungefährlich dabei ist, dass solche Personen höhere Fähigkeiten bei anderen nicht (an)erkennen und das Ausmaß der eigenen Inkompetenz nicht einschätzen können. Dass sie gleichzeitig oft eine starke Gewissheit ausstrahlen, darüber Bescheid zu wissen, was richtig und was falsch ist, scheint zumindest in der Politik zu bewirken, dass sie – bemerkenswerterweise nicht nur in den ungebildeten Bevölkerungsschichten – Anhänger finden. So viel zur Schau getragene Sicherheit wird als Kompetenz interpretiert oder befriedigt die Sehnsucht nach dem starken Mann, der alles weiß. Blender schaffen es, mit einfachen Botschaften und Erklärungen Orientierung zu vermitteln und eine Bindung herzustellen, die eine kritische Betrachtung ihrer Leistungen erschwert. Im Hinblick auf das New Leadership relevant ist die in der Wirtschaft schon vielerorts erfolgte Abkehr von der Vorstellung eines Leaders als allwissende Person, die auch bei ihr völlig unvertrauten Themen das letzte Wort haben muss. In Zukunft zeichnet sich eine Leader-Persönlichkeit vielmehr dadurch aus, dass sie als Teil der Bescheidenheit vgl. Beschei-

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denheit weiß, was sie kann und was sie nicht kann resp. wann sie die ­Unterstützung anderer Menschen benötigt. Die künftig zunehmend geforderte Selbstentwicklung setzt ein mehr oder weniger genaues Bild der eigenen Fähigkeiten, Potenziale und Entwicklungsfelder voraus. Ziel ist es, die eigenen Stärken laufend weiter auszubauen sowie an störenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen gezielt zu arbeiten, um unerwünschte Wirkungen zu reduzieren. Neben permanenter Selbstreflexion kann vor allem Feedback durch Beurteilungsexperten, Vorgesetzte und Kollegen helfen, sich ein realistisches Bild der eigenen Wirkung, Fähigkeiten und Entwicklungsfelder zu verschaffen. Dazu bedarf es zunächst der Bereitschaft, ehrliche und differenzierte Rückmeldungen auch einzufordern. Dieses Feedback darf sich zudem nicht nur auf die Leistung in bestimmten Situationen (z. B. Auftreten in einer Präsentation) beschränken, sondern sollte auch die Wirkung und das Verhalten einbeziehen. Gleichzeitig müssen die Feedback Gebenden auch bereit und fähig sein, ein solches zu bieten. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Menschen stark. Hinderlich ist vor allem die weit verbreitete Scheu, kritische Aspekte angemessen klar anzusprechen, speziell wenn eine hierarchisch überstellte Person Feedback einfordert. Auch in dieser Hinsicht ist die noch zu diskutierende psychologische Sicherheit von Bedeutung. Offenheit des erworbenen Weltbilds  Alle Menschen erwerben für sich im Lauf des Lebens eine Art eigenständiges – allerdings stark durch ihr Elternhaus und den Herkunftstort geprägtes – Weltbild, welches bestimmt, wie die Dinge aus Sicht der einzelnen Personen funktionieren, was richtig und was falsch ist u. a. Ebenfalls Teil dieser Weltsicht sind mehr oder weniger detaillierte Laienvorstellungen darüber, wie andere ticken, zum Beispiel stereotypische Vorstellungen über das andere Geschlecht, andere Ethnien o. Ä. Solche Vorurteile sollten erkannt und über Bord geworfen werden. Dabei handelt es sich allerdings nur um die obersten, bewussten Vorstellungen. Auf einer tieferen Ebene ist vor allem wichtig, ob und wie sehr man in der Lage ist, Unterschiede zu den Wahrnehmungen und Erklärungsmodellen anderer zu erkennen und diese unter Umständen ebenfalls als möglich und sinnvoll anzuerkennen; dies allerdings im Rahmen einer echten Auseinandersetzung damit. Nicht gemeint ist eine oberflächliche Schein-Toleranz, die im Grunde eher darin besteht, nicht hinzusehen, um Konflikte zu vermeiden. Eine andere Art der Übertreibung stellt die aktuelle Diskussion zur kulturellen Aneignung dar. Die Unterschiede werden hier eher überbetont und allein einer bestimmten Gruppe zugehörig definiert. Damit wird verhindert, dass man voneinander lernen kann. Wirklich weltoffene Personen lassen sich von den Weltsichten anderer inspirieren und sind gegebenenfalls fähig, Teile davon für sich zu übernehmen. In der Assessment-Praxis zeigt sich erstaunlich oft, dass die Kandidaten im Grunde davon ausgehen, dass die Mehrheit sehr ähnlich gestrickt ist wie sie selbst. So nehmen beispielsweise sachbezogene Ingenieure oft an, dass auch die anderen Menschen gefühlsbezogene Themen unwichtig finden. Vor allem wenig reflektierte Personen tendieren dazu, ihr ihnen selbst nur teilweise bewusstes Selbstbild auf andere zu übertragen. Ihre Beurteilung anderer sagt dann oft mehr über sie als die anderen aus. Einige Kandidaten brüsten sich damit, über ein besonderes Gespür für andere zu verfügen und intuitiv die richtigen

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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Mitarbeitenden einzustellen. Diese Auswahl nach Bauchgefühl bewirkt, dass man sich mit Personen umgibt, die charakterlich oder temperamentmäßig gut zu einem passen und mit denen man gut klarkommt. Ob diese im Einzelfall auch für das Unternehmen die richtigen sind, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Menschen, die sich gut kennen, stellen hingegen oft gezielt Personen mit komplementären Stärken ein. Zum Beispiel sucht ein ganzheitlich denkender Stratege, der lieber das Ganze im Blick hat, jemanden, dessen Stärken darin liegen, sich um die Detailarbeit zu kümmern. Für professionelle Beurteilende ist es eine absolute Notwendigkeit, die Brille zu kennen, mit der man andere betrachtet, denn auch sie sind vor verzerrten Wahrnehmungen infolge eigener Präferenzen nicht gefeit. Für Laien empfiehlt sich folgendes Vorgehen: Ausgehend von der Annahme, dass die Beurteilung anderer Menschen speziell zu Beginn vor allem etwas über einen selbst aussagt, empfiehlt es sich, darauf zu achten, was einem an anderen positiv und negativ auffällt, um sich anschließend zu fragen, was das mit einem selbst zu tun hat. Sich selbst durch die eigene Wahrnehmung anderer kennenzulernen, ist ein sehr probates Mittel, wenn auch nicht ganz so banal, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn auch die Interpretation unserer Wahrnehmungen anderer ist natürlich verzerrt. Den Klassiker in dieser Hinsicht bildet die Wahrnehmung von Arroganz bei anderen. Ich habe selbst auf internationalem C-Level nur wenige Personen angetroffen, die man wirklich als überheblich und hochnäsig bezeichnen müsste. Sehr häufig nennen Assessmentteilnehmende jedoch Arroganz als Eigenschaft, die sie bei anderen gar nicht mögen und die sie immer wieder anzutreffen glauben. In den meisten Fällen ist diese Einschätzung Ausdruck einer eigenen Unsicherheit, die aus irgendwelchen Gründen im Umgang mit bestimmten Personen aufkommt. Statt zu versuchen, diese Unsicherheit zu fassen und sich zu überlegen, woher sie kommt, wird als Schnellschuss das Gegenüber mit einer negativen Eigenschaft belegt. Ein anderes Beispiel ist die Beobachtung, dass Personen, die sich ihrer Kompetenz nicht ganz sicher sind, eher dazu neigen, andere als rechthaberisch oder besserwisserisch einzuschätzen. Eine offene Lernhaltung ist also keineswegs selbstverständlich. Es gilt also, nicht dem ersten, vor allem das eigene Selbstwertgefühl stützenden Erklärungsimpuls zu folgen, sondern sich möglichst viele denkbare Ansätze zu überlegen. Um daraus den richtigen zu identifizieren, ist ein gewisser Zugang zu den eigenen Emotionen erforderlich. Denn man spürt es, wenn man richtig liegt. Klar ist, dass Führungskräfte möglichst genau wissen sollten, was sie an anderen mögen und ablehnen. Idealerweise werden diese Vorstellungen in Form konkreter Verhaltenserwartungen explizit formuliert und den Mitarbeitenden oder dem Umfeld kommuniziert. Damit drückt man eine eigene Linie aus.

4.2.3 Motivationsorientierte Selbstkenntnis und Warum Will man nachhaltig erfolgreich und glücklich sein, muss man neben seinen Fähigkeiten auch die eigenen Wünsche und Treiber kennen. Fragen wie „Weshalb stehe ich morgens auf?“, „Was gefällt mir bei der Arbeit besonders?“, „Was will ich erreichen?“ sollten bis zu einem gewissen Grad geklärt sein und die Antworten sporadisch überprüft werden. Dabei

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im Zentrum steht die Motivation, das heißt der Antrieb, eine bestimmte Handlung auszuführen. Motivationspsychologische Ansätze werden in der Management-Praxis und in Führungsausbildungen seit Langem einbezogen. Obwohl mittlerweile überholt, erfreuen sich etwa die Bedürfnispyramide von Maslow (1943) oder die 2-Faktoren-Theorie von Herzberg et al. (1953) noch immer einer großen Beliebtheit und sind eigentlich allen bekannt. Im Rahmen inhaltlicher Motivationstheorien wird seit Langem versucht, die zentralen Motive menschlichen Handelns zu identifizieren. Im Arbeitskontext ist vor allem Unterscheidung von Macht-, Leistungs- resp. Erfolgs- und Zugehörigkeitsmotivation nach McClelland (1961) verbreitet. In der aktuellen Literatur wird das neuropsychologische SCARF-Konzept von Rock (2008) oft erwähnt. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Menschen nach Belohnung streben und Bedrohungen vermeiden, entwickelte Rock ein Modell mit 5 bei allen Menschen mehr oder weniger stark vorhandenen Basismotiven, die bei richtiger Handhabung eine belohnende Wirkung entfalten resp. Abwehrreaktionen vermeiden. (1) S steht für „Status“ in Bezug auf die Positionierung anderen gegenüber, wobei damit eher das Selbstwertgefühl als der soziale Status gemeint ist. Bei hoher Ausprägung fühlt sich eine Person rasch herabgesetzt und nimmt alles persönlich. Eine niedrige Ausprägung erkennt man unter anderem daran, dass jemand über sich selbst lachen kann und sich nicht allzu ernst nimmt. (2) C für „Certainty“ beschreibt das Sicherheitsempfinden. Empfindet man schwer greifbare Bedrohungen oder fühlt man sich zu wenig informiert, kann man unsicher werden. Transparenz und umfassende Information können dem entgegenwirken. (3) A für „Autonomy“ bezeichnet das Bedürfnis nach Selbstbestimmung: Personen mit einer hohen Ausprägung fühlen sich rasch bevormundet (z.  B.  Gegner von Covid-­ Maßnahmen). Auch Macht gibt Freiheiten, weshalb auch ein erhöhtes Machtstreben unter diese Kategorie fällt. (4) R für „Relatedness“ bezieht sich auf das bereits seit Langem bekannte Beziehungsmotiv. Der Mensch ist ein soziales Wesen und benötigt zwischenmenschlichen Kontakt. Das Ausmaß und die Art der erwünschten Interaktion unterscheidet sich allerdings stark. (5) F für „Fairness“ beschreibt das individuelle Gerechtigkeitsempfinden. Alle Menschen wollen fair behandelt und nicht benachteiligt werden. Einige haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Es ist auf alle Fälle lohnenswert, sich zu überlegen, wie stark diese Motive bei einem ausgeprägt sind. Führungskräfte sind bestimmt nicht schlecht beraten, dasselbe bei ihren Mitarbeitenden zu tun. Etwaige Überausprägungen dürfen und sollen angesprochen werden. Auch auf dieser Ebene sind Lernprozesse durchaus möglich. Gemäß Rock geht dies am besten, wenn den Betreffenden die neuropsychologischen Zusammenhänge aufgezeigt werden. Für die Zwecke dieses Buchs besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation. Diese bezieht sich darauf, ob man etwas hauptsächlich aus eigenem Antrieb oder um der Sache selbst willen tut oder ob man eine Akti-

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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vität aufgrund äußerer, das heißt außerhalb der Person liegender Anreize entfaltet (z. B. Arbeit, um Lohn erhalten). Typische extrinsische Bedürfnisse sind materielle Belohnungen, Karriere, Anerkennung, Status oder Work-Life-Balance. Spaß an der Arbeit, Faszination für ein bestimmtes Thema, das Erleben von Sinn oder Selbstwirksamkeit sind einige wichtige intrinsische Motive. Beim Wunsch nach der Übernahme einer Führungsfunktion können sowohl extrinsische Faktoren (z. B. mehr Einfluss) als auch ein genuines Interesse an Menschen oder deren Förderung eine Rolle spielen. Mit dem Abbau von Hierarchien und dem eher Coaching-orientierten Führungsverständnis nehmen die extrinsischen Anreize ab. Die künftigen Leader werden insofern stärker durch die zwischenmenschlich anspruchsvollere Führungsarbeit selbst motiviert. Neben diesen (primären) Basismotiven kann eine Vielzahl weiterer (sekundärer) Motive in eine Analyse der eigenen Bedürfnisse und Vorlieben einbezogen werden. Im Hinblick auf die Motivation sollte der Blick sowieso über die Arbeit hinausgehen und das ganze eigene Leben umfassen. Eine Möglichkeit, sich über die eigenen Präferenzen und Bedürfnisse klarzuwerden, besteht im Reflektieren des Reiss-Profils (Reiss, 2009). Dieses erfasst 16 Lebensmotive, die auf empirischen Wege ermittelt worden sind. Vergleichbar mit dem lexikalischen Ansatz beim „Big-Five-Modell“ versuchte Reiss zuerst, alle denkbaren Motive zu erfassen. Mittels faktorenanalytischer Verdichtung fasste er die Liste hunderter möglicher Bedürfnisse auf die nachstehenden Dimensionen zusammen: (1) Macht (Will ich für andere die Verantwortung übernehmen oder lieber geführt werden? (2) Unabhängigkeit (Schätze ich eher Unabhängigkeit oder fühle ich mich im Team wohl?) (3) Neugier (Will ich mir viel Wissen aneignen oder bin ich eher der Praktiker?) (4) Anerkennung (Wie viel Bestätigung brauche ich? Bin ich sehr harmonieorientiert?) (5) Ordnung (Schätze ich Routine und Standardprozesse? Bin ich eher der flexible Typ?) (6) Sparen (Bin ich eher sparsam und ein „Sammler“ oder bin ich eher großzügig?) (7) Ehre (Richte ich mich stark an Prinzipien aus oder heiligt der Zweck für mich die Mittel?) (8) Idealismus (Bin ich eher idealistisch oder eher realistisch?) (9) Beziehungen (Wie wichtig sind mir Beziehungen? Bin ich gesellig?) (10) Familie (Wie wichtig ist mir Familie? Bin ich ein fürsorglicher Typ?) (11) Status (Bin ich statusorientiert? Wie wichtig sind mir materielle Aspekte?) (12) Wettbewerb/Rache (bin ich wettbewerbsorientiert? Kann ich verlieren?) (13) Eros (Bin ich ein sinnlicher Typ? Habe ich einen Sinn für schöne Dinge?) (14) Essen (Bin ich ein Genießer? Lege ich Wert auf eine hohe Lebensqualität?) (15) Körperliche Aktivität (Brauche ich Bewegung? Bin ich aktiv oder eher entspannt?) (16) Ruhe (Will ich Stress vermeiden? Suche ich herausfordernde Situationen?) Die Reflexion hinsichtlich dieser Lebensmotive kann einem wichtige Einsichten über sich verschaffen. Während es sich für individualdiagnostische Prozesse weniger eignet, kann

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

das Reiss-Profil in Coachings oder bei Teamentwicklungen zusätzliche Erkenntnisse hervorbringen oder das gegenseitige Verständnis fördern. Kennen Führungskräfte die besonders ausgeprägten Motive der Mitarbeitenden, können sie diese in ihrem alltäglichen Führungshandeln berücksichtigen (Ion & Brand, 2009). Weil die berufliche Tätigkeit einen großen Teil der eigenen Lebenszeit in Anspruch nimmt, ist es empfehlenswert, sich eine Beschäftigung zu suchen, die den eigenen Neigungen und Fähigkeiten besonders gut entspricht. Generell gilt, dass einem diejenigen Aufgaben am leichtesten fallen und am längsten Freude bereiten, die genau diese Voraussetzungen erfüllen. Bis heute gültig ist das Konzept von „Kopf, Herz und Hand“ des Schweizer Pädagogen Pestalozzi aus dem 18. Jahrhundert. Modern interpretiert besagt es, dass man in einen Flow-Zustand verfallen kann, wenn einem eine bestimmte Tätigkeit Spaß macht und positive Emotionen auslöst (Herz), diese mit den eigenen Werten und Zielen kongruent ist (Kopf) und die Fähigkeiten und Kenntnisse dafür vorhanden sind (Hand). Flow ist ein Glücksgefühl, das auftritt, wenn man weder über- noch unterfordert ist. Es zeigt sich insbesondere darin, dass man nicht merkt, wie die Zeit vergeht, weil man völlig in einer Aufgabe aufgeht (Csikszentmihalyi, 1995). Nachhaltiges Glück im Beruf ist insofern vor allem dann zu erwarten, wenn man liebt, was man macht, resp. wenn sich oft Gelegenheiten ergeben, das Flow-Gefühl zu stimulieren. Kurz gesagt, empfiehlt es sich, eine Arbeit zu wählen, die man auch als Hobby betreiben würde. Allerdings muss man dabei beachten, dass unter Umständen der sogenannte Korrumpierungseffekt auftreten kann. Damit gemeint ist die These von Deci & Ryan (1985), wonach extrinsische Motivation (z. B. materielle Belohnungen) die intrinsische verdrängen kann. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn man für eine Tätigkeit, die man ohnehin gern macht, auf einmal Geld erhält. So kann etwa ein Künstler, der kommerziell erfolgreich wird, irgendwann dazu übergehen, vor allem zu malen, um noch mehr Geld zu verdienen. Gemäß Deci et  al. (2001) hängt die Stärke der Motivation davon ab, inwieweit die von ihnen angenommenen psychologischen Grundmotive Kompetenz, soziale Eingebundenheit und Autonomie befriedigt werden. Eine Verdrängung kann stattfinden, wenn eines dieser Motive verletzt wird – im Falle der Bezahlung für eine Leistung jenes nach Autonomie und Selbstbestimmung, wenn dies jemand anders entscheidet. Ist man einverstanden, kann auch eine Verstärkung der Motivation die Folge sein. Wer träumt nicht davon: Einer Lieblingsbeschäftigung nachgehen und dafür noch Geld erhalten. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man weiß, was man besonders gut kann und gern tut. Auch dies ist keinesfalls selbstverständlich. Der einfachste Weg, dies herauszufinden, ist sich zu fragen, bei welchen Aufgaben bin ich schon in einen Flow-Zustand geraten? Danach ist noch zu klären, wie man damit Geld verdienen kann, sofern es dafür noch keine exakt passenden Stellenangebote gibt (z. B. Programmierer, wenn man gerne codiert). Mit einem besonderen Talent gepaart mit einem guten Geschäftssinn können sich ungeahnte Geldquellen erschließen. Laird Hamilton wurde zum Millionär, weil er das „Stand up Paddling“ erfand und das Kitesurfen popularisierte. Sein ursprüngliches Talent und Passion: Big Wave Surfing. Eine Methode, die richtige Aufgabe zu finden, kommt ursprünglich aus Japan und heißt Ikigai – was sich mit „wofür es sich zu leben lohnt“ übersetzen lässt (z. B. Miralles & Gar-

4.2 Persönlichkeitskompetenzen und Selbstführung

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Wollen

Können

IKIGAI

Nutzen

Bezahlung

Abb. 4.1  Ikigai. (Quelle: eigene Darstellung)

cia, 2016). Das Modell ist in Abb. 4.1 dargestellt. Auf den ersten Blick wird erkennbar, dass Ikigai dem Kopf-Herz-Hand-Modell entspricht und auch das Flow-Konzept beinhaltet. Ikigai entsteht, wenn sich die 4 Kreise in optimaler Weise verbinden. Und es kann alles sein, das heißt, es gibt keine allgemeingültige Antwort, sondern jeder und jede muss die für sie oder ihn stimmigen Aktivitäten selbst finden. Je nach Stärke der einzelnen Aspekte ergeben sich unterschiedliche Kombinationen. Sind jeweils zwei besonders ausgeprägt, sind die nachstehenden Kombinationen denkbar: (1) Erwerbsarbeit ist, wenn man für eine bestimmte Tätigkeit Geld erhält und diese einen gesellschaftlichen Nutzen bringt, wobei sie einem aber nicht wirklich entspricht. Für diejenigen, die keinen besonderen Ehrgeiz haben und sich nicht mit sich beschäftigen, ist dies die wahrscheinlichste Realität. Bewegt man sich zu weit weg von der eigenen Bestimmung, können Effekte wie Dienst nach Vorschrift, innere Kündigung und sogar psychische Störungen auftreten. (2) Bei Expertentum treffen sich vor allem Verdienst und Fähigkeiten. Eine Arbeit geht einem leicht von der Hand und sichert das Einkommen. Große Belastungen sind nicht zu erwarten, eher eine gewisse Langeweile, wenn die Begeisterung fehlt. Top-Experte oder Spitzensportler wird man allerdings nur, wenn einem auch die Aufgabe selbst Freude bereitet. Für diesen Personenkreis ist es typisch, dass sie sowohl eine leidenschaftliche Begeisterung für die Sache als auch eine hohe Lernbereitschaft und Disziplin aufweisen. Sie haben aus eigenem Antrieb den Wunsch, sich immer weiter zu verbessern. Talent und Fleiß verbinden sich dann in optimaler Weise.

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(3) Passion entsteht, wenn sich Fähigkeiten und Neigungen besonders gut decken. Handelt es sich bei der entsprechenden Tätigkeit um eine (vermeintlich) „brotlose Kunst“, steht man vor einem Dilemma. Entweder man macht etwas ganz anderes, weil einem der Verdienst wichtiger ist, oder man betreibt die eigentlich gewünschte Arbeit als Hobby und geht gleichzeitig einem „Brotjob“ nach. Findige Personen spüren einen neuen Markt für das eigene Kompetenzgebiet auf. (4) Bei Mission decken sich Neigungen und Nutzen, wobei es sich bei letzterem in diesem Konzept nicht unbedingt um einen gesellschaftlich relevanten Zweck handeln muss. Dass ein solcher zusätzlich sinnstiftend wirkt, ist einer der Gründe, weshalb sich Unternehmen zunehmend an einem Purpose ausrichten. Auf der individuellen Ebene bedeutet dieser Kreis, dass man etwas sinnvoll findet, es aber nicht unbedingt gut beherrscht. Ein gutes Beispiel dafür ist Coaching. Diese Aufgabe ist extrem begehrt, und unglaublich viele Menschen wollen sich als Coach betätigen. Es ist zu hoffen, dass sich diese auch einmal fragen, ob es denn für die potenziellen Coachees gut oder nützlich ist, wenn gerade sie diese Aufgabe wahrnehmen. Treffen sich 3 Aspekte auf einem hohen Niveau, sind die folgenden Zustände zu erwarten: Man fühlt sich erfüllt, verdient aber kaum Geld (Bezahlung fehlt); man ist wohlhabend, fühlt sich aber nicht wirklich kompetent (Fähigkeiten fehlen); man steht materiell auf der sicheren Seite, aber fühlt sich leer (Motivation fehlt); man arbeitet erfolgreich und für eine angemessene Bezahlung für etwas, das man nicht als sehr nutzbringend betrachtet (relevanter Nutzen fehlt). Sein Ikigai zu finden, lohnt sich, denn es verspricht ein glücklicheres Leben. Das obige Modell zu überfliegen oder oberflächlich zu reflektieren, wird allerdings nicht ausreichen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass es dazu einer längeren Reise und einer wiederholten Beschäftigung mit den aufgeführten Themen bedarf. Der Lebenssinn und das eigene Warum  In der Psychologie geht die Beschäftigung mit der Sinnfrage auf Viktor Frankl zurück. Dieser überlebte mehrere Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern der Nazis, bevor er mit seinen Werken zu Sinn und Resilienz (Frankl, 1946, 2015) Berühmtheit erlangte. Vor dem Krieg war er übrigens aus der Gesellschaft für Individualpsychologie von Alfred Adler ausgeschlossen worden, weil er die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen hatte. Damals ein Unding. Seine Erkenntnis: Wer ein Warum hat, erträgt jedes Wie ist natürlich geprägt durch seine Lebenserfahrung und zeitlos gültig. Auf der Grundlage empirischer Untersuchungen bezeichnet Schnell (2016) den Lebenssinn als „grundlegende Erfahrung von Sinnhaftigkeit“. Sie basiert auf einer (meist unbewussten) Bewertung des eigenen Lebens als kohärent, bedeutsam, orientiert und zugehörig. (1) Kohärenz in ihrem Verständnis bedeutet, dass sich die verschiedenen Lebensbereiche nicht widersprechen, sondern ergänzen und harmonisch zueinander in Beziehung stehen. Erwähnenswert ist der Zusammenhang zum Selbstwertgefühl. Um ein einigermaßen gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen und zu erhalten, strebt das Gehirn danach, eine kohärente Geschichte des eigenen Lebens und der bisherigen eigenen Leistungen zu schreiben.

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(2) Bedeutsamkeit bezieht sich auf die wahrgenommene Wirksamkeit des eigenen Handelns. Werden mit den eigenen Aktivitäten die gewünschten Effekte erzielt, steigen das Sinnerleben und die erlebte Bedeutung. Ist das nicht der Fall, ist schlimmstenfalls mit erlernter Hilflosigkeit (Seligman, 1979) zu rechnen. Passivität und Ziellosigkeit bewirken Gefühle von Sinnlosigkeit und erschweren es, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. (3) Orientierung meint eine inhaltliche Ausrichtung des eigenen Lebenswegs, die auch in unsicheren Zeiten bestehen bleibt. Wesentlich bei diesem Aspekt ist das Finden und Verfolgen bestimmter Ziele – nicht nur, um etwas zu erreichen, sondern auch, um falsche Wege zu erkennen. Dieser Aspekt entspricht auf der Unternehmensebene einer übergeordneten Vision, die als Leitstern dient, während sich die Wege zum Ziel unter Umständen verändern können. (4) Zugehörigkeit steht für die Einbindung in etwas Größeres, etwa eine Gruppe, ein Unternehmen oder eine Nation. Die Bedeutung des Beziehungsmotivs wurde bereits diskutiert. Sinnerleben braucht das Gefühl, zielgerichtet aktiv zu sein und vertraute Personen um sich zu haben. Wem es an der Fähigkeit fehlt, einen eigenen Sinn im Leben resp. die für sich stimmige Form von Bedeutung zu finden, kann geneigt sein, stattdessen nach einem möglichst hohen Ansehen, nach irgendwelchen Konsumgütern oder nach einem vermeintlich hippen Lifestyle zu streben. Dasselbe gilt auch für die Leistung. Diejenigen Personen, die nicht herausfinden, auf welchen Gebieten sie besondere Leistungen erbringen können, orientieren sich allenfalls an äußeren Zielen wie irgendwann eine Villa sein Eigen zu nennen oder unbedingt einen akademischen Grad erlangen zu müssen. Vor allem die Werbung, Social Media und verschiedene Formate, die aus dem Leben der Reichen und Schönen berichten, suggerieren, dass das Erreichen materieller Ziele glücklich macht. Dabei ist es natürlich so, dass in der westlichen Leistungsgesellschaft verschiedene Berufe unterschiedlich honoriert und gesellschaftlich anerkannt werden. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass seiner wahren Bestimmung zu folgen eventuell mit einem niedrigeren Lebensstandard verbunden ist. Die Frage, was einen letztlich vor allem langfristig glücklicher macht, muss jeder und jede für sich selbst entscheiden. Aber es ist eine Entscheidung. Niemand ist etwa dazu gezwungen, Karriere zu machen. Zentraler Bestandteil in den Top-Management-Assessments für einen internationalen Konzern war ein mehrstündiges Tiefeninterview. Selbstverständlich drehte sich dieses auch um die Frage, was die Kandidaten antreibt resp. was sie motiviert – die größere Sinnfrage zu stellen, schien bis vor Kurzem noch nicht angemessen. Typische Fragen, um sich diesem Themenkreis zu nähern, waren zu Beginn beispielsweise: Was treibt Sie an im Leben? Was motiviert Sie besonders in Ihrer aktuellen Tätigkeit? Viele vage Antworten auf diese Fragen veranlassten mich dazu, diese anschaulicher und weniger abstrakt zu formulieren: Warum stehen Sie morgens auf? Weshalb machen Sie sich anschließend zu Ihrer Arbeitsstelle auf? Und mit welchem Gefühl? Diese Fragen erbrachten deutlich aussagekräftigere Ergebnisse und gehen in dieselbe Richtung wie der bekannte „Golden Circle“ von Sinek (2014). Sein einfaches Konzept beinhaltet 3 konzentrische Kreise, wobei das Warum („Why“) in ganz

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innen steht, das Wie („How“) in der Mitte und das Was („What“) ganz außen. Um dauerhaft glücklich resp. als Unternehmen erfolgreich zu sein, muss zunächst das Warum geklärt werden. Die Frage nach dem Warum beantwortet die letztlich entscheidende Frage nach dem Sinn der eigenen Tätigkeit. Versteht man sein Warum, findet man fast automatisch die zu einem passende Aufgabe oder Bestimmung (Sinek et al., 2018). Bei einem Unternehmen beschreibt das Warum den Purpose resp. den eigentlichen Zweck, warum man tut, was man tut. Erst an zweiter Stelle steht die Frage nach der Art und Weise, wie man das Warum erreichen resp. umsetzen möchte (v. a. Vorgehensweisen, Strategien), während das Was die konkreten Tätigkeiten resp. Produkte und Dienstleistungen beschreibt. Nach Sinek wird in der Praxis fälschlicherweise meist mit der letzten Frage begonnen, das heißt, es wird zuerst überlegt, welche Produkte man anbieten möchte. Der eigentliche Zweck wird hingegen außer Acht gelassen. Der Sinn besteht in diesem Fall etwa im Geldverdienen, was keinem höheren Nutzen dient. Er empfiehlt, sich die Frage nach seinem Warum immer wieder zu stellen, um zu verhindern, dass man es aus den Augen verliert. Auf der persönlichen Ebene sieht er in der Klärung des eigenen Warums die Entdeckung der eigenen Bestimmung, das wahre Selbst. Im Grunde geht er davon aus, dass es darum geht, so etwas wie die eigene persönliche Mission zu finden, wozu er auch eine Art Handlungsanleitung liefert (Sinek et al., 2018). Möglicherweise reicht das und ist das die Erklärung für die Tatsache, dass es Personen gibt, die scheinbar ohne tiefergehende Selbstreflexion zu sich gefunden haben und insofern Authentizität ausstrahlen. Ein darüber hinausgehender Persönlichkeitsentwicklungsprozess kann darin bestehen, das eigene wahre Selbst, das heißt das unbewusste, echte Ich, wirklich zu verstehen und vollständig mit dem äußeren Bild von sich resp. dem bewussten Selbstkonzept in Übereinstimmung zu bringen. Das heißt letztlich, sich weniger von unrealistischen Einschätzungen von sich selbst, Idealbildern, wie man sein möchte, sowie von fremden Einflüssen leiten zu lassen und stattdessen wirklich zu sich zu finden. Dies ist allerdings nicht ganz einfach, weil das wahre Selbst auf einer unbewussten, emotionalen Ebene angesiedelt ist. Es kann nicht sprechen oder rationale Gedanken formulieren, sondern macht sich durch Gefühle oder körperliche Signale („somatische Marker“, Damasio, 1994) bemerkbar. Ist man sich dessen nicht bewusst, hält man den ersten dadurch hervorgerufenen und bewussten Gedanken für die korrekte Interpretation. Tatsächlich kann das wahre Selbst auch etwas ganz anderes meinen. So will es beispielsweise mit einem unguten Gefühl auf eine unterschwellige Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, dem Beruf oder der Partnerschaft hinweisen. Der Versand interpretiert das Gefühl aber als irgendeinen Mangel auf der materiellen Ebene. Man kauft sich dann etwa ein neues Auto. Im besten Fall kann man sich damit für kurze Zeit eine gewisse Befriedigung verschaffen und die Unzufriedenheitsgefühle unterdrücken. Irgendwann meldet sich die falsch verstandene innere Stimme wieder zu Wort und will eigentlich ausdrücken, dass man sein Leben ändern sollte. Stattdessen wird ein weiteres Konsumgut erworben und so weiter. Die Halbwertszeit der Zufriedenheitsphasen nach dem Kauf werden immer kürzer. Praktisch bedeutet das, dass man sich bei dauerhaft negativen Gefühlen fragen sollte, ob nicht ein wesentlicher Pfeiler des eigenen Selbstbilds unzutreffend ist oder der gewählte Lebensstil wirklich der für einen rich-

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tige ist. Zu sich finden und mit sich im Einklang zu leben, heißt also nicht zuletzt, die eigenen Gefühle resp. die Stimme des wahren Selbst richtig zu interpretieren zu lernen. Treffend zu spüren, was einem guttut und was weniger, ist dazu der Schlüssel und ebenfalls lernbar. Reife Personen überlegen sich, welche Situationen oder Wahrnehmung welche Gefühle hervorrufen. Mittels Selbstbeobachtung und Selbstreflexion lässt sich die Zone der falschen Selbstinterpretationen kontinuierlich verringern. So nähert man sich dem wahren Selbst laufend an.

4.2.4 Selbstkompetenz und zentrale Selbstbewertungen In der Persönlichkeitspsychologie existiert der Begriff „zentrale Selbstbewertungen“ („Core Self-Evaluations, CSE“). Dabei handelt es sich um ein breites Persönlichkeitskonstrukt, das die folgenden 4 grundlegenden Eigenschaften umfasst (Piccolo & Judge, 2013): 1) Selbstwertgefühl (inkl. Selbstvertrauen), 2)  allgemeine Selbstwirksamkeit, 3)  Kontrollüberzeugungen und 4) emotionale Stabilität (resp. niedrige Neurotizismusausprägung). Diese Themen bestimmen in hohem Maße die psychische Gesundheit und damit unter anderem das Wohlbefinden und den Erfolg im Beruf und Privatleben. Wie schon erwähnt, können auch diese Eigenschaften negative Auswirkungen haben, wenn sie überausgeprägt sind. Selbstwertgefühl Selbstwertgefühl bezeichnet grundsätzlich die Wertigkeit oder Bedeutung, die man sich selbst zuschreibt resp. empfindet. Gemäß Potreck-Rose (2006) umfasst das Selbstwertgefühl die Aspekte 1)  Selbstakzeptanz (positive Einstellung zu sich selbst), 2)  Selbstvertrauen (positive Bewertung der eigenen Fähigkeiten und Leistungen), 3) soziale Kompetenz (Erleben von Kontaktfähigkeit) und 4) soziales Netz (das Eingebundensein in positive soziale Beziehungen). Bei den ersten beiden Aspekten handelt es sich um persönliche Kompetenzen, während die beiden anderen eher den sozialen Kompetenzen zuzurechnen sind. Das Selbstwertgefühl ist im Alltag insofern von überragender Bedeutung, als man unbewusst permanent danach strebt, das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren, zu schützen oder zu steigern. Dies trifft auf das unmittelbare Erleben ebenso zu wie auf das Gedächtnis, dessen Hauptaufgabe eigentlich darin besteht, eine selbstwertschützende Geschichte zu erzählen (Schnell, 2016). Problematisch und im Extremfall Ausdruck einer psychischen Störung ist nicht nur ein übersteigertes (v. a. Narzissten), sondern auch ein zu niedriges oder instabiles Selbstwertgefühl. Letzteres kann bewirken, dass man zu viel auf sich selbst bezieht und dazu tendiert, alles persönlich zu nehmen und sich rasch herabgewürdigt zu fühlen. In einer modernen Feedback-Kultur kann sich dies überaus störend auswirken. Wenn alle anderen auf eine überempfindliche Person Rücksicht nehmen müssen, bewegt man sich schnell auf einem Minenfeld. Eine gänzlich fehlende Kritikfähigkeit ist Ausdruck einer mangelnden persönlichen Reife und gehört bearbeitet. Betroffene sollten zum einem lernen, sich selbst mehr zu achten und zu schätzen, um sich zu immunisieren, sowie danach streben, das eigene Wertigkeitsempfinden von der Beurteilung der eige-

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nen Leistungen oder Verhaltensmuster zu trennen. Auf der sozialen Ebene gilt es, mehr Unabhängigkeit zu demonstrieren, statt permanent anderen gefallen zu wollen. Für Führungskräfte ist ein gewisses Maß an Selbstachtung unerlässlich, weil dies auch eine Vo­ raussetzung dafür darstellt, andere zu respektieren und partnerschaftlich zu behandeln. Generell lohnt es sich, herauszufinden, worauf man empfindlich reagiert. Neben den persönlichen Fähigkeiten und Eigenheiten sowie ethnischen oder kulturellen Aspekten kommt prinzipiell alles infrage, was identitätsstiftend wirkt (z. B. politische oder religiöse Einstellungen). Im schlimmsten Fall nimmt die Ideologie die Funktion einer Ersatzidentität ein und stabilisiert auf eine unheilvolle Weise das Selbstwertgefühl. Werden derart stark aufgeladene Überzeugungen kritisch hinterfragt, können besonders heftige Reaktionen auftreten, weil sich die betroffene Person dadurch grundsätzlich infrage gestellt fühlt. Verschreibt man sich einseitig einem bestimmten Thema, wird man zu einem Fundamentalisten, mit dem sich kaum Kompromisse oder ausgewogene Lösungen erarbeiten lassen. In der Praxis fällt es solchen Personen schwer, eine ganzheitliche, neutrale Perspektive einzunehmen oder kritische Hinweise aufzunehmen. Stattdessen wird alles auf diesen Aspekt reduziert, wobei oft eine Opferrolle eingenommen wird (z. B. Benachteiligung irgendeiner Bevölkerungsgruppe). Wie erwähnt, nehmen Personen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl alles persönlich. Meist neigen sie dazu, ihre Empfindlichkeit als Sensibilität wahrzunehmen. Eigene Empfindsamkeit geht aber keinesfalls automatisch mit Sensibilität für andere einher. Im Gegenteil. Es gibt nicht wenige empfindliche Personen, die von allen Empathie erwarten, sich aber selbst ziemlich unsensibel anderen gegenüber verhalten. Dies entbehrt allerdings nicht einer gewissen Logik, denn sie sind ja vor allem mit sich und ihrer eigenen Betroffenheit beschäftigt. Der Umgang mit diesem Personenkreis ist außerordentlich anspruchsvoll und meist wenig ergiebig. Auf jeden Fall lohnt es sich, dass man sich mit den eigenen Empfindlichkeiten beschäftigt. Es gilt, diese genau zu identifizieren, kritisch zu betrachten und bis zu einem gewissen Grad zu senken. Vielen Menschen täte es gut, die eigene Empfindlichkeit zu senken, dafür die Sensibilität anderen gegenüber zu steigern. Entscheidend ist aber vor allem eine ausgewogene Balance dieser zwei Eigenschaften. Vor allem sollte jemand, der austeilt, auch etwas mehr einstecken können. Ein gefestigtes Selbstwertgefühl erkennt man vor allem an einer gewissen Souveränität und der Fähigkeit, Person und Sache zu trennen. Eine zweite mit dem Selbstwert verbundene Verhaltenstendenz besteht im Raum, den man in sozialen Situationen intuitiv für sich beansprucht. Personen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl neigen dazu, sich sehr zurückzunehmen, und bekunden oft Mühe, ihre eigenen Bedürfnisse durchzusetzen oder anderen Grenzen zu setzen. Insofern laufen sie Gefahr, sich für andere aufzuopfern. Bei ausgesprochenen Helfertypen kann statt eines echten Altruismus allerdings auch ein starkes Bedürfnis, gebraucht zu werden, handlungsleitend sein. Wird das narzisstische Bedürfnis nach Überlegenheit (gegenüber dem Hilfebedürftigen) befriedigt, zieht der Helfer daraus einen emotionalen Profit. Menschen mit einem aufgeblähten Selbstwertgefühl können dagegen andere erniedrigen und ausnutzen, wobei ihnen das noch nicht einmal bewusst sein muss. Die Coaching-Praxis deutet darauf hin, dass das Vermögen, eine stimmige Ich-

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Grenze zu setzen und zu verteidigen, wesentlich durch die Kindheit bestimmt wird. Störungen sind entweder zu erwarten, wenn ein Kind unterdrückt resp. dessen Bedürfnisse nicht ernst genommen werden oder wenn die Eltern versuchen, ständig alle Bedürfnisse des Kindes sofort zu befriedigen. Das Gleiche gilt für die Fähigkeit, sich und die eigenen Anliegen angemessen durchzusetzen. Solange das Verhältnis von Geben und Nehmen von beiden Seiten als stimmig wahrgenommen wird, gibt es keinen Grund, etwas zu ändern. Ansonsten empfiehlt es sich, das subjektive Empfinden eines Ungleichgewichts durch Fakten oder einfache Hilfsmittel wie das Beziehungskonto (Covey, 2011) zu objektivieren. Bestätigt sich der Eindruck, ausgenutzt zu werden, sollte dies angesprochen sowie die Beziehung neu gestaltet werden. Klar ist, dass das erstrebenswerte Optimum des Selbstwertgefühls irgendwo in der Mitte liegt. Weniger klar ist, ob es Personen gibt, die diese goldene Mitte vollumfänglich repräsentieren und ihr Selbstwertgefühl in allen Situationen stimmig einzubringen vermögen. Vermutlich handelt es sich um ein Thema, an dem alle Menschen permanent arbeiten können und sollen. Selbstvertrauen Beim Selbstvertrauen handelt es sich um einen zentralen Aspekt des Selbstwertgefühls, bei dem das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das eigene Urteilsvermögen im Zentrum steht. Auf einer übergeordneten Ebene drückt die Selbstsicherheit ein globales Maß dafür aus. Gleichzeitig fühlen wir uns für die Bewältigung aller denkbaren Aktivitäten und Herausforderungen unterschiedlich kompetent. So kann man sich sehr sportlich fühlen, aber sich auf intellektuellem Gebiet wenig zutrauen oder umgekehrt. Speziell die oft anzutreffende Tendenz zu Selbstüberschätzung zeigt, dass das Selbstvertrauen nicht immer mit dem tatsächlichen Leistungsvermögen übereinstimmt. Allerdings ist auch das Gegenteil durchaus häufig anzutreffen – nämlich, dass jemand sehr erfolgreich agieren und sich etwa fachlich hoch kompetent einschätzen kann, aber trotzdem keinerlei Selbstsicherheit ausstrahlt. Ein ehemaliger Coachee war zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Personalverantwortlicher als Scout für eine nordamerikanische Profiliga (inkl. großer Reisetätigkeit) und als Dozent für eine renommierte Weiterbildungsinstitution tätig. Dennoch eröffnete er mir im ersten Gespräch, dass er das Gefühl habe, nicht viel zu können und nie mit sich zufrieden zu sein, wobei er einen fast eingeschüchterten und sehr unsicheren Eindruck hinterließ. Sein mangelndes Selbstvertrauen hatte ihm den Blick auf seine Ressourcen völlig verwehrt. Stimmt der eigene Erfolgsausweis in den verschiedenen ­Lebensbereichen gar nicht mit dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das eigene Urteilsvermögen überein, sollte dem nachgegangen werden, da tiefere Ursachen wahrscheinlich sind. Auf der oberflächlichen Ebene erweist sich oft ein niedriger Bildungsgrad als ein Faktor, der die Entwicklung eines stabilen Selbstvertrauens behindern kann. Sich beispielsweise als Führungskraft unter mehrheitlich (vermeintlich) gebildeteren Personen zu bewegen, hemmt viele Menschen ohne akademischen Abschluss. In der Praxis zeigt sich ein zu wenig gefestigtes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl vor allem in einem erhöhten Anerkennungsbedürfnis. Um sich ausreichend sicher zu fühlen, benötigt man positive Reso-

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nanz und Anerkennung durch andere. Es lohnt sich auf jeden Fall, für sich herauszufinden, wie hoch dieses Bedürfnis ist. In der Assessment-Praxis lassen sich im Wesentlichen ein fachliches und ein soziales Selbstvertrauen unterscheiden, wobei sich nicht selten beobachten lässt, dass diese beiden Grundtypen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. So kann etwa ein Top-Experte aufgrund eines Autoritätsproblems im Umgang mit hochrangigen Personen selbst dann unsicher werden, wenn er aus seinem Fachgebiet erzählt und sich insofern eigentlich innerhalb seiner Komfortzone bewegt. Im Alltag ist es entscheidend, dass man realistisch einschätzt, wie das eigene Selbstvertrauen generell ausgeprägt ist und vor allem, in welchen Situationen man sich weniger sicher fühlt. Ziel ist es, die typischen eigenen Verhaltensmuster zu erkennen, damit man eine Basis hat, um gezielt an sich zu arbeiten. Überwindet man sich dazu, neue Verhaltensstrategien auszuprobieren oder sich seinen Ängsten zu stellen, macht man in der Regel positive Erfahrungen oder erkennt zumindest, dass eigentlich alles halb so schlimm ist. Wiederholte Erfolgserlebnisse bewirken nicht nur ein gutes Gefühl, sondern tragen auch zum Aufbau des Selbstvertrauens bei. Dies wiederum macht Lust auf mehr, weshalb sich im Idealfall mit der Zeit eine zunehmend automatisch wirkende Aufwärtsspirale in Gang setzen kann. Genau dies ist das Ziel, falls das Selbstvertrauen zu gering ist. Auch bei dieser Eigenschaft liegt das anzustrebende Optimum eher in der Mitte. Selbstwirksamkeit Die Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1977) bezeichnet das subjektive Gefühl, Herausforderungen erfolgreich meistern zu können. Dies beinhaltet sowohl die generalisierte Erwartung, mit schwierigen Umständen klarzukommen, als auch die Überzeugung, eine anstehende spezifische Herausforderung (z. B. ein Projekt) erfolgreich zu meistern. Selbstverständlich spielt es in der Praxis eine zentrale Rolle, wie jemand mit neuen oder schwierigen Herausforderungen umgeht oder ob jemand sogar selbst die Initiative ergreift, um sich einer neuen komplexen Problemstellung anzunehmen. Logischerweise kommt Letzteres häufiger bei kompetenten Personen vor, weil sich diese in der Regel oft mehr zutrauen. Ihre höhere Selbstwirksamkeitserwartung bewirkt, dass sie sich schwierigen Aufgaben stellen. Meistern sie diese erfolgreich, erhöhen sich ihre Selbstwirksamkeitserwartung und ihr Bedürfnis, eine nächste Aufgabe zu übernehmen. Dieser Prozess entspricht dem „High Performance Cycle“ von Locke & Latham (1990). Aufgrund des etwas theoretisch anmutenden Charakters wird der Begriff Selbstwirksamkeit in der Praxis eher vermieden und stattdessen für alle verständliche Termini wie Erfolgszuversicht, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten oder „Can-do Attitude“ verwendet, wobei eine saubere Trennung zum Selbstvertrauen in diesem Kontext nicht notwendig erscheint. In den Assessments lässt sich die Selbstwirksamkeitserwartung der Teilnehmenden gut im Umgang mit den einzelnen Übungen beobachten. Zum Beispiel: Wie nimmt jemand die Instruktion entgegen? Wie entschlossen wendet man sich der Bearbeitung zu? Personen, die davon ausgehen, die verschiedenen Aufgaben mehr oder weniger gut zu bewältigen,

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strahlen eine gewisse Selbstverständlichkeit oder Gelassenheit sowie einen gesunden Optimismus aus. Gleichzeitig lassen sie Tatendrang und Entschlossenheit erkennen, während ein gering ausgeprägter Glaube an den eigenen Erfolg meist in Form eines zögerlichen oder unsicher scheinenden Verhaltens sichtbar wird. Speziell Top-Talente drücken zuweilen geradezu Begeisterung und Freude aus, wenn sie sich in einer ungewohnten Situation bewähren dürfen. Neben der Überzeugung, auch anspruchsvolle Aufgaben oder Problemstellungen bewältigen zu können, sind in der Praxis auch Eigeninitiative bei der Suche und beim Annehmen neuer Herausforderungen sowie die Wirkung auf das Umfeld besonders zentral. Es gibt einige wenige Personen, die eine ansteckende Erfolgszuversicht ausstrahlen und damit andere mitreißen können (z. B. ein ganzes Team hinsichtlich Erfolgserwartung positiv beeinflussen). Konzentriert sich eine Führungskraft zu sehr auf die Aspekte, die schiefgehen können oder weniger berechenbar sind, ist eher der gegenteilige Effekt zu erwarten. Gleichzeitig gilt es auch in dieser Hinsicht, darauf zu achten, ob eine hohe Wirksamkeitserwartung „objektiv“ gerechtfertigt oder Ausdruck von Selbstüberschätzung ist. Kompetente Personen zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie die möglichen Schwierigkeiten durchaus erkennen oder gar antizipieren und diesen mit Respekt begegnen. Sie lassen sich davon aber nicht abhalten, die Herausforderung anzupacken. Vielmehr werden sie durch Schwierigkeiten oft weiter angestachelt. Gemäß Bandura kann die Selbstwirksamkeit durch Zuspruch und Ermutigung und durch stellvertretende Beobachtung einer erfolgreichen anderen Person gesteigert werden, während ein zu hohes Erregungsniveau (Stress) hemmend wirken kann. Der wichtigste Treiber sind aber natürlich konkrete Erfolgserlebnisse. Diese stärken das Selbstvertrauen und wecken die Lust nach mehr. Ein Mindestmaß an Eigeninitiative und Erfolgszuversicht ist ein zentrales Merkmal von Leader-Persönlichkeiten und in einer höheren Führungsfunktion absolut unabdingbar. Kontrollüberzeugungen Der Begriff Kontrollüberzeugungen („Locus of Control“) bezieht sich auf die wahrgenommene Beeinflussbarkeit des Lebens im Allgemeinen (generalisiert) resp. auf das Ausmaß, in dem auf eine spezifische Situation eingewirkt werden kann (Rotter, 1966). Interne Kontrollüberzeugungen bezeichnen den Glauben, dass man Ereignisse zumindest bis zu einem gewissen Grad steuern kann, während eine externe Kontrollüberzeugung die Einstellung umschreibt, dass praktisch alles durch andere, den Zufall oder das Schicksal bestimmt wird resp. dass man mehr oder weniger vollständig fremdbestimmt ist. Logischerweise ist bei einer starken Präferenz für externale Kontrollüberzeugungen mit einem passiven oder gar fatalistischen Verhalten zu rechnen, während internale Überzeugungen eher Aktivität und Initiative anstoßen. Der Unterschied zur Selbstwirksamkeit liegt darin, ob man glaubt, dass ein gewünschtes Ergebnis überhaupt – das heißt, unabhängig von den eigenen Fähigkeiten – willentlich herbeigeführt werden kann. So kann im Alltag etwa die Frage auftauchen, ob ein Projekt in Schieflage durch weitere eigene Anstrengungen gerettet werden kann oder nicht. Liegen die angenommenen Erfolgsfaktoren außerhalb der eigenen Kontrollmöglichkeiten (z. B. nicht lösbare technische Probleme), ist dies eher nicht der Fall.

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In der Praxis ist es vor allem entscheidend, dass man die eigenen Einflussmöglichkeiten richtig einschätzt und seine Energie zielführend einsetzt. Dazu sollten vorhandene Handlungsspielräume konsequent genutzt, ein unnötiger Kampf gegen Windmühlen aber tunlichst vermieden werden. Dabei sind Realitätssinn und eine pragmatische Orientierung am wirklich Machbaren gefragt. Ein Tool zum Bestimmen der eigenen Einflussmöglichkeiten ist der sogenannte „Circle of Control“ (Covey, 2011). Dieses Modell unterscheidet zwischen einem inneren Kern („Circle of Control“) und einem äußeren, größeren Kreis, dem „Circle of Concern“. Der innere Kreis umfasst die eigene Einflusssphäre resp. diejenigen Aspekte, die man tatsächlich beeinflussen kann. Die Kunst besteht darin, sich auf das Beeinflussbare zu fokussieren und keine Gedanken oder Energie zu verschwenden, indem man sich mit Dingen beschäftigt, die man nicht ändern kann. Im Zentrum steht also, dass man die eigenen Energien haushälterisch und zielführend nutzt. Eine erweiterte Fassung unterscheidet zwischen Kontrolle, Einfluss und Akzeptanz, wobei sich Einfluss auf Sachverhalte bezieht, die man teilweise beeinflussen kann (z. B. Fähigkeiten durch Training verbessern). In der praktischen Anwendung stehen letztlich 2 Fragen im Zentrum: 1) Kann ich etwas Bestimmtes beeinflussen oder nicht? 2) Welcher Aufwand ist notwendig, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen? Die eigenen Einflussmöglichkeiten treffend einschätzen und die Ressourcen zweckführend einsetzen zu können, gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten, die eine Führungskraft besitzen muss.

4.2.5 Emotionale Stabilität, Ausgeglichenheit und Gelassenheit Eine gewisse Ausgeglichenheit und Gelassenheit drückt Seniorität sowie Erfahrung aus und stellt in der Praxis eines der wesentlichen Merkmale reifer und souveräner Führungskräfte dar. Aus der Sicht der psychologischen Forschung ist damit vor allem die sogenannte emotionale Stabilität (resp. Neurotizismus) angesprochen. Dabei handelt es sich – neben Extra-/ Introversion – um einen der Klassiker der Persönlichkeitsforschung, der sich eigentlich in allen entsprechenden Modellen findet. Emotionale Stabilität umfasst im Wesentlichen das Vermögen, die eigenen Gefühle bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren und sich rasch von Rückschlägen zu erholen. Emotional stabile Personen zeichnen sich besonders durch ein ausgeglichenes Naturell aus. Eine sehr niedrige Ausprägung wird vor allem als Launenhaftigkeit und Stressempfindlichkeit erkennbar, während emotional extrem stabile Personen oft sehr sachlich und zu wenig gefühlsbetont erscheinen. Im NEO-PI-R-Persönlichkeitsfragebogen zur Bestimmung der Big Five (Ostendorf & Angleitner, 2004) untergliedert sich die übergeordnete Big-Five-Dimension „Neurotizismus“ (bzw. emotionale Stabilität) in die Aspekte Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, Befangenheit und Impulsivität. Angesichts dieser Liste überrascht es nicht, dass Praxis und alltägliche Erfahrung übereinstimmend darauf hinweisen, dass es sich bei einer mangelnden emotionalen Stabilität um einen wichtigen Störfaktor im Leistungs- und Beziehungsverhalten handelt. In meiner eigenen Studie erklärte Neurotizismus das Ausmaß an subjektivem Stress bei Lehr-

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kräften besser als sämtliche äußeren Stressfaktoren zusammengenommen. In einigen Branchen (z. B. Mode, Werbung) und in der Kunst ist Launenhaftigkeit sozial akzeptiert oder wird gar als typisch für „kreative“ Personen erachtet, sofern diese einen gewissen Starstatus genießen. Im Alltag wird launisches Verhalten vor allen Dingen als nervig, bei Führungskräften auch als Unberechenbarkeit wahrgenommen. Aus Sicht des Beurteilungsprofis handelt es sich primär um ein Anzeichen von menschlicher Unreife und keinesfalls als Ausdruck einer originellen oder spannenden Persönlichkeit. Ängstliche Menschen lassen sich leicht beirren oder unter Druck setzen und agieren in der Regel übervorsichtig. Ängstlichkeit fördert ein abhängiges, zu wenig selbstbestimmtes Vorgehen und kann in wichtigen Entscheidungssituationen eine Blockade bewirken. Mit Impulsivität ist im besagten Modell gemeint, dass jemand nicht in der Lage ist, ein bestimmtes aktuelles Bedürfnis zugunsten einer momentan weniger befriedigenden, aber langfristig zielführenden Aktivität zu unterdrücken. Dass bei einer fehlenden Impulskon­ trolle keine überdauernden Erfolge erzielt werden können, liegt auf der Hand. Ähnliches gilt für den Aspekt der Depression, die bekanntermaßen die eigene Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit maßgeblich negativ beeinflusst. Während Befangenheit ein scheues oder linkisches Kontaktverhalten bewirken kann, wirkt sich Reizbarkeit, etwa in der Form eines cholerischen Verhaltens, schädlich auf die Beziehungsgestaltung aus. Die wenigsten Personen schätzen den Umgang mit einem Vulkan, von dem man nie weiß, wann er ausbricht. Sind die Auslöser der Ausbrüche bekannt, ist es wahrscheinlich, dass das Umfeld versucht, um diese einen Bogen zu machen. Insbesondere potenziell wichtige kritische Informationen oder direkte Kritik werden unterlassen. Außerdem fliehen diejenigen Personen, die andere Optionen haben, und solche, die es nicht akzeptieren wollen, sich in einem solchen Umfeld zu bewegen. Zurück bleiben diejenigen, die keine Alternativen sehen, und diejenigen, die eine „harte Hand“ bevorzugen. Es ist klar, dass eine geringe emotionale Stabilität in vielen Fällen mit einer niedrigen Belastbarkeit einhergeht. Emotional instabile Personen können selbst durch kleinste zusätzliche Anforderungen oder Planänderungen völlig aus der Bahn geworfen werden. Bei extrem geringer Ausprägung ist es unter Umständen sogar schwierig, überhaupt am Erwerbsprozess teilzunehmen. So werden gravierende entsprechende Defizite oder psychische Störungen in Führungskräfte-Assessments selbstredend nur sehr selten festgestellt, obwohl sie in der Gesamtbevölkerung durchaus häufig auftreten (ca. 20 % der Erwachsenen). In Bereichen, die eine herausragende Qualifikation voraussetzen (z. B. Chefärzte mit internationaler Ausstrahlung), werden zuweilen bei der  – eigentlich nicht gegebenen  – zwischenmenschlichen Eignung (z. B. häufige cholerische Anfälle) alle Augen zugedrückt und oft auch ein eventuell kritischer Assessment-Bericht zu wenig zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich insbesondere Stress bei der Arbeit negativ auf die emotionale Gesundheit auswirken kann. So können vor allem stress­ empfindliche Personen in einem herausfordernden Umfeld psychische Erkrankungen (z. B. Burnout) entwickeln. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass auch eigentlich sehr robuste Personen davon betroffen sein können, etwa wenn sie sich für mental unverwundbar hal-

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ten und glauben, ihnen seien bezüglich Leistungsvermögen keinerlei Grenzen gesetzt. Diese Illusion kann ein böses Erwachen nach sich ziehen. Keinesfalls sollte man sich unnötig selbst überfordern, weil man glaubt, dass Gestresstsein heutzutage hip ist oder fast erwartet wird. Stattdessen sollte man ein zumindest mittleres Maß an emotionaler Ausgeglichenheit anstreben. Auch das ist lernbar.

4.2.6 Resilienz und Belastbarkeit „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Das bekannte Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr bringt auf den Punkt, worum es bei einem kompetenten Umgang mit Belastungen geht, nämlich dass man sich Herausforderungen zuversichtlich stellt oder diese gar aktiv sucht, sich aber nicht in einem Kampf gegen Windmühlen abnutzt. Populär wurde der Begriff Resilienz durch eine berühmte Studie über die Kinder auf Kauai (Werner & Smith, 1992), einer in den 1950er-­ Jahren noch unterentwickelten hawaiianischen Insel. Obwohl die Lebensbedingungen der Kinder prekär waren, trotzte etwa ein Drittel der Schüler allen Schwierigkeiten und blieb stets positiv, das heißt, sie stellten sich als resilient heraus. Weniger bekannt ist, dass es diese Kinder außerdem schafften, Bezugspersonen (z. B. Lehrkräfte) dafür zu gewinnen, sich für sie einzusetzen. Damit haben sie bereits in frühen Jahren viele Eigenschaften gezeigt, die dem in diesem Buch propagierten Verständnis einer Leader-Persönlichkeit entsprechen. Bei Erwachsenen wird der Resilienzbegriff oft mit der Bewältigung kritischer Lebensereignisse oder traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Auf der theoretischen Ebene ist das Konzept der sogenannten „7 Säulen der Resilienz“ von Nuber verbreitet (vgl. z.  B.  Berndt, 2015): 1)  Optimismus, 2)  Akzeptanz, 3)  Lösungsorientierung, 4) Opferrolle verlassen, 5) Verantwortung übernehmen, 6) Netzwerke aufbauen und 7) Zukunft planen. Die Aspekte Opferrolle verlassen, Verantwortung übernehmen und Zukunft planen beschreiben ziemlich genau die hier vertretene Auffassung des Entwicklungsschritts zu einer basalen persönlichen Reife resp. einer psychologisch gesehen erwachsenen Person. Optimismus wird in diesem Buch als zuversichtliche Grundhaltung verstanden, während die restlichen Aspekte an anderer Stelle diskutiert werden. Grundsätzlich wird Resilienz in der Forschung entweder als Persönlichkeitsmerkmal oder als Prozess aufgefasst. Bei letzterem spielen auch Faktoren aus der Umgebung eine Rolle. In diesem Buch bezeichnet Resilienz die Fähigkeit, konstruktiv mit kritischen Lebensereignissen oder Traumata, das heißt, mit außerordentlichen Stresssituationen umzugehen. Resilient ist, wer nach einer gravierenden negativen Erfahrung nicht den Mut verliert, sondern das weitere eigene Schicksal aktiv in die eigenen Hände nimmt. Das Gegenstück bilden vulnerable Personen, die selbst durch vergleichsweise geringfügige Ereignisse aus der Bahn geworfen werden. Für den Umgang mit alltäglichen Belastungen werden die Begriffe Belastbarkeit und Frustrationstoleranz vorgezogen.

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Belastbarkeit Das Thema berufliche Belastung wird schon seit der arbeitswissenschaftlichen Belastungsund Beanspruchungsforschung der 1970er-Jahre (Eberhard, 2011) gründlich untersucht. Besonders entscheidend ist die sogenannte „Yerkes-Dodson-Regel“ (1908), welche den Zusammenhang zwischen physiologischer Erregung resp. Stress und Leistungsfähigkeit beschreibt. Bei einer zu niedrigen Beanspruchung oder zu geringer Anregung durch die eigenen Aufgaben ist man unterfordert und gelangweilt. Ist dies lang andauernd der Fall, droht ein Boreout. Ein mittleres Maß an Stress – zuweilen Eustress genannt – bewirkt eine optimale Aktivierung und damit auch eine höhere Produktivität und intellektuelle Leistungsfähigkeit. Idealerweise gerät man in einen Flow-Zustand. Übersteigt das Stresslevel das Optimum, sinkt die Leistungsfähigkeit wieder. Kurzfristig zu erwarten sind Überforderung, Fehler oder Vergesslichkeit, bei äußerst willensstarken Personen kann auch eine mehr oder weniger zielführende Verbissenheit auftreten. Wird über einen gewissen Zeitraum nichts geändert, ist allerdings auch bei diesen irgendwann mit einem Zusammenbruch zu rechnen. Die Stressreaktion hat eigentlich den Sinn, beim Auftreten einer unmittelbaren Gefahrensituation den Körper kurzfristig leistungsfähiger zu machen, indem etwa das Atemvolumen und die Muskelkraft gesteigert werden. Es ist durchaus möglich, über einen gewissen Zeitraum eine erhöhte Belastung auf sich zu nehmen, als Dauerzustand wirkt die Stressreaktion jedoch schädlich. Chronifizierter Stress, speziell ein permanent erhöhter Pegel des Stresshormons Cortisol, macht langfristig krank (z. B. körperliche Beschwerden, erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, Depression oder Burnout). Gesund und wünschenswert ist also ein mittleres Stressniveau. Wenn über einen gewissen Zeitraum (z.  B.  Abschluss eines Projekts) mehr Energie mobilisiert werden soll, ist auf ausreichend Ausgleich und Erholung zu achten. Sollen langfristig immer wieder Spitzenleistungen erbracht werden, wird die Erholung extrem wichtig – Spitzensportler wissen das (Solc, 2014). Für Leistungsträger in anspruchsvollen Tätigkeiten gilt natürlich genau dasselbe. Dass es große interindividuelle Unterschiede bei der Stressresistenz gibt, zeigt die Alltagserfahrung. Die einen Mitarbeitenden werden schon nervös, wenn ihr gewohnter ­Arbeitsplatz besetzt ist oder ihr Tagesplan durcheinandergerät, andere scheinen auch in der größten Hektik die Ruhe selbst zu sein. Je nach Aufgabe sind die Belastungen unterschiedlicher Natur und können entweder physisch (z. B. Bau), mental (z. B. Wissensarbeit) oder emotional (z.  B.  Lehr- oder Pflegberuf) ausgerichtet sein. Dabei kann Stress grundsätzlich entweder aus einer quantitativen (Arbeitsüberlastung) oder einer qualitativen ­(Aufgabenschwierigkeit) Überforderung herrühren. Selbstverständlich spielen auch die Umgebungsbedingungen sowie die sozialen Beziehungen (z. B. Mobbing) unter Umständen eine große Rolle. Insgesamt existieren am Arbeitsplatz Dutzende potenzielle Stressauslöser (Stressoren), die entweder auf alle Menschen (z.  B.  Lärm) oder auf bestimmte Personen negativ einwirken. Weil dies fast allen Menschen bekannt ist, könnte man annehmen, dass die meisten auch wissen, auf welche Stressoren sie besonders empfindlich reagieren. Allerdings zeigt die Assessment-Praxis, dass dem nicht so ist. Bemerkenswerterweise fällt vielen Kandidaten nicht viel ein, wenn man sie fragt, welche Belas-

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tungen in ihrer Tätigkeit besonders wichtig sind und welche Aspekte ihnen besondere Schwierigkeiten bereiten. Bis zu einem gewissen Grad rührt diese Beobachtung sicherlich auch daher, dass sich – speziell in einer Beurteilungssituation – viele Personen bei dieser Frage bedeckt halten, weil sie befürchten, womöglich als weniger belastbar eigenschätzt zu werden. Denn eine geringere Belastbarkeit stellt immer noch eine Art Tabu dar. Allerdings ist es keinesfalls zielführend, sich mit den für eigenen relevanten Stressoren nicht zu beschäftigen oder diese zu bagatellisieren oder gar zu negieren. Einen konstruktiven Umgang damit zu finden, ist dann nämlich kaum möglich. Kann man hingegen die für einen potenziell stressreichen Situationen antizipieren, ist schon viel gewonnen, weil man heikle Momente antizipieren und sich darauf einstellen kann. In der Literatur, in den Trainings und in der alltäglichen Wahrnehmung steht sehr oft das Zeitmanagement im Vordergrund. Mit allerlei Tricks wird versucht, die Arbeits- und Lebenszeit möglichst effizient und effektiv zu bewirtschaften, wobei die Gefahr besteht, dass einem das ständige Abarbeiten von „To-do-Listen“ und das dauernde Gefühl, „ich muss noch dieses und jenes …“ auch die Freude an den schönen Aufgaben nimmt oder sämtliche Lebensbereiche in Beschlag nimmt (z. B. Kinderbetreuung). Sofern man nicht sehr viel arbeiten oder – wie in den USA häufig – mehrere Jobs parallel machen muss, um irgendwie über die Runden zu kommen, besteht Spielraum, die eigene Tätigkeitsliste darauf zu prüfen, ob nicht gewisse Aufgaben weggelassen oder mit weniger Perfektionismus bewältigt werden könnten. Häufig lässt sich schon eine wesentliche Verbesserung erzielen, wenn man sich genau überlegt, welche Verantwortungen man in welchem Ausmaß tragen kann und will und seine Anstrengungen darauf konzentriert. Eine populäre Methode zum operativen Selbstmanagement ist das fünfstufige Konzept von David Allen (2015). Er empfiehlt, sämtliche Aufgaben mittels diverser Listen und Organisationstools 1) zu erfassen, 2) durchzuarbeiten, 3) zu organisieren, 4) durchzusehen und 5) durchzuführen. Die Umsetzung seines Systems erscheint relativ aufwendig, hat gemäß dem genannten Autor aber den Vorteil, das Gehirn zu entlasten resp. den Kopf freizumachen, weil man sich nichts mehr merken muss und sich nicht verzettelt. Die zu bewältigenden Aufgaben niederzuschreiben und strukturiert abzuarbeiten, kann also die mentale Belastung reduzieren. Gemäß meiner Assessment-Praxis lassen sich grundsätzlich 4 Arten von Belastbarkeit unterscheiden: 1) Umgang mit unmittelbarem Druck, 2) Belastbarkeit im Sinne von Ausdauer, 3) Umgang mit sozialen Stressoren und 4) Umgang mit Unsicherheit. Letzteres wird hier separat besprochen. (1) Aushalten von unmittelbarem Druck: Assessments sind eng getaktet und stellen langsamere Personen vor eine große Herausforderung. Müssen diese im Alltag entweder rasch Entscheidungen treffen oder schnell Ergebnisse produzieren, können sie im Extremfall blockieren und dadurch handlungs- und entscheidungsunfähig werden. Dies lässt sich speziell in Computerplanspielen beobachten, in denen eine unerwartete Krise simuliert wird. Nicht wenige Kandidaten bleiben in der Krisenphase völlig passiv und treffen keine Entscheidungen. Andere verlieren sich in mehr oder weniger zielgerichteten Aktivitäten zur Informationsgewinnung, statt rasch zu handeln. Den meisten druckempfindlichen Personen ist ihre diesbezügliche Stressempfindlichkeit bekannt, weshalb sie in ihrem Alltag oft versuchen, akute Stresssituationen zu antizi-

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pieren und sich gut darauf vorzubereiten. Mit zunehmender Routine und Erfahrung kann sich eine gewisse Gelassenheit einstellen, weil sich die wichtigsten kritischen Situationen wiederholen und auf frühere Lösungsansätze und Handlungspläne zurückgegriffen werden kann. Wenn sich kritische Situationen häufig einstellen und sich kein merklicher Lerngewinn einstellt, ist man möglicherweise am falschen Ort. Klar ist, die Zukunft wird nicht stabiler, weshalb eine gewisse Stressresistenz absolut erforderlich ist. Ratsuchenden steht eine Fülle von Selbsthilfeliteratur und Trainings (z. B. Entspannungsübungen, Achtsamkeit) jeglicher Art zur Verfügung, und auch ein Coaching kann in vielen Fällen in Betracht gezogen werden. (2) Belastbarkeit im Sinne von Ausdauer und Beharrlichkeit: Speziell in den ganztägigen Assessments zeigen sich große Unterschiede hinsichtlich des Vermögens, mit einer Dauerbelastung umzugehen. Bei einigen Personen nimmt das Energielevel mit der Zeit laufend ab, und es zeigen sich Anzeichen von Ermüdung oder Konzentrationsschwierigkeiten. Dass einige Personen am Ende des Tages erschöpft und ausgelaugt wirken, erstaunt jedoch weniger als die Beobachtung, dass andere noch völlig frisch und unverbraucht erscheinen und weiterhin Tatendrang ausstrahlen. Dies ist meist ein Zeichen dafür, dass jemand unvertraute und schwierige Situationen nicht nur nicht scheut, sondern sogar aktiv sucht. Solche Menschen zeichnen sich in der Regel durch ein starkes Vertrauen in ihre Fähigkeiten aus und lieben es, diese bei unvertrauten Aufgaben unter Beweis zu stellen. Dies ist allerdings nur ein Teil von Ausdauer, der andere Teil besteht eher darin, beispielsweise ein Projekt langfristig verfolgen zu können und bei auftretenden Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Belastbarkeit im Sinne von Beharrlichkeit war schon immer eine Bedingung, um besondere Leistungen zu erbringen oder einem Vorhaben zum Durchbruch zu verhelfen (z. B. eine innovative Idee gegen Widerstand verfolgen). Zentral sind Durchhaltewillen und -vermögen, Selbstdisziplin und eine gesunde Arbeitsmoral. In dieser Hinsicht können sich auch weniger talentierte Personen profilieren. Mit Fleiß und nie erlahmendem Engagement erreichen sie langfristig oft mehr als eigentlich begabtere Personen, denen es an Ausdauer fehlt und die bei unerwarteten Problemen sofort aufgeben. Mangelnde Ausdauer muss nicht unbedingt auf mangelnde Frustrationstoleranz oder Selbstdisziplin zurückzuführen sein. Denkbar ist auch ein starkes Bedürfnis nach Abwechslung resp. eine gewisse Sprunghaftigkeit. Zuweilen ist auch eine Tendenz zu beobachten, bei einem genehmen Arbeiten gute Leistungen zu erzielen, bei unliebsamen Tätigkeiten jedoch unkonzentriert und fehlerhaft zu agieren. Hoch intrinsisch motivierte Personen empfinden es naturgemäß weniger anstrengend, ein bestimmtes Projekt langfristig zu verfolgen, weil die Freude mehrheitlich überwiegt. Im Idealfall folgt man dabei seiner Berufung. (3) Umgang mit sozialen Belastungen: In den Assessments relativ oft zu beobachten sind Personen, die sich durch Komplexität, inhaltliche Schwierigkeiten und eine große Arbeitsmenge kaum beirren lassen oder dadurch sogar angestachelt werden, jedoch empfindlich auf soziale Stressauslöser sind. Unter diese Kategorie fallen nicht nur gravierende Themen wie etwa Mobbing, sondern auch der Umgang mit schwierigen Kollegen, Spannungen oder Unsicherheiten, die durch mangelnde Verlässlichkeit, Unehrlichkeit oder stark mikropolitisches Verhalten anderer verursacht werden. Typische

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Reaktionen sind entweder Rückzug oder ein eher aufbrausendes Verhalten. In der Regel treten diese Stressauslöser nicht aus dem Nichts auf, sondern lassen sich entweder antizipieren (z. B. Meetings mit bestimmten Personen) oder entwickeln sich im Rahmen eines Gesprächs. Auch in dieser Hinsicht ist eine gute Selbstkenntnis entscheidend. Ein gutes Verständnis der typischen Auslöser von Verärgerung oder Verunsicherung bewirkt eine gewisse Sicherheit und verhindert, dass man überrascht wird oder ständig auf der Hut sein muss. Letzteres raubt einem die Spontaneität und kostet enorm viel Energie. Gleichzeitig sollte man sich über die eigenen emotionalen Reaktionen und typischen Verhaltensmuster klarwerden, um Frühindikatoren identifizieren zu können. Gelingt dies, wird es möglich, einen Schritt zurück zu machen, bevor eine potenziell unheilvolle Kettenreaktion an unerwünschtem Verhalten ablaufen kann. Im Umgang mit Belastungen ist oft zu beobachten, dass Personen eine Art „Tunnelblick“ entwickeln und sich unter Druck zu sehr in die Aufgabe verbeißen, während das Umfeld zunehmend aus dem Blickfeld gerät. Gerade in Stressphasen ist es aber wichtig, zwischendurch bewusst etwas Distanz zu schaffen, um sich zum einen zu überlegen, was wirklich wichtig ist, und zum anderen, um gegebenenfalls Unterstützung durch andere anzufordern. Empfehlenswert ist es, sich im Alltag selbst zu beobachten, um frühzeitig zu merken, wenn man Gefahr läuft, in ein gefährliches Fahrwasser zu geraten. Außerdem hängt das eigene Stressempfinden stark von den Ansprüchen an sich selbst ab. Die Assessment-­ Praxis zeigt, dass eine große Zahl von Menschen an sich generell zu hohe Ansprüche zu stellt oder sich in wichtigen Situationen (z. B. Assessment) zu sehr unter Druck zu setzt. Dies wirkt nicht nur tendenziell leistungshemmend, sondern vermittelt auch einen eher unreifen und zu wenig gelassenen Eindruck. Mit einer realistischen Erwartungshaltung und einem hinsichtlich Leistung und Fehlern angemessen großzügigen Umgang mit sich selbst strahlt man deutlich mehr Seniorität aus.

4.2.7 Frustrationstoleranz und Umgang mit Fehlern „Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Dieses Zitat von Samuel Beckett beschreibt anschaulich, was mit einer hohen Frustrationstoleranz – ein wichtiger Teil von Belastbarkeit – gemeint ist. Es handelt sich um die Fähigkeit, konstruktiv mit frustrierenden Ereignissen oder Bedingungen umzugehen, die dem Erreichen eines bestimmten Ziels im Wege stehen (z. B. Rückschläge, Widerstand). Wem es an Frustrationstoleranz mangelt, gibt bei auftauchenden Schwierigkeiten rasch auf, lässt sich leicht ablenken oder von einem gefassten Vorhaben abbringen (z. B. eine Bar besuchen, statt auf die anstehende Prüfung zu lernen). Bekannt ist der „Marshmallow-Test“ mit Kindern (Mischel, 2015). Dabei sitzen diese allein am Tisch mit einem Marshmallow vor ihren Augen. Gelingt es ihnen, der Versuchung (unbeobachtet) für einige Minuten zu widerstehen, erhalten sie als Belohnung einen zweiten. Bemerkenswerterweise zeigen Studien, dass die Kinder, die diesen Test bestehen, auch im Erwachsenenalter eine höhere

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Frustrationstoleranz aufweisen und eher in der Lage sind, eine Belohnung zurückzustellen, wenn dies einen langfristig höheren Gewinn verspricht. Will man langfristig auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten oder etwas erreichen, ist es unabdingbar, mit Rückschlägen umgehen zu können. Eventuell geht etwas schief, es treten unerwartete Probleme auf oder das Vorhaben wird von bestimmten Personen oder Gruppen bekämpft. So müssen beispielsweise neue Wege beschritten werden, oder es muss jede Menge Überzeugungsarbeit geleistet werden. Kurz: Frustrationstoleranz ist eine notwendige Voraussetzung für Belastbarkeit im Sinne von Ausdauer. Selbstverständlich können Frustrationen auch durch eigene Fehlleistungen oder Fehler anderer verursacht werden. Zusätzlich ist davon ausgehen, dass Menschen immer mal wieder Fehler begehen, denn wir sind ja keine Roboter. Auch deshalb hat in den letzten Jahren ein fundamentaler Paradigmenwechsel stattgefunden. Vor allem die Erkenntnis, dass große Software-Entwicklungsprojekte meistens entweder scheiterten oder zeitlich und finanziell aus dem Ruder liefen, hat ein Umdenken bewirkt. Früher versuchte man mittels bis in die Details ausgeklügelter Pläne ein perfektes Ergebnis zu erzielen und – faktisch außer den zwischenmenschlichen Themen wie Konflikten, Veränderungswiderstand etc. – alle möglichen Falltüren von vornherein zu erkennen und auszuschließen. Da die Entwicklung erst nach einer entsprechend langwierigen Planungsphase erfolgte, waren die erzielten Endergebnisse zum Zeitpunkt des Projektabschlusses nicht selten bereits wieder überholt. Mit dem agilen Manifest (2001) hat eine neue Denkweise Einzug gehalten. Es ist weiterhin zentral, ein größeres Ziel zu verfolgen, der Weg dahin wird aber in kleinen Schritten und unter Einbezug der Kunden resp. der Empfängerinnen des Produkts zurückgelegt. Neben einer eher experimentellen Vorgehensweise ist damit vor allem ein völlig anderes, nämlich positives Verständnis von Fehlern verbunden. Fehler werden vor allem als Lernchancen begriffen und insofern begrüßt (z. B. „Fuck-up-Meetings“, Retrospektive im Scrum). Außerdem versucht man, Fehler möglichst früh zu begehen, um Kosten und Zeit zu sparen („fail early, fail fast“). Für die Fragestellung dieses Buchs wichtig ist die Feststellung, dass dieser agile Stil einer grundsätzlich anderen Haltung und ­Denkweise bedarf. Mit Fehlern konstruktiv umzugehen, ist erfahrungsgemäß keine Eigenschaft, die in allen Menschen von Natur aus angelegt ist. Im Gegenteil: Sehr viele wollen möglichst perfekt sein und finden es höchst peinlich, wenn sie eines Fehlers überführt werden. Diesbezüglich eine Veränderung zu bewirken, beinhaltet eine relativ grundlegende Anpassung des Mindsets, was mit großen Anstrengungen verbunden ist und sich nicht einfach so verordnen lässt. Deshalb ist eine moderne Fehlerkultur vor dem Hintergrund von psychologischer Sicherheit so wichtig. Nur wer keine Angst hat, für Fehler einen Kopf kleiner gemacht zu werden, traut sich, etwas auszuprobieren.

4.2.8 Umgang mit Unsicherheit „Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher“ (Einstein) Seit einigen Jahren ist der ursprünglich von der US Army entwickelte Modebegriff

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„VUCA“ in aller Munde. Dieses Akronym bezieht sich auf den Umgang mit einer Umwelt, die durch Unberechenbarkeit („Volatility“), Unsicherheit („Uncertainty“), Komplexität („Complexity“) und Ambiguität („Ambiguity“) gekennzeichnet ist. Volatilität beschreibt die Schwankungsintensität, Unsicherheit („Uncertainty“) die Unvorhersagbarkeit von Ereignissen, Komplexität die Anzahl (teilweise unbekannter) Faktoren, die auf das Geschehen einen Einfluss haben, und Ambiguität die Mehrdeutigkeit von Situationen oder Informationen. Momentan wird dieses Konzept durch das neuere BANI-Modell herausgefordert (Cascio, 2020). Klimawandel, Pandemie und verschiedene politische und gesellschaftliche Entwicklungen sollen ein neues Maß an Unsicherheit und Angst hervorgebracht haben. BANI steht für „Brittle“ (brüchig/porös), „Anxious“ (ängstlich), „Nonlinear“ und „Incomprehensible“ (unverständlich). Dieses Konzept soll den Zustand unserer heutigen Welt besser begreifbar machen. Es herrsche Chaos und eine grundlegende, ängstigende Unsicherheit. Unverständliche Dinge passieren, man kann den vorhandenen Informationen nicht mehr trauen, und niemand weiß, was die Zukunft bringt. Wird Unsicherheit zu richtiggehender Angst, ist mit noch irrationaleren Reaktionen zu rechnen, weil dann basale Prozesse wie Angriff oder Flucht (z. B. Eskapismus) ausgelöst werden. Unsicherheit bedroht dagegen vor allem das bei allen Menschen mehr oder weniger starke Grundbedürfnis nach Sicherheit und Orientierung (vgl. SCARF-Modell). Möglicherweise bringt das Modell auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene einen Mehrwert gegenüber VUCA, für die Wirtschaft scheint eher das Modell BIRD (Pflügler, 2021) einer Erwähnung wert zu sein, weil es einige vor allem für die Wirtschaft wichtige Trends aufgreift und in den Mittelpunkt stellt. BIRD steht für Beschleunigung, Individualisierung, Reichweitenminimierung und Digitalisierung. Aufgrund der größeren Bekanntheit bildet hier dennoch das VUCA-Modell den Rahmen für die folgenden Ausführungen. Gemäß Buhse (2014) bietet die VOPA+-Formel einen Rahmen für das Vorgehen in der VUCA-Welt: (1) V steht für Vernetzung und meint die Notwendigkeit, sich auf allen denkbaren Kanälen mit diversen internen und externen Personen zu vernetzen, um alle wichtigen Entwicklungen zu kennen. (2) O steht für Offenheit meint eine offene und transparente Unternehmenskultur und kann von einer einzelnen Person nur bedingt beeinflusst werden. (3) P steht für Partizipation und damit für den Anspruch, die Mitarbeitenden bei allen sie betreffenden Entscheiden zu beteiligen. (4) A steht für Agilität meint flexible und iterative Herangehensweisen. (5) Das Plus symbolisiert das Vertrauen in sich selbst, in andere und in das Unternehmen. Dabei bildet Vertrauen die Basis von allem anderen. Die für BANI relevanten Aspekte Achtsamkeit, Kontext und Transparenz werden damit ebenfalls weitgehend abgedeckt. Zusätzlich ist Empathie im Umgang mit Ängsten notwendig. Pink (2008) hebt die Aspekte „High Concept“ (ganzheitliche Perspektive und Verbindung scheinbar unzusammenhängender Sachverhalte) und „High Touch“ (Perspektivenwechsel und Empathie) besonders hervor. Auf der individuellen Ebene sind demnach

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hauptsächlich die Fähigkeit, tragfähige Netzwerke aufzubauen, die Bereitschaft, Mitarbeitende umfassend und transparent zu informieren sowie an Entscheiden zu beteiligen, ein agiler und flexibler Problemlösungsstil und die Vertrauensfähigkeit hervorzuheben. Leader sollten zusätzlich einen Beitrag dazu leisten, die dafür notwendige Kultur und Struktur zu etablieren. Wesentlich ist vor allem die Kenntnis der eigenen Grenzen, das Verständnis, welche Informationen wann beschafft werden müssen, sowie die Fähigkeit, die jeweils richtigen Leute zu finden und in angemessener Weise einzubeziehen. Die US Army hat als Antwort auf VUCA übrigens eine agile Organisation mit Servant-Leadership-Charakter entwickelt (McCrystal et al., 2019). Die Verantwortung für die konkreten operativen Einsätze liegt beim untersten Teamleader (Squad-Leader), und die militärische Organisation dient hauptsächlich dazu, diese bestmöglich zu unterstützen und Lernprozesse zwischen diesen autonomen Kleinsteinheiten zu ermöglichen. In der Management-Diagnostik kann der Fokus auf die Frage gelegt werden, wie jemand mit Unsicherheit aller Art umgeht. In Coachings können eventuell auch Ängste angesprochen werden, obwohl es sich dabei um ein starkes Tabu handelt, weshalb ein hohes Maß an Vertrauen notwendig ist, damit sich jemand öffnet. Fragt man die Teilnehmenden in Assessment allgemein nach den Aspekten oder Situationen, die sie verunsichern, fallen die Antworten ähnlich vage und wenig aussagekräftig aus wie bei den Stressoren. Für den einzelnen Menschen ist neben einer gewissen allgemeinen Belastbarkeit und Druckresistenz auch die Fähigkeit gefordert, eine gewisse Ungewissheit oder Ambiguität zu akzeptieren. Man kann nicht alles mit hundertprozentiger Sicherheit beurteilen und ist zuweilen gezwungen, Entscheidungen ohne Kenntnis aller relevanten Informationen, das heißt unter Unsicherheit zu fällen. Leider gilt auch hier, dass eine überdurchschnittliche Selbstgewissheit beim Beurteilen unbekannter Sachverhalte oft eher Ausdruck mangelnder Kompetenz ist. Wer die gesamten Zusammenhänge nicht erkennt – wer eben nicht weiß, was er nicht weiß – oder nicht mit den eigenen Ansichten kompatible Informationen einfach weglässt, tut sich naturgemäß leichter. In der Assessment-Praxis wird eine derartige Ausrichtung besonders an oberflächlichen Analysen und undurchdachten Lösungsvorschlägen erkennbar. In der Politik gilt allerdings, dass holzschnittartige und einfache Ansätze bei vielen Wählenden gut ankommen, wobei Gewissheit beim Vortragen der eigenen Meinungen mit Kompetenz verwechselt wird. Bei den Teilnehmenden in dem Assessment existiert auch eine Gruppe, für die eher das Gegenteil gilt. Sie sind auf ihren Gebieten hoch kompetent, trauen sich aber dennoch kein Urteil zu, solange sie nicht das Gefühl haben, wirklich alle wichtigen Fakten zu kennen. Oft tut sich dieser Personenkreis besonders schwer mit Fallstudien oder ähnlichen Management-Übungen, weil dabei nie alle Details bekannt sein können. Wenn es diesen Kandidaten nicht gelingt, mit Annahmen zu arbeiten oder verschiedene Szenarien zu entwickeln, bleiben sie mit ihren Lösungen weit unter ihren eigentlichen Möglichkeiten. Im Fall der Virologen in der Pandemie – die aufgrund der Dynamik der Geschehnisse eigentlich gar nie alles wissen konnten – hat die Erfahrung gezeigt, dass die Durchschnittsbürger nicht unbedingt Ehrlichkeit hinsichtlich des Unbekannten hören wollten. Stattdessen verlieren nicht wenige eher das Vertrauen, wenn sie keine klaren Ansagen erhalten, weil ihr

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Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung nicht befriedigt wird. Dann lieber eine vermeintliche Führerfigur mit klaren Vorstellungen. Viele Menschen scheinen also irgendeine Antwort dem Akzeptieren von Ungewissheit vorzuziehen. Für die Praxis gilt die Schlussfolgerung, dass ein New Leader ein umfassendes Verständnis der Gesamtzusammenhänge mit dem Blick für das Wesentliche und einer gewissen Entschlossenheit verbinden muss.

4.3 Leistungsvermögen und operative Fähigkeiten 4.3.1 Zielsetzungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft Mehr oder weniger hohe Ambitionen und das Bedürfnis, irgendwelche Ziele zu verfolgen und zu erreichen, zeichnet die meisten Menschen aus. Es ist ein wesentliches Merkmal mentaler Gesundheit, während Ziel- und Antriebslosigkeit unglücklich und aktionsschwach machen. Auf die Erreichung von Zielen ausgerichtete Überlegungen und Aktivitäten sind direkt mit dem Belohnungssystem (limbisches System) verknüpft, wobei sowohl die Erwartung, ein Ziel zu erreichen, als auch die Zielerreichung selbst mit einer verstärkten Ausschüttung von Dopamin verbunden sind (Horngacher, 2021). Je nachdem können mit der Zielerreichung auch die körpereigenen Endorphine und weitere Substanzen ausgeschüttet werden, sodass nachhaltige Glücksgefühle entstehen können. Dabei besteht a priori kein grundlegender Unterschied zwischen extrinsisch (d. h. durch die Aussicht auf externe Belohnungen, z. B. Geld, Status) und intrinsisch (d. h. von innen) hervorgerufener Motivation, das Erreichen eigener Ziele dürfte aber mit nachhaltigeren Zufriedenheitsgefühlen verbunden sein. Zielsetzungsprozesse und deren Bedeutung sind in der Forschung seit Langem bekannt, und die gewonnenen Erkenntnisse haben Eingang in die Praxis gefunden. Locke & Latham (1990) sind die bekanntesten Vertreter der Zielsetzungstheorie, welche besagt, dass (noch nicht erreichte) Ziele einen Spannungszustand erzeugen und einen Menschen dadurch motivieren, zielgerichtete Aktivitäten zu entfalten. Locke & Latham zufolge wirken vor allem anspruchsvolle und spezifische Ziele motivierend. Gemäß Wegge (2015) beeinflussen Ziele die Leistung auf vielfältige Weise: 1) durch Fokus und Konzentration auf die für die Zielerreichung wichtigen Informationen, 2) durch Mobilisierung von Anstrengung, 3) durch die Erhöhung von Ausdauer bei der Zielverfolgung sowie 4) durch die intensive Nutzung und Neuentwicklung von Problemlösungsstrategien. Unter den Persönlichkeitsmerkmalen steht die Selbstwirksamkeitserwartung resp. das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und den Glauben, damit die Probleme lösen zu können, an erster Stelle. Menschen mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung setzen sich höhere Ziele, sind mit diesen stärker verbunden, finden bessere Problemlösungsstrategien und nutzen eher positives und negatives Feedback (Locke & Latham, 2002). In der Führungslehre und -praxis gehören Ansätze zu Zielsetzungsprozessen zum traditionellen Standardrepertoire. So existiert zum Beispiel die ältere „Path-Goal-Theory“ (House & Mitchell, 1974), wonach die Führungskraft je nach Aufgabe einen unterschiedli-

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chen Führungsstil zeigen muss, um die Mitarbeitenden dazu zu bringen, die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Was die Zielebene betrifft, kann die Führungskraft dafür sorgen, dass es für die Mitarbeitenden entweder einfacher oder attraktiver wird, diese zu erreichen. Mitarbeiterseitig werden hier vor allem kalkulierende Aspekte als zentral erachtet (Wichtigkeit des Ziels und Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit durch die Mitarbeitenden). Nicht unerwähnt bleiben darf auch das in der Praxis bis heute beliebte und breit eingesetzte „Management by Objectives“ (MbO, Drucker, 1998). Hier werden die Unternehmensziele bis auf die Mitarbeiterebene heruntergebrochen und den einzelnen Mitarbeitenden Ziele gesetzt, wobei diese teilweise mitreden können. Beide Theorien sind transaktional und basieren auf dem überholten Menschenbild, wonach es sich bei Menschen vor allem um Nutzenmaximierer („Homo oeconomicus“) handelt. Die Selbstbestimmung und die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden berühren sie hingegen nur ansatzweise. Die althergebrachten betriebswirtschaftlichen Ansätze sind auf dem Hintergrund des aktuellen Trends zu Empowerment der Mitarbeitenden eher hinderlich, weil der Zielsetzungsprozess weitegehend fremdbestimmt erfolgt und zudem Kontrollaktivitäten eine große Rolle spielen. Heute rücken – neben der Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung (durch Befähigen) – Themen wie Partizipation (v. a. Mitsprache bei der Zielfestlegung), Verstärkung der Zielbildung (attraktive Visionen) und Feedback-Prozesse in den Mittelpunkt. Hegt jemand gar keine Ambitionen oder Ziele, liegt vermutlich entweder ein gravierendes Problem oder eine mentale Störung vor. Vielleicht gibt es sie tatsächlich, die Gurus und Erleuchteten, die scheinbar planlos durchs Leben gehen und dennoch glücklich sind. Bei den meisten anderen Menschen wird Ziellosigkeit oder das Unvermögen, etwas mit der eigenen Zeit anzufangen, jedoch über kurz oder lang zu verstärkter Antriebslosigkeit oder gar zu Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen führen. Diese Gefahr besteht allerdings auch, wenn man langfristig fremdgesteuert agiert, das heißt im Grunde nur fremdgesetzte Ziele anstrebt, indem man einzig die Erwartungen anderer erfüllt. So können sich beispielsweise „Helferpersönlichkeiten“ bis zur Erschöpfung (Burnout) für andere aufopfern und ihre eigenen Bedürfnisse komplett vernachlässigen. Die Begriffe Ambition und Ziel müssen sich nicht zwingend auf die Karriere beziehen. Vielmehr kann damit alles gemeint sein, wofür die eigene Energie und Zeit mit einer klaren Absicht. Wenn zum Beispiel jemand nach einem Unfall querschnittgelähmt ist, kann das – sehr anspruchsvolle – Ziel darin bestehen, möglichst rasch wieder ein einigermaßen selbstständiges Leben zu führen. Gerade die Leistungen physisch oder mental benachteiligter Menschen können antriebslosen Menschen als Inspiration dienen. Trotz einer unheilbaren, degenerativen Erkrankung hat beispielsweise Stephen Hawking bis zum Tod eine positive Grundhaltung bewahrt und auf seinem Fachgebiet Herausragendes geleistet. Dieses Vorbild zeigt, dass es eigentlich keine Entschuldigung dafür gibt, keine Ziele zu haben. Dennoch wäre es naiv zu glauben, dass es nicht tatsächlich faule und eigenverschuldet orientierungslose Menschen gibt. Bei Menschen, die um ihre Existenz kämpfen müssen, wird dies kaum je auftreten. Hier ist das Ziel, nämlich das eigene Überleben zu sichern, gewissermaßen gesetzt – Raum für Flausen gibt es nicht. Eng mit der Zielsetzung verbunden ist das Erfordernis oder der Wunsch, sich zu engagieren und eine gewisse Leistung zu erbrin-

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gen. Einige Personen haben den Drang, auf einem Gebiet Spitzenleistungen zu erbringen, während andere etwa danach streben, ihre verschiedenen Rollen im Privatleben und bei der Arbeit so gut es geht wahrzunehmen. Für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung sind diejenigen Menschen, die nach Höherem streben oder nach den Sternen greifen, von besonderer Bedeutung. Sie sind es, die als Experten ein Wissensgebiet oder als Unternehmer die Wirtschaft voranbringen und dafür sorgen, dass auch die weniger leistungsfähigen Personen ein Auskommen haben. Bei der Führung ist zunächst das Menschenbild von entscheidender Bedeutung. Glaubt man, dass jemand den Mitarbeitenden klare Ziele vorgeben muss, damit sie in die Gänge kommen und nicht auf der faulen Haut liegen, oder denkt man, dass die meisten Menschen selbst Ambitionen haben und sich durchaus auch eigene Ziele setzen wollen und können? Bei den Führungskräften in den Assessments ist eine gänzlich fehlende Zielorientierung oder Leistungsbereitschaft kaum anzutreffen. Häufiger sind Personen, die stattdessen besonders ehrgeizig sind und alles daransetzen, nach oben zu kommen. Die vereinzelt feststellbare Übermotivation und eine extreme Verbissenheit können ein Alarmsignal sein. Solche Menschen vernachlässigen bisweilen alle anderen Lebensbereiche, sind oft Einzelkämpfer und reagieren in Krisenphasen wenig flexibel, weil es ihnen an Gelassenheit und Übersicht mangelt. Die Assessment-Praxis zeigt, dass sehr unterschiedliche Motive hinter einer überdurchschnittlichen Ambition stehen können. Es können extrinsische Motive wie Statusstreben oder der Wille, mehr Einfluss zu nehmen, oder intrinsische Bedürfnisse vorliegen. Neben einem gesteigerten Lernbedürfnis ist bei Managern ein dynamischer Drang, etwas zu bewegen, konkrete Ergebnisse zu erzielen und Wirksamkeit zu erleben, ein oft zu beobachtender Antrieb. Diesen nachzueifern ist keine gute Idee, wenn man anders ­motiviert ist. Alles, was man anpackt oder vorantreibt, weil man daran Freude hat, kostet wenig Energie, während Aufgaben, die man sich aufzwingt, einem mehr Willenskraft und Anstrengung abverlangen. Treten oft Konzentrationsprobleme oder Gefühle von Widerwillen auf, sollte man etwas ändern. Sich überdauernd zu etwas zwingen, das einem gar nicht liegt und keinerlei Freude bereitet, kostet eine Unmenge an Energie, die man an einem anderen Ort besser investieren könnte. Dass jemand verbissen ist und sich zu viel abverlangt, lässt sich übrigens oft schon an den hart oder streng wirkenden Gesichtszügen ablesen. Dasselbe lässt sich nebenbei bisweilen auch bei sehr ideologischen Personen beobachten. Zum Teil steht diesen ihre gedankliche Rigidität buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Mit sich im Reinen zu sein, sieht anders aus. Gelegentlich trifft man in Assessments auf Führungskräfte, bei denen die Fähigkeit gestört ist, sich realistische Ziele zu setzen. Ein Extrem besteht darin, in einer Art von voraus­ eilendem Gehorsam stets allen Erwartungen sämtlicher Bezugspersonen und Stakeholder gerecht werden zu wollen und unter Umständen daran zu scheitern. Stattdessen sollte man die tatsächlichen Erwartungen der anderen genau herausfinden und sich darauf konzen­ trieren, diese zu erfüllen. Übersteigt dies die eigenen Möglichkeiten, müssen die Erwartungen neu ausgehandelt werden. Bereitet einem das Setzen von eigenen Maßstäben Mühe, empfiehlt es sich, diese einem Benchmark zu unterziehen, indem man andere Personen nach ihren Leistungsmaßstäben befragt und diese gegebenenfalls übernimmt. Auf der an-

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deren Seite gibt es natürlich auch Personen, die mit ihren Ergebnissen immer zufrieden sind oder diese sogar für überdurchschnittlich halten, selbst wenn dies objektiv nicht der Fall ist. Neben einem mangelnden Realitätssinn hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten kann auch ein zu niedriges Anspruchsniveau vorliegen. Hier gilt es festzustellen, ob ein generell mangelnder Antrieb besteht oder ob es Tätigkeiten gibt, bei denen man sich mehr anstrengt. In der Praxis kann sich auch ein Zielkonflikt einstellen, nämlich wenn man etwas sehr gut beherrscht und etwa viel verdient, man die Tätigkeit aber nicht wirklich mag. Spricht die höhere Zufriedenheit für die eine, höhere Belohnungen für eine andere Option, sollte man sich gut überlegen, was langfristig vorteilhafter ist. Im Coaching trifft man zuweilen auf Personen, die erst in der Karrieremitte erkennen, dass sie zu einem viel früheren Zeitpunkt eine für sie eigentlich falsche Entscheidung hinsichtlich ihres Karrierewegs getroffen haben. Zunehmende Unzufriedenheit oder gar gesundheitliche Probleme zwingen sie dann irgendwann zu einer Kurskorrektur, was allerdings mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird.

4.3.2 Umsetzungsstärke und Tatkraft In der Assessment-Praxis begegnet man immer wieder Managern, die stark dadurch motiviert werden, etwas zu bewegen, und die abends ein gutes Gefühl haben, wenn sie tagsüber eine umfangreiche To-do-Liste abgearbeitet haben. Diese Personen finden Umsetzungsaufgaben besonders attraktiv und zeichnen sich oft durch eine hohe Tatkraft und „Macherqualitäten“ aus. Unter Macherqualitäten oder Umsetzungskompetenz ist ein ganzes ­Bündel an Fähigkeiten und Kompetenzen zu verstehen, das gegeben sein muss, um konsequent auf die Zielerreichung hinzuarbeiten oder eine nachhaltig gute Leistung zu erbringen. In der betrieblichen Praxis heißt eine hohe Leistung zu erbringen letztlich, eine größere Zahl von Aufgaben oder Projekten zeitgerecht und in angemessener Qualität erledigen zu können. Gemäß Assessment-Praxis gehören zu den erforderlichen Qualitäten 1) klassische Werte wie Zuverlässigkeit, Vereinbarungstreue und Verantwortungsgefühl, die man auch als Arbeitseinstellung zusammenfassen könnte. Ebenfalls wichtig sind 2) Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie eine anpackende und initiative Grundhaltung, das heißt die Bereitschaft, Themen oder Aufgaben rasch und selbstständig in Angriff zu nehmen. Aufgrund der oft großen Arbeitsdichte und -menge sind zudem 3) eine angemessene Effizienz und Effektivität sowie Belastbarkeit, Ausdauer und Konstanz in der Leistungserbringung vonnöten. Wenn Schwierigkeiten oder Widerstand auftauchen, sind 4) Selbstmanagement und spezifische weitere persönliche Kompetenzen wie Frustrationstoleranz und Beharrlichkeit beim Vorantreiben der Aufgaben oder Projekte gefragt. In der Praxis geschieht die Umsetzung oft im Rahmen von Teamarbeit und abteilungsübergreifend. In diesem Fall benötigt man 5)  auch soziale und emotionale ­Kompetenzen, zum Beispiel kommunikative Fähigkeiten sowie Kooperations- und Hilfsbereitschaft. Die Werte Verlässlichkeit und Empathie im Umgang bilden bei der Teamarbeit die Klammer zwischen persönlichen und sozialen Fähigkeiten.

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Bei der Arbeit geht es im Kern darum, eine wie auch immer geartete Leistung zuverlässig zu erbringen. In der Regel bestehen Erwartungen hinsichtlich Qualität und zeitlichen Vorgaben, die es einzuhalten gilt. Dies beinhaltet eine soziale Dimension, denn bis zu einem gewissen Grad müssen auch die Erwartungen anderer (z. B. der Geschäftsleitung) erfüllt werden. Ebenso ist meist zu berücksichtigen, dass andere Personen oder Abteilungen von den eigenen Arbeitsergebnissen abhängig sind und vice versa. Gefragt sind insofern Rücksicht und Kooperationsbereitschaft, nur für sich zu schauen und die eigenen Ziele zu verfolgen, ist unkooperativ. Damit man sich aufeinander verlassen kann, müssen Zuverlässigkeit und Pflichtgefühl auf einem angemessenen Niveau gegeben sein. Das bedeutet nicht, dass man nicht Arbeiten abgeben könnte, falls man diese allein nicht schafft. Gerade bei vagen Vorgaben ist es wichtig, dass die anderen Beteiligten den Stand der Arbeiten immer kennen und frühzeitig informiert werden, wenn Probleme oder Verzögerungen auftauchen. Ebenfalls unerlässlich ist ein gewisses Qualitätsbewusstsein, kostet doch das Finden und Beheben unnötiger Fehler nicht selten besonders viel Zeit. Große Leistungsschwankungen oder die Tendenz, unliebsame Tätigkeiten zu vermeiden oder schludrig zu bearbeiten, haben auch für andere Konsequenzen. Eine extrem fehlerhafte Arbeitsweise aus mangelnder Sorgfalt hat mit „erlaubten Fehlern“ (zwecks Lernens) nichts zu tun. In der Regel bewirkt mangelnde Sorgfalt vor allem einen Zusatzaufwand, den nicht selten andere leisten müssen. Ebenso wie bei der Neigung, möglichst nur diejenigen Aufgaben zu erledigen, die einem Spaß machen, handelt es sich dabei entweder um mangelnde Kooperationsbereitschaft oder persönliche Unreife. Bei länger dauernden Tätigkeiten oder Projekten ist überdies eine ausreichende Beharrlichkeit gefragt. Speziell bei ungeliebten Aufgaben bedarf es zuweilen einer erhöhten ­willentlichen Anstrengung sowie der Fähigkeit, eine Arbeit fokussiert und konzentriert zu Ende zu bringen. Keine Tätigkeit beinhaltet ausschließlich Aufgaben, die man gerne macht. Hilfreich sind eine erhöhte Gewissenhaftigkeit, ein gesunder Ehrgeiz sowie Kon­ stanz in der Leistungserbringung. Diese Grundvoraussetzungen sollten eigentlich von allen erwartet werden können. Die Praxis zeigt aber, dass sich nicht alle daran stören, wenn sie etwa aus fehlender Motivation oder mangelndem Problem- oder Pflichtbewusstsein eine im Grunde ungenügende Arbeit abliefern. Selbstredend fällt einem eine Tätigkeit dann am leichtesten, wenn man dafür intrinsisch motiviert ist resp. diese gerne erledigt. In der Praxis ist es jedoch nicht realistisch, nur Aufgaben zu übernehmen, die Freude bereiten. Notwendig ist insofern die Bereitschaft, ausreichend Willensstärke aufzubringen, um sich auch um die anderen Arbeiten zu kümmern. Es liegt auf der Hand, dass prinzipiell alle Menschen in der Lage sein sollten, ein gewisses Maß an Selbstdisziplin zu zeigen oder diese nötigenfalls zu lernen. Gleichzeitig ist auch klar, dass sich die Menschen etwa hinsichtlich Arbeitstempo oder Talent bei der Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben unterscheiden. Mit überdurchschnittlichem Fleiß und einer hohen Konstanz lässt sich erfahrungsgemäß sehr Vieles ausgleichen. So wird eine durchschnittlich intelligente, aber sehr fleißige Person eher einen akademischen Abschluss erreichen als eine, die zwar talentiert, aber faul ist. Als Hilfestellung, um sich das für eine angemessene Umsetzungsstärke notwendige Selbstmanagement anzueignen, existiert eine Fülle von Ratgebern. Im Fokus ste-

4.3 Leistungsvermögen und operative Fähigkeiten

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hen dabei Maßnahmen zur Verbesserung des Selbstmanagements und Themen wie Planung, Zeitmanagement, Prioritätensetzung und vieles mehr. Solange die Aufgaben klar und beherrschbar sind und kein übergroßer selbstauferlegter oder äußerer Stress besteht, deutet ein Mangel an Verlässlichkeit auf eine gewisse persönliche Unreife hin. Sind die Ziele oder Erwartungen uneindeutig, ist neben zusätzlichen sozialen Fähigkeiten (z. B. Absprachen treffen) auch das Vermögen wichtig, sich selbst Ziele setzen zu können. In einem stark arbeitsteiligen und hierarchischen Umfeld kann es geschehen, dass die Mitarbeitenden dies gar nicht können oder wollen. Sollen sie auf einmal selbstständiger agieren (z. B. im Rahmen einer Empowerment-Initiative), fällt eine Umstellung nicht leicht, oder es treten Abwehrreaktionen auf. Es ist nicht so, dass die beschriebenen Arbeitstugenden und Umsetzungsfähigkeiten in einem agilen Umfeld nicht mehr wichtig wären. So erfordert etwa der Aufbau eines Start-­ ups oder andere unternehmerische Leistungen sogar ein sehr starkes Vermögen, sich selbst Ziele setzen und motivieren zu können. Meist sind auch ein langer Atem und ein hohes Maß an Selbstdisziplin unabdingbar. In der agilen Welt sind eher zusätzliche Kompetenzen wie Risikobereitschaft, ein experimentelles und pragmatisches Vorgehen sowie Fehler zuzulassen gefragt. Es gilt also, beides zu entwickeln.

4.3.3 Effektivität und Effizienz Die Unterscheidung zwischen Effektivität und Effizienz geht auf Drucker (1977) zurück, der damit eigentlich Leadership von Management abgrenzte. Wichtig ist die Kernaussage, dass ersteres meint, die richtigen Dinge zu tun, letzteres dagegen, die Dinge richtig zu tun. Die Schlüsselkompetenzen bei der Effektivität sind gemäß Assessment-Praxis Prioritäten setzen und delegieren können. Bei Effizienz geht es hingegen darum, die geforderte Leistung innerhalb nützlicher Frist zu erledigen, ohne dadurch größere Qualitätseinbußen in Kauf nehmen zu müssen. Bei Effizienz steht also der Einsatz der bereits diskutierten Umsetzungsqualitäten im Zentrum. Wie erwähnt, spielt bei der Effektivität das Vermögen, die richtigen Prioritäten zu setzen, eine absolute Schlüsselrolle. Sowohl bei der Auswahl der richtigen Themen (z. B. strategische Handlungsfelder) als auch beim Identifizieren der relevanten Umsetzungsmaßnahmen ist es bis zu einem gewissen Grad unerlässlich, das Richtige und nicht möglichst alles zu tun. Die Fähigkeit, das Wesentliche zu erkennen und sich darauf zu fokussieren, ist alles andere als selbstverständlich. Stattdessen lässt die Assessment-Praxis vermuten, dass für eine erstaunlich hohe Zahl von Menschen alles mehr oder weniger gleich wichtig ist. Diese schaffen es beispielsweise nicht, die Hebelwirkung unterschiedlicher Maßnahmen treffend abzuschätzen. Zum Teil ist auch ein problematischer Perfektionismus zu beobachten. Werden auf der übergeordneten strategischen Ebene keine oder falsche Prioritäten gesetzt, können sich schlimmstenfalls verheerende Konsequenzen ergeben, beispielsweise wenn man buchstäblich auf das falsche Pferd setzt (z. B. falsches Produkt) und die Mittel entsprechend verteilt. Speziell im Top-Management ist es wichtig, innerhalb eines

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komplexen Gesamtbilds etwa Muster oder die wirklich wichtigen Aspekte treffend zu identifizieren, um darauf das Hauptaugenmerk legen zu können. Allerdings steigt auch bei den operativen Alltagstätigkeiten die Effektivität mit dem Vermögen, die eigene Tatkraft vor allem auf die wichtigen Angelegenheiten konzentrieren zu können. Ein praktisch allen Führungskräften bekanntes Hilfsmittel zur Steigerung der Effizienz ist das „Eisenhower-Prinzip“. Es unterscheidet die anstehenden Aufgaben nach Dringlichkeit und Wichtigkeit, sodass theoretisch 4 Kombinationen möglich sind. Eigentlich sind es 3, weil unwichtige, nicht dringliche Aufgaben gar nicht erledigt werden sollen. Wichtige, dringliche Aufgaben sind A-Aufgaben: Diese sollten sofort in Angriff genommen werden. Und zwar von einem selbst, also von der Führungskraft. Wichtige, nicht dringliche Aufgaben sollten geplant und zu einem späteren Zeitpunkt erledigt werden – wiederum in der Regel von der Führungskraft selbst. Unwichtige, dringliche Aufgaben sollten dagegen an andere Personen delegiert werden. In der Praxis ist das gar nicht so einfach. Zum einen zeigen die Ergebnisse von Postkorbübungen, bei denen innerhalb kurzer Zeit diverse operative Aufgaben erledigt werden müssen, dass keinesfalls alle Führungskräfte Wichtigkeit und Dringlichkeit von Aufgaben treffend einschätzen können. Insbesondere schätzen nicht wenige Kandidaten alles als mehr oder weniger dringlich ein. Aus einer Führungsperspektive ist das Modell problematisch, weil nur die unwichtigen dringlichen Aufgaben an die Mitarbeitenden delegiert werden. Diese werden dann mit wenig reizvollen Arbeiten mit engen Deadlines eingedeckt. Unter Umständen haben diese deswegen großen Stress. Mit Sicherheit aber lernen sie nicht viel. Sollen Mitarbeitende auch gefördert werden, müssen sie zumindest einige der wichtigen, nicht dringlichen Aufgaben übernehmen dürfen. Das Gute an diesem Konzept ist, dass es die Aufgaben sinnvoll s­ trukturiert. Bei einer völlig intuitiven Führung besteht die Gefahr, dass die Führungskraft primär nach ihren persönlichen Vorlieben delegiert. Die Mitarbeitenden werden dann zu einer Art verlängerter Werkbank, die für das Erledigen der ungeliebten Aufgaben zuständig ist. Zufriedenheit und freiwillige Mehrarbeit sind dann nicht zu erwarten. Vielmehr darf man sich nicht wundern, wenn primär Dienst nach Vorschrift geleistet wird. Zu schnell, unsorgfältig oder lieblos ausgeführte Arbeiten deuten entweder auf eine Überforderungssituation, mangelnde Kompetenz, persönliche Defizite (z. B. geringe Motivation oder fehlende Selbstdisziplin) oder einen untauglichen Einsatz des Pareto-­Prinzips hin. Das bekannte Pareto-Prinzip (bzw. 80:20-Regel) besagt, dass sich oft mit 20 % des Aufwands 80 % des Ergebnisses erzielen lassen. Die Alltagserfahrung bestätigt die Gültigkeit dieser Annahme bei sehr vielen Tätigkeiten. Nicht alles muss perfekt sein, vielmehr reicht oft ein mittleres Qualitätsniveau nach dem Motto „Gut ist gut genug“. Es ist allerdings zu bedenken, dass nicht alle Aufgaben auf diese Weise erledigt werden dürfen. So sollten beispielsweise die Unterlagen für die Kunden möglichst perfekt sein und keine Schreibfehler enthalten. Die Kunst besteht also darin, pro Tätigkeit oder Einzelaufgabe das jeweils richtige Maß an Qualität zu finden. Bei konzeptionellen Arbeiten lohnt es sich beispielsweise selten, eine fertige, für einen selbst „perfekte Lösung“ zu erarbeiten, solange nicht alle wichtigen Entscheider abgeholt worden sind.

4.3 Leistungsvermögen und operative Fähigkeiten

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Das situative Variieren des Qualitätsstandards und das Abschätzen des richtigen Aufwands sind nicht jedermanns Sache. So gibt es etwa Personen, die gar nicht anders können, als alles perfektionistisch und pedantisch zu erledigen, obwohl dies wirtschaftlich unter Umständen falsch oder aufgrund der Art der Aufgabe eigentlich nicht angebracht ist. Denkbar ist auch ein bürokratisches Festhalten an bestimmten Prozessen, statt den Fokus auf die Befriedigung der Kundenbedürfnisse zu legen. Fehlt das Verständnis für das relative Gewicht oder die situative Bedeutung verschiedener Aufgaben oder Themen, können beispielsweise irgendwelche Details und absolut zentrale Aspekte ähnlich ausführlich diskutiert werden. Dabei besteht die Gefahr, dass man sich in unwichtigen Aspekten verliert. Bevorzugt man generell ein langsameres Arbeitstempo und einen sehr gewissenhaften Arbeitsstil, ist man gut beraten, sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem primär die Qualität im Mittelpunkt steht und nicht vor allem rasche Resultate erwartet werden. Selbstverständlich steigt die Effizienz in aller Regel mit zunehmender Erfahrung. Aufgrund von Lerneffekten ist es logischerweise so, dass man die meisten Tätigkeiten umso schneller bewältigt, je öfter man sie ausgeübt hat. Einige werden derart zur Routine, dass sie kaum mehr bewusst ausgeübt werden müssen, obwohl sie zu Beginn eventuell Mühe bereitet haben (z. B. Auto fahren). Treten über einen gewissen Zeitraum kaum Lerneffekte auf, sollte man die eigene Motivation und die eigenen Fähigkeiten hinsichtlich dieser Tätigkeit hinterfragen.

4.3.4 Verantwortungsübernahme und Eigeninitiative Während die Führungskräfte theoretisch schon immer angehalten waren, im Rahmen ihrer Zuständigkeit Verantwortung zu übernehmen, wurde dies in traditionellen Unternehmen von den Mitarbeitenden in den vergangenen 100 Jahren kaum erwartet. Je nach gelebter Kultur im einzelnen Unternehmen konnten sich zwar initiative Personen auch schon früher entfalten, zum Teil wurden entsprechende Bestrebungen jedoch sogar unterdrückt. So stellten nicht wenige Menschen ihren Kopf ab, sobald sie die Türe zum Geschäft öffneten, während sie ihren sonstigen Alltag als gestandene Erwachsene souverän meisterten. Spätestens seit der Bildung der ersten teilautonomen Arbeitsgruppen in den 1970er-Jahren wird vielerorts mittels verschiedener Ansätze versucht, bei den Mitarbeitenden eigenverantwortliches Handeln zu fördern. Insbesondere die hierarchische Trennung zwischen Management und Mitarbeitenden ist jedoch bis heute in vielen Köpfen fest verankert und bewirkt bei (oder ermöglicht) den Mitarbeitenden die Haltung, sich auf ihre Kernaufgabe zu konzentrieren und kaum darüber hinaus Überlegungen anzustellen oder gar Eigeninitiative zu zeigen. Die Assessment-Praxis lässt annehmen, dass mangelnde Verantwortungsbereitschaft noch immer verbreitet ist, vor allem wenn ein Bruch zwischen Führung und Mitarbeitenden wahrgenommen wird und deswegen ein gewisses Misstrauen vorherrscht. Bei den jüngeren Personen zeigt sich ein Wertewandel, wobei bei diesen die Arbeit im klassischen Sinne generell an Bedeutung verliert. Im Unterschied zu früher besteht heute weitgehend ein Konsens, dass es für eine Organisation ein Gewinn ist, wenn die Mitarbeiten-

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den mitdenken und mehr Verantwortung übernehmen. Unter dem – nicht immer gerechtfertigten – Label Empowerment laufen in den Unternehmen diverse Programme mit dem Ziel, die Mitarbeitenden dazu zu bewegen, sich mitunternehmerisch zu verhalten. Dabei wird von diesen erwartet, ihre Handlungsspielräume zu nutzen oder gar aktiv zu erweitern. Solange die Mitarbeitenden aber Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Menschenorientierung des Managements und dieser Initiativen hegen, ihre wirklich vorhandenen oder vermeintlichen Handlungsspielräume nicht erkennen und weiterhin eine klassische Kultur vorherrscht, wird man aber nicht alle erreichen können und schon gar nicht den Mindset der Mehrzahl der Mitarbeitenden grundlegend verändern. Oft wird von diesen beklagt, dass man von ihnen mehr Verantwortungsübernahme erwarte, faktisch jedoch gar keine Handlungsspielräume bestehen würden. Allerdings ist es auch nicht einfach, den Handlungsspielraum stellenunspezifisch aufzuzeigen, zumal dieser in der klassischen Hierarchie zusätzlich stark durch die jeweiligen Vorgesetzten bestimmt wird und deshalb auch bei gleichen Tätigkeiten sehr unterschiedlich sein kann. Nicht wenige Führungskräfte schätzen im Grunde unmündige Personen, weil sie über sämtliche Details informiert sein wollen, nicht delegieren können oder vor allem die eigene Positionierung im Unternehmen im Blick haben. Solche Vorgesetzten nehmen leicht auch den kleinsten Ausdruck von Eigeninitiative als Übergriff oder Bedrohung wahr. Moderne Führungskräfte hingegen schätzen mitdenkende und eigenständige Personen und bekunden eher Mühe mit den Unselbstständigen. Typischerweise geben diese an, dass sie es anstrengend finden, wenn sie von ­erwachsenen Menschen ständig gefragt werden, was diese als nächstes tun sollen, oder bei jeder Kleinigkeit um Rat gefragt werden. Es liegt auf der Hand, dass es für Führungskräfte in einer neuen Rolle dann besonders anspruchsvoll wird, wenn der Vorgänger oder die Vorgängerin den jeweiligen Gegentypus verkörpert und ein entsprechendes Führungsverhalten gezeigt hat. Eine Anekdote soll illustrieren, wie schwierig es ist, in einem traditionell geprägten Unternehmen den Mindset in Richtung eigenverantwortliches Handeln zu entwickeln. In einem Development Center für potenzielle Top-Führungskräfte befand sich in meiner Gruppe eine Person, die im Unternehmen kurz zuvor Trainings im Rahmen einer Sensibilisierungskampagne mit dem Thema Nutzen des eigenen Handlungsspielraums durchgeführt hatte. Alle Teilnehmenden mussten im Vorfeld für sich allein eine betriebswirtschaftliche Fallstudie lösen und einen eigenen Vorschlag mitbringen. Während der Veranstaltung erhielten die Teilnehmenden zusätzlich die Gelegenheit, in einer innovationsorientierten Teamübung eine zweite Lösung zu entwickeln. Der Ablauf sah vor, dass am Ende eine der im Vorfeld erarbeiteten Lösungen einem Gremium vorgestellt werden sollte. Die Teilnehmenden der verschiedenen Kleingruppen mussten sich dazu auf den Vorschlag eines ihrer Mitglieder einigen. Die Beobachtungen der Teilnehmenden in meiner Kleingruppe ließen annehmen, dass sie eigentlich mit keiner der mitgebrachten Varianten wirklich glücklich waren. Im Gegensatz dazu standen alle mit Überzeugung hinter der in der Gruppenübung mit viel Energie entwickelten Lösung. Sie einigten sich also widerwillig auf eine andere Lösung und präsentierten diese am Schluss mit wenig Begeisterung. In der Abschluss-­

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Feedback-­Runde stellte sich heraus, dass sich die Gruppe nicht getraut hatte, die Übungsleitung zu fragen, ob sie nicht – entgegen der Instruktion – den gemeinsam erarbeiteten Vorschlag vorstellen dürfen. Selbst die Trainerin der entsprechenden internen Sensibilisierungskampagne kam nicht auf die Idee, dass wir eigentlich genau dies besonders positiv gefunden hätten. Selbstverständlich kam in der anschließenden Diskussion das Argument auf, dass dies in der Realität nicht erwünscht wäre, was auch durchaus sein kann. Herrscht in den Köpfen der Mitarbeitenden diese Vorstellung vor, können oberflächliche Programme zur Förderung einer mitunternehmerischen Haltung nicht viel ausrichten. Grundsätzlich darf davon ausgegangen werden, dass die erwünschten Fähigkeiten bei vielen, wenn nicht sogar den meisten Menschen durchaus vorhanden sind. Im Alltag entscheiden sich aber nicht wenige, sich nicht entsprechend zu verhalten. Gründe können sein, dass sie die Arbeit oder das Unternehmen nicht so wichtig finden oder negative Konsequenzen erwarten, wenn sie etwa Kritik üben und Verbesserungen vorschlagen. In dieser Beziehung können tatsächlich auch kalkulatorische Motive eine Rolle spielen. Die meisten Menschen werden sich überlegen, was eine Initiative an Zeit und Energie kostet und was sie dafür als Gegenleistung erwarten können. Teilweise findet das gewünschte Vorgehen im Rahmen informeller Aktivitäten, sogenannter „Graswurzelinitiativen“ statt, ohne dass das Management davon (von Beginn an) Kenntnis erhält. Auch in klassischen Unternehmen wurden und werden viele betriebliche Probleme gelöst, weil sich einzelne Mitarbeitende nicht an den Dienstweg halten und beispielsweise direkt mit Personen aus anderen Abteilungen kommunizieren. Kluge & Kluge (2020) erwähnen eine ganze Reihe von Beispielen, bei denen M ­ itarbeitende beispielsweise Großprojekte gerettet haben, weil sie sich eben nicht an die internen Regeln und Hierarchien gehalten haben. Dass mitunternehmerische Verhalten und das Nutzen von Handlungsspielräumen auch eine Selbstverständlichkeit sein können, zeigt sich vor allem in den Kleinstunternehmen. Nicht nur Startups – die dafür als Vorbild gelten –, nein, auch kleine Gewerbebetriebe würden gar nicht funktionieren, wenn nicht alle Beteiligten sehen würden, was es zu tun gibt, und selbstverständlich mitanpackten. Die Assessment-Praxis lässt annehmen, dass die betriebliche Sozialisation nachhaltig prägend wirkt. Hinsichtlich mitunternehmerisches Denken und Handeln zeigen sich große Unterschiede zwischen Kandidaten, die in einem Kleinstunternehmen gestartet sind, und solchen, die hauptsächlich in großen Organisationen tätig waren. Erstere packen an, letztere fragen sich, ob und wann sie für eine bestimmte Aufgabe Zeit haben. Personen aus der Verwaltung fragen sich hingegen, ob sie dafür wirklich zuständig sind. Die meines Erachtens treffendste Darstellung, was mit dem Nutzen von Handlungsspielräumen wirklich gemeint ist, stammt denn auch aus einem Kleinstunternehmen. Ein Kandidat in einem Assessment erzählte, dass ihm sein Lehrmeister vor vielen Jahren gesagt habe, dass er von ihm erwarte, dass er ihn mindestens 2-mal pro Jahr für Kompetenzüberschreitungen tadeln müsse, da er ansonsten seinen Handlungsspielraum nicht ausreichend nutze. Diese Botschaft hat den Kandidaten das ganze Leben lang begleitet und sein eigenes Führungsverhalten nachhaltig geprägt. Für New Leader sind Mitdenken und eine unternehmerisch-­initiative Grundhaltung selbstverständlich.

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

4.4 Emotionale Intelligenz und emotionale Kompetenz Die emotionale Intelligenz resp. die emotionalen Kompetenzen stellen im Grunde das Bindeglied zwischen persönlichen und sozialen Kompetenzen dar und können je nach Fokus grundsätzlich dem einen oder anderen zugeordnet werden. Vor dem Hintergrund ihrer laufend steigenden Bedeutung können die emotionalen Kompetenzen auch als etwas völlig Eigenes betrachtet werden. Eingeführt wurde das Konstrukt durch Mayer & Salovey (1990), die den Begriff der emotionalen Intelligenz prägten, wobei sie ein relativ enges Verständnis dieser Fähigkeit vorschlugen. Der von ihnen entwickelte Mayer-­Salovey-­Caruso Emotional Intelligence Test (MSCEIT) erfasst Aspekte wie 1) Wahrnehmung von Emotionen, 2) Nutzen von Emotionen zur Unterstützung des Denkens (v. a. bei der Problemlösung), 3) Verstehen von Gefühlen, das heißt verschiedener emotionaler Zustände sowie 4) Umgang mit Emotionen (Beeinflussen der emotionalen Zustände von sich und anderen). Populär wurde der Begriff der emotionalen Intelligenz durch den gleichnamigen Beststeller von Goleman (1996). Das von diesem Autor später für den Führungskontext entwickelte Konzept der „emotionalen Führung“ beinhaltet 4 „Domänen emotionaler Intelligenz“ (2005) (Goleman et al., 2005, S. 61) und hat den Charakter eines umfassenden Kompetenzmodells, das sowohl persönliche als auch soziale Kompetenzen einschließt. (1) Selbstwahrnehmung – Emotionale Selbstwahrnehmung: sich der eigenen Emotionen und ihrer Wirkung bewusst sein; sich bei Entscheidungen auch von der Intuition leiten lassen; zutreffende Selbsteinschätzung, die eigenen Stärken und Grenzen kennen. Selbstbewusstsein: sich seines Wertes und seiner Fähigkeiten bewusst sein. (2) Selbstmanagement – Emotionale Selbstkontrolle: negative Emotionen und Impulse unter Kontrolle halten; Transparenz, Aufrichtigkeit, Integrität und Vertrauenswürdigkeit vermitteln; Anpassungsfähigkeit: sich an Veränderungen anpassen und Hindernisse überwinden; Leistung: Antrieb, die eigene Leistung zu verbessern und hohe Standards zu erreichen; Initiative: Bereitschaft, zu handeln und Gelegenheiten zu ergreifen; Optimismus: die positiven Seiten einer Situation sehen. (3) Soziales Bewusstsein – Empathie: die Emotionen anderer wahrnehmen, ihre Sicht der Dinge verstehen, Interesse zeigen; Organisationsbewusstsein: Interessengruppen, informelle Prozesse und ungeschriebene Gesetze erkennen und erfüllen; Service: Bedürfnisse von Mitarbeitenden, Klienten oder Kunden erkennen und erfüllen. (4) Beziehungsmanagement – Inspirierende Führung: mit einer überzeugenden Vision lenken und motivieren; Einfluss: verschiedene Taktiken einsetzen, um andere zu überzeugen; Entwicklung anderer fördern: die Fähigkeiten anderer durch Feedback und Anleitung verbessern; Veränderungskatalysator: Veränderungen initiieren, managen und lenken; Konfliktmanagement: Meinungsverschiedenheiten lösen; Bindungen aufbauen: ein Netz von Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten; Teamwork und Kooperation: Zusammenarbeit und Teambildung Die Selbstwahrnehmung bezieht sich hier nicht nur auf die eigenen Emotionen, sondern schließt das Verständnis der eigenen Stärken und Grenzen sowie das Selbstwertgefühl ein.

4.4 Emotionale Intelligenz und emotionale Kompetenz

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Vor allem die beiden letztgenannten Aspekte sind besonders relevant und werden an anderer Stelle genauer diskutiert. Auch das Selbstmanagement geht über ein enges Verständnis dieses Begriffs hinaus. Es beinhaltet unter anderem den Leistungswillen, die Belastbarkeit sowie die Werteebene. Speziell Letzteres nimmt in diesem Buch eine überragende Stellung ein. Entscheidend ist diesbezüglich das bereits angesprochene Kontrollzentrum im präfrontalen Cortex, das teilweise bewusst gesteuert werden kann und das verhindern soll, dass wir nur unseren aktuellen Impulsen folgen. Dass dieses Kontrollzentrum besonders im Kriegsfall rasch außer Gefecht gesetzt werden kann, lässt sich momentan leider wieder sehr eindrücklich beobachten. Die Dimensionen soziales Bewusstsein und Beziehungsmanagement werden hier als soziale Kompetenzen begriffen und deshalb an anderer Stelle besprochen. Im Folgenden wird der Begriff emotionale Kompetenzen der emotionalen Intelligenz vorgezogen.

4.4.1 Emotionen im Berufsalltag Emotion in einem wissenschaftlichen Verständnis geht über den Ausdruck von Gefühlen hinaus. Gemeint sind eigentlich eher die älteren Hirnstrukturen, insbesondere das ­limbische System. Roth (2007, 2013) unterscheidet 4 verschiedene Bewusstseinsebenen, wobei nur die oberste dem Bewusstsein voll zugänglich ist: 1) Die unterste Ebene bildet die vegetativ-­affektive Ebene. Die basalen Verhaltensimpulse (z. B. Angriff, Flucht, Sexualverhalten) sind durch willentliche Kontrolle kaum beeinflussbar. Roth zufolge ist auf dieser Ebene das Temperament angesiedelt. Dieses ist aus seiner Sicht mehrheitlich genetisch festgelegt und nur geringfügig veränderbar. 2) Die zweite Ebene umfasst die emotionale Konditionierung und das individuelle emotionale Lernen. Wichtig sind das Furcht(Amygdala) sowie das Belohnungssystem (v. a. Nucleus accumbens) und der Zusammenhang zwischen den Emotionen und der Ausschüttung von Hormonen, die unser Verhalten motivieren (z.B. Dopamin). Die Emotionen bestimmen also unsere Motivation, indem sie anzeigen, um welche Bedürfnisse wir uns gerade kümmern sollten oder müssen. 3) Auf der 3. Ebene befindet sich neben den bewussten vor allem sozial vermittelten Emotionen (z. B. bewusste Schmerzempfindungen) das bereits angesprochene Kontrollzentrum, das mit dem moralisch-ethischen Verhalten in Zusammenhang gebracht wird und auf das bis zu einem gewissen Grad bewusst eingewirkt werden kann. 4)  Die 4.  Ebene stellt die kognitiv-­sprachliche Ebene dar. Es handelt sich um den Verstand und die Intelligenz im engeren Sinne. Wichtig ist die Tatsache, dass die Ratio letztlich nur wenig Einfluss auf die unteren Ebenen hat, was zum einen erklärt, weshalb vernünftige und gut gemeinte Vorsätze oder Ratschläge oft wirkungslos verpuffen. Zum anderen wird auch klar, weshalb es so anspruchsvoll – aber nicht unmöglich – ist, Veränderungen auf einer tieferen Ebene zu bewirken Das limbische System (Emotion) hat immer das erste und das letzte Wort, das heißt, es bestimmt, was wir tun und wofür wir uns letztlich entscheiden. Oder anders gesagt: Der Mensch ist mitnichten das überlegene Vernunftwesen, für das ihn viele halten. Die Bedeutung der Emotionen und der dafür relevanten Gehirnzentren kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie bestimmen nicht nur weitgehend die Art und die Richtung

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

unserer Aktivitäten. Beispiele sind die Flucht-Angriff-Reaktion oder das basale Streben nach Lust resp. Belohnung auf der einen und das Vermeiden von Unlust resp. Bestrafung auf der anderen Seite, sondern übersteuern die Vernunft häufig. Speziell im Anblick einer unmittelbaren Bedrohung – zum Beispiel, wenn man auf einen Löwen trifft – übernimmt die Amygdala (ein Teil des limbischen Systems) vollständig die Kontrolle. Im Rahmen eines präkognitiven Prozesses sorgt sie dafür, dass wir fliehen, ohne zu überlegen. Heutzutage machen diese sehr alten Verhaltensweisen nur selten Sinn, können aber dennoch auftreten und den Verstand kurzzeitig außer Kraft setzen. Ein anderes Beispiel für überwältigende Emotionen ist das „Jerusalem-Syndrom“, bei dem hoch religiöse Personen in der heiligen Stadt in einen Wahn verfallen (Bar-el et al., 2000). Als eine dunkle Seite der Empathie bezeichnet Breithaupt (2017) die bei einigen Menschen feststellbare Tendenz, sich völlig einer bestimmten Führerfigur hinzugeben. Für Kritik oder andere Ansichten sind sie völlig unempfänglich und reagieren darauf aggressiv und trotzig (reaktant). In der Politik und besonders in diesen Zeiten von Pandemie und Krieg lassen sich diese Effekte leider täglich beobachten. Da Indoktrination und blinder Gehorsam den Verstand nachhaltig völlig außer Kraft setzen, gehört beides überwunden. Der Volksmund weiß, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Verspürt man Angst, nimmt die kognitive Leistungsfähigkeit ab, weil die Angst das Gehirn gewissermaßen überflutet (Rock, 2013). In Form eines Blackouts ist dieser Effekt den meisten Menschen schon einmal passiert. Unsicherheitsgefühle oder Ängste sind insofern auch zentral im Umgang mit unmittelbarem Druck. Zuweilen können bewusste oder unbewusste Versagensängste bewirken, dass man gar nicht erst versucht, sich einer schwierigen Situation zu stellen. Im Nachhinein kann man den Misserfolg auf die fehlende Anstrengung zurückführen, was für das Selbstwertgefühl kurzfristig weniger bedrohlich ist. Leichte Anzeichen von Ängstlichkeit sind nützlich, weisen sie doch auf etwaige Risiken hin und erhöhen die Aufmerksamkeit. Im Unterschied dazu ist das Vertrauen, eine bestimmte Herausforderung zu meistern, mit starken positiven Gefühlen verbunden. Dies lässt einen besseren Zugriff auf die eigenen Fähigkeiten erwarten, was die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöht. Idealerweise stellt sich der Flow-Zustand (Csikszentmihalyi, 1995) ein, der buchstäblich das Beste aus einem hervorbringt. Emotionen spielen auch im beruflichen Alltag eine zentrale Rolle, indem sie wichtige Aktivitäten wie Entscheiden oder Lernen wesentlich beeinflussen. In der Praxis geistert immer noch der betriebswirtschaftliche „Homo oeconomicus“ herum. Gemeint ist die Vorstellung, dass es sich beim Menschen um ein kühl kalkulierendes Wesen handelt, das stets seinen Nutzen maximiert und dabei rational logischen Entscheidungsprinzipien folgt. Tatsächlich treffen wir beispielsweise Kaufentscheidungen meist eher aus dem Bauch heraus, und der Verstand dient eher dazu, im Nachgang die Argumente zu liefern, dass die Entscheidung richtig war (Hoffmann, 2019). Im Alltag ist der Mensch keinesfalls rational. Zudem lassen sich selbst kleine Entscheidungen unter Umständen gar nicht rein rational fällen. Ohne Emotionen wäre etwa die Wahl zwischen zwei Kugelschreibern, die sich einzig durch die Farbe ihres Verschlusses unterscheiden, eine unlösbare Aufgabe, denn es gibt kein vernünftiges Argument für den einen oder anderen. Eine Entscheidung ist nur mög-

4.4 Emotionale Intelligenz und emotionale Kompetenz

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lich, wenn man sich überlegt, welche Farbe einem besser gefällt, das heißt ein emotionales Kriterium einbezieht. Als Coach begleitete ich einmal eine extrem vernunftgeleite, sehr unemotionale Person bei ihrer Suche nach einer neuen Anstellung. Als gefragter IT-­ Experte hatte dieser Coachee relativ rasch drei valable Optionen auf dem Tisch, war aber nicht in der Lage, sich für eine davon zu entscheiden. Um die richtige Wahl zu treffen, produzierte er mehrseitige Excel-Listen, auf denen er sämtliche Vor- und Nachteile detailliert auflistete, wobei er natürlich feststellte, dass alle Optionen auch gewisse Nachteile aufwiesen. Alle meine Versuche, ihn dazu zu bringen, eine Entscheidung aus dem Bauch zu fällen, schlugen ebenso fehl wie die Aufforderung, sich zu überlegen, welche Kriterien für ihn denn besonders wichtig seien. Nachdem er sich mehrfach kurzfristig umentschieden hatte, war seine letzte Wahl eher ein Produkt des Zufalls, weil er sich mit seiner Unentschlossenheit in eine schwierige Lage manövriert hatte. Ein fehlender Zugang zu den Emotionen kann also das Leben komplizierter machen. Dieses Beispiel deutet auch darauf hin, dass das viel zitierte Bauchgefühl tatsächlich existiert und dass es sich in der Regel lohnt, diesem zu vertrauen. Dazu muss man allerdings zunächst einen Zugang zu seinen Emotionen finden. Als Intuition stellt das Bauchgefühl das „schnelle Denken“ im Sinne von Kahneman (2012) dar, während „langsames“ Denken das sorgfältige und rationale – eben vernunftgeleitete – Abwägen aller vorhandenen Informationen beschreibt. Bei Sach­ themen setzt allerdings auch Intuition profunde Kenntnisse auf einem bestimmten Gebiet und das Verständnis der zugrunde liegenden Strukturen des Themas voraus. Es handelt sich dann um eine Art hochverdichtetes Wissen, das eine gefühlsmäßige Antwort auf eine bestimmte Frage liefert. Möglicherweise umfasst es auch kreative Denkprozesse. Klar ist, dass man seinem Bauchgefühl nicht trauen sollte, wenn man von einem Sachverhalt keine Ahnung hat. Emotionale Intelligenz hilft dabei, die in einer bestimmten Situation zweckmäßige Art der Entscheidungsfindung festzulegen. Auch beim Lernen und Erinnern sind emotionale Prozesse von entscheidender Bedeutung. Dabei ist vor allem die Intensität wirksam, während neutrale Reize und passive Stimmungslagen wie Entspannung (positiv) oder Langweile (negativ) dem Lernen abträglich sind (D’Mello & Graesser, 2012). Eine sehr heftige abwertende Kritik (z. B. Wutanfall) kann buchstäblich einen bleibenden Eindruck hinterlassen und auf diese Weise einen erzwungenen  – nicht erwünschten, aber durchaus wirkungsvollen  – Lerneffekt bewirken. Die meisten Menschen werden nach einem solchen Vorfall ihr Verhalten anpassen oder den Kontakt abbrechen beziehungsweise auf ein notwendiges Minimum hinunterfahren, weil sie dasselbe nicht noch einmal erleben wollen. Problematisch ist, dass etwa ständiges Kritisieren – beispielsweise im Rahmen eines aversiven resp. destruktiven Führungsstils – Stress auslösen und über einen dauerhaft erhöhten Pegel an Stresshormonen (v. a. Cortisol) langfristig krank machen kann. Ganz anders verhält es sich mit starken positiven Reizen wie zum Beispiel gemeinsamen Problemlösungsprozessen in einem inspirierenden Rahmen. Unter solchen Voraussetzungen darf nicht nur mit besseren Leistungen, sondern auch mit bleibenden Lernerfahrungen gerechnet werden. New Leader achten also darauf, Situationen so zu gestalten, dass möglichst viele positive und aktivierende Gefühle auftreten. Eine inspirierende Vision etwa löst solche Gefühlszustände aus, was wiederum den

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Antrieb steigert, sich dafür zu engagieren. Der Zusammenhang zwischen Lernen und Sinnstiftung erschließt sich einem möglicherweise nicht von selbst. Im betrieblichen Kontext lassen sich aber sämtliche neuen, eher komplexen und nicht durch Routinen zu bewältigende Tätigkeiten auch als Lernprozesse beschreiben. Am allermeisten trifft dies auf Innovationsprojekte und die Bearbeitung neuer Themen zu. Damit eine Lernkultur entsteht, die laufend bessere Ergebnisse hervorbringt, müssen die Beteiligten ermuntert werden, etwas zu riskieren und neue Wege zu gehen. Dies ist nur zu erwarten, wenn das Feedback auf Fehler wertschätzend ausfällt und man ermutigt wird, sich davon nicht beirren zu lassen. Besonders wichtig sind natürlich auch konkrete Erfolgserlebnisse.

4.4.2 Emotionale Selbstführung Grundsätzlich geht es bei der emotionalen Persönlichkeitsentwicklung in einem hohen Maße darum, die eigenen Gefühle bis zu einem gewissen Grad regulieren zu können. Die Intensität der Gefühle resp. das angeborene Temperament unterscheidet sich zwischen den Menschen natürlich stark (emotionale Stabilität), wobei besonders Kleinkinder und ­bipolare (manisch-depressive) Personen den Gefühlsschwankungen völlig ausgeliefert sind. Für „normale Menschen“ ist es – wenn auch mit etwas Anstrengung – durchaus möglich, einen gesunden Umgang mit den eigenen Emotionen zu erlernen. Insbesondere cholerische Wutanfälle verbieten sich im geschäftlichen Kontext – und nicht nur da. Personen, die sich gar nicht unter Kontrolle haben, fehlt es an der für eine Führungsfunktion notwendigen persönlichen Reife. Generell fällt das Vermögen, eigene Impulse zu kontrollieren, ebenfalls unter emotionale Kompetenz. Es bildet die Voraussetzung, um sich auf etwas konzentrieren und eine Aufgabe langfristig und mit der gebotenen Beharrlichkeit verfolgen zu können (Ausdauer). Treten Rückschläge auf, gilt es, die damit verbundenen negativen Gefühle zu verarbeiten und es erneut oder etwas anderes zu probieren (Frustrationstoleranz). Belastbarkeit, zentrale Selbstbewertung und emotionale Intelligenz sind also eng miteinander verknüpft resp. überlappen sich. In vielen traditionellen Unternehmen herrscht  – wahrscheinlich, weil Emotionen als unkontrollierbar eingeschätzt werden – immer noch das Ideal vor, dass eine (vor allem männliche) Führungskraft ihre Gefühle unterdrücken muss und sich niemals davon leiten lassen darf. In diesem Verständnis signalisiert der Chef durch ein stets neutral wirkendes Auftreten, dass er immer alles unter Kontrolle hat. Zweifellos ist es verfehlt, als Führungskraft in einer Krisensituation das Umfeld zu verunsichern, indem man starke Ängste zeigt oder gar den eigenen Stress ungefiltert an die Mitarbeitenden weitergibt. Gleichzeitig glaubt heute kaum mehr jemand, dass es Menschen gibt, die immer alles unter Kontrolle haben. Das eigene Gefühlsleben völlig zu unterdrücken ist nicht nur falsch, sondern auch schlecht für die Gesundheit. In der Assessment-Praxis trifft man dennoch nicht selten auf Führungskräfte, die ihre Emotionen weitestgehend zu verbergen suchen – teils aufgrund eines überholten Führungsideals, teils aufgrund der irrigen Ansicht, dass dies von ihnen in dieser Situation erwartet wird. Rein äußerlich lässt sich dies beispielsweise in einer ange-

4.4 Emotionale Intelligenz und emotionale Kompetenz

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spannten Mimik und einem verhaltenen Auftreten beobachten. Ein besonders kontrolliertes Verhalten wirkt zwar ruhig, nicht aber gelassen oder souverän. Bemerkenswerterweise gibt es auch nicht wenige Personen, die sich tatsächlich durch ein sehr flaches Gefühlsleben auszeichnen. Diesen fällt es eher schwer, natürlich Resonanz zu erzeugen oder einen Rapport herzustellen, denn auch dies hat natürlich viel mit Gefühlen zu tun. New Leader pflegen einen natürlichen Umgang mit sich und den eigenen Emotionen – denn sie sind keine Roboter, sondern Menschen. Authentizität fördert die Wirkung auf andere.

4.4.3 Emotionale Kompetenzen als Bindeglied Der Mensch ist nicht nur ein geselliges Wesen, sondern im Grunde ein Herdentier, das bis zu einem gewissen Grad die Eingebundenheit in eine Gemeinschaft benötigt. Die Verbindung zwischen Individuum und anderen Personen oder der Gruppe geschieht auf der emotionalen Ebene – man könnte also sagen, die emotionalen Kompetenzen stellen das Verbindungsglied zwischen dem Ich und den anderen Menschen dar. Um Resonanz zu erzeugen, müssen die Beteiligten die eigenen Emotionen deuten und steuern sowie eine tragfähige Beziehung zum Gegenüber herstellen. Aus der Sicht des dargestellten Modells von Goleman handelt es sich um die Verbindung von Selbstwahrnehmung und sozialem Bewusstsein. Hinsichtlich Verständnis der eigenen Gefühle und Bedürfnisse anderer besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Emotionen. Beispiele für erstere sind Wut, Freude, Interesse. Sie sind weitestgehend angeboren und können in ihrer reinen Form kulturübergreifend treffend eingeschätzt werden (Ekman, 1975). Im Verlaufe des Lebens schwächen sich diese tendenziell ab, während zusätzlich sekundäre Emotionen resp. Bedürfnisse erworben werden (z. B. Karriere, Reichtum). Die eigenen Gefühle richtig einzuschätzen, ist keinesfalls so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint. Reagiert man wütend, weil man beschimpft wird, kann man sowohl das Gefühl (Wut) als auch deren Ursache problemlos bestimmen. Das Gleiche gilt auch für so basale Themen wie Hunger oder Durst. Mischemotionen richtig zu deuten, ist dagegen anspruchsvoll. Im Alltag treffen Menschen aufeinander, die sich hinsichtlich emotionaler Kompetenz auf einem sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand befinden. Personen, sie sich selbst gar nicht kennen und spüren, tun sich schwer, empathisch zu reagieren oder die Gefühle anderer richtig einzuschätzen. Dass sich die Gefühle häufig als Mischemotionen zeigen, macht es nicht einfacher. Noch uneindeutiger ist deren Ursache. Im Grunde ist fast alles möglich, so kann es beispielsweise sein, dass das Gegenüber gerade an etwas ganz anderes denkt und sich dessen Stimmung gar nicht auf das aktuelle Geschehen bezieht. Die Tatsache, dass viele Menschen die Bedeutung der Emotionen nicht kennen oder Mühe haben, gefühlsbezogene Inhalte anzusprechen, behindert eine echte empathische Verständigung. In den Rollenspielen in den Assessments lässt sich deshalb oft beobachten, dass die Kandidaten ihre eigenen Vorstellungen und Deutungsmuster auf das Gegenüber übertragen. Implizit gehen sie also davon aus, dass ihr Gegenüber denkt und fühlt wie sie selbst. Das kann zumindest kurzfristig gutgehen, wenn sich die Erfahrungs- und Gefühlswelten der

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

betreffenden Personen in hohem Maße gleichen. Ist das nicht der Fall oder werden einzelne für das gegenseitige Verständnis zentrale Aspekte völlig unterschiedlich interpretiert, entsteht keine Resonanz. Man versteht sich nicht und spricht schlimmstenfalls völlig aneinander vorbei. Auf der anderen Seite können selbst bereits total verfahrene oder blockierte Gespräche einen kompletten Dreh erfahren, wenn jemand die Ebene wechselt und beispielsweise die gerade wahrgenommene Stimmungslage des Gegenübers direkt anspricht (z. B. „Sie wirken auf mich etwas skeptisch, nicht ganz glücklich mit dieser Lösung etc.“). Außerdem zeigt die Erfahrung, dass man zuweilen wesentlich bessere Antworten erhält, wenn man die Fragen auf der Gefühlsebene formuliert. „Wie fühlen Sie sich mit dieser Lösung“ bringt oft weit aussagekräftigere Ergebnisse hervor als die Frage: „Wie finden Sie diese Lösung?“. Dass emotionale Kompetenz eine entscheidende Voraussetzung darstellt, sich in andere Personen hineinzuversetzen und deren Perspektive zu verstehen, liegt auf der Hand. Bei einem zu starken Mitgefühl kann man allerdings völlig von den Gefühlen des Gegenübers eingenommen und mitgerissen werden und die notwendige Distanz verlieren. Außer in einzelnen Situationen (z. B. Trauer wegen eines Todesfalls) ist dies wenig zielführend.

4.5 Soziale Kompetenzen Unter sozialer Kompetenz wird hier die Gesamtheit der Fähigkeiten verstanden, die in jeglicher Art von sozialer Interaktion (z. B. Gespräche, Zusammenarbeit) eine positive Wirkung entfalten können. Der Mensch ist ein soziales Wesen und grundsätzlich darauf ausgerichtet, sich in eine Gemeinschaft einzugliedern und sich in dieser zu behaupten. Anders als in den Clans der Frühzeit bewegt sich der moderne Mensch in unterschiedlichen sozialen Systemen (z. B. Familie, Freunde, Verein etc.), denen er sich in unterschiedlichem Maße verbunden fühlt. Je nach der Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nimmt er unterschiedliche Anstrengungen in Kauf, um sich den angestrebten Platz zu sichern und zu erhalten. Ausgeschlossensein oder abwertende Erfahrungen verursachen Stress, während positive soziale Interaktionen das Wohlbefinden steigern und glücklich machen. Das Zugehörigkeitsgefühl gehört zu den Grundmotiven und ist – außer bei einzelnen Eremiten – bei allen Menschen mehr oder weniger wirksam (vgl. SCARF-Modell). Es ist derart wichtig, dass in der Psychologie zwischen einer individuellen und einer sozialen Identität unterschieden wird (Giessner & Jacobs, 2015). Bei letzterer steht eben genau die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe im Mittelpunkt. Früher waren dies vor allem die Religion, Mitgliedschaften in Vereinen oder der Arbeitgeber. Diese Aspekte haben mehrheitlich an Bedeutung verloren. So ist beispielsweise die bis vor wenigen Jahren übliche lebenslange Verbindung zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern nur noch ausnahmsweise anzutreffen, obwohl es noch immer einzelne Unternehmen gibt, die mit ihrer starken Kultur verbindend wirken. Allerdings ist die zunehmend feststellbare Ausrichtung an einem Purpose und glaubwürdigen Werten aus Arbeitgebersicht durchaus geeignet, dieses Band künftig wieder zu stärken. In vielen Fällen kann man sich die Personen, mit

4.5 Soziale Kompetenzen

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denen man sich umgibt, zumindest bis zu einem Grad selbst aussuchen. Nur in sehr geringem Maße trifft dies dagegen auf die Arbeitskollegen und -kolleginnen zu. Das heißt, in der beruflichen Praxis treffen Personen mit sehr unterschiedlichen Erwartungen an andere und die gemeinsame Zusammenarbeit aufeinander. Während die einen die Tätigkeit selbst in den Mittelpunkt stellen, dominieren bei anderen die sozialen Bedürfnisse. So kann etwa eine Mutter mit einem kleinen Teilzeitarbeitspensum vor allem etwas Abwechslung vom Alltag und den Austausch mit anderen Menschen suchen. Intrinsisch motivierte Experten wollen dagegen meist eher inspirierende Fachgespräche führen und gemeinsam mit ähnlich passionierten Personen spannende Projekte vorantreiben. Zwei rein sachorientierte Personen können durchaus einen Austausch pflegen, bei dem die persönliche Ebene gänzlich ausgeklammert wird. Ob jemand vor allem beziehungs- oder sachorientiert ist, stellt in der Praxis ein absolut zentrales Unterscheidungsmerkmal dar, viel wichtiger als Geschlecht, Herkunft oder irgendwelche anderen Persönlichkeitsunterschiede. Der gesamte Horizont an sozialen Kompetenzen lässt sich am einfachsten an den entsprechenden Dimensionen verschiedener gebräuchlicher Persönlichkeitsfragebogen aufzeigen: Im NEO-PI-R von Costa und McCrae (nach Ostendorf & Angleitner, 2004) ­verteilen sich die sozialen Kompetenzen auf zwei der „Big-Five-Dimensionen“: 1) Der Faktor „Verträglichkeit“ beinhaltet die Facetten Vertrauen, Freimütigkeit (eine Art aufrichtige Unbeschwertheit), Altruismus, Entgegenkommen, Bescheidenheit und Gutherzigkeit. Die Dimension 2) „Extraversion“ umfasst die Aspekte Herzlichkeit, Geselligkeit und Durchsetzungsvermögen. Im Occupational Personality Questionnaire (OPQ), einem führenden praktischen Persönlichkeitsfragebogen, beinhalten die sozialen Kompetenzen die Hauptdimensionen 1)  Durchsetzung (überzeugend, führend, direkt, unabhängig), 2)  Kontakt (gesellig, anschlussfreudig, selbstsicher) und 3) Einfühlung (zurückhaltend, kooperativ, fürsorglich). Das von Kanning (2009) spezifisch für das Sozialverhalten konzipierte Inventar sozialer Kompetenzen (ISK) umfasst – neben Aspekten der Selbststeuerung, die hier den persönlichen Kompetenzen zugerechnet werden – die folgenden Gesichtspunkte: (1) Perspektivenübernahme: Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, (2) Prosozialität: Hilfsbereitschaft, Solidarität, Fairness, (3) Wertepluralismus: Toleranz und Offenheit für andere Meinungen, (4) Kompromissbereitschaft: Streben nach Interessenausgleich bei Konflikten, (5) Zuhören: Bereitschaft, anderen aufmerksam zuzuhören, (6) Durchsetzungsfähigkeit: Vermögen, die eigenen Interessen durchzusetzen, (7) Konfliktbereitschaft: Bereitschaft, sich Konflikten zu stellen und diese zu lösen, (8) Extraversion: Kontaktbereitschaft und -fähigkeit, (9) Selbstdarstellung: Fähigkeit, bei anderen einen positiven Eindruck zu machen, (10) direkte Selbstaufmerksamkeit: Vermögen, sich selbst wahrzunehmen und zu reflektieren, (11) indirekte Selbstaufmerksamkeit: Fähigkeit, die eigene Wirkung auf andere richtig einzuschätzen, (12) Personenwahrnehmung: Wille, andere zu beobachten, um diese besser zu verstehen.

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Viele der genannten sozialen Kompetenzen werden an anderer Stelle erwähnt (z. B. Bescheidenheit, Selbstsicherheit), andere sind selbsterklärend und brauchen nicht im Detail ausgeführt zu werden (z. B. Geselligkeit, Kompromissbereitschaft). Einige der Aspekte werden als besonders wichtig betrachtet und deswegen im Folgenden näher beleuchtet.

4.5.1 Perspektivenübernahme Die Fähigkeit, sich in die Sichtweisen, Gefühle und Wahrnehmungen anderer hineinzuversetzen, hört sich zunächst harmlos an. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Fähigkeit jedoch als der Kern der Empathie und derjenige Teil, der wirklich einen Unterschied macht. Weil es sich nach meiner Überzeugung um die Königsdisziplin der sozialen Kompetenzen handelt, wird sie hier zuerst besprochen. Die mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln und sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, ist in den Hunderten von mir verfassten Assessment-Berichten mit größter Wahrscheinlichkeit diejenige Eigenschaft, die ich am häufigsten als unzureichend bemängelt habe. Besonders anschaulich zeigt das folgende Indianer-Sprichwort, worum es dabei geht: „Beurteile nie einen Menschen, bevor du nicht mindestens einen halben Mond lang seine Mokassins getragen hast.“ Das Wechseln der Perspektive ist keinesfalls so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn zum einen gilt es, nicht in die Fallgruben der diversen Beurteilungsfehler hineinzutappen, und zum anderen bedarf es dazu einer guten Gesprächstechnik. Die wichtigste ist jedoch die im Zitat angedeutete unvoreingenommene Grundhaltung. Diese ist keinesfalls selbstverständlich, weil jeder Mensch durch seine persönliche Geschichte und seinen spezifischen kulturellen und familiären Hintergrund geprägt ist. So werden die Beobachtungen anderer Personen durch eigene Vorstellungen, was richtig und was falsch ist, was man tun oder zu lassen hat etc., beeinflusst. Sich davon zu befreien, ist nicht ganz einfach. Voreingenommenheit ist also die Regel und Unvoreingenommenheit die Ausnahme. Der Umgang mit Personen, die man immer wieder trifft (z. B. Freunde, Arbeitskolleginnen) ist nicht etwa einfacher, sondern viel schwieriger. Dies, weil man Teil der gemeinsamen Interaktion ist und man deshalb nicht nur dem anderen, sondern immer auch sich selbst begegnet. Herauszufinden, was man selbst, was der andere und was das gemeinsame „Wir“ ist, erfordert die Bereitschaft, genau dies immer wieder präzise zu analysieren, was im Übrigen durchaus anspruchsvoll ist. Die meisten Menschen nehmen sich dafür keine Zeit und verdichten stattdessen eher einige oberflächliche Einzeleindrücke zu einem stereotypen Bild des Gegenübers, wobei sie dazu neigen, an einer einmal gemachten Meinung festzuhalten. So erkennt man unvoreingenommene Menschen auch daran, dass sie die Meinung über jemanden ändern oder neue Facetten an dieser Person erkennen können. Völlig unreflektierte Personen laufen dagegen Gefahr, immer mehr in ein Schwarz-­Weiß-­ Schema zu verfallen, bei dem bei den einen nur die negativen, bei den anderen nur die positiven Seiten gesehen werden. Auch eine völlige Umkehr ist möglich, wenn beispielsweise nach einer Trennung Liebe in Hass umschlägt. Wurden die negativen Eigenschaften des anderen zuerst ausgeblendet, werden nach der Trennung nur noch diese gesehen.

4.5 Soziale Kompetenzen

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Was ist also zu tun? Erstens sollte man sich der eigenen Annahmen über andere Personen bewusst sein und im Alltag immer wieder bewusst beobachten, ob sich diese bewahrheiten. Statt Gewissheiten sollte man bewusst Hypothesen bilden und diese als vorläufig betrachten sowie laufend prüfen und ändern. Es gibt das schöne Bild der vier Forscher, die um einen Elefanten herumstehen und diesen abtasten. Anschließend sind sie davon überzeugt, es mit etwas sehr Unterschiedlichem zu tun zu haben, weil der eine beispielsweise den Rüssel, der andere ein Bein untersucht hat. Will man sich möglichst vorurteilsfrei auf jemanden einlassen, empfiehlt es sich, dass man sich vorstellt, man wäre blind und müsste mit den Händen eine Skulptur abtasten und sich dabei wie die erwähnten Forscher fragen: Was spüre ich da? Was gibt es da? Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied zu einer Statue. Man hat es nicht mit einem leblosen Objekt, sondern einem anderen Menschen zu tun. Man kann also die eigenen Eindrücke verifizieren, indem man diese dem Gegenüber mitteilt und sich die Perspektive des anderen einholt. In der Assessment-Praxis trifft man vergleichsweise oft auf Personen, die alles mit sich selbst abmachen und die sich ihre Meinung über andere im „stillen Kämmerlein“ bilden. Stattdessen sollte man sich nicht scheuen, Fragen zu stellen, die eigene Wahrnehmung zu kommunizieren sowie dem eigenen Bild dasjenige des anderen gegenüberzustellen. Eine leider sehr häufig vorkommende Form der Selbstüberschätzung ist, dass man glaubt, man sei selbst frei von Vorurteilen – das ist schlicht und ergreifend Unsinn. Wie erwähnt, gehört Beurteilen – neben Wahrnehmen und Abspeichern – zu den Grundprozessen des Gehirns, die ständig ablaufen. Wir unterscheiden uns demzufolge nicht im Ausmaß unserer Vorurteile, sondern im Umfang, in dem wir uns unserer Vorurteile bewusst sind. Nicht zuletzt deshalb ist Selbstreflexion so immens wichtig. Tröstlich daran ist, dass es normal ist, bestimmte Mitarbeitende oder Kolleginnen sympathisch und andere weniger sympathisch zu finden. Dieses Thema bildet den Kern der sogenannten Leader-­Member-­ Exchange-Theorie (LMX-Theorie; Northouse, 2019) die sich mit der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter beschäftigt. Wissenswert an diesem Ansatz ist der Umstand, dass Führungskräfte in aller Regel einen Kreis von Vertrauten um sich scharen, wobei sie diese mehr oder weniger bewusst bevorzugen („trusted cadre“), während die anderen Mitarbeitenden tendenziell eher mit einem Trabantenstatus vorlieb nehmen müssen („helping hands“). Mit dieser Tatsache sollte man als Führungskraft sehr bewusst und demütig umgehen, statt sich selbst vorzumachen, man finde alle Menschen gleich sympathisch und könne intuitiv unparteiisch und fair handeln. Wichtig ist Fairness hinsichtlich Aufgabenverteilung, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Es lohnt sich, regelmäßig zu prüfen, ob man bei allen die gleichen Maßstäbe ansetzt oder ob man nicht eher einigen Personen zu unkritisch, anderen zu kritisch begegnet.

4.5.2 Wertepluralismus und „Open-Mindedness“ Der Wertepluralismus hängt stark mit Selbstreflexion und dem Perspektivenwechsel zusammen, weil eine Beschäftigung mit den eigenen Vorurteilen es erleichtert, sich für an-

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

dere Wahrnehmungen, kulturelle Vorstellungen etc. zu öffnen. Je mehr man sich der eigenen Annahmen bewusst ist, desto eher ist man in der Lage, diese als eine mögliche Art, die Welt zu sehen, zu betrachten. Völlig unreflektierte Personen legen einfach ihre eigenen Denkschablonen an und sehen Unterschiede als (negative) Abweichung von dem, was sie selbst als Norm resp. als „normal“ einschätzen. Selbstredend ist der Wertepluralismus bzw. die Offenheit und Toleranz für andere Kulturen, Denkweisen usw. die Grundlage für einen kompetenten Umgang mit Diversität. Dies können Personen aus anderen Generationen, mit anderem Geschlecht oder auch Menschen aus anderen Ländern sein. Bei letzteren ist zu beachten, dass es grundlegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturen gibt, beispielsweise kulturelle Interpretationsmuster oder andere Normen, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten sollte. Im Unterschied zu Ferien in fremden Ländern ist man im Arbeitskontext bis zu einem gewissen Grad gezwungen, sich mit den vorhandenen kulturellen und persönlichen Unterschieden zu beschäftigen. Der Wertepluralismus, also die Offenheit für andere Meinungen oder Wertvorstellungen (vgl. auch Offenheit des Wertesystems im Big-Five-Konzept), ist auch die Grundlage für gelebte und echte Meinungsfreiheit. In vielen westlichen Ländern grassiert seit einigen Jahren ein verheerender gegensätzlicher Trend in Form einer aggressiven „Cancel Culture“, die weniger gegenseitiges Verständnis zwischen verschiedenen Gruppen oder Ansichten fördert als Gräben schafft. Es werden immer neue Opfergruppen identifiziert sowie Denk- und Redeverbote erteilt. Am stärksten wüten die inquisitorischen Hüter einer vermeintlich sozialen Gesinnung ausgerechnet an den Universitäten, an denen eigentlich Toleranz und kritisches Denken gelehrt werden müsste. Weil überall Diskriminierung gewittert wird, grenzen sich immer mehr Splittergruppen oder ganze Bevölkerungsschichten von der Gesellschaft ab. Die Covid-­Impfgegner etwa verhalten sich zwar fraglos unsolidarisch, fühlen sich aber trotzdem durch die – vor allem aufgrund der wegen ihnen notwendigen – Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung unterdrückt. Aus professioneller Sicht entsteht übrigens der Eindruck, dass sich oft gerade diejenigen Personen am stärksten gegen Eingriffe in ihre Selbstbestimmung (z. B. „staatliche Bevormundung“) wehren, die eigentlich am meisten Orientierung durch Regeln benötigen, weil es ihnen an persönlicher Reife fehlt. Aus psychologischer Sicht bewirkt dieser Trend vor allem Ausgrenzung, fordernde „Opfer“ (statt Gestalter) und mangelnde Konfliktfähigkeit. Es handelt sich dabei genau nicht um den Ausdruck einer moralisch wertvollen Grundhaltung oder um Wertepluralismus, sondern viel eher um einen gesellschaftlichen Infantilisierungsprozess, dem dringend Einhalt geboten werden muss. Gleichzeitig zeigt sich darin, dass Leadership als Phänomen gedacht und alle Menschen einschließen muss. Eine reife Persönlichkeit, das heißt eine Leader-Persönlichkeit, definiert sich weder über dogmatische politische oder gesellschaftliche Einstellungen noch über eine wie auch immer geartete Opferrolle. Vielmehr steht bei dieser die persönliche Identität im Sinne eines unverwechselbaren und eigenständigen Profils im Vordergrund. Sie unterscheidet künftig die Leader von den Followern und nicht der Status oder die hierarchische Position. Gleichzeitig kann die Bedeutung der sozialen Identität nicht negiert werden, weshalb es gilt, möglichst viele sinnvolle Gruppen-

4.5 Soziale Kompetenzen

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angebote mit identifikatorischem Potenzial bereitzustellen. Diesbezüglich besonders ergiebig sind Gruppen, in denen sich verschiedene Individuen gemeinsam für eine gute Sache einsetzen – sei es in Form eines Start-ups oder im Rahmen einer gemeinnützigen oder sportlichen Aktivität. Entscheidend ist, dass eine Vision besteht und wirklich gehandelt und nicht nur geredet und gefordert wird. Idealerweise sind diese Voraussetzungen auch in einer normalen Arbeitsgruppe resp. im Unternehmen gegeben.

4.5.3 Altruismus und Hilfsbereitschaft Eine Gesellschaft könnte kaum funktionieren, wenn sich nicht viele Menschen altruistisch verhalten würden, indem sie etwa ehrenamtliche Tätigkeiten wahrnehmen oder benachteiligte Menschen unterstützen. Als Verkörperung des Ideals einer selbstlosen Helferin gilt Mutter Teresa, die sich in Indien über viele Jahre um Obdachlose, Kranke und Sterbende gekümmert hatte. Dass sie für ihren Einsatz mit dem Friedensnobelpreis geehrt und heiliggesprochen wurde, beweist, dass man sich auch ein sehr hohes Ansehen erarbeiten kann, indem man Gutes tut. Gleichzeitig gilt natürlich, dass man mit gemeinnütziger Arbeit naturgemäß nicht reich wird, weil sie schlecht oder gar nicht finanziell honoriert wird. Bemerkenswerterweise tritt Altruismus auch im Tierreich auf (z. B. sich gegenseitig von Parasiten befreien, Nahrung teilen o. Ä.), wobei die beteiligten Tiere weder besonders intelligent noch unbedingt miteinander verwandt sein müssen (Beckoff & Pierce, 2017). Im Rahmen der darwinistischen Lehrmeinung ist dies nicht zu erklären, vielmehr wäre zu erwarten, dass die altruistischen Tiere auf der Strecke bleiben, weil sie einen Teil ihrer Ressourcen für andere „verschwenden“. Da sich kein erkennbarer Gewinn ausmachen lässt, ist das Vorkommen von Altruismus bis heute ein Rätsel geblieben. Beim Menschen wird seit Längerem eine theologisch-philosophische Debatte geführt, ob es sich bei unserer Spezies um ein grundsätzlich altruistisches Wesen handelt. Die Anhänger dieses idealistischen Menschenbilds müssen das in der Realität häufig vorherrschende egoistische Verhalten durch ungünstige Umweltbedingungen erklären, beispielsweise durch falsche Erziehung oder ungünstige sozio-kulturelle Verhältnisse. Die Ausführungen zur dunklen Triade haben bereits gezeigt, dass keinesfalls 100 % der Menschen im Grunde hilfreich und gut sind, sondern dass es auch andere gibt. Hilfsbereitschaft resp. soziale Unterstützung als etwas weiter gefasster psychologischer Fachbegriff beinhaltet gemäß Franzkowiak (2018) die folgenden 5 Bereiche: ( 1) emotionale Unterstützung (Sympathie, Liebe etc.), (2) instrumentelle Unterstützung (z. B. Geld oder Arbeit zur Verfügung stellen) (3) Unterstützung bei der Bewertung und Einschätzung (z. B. Richtigkeit einer Entscheidung bestätigen), (4) informationelle Unterstützung (wichtige Informationen weitergeben), (5) positiver sozialer Kontakt (z. B. Rückhalt, Beziehungssicherheit).

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Bei sozialer Unterstützung handelt sich um einen wesentlichen Bestandteil des OCB resp. des freiwilliges Arbeitsengagement (Wesche et al., 2015), der seit Langem für seine stressmildernden Effekte bekannt ist (Gore, 1981). Zweifellos würde kaum jemand von sich behaupten, überhaupt nicht hilfsbereit zu sein. Aus der eigenen Perspektive ist das vielmehr zweifellos so ziemlich jede und jeder. Und das stimmt auch: Eine sympathische und nahestehende Person unterstützen tatsächlich auch die meisten. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Frage ist nur, reicht das? Und merken diejenigen, die ihre Hilfestellungen tatsächlich nur auf ihren Freundeskreis oder eine bestimmte Seilschaft in der Organisation beschränken, dies auch? Außerdem gibt es bei dieser zweifellos wünschenswerten Eigenschaft sowohl Übertreibungen als auch viel Raum für Missverständnisse. So kann bei jemandem etwa eine narzisstische Helfermotivation vorliegen. Die Hilfeleistungen dienen in diesem Fall eher dazu, das eigene Ego oder Selbstwertgefühl zu stärken, indem man sich dem Hilfebedürftigen überlegen fühlt und diesem gönnerhaft Hilfestellungen zukommen lässt. Problematisch dabei ist, dass die „Bedürftigen“ dadurch infantilisiert und eher in einem Abhängigkeitsverhältnis gefangen als dazu ermuntert werden, die Verantwortung für sich selbst (wieder) zu übernehmen. Auch bei leichten Überausprägungen besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die helfende Person besser weiß, was für das Gegenüber gut ist, als diese selbst. Ein idealtypisches Beispiel aus dem Alltag dafür ist die Frau, die ihrem Ehemann von ihren Sorgen erzählt und eigentlich nur will, dass dieser zuhört. Der aber will das Problem lösen und bietet statt emotionaler Unterstützung instrumentelle Hilfe an. Möglicherweise wird er aktiv und „löst“ für sie das Problem, während sie sich nicht ernstgenommen fühlt. In der Regel ergeben sich aus dieser Konstellation Frustrationen auf beiden Seiten. Echte Hilfsbereitschaft zeichnet sich dadurch aus, dass von den wirklichen Bedürfnissen der Ratsuchenden ausgegangen und die dazu passende Hilfestellung geleistet wird. Dabei sollte der Kontakt auf Augenhöhe stattfinden und die Eigenverantwortung des Hilfesuchenden gestärkt werden. Auf der Seite des Hilfesuchenden kann das Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung auch aus einem niedrigen Selbstwertgefühl herrühren und bewirken, dass jemand stets Zuspruch erwartet und mit kritischem Feedback schlecht umgehen kann. Im betrieblichen Kontext kann dies dazu führen, dass das Umfeld auch bei ungenügenden Leistungen Lob ausspricht, nur damit sich diese Person nicht schlecht fühlt. Weil sich dies negativ auf die Kultur auswirken kann, ist man als Führungskraft gut beraten, auch einer solchen Person reinen Wein einzuschenken und eine etwaige mangelnde Kritikfähigkeit direkt anzusprechen. Bei Erwachsenen ist eine stark defensiv-hilfebedürftige Grundhaltung ein Ausdruck mangelnder Reife und sollte aktiv (oder bei Bedarf therapeutisch) angegangen werden, indem die Bereitschaft und das Vermögen, mehr Verantwortung zu übernehmen, sukzessive gestärkt wird. Grant (2016) unterscheidet die folgenden 3 Mitarbeitertypen: 1) „Giver“, 2) „Taker“ und 3) „Matcher“. Letztere bilden die Mehrheit (ca. 60 %), die sich grundsätzlich dem Prinzip von Geben und Nehmen verschrieben hat. Allerdings verhält sich ein größerer Teil dieser Gruppe opportunistisch, weshalb sie sich je nach erwünschter oder gelebter sozialer Norm resp. Kultur entweder in die gebende oder die nehmende Richtung bewegt. Was die

4.5 Soziale Kompetenzen

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Geber betrifft, hat Grant in seinen Studien herausgefunden, dass sich diese nicht nur am unteren Ende, sondern auch am obersten Ende der Erfolgsskala finden lassen. Das heißt, sie verteilen sich auf die beiden Extremausprägungen, während sie eher selten in der Mitte anzutreffen sind. Die erfolglosen Geber neigen dazu, ihre eigene Arbeit zugunsten der Hilfe für andere so sehr zu vernachlässigen, dass ihre eigene Produktivität leidet. Die erfolgreichen Geber helfen ebenfalls gern, vermögen sich aber auch abzugrenzen und bei Bedarf eigene Bedürfnisse durchzusetzen. Sie leisten einen großen Beitrag zum Teamergebnis und wecken gleichzeitig bei anderen den Wunsch, es ihnen gleichzutun und etwas zurückzugeben. Die Nehmer sind kurzfristig oft sehr erfolgreich, ernten mit ihrem Verhalten aber auch Widerstand oder Ablehnung, weshalb sie – außer in einer toxischen Kultur – meist irgendwann nicht mehr weiterkommen. So ist es beispielsweise logisch, dass ein Team sofort an Produktivität verliert, wenn ihm bei der Beförderungsrunde genau derjenige Kollege vor die Nase gesetzt wird, der die anderen zuvor vor allem ausgenutzt hat. Nehmer weisen oft Merkmale der dunklen Triade auf, viele sind Narzissten, müssen aber nicht unbedingt bösartig handeln. Einige sind einfach davon überzeugt, dass man vor allem nach sich selbst schauen muss, oder sie handeln schlicht gedankenlos. Spannend ist die erweiterte Typologie von Grant (2016), bei der er zusätzlich die Verträglichkeitsdimension (vgl. Big-Five) berücksichtigt und verträgliche bzw. unverträgliche Geber und Nehmer unterscheidet. Die verträglichen Geber und die unverträglichen Nehmer entsprechen mehr oder weniger der stereotypischen Vorstellung, die man mit diesen Menschen verbindet, und brauchen nicht genauer erklärt zu werden. Interessant sind 1) die unverträglichen Geber. Oft handelt es sich dabei um kritische Geister oder Querdenker, denen das Ergebnis und der Lernfortschritt wichtiger ist als oberflächliche Harmonie: Nicht selten leisten sie zentrale Beiträge, die das Unternehmen weiterbringen, werden aber ausgegrenzt, weil sie anderen von den Gruppenmitgliedern vertretenen sozialen Normen nicht entsprechen oder tatsächlich schwierig im Umgang sind. Noch spannender sind die 2) verträglichen Nehmer. Bei diesen handelt es sich insofern um „Mogelpackungen“, als sich ihre Selbstdarstellung und ihr Verhalten oft widersprechen. Sie wissen sich gut zu verkaufen, leisten bei genauerem Hinsehen aber keinen besonderen Beitrag zum Gemeinwohl oder zum Teamerfolg. Dieser Menschenschlag kann beispielsweise im Gewand des sich stets mit besonders sozialen Ansichten profilierenden „Humanisten“ daherkommen. Keinesfalls darf angenommen werden, dass sich die Geber bevorzugt dem Sozialbereich zuwenden, während sich etwa in den Banken nur egoistische Nehmer tummeln. In der Schweiz sind Berufe wie Lehrer oder Sozialarbeiter sehr gut bezahlt, was auch für Nehmer interessant ist. Anders sieht es in den Pflegeberufen aus. Dass sich hier tatsächlich viele echte, idealistische und kaum monetär getriebene Gebende finden, hat sich in der Pandemie eindrucksvoll bestätigt. Im Geschäft kann auch die sympathische, allseits beliebte Kollegin, die vordergründig viel zu einem harmonischen Miteinander beiträgt, in Tat und Wahrheit nur den eigenen persönlichen Vorteil im Blick haben. Um die Scheinkooperativen und Trittbrettfahrer zu entlarven, lohnt sich ein professioneller Blick auf das konkrete Verhalten der betreffenden Personen resp. der einzelnen Teammitglieder. Wie verhält sich ihre tatsächliche Handlungsweise im Vergleich zu ihren Aussagen? Was und

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

wie viel tun sie wirklich? Entscheiden sie sich im Zweifelsfall für ihr eigenes Wohlergehen oder dasjenige der Gruppe? Orientieren sie sich an ihren eigenen oder den übergeordneten Interessen? Übernehmen sie auch unangenehme Tätigkeiten? Sind sie präsent, wenn Mehrarbeit geleistet werden muss, oder betreiben sie vor allem Rosinenpicken? Gelebter Idealismus, beispielsweise in Form eines aktiven Engagements für sozial Schwächere (z. B. Arbeit im Obdachlosenheim) ist hingegen echt sinnstiftend für die Person und gut für die Allgemeinheit. Solche Menschen sind oft sehr zufrieden und mit sich im Reinen. Da denkt man sofort an, aber vermutlich finden sich überall Personen, die mehr oder weniger im Stillen Großes für die Gesellschaft leisten. In Zürich hat beispielsweise ein Pfarrer nicht nur verschiedene Hilfswerke aufgebaut, sondern bis ins hohe Alter die Obdachlosen auf dem gesamten Stadtgebiet an ihren Schafplätzen besucht – ganzjährig und bei jeder Witterung. Ein weiterer wichtiger Aspekt liegt gemäß Grant in der kulturprägenden Wirkung des gezeigten Verhaltens. Seiner Überzeugung nach kann bereits ein einzelner Nehmer ausreichen, um das Gruppenklima in eine unerwünschte Richtung zu entwickeln. Wie dieser Prozess funktioniert, lässt sich am einfachsten anhand des allseits bekannten „Badetuch-­ Liegestuhl-­Problems“ veranschaulichen. Sind in einem Hotel die Liegestühle knapp, werden einige Personen versuchen, sich einen Vorteil zu verschaffen, indem sie frühzeitig und ganztags eine Liege mit ihrem Badetuch in Beschlag nehmen, obwohl sie diese vielleicht gar nicht brauchen. Die Gebenden werden sich zunächst rücksichtsvoll verhalten und die Liegestühle nur bei tatsächlichem Gebrauch für sich in Anspruch nehmen. Machen sie allerdings die Erfahrung, dass sie mit ihrem prosozialen Verhalten zu kurz kommen und gar keine Liege ergattern, sehen sie sich gezwungen, sich an die „Nehmer-Norm“ anzupassen und sich ebenfalls egoistisch zu verhalten. Das Gift des Egoismus stellt leider einen sehr universellen Mechanismus dar. Wenn Kooperation nicht wie bei den Urmenschen oder Urvölkern überlebenswichtig ist, lohnt es sich, ein rücksichtsvolles und gebendes Gebaren durch gemeinsame Abmachungen oder Spielregeln oder  – falls es nicht anders geht  – durch Vorgaben und Bestimmungen einzufordern. Ein anderer Weg besteht in der Selbstorganisation von Teams. Herrscht Leistungstransparenz, das heißt kennen die einzelnen Mitglieder die individuellen Beiträge zum Ergebnis, müssen sich die Nehmer relativ rasch unangenehme Fragen stellen lassen. Dass solche Teams produktiver sind, hat viel damit zu tun, dass die Teammitglieder gemeinsam dafür sorgen, dass die Arbeit fair verteilt wird. Ein Geber in einem Nehmer-Umfeld hat gemäß Grant eine deutlich geringe Wirkung auf die kulturelle Entwicklung. Es ist eher unwahrscheinlich, dass er die Gruppenatmosphäre in eine positive Richtung zu lenken vermag, viel eher ist zu erwarten, dass die gebende Person den anderen einen Teil ihrer Arbeit abnimmt. Weil ihre Hilfsbereitschaft ausgenutzt wird, läuft sie Gefahr, auszubrennen. Selbstaufopferung auf Kosten der eigenen mentalen und physischen Gesundheit stellt generell das größte Risiko für diesen Menschenschlag dar. Aufgrund ihrer großen Verdienste verdienen sie eine besondere Aufmerksamkeit, zumal sie diese nur zu gerne erwidern. Stattdessen wird in der traditionellen Sichtweise die Fähigkeit, andere für die eigenen Zwecke einzuspannen oder sich die attraktiven Arbeiten sichern zu können, positiver be-

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wertet, ja teilweise als Ausdruck von Führungspotenzial missverstanden, obwohl es sich im Grunde nur um Egoismus handelt. Nicht nur die Machiavellisten, sondern auch die meisten Laien würden der Aussage zustimmen, dass man es im geschäftlichen Alltag nur zu etwas bringt, wenn man hauptsächlich für sich selbst schaut. Denn die meisten haben schon gesehen oder erlebt, wie die selbstlosen Mitarbeitenden bei Beförderungen übergangen wurden, während sich diejenigen durchsetzten, die von deren Unterstützung profitierten. Gleichzeitig ist es erstaunlich, dass angenommen wird, dass ausgerechnet jemand, der vor allem die eigenen Interessen im Blick hat, sich in einer Führungsrolle auf einmal für die Mitarbeitenden, einen Bereich oder das Unternehmen einsetzen sollte. Im Assessment erkennt man die Nehmer etwa daran, dass sie vor allem von sich und ihren Leistungen reden oder aber geradezu krampfhaft das Wir und das Teamplay herausstreichen, jedoch vage bleiben, worauf es bei einer guten Zusammenarbeit ankommt. Verträgliche Nehmer nehmen gerne Worte wie Wertschätzung, Toleranz und andere ­ schwer greifbare, aber gut tönende idealistische Begriffe in den Mund, während stärker umsetzungs- und aktionsorientierte Grundwerte wie Fairness, Verbindlichkeit oder Verlässlichkeit in ihren Ausführungen meist keine große Rolle spielen. In den Rollenspielen treten sie unterschwellig oder emotional fordernd und anspruchsvoll auf, kommen aber kaum auf die Idee, dem Gegenüber von sich aus Gegenleistungen anzubieten. Falls ihnen bekannt ist, dass dies in einem Assessment von ihnen erwartet wird – was zunehmend der Fall ist –, gehen sie hauptsächlich von ihren eigenen Vorstellungen und Ideen aus. Grant empfiehlt, Bewerber und Bewerberinnen im Anstellungsprozess danach zu fragen, wem sie in ihrer bisherigen Karriere Gefälligkeiten erwiesen oder wen sie gefördert haben. Seiner Überzeugung nach neigen Nehmer dazu, sich gegen oben anzubiedern und gegen unten zu treten. Deshalb erwähnen sie hauptsächlich Dienste für höherrangige Personen. Gebende hingegen setzen sich auch für gleich oder tiefer gestellte Personen ein und sind bereit, diese ohne eigenen Mehrwert zu unterstützen und fördern.

4.5.4 Durchsetzungsfähigkeit und Zuhören Mit Ausnahme der Bescheidenheit hat kaum eine soziale Kompetenz in der Management-­ Literatur der letzten Jahre eine ähnliche Aufwertung erfahren wie das Zuhören. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sich eine idealtypische Führungspersönlichkeit in veralteten – wenn auch leider immer noch weit verbreiteten – Vorstellungen vor allem durch ein starkes Durchsetzungsvermögen, beispielsweise in Form von eloquenter Redekunst und Überzeugungskraft, auszeichnet. Diesen Ansichten zufolge ist ein Leader vor allem eine Person, die es schafft, ein Team, ein Unternehmen oder eine ganze Nation mittels begeisternder Reden für sich und die eigenen Ideen zu gewinnen (vgl. charismatische Führung). Diese Art von „Leader“ weiß im Extremfall stets am besten, was gut für die Gemeinschaft ist, und braucht die Meinungen anderer nicht zu kennen oder wertet diese womöglich ab – wobei die cleveren Führungspersönlichkeiten durchaus Experten beiziehen. Heute glaubt eigentlich niemand mehr, dass eine einzelne Person die gesamte Komplexität

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besser als alle anderen zusammen verstehen, einordnen und daraus die richtigen Maßnahmen ableiten kann. Vielmehr gründet die moderne Kooperationsvorstellung auf der Idee, dass es eine fähige Führungskraft versteht, auf alle für sie wichtigen Kooperationspartner und Stakeholder zuzugehen und diese sowie deren Anliegen und Standpunkte einzubeziehen. Aufgrund dieser Kenntnisse ist sie dann in der Lage, Sachverhalte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten resp. eine mehrdimensionale Optik einzunehmen. Grundsätzlich gilt, dass die wirklich Weisen sämtlichen Menschen mit der Haltung begegnen, dass diese sie durch ihre Gedanken oder Weltanschauungen ihn irgendeiner Weise weiterbringen können, während die Dummen allen anderen die Welt erklären möchten. Es gibt ihn nicht wirklich, den Alleswisser – nur einige Welterklärer, die sich dafür halten. Und weil dem so ist, lohnt es sich, den anderen zuzuhören. Gesprächstechnisch ist zwischen Zuhörbereitschaft und Zuhörfähigkeit zu unterscheiden. Ersteres hat sehr viel mit der ­diskutierten Haltung zu tun. Außerdem muss man sich schlicht und einfach die Zeit nehmen, irgendwelchen Personen aufmerksam zuzuhören. Wer immer im Stress ist und nur von Aufgabe zu Aufgabe hetzt, wird dies kaum schaffen und dadurch manche Gelegenheit verpassen. Auf die Gesprächstechnik wird an anderer Stelle genauer eingegangen. Selbstverständlich bedeutet das alles nicht, dass man keine eigene Meinung haben und vertreten sollte – im Gegenteil. Wichtig ist vielmehr, dass diese fundiert ist, auf Fakten und überprüfbaren Argumenten basiert und entweder verschiedene Perspektiven in sich vereinigt oder aus nachvollziehbaren Gründen eine bestimmte Sichtweise favorisiert. Eine übersteigerte Durchsetzungsorientierung lässt sich in Assessments relativ leicht erkennen. So werden die eigenen Überzeugungen mit einer solchen Vehemenz vertreten, dass beispielsweise schon mit der Lautstärke demonstriert wird, dass Widerspruch kaum geduldet wird. In den Rollenspielen nehmen solche Personen in der Regel einen zu hohen Redeanteil für sich in Anspruch und stellen kaum Fragen. Das Gegenüber wird nicht selten geradezu überrollt und dessen Schweigen als Zustimmung missverstanden. Eine zu wenig klare Meinung ist oft bei Personen zu beobachten, die sich aus irgendwelchen Gründen nicht festlegen wollen oder können. Das Fehlen eigener Positionen äußert sich oft in Form umständlicher und wenig konkreter Ausführungen. Solche Personen stiften eher Verwirrung und schaffen es nicht, Orientierung zu vermitteln. Eine Leader-­Persönlichkeit hat eine mehr oder weniger klare Vorstellung, was sie von anderen erwartet oder wo sie hinwill, ist aber gleichzeitig in der Lage, ihre Meinung zu ändern, wenn sich die Faktenlage ändert oder bessere Argumente auftauchen.

4.5.5 Kontaktverhalten und Networking Die meisten Menschen schätzen oder brauchen den Austausch mit anderen, es existieren aber große Unterschiede hinsichtlich der Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielt die Extraversion (vs. Introversion). Grundsätzlich ist es so, dass sehr extravertierte Personen aus dem Kontakt zu anderen Energie schöpfen, während introvertierte Menschen ein Zuviel an sozialem Austausch

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eher als anstrengend erleben und zwischendurch Zeit für sich selbst benötigen. Ebenso aus Erfahrung ist allgemein bekannt, dass es einigen Menschen äußerst leichtfällt, auf unbekannte Personen zuzugehen, andere aber dafür große innere Hürden überwinden müssen. Die Assessment-Praxis zeigt, dass sich die Mehrzahl der Menschen in einem Mittelbereich befindet und keine Mühe hat, auf andere zuzugehen, wenn es dafür einen konkreten Grund oder Anlass gibt (z. B. Absprache, Nachfragen bei Kunden). Viele agieren deutlich zurückhaltender, wenn dies nicht der Fall ist. Bei der Kontaktpflege bestehen gemäß Assessment-Praxis zwei idealtypische Beziehungsmuster entlang der bei sämtlichen sozialen Themen relevanten Unterscheidung zwischen Aufgaben- resp. Sach- vs. Beziehungsorientierung. Beziehungsorientierte Personen pflegen ihre Kontakte oft als Selbstzweck und suchen den regelmäßigen Austausch, wobei sie bis zu einem gewissen Grad Wärme und Nähe suchen. Sachorientierte (z. B. Experten) melden sich häufig vor allem, wenn gerade ein Problem zu lösen oder eine Frage zu klären ist. Speziell in diesem Personenkreis haben nicht alle daran Interesse, tiefe Bindungen zu entwickeln. Entweder ziehen sie eher oberflächliche Kontakte im Arbeitskontext vor, oder sie bekunden sogar Mühe mit weichen persönlichen oder emotionalen Themen. Diese gehören für sie oft nicht an den Arbeitsplatz, weshalb sie diesen eher aus dem Weg gehen. Nicht selten erweisen sich gerade die auf den ersten Blick besonders geselligen Personen bei näherer Bekanntschaft als eher oberflächlich. Dass sich trotzdem viele Menschen in ihrer Umgebung nicht nur wohlfühlen, sondern sich auch öffnen, dürfte auch daher rühren, dass die meisten Menschen eine falsche Linearität annehmen und von einem kompetenten oberflächlichen Verhalten auf ein ebensolches auf der tieferen Ebene schließen. Als professioneller Beurteiler geht man tendenziell sogar eher von der gegenteiligen Annahme aus. Wenn sich der launige Erzähler im Rollenspiel auch als empathischer Zuhörer herausstellt, überrascht mich das eher, als wenn dies bei vordergründig ruhigen und abwartenden Personen der Fall ist. Auf jeden Fall sollte man das Vermögen, etwa beim Apéro einen guten Eindruck zu machen, von den Fähigkeiten im Aufbau engerer Bindungen als zwei komplett unterschiedliche Dinge betrachten. In der Praxis ist es nun nicht so, dass man zu allen Personen ein echtes Vertrauensverhältnis benötigt, vielmehr reicht es meist aus, entweder eine Zweckbeziehung oder einen neutralen, primär auf das Erledigen der gemeinsamen Aufgaben ausgerichteten Modus vivendi zu pflegen. Oft ist es aber wichtig, eine wirklich tragfähige Vertrauensbeziehung herzustellen. Aufgrund der überragenden Bedeutung von Vertrauen in den neuen Ansätzen wird dieser Aspekt separat diskutiert. In der Praxis sehen sich viele vor die Anforderung gestellt, internes Networking betreiben zu müssen. Es gilt, sich bekanntzumachen und sich gegenüber höhergestellten Personen in einem guten Licht zu präsentieren. Hier ist es zweifellos ein Vorteil, wenn man sich, das eigene Fortkommen und die eigenen Bedürfnisse so wichtig nimmt, dass man davon überzeugt ist, dass die meisten wichtigen Personen von diesen in Kenntnis gesetzt werden müssen – keine Frage: Ein gewisser Narzissmus ist in dieser Hinsicht bestimmt kein Nachteil. Personen, die zu wenig Selbstmarketing und persönliches Networking betreiben, versuchen oft, sich über gute Leistungen zu empfehlen, was vielerorts leider wenig erfolgversprechend ist. Bei sehr sachorientierten Personen (z. B. Ingenieuren) ist zuweilen die Ein-

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stellung zu beobachten, dass sie meinen, dass nur die Lösung gravierender Sachfragen eine Kontaktaufnahme rechtfertigt. Ebenfalls möglich ist, dass man anderen vielbeschäftigten Personen nicht mit unwichtigen eigenen Themen zur Last fallen möchte. Hat man bereits eine Management-Funktion inne, kommt man an einem bewussten und professionellen Stakeholder-Management in der Regel nicht vorbei. So müssen etwa wichtige Themen auch auf informellem Wege vorangetrieben werden. Es gilt, Personen mit ähnlichen Interessen zu finden resp. Verbündete für eigene Vorstöße zu gewinnen, Koalitionen zu bilden und anderes mehr. Keinesfalls reicht es aus, sich auf den Besuch der Geschäftsleitungssitzungen zu fokussieren. Oft werden die relevanten Entscheidungen im Grunde schon vorher gefällt. Diese Art von Networking bedarf außer einer klaren Vorstellung hinsichtlich der eigenen Ziele und einer effektiven sowie adressatengerechten Kommunikation eigentlich keiner besonderen sozialen Fähigkeiten. Vielmehr kann es mittels einer Stakeholder Map auf recht systematische Weise betrieben werden. Man muss sich vor allem überlegen, mit wem man in welcher Häufigkeit einen Austausch benötigt und welche Themen man dann besprechen möchte. Es empfiehlt sich allerdings, nicht nur Meetings zu vereinbaren, sondern auch wichtige Gespräche in einem informellen Rahmen zu führen (z. B. Lunch). Außerdem sollte man nebenbei versuchen, mehr über das Gegenüber zu erfahren, um die persönliche Vertrautheit zu steigern, was sich wiederum positiv auf die Vertrauensbildung auswirkt. Eine Beziehung zu vertiefen, hilft in den meisten Fällen.

4.5.6 Konfliktfähigkeit Ohne Zweifel bevorzugen die meisten Menschen eine konfliktarme Umgebung, und kaum jemand würde behaupten, dass Konflikte Spaß machen oder dass man solche mit Freude anzettelt. Selbst die Intriganten achten darauf, aus der Schusslinie zu bleiben, und versuchen eher, Zwietracht zwischen anderen zu säen, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen. Es ist selbstverständlich, dass die meisten Menschen zugleich zumindest ahnen, dass eine jederzeit harmonische und ungetrübte Umgebung eine Illusion darstellt – sprich, dass Konflikte notwendigerweise auftreten. Die meisten Führungskräfte im Assessment haben sich mit diesem Thema zuvor schon in irgendeiner Weise auseinandergesetzt, Kurse besucht oder Bücher darüber gelesen. Ein in der entsprechenden Literatur besonders beliebtes Konzept ist das Konflikteskalationsmodell von Glasl (2013), welches in insgesamt 9 Schritten einen idealtypischen Prozess einer eruptiven Konfliktdynamik beschreibt: Stufe 1 (Win-win): 1) Konflikte verhärten sich: Standpunkte und Spannungen entstehen. 2)  Die Debatte wird zu Polemik und bewirkt eine zunehmende Polarisierung. 3)  Es kommt zu ersten Handlungen mindestens einer Konfliktpartei. Das heißt, es wird jetzt zur Tat geschritten. Stufe 2 (Win-lose): 4) Koalitionen werden gebildet: Es geht nicht mehr um das Thema, sondern um den Sieg über die Gegenpartei. 5) Die eigene Person oder Gruppe wird herauf-, die anderen werden herabgesetzt. 6) Um Druck zu machen, werden Sanktionen und Ultimaten gesetzt.

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Stufe 3 (Lose-lose): 7)  Man will vor allem der gegnerischen Partei Schaden zufügen. 8) Es wird versucht, die Koalitionen der Gegenpartei zu sprengen, die Sprache wird zunehmend aggressiver. 9) Totale Konfrontation ohne Rückzugsmöglichkeiten; um dem „Gegner“ zu schaden, wird im Extremfall der eigene Untergang in Kauf genommen. Auf der Stufe 1 ist ein Konflikt mit geeigneten Methoden noch lösbar, während auf Stufe 2 eine Partei, auf der Stufe 3 beide Parteien als Verliererinnen aus dem Konflikt hervorgehen. Bei unüberbrückbar scheinenden Differenzen wird in der Regel die Unterstützung Dritter in Anspruch genommen (z. B. Mediation). Auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene lässt sich seit einiger Zeit eine zunehmende Radikalisierung feststellen. Unterschiedliche Konfliktparteien stehen sich mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber (z. B. Covid-Leugner vs. geimpfte Personen), wobei sie weder an gegenseitiger Verständigung noch an einer wirklichen Lösung interessiert zu sein scheinen. Vor allem die Vereinigten Staaten vermitteln momentan das Bild einer tief zerrissenen Gesellschaft. Wo das hinführt und ob die entstandenen Gräben wieder zugeschüttet werden können, scheint kaum abschätzbar. Gefragt ist Healing im Sinne des Servant Leadership sowie eine generell verbesserte Konfliktkultur mit dem Ziel, sich zumindest wieder gegenseitig zuzuhören. In der Assessment-Praxis wird nur selten von völlig aus dem Ruder verlaufenen Streitereien berichtet. Es handelt sich dabei eher um extreme Ausnahmen, weshalb der Fokus im Folgenden auf die alltäglichen Konflikte gelegt wird. Grundsätzlich sind Konflikte in der Regel Ausdruck gegensätzlicher Ziele resp. unterschiedlicher Interessen oder Erwartungen oder haben persönliche Ursachen. Sehr oft geht es bei letzterem um unterschiedliche Wertvorstellungen oder Persönlichkeitsunterschiede. In einem einfachen Fall sind beispielsweise Konflikte zu erwarten, wenn eine sehr ordentliche Person auf eine trifft, die es mit Reinlichkeit nicht so genau nimmt. Im Geschäft sind sachliche Zielkonflikte (z. B. zwischen verschiedenen Abteilungen) an der Tagesordnung. Mit diesen konstruktiv umzugehen und tragfähige Lösungen zu finden, gehört zu den zentralen Managementaufgaben. Idealerweise geschieht dies auf eine kompetente und konstruktive Weise, ohne unnötig Porzellan zu zerschlagen oder Ressentiments oder Widerstand zu provozieren. Hinsichtlich der individuellen Konfliktfähigkeit ist zunächst festzuhalten, dass niemand als perfekter Konfliktlöser geboren wird. Es handelt sich um eine Fähigkeit, die man sich aneignen kann und sollte, indem man laufend daran arbeitet. Im frühen Erwachsenenalter sind die meisten Menschen vom Konfliktstil in ihrem Elternhaus geprägt. Wurden Konflikte offen ausgetragen oder alles unter den Teppich gekehrt? Gab es womöglich dauernd Streit? Wurde den Kindern erlaubt, ihre Bedürfnisse anzumelden und durchzusetzen oder nicht? Wurden Grenzen gesetzt oder nicht? Lassen sich im Coaching Schwierigkeiten im Umgang mit Konflikten feststellen, lohnt es sich, sich ein Bild der Verhältnisse im Elternhaus zu verschaffen, weil sie einen Teil der Basis der Konfliktfähigkeit bilden. Der andere Teil ist natürlich das Temperament. Es gibt Personen, die rasch emotional werden und sich beispielsweise schon über Kleinigkeiten aufregen, während andere von Natur aus ruhiger sind und sich im Extremfall höchstens in Ausnahmesituationen zu emotionalen Reaktionen hinreißen lassen. In der Assessment-Praxis hat sich zudem herausgestellt, dass es besonders wichtig ist, ob und wie sehr jemand Person und Sache trennen kann. Von größ-

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ter Bedeutung ist auch hier das Vermögen, die Perspektive wechseln zu können. Ferner spielen Aspekte wie Kommunikationsgeschick und die Haltung gegenüber Konflikten eine nicht zu unterschätzende Rolle, vor allem wenn sich Konflikte aus eigentlich vermeidbaren Missverständnissen entwickeln. Wer sich in die Sicht der anderen hineinversetzen kann, kann Konflikte nachhaltiger lösen. Gemäß Herzlieb (2008) umfasst Konfliktfähigkeit die folgenden 4 Kompetenzen: 1 ) Unnötige Konflikte vermeiden. 2) Konflikte frühzeitig ansprechen. 3) Konflikte konstruktiv klären. 4) In nicht unmittelbar lösbaren Konflikten handlungsfähig bleiben. „To know which fight to pick“ ist eine bei Führungskräften weit verbreitete Haltung im Umgang mit Konflikten. Dabei überlegt man sich, ob ein bestimmtes Anliegen einen möglichen Konflikt wert ist oder nicht. Unwichtige Angelegenheiten oder kleine Kränkungen dürfen und sollen auch einmal einfach hingenommen und abgehakt werden, während gravierende Themen angesprochen werden müssen. Alle Konflikte kosten Energie und Zeit, weshalb man sich und andere nicht mit unnötigen Kleinkriegen belasten sollte. Grundsätzlich zeigt die Praxis, dass man eher Konflikte hat, wenn man – vor allem auf eine unflexible, sture oder dominante Weise – für gewisse Themen einsteht oder wenn man sich und die eigenen Interessen generell zu wichtig nimmt. Letzteres kann allerdings auch bewirken, dass man von seinem Umfeld als anstrengend wahrgenommen wird, sodass es sich die anderen zweimal überlegen, ob sie sich auf den Konflikt mit so jemandem einlassen wollen. Diese Nachgiebigkeit gibt der streitbaren Person das Gefühl, im Recht zu sein, und vergrößert deren Handlungsspielraum auf Kosten der anderen. Besser ist es, diese auf ihr stures oder eigensinniges Auftreten anzusprechen und eine Verhaltensänderung einzufordern. Ob Konflikte tatsächlich angesprochen werden oder nicht, hängt vor allem von der Konfliktbereitschaft der einzelnen Person ab. Sehr harmonieorientierte Menschen vermeiden Konflikte, wenn immer möglich. Entweder aus Angst oder weil sie nicht wissen, wie sie vorgehen wollen, schieben sie die Konfliktlösung auf die lange Bank, selbst wenn ihnen klar ist, dass sich das Konfliktthema nicht von selbst erledigen oder sich die Spannung nicht auf einmal einfach in Luft oder Wohlgefallen auflösen wird. Relativ häufig zu beobachten ist der Glaubenssatz, dass Konflikte die Beziehung schädigen. Oft weniger in Betracht gezogen wird, dass man unzufrieden wird oder gar an Selbstachtung verliert, wenn man immer nachgibt oder sich zu viel gefallen lässt. Die Erfahrungsberichte in den Assessments und Coachings zeigen, dass ein kompetent ausgetragener Konflikt unter reifen, erwachsenen Personen kaum je die befürchtete nachhaltige Beziehungsschädigung bewirkt. Vielmehr sind eine Aussprache und die Klärung der gegenseitigen Wahrnehmungen und Erwartungen eine Chance, die Beziehung auf ein höheres Niveau zu heben. Eine konstruktive Weise, Konflikte oder deren Eskalation zu vermeiden, besteht darin, dass man sich selbst reflektiert und herausfindet, welchen Anteil man selbst zur Entstehung von Konflikten leistet und worauf man besonders empfindlich reagiert. Besitzt man diese Be-

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wusstheit, wird man automatisch gelassener, weil man kaum mehr überrascht wird oder rechtzeitig reagieren kann, wenn die eigene Anspannung steigt. Entscheidend ist auch das Menschenbild beziehungsweise die Interpretation des Verhaltens der anderen. Mit einer misstrauischen Haltung oder der Vorannahme, dass diese tendenziell boshaft oder egoistisch handeln, wird es schwieriger, einen Konflikt gütlich zu lösen, als wenn man den anderen Personen prinzipiell positive Absichten unterstellt und etwa vermeintliche Kränkungen durch deren Ungeschicklichkeit erklärt. Als Assessment-­ Spezialist wird man nicht nur hellhörig, wenn jemand ständig Konflikte hat, sondern auch dann, wenn jemand angibt, nie in Auseinandersetzungen mit anderen verwickelt zu ­werden. Es gibt tatsächlich einzelne Personen, bei denen letzteres Ausdruck einer hohen Konfliktfähigkeit ist, weil sie ein mögliches Konfliktpotenzial frühzeitig erkennen und sofort diplomatisch aus der Welt schaffen. Häufiger hat man es allerdings mit einer unreflektiert harmonieorientierten Person zu tun. Denn der einfachste Weg, keine Konflikte zu haben, besteht darin, keine Reibungsflächen zu bieten und bei den anderen nicht zu genau hinzusehen, d. h. persönliche Unterschiede oder störendes Verhalten einfach zu übersehen. In vielen Fällen wird diese ausweichende Haltung von den Betreffenden als Toleranz schöngeredet. Die unnötigsten, jedoch nicht selten heftigsten Konflikte entstehen aus dem Rechthabenmüssen. Rechthaberei wider die Faktenlage oder bei Fragen, bei denen es eigentlich gar kein Richtig oder Falsch gibt, gehört zu denjenigen Themen, bei denen es auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene einer Entwicklung in Richtung einer offeneren, wirklich toleranten Haltung bedarf. Eine besonders wichtige Feststellung in Zusammenhang mit Konflikten ist, dass es sich beim vordergründig relevanten Konfliktgegenstand nicht selten nur um ein – bewusst oder unbewusst – vorgeschobenes Thema handelt, während die tatsächliche Konfliktursache im Grunde eine ganz andere ist. Das eine liegt auf dem Tisch, das andere ist gewissermaßen darunter verborgen. In der Regel liegt das eigentliche Problem tiefer, oder es handelt sich um ein unausgesprochenes persönliches Thema. Ein konstruktiver und nachhaltig wirksamer Umgang mit Konflikten besteht insofern darin, Gespräche so zu führen, dass auch die Wahrnehmungen und Gefühle der anderen Personen oder Parteien genau erfragt werden. Erst wenn es gelingt, sich mehr oder weniger vollständig in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen, wird echtes gegenseitiges Verständnis möglich, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass man tragfähige Lösungen findet. Bekannt ist der Ansatz aus dem Harvard-Konzept (Fisher et al., 2018), bei dem die wirklichen Bedürfnisse hinter den vorgetragenen Positionen herausgefunden werden sollen, weil sich dadurch völlig neue Lösungsräume eröffnen können. Die Erfahrung zeigt, dass die Hürde, ein schwieriges, potenziell emotionales Gespräch führen zu müssen, für viele Menschen ziemlich hoch ist. Bemerkenswerterweise findet sich in den Assessments eine vergleichsweise große Zahl von Personen, die keinerlei Mühe haben, mit Fakten belegbare Leistungsthemen oder nachweisbare Regelverstöße angemessen konfrontativ und direkt anzusprechen, jedoch Konflikten ausweichen, sobald es um nicht klar geregelte, „weiche“ Themen geht. Dabei handelt es sich meistens um bestimmte verhaltensbezogene Aspekte (z. B. störendes Verhalten). Oft ist der Hintergrund, dass man der anderen Person nicht zu nahetreten will,

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nicht selten deutet dies allerdings auch darauf hin, dass man die eigenen Erwartungen an andere zu wenig genau kennt. Man ist unzufrieden, weil man eigene, einem selbst allenfalls teilweise bewusste oder gar diffuse implizite Erwartungen verletzt sieht. Wenn man genau weiß, was man von sich und anderen erwartet, vertritt man dagegen eine klare Linie, die – falls die Erwartungen explizit formuliert werden – auch proaktiv konfliktvermeidend wirkt, weil zum Beispiel die Grenzen klar sind. Der Alltag zeigt gleichzeitig, dass Konflikte auch aus Nichtigkeiten oder kleinen Missverständnissen entstehen können. Ein falsches Wort, zum Beispiel Begriffe, die anders verwendet oder verstanden werden, oder ein als dominant oder abwertend interpretierter Gesichtsausdruck können unter Umständen ausreichen. So reagieren die meisten Menschen allergisch auf „Warum-Sätze“ („Warum hast du dieses oder jenes getan?“), weil man sich dadurch wie ein Kind behandelt fühlt resp. an die Kindheit erinnert wird. Der Satz: „Aus welchen Gründen hast du das gemacht?“ heißt im Grunde dasselbe, löst aber eine völlig andere Reaktion aus. Denn diese Formulierung suggeriert, dass sich der andere bei dem, was er gemacht hat, etwas überlegt hat. Dadurch fühlt er sich ernst genommen. Weil wir alle keine Übermenschen sind, unterlaufen uns allen dann und wann Bemerkungen, die Irritationen hervorrufen. Idealerweise erkennt man dies an der Reaktion des Gegenübers und spricht es sofort an. Falls dies nicht der Fall ist, kann auf das folgende Phasenmodell zur kooperativen Konfliktbewältigung von Berkel (2002) zurückgegriffen werden. Dabei geht es um die Bereinigung eines Konflikts, der bereits stattgefunden hat, und somit um „Healing“ im kleinen Maßstab. Wie erwähnt, lohnt es sich schon deshalb, Missverständnisse zeitnah gemeinsam aufzuarbeiten, weil dadurch die Bildung von bleibenden unguten Gefühlen auf beiden Seiten oder eine sich weiter verschlechternde Beziehung verhindert werden kann. • Schritt  1: Erregung kontrollieren/eigene Selbstklärung (Keller, 2004): Hier geht es darum, sich mit sich selbst zu beschäftigen, das bisher Geschehene zu analysieren und emotional zu verarbeiten. • Schritt 2: Vertrauen schaffen/Situationsklärung: Indem man sich dem Konfliktpartner offenbart, wird Vertrauen geschaffen. Bei der gemeinsamen Situationsklärung steht die wertfreie Informationssammlung im Mittelpunkt. Dabei werden die Streitthemen, die Gefühle und die Bedürfnisse ausgetauscht. • Schritt 3: Offen kommunizieren: Sofern alle Parteien an einer Lösung interessiert sind, wird in dieser Phase das Gemeinsame und das Trennende identifiziert. Zudem werden die Wünsche und Erwartungen für die Zukunft geäußert. • Schritt 4: Problem lösen: Es werden Lösungsansätze formuliert, Kompromisse geschlossen oder gegenseitige Zugeständnisse gemacht. • Schritt 5: Maßnahmen festlegen/Vereinbarungen treffen: Durch Abmachungen hinsichtlich konkreter Folgemaßnahmen wird Verbindlichkeit hergestellt. Die Vereinbarungen werden klar festgelegt und können auch Regeln für den weiteren Umgang miteinander beinhalten.

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• Schritt 6: Persönliche Verarbeitung: Reflexion und Verarbeitung der noch vorhandenen Gefühle. Wesentlich ist vor allem, dass man sich zuerst allein mit sich und dem eigenen Anteil auseinandersetzt und dass man im Gespräch die ganzen Hintergründe beleuchtet. Daraus sollen konkrete Erwartungen an die Zukunft abgeleitet werden. Möglichst rasch einen (falschen) Konsens oder oberflächliche Lösungen zu finden, ist hingegen nicht ratsam. In den Assessments wird der Umgang mit Konflikten sowohl in den Interviews als auch in speziellen Simulationen erfasst. Die wichtigsten Erkenntnisse aus Hunderten Assessments lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Fazit zum Konfliktbewältigungsverhalten

(1) Konfliktfähigkeit ist keine angeborene Fähigkeit, sondern wird im Laufe des Lebens erlernt oder auch nicht. Extrem konfliktscheue oder übermäßig streitlustige Personen werden von ihrem Umfeld meist bis zu einem gewissen Grad gezwungen, sich in dieser Hinsicht zu entwickeln, vor allem wenn sie Karriereambitionen hegen. Wer sich entweder nie zur Wehr setzt und immer nachgibt oder aber zu konfrontativ agiert, hat es in einer Gemeinschaft auf die Dauer schwer. (2) Sehr harmoniebedürftige Personen versuchen, Konflikten möglichst aus dem Weg zu gehen, obwohl sie eigentlich wissen, dass sich diese meist nicht von selbst lösen. „Haudegen“ oder cholerische Typen beschwören dagegen zu viele Konflikte herauf, wenn sie ihre Emotionen ungefiltert einbringen oder ihre Überzeugungen ohne Rücksicht auf Verluste vertreten. Zum Teil nehmen diese Menschen Konflikte gar nicht als solche wahr oder erwarten von anderen, damit umgehen zu müssen und zu können. Im Konfliktfall ist es jedoch besonders wichtig, den Anstand zu wahren. (3) Unreflektierte Personen können oft nicht richtig einschätzen, was sie mit ihren Taten oder Worten bei anderen auslösen. Besonders unangenehm sind Personen, die selbst sehr empfindlich sind, sich anderen gegenüber aber unsensibel verhalten. Beim Vermögen, Person und Sache zu trennen, bestehen große Unterschiede. Einige Personen nehmen fast alles persönlich, andere fast nichts. Extrem sachliche Personen können sich generell schlechter in gefühlsbezogene Inhalte hineinversetzen, während emotional Instabile Mühe haben, bei emotionalen Themen sachlich zu bleiben. Ohne Einbezug der Gefühlsebene lassen sich Konflikte nur selten wirklich lösen. (4) Ebenfalls sehr unterschiedlich ausgeprägt ist das Vermögen, die Perspektive zu wechseln. Oft wird implizit von sich auf andere geschlossen resp. angenommen, dass die anderen gleich denken und fühlen wie man selbst. Nicht nur Vorurteile, sondern jegliche Art von Vorannahmen und nicht geprüften Annahmen können schädlich sein. Einige machen alles mit sich selbst ab und investieren viel Zeit, um sich zu fragen, was wohl in den anderen Menschen vorgehen

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mag. Da die eigenen Antworten auf diese Frage ohnehin meist falsch sind, ist es besser, die anderen einfach direkt zu fragen. Die meisten Menschen schätzen es, wenn man sich für sie und ihre Ansichten interessiert. (5) Speziell problematisch sind implizite Erwartungen an andere. Bei unausgesprochenen Bedürfnissen sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Gleichzeitig ist das Gegenüber über die unerwartet heftige Reaktion erstaunt, weil es ja nicht wissen konnte, dass es etwas falsch macht. Erwartungen sind explizit zu formulieren. Das Ausdrücken der eigenen Erwartungshaltung zwingt einen selbst zur Klärung derselben und bewirkt eine konsistente persönliche Linie. Für Führungskräfte ist dies ein Muss, für alle anderen eine empfehlenswerte Strategie zur Vermeidung von unnötigen Konflikten. Die Mehrheit schätzt es, wenn sie bei jemandem wissen, woran sie sind. (6) Oft wird um den heißen Brei geredet, indem störende Sachverhalte entweder umständlich umschrieben, nur angerissen oder bagatellisiert werden, sodass die Botschaft und speziell deren Wichtigkeit oder Dringlichkeit nicht korrekt vermittelt wird. Möglich ist auch ein zu forsches oder direktes Vorgehen oder ein Schwall von Vorwürfen. Beides ist nicht zielführend. Konfliktträchtige Themen müssen klar und bestimmt, jedoch auf eine das Gesicht wahrende Weise angesprochen werden. Wichtig ist eine partnerschaftliche Haltung, damit das Gespräch auf Augenhöhe stattfindet. Nicht nur ein zu dominantes, sondern auch ein überfürsorgliches Auftreten ist zu vermeiden. (7) Einigen Leuten fehlt der Mut, anderen unerfreuliche Nachrichten zu übermitteln. Stattdessen versuchen sie, andere dafür einzuspannen, oder sie beklagen sich bei Dritten. Andere wähnen sich in einem Opferstatus und deshalb immer im Recht. Solche Personen erwarten, dass immer die anderen auf sie zukommen. Nicht selten beschweren sich Mitarbeitende bei den Vorgesetzten über andere, statt zuerst selbst das Gespräch mit dem Kollegen zu suchen. Von einer reifen Persönlichkeit darf erwartet werden, dass sie zumindest kleinere Konflikte selbst lösen kann. Das kann und muss man lernen. Führungskräfte sollten dies auch explizit von Mitarbeitenden erwarten. (8) Besonders wichtig ist, dass Lösungen gemeinsam gefunden werden und die Verantwortung für die Problemlösung geteilt wird. Konfliktscheue Personen neigen oft dazu, vorauseilend oder im Gespräch zu viel Verantwortung auf sich zu nehmen, um nicht anzuecken. Andere gehen davon aus, nichts zur Situation beigetragen zu haben und deshalb auch nichts unternehmen zu müssen. Oft anzutreffen ist auch „Solution-­Jumping“. Man versucht, möglichst rasch eine Lösung zu finden, und schlägt untaugliche oder oberflächliche Ansätze vor. Nachhaltige Lösungen basieren auf gegenseitigem Verständnis und der Kenntnis der Wünsche und Erwartungen des Gegenübers. (9) In der Regel ist ein Konflikt ein dynamisches Geschehen, zu dem mindestens zwei Parteien etwas beitragen. Aus der Sicht der einen ist aber meist der jeweils andere allein schuld an der Situation, und die eigenen Aktivitäten sind nur eine angemes-

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sene Reaktion auf diejenigen des anderen. Reife Persönlichkeiten gehen davon aus, dass sie auch selbst einen Beitrag zum Konfliktgeschehen leisten und versuchen, den eigenen Anteil zu verstehen und Veränderungen bei sich vorzunehmen. Dies macht es auch einfacher, von den anderen Veränderungen einzufordern. (10) Die wichtigste Erkenntnis ist, dass man von vornherein verhindert, dass sich etwas aufstaut, indem man Konflikte oder Spannungen frühzeitig anspricht und, wenn möglich, löst. Eine der zentralen Kompetenzen im Umgang mit vergangenen Konflikten oder erlittenem Unrecht (z. B. traumatischen Kindheitserinnerungen) besteht im Verzeihen resp. in der Vergebung. Dies mag spirituell klingen, dient aber vor allem der eigenen Psychohygiene. Gefühle wie Hass oder Neid entfalten langfristig vor allem bei den Betroffenen selbst eine toxische Wirkung, indem sie diese innerlich zerfressen. Man sollte also aus Eigeninteresse keinen Groll auf andere ­kultivieren.

4.5.7 Kritik- und Feedback-Fähigkeit Kritikfähigkeit stellt eine zentrale Voraussetzung für einen zielführenden Umgang mit Konflikten dar. Sie umfasst sowohl das Vermögen, Kritik annehmen, als auch Kritik konstruktiv adressieren zu können. Auch diese Eigenschaft ist nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Bei einem großen Schweizer Unternehmen wird der „Kritikfähigkeit“ ein so großes Gewicht beigemessen, dass sie in dessen Kompetenzmodell eine eigenständige Dimension bildet. Seit einigen Jahren ist eine ausgeprägte Sensibilisierung für emotionale Aspekte und einen wertschätzenden Umgang im Gange. Früher wurde der Ausdruck persönlicher Verletztheit nicht selten mit Aussagen in der Art von „Jetzt stell dich mal nicht so an“! „Seien Sie nicht so empfindlich!“ oder „Nehmen Sie nicht immer alles gleich persönlich!“ quittiert, was für die Betroffenen mit einer zweiten Herabsetzung verbunden war. Selbst klar diskriminierende Aussagen wurden unter Umständen toleriert oder bagatellisiert. Bis zu einem gewissen Grad war dies auch darauf zurückzuführen, dass in klassischen Unternehmen ein Menschenbild vertreten wurde, das primär auf Vernunft und Einsicht basierte. Im Maschinenparadigma haben Emotionen keinen Platz, und es wird ein Führungsideal gepflegt, bei dem Souveränität oder Professionalität mit (übersteigerter) Selbstkontrolle und dem Unterdrücken gefühlsmäßiger Regungen verwechselt wird. Unterdessen hat die Zunahme an narzisstischen Tendenzen eine Pendelbewegung in die Gegenrichtung bewirkt. Im Extremfall soll auch bei gestandenen Erwachsenen jede kleinste subjektive Verletzung als potenziell ernsthafte Bedrohung des Selbstwertgefühls ernstgenommen werden, wobei als Maßstab die individuelle Wahrnehmung der Betroffenen gilt. Auf den ersten Blick mag dies sinnvoll und modern erscheinen, in der Praxis ist es allerdings meist so, dass überempfindliche Personen in der Regel vor allem unfähig sind, Kritik anzunehmen. Nicht selten handelt es sich um Narzissten, die auch mit gerechtfertigter sachlicher Kritik nicht umgehen können. Entweder verfallen sie in umständliche Rechtfertigungen, gehen in den Gegenangriff über oder sind beleidigt. Teilweise fehlt

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auch das Vermögen, erlittene Zurückweisungen zu verarbeiten. So kommt es vor, dass Personen im Assessment von einer weit zurückliegenden, nicht traumatisch erscheinenden Kränkung (z. B. nicht befördert worden zu sein) berichten, als ob sie gestern stattgefunden hätte. Im Privatleben empfiehlt es sich, um solche Menschen einen Bogen zu machen, da es sich in der Regel um Energiefresser handelt, die in einer Opferhaltung verharren und von anderen stets Rücksicht verlangen, aber kaum etwas zurückgeben. Bilden solche Personen im geschäftlichen Kontext eine starke Minderheit oder gar die Mehrheit, wird eine offene Feedback-Kultur im Grunde verunmöglicht. Zu erwarten ist vielmehr eine Scheinharmonie, bei der man sich im Grunde permanent in einem Minenfeld bewegt. Ein absolut konfliktvermeidendes Klima wirkt wie ein geschlossener Deckel auf dem Kochtopf und verursacht entweder ein passiv-aggressives Reizklima oder eine Kultur, in der vieles verschwiegen und unangenehme Gefühle in sich hineingefressen oder nach Hause getragen werden. Im besten Fall können auf der Sachebene gewisse Verbesserungen erzielt werden, die extrem produktive „Lernzone“ von High-performing Teams (Hoffmann & Hanisch, 2021) kann ohne eine auch die Fähigkeiten und Persönlichkeit der Mitglieder einbeziehende, ehrliche Feedback-Kultur aber nicht erreicht werden. Beim Feedback gilt, dass es prinzipiell besser ist, womöglich mal einen Fehler zu machen und diesen zu korrigieren, als nur ja nie anecken zu wollen. Entwicklung oder gemeinsame Lernprozesse sind ansonsten kaum möglich. Diese bedürfen einer konstruktiven Feedback-­Kultur vor dem Hintergrund von psychologischer Sicherheit. Da Kritikfähigkeit geübt und erlernt werden kann, besteht eine pragmatische Lösung für den geschäftlichen Kontext schlicht und einfach darin, dass man von allen erwartet, sich ein Minimum an Kritikfähigkeit anzueignen, das heißt, kritische, für die Zielerreichung hilfreiche Rückmeldungen lernbereit annehmen zu können. Dazu nicht in der Lage zu sein, ist Ausdruck mangelnder Reife und gehört insofern bearbeitet. Eine offene und ehrliche Feedback-Kultur ist künftig vermehrt gefordert. Ratschläge zum korrekten Geben von Rückmeldungen, die sogenannten „Feedback-­ Regeln“ haben die meisten Führungskräfte schon mindestens einmal gehört. Sie sind einfach, logisch und leicht zu behalten. Wie bei allen kommunikativen Themen besteht die Crux allerdings in der korrekten Anwendung im stressigen Alltag. Vor allen Dingen muss man bereit sein, sich dafür Zeit zu nehmen. (1) Feedback geben: Zentral ist die WWW-Formel (Wahrnehmung, Wirkung, Wunsch). Zunächst wird sachlich, neutral und ohne Bewertung der anzusprechende Vorfall geschildert (Wahrnehmung). Die Angaben sollten korrekt und überprüfbar sein. Unter Wirkung werden die dadurch ausgelösten eigenen Eindrücke, Gedanken und Gefühle etc. dargestellt, bevor unter Wunsch die Erwartungen an das künftige Verhalten aufgezeigt werden. Alternativ kann auch die weitgehend identische Formel FEZ (Fakten, Emotionen, Zukunft) benutzt werden. Wichtig ist ferner, dass Feedback konkret und verhaltensbezogen formuliert wird, während Persönlichkeitszuschreibungen und entsprechende Interpretationen zu unterlassen sind (z. B. „Du hast dieses oder jenes gesagt/gemacht“, statt „Du bist so und so“). Sehr wichtig ist auch, dass Feedback zeitnah erfolgt und in „Ich-Botschaften“ ausgedrückt wird (z. B. „Ich wünsche mir …“, statt „Du musst oder sollst …“).

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(2) Feedback annehmen: Zuhören, Fragen stellen und sich keinesfalls rechtfertigen. Es braucht Mut, kritisches Feedback zu geben. Die Feedback-Gebende sollte dafür gewürdigt, das Feedback als Geschenk betrachtet werden. Es handelt sich um einen Anstoß, sich zu entwickeln.

4.5.8 Vertrauensfähigkeit und -bereitschaft Seit der transformationalen Wende wird dem Vertrauen eine besondere Beachtung zuteil. Im traditionellen Management-Paradigma dienen vielfältige Kontrollmechanismen dazu, die im Grunde als nicht vertrauenswürdig betrachtete Belegschaft zur Arbeit anzuhalten sowie auf den rechten Weg zu bringen. In Tat und Wahrheit ist es so, dass Menschen grundsätzlich das Bedürfnis haben, entgegengebrachtes Vertrauen zu erwidern – obwohl es natürlich auch einige schwarze Schafe gibt, die etwa Vertrauen als Ausdruck von Schwäche interpretieren oder sich ohnehin höchstens an eindeutige Vorschriften halten. Einigkeit herrscht bezüglich der Annahme, dass sich Vertrauen auch betriebswirtschaftlich rechnet (z. B. Covey, 2009), weil dadurch viele der kostenintensiven Kontrollprozesse obsolet werden. Vertrauen kostet nichts, bringt aber potenziell einen höheren Return. Während Kontrolle höchstens die extrinsische Motivation fördert, kann mit Vertrauen die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden geweckt oder gesteigert werden, was zu einem höheren Engagement sowie einer eigenständigeren Arbeitsleistung führt, was sich wiederum positiv auf die Produktivität auswirkt. Gemäß Zak (2017) wird Oxytocin ausgeschüttet, wenn man Vertrauen spürt. Dieses Hormon steigert das emotionale Wohlbefinden, wirkt stressmildernd und erhöht die Freude an der Arbeit. Sprenger (2002) nennt zusammengefasst die folgenden weiteren Vorteile von Vertrauen: (1) Vertrauen macht Unternehmen flexibel; es erleichtert die Bildung flexibler Strukturen und die internationale Zusammenarbeit; auch Reorganisationen gelingen eher, wenn man sich vertraut. (2) Vertrauen fördert die Kundenbindung und ist die Grundlage für Markentreue; vertrauenswürdige Firmenvertreter und ein gutes Image begünstigen eine langfristige Treue der Kunden. (3) Vertrauen fördert die Schnelligkeit von Entscheidungsprozessen; eine höhere Geschwindigkeit im Markt ist wiederum ein Wettbewerbsvorteil gegenüber der kontrollierenden Konkurrenz. (4) Vertrauen fördert die Bereitschaft zu Wissensaustausch und Kollaboration; eine vertrauensvolle Atmosphäre schafft psychologische Sicherheit; diese steigert Mut, Kreativität und Innovation. (5) Vertrauensvolle Vorgesetzte schaffen es eher, sich die freiwillige Gefolgschaft der Mitarbeitenden zu sichern; sie sind deswegen seltener genötigt, Druck auszuüben. Auf den ersten Blick weiß jeder, was mit Vertrauen gemeint ist, das Konzept wird aber keinesfalls einheitlich verstanden. Logisch ist zunächst, dass es zwei Seiten der Medaille gibt – Vertrauenswürdigkeit auf der einen, Vertrauensfähigkeit und -bereitschaft auf der

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anderen Seite. Das heißt, eine Führungskraft muss zunächst selbst vertrauenswürdig sein und diesbezüglich eine Vorbildwirkung einnehmen. Bei Vertrauenswürdigkeit handelt es sich um eine persönliche Kompetenz, die eine Klammer zu den sozialen Kompetenzen darstellt. Gemäß Frei und Morriss (2020) beinhaltet sie die Aspekte Authentizität, Logik und Empathie, das heißt, sie umfasst persönliche, kognitive und soziale Kompetenzen. Kurz gesagt geht es darum, sich selbst stimmig und natürlich einzubringen, schlüssig und nachvollziehbar argumentieren zu können (d.  h. Kompetenz unter Beweis zu stellen) sowie in der Lage zu sein, auf andere einzugehen sowie diese mitzunehmen. Aus der Sicht der genannten Autorinnen strahlt man nur Vertrauenswürdigkeit aus, wenn alle drei Bereiche mehr oder weniger stark ausgeprägt und ausgestrahlt werden. Vertrauen einseitig einzufordern und an sich selbst andere Maßstäbe anzulegen, funktioniert nicht. Wenig ­erfolgversprechend ist auch, Vertrauenswürdigkeit vorzuspiegeln, da sich unweigerlich Inkongruenzen zwischen Sprechen und Handeln offenbaren werden. Gleichzeitig muss eine Führungskraft auch bereit und fähig sein, Mitarbeitenden Vertrauen zu schenken. In der Regel ist eine misstrauische Grundhaltung nicht angeboren, sondern die Folge schlechter Erfahrungen, eigener Überforderung oder einer fehlenden Fähigkeit, mit Arbeitsergebnissen zu leben, die nicht genau den eigenen Vorstellungen entsprechen. Misstrauen ist für das Umfeld eine sehr anstrengende Eigenschaft, lässt sich jedoch durchaus verändern und durch ein positives Menschenbild ersetzen, wenn man dies anstrebt. Was die Vertrauensfähigkeit anbelangt, lassen sich in der Assessment-Praxis zwei Grundtypen unterscheiden: Viele Führungskräfte agieren abwartend und erwarten, dass man sich ihr Vertrauen quasi schrittweise erarbeitet, eine kleinere, zunehmend öfter anzutreffende Gruppe geht dagegen in Vorlage und gibt einen Vertrauensvorschuss. Erstere nutzen bestimmte Kriterien (z. B. Lieferzuverlässigkeit), um sich über die Vertrauenswürdigkeit der Mitarbeitenden ein Bild zu verschaffen. Werden die eigenen Erwartungen erfüllt, ist man zunehmend bereit, mehr Vertrauen zu schenken. Die zweite Gruppe beobachtet dagegen, wie die Mitarbeitenden mit dem Vertrauensvorschuss umgehen. Oft reagieren Angehörige dieser Gruppe besonders empfindlich auf den Missbrauch ihres Vertrauens und benötigen lange, um sich davon zu erholen. Dabei besteht die Gefahr, dass man rasch in die gegenteilige, misstrauische Haltung verfällt. Weil es sich immer auch um ein Missverständnis handeln könnte, sollte auf jeden Fall eine zweite Chance gegeben werden. Es ist logisch, dass die zweite Variante zwar riskanter, jedoch effektiver ist, weil Vertrauen auf diese Weise sehr rasch entstehen kann. Meist wird ein Prozentsatz an Enttäuschungen in Kauf genommen, weil die vielen positiven Reaktionen deutlich überwiegen. Nicht selten wird von Kandidaten dieses Typs erzählt, dass sie mit ihrem Stil – entgegen der Erwartung – bislang kaum nennenswerte Enttäuschungen erlebt haben. Sowohl ökonomisch als auch persönlich kann argumentiert werden, dass die monetären oder psychischen Kosten insgesamt geringer sind, als wenn man versucht, möglichst alles unter Kontrolle zu behalten, was ohnehin nur bedingt funktioniert. Auf der strukturellen Ebene sind weitreichende Handlungsspielräume die Voraussetzung für Vertrauen. Wenn mit Empowerment ernstgemacht werden soll, wird Vertrauen zu einem Muss. Wer nur vorgibt, Verantwortung und Entscheidungskompetenzen abzugeben, jedoch hintergründig alles kontrol-

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liert und unberechenbar interveniert, wird die erhofften Produktivitätsgewinne durch Selbstständigkeit und Selbstorganisation nicht einfahren können. Die Gretchenfrage ist also: Wie schaffe ich Vertrauen? Auf der individuellen Ebene existieren verschiedene Listen von Werten, Charaktermerkmalen und Verhaltensweisen, die geeignet sind, Vertrauen herzustellen. Neben Werten wie Integrität, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Ehrlichkeit umfasst der folgende beispielhafte Katalog Verhaltensweisen, die fast das gesamte Spek­ trum des Mindsets eines New Leaders umfassen – eben, weil das Konstrukt Vertrauen oft sehr breit gefasst wird (Covey, 2009; Cichy et al., 2011). 1) Herausfordernde Tätigkeiten anbieten; 2)  Anerkennung geben; 3)  Respekt/Umgang auf Augenhöhe, 4)  Transparenz herstellen, 5)  eigene Schwächen eingestehen, Fehler zugeben und aus Fehlern lernen, 6) Erwartungen klar definieren, 7) sich der Realität stellen, 8) Verantwortung übernehmen, 9) andere in die Pflicht nehmen, 10) Zuhören, Versprechen abgeben, 11) Zuversicht und Mut zeigen, 12) Brücken bauen. Entscheidend scheinen neben der eigenen Vertrauenswürdigkeit vor allem der Wille, das gewünschte Verhalten vorzuleben, ein partnerschaftlicher Umgang sowie die Bereitschaft, Aufgaben großzügig abzugeben. Beim Delegieren und Empowern bedeutet, Mitarbeitenden zu vertrauen, vor allem, diesen etwas zuzutrauen. Wie erwähnt, wird entgegengebrachtes Vertrauen von den meisten Menschen gern erwidert. Vorsätzlicher Vertrauensmissbrauch ist mit Ausnahme von Psychopathen und einigen Machiavellisten nur von sehr wenigen Personen zu erwarten.

4.5.9 Allgemeine Kommunikationsfähigkeit Führen heißt kommunizieren, sagt man. Auf unterschiedlichen Kanälen (persönlich, telefonisch, virtuell) und in verschiedensten Situationen investiert eine Führungskraft einen großen Teil ihrer Arbeitszeit in Gespräche und sozialen Austausch aller Art. Die große Bedeutung einer angemessenen Kommunikationsfähigkeit zeigt sich etwa in der Fülle praktischer Literatur sowie in der Tatsache, dass sich entsprechende Kurs- und Beratungsangebote bereits seit Längerem größter Beliebtheit erfreuen. Als Wegbereiter der modernen Kommunikationsforschung gilt der Klassiker Menschliche Kommunikation von Paul Watzlawick (Watzlawick et al., 1969). Sein berühmtes Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ kennen eigentlich alle und wird oft und gern zitiert. Diese Aussage bringt auf den Punkt, dass Kommunikation nicht nur aus dem gesprochenen Wort besteht, sondern auch paraverbale Elemente (z. B. Sprechtempo, Lautstärke, Artikulation, Modulation etc.) und die nonverbale Kommunikation (v. a. Gestik, Mimik) umfasst. Ebenfalls wegweisend war die Trennung von Sach- und Beziehungsebene (2. Axiom), womit gemeint ist, dass in der Kommunikation und einzelnen Aussagen nicht nur ein bestimmter Sachinhalt, sondern auch Hinweise auf der Beziehungsebene transportiert werden. Diese Erkenntnis gehört ebenso schon fast zur Allgemeinbildung wie jene, dass der verbale Teil der Kommunikation eher der kleinere und oft weniger wichtige als der nonverbale ist (ca. 20:80 %). Folgerichtig gehen die meisten Kommunikationsforscher davon aus, dass Menschen keinesfalls störungsfrei kommunizieren, sondern dass vom Empfänger einer Nachricht nicht sel-

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ten etwas ganz anderes verstanden wird als vom Absender eigentlich beabsichtigt. Besonders wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass der Inhalt der Nachricht beim Empfänger entsteht. Die Unterscheidung von Sender und Empfänger bildet übrigens die wichtigste Grundlage für die Analyse kommunikativer Prozesse jeglicher Art. Der Raum für Missverständnisse und unterschiedliche Interpretationen zwischen Sender und Empfänger ist fast grenzenlos. Ein völlig identisches Verständnis ist eher die Ausnahme als die Regel. Im deutschen Sprachraum sind die Schriften von Schulz von Thun (1981) besonders verbreitet. Das von diesem entwickelte Nachrichtenquadrat erweitert die angesprochene Beziehungsebene um die Inhaltsübermittlungs-, Appell- und Selbstoffenbarungsfunktion von Bühler (1965). Das Nachrichtenquadrat besagt, dass eine bestimmte Aussage nicht nur einen Sachinhalt hat, sondern unterschwellig auch Botschaften hinsichtlich der Beziehung zwischen Absender und Empfänger und der Wünsche sowie der Weltanschauung des Absenders übermittelt. Demzufolge hören wir gleichzeitig mit 4 Ohren und können beispielsweise auch aus einer nüchtern gemeinten Sachinformation eine Bitte an uns ableiten oder Ähnliches. Dieselben Aspekte finden sich auch im TALK-Modell (Neuberger, 1992). T steht darin für Tatsachendarstellung (worum geht es?), A für Ausdruck (was ich von mir erzähle, Selbstoffenbarung), L für Lenkung (was ich vom Gegenüber will, Appellfunktion) und K für Kontakt (was ich von dir halte, Beziehungsaspekt). Die Assessment-Praxis legt nahe, dass eine eingehende Beschäftigung mit den wenigen theoretischen Modellen kaum geeignet ist, das eigene Kommunikationsverhalten entscheidend zu verbessern. Vielmehr empfehlen sich praktische Übungen (z.  B.  Rollenspiele) oder Trainings mit einem professionellen Feedback-Geber. Das Kommunikations- und Gesprächsverhalten einer Person nimmt bei den Beobachtungen im Assessment eine überragende Bedeutung ein, wobei sowohl methodische Aspekte (z. B. Gesprächstechnik) als auch das Vermögen, Themen prägnant und verständlich zu formulieren oder einen echten Dialog zu führen, in die Beurteilung einfließen. Besonders auffallend ist die enorme Kluft zwischen dem Wissen, wie es eigentlich gehen würde, und dem Vermögen, dieses situationsangemessen und authentisch umzusetzen. So erweisen sich beispielsweise Kommunikationsverantwortliche oder Sprachwissenschaftler keineswegs immer als gute Kommunikatoren. Im Gegenteil, nicht wenige bekunden größte Mühe mit der einfachen praktischen Frage, was sie denn in einem schwierigen Gespräch üblicherweise gut resp. weniger gut machen. Auf der anderen Seite gibt es einige auffallend talentierte Menschen, die – ohne große theoretische Kenntnisse – selbstverständlich und natürlich sehr gute Gespräche führen können. Diese zeichnen sich in der Regel durch ein echtes Interesse für andere Menschen aus und bevorzugen deshalb selbstverständlich ein fragendes und dialogisches Vorgehen. „Ich bin kommunikativ“, lautet eine der häufigsten Selbstbeschreibungen von Personen, wenn es darum geht, eigene Stärken zu benennen. Auf die obligate Nachfrage, was sie denn damit genau meinen, folgt häufig das große Schweigen. Kommunikativ sein stellt sich nicht selten als ein Schlagwort heraus oder meint eher, dass man Freude am Austausch mit anderen hat. Teilweise sind diese kommunikativen Personen in Tat und Wahrheit eher geschwätzig – zumindest solange sie über ihre Lieblingsthemen referieren können und nicht mit schwierigen Fragen konfrontiert werden. Diejenigen Führungskräfte,

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die sich bereits eingehend mit Kommunikation beschäftigt und Feedback zu ihrem Kommunikationsstil eingeholt haben, finden allerdings durchaus unterschiedliche, bisweilen auch sehr differenzierte Antworten. Je nachdem werden etwa Stärken beim Präsentieren, beim Verhandeln oder beim Herstellen eines zwanglosen Gesprächs herausgestellt. Kommunikative Entwicklungsfelder sind den Kandidaten in den Assessments oft besser bewusst als andere, da sie recht greifbar sind und sich in vielen Situationen bemerkbar machen. Bemerkungen wie „Ich finde manchmal nicht die richtigen Worte“, „Ich äußere mich zu ausführlich und zu wenig strukturiert“ oder „Ich bin nicht schlagfertig“ treten immer wieder auf. Als Entwicklungswunsch wird auffallend häufig das Vermögen g­ enannt, mitreißend und überzeugend kommunizieren zu können. Die meisten Menschen wünschen sich, andere von sich einnehmen und begeistern zu können – aber nur wenige können das wirklich. Entscheidend ist dabei letztlich, dass man nicht nur rational und sachlich referiert, sondern auf irgendeine Weise eine emotionale Wirkung erzeugt. Wenn es gelingt, das Herz der Zuhörenden zu erreichen, ist eine positive Resonanz fast sicher. Im Unterschied dazu können einen auch inhaltlich herausragende Präsentationen kalt lassen, wenn sie beispielsweise sehr trocken oder monoton vermittelt werden. Die Teilnehmenden in den Assessments nehmen einen subjektiven Mangel an kommunikativen Fähigkeiten meist als überdurchschnittlich belastend, nicht selten sogar als sehr verunsichernd wahr. Dies ist auch ein Grund, weshalb eine hohe Zahl der Führungskräfte mindestens ein Kommunikationstraining durchlaufen hat. Transaktionsanalyse Statt theoretisch auszuführen, was gute und effektive Kommunikation ausmacht, wird dies anschließend anhand der typischen Beobachtungen in verschiedenen Assessmentübungen aufgezeigt. Die Ausnahme bildet die „Transaktionsanalyse“ (Berne, 2006, 2008), weil sich mit diesem Ansatz der heute gefragte Kontakt auf Augenhöhe besonders anschaulich demonstrieren lässt. Außerdem kann diese Methode allen empfohlen werden, um einmal oder besser regelmäßig das eigene Kommunikationsverhalten zu analysieren. Im Wesentlichen besagt die Transaktionsanalyse, dass wir entweder wie ein Kind, wie ein Erwachsener oder wie ein Elternteil kommunizieren. Wie Kinder („Kind-Ich“) verhalten wir uns, wenn wir etwa aus einer Opferhaltung heraus Forderungen stellen, beleidigt oder trotzig reagieren oder persönlich werden. Das sogenannte „Eltern-Ich“ spricht aus uns, wenn wir andere belehren oder aus einem Gefühl moralischer Überlegenheit abwerten. Im Unterschied zur erwünschten Erwachsenenkommunikation besteht in beiden Fällen eine Asymmetrie zwischen den Beteiligten, entweder man unterstellt oder überstellt sich dem Gesprächspartner. Beides bewirkt auf der Beziehungsebene Irritationen, auf die der andere eventuell reagiert (z. B. sich provozieren lassen), sodass das eigentliche Anliegen in den Hintergrund gerückt werden kann. Das Erwachsenen-Ich stellt das Ideal einer sachlichen Kommunikation ohne störende andere Einflüsse dar. Es ist nicht wichtig, dass man immer genau die richtigen Worte findet, sich nicht aufregt oder womöglich keine Kritik äußert. Im Gegenteil. Entscheidend ist vielmehr, dass man im Umgang mit erwachsenen Personen jederzeit danach strebt, sich auf Augenhöhe zu bewegen und dem Gegenüber mit einer partnerschaftlichen und wohlwollenden Grundhaltung zu begegnen. Dies ist eine absolut

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zentrale Grundlage der respektvollen Führung. Mittels Transaktionsanalyse kann man feststellen, wann man entweder ins Kind- oder ins Eltern-Ich verfällt. Wie erwähnt, sollte beides, wenn möglich, vermieden werden.

4.5.10 Gesprächsführung und Verhandlungsgeschick Die Königsdisziplin in der Führungskommunikation stellen schwierige Gespräche wie etwa Beurteilungs- oder Kritikgespräche dar. So erstaunt es nicht, dass viele Führungskräfte sowohl in der Praxis als auch im Assessment (Rollenspiele) davor großen Respekt haben. Diejenigen, die bereits entsprechende Kurse absolviert haben, sind nicht unbedingt im Vorteil, vielmehr lässt sich immer wieder eine Art von „Übertraining“ beobachten. Personen, die sehr viel geübt haben, versuchen oft krampfhaft, alles lehrbuchmäßig richtig zu machen, sodass sie hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sind. Weil dadurch weniger Aufmerksamkeit für den Gesprächspartner übrigbleibt, wird etwa vergessen, zunächst einen Kontakt herzustellen, oder die Beziehungspflege wird sogar gänzlich vernachlässigt. Wer sich zu sehr an die eigene Agenda klammert, überhört zudem oft wichtige Hinweise der Diskussionspartner. Ein gutes Signal ist, wenn man das Training nicht mehr bemerkt. In diesem Falle ist es gelungen, dass Gelernte so zu integrieren, dass es natürlich und selbstverständlich wirkt. Und genau das ist das Ziel. Denn hinsichtlich Gesprächstechnik kann fast jeder und jede noch etwas dazulernen. Es lohnt sich insofern auf jeden Fall, sich laufend mit Kommunikation zu beschäftigen. Ein Gespräch ist keine „To-do-Liste“, die es gewissenhaft abzuarbeiten gilt. Vielmehr sollte ein roter Faden verfolgt und die Diskussion zielgerichtet vorangetrieben, gleichzeitig aber auch flexibel auf mögliche Wendungen im Gespräch eingegangen werden. Eine professionelle Gesprächsführung zeigt sich insbesondere durch eine offene, einbeziehende Grundhaltung, eine gewisse Lockerheit und Wendigkeit im Gespräch sowie ausgeprägte Fähigkeiten, einen echten Dialog herzustellen. Dies bedeutet zunächst, die eigenen Themen klar zu vertreten, was allerdings voraussetzt, dass man die eigenen Standpunkte und Erwartungen auch wirklich kennt. Dies ist keine Selbstverständlichkeit: Personen, die sich umständlich ausdrücken oder um den heißen Brei herum reden, haben oft Mühe, sich eindeutig festzulegen, oder wissen nicht genau, welches ihre Kernbotschaft ist. Natürlich ist auch denkbar, dass ihnen die sprachlichen Mittel fehlen, ihre Botschaften verständlich und nachvollziehbar zu formulieren. Zum anderen gilt es, mittels Fragen die Wahrnehmungen, Standpunkte und Gefühle des Gegenübers zu erfassen und sich in dessen Per­ spektive zu versetzen. Schlussendlich besteht das Ziel eines professionellen Gespräches ja darin, gemeinsam taugliche Lösungsansätze zu generieren oder konkrete Maßnahmen für das weitere Vorgehen zu definieren. Naturgemäß gelingt einem dies besser, wenn das Gegenüber kooperiert. Und der beste Weg, sich diese Kooperationsbereitschaft zu sichern, besteht darin, das Gegenüber einzubeziehen und nach eigenen Lösungsansätzen zu befragen. Einerseits steigt das Niveau in den Rollenspielen in den Assessments in den letzten Jahren kontinuierlich an. Andererseits handelt es sich bei der Gesprächsführung immer noch um eines der am häufigsten monierten Entwicklungsfelder.

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Dies zeigt sich bereits bei den formalen Aspekten wie etwa dem Gesprächsaufbau. Statt sich die Zeit für eine freundliche Begrüßung mit etwas Smalltalk zu nehmen und die Agenda der Diskussion vorzustellen, fallen viele Kandidaten mit der Tür ins Haus, weil sie keine Zeit verlieren wollen. Ist das Gesprächsthema nicht von Anfang an bekannt, wird die erste Phase des Gesprächs durch Verunsicherung und Verwirrung beherrscht. Steigen die Kandidaten mit einer Kritiktirade in die Diskussion ein, bauen sie eine Mauer aus Widerstand auf, die sie in der verbleibenden Zeit kaum mehr abtragen können. Hat man das Gegenüber einmal verloren, braucht es einige Geduld und ein geschicktes Vorgehen, um es wieder an Bord zu holen. Generell lässt sich beobachten, dass oft ein zu hohes Tempo angeschlagen wird, weil man unbedingt in der vorgegebenen Zeit alle Punkte abarbeiten möchte. Häufige Folge ist, dass zu wenig gefragt oder das Gegenüber unterbrochen wird. Eine sehr aussagekräftige Kennzahl für die Kommunikationskompetenz ist der (geschätzte) Redeanteil im Gespräch: Dieser sollte eigentlich immer deutlich unter 50 % liegen. Obwohl die meisten Assessment-Kandidaten wissen, dass es wenig zielführend ist, Monologe zu halten, wird oft ausführlich und appellativ auf das Gegenüber eingeredet, weil man dieses unbedingt von den eigenen Standpunkten überzeugen möchte. Dies ist nicht nur anstrengend, sondern kann auch genau den gegenteiligen Effekt erzeugen. Die wichtigste Erkenntnis aus der Beobachtung tausender Gespräche ist die, dass diejenigen Diskussionen am effektivsten und schnellsten verlaufen, bei denen die Kandidaten vergleichsweise wenig selbst reden, weil sie vor allem viele Fragen stellen und gut zuhören, statt ausführlich die eigenen Meinungen und Standpunkte darzulegen. Es mag kontraintuitiv klingen, aber es ist meine wichtigste und überraschendste Erkenntnis Zuhörende Gespräche sind definitiv effektiver. Nimmt sich jemand Zeit und pflegt einen fragenden, primär zuhörenden und eher langsamen Gesprächsstil, liegen die für die Problemlösung notwendigen Fakten relativ rasch auf dem Tisch, sodass man sich innerhalb nützlicher Frist der gemeinsamen Lösungsfindung zuwenden kann. In den eher hektischen und wenig dialogischen Gesprächen wird dagegen in der Regel wenig Sub­ stanz produziert. Da diese nicht selten eher oberflächlich verlaufen, bleiben relevante unterschwellige Themen oft unerwähnt, und es wird wenig Vertrauen aufgebaut. Eine echte Einigung und nachhaltige, tragfähige Lösungen sind auf dieser Basis kaum möglich. Wichtig beim Gesprächsaufbau ist, dass man die Diskussion nach dem Einstieg in zwei Phasen und einen Abschluss untergliedert. Im ersten Teil geht es vor allem darum, die wesentlichen Wahrnehmungen und Gefühle des Gegenübers zu erfassen sowie die eigenen Eindrücke und Erwartungen bestimmt und verständlich, aber nicht zu konfrontativ zu übermitteln. Anders verhält es sich, wenn es sich um ein Gespräch handelt, bei dem primär eine schlechte Nachricht überbracht werden muss (z. B. Kündigungsgespräch). In diesem Fall empfiehlt es sich, rasch zur Sache zu kommen, um anschließend zu versuchen, die Emotionen aufzufangen. Ansonsten ist es meist geboten, zunächst eher die Zuhörerrolle einzunehmen. Bei einer achtsamen Gesprächsführung tauchen in der Regel weitere, zu Beginn nicht bekannte Aspekte auf. Dabei sind etwaige Abweichungen von der eigenen Meinung zu erkennen und gegebenenfalls aufzulösen. Besonders wichtig sind eine wohlwollende und respektvolle Grundhaltung und echtes Interesse am Gegenüber. Ist das nicht gegeben, zeigen sich Inkongruenzen zwischen verbalem (Worte) und nonverbalem Aus-

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druck (Gestik, Mimik, parasprachliche Signale). Es gibt Kandidaten, die sich sprachlich etwas hölzern ausdrücken, dank ihrem spürbaren Interesse am Gegenüber aber dennoch eine gute Wirkung erzielen. Wenn die Haltung stimmt, ist man als Diskussionspartner gern bereit, den einen oder anderen sprachlichen Fauxpas zu verzeihen. Schwieriger ist das umgekehrte: Strahlt jemand nonverbal Ablehnung aus, können salbungsvolle Worte rasch als aufgesetzt und die Person als nicht authentisch wahrgenommen werden. Gelingt es nicht, eine echte Beziehung herzustellen, bleibt eine gewisse Distanz im Raum, sodass der Gesprächspartner oft weniger bereit ist, sich ehrlich und offen mitzuteilen resp. auszutauschen. Die Haltung der anderen Person gegenüber ist das A und O, und wenn man sich zusätzlich noch dafür interessiert, was diese bewegt und was sie zu sagen hat, kann im Grunde nicht mehr viel schiefgehen; es sei denn, man hört nicht wirklich zu oder nimmt das Gesagte nicht auf. Immer wieder lässt sich beobachten, dass Kandidaten zwar wissen, dass sie offene Fragen stellen sollten, dies aber entweder ganz oder im Laufe des Gesprächs zunehmend vergessen, oder dass sie die Antworten scheinbar gar nicht aufnehmen oder nicht darauf reagieren. Entweder hören sie nicht richtig zu, sondern warten bereits ungeduldig auf ihren nächsten Einsatz, oder fragen nicht nach oder gehen einfach kommentarlos zum nächsten Gesprächspunkt über. Im zweiten Teil steht das Erarbeiten gemeinsamer Lösungen im Mittelpunkt. Es ist wichtig zu signalisieren, dass man die Ansichten des anderen nicht nur gehört und verstanden hat, sondern diese auch in seine Überlegungen einbezieht. Ansonsten kann es vorkommen, dass konsequent aneinander vorbeigeredet wird. Nicht selten werden am Ende Lösungen vorgebracht oder gar verordnet, die in keiner Weise auf die Ausführungen, Anliegen oder Befindlichkeiten des Diskussionspartners Bezug nehmen oder sogar in die entgegengesetzte Richtung weisen. Als Gegenpart hat man dann den Eindruck, an eine Wand geredet zu haben, und fühlt sich nicht ernst genommen. Der Sinn eines fragenden Stils ist, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und nicht alibimäßig dessen Standpunkte abzuholen, damit dieser Aspekt abgehakt ist. Sowohl bei den Rollenspielen als auch im Leben lauert eine große Gefahr: Es gibt eine Vorgeschichte, und man hat bereits eine Vorstellung, wie sich die Wirklichkeit darstellt oder was im Gegenüber vorgeht. Es handelt sich um mentale Modelle, eigene Wahrheiten und implizite Theorien aller Art, die im Sinne von Vorurteilen oder Vorannahmen eine vollkommen unvoreingenommene Begegnung mit einem anderen Meschen fast verunmöglichen. Weil diese Vorannahmen die Bandbreite für die mögliche Verständigung bestimmen, lohnt es sich, sich im Voraus genau mit diesen zu beschäftigen. Alles, was man nicht sicher weiß oder etwa von Dritten gehört hat, sollte als zu prüfende Hypothese und keinesfalls als „Wahrheit“ betrachtet werden. Will man Missverständnisse und Fehlschlüsse vermeiden, lohnt es sich, sich der eigenen Vorurteile bestmöglich bewusst zu sein sowie die eigenen Hypothesen im Gespräch zu überprüfen resp. zu diskutieren. Beim Herausfinden der wichtigsten Themen des Gegenübers empfiehlt sich ein trichterförmiger Stil, bei dem eine offene Frage als Einstieg dient. Mittels klärender Nachfragen kann anschließend ein detailliertes Bild der subjektiven Wahrnehmungen und Gefühle des Gegenübers gewonnen werden. Dabei sollte man sich Zeit lassen und beim jeweiligen Aspekt bleiben, bis dieser abgeschlossen ist. Bei schnellen Themenwechseln

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entsteht ein sprunghaftes und oberflächliches Gespräch, bei dem zentrale Aspekte allenfalls angetippt ­werden. Tauchen neue Aspekte auf, können diese unter Umständen in ein Folgegespräch verschoben werden. Bei Bedarf darf man sich durchaus auf einzelne Themen beschränken und die anderen zu einem späteren Zeitpunkt aufnehmen. Klassische Fehler bei der Fragetechnik sind geschlossene und suggestive Fragen oder komplizierte Mehrfachfragen, bei denen der Gesprächspartner gar nicht weiß, bei welcher Frage er mit seiner Antwort anfangen soll resp. selbst entscheiden kann, worauf er am liebsten reagieren möchte. Konsequent ein Thema nach dem anderen abzuhandeln, ist definitiv erfolgversprechender. Besonders wirkungsvolle Techniken sind das Wiederholen des Gesagten in eigenen Worten (paraphrasieren) und Fragen, die direkt an die Ausführungen des Gegenübers anschließen (z.  B. „Du hast gesagt, es läuft nicht alles rund. Was genau meinst du damit?“). Sehr wirkungsvoll sind auch Nachfragen hinsichtlich der Wirkung, welche die eigenen Worte auslösen. Wird eine stärkere nonverbale Reaktion festgestellt, sollte diese sofort angesprochen werden. Damit wird die emotionale Ebene einbezogen. Zuhören und Verstehen stehen in einem heiklen oder schwierigen Gespräch über allem, es müssen auf jeden Fall aber auch eigene Argumente, Standpunkte oder Kritik geäußert werden. Dabei ist von beschönigenden Worten, Plattitüden und umständlichen Erklärungen abzuraten. Stattdessen sollten die eigenen Beiträge bestimmt und prägnant mitgeteilt werden. Nicht nur ein zu aggressives und direktes, sondern auch ein zu umständliches oder überfürsorgliches Vorgehen ist unangebracht. Vor allem Führungskräfte aus dem Sozialbereich pflegen zuweilen einen etwas bemutternden Stil, mit dem sie sich dem Diskussionspartner ungewollt überstellen. Stattdessen sollte darauf geachtet werden, sich möglichst durchgehend auf gleicher Augenhöhe zu bewegen. Bei sehr harmonieorientierten Personen kommt es vor, dass sie entweder alles Kritische sofort loswerden wollen (Schwall von Kritik), damit sie es hinter sich haben, oder die Themen werden zu unklar, vage, zu spät oder gar nicht angesprochen. Nach dem ersten Teil, der Evaluationsphase, sollten die wichtigsten Themen diskutiert und eine gemeinsame Verständnisbasis geschaffen sein. In diesem Fall ist der Weg frei, zusammen Maßnahmen für das weitere Vorgehen festzulegen. Die wichtigste Falltür in dieser Phase besteht darin, das Gegenüber zu wenig in die Lösungsfindung einzubeziehen. Statt selbst Lösungen vorzuschlagen, ist es hilfreicher, diese – wiederum mittels gezielter Fragen – beim Gegenüber abzuholen. Damit wird die Verantwortung geteilt und vermieden, dass diese am Ende ausschließlich bei einem selbst liegt. Falls der andere keine Ideen hat, darf und soll man eigene Vorschläge einbringen. Es empfiehlt sich, einige eigene Ideen in petto zu haben, diese aber nicht voreilig auf das Tapet zu bringen. Will man beim Gesprächspartner eine Verhaltensänderung bewirken, sind die entsprechenden Erwartungen ebenso annehmbar wie unmissverständlich auszudrücken. Beim Gesprächsabschluss spielen formale Aspekte wieder eine große Rolle: Es gilt das Gespräch zusammenzufassen, die abgemachten Maßnahmen zu wiederholen sowie zu klären, wer welche der sich daraus ergebenden Aufgaben übernimmt sowie „last but not least“ einen verbindlichen Folgetermin abzumachen. Je kritischer und weniger vorhersehbar die Situation nach dem Gespräch eingeschätzt wird, desto früher sollte dieser angesetzt werden.

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10 Praxis-Tipps zur Gesprächsführung

(1) Strukturierter Gesprächsaufbau mit Einstieg, Evaluationsphase, Lösungsfindung und Abschluss. (2) Authentisch auftreten, auf Stimmigkeit zwischen verbalem und nonverbalem Ausdruck achten. (3) Gespräch partnerschaftlich, das heißt auf Augenhöhe führen. (4) Sich auf das Gegenüber einlassen und sich ausreichend Zeit nehmen. (5) Fragend vorgehen (wer fragt, der führt): offene Fragen durch gezielte Nachfragen ergänzen. (6) Aussagen des Gegenübers quittieren, wenn möglich daran anschließen. (7) Einzelne Themen abschließen, gemeinsames Verständnis sicherstellen. (8) Nicht zu viel Redezeit beanspruchen, einen echten Dialog herstellen. (9) Eigene Aussagen, Kritik und Erwartungen freundlich, bestimmt sowie prägnant einbringen. (10) Wahrnehmungen und Gefühle vorurteilsfrei erfassen, etwaige Vorannahmen überprüfen.

4.5.11 Spezifische kommunikative Fähigkeiten Präsentieren  Präsentationen gehören zum Standardrepertoire eines Assessments. Sehr rasch fällt dem geübten Beobachter auf, ob jemand damit viel Routine hat oder nicht. Neben einem gekonnten Einsatz von Visualisierungstechniken zeigt sich eine größere Erfahrung etwa in einem sicheren Auftreten, einer gewissen Lockerheit sowie einer routinierten Professionalität im Umgang mit dem Publikum. Ungeübte Personen sind oft etwas nervös, wirken steif und nehmen typischerweise wenig Bezug auf die Zuhörenden, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Im Umgang mit Flipchart oder Pinnwand liegen charakteristische Anfängerfehler darin, zu viel Text auf das Papier zu bringen, die Information unübersichtlich zu strukturieren oder darin, sich während der Präsentation ständig dem Flipchart zuzuwenden und dem Publikum den Rücken zu kehren, sodass der Kontakt zu diesem kurzzeitig abbricht. Unterschwellig wird zudem spürbar, ob sich jemand damit wohlfühlt, in gewisser Hinsicht im Mittelpunkt zu stehen oder nicht. Gern von sich zu erzählen oder über Themen zu referieren, kann, muss aber nicht Ausdruck von Narzissmus oder einem übersteigerten Sendungsbewusstsein sein. Mit einer großen Wahrscheinlichkeit ist ersteres der Fall, wenn jemand lieber über sich als über Sachfragen aus seinem Fachgebiet spricht. Auch möglich ist allerdings eine tatsächlich fehlende oder nur gefühlte Inkompetenz seitens des Referenten. Nicht selten ist das Gegenteil zu beobachten: Personen, die sich eher schwer damit tun, von sich zu erzählen, aber sofort energievoller werden, sobald sie sich zu einem für sie interes-

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santen inhaltlichen Thema äußern dürfen. Viele Fachexperten lieben es, die eigene Begeisterung für ein gewisses Thema oder eine bestimmte Lösung mit anderen zu teilen. Springt der Funke über, kann es gelingen, ein Publikum auf eine mitreißende Weise anzusprechen. Wie erwähnt, ist dafür eine emotionale Wirkung nötig. Dies passiert etwa bei einem dynamischen und feurigen Auftreten, einem einbeziehenden Präsentationsstil oder bei der Darstellung einer inspirierenden Vision. Ein relativ oft feststellbarer Irrglaube ist die Annahme, dass sich die eigene Begeisterung automatisch auf andere überträgt und auf diese Weise begeisternd wirkt. Wird man zu sehr von der eigenen Freude mitgerissen, kann man sich im Thema verlieren oder in einen schwer nachvollziehbaren Redeschwall verfallen. Auch beim Präsentieren ist weniger oft mehr. Keine große Wirkung erzielt man, wenn man nicht adressatengerecht kommuniziert und die Zuhörenden einem nicht folgen können. Die Inhalte müssen also verdaubar und auf eine Weise präsentiert werden, die den Bedürfnissen und dem Vorwissen des Publikums angepasst sind. Damit die Wirkung überdauert, ist aber auch eine gewisse inhaltliche Substanz unabdingbar. Mitunter stellt sich im Nachgang an eine vermeintlich inspirierende Präsentation eine gewisse Ernüchterung ein. So kann es durchaus vorkommen, dass man zunächst vom Präsentationsstil berührt wird, sich aber nachher fragt, was die Person inhaltlich überhaupt gesagt hat. Besonders in der Politik finden sich viele Personen, die es verstehen, auf eine rhetorisch eloquente und überzeugende Weise im Grunde nichts zu sagen. Insofern lohnt es sich immer, einen ­kritischen Blick auf die präsentierten Inhalte zu werfen: Sind die Aussagen durchdacht, vernetzt, logisch zusammenhängend? Wird eine Kernbotschaft vertreten und nachvollziehbar begründet? Basieren die Annahmen auf Fakten oder nachprüfbarem Wissen oder sind es nur Behauptungen? Fachlich besonders gute Darbietungen erkennt man unter anderem daran, dass sie zum Mitdenken anregen. Der Eindruck von Glaubwürdigkeit entsteht, wenn der Kandidat weiß, wovon er redet, spürbar hinter dem Gesagten steht, eigene Standpunkte vertritt und authentisch erscheint. Auf der anderen Seite gibt es Blender, deren oft guter erster Eindruck rasch verblasst, weil die Ausführungen schlagwortartig und oberflächlich bleiben oder vage ausfallen. Als Laie würde man vermutlich denken, dass die Referenten den Gehalt ihrer Überlegungen mehr oder weniger treffend einschätzen können. Die Assessment-Praxis zeigt jedoch, dass dem häufig nicht so ist. Zum einen gibt es Kandidaten, die voller Selbstvertrauen und im Brustton der Überzeugung nur Banalitäten und einfache Heuristiken zum Besten geben, unpassendes Name Dropping betreiben oder völlig am Thema vorbeireferieren, und, weil sie es nicht besser wissen, dennoch glauben, viel Substanz geliefert zu haben. Besonders überzeugend erscheinende Personen können unter Umständen sogar bei besser qualifizierten Zuhörenden Zweifel an der eigenen Kompetenz auslösen. Im Gegensatz dazu kann es speziell bei sehr kompetenten Personen vorkommen, dass sie das Publikum überschätzen und bei diesem zu viele Vorkenntnisse voraussetzen. Typisch für Top-Experten ist auch, dass sie Informationen, die von den Blendern als wichtige Erkenntnisse oder Überlegungen verkauft werden, nicht selten als so selbstverständlich einschätzen, dass sie sie als nicht erwähnenswert erachten. Damit ist auch gesagt, dass höhere Kompetenz nicht zwingend inhaltlich bessere Referate hervorbringt. Zuweilen fallen die Überlegungen dieser Kandidat

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eher abstrakt und abgehoben aus, oder sie verlieren sich in Details, die allenfalls für ein Fachpublikum spannend sind. Zentral ist es also, sich auch auf das Publikum vorzubereiten. Wer ist mein Publikum? Welche Vorkenntnisse sind vorhanden? Mit welchen Informationen kann ich deren Interesse wecken? Sind die Zuhörenden gestresst oder haben sie Zeit? Zusätzlich gilt es, auf Insider-Abkürzungen, spezifische Fachbegriffe oder unnötige Fremdwörter zu verzichten oder diese zu erklären. Falsch verwendete Wörter sind ebenso peinlich oder aufgesetzt wie irrelevante Anekdoten, beispielsweise wenn sich jemand ausdrücklich bemüht, sich als besonders guter „Storyteller“ zu präsentieren. Es ist klar, dass eine lebendige Sprechweise und eine schwungvolle Gestik überzeugender wirken als ein monotones, eher steif vorgetragenes Referat. Entscheidender aber ist, dass man stets authentisch bleibt. Ein bemühtes oder übertriebenes Bestreben, emotional oder begeisternd aufzutreten, verfehlt in der Regel die Wirkung. Dann lieber sachlich, zurückhaltend, glaubwürdig und kompetent. Gleichzeitig ist es allerdings auch so, dass mit einer guten Präsentationstechnik eine mindestens durchschnittlich professionelle Wirkung erzielt werden kann. Eine Agenda zu Beginn, ein strukturierter Ablauf mit einem roten Faden und ein zum Gespräch einladender Abschluss sind auf der formalen Ebene besonders wichtig. Zentral ist ferner, dass der Flipchart oder die Slides nicht mit zu vielen Informationen überladen sind, sondern übersichtlich bleiben, und dass man sich im Voraus überlegt, welches die Kernbotschaften sind. Weil nicht davon ausgegangen werden darf, dass sich das Publikum den gesamten Beitrag merken kann und will, lohnt es sich, sich bereits vor der Präsentation darüber Gedanken zu machen, welche 2–3 Botschaften die Zuhörenden am Ende mitnehmen sollen. Empfehlenswert ist es also, das Gesagte zum Schluss zusammenzufassen und das Wichtigste noch einmal auf den Punkt zu bringen. Nicht selten kommt es vor, dass sich ein zunächst guter Eindruck in der anschließenden Diskussion verflüchtigt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es dem Kandidaten nicht gelingt, seine Ausführungen zu erklären oder sinnvoll zu vertiefen. Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige Personen, die sich nicht wohlfühlen, wenn sie einen Monolog halten müssen. Ihnen entspricht es mehr, Gedanken gemeinsam mit anderen zu entwickeln und, wenn immer möglich, diskursiv vorzugehen. Bei diesem Personenkreis kann es vorkommen, dass sie in der Fragerunde nach der Präsentation regelrecht aufblühen. Es lohnt sich also auf jeden Fall, einige kritische Nachfragen zu stellen und zu prüfen, wie sattelfest jemand bei einem Thema wirklich ist. Sitzungsmoderation und Verhandlungstechnik  Zu professioneller Moderationstechnik und Verhandlungsführung existiert eine Fülle von Spezialliteratur (z.  B.  Hofmann, 2018; Schranner, 2020). Auf technische Aspekte wie etwa den Aufbau einer effektiven Sitzung wird hier nicht eingegangen. Im Assessment-Bereich kommen Übungen, die aussagekräftige Aussagen über die Moderationsfähigkeiten erlauben, vor allem in Gruppen-­ Assessments mit mehreren Teilnehmenden vor. In solchen Assessment- oder Development-­ Centern sind sogenannte ungeführte und geführte Gruppendiskussionen üblich. Bei Ersteren sieht die Übungsanlage vor, dass das Team selbst einen Weg finden muss, einen zielführenden Prozess zu initiieren. Eine wichtige Rolle kommt dabei der Moderatorin

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oder dem Moderator zu. Diese Rolle wird meist von einer bestimmten Person übernommen, kann aber auch wechseln. Leider zeigen Forschung und Praxis, dass diese informelle Führungsrolle oft von den lautesten und narzisstischen Personen übernommen wird, wobei sich diese nicht nur eher als dafür besonders geeignet einschätzen, sondern auch mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von den anderen dazu gedrängt werden. Treten sie zu dominant und bestimmend auf, führt dies in der Regel dazu, dass sich einzelne Teilnehmende widersetzen, während sich einige andere stillschweigend aus der Veranstaltung verabschieden. Selbstredend ist das Ergebnis einer solchen Übung – oder eines Meetings in der Praxis – am besten, wenn es gelingt, alle Teilnehmenden zu aktivieren und dazu zu bringen, sich aus eigener Motivation für ein gutes Ergebnis einzusetzen. Gute Moderatorinnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich primär darauf konzentrieren, den Prozess zielgerichtet voranzutreiben, und achtsam dafür sorgen, dass sich alle Teilnehmenden in einem ähnlichen Ausmaß an der Diskussion und an der Lösungsfindung beteiligen. Wichtig ist, notorische Vielredner auch einmal einzubremsen oder ruhige, zurückhaltende Personen aktiv anzusprechen. Folgt man den Aussagen erfahrener Führungskräfte, sind gut geführte und effektive Meetings eher die Ausnahme als die Regel. Ermüdende Sitzungsmarathons werden von diesen vergleichsweise häufig als Energiefresser im Alltag erwähnt. Generell von großer Bedeutung ist, dass für die Sitzungen ein klares Ziel festgelegt und endlose Grundsatzdiskussionen vermieden werden. Falls die Moderation in einer Doppelrolle (z. B. Führungskraft und Moderation) erfolgt, sollte die entsprechende Person immer deklarieren, welchen Hut sie gerade trägt. In professionellen Verhandlungen ist eine seriöse Vorbereitung das A und O. Dabei ist es ebenso wichtig, den eigenen Verhandlungsspielraum im Voraus festzulegen wie zu recherchieren, was die Gegenpartei möchte und mit wem man es zu tun hat. Bei wichtigen politischen Verhandlungen ist auch der Zusammensetzung des Teams sowie den Aufgaben der einzelnen Mitglieder größte Beachtung zu schenken. So wird sich der definitive Entscheider nicht selbst an den Verhandlungstisch begeben, damit im Notfall noch eine Eskalationsmöglichkeit besteht (Schranner, 2020). In der Praxis können sich komplexe Verhandlungen über fast beliebig viele Runden hinziehen und Monate dauern. Theoretisch steht am Ende eines der folgenden 5 idealtypischen Verhandlungsresultate: 1) Lose-lose,2) Win-lose, 3) Lose-win 4) Win-win oder 5) Kompromiss. Letzterer unterscheidet sich von der Win-win-Lösung dadurch, dass man sich irgendwo in der Mitte findet und alle Parteien gewisse Konzessionen machen müssen. Implizit gehen die meisten Menschen davon aus, dass bei Verhandlungen alle Seiten eine Einigung erzielen wollen und tendenziell Win-win-orientiert sind. Dies liegt vermutlich nicht zuletzt am Erfolg des „Harvard-­Konzepts“, von dem die meisten Führungskräfte zumindest schon einmal gehört haben. Diesem zufolge ist das bestmögliche Ergebnis also eine Win-win-Situation, bei der alle Parteien ihre Anliegen durchsetzen können. Die Kunst besteht darin, die echten Bedürfnisse hinter den zuerst oder vordergründig vorgebrachten Verhandlungspositionen zu erkennen (z. B. Friedensvertrag von Camp David). Oft ergeben sich daraus völlig neue Lösungsansätze.

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Hofmann (2018) nennt ein spektakuläres Beispiel, bei dem es gelang, einen Geiselnehmer dazu zu bringen, sich zu ergeben, indem man in langen Gesprächen ein nicht offensichtliches Anliegen von ihm erkannte und erfüllte. Nachdem der Geiselnehmer die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt hatte, war er prinzipiell bereit, sich zu stellen. Es war ihm aber äußerst wichtig, nicht als Weichei, sondern als harter Kerl ins Gefängnis zu kommen. So war die Polizei bereit, in einer großangelegten Aktion das Gebäude zu stürmen, in dem er sich verschanzt hatte. Ziel war es, nach außen resp. für die Medien heftigen Widerstand seinerseits zu suggerieren. In der Praxis sind solche Erfolge vermutlich eher die Ausnahme. Klar aber ist, dass Verhandlungssituationen in kleinerem Maßstab im Alltag sehr oft vorkommen, weshalb sie auch gern in Assessments simuliert werden, beispielsweise in Form eines Ressourcenkonflikts. Dabei wird von den Kandidatinnen erwartet, dass sie sowohl ihre eigenen Positionen angemessen bestimmt und nachdrücklich vertreten als auch diejenigen der anderen Partei oder des Gesprächspartners herausfinden können. Je nach Situation sind unterschiedliche Argumentationslinien denkbar, etwa fachliche oder betriebswirtschaftliche Argumente. In der Praxis zeigt sich, dass sehr oft übersehen wird, dass das Gegenüber bei überdauernden Kontakten nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der persönlichen Ebene gewonnen werden muss – sprich, es gilt auch, dessen soziale Kooperationsbereitschaft zu wecken. Gelingt dies nicht, wird sich der andere – je nach Verhandlungsposition – entweder gar nicht oder nur bedingt entgegenkommend verhalten. Es ist also auch in Verhandlungen wichtig, dass man die Beziehungsebene bewusst pflegt (z. B. Gemeinsamkeiten finden, Anerkennung aussprechen etc.). Am einfachsten gelingt das, indem man sich die Zeit nimmt, um die Interessen und Anliegen der Verhandlungspartner genau zu verstehen  – sprich offene Fragen stellt, um die Hintergründe der echten oder vorgeschobenen Standpunkte zu verstehen. Idealerweise eröffnen sich völlig neue Anhaltspunkte oder zumindest größere Spielräume für detailliertere Verhandlungen, sodass beispielsweise ein gewisser Prozentsatz des idealerweise erreichbaren quantitativen Ziels ausgehandelt werden kann. Bei Verhandlungen oder Überzeugungssituationen gilt die Regel ganz besonders, dass eine Botschaft, die das Herz erreicht, mehr Wirkung entfaltet als eine Fülle rationaler Argumente. Vor allem wenn das Gegenüber starke Bedenken oder Ängste empfindet, besteht kaum eine Chance, bei diesem an die Vernunft zu appellieren oder zu versuchen, Einsicht zu wecken. Auch bei prinzipiell wohlgesonnenen und vernünftigen Personen kann man heftigen Widerstand provozieren, wenn man diese mit Monologen oder einem dominanten Auftreten überfährt, die eigenen Punkte gebetsmühlenartig wiederholt oder dem Gegenüber fix und fertige Lösungen serviert, womöglich nach dem Prinzip „Vogel, friss oder stirb!“. Ist man zu einseitig auf die eigene Sichtweise fixiert und insofern primär mit sich selbst beschäftigt, geht in der Regel die Achtsamkeit für die Gesprächspartner verloren. Erfahrungsgemäß sehr erfolgversprechend sind dagegen nutzenorientierte Argumente, sprich Botschaften, die dem Gegenüber einen konkreten Nutzen einer Kooperation aufzeigen. Ein potenzieller materieller oder immaterieller Gewinn (z. B. Statusgewinn bei der Geschäftsleitung) erhöht die Bereitschaft des Verhandlungspartners, eine gemeinsame Vereinbarung zu erzielen.

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Wie schon erwähnt, reagieren Menschen vor allem auf einen möglichen Verlust besonders empfindlich. Es lohnt sich also, sich zu überlegen, ob die eigenen Anliegen einen möglichen Verlust für die Gegenpartei beinhalten resp. dies subjektiv so erlebt werden könnte. Widerstand aufgrund eines erwarteten Verlusts lässt sich am besten mittels möglichst gleichwertiger Optionen begegnen. Die meisten Menschen reagieren sensibel auf Fairness und streben nach einem stimmigen Verhältnis von Geben und Nehmen. Muss eine rasche Einigung erzielt werden, bietet sich insofern ein guter Kompromiss an. Zu vermeiden sind ein zu schnelles oder umfassendes Entgegenkommen, Drohungen oder ein stures Festhalten an den eigenen Positionen. In der Praxis ist zudem von großer Bedeutung, ob es sich um eine einmalige oder eine wiederkehrende Begegnung mit dem Verhandlungspartner handelt. Ein vermeintlicher Sieg, bei dem das Gegenüber große Konzessionen machen muss oder gar einen Gesichtsverlust erleidet, wird sich bei der nächsten Verhandlungsrunde als Nachteil herausstellen, weil künftig mit einer stark abwehrenden Grundhaltung zu rechnen ist. Der Verhandlungspartner wird sich bei einer möglichen nächsten Verhandlungsrunde besonders unnachgiebig zeigen oder sich eher querstellen, notfalls auch auf Kosten der eigentlich besten Lösung. Und mit reaktanten, das heißt trotzigen Personen umzugehen, ist bekanntlich besonders anspruchsvoll. Alltagskommunikation  Kurze Gespräche im Alltag sind für die meisten Menschen wichtig, weil dieser informelle Austausch das Bedürfnis nach Geselligkeit und Zugehörigkeit befriedigt und einem das gute Gefühl gibt, von jemandem beachtet zu werden. Extravertierte Personen beziehen Energie aus jeglicher Art von sozialem Austausch, während Introvertierte pausenlosen sozialen Kontakt als anstrengend erleben. Außerdem zeigt die Alltagserfahrung, dass sich Menschen in informellen Kontexten über sehr unterschiedliche Themen unterhalten wollen. Im Geschäft fühlen sich vor allem Fachexperten stark mit ihrem Interessengebiet verbunden und ziehen auch bei der Kaffeepause Sachdiskussionen vor, während sich andere lieber über den neuesten Tratsch unterhalten. Außerdem gibt es Personen, die sich gern ausführlich mitteilen, während sich andere in der Rolle des Zuhörenden wohler fühlen. Bis zu einem gewissen Grad sind in einem Unternehmen alle angehalten, auch informelle Gespräche zu führen, da ansonsten die Gefahr besteht, dass man als Außenseiter betrachtet und ausgegrenzt wird. Die unterschiedlichen thematischen Präferenzen bewirken eine mehr oder weniger starke Gruppenbildung. Solange sie sich nicht voneinander abgrenzen, ist das allerdings kein Problem. In der Literatur herrscht mehrheitlich die Vorstellung von High-Performing Teams vor, bei denen auch die informellen Anlässe hauptsächlich dazu genutzt werden, Lösungsansätze für aktuelle Probleme zu finden oder potenziell nützliche Erfahrungen und Kenntnisse auszutauschen. Die gemeinsame Kaffeepause wird deshalb als nicht nur für den Teamzusammenhalt, sondern zum Beispiel auch für das Entstehen innovativer Ideen als sehr wichtig erachtet. Idealerweise sollten diese sozialen Gelegenheiten sowohl zum Entwickeln persönlicher Beziehungen als auch für fachlichen Austausch genutzt werden. Übertreibungen auf beide Seiten bewirken, dass sich einige Beteiligte unwohl fühlen.

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Nehmen Klatsch und Tratsch überhand, stellt sich die Frage, ob sich die Mitarbeitenden wirklich für ihre Arbeit interessieren und sich mit den geschäftlichen Zielen ausreichend identifizieren. Entsteht eine hauptsächlich negative Lästerkultur etwa gegen einzelne Personen oder das Management, sollte den Ursachen auf den Grund gegangen und auf jeden Fall Maßnahmen eingeleitet werden. Auf der anderen Seite fehlt die persönliche Ebene, wenn ausschließlich fachliche Themen diskutiert werden. Gleichzeitig haben die meisten Menschen ein Bedürfnis nach „emotional support“, das heißt den Wunsch, die eigenen Probleme mit jemandem zu teilen und Bestätigung dafür zu erhalten, dass die eigenen Wahrnehmungen und Gefühle in Ordnung sind. Selbstverständlich ist es immer so, dass man ein Risiko eingeht, wenn man sich auf persönliche Weise anderen offenbart; denn die sensiblen Informationen könnten gegen diese Person verwendet werden  – eine beliebte Strategie von Psychopathen. Speziell in sehr traditionellen, männlich geprägten Kulturen kann es deswegen vorkommen, dass sich niemand getraut, anderen mitzuteilen, was wirklich in einem vorgeht, wobei das Ausklammern von Gefühlen und vom „private me“ teilweise auch als Professionalität schöngeredet wird. Emotionen und weiche Themen gehören aus dieser Sicht nicht ins Geschäft. Im Assessment erkennt man solche Personen daran, dass sie auch in diesem geschützten Rahmen Mühe haben, sich zu öffnen, sowie an einer gewissen Distanz, die sie üblicherweise ausstrahlen. Professionell daran ist – nichts. Noch immer sind die Beschäftigten in den meisten Firmen gut beraten, sich genau zu überlegen, wem sie was im Vertrauen mitteilen. Eigentlich könnte man von erwachsenen Personen erwarten, dass sie über vertrauliche Vieraugengespräche Stillschweigen bewahren. Die Alltagserfahrung zeigt jedoch, dass viele Menschen andere verpetzen wie Schulkinder. Im Rahmen des bei neuen Führungsansätzen zentralen Konstrukts der „psychologischen Sicherheit“ wird eine Kultur angestrebt, in der sich die Mitglieder eines Teams oder einer ganzen Firma sicher fühlen, auch eine gewisse Verletzlichkeit zeigen zu dürfen. Dies ist nicht nur gut für die Psychohygiene, sondern auch für das Geschäft. Sich verstellen oder sich in einer misstrauischen oder unpersönlichen Umgebung bewegen zu müssen, bindet nämlich Energie, die in einem Vertrauensklima für anderes frei wird. Zurück zum informellen Gespräch: Was also tun, wenn man Smalltalk nicht so mag oder nicht weiß, wie man sich dabei verhalten soll? Man muss nicht an jeder Cocktailparty im Mittelpunkt stehen, und man muss auch nicht unbedingt versuchen, mit allen gut Freund zu sein. Wenn einem das Geschehen zu oberflächlich wird, darf man sich auch jederzeit entfernen. Ansonsten empfiehlt sich ein unverkrampfter Umgang mit solchen Situationen. Man muss nicht bei jedem Thema unbedingt mitreden – diejenigen, die das tun, werden hinter vorgehaltener Hand dafür eher belächelt. Empathische Kommunikation  Ein aktuell sehr verbreitetes Schlagwort ist die empathische Kommunikation, die auf die gewaltfreie Kommunikation von Rosenberg (2001) zurückgeht. Dabei geht es darum, die eben geschilderten Schwierigkeiten zu meistern, indem man versucht, sich in die Gedanken und Gefühle seiner Gesprächspartner hineinzuversetzen und deren Perspektive nachzuvollziehen. Gemäß Assessment-Praxis stellt das Vermögen,

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unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, die Königsdisziplin unter den sozialen Kompetenzen dar – es handelt sich vermutlich geradezu um die Essenz von sozialer Intelligenz. Leider gehört diese Fähigkeit auch zu denen, die in den Assessment-Berichten besonders oft unter den Entwicklungshinweisen vorkommen. Wie anspruchsvoll das Thema ist, mag ein einfaches Beispiel illustrieren. Man ist etwa als Autofahrer unterwegs und ärgert sich aus irgendwelchen Gründen über das Verhalten eines Fußgängers. Möglicherweise ist man am nächsten Tag als Fußgänger unterwegs und macht genau dasselbe wie der Fußgänger, über den man sich tags zuvor geärgert hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich dann über den Autofahrer ärgert, ist viel höher, als dass man sich in dem Moment bewusst wird, dass es am Vortag genau umgekehrt war und man sich über den Fußgänger geärgert hat. Die notwendige Selbstaufmerksamkeit für solche Erkenntnisse ist bei vielen Menschen allenfalls mangelhaft vorhanden. Stattdessen hat man für das eigene Verhalten immer einen triftigen Grund, während sich im Zweifelsfall grundsätzlich die anderen falsch verhalten. Anders als in diesem fiktiven Beispiel hat man im Alltag in der Regel die Gelegenheit, die Perspektive des Gegenübers zu erfahren, sofern man das überhaupt will. Bei der ­Umsetzung von empathischer Kommunikation steht das Konzept der gewaltfreien Kommunikation im Mittelpunkt. Das nachstehende 4-stufige Prozessmodell von Rosenberg (2001) soll nicht nur helfen, konkrete Konflikte zu lösen, sondern auch zu einer Verbesserung der Beziehung beitragen. Dieser Ansatz stimmt weitgehend mit der bereits diskutierten WWW-Formel des Feedbacks überein, beinhaltet aber zusätzlich den Anspruch, die Bedürfnisse hinter den bei einem selbst ausgelösten Gefühlen mitzuteilen. Dieser Aspekt setzt eine hohe Kompetenz bei der Selbstwahrnehmung voraus, denn es gilt, die eigenen Gefühle richtig zu interpretieren. Wie schon erwähnt, ist dies einfacher gesagt als getan: (1) Beobachten: Konkrete Handlungen und Aussagen sollen nüchtern und sachlich beurteilt werden: Was genau sagt der andere? Was sehe ich? Was löst das bei mir aus? Mag ich das oder nicht? Entscheidend ist die Trennung von Beobachtung und Bewertung. (2) Eigene Gefühle aussprechen: Dem Gegenüber mitteilen, was dessen Handlungen und Aussagen bei einem auslösen. Ärger oder Irritationen nicht hinunterschlucken, sondern ansprechen. (3) Bedürfnisse mitteilen: Dem Gegenüber erklären, welche Anliegen hinter den aufkommenden Gefühlen stehen. Damit um Verständnis werben und Lösungsmöglichkeiten eröffnen. (4) Bitte oder Wunsch formulieren: Eine Bitte beschreibt eine konkrete Aktion, die gewünscht oder erwartet wird, während der Wunsch breiter und allgemeiner gefasst ist. Wichtig ist es, dem Gegenüber klar zu sagen, was man will. Für das empathische Zuhören empfiehlt Rosenberg, sich ebenfalls an diesen 4 Schritten zu orientieren. Um sich in hohem Maße in die Perspektive des Gegenübers hinzuversetzen, sollten gemäß Assessment-Praxis weitere Prinzipien beachtet werden 1) Wer selbst redet, erfährt nichts. Viele offene Fragen stellen, genau hinhören und eventuell nachfragen.

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2) Ergebnisoffen vorgehen. Nicht versuchen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern sich das Verstehen des Gegenübers zum Ziel setzen. 3). Sich ausreichend Zeit nehmen, bei Bedarf eher in einen kontinuierlichen Dialog einsteigen.

4.5.12 Teamarbeit und Kooperationsfähigkeit Im geschäftlichen Kontext sind die meisten Menschen Teil eines oder mehrerer Teams. Bell (nach Becker, 2016) definiert Team sinngemäß als Ansammlung voneinander abhängiger Individuen, die ein gemeinsames Ziel erreichen müssen oder wollen. Besonders erfolgreiche Teams werden als High-Performing Teams bezeichnet. Am Beispiel des Teams Alinghi, 2003 Gewinner des „America’s Cup“, des prestigeträchtigsten Segelwettbewerbs der Welt – identifizierten Jenewein und Heidbrink (2008) die folgenden 5 Merkmale von High-Performing Teams: 1) Vision, Mission und Ziel sind geklärt, 2) kompromisslose Personalauswahl, 3) klare Hierarchien, Strukturen und Rollenverteilungen, 4) ein gewisses Maß an Freiheiten, internem Wettbewerb und regelmäßiges Feedback, 5) Motivation und Energie aufrechterhalten. Ein aktuelleres Beispiel aus der Unternehmenspraxis ist das Ergebnis des Projekts „Aristoteles“ von Google, bei dem 180 interne Teams darauf untersucht worden, was die besten von den weniger leistungsfähigen Arbeitsgruppen unterscheidet. Der erhoffte Wunderalgorithmus für die Zusammenstellung von „Dream Teams“ wurde zwar nicht entdeckt, es wurden aber ebenfalls 5  wesentliche Merkmale von High-Performing Teams identifiziert (Rozovsky, 2015): 1) Psychologische Sicherheit: Können die Teammitglieder Risiken eingehen, ohne sich dabei unsicher zu fühlen? Ebenfalls: Darf man man selbst sein – auch einmal verletzlich sein? 2) Verlässlichkeit: Kann man sich darauf verlassen, dass alle ihre Arbeit pünktlich und gut erledigen? 3) Struktur und Klarheit: Sind Ziele, Rollenverteilung und Ausführungswege im Team klar? 4) Sinn: Wird an etwas gearbeitet, das allen Teammitgliedern persönlich wichtig ist? 5) Einfluss der Arbeit: Glauben die Teammitglieder, dass ihre Arbeit einen Unter schied macht? Unter den 5 von Google herausgefunden Aspekten handelt es sich bei der psychologischen Sicherheit um den wichtigsten. Die beiden Zusammenstellungen zeigen, dass das einzelne Teammitglied – vor allem im klassischen Setting – nur einen begrenzten Einfluss hat. Als wesentliche Eigenschaften von guten Teamplayern ließen sich aus der Sicht des Aristoteles-­ Projekts etwa folgende herauslesen: Zuverlässigkeit beim Erbringen der einem zugeordneten Leistungen, die Fähigkeit, den anderen den Sinn und die Bedeutung der gemeinsamen Aufgabe aufzuzeigen oder dazu beizutragen, dass eine wechselseitig vertrauensvolle und sichere Atmosphäre entsteht. Gemeinhin geht man davon aus, dass ein Team mehr ist

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als die Summe seiner Einzelteile und deshalb einen Mehrwert liefert, sofern es nicht durch unrealistische Vorgaben, eine destruktive Führung oder interne Konflikte gelähmt wird. Dabei wird seit Tuckman (1965) postuliert, dass ein Team von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung einen bestimmten Prozess durchläuft, der idealtypisch die folgenden Schritte beinhaltet: • Forming: Orientierungsphase. Die Personen kommen zusammen, vieles ist noch unklar. Die Führungskraft muss in dieser Phase vor allem Orientierung vermitteln. • Storming: Verschiedene Auffassungen und Persönlichkeiten prallen aufeinander. Es gibt Konflikte, gleichzeitig bilden sich langsam Rollen und Ziele heraus. Die Führungskraft sollte Konflikte zulassen, jedoch darauf achten, dass diese nicht feindselig werden. • Norming: Organisationphase, in der sich die Strukturen, Spielregeln und Normen he­ rausbilden und die Ziele klarer werden. Die Führungskraft sollte jetzt vor allem moderieren und koordinieren. • Performing: Integrationsphase, in der die Selbstorganisation zunimmt und das Team anfängt, effektiv zu arbeiten. Führungskräfte sollten sich hier zurückhaltend und unterstützend einbringen. • Adjourning: Auflösungs- und Abschlussphase. Wenn möglich sollte ein geregelter Abschluss vollzogen werden. In Scrum-Teams dürfte sich der Findungsprozess aufgrund der strukturierten Kommunikation, der festgelegten Lerngefäße und der Moderation durch den Scrum-Master beschleunigen. Das Teambuilding erfolgt im Vergleich zu klassischen Teams eher stärker strukturiert. Teams agieren allerdings nicht immer erfolgreich, sondern können sich auch in eine unerwünschte Richtung bewegen. „Groupthink“ (Janis, 1972) beispielsweise beschreibt ein Phänomen, bei dem in sehr homogenen Teams etwaige kritische Einwände nicht geäußert werden, um die Harmonie in der Gruppe nicht zu gefährden. Typische Symptome von Gruppendenken sind etwa übersteigerter Optimismus bis hin zum Gefühl von Unverwundbarkeit oder die Überzeugung, eine überlegene Moral zu vertreten. Speziell in einem stark ideologisierten Umfeld gehen diese Tendenzen einher mit einer systematischen Abwertung anderer Gruppen und Personen. Derselbe Effekt tritt auf, wenn eine Gruppe von einer dominanten Person kontrolliert und andere Meinungen nicht toleriert werden. Lencioni (2014) unterscheidet 5 Arten von Dysfunktionen in Gruppen: (1) Mangelndes Vertrauen: In einem Umfeld, in dem man keine Schwächen zeigen und sich keine Fehler erlauben darf, gedeiht ein Klima des Vertuschens von Fehlleistungen und des Abschiebens von Verantwortung. Gigerenzer (2017) streicht in diesem Zusammenhang vor allem das Prinzip des defensiven Entscheidungsverhaltens he­ raus. Danach entscheiden die Menschen in einem solchen Umfeld nicht so, wie sie es eigentlich für richtig halten, sondern so, dass sie möglichst wenig Probleme bekommen oder am Ende nicht schuld sind, wenn irgendetwas schiefläuft. Dass dies vielerorts System hat, illustriert er an einem extremen Beispiel: International tätige Unter-

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nehmen kaufen bei Banken Prognosen für die Entwicklung der wichtigsten Wechselkurse ein, obwohl sich diese über einen Zeitraum von 10 Jahren fast ausnahmslos als falsch erwiesen haben und alle wissen, dass diese Prognosen im Grunde wertlos sind. So geht es letztendlich nicht darum, nützliche Informationen einzukaufen, sondern einen Sündenbock. Gemäß Gigerenzer wird in Großunternehmen die Hälfte aller Entscheidungen auf diese Weise gefällt. Dies zeigt deutlich, dass sich die Entwicklung einer Vertrauens- und Fehlerkultur nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus finanziellen Gründen lohnt. Einen Fehler zu korrigieren, kostet in der Regel weniger als all die Aktivitäten, die entfaltet werden, um Fehler zu vermeiden oder zu vertuschen. Für Lencioni bildet der Aufbau einer Vertrauenskultur auch eine notwendige Voraussetzung für den Umgang mit den anderen Dysfunktionen. Speziell eine konstruktive Feedback- und Konfliktkultur setzt tragfähige Vertrauensbeziehungen voraus. (2) Mangelnde Konfliktbereitschaft und Harmoniesucht: Wird Kritik unterdrückt oder persönlich genommen, entsteht eine Atmosphäre, in der man stets oberflächlich nett zueinander sein muss, unangenehme Themen nicht angesprochen werden und bei ungünstigen Entwicklungen geschwiegen wird. In der Praxis lässt sich oft beobachten, dass sich auch gestandene Manager oder Leader mit Konflikten schwertun, meist aufgrund der Annahme, dass diese Beziehungen schädigen, den Betriebsfrieden stören oder die Produktivität senken. Bemerkenswerterweise würden gleichzeitig fast alle bestätigen, dass ohne Reibung und harte Diskussionen kaum sehr gute Ergebnisse erzielt oder Innovationen hervorgebracht werden können. Ebenso klar ist, dass alle Beteiligten bis zu einem gewissen Grad gewillt und fähig sein müssen, die Sache und die gemeinsamen Ziele über die eigenen Befindlichkeiten und egoistischen Interessen zu stellen. Da sich etwa zwischenmenschliche Spannungen oder unausgesprochene Meinungsverschiedenheiten ohnehin irgendwann manifestieren, lohnt es sich, eine konstruktive Konfliktkultur zu etablieren. Diese erfordert allerdings eine höhere persönliche Reife als eine Kultur der Scheinharmonie („pinke Kultur“). ( 3) Fehlendes Engagement und mangelndes Commitment: Hier steht ein übertriebenes Bedürfnis nach Konsens und Gewissheit im Zentrum. Müssen immer alle einverstanden sein und die perfekte Lösung gefunden werden, besteht die Gefahr endloser Grundsatzdiskussionen und mangelnder Entscheidungsfähigkeit. Statt klarer Prioritäten und ebensolcher Maßnahmen herrschen Mehrdeutigkeit und mangelnde Verbindlichkeit vor. Auf der zwischenmenschlichen Ebene kann die Stimmung als lähmend wahrgenommen werden. Es fühlen sich nur diejenigen wohl, die den Austausch mit anderen als Selbstzweck schätzen und hinsichtlich einer Zielerreichung keine besonderen Ambitionen hegen. Gleichzeitig reduzieren sich Initiative und Verantwortungsbereitschaft auf der einen, das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe auf der anderen Seite. Man handelt egoistisch. ( 4) Niedrige Standards: Bei diesem Punkt geht es primär um den Umgang mit den individuellen Leistungen der einzelnen Teammitglieder resp. der Erwartung, dass alle ihren Beitrag zum gemeinsamen Ergebnis leisten. Gefordert ist die Bereitschaft, schä-

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digendes Verhalten oder ungenügende Leistungen im Team offen anzusprechen. Werden auf der Leistungsebene keine höheren Ansprüche an die Beteiligten gestellt, entstehen höchstens mittelmäßige Resultate. Im schlimmsten Fall passen sich die anderen an und reduzieren ihr Engagement. Dieser Aspekt zeigt vor allem die Bedeutung einer offenen Feedback-Kultur und der Notwendigkeit, klare Erwartungen und Ansprüche zu stellen und einzufordern. ( 5) Fehlende Ergebnisorientierung: Dieser Aspekt stellt besonders die Bedeutung einer gemeinsamen Zielsetzung heraus. Eine gemeinsame Mission sorgt dafür, dass die Teammitglieder die gemeinsamen Interessen über ihre persönlichen Ziele stellen. Fehlt dieses verbindende Element, treten vermehrt Egoismus und Statusdenken auf, wobei die Teammitglieder hauptsächlich versuchen, das Beste für sich selbst herauszuholen. Ebenfalls zu erwarten ist, dass sich die Leistungsträger nach einer anderen Aufgabe umsehen. Dass ein gänzliches Fehlen eines Leistungsprinzips ebenso ­schädlich sein kann wie überfordernde oder unrealistische Ziele, erklärt teilweise auch das Scheitern des Kommunismus oder die Langsamkeit der Behörden. Das sinnstiftende und motivierende Potenzial einer gemeinsam getragenen Vision oder Zielsetzung kann hingegen kaum überschätzt werden und ist zentral in sämtlichen neuen Leadership-­Ansätzen. Aus der Sicht dieser Ansätze ist es nicht einfach, die Merkmale eines guten Teamplayers herauszuschälen, zumal es wohl auf den richtigen Mix unterschiedlicher Persönlichkeiten und Fähigkeiten ankommt. Müller & Bungard (2013) bemängeln, dass kaum wissenschaftlich fundierte Konzepte für eine detaillierte Beschreibung von Teamfähigkeiten existieren. Auf der Grundlage der ihnen bekannten Ansätze schlagen sie vor, eine Taxonomie mit den folgenden 3 Hauptdimensionen zu entwickeln: 1) Merkmale hinsichtlich der funktionsgerechten Erledigung der Gruppenaufgabe (Planung, Koordination, Monitoring), 2) Aspekte der interpersonellen Zusammenarbeit (z. B. Konfliktregulation, Förderung von Teamgeist, Affektmanagement, Unterstützung und Motivation anderer Teammitglieder) sowie 3) Beiträge zur transformativen Ausrichtung der Gruppe (z. B. Identifikation künftiger Aufgaben, Spezifizierung von Zielen, Ableitung von Strategien). Mit der zunehmenden Verbreitung eigenverantwortlich handelnder Teams scheint es geboten, auch das Konstrukt Teamfähigkeit neu zu denken. In selbstorganisierten Teams reicht es nicht, sich einzugliedern, an die Kultur anzupassen und brav die einem zugewiesenen Aufgaben abzuarbeiten. Vielmehr sind eigenverantwortliches Handeln und Leadership-­ Fähigkeiten gefragt. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass sich Teamstrukturen immer rascher verändern und dass viele Personen in ständig neuen Konstellationen arbeiten müssen. Dass Team als „verschworene Gemeinschaft“ ist dann kaum mehr anzutreffen. In klassisch hierarchischen oder bürokratischen Systemen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die einzelnen Teammitglieder primär darauf konzentrieren, ihre individuellen Ziele zu erreichen und die attraktivsten Aufgaben zu ergattern. Ansonsten dominiert Dienst nach Vorschrift, während die ungeliebten Hintergrundarbeiten von denjenigen Personen wahrgenommen werden, die sich auch dem Gesamtergebnis verpflichtet fühlen. Bei

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transformational geführten Teams entsteht ein stärkerer Fokus auf das gemeinsame Ziel, sofern es den Führungskräften oder einzelnen Teammitgliedern gelingt, dafür Begeisterung zu wecken. Autonome Teams benötigen einen transparenten Zugang zu allen relevanten Informationen, damit sie entscheidungsfähig sind. Weil der notwendige Informationsbedarf auch die Beiträge der einzelnen Teammitglieder einschließt, entsteht ein gewisser sozialer Druck. Die Anforderungen auf der Leistungsebene gewinnen an Bedeutung, und Trittbrettfahrer und „Rosinenpicker“ haben es schwerer. Das Gleiche gilt für die Blender und Netzwerker in eigener Sache, die es in traditionellen Unternehmen oft erfolgreich schaffen, sich beim oberen Management für höhere Aufgaben zu empfehlen, auch wenn sie nicht unbedingt zu den Leistungsträgern gehören. Die Coaching-Praxis zeigt allerdings, dass beispielsweise in Scrum-Teams auch diejenigen Personen unter die Räder geraten, die in einer anderen Konstellation durch ihre erhöhten sozialen Fähigkeiten punkten können. Stimmt die Leistung überdauernd nicht, nützt es wenig, sich als „Teamfee“ oder Sorgenonkel zu positionieren und auf der persönlichen Ebene eigentlich sehr beliebt zu sein. Zusammenfassend lässt sich aus Sicht der Teamforschung nicht eindeutig sagen, welche Eigenschaften nun eine gute Teamplayerin ausmachen. Im Grunde ist es jemand, der viele Beiträge auf der aufgabenbezogenen, der interpersonellen und der transformativen Ebene leistet. Eine Führungskraft sollte sich auf die Vermittlung von Bedeutung und Sinn, auf Koordination und Moderation und das gemeinsame Erarbeiten anspruchsvoller Ziele konzentrieren sowie insbesondere auf der kulturellen Ebene darauf hinarbeiten, dass eine angemessene Konfliktkultur und eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit und des Vertrauens entsteht. Obwohl sich aus wissenschaftlicher Sicht nicht genau umreißen lässt, was denn nun einen guten Teamplayer besonders auszeichnet, scheint in der Praxis jeder und jede eine Vorstellung davon zu haben, „Ich bin ein absoluter Teamplayer oder Teamplayerin“ gehört definitiv zu den in Assessments am häufigsten gehörten positiven Selbstzuschreibungen. Sowohl bei quantitativen Selbsteinschätzungen auf einer Skala als auch bei den Ergebnissen in Persönlichkeitsfragebogen sind hohe Ausprägungen in dieser Dimension allerdings mit besonderer Vorsicht zu genießen. Erstens ist es natürlich so, dass sich niemand als Einzelkämpfer positionieren möchte, weil diese an den meisten Orten einen schlechten Ruf haben oder tatsächlich nicht teamorientiert sind. Zweitens scheint der verwendete subjektive Bewertungsmaßstab bei dieser Eigenschaft besonders weit auseinanderzugehen. Die einen unterhalten am Arbeitsplatz einige oberflächliche Beziehungen oder sorgen für gesellige Anlässe und halten sich deswegen bereits für gute Teamplayer. Einige erkennen, dass sie nicht mit allen gut können, glauben jedoch, dass dies an den anderen liegt. Andere wiederum hegen schon Zweifel an ihrer Kooperativität, wenn sie nicht einen guten Zugang zu ausnahmslos allen Kollegen finden. Drittens, und das ist der wichtigste Aspekt, verstehen alle etwas anderes unter Kooperationsfähigkeit, wobei in der Regel diejenige Facette ausgewählt wird, bei der man speziell gut dazustehen glaubt. Im Wesentlichen lassen sich in der Praxis 3 Richtungen ausmachen: 1) Mit anderen Teammitgliedern ein gutes Einvernehmen herstellen und sich gut in ein Team integrieren können. Es handelt sich um eine beziehungsorientierte Interpretation, bei der der Beitrag zur Gruppenkohäsion in den

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Mittelpunkt gestellt wird. 2) Primär sach- und aufgabenbezogene Personen betonen hingegen den Beitrag zur gemeinsamen Zielerreichung und beurteilen andere nach deren Engagement. 3) Werteorientierte Personen achten hingegen vor allem auf Aspekte wie Verlässlichkeit, Transparenz etc. Im erwähnten Modell der Teamphasen von Tuckman wird die Bildung gemeinsamer Werte und Regeln als Voraussetzung dafür verstanden, dass ein Team überdurchschnittliche Leistungen erbringt. Werden Beziehungsebene und Sachbezug zu einseitig gelebt, kann sich im Extremfall entweder eine leistungsfeindliche und überharmonische oder aber eine übertrieben leistungsorientierte, „unmenschliche“ Atmosphäre herausbilden vgl. Abs. psychologische Sicherheit. Auf der organisationalen Ebene unterscheiden Tamm & Luyet (2020) 3 mögliche Ausprägungen bezüglich Kooperationsverhalten. In der 1)  roten Zone herrscht eine konfliktträchtige Atmosphäre, jedoch kein Vertrauen. Es gibt offene Schuldzuweisungen sowie Aggressionen. Verletzlichkeit wird ausgenutzt, und man hat Angst, Fehler zu begehen. 2) In der pinkfarbenen Zone dominiert ein aggressionsgehemmtes Klima. Es existieren eine Scheinharmonie und Oberflächlichkeit, während kritische Themen nicht angesprochen werden und keine echte Feedback-Kultur herrscht. 3) In der grünen Zone ist die Atmosphäre geprägt durch Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz. Kritisches Feedback ist möglich, und es dürfen auch Gefühle oder Ängste direkt angesprochen werden. Ursprünglich verfolgen die genannten Autoren das Ziel, Unternehmen zu helfen, sich von der roten in die grüne Zone zu bewegen. In der Praxis stellten sie jedoch fest, dass sich sehr viele Organisationen in der – deshalb nachträglich definierten – pinkfarbenen Zone bewegen. Ihr Konzept „Radical Collaboration“ zur Kulturentwicklung umfasst die folgenden 5 Aspekte von Kooperationsbereitschaft und -vermögen: (1) Collaborative Intention: Der Wille, überhaupt zu kooperieren; Fokus auf beidseitige Gewinne. (2) Truthfulness/Openness: Eine Atmosphäre psychologischer Sicherheit als organisationale Voraussetzung; Bereitschaft der Beteiligten, sich ehrlich einzubringen. (3) Self-Accountability: Die Beteiligten übernehmen die Verantwortung für ihr Tun. (4) Awareness of Self and Others: Bereitschaft, sich auf heikle interpersonelle Themen einzulassen. (5) Problem-Solving and Negotiating: Bereitschaft und Fähigkeit, tragfähige Lösungen zu finden. Bewegt sich ein Team oder eine Organisation bei diesen Themen auf einem hohen Niveau, besteht die Chance, sich in die „Lernzone“ zu entwickeln. Das Konzept überschneidet sich weitgehend mit dem Ergebnis der Google-Studie, lässt sich aber einfacher auf das einzelne Teammitglied anwenden. Übergreifende Zusammenarbeit Die aktuellen Entwicklungen führen dazu, dass sich die klassische Linienorganisation immer mehr auflöst. Früher bestimmte die Hierarchie die Aufgabenbereiche und die Kom-

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petenzen der Beteiligten, wobei der Dienstweg meist auch die Weitergabe von Informationen regelte. Je mehr die Entscheidungsspielräume und Kompetenzbereiche dezentralisiert sind, desto wichtiger wird die Fähigkeit eines Teammitglieds oder des gesamten Teams, sich eigenständig zielführend im gesamten Netzwerk zu bewegen und einzubringen. Gegen außen sind damit sämtliche Maßnahmen zur Beschaffung von Informationen oder notwendigem Wissen sowie informelle Kooperationen aller Art gemeint. Kompetenzerwerb und Lernen passieren auf diese Weise fast automatisch. Intern können etwa Schnittstellenpartner direkt angesprochen werden, statt immer den umständlichen Umweg über die Hierarchie zu nehmen. Wer sich früher im Interesse der Sache über Dienstwege und Vorschriften hinwegsetzte, hatte unter Umständen mit negativen Konsequenzen zu rechnen. In Zukunft wird zunehmend erwartet, dass die Mitarbeitenden resp. die Teams ihre operativen Probleme selbst lösen, statt sich wegen jeder Kleinigkeit an die Vorgesetzten zu wenden bzw. wenden zu müssen. Einerseits ist es absolut essenziell, dass die Mitarbeitenden befähigt werden, tatsächlich eigenständig zu handeln, indem sie insbesondere Zugang zu den für sie wichtigen Informationen haben und auf jeden Fall Angebote zu einer besseren fachlichen Qualifikation wahrnehmen können. Auf der anderen Seite müssen die Beschäftigten mehr Initiative zeigen, mehr Verantwortung übernehmen und das größere Bild mehr im Auge haben. Die Anforderungen steigen, und es wird schwieriger, sich etwa in eine bequeme Nische zurückzuziehen. Zunehmend wichtiger wird auch die Teilnahme an informellen Netzwerken, zum Beispiel „Communities of Practice“. Bei diesen handelt es sich um Zusammenschlüsse von Personen mit ähnlichen Aufgaben zwecks Erfahrungsaustausch und Lernen. Im Grunde sind die Lernmöglichkeiten unbegrenzt, entscheidend ist der informelle und sich wandelnde Charakter der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit. Man bewegt sich in mehr oder weniger flexiblen Netzwerkstrukturen und nicht mehr in starren Linien. Ob die Zusammenarbeit physisch oder virtuell stattfindet, ist hingegen weniger wichtig. Bei einer konsequent kundenzentriert aufgestellten Organisation dreht sich die Richtung des Informationsflusses weitgehend um. Es liegt dann in der Verantwortung der Führung, dafür zu sorgen, dass die frontnahen Einheiten mit allen für sie wichtigen Daten und Fakten versorgt werden. Umgekehrt wird diese bei wichtigen Entscheidungen einbezogen, während die einfachen operativen Themen selbstständig bearbeitet werden. In gewisser Hinsicht stellt sich die Führung in den Dienst der Mitarbeitenden statt diese als Handlanger zu betrachten. Gleichzeitig wird auch mehr von diesen erwartet.

4.5.13 Inklusion und Umgang mit Diversität Sowohl aufgrund eines gesellschaftlich-politischen Wertewandels hinsichtlich des Umgangs mit Minoritäten oder benachteiligten Gruppen als auch aus praktischer Notwendigkeit aufgrund realer Entwicklungen wie Migration oder Globalisierung hat das Thema Diversität in den letzten Jahren laufend an Bedeutung zugenommen. Sowohl im Alltag als auch im Beruf nimmt die Heterogenität der Personen, mit denen man sich auseinanderset-

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zen muss, vielerorts laufend zu. Auf den ersten Blick denkt man bei Diversität an eine Gruppe, die aus Männern und Frauen oder Personen aus unterschiedlichen Ländern besteht. Neben offensichtlichen Merkmalen wie Geschlecht oder Hautfarbe kann damit auch die Integration von Menschen mit verschiedenen Geschlechtsidentitäten, sexueller Orientierung oder religiöser Gruppen gemeint sein. Ein besonders kontroverses Thema ist etwa die Frauenförderung, weil vielerorts angeblich immer noch die vielbeschworenen „alten weißen Männer“ an den Schalthebeln der Macht sitzen. Vor allem in den großen internationalen Unternehmen findet allerdings schon seit einiger Zeit ein Umdenken statt, weshalb versucht wird, mehr Frauen für Führungsaufgaben zu gewinnen. Dass es sich beim einsamen Alleinentscheider und Welterklärer um ein Auslaufmodell handelt, ist eine Kernthese dieses Buchs. Dieser Veränderungsprozess braucht aber Zeit und geschieht nicht von heute auf morgen. Viel debattiert werden auch die Unterschiede zwischen den Angehörigen der verschiedenen Generationen, die in der Arbeitswelt aufeinanderprallen und ein Auskommen miteinander finden müssen. Sowohl zu Geschlechtsunterschieden als auch zu den vermeintlich veränderten Wertvorstellungen der jüngeren Generationen (Generationen Y und Z) existiert eine Fülle von weiterführender Literatur. Während die Genderfrage auch aufgrund ihrer Entstehung in der Gleichstellungsdebatte schon immer ein Politikum (v. a. Frauenquoten) war und nichts an Brisanz verloren hat, werden die Generationenunterschiede vergleichsweise sachlich diskutiert. Grundsätzlich wird etwa davon ausgegangen, dass die jüngeren Mitarbeitenden nicht mehr bereit sind, alles der Arbeit oder der Karriere unterzuordnen und an die Unternehmen und ihre Vorgesetzten andere Ansprüche stellen (z.  B. größere Mitwirkungsmöglichkeiten). Oft wird auch postuliert, dass die Sinnhaftigkeit der Arbeit für die Jungen besonders wichtig sei, obwohl die empirische Befundlage dazu nicht eindeutig ist (Gensicke & Geiss, 2011). Echte oder vermeintliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder Angehörigen verschiedener Generationen spielen in diesem Buch keine Rolle. Denn als Mitarbeitende oder Führungskraft begegnet man im Alltag ja vor allem Individuen mit spezifischen Eigenheiten, Bedürfnissen und Fähigkeiten und einer einzigartigen Geschichte. Statt in Schubladen und Stereotypen sollte in graduellen Unterschieden hinsichtlich der für eine bestimmte Aufgabe relevanten Kompetenzen und Eigenschaften gedacht werden. Grundsätzlich ist es nämlich so, dass sich die Stärken und Verteilungen aller Eigenschaften und Fähigkeiten einer beliebigen Anzahl Personen auf einer „Glockenkurve“ („Gauss-Kurve“) abbilden lassen. Um die Mitte respektive den Mittelwert verteilen sich zwei Drittel der Werte (+/- 1 oder plus/minus 1 Standardabweichung), während Extremwerte in beide Richtungen seltener auftreten. Vergleicht man Untergruppen (z. B. Männer und Frauen), kann sich deren Mittelwert unterscheiden, es treten in der Regel aber trotzdem bei allen Teilgruppen prinzipiell alle denkbaren Ausprägungen auf. Wenn man beispielsweise annimmt, dass Frauen empathischer sind, hat dies im Einzelfall nichts zu bedeuten, da die größten Empathiker unter den Männern den meisten Frauen in dieser Hinsicht überlegen sind. Das Verhalten einer hartgesottenen weiblichen Psychopathin entspricht hingegen einem stereotypisch negativen Männerklischee besser als das konkrete Verhalten von mindestens 95 % der Männer. Oder anders gesagt: Es gibt dumme und kluge Männer, dumme

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und kluge Frauen, empathische Männer und unempathische Frauen oder selbstsichere Frauen und völlig verunsicherte Männer etc. Geschlechts-, Generationen oder andere Unterschiede sind spannende Forschungsfragen und bilden die Grundlage der verschiedensten Maßnahmen im Diversity Management in Unternehmen. Im Alltag will man aber als Führungskraft oder Kollege vor allem wissen, mit wem man es nun gerade zu tun hat. Stereotypische Vorstellungen hinsichtlich Männern, Frauen, Hautfarbe oder was auch immer sind hier nicht hilfreich. Ganz im Gegenteil: Sie bewirken eine voreingenommene und verzerrte Beurteilung der einzelnen Personen und verstellen den Blick auf das Wesentliche. Und das wirklich Wesentliche sind – neben den offensichtlichen religiösen, kulturellen und ethnischen Unterschieden (vgl. interkulturelle Kompetenz) – subtilere Themen wie unterschiedliche Weltvorstellungen, Fähigkeiten oder Persönlichkeitsmerkmale – das heißt die sogenannte „Deep-Level oder Deep Diversity“. Es sind diese Aspekte, die den Umgang eines Teams mit Heterogenität bestimmen. Theoretisch ist zu erwarten, dass das Leistungsvermögen eines heterogen Teams größer ist als dasjenige einer homogenen Gruppe, weil es mehr Meinungen oder unterschiedliche Arten gibt, eine Problemstellung anzupacken. Die Befundlage dazu ist aber keinesfalls eindeutig (Wegge & Shemla, 2013), es scheint eher so zu sein, dass eine höhere Heterogenität zwar durchaus ein höheres Potenzial in sich birgt, dieses aber von den Teammitgliedern nicht automatisch erschlossen wird. Dies ist nur dann der Fall, wenn es gelingt, die vorhandenen Unterschiede konstruktiv zu nutzen. Wird kein gegenseitiges Verständnis entwickelt, besteht die Gefahr, dass sich etwa Untergruppen bilden, die sich eher feindselig und unkooperativ begegnen. Für die einzelne Führungskraft oder das einzelne Gruppenmitglied lohnt es sich, sich nicht nur zu überlegen, wer von den Mitarbeitenden resp. den Kollegen welche Fähigkeiten mitbringt, sondern auch, wie diese Personen gestrickt sind, was sie bewegt, wie sie denken, wie sie mit Problemen umgehen etc. Voraussetzung dafür ist, dass man dies treffend einschätzen kann, was beinhaltet, dass man sich der eigenen Vorurteile und Präferenzen auch einigermaßen bewusst ist. Dass dies keinesfalls selbstverständlich ist, sondern einer vertieften Selbstreflexion bedarf, wurde bereits erwähnt. Welches sind nun die wichtigsten Kategorien, auf die man achten und über die man sich ein Bild verschaffen sollte? Naheliegend und einfach herauszufinden sind Aspekte wie Ausbildungsstand, Kenntnisse und fachliche Kompetenzen. Sie bilden gewissermaßen die Spitze des Eisbergs. Im Hinblick auf eine erfolgversprechende Zusammenarbeit ist allerdings auch entscheidend, dass man in der Lage ist, 1) es überhaupt zu merken, 2) anzuerkennen und 3) es zum Wohle des Ganzen zu nutzen, wenn jemand anderes auf einem bestimmten Gebiet kompetenter ist als man selbst. Dies setzt neben einem guten Blick für das vorhandene Potenzial und einem gesunden Selbstvertrauen auch die Bereitschaft voraus, anderen den Vortritt zu lassen. Insbesondere Narzissten sind dazu nicht in der Lage. Noch etwas komplizierter wird es, wenn man sich fragt, unter welchen Voraussetzungen die anderen Teammitglieder ihre beste Leistung erbringen können. Wie genau sind sie motiviert? Was benötigen sie an Ermutigung, Unterstützung oder Arbeitsbedingungen etc.? Von überragender Bedeutung sind motivationale Aspekte, angefangen von der Bedeutung der Arbeit im Leben der einzelnen über die intrinsische Motivation bezüglich des konkre-

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ten Arbeitsinhaltes bis hin zu den allgemeinen Motiven im Sinne des „SCARF-­Modells“. Eine Erhebung der SCARF-Motive oder der Lebensmotive gemäß Reiss-Profil (Reiss, 2009) kann auch dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis unter den Teammitgliedern zu wecken. Ebenfalls von großer Bedeutung sind die individuellen Werte, zentralen Einstellungen sowie Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstwertgefühl oder emotionale Stabilität. Die meisten Menschen freuen sich, wenn man sich für sie interessiert, und geben gern Auskunft über sich. Selbstverständlich gibt es allerdings auch in dieser Beziehung Unterschiede. Bedrängen sollte man niemanden. Grundsätzlich entscheidend bei Diversität ist, dass man 1) nicht davon ausgeht, dass die anderen gleich ticken wie man selbst und dass man dies 2) auch nicht erwarten oder einfordern, sondern 3) Unterschieden mit dem gebührenden Respekt begegnen sollte. Mir ist keine umfassende Darstellung aller Aspekte von Diversity bekannt – das ist vielleicht auch gar nicht möglich. Als Unterstützung eignet sich die folgende Liste möglicher Fragen hinsichtlich der interindividuellen Unterschiede: • • • • • • •

Welche Expertise ist bei der Person vorhanden? Wo besteht Spezialwissen? Wie ist die Bereitschaft, das Wissen zu teilen? Wie die Fähigkeit, dieses anderen zu vermitteln? Handelt es sich bei der Person um einen Taker, einen Giver oder einen Matcher? Wie sehr versucht die Person, sich Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen? Kann sie sich ausreichend abgrenzen?

4.5.14 Interkulturelle Kompetenz Bei der interkulturellen Kompetenz handelt es sich im Grunde um eine spezifische Art des Umgangs mit Diversität. Während aber Kategorien wie Geschlecht oder Altersklasse das konkrete Verhalten weniger bestimmen als die Persönlichkeit und die individuellen Werte der Beteiligten, sind beim Aufeinandertreffen von Personen aus verschiedenen Kulturen teilweise tiefe, potenziell konfliktäre Differenzen bei Wertvorstellungen und Wahrnehmungsmustern zu beachten. Schon seit Längerem wird versucht, diese Unterschiede auf einige wenige Kategorien herunterzubrechen. Weit verbreitet ist etwa die Zusammenstellung von Hofstede (2017), die bis auf die 1970er-Jahre zurückgeht. Sie umfasst die folgenden 5 Gesichtspunkte: 1) Machtdistanz bzw. Umgang mit unterschiedlicher Machtverteilung (beispielsweise Präferenz für und Akzeptanz von steilen Hierarchien und machtbezogener Autorität). Es liegt auf der Hand, dass ein sehr autoritäres Auftreten in einer partizipativen und egalitären Kultur schlecht ankommt. Im gegenteiligen Fall sind unter Umständen Akzeptanzprobleme zu erwarten. 2) Je nachdem, ob eine Kultur eher individualistisch oder kollektivistisch ausgerichtet ist, ergibt sich ein unterschiedlicher Stellenwert des Individuums oder der Gruppe resp. der Gemeinschaft. Eine kollektivistische Sichtweise herrscht besonders in Asien vor. Sie liefert viel Raum für Missverständnisse, wenn Personen aus stark individualistischen Gesellschaften damit konfrontiert werden. Oft sind

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kollektivistische Kulturen eher harmonieorientiert beziehungsweise konfliktvermeidend. 3) In maskulinen Kulturen dominieren Werte wie Status, Leistungsstreben und Konkurrenzdenken, während in femininen Gesellschaften Kooperation und Konsens besonders betont werden. Weitere Dimensionen beziehen sich auf den 4) Umgang mit Unsicherheit (z. B. Präferenz für Planung und Regeln) sowie die 5) zeitliche Orientierung (kurzfristiger versus langfristiger Fokus, z. B. Sparsamkeit und Disziplin). Eine zweite Kategorisierung entstammt der bereits zitierten globalen Langzeitstudie GLOBE (House et al., 2004). In dieser steht das Führungsverhalten im Mittelpunkt, wobei angenommen wird, dass sich die Kultur einer Region auch in der Organisationskultur und im Führungsverhalten niederschlägt. Spannend ist, dass sowohl Werte als auch Praktiken unterschieden werden, das heißt auch berücksichtigt wird, inwiefern der propagierte Wertekompass in der Realität tatsächlich gelebt wird. In der genannten Studie wurden 9 Kulturcluster identifiziert (vgl. Brodbeck & Eisenbeiss, 2015). Diese überschneiden sich natürlich teilweise mit dem Konzept von Hofstede: ( 1) Bestimmtheit (Direktheit/Indirektheit in der Kommunikation), (2) Zukunftsorientierung (vorausschauendes Planen und eventuell kurzfristiger Konsumverzicht zur Förderung von langfristigem Wachstum), (3) Geschlechtergleichheit, (4) Humanorientierung (Förderung und Belohnung von Fürsorge, Fairness und Höflichkeit), (5) Gruppen- und familienbasierter Kollektivismus (Eigen- vs. Gruppenverantwortung), (6) institutioneller Kollektivismus (Zentralisierung auf der politischen Ebene), (7) Leistungsorientierung (Förderung und Belohnung individueller Leistung), (8) Machtdistanz (Machtverteilung, Hierarchie), (9) Unsicherheitsvermeidung (Tradition, Beständigkeit, soziale Kontrolle). Vor allem wenn man sich beruflich in einen völlig unbekannten Kulturraum begibt, ist es empfehlenswert, sich im Voraus mit den dortigen Gepflogenheiten auseinanderzusetzen, um nicht Gefahr zu laufen, dauernd in irgendwelche Fettnäpfchen zu treten. Falsch sind insbesondere stereotypische Vorstellungen über die Bewohner des Gastlandes oder eine komplette Ignoranz in dem Sinne, dass man implizit erwartet, dass überall so gedacht und gehandelt werden muss, wie man es selbst gewohnt ist. Vielmehr ist eine offene und vorurteilsfreie Grundhaltung gefragt. Dabei darf man durchaus eine gewisse Lockerheit zeigen. Wenn man ständig krampfhaft versucht, nur ja nichts falsch zu machen oder gar päpstlicher als der Papst zu sein, entsteht auch kein positiver Eindruck. Nie verkehrt ist es dagegen, Fragen zu stellen und zuzuhören. Die meisten Menschen geben gern Auskunft, wenn man Interesse an ihrer Kultur bekundet, und sind sich durchaus bewusst, dass sich das Gegenüber in einem fremden Land zurechtfinden muss. Auch bei der gründlichsten Vorbereitung ist man allerdings vor sehr schwierigen Situationen nicht gefeit. Es müssen nicht gerade Bestechungsversuche sein, die in korrupten Staaten teilweise gang und gäbe sind, es können auch subtile diffizile Situationen sein. Ein Top-Manager erzählte mir ein-

4.5 Soziale Kompetenzen

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mal eine Geschichte von einem festlichen Bankett in einem der kaukasischen Staaten, zu dem er eingeladen war. Um ihm die gebührende Referenz zu erweisen, wurde ihm die absolute kulinarische Spezialität des Landes serviert: Ein Pferdeauge. Pferdeaugen zu essen, ist für die meisten Menschen eher ungewohnt. Ob sich der besagte Manager dazu durchringen konnte, weiß ich nicht mehr. Klar ist, dass es in einer solchen Situation einiges an diplomatischem Geschick bedarf, wenn man sich drücken möchte, ohne unhöflich zu wirken. Aus kompetenztheoretischer Sicht handelt es sich bei der interkulturellen Kompetenz – abgesehen von den zu erwerbenden Kenntnissen hinsichtlich der lokalen Gegebenheiten – eigentlich nicht um eine eigenständige Fähigkeit, sondern eher um die stimmige ­Anwendung generell wünschenswerter, persönlicher und sozialer Kompetenzen in einem spezifischen Kontext. Auf der persönlichen Ebene stehen Aspekte wie der Umgang mit Unsicherheit, Selbstvertrauen, zuversichtliche Grundhaltung und vor allem eine ausgeprägte Lern-, Reflexions- und Anpassungsbereitschaft im Mittelpunkt. Erforderliche soziale Kompetenzen sind eine offene, tolerante, neugierige Grundhaltung, eine gewisse Kontaktbereitschaft und -fähigkeit, ein breites Verhaltensrepertoire auf der Basis eines respektvollen und wertschätzenden Umgangs, Teamfähigkeit sowie jede Menge Empathie und Gesprächsbereitschaft. Hervorzuheben ist die Flexibilität im Umgang mit ungewohnten Situationen und mit heiklen oder konfliktträchtigen Inhalten. Speziell die Art und die Direktheit, wie unangenehme Themen adressiert werden, sollte sensibel an den jeweiligen Kulturraum angepasst sein. Die vielleicht entscheidende Fähigkeit stellt die kulturelle Sensibilität dar. Damit gemeint ist das Bewusstsein, dass fast jede eigene Aussage oder Handlung potenziell ganz anders interpretiert werden kann, als man selbst sie meint. Sogar so basale Dinge wie Handzeichen können anderenorts eine völlig andere Bedeutung haben. Auf der anderen Seite gilt das Gleiche für das Verhalten der anderen, das man jederzeit falsch verstehen kann, wenn man nur die eigene Brille aufhat und sich ausschließlich in seiner vertrauten geistigen Landkarte bewegt. Oft ist das Problem weniger, sich „falsch“ oder vermeintlich unsensibel zu verhalten, als nicht zu merken, wenn man damit Irritationen auslöst. Worum es hier geht, lässt sich am einfachsten an einer kleinen Anekdote illustrieren. Ich und mein ehemaliger Vorgesetzter hatten einmal einen Partner einer bekannten Unternehmensberatung aus Kalifornien im Assessment zu Gast. Dieser bewarb sich für eine hochrangige Funktion in einem großen Schweizer Pharmaunternehmen. Als er bei uns hereinkam, bediente er sich zuerst ungeniert und ungefragt an den Schreibern meines Chefs. Das entspricht nicht unbedingt den gängigen Verhaltensnormen in der Schweiz, sondern wird als eher grobschlächtig empfunden. Als ich einige Zeit später in sein Zimmer hereinkam, sah ich, dass er sich unterdessen auch selbstständig mit den Süßigkeiten versorgt hatte, die wir den Kandidaten jeweils anboten. Um ihn subtil auf sein nicht kulturangemessenes Verhalten hinzuweisen, fragte ich: „Would you like some more?“ Worauf er entgegnete: „No thanks, I know where they are!“. Hätte dieser Kandidat das „soft signal“ verstanden, hätte er die Situation retten oder gar zu seinem Vorteil nutzen können. Er hätte gezeigt, dass er das Verständnis besitzt, dass gewisse Dinge in anderen Ländern anders laufen resp. wahrgenommen werden und dass er spürt, wenn er sich einen kleineren oder größeren Fauxpas geleistet hat. Der Grund, weshalb wir diesem Kandidaten später ein aus-

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reichendes kulturelles Feingefühl für eine Topfunktion in der Schweiz absprachen, war nicht das eigentliche „Fehlverhalten“ – sondern der grundlegende Mangel an Verständnis, dass anderenorts andere Normen gelten könnten. Gemäß Meyer (2016) bergen die folgenden 8 Aspekte besonderen kulturellen Zündstoff: (1) Kommunikation: Wird eher direkt oder indirekt kommuniziert? Geht es darum, einen Sachverhalt möglichst präzise darzustellen („kontextarm“), oder muss dieser eher aus dem Kontext erschlossen werden? Die Unterschiede beim Kommunizieren sind so groß, dass erheblicher Raum für Missverständnisse besteht. Um dies zu vermeiden, heißt es Fragen stellen, zuhören und ein gemeinsames Verständnis der wichtigen Themen sicherstellen. (2) Leistung beurteilen und Feedback geben: In einigen Kulturen (z. B. Deutschland) ist es üblich und erwünscht, Kritik direkt und offen anzusprechen, während dies in anderen tunlichst vermieden werden sollte. Hier werden kritische Hinweise positiv formuliert oder relativiert geäußert. Außerdem gibt es spezifische Regeln (z. B. Kritik nur unter vier Augen). Die Autorin empfiehlt, Feedback regelmäßig und dosiert sowie bei Bedarf in informellem Rahmen zu äußern. (3) Überzeugen: Die Autorin unterscheidet zwischen einem theoriegeleiteten und einem anwendungsorientierten Ansatz. Bei ersterem werden die Schlussfolgerungen aus übergeordneten Überlegungen abgeleitet, während man bei letzterem direkt auf den Punkt kommt. Hier empfiehlt es sich, sich so gut es geht an die regionalen Gepflogenheiten anzupassen. (4) Führung: Obwohl in den meisten Ländern ein partnerschaftlicher Umgang gewünscht wird, existieren große Unterschiede hinsichtlich der zugeschriebenen Autorität der Führungskraft. In Schweden dominiert ein besonders egalitäres, wenig hierarchisches Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden, in anderen Ländern wird von der Führungskraft dagegen erwartet, klar als Autorität aufzutreten. In Asien sollte versucht werden, einen relativ direktiven Führungsansatz mit einem persönlichen und empathischen Umgang zu kombinieren. (5) Entscheidungsfindung: Hier besteht der Hauptunterschied beim Streben nach einem Konsens resp. dem Wunsch nach raschen Entscheidungen. Ersteres dauert naturgemäß länger, kann sich bei der Umsetzung aber als Vorteil erweisen, weil die Entscheidungen breit abgestützt sind. Man sollte abklären, wie die Entscheidungsfindung vonstattengehen soll und nicht intuitiv den gemäß eigener Prägung gewohnten Ansatz unbesehen auf eine andere Kultur übertragen. (6) Vertrauen aufbauen: Vertrauen ist ein universeller Wert, der überall angestrebt wird. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Arten, wie Vertrauen aufgebaut wird. Im Westen dominiert ein sachbezogenes Verständnis, bei dem Vertrauen durch Verlässlichkeit bei der Arbeitserledigung aufgebaut wird. In anderen Kulturen ist die Beziehungsebene ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger. Meyer spricht von einem affektiven Vertrauen, das durch Nähe und persönlichen Kontakt hergestellt wird. Speziell in China geht offenbar nichts ohne „Guanxi“.

4.5 Soziale Kompetenzen

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(7) Widersprechen: In einigen Kulturen herrscht die Vorstellung vor, dass mittels harter Debatten die besten Ergebnisse erzielt werden, während es woanders verpönt ist, anderen öffentlich zu widersprechen. In asiatischen Ländern kann das Gegenüber das Gesicht verlieren, wenn man ihm konfrontativ begegnet. In harmonieorientierten Gesellschaften müssen viele informelle Gespräche geführt werden, sodass bei der formalen Beschlussfassung keine Überraschungen auftreten. (8) Zeitwahrnehmung: Nicht überall besteht ein lineares Zeitverständnis, das von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft hinführt. Werte wie Pünktlichkeit und das Einhalten von Deadlines als Ausdruck von Verlässlichkeit gelten nicht überall. Hier sind klare Regeln abzumachen. Exkurs: Globale Führungskompetenz Osland (2012) hat ein über die interkulturelle Kompetenz hinausgehendes, umfassendes Kompetenzmodell für die Führung in globalen Unternehmen entwickelt. Die Basis ihres in Abb.  4.2 dargestellten Pyramidenmodells globaler Kompetenz bildet das „globale Wissen“, eine allgemeine Kenntnis- und Wissenskomponente. Ihren Vorstellungen zufolge bauen die folgenden Ebene darauf und aufeinander auf. Auf der 2. Ebene siedelt sie die Persönlichkeitscharakteristika an, gefolgt von den Einstellungen und Orientierungen und den zwischenmenschlichen Fähigkeiten. Die Spitze wird durch die „Systemfähigkeit“ gebildet.

Systemfähigkeit Zwischenmenschliche Fähigkeiten

Einstellungen und Orientierungen

Persönlichkeitscharakteristika

Globales Wissen

Abb. 4.2 Zusammenfassende Darstellung globale Führungskompetenz nach Deller & Osland (2013)

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

Deller und Osland (2013) ordnen den verschiedenen Ebenen folgende Facetten zu: ( 1) Persönlichkeitscharakteristika: Integrität, Bescheidenheit, Ausdauer und Neugier, (2) Einstellungen und Orientierungen: Globale Denkweise, kognitive Komplexität, Weltoffenheit, (3) zwischenmenschliche Fähigkeiten: aufmerksame Kommunikation, Aufbau von Vertrauen und Beziehungen, multikulturelle Teamsteuerung, (4) Systemfähigkeit: Veränderungskompetenz, Innovationsförderung, Treffen komplexer ethischer Entscheidungen, Gestalten, Beeinflussung von Stakeholdern, Gemeinschaftsbildung und Sozialkapital. Insgesamt zeigt diese Zusammenstellung, dass es sich bei der „globalen Kompetenz“ nicht um ein grundlegend neues Konstrukt oder ein völlig eigenständiges Kompetenzmodell handelt. Vielmehr präsentiert sich die Liste der darin aufgeführten Kompetenzen als eine Anwendung bekannter Kompetenzen auf einen spezifischen – eben globalen – Kontext. Neben dem Wissen über die Besonderheiten eines global tätigen Unternehmens und der damit verbundenen Herausforderungen fällt einzig die multikulturelle Teamsteuerung als eher eigenständig auf. Auf die restlichen Fähigkeiten wird an anderer Stelle näher eingegangen.

4.6 Intellektuelle Fähigkeiten 4.6.1 Allgemeine Intelligenz Bei intellektuellen Fähigkeiten denkt man zunächst an Intelligenz. Diese umfasst Fähigkeiten wie planen, Probleme lösen, Auffassungsgabe, aus Erfahrung lernen etc. (z. B. Neubauer & Bergner, 2013). Es handelt sich also um ein mehrdimensionales Konstrukt, dessen verschiedene Teile allerdings untereinander korrelieren resp. sich teilweise überschneiden. Aus diesem Grund wird in der Forschung seit Langem eine Art gemeinsamer Kern, der sogenannten „G-Faktor“ postuliert. Die Intelligenzforschung reicht unterdessen 100 Jahre zurück, und es existieren diverse valide Messverfahren, um die Intelligenz einer Person zu bestimmen. Typische Merkmale von Intelligenz sind etwa Verarbeitungsgeschwindigkeit, Merkfähigkeit oder das Verständnis logischer Zusammenhänge. Grundsätzlich können sich intelligente Personen einfacher neues Wissen aneignen oder komplizierte Inhalte schneller nachvollziehen oder verstehen. Üblicherweise stehen in den in Assessments eingesetzten Testverfahren die Teilbereiche verbale/sprachliche, numerische und räumliche Intelligenz im Vordergrund (z. B. Intelligenz-Struktur-Test, IST). Dass Intelligenz nachweislich eine hohe Vorhersagekraft für den beruflichen Erfolg hat (Kanning, 2018), überrascht sicherlich niemanden. In der Forschung wird Intelligenz vor allem als kognitive Fähigkeit verstanden und alternativen Konzepten wie emotionale oder soziale Kompetenz eher skeptisch begegnet. Aufgrund ihrer unbestritten großen Relevanz im Führungsalltag genießen diese in der Praxis eine deutlich höhere Akzeptanz.

4.6 Intellektuelle Fähigkeiten

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Das nachstehende Intelligenzmodell von Gardner (2002) lässt sich empirisch nicht beweisen, zeigt aber einen umfassenden Überblick, was unter Intelligenz alles verstanden werden kann. 1 ) sprachlich-linguistische Intelligenz (sprachliche Fähigkeiten), 2) logisch-mathematische Intelligenz (logische und numerische Fähigkeiten), 3) musikalisch-rhythmische Intelligenz (musizieren, komponieren), 4) bildlich-räumliche Intelligenz (räumliches Vorstellungsvermögen), 5) körperlich-kinästhetische Intelligenz (körperliche Problemlösung), 6) naturalistische Intelligenz (Verständnis von Naturphänomenen), 7) interpersonale Intelligenz (soziale Intelligenz, v. a. Verständnis anderer), 8) intrapersonale Intelligenz (emotionale Intelligenz, v. a. Selbstkenntnis). In der Assessment-Praxis haben Intelligenztests durchaus ihre Berechtigung, obwohl das von Personen ohne psychologische Fachkenntnisse gern bezweifelt wird, weil diese nicht erkennen, was etwa die Lösung von Zahlenreihen mit ihrer betrieblichen Realität zu tun haben soll. Die Resultate solcher Testverfahren sollten speziell bei erfahrenen Führungskräften oder höheren Positionen allerdings nicht überinterpretiert, sondern hauptsächlich dazu verwendet werden, besonders intelligente und auffallend unintelligente Personen zu identifizieren. Die meisten Menschen bewegen sich naturgemäß irgendwo in der Mitte, und ob in diesem Bereich jemand einige Prozentpunkte höher oder tiefer liegt, ist nicht entscheidend. Diese Bemerkung trifft umso mehr zu, als dass viele Menschen in einer Beurteilungssituation (z. B. in einem Assessment) eine mehr oder weniger große Anspannung verspüren, was sich in einem schwächeren Ergebnis niederschlagen kann. Ein richtiggehendes Blackout lässt sich in den Assessments hingegen nur selten beobachten. Bemerkenswerterweise zeigt die Praxis, dass sehr intelligente Menschen nicht automatisch auch immer in der Lage sind, ihr Potenzial in sämtlichen Übungen zielführend zum Einsatz zu bringen, weil sie etwa ihre Gedanken nicht nachvollziehbar formulieren oder sich nur mit anderen Experten verständlich austauschen können. Das Gegenstück bilden Personen, die eine tiefere intellektuelle Begabung durch ein profundes Erfahrungswissen kompensieren. Dieses Erfahrungswissen stellt die kristalline Intelligenz im Sinne von Cattell (1971) dar. Von dieser zu unterscheiden ist die fluide Intelligenz im Sinne von gedanklicher Schnelligkeit. Letztere erreicht im frühen Erwachsenenalter ihren Höhepunkt und nimmt dann laufend ab. Erstere entwickelt sich hingegen mit zunehmender Erfahrung und kann grundsätzlich bis ins höhere Alter laufend ansteigen. In der Praxis gilt es, beide Intelligenzarten angemessen zu würdigen und im Einzelfall zu berücksichtigen. So empfiehlt es sich beispielsweise nicht, weniger intelligente Personen mit einem großen Erfahrungswissen ohne größere Vorbereitungszeit auf einem für sie völlig unbekannten Fachgebiet einzusetzen, während sie in ihrem angestammten Fachgebiet durchaus die bessere Wahl sein können als intelligente Personen ohne Erfahrungswissen. Oft wissen sie beispielsweise, was in bestimmten Situationen funktioniert und was nicht oder auf welche Details besonders geachtet werden muss. Immer wieder finden sich auch Praktiker, die

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sich durch einen auffallend stark ausgeprägten „gesunden Menschenverstand“ auszeichnen. In der Regel haben sich diese Personen einfachen Heuristiken oder effiziente Abläufe für ihre Hauptaufgaben zurechtgelegt, wobei sie einen gesunden Pragmatismus zeigen. Solange sich der Inhalt ihrer Tätigkeit nicht grundlegend ändert, erbringen diese Mitarbeitenden bedeutsame Beiträge und sind wichtige Wissensträger. Eine vergleichsweise eher kleine Gruppe ist in der Lage, etwa Themen aus einer anderen Perspektive zu betrachten oder grundsätzliche „Wahrheiten“ zu hinterfragen. Oft handelt es sich dabei um kritische Geister, die etwa auch Themen hinterfragen, die von den anderen gar nicht als Problemfelder erkannt oder als naturgegeben resp. nicht veränderbar betrachtet werden. Solche Personen können unbequem sein und anecken, aber auch den Unterschied machen. In der Praxis nicht außer Acht gelassen werden darf natürlich auch die Funktion, für die sich jemand bewirbt. Schließlich hängt der Erfolg in einer bestimmten Funktion nicht zwingend an erster Stelle von herausragenden intellektuellen Fähigkeiten ab. Oft bewegt sich der inhaltliche Schwierigkeitsgrad einer Funktion auf einem überschaubaren, prinzipiell für viele Menschen erreichbaren Niveau und ist weniger kompliziert als etwa Astrophysik. Die Assessment-Praxis zeigt, dass eine vergleichsweise hohe Zahl von Personen existiert, die keine Schnelldenker sind und Mühe bekunden, unter Zeitdruck etwa differenzierte Analysen vorzunehmen oder Sachverhalte detailliert zu beschreiben. Sobald sie mehr Vorbereitungszeit haben, steigt ihre Leistung aber zuweilen beträchtlich. Nicht zu vernachlässigen ist auch das Interesse, das man an den inhaltlichen Themen hat. Die besten Leistungen auf einem Fachgebiet werden von Personen erbracht, die hohe gedankliche Fähigkeiten mit einer Faszination für ihr Fachgebiet verbinden. Diese verstehen etwa neue Themen nicht nur schneller, sondern sind auch von sich aus darauf ausgerichtet, ihre fachlichen Kenntnisse laufend zu erweitern und zu vertiefen. Bestehen eine intrinsische Lernmotivation und die Bereitschaft, sich Zeit zum Wissenserwerb zu nehmen, ist der Kenntnisstand auch bei einer eher flachen Lernkurve irgendwann höher als bei einer intelligenteren, aber wenig motivierten Person. Logischerweise sind gute intellektuelle Fähigkeiten besonders in komplizierten Expertengebieten sowie auf der strategischen und konzeptionellen Ebene gefragt. Bei operativen Aufgaben können ausgeprägte kognitive Fähigkeiten sogar ein Nachteil sein, weil man sich dann beispielsweise schneller langweilt. Auch in dieser Hinsicht gilt das Prinzip der Vermeidung von Über- und Unterforderung. Bei „einfacheren“ operativen Tätigkeiten sind Leistungsaspekte wie Disziplin, Ausdauer und Konzentration oft wichtiger, während eine hohe „klassische Intelligenz“ vor allem bei der Lösung komplizierter und komplexer Problemstellungen hilfreich ist.

4.6.2 Spezifische intellektuelle Fähigkeiten in Praxis Die Praxiserfahrung zeigt, dass Führungskräfte ab einem gewissen Niveau etwa in der Lage sein müssen, eine komplexe Gesamtsituation zu verstehen sowie darin die für ihre Aufgabe und das Geschäft relevanten Aspekte zu erkennen und unter Umständen deren Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu begreifen. Da sich die Umwelt laufend ändert,

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ist auch das Vermögen, viele Informationen zu verarbeiten, besonders essenziell. Selbstredend gibt es in den meisten Situationen nicht die eine richtige Lösung, sondern verschiedene potenziell mögliche Wege. Diese Szenarien und Optionen gilt es zu identifizieren und deren Vor- und Nachteile treffend einzuschätzen. Bei klassischen Unternehmen, bei denen die gesamte Entscheidungskompetenz an der Spitze der Hierarchie konzentriert ist, trifft dies nur auf wenige Personen zu. Mit zunehmendem Empowerment und ­Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse steigt der Personenkreis, der über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen muss. Meines Wissens existiert bislang keine theoretisch fundierte Klassifikation intellektueller Fähigkeiten in der betrieblichen Praxis. Auf der Basis der Beobachtung hunderter Fallstudienlösungen und der Auswertung tausender Problemlösungsaufgaben unterschiedlichster Art lassen sich aber die folgenden im betrieblichen Kontext speziell wichtigen intellektuellen Fähigkeiten herausschälen: (1) Analysieren: Analysieren steht für das Vermögen, eine komplizierte oder komplexe Ausgangslage in sinnvolle Elemente oder Teilsysteme zu zerlegen. In den Übungen oder in Interviews zeigt sich diese Fähigkeit zum Beispiel darin, dass jemand auch bei unbekannten Fragestellungen rasch auffallend differenzierte Antworten findet oder unterschiedliche Facetten wahrnimmt und unterscheidet. Innerhalb der eigenen Komfortzone lässt sich eine geringere Begabung bis zu einem gewissen Grad durch Erfahrungswissen und theoretische Kenntnisse kompensieren. Auf unbekanntem Terrain ist ein Minimum an analytischen Fähigkeiten auf jeden Fall notwendig, wenn eine rasche Einschätzung eines Sachverhalts erforderlich ist. Während Top-Experten ihr Fachgebiet bis in die Details durchdringen müssen, reicht es für Führungskräfte oftmals, wenn sie abschätzen können, worauf es in den ihnen nicht näher vertrauten Fachbereichen besonders ankommt. Dabei gilt es etwa abzuschätzen, ob bestimmte Themen näher betrachtet werden müssen oder ob sogar eine vertiefte Beschäftigung mit ausgesuchten Detailaspekten notwendig ist. Dazu muss man insbesondere fähig sein, den Experten die richtigen Fragen zu stellen und die Antworten richtig einzuordnen. Eine mangelnde analytische Ausrichtung äußert sich oft als Oberflächlichkeit und birgt das Risiko, dass die Relevanz von Einzelheiten nicht erkannt und übersehen wird. Das Gegenteil kann hingegen bewirken, dass man sich in unwichtigen Details verliert. Bemerkenswerterweise zeigt die Assessment-Praxis, dass besonders analytische Personen nicht zwingend auch in der Lage sind, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Den Fokus auf das Wesentliche zu legen resp. die treffenden Prioritäten setzen zu können, stellt in der Praxis jedoch eine Schlüsselkompetenz dar und wird deshalb als eigenständige gedankliche Fähigkeit betrachtet. (2) Informationen verarbeiten und Schlüsse ziehen: Bei der Informationsverarbeitung spielen neben der intellektuellen Kapazität auch motivationale Faktoren eine zentrale Rolle. Die Assessment-Praxis zeigt, dass besonders hervorragende Fachexperten oft Neugier und Wissendurst als einen ihrer zentralen Antreiber nennen. Solche Personen sind intrinsisch motiviert, aktiv nach Informationen zu suchen, um auf

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ihrem Gebiet auf dem Laufenden zu bleiben. Ist man hingegen weniger inhaltlich interessiert oder tut sich schwer damit, viele Informationen zu verarbeiten, besteht die Gefahr, dass man sich zu wenig informiert, weil man dies als zu anstrengend empfindet. Ebenfalls zentral ist die selektive Wahrnehmung, die dazu führen kann, dass man nur diejenigen Informationen in Betracht zieht, die das eigene Weltbild oder die Richtigkeit der gewählten Maßnahmen zu stützen scheinen. Im Grunde eher nachgelagert ist das eigentliche intellektuelle Potenzial, die richtigen Schlüsse aus Zahlen, Daten und Fakten zu ziehen. Die Fähigkeit, aus einer Fülle von Informationen die richtigen Schlüsse zu ziehen, heißt schlussfolgerndes Denken und hat viel mit klassischer Intelligenz zu tun. Grant (2021) empfiehlt bei der Informationsverarbeitung den Mindset eines Forschenden, der sich nicht an feste Wahrheiten klammert, sondern eigene Annahmen als Hypothesen begreift, die es zu überprüfen gilt, und der stets offen ist, neue Erkenntnisse aufzunehmen und seine Überzeugungen bei Bedarf über Bord zu werfen. Um nicht in einer Informationsflut unterzugehen, ist eine überlegte Art der Informationssuche zu empfehlen. (3) Das Gesamtbild und die wichtigsten Hebel erkennen: Die Kunst besteht darin, bei strategischen oder komplexen Themen sowohl das Gesamtbild als auch die darin wichtigsten Einzelaspekte oder Prioritäten zu erfassen. Auch unter den Führungskräften bekunden nicht wenige, damit große Mühe zu haben. Entweder sehen sie das „Big Picture“ nicht und nehmen eher eine „Frosch-“ als eine „Adlerperspektive“ ein, oder sie sind nicht imstande, größere Linien von Details zu unterscheiden. Keinesfalls handelt es sich beim Erkennen des großen Bilds um eine Selbstverständlichkeit oder eine Fähigkeit, die sich leicht erwerben lässt oder die sich gar von selbst einstellt, sobald man eine strategische Funktion übernimmt. Die Assessment-Praxis lässt eher vermuten, dass diesbezüglich eine gewisse Grundbegabung hinsichtlich des deduktiven Denkens besonders wichtig ist. Auffallend kompetente Personen sind in der Lage, die Flughöhe ihrer Überlegungen flexibel zu variieren und situativ zwischen einer übergeordneten abstrahierenden und einer konkreten Maßnahmenebene hin und her zu wechseln sowie die Verbindungen zwischen diesen Ebenen aufzuzeigen. So können sie etwa Schlussfolgerungen oder Maßnahmen logisch und stringent aus dem Gesamtbild herleiten. In den Fallstudienlösungen der Assessmentteilnehmenden lässt sich oft beobachten, dass die Ausführungen auf einer mittleren, weder konkreten noch ganzheitlichen Abstraktionsebene verbleiben oder die als relevant aufgeführten Aspekte entweder gar nicht oder eher assoziativ und nicht logisch nachvollziehbar aus abstrakten Konzepten hergeleitet werden. Ebenfalls erwähnenswert ist die Beobachtung, dass Menschen entweder vor allem in Einzelaspekten denken und daraus ein größeres Bild zusammensetzen (induktives Denken) oder eher eine ganzheitliche Sicht einnehmen und darin größere Zusammenhänge oder Muster erkennen (deduktives Denken). Bei ersterem besteht die Gefahr, dass man sich in Einzelheiten verliert oder sich auf einige ausgesuchte, mehr oder weniger plausible Aspekte festlegt. Bei letzterem liegt das Risiko darin, dass wichtige Einzelheiten übersehen und voreilige Schlüsse gezo-

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gen werden können. Grundsätzlich steigt die Bedeutung des deduktiven Denkens mit der Höhe der Position und der Komplexität des Themas. Ein Top-Manager veranschaulichte diesen Sachverhalten einst mit der Metapher eines Baums. Wer den ganzen Baum sieht, kann in der Regel relativ rasch und treffend abschätzen, welche Äste und einzelnen Blätter besonders wichtig sind. Sieht man vor allem die einzelnen Blätter, braucht es ab einer bestimmten Komplexitätsstufe schlicht zu viel Zeit, ­daraus den ganzen Baum zu konstruieren. Im Alltag ist dieser Effekt als „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ bekannt. Der Kontakt zwischen zwei extremen Vertretern dieser beiden Denkrichtungen kann für beide Seiten außerordentlich frustrierend sein. Für die kleinteilig denkende Person ist das einzelne Blatt (z. B. ein ideologischer Glaubenssatz, eine bestimmte Regel o. Ä.) unter Umständen der Baum, für den anderen nur ein Blatt. Problematisch ist, dass Personen mit einem limitierten Abstraktionsvermögen nicht nur das Gesamtbild nicht sehen oder verstehen, sondern zuweilen bestreiten, dass ein solches überhaupt existiert. Dies, wenn sie annehmen, dass ihre Limiten auch die Grenzen für die anderen darstellen. Ein holistisch denkendes und argumentierendes Gegenüber wird von diesen üblicherweise als abgehoben, zu theoretisch oder praxisfern wahrgenommen. Im Gegenzug nimmt die ganzheitliche Person die andere als unflexibel, detailverliebt oder rigide wahr. (4) Vernetztes, ganzheitliches und mehrdimensionales Denken: Das vernetzte Denkvermögen ist eng mit der ganzheitlichen Sichtweise verbunden, wird aufgrund seiner enormen Bedeutung im Umgang mit komplexen Situationen oder Problemstellungen jedoch als eigenständige Denkleistung aufgefasst. Im Zentrum steht hier die Fähigkeit, sämtliche für eine bestimmte Problemstellung relevanten Aspekte und deren Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu verstehen und bei der Lösungsfindung angemessen zu berücksichtigen. Gefragt ist etwa die Fähigkeit, Sachverhalte aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten oder größere Zusammenhänge zu erkennen. Mit der Komplexität der Umwelt und der lösenden Problemstellungen nimmt die Bedeutung dieser intellektuellen Fähigkeit zu. Konkret gilt es, in ganzen „Ökosystemen“, Wechselwirkungen und vielfältig untereinander verbundenen Netzwerken zu denken. Dabei handelt es sich im Grunde um die praktische Umsetzung des vernetzten Denkens im unternehmerischen Alltag. (5) Denken in Ökosystemen: Um eine raschere Anpassung an Wandel sicherzustellen oder um selbst aktiv Veränderungen anzustoßen, ist es erforderlich, stets das gesamte eigene Ökosystem und die eigene Wertschöpfungskette zu erfassen. Auf der einen Seite ergibt sich daraus die Möglichkeit, sich mittels In- und Outsourcing flexibel entlang letzterem zu bewegen resp. sich auf einen Teil davon zu konzentrieren. Statt alles selbst zu produzieren, bieten sich unterschiedliche Arten von Partnerschaften an. Mit dieser neuen strategisch systemischen Denkweise verbunden ist auch eine Markt- und Wettbewerbsverständnis, bei dem die anderen Marktteilnehmer eher als mögliche Partner und weniger als Gegner betrachtet werden. Der Blick auf angrenzende Ökosysteme erlaubt die Identifikation möglicher neuer Geschäftsmöglichkeiten oder künftiger Geschäftsaktivitäten. Scharmer und Käufer (Scharmer & Käufer,

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2017) beschreiben im Rahmen ihrer Theorie U einen Prozess, der es erlauben soll, aus der Vergangenheit und der Gegenwart gewissermaßen auszubrechen, um stattdessen von der Zukunft her zu denken („Presencing“). Auf der Organisationsebene unterscheiden sie 4 Reifegrade: 1) Zentral (1.0): Es handelt sich um die klassische Struktur, bei der die gesamte Macht und Entscheidungskompetenz an der Spitze konzentriert ist. 2) Dezentral (2.0): Größere Unternehmen sind oft divisional organisiert, sodass die Entscheidungsfindung tendenziell näher am Markt passiert und die Macht bis zu einem gewissen Grad verteilt ist. Die Gefahr besteht darin, dass die einzelnen Teile unabhängig voneinander agieren und etwa gegenseitige Abhängigkeiten nicht erkannt werden. 3) Vernetzt (3.0): Hier sind die Hierarchien flacher und die Macht noch stärker an die Peripherie delegiert. Statt starrer Strukturen dominieren vielfältige informelle Beziehungen zwischen Personen innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Die noch kaum anzutreffende 4) ökosystemische Organisation (4.0) setzt sich aus selbstorganisierten Einheiten zusammen, die durch einen gemeinsamen höheren Zweck zusammengehalten werden. Diese Organisationsform funktioniert, wenn das egoistische Denken überwunden wird, indem die lokalen Entscheidungsträger ihre spezifischen Informationen nutzen und sich gleichzeitig hauptsächlich an den Gesamtinteressen orientieren. Mit dieser Ausrichtung verbunden ist eine Denkweise, bei der die geschäftliche Umwelt als Ökosystem begriffen und in seiner Gesamtheit verstanden wird. (6) Denken in Szenarien und Optionen: Die Assessment-Praxis lässt annehmen, dass die Kluft zwischen Ausbildungshintergrund und tatsächlichem Können bei strategischen Fragestellungen besonders groß ist. Während nicht wenige Teilnehmende mit einer höheren betriebswirtschaftlichen Qualifikation (z. B. MBA) in den Fallstudien nur ungenügend in der Lage sind, ihr Wissen um strategische Konzepte oder Branchentrends zielführend auf einen Fall außerhalb ihres unmittelbaren Erfahrungshintergrunds anzuwenden, schaffen dies andere Kandidaten ohne profunde theoretische strategische Kenntnisse scheinbar mühelos. Eine der anschaulichsten Darstellungen unterschiedlicher Geschäftsmodelle in der Game-Industrie erfuhr ich beispielsweise von einem technisch ausgebildeten Dozenten einer Fachhochschule. Vieles deutet darauf hin, dass strategisches Denkvermögen stärker vom ganzheitlichen Denken abhängt als von theoretischen Kenntnissen. Entscheidend ist, die Position eines Unternehmens oder eines Geschäftsbereichs im Markt richtig einzuschätzen, wofür verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung stehen (z. B. SWOT-Analyse, Canvas etc.). Aus einer Analyse des Umfelds und der Stärken eines Unternehmens einige einigermaßen plausible strategische Handlungsfelder abzuleiten, gelingt vergleichsweise vielen Kandidaten. Selten zu beobachten ist dagegen ein Denken in Szenarien oder Optionen. Meistens legt man sich auf einen bestimmten Weg fest. Speziell bei Personen mit Beratungshintergrund lässt sich oft das Gegenteil beobachten: Anstelle eines klaren Fokus wird eine umfassende Auslegeordnung als Entscheidungsgrundlage präsentiert. Wechseln solche Personen in eine Führungsrolle, müssen sie ihren Mindset ändern und vermehrt Entscheidungen treffen, statt diese hauptsächlich zu ermöglichen.

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(7) Erkennen von Chancen und Risiken: Bemerkenswerterweise gibt es Personen, die nicht nur in ihrem angestammten Geschäft, sondern in diversen Kontexten mögliche Geschäftsopportunitäten erkennen oder gar Ideen hinsichtlich zu kreierender Kundenbedürfnisse entwickeln. Man könnte von einem guten „Riecher“ für Opportunitäten sprechen. Dies setzt nicht unbedingt eine visionäre Geisteshaltung voraus, s­ ondern kann sich auch aus dem direkten Kontakt mit Kunden aus unterschiedlichen Märkten ergeben. Einige Menschen haben das Flair, daraus mögliche noch unbefriedigte Bedürfnisse abzuleiten, andere haben eigene Ideen. Der Unterschied lässt sich mit einem berühmten Zitat von Henry Ford veranschaulichen: „Hätte ich die Leute gefragt, was sie benötigen, hätten sie schnellere Pferde gesagt.“ Es ist nicht anzunehmen, dass sich eine technisch gänzlich unkundige Person zu jener Zeit ein motorbetriebenes Fahrzeug (Automobil) überhaupt hätte vorstellen können. In der Praxis begegnet man zum einen Personen, die betriebswirtschaftlichen Aspekten eine geringere Bedeutung zumessen oder einer starken entsprechenden Ausrichtung sogar ablehnend gegenüberstehen. So fühlen sich einige Personen abgestoßen, wenn sie annehmen, dass sich die Geschäftsleitung vermeintlich nur für Zahlen und monetäre Ergebnisse interessiert. Bei den anderen Kandidaten dominiert entweder eine ertragsbezogene, oft eher risikoorientierte oder eine primär kostenorientierte, nicht selten primär sicherheitsorientierte Sichtweise, was teilweise auch auf den beruflichen Werdegang zurückzuführen ist. So ist bei Verkäufern eine umsatzorientierte Optik wahrscheinlich, während sich Controller mehrheitlich einen ausgeprägten Kostenfokus aneignen. Insgesamt scheint es, dass sich viele Personen gar keine Gedanken über mögliche neue Geschäfte machen, obwohl sie eigentlich das Potenzial dafür hätten. Insofern handelt es sich dabei nicht um eine Selbstverständlichkeit, sondern eine Gabe, die sich bis zu einem gewissen Grad entwickeln lässt. Prinzipiell sollte man sich natürlich auch mit den Risiken möglicher Geschäftsopportunitäten beschäftigen. Neigt jemand zu übertrieben waghalsigen und unüberlegten Aktivitäten, könnte es sich um einen Psychopathen handeln. Der in einem solchen Fall zur Schau gestellten Zuversicht hinsichtlich der sich bietenden Zukunftschancen und deren Eintrittswahrscheinlichkeit sollte eher mit Vorsicht begegnet werden. Eine Möglichkeit, mit überschaubaren Risiken neue Wege zu gehen, stellt die noch zu diskutierende Methode „Effectuation“ dar. (8) Sozial-systemisches und mikropolitisches Verständnis: Eine besonders in hierarchisch aufgestellten Unternehmen wichtige Kompetenz stellt das Verständnis der informellen Machtverhältnisse und nicht formal geregelten Prozesse bei der internen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung dar. Vor allem auf den höchsten Hierarchiestufen ist es notwendig, sich zielführend in diesen informellen Strukturen bewegen resp. diese zum eigenen Vorteil nutzen zu können, indem man etwa Koalitionen für ein wichtiges Anliegen bildet. Oft ist es so, dass die wichtigen Entscheidungen im Grunde schon im Vorfeld der Geschäftsleitungssitzungen getroffen werden und die eigentliche Beschlussfassung eher Formsache ist. Im Prinzip geht es um laterale Führung, bei der bekanntlich genau diese informellen Strukturen analysiert und gesteuert werden müssen.

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Die Praxis zeigt, dass große Unterschiede beim Verständnis der sozialen und politischen Verhältnisse bestehen. So gibt es beispielsweise Personen, welche die Mi­ kropolitik völlig außer Acht lassen und davon überzeugt sind, dass die wichtigen Entscheidungen primär nach rationalen und sachbezogenen Kriterien getroffen werden. In der Regel handelt es sich dabei um der „objektiven Wahrheit“ und der faktisch besten Lösung verpflichtete Fachexperten. Eine zweite Gruppe erkennt diese Prozesse zwar, verzichtet aber aus persönlichen oder wertebezogenen Gründen darauf, sich der entsprechenden Klaviatur zu bedienen, weil sie mikropolitische Spiele ab­ lehnen. Etwaige karrieretechnische Nachteile nimmt diese Gruppe in Kauf. In machia­ vellistischen Organisationen besteht der effektive Einsatz lateraler Führungstechniken nämlich auch im Erkennen der Tabuthemen, die man bei den hochrangigen Personen oder grauen Eminenzen in der Organisation besser nicht anspricht, wenn man sich nicht unbeliebt machen und die eigenen Karrierechancen gefährden möchte. Sich in einem solchen Umfeld zu bewegen, ist nicht jedermanns Sache und begünstigt vor allem opportunistische Personen. Grundsätzlich sinkt die Bedeutung mikropolitischer Spiele mit steigender Transparenz und abnehmenden Hierarchieebenen. Dies, weil der Spielraum dafür enger und das eigene Verhalten besser und für einen breiteren Personenkreis sichtbar wird. Gleichzeitig ist es in sämtlichen Organisationsformen erforderlich, dass man andere Personen für sich und die eigenen Vorschläge gewinnen muss, wenn man etwa eine Veränderung bewirken oder eine neue Idee verwirklichen möchte. Die neuen Führungsansätze fördern kompetenzorientierte informelle Strukturen und laterale Beeinflussungswege. Networking als Instrument des Selbstmarketings verliert gegenüber dem Vermögen, interne und externe Netzwerke zu bilden, an Bedeutung. Primär durch persönliche Präferenzen einzelner Personen bestimmte Entscheidungen werden seltener, während breiter abgestützte und sachbezogene prinzipiell wahrscheinlicher werden. Dennoch ist es unerlässlich, die informellen Prozesse zu kennen und im eigenen Handeln zu berücksichtigen. Ansonsten besteht das Risiko, dass eigene Initiativen im Sand verlaufen. Hilfreich ist der Einsatz einer sogenannten „Stakeholder Map“ auf der alle wichtigen Ansprechpersonen und Anspruchsgruppen aufgetragen werden. Anschließend gilt es, diese Kreise mehr oder weniger intensiv zu pflegen. (9) Planerische Fähigkeiten: In der Praxis finden sich als Extremfälle sowohl einige abstrakte Strategen, die ihre Überlegungen nicht auf die konkrete Maßnahmenebene herunterbrechen können, als auch starke Umsetzer, denen konzeptionelle Ansätze nicht liegen, weil es ihnen entweder an einem ganzheitlichen Verständnis mangelt oder Konzepte generell abgehoben finden. Klar ist, dass bei der Umsetzung vor allem planerische Fähigkeiten gefragt sind. Wichtig ist, ein Vorhaben in sinnvolle Unterteile oder Teilprojekte zu untergliedern und einen realistischen Maßnahmenplan zu erstellen. Weitere intellektuelle Herausforderungen betreffen den haushälterischen Einsatz der vorhandenen Mittel resp. deren Beschaffung, die finanzielle Steuerung und das Erstellen eines zielführenden Aktionsplans. Im Projektmanagement bewegt man sich gedanklich stets im Dreieck von Qualität, Zeit und Kosten. Bei anspruchs-

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vollen Großprojekten sind sowohl überdurchschnittliche analytische Fähigkeiten als auch ein gutes vernetztes Denken gefragt, bei kleinen Vorhaben sind die inhaltlichen Schwierigkeiten oft überschaubar und ein gewisser Pragmatismus angezeigt. ( 10) Erfahrungswissen und konkret-praktisches Denken: Die Praxis zeigt, dass Personen mit einem profunden Erfahrungswissen sehr viel kompensieren und auf ihre Weise ein stichhaltiges Verständnis der in ihrem Gebiet relevanten Aspekte entwickeln können. Ihr Vorteil besteht darin, dass sie die meisten möglichen Probleme schon kennen und wissen, wie sie darauf reagieren müssen, wobei sie sich oft an bewährten Heuristiken orientieren. Grenzen bestehen natürlich im Umgang mit unbekannten Problemen oder wenn sie sich außerhalb ihrer Komfortzone bewegen müssen. Ein erfahrungsbezogenes Verständnis, worauf es wirklich ankommt und welche Hebel die größte Wirkung versprechen, könnte man auch als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnen. In der Praxis müssen sehr unterschiedliche (z. B. operative oder strategische) Probleme oder Aufgaben gelöst werden. Dabei ist es von Vorteil, wenn man unterschiedliche intellektuelle Fähigkeiten besitzt und in der Lage ist, situativ die jeweils zielführendste Denkweise einzusetzen, das heißt, beispielsweise je nachdem entweder analytisch, vernetzt oder strukturiert zu denken oder Erfahrungswissen einzusetzen. Die Assessment-Praxis lässt vermuten, dass die meisten Menschen einen bestimmten Stil bevorzugen und auf sämtliche Problemstellungen anwenden  – nach dem Motto: „Hat man einen Hammer, wird jedes Problem zum Nagel“. Oft wird die Problemlösungsaktivität intuitiv ausgewählt und gar nicht groß überlegt, mit welcher Art von Aufgabe man es gerade zu tun hat. Ebenfalls häufig werden nicht zum eigenen Stil passende Probleme unbewusst gemieden. Vergleichsweise selten ist eine gleichzeitig hohe Ausprägung von abstraktem und konkretem Denkvermögen: Diese Personen vermögen Theorie und Praxis optimal zu verbinden und bei Bedarf entweder theoretische Überlegungen anzustellen oder konkrete Lösungsansätze vorzuschlagen. Besonders agile Problemlöser können auf verschiedenste Denkstile und praktisch Vorgehensweisen zurückgreifen sowie diese situationsgerecht einsetzen. Im Assessment wird dies durch eine ausgeprägte gedankliche Flexibilität erkennbar. Eine weitere Erkenntnis aus meiner langjährigen Assessment-Praxis besteht darin, dass man Intelligenz vor allem auch an der Anzahl und Qualität der Fragen, die jemand stellt, erkennt. Intelligente Personen zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie viele gute oder außergewöhnliche Fragen stellen. Denn intelligente und lernorientierte Menschen wollen ständig dazulernen und vermeiden es, irgendwelche Gewissheiten zu verbreiten. Eine kompetente Person kennt ihre Fähigkeiten und Grenzen und erachtet andere Meinungen oder Perspektiven als Bereicherung mit dem Potenzial zu Wissenszuwachs. Es kann ja sein, dass die andere Person einen Aspekt einbringt, an den man bislang nicht gedacht hat, oder auf eine spannende neue Erkenntnis gestoßen ist. Auch denkbar ist, dass diese Person eine neue, potenziell hilfreiche Perspektive eines Sachverhalts einbringt. Diese Haltung setzt ein gesundes Selbstvertrauen voraus. Man fühlt sich auch dann nicht bedroht, wenn jemand auf einem Gebiet bessere Kenntnisse besitzt. Deshalb lassen sich hoch kompetente

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Menschen auch am Personenkreis identifizieren, mit dem sie sich umgeben. Top-Leute wollen von hoch qualifizierten Personen herausgefordert werden, denn nur so können sie noch besser werden und ihre Kenntnisse vertiefen.

4.6.3 Kreativität Kreativität, von lateinisch creare (etwas erschaffen, erfinden), beschreibt das Vermögen, neue oder originelle Ansätze zu entwickeln. In der Forschung wird Kreativität unter anderem als Denkstil verstanden. Ein klassischer entsprechender Ansatz ist die Unterscheidung zwischen konvergentem und divergentem Denken durch Guilford (1967, 1982). Ersteres beschreibt das Vermögen, Probleme zu lösen, für die es eine bestimmte richtige Lösung gibt, Letzteres die Fähigkeit, viele verschiedene Lösungen für eine offene oder weniger strukturierte Problemstellung zu finden. Divergentes Denken umfasst die Facetten Pro­ blemsensitivität (z. B. Unstimmigkeiten in einem Ablauf erkennen), Ideenflüssigkeit (viele Ideen hervorbringen), Flexibilität (gewohnte Denkmuster verlassen) sowie Originalität. In der Praxis bekannter ist der Ansatz von de Bono (1992), der für die prinzipiell gleichen Fähigkeiten die Begriffe vertikales und laterales resp. Querdenken Denken geprägt hat. Beim lateralen oder divergenten Denken handelt es sich um eine kreative Begabung, die sich teilweise der Intelligenz zuordnen lässt. Guilfords umstrittene „Schwellenhypothese“ besagt, dass bis zu einem IQ-Wert von 120 eine positive Korrelation zwischen Intelligenz und Kreativität besteht. In der Investment-Theorie von Sternberg und Lubart (1991) wird Intelligenz hingegen als Teilaspekt von Kreativität begriffen. Diesen Autoren zufolge setzt sich Kreativität aus den folgenden 6  Ressourcen zusammen: 1)  intellektuelle Fähigkeiten, 2) Wissen, 3) Denkstile, 4) Persönlichkeit, 5) Motivation und 6) Umwelt. Während bei diesem Ansatz den intellektuellen Fähigkeiten ein besonderes Gewicht beigemessen wird, streicht Amabile (1983) in seiner Komponenten-Theorie die Bedeutung der intrinsischen Motivation heraus. Klar ist, dass es sich bei der Kreativität um ein eigenständiges Konstrukt handelt, das sich bis heute einer einfachen Zuordnung etwa als Persönlichkeitseigenschaft oder spezifische Fähigkeit entzieht (Baudson & Dresler, 2008). Obwohl also noch viele Fragen offen sind, wird in der Wirtschaft alles unternommen, um die Kreativität der Beschäftigten resp. vor allem das Auftreten von kreativen Ideen zu fördern. Denn Kreativität gilt als eine Schlüsselkompetenz der Zukunft. So hat etwa die Europäische Union ein eigenständiges Forschungsprojekt zur Erhöhung der Innovationsfähigkeit von KMUs lanciert („i-create“). Die Welt dreht sich immer schneller, weil das Veränderungstempo und die Komplexität laufend zunehmen. Um mit den steigenden Anforderungen mithalten zu können, ist eine Flexibilität vonnöten, die über eine reine Anpassungsfähigkeit hinausgeht und stattdessen proaktiv und gestaltend ausgelegt ist. Gefordert ist also die Fähigkeit, schneller als andere neue Ideen zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Frei nach dem Motto „Disrupt yourself before someone else does“ soll man sich idealerweise immer wieder neu erfinden oder Innovationen lancieren. Und die Basis jeder Innovation ist eine gute Idee.

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Zu Beginn der Kreativitätsforschung stand vor allem der kreative Prozess hinter den Leistungen einzelner besonders kreativer Geister wie Da Vinci, Edison oder Einstein im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ähnlich wie bei den großen Führungsfiguren der Vergangenheit haftete deren Leistungen etwas Mystisches an. Besonders gefeiert wurde der „Aha-Effekt“ bzw. das sprichwörtliche Heureka des Archimedes, als er in der Badewanne das nach ihm benannte Prinzip entdeckte. Die historisch wirklich bahnbrechenden Erfindungen entstanden oft nach einer langen und tiefen Beschäftigung mit einem bestimmten Problem, wobei die Lösung in einem unerwarteten Moment (unter der Dusche) oder auf indirekte Weise auftrat. Berühmt ist beispielsweise das Erkennen der ringförmigen Molekularstruktur des Benzolrings durch Kekulé, nachdem dieser im Traum eine sich selbst in den Schwanz beißende Schlange gesehen hatte. Wallas (1926) fasste diese Beobachtungen zu einem mehr oder weniger bis heute gültigen Vier-Phasen-Modell zusammen: 1) Phase der Präparation (Vorbereitung), 2) Phase der Inkubation (Latenzphase, Nachdenken über das Pro­ blem), 3) Phase der Illumination (Geistesblitz), 4) Phase der Verifikation (Machbarkeit und Umsetzung). Gleichzeitig gilt, dass schon in der Vergangenheit viele große Ideen nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel erschienen sind, sondern eher darauf beruhten, bestehende Ansätze zu kombinieren oder weiterzuentwickeln. Einige wichtige Erfindungen beruhten auch auf dem Transfer bekannter Techniken auf ein anderes Gebiet (z. B. Buchdruck) oder gar auf bloßem Zufall (z. B. Entdeckung des Penicillins). Auch war es nicht immer so, dass die Idee sofort in der Praxis funktionierte. So sollen Edisons Erfindung der funktionstüchtigen Glühlampe 10.000 erfolglose Versuche vorangegangen sein. Auffallend ist, dass viele der bekanntesten kreativen Persönlichkeiten sich durch eine enorme Schaffenskraft auszeichneten und ein sehr großes Werk hinterlassen haben (z. B. Picasso). Dabei haben nicht alle Werke dieselbe Qualität oder Bedeutung. Bis zu einem gewissen Grad gilt also die Regel, dass Quantität Qualität schlägt, denn bei sehr vielen Ideen ist schlicht und einfach auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich darunter brauchbare Ansätze finden lassen (Lehmann, 2017). Andererseits können sich auch Genies verrennen. So hatte etwa Edison die Idee, ein Klavier aus Beton zu konstruieren, während sich Einstein der Quantenphysik weitgehend verschloss. Csikszentmihalyi (2007) unterscheidet 3 Elemente, die für das Entstehen kreativer Leistungen wichtig sind: Neben der 1) kreativen Person und eines unbestritten bis zu einem gewissen Grad vorhandenen Talents gehört die 2) Domäne (resp. Fachrichtung) dazu: Eine logische Voraussetzung ist, dass man die eigenen Talente zunächst richtig erkennt. Die meisten Menschen besitzen auf höchstens einem Gebiet das Potenzial, hervorragende Leistungen zu zeigen, Universalgenies wie Da Vinci bilden eher die Ausnahme, die die Regel bestätigen. Das 3) Feld beschreibt die Bedeutung der Umgebung und deren Angebot an Inspiration. So hat sich beispielsweise das Silicon Valley zu einem Hotspot der Software-Entwicklung und neuer digitaler Geschäftsmodelle entwickelt. Dass es auch in der Kunst immer wieder Cluster oder Netzwerke von Kreativen gibt, bestätigt die logisch erscheinende Annahme, dass der Kontakt mit gleichgesinnten Experten oder Künstlern auf kompetente Personen inspirierend und gegenseitig befruchtend wirkt, was kreative Leistungen begünstigt.

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In der Forschung herrscht immer noch Uneinigkeit, ob Kreativität gewissermaßen künstlich erzeugt werden kann (z. B. mittels Kreativitätstechniken oder Raumgestaltung) oder ob Bestrebungen zur Kreativitätsförderung dem Wesen der Kreativität grundsätzlich zuwiderlaufen. Einen Ausweg aus dem Dilemma verspricht erstens die Unterscheidung von herausragender und der potenziell in allen Menschen schlummernden alltäglichen Kreativität (Kaufman & Sternberg, 2010) und zweitens jene zwischen transformativer, explorativer und kombinatorischer Kreativität (Boden, 1990). Vermutlich ist es tatsächlich einigen wenigen Genies vorbehalten, die Grenzen ihrer Domäne zu sprengen und in neue Sphären aufzubrechen (transformative Kreativität). Und selbst diesen Personen gelingt dies nicht immer und auf Knopfdruck, vielmehr macht auch hier Übung den Meister. Kast (2015) spricht von der 10-Jahres-Regel sowie der meist notwendigen Bedingung, dass ein profunder Kenntnisschatz des Fachgebiets vorhanden sein muss (v. a. in ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen). Neben der Bereitschaft und dem Vermögen, Bestehendes zu hinterfragen, sind also vor allem Faszination für das eigene Fachgebiet und eine große Ausdauer gefragt. Wer sich in eine Problemstellung verbeißt und über längere Zeit darüber nachdenkt, wird eher sein gesamtes Potenzial abrufen und eine neue Lösung hervorbringen bringen können als jemand, der sich nur oberflächlich mit einem Thema beschäftigt. Dabei ist allerdings eine Abfolge von konzentrierter Beschäftigung und aktiver Entspannung zu beachten. Kreativität scheint stark mit dem entspannten Zustand („Default-Mode“) zusammenzuhängen und kann nicht mit der Brechstange erzwungen werden. Selbst wenn all diese Voraussetzungen gegeben sind, besteht keine Erfolgsgarantie. Denn natürlich sind vor allem diejenigen Entdeckungen bekannt geworden, bei denen die Problemlösung tatsächlich gelungen ist. Bei der explorativen Kreativität geht es darum, die Grenzen des eigenen Fachgebiets auszuloten, während bei der kombinatorischen Kreativität neue Verbindungen bereits bestehender Elemente hergestellt werden sollen. Es erscheint plausibel, dass sich vor allem Letztere durch geeignete Techniken und unterstützende Maßnahmen steigern lässt. Eagleman und Brandt (2018) nennen dazu die folgenden 3 kreativen Prinzipien: 1) Umgestalten bedeutet, etwas zu verbessern, indem man ein bestimmtes Element verändert. Zum Beispiel hat die Anwendung einer neuen Technologie (Heißluft) die klassische Fritteuse verdrängt. Beim 2) Herunterbrechen und Rekombinieren wird etwas Bestehendes in seine Einzelteile zerlegt und diese in anderer Weise neu zusammengesetzt. Beim 3)  Mischen werden zwei scheinbar nicht zusammenpassende Dinge miteinander verbunden. Ein Beispiel ist die Molekularküche als Kombination von Haute Cuisine und Physik. Naheliegend ist zudem die Frage, ob ein bestehendes Produkt auch einen zusätzlichen Nutzen stiften kann. So wurde die Uhr vom reinen Zeitmesser zuerst zum Modeaccessoire (Swatch) und später zum persönlichen Assistenten (Smart Watch). Die Bedeutung der Kreativität lässt sich auch an der Tatsache erkennen, dass eine Fülle von Ratgebern zur Steigerung der individuellen und teambezogenen Kreativität existiert. Dabei steht die Anwendung unterschiedlicher Kreativitätstechniken im Mittelpunkt. Beispielhaft sei die Methode SCAMPER erwähnt (z.  B.  Rustler, 2022). S („Substitute“) meint, etwas Bestehendes durch etwas anderes zu ersetzen, um beispielsweise die Bedienerfreundlichkeit zu erhöhen. Bei C („Combine“) stellt man sich die Frage, ob ein Objekt

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mit einem anderen ergänzt werden kann oder soll. A („Adapt“) steht für die etwaigen Verbesserungsmöglichkeiten durch Anpassungen am Objekt oder dessen Umgebung. M („Modify“) meint die Umgestaltung eines Objekts, während bei P („Put to other use“) geprüft wird, ob sich dieses auch einem anderen Verwendungszweck zuführen lässt. E wie „Eliminate“ kann sich auf das ganze Objekt oder einzelne Teile davon beziehen. Dasselbe gilt auch für R („Rearrange“). Wie schon angesprochen, lässt sich Kreativität auch durch Interaktion mit anderen Menschen steigern, weil man sich gegenseitig anstacheln und inspirieren kann. Die bekannteste Methode ist sicherlich das seit Langem bekannte Brainstorming, bei dem eine Gruppe möglichst viele Ideen zu einem bestimmten Problem entwickeln soll. Damit die Ideen fließen und sich die Teammitglieder getrauen, auch ungewöhnliche oder utopisch scheinende Vorschläge zu machen, empfiehlt sich eine geschützte Umgebung. Um das Auftreten typischer Kreativitätsblockaden (z.  B. implizite Denkverbote, Angst, sich zu exponieren, Konformitätsdruck u. a.) zu verhindern oder zu minimieren, ist eine vertrauensvolle Umgebung unabdingbar. Ein anderer Weg, die Blockaden zu umgehen, ist der Einsatz der 6-Hüte-Technik von de Bono (2000). Bei dieser nehmen die Gruppenteilnehmendem abwechselnd unterschiedliche Rollen ein, indem sie sich verschiedenfarbige Hüte mit einer bestimmten Bedeutung aufsetzen. Der weiße Hut steht für das analytische Denken (Fakten nennen), der rote für das emotionale Denken (Gefühle einbringen), der schwarze für kritisches Denken („Advocatus diaboli“, Risiken), der gelbe für positives Denken (Chancen), der grüne für kreatives Denken (Ideen äußern) und der blaue für das ordnende Denken (strukturierende Inputs). Kreativität und Innovationskompetenz Als Fazit lassen sich hinsichtlich individueller Kreativität keine eindeutigen Schlüsse ziehen. Die Assessment-Praxis lässt in Übereinstimmung mit der zitierten Literatur annehmen, dass eine herausragende Ausprägung von Kreativität oder kreativem Denkvermögen äußerst selten auftritt, weshalb diese Eigenschaft oder Fähigkeit keinesfalls von Mitarbeitenden oder Führungskräften erwartet oder gar eingefordert werden darf. Dabei handelt es sich um ein seltenes „Nice to have“, während eine überdurchschnittliche alltägliche Kreativität absolut wünschenswert ist. In einer vertrauensvollen Umgebung kann das entsprechende, in den Mitarbeitenden schlummernde Potenzial besser genutzt werden. Führungskräfte müssen sich aber der Bedeutung von Kreativität und Innovation bewusst sein und versuchen, sowohl durch den Einsatz geeigneter Methoden und die Vernetzung verschieden begabter Personen als auch durch die Schaffung einer innovationsfreundlichen Vertrauens- und Experimentierkultur dazu beizutragen, dass die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung neuer Ideen und marktfähiger Innovationen steigt. Noch offen ist die Frage, wie Kreativität und Innovationskompetenz zusammenhängen. Die nachstehende vergleichende Darstellung von Guldin (2012) gibt dazu einen Überblick. Tab. 4.1 zeigt, dass er bei den Innovatoren speziell den Sinn für das Machbare und das Vorantreiben einer innovativen Idee herausstreicht, während er bei der kreativen Person vor allem deren Intellekt und Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Soll alles in einer Person vereint sein, sind Kreativität, soziale und Umsetzungsfähigkeiten notwendig.

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Tab. 4.1  Auszug Vergleich kreative und innovative Person nach Guldin (2012) Kreative Personen Neugier, Wissensdurst Fantasie und Vorstellungskraft Präferenz für schwierige Herausforderungen Vertrauen in das eigene kreative Potenzial Eigenständigkeit (auch gedanklich) Risikobereitschaft Ausdauer und Fokus bei der Arbeit Hohe Ambiguitätstoleranz

Innovative Personen Offenheit für neue Ideen und Ansätze Unternehmerisches Denken und Handeln Kontaktfähigkeit und Networking Realitätssinn und Sinn für das Machbare Überzeugungsstärke, verkäuferisches Geschick Akquisitions- und Verhandlungsgeschick Integrative Fähigkeiten (gedanklich und sozial) Managementfähigkeiten

Es liegt auf der Hand, dass transformationale Führungsansätze beim Fördern von Kreativität von Mitarbeitenden und Teams im Mittelpunkt stehen. Guldin zufolge sind folgende Verhaltensweisen in der Führung besonders geeignet: 1) Förderung kreativer Potenziale Einzelner und von Teams, 2) die Betonung der Bedeutung und das Belohnen von Innovation, 3) Vereinbaren anspruchsvoller Zielsetzungen, 4) Sinnstiftung und ­Ausrichtung auf gemeinsame Ziele, 5) Förderung von Eigenständigkeit inklusive Zuspruch bei auftretenden Schwierigkeiten, 6) motivierende und inspirierende Gesprächsführung, 7) Einsatz zum Durchsetzen innovativer Ideen, 8) Beschaffung von Ressourcen, 9) geeignetes Projektmanagement und 10) Vorbildwirkung. Exkurs: Design Thinking Das Bedürfnis, kreative Prozesse zu fördern und systematisch Innovation hervorzubringen, hat zur Entwicklung des sogenannten „Design Thinking“-Ansatzes durch Winograd, Leifer und Kelley geführt (Gerstbach, 2016). Es handelt sich um einen Ablauf aus 6 aufeinanderfolgenden Schritten, der nicht nur neue Ansätze hervorbringen, sondern auch die Aspekte Nutzen für den Menschen, technische Umsetzbarkeit und Marktfähigkeit optimal verbinden soll. In der Regel besteht die Gruppe aus Personen mit unterschiedlichem Fachhintergrund. Gemäß Hasso-Plattner-Institut (Plattner et al., 2009) lassen sich die 6 Schritte dieser weit verbreiteten Methode wie folgt charakterisieren: (1) Verstehen: Ein gemeinsames Verständnis der Sachlage schaffen. Fragen hinsichtlich der Art des Produkts und der zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen klären und Problem definieren. (2) Beobachten: Sich in die Kundschaft hineinversetzen (z. B. Interview, Rollenspiele). Die Wünsche des Kunden stehen stets im Mittelpunkt. Zentral ist das Zuhören. (3) Standpunkt festlegen: Zusammenfassung der ersten beiden Schritte (z.  B.  Personas und Point-of-View). Schriftliche und bildliche Darstellung des Standpunkts. (4) Ideen finden: Brainstorming zum Zusammentragen möglichst vieler Ideen. Anschließend Auswahl, wobei die Kriterien Effizienz, Umsetzbarkeit und Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden.

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(5) Prototyp: Erstellen eines Prototyps zu Anschauungszwecken (z. B. Storyboard). Ziel ist es, dem Kunden eine konkrete mögliche Problemlösung vorzulegen. Perfektion ist dabei nicht nötig. (6) Feedback: Das Produkt wird den Kunden zum Testen angeboten. Mängel werden behoben und eventuell Veränderungen angebracht. Eventuell Wiederholungen und mehrere Iterationen.

4.6.4 Problemlösungskompetenz Im Grunde kann die betriebliche Wertschöpfung auch als Problemlösungsprozess verstanden werden. Je nach Aufgabe und Funktion sind unterschiedliche intellektuelle Kompetenzen gefragt. Geht es darum, etwas präzise und differenziert zu beschreiben oder logisch zu untergliedern, sind vor allem analytische Fähigkeiten gefragt. Dasselbe gilt für planerische Tätigkeiten wie etwa das detaillierte Ausarbeiten von Konzepten und Maßnahmenplänen. Steht das Verständnis der größeren Zusammenhänge im Mittelpunkt, ist eine systemisch-­ganzheitliche Denkweise erforderlich, während neue Probleme oder innovative Aufgaben nach Kreativität verlangen. Eine gute Problemlösungskompetenz beinhaltet neben den intellektuellen Fähigkeiten auch zusätzliche Fähigkeiten (z.  B.  Motivation, Ausdauer), selbst wenn die Aufgabe allein und im sprichwörtlichen stillen Kämmerlein gelöst wird. Sobald mehrere Personen beteiligt sind, rücken die sozialen Kompetenzen stärker in den Vordergrund. Nachdem das klassische Management in der Vergangenheit zunehmend richtiggehende Planungsexzesse bewirkt hat, ist unterdessen ein Umdenken im Gang. Es muss nicht immer alles perfekt sein, und die Geschwindigkeit, mit der man auf Entwicklungen reagiert, ist heutzutage oft wichtiger als detailliert ausgeführte Pläne. Damit verändert sich auch der Inhalt von Problemlösungskompetenz: Sorgfalt und Detailbewusstsein und planerische Fähigkeiten verlieren tendenziell an Bedeutung, während beispielsweise Experimentierfreude, Entschlossenheit und Aktionsorientierung wichtiger werden. Dabei muss allerdings abgeschätzt werden können, welcher Problemlösungsansatz bei den unterschiedlichen Produkten oder Arbeitsschritten jeweils angemessen ist. Auch ein experimentelles Vorgehen ist nicht immer zielführend. So sollten etwa Bremssysteme bei Fahrzeugen höchsten Ansprüchen genügen und vor dem ersten Einsatz umfassend getestet werden, weil sie in hohem Maße sicherheitsrelevant sind. Wenn die Qualität über allem steht, sind hochgradig pflicht- und detailbewusste Spezialisten die richtige Wahl. Bei anderen Aspekten empfiehlt sich vielleicht eher das Pareto-Prinzip oder ein risikoreiches Vorgehen. Bei Designfragen oder bei technischen Produkten besteht die Gefahr, dass die beteiligten Fachexperten von ihren eigenen Ansprüchen oder Vorlieben ausgehen und etwa Funktionalitäten entwerfen, die die Nutzer entweder gar nicht bemerken oder nicht wollen. Deshalb werden die Kunden heute frühzeitig in die Produktentwicklung einbezogen. Bei iterativen und interaktiven Prozessen mit Kunden sind kommunikative Fähigkeiten besonders wichtig, zumal man es nicht immer mit Spezialisten zu tun hat. Damit man sich in

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die Bedürfnisse der Kunden hineinversetzen kann, ist zudem ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und auf jeden Fall Geduld nötig. Einfache operative Aufgabenstellungen erfordern meist nur ein Minimum an Kenntnissen und Intellekt, weshalb sie eigentlich nur Personen herausfordern, denen das notwendige Wissen fehlt oder die sich nicht zutrauen, eine unbekannte Aufgabe anzugehen. Komplexe und vor allem neuartige Fragestellungen erfordern neben einem deutlich größeren Kenntnisschatz auch ein ausgeprägtes Vertrauen, diesen gewachsen zu sein. In der Praxis trifft man auf der einen Seite Personen (oft Fachexperten), die es als motivierend ­empfinden, sich komplizierten theoretischen oder strategischen Aufgaben zu stellen, um ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und laufend zu erweitern. Angehörige dieser Gruppe zeichnen sich in der Regel durch eine ausgeprägte Faszination für ihr Fachgebiet aus und haben oft auch einen intrinsischen Ehrgeiz, Verbesserungen vorzunehmen oder Themen weiterzuentwickeln. Vor allem weil sie sich eingehend mit der Materie beschäftigen und eigene Überlegungen anstellen, erkennen sie eher Unstimmigkeiten bei bestehenden Ansätzen oder antizipieren Themen, die künftig von höherer Bedeutung sein werden. Unter den Managern häufig anzutreffen sind Personen, die primär etwas bewegen wollen, indem sie sichtbare und messbare Ergebnisse hervorbringen. Solche Personen finden häufig das Lösen operativ komplizierter (nicht komplexer) Probleme besonders attraktiv. So ist beispielsweise der Aufbau einer neuen Produktionsstätte eine große Aufgabe, die sich aus einer Vielzahl kleinerer mehr oder weniger anspruchsvoller Arbeitsschritte zusammensetzt. Gleichzeitig ist sie überschaubar und das Ziel konkret sowie greifbar. Unsicherheiten treten hauptsächlich auf der operativen oder wirtschaftlichen (eventuell auch politischen) Ebene auf, und die erzielten Fortschritte lassen sich gut abschätzen und erkennen. Auf der anderen Seite können schwierige Aufgaben einige Personen auch abschrecken, falls sie kein ausreichendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufweisen. In den Assessments sind relativ oft Personen zu beobachten, die unter Druck oder angesichts schwieriger Probleme eine Art Tunnelblick entwickeln und sich zurückziehen. Dabei versuchen sie verzweifelt, die Probleme selbst in den Griff zu bekommen, indem sie etwa immer mehr arbeiten, statt gezielt andere einzubeziehen. In Planspielen kann es auch vorkommen, dass Teilnehmende in Krisensituationen völlig passiv reagieren, weil sie blockiert oder nicht in der Lage sind, entschlossen Maßnahmen zu ergreifen. Selbstverständlich gibt es Personen, die generell einen einzelkämpferischen Stil bevorzugen und die beste Leistung erzielen, wenn sie ungestört arbeiten können. Die meisten Menschen begreifen sich allerdings als Teamplayer und lösen größere Probleme vorzugsweise gemeinsam mit anderen. Problemlösung im Team Problemlösung erfolgt in der Praxis meist in Gruppenprozessen, wobei die Führungskraft unter Umständen nur noch die Gruppe begleitet. In der betrieblichen Praxis werden schwierige oder umfassende Aufgaben oder Problemstellungen also in der Regel nicht in Einzelarbeit bearbeitet, sondern von mehreren Individuen, in Teams sowie im Zusammenspiel verschiedener Personen und Anspruchsgruppen. Dies kann durch die Aufteilung und spätere Zusammenführung der einzelnen Arbeitspakete oder kollaborativ, das heißt ge-

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meinsam, geschehen. Um einen wichtigen Beitrag zu leisten, reichen Wissen und fachliche Qualifikationen nicht aus. Die individuellen Kenntnisse und intellektuellen Fähigkeiten bringen nur einen Mehrwert, wenn sie zielführend in die Gruppe und in das Gesamtergebnis eingebracht werden. Anspruchsvoll ist dies vor allem in crossfunktionalen Teams, die aus Personen aus verschiedenen Unternehmenseinheiten bestehen. Hier kann schon die Verständigung zu einem echten Hindernis werden, weil sich alle in u­ nterschiedlichen gedanklichen Landkarten bewegen (z.  B.  Missverständnisse zwischen Technikern und Personen aus dem Marketing). Problemlösungskompetenz stellt sich bei genauerem Hinsehen also als eine Kombination aus intellektuellen, persönlichen und sozialen Fähigkeiten heraus. Zentral auf der persönlichen Ebene sind etwa eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, eine zuversichtliche und anpackende Grundhaltung, Durchhaltewillen und Ausdauer. Bei den sozialen Kompetenzen sind neben kommunikativen Fähigkeiten (v.  a. adressatengerechte Kommunikation) speziell die Bereitschaft, kompetente Personen in die Problemlösung einzubeziehen (unter Umständen inkl. motivieren und begeistern) sowie Vertrauen in deren Leistungen zu nennen. Der Problemlösungsprozess bei neuen Aufgabenstellungen kann pragmatisch in die Elemente 1) Problemidentifikation, 2) Problemanalyse und 3) Problemlösung unterteilt werden. Dabei sind jeweils unterschiedliche Kompetenzbündel gefragt: (1) Problemidentifikation: Zuweilen stellen sich Herausforderungen oder es treten Schwierigkeiten auf, die sich nicht negieren oder wegdiskutieren lassen und die umgehend gelöst werden müssen. Zuweilen geschieht dies eher zufällig oder unvorhersehbar. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber nicht selten, dass diese Schwierigkeiten nicht aus dem Nichts aufgetaucht sind, sondern sich über einen gewissen Zeitraum abgezeichnet haben. Im schlimmsten Fall haben dies alle Beteiligten entweder nicht erkannt oder nicht wahrhaben wollen. Vielleicht gab es auch Mahner, denen jedoch nicht zugehört wurde oder die als Bedenkenträger abgestempelt wurden. Fehlt die Identifikation mit der Aufgabe oder dem Unternehmen, kann es auch sein, dass Probleme zwar erkannt, jedoch deshalb unausgesprochen bleiben, weil sich niemand zusätzliche Arbeit aufladen möchte. Bedenklich ist insbesondere, wenn das Konzept der lösungs- vs. problemorientierte Sichtweise falsch verstanden wird und jegliche Kritik als Ausdruck einer problemorientierten Sicht interpretiert wird. Statt etwaige Herausforderungen frühzeitig erkennen und sich diesen zu stellen, wird eine überoptimistische Sicht der Dinge oder ein kritikloses Annehmen der Perspektive der Geschäftsleitung oder des Patriarchen gefordert. Neben dem Vermögen, ungünstige Entwicklungen überhaupt zu merken, braucht es zum frühzeitigen Erkennen von Problemen den Mut und die Bereitschaft, diese offen anzusprechen sowie ein Umfeld, in dem dies auch erwünscht ist. (2) Problemanalyse: Wenn eine Maschine den Geist aufgibt, liegt die Lösung auf der Hand. Es muss ein geeigneter Techniker her, der das Problem innerhalb vernünftiger Frist beheben kann. Wenn sich aber etwa die Zahlen schleichend verschlechtern oder sich das Wetter verändert, sind die Ursachen nicht immer sofort ersichtlich. Statt lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge können komplexe Prozesse und vielfältige

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Einflüsse und Abhängigkeiten dahinterstecken (z. B. beim Klimawandel). Die naheliegendste Lösung ist nicht zwingend die richtige. Oft fehlen in der operativen Hektik des betrieblichen Alltags die Zeit und die Bereitschaft, sich vertieft auf komplizierte Themen einzulassen. Gleichzeitig steigen mit der Komplexität der Problemstellung natürlich auch die für deren Verständnis notwendigen intellektuellen Anforderungen. Erforderlich ist etwa das Vermögen, viele Informationen und Daten aus unterschiedlichen Quellen zielführend verarbeiten zu können. Entscheidend ist auch das Vermögen, die eigenen Grenzen zu erkennen, und die Bereitschaft, Experten hinzuziehen, selbst wenn diese Themen aufbringen, die man nicht hören möchte. Für die Problemanalyse stehen in der Praxis verschiedene Methoden zur Verfügung (z.  B. 5-Wa­ rum-Technik aus dem Lean Management). Letztlich entscheidend ist, dass sich die jeweils kompetentesten Personen die richtigen Fragen stellen und aus den vorhandenen Informationen die treffenden Schlüsse ziehen. In einer komplexen Umgebung ist das nicht immer möglich, und es bleibt zuweilen nichts anderes übrig, als potenziell zielführende Maßnahmen einfach auszuprobieren. ( 3) Problemlösung: Sind Lösungsansätze gefunden, geht es darum, diese zeitnah anzupacken. Neben der richtigen Auswahl der Beteiligten spielen die bereits aufgeführten Umsetzungsqualitäten eine besondere Rolle. Wichtig sind zudem Aspekte wie Ausdauer und Durchhaltevermögen in schwierigen Phasen. Einerseits sollte das Ziel nicht aus den Augen verloren und beharrlich verfolgt werden, andererseits muss man auch flexibel reagieren können, wenn man sich etwa verrannt hat oder sich bestimmte Pläne als nicht durchführbar erweisen. Unter den Beteiligten sind eine gewisse Kooperationsbereitschaft und der Wille, gemeinsam Ziele zu erreichen, unabdingbar. Wichtig sind auch Hilfsbereitschaft und gegenseitige Ermutigung. Unter Umständen müssen Personen für ein Projekt motiviert werden, die entweder andere Aufgaben verfolgen oder in vielen verschiedenen Projekten engagiert sind. Um die gemeinsamen Projekte zum Erfolg zu führen, bedarf es sämtlicher der bereits diskutierten sozialen Fähigkeiten, insbesondere Kooperationsbereitschaft, Konfliktfähigkeit und ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten. Gefragt sind zudem Leader-Qualitäten wie etwa Ermutigen, Motivieren oder in Krisen eine Richtung vorzuschlagen. In der betrieblichen Praxis treten viele Problemstellungen immer wieder auf. Dafür existieren diverse Hilfsmittel und Prozesse (z. B. PDCA-Zyklus – Plan-Do-Check-Act), die zum Management-Handwerk gehören und hier nicht vertieft werden. Einen Spezialfall stellt das Projektmanagement dar.

4.6.5 Projektmanagement Projektarbeit wird immer wichtiger und ist aus dem betrieblichen Alltag nicht mehr wegzudenken. Es kann sein, dass sich Personen entweder in ständig wechselnden Teams zurechtfinden müssen oder gleichzeitig in unterschiedlichen Rollen in verschiedenen Teams beteiligt sind. Dies kann sowohl die Mitarbeit in Projekten oder die Leitung von Projek-

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ten betreffen. Dabei gefragt sind zum einen Management-Fähigkeiten, denn viele der klassischen operativen Aufgaben sind auch in Projekten zu bewältigen, beispielsweise Ziele und Auftrag klären, Terminpläne und Ablauf des Projekts entwerfen, Aufwand schätzen, ­Ressourcen planen, Kosten kalkulieren. Projektmanagement ist längst zu einer eigenständigen Fachdisziplin mit umfassenden Ausbildungsgängen und spezifischen Zertifizierungen geworden. Darauf im Detail zu einzugehen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Wichtig ist, dass sich auch das Projektmanagement in der Praxis zunehmend agiler Methoden bedient (v. a. Scrum), wobei diese nicht für alle Projekte geeignet sind. Der Hauptunterschied zwischen klassisch und agil besteht darin, dass ersteres dem sogenannten „Wasserfallprinzip“ folgt. Bei diesem ist das Ziel fix, während die Kosten und die Zeit insofern flexibel sind, als es keine andere Wahl gibt, als das Projekt genauso zu vollenden, wie es in der Spezifikation vorgesehen ist. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Kunden und die Verantwortlichen zu Beginn ein exaktes Bild des Endprodukts haben müssen und nichts Wichtiges übersehen werden darf. Änderungsbedarf oder veränderte Kundenwünsche stellen aus dieser Sicht vor allem Störungen dar, die es zu beheben gilt – was dann wiederum Zeit und Geld kostet. Beim agilen Vorgehen wird im Grunde davon ausgegangen, dass das konkrete Endprodukt zu Beginn gar nicht genau bekannt sein kann. Statt einer bis in die Details definierten Beschreibung des Endprodukts stehen User Storys im Vordergrund. Diese beschreiben vor allem, was das Produkt am Ende können muss, lassen aber Freiheiten, wie das zu erreichen ist. Entscheidend ist, dass die Kunden während der gesamten Dauer auf den Prozess Einfluss nehmen können und Änderungen insofern begrüßt werden. Abstriche werden eher bei unnötigen Funktionalitäten oder Ähnlichem gemacht, während die Kosten und der Zeitplan grundsätzlich eingehalten werden. Früher stand der Kunde dagegen nach dem Projekt-Kickoff gewissermaßen außen vor und wurde am Schluss mit dem fertigen Produkt beglückt. Im klassischen Projektmanagement ist der Projektleiter für die koordinativen, leitenden und steuernden Prozesse zuständig, während sich diese Tätigkeiten in agilen Teams auf mehrere Personen und Rollen verteilen (z. B. Product Owner und Scrum-Master) und teilweise sogar selbstständig vom operativen Team übernommen werden (z. B. Aufwandsschätzung und vor allem Zuteilung der Aufgaben zu den einzelnen Teammitgliedern). In der Literatur wird etwa beim Anlagen- oder Maschinenbau von agilen Methoden eher abgeraten (z. B. Sichart & Preussig, 2019), allerdings können auch hier etwa die die Hardware klassisch und die Elektronik agil entwickelt werden. Im Grunde muss es also auch kein Entweder-oder sein, vielmehr können nicht nur einzelne Projekte entweder klassisch oder agil angegangen werden, sondern auch einzelne Prozesse oder Elemente des Gesamtprojekts (hybrides Projektmanagement). Der richtige Methodenmix ist auf der Ebene des Project Management Office festzulegen, was voraussetzt, dass die dort tätigen Personen nicht nur alle denkbaren Projektmanagementmethoden kennen, sondern in der Lage sind, die für die jeweils zu lösende Aufgabe am besten geeignete Herangehensweise zu bestimmen. Dafür braucht es eher ein ganzheitliches und systemisches Denken, während eine rein operative oder ideologische (Präferenz für einen bestimmten Stil) Sichtweise keine optimalen Ergebnisse verspricht.

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Aus Sicht der Assessment-Praxis und mit Blick auf das zu erstellende Profil sind die folgenden Aspekte wesentlich. Die Berichte der Kandidaten zu gescheiterten Projekten deuten darauf hin, dass die häufigste Ursache darin liegt, dass zu Beginn die Bedürfnisse der Kunden und der restlichen Stakeholder zu wenig genau abgeklärt worden sind. Dem Erwartungsmanagement kommt bei Projekten insofern eine besondere Bedeutung zu. Um damit verbundene Fehlleistungen zu vermeiden, sind weniger methodische Projektmanagementkenntnisse als soziale Kompetenzen gefragt. Sowohl beim klassischen als auch beim agilen Projektmanagement lohnt sich 1) ein strukturierter Einbezug aller relevanten Personen, wenn möglich auch auf informeller Basis. Es ist 2) zu prüfen, ob der vom Kunden geäußerte Wunsch seinem tatsächlichen Bedürfnis entspricht und ob die von ihm geäußerte Lösung die einzige Möglichkeit ist, dieses zu befriedigen. Dazu bedarf es neben einer ausreichenden fachlichen Kompetenz, um die richtigen Fragen zu stellen, vor allem der Bereitschaft, gut zuzuhören sowie der Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln. Nicht nur im Umgang mit Kunden und Auftraggebenden, sondern auch bei der Teamarbeit selbst steigt die Bedeutung der zwischenmenschlichen Fähigkeiten. Sämtliche Prozesse werden interaktiver, es gibt Feedback- und Lernschleifen, und die Heterogenität in der Teamzusammensetzung nimmt zu. Werden Aufgaben nicht von oben zugewiesen, sondern im Team verteilt, ist es zudem notwendig, dass die Teammitglieder die Stärken der einzelnen Personen kennen und diese – unter Umständen zum eigenen Nachteil – bei der Aufgabenverteilung berücksichtigen.

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4  Kompetenzen und Fähigkeiten von Leader-­Persönlichkeiten

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5

Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

5.1 Persönlichkeitsprofil Erwünscht

Unbedenklich

Unerwünscht

Toxische Eigenschaften und Derailer Psychopathie

Min

Mittel

Max

Je weniger, wenig desto besser

Es gibt keine positiven Seiten von Psychopathie. Es handelt sich um eine Eigenschaft, für die die Betroffenen nichts können und die auch künftig weiter auftreten wird. Die Psychopathen sind unter uns und Teil der Gesellschaft. Klar ist, dass psychopathisches Verhalten (z.  B.  Risikobereitschaft) nicht als Führungspotenzial missverstanden werden darf. In Führungsfunktionen hinterlassen Psychopathen oft einen Scherbenhaufen, weshalb sie von den Machtpositionen ferngehalten werden müssen. Nur ein sehr geringes Maß an Psychopathie ist einigermaßen unbedenklich resp. erträglich. Narzissmus

Min

Miel

Max

Je weniger, desto besser

Auch Narzissmus hat keine positiven Seiten. Man braucht kein Narzisst zu sein, um sich und die eigenen Interessen angemessen durchsetzen zu können. Vielmehr handelt es sich um eine Volkskrankheit, die (im Westen) in weniger starker Ausprägung immer weiter um sich zu greifen scheint. Eine Gesellschaft, die aus zu vielen Narzissten besteht, fällt auseinander, zumal sich die anderen ebenfalls egoistisch verhalten müssen, wenn das Phänomen überhandnimmt. Narzissmus ist nicht genetisch bedingt und kann und muss so weit wie möglich überwunden werden. Narzissmus schädigt Beziehungen. Es braucht eine Rückbesinnung auf eine gemeinsinnige Grundhaltung. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_5

191

192

5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil Erwünscht

Machiavellismus

Min

M

Unbedenklich

Unerwünscht

Max

Ein geringes Maß hat Vorteile

Ein niedriges Maß an Machiavellismus kann auch als geschicktes Taktieren verstanden werden oder gewisse Aufgaben erleichtern (z. B. Koalitionen bilden). Subtile Beeinflussungsmethoden sind bis zu einem gewissen Grad in Ordnung und können auch positiven Zielen dienen. Höhere Ausprägungen bewirken tendenziell ein manipulatives Vorgehen zum Erreichen persönlicher Ziele. Bedenklich ist vor allem die Einstellung, „der Zweck heiligt die Mittel“. Das tut er nicht. Machiavellisten sind Opportunisten und durchaus wandlungsfähig. Wird in einem Umfeld integres Verhalten belohnt, passen sie sich an. Mit einer ethischen Kultur kann Machiavellismus also in Schach gehalten werden. Selbstüberschätzung

Min

Miel

Max

Ein wenig ist menschlich

Ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung, beispielsweise was den eigenen Beitrag zu Erfolgen oder Misserfolgen betrifft, ist menschlich und fördert das Vorhandensein eines gesunden Selbstwertgefühls. Höhere Ausprägungen sind oft eher Wunschdenken und verbunden mit einer mangelnden Bereitschaft, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Eine reife Persönlichkeit kennt ihre Grenzen, hinterfragt sich und strebt danach, ihren Beitrag zu den erzielten Leistungen realistisch einzuschätzen. Das Umfeld sollte sich nicht scheuen, Anzeichen von Selbstüberschätzung anzusprechen, auch wenn dies nicht gut ankommt. Natürlich ist Selbstüberschätzung eng mit Narzissmus verbunden. Misstrauen

Min

Miel

Max

so wenig wie möglich

Ein ausgeprägtes Misstrauen hat etwas Zersetzendes, schafft Distanz und erschwert es, tragfähige Beziehungen herzustellen. Im Geschäft ist eine misstrauische Haltung typischerweise auch mit einem stark kontrollierenden Verhalten verbunden („Micro-­Management“). Andere Menschen können an Selbstvertrauen verlieren und sich wenig entfalten, und es kann eine Angstkultur entstehen. Einer misstrauischen Grundhaltung ist man nicht machtlos ausgeliefert. Misstrauische Personen sollten nicht versuchen, vermeintlich positive Aspekte daran zu finden (z. B. Vermeiden von Enttäuschungen), sondern herausfinden, woher diese Eigenschaft rührt, sowie gezielt daran arbeiten, diese loszuwerden.

5.1 Persönlichkeitsprofil

Kränkbarkeit

193 Min

Miel

Max

so wenig wie möglich Erwünscht

Unbedenklich

Unerwünscht

Vielleicht sind ja echte und vermeintliche Kränkungen tatsächlich die Wurzel fast allen Übels? Also Schluss damit. Eine reife Person muss definitiv auch etwas einstecken sowie vor allem wahrgenommene Verletzungen mit dem Verursacher ausdiskutieren und aus der Welt schaffen können. Überempfindlichkeit ist eine Form von vulnerablem Narzissmus und gehört bearbeitet, zumal man ja meist selbst leidet und unnötig Energie investiert, um einen Groll aufrechtzuerhalten. Vergeben und Verzeihen können, ist vor allem ein Akt der eigenen Psychohygiene. Einen Konflikt konstruktiv bewältigt zu haben, steigert das Selbstvertrauen und hebt oft eine Beziehung auf ein höheres Niveau. Und mit einem längerfristig stabileren Selbstwertgefühl und einer geringeren Verletzlichkeit lebt es sich auch glücklicher. „Raus aus der Opferrolle“ lautet also das Motto, solange man nicht wirklich unterdrückt wird. Führungskräfte sollten Mitarbeitende beharrlich dazu auffordern, kleinere Streitigkeiten unter sich auszumachen. Bei gravierenden Verletzungen sieht es anders aus. Aber dafür gibt es ja Gesetze. Werte und Prinzipien

Prinzipien/Fairness

Min

Mittel

Max

Fairplay schafft Vertrauen

Wer sich an gesetzliche Bestimmungen, ethische Richtlinien und getroffene Vereinbarungen hält, positioniert sich als verlässlicher und vertrauenswürdiger Partner für andere. Neben dieser eher basalen Regel- und Vereinbarungstreue stehen echte Führungspersönlichkeiten für ein mehr oder weniger eigenständiges Set an Prinzipien ein. Damit entfalten sie ein unverwechselbares Profil und vermitteln dem Umfeld Orientierung. Werden die Prinzipien konsequent und konsistent gelebt, ergibt sich eine klare Linie, und es wird automatisch Fairness sichergestellt. Als Überausprägung ist eine rigide Prinzipienreiterei vorstellbar. Zuweilen ist auch eine gewisse Flexibilität nötig (z. B. Härtefälle). Verlässlichkeit

Min

Miel

Max

Die Basis von allem

Vertrauen kann nur entstehen, wenn man sich aufeinander verlassen kann. Was das genau bedeutet, kann (vor allem in einem interkulturellen Kontext) bis zu einem gewissen Grad ausgehandelt werden. Im Grunde geht es um die Basis der Zusammenarbeit: Dass man Vereinbarungen einhält, qualitativ gute Arbeit abliefert, Deadlines einhält und etwaige Schwierigkeiten oder Fehler proaktiv anspricht. Verlässlichkeit war schon immer einer der wichtigsten Werte und wird es auch immer bleiben. Das Gute daran ist: Verlässlichkeit ist lernbar und sollte bei reifen, erwachsenen Personen im Grunde vorausgesetzt werden. Zuweilen braucht es etwas Disziplin sowie die Bereitschaft, ein eigenes Bedürfnis zugunsten größerer Ziele zurückzustellen. Für Unzuverlässigkeit gibt es keine Entschuldigung.

194

5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil Erwünscht

Aufrichtigkeit

Min

Mittel

Unbedenklich

Unerwünscht

Max

Integer, authentisch, kongruent

Aufrichtigkeit wird hier als Kombination verschiedener zentraler Werte betrachtet. Sie beinhaltet Ehrlichkeit, Integrität, Gradlinigkeit sowie Verbindlichkeit und beschreibt die Glaubwürdigkeit, die man ausstrahlt, wenn man die genannten Werte nicht nur propagiert, sondern kongruent und konsequent im eigenen Handeln umsetzt. Im Wesentlichen gilt die Faustregel: Tun, was man sagt, sagen, was man meint und meinen, was man sagt. Aufrichtige Menschen wirken authentisch, haben Profil und entfalten natürliche Autorität. Sie können leichter andere Personen mittels Vorbildwirkung dazu motivieren, sich für die gemeinsamen Ziele einzusetzen. Als Überausprägung ist etwa eine falsch verstandene Ehrlichkeit denkbar. Man muss nicht immer alles sagen, aber was man sagt, sollte wahr sein. Kooperation

Min

Mittel

Max

Für die großen Probleme

Die Welt steht vor großen Herausforderungen. Themen wie Klimawandel, Migration und Ressourcenknappheit lassen sich nur staatenübergreifend lösen. Auf der politischen Ebene ist nur zu hoffen, dass sich die Führungspersonen der wichtigsten Nationen zusammenraufen, die wirklich großen Probleme gemeinsam zu lösen. Die Zeit der Lippenbekenntnisse und Endlosdebatten ohne nennenswerte Wirkung muss vorbei sein. Auf der Unternehmens­ ebene empfiehlt sich eine Sichtweise von Ökosystemen, die aus möglichen Partnern bestehen, statt einer Wagenburgmentalität, bei der man sich von lauter Gegnern umringt wähnt. Auch die einzelnen geschäftlichen Aktivitäten lassen sich gemeinsam besser stemmen. Je größer das Projekt, desto eher macht eine gute Kooperation den Unterschied. Nachhaltigkeit

Min

Mittel

Max

Das Gebot der Stunde

Sich zugunsten langfristiger Vorteile einzuschränken, ohne dass ein akuter Bedarf unmittelbar spürbar ist, scheint leider nicht in der Natur des Menschen zu liegen. Es braucht also die Bereitschaft und das Vermögen, aus Vernunft und Einsicht nachhaltig zu agieren. Je mehr Menschen dazu bereit und fähig sind, desto besser. Es wird immer eine kleinere oder größere Minderheit geben, die nach dem Prinzip „nach mir die Sintflut“ lebt. Zumindest alle Eltern sollten sich im Interesse ihrer Kinder für das Wohlergehen des Planeten einsetzen. Für Führungskräfte in Politik und Wirtschaft sollte dieses Thema ganz oben auf der Agenda stehen. Realitätsleugner und Ausbeuter gehören abgewählt. Eher kontraproduktiv ist ideologischer Furor. Dieser bewirkt meist eher Abwehr und Reaktanz statt Einsicht.

5.1 Persönlichkeitsprofil

Diversität/Gleichheit

195 Min

Mittel

Max

Brücken bauen statt abschotten Erwünscht

Unbedenklich

Unerwünscht

Dass niemand aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht, Ethnie etc. diskriminiert werden sollte, ist für die Mehrheit der Menschen im Westen selbstverständlich, wird aber nicht immer so gelebt. Rede und Verhalten klaffen oft weit auseinander. Statt auf andere zuzugehen, bleibt man unter sich und grenzt sich womöglich aggressiv ab. Die Offenheit für Diversität ist eine Kopfsache und keine natürliche Veranlagung. Bei diesem Thema ist die Gefahr von Übertreibungen besonders groß. Der Zeitgeist scheint darin zu bestehen, dass jede/r sich als Teil einer benachteiligten Gruppe oder als Retter einer solchen betrachtet. Segregation und positive Diskriminierung statt Integration ist die Folge. Im Unternehmen kann Diversität das Ergebnis verbessern, wenn damit konstruktiv umgegangen wird. Eine heterogene Zusammensetzung eines Teams bewirkt aber nicht automatisch bessere Ergebnisse. Gemeinsinn und Solidarität

Min

Miel

Max

Dem Gemeinwohl dienen

Anstelle von Hedonismus, Egoismus und Narzissmus braucht es mehr Gemeinsinn resp. Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen. Auf der gesellschaftlichen Ebene kommen ehrenamtliche Aktivitäten sowie gemeinnützige Projekte infrage. Alle können irgendeinen Beitrag leisten, und je mehr das tun, umso besser. Auf der Organisationsebene ist die Ausrichtung auf einen höheren Zweck (Purpose) sowie die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu nennen. Führungskräfte sollten sich dafür einsetzen, dass die Unternehmen einen positiven gesellschaftlichen Beitrag leisten. Eine mögliche Überausprägung scheint bei Gemeinsinn kaum vorstellbar. Umso höher ist das sinnstiftende Potenzial sämtlicher Themen und Aktivitäten, die diesen fördern. Persönlichkeit (Big-Five)

Emotionale Stabilität

Min

Mittel

Max

Reife und Gelassenheit anstreben

Die Menschen unterscheiden sich in der Art und Intensität ihrer emotionalen Grundausstattung. Ob jemand ausgeglichen ist oder nicht, bestimmt weitgehend Mutter Natur. Das bedeutet aber nicht, dass man zeitlebens den eigenen Gefühlen ausgeliefert sein muss. Vielmehr stellt eine völlig fehlende emotionale Stabilität bei erwachsenen Personen ein Zeichen von persönlicher Unreife dar, sofern keine psychische Störung (z. B. bipolare Störung) oder ein Trauma vorliegen. Überausprägungen von Ängstlichkeit, Impulsivität oder Reizbarkeit lassen sich nämlich durchaus auf ein erträgliches Maß reduzieren, wenn man bereit ist, gezielt an sich zu arbeiten. Wie erwähnt, gilt dasselbe auch für Verletzlichkeit. So kann man beispielsweise durchaus lernen, nicht immer alles persönlich zu nehmen. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es sehr sachliche Personen mit einem eingeschränkten Gefühlsspektrum. Bis zu einem gewissen Grad können diese lernen, gefühlsmäßige Aspekte stärker zu integrieren. Emotional überborden werden diese nie. Das müssen sie aber auch nicht.

196

5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil Erwünscht

Extraversion

Min

Miel

Unbedenklich

Unerwünscht

Max

Willkommene Diversität

Extravertierte Menschen wirken auf den ersten Blick sympathischer als sehr introvertierte Typen. Sie würden in einer informellen Situation zweifellos auch eher eine Führungsrolle zugewiesen erhalten. Dass sie deshalb besser führen, ist damit allerdings nicht gesagt. Die Assessment-Praxis lässt vermuten, dass Menschen mit hohen Ausprägungen dieser Eigenschaft soziale Kontakte oft eher oberflächlich gestalten und gern selbst im Mittelpunkt stehen. Die Facetten Herzlichkeit, Geselligkeit, Frohsinn und Erlebnishunger zeigen keinerlei logischen Bezug zu nachhaltiger Führungseffektivität. Anders verhält es sich mit der Durchsetzungsstärke, die in einer Führungsrolle tatsächlich in einem gewissen Ausmaß gegeben sein sollte. Eine übersteigerte Durchsetzungsorientierung löst Angst und Abwehr aus. Introvertierte Personen werden oft unterschätzt. Durchaus denkbar ist, dass sie hinsichtlich echtem Verständnis und tiefgründiger Gespräche sogar Vorteile haben. Insgesamt ist im Grunde jede Ausprägung in Ordnung, solange man sich nicht völlig zurückzieht oder ständig in den Vordergrund drängt. Alles dazwischen sind Persönlichkeitsunterschiede, die eine Bereicherung darstellen und mit denen man umgehen lernen sollte. Besser oder schlechter gibt es hier kaum. Min

Offenheit für Erfahrung

Mittel

Max

Den Horizont erweitern

Offenheit für Handlungen, Gefühle und Ideen ist im Grunde die Basis dafür, andere verstehen zu können und sich idealerweise in deren Perspektive hineinzuversetzen. Grundsätzlich kann man sich entscheiden, ob man in seiner eigenen kleinen Welt verharren oder sich für andere Gedanken, Wahrnehmungen und Interpretationen öffnen möchte oder diese sogar bereichernd findet. In der Regel steigert die Fähigkeit, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen, die „Open-Mindedness“. Ein Auslandsaufenthalt zwingt einen bis zu einem gewissen Grad dazu, ist aber keine notwendige Bedingung. Auch geringfügige Unterschiede können den eigenen Horizont erweitern. Entscheidend ist die Facette „Offenheit für unterschiedliche Wertesysteme“. Ist diese Facette gar nicht gegeben, empfindet man alles, was man nicht kennt, als abwegig. Eine Überausprägung besteht in einer „Anything-goes“-Einstellung. Unter dem Deckmantel umfassender Toleranz wird alles hingenommen. Eine Gemeinschaft braucht einige verbindende Werte, die auch gewisse Grenzen setzen. Für diese muss man einstehen.

5.2 Kompetenzprofil

197 Min

Mittel

Max

Gewissenhaftigkeit

Kompetenz Erwünscht

Unbedenklich

Unerwünscht

Die Facetten der Gewissenhaftigkeit lesen sich wie ein Katalog klassischer Arbeitstugenden: Ordentlichkeit, Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin, Leistungsstreben und Besonnenheit. Vereint man diese Merkmale in einigermaßen genügender Ausprägung auf sich, präsentiert man sich der Umwelt als zuverlässiger und verantwortungsbewusster Partner, Kollege oder Vorgesetzter. Verantwortungsbewusstsein und Verlässlichkeit sind definitiv Eigenschaften, die man sich von Vorgesetzten wünscht. Dies umso mehr, als diese Eigenschaften auch eine gewisse Beständigkeit und Berechenbarkeit erwarten lassen. So erstaunt es nicht, dass Gewissenhaftigkeit unter den Big Five am stärksten mit Führungseffektivität korreliert. Man kann es aber auch übertreiben: Pedanterie, an Selbstkasteiung grenzende Selbstkontrolle und zwanghaftes Ordentlichkeitsstreben sind einige denkbare Überausprägungen. Min

Verträglichkeit

Mittel

Max

Der Harmoniefaktor

Verträglichkeit beinhaltet so wünschenswerte Eigenschaften wie Vertrauen, Altruismus und Gutherzigkeit. Hoch verträgliche Personen fördern positive Beziehungen mit und in ihrem Umfeld und bieten meist kaum Reibungsfläche. Extrem unverträgliche Menschen verursachen oft Streit und haben Mühe, sich zu integrieren oder Kompromisse einzugehen. Mit ihnen ist nicht gut Kirschen essen und eine Zusammenarbeit schwierig. Allerdings erreichen auch Personen eher niedrige Verträglichkeitswerte, die die Sache und die Zielerreichung über eine möglichst harmonische Arbeitsatmosphäre stellen. Diese sind bereit, für ihr Standpunkte einzustehen, und haben lieber harte Debatten als eine Wohlfühlklima, bei dem alles unter den Tisch gekehrt wird. Das andere Extrem umfasst Personen, die sich zu entgegenkommend verhalten und sämtlichen Konflikten aus dem Weg gehen. Konflikte unter allen Umständen zu vermeiden oder wegzusehen, löst diese nicht. Auch zu viel des Guten ist also ungut.

5.2 Kompetenzprofil Bei den Kompetenzen gilt, dass ein bestimmtes Mindestmaß, das heißt in der Regel eine durchschnittliche Ausprägung, erreicht werden sollte. Es handelt sich um lernbare Aspekte. Eine Überausprägung kann vereinzelt auftreten, ist bei den meisten Aspekten aber eher die Ausnahme als die Regel. Klassische und zeitlose Basiskompetenzen Durchsetzungsvermögen  Die Forschung zeigt, dass bei Beeinflussungsprozessen ein mittleres Durchsetzungsvermögen zielführend ist. Bleibt man hinsichtlich der eigenen Anliegen oder Standpunkte zu unverbindlich, unklar oder zu zurückhaltend, erzielt man keine

198

5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

Wirkung. Tritt man dagegen zu direktiv auf, ist mit Abwehr oder allenfalls widerwilliger Gefolgschaft zu rechnen. Anpassungsfähigkeit  Die Kunst besteht darin, sich selbst zu sein und sich gleichzeitig flexibel auf unterschiedliche Situationen und Menschen einlassen zu können. Das ist kein Widerspruch und bedeutet auch nicht, dass man sich ständig verbiegen muss. Ein stabiler, gefestigter Wesenskern und eine werteorientierte Grundhaltung stellen die notwendige eigenständige Linie sicher, lassen aber auch einen großen Spielraum, wie man sich in einer spezifischen Situation verhalten kann, ohne sich untreu werden zu müssen. Hilfreich ist ein möglichst breites Verhaltensrepertoire. Anstand und Respekt  Mit den Kollegen und Kolleginnen und sämtlichen Angestellten anständig und respektvoll umzugehen, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Dabei sollten grundsätzlich weder persönliche Sympathien noch die Hierarchiestufe eine Rolle spielen. Verfolgt man nicht bewusst bestimmte Verhaltensgrundsätze, sondern agiert intuitiv, behandelt man kaum alle gleich. Auch auf dieser basalen Ebene ist also eine Klarheit hinsichtlich des eigenen Umgangs mit anderen notwendig. Ausgeglichenheit und emotionale Stabilität  Die eigenen Emotionen bis zu einem gewissen Grad kontrollieren zu können, ist ein wesentlicher Bestandteil der Selbstführung. Das Optimum liegt irgendwo in der Mitte zwischen einer kindlichen Launenhaftigkeit oder Impulsivität und einem vollständigen Unterdrücken der eigenen Emotionen. Ausreichend emotional stabil zu werden, kostet unter Umständen Zeit, ist aber grundsätzlich machbar. Niemand muss den eigenen Gefühlen völlig ausgeliefert sein. Belastbarkeit, Ausdauer und Frustrationstoleranz  Wer keine Ausdauer hat, wird nie ein wichtiges Projekt beenden oder über eine gewisse Zeit eine bestimmte Aufgabe ausführen können. Ganz ohne geht also nicht, es braucht aber auch nicht jeder eine „Eiche“ zu sein. Es gilt, die eigenen Grenzen kennenzulernen und sich eine dazu passende Aufgabe zu suchen. Wenn nötig, muss man halt eine Weile die Zähne zusammenbeißen. Das schadet nicht, und der Lohn ist es wert: Neben einem guten Gefühl und mehr Selbstvertrauen wird auch die Willenskraft gesteigert. Diese ist trainierbar wie ein Muskel. Engagement/Einsatzbereitschaft  Ein gewisses Bedürfnis, sich für eine wichtige Aufgabe zu engagieren, ist ein Merkmal mental gesunder Menschen. Antriebslosigkeit kann beispielsweise auf chronifizierten Stress oder das Gegenteil  – ein leistungsfeindliches Umfeld zurückzuführen sein. Ebenfalls denkbar ist, dass man einen falschen Weg gewählt hat. Es ist klar, dass zumindest ein mittleres Maß an Engagement angestrebt werden sollte. Findet man heraus, was man gut kann, sollte dies kein Problem sein. Dienst nach Vorschrift macht unglücklich, anhaltendes Überengagement krank. Fachliche Lernbereitschaft  Die Halbwertszeit des Wissens sinkt ständig. Fachliche Kenntnisse können schnell veralten. Es ist also wichtig, auf dem Laufenden zu bleiben und

5.2 Kompetenzprofil

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sich selbstständig über neue Entwicklungen zu informieren. Entsprechende Bestrebungen werden von den Arbeitgebenden normalerweise unterstützt. Personen, die sich für ihr Fachgebiet wirklich interessieren, sind dazu ohnehin aus eigenem Antrieb motiviert. Ist es eine Tortur, sollte man sich etwas anderem zuwenden. Gesundes Selbstvertrauen  Ein gesundes Selbstvertrauen wünschen sich alle. Ein überhöhtes Selbstvertrauen aufrechtzuerhalten, ist anstrengend und belastend für die Umwelt. Sich kaum etwas zuzutrauen, hemmt und verunsichert. Sehr unsichere Personen müssen in der Regel vor allem lernen, sich stärker auf die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten zu besinnen sowie die eigenen Schwächen zu akzeptieren. Ein übersteigertes Selbstvertrauen deutet meist auf Narzissmus hin. Empfehlenswert ist ein Abgleich zwischen dem eigenen Selbstbild und der tatsächlichen Wirkung auf andere Menschen. Dazu sollte man sich regelmäßig Feedback durch Personen aus der eigenen Umgebung einholen. Handlungsorientierung und Pragmatismus  Die Schweizerische Bundesbahn bringt es mit der Doppelbedeutung ihres Slogans „Mach es einfach!“ auf den Punkt. Statt sich in Detailplanung und umfassender Informationsrecherche zu verlieren, heißt es anpacken und etwas ausprobieren. Handeln statt endlose Grundsatzdiskussionen ist angesagt. Sofern es sich nicht um sicherheitsrelevante Sachverhalte oder Entscheidungen mit großer Tragweite handelt, ist ein aktionsorientiertes, experimentelles Vorgehen meist zielführender und vor allem schneller, was immer wichtiger wird. Zusätzlich ist oft auch nicht die theoretisch optimale Lösung die beste, sondern eine einfache, praktikable. Individuelle Problemlösungskompetenz  Die meisten Aufgaben erfordern ein gewisses Maß an intellektuellen Fähigkeiten und/oder Erfahrung. Die Art der notwendigen individuellen intellektuellen Fähigkeiten (z. B. analytisches Denken, planerische Fähigkeiten) hängt logischerweise hauptsächlich von der zu bearbeitenden Aufgabe ab. Je komplexer, desto wichtiger sind die intellektuellen Fähigkeiten. Allerdings müssen diese auch zielführend in die Problemlösung eingebracht werden. Kommunikationsfähigkeit  Beziehungsarbeit geschieht über kommunikative Prozesse. Auf der einen Seite müssen die eigenen Standpunkte und Erwartungen präzise und verständlich formuliert werden können. Auf der anderen Seite gilt es, auf das Gegenüber einzugehen und gut zuhören zu können. Speziell wichtige Gespräche sind möglichst dialogisch zu gestalten. Eine professionelle Gesprächstechnik hilft. Kooperation und Hilfsbereitschaft  Ein wesentlicher Aspekt von erfolgreicher Teamarbeit ist die Bereitschaft, sich gegenseitig zu unterstützen. Für das Gruppenergebnis wichtig ist, dass die Hilfeleistungen im Sinne der gemeinsamen Ziele und nicht primär sympathiegeleitet erfolgen. Die meisten Menschen wollen sich für eine erhaltene Hilfestellung revanchieren. Unterstützt man sich gegenseitig, entsteht ein Umfeld, in dem auch besondere Leistungen möglich sind.

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5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

Realitätssinn  Sich passiv in irgendwelchen Träumereien zu ergeben, bringt nichts. Es gilt, einen realistischen Blick auf die Wirklichkeit und die eigenen Lebensumstände oder geschäftlichen Opportunitäten zu wahren. Das Sammeln von Fakten und gesicherten Informationen sowie das Einholen von Feedback helfen dabei. Von besonderer Bedeutung ist ein realistisches Bild der eigenen Stärken und Entwicklungsthemen. Bei anderen ist darauf zu achten, ob eine zur Schau gestellte Gewissheit und Selbstüberzeugung auch wirklich auf überdurchschnittlichen Kompetenzen beruht. Selbstverantwortung  Eine reife Persönlichkeit zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie für sich die Verantwortung übernimmt. Wer das Heft in die eigene Hand nimmt und danach strebt, des eigenen Glückes Schmied zu sein, erlebt Wirksamkeit und steigert die Chance, selbst verursachte Erfolgserlebnisse zu generieren. Das gibt Mut und macht Lust auf mehr. Aktiv nach sich zu schauen, ist definitiv befriedigender als in einer Opferrolle zu verharren und sich von anderen abhängig zu machen. Gleichzeitig ist Anstrengung noch kein Garant für den Erfolg. Einige Menschen haben Pech und brauchen Hilfe. Diese im Stich zu lassen, ist ein falsches (libertäres) Verständnis von Selbstverantwortung. Umsetzungsstärke  Neben Arbeitstugenden wie Fleiß, Ausdauer oder Selbstdisziplin wird die individuelle Umsetzungsstärke hauptsächlich durch die Effektivität und Effizienz der betreffenden Person bestimmt. Wer sich auf das wirklich Wichtige konzentriert und den Qualitätsmaßstab an die situativen Erfordernisse anpasst, erzielt eine hohe Effektivität. Grundsätzlich sollte man weder zu zögerlich noch überhastet agieren. Umsetzungsstärke hat auch viel mit Selbstdisziplin und Ausdauer zu tun. Die meisten größeren Projekte verlangen nach einem langen Atem und einer hohen Frustrationstoleranz. Werteorientierung  Es kann nicht oft genug wiederholt werden: An oberster Stelle werden auch in Zukunft einige der bereits erläuterten Basiswerte wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Loyalität, Fairness und Gewissenhaftigkeit stehen. Sie erfordern nicht mehr als eine gewisse Selbstdisziplin, sind aber unerlässlich. Ohne sie geht in der Führung gar nichts, wenn freiwillige Gefolgschaft oder Mitwirkung erwünscht sind. Wer nicht durch Werte überzeugt, muss andere Menschen unter Druck setzen oder „kaufen“. Zielsetzungsfähigkeit  Sich selbst realistische Ziele zu setzen, fördert nicht nur die eigene Leistungsbereitschaft, sondern auch das Wohlbefinden. Selbst gesetzte Ziele zu erreichen, schafft Befriedigung und kann nachhaltige Glücksmomente (z. B. Flow) bewirken. Wer keine Ziele hat, wird auf Dauer unglücklich, wer sich nur an fremdgesetzten Zielen orientiert, bleibt unmündig. Selbstverständlich ist es zentral, realistische und an die eigenen Möglichkeiten angepasste Ambitionen zu verfolgen. Gleichzeitig sollte dies von erwachsenen Personen aber auch unbedingt erwartet werden. Zuversicht und Lösungsorientierung  Ob man das Glas halb voll oder halb leer sieht, ist definitiv mehr als eine Floskel. Vielmehr ist es eine Grundhaltung, die wesentlich be-

5.2 Kompetenzprofil

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stimmt, ob man Energie entwickelt und etwas bewegen möchte, oder man sich vor allem auf mögliche Probleme und Bedenken fokussiert. Letzteres hat einen lähmenden Effekt und kostet unnötig Energie. Allerdings sollte vor Schwierigkeiten auch nicht die Augen verschlossen werden. Im Gegenteil. Diese gilt es zu antizipieren und zu überwinden, statt wegzudiskutieren. Aber der Glaube daran, diese Schwierigkeiten meistern zu können, kann Berge versetzen. Künftige Schlüsselkompetenzen Bescheidenheit  Bescheidenheit und auch Demut sind wichtige Buzzwords in der aktuellen Managementliteratur. Damit ist nicht gemeint, dass man die eigene Person stets zurücknehmen muss, zuweilen ist eher ein bestimmtes Auftreten gefragt. Entscheidend ist vielmehr, dass man die eigenen Grenzen kennt und sein Ego gegenüber dem höheren Zweck zurückstellt. Digitale Kompetenz  Im digitalen Zeitalter muss man bis zu einem gewissen Grad mit der Zeit gehen. Nicht jede/r muss ein IT-Nerd und nicht jede Organisation eine Vorreiterin werden. Es ist aber unabdingbar, sich auf neue digitale Tools einzulassen. Je nach Funktion ist auch die Kenntnis der bestehenden und in jedem Fall noch zu entdeckenden digitalen Geschäftsmodelle eine Notwendigkeit. Diversitäts- und interkulturelle Kompetenz  Es liegt auf der Hand, dass die Gesellschaft und die Belegschaften der Unternehmen immer heterogener werden. Unterschiedliche Denk- und Herangehensweisen im Sinne von „Deep Diversity“ können der Problemlösung eigentlich nur guttun. Das setzt aber voraus, dass man konstruktiv mit den Unterschieden umgeht sowie rücksichts- und verständnisvoll handelt. Das bedeutet auch, die Unterschiede nicht zu negieren, sondern anzusprechen. Empathie und Perspektivenwechsel  Schon die Indianer kannten die Bedeutung des Perspektivenwechsels. Und sie haben Recht. Wer nicht eine Weile in den Mokassins des anderen herumgewandelt ist, sollte sich mit (Vor-)Urteilen und eigenen Bewertungen zurückhalten. Dabei muss man sich noch nicht einmal fremde Schuhe überstreifen, es reicht schon, eine forschende Haltung einzunehmen und auf empathische Weise mittels offener Fragen genau herauszufinden, wie das Gegenüber denkt und fühlt. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Auch hier sollte man versuchen, immer besser zu werden. Faktenbasiertes Entscheidungsverhalten  Gerade im Zeitalter der „alternativen Fakten“ und abgeschotteten Echokammern anderer Wirklichkeiten tut es not, Entscheidungen auf der Basis von Fakten und realistischen Einschätzungen zu treffen. Glaubwürdig ist man, wenn man weiß, wovon man redet und was man tut. Gleichzeitig kann man nicht alles wissen, und Entscheidungen sollten innerhalb vernünftiger Fristen getroffen werden. Recherchieren war noch nie so einfach wie heute, und es empfiehlt sich, verschiedene Meinungen einzuholen. Alternativ kann man etwas im kleinen Maßstab ausprobieren und die sich

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5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

d­ araus ergebenden Konsequenzen prüfen. Auf die Intuition verlassen sollte man sich nur, wenn man über eine sehr hohe Kompetenz auf dem fraglichen Fachgebiet verfügt. Gedankliche Flexibilität und Agilität  Mit gedanklicher Flexibilität ist der situativ zielführende Einsatz unterschiedlicher intellektueller Fähigkeiten gemeint. Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden, unter Umständen ist es effektiver, auf bestehende Lösungen zurückzugreifen. In anderen Fällen ist eine gewisse Innovativität vonnöten, oder eine Modularisierung macht Sinn. Je nachdem ist ein unterschiedliches Maß an Planung oder ein experimentelles Vorgehen angesagt. Wichtig ist auch die Anwendung des Pareto-­ Prinzips, beispielsweise bei der Qualität. In der Regel gilt die Maxime, so viel Qualität wie nötig und nicht wie möglich. Letzteres ist nur bei hohen Risiken zu empfehlen. Initiative und Gestaltungswille  Neu ist auch die Erwartungshaltung bezüglich Eigen­ initiative. Wurden früher tendenziell Personen bevorzugt, die kritiklos die Anweisungen ausgeführt haben, wird zunehmend Mitdenken und Mitgestalten erwartet. Das Heft selbst in die Hand zu nehmen und eigene Themen zu setzen oder Vorschläge voranzutreiben, ist Ausdruck einer gestalterischen Grundhaltung. Kollaborative Problemlösungsfähigkeit  In autonomen Teams steigt die Bedeutung von Teamarbeit. Erforderlich ist nicht nur die Bereitschaft, sich einzugliedern und Arbeiten gemeinsam zu erledigen, sondern auch das Vermögen, die Zusammenarbeit selbst mitzugestalten. Im Zentrum stehen Lernprozesse aller Art. Wie erwähnt, zeichnen sich erfolgreiche Teams dadurch aus, dass sie nicht nur ihre fachliche Kompetenz laufend erhöhen, ­sondern auch die Zusammenarbeit der Mitglieder perfektionieren. Infolge der Netzwerkstruktur nimmt die übergreifende Zusammenarbeit ebenfalls an Bedeutung zu. Konfliktfähigkeit  Persönliche Konflikte nachhaltig zu lösen, ist wohl die anspruchsvollste soziale Herausforderung. Es ist in dieser Hinsicht noch kein Meister vom Himmel gefallen, und es gibt wohl auch niemanden, der in heiklen zwischenmenschlichen Situationen immer genau richtig reagiert. Wichtig ist, die Themen direkt anzusprechen und nicht darauf zu hoffen, dass sich die Probleme von selbst lösen. Worauf es in der Konfliktlösung ankommt, wird im Buch ausführlich dargestellt. Kritikfähigkeit  Vor allem narzisstische Vorgesetzte ertragen keine Kritik und umgeben sich deshalb bevorzugt mit Bewunderern. Gerät so eine Person auf Abwege, beispielsweise weil sie sich überschätzt, gibt es oft niemanden, der sich getraut, dies offen anzusprechen. Wichtiger noch als der Mut, dies zu tun, ist die Bereitschaft, sich von anderen kritisch hinterfragen zu lassen und konstruktiv mit dem erhaltenen Feedback umzugehen. Reife Personen fordern die anderen sogar dazu auf. Mut und Eigenständigkeit  In der agilen Welt ist der Mut gefragt, etwas Neues auszuprobieren und damit unter Umständen zu scheitern. „Wer nichts wagt, der nicht gewinnt“

5.2 Kompetenzprofil

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trifft mehr denn je zu. Außerdem ist es wichtig, sich mit eigenen Standpunkten und Vorschlägen einzubringen und bei Bedarf dafür zu exponieren. Sich hinter Pflichtenheften oder Vorgesetzten zu verstecken, funktioniert nicht. Partnerschaftlicher Umgang  Es wird auch weiterhin Hierarchien, asymmetrische Machtverhältnisse und unterschiedliche Entscheidungskompetenzen geben. Das Machtgefälle darf sich aber nicht im zwischenmenschlichen Kontakt niederschlagen. Eine reife Führungspersönlichkeit hat es nicht nötig, den sozialen Kontakt asymmetrisch zu gestalten. Sie begegnet anderen auf Augenhöhe und partnerschaftlich. Persönliches Wachstumsstreben  Es wird immer wichtiger, als Persönlichkeit zu überzeugen. Dazu bedarf es einer ganzheitlichen Lernbereitschaft, die über den Erwerb fachlicher Qualifikationen oder den Besuch spezifischer Führungstrainings hinausgeht und die vor allem auf die laufende Verbesserung der eigenen sozialen und persönlichen Kompetenzen abzielt. Selbstführung  Sich selbst zu führen, fängt mit der Bereitschaft an, für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen. Es ist wichtig, sich Ziele zu setzen, Initiative zu zeigen, um die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen. Ein weiterer Aspekt betrifft das Selbstmanagement, etwa den Umgang mit Belastungen oder frustrierenden Erfahrungen. Ebenfalls von Bedeutung ist das Vermögen, das eigene Gefühlsleben auf kompetente und konstruktive Weise zum Ausdruck zu bringen sowie bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Hervorzuheben ist zudem das Selbstwertgefühl, das weder übersteigert noch zu niedrig und verletzlich sein darf. Alle diese Aspekte sind erlernbar v. a. Selbstwertgefühl. Umgang mit Unsicherheit und Komplexität  Alles wird schneller und komplexer. Man kann nicht immer alles wissen und muss ein bestimmtes Maß an Ungewissheit aushalten können. Vom Wunsch nach stabilen Verhältnissen muss man sich in der Privatwirtschaft ebenso verabschieden wie von überdauernden Wahrheiten oder langfristig wirksamen Erfolgsrezepten. Verantwortungsübernahme  Im Unterschied zu den klassischen Führungsansätzen sind die transformationalen und modernen Führungskonzepte darauf ausgelegt, die Mitarbeitenden durch Sinngebung, Partizipation und Förderung dazu zu bewegen, sich intrinsisch motiviert in den Dienst der Zielerreichung zu stellen. Dabei wird allerdings erwartet, dass die Mitarbeitenden mehr Verantwortung übernehmen. Für unselbstständige und extrinsisch motivierte Mitarbeitende bedeutet dies eine große Umstellung. Verantwortung zu übernehmen, fällt leichter, wenn man sich mit der eigenen Aufgabe identifiziert. Veränderungsfähigkeit  Nichts ist so beständig wie der Wandel. Wenn man sich allen Entwicklungen verschließt, verliert man den Anschluss. Zielführender ist es, sich anzupassen und auf die Veränderungen eine geeignete Antwort zu finden. Noch besser ist es, die Zukunft zu gestalten und proaktiv die Initiative für Veränderungen zu ergreifen. Selbst

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5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

etwas zu bewegen, vermittelt das Gefühl von Wirksamkeit und schafft Zufriedenheit. Findet man Mitstreiter und erreicht gemeinsam Erfolge, wird das Gefühl noch besser. Das trifft grundsätzlich auf einzelne Personen und Organisationen gleichermaßen zu. Verhaltensflexibilität  Eine erhöhte Verhaltensflexibilität ist nicht angeboren, sondern entsteht, wenn man praktische, insbesondere heikle soziale Situationen systematisch auswertet, indem man sich nachher fragt, was man gut gemacht hat und was man bei einem nächsten Mal besser oder anders machen könnte. Selbstverständlich empfiehlt sich ergänzend, andere zu beobachten und die gemachten Erfahrungen mit diesen auszutauschen. Vernetztes und ganzheitliches Denken  Im klassischen Management und in einer stabilen Umwelt sind hauptsächlich analytisch-planerische Fähigkeiten gefragt. Bei umfassenderen Aufgaben und einer stetig komplexer werdenden Umwelt steigt die Bedeutung des vernetzten, ganzheitlichen und diesbezüglich strategischen Denkens. Trotz der Fülle der Informationen und Einflussfaktoren muss der Überblick behalten werden. Es gilt, das Gesamtbild sowie die Zusammenhänge der wichtigsten Gesichtspunkte zu erfassen, um da­ raus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Vernetzungsfähigkeit  In einer hierarchischen Organisation sind die Kommunikationswege festgelegt und entsprechen der definierten Linienorganisation. Das Ziel dabei ist, sicherzustellen, dass der obersten Führung alle relevanten Informationen zugespielt werden, was in der Praxis jedoch oft nicht wirklich funktioniert. In einer Netzwerkorganisation vernetzen sich die einzelnen Einheiten und Mitarbeitenden selbstständig untereinander, um die anstehenden Problemstellungen optimal zu lösen. Vertrauensbereitschaft  Vertrauensvolle Bindungen sind enger und befriedigender. Auf der anderen Seite ist Vertrauen auch ein Risiko – es kann ausgenutzt werden. Fragt man diejenigen, die das Prinzip Vertrauen bereits anwenden, ist die häufigste Antwort die, dass Vertrauen tatsächlich vereinzelt missbraucht wird, dass es aber von der Mehrzahl der Menschen erwidert wird und sich deshalb lohnt. Besteht Vertrauen, geht alles ein bisschen leichter und reibungsloser. Und die Kosten sinken. Wertepluralismus/Offenheit für andere Denkweisen  Wertepluralismus resp. Offenheit des eigenen Wertesystems ist die Schlüsselkompetenz für das tiefere Verständnis anderer Sichtweisen. Nur wer erstens erkennen und zweitens schätzen kann, dass selbst vermeintlich selbstverständliche Sachverhalte unterschiedlich wahrgenommen werden können, kann sich den Reichtum dieser Grundhaltung erschließen – nämlich eine Erweiterung des eigenen Horizonts. Ideologen und sich stur an das eigene Weltbild klammernde Personen erleben andere Vorstellungen oder Andersartigkeit hingegen als Bedrohung. Möglich ist auch eine übersteigerte Offenheit im Sinne einer falsch verstandenen Toleranz. Statt wegzuschauen, ist eine kritische Auseinandersetzung gefragt.

5.3 Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit

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Leaderpersönlichkeit Emotionale Reife & Selbstkenntnis

Soziale Flexibilität / breites Verhaltensrepertoire

Individuelle Prinzipienorientierung

Kritik- und Konfliktfähigkeit Perspektivenwechsel

Gemeinsinn statt Egoismus

Open-Mindedness / Unvoreingenommenheit

Nachhaltigkeit und Diversität

Emotionale Entwicklung/ Selbstführung

Ethische Entwicklung

Selbstverantwortung

Growth Mindset / Lernbereitschaft

Ethisch-moralische Ausrichtung

Abb. 5.1  Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit

Zuhörbereitschaft und Dialogfähigkeit  Traditionell gilt Rhetorik resp. die Fähigkeit, andere zu überzeugen, als eine hohe Kunst und ein Merkmal erfolgreicher Leader. Nicht zuletzt damit gelingt es diesen, sich die Gefolgschaft des gemeinen Volks zu sichern – speziell in Krisensituationen. Selbstverständlich ist es auch im Alltag von Vorteil, wenn man die Fähigkeit hat, sich auf überzeugende Weise auszudrücken. Ohne Bedrohungslage oder Vision nutzt sich diese Fähigkeit aber rasch ab. Grundsätzlich gilt zunehmend: Reden ist Silber, Zuhören und Fragen stellen ist Gold. Denn wer selbst redet, erfährt nichts. Die richtigen Fragen stellen und zuhören ist das Handwerk des Perspektivenwechsels.

5.3 Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit Der Blick auf die Abb. 5.1 zeigt, dass eine Leader-Persönlichkeit im Grunde eigentlich nichts anderes ist als eine reife, erwachsene Person mit überzeugenden emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Der Weg dahin steht grundsätzlich allen Menschen offen und kann von der Mehrheit auch erfolgreich absolviert werden. Es braucht dazu keine exklusiven Fähigkeiten oder gar eine natürliche Hochbegabung, sondern in erster Linie die Bereitschaft, sich für dieses Ziel anzustrengen, sowie den Willen, an sich zu arbeiten. Neben Ausdauer und dem Vermögen, Rückschläge zu verarbeiten, sind vor allem die Fähigkeit und die Bereitschaft vonnöten, sich zu reflektieren und Feedback konstruktiv zu verarbeiten. Sich selbst näher kennenzulernen und etwa die eigenen Antreiber richtig zu erkennen sowie aus entsprechenden Überlegungen und Erfahrungen mit anderen Menschen die richtigen Maßnahmen für den weiteren Entwicklungsprozess abzuleiten, ist durchaus anspruchsvoll und stellt tatsächlich für gewisse Menschen eine unüberwindbare Hürde dar. Damit die anvisierte Selbstentwicklung in Gang kommt, sind zunächst 3 grundlegende Eigenschaften notwendig:

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5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

(1) Growth Mindset/Lernbereitschaft: Man muss die Überzeugung haben, dass es überhaupt sinnvoll ist, nach persönlichem Wachstum zu streben, und dass dies auch für einen selbst möglich ist. Selbstverständlich kann man nicht in jeder Eigenschaft und Fähigkeit Meisterschaft erlangen, das ist aber auch gar nicht nötig. Entscheidend ist das Gesamtpaket. Bei den einzelnen Fähigkeiten reicht ein Niveau, auf dem man einigermaßen kompetent mit sich und anderen umgehen kann. (2) Ethisch-moralische Ausrichtung: Eine zweite Grundvoraussetzung für den Wachstumsprozess ist die Annahme, dass sich eine reife Person durch eine hohe Integrität und persönliche Prinzipien auszeichnet. So kann etwa ohne Verbindlichkeit und Verlässlichkeit kein echtes Vertrauen entstehen. Bis zu einem gewissen Grad ist es selbstverständlich auch möglich, sein Verhalten hinsichtlich Wirkung auf andere zu perfektionieren, ohne dass man einem Wertekompass folgt. Genau diese Fähigkeit beherrschen Psychopathen besonders gut. Auf die Dauer wird ihr Verhalten jedoch von den meisten als ausbeuterisch und manipulativ erkannt, weshalb der Erfolg nicht nachhaltig ist. Langfristig wirksam ist nur eine integre und prinzipiengeleitete Grundhaltung. (3) Selbstverantwortung: Der dritte zentrale Aspekt betrifft die Überzeugung, hauptsächlich selbst für das eigene Wohlergehen verantwortlich zu sein, und die Bereitschaft, entsprechend aktiv und initiativ zu handeln. Außer bei gravierenden mentalen Benachteiligungen ist das grundsätzlich für alle möglich und sollte in einer reifen Gesellschaft auch von allen erwartet werden. Das Verharren in einer Opferrolle oder der Ruf nach starker Führung sind Ausdruck einer kindlichen Grundhaltung. Selbstverantwortung ist anspruchsvoller und weniger bequem, macht aber glücklich. Ist die richtige Haltung vorhanden, kann der Entwicklungsprozess beginnen. Er vollzieht sich auf 2 verschiedenen Pfaden, wobei der eine eher rational abläuft, während beim anderen hauptsächlich emotionale und soziale Aspekte im Mittelpunkt stehen. Ethische Entwicklung: Bis auf die obere konventionelle moralische Stufe (Stufe 4 nach Kohlberg, 1996) reicht es im Grunde aus, sich an die Gesetze, die grundlegenden Anstandsregeln und die wichtigsten moralischen Gebote zu halten. Ein ausreichendes Maß an Integrität, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit ist auch auf diesem legalistisch-­ regelorientierten Niveau sichergestellt. Eine extreme Regelorientierung ist aber das Merkmal von Bürokraten und wirkt auf prinzipiengeleitete Personen oft strikt und unflexibel. Prinzipien und Werte stellen ein höheres Niveau dar. Die Ausrichtung an den beiden Grundwerten Diversität/Inklusion und Nachhaltigkeit wird in der aktuellen globalisierten Welt als unabdingbar erachtet. Ersteres umfasst vor allem das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen im Sinne des horizontalen Respekts. Ohne diese Haltung ist ein konstruktives Zusammenleben und Zusammenarbeiten unterschiedlicher Gruppen oder Persönlichkeiten kaum vorstellbar. Nachhaltigkeit ist dagegen die Bedingung dafür, dass der drohende ökologische Kollaps abgewendet werden kann. Zusätzlich kann eine Gesellschaft langfristig nicht funktionieren, wenn jede/r nur für sich schaut und nur versucht, für sich selbst das Optimum herauszuholen. Da eine narzisstische und opportunistische Gesellschaft über kurz oder lang zerfallen wird, ist es notwendig, dass sich eine möglichst hohe Zahl von Per-

5.3 Entwicklung zur Leader-Persönlichkeit

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sonen aktiv für die Gemeinschaft einsetzt und nicht nur die eigenen Interessen verfolgt. Der Weg zur reifen Leader-Persönlichkeit erfolgt über einen Selbstentwicklungsprozess, der darauf abzielt, sich einen zu einem selbst passenden – über die basalen Prinzipien hinausgehenden  – Wertekompass anzueignen. Eher implizit beinhaltet die ethisch-moralische Entwicklung auch den Willen, sich an universellen Werten statt an irgendwelchen Ideologien auszurichten. Eine Gruppe, eine Gemeinschaft oder eine Nation benötigt als Kitt eine Art von sozialer Identität, die den Mitgliedern Identifikation und Orientierung ermöglicht. Eine auf Werten basierende Gemeinschaft bleibt ausreichend offen, während ideologische geprägter Zusammenhalt in der Regel vor allem Unheil anrichtet. Der zweite, parallel verlaufende Entwicklungsstrang betrifft die Entwicklung der persönlichen, emotionalen und sozialen Kompetenzen. Selbstverständlich ist die folgende Auswahl nicht vollständig, es handelt sich eher um die aus meiner Sicht wichtigsten Hebel sowohl für die individuelle als auch die gesellschaftliche Entwicklung: (1) Die emotionale Entwicklung umfasst das Selbstmanagement im engeren Sinne (z. B. Umgang mit Belastungen, Steigerung der eigenen Effektivität etc.) ebenso wie das Entwickeln eines gesunden Selbstwertgefühls und den konstruktiven Umgang mit den eigenen Emotionen, wobei insbesondere letzteres viel mit dem authentischen, gleichzeitig situationsangepassten und sozialverträglichen Ausdruck des eigenen Gefühlslebens zu tun hat. (2) Eher auf der kognitiven Ebene angesiedelt ist die Förderung von „Open-Mindedness“. Zentral sind die Überwindung von fixen Glaubenssätzen und anderen erworbenen Vorstellungen, was richtig und was falsch ist. Gefragt ist eine unvoreingenommene Offenheit für diverse Perspektiven und Lösungsansätze frei von irgendwelchen Dogmen, aber innerhalb der angesprochenen Werte. Fakten gehen über Meinungen oder ideologische oder pseudoidealistische Überzeugungen, die nur den Lösungsraum verengen. Um die richtigen Entscheidungen und Maßnahmen zu treffen, ist Realitätssinn statt Wunschdenken erforderlich. Dies schließt unbedingt mit ein, dass die Augen vor etwaigen Schwierigkeiten nicht verschlossen werden. Idealerweise erkennt man das Gesamtbild und die wichtigsten Hebel und ist in der Lage, Sachverhalte aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Ebenfalls besonders wichtig ist die Fähigkeit, die eigenen Vorstellungen immer wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen. (3) Eine Steigerung der individuellen und kollektiven Kritik- und Konfliktfähigkeit lässt die größten und nachhaltigsten positiven Effekte im zwischenmenschlichen Bereich erwarten. Soziale Kompetenzen und vor allem die Königsdisziplin Perspektivenwechsel machen speziell in heiklen Momenten den Unterschied, wobei die Konsequenzen von größeren Fehlleistungen nicht selten langfristig und schwer berechenbar sind. Oberflächliche Beziehungen und Schönwetterkontakte unterhalten kann dagegen eigentlich jede/r. Das Steigern der eigenen Kritikfähigkeit geht mit der emotionalen Entwicklung einher, weil es dafür eines gesunden Selbstwertgefühls bedarf. Wer jegliche Kritik persönlich nimmt, wird solche eher abwehren und sich nicht entwickeln. Konfliktfähigkeit beinhaltet neben der bereits detailliert beschriebenen technischen

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5  Zusammenfassendes Persönlichkeits- und Kompetenzprofil

Bearbeitung etwaiger heikler Situationen auch die Haltung, Konflikte als Lernchancen zu betrachten. Bahnt sich eine ungünstige Entwicklung an, ist diese zeitnah anzupacken, Es gilt, anderen offen und möglichst unvoreingenommen zu begegnen, Fehlverhalten aber rasch anzusprechen. Gefragt ist eine Mischung aus Wohlwollen und Vertrauensbereitschaft auf der einen Seite, aber auch eine klare Haltung auf der anderen. Konflikte verschwinden in der Regel nicht von selbst. Für sämtliche Entwicklungsthemen gilt, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist und dass auch noch niemand in allen Bereichen so etwas wie Perfektion erlangt hat. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der nie abgeschlossen ist. Man kann sich immer weiter verbessern, wobei diese Haltung auch die beste Möglichkeit ist, geistig fit zu bleiben und nicht zu verknöchern. Gleichzeitig darf bereits von einer Leader-Persönlichkeit gesprochen werden, wenn sich die erwähnten Schlüsselkompetenzen auf einem mittleren Niveau befinden. New Leader erkennt man einer ausgeprägten Flexibilität im Denken und Handeln, wobei sie gleichzeitig ihren Prinzipien treu bleiben und eine klar erkennbare Linie verfolgen. Die emotionale Reife zeigt sich in einer gewissen Gelassenheit und einem natürlich kompetenten Umgang mit den eigenen Gefühlen und denjenigen der anderen Menschen. Man strahlt Authentizität aus, hat Präsenz, stellt sich aber nicht in den Vordergrund. Dennoch weiß man, was man will und welche Tätigkeiten einem entsprechen. Man hat zu sich gefunden und strahlt dies auch aus.

Literatur Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Suhrkamp.

Teil II Führung in der Unternehmenspraxis

Im Teil  II des Buches steht die Führung im privatwirtschaftlichen Kontext im Mittelpunkt – dies auch aus dem Grund, dass sich die Führung in diesem Bereich in eine positive Richtung bewegt und deshalb als Vorbild für Politik und Verwaltung gelten kann. Neben den diversen Entwicklungen und Trends werden die wichtigsten Aufgaben einer Führungskraft dargestellt sowie die gesamte Führungsforschung auf ihre Bedeutung für das Führungsverhalten der Zukunft analysiert. Aus den aktuellen Führungsansätzen wird ein Gesamtmodell mit Servant Leadership an der Spitze abgeleitet.

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Führung im Wandel

Von Taylor zur agilen Führung Nachdem Taylor (1911) in seinem vor 100 Jahren wegweisenden Buch „Scientific Management“ erstmals Management als Tätigkeit definiert und die Planung und die Ausführung von Aufgaben konsequent getrennt hatte, herrschte über Jahrzehnte das wesentlich von ihm und Henry Ford – dem Erfinder der Massenproduktion – vorgedachte Verständnis eines Unternehmens als eine Art „gut geölte Maschine“ vor. Vor dem Hintergrund einer stark ingenieurwissenschaftlichen Sichtweise wurde in der Management-Lehre und in der Praxis jahrzehntelang versucht, die typischen Management-Aufgaben wie Organisation, Planung, Zielsetzung, Entscheidung und Kontrolle immer weiter zu optimieren, um eine möglichst effiziente und fehlerfreie Umsetzung zu ermöglichen. So entstanden immer neue und kompliziertere Management-Zyklen und ergänzende Management-Techniken zwecks Bändigung des „Störfaktors Mensch“. In der Folge bildeten sich steil hierarchische Gebilde mit ausgeklügelten Kontrollsystemen heraus. Im Rahmen einer kleinteiligen tayloristischen Arbeitsgestaltung ergaben sich ausführende Tätigkeiten, deren Nutzen für das Ganze sich den Arbeitern kaum mehr erschlossen. Als im Rahmen der Human-­Relations-­Bewegung in den 1930er-Jahren erkannt wurde, dass in den Firmen Menschen und nicht unzuverlässige Produktionsfaktoren oder Humanroboter tätig sind, fand zunächst kein grundsätzliches Umdenken statt. Die Vorgesetzten wandelten sich von Aufsehern zu Führungskräften, ansonsten änderte sich nicht viel, da die Management-Lehre und -Praxis in einem mechanistisch-­ technischen Weltverständnis verhaftet blieb. Vordergründig um die Arbeitsbedingungen für die Menschen zu verbessern, wurden Soft Factors (v. a. Motivation) ingenieurwissenschaftlich instrumentalisiert und beispielsweise bestimmte Führungstechniken oder Anreizsysteme entwickelt. Dabei stets unverändert blieb das hintergründig vorherrschende Menschenbild X (McGregor, 1957) Diesem zufolge sind Mitarbeitende prinzipiell faul und handeln verantwortungslos, sofern sie nicht durch ausgeklügelte Belohnungs- und Bestrafungssysteme motiviert, angetrieben und kontrolliert werden. Da sie außerdem nicht in der

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_6

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Lage sind, eigenverantwortlich zu handeln, muss ihnen haarklein vorgegeben werden, was sie wann und wie zu erledigen haben. Damit sie wirklich in die Gänge kommen, benötigen sie überdies monetäre Anreize. Dieses Menschenbild offenbart sich beispielsweise in den folgenden Praktiken: 1) Zeiterfassung (wird die Arbeitszeit nicht strikt kontrolliert, arbeiten die Mitarbeitenden nicht), 2)  Kontrolle (Mitarbeitende sind unzuverlässig, weshalb man ihnen auf die Finger schauen muss), 3) zentrale Entscheidungsfindung (Mitarbeitende können, wollen und sollen keine Entscheidungen treffen), 4) Verschluss sensibler Informationen (Mitarbeitende sind nicht vertrauenswürdig). Ausdruck des gegenteiligen Menschenbilds Y, wonach Menschen von sich aus Leistung erbringen wollen, waren einzelne Initiativen, zum Beispiel die Einführung von ­teilautonomen Arbeitsgruppen, die sich aber nicht breitflächig durchsetzen konnten. Planungsexzesse, bürokratische und langsame Entscheidungsprozesse und starre Hierarchien waren vor allem bei großen Unternehmen die logische Folge. Die Fähigkeiten, das Potenzial und die Kreativität der Mitarbeitenden wurden hingegen zu wenig genutzt. Neben dem ursprünglichen Erfolgsrezept der strikten Trennung von Planung resp. Führung und Ausführung stellte sich vor allem die Hierarchie immer mehr als Hemmschuh heraus. Steile Hierarchien begünstigen die Entstehung diverser Barrieren auf jeder Führungsstufe, abgeschottet arbeitende Silos und eigennützig motiviertes mikropolitisches Verhalten jeglicher Art. Gerieten schwerfällige Organisationen unter Druck (z. B. durch eine Innovation eines Mitbewerbers), scheiterten sie nicht selten am fehlenden Vermögen, sich rasch und flexibel an die veränderten Bedingungen anpassen zu können. Logisch ist, dass sich die meisten Mitarbeitenden in einem solchen Umfeld nicht durch eine besonders unternehmerische und initiative Arbeitsweise hervortaten und auf rasche oder unerwartete Richtungswechsel empfindlich reagierten. Selbstverständlich konnte eine überzeugende Führungskraft auch unter diesen Bedingungen viel Positives bewirken und Leadership zeigen. Sie konnte sich aber auch darin aufreiben, während sich charakterlich weniger gefestigte Führungspersonen unter Umständen leichter taten. Die bekannten Megatrends wie zunehmende Komplexität der Umwelt (VUCA), Digitalisierung, Globalisierung, verändertes Kundenverhalten, Individualisierung sowie steigende Risiken durch potenziell disruptive Technologien und Innovationen (Christensen, 1997) bewirkten zunehmend die Einsicht, dass die Herausforderungen der Zukunft mit den bekannten Management-Methoden nicht gemeistert werden können. Seit einigen ­Jahren wird deshalb versucht, die Unternehmen agil aufzustellen sowie Innovationen schneller auf den Markt zu bringen. Dabei weicht das bereits antiquierte Modell eines vermeintlich allwissenden Alleinentscheiders an der Spitze der Überzeugung, dass mehr Partizipation der Mitarbeitenden und eine weitreichende Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen die Qualität der Entscheidungen erhöht. Weniger Hierarchie, mehr Kollaboration, flexible Team- und Netzwerkstrukturen, crossfunktionale Teams und die Förderung von Selbstständigkeit (Empowerment) bis hin zu Selbstorganisation sind die augenfälligen typischen Merkmale des agilen Wandels. Begleitet wird diese Entwicklung durch eine zunehmende Sensibilisierung für den Megatrend Nachhaltigkeit sowie eine

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­ bkehr von der unsäglichen Shareholder-Value-Doktrin hin zum Stakeholder-Kapitalismus. A Statt eines verengten Blickes auf Möglichkeiten, kurzfristig den eigenen Börsenkurs zu steigern, werden die Bedürfnisse aller Anspruchsgruppen, der Gesellschaft und der Umwelt vermehrt einbezogen. Um gleichzeitig eine hohe Stabilität und Geschwindigkeit zu gewährleisten, wird statt auf Detailplanung auf eine einfach verständliche Strategie auf der Basis eines „Purpose“ und langfristiger Visionen gesetzt, wobei sich der Weg zum Ziel laufend ändern kann, wenn sich die Bedingungen ändern. Auf der strategischen Ebene verliert die frühere Wagenburgmentalität an Bedeutung und weicht zunehmend einem Verständnis, in dem die anderen Marktteilnehmer nicht als Gegner, sondern eher als mögliche Kooperationspartner betrachtet werden. Dieser Sinneswandel geht einher mit der Erkenntnis, dass an der Spitze keine Draufgänger und Haudegen gebraucht werden, sondern eine Art von Leader-Figuren, die sich vor allem durch integrative Fähigkeiten auszeichnet. Seit einiger Zeit rücken die Mitarbeitenden und deren spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse stärker in den Mittelpunkt, wobei das Unternehmen eher als soziales System denn als eine Maschine verstanden wird. Seit der transformationalen Wende vor 30 Jahren wird versucht, eine möglichst hohe Kongruenz zwischen den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und den Unternehmenszielen zu erreichen, indem vermehrt deren intrinsische Motive angesprochen werden (z. B. Sinngebung, ganzheitliche Arbeitsaufgaben). Die angestrebte Professionalisierung zeigt sich im zunehmenden Einfluss neuropsychologischer Ansätze anstelle älterer humanistischer Vorstellungen. Im Wissenszeitalter haben sich in bestimmten Bereichen auch die Machtverhältnisse gedreht. Aufgrund des digitalen Umbruchs und der demografischen Entwicklung sind bestimmte Fachkenntnisse besonders gefragt, weshalb sich die entsprechenden Experten in einer starken Position befinden und Forderungen stellen können. Zentral ist überdies, dass die frühere Infantilisierung der Mitarbeitenden einem respektvollen Umgang auf Augenhöhe weicht – nach dem Motto „Treat people as adults“. Aufgrund der jahrzehntelangen Gewöhnung an die früheren Gepflogenheiten lassen sich diese allerdings nicht von heute auf morgen umpolen. Damit die neuen Ansätze gelingen können, müssen die Mitarbeitenden nicht nur zur Übernahme von erweiterten Verantwortlichkeiten befähigt und ermächtigt werden, sondern auch von deren Nutzen überzeugt sowie für eine motivierende Vision begeistert werden. Zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren der Transformation gehören zudem Transparenz und umfassende Information, was den Abbau von Informationspathologien sowie die Gestaltung einer angstfreien, konstruktiv-kritischen Arbeitsatmosphäre einschließt (vgl. z. B. Scholl et al., 2012). Die Veränderungen in der konkreten Führungsarbeit werden im Wesentlichen durch die folgenden Trends getrieben: Globalisierung, Digitalisierung, Agilisierung „Hybrid Work“ und umfassendes Empowerment resp. Führung von selbstorganisierten Teams. Im Unterschied zu früher müssen Führungskräfte heute Mitarbeitende virtuell und persönlich führen können (virtuelle und hybride Führung), sowohl das Kerngeschäft effizienter gestalten als auch Innovationen vorantreiben können („Digital Leadership“, ambidextre Führung, „Shared Leadership“). Außerdem geht der Trend weg von der eindimensionalen hierarchischen Führung hin zu kollaborativen Beeinflussungsprozessen in alle Richtungen mit Schwerpunkt laterale Führung (Konnektivität). Führung heute umfasst im Grunde jede

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zielgerichtete Aktivität und fängt bei der eigenen Person an (Selbstführung). Gleichzeitig sind die klassischen Führungsarten (vertikal, Führung von Führungskräften) bis auf Weiteres von Bedeutung. Bei der folgenden Darstellung der wichtigsten Führungsarten wird zunächst auf diese eingegangen. Am Anfang steht die Selbstführung, die die Basis für sämtliche Führungsprozesse darstellt. Klassische Führungsarten Wie bei den persönlichen Kompetenzen schon besprochen, beschreibt Selbstführung eine gezielte Selbstbeeinflussung zwecks Erhöhung der eigenen Effektivität im Umgang sich selbst. In einer stark hierarchischen Umgebung spielen Selbstführung und die ­Entwicklung der dafür notwendigen persönlichen Kompetenzen eine geringere Rolle, weil man sich unter dem Schutz der Positionsmacht bis zu einem gewissen Grad auch ein unbeherrschtes oder destruktives Führungsverhalten leisten kann. Nimmt die formale Macht ab oder besteht keine Weisungsbefugnis, tritt – neben den sozialen Fähigkeiten – die Persönlichkeit der Führungskraft stärker in den Mittelpunkt. Es ist logisch und absolut unbestritten, dass speziell unter diesen Bedingungen nur jemand andere Menschen führen kann (und sollte), der sich selbst führen kann. Da niemand als hoch entwickelte Persönlichkeit geboren wird, braucht es dafür einen gezielten und nie endenden Entwicklungsprozess. Das Thema Selbstführung ist ein Grundthema dieses Buches und wurde in Kap. 4 bereits ausführlich besprochen. Hierarchische Führung beschreibt die klassische vertikale Führungsbeziehung zwischen einer Führungskraft und den ihr unterstellten Mitarbeitenden (top-down). Sie nimmt in der Wirtschaft laufend an Bedeutung ab, wird aber nicht völlig verschwinden. Sowohl Führungsmittel und -instrumente als auch Führungsverständnis werden sich jedoch grundlegend ändern. An die Stelle von Weisung und Unterweisung treten Überzeugung, Begleitung und Beratung, wobei die Führungskraft hauptsächlich als partnerschaftlicher Coach agiert. Dem in diesem Buch vertretenen Ideal eines „Servant Leader“ entsprechen besonders Personen, die nicht als Befehlshaber auftreten wollen, sondern ihre Führungsrolle als dienende Funktion begreifen. Aufgrund ihrer starken Persönlichkeit strahlen sie dennoch ausreichend Autorität aus, um bei Bedarf Einfluss nehmen zu können. Damit verschieben sich zum Teil auch die wünschenswerten Eigenschaften und notwendigen Kompetenzen einer Führungskraft (z. B. zuhören statt überreden). Viele der für den Führungserfolg in den unterschiedlichen Führungstypen relevanten persönlichen und sozialen Kompetenzen sind seit Langem bekannt. Oft sind eher höhere Fähigkeiten auf einer bereits als wichtig erkannten Qualität gefragt (z. B. Gesprächsführung). Das Rad muss nicht völlig neu erfunden werden, weshalb es schon immer Führungskräfte gab, die dem skizzierten Ideal eines New Leaders sehr gut entsprochen haben. Neu ist vor allem, dass die als wirkungsvoll propagierten Eigenschaften und Verhaltensweisen auch wirklich eingesetzt werden müssen, wenn man nicht scheitern möchte. Die Kluft zwischen propagiertem Führungsideal und gelebter Realität sollte also stark abnehmen. Dies auch, weil eine modern interpretierte Führungsfunktion künftig von anderen Persönlichkeitstypen als attraktiv wahrgenommen wird. Reine Machtmenschen werden davon glücklicherweise deutlich weniger als bisher angezogen.

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Führung von unten (bottom up), auch „Cheffing“ genannt, bezieht sich auf die Gegenrichtung resp. bedeutet, dass die Mitarbeitenden versuchen, auf ihre Vorgesetzten Einfluss zu nehmen, um diese zum Handeln zu bewegen. Dabei können unterschiedliche Motive eine Rolle spielen. Infrage kommen etwa Rückfragen zwecks Klärung eines Arbeitsauftrags oder Versuche, sich selbst gut zu verkaufen. Dass sich letzteres – vor allem in einem klassischen Umfeld – lohnt, zeigt eine Studie bei IBM (1998). Dieser zufolge bestimmt die Aufmerksamkeit, die man beim Vorgesetzten zu erregen vermag, zu 60 % den eigenen beruflichen Erfolg. Weitere 30 % entfallen auf das Image der Person im Unternehmen und nur gerade 10 % auf die tatsächlich erbrachte Leistung (Emmerich, 2001). Bei der Führung von unten werden vor allem subtile Manipulationstechniken (wie beispielsweise schmeicheln) eingesetzt, je nach Situation und Machtverhältnissen kann aber auch Druck ausgeübt werden. Wünschenswert sind natürlich vor allem Interventionen, bei denen Mitarbeitende im Interesse des Unternehmens handeln und beispielsweise auf mögliche Probleme oder Gefahren hinweisen. Dies setzt aber voraus, dass sie bereit sind, sich zu exponieren, und davon ausgehen können, dass die Vorgesetzten offen für kritische Hinweise sind. Ob dies der Fall ist, hängt von der Unternehmenskultur und der Persönlichkeit der Beteiligten ab. Etliche Katastrophen (z. B. die Explosion der Ölplattform Brent Spar) hätten wohl verhindert werden können, wenn die Mitarbeitenden Mut gezeigt und die Führung den Eindruck erweckt hätte, deren Bedenken ernst zu nehmen. Ein eindrückliches Beispiel aus meiner Assessment-Praxis ist die Erzählung eines Arztes über eine ihn prägende Erfahrung. In jungen Jahren war dieser Arzt Zeuge eines Kunstfehlers des damaligen Chefarztes geworden. Schon als dieser das Skalpell ansetzte, wussten alle übrigen Beteiligten der Operation, dass jetzt ein schlimmer Kunstfehler passieren würde. Weil aber alle Angst vor dem dominanten Chefarzt hatten, ließen sie ihn gewähren und blieben bis zum Schluss der Operation stumm. Damit Mitarbeitende heikle Vorfälle oder Ähnliches melden, empfiehlt sich das Etablieren einer „Speak-up“-Kultur und eines Hinweisgebersystems. Eine wichtige Grundlage bildet eine Atmosphäre, die auf psychologischer Sicherheit basiert. Bei der lateralen Führung steht die Führung ohne Weisungsbefugnis im Zentrum. Im Alltagsverständnis umfasst sie Projektleitung ebenso wie sämtliche hierarchie- oder abteilungsübergreifenden Interventionen außerhalb der eigentlichen Linienorganisation. Aus dieser Sicht stellen laterale Führungsprozesse eine Art informelle Kommunikationsstruktur dar, welche die formellen Kommunikationskanäle ergänzt. Aus dieser Sicht handelt es sich nicht um ein neues Phänomen, in jeder Organisation bestehen auch informelle Kanäle. Hätten sich alle Mitarbeitenden und mittleren Führungskräfte immer nur an die Dienstwege gehalten und Informationen nur auf formalem Wege geteilt, wären noch mehr Fehler passiert und Projekte gescheitert. Seit einigen Jahren erfährt die laterale Führung vermehrt Beachtung, was auch damit zusammenhängt, dass bereichsübergreifende Initiativen und informelle Arten der Zusammenarbeit heutzutage eher gefördert als unterdrückt werden. In der Forschung wird laterale Führung seit einiger Zeit stärker an den organisationalen Rollen der Beteiligten festgemacht. Dabei wird angenommen, dass die Interessen und das Verhalten der Akteure durch ihre organisationale Einbettung bestimmt wird. Laterale Führung

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6  Führung im Wandel

meint dann die zielführende Einflussnahme innerhalb dieses Systems. Gemäß dem Team um Kühl (Kühl & Schnelle, 2009; Kühl & Matthiesen, 2012) 2) sind 3 Aspekte wichtig. (1) Macht: Die Machtposition der einzelnen Personen bestimmt deren Einfluss. Im Rahmen der lateralen Führung müssen die Machtquellen (v. a. Zugang zu Informationen, Netzwerk und Expertenwissen) der verschiedenen Personen sowie die zwischen ihnen üblicherweise ablaufenden Machtspiele analysiert und zielführend genutzt werden. (2) Verständigung: Dabei steht das Verständnis der Denkmuster und die oft divergierenden Interessen der Akteure im Zentrum. Bei der Lösungsfindung müssen das gegenseitige Verständnis gesteigert und ggf. alte Denkmuster aufgebrochen werden. Im Idealfall ergeben sich völlig neue Möglichkeiten durch Perspektivenübernahme oder eine gemeinsame, veränderte Sichtweise, die eventuell erst geschaffen werden muss. (3) Vertrauen: Gegenseitiges Vertrauen ist eine wesentliche Voraussetzung für die laterale Führung. Um dieses Vertrauen herzustellen, geht einer der Akteure in Vorlage (Vertrauensvorschuss). Stößt diese Initiative auf Resonanz, kann sich ein langfristiges Vertrauensverhältnis zwischen den beteiligten Personen einstellen. Das stark mikropolitische Verständnis von lateraler Führung wird in den Ratschlägen von Geschwill & Nieswandt (2016) besonders stark erkennbar: 1) Setze auf partielle Verständigung, nicht grundsätzlichen Konsens, 2) benutze die Logik der Kontingenz (Offenheit und Ungewissheit menschlicher Erfahrung), 3) stimuliere Zweifel und Widersprüche, 4) wende Methoden der Diskursführung an (Moderation, Harvard-Konzept etc.), 5) betrachte laterales Führen als (mikro-)politischen Prozess, 6) bereite laterale Verhandlungen vor. Ob ein primär taktisches und berechnendes Vorgehen wirklich Vertrauen schafft, darf ebenso bezweifelt werden wie die Annahme, dass die Bedürfnisse und Agenden der Beteiligten primär durch ihre organisationale Funktion bestimmt werden. In positiver Hinsicht gibt es auch Personen, die sich den übergeordneten Unternehmenszielen verpflichtet fühlen, während es auf der anderen Seite viele Menschen gibt, die primär durch ihren individuellen Ehrgeiz oder Egoismus geleitet werden. In einer verfahrenen Situation, in der die klassischen Führungsmethoden versagen, kann der Einsatz dieser etwas manipulativen Techniken durchaus gerechtfertigt sein. Was sich jedoch auf alle Fälle lohnt, ist ein bewusstes Stakeholder-Management. Indem man sich regelmäßig mit wichtigen Entscheidern im informellen Rahmen trifft, spürt man deren Puls und erkennt frühzeitig, was diesen auf dem Herzen liegt oder für welche Initiativen sie gewonnen werden können. Auch grundsätzliche Unterschiede bei der Wahrnehmung bestimmter Sachverhalte werden in diesem Rahmen offenkundig und können angesprochen und unter Umständen gelöst werden. Die Führung von Führungskräften („Meta-Führung“) ist in großen Unternehmen und steilen Hierarchien gang und gäbe. In der Praxis wird ein großer Unterschied zwischen direkter und indirekter Führung gemacht, während die Führung von Führungskräften in der Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Landes et al. (2012) fassen die bestehenden Erkenntnisse in einem Modell zusammen, dass die folgenden 4 Komponenten von Meta-Führung umfasst: strategisch: 1)  Selbstführung anstoßen und zulassen sowie

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2) Sinnstiften und Verständnis wecken; operativ: 3) Zur Führung motivieren und delegieren und 4) Führung ermöglichen und dulden. In der betrieblichen Praxis ist entscheidend, dass eine Führungskraft, die über mehrere Stufen führt, nur auf ihre Direktunterstellten direkt einwirken und ihren Einfluss gewissermaßen durch diese hindurch geltend machen muss. Dabei gibt es einige ungeschriebene Gesetze, wie sich die übergeordnete Führungskraft verhalten sollte, wobei es primär darum geht, die Autorität der direkt unterstellten Personen nicht zu untergraben, indem man diese etwa übergeht. Plakativ könnte man sagen, dass man gemäß traditionellem Verhaltenskodex andere Führungskräfte tendenziell als Erwachsene, die Mitarbeitenden eher als Kinder behandeln sollte, weil implizit ein unterschiedlicher Reifegrad angenommen wird. In der Assessment-Praxis wird kundenseitig nicht selten gewünscht, speziell darauf zu achten, ob eine Person den Schritt von der Teamleitung zur übergeordneten Führungskraft machen kann. Zentrale Themen dabei sind insbesondere Loslassen (v. a. Delegieren) und ein zurückhaltender, möglichst nicht autoritärer Umgang. Dabei ist auch zu beachten, dass man sich mit steigender Hierarchiestufe immer weiter weg vom operativen Geschehen bewegt. Es gibt unter den Teamleitenden einen Personenkreis, dem es wichtig ist, auch selbst mitanpacken zu können. Diese Teamleitenden begreifen sich als eine Art Spielertrainer und brauchen den direkten Kontakt zur Front. Solche Personen sollten sich gut überlegen, ob sie auf höherer Ebene wirklich glücklich werden. Beim „Middle-Management“ ist die Sandwichposition besonders zu beachten. Die Führungskräfte dieser Ebene müssen die Erwartungen von oben und unten ausbalancieren, was nicht selten als sehr belastend wahrgenommen wird. Führung des gesamten Teams (synergetische Führung): Gemäß Graf und Witte (2012) und Schmutte et al. (2020) sind die bekannten Führungsmodelle und -rezepte auf eine dyadische Führungsbeziehung zwischen Vorgesetzten und einzelnen Mitarbeitenden ausgelegt, weshalb sie hinsichtlich Führung eines „Mikrosystems“ (insbesondere eines Teams) zu kurz greifen. Um das Potenzial eines Teams durch Erkennen und Nutzen von Synergien voll auszuschöpfen und dem systemischen Charakter der betrieblichen Praxis gerecht zu werden, schlagen die Autoren ein 6-stufiges Prozessmodell zur Teamführung vor. Es beinhaltet nicht weniger als 23 verschiedene Aufgaben: (1) Mittels Differenzmanagement soll teamintern ein Wir-Gefühl und gegen außen eine klare Abgrenzung vorgenommen werden. Konkret geht es dabei um Sinn stiften (gemeinsame Ziele setzen), Teamgeist stärken und Schnittstellen managen. Es soll gleichzeitig ein Wir-Gefühl entwickelt und der Unterschiedlichkeit der Mitarbeitenden Rechnung getragen werden. (2) Beim Ressourcenmanagement stehen klassische Managementaufgaben wie ein Team zusammenstellen, Ressourcenbedarf abschätzen, Ressourcen beschaffen etc. im Zentrum. Darüber hinaus gilt es, das Team zu befähigen, soziale Prozesse wie etwa Konflikte eigenverantwortlich zu lösen. (3) Das Strukturmanagement beinhaltet Verantwortlichkeiten regeln, Rollen verteilen und die Arbeit strukturieren. Dabei muss der Puls im Team gespürt werden, sodass man im Bedarfsfall rasch intervenieren kann.

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6  Führung im Wandel

(4) Beim Prozessmanagement stehen die Definition von Standardprozessen sowie das Festlegen des operativen Vorgehens im Vordergrund. Auch sollen das Selbstmanagement und die Flexibilität des Teams gefördert werden. (5) Im Reflexionsmanagement werden laufend wichtige Kennzahlen analysiert, Leistungsthemen bearbeitet und kritisches Mitdenken gefördert. (6) Die Projektentwicklung dreht sich um die Umsetzung von Projekten: Aufgaben outsourcen, Probleme eskalieren sowie Projekte abschließen. Das Modell bietet einen guten Überblick über die Tätigkeiten, die bei der Teamsteuerung auftreten. Auf die Führungsaufgaben wird später ausführlich eingegangen.

6.1 Globalisierung und Führung Eine ständig steigende Zahl von Mitarbeitenden ist Teil von virtuellen Teams oder arbeitet zumindest teilwiese virtuell mit anderen zusammen. Führung erfolgt deshalb auch virtuell oder hybrid (teils virtuell, teils persönlich). Vor allem die Zunahme geografisch verstreut arbeitender Teams infolge der Globalisierung bewirkte zunächst eine zunehmende Ausweitung virtueller Führung. Die Pandemie hat zusätzlich in den letzten Jahren zu einem starken Anstieg von Tätigkeiten im Homeoffice geführt. Bemerkenswerterweise hat gerade so etwas Archaisches wie ein Virus (Covid-19) der Digitalisierung bei der Arbeitsgestaltung einen gewaltigen Schub verliehen und die Verbreitung von Homeoffice und „Hybrid Work“ explosionsartig gefördert. Auf der Basis einer eigenen Studie und diverser anderer Studienergebnisse legt das „Shift Collective“ (2021) 10  Thesen für die künftige hybride Arbeitswelt vor: (1) Der Trend geht zum 3-2-Modell (2–3 Tage im Homeoffice, der Rest im Büro). (2) Das Büro wird zum Ort für Kreativität, Verbindung und Identifikation. (3) Remote Work steigert die Produktivität, birgt aber gesundheitliche Risiken. (4) Flexwork ist eine Antwort auf den Fachkräftemangel. (5) Hybrid Work funktioniert nur bei hoher digitaler Fitness. (6) Es entstehen neue Kommunikationsräume für Partizipation und Transparenz. (7) Bei der Führung von Hybrid-Teams sind Agilität und Vertrauen wichtiger denn je. (8) Hybrid Work kann Nachteile hinsichtlich Gleichberechtigung mit sich bringen. (9) Die „Employee Experience“ muss durch digitale Angebote ergänzt werden. (10) Empathische Kommunikation ist bei hybriden Teams unerlässlich. Virtuelle und hybride Führung Die wichtigste Konsequenz hybrider und virtueller Arbeitswelten ist natürlich die Abnahme von persönlichem Austausch sowohl zwischen den Teammitgliedern als auch zwischen Team und Führungskraft. Weil dieser – aufgrund der Bedeutung des Beziehungsmotivs (vgl. SCARF-Modell) – so zentral ist, sind die Autoren der genannten Studie davon

6.1  Globalisierung und Führung

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überzeugt, dass in Zukunft hybride Modelle überwiegen, während rein virtuelle Arbeitsumgebungen (oder nur Homeoffice) wenn möglich vermieden werden. Gleichzeitig ermöglichen fortschrittliche neue Kollaborationstechnologien zusätzliche Möglichkeiten, sowohl was die Kommunikation als auch die Zusammenarbeit betrifft (v. a. Z ­ usammenarbeit in Echtzeit, fast beliebige Ausweitung des Teilnehmerkreises an Meetings o. Ä.). Dennoch herrscht in der Literatur Einigkeit, dass Führungskräfte in einer virtuellen Umgebung nicht weniger, sondern mehr Empathie benötigen. So fordert Pflügler (2021) einen regelmäßigen und empathischen „Deep Touch“ zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden. Der geringere persönliche Austausch soll durch ein tieferes Verständnis und einen empathischen Umgang ausgeglichen werden, was unter Umständen sogar mehr Führungszeit in Anspruch nimmt als bisher. Außer Frage ist auch, dass die Kommunikation resp. die Kommunikationsgefäße sehr genau geregelt sein müssen. Ein primär ad hoc stattfindender und auf Gespräche zwischen Tür und Angel ausgelegter Führungsstil hat schon im klassischen, persönlichen Umfeld mehr schlecht als recht funktioniert. Bei der virtuellen Führung geht das gar nicht. Eine enge Bindung ist so kaum aufrechtzuerhalten, wobei aufgrund des geringeren Kontexts bei der virtuellen Kommunikation auch mit mehr Missverständnissen zu rechnen ist. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Gefahr der Selbstüberforderung bei hauptsächlich im Homeoffice tätigen Personen. Vor der Pandemie gab es vielerorts Bedenken, dass Homeoffice die Produktivität senken würde, weil die Mitarbeitenden die geringeren Kontrollmöglichkeiten zu mehr Müßiggang nutzen würden. Passiert ist das Gegenteil. Gemäß Shift Collective könnte ein Grund dafür darin bestehen, dass die Mitarbeitenden Angst haben, diesen Eindruck zu erwecken, weshalb sie in die Gegenrichtung übersteuern. Hybride Führung bedeutet für die Führungskräfte, dass sie sowohl persönlich als auch virtuell führen können müssen. Dabei müssen sie darauf achten, dass sich alle Mitarbeitenden gleichwertig fühlen. Auch in rein virtuellen Teams müssen die beiden Pfeiler der Teamarbeit Lokomotion (Ergebnisse erzielen) und Kohäsion (Zusammenhalt) ebenso aufrechterhalten werden wie das fordernde und das kümmernde Element in der Führung. Einerseits wird angenommen, dass virtuelle Teamarbeit Formen von geteilter Führung begünstigt, gleichzeitig ist unbestritten, dass das Risiko, dass virtuelle Teams nicht wunschgemäß funktionieren oder gar zerreißen, erhöht ist. Gemäß Stabenow und Stabenow (2010) gehören neben Unklarheiten hinsichtlich der Ziele und der zu erfüllenden Erwartungen die geringe persönliche Nähe und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Teams zu den wichtigsten Fliehkräften, die ein Auseinanderfallen eines virtuellen Teams bewirken können. Als entgegengesetzt wirkende Bindungskräfte nennen sie: 1) positive Kommunikation: Anerkennung für Leistungen; Interesse für das Wohlergehen etc.; 2) Gerechtigkeit: Fairness im Kontaktverhalten und bei der Aufgabenverteilung; 3) Identifikation: sich mit den Zielen, der Organisation und dem Team verbunden fühlen; 4) Zielkonsens: alle müssen hinsichtlich Prioritäten und zu erreichenden Zielen am selben Strick ziehen; 5) Zugehörigkeit: es muss ein Gefühl da sein, zu einem Team oder eine Gruppe zu gehören; 6) Vertrauen: Vertrauen bildet die Basis, ohne Vertrauen geht gar nichts, außer man will ganztags mit irgendwelchen Kontrollaufgaben

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6  Führung im Wandel

beschäftigt sein und überall Misstrauen säen; 7) mentale Vernetzung: Teammitglieder denken und fühlen in die gleiche Richtung. Dies geschieht nicht etwa automatisch. Während unterschiedliche Erwartungen oder Wahrnehmungen in einem normalen Kontext eher – wenn auch in der Regel ebenfalls viel zu selten – informell angesprochen und idealweise gelöst werden, bleiben sie im virtuellen Kontext bestehen, sofern man sie nicht bewusst auf die Agenda setzt. Die Beschäftigung mit individuellen oder interkulturellen Unterschieden kann das Zusammengehörigkeitsgefühl wesentlich stärken. Für von Heimburg und Radisch (2001) stellt die virtuelle Zusammenarbeit höhere Ansprüche an die Mitarbeitenden: (1) Selbstständigkeit: Gefordert sind gefestigte, reife Personen, die den Arbeitsalltag selbst strukturieren und Prioritäten setzen können und dabei nicht ständig überwacht werden müssen. (2) Selbstverantwortung: Es braucht Mitarbeitende, die selbst die Initiative ergreifen, auch einmal etwas ausprobieren und gegebenenfalls aus Fehlern lernen, statt solche, die sich bei jedem kleinesten Schritt absichern und nicht eigenständig denken, sondern die Verantwortung lieber abgeben wollen. Vor allem beim Auftreten von Schwierigkeiten ist mehr Selbstständigkeit gefragt. (3) Kommunikation: Mitarbeitende müssen Kommunikationsexperten werden. Sie sollen Kommunikation weder als Hol- noch als Bringschuld betrachten, sondern sich stattdessen selbst fragen, mit wem und auf welche Weise sie bei einer bestimmten Fragestellung in Kontakt treten müssen. Welche Kommunikation ist im Interesse der gemeinsamen Ziele und des Ganzen notwendig? (4) Eigenmotivation: Mitarbeitende müssen sich bis zu einem gewissen Grad selbst motivieren und sich Anerkennung geben können; sie dürfen nicht zu sehr von fremder Bestätigung abhängig sein. Hinsichtlich Führung von virtuellen Teams streichen auch diese Autoren die Bedeutung von Vertrauen und der Vergabe großer Handlungsspielräume heraus. Gleichzeitig muss die Führungskraft jederzeit wissen, wie der Stand der Dinge ist und was die einzelnen Teammitglieder zum Ganzen beitragen. Um dies herauszufinden, sollen keine ausgeklügelten Controlling-Instrumente eingesetzt werden, sondern – auch hier – persönliche Gespräche mit den einzelnen Mitarbeitenden stattfinden. Für Reilly und Sobel Lojeski (2021) steht das Management der virtuellen (psychologischen, nicht räumlichen) Distanz im Zentrum der virtuellen Führungstätigkeit. Dabei geht es darum, nicht nur eine enge Bindung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden aufrechtzuerhalten, sondern auch jene zwischen den verschiedenen Mitarbeitenden zu fördern. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die zwischenmenschliche Ebene gerade im virtuellen Kontext besonderer Beachtung bedarf und sorgfältig geplant werden muss. Nicht zu empfehlen ist virtuelle Führung aus vordergründigen Kostenüberlegungen, beispielsweise um Büroflächen einzusparen. Bei wissensintensiven Tätigkeiten ist persönlicher Austausch immer besser, weil persönliche Kommunikation erstens reichhaltiger ist und zweitens ein großer Teil der informellen

6.2  Digitalisierung und Führung

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Kommunikation in der sprichwörtlichen Kaffeepause stattfindet. Auch die besten digitalen Tools können dies nicht vollständig ersetzen. Gemäß Hertel (2013) erfordert die virtuelle Führung die folgenden Kompetenzen: (1) Medienkompetenz (inkl. Wissen um die psychosozialen Konsequenzen der eingesetzten Tools), (2) soziale Kompetenzen: Vertrauen schaffen, Konflikte lösen, Mitarbeitende integrieren, (3) Koordinationskompetenzen, (4) Kreativität und Ambiguitätstoleranz, (5) Persistenz und Gewissenhaftigkeit: Umsetzungsfähigkeit bei reduzierter sozialer Kontrolle, (6) Vertrauensbereitschaft und partizipative Orientierung: Vertrauen schenken und Selbststeuerung des Teams im Sinne von Shared Leadership fördern. Dieser Katalog unterscheidet sich nicht grundlegend von den Anforderungen, die sich an eine Führungskraft im herkömmlichen Rahmen stellen. Gerade bei Hybrid Work sind aber eine hohe situative Anpassungsfähigkeit und ein flexibler Einsatz der Führungsmittel (v. a. Kommunikation) notwendig.

6.2 Digitalisierung und Führung Nicht mit virtueller Führung verwechselt werden darf „Digital Leadership“ (Buhse, 2014). Dieses bezieht sich primär auf die Gestaltung des digitalen Wandels durch die Einführung digitaler Geschäftsmodelle, neuer Technologien (z. B. 3-D-Druck) oder digitaler Geschäftsprozesse. Darin eingeschlossen ist die Fähigkeit, diese oft fundamentalen Veränderungen erfolgreich zu implementieren (Change Management/Transformation). Bei der ­digitalen Revolution ist zwischen „Digitization“ (Digitalisierung der analogen Informationen), „Digitalization“ (digitale Automatisierung von Prozessen) und „Digital Transformation“ (neue Geschäftsmodelle auf der Basis von Daten und digitalen Applikationen) zu differenzieren (Atiker, 2018). In der Regel wird stufenweise begonnen und zunächst die Digitization vorangetrieben. Gemäß Gassmann & Sutter (2019) ist vor allem das Erfinden oder Adaptieren neuer digitaler Geschäftsmodelle für die Zukunft eines Unternehmens entscheidend. Gleichzeitig muss aber auch das Kerngeschäft durch das Nutzen digitaler Technologien effizienter und wenn möglich kostengünstiger aufgestellt werden. Die genannten Autoren sprechen von einer Geschäftsmodellinnovation, wenn 2 der 4 Komponenten eines Geschäftsmodells (Art der Leistung, Kunden, Ertragsmodell und Leistungserstellung) neu sind, und nennen unter anderem folgende neue und digitale Geschäftsmodelle: Auction (Produkt geht an den Meistbietenden, analog ebay),  Freemium (nur die Premiummitglieder zahlen für die Leistung, z.  B.  Linked-in), Hidden Revenue (Dritte finanzieren die Leistung, z. B. durch Werbung), Pay per Use und  User designed. Selbstverständlich wird von den Führungskräften im digitalen

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6  Führung im Wandel

Zeitalter erwartet, dass sie den digitalen Wandel in ihrem Bereich vorantreiben und die gängigen oder eventuell neuen digitalen Geschäftsmodelle kennen oder gar nutzen. Dasselbe gilt für den Einsatz digitaler Anwendungen in der Produktion oder im betrieblichen Alltag (z.  B.  Kollaborations-Software). Diesbezüglich ist eine gewisse Bereitschaft, sich dem Zeitgeist anzupassen, ebenso unerlässlich wie eine ausreichende Medienkompetenz hinsichtlich der relevanten digitalen Medien. Auch klar ist, dass es sich bei digitalen Transformationsprojekten in der Regel um sehr umfassende, nicht selten risikobehaftete Change-­Projekte handelt. So etwas wie eine spezifische digitale Veränderungskompetenz zu postulieren, macht dennoch keinen Sinn (vgl. Change Management). Aufgrund der rasanten Geschwindigkeit des Wandels in der aktuellen Übergangsphase vom analogen ins digitale Zeitalter ist die Zukunft schwer vorhersehbar. Es gilt, mit dieser Unsicherheit umzugehen sowie möglichst am Ball zu bleiben. Passivität oder eine ängstliche Verweigerungshaltung erscheinen riskanter als der Mut, sich auf Neues einzulassen. Was nun aber viele Führungskräfte umtreibt, ist die Frage, ob es im digitalen Zeitalter auch völlig neue Führungskompetenzen braucht. In der Literatur ist absolut unbestritten, dass die Entwicklung keinesfalls bedeutet, dass zwischenmenschliche Fähigkeiten an Bedeutung verlieren. Im Gegenteil. Die meisten Autoren und Autorinnen (z.  B.  Purps-­ Pardigol & Kehren, 2018) bevorzugen stattdessen die einfache Formel: Je mehr digital (und virtuell), desto mehr Menschlichkeit! Gemäß Gross (2019) müssen „Digital Leader“ die digitale Ambidextrie, das heißt, Automatisierung des Kerngeschäfts auf der einen, digitale Innovationen auf der anderen Seite, beherrschen. Diese Digital Leader zeichnen sich ihm zufolge durch folgende Eigenschaften aus: Sie sind eher Möglichmacher als Entscheider und stellen vor allem die richtigen Fragen. Dabei geht das Verstehen von Wirkungszusammenhänge über das Forschen nach Ursachen und Wichtigkeit über Dringlichkeit. Ebenso sei es zentral, dass sie sich über Bereichs- und Unternehmensgrenzen hinweg vernetzten und nach allen Seiten kommunizieren. Sie müssen eine Vision formulieren können und sich durch ausgeprägte Fähigkeiten in der Gesprächsführung und im Konfliktmanagement auszeichnen. Gemäß einer Metastudie des Deutschen Instituts für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ) sind künftig die in Tab. 6.1 dargestellten Eigenschaften und Kompetenzen besonders zentral. Von den insgesamt 86 erfassten Merkmale umfasst die Auswahl diejenigen, die in mindestens 15 % der 61 Studien als relevant aufgeführt worden sind Die Liste zeigt, dass die Digitalisierung die Ausbreitung der neuen Führungskonzepte begünstigt und stärker nach Leadern als nach Managern verlangt. Nur wenige der aufgeführten Aspekte sind explizit mit der Digitalisierung verbunden, mehrheitlich handelt es sich um Themen, die sich in allen Führungstheorien finden lassen, sind damit also absolut kongruent. Auf die einzelnen Kompetenzen wird anderenorts ausführlich eingegangen. Bei „Digital Leadership“ handelt es sich also nicht um eine völlig neue oder andere Art von Führung. Selbstverständlich überschneidet sich die digitale Führung hinsichtlich Remote-­Führungsanteil mit der virtuellen Führung. Es muss zwar nicht unbedingt so sein, dass in einem Unternehmen, das man als „digitalen Champion“ bezeichnen könnte, mehr virtuell kommuniziert und gearbeitet wird als in einem traditionellen Unternehmen. Die

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6.3  Agiler Wandel und Führung Tab. 6.1  Führungskompetenzen im digitalen Zeitalter, nach IFIDZ-Metastudie (2019) • Kommunikationsfähigkeit • Veränderungsfähigkeit • Wertschätzung geben • Transparenz • Innovationsfähigkeit • Strategisches Denken • Digitale Kompetenz • Zielorientierung • Teamfähigkeit • Hierarchiefähigkeit • Vernetzungsfähigkeit • Medienkompetenz (digital)

• Entscheidungsfähigkeit • Vertrauen schaffen • Motivationsvermögen • Lernfähigkeit • Integrationsfähigkeit • Flexibilität • Selbstmanagement • Fachwissen • Kundenorientierung • Vorbildwirkung • Feedbackkompetenz • Eigenverantwortung fördern

• Ganzheitliches Denken • Schnelligkeit • Agilität • Partizipationsfähigkeit • Verantwortungsfähigkeit • Kritikfähigkeit/Fehlertoleranz • Empathie • Kooperationsfähigkeit • Komplexität beherrschen • Führen auf Distanz

höhere Affinität zu diesen Themen lässt dies allerdings bis zu einem gewissen Grad erwarten. Auf jeden Fall lassen sich viele der Bemerkungen hinsichtlich der virtuellen Führung auf die digitale Führung übertragen.

6.3 Agiler Wandel und Führung Bei Agilität handelt es sich grundsätzlich um eine Managementinnovation mit dem Ziel, Organisationen anpassungsfähiger und innovativer zu machen. Als Hauptargument wird die steigende Komplexität der Umwelt ins Feld geführt (Häusling, 2018; Gresser & Freisler, 2018), wobei angenommen wird, dass die Managementkonzepte des letzten Jahrhunderts auf eine stabile Umwelt resp. auf die Lösung einfacher oder komplizierter Lösungen ausgerichtet waren. Die stark aktionsorientiert und experimentell angelegte agile Vorgehensweise wird in komplexen und chaotischen Verhältnissen als zielführender betrachtet. Da hinsichtlich Beschleunigung und steigender Komplexität bis auf Weiteres keine Trendumkehr zu erwarten ist, handelt es sich bei der Agilität nicht um eine vorübergehende Managementmode, sondern um einen nachhaltigen Entwicklungsprozess, der die Wirtschaft in den nächsten Jahren (weiterhin) dominieren wird. Wer sich dieser Entwicklung gänzlich verschließt, wird in existenzielle Schwierigkeiten geraten. Obwohl die Wurzeln der aktuellen Agilisierungswelle im IT-Bereich (Software-Entwicklung) liegt, handelt es sich bei ihr nicht um eine Begleiterscheinung der Digitalisierung, sondern um ein eigenständiges Konstrukt, das sich auch auf andere Branchen und Tätigkeiten anwenden lässt. Der Urknall der Agilität liegt im sogenannten agilen Manifest (2001). Dessen 4 Leitsätze beziehen sich auf die Softwareentwicklung und sind schon fast legendär: ( 1) Individuen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge. (2) Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation. (3) Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlungen. (4) Reaktion auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.

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6  Führung im Wandel

Zusätzlich formulieren die Autoren 12 erfolgsentscheidende Prinzipen, die zwar mehrheitlich eng mit der Software-Entwicklung verbunden sind (z.  B. „Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne“), sich aber teilweise auch auf andere Gebiete übertragen lassen und viele entscheidende Merkmale des agilen Wandels vorwegnehmen (z. B. crossfunktionale Zusammenarbeit, Begrüßen von Veränderung und ständige Anpassungen oder das Prinzip Einfachheit). Spannend im Hinblick auf dieses Buch sind primär die Prinzipien, die sich auf die soziale Interaktion und die Führung beziehen (z. B. Gresser & Freisler, 2018): (1) Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen, und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen. (2) Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist im Gespräch von Angesicht zu Angesicht. (3) Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können. (4) In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an. (5) Die besten Architekturen, Anforderungen, Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams. Dass nicht fixe Prozesse oder ein bestimmter Rahmen vorgegeben werden, zeigt den Charakter der Agilität, der sich seither nicht verändert hat. Agilität ist vor allem ein bestimmtes Mindset sowie ein praktisches Konzept aus Leitideen und Prinzipien. Es ist weniger eine Toolbox neuer Praktiken. Diese existieren zwar, können aber im Grunde beliebig verändert oder erweitert werden, sofern sie dem propagierten Sinn und Geist der Agilität entsprechen. Auf gar keinen Fall ist Agilität eine pfannenfertig anwendbare Managementmethode, die sich eins zu eins auf alle Gebiete übertragen lässt. Insgesamt scheint es jedoch einfacher zu sein, zu beschreiben, was Agilität nicht ist, als was es genau ist. Für Scheller (2017) ist Agilität vor allem organisiertes Lernen. Der dabei maßgebende Mindset beinhaltet ihm zufolge die folgenden Auffassungen: 1) Mitarbeiter sind vernünftige Erwachsene („Treat people as adults“). 2) Um motiviert zu sein, brauchen Menschen Autonomie, Perfektionierung, Sinn und Zusammenarbeit. 3)  Vertrauen und Verantwortung bedingen einander – man muss eines geben, um das andere zu erhalten. 4) Die besten Lösungen entstehen durch selbstorganisierte Teams. Nur Hochleistung formt und motiviert echte Teams. 5) Diejenigen, die Handlungen ausführen, brauchen auch die Entscheidungsfreiheit darüber. Daher legen wir die Verantwortung in ihre Hände. 6) Neue Lösungen erfordern neues Denken. Deshalb denken wir lösungsfokussiert, systemisch und sinnbezogen. Diese Zusammenstellung ist als Beispiel gedacht, es gibt auch hinsichtlich Mindset keine fixe Lehrmeinung, was genau damit gemeint ist. Andere Autoren und Autorinnen betonen eher die experimentierfreudige und kreative Geisteshaltung (Hofert, 2018) oder die Grundhaltung des „Segelns auf Sicht“ (Sichart & Preussig, 2019), die auf den Punkt bringt, dass man sich in der agilen Welt an einer übergeordneten Vision (z. T. Nord-

6.3  Agiler Wandel und Führung

225

stern genannt) ausrichtet, bei der Zielerreichung aber stets flexibel bleibt und eher kleine Schritte („Babysteps“) macht als große Würfe anstrebt. Hinsichtlich des Lernens geht es nicht nur darum, immer bessere Produkte herzustellen, sondern sich auf allen Ebenen (Individuum, Team und Organisation) laufend zu verbessern. Ständiges Lernen und Entwicklung vor dem Hintergrund eines Growth-Mindset (Dweck, 2012) ist also besonders wichtig. Eine weitere grundlegende Entwicklung besteht darin, die Potenziale der arbeitenden Menschen über funktionierende Prozesse, Pläne und Kontrollmechanismen zu stellen. Es gilt das Prinzip Vertrauen und die Idee, dass das Unternehmen dann die besten Ergebnisse erzielt, wenn es gelingt, die Mitarbeitenden dazu zu animieren, sich aus eigenem Antrieb für die größeren gemeinsamen Ziele einzusetzen. Im Grunde soll primär ein zielführend wirkendes soziales System kreiert werden, während sowohl Automatisierung als auch Bürokratie und Managementpraktiken als Hilfsmittel und nicht mehr als Selbstzweck verstanden werden. Der Paradigmenwechsel von den harten zu den weichen Faktoren beinhaltet nicht nur ein anderes Menschenbild, sondern auch ein neues Kooperationsverständnis speziell bei der Führung. Hinsichtlich Anwendung dieser Denkhaltung auf die Gesamtorganisation postuliert der Management-Vordenker Stephen Denning (2017), die nachstehend aufgeführten 3 Leitsätze: (1) „Law of the Customer“: Die Zielgruppen sind klar festgelegt; man ist bereit, andere Kunden zu enttäuschen. Zentral ist die „Time to Market“; Innovationen erfolgen in kurzen Zyklen und experimentell. Zusätzliche Features werden im Markt getestet, und die Produkte sind formbar, sodass sie an die spezifischen Kundenbedürfnisse angepasst werden können. Ein strikt kundenzentriertes Unternehmen dreht die hierarchische Pyramide gewissermaßen um, damit die Energie und die Tatkraft der Mitwirkenden vor allem den Kunden zugutekommt. (2) „Law of the Small Team“: Die Organisation besteht aus kleinen, autonomen, oft crossfunktional zusammengesetzten Einheiten. Die Arbeit wird auf überschaubare Teile begrenzt und die zu erledigende Arbeitsmenge limitiert. Es herrscht radikale Transparenz. Fortschritte und Lernen werden durch kurze tägliche Treffen und Retrospektiven sichergestellt. Die Kunden sind eingebunden und geben regelmäßig Feedback. (3) „Law of the Network“: Bürokratie und starre Hierarchien werden durch ein Netzwerk aus kleinen Einheiten ersetzt; auch das gesamte Netzwerk folgt dem Gesetz der kleinen Teams. Möglicherweise nach dem Motto „100 Jahre Taylor sind genug“ datiert die Strategieberatung McKinsey (2017) den agilen Zeitenwechsel auf das Jahr 2011. Auch McKinsey streicht die Bildung einer flexiblen Netzwerkstruktur heraus. Im Einzelnen werden unter anderem folgende Aspekte als charakteristisch für agile Organisationen betrachtet: 1) Ausrichtung an einem „Nordstern“ (z. B. geteilter „Purpose“ und Vision), 2) Netzwerk aus eigenverantwortlichen Teams (z.  B. flache Strukturen, klare Rollen, eigenverantwortliche Teams), 3) schnelle Entscheidungs- und Lernzyklen (z. B. experimentieren und schnelle

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Iterationen, Informationstransparenz, permanentes Lernen, aktionsorientiertes Entscheidungsverhalten), 4) dynamische Mitarbeiterführung (z. B. geteilte Führung und Servant Leadership, Rollenmobilität), 5) Einsatz von modernster Technologie. Zusammenfassend lassen sich folgende Merkmale agiler Organisationen identifizieren: (1) Gemeinsame sinnhafte Ausrichtung, (2) Netzwerkstruktur aus eigenverantwortlichen Teams, (3) Rasche Entscheidungs- und Umsetzungszyklen, (4) Experimentierfreude und Lernen, (5) Förderung von Eigeninitiative der Mitarbeitenden, (6) Kundenzentrierung und Einbezug der Kunden, (7) Transparenz, umfassender Zugang zu (fast) allen Informationen, (8) Flexible Arten von Zusammenarbeit und teamübergreifender Kollaboration, (9) Vertrauen und Verantwortungsbereitschaft, (10) Agile Führung (Führung von selbstorganisierten Teams, inkl. Shared Leadership). Auch hinsichtlich des Einsatzes von agilem und klassischem Management sind hybride Formen möglich und in der Praxis auch verbreitet. So kann beispielsweise die Produktentwicklung agil, die Produktion klassisch gestaltet sein. Hybride Formen bedürfen einer ambidextren Führung, während bei einer rein agilen Organisation die Steuerung von selbstorganisierten Teams im Zentrum steht (agile Führung).

6.4 Ambidextrie (beidhändige Führung) Unter Ambidextrie oder beidhändiger Führung (O’Reilly & Tushman, 2011) wird das Erfordernis verstanden, gleichzeitig sowohl das Kerngeschäft effizient zu erledigen als auch Innovationen und neue Produkte auf den Weg zu bringen. Sie umfasst die beiden Kernmanagementaufgaben „Exploit“ und „Explore“, die früher voneinander getrennt abliefen (z. B. Duwe, 2018): Exploit Konsequente Ausnutzung vorhandener Stärken; Standardisierung, Optimierung bestehender Technologien und Strategien. Explore Suche nach innovativen Ideen und Möglichkeiten; Überdenken bestehender Überzeugungen; Experimentieren mit neuen Ideen, Strategien, Technologien. Damit Ambidextrie funktioniert, sollten gemäß Weibler & Keller (2015) die folgenden strukturellen und kulturellen Voraussetzungen vorhanden sein: 1)  Unterstützung: freier Zugang zu vorhandenen Ressourcen, Autonomie sowie Anleitung und Unterstützung, 2) Vertrauen: Fairness und Gerechtigkeit, Mitwirkung und Mitentscheidung aller Organisationsmitglieder, kompetenzbasierter Personaleinsatz, 3)  Ehrgeiz: geteilte Ambitionen, soziale Identität, Aufzeigen der persönlichen Bedeutsamkeit der einzelnen Mitarbeitenden

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für den Gesamterfolg, 4)  Disziplin: klare Leistungs- und Verhaltensstandards, offenes, aufrichtiges und schnelles Feedback, Konsistenz in der Anwendung von Sanktionen. Das mit Ambidextrie gemeinte Vermögen, sowohl Innovationen auf den Weg zu bringen als auch das Kerngeschäft kompetent zu managen, bezog sich ursprünglich auf die Organisationsebene, wobei Innovation und Produktion früher in unterschiedlichen Unternehmensbereichen stattfanden. Mittlerweile wird auch von den einzelnen Führungskräften verlangt, dass sie sowohl Innovation fördern als auch das Kerngeschäft vorantreiben können – unter Umständen beides gleichzeitig. Im Rahmen von Ambidextrie muss eine Führungskraft situativ und kontextbezogen stimmig entweder einen managementorientiert transaktionalen oder einen hauptsächlich agilen Führungsstil zeigen: Exploit:

Beispielsweise klare Vorgaben definieren, planen, organisieren, anweisen, bewerten, kontrollieren, sanktionieren, optimieren etc. Explore: Begleiten, unterstützen; coachen, zum Ausprobieren ermutigen, ermöglichen, Eigenverantwortung fördern, kritisch herausfordern, zum Lernen anregen etc. Kurz gesagt, stehen bei Exploit Management-Aufgaben, bei Explore transformative Leadership-Aufgaben im Vordergrund. Ersteres verlangt nach guten Management-­Fähigkeiten, während bei Letzterem soziale und persönliche Kompetenzen entscheidend sind. Was die Führung betrifft, müssen bei beidhändiger Führung sowohl transaktionale als auch transformationale und Coaching-orientierte Führungsansätze stimmig eingesetzt werden können. Es ist klar, dass auch Selbstorganisation eine Art von Führung braucht (Gloger & Rösner, 2017). Diese erfolgt aber dezentral, entweder in Form von Selbststeuerung der Teams (z. B. Holakratie) und/oder als geteilte, rollenbezogene Führung mit oder ohne Vorgesetzte. Bei der Führung autonomer Teams nimmt die Führungskraft eine primär koordinierende Funktion ein, wenn eine Tätigkeit von mehreren autonomen Teams bewältigt wird. Den Teams und den Mitarbeitenden steht sie als Sparringspartner und Begleiter zur Verfügung. Einflussnahme durch Anweisung verbietet sich, weil die angestrebte Selbstständigkeit der Mitarbeitenden dadurch untergraben wird. Aufgrund der Bedeutung von (zumindest weitreichender) Autonomie wird darauf näher eingegangen.

6.5 Selbstorganisation und Führung Die Idee selbstorganisierter Teams ist ebenso wenig neu wie die Vorstellung, dass das Prinzip der Selbstorganisation Erfolg verspricht. Es gab schon früher mehr oder weniger breite, meist durchaus erfolgreiche Versuche mit teilautonomen Arbeitsgruppen und Selbst­ organisation (v. a. Semler, 1993), diese Modelle waren aber eher die Ausnahme als die Regel. In der Forschung wurde Selbstorganisation mehrheitlich im Rahmen einer akademischen Debatte vor dem Hintergrund biologischer Systeme thematisiert (v. a. Luhmann). Alternativ empfiehlt sich ein Blick in die Vergangenheit. Möglicherweise haben unsere Urahnen das Ideal einer selbstorganisierten Gemeinschaft bereits in vorbildlicher Weise

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vorgelebt. Gemäß sozio-analytischer Theorie (Blickle, 2015) lebten die Urmenschen als Nomaden in Stammesverbänden von 50 bis maximal 150 Personen. Dem genannten Autor zufolge hatten die Mitglieder dieser Clans 3 Hauptaufgaben zu bewältigen: 1) Zielbildung (z.  B. hinsichtlich Nahrungsbeschaffung), 2)  Konfliktbewältigung und 3)  Behauptung ­gegenüber äußeren Bedrohungen (z. B. feindliche Stämme). Es gab in diesen Clans nicht etwa einen Anführer, der alles bestimmte, sondern alle Mitglieder hatten prinzipiell die Gelegenheit, sich innerhalb dieser Gruppe zu positionieren, indem sie sich mit besonderen Qualitäten hervortun und auf diese Weise eine Art aufgabenspezifische „Social Credits“ sammeln konnten, um ihre individuelle Reputation zu steigern. Dies gilt für alle 3 Aufgaben, weshalb sich mit der Zeit eine Form von geteilter Führung entwickelte, bei der jeweils die für die einzelne Aufgabe kompetentesten Personen eine Art Führungsrolle einnahmen. Eine derart flexible, informelle Weise der Aufgabenbewältigung stellt im Grunde die höchste Form von Selbstorganisation dar, was angesichts der langen Zeit, in der sich diese herausbildete (2,5 Mio. Jahre) eigentlich nicht erstaunlich ist. Schließlich erfolgte der Übergang zur Sesshaftigkeit durch Ackerbau als Startpunkt der modernen Entwicklung gerade erst vor gut 10.000 Jahren. Eine der Folgen dieser grundlegenden Veränderung war die Entstehung bürokratischer Führungsansätze, die dem archaischen Prinzip in mancherlei Hinsicht unterlegen sind. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Urahnen in überschaubaren Verbänden und einer „einfachen“ Umwelt bewegten. Trotzdem kann ihre Art der Zusammenarbeit als einfaches Bild der idealen Zielvorstellung im Hinterkopf behalten werden. Bestechend daran ist vor allem, dass sie auf derjenigen Fähigkeit basiert, die den Menschen tatsächlich von den anderen Lebensformen abhebt. Es ist nicht die vermeintlich überlegene Ratio, sondern das Vermögen, als Gruppe oder Team herausfordernde Problemstellungen zu meistern. In Form der „Dunbar“-Zahl, die besagt, dass ein Mensch zu maximal 150 Personen Beziehungen unterhalten kann, hat die sozio-analytische Sichtweise Eingang in die moderne Unternehmenspraxis gefunden. Außerdem gibt es Gruppen, die „Tribes“ (Spotify) heißen sowie Management-Bücher, die sich darauf beziehen (Tribal Leadership). Das wohl beste Beispiel von Selbstorganisation im großen Stil ist Wikipedia. Eine Vision – Sammeln des Wissens der Welt – und eine Plattform zum Mitmachen für jedermann. Das Ergebnis ist die größte – und außerdem allen frei und kostenlos zur Verfügung stehende – Bibliothek aller Zeiten. Eine großartige Leistung tausender Freiwilliger, die unentgeltlich einen Teil ihrer Lebenszeit dafür einsetzen, ihr Wissen mit anderen zu teilen. Apropos Führung: Wer kennt den Namen des Visionärs, der Wikipedia ins Leben gerufen hat? Jimmy Wales, im Jahr 2001. Und zum Thema Bescheidenheit: Was steht in der deutschen Version von Wikipedia über Wikipedia? „Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten, zu denen du sehr gern beitragen kannst“. Seit März 2001 sind 2.769.978 Artikel in deutscher Sprache entstanden (Stand 07.02.2023). Als Management-Prinzip bekannt wurde Selbstorganisation vor allem durch den Bestseller „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux (2015). Eine kurze Beschreibung seiner Teal-Organisation kann bei diesem Thema ebenso wenig fehlen wie die „Holakratie“: Zusätzlich werden das Spotify-Modell sowie „Unboss“ als mehr oder weniger konkrete praktische Anwendungen vorgestellt.

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Teal-Organisation: Laloux unterscheidet Organisationen nach ihrem jeweiligen Entwicklungsstand. Die Basis bildet ein organisationales Entwicklungsmodell, wobei er den einzelnen Schritten verschiedene Farben zuordnet. Seiner Ansicht nach erfolgt die ­Entwicklung von einer basalen Macht des Stärkeren (rote Organisation) über eine primär transaktionale klassische Hierarchie (orangefarbene Organisation) zu einer petrol- resp. türkisfarbenen „integrierten Organisation“. Diese sogenannte Teal-Organisation stellt den Endpunkt der Entwicklung dar und zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: (1) Selbstorganisation: Machthierarchien werden durch natürliche, hauptsächlich kompetenzorientierte Strukturen ersetzt. Die Mitarbeitenden nehmen ihren Fähigkeiten entsprechende Rollen ein. Im Zentrum stehen intrinsische Motivation, bereichsübergreifende Kooperation und dezentrale Führung. Die Entscheidungsfindung erfolgt nicht mehr hierarchisch, sondern im Rahmen definierter Beratungsprozesse. Die Entscheidungskompetenz liegt grundsätzlich bei der jeweils kompetentesten Person, es müssen aber alle Betroffenen zu ihrer Meinung befragt werden. (2) Ganzheitlichkeit: Entscheidend ist, dass die Menschen ganzheitlich einbezogen werden. Die Mitarbeitenden sollen sich nicht verstellen und Masken tragen müssen, sondern echt und authentisch sein dürfen. Damit kann die Energie für das Wesentliche eingesetzt werden, während Selbstdarstellung, Konkurrenzdenken und Dominanzgebaren abnehmen. Dasselbe gilt für die verbreitete Tendenz, sich ständig nach allen Seiten absichern zu müssen. Wichtige Informationen werden transparent geteilt, und es herrscht eine ausgeprägte Feedback-Kultur. Treten trotz dieser Offenheit Konflikte auf, stehen konstruktive Konfliktbewältigungsstrategien zur Verfügung. (3) Evolutionärer Zweck/Sinn: Der Fokus liegt auf der Teamleistung; der individuelle Beitrag zum Ergebnis wird durch die Teammitglieder und nicht durch die Vorgesetzten beurteilt. Ziel ist nicht nur die Gewinnmaximierung, vielmehr steht der Stakeholder Value im Mittelpunkt. Ein über den kommerziellen Aspekt hinausgehender „Purpose“ vermittelt Sinn. Statt die Zukunft genau vorhersagen zu wollen, liegt der Fokus auf dem Weg zur angestrebten Vision. Vertrauen ersetzt ausgeklügelte Kontrollmechanismen. Allerdings bedeutet das auch, dass sämtliche Mitarbeitenden zu einer Art Leader werden, mehr Verantwortung übernehmen müssen und Unliebsames nicht mehr einfach in die Hie­ rarchie delegieren können. Dass dies bekanntlich nicht alle wollen, ist – neben dem befürchteten Machtverlust seitens des Managements – eine wichtige Quelle von Widerstand bei der Agilisierung eines Unternehmens. Holakratie („Holacracy“): Eine Art Blaupause für eine Organisation ohne eigentlichen Chef stellt die von Brian Robertson (2016) entwickelte Holakratie dar. Dabei handelt es sich um eine aus verschiedenen, recht autonomen Einheiten (Holons) aufgebaute Organisation. Das Grundkonzept ist nicht einem klassischen Organigramm angelehnt, sondern orientiert sich eher am menschlichen Organismus, bei dem die verschiedenen Organe jeweils eine bestimmte Funktion erfüllen und gleichzeitig zusammen ein Ganzes (z. B. ein Organ) bilden. Diese Ho-

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lons werden als Kreise dargestellt und miteinander verbunden, indem einzelne Personen ihre jeweiligen Kreise in den darüber, darunter oder daneben liegenden Kreisen vertreten. Angestrebt wird ein Mittelweg zwischen klassischem ­Top-­down und einer weitgehend selbstorganisierten Struktur. Statt Führungsfunktionen gibt es Rollen, wobei die einzelnen Mitarbeitenden mehrere einnehmen und diese grundsätzlich flexibel wechseln können. Das eigentliche Herzstück dieses Ansatzes bildet die Holakratie-­Verfassung, die in fünf Kapiteln (Rollen, Kreisstruktur, Governance-Prozess, operativer Prozess und Inkraftsetzung) alle wesentlichen Abläufe sehr detailliert bestimmt. Gleich wie die laufende Verbesserung der internen Zusammenarbeit ist auch diese Form evolutionär angedacht, das heißt, sie wird laufend weiterentwickelt. Zentral ist die Entscheidungsfindung, die sicherstellen soll, dass alle für eine bestimmte Entscheidung wichtigen Personen einbezogen werden. Die getroffenen Entscheidungen haben einen vorläufigen Charakter und können jederzeit wieder zur Diskussion gestellt werden. Es gibt einige, vor allem kleinere Unternehmen, die Holakratie erfolgreich eingeführt haben. Das gesamte System ist allerdings überaus komplex. Wenn es gut läuft, können sich die Innovativität und die Mitarbeiterzufriedenheit erhöhen. Vor allem aufgrund einer gewissen Starrheit und Rigidität sowie teilweise endloser Debatten im Alltag haben sich einige Unternehmen bereits wieder von diesem Ansatz verabschiedet. Dass er sich breitflächig durchsetzen wird, ist nicht zu erwarten. Möglicherweise geht vor lauter Diskussionen der Blick auf die Vision und das Wesentliche etwas verloren. Agilität sollte einfacher sein. Das Spotify-Modell: Als Vorbild für eine besonders gelungene agile Organisationsform wird in der Literatur häufig der schwedische Musikanbieter Spotify herangezogen (z. B. Scheller, 2017). Nachdem Spotify zunächst mit Scrum begonnen hatte, entwickelte es mit der Zeit eine eigenständige agile Struktur. Die Basis bilden autonome, crossfunktional zusammengesetzte Teams („Squads“), die für einen bestimmten Teil des Gesamtprodukts eine volle „End-to-end“-Verantwortung tragen. Squads, die im selben Gebiet tätig sind, werden zu „Tribes“ mit maximal 150  Mitarbeitenden zusammengefasst. Diese Tribes werden von einer oder mehreren Führungskräften (eine Art Abteilungsleiter geführt). Diese fungieren primär als Coach und haben die Aufgabe, die Teams in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Der teamübergreifende fachliche Austausch zwischen den Personen mit der jeweils gleichen inhaltlichen Aufgabe (z. B. Marketing) geschieht in fachlichen Arbeitsgruppen, sogenannten „Chapters“. Diese wiederum werden in freiwilligen Communities („Guilds“) zusammengefasst. Im Zentrum sämtlicher Aktivitäten steht  – neben dem Austausch – das Lernen, sei es aus Fehlern oder aus den Erfahrungen anderer. Die Ausrichtung der Teams erfolgt über den gemeinsamen Purpose, die übergeordneten Ziele sowie einige zentrale Prinzipien. Dabei steht das Ermöglichen von Autonomie im Zentrum. Aufgrund des Erfolgs und der Bekanntheit des Spotify-Modells kommen Nachahmer in Versuchung, das Konzept eins zu eins übernehmen zu wollen. Dabei wird vergessen, dass bei Spotify die Software-Entwicklung im Zentrum steht und sich eine Software vermutlich einfacher modularisieren lässt als viele andere Produkte oder Dienstleistungen. Außerdem ist das Unternehmen Spotify als Arbeitgeber so attraktiv, dass es sich bei der Personalauswahl höchste Ansprüche leisten kann. So wird von Bewerbern nicht nur ein hohes Potenzial, sondern auch eine Passion für eine bestimmte Musikrichtung erwartet. Nicht alle Firmen haben ähnliche Voraussetzungen.

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Unboss: Kolind und Botter (2012) betonen ebenfalls die Nachteile hierarchischer Organisationen (wie z.  B.  Top-down-Entscheidungsprozessen, festgelegte Kommunikationswege, für die Mitarbeitenden nicht nachvollziehbare Aufträge etc.) und vertreten die These, dass die klassischen Managementpraktiken heute nicht nur überholt, sondern für den Erfolg des Unternehmens sogar hinderlich sind. Aus ihrer Perspektive sind zweck- und sinnorientierte Unternehmen rein profitorientierten Organisationen nicht nur in finanzieller Hinsicht überlegen, sondern ziehen aufgrund des gesellschaftlichen Wertewandels auch bessere Mitarbeitende an. Unboss bedeutet, eine klassische Organisation in ein sinngetriebenes soziales System mit einem verbindenden Zweck umzuwandeln. Die wichtigsten Prinzipien sind geteilte Leidenschaft, Verantwortung und Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb der Organisation. Alle Marktteilnehmenden sind als Partner, Kunden als Verbündete zu begreifen. Das Denken, dass sich ein Unternehmen in einer feindlichen Umwelt bewegt, ist ebenso zu überwinden wie veraltete Vorstellungen, wonach die wichtigen Entscheidungen vom „klügeren“ Management getroffen und zentrale Informationen zurückgehalten und selektiv weitergegeben werden sollten. Statt Kostensenkungsmaßnahmen sollen Innovation und Mitarbeiterförderung den langfristigen Erfolg sicherstellen. Die „Unbosse“ – d. h. die Leader in dieser Organisation – fühlen sich als Teil der Gruppe, wissen, dass er oder sie nicht alles wissen kann, bauen Vertrauen auf und kreieren Win-win-Situationen. Das propagierte hierarchiefreie Unternehmen klingt auf den ersten Blick für viele utopisch, wird aber etwa bei Microsoft bereits seit einigen Jahren umgesetzt. In der Schweiz hat sich Vas Narasimhan, der CEO von Novartis (einem global führenden Pharmaunternehmen), diesen radikalen Wandel auf die Fahne geschrieben. Aus den Überlegungen von Kolind und Botter hat man bei Novartis die folgenden 10  Prinzipien herausgefiltert (Schütz, 2019). Sie sollen für die „Unbosse“ (Führungskräfte) handlungsleitend sein: (1) Fokussiert euch auf Purpose statt Profit. (2) Löst die alte Hierarchie auf und ermutigt jeden zur Zusammenarbeit. (3) Baut das Geschäft zu einem sozialen Netzwerk um. (4) Werdet als Arbeitgeber so attraktiv, dass ihr die besten Leute anzieht. (5) Tretet zur Seite und lasst die Mitarbeiter die Führung übernehmen. (6) Macht die Kunden zu Partnern und Anwälten eurer Mission. (7) Verzichtet auf rigide Bezahlstrukturen und strikte Bonussysteme – und Mitarbeiter, denen so etwas wichtig ist. (8) Involviert Personen außerhalb der Firma, auch in Forschung und Entwicklung. (9) Toleriert Fehler und redet offen darüber. (10) Stärkt den Dialog innerhalb der Firma durch die Nutzung von Social Media. Die Beispiele zeigen, dass in der Zukunft für allwissende Oberbefehlshaber und Egomanen an der Spitze kein Platz mehr ist. Es ist sowohl kaum möglich als auch wenig sinnvoll, möglichst alles selbst entscheiden zu wollen. Die gesamte Organisation darauf auszurichten, dies dennoch mehr schlecht als recht zu ermöglichen, statt sich auf die Kunden zu konzentrieren, ist vor allem Ressourcenverschwendung. In einem kollaborativen Umfeld mit auto-

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nomen Teams heißt Führung nicht, Anweisungen erteilen und Druck auszuüben, sondern begleiten, befähigen, unterstützen sowie überzeugen durch das Wecken von Einsicht. Eigenschaften wie übersteigerte Dominanz und Rechthaberei oder ein stark kontrollierendes Verhalten sind kontraproduktiv, viel wichtiger sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, zuzuhören und sich in die Perspektive der anderen hineinzuversetzen. Hierarchie wird nicht gänzlich abgeschafft, und es wird weiterhin Führungsfunktionen geben, um zu beraten, zu moderieren und als Sparringspartner zur Verfügung zu stehen, während die Richtung vorwiegend durch die übergeordnete Vision vorgegeben wird. Als neue Führungskonzepte ergeben sich Shared Leadership und agile Führung (Steuerung von Selbstorganisation). Shared Leadership und agile Führung Das Konzept der geteilten Führung (Shared Leadership) bezeichnet die Verteilung einer Führungsaufgabe auf unterschiedliche Personen oder Rollen. Meist ist damit eine spezifische Form von lateraler Führung gemeint, es kann sich im einfachsten Fall aber auch um eine Art Job-Sharing bei einer Führungsfunktion handeln („Top-Sharing“), was vertikale Führung einschließt. Grundsätzlich kann sich geteilte Führung entweder in Form festgelegter Teamrollen ohne Weisungsbefugnis oder als mehr oder weniger autonome informelle gegenseitige Beeinflussung der Teammitglieder abspielen. Die theoretisch höchste Form geteilter Führung stellt ein selbstorganisiertes Team dar, bei dem die Führung je nach geforderter Kompetenz wechselt und sich die Mitglieder gegenseitig befähigen und dazu ermuntern, sich laufend zu verbessern. Damit dies geschehen kann, sind gemäß Carson et al. (2007) die folgenden 3 Voraussetzungen notwendig: 1) ein gemeinsamer Purpose resp. eine verbindende Vision, 2) gegenseitige Unterstützung und Vertrauen im Team sowie 3) „Voice“, das heißt, die Möglichkeit der einzelnen Teammitglieder, auf die gemeinsamen Ziele Einfluss zu nehmen. Der Klassiker unter den autonomen Teams ist das Scrum-Team (z. B. Bahlow & Kullmann, 2018), das vor allem in der Software-Entwicklung sehr verbreitet resp. eigentlich schon Standard ist. Bei Scrum wird Führung in interschiedlichen Rollen praktiziert: So gibt es einen „Product Owner“, der die Belange des Kunden vertritt und bestimmt, welche Teile des „Product Backlogs“ (vollständige Liste der Funktionalitäten des Endprodukts) im nächsten Sprint bearbeitet werden, und einen „Scrum-Master“, der sich um die korrekte Anwendung der Scrum-Methode kümmert, moderiert und zwischenmenschliche Themen aufgreift. Die übrigen Teammitglieder sind Entwickler, wobei es teilweise auch eine technisch verantwortliche Person gibt (z. B. „Software Architect“). Je nach Reifegrad und Unternehmen hat das Team unterschiedliche Entscheidungskompetenzen: Von der Ermittlung des Bedarfs an Ressourcen bis hin zur Entlohnung der einzelnen Mitglieder ist eigentlich alles möglich. Die Arbeit am Projekt erfolgt in kurzen Zeitintervallen, sogenannten Sprints (i. Allg. 2 Wochen), wobei – im Unterschied zum klassischen Projektmanagement – die Zeit fix festgelegt ist und demzufolge einen limitierenden Faktor darstellt. Damit wird der Fokus auf das Wesentliche und Machbare gelegt, weil nur das produziert wird, was in einer gegebenen Zeiteinheit möglich ist. Außer den Prioritäten bei den Sprints entscheidet das Team fast alles selbst. Der Arbeitsprozess wird vor allem durch verschie-

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dene Besprechungsformate (daily Stand-up, Retrospektive) sehr genau strukturiert. Da ein einzelnes Scrum-Team in der Regel zu klein ist, um die Gesamtaufgabe zu erledigen, ist diese oft auf mehrere Teams verteilt (z. B. Tribes). Damit diese in die gleiche Richtung arbeiten, benötigt es irgendeine Art von Führung. So existieren verschiedene Rahmenkonzepte zur Skalierung von Scrum-Teams (z. B. SAFe, „Scaled Agile Framework“). Sichart und Preussig (2019) definieren agiles Führen als „Rahmen schaffen, in denen Führungskräfte und Mitarbeiter so verantwortungsvoll, selbstorganisiert und motiviert zusammenarbeiten können, dass sie ihre Fähigkeiten entwickeln und ihr Bestes für innovative Lösungen einbringen können“. Im Kern geht es darum, ein oder mehrere Teams (z. B. ScrumTeams) als Coach und Sparringspartner dabei zu unterstützen, sich gemeinschaftlich und eigenverantwortlich Ziele zu setzen und diese zu erreichen. Es ist fraglich, ob es sich dabei um einen eigenständigen Führungsstil oder eher eine Kombination bekannter Stile (v. a. transformational und Servant Leadership) handelt. Wichtig ist, dass sich der Mindset und das Selbstverständnis einer agilen Führungskraft deutlich von demjenigen eines traditionellen Managers unterscheidet. Agile Führung und Strukturen sind vor allem dann die richtige Wahl, wenn rasche und gleichzeitig innovative Ergebnisse erzielt werden sollen. In diesem Buch wird unter agiler Führung die „Führung“ von Selbstorganisation verstanden. Ein Beispiel einer konkreten Anwendung für die Führung von Scrum-Teams stellt das „Host Leadership“ (McKergow & Pugliese, 2019) dar. Wie der Name sagt, begreift sich die Führungskraft nicht als Chef oder als Servant Leader, sondern als Gastgeber. Ziel ist es, gewisse Regeln für das Verhalten in einzelnen Situationen zu definieren, wobei grundsätzlich 6  Rollen und 4  Arten der Beteiligung unterschieden werden: Die Führungskraft oder der Scrum-Master können 1) als „Initiator“ Impulse geben, 2) als „Inviter“ alle wichtigen Personen einladen, damit sie zu etwas beitragen können, 3)  als „Space-­Creator“ ein anregendes Umfeld kreieren, als 4) „Gatekeeper“ den Kreis der Beteiligten festlegen, als 5)  „Connector“ integrativ und verbindend wirken oder als 6)  „Co-Participator“ Teil des Systems sein. Die Art der eigenen Beteiligung lässt sich durch folgende Bilder beschreiben: 1) „auf der Bühne“ zeigt man Leadership, 2) „inmitten der Leute“ ist man Teil der Gruppe, „auf dem Balkon“ ein zusehender, bei Bedarf eingreifender Beobachter, und „in der Küche“ trifft man die Vorbereitungen, damit etwas Besonderes passieren kann. Fazit Der einstige Normalfall – hierarchische Führung – wird in Zukunft eher die Ausnahme als die Regel sein. Stattdessen wird eine Vielzahl verschiedener Führungstypen nebeneinander existieren. Traditionelle Führungskonzepte, die auf „Command and Control“ basieren, werden weitgehend verschwinden. Stattdessen dominieren partnerschaftliche, oft reziproke Beeinflussungsprozesse zwischen Personen und Personengruppen aller Art. Die Entscheidungen werden vermehrt dezentral und von den dafür kompetentesten Personen getroffen. Führung ist eher ein Phänomen und wird primär als Aufgabe verstanden. Diese verteilt sich auf mehrere Personen, sodass der Trend zu flachen Hierarchien und Empowerment einerseits weniger klassische Führungsfunktionen mit sich bringt, andererseits auch bewirkt, dass ein größerer Personenkreis irgendeine Art von Führungsaufgabe wahrnimmt.

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Aufgrund der steigenden Bedeutung von Mitwirkung und eigenverantwortlichen Teams sehen die Mitarbeitenden einer spannenderen, allerdings auch herausfordernderen Arbeitswelt entgegen. Die Anforderungen steigen, weil die Übergabe von Verantwortung nach einem höheren Maß an Eigeninitiative, Verantwortlichkeit und Selbstständigkeit verlangt. Die Führungskräfte müssen sich auf ein grundlegend verändertes Führungsverständnis und eine erodierende positionsbezogene Macht einstellen. Gleichzeitig wird von ihnen erwartet, dass sie diverse Arten der Führung sowie unterschiedliche Führungsstile situationsgerecht einsetzen können. Die Art und die Anzahl der für die Wahrnehmung der Aufgabe geforderten Führungsformen und der dabei bestehende Führungsspielraum stellen zentrale situative Einflussfaktoren dar, die stets berücksichtigt werden müssen. Damit sich die eigenverantwortlich und lateral gestalteten Prozesse in die richtige Richtung bewegen, braucht es mehr Leader-Persönlichkeiten. Der Kontakt erfolgt auf Augenhöhe und ist partizipativ ausgerichtet. Um Einfluss nehmen zu können, wird eine natürliche Autorität benötigt, die auf Authentizität und einem klaren Wertekompass basiert. Die Führungskraft begleitet und unterstützt, schafft Vertrauen sowie eine Atmosphäre von psychologischer Sicherheit, damit etwaige Fehler angesprochen werden und aus ihnen gelernt wird. Feedback- und Lernprozesse im Team zu fördern und zu moderieren, ist eine weitere zentrale Führungsaufgabe. Auf die Führungsaufgaben wird im nächsten Kapitel vertieft eingegangen (s. Kap. 7). Kühmayer (2019) bringt das moderne Führungsverständnis mit der Formel PEP (Purpose, Education, Participation) auf den Punkt. Wesentlich daran ist vor allem die Zweck­ orientierung, die dafür steht, die Vision eines Unternehmens weniger als Ziel, sondern als höheren Zweck, etwa in Form eines „Nordsterns“, zu beschreiben. „People rather work for a purpose than a company“ lautet das Motto. Der Nordstern wiederum steht für eine sehr universelle Vision, welche die übergeordnete Richtung vorgibt, jedoch nicht unbedingt unmittelbar erreichbar sein muss. Education bezieht sich sowohl auf kollektive Lernprozesse infolge verschiedener Feedback-Prozesse als auch auf die individuelle Bereitschaft, zu lernen und sich laufend weiterzuentwickeln. Mit Participation ist das Einbeziehen und die Mitbestimmung der Mitarbeitenden gemeint. Grundsätzlich wird angestrebt, dass sich alle Mitarbeitenden intrinsisch motiviert dafür einsetzen, ambitionierte Ziele zu erreichen. Neben den notwendigen Freiheitsgraden bei der Entscheidungsfindung und dem Zugang zu den relevanten Informationen müssen auch die Strukturen angepasst werden: Die Zukunft liegt in Netzwerken von selbstorganisierten Teams.

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6  Führung im Wandel

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Führungsaufgaben

Aufgaben einer Führungskraft Bei Führung geht es bekanntlich darum, auf irgendeine zielgerichtete Weise Einfluss zu nehmen. Wie erwähnt, geschieht dies heutzutage auf vielfältige Art, und die hierarchische Einflussnahme eines Vorgesetzten auf die Mitarbeitenden stellt nur noch die idealtypische Weise von Beeinflussung dar. Während früher eine der klassischen Aufgaben der Führungskräfte darin bestand, die Mitarbeitenden dazu zu motivieren, sich für die Ziele des Unternehmens einzusetzen, kann diese Aufgabe heute auch von einer inspirierenden Vision oder den anderen Teammitgliedern übernommen werden. Einflussnahme geschieht zum einen zwischen Personen, zum anderen durch verschiedene Systeme und Prozesse (indirekte Führung). Ein vollständig strukturell, das heißt indirekt gesteuertes System, das ohne Führung durch Menschen auskommt, entspricht dem „Ideal“ der bürokratischen Führung (von Rosenstiel, 2005). Strukturelle Führungssysteme sind etwa die folgenden: ( 1) Kommunikations- und Dienstwege, (2) Organigramme und Stellenbeschreibungen, (3) Planungs- und Kennzahlensysteme, (4) Qualitätssicherungssysteme sowie (5) Anreizsysteme aller Art. Selbstverständlich kommen auch die modernsten und agilsten Unternehmen nicht ohne derartige Führungssysteme aus, teilweise sind sie sogar ausgeklügelter als die traditionellen Praktiken. So sind etwa die Kommunikationsprozesse bei Scrum sehr genau geregelt. Die verschiedenen Meetings dienen insgesamt dazu, ein selbstorganisiertes Team dazu zu befähigen, mittels kommunikativer Prozesse sowohl die Arbeit zielführend voranzutreiben als auch die Zusammenarbeit laufend zu verbessern. Früher dienten festgelegte Dienstwege dazu, die Unternehmensspitze mit allen wichtigen Informationen zu versorgen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_7

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7 Führungsaufgaben

So wurde vor allem festgelegt, wer wen informieren darf oder muss, wobei an erster Stelle die Hierarchie beachtet werden musste. Dabei herrschte Geheimniskrämerei und es wurden Informationsvorsprünge nicht selten zur Befriedigung der eigenen egoistischen Bedürfnisse genutzt. In der Zukunft besteht eine große Transparenz hinsichtlich der relevanten Informationen, und die Kommunikation wird flexibel und netzwerkartig gestaltet. Gleichzeitig wird vermehrt die informelle Kommunikation auf alle Seiten gefördert. Es entstehen Netzwerke aus autonomen Teams, bei denen die Kunden und das Sicherstellen der Verteilung des Wissens im Zentrum stehen. Allerdings wird auch hier irgendeine Art von Steuerung benötigt. Eine Führungsaufgabe besteht im Alltag aus einer Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten (z. B. diverse kommunikative Aufgaben), wobei für die einzelnen Teilaufgaben in der Regel nur vergleichsweise wenig Zeit zur Verfügung steht. Neben dem damit verbundenen Zeitdruck typisch sind kurze Zyklen, viele Unterbrechungen und ein ausgeprägter inhaltlicher Abwechslungsreichtum. Auch weil unterschiedliche Aufgaben und Situationen nach unterschiedlichen Kompetenzen verlangen, lohnt es sich, die Führungsaufgabe differenziert zu betrachten und zu analysieren. Auf einem sehr allgemeinen Niveau wird oft Management und Leadership voneinander abgegrenzt. Während Drucker (1998) damit Effektivität („das Richtige tun“) versus Effizienz („das, was man tut, richtig tun“) meint, versteht Kotter (1991) darunter eine Unterscheidung nach eher sach- resp. menschenbezogenen Aufgaben. So wird Management meist mit Tätigkeiten wie Planen, Ressourcen beschaffen etc. in Verbindung gebracht, während beim Leadership insbesondere das Fördern und Inspirieren der Mitarbeitenden im Zentrum steht. Auf einer generischen Metaebene lassen sich gemäß Bartram (2005) 8 übergeordnete führungsbezogene Tätigkeitsfelder unterscheiden, die soge­ nannten „Big Eight“: 1) Führen und Entscheiden, 2) Unterstützen und Kooperieren, 3) Interagieren und Präsentieren, 4) Analysieren und Interpretieren, 5) Gestalten und Konzipieren, 6) Organisieren und Ausführen, 7) Anpassen und Bewältigen, 8) Unternehmerisches Handeln und Leistung erbringen. Borman und Brush (1993, zit. nach Sarges, 2013, S. 828 ff.) haben eine Liste aus über 200 Einzeltätigkeiten auf 18 sogenannte „Managerial Performance Requirements“ verdichtet. Diese sind in der Tab. 7.1 aufgeführt. Tab. 7.1  Managerial Performance Requirements nach Borman und Brush (1993) Planen und Organisieren

Abwicklung administrativer Aufgaben Anleitung/Unterstützung der Aufrechterhaltung guter Mitarbeiter Beziehungen Entwicklung von Koordination der Mitarbeiter Mitarbeitenden und Ressourcen Effektive Kommunikation Entscheidungen treffen, Probleme lösen Repräsentation des Personalaufgaben Unternehmens Beherrschen der aktuellen Persistenz bei der Zielerreichung Technik

Krisen- und Stressmanagement Einhaltung der Gepflogenheit der Organisation Controlling von Ressourcen Delegieren von Aufgaben Überzeugen und Beeinflussen Datenanalyse

7 Führungsaufgaben

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Ebenfalls erwähnenswert ist der Ansatz von Kratz (2017). Dieser beschreibt die Führungsaufgabe anhand verschiedener Rollen, die eine Führungskraft im Alltag erfüllen muss. Dabei hat er nicht weniger als 33 verschiedene Rollen identifiziert, denen insgesamt allerdings ein recht klassisches Führungsverständnis zugrunde liegt. Aus der Sicht der anschließenden Zusammenstellung eher dem Management und der technischen Führung zuzuordnen sind beispielsweise die Rollen „Anweisender, Beschwerdeinstanz, Beurteiler, Delegierer, Entscheider, Personalrekrutierer, Planer, Problemlöser, Realisierer, Teamleiter“, während die zwischenmenschliche Dimension und das Leadership unter anderem mit den Funktionen „Coach, Aktivierer, Informierer, Integrierer, Kommunikator, Konfliktmanager, Leistungsverstärker, Mobbingbekämpfer, Vertrauensperson und Vorbild“ a­ bgebildet werden. Eine abschließende und allgemeingültige Darstellung aller Führungsaufgaben erscheint weder möglich noch sinnvoll. Die in Tab. 7.2 aufgeführte Auswahl stellt die aus Sicht des Autors dieses Buchs wichtigsten Aufgaben zusammen. Es wird zwischen einer sachbezogenen Führung, technischen Aspekten der Menschenführung und Leadership im Sinne transformativer Aufgaben unterschieden. Die Rubrik operative und strategische Führung umfasst die sachbezogene Führung, die Rubrik Führungstechnik die eher klassischen und transaktionalen Aspekte der Menschenführung. Zusammen bilden sie das Führungshandwerk (Management), das ein solider Manager resp. eine technisch versierte Führungskraft beherrschen sollte. Im Zuge der bereits angesprochenen aktuellen Entwicklungen verändern sich diese Aufgaben oder verlieren an Bedeutung (z. B. Kontrolle wird eher zu Begleitung). Es lohnt sich auch für moderne Führungskräfte, die klassischen Ansätze zu kennen, um diese Grundfertigkeiten bei Bedarf anwenden zu können (vgl. Ambidextrie). Auch die transformativen Aufgaben sind bis zu einem gewissen Grad erlernbar, gehen aber über Führungstechnik hinaus und stellen Tab. 7.2  Aufgaben von Führungskräften, eigene Darstellung Operative und strategische Führung (Management, Sache) Steuern (planen, kontrollieren) Entscheidungen treffen Kontrolle sicherstellen Vorgaben erfüllen Ressourcen managen Risiken managen Finanzielle Führung sicherstellen Vision und Strategien entwickeln Strategien umsetzen Beidhändige Führung (Ambidextrie) Innovation sicherstellen Transformation steuern Kundenzentrierung sicherstellen

Führungstechnik (Menschenführung, Personal) Personal ein- und freistellen Delegieren/Aufgaben verteilen Ziele vereinbaren Leistung einfordern Leistung beurteilen Feedback geben Fachliche Beratung anbieten Konflikte lösen Mitarbeitergespräche führen Mitarbeitende anleiten/fördern

Transformative Führung (Leadership, Menschen) Purpose, Vision vermitteln Eigenverantwortung fördern Sinn vermitteln Individuelles Coaching Commitment fördern Vorbildwirkung entfalten Stimulieren/Inspirieren Sicherheit vermitteln Veränderung bewirken Vertrauen schaffen

Integrieren Informieren

Feedback-/Fehlerkultur Lernkultur etablieren

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7 Führungsaufgaben

die Menschen in den Mittelpunkt. Der Erfolg ihrer Anwendung hängt weniger von methodischer Perfektion als von der Persönlichkeit und den individuellen Fähigkeiten der Führungskraft ab. Vor allem ohne formale Leitungsrolle – was immer öfter Fall ist – muss eine Führungskraft stark mittels ihrer persönlichen und sozialen Fähigkeiten Einfluss nehmen und in der Lage sein, die Mitarbeitenden dazu anzuregen, aus eigenem Antrieb überdurchschnittliche Leistungen zu erzielen. Operative Aufgaben Bei den operativen Führungsaufgaben handelt es sich um Managementaufgaben im engsten Sinne. Speziell in der Produktion sind Themen wie kurzfristige Ziele setzen, planen, realisieren weiterhin bedeutsam. Angestrebt werden hier vor allem schlanke Prozesse, Kosteneffizienz sowie ein hoher Standardisierungs- und Automatisierungsgrad. Im japanischen Lean Management (vgl. Brunner, 2017) geschieht dies weniger durch Personalabbau als durch eine in jeder Hinsicht hohe Qualitätsorientierung, durch Vermeidung von Verschwendung („Muda“) sowie proaktive Fehlervermeidung (inkl. Fehlerkultur). Die Trennung zwischen planerischen – im Taylorismus als Führungsaufgabe verstandenen – und ausführenden Tätigkeiten löst sich zwar zunehmend auf, die entsprechenden Aufgaben verschwinden deswegen aber nicht. Es müssen weiterhin zumindest kurzfristige Pläne entwickelt und innerhalb vernünftiger Fristen umgesetzt oder der notwendige Mittelbedarf festgelegt werden. So wird beispielsweise in Scrum-Teams der zeitliche Ressourcenbedarf vom verantwortlichen Team selbst abgeschätzt und nicht von einer Planungseinheit vorgebeben. Die Kernaufgaben des Managements bleiben auch in Zukunft bestehen, wobei die Zunahme an selbstorganisierter Teamarbeit keinesfalls bewirkt, dass sie von weniger Personen beherrscht werden müssen. Im Gegenteil: Bei geteilter Führung steigt die Zahl der mit Führungsaufgaben irgendwelcher Art betrauten Personen. Als Auswahlkriterium für Führungskräfte verlieren sie dennoch an Bedeutung. Die dafür notwendigen Fertigkeiten können von den meisten Personen erworben werden, zumal unzählige nützliche Werkzeuge zu deren Bewältigung bestehen. Damit die Anwendung in der Praxis gelingt, bedarf es primär der bereits diskutierten Umsetzungsqualitäten. Im Folgenden liegt der Fokus auf einigen ausgesuchten strategischen Aufgaben: Definieren von Purpose, Vision und Zielen, Entscheidungsfindung sowie Innovation, Transformation und Kundenzentrierung sicherstellen sowie den dafür nötigen Kompetenzen. Auf die klassischen operativen Managementaufgaben wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen.

7.1 Strategische Aufgaben Purpose, Vision und Ziele formulieren Jede Organisation verfolgt mehr oder weniger genau festgelegte Ziele. Bis vor einigen Jahren wurden von der Geschäftsleitung in rituellen Strategiefindungsprozessen die langfristigen Ziele sowie die strategischen Handlungsfelder des Unternehmens oder der Organisation definiert und daraus detaillierte Umsetzungspläne abgeleitet. Die den entsprechenden Vorgaben zugrunde liegenden langfristigen Entscheidungen waren der Belegschaft kaum

7.1  Strategische Aufgaben

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bekannt. Die gewählten strategischen Stoßrichtungen basierten nicht auf einer übergeordneten Vision, vielmehr wurden oft nur einige betriebs- und finanzwirtschaftliche Ziele festgelegt (z. B. Wachstumsziele oder die Steigerung der Marktanteile in ausgesuchten Märkten o. Ä.). Die Unternehmensziele wurden sodann top-down bis auf die individuellen Ziele der Mitarbeitenden herunterkaskadiert (Management by Objectives, MbO) und in kleinteilige Aufgabenpakte unterteilt. Der MBO-Prozess basiert in der Regel auf zwei Gesprächen pro Jahr. Im ersten werden die Ziele entweder von Führungskraft und Mitarbeitenden gemeinsam festgelegt oder von der Führungskraft vorgegeben, während im zweiten Gespräch die Zielerreichung und Belohnung diskutiert wird. Infolge der Shareholder-­Value-Doktrin herrschte zudem bis vor Kurzem eine stark auf kurzfristige, nur auf die Gewinnmaximierung der Aktionäre ausgelegte Denkweise vor. Wurden die Zahlen nicht erreicht, wurde Personal entlassen und der CEO ausgetauscht. Von Weitsicht keine Spur. Die traditionelle statische und stark planerische Vorgehensweise hatte sich in den früheren Zeiten stabiler Verhältnisse und geringer Veränderungen durchaus bewährt, geriet aber zunehmend an Grenzen. Im aktuellen Umbruch und in Zukunft sind – neben Innovationen – ein dynamischeres Vorgehen und raschere Zyklen gefordert. Ansonsten ist man zu langsam und verliert den Anschluss. Die geforderte Flexibilität funktioniert jedoch nur, wenn gleichzeitig eine langfristige Perspektive hinsichtlich der Richtung besteht. So zeigte insbesondere Collins (2001, Collins & Porras, 2005) in seinen Studien, dass Unternehmen mit einer nachhaltigen Unternehmenspolitik sogar an der Börse langfristig besser abschneiden. Mit dem Aufkommen des Stakeholder-Value gewinnt auch die – im Grunde nicht neue  – Idee, dass ein Unternehmen auch einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen soll, wieder an Bedeutung. Vor allem die weithin bekannte These von Sinek (2014), wonach (auch) ein Unternehmen ein Warum benötigt, führt dazu, dass die Definition eines „Purpose“ heute fast zum guten Ton gehört. Ein guter Purpose stellt eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft her und wird von allen getragen. Keinesfalls entsteht er aus dem vermeintlichen Genie einer einzelnen Person. Ein oft zitiertes Beispiel ist der Purpose von Google: „Organize the world’s information and make it universally accessible and useful“ Eher etwas generisch erscheint derjenige von Amazon: „Earth’s most customer centric company“. Ein gelungener Purpose hat sowohl eine Wirkung nach außen (wofür steht das Unternehmen?) als auch nach innen (Sinnstiftung) und dient nicht zuletzt auch dazu, besonders fähige Personen anzuziehen und zu halten. Dass sich ein Purpose auch wirtschaftlich auszahlt, hat sich etwa in der EY Leadership Forecast (2018) herausgestellt. Neben dem Corporate Purpose sind auch die Vision, das Vorgehen bei der Zielsetzung sowie die Werte einer Organisation zu beachten: 1. Purpose: Der Purpose (oder höhere Zweck) beantwortet die Frage nach dem Mehrwert, den ein Unternehmen für die Gesellschaft erbringt. Er umfasst Sinn, Mission und Beitrag zum Gemeinwohl. Den Kern bildet das Warum. 2. Vision: Bild der Zukunft. Wie soll die Zukunft des Unternehmens in 10–15 Jahren aussehen? Auch die Vision sollte eine emotionale Wirkung entfalten und sinnstiftend wirken. 3. Grundwerte: Einige zentrale Grundwerte bestimmen, wofür man als Organisation stehen will.

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7 Führungsaufgaben

Bei der Definition des Purpose steht das Warum im Sinne des bereits diskutierten „Golden Circle“ von Sinek (2014) im Zentrum. Seiner Überzeugung zufolge sollte ein ­Unternehmen nicht vom Was (welche Produkte werden erstellt), sondern eben vom Warum (dem höheren Zweck) ausgehen. So geht er davon aus, dass die meisten Menschen ein bestimmtes Produkt vorziehen und höhere Preise in Kauf nehmen, wenn sie dessen Warum kennen und positiv beurteilen. Entscheidend ist, dass mit diesem Ansatz das limbische System angesprochen wird, während das Was eher auf die Ratio abzielt und damit kaum Wirkung entfaltet. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Zweckorientierung und die Ziele des Unternehmens. Es wirkt anziehend, wenn es für etwas steht, mit dem wir uns identifizieren können, während von übergeordneten Zahlenvorgaben keinerlei inspirierende Wirkung ausgeht. Wer wird schon durch das Ziel motiviert, etwa den Umsatz um ein paar Prozentpunkte zu steigern? Diesbezüglich deutlich wirkungsvoller sind ein höherer Zweck, dem man sich verschreiben kann, sowie eine attraktive Vision, die man gemeinsam erreichen möchte. „People rather work for a purpose than a company“, lautet das Motto (Kühmayer, 2019). Dies umso mehr, wenn der eigene Beitrag zum Ganzen ersichtlich ist und die eigene Aufgabe ebenfalls als sinnstiftend wahrgenommen wird. Der eigentliche Hebel besteht darin, die Eigenmotivation zu wecken, anstatt die Beschäftigten auf eine transaktionale Weise zur Leistung anzuhalten. Es ist klar, dass mit intrinsischer Motivation, Leidenschaft und Identifikation in der Regel bessere Ergebnisse erzielt werden als mit einer primär extrinsisch motivierten Arbeitsweise und einer geringen Identifikation. Ein extrem gutes Beispiel eines Purpose ist derjenige eines städtischen ÖV-Anbieters in der Schweiz: „Wir bewegen die Stadt“. Das Fahrpersonal hat diesen Slogan verinnerlicht und arbeitet mit der Gewissheit, dass ohne die Tram- und Busfahrenden im Grunde alles stillstehen würde. Diese Haltung ist ebenso zutreffend wie für das Personal motivierend. Und es steigert deren Verantwortungsgefühl enorm. Bei einer guten Vision (z. T. auch „Nordstern“ genannt) handelt es sich um eine langfristige, nicht unmittelbar erreichbare Zukunftsvorstellung. Sie dient vor allem dazu, die grobe Richtung vorzugeben. Idealerweise geht von ihr eine eigenständige Führungswirkung aus, die sowohl selbstständige Einheiten zusammenhält resp. auf einen gemeinsamen Weg ausrichtet als auch motivierend wirkt (Esch, 2021). In agilen Organisationen wird nicht versucht, einen bestimmten Weg dahin festzulegen und womöglich einen mehrjährigen Maßnahmenplan für die Zielerreichung festzulegen. Gemäß Sichart und Preussig (2019) lässt sich die agile Herangehensweise eher als Segeln auf Sicht beschreiben. Wie einst die Seefahrer orientiert man sich an den Sternen (Vision), konzentriert sich aber vor allem auf den unmittelbar nächsten Schritt resp. die nächste Etappe. Grundsätzlich ist alles gut, was in die gewünschte Richtung geht. Wird einmal eine falsche Entscheidung getroffen, ändert man die Richtung wieder. Flexibilität und Experimentierfreude sind wichtiger als das strikte Verfolgen eines vorgegebenen langfristigen Plans. Ebenfalls zentral sind Werte, sofern es sich dabei nicht um hohle Phrasen oder kaum vermittelte Vorgaben von oben handelt. Eine verbindende Wirkung haben Werte, wenn sie partizipativ entwickelt werden und der bereits bestehenden Organisationskultur nicht widersprechen. Das Gefühl, einer Wertegemeinschaft zuzugehören, spricht vor allem das bei den meisten Menschen

7.1  Strategische Aufgaben

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ebenfalls wirkungsvolle Beziehungsmotiv an, vermittelt soziale Identität und sorgt gleichzeitig für Orientierung hinsichtlich des gewünschten Verhaltens. Dies trifft auf eine ­Gesellschaft ebenso zu wie auf eine Organisation. Auch eine Nation könnte sich als Wertegemeinschaft definieren. Um die Identifikation mit den Zielen resp. eine echte Zielbindung („Commitment“) herzustellen, wird auf der obersten Ebene ein gesellschaftlich relevanter Beitrag erbracht, darunter eine inspirierende Vision definiert, und aus dieser werden die strategischen Ziele abgeleitet. Eine enge und motivierende Verbindung zwischen Purpose resp. abstrakten Visionen und Zielen und den Aufgaben der Beschäftigten verspricht die von Intel erfundene und von Google weiterentwickelte Methode des OKR („Objectives and Key Results“). Um die richtigen Prioritäten zu setzen und die Umsetzung zu beschleunigen, werden für eine 3-monatige Periode einige zentrale Ziele (Objectives) sowie messbare Schritte dafür festgelegt. Entscheidend ist, dass die Aufgaben auf eine Weise auf die Mitarbeiterebene herunterkaskadiert werden, bei der jeder und jede Einzelne den eigenen Anteil am Ganzen unzweideutig erkennt und unmittelbar erfährt. Die Frage nach dem Beitrag zum Gelingen der Initiative  X können idealerweise alle Beteiligten treffend beantworten. Aus technischer Sicht wird postuliert, dass die Ausgestaltung der Ziele einen wirklichen Unterschied macht. Dabei steht das SMART+-Modell (Wegge, 2015) im Mittelpunkt. Diesem zufolge sollen Ziele spezifisch, messbar, erreichbar („attainable“) – oder besser attraktiv – realistisch und terminlich klar vorgegeben sowie positiv formuliert sein. Im Idealfall trifft sich der Wunsch reifer Menschen, sich selbst anspruchsvolle Ziele setzen und erreichen zu wollen, mit den übergeordneten Unternehmensinteressen. Dazu bedarf es allerdings auch großer Freiheitsgrade bei der Arbeit, Empowerment sowie angepasster Führungssysteme. An die Stelle des statischen MBO tritt zunehmend ein kontinuierlicher Mitarbeiterdialog. Die Mitarbeitenden haben etwas mehr Einfluss auf die Ausgestaltung der Ziele und diskutieren regelmäßig die erzielten Fortschritte mit den Vorgesetzten. Zentral ist permanentes und ehrliches Feedback. Entscheidungen treffen Ein weiterer zentraler Aspekt sämtlicher strategischen (und operativen) Aufgaben ist das Fällen mehr oder weniger weitreichender Entscheidungen. Nicht nur in autokratischen Systemen, sondern auch in patronal geführten KMU ist es zuweilen heute noch so, dass der Patron (resp. die Familie) am Ende alle wichtigen Entscheidungen trifft, wobei er sich allenfalls von einigen Vertrauten beraten lässt. Stereotypisch gesehen ist die Organisation um ihn herum aufgebaut, sodass ihm alle relevanten Informationen zugespielt werden, damit er am Ende seine Entscheidungen treffen kann. Je nach Entwicklungsstand der Management-­Informationssysteme kann sich der oberste Chef auf eine unterschiedliche – nicht selten begrenzte – Menge an qualitativ hochwertigen Informationen und Datenquellen stützen. In diesem „Alleinentscheidermodell“ hängt die Entscheidungsqualität letztlich von der Kompetenz des Patrons und dessen Entourage ab. Dabei ist gemäß Felfe (2015) zu vermuten, dass viele Entscheidungen auf der Grundlage von „Ersatzwissen“, das heißt, impliziter Theorien auf der Basis persönlicher Erfahrungen und einzelner Beob-

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achtungen zustande kommen. Im Zentrum stehen hier also mehr oder weniger fundierte ­Bauchentscheidungen. In der Politik können auch mehr oder weniger wirre ideologische Ansichten oder ein missionarischer Eifer handlungsleitend sein. Ein seit Längerem bekanntes Tool zur Professionalisierung der betrieblichen Entscheidungsfindung stellt der Entscheidungsbaum von Vroom und Yetton (1973) dar. Mit diesem Instrument lässt sich anhand von 7 Fragen zur Ausgangslage der Entscheidung feststellen, welcher Partizipationsgrad der Mitarbeitenden angemessen ist, wobei grundsätzlich zwischen autoritär, konsultativ und partizipativ differenziert wird. Die Fragen drehen sich entweder um sachbezogene Merkmale der Entscheidungssituation (z. B. Strukturierungsgrad des Problems, Qualitätsanforderung) oder um weiche Themen wie Akzeptanz oder Konfliktpotenzial im Team. Indem man sich bestimmte Fragen stellt (z. B. gibt es ein Qualitätserfordernis? Ist vermutlich eine Lösung besser als eine andere? etc.), nähert man sich über mehrere Schritte der theoretisch in einer bestimmten Situation am besten geeigneten Art, ein spezifisches Problem zu lösen. Die Anwendung des Entscheidungsbaums ist nicht ganz einfach, sodass dieser wohl nur von wenigen Personen als Entscheidungshilfe eingesetzt wurde. In einer VUCA-Umgebung empfiehlt es sich aber noch mehr, sich die geeignete Handlungsstrategie für verschiedene Problemstellungen zu überlegen. Im Mittelpunkt steht diesbezüglich das Cynefin-Entscheidungsmodell (Snowden, 2005). ( 1) Einfache Probleme: Erkennen, beurteilen und rasch reagieren. (2) Komplizierte Probleme: Erkennen, analysieren, reagieren. (3) Komplexe Probleme: Probieren (experimentieren), erkennen, reagieren. (4) Chaotische Probleme: Handeln, erkennen, reagieren. Komplizierte Probleme unterscheiden sich von komplexen dadurch, dass sie beispielsweise technisch schwierig sind, jedoch trotzdem klar abgegrenzt, sodass ein Experte grundsätzlich weiß, was zu tun ist. Wichtig ist der Hinweis, dass Experimentieren gerade in einem komplexen, unklaren Kontext das richtige Vorgehen ist, wobei es keinesfalls als konzeptloses „Trial-and-Error“-Vorgehen missverstanden werden darf. Bei völliger Ungewissheit (chaotische Situation) ist es gemäß dieser Theorie das Beste, irgendetwas im System zu verändern, um anschließend die Wirkung der gewählten Aktivitäten zu analysieren und entweder das gleiche Verhalten zu verstärken oder etwas anderes auszuprobieren. In einer agilen Umgebung geht Probieren prinzipiell über Studieren, und es werden generell rasche Entscheidungen bevorzugt. Statt zu lange hin und her zu überlegen, soll bei überschaubaren Risiken eher eine vorläufige Entscheidung getroffen werden. Stellt sie sich als falsch heraus, kann sie bei Bedarf wieder revidiert werden. Bei völliger Unklarheit bleibt einem gar nicht viel anderes übrig. Im Zeitalter von Big Data und Kooperationstechnologien ergeben sich grundsätzlich diverse Möglichkeiten, um die Voraussetzung für die richtigen Entscheidungen zu schaffen. Entsprechend geht der Trend in Richtung evidenzbasierte und kollaborative Entscheidungen. Bei Empowerment (z. B. Furtner, 2017) und Selbstorganisation ist die Grundidee

7.1  Strategische Aufgaben

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eher die, dass die Entscheidungen möglichst von den jeweils kompetentesten Personen oder Personengruppen gefällt werden. Im Idealfall dreht sich die hierarchische Pyramide um, und die Drähte laufen zu den Personen an der Front, weil diese am besten wissen, was sich die Kunden wünschen (Denning, 2017). Bei einer sehr dezentralen oder selbstorganisierten Firma werden also möglichst viele operative Entscheidungen auf den untersten Ebenen getroffen. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass Aufgabe, Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen vollständig abgegeben werden (Empowerment). Gemäß Externbrink und Dormann (2015) sollten Entscheidungen analog der evidenzbasierten Medizin auf der Basis der Integration 1) generalisierbarer und 2) lokaler Evidenz getroffen werden. Dabei meint ersteres systematisch gewonnene und wissenschaftlich fundierte Informationen und Daten. Letzteres umfasst Informationen und Fakten, die infolge einer methodisch durchdachten Anwendung in der konkreten Praxis gewonnen werden (z. B. medizinische Forschung versus klinische Praxis). So werden beispielsweise in diesem Buch neue wissenschaftliche Erkenntnisse (generalisierbare Evidenz) mit Erfahrungen aus der Anwendung wissenschaftlich fundierter und praktisch erprobter Assessment-­Methoden verknüpft (lokale Evidenz). In agilen Organisationen werden teilweise neue Entscheidungspraktiken eingesetzt. Diese sollen sicherstellen, dass die Entscheidungen sowohl ausreichend breit abgestützt sind als auch innerhalb vernünftiger Frist getroffen werden. Zu nennen ist zum einen die sogenannte „Konsententscheidung“, die ursprünglich im Rahmen der „Soziokratie“ (vgl. soziokratie.org) entwickelt worden ist. Im Unterschied zum Konsensentscheid müssen nicht alle Beteiligten mit der Entscheidung einverstanden sein, es reicht, wenn niemand schwerwiegende Bedenken dagegen äußert. Mit diesem Ansatz sollen endlose Grundsatzdiskussionen vermieden werden. Eine zweite Variante ist das systemische Konsentieren (z. B. Gresser & Freisler, 2018). Dabei beurteilt eine Gruppe von Personen ihren jeweiligen Widerstand gegen verschiedene zur Wahl gestellten Optionen sowie gegen die Alternative, zu keiner Entscheidung zu kommen. Am Ende gewinnt die Lösung, die den geringsten Widerstand hervorruft, und nicht jene, die am meisten Zustimmung erfährt. Bei sehr heiklen Entscheidungen kann diese Vorgehensweise durchaus Sinn machen. In Scrum-Teams wird mittels Planning Poker der Aufwand einer bestimmten Aufgabe abgeschätzt. Die Entscheidung hinsichtlich des notwendigen Ressourcenbedarfs erfolgt auf der Basis der gemittelten Einschätzungen der Beteiligten. Offenbar zeigt die Praxis, dass geübte Scrum-Teams den Aufwand deutlich genauer einschätzen können als eine traditionelle Planungsabteilung. Zusätzlich beklagt sich bei der späteren Umsetzung kaum jemand, und die Motivation erhöht sich, es innerhalb der geschätzten Zeit zu schaffen. Es existiert eine ganze Reihe von weiteren Entscheidungswerkzeugen, deren Einsatz bei einer bestimmen Problemstellung eventuell Sinn machen kann (z. B. Oesterreich & Schröder, 2020). Hinsichtlich individueller Entschlusskraft zeigt die Assessment-Praxis große Unterschiede zwischen den Teilnehmenden. Das eine Extrem bilden Personen, die es im Grunde möglichst vermeiden, eine Entscheidung zu treffen. Sie neigen dazu, lange hin und her zu überlegen, und fühlen sich wohler, wenn sie einer übergeordneten Instanz gute Entscheidungsgrundlagen liefern können. Um selbst eine Entscheidung zu treffen, benötigen sie

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viele bestätigende Signale aus dem Umfeld. Interessanterweise wirken diese Personen oft wenig greifbar, weil sie sich generell nicht festlegen wollen. Das andere Extrem markieren die kurzentschlossenen Haudegen, die nicht lange nachdenken, sondern sofort loslegen wollen. Dass Schnellschüsse bei Entscheidungen mit großer Tragweite auch empfindlich ins Auge gehen können, liegt auf der Hand. Weder das eine noch das andere ist immer richtig. Je nach Dringlichkeit und Risiko empfiehlt sich entweder ein überlegtes oder entschlossenes Vorgehen. Innovation Innovation, neue Technologien oder Produkte gab es ebenso schon immer wie fundamentale Veränderungen in der gesamten Wirtschaft (z. B. Industrialisierung, vgl. Kondratieff-­ Zyklus). Gerade befindet sich die Welt in einem solchen Umbruch, wobei die Umstände heute ungleich komplexer sind, weil mittlerweile die ganze Welt vernetzt ist. Die Bedeutung von Innovationen wurde speziell durch den Bestseller „The Innovator’s Dilemma“ von Christensen (1997) und den von ihm geprägten Begriff der Disruption stärker in den Mittelpunkt gerückt. Viele der aktuell größten Unternehmen der Welt existierten zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buchs noch nicht oder waren höchstens Insidern bekannt. Während einige bekannte Namen wie Nokia oder Blackberry innerhalb kurzer Zeit fast völlig verschwanden, wachsen Internetgiganten wie Amazon oder Google in nie gekanntem Ausmaß. Wieder andere Unternehmen konnten sich mehrfach neu erfinden und sich durch ihre Anpassungsfähigkeit auf dem Markt behaupten (u. a. Netflix). Nur nicht stehen bleiben, scheint das Gebot der Stunde zu sein. Die Digitalisierung hat schon ganze Branchen umgewälzt (z. B. Uber), und niemand weiß, wo die nächste Disruption auftritt. Viele engagierte Jungunternehmer hoffen, das nächste Einhorn aufzubauen und damit das große Geld zu machen. Die traditionellen Firmen sind auf alle Fälle gezwungen, ihre analogen Geschäftstätigkeiten zu digitalisieren und möglichst neue Geschäftsideen zu entwickeln. Im Hinblick auf die Dienstleistungspalette der Zukunft setzen Unternehmen wie Amazon oder Google enorme Mittel ein, um neue „Ökosysteme“ zu erkunden. Trotz des harten Wettbewerbs hat sich mit der Digitalisierung auch die Wahrnehmung des Marktes verändert. Sie ist kooperativer und friedlicher geworden. Früher wurde die eigene Firma als eine Art Festung betrachtet, die unter allen Umständen gegenüber möglichen Eindringlingen (Mitbewerber) verteidigt werden muss (z. B. das 5-Kräfte-Modell von Porter, 1983) Innovation fand dabei eher im Verborgenen und im Kleinen statt („Closed Innovation“). Unter größter Geheimhaltung waren spezialisierte Personen oder Teams dafür verantwortlich, etwa neue Produkte zu entwickeln. Nur wenige Unternehmen maßen der Innovation eine zentrale Bedeutung bei (z. B. 3M). Teilweise wurde gar auf eine Kommerzialisierung bestimmter Innovationen verzichtet, weil sie nicht zum Produktportfolio passten oder weil befürchtet wurde, das neue Produkt könnte in Konkurrenz zum bereits bestehenden Angebot treten. Moderne Unternehmensverantwortliche betrachten ihr Unternehmen als Teil eines größeren Ökosystems, in dem sich jede Menge potenzieller Partner tummeln. Statt rigoroser Abgrenzung herrscht heute ein Verständnis von Innovation als übergreifende Kooperation vor. Bei „Open Innovation“ wird die Umwelt (z. B. potenzielle Kunden) von Be-

7.1  Strategische Aufgaben

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ginn an in den Innovationsprozess einbezogen und bereitwillig Wissen ausgetauscht. Vermutlich idealisierend wird das Silicon Valley zuweilen als einziger großer Effectuation-­ Marktplatz beschrieben. Auf der strategischen Ebene existiert mit der „Blue-Ocean“-Strategie von Kim und Mauborgne (2016) ein Ansatz, um die Entstehung von Innovationen zu fördern. Die Autoren meinen damit den Aufbruch in neue, unbekannte Märkte, die sie blaue Ozeane nennen. Das Gegenstück bilden die roten Ozeane, d. h. Märkte, in denen ein erbitterter Wettbewerb stattfindet und in denen gemäß ihren Vorstellungen alle davon überzeugt sind, sich nur entweder durch die Servicequalität oder den Preis von der Konkurrenz abheben zu können. Die Blue-­OceanStrategie soll einen alternativen dritten Weg anbieten. Konkret geht es darum, neue Märkte zu schaffen, indem man entweder 1) ein bahnbrechendes Produkt entwickelt, das die bestehenden Konkurrenzprodukte verdrängt, oder 2) ein bislang ungelöstes Problem erkennt und einer Lösung zuführt oder 3) ein bekanntes Problem auf neuartige Weise löst. Als Beispiel für letzteren Punkt nennen die Autoren die Erfindung der Heißluft-Fritteuse, welche die konventionellen Produkte verdrängt hat. Als eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen BlueOcean-Shift nennen die Autoren einen bestimmten Mindset, der darauf abzielt, sich nicht in den bestehenden Bedingungen aufzureiben, sondern Konventionen und Vorannahmen zu hinterfragen, um neue Wege zu gehen. Neben einer Methodenbox aus verschiedenen Planungsinstrumenten wird als dritter Pfeiler eine Kultur der Menschenorientierung als wichtig herausgestellt. Durch Einbindung (Partizipation), Transparenz und genaue Erklärung des eigenen Vorgehens seitens der Geschäftsleitung sollen die Menschen von Anfang an auf den Weg mitgenommen werden. Nach der definitiven Wahl der zu verfolgenden Idee wird als Kick-off eine „Blue-Ocean-­Messe“ abgehalten, bei der alle von den Neuerungen betroffenen Mitarbeitenden und bei Bedarf auch Lieferanten oder Kunden eingeladen sind. Für den einen oder anderen etwas esoterisch anmuten mag die Theorie U von Scharmer, einem MIT-Professor (Scharmer & Käufer, 2017). Um die großen Probleme der Menschheit zu retten, reicht es nicht, Daten aus der Vergangenheit zu analysieren oder auf spektakuläre Lösungen zu hoffen. Stattdessen gilt es, die Zukunft zu erspüren, indem man das bisherige Denken, Fühlen und Wollen überwindet und sich für die Meinungen anderer öffnet. Die Theorie U ist ein mehrstufiger Prozess, bei dem es zuerst darum geht, sich von der Vergangenheit zu lösen und in das sogenannte „Presencing“ einzutauchen. Der Begriff vereint „Presence“ (Anwesenheit) und „Sensing“ (Spüren), und der Zustand erlaubt es, die entstehende Zukunft frühzeitig zu erfassen. Anschließend verdichten sich die Lösungsansätze und können erprobt und umgesetzt werden. Inwieweit dieser Prozess erfolgreich ist, ist schwer zu beurteilen. Eine konkrete Anwendung besteht im Wissensmanagement, indem man Räume schafft, in denen sich unterschiedliche Personen mit verschiedenen Hintergründen zu wichtigen Themen austauschen können und sollen. Der Weg vom „Opfer“ zum Gestalter erfolgt Scharmer zufolge in den folgenden 5 Schritten: (1) Gemeinsame Intentionsbildung: Achtsamkeit und Hinhören bei sich und anderen; den Dialog suchen, sich mit unterschiedlichen Personen und Gruppen austauschen. (2) Gemeinsame Wahrnehmung: Kleines offenes und neugieriges Team; Bereitschaft, Denken und Emotionen zu verändern; sich für Neues und unkonventionelle Ansätze öffnen.

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(3) Gemeinsame Willensbildung: Überwinden der Widerstände und des Bedürfnisses, am Bisherigen festzuhalten; Aufgeben vertrauter Denk- und Handlungsmuster. (4) Gemeinsames Erproben: Erstellen von experimentellen Prototypen; Sammeln von Feedback. (5) Gemeinsames Gestalten: Die neue Idee wird in die Welt gebracht. Im Rahmen seines „House of Innovation“ beschreibt Guldin (2012) Innovationsmanagement als systematischen, sich ständig wiederholenden Prozess. Grundvoraussetzung, damit dieser gelingen kann, ist eine feste Verankerung von Innovation in der Führungs­ etage sowie in der Strategie und der Kultur des Unternehmens. Die Umsetzung basiert auf den 4  Säulen 1)  angemessene organisatorische Strukturen (aktiv, ganze Organisation), 2) beständiges Screenen von Märkten, 3) praktische, kontrollierte Erprobung in vitro und in vivo sowie 4) faktische Markeinführung und -penetration. Für dieses Buch wichtig ist das vom genannten Autor beschriebene kreativitätsfördernde Führungsverhalten: (1) Förderung kreativer Potenziale Einzelner und von Teams, (2) Betonung der Bedeutung und Belohnung von Innovation, (3) Vereinbarung anspruchsvoller Zielsetzungen, (4) Sinnstiftung/Ausrichtung auf gemeinsame Ziele, (5) Förderung von Eigenständigkeit inklusive Zuspruch, (6) Motivierende und inspirierende Gesprächsführung, (7) Faktische Durchsetzung innovativer Ideen, (8) Beschaffung von Ressourcen, (9) Geeignetes Projektmanagement, (10) Vorbildwirkung Dazu passen natürlich die bereits vorgestellten Verhaltensweisen bei „Explore“ im Rahmen der beidhändigen Führung (Ambidextrie): begleiten, unterstützen; coachen, zum Ausprobieren ermutigen, ermöglichen, Eigenverantwortung fördern, kritisch herausfordern, zum Lernen anregen. Wie erwähnt, wird heute auch von den einzelnen Führungskräften zunehmend erwartet, dass sie beidhändig führen können und beispielsweise in der Lage sind, ein oder mehrere umsetzungsorientierte Teams („Exploit“) und gleichzeitig innovationsorientierte oder andere agile, selbstorganisierte Teams zu führen („Explore“). Bei Exploit geht es darum, bestehende Geschäfte ertragreicher und effizienter zu gestalten, während sich Explore auf Innovation und den Aufbau neuer Geschäftsfelder bezieht. Dieser Spagat ist stellt eine grosse Herausforderung dar, weil man im Grunde zwei unterschiedliche Führungstypen verkörpern muss. Die Assessment-Praxis lässt vermuten, dass dies für die meisten Führungskräfte – zumindest ohne professionelle Begleitung – außerordentlich anspruchsvoll ist. Momentan bevorzugen die meisten einen bestimmten, nicht selten auf eher intuitive Weise angeeigneten Führungsstil, der besser zum einen oder anderen passt. Außerdem ist es nicht selten so, dass sie sich nur in der einen oder anderen Umgebung wohlfühlen. Klar ist, dass eine stark managementorientierte, transaktionale

7.1  Strategische Aufgaben

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Vorgehensweise innovationsseitig kaum Erfolg verspricht, sondern eher hemmend wirken dürfte. Umgekehrt kann eine transformationale Führungskraft durchaus gewisse Elemente auf eine produktionsorientierte Führungsaufgabe übertragen (z. B. individuelle Begleitung). Im Minimum reicht wahrscheinlich eine überzeugende Kombination aus Management und Coaching mit gegensätzlicher Gewichtung in den beiden Feldern. Hinsichtlich notwendiger Führungskompetenzen ergeben sich durch die Ambidextrie keine neuen Erkenntnisse. Sie unterstreicht vielmehr den Anspruch, im Grunde sämtliche Führungstypen beherrschen und situativ stimmig einsetzen zu können. Vor allem bei hoch standardisierten Arbeiten soll das transaktionale Führungsverständnis geeigneter sein. Bei Tätigkeiten, die eigentlich niemand freiwillig machen möchte, trifft dies sicherlich auch zu. Ist dagegen Innovation gefragt, ist agile und transformationale Führung gefragt. Weil eine Führungskraft unter Umständen für unterschiedliche Bereiche zuständig ist oder verschiedene Teams leitet, muss sie theoretisch die ganze Klaviatur an möglichen Führungsstilen spielen können (vgl. Kap. 8). Transformation steuern Im Rahmen der aktuellen digitalen Revolution sehen sich die meisten Organisationen mit einem neuen, nur teilweise vorhersehbaren und ungekannt großen Veränderungsbedarf konfrontiert (vgl. Kap.  6.2 Digitalisierung und Führung). Veränderungen voranzutreiben resp. zu managen ist unter dem Begriff „Change Management“ schon länger bekannt. Ein älterer Ansatz stammt von Lewin (1963) und umfasst die 3 Phasen 1) Auflockern („Unfreezing“), 2) Hinüberleiten („Moving“) und 3) Verfestigen („Freezing“). In den letzten Jahren hat vor allem das 8-Phasen-Modell von Kotter (2015) eine große Verbreitung gefunden. Unter dem Begriff „Accelerate“ schlägt dieser vor, das bestehende Management der Kernaufgaben durch eine Art internes Netzwerk zur Einführung von Innovationen zu ergänzen. Während früher eine Veränderung oft mittels „Bombenwurfstrategie“ Knall auf Fall und top-down durchgesetzt wurde, sieht sein Konzept eine Beteiligung von 5–10 % der Belegschaft vor, wobei die Teilnahme freiwillig ist. Bei der Umsetzung des Change-Prozesses werden die folgenden Phasen („Beschleuniger“ durchlaufen. (1) Phase 1/Beschleuniger 1: Dringlichkeit schaffen: Bedrohung abwehren oder Chance nutzen. (2) Phase 2/Beschleuniger 2: Führungsnetzwerk zusammenstellen (motivierte Mitarbeitende aus verschiedenen Hierarchieebenen). (3) Phase 3/Beschleuniger 3: Visionen und Initiativen ausarbeiten (gemeinsame Change-­ Vision). (4) Phase 4/Beschleuniger 4: Freiwillige finden (5–10 % der Belegschaft). (5) Phase 5/Beschleuniger 5: Barrieren abbauen (respektvolle Kommunikation). (6) Phase 6/Beschleuniger 6: Erfolge feiern. (7) Phase 7/Beschleuniger 7: Gas geben. (8) Phase 8/Beschleuniger 8: Wandel etablieren.

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Im Vordergrund stehen bei den traditionellen Konzepten einmalige fundamentale Veränderungen, die mehrheitlich von oben gesteuert werden. Im Unterschied dazu stehen beim japanischen Kaizen kontinuierliche Veränderungsprozesse (KVP) im Vordergrund. Dieser evolutionäre Ansatz konzentriert sich auf die ständige Verbesserung des Bestehenden und erfolgt stark bottom-up. Einen Schritt weiter geht die Idee der sogenannten lernenden Organisation, die sich mittels Lernprozessen selbstständig an äußere Veränderungen anpassen soll. Gemäß Senge (2011) bedarf es dazu des Erwerbs der folgenden 5 Fertigkeiten: 1) „personal Mastery“ (persönliche Entwicklung), 2) mentale Modelle (Reflexion von Lernprozessen), 3) gemeinsame Vision, 4) Lernen im Team und 5) Denken in Systemen. Werden diese 5 Disziplinen beherrscht, soll ein laufender, über KVP hinausgehender organisationaler Lernprozess stattfinden. Einerseits wirken diese Aspekte nach wie vor aktuell und lassen sich gut mit dem Konzept einer agilen Organisation vereinbaren. Andererseits erscheinen die agilen Konzepte handfester und insofern leichter umsetzbar (z. B. schnelle iterative Lernprozesse). Der aktuell stattfindende agile Wandel stellt eher eine soziale Innovation dar, weshalb bezweifelt werden darf, dass die bisher vorherrschenden technischen Ansätze von Change Management dafür geeignet sind (Kollischan, 2016). Zuweilen werden agile Arbeitsformen zunächst anhand kleinerer Pilotprojekte eingeführt. Eine spezifisch für die Einführung agiler Arbeitsmethoden im Unternehmen entwickelter Ansatz ist das Lean Change Management (Little, 2014). Dieses wendet die agilen Prinzipen auf den Veränderungsprozess an. Grundsätzlich geht es nicht darum, einen großen Wurf zu produzieren, sondern in rascher Folge kleine Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen, wobei der folgende Prozess durchlaufen wird: 1)  Nach einer vertieften Beschäftigung mit dem Ist-Zustand („Insights“) werden 2) zu einer Fragestellung verschiedenen Optionen entwickelt und kategorisiert. 3) „Experiment“ meint die probeweise Einführung einer oder mehrerer ausgewählter Maßnahmen. Dieser Schritt „Experiment“ folgt einem eigenen Subzyklus, wobei die Betroffenen einbezogen werden. Die spätere Analyse der Auswirkungen auf das System kreiert neue „Insights“ und damit einen nächsten Startpunkt für den nächsten Durchlauf. Selbstverständlich wird nicht an allen Maßnahmen strikt festgehalten, sondern nur an denjenigen, die positive Effekte entfalten. Ein zentrales Thema bei Transformationsprozessen resp. im Change Management sind die Reaktionen der Beschäftigten, insbesondere derjenigen, die von den Veränderungen unmittelbar betroffen sind. Im Fokus steht der sogenannte Veränderungswiderstand, wobei einige Assessment-Teilnehmende annehmen, dass viele Menschen schlicht Mühe mit Veränderungen bekunden. Es liegt auf der Hand, dass eher mit Widerstand zu rechnen ist, wenn grundlegende Veränderungen von oben, und womöglich ohne Erklärungen oder flankierende Maßnahmen, aufoktroyiert werden. So erstaunt es nicht, dass das Schlagwort „Betroffene zu Beteiligten machen“ den meisten Führungskräften in den Assessments bekannt ist und auffallend häufig erwähnt wird. Ebenfalls von Bedeutung ist der Zeitfaktor. Dass man eine Organisation resp. deren Belegschaft mit einem übersteigerten Veränderungstempo überfordern kann, wissen die meisten. Neben dem Entwickeln einer ansprechenden Vision, Beteiligung und einer transparenten Kommunikation wird von den Führungskräften bei der Umsetzung von Change-­

7.1  Strategische Aufgaben

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Projekten vor allem Empathie und Gesprächsbereitschaft erwartet. Bridges und Bridges (2018) streichen die Bedeutung zwischenmenschlicher Aspekte besonders hervor. Ihnen zufolge reagieren Menschen vor allem auf mögliche und erwartete Verluste und Abschiede (eine Art „Trauerreaktion“) und weniger auf die Veränderung selbst. Sie erwarten von den Führungskräften eine hohe Bewusstheit und jede Menge Verständnis, denn eine Veränderung bedeutet, etwas Bekanntes loszulassen und etwas Neues anzufangen („eine neue Identität zu entwickeln“). Dazwischen gibt es eine Übergangsphase („neutrale Zone“), die nicht zuletzt durch ein Auf und Ab, Rückschläge und Widerstand gekennzeichnet ist. Zu Beginn des Prozesses sollten die Führungskräfte darauf achten, die Veränderung nicht zu lange hinauszuzögern, und den Mitarbeitenden klarmachen, worum es dabei geht. Entscheidend sind Verbindlichkeit, Transparenz, ein gesunder Realismus sowie eine klare Linie und Kongruenz im Verhalten. Den Mitarbeitenden soll verständnisvoll begegnet werden, aber es sollen ihnen keine falschen Versprechungen gemacht werden. Ein typischer Anfängerfehler beim Change Management besteht darin, dass das Bisherige abgewertet und als wertlos dargestellt wird. Aufgrund der Unsicherheit der Situation und der Sensibilität der potenziell Betroffenen können auch vermeintlich unverfängliche Aussagen rasch als abwertend wahrgenommen und entsprechend kolportiert werden. Man ist also gut beraten, die Historie erkennbar wertzuschätzen und zu betonen, dass diese die Basis der Zukunft darstellt, diese aber auch kleinere oder größere Änderungen und Neuheiten beinhalten muss. In der Übergangsphase sind persönliche Einzelgespräche besonders wichtig. Diese sollten gemäß Bridges & Bridges die Themenkreise Sinn (der Veränderung), Bild (der Zukunft), Plan (Schritt für Schritt) und Mitwirkung (Rolle der Einzelnen) in den Mittelpunkt stellen. Erklärt man den Sinn der Aufgaben und die geplanten Schritte, zeigt ein plastisches Bild der Zukunft auf und lässt die Mitarbeitenden am Wandel teilhaben, hat man gute Aussichten, viele dafür zu gewinnen. Die Assessment-Praxis zeigt, dass die meisten Führungskräfte praktische – nicht selten leidvolle – Erfahrung mit Veränderungsprozessen aufweisen und gute theoretische Kenntnisse besitzen, worauf es dabei ankommt (z. B. Einbezug der Betroffenen, klare Kommunikation und Umgang mit Widerstand). Unterschiede zwischen den Kandidaten zeigen sich erstens hinsichtlich der persönlichen Veränderungsbereitschaft. Es gibt einige initiative Personen, die selbst gern Veränderungen anstoßen, während andere eher skeptisch sind. Oft erklären diese Kandidaten, dass sie eigentlich schon veränderungsoffen seien, aber Veränderungen der Veränderung willen ablehnen würden. Zweitens wird der Gesprächsbedarf aufgrund der möglichen emotionalen Betroffenheit sehr verschieden eingeschätzt. Sehr sachliche Personen neigen bisweilen dazu, anzunehmen, dass es ausreicht, wenn man den Beschäftigten einmal den Sinn der Übung erklärt. Dies auf der Basis der expliziten oder impliziten Annahme, dass Verständnis allein von der intellektuellen Kapazität und der Bereitschaft, Einsicht zu zeigen, abhängt. Gleichzeitig wissen viele, dass Veränderungen teilweise tiefgreifende kulturelle Anpassungen sowie eine Veränderung des „Mindset“ erfordern. Dass dies deutlich mehr Zeit benötigt, ist den meisten ebenfalls bewusst. Diesen Umstand erklärt die Mehrzahl der Kandidaten mit der Macht der Gewohnheit. Dass „Extinktionslernen“ (das heißt Verlernen, Hoffmann, 2019) notwendig und besonders anspruchsvoll ist, wissen nur die wenigsten. Bei der Umsetzung der Change-­

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Vorhaben kommen  – neben den methodischen Aspekten  – vor allem der individuellen Gesprächsbereitschaft und -kompetenz, d. h. den kommunikativen Fähigkeiten sowie dem Vermögen, die Perspektive zu wechseln, eine Schlüsselrolle zu. Sich mehrfach und geduldig schwierigen Gesprächen zu stellen, ist nicht jedermanns Sache. Die sozialen Kompetenzen wurden bereits besprochen, spezifische neue Aspekte ergeben sich nicht. Auf der persönlichen Ebene gilt, dass die Führungskraft – ähnlich wie in einer Krise – vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät und sehr genau beobachtet wird. Konsistenz und Klarheit schaffen Orientierung und erscheinen besonders zentral zu sein. Kundenzentrierung Es ist logisch – und wird auch von den meisten Assessment-Kandidaten erwähnt – dass die Kunden unter den externen Stakeholdern einen besonderen Stellenwert einnehmen. Peter Drucker (1954) äußerte schon Mitte des letzten Jahrhunderts die These, wonach es das oberste Ziel der Leistungserbringung sei, den Kunden gute Produkte anzubieten. Während der Shareholder-Value-Phase ist diese Denkweise zeitweilig in den Hintergrund gerückt, denn das kurzfristige Ergebnis wird nicht an erster Stelle mit einem herausragenden Dienst an den Kunden gesteigert. Dass sich ein starker Kundenfokus im Sinne von „Kundenkapitalismus“ auch für die Aktionäre auszahlt, zeigt Martin (2010) am Beispiel der beiden Großkonzerne Johnson & Johnson und Procter & Gamble auf. Seiner Ansicht nach schreiben diese beiden Unternehmen auch deshalb mehr oder weniger seit Langem konstant überdurchschnittliche Zahlen, weil sie die Kunden in ihren Unternehmensleitbildern explizit an die oberste Stelle gesetzt haben und die entsprechende Philosophie auch konsequent umsetzen. Untersuchungen von Bain & Company (Markey, 2020) bestätigen dessen Einschätzung: Unternehmen mit besonders loyaler Kundschaft steigerten ihren Umsatz mehr als doppelt so schnell wie die Konkurrenz. Über einen Zeitraum von 10 Jahren war zudem die Aktionärsrendite 2- bis 5-mal höher als der Branchendurchschnitt. Nachhaltigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem Kundenbindung und zahlt sich langfristig aus. Besonders wertvoll sind Kunden, die von einem bestimmten Unternehmen begeistert sind und deshalb selbstständig als eine Art Markenbotschafter fungieren. Aktuell gehört Kundenzentrierung („Customer Centricity“) zu den wichtigsten Buzzwords im Management. Damit gemeint ist, dass möglichst jeder Prozess auf die Kunden und deren Wünsche ausgerichtet wird. Konsequent umgesetzt wird diese Optik vor allem im Rahmen der agilen Produktentwicklung, bei der die Kunden bei der Entstehung des Produkts unmittelbar beteiligt sind. Ebenfalls zentral ist der Kundenwert („Customer Value“). Markey schlägt vor, diesen genau zu messen und ihn mittels der folgenden 4 Strategien sukzessive zu steigern: (1) Werkzeuge und Prozesse zur Messung des Kundenwerts etablieren: Einsatz neuer Bilanzierungsinstrumente, um den finanziellen Mehrwert der Loyalität der Kunden zu messen. Analysieren des Einflusses von Produktänderungen und Werbemaßnahmen.

7.1  Strategische Aufgaben

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(2) Kombination von Design Thinking und Technologien zur Kundenbindung: Beim Design Thinking steht die Kundenperspektive im Mittelpunkt. Außerdem wird regelmäßig Feedback eingeholt. Mittels digitaler Systeme und künstlicher Intelligenz wird die Kundenbindung gefördert. (3) Die ganze Organisation auf die Kundenbedürfnisse ausrichten: z. B. Einsatz von agilen, funktionsübergreifenden Teams, die sich um ein bestimmtes Kundenbedürfnis kümmern. Die Zufriedenheit der Kunden steht im Zentrum sämtlicher Aktivitäten. (4) Nach Loyalitätsführerschaft streben: Danach streben, die Beziehungen zu den Kunden laufend zu verbessern. Alle Prozesse und Entscheidungskriterien danach ausrichten. Einsatz digitaler Kanäle, um die Kunden während der gesamten Kundenreise zu begleiten. Bei aller Kundenorientierung ist auch zu beachten, dass nicht alle Kunden dem Unternehmen einen ähnlich hohen Mehrwert bringen, weshalb es sich lohnt, die Kunden differenziert zu betrachten und unterschiedlich intensiv zu betreuen. In der Assessment-Praxis zeigt sich, dass die meisten Kandidaten für die höheren Funktionen oft eine abstrahierende Sicht des Kundenportfolios mitbringen. Sie kennen die relevanten Kundensegmente und deren jeweilige Beiträge zum Unternehmenserfolg. Ebenfalls gut vertraut sind vielen die Geschäftsmodelle und die Kanäle, mit denen die Kunden angesprochen werden. Deutlich seltener zu beobachten ist das Vermögen, sich in einen prototypischen Vertreter einer Kundenkategorie („Persona“) hineinzuversetzen. Ähnliches gilt für die emotionalen Anteile bei der „Customer Experience“ und „Customer Journey“. Sehr rational und prozessorientiert denkende Personen geraten hier oft an ihre Grenzen. Auf den unteren Hierarchieebenen herrscht mehrheitlich eine operative Sicht vor. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie einzelne Kunden oder Kundengruppen mit ausgesuchten Maßnahmen oder zusätzlichen Serviceleistungen begeistert werden können. Manager mit eigener Fronterfahrung vermögen oft Beispiele zu nennen, bei denen sie sich persönlich und über ihren Kernauftrag hinaus für einen Kunden eingesetzt haben. Insgesamt lässt die Praxiserfahrung vermuten, dass sich die Menschen hinsichtlich ihrer Serviceorientierung deutlich unterscheiden, wobei diese Eigenschaft natürlich auch vergleichsweise einfach erlernbar ist (z. B. Hotellerie). Zweifellos gibt es einen Anteil, der eher in der Persönlichkeit verankert ist. So gibt es nicht wenige Menschen, denen es Freude bereitet, sich in den Dienst eines Unternehmens oder Kunden zu stellen. Für diese ist es besonders motivierend, wenn sie eine positive Resonanz auf ihre Bestrebungen erhalten. Lohnenswert ist auch der Blick auf das Selbstverständnis hinsichtlich der Gestaltung von persönlichen Kundenbeziehungen oder Partnerschaften mit anderen Stakeholder-­ Gruppen. Das Bewusstsein um die Bedeutung vertrauensvoller, auf Langfristigkeit ausgelegter Beziehungen ist den letzten Jahren laufend gestiegen. Um das erwünschte Vertrauen aufzubauen, stellen einige Personen die Werteebene in den Mittelpunkt. Sie versuchen, sich hauptsächlich als verlässlicher Partner zu positionieren, indem sie sämtliche kundenbezogenen Prozesse mit größter Professionalität bewältigen und etwaige Abmachungen konsequent einhalten. Andere Personen setzen stärker auf den persönlichen Kontakt und

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7 Führungsaufgaben

streben danach, zwischenmenschliche Nähe herzustellen. Sehr verschieden ist auch die Bereitschaft, bei Bedarf die „Extrameile“ für die Kunden zu gehen. Bei sehr serviceorientierten Persönlichkeiten kann auch eine Überausprägung im Sinne eines Helfermotivs vorliegen. Wer ständig zu viel Zeit und Energie für einzelne Kunden aufwendet, handelt unter Umständen nicht mehr im Interesse des Unternehmens. Gleichzeitig ist unternehmensseitig auch darauf zu achten, dass die eigenen Vorgaben und Kennzahlen nicht das Gegenteil bewirken (Gresser & Riedel, 2016). Ist beispielsweise in einem Call Center die gewünschte Beratungsqualität innerhalb der gleichzeitig geltenden Vorgaben für die Beratungsdauer kaum zu leisten, ist bei den Beratenden mit Frustrationen und Demotivation zu rechnen. Viele werden entweder die Situation verlassen oder Dienst nach Vorschrift machen. Die Kunden spüren das (z. B. ständig wechselnde Ansprechpersonen, unhöflicher Umgang). Insofern sollte das Management sich regelmäßig persönlich einen Überblick über die Situation an der Front verschaffen. In einigen Unternehmen (z. B. IKEA) ist es sogar üblich, da regelmäßig mitzuarbeiten. Schüller (2008) beschäftigt sich mit der Rolle, die die Führung bei der Gestaltung einer kundenzentrierten Unternehmenskultur spielt. In ihren Überlegungen nimmt der Umgang mit den Mitarbeitenden einen zentralen Stellenwert ein. Im „lachenden Unternehmen“ sind die Mitarbeiter zufrieden und loyal, was sich auch in ihrem Umgang mit den Kunden widerspiegelt. Dass ein guter Kundenservice auf der zwischenmenschlichen Ebene auf der Führungsetage anfängt und das Kundenverhalten der Mitarbeitenden prägt, ist ein Aspekt, den die Teilnehmenden in den Assessments immer wieder aufbringen. Dass auch bei der Steigerung der Serviceorientierung die Vorbildwirkung eine zentrale Rolle spielt, ist den meisten klar. Die sonstigen typischerweise erwähnten Maßnahmen gehen jedoch selten über spezifische Trainings zur Verbesserung der Beratungsqualität oder das Bereitstellen nützlicher Tools für die Frontmitarbeitenden hinaus. Strategische Kompetenz Um die erwähnten strategischen Aufgaben zielführend wahrzunehmen, ist ein Mindestmaß an strategischer Kompetenz erforderlich. Diese umfasst – neben der Kenntnis und dem Verständnis nützlicher strategischer Methoden – eine Reihe intellektueller Fähigkeiten sowie verschiedene persönliche und soziale Kompetenzen. Zu denken ist etwa an den Mut, sich für eine eigene Position oder Vision einzusetzen, die Bereitschaft, einen gewissen strategischen Führungs- oder Mitwirkungsanspruch zum Ausdruck zu bringen, eine angemessene Entschlusskraft sowie kommunikative Fähigkeiten (z. B. Vermögen, eigene Ideen begeisternd zu vermitteln) sowie eine gewisse Konflikt- und Kritikfähigkeit. Wie erwähnt, zeigt die Assessment-Praxis, dass bereits der zielführende Einsatz gängiger strategischer Methoden (z. B. SWOT-Analyse) keine Selbstverständlichkeit darstellt. Nicht wenige Teilnehmende geraten an Grenzen, sobald sie ihre Komfortzone verlassen müssen, um beispielsweise bekannte Konzepte auf eine neue Situation anzuwenden. Unter den bereits diskutierten intellektuellen Fähigkeiten stehen das ganzheitlich vernetzte Verständnis („Big Picture“), das Vermögen, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, das

7.1  Strategische Aufgaben

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Denken in Szenarien und das Setzen der richtigen Prioritäten im Zentrum. Voraussetzung ist, dass man die schiere Menge an verfügbaren Informationen und Daten nicht nur überhaupt verstehen und interpretieren, sondern auch sinnvoll verdichten kann. Dabei geht es darum, die vorhandene Komplexität zu beherrschen und zielführend auf das Wesentliche reduzieren zu können. Um nicht oberflächlich zu bleiben, muss treffend abgeschätzt werden können, wann es geboten ist, mehr in die Tiefe zu gehen und etwa gewisse Detailaspekte zu berücksichtigen. Ein ausgeprägtes strategisches Denkvermögen macht aus einem Menschen noch keinen Vordenker. Dazu bedarf es auch der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich eine eigenständige und vorausschauende Meinung zu bilden und zu vertreten – dies unter Umständen auch auf der Basis unvollständiger Information oder Unsicherheiten hinsichtlich der weiteren Zukunft. Notwendig sind also ein gewisses, keinesfalls übersteigertes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das eigene Urteilsvermögen sowie eine überdurchschnittliche Ambiguitätstoleranz. Personen mit einem übersteigerten Glauben an ihre Fähigkeiten neigen zu Alleingängen oder unbedachten Schnellschüssen. Mangelt es an den erwähnten persönlichen Kompetenzen (v. a. fehlendes Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen), besteht oft die Tendenz, sich immer noch mehr Informationen beschaffen zu wollen und zu unentschlossen zu agieren. Um die gewünschte Wirkung zu entfalten, müssen die eigenen Vorstellungen überzeugend vermittelt werden. Dazu bedarf es zunächst guter kommunikativer Fähigkeiten im engeren Sinne, speziell die Fähigkeit, Inhalte adressatengerecht vermitteln zu können. Die Praxis zeigt, dass dies vielen Personen Mühe bereitet. Man verliert sich etwa in Details, spricht das Management nicht in deren Sprache an oder präsentiert schlicht unzusammenhängende oder unverständliche, womöglich sogar wirre Überlegungen. Letzteres lässt sich in der Praxis erstaunlich oft beobachten. Hinsichtlich Eigenmeinung ist die Bemerkung wichtig, dass damit keinesfalls Rechthaberei gemeint ist, vielmehr benötigt man als Stratege den Verstand und die Größe resp. die Bescheidenheit, zu erkennen, wann andere bessere Argumente oder Ideen haben, und die Bereitschaft, sich diesen im Sinne der Gesamtinteressen anzuschließen. Der Ausdruck von Persönlichkeitsformat stärkt die Wirkung, scheint auf dieser Ebene aber keine absolut notwendige Bedingung zu sein – wichtig ist, dass man ausstrahlt, dass man weiß, wovon man spricht, und sich bei den eigenen Meinungen und Standpunkten etwas überlegt hat. Erkennt jemand ungeahnte Möglichkeiten oder völlig neue Opportunitäten, ist diese Person möglicherweise ein Visionär oder eine Visionärin. In der Praxis trifft dies nur auf sehr wenige Kandidaten zu, weshalb es vermessen wäre, dies von jemandem zu erwarten. Es handelt sich eher um ein „Nice to have“. Exkurs: Effectuation und unternehmerisches Denken und Handeln Eine stark unternehmerische, eher aktionsorientierte als planerische Art von Strategieentwicklung und Entscheidungsfindung stellt der Effectuation-Ansatz dar. Wie erwähnt, ­können strategische Prozesse auch als Selbstzweck oder exzessiv betrieben werden. Einerseits nimmt die Bedeutung einiger Komponenten der skizzierten strategischen Kompetenz in einer dynamischeren Umwelt laufend zu (v. a. ganzheitlich vernetztes Verständnis, Am-

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biguitätstoleranz). Andererseits sind eine höhere Geschwindigkeit und eine ausgeprägte Umsetzungsorientierung erforderlich, damit man den Anschluss nicht verliert. Der Hauptunterschied einer eher unternehmerischen Herangehensweise zur klassischen strategischen Planung liegt im Umgang mit den sich bietenden Chancen und Risiken. Statt diese detailliert zu analysieren, um Fehler zu vermeiden, wird ein experimentelles Vorgehen vorgezogen. Sarasvathy (2008) untersuchte das Entscheidungsverhalten erfolgreicher Mehrfachunternehmer und entwickelte daraus den „Effectuation“-Ansatz. Dieser eignet sich, wenn die Umwelt ungewiss und die Zukunft unsicher ist. Während etwa der Bau einer neuen Fabrikhalle minutiös geplant und etwaige Probleme mehrheitlich vorhergesehen werden können, ist es weniger ratsam, große finanzielle Mittel einzusetzen, um aufs Geratewohl ein neues Produkt zu entwickeln und zu lancieren, weil nicht sicher ist, ob dieses auch ausreichend Käufer findet. Deshalb beginnt die Suche nach neuen Geschäftsfeldern bei Effectuation in Gesprächen mit Geschäftspartnern und möglichen Kunden, wobei ein ergebnisoffener Ansatz gewählt wird. Mit der Zeit bilden sich neue Potenziale durch Partnerschaften, und es kristallisiert sich unter Umständen eine konkrete Geschäftsidee heraus. Gemäß Faschingbauer (2010) sind die 4 folgenden Grundprinzipien zentral: (1) Mittelorientierung: Statt ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, geht man von den vorhandenen Mitteln aus. Dabei stellt man sich Fragen wie: „Welche Mittel stehen mir zur Verfügung? Was kann man damit anstellen? Wer könnte sich dafür interessieren?“ (2) Prinzip des leistbaren Verlusts: Zentral sind hier die Fragen, welcher Verlust schlimmstenfalls eintreten könnte und ob es einen Plan B gibt. Sind die potenziellen negativen Konsequenzen zu hoch, wird auf Plan B ausgewichen, ansonsten losgelegt. (3) Prinzip der Umstände und Zufälle: Der erwähnte Autor nennt hier das Beispiel des Gründers der Schuhmarke Geox. Dieser Schuh entstand, weil deren Erfinder Löcher in normale Schuhe bohrte, um diese zu lüften. Ausprobieren und die Augen offenhalten, ist also angesagt. (4) Vereinbarungen und Partnerschaften: Dabei geht es darum, Personen zu finden, die aus eigenem Interesse für eine verbindliche Zusammenarbeit gewonnen werden können und die bereit sind, in die zu findende Geschäftsidee zu investieren. In den Assessments deuten beispielsweise auch folgende Eigenschaften auf eine erhöhte unternehmerische Grundhaltung hin: Denken in Opportunitäten, aus Kundenbedürfnissen neue Produktideen ableiten, pragmatische Umsetzungsorientierung („Doer-Mentalität“), Eigeninitiative, Drive, Ausrichtung an den übergeordneten Zielsetzungen, Mut und Verantwortungsbereitschaft, Risikobereitschaft u. a. Im Kern handelt es sich bei unternehmerischen Personen um eigenmotivierte Selbstläufer, die sich mit Leidenschaft für eine Idee einsetzen, wobei sie sich durch Misserfolge nicht unterkriegen lassen, Ausdauer zeigen und den Glauben an sich nicht verlieren. Das andere Extrem wird durch diejenigen ­Personen gebildet, die sich am liebsten an festen Vorgaben orientieren, gern ganz genau wissen, was sie tun müssen, und bevorzugt Dienst nach Vorschrift machen. Viele Unternehmen sind aktuell auf dem Weg, agiler zu werden. Hier zentral ist unter anderem das

7.2 Führungstechnik

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Empowerment der Mitarbeitenden. Dabei wird den Beschäftigten weitreichende Verantwortung übertragen, wobei von ihnen gleichzeitig erwartet wird, dass sie diese auch wahrnehmen, mitdenken und eine unternehmerische Haltung zeigen. Im klassischen Maschinenparadigma war Mitsprache oder Mitdenken der Mitarbeitenden kein Thema, vielmehr zeichnete sich eine perfekt tayloristische Arbeitsumgebung gerade dadurch aus, dass das Denken und Planen der Führungsriege oblag, während die Mitarbeitenden nur die Pläne abzuarbeiten hatten. 100 Jahre Denkverbot hinterlässt im Mindset aller Beteiligten Spuren, sodass vielerorts die Erfahrung gemacht wird, dass sich die Mitarbeitenden  – und nicht selten auch die Führungskräfte  – nicht von heute auf morgen komplett umstellen können oder wollen. Ein typisches Learning, von dem viele modern und partizipativ denkende Führungskräfte in den Assessments berichten, besteht darin, dass sie irgendwann zur Kenntnis nehmen mussten, dass es nicht wenige Menschen vorziehen, wenn man ihnen genau sagt, was sie tun sollen resp. dass eben gar nicht alle wirklich mitdenken wollen. Mit dieser Tatsache muss man sich abfinden können.

7.2 Führungstechnik Spannend ist der Blick auf die Führungsaufgaben. Auf den Punkt gebracht geht es bei der Menschenführung um Fordern und Fördern. Letzteres wird hier hauptsächlich als transformative Aufgabe begriffen und deshalb später diskutiert. Der eher technische Teil im Sinne der Unterstützung der Mitarbeitenden hinsichtlich ihrer fachlichen Fortbildung durch externe Bildungsangebote wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Beim Fordern besteht der Hauptunterschied zu früher darin, dass die meisten Mitarbeitenden künftig kaum mehr von einer Führungsperson feste Aufgaben zugeteilt, zu Leistung angetrieben und bei der Umsetzung streng beaufsichtigt werden. Scrum-Teams beispielsweise erzielen in der Regel bessere Ergebnisse als traditionelle Teams, weil sie die Aufgaben selbst aufteilen. Da die Teammitglieder die Einsatzbereitschaft, den Arbeitsstil und die Kompetenzen ihrer Kollegen und Kolleginnen genau kennen, ist grundsätzlich mit einer faireren Verteilung der Arbeitslast zu rechnen. Aktivitäten wie Trittbrettfahren, Selbstmarketing oder die Fähigkeit, sich von unangenehmen Aufgaben zu drücken, werden in dieser Umgebung deutlich schwieriger resp. werden vom Team rasch abgestellt. Dasselbe gilt auch für Grüppchenbildungen von Personen, die sich besonders mögen und sich – ungeachtet der eigentlichen Kompetenz  – gegenseitig die attraktiven Aufgaben zuschanzen. In einem selbstorganisierten Team basiert die Aufgabenverteilung stärker auf Fairness hinsichtlich Menge und Art der Tätigkeiten, wobei die individuellen Kompetenzen der Teammitglieder stärker berücksichtigt werden. Gesamthaft verschiebt sich der Fokus auf die gemeinsame Zielerreichung, während Scheinharmonie seltener auftritt. Diese ist oft die Folge einer mangelnden ­Feedback-­Kultur – und Feedback gewinnt immer mehr an Bedeutung. Denn Lernprozesse werden immer wichtiger, und diese basieren wesentlich auf Rückmeldungen und gemeinsamen Reflexionen (z. B. Retrospektiven). Einer der Hauptunterschiede ist das Informieren. Die in der

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7 Führungsaufgaben

klassischen Linienorganisation herrschenden Informationspathologien infolge von selektivem Wissensaustausch werden zu einem großen Teil verschwinden. Stattdessen wird Transparenz großgeschrieben. Ziel ist es, allen Mitarbeitenden den Zugang zu den für sie wichtigen Informationen zu ermöglichen, was einen zunehmenden Einsatz technischer Hilfsmittel einschließt. Kurz, auch bei den technischen menschenbezogenen Führungsaufgaben gilt, dass sie nicht obsolet werden, sondern je nach Kontext sehr unterschiedlich ausgestaltet und praktiziert werden. Immer zentral ist die genaue Abgrenzung von Entscheidungskompetenzen, Verantwortlichkeiten und Aufgaben bzw. eindeutige Vorgaben, wie diese ausgehandelt werden. Bestehen diesbezüglich Unklarheiten, darf in der Regel mit ständigen Reibereien gerechnet werden. Eine umfassende Darstellung der führungstechnischen Hilfsmittel findet sich beispielsweise bei Rahn (2018) Grundsätzlich untergliedert er die Führungsinstrumente in 1) Führungsstil, 2) Führungsmittel und 3) Führungstechniken. Auf den Führungsstil wird später eingegangen. Die Führungstechniken stellen die methodische Umsetzung der Führungsmittel in Form von Tools wie Leitfäden oder bestimmten Techniken dar (z. B. Gesprächstechnik beim Führungsmittel Mitarbeitergespräch). Gemäß dem genannten Autor sind die folgenden Führungsmittel zu unterscheiden: (1) Anreizmittel (z. B. Entgeltanreize, Motivation), (2) Informationsmittel (z. B. E-Mail, Schulungen), (3) Kommunikationsmittel (z. B. Gespräche, Meetings), (4) Delegationsmittel (z. B. Übertragen von Verantwortung), (5) Partizipationsmittel (Mitwirkungsmöglichkeiten aller Art), (6) Kritik-/Sanktionsmittel (z. B. Lob, Anerkennung, Tadel, Strafen), (7) Kooperationsmittel (Gestaltung der Zusammenarbeit), (8) Weisungsmittel (z. B. Zielvereinbarung), (9) Beurteilungsmittel (z. B. Leistungsbeurteilung, Feedback), (10) Steuerungsmittel (z. B. Planung, Überwachung), (11) Förderungsmittel (z. B. Anleitung und Einarbeitung, Coaching). Diese Liste von Führungsinstrumenten zeigt, was hinsichtlich Führungstechnik zu beachten ist, wobei die verschiedenen Führungsmittel an die jeweilige Situation angepasst werden müssen oder teilweise weggelassen werden können. In autonomen Teams werden Delegations- und Weisungsmittel weitgehend obsolet. Die zum Teil altmodisch wirkenden Begrifflichkeiten verweisen auf ihre Herkunft im klassischen Management und dürfen nach Belieben geändert werden. Gleichzeitig wird ersichtlich – und das wird auch so bleiben –, dass nicht nur die operativen Managementaufgaben, sondern auch die Führung der Menschen teilweise ein für alle lernbares Handwerk darstellt. Im Grunde kann mit diesen Hilfsmitteln ein beliebig systematisches, im Extremfall auch völlig überstrukturiertes Führungsverhalten an den Tag gelegt werden. So finden sich im Internet beispielsweise Listen mit 10 oder mehr Arten von Mitarbeitergesprächen – vom bekannten Beurteilungsgespräch über irgendwelche Informationsgespräche bis hin zum Rückkehrgespräch, wenn jemand länger krank, im Ausland oder aus sonst irgendeinem Grund länger abwesend war.

7.2 Führungstechnik

259

Man kann es auch übertreiben. In der Assessment-Praxis finden sich allerdings nicht wenige Personen, deren Stärke gerade darin besteht, sehr strukturiert und gewissenhaft zu führen. Diejenigen Führungskräfte mit einem ausgeprägten beruflichen Selbstverständnis als Manager zeigen in einem umsetzungsorientierten Umfeld absolut solide Führungsfähigkeiten, weshalb gegen dieses Vorgehen im Grunde nichts einzuwenden ist. Außerdem zeichnen sich diese Personen im Allgemeinen durch eine überdurchschnittliche Berechenbarkeit und Fairness aus, sofern sie die Methoden unparteiisch, konsequent und verbindlich anwenden. Charaktereigenschaften wie Fairness, Berechenbarkeit und Verbindlichkeit werden von den Mitarbeitenden in der Regel erkannt und geschätzt. Gleichzeitig ist dieser Stil typisch für Führungskräfte, die sich hauptsächlich als pflichtbewusste Träger einer Führungsfunktion verstehen und weniger versuchen, sich als individuelle Persönlichkeiten zu positionieren. Wenn eine persönliche und individuelle Note fehlt, werden sie als Menschen oft weniger spürbar und eher als gute Manager denn als Leader wahrgenommen. Zum Teil ist die damit verbundene Distanz durchaus gewollt. Grundsätzlich zeigt die Praxiserfahrung, dass man kaum wirklich schlecht führen kann, wenn man mit den Mitarbeitenden regelmäßige bilaterale Gespräche führt, die über das Abfragen und Beurteilen der erzielten Fortschritte hinausgehen. Das Aufkommen des kontinuierlichen Mitarbeiterdialogs anstelle vorgegebener und verpflichtender – oft ungeliebter – Gesprächstermine (z. B. Beurteilungsgespräche) geht definitiv in die richtige Richtung, zumal damit auch der in der Praxis häufig gelebten Vorgehensweise der Kommunikation auf der Basis des „Management by Exception“-Prinzips (MbE-Prinzip) der Riegel vorgeschoben wird. Mit MbE ist gemeint, dass die Führungskraft eigentlich nur in Erscheinung tritt, wenn irgendetwas Wichtiges (insbes. eine Fehlleistung) aufgetreten ist. Denn der wichtigste Faktor, um Vertrautheit und Nähe zu schaffen, ist und bleibt die Kontakthäufigkeit. Ein regelmäßiger Kontakt schafft Vertrauen und erhöht die Chance, dass die Mitarbeitenden etwa Fehler zugeben oder frühzeitig auf mögliche Schwierigkeiten hinweisen. Ein verbindlicher, persönlicher und prinzipiell wertschätzender Umgang trägt überdies zur Entstehung psychologischer Sicherheit bei. Führt man wichtige Gespräche meist ad hoc und zwischen Tür und Angel, gilt das Gegenteil. Fair und verbindlich zu führen, ist unter diesen Umständen ebenso anspruchsvoll bis kaum zu schaffen wie eine angemessene Führungseffektivität zu entfalten. Für einen funktionierenden Ad-hoc-Stil bräuchte es ein extrem feines Gespür, um treffend zu erkennen, wer wann was gerade benötigt, und dabei allen gleich gerecht zu werden. Sehr oft wird von Kandidaten erwähnt, dass sie eine „Praxis der offenen Türe“ pflegen und Mitarbeitende jederzeit willkommen seien. Bis zu einem gewissen Grad werden diese von diesem Angebot auch Gebrauch machen, allerdings in der Regel in einem sehr unterschiedlichen Maße. Mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit tauchen immer die gleichen Personen auf, wobei diese unter Umständen vor allem versuchen, ihre persönliche Arbeitssituation zu verbessern und sich in einem guten Licht zu zeigen. Diese Art des „Impression Management“ kann in traditionellen Firmen dazu führen, dass solche Personen als besonders kompetent oder führungstauglich eingeschätzt werden, während diejenigen, die sich primär mit ihrer Leistung empfehlen wollen, auf der Strecke bleiben. Wie schon erwähnt, bestimmt die tatsächliche Leistung die subjektive Leistungsfähigkeit aus Vorge-

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7 Führungsaufgaben

setztenperspektive nur zu 10 %. Statt im Büro zu sitzen, empfiehlt es sich, selbst aktiv den Austausch zu suchen und den Kontakt nicht auf formale Anlässe wie Halbjahresgespräche zu beschränken. Allen Führungskräften empfohlen sei das Japanische „Genchi genbutsu“ (wörtlich: realer Ort). Es lässt sich als „go and see“ übersetzen und meint, dass sich die Führungskräfte möglichst oft am Ort des Geschehens aufhalten sollen. Teilweise wird auch von „Management by walking around“ gesprochen. Die anspruchsvollste Aufgabe im Management stellt zweifellos das Delegieren dar. Unter Umsetzungsstärke wurde dieser Aspekt aus der Perspektive der Führungskraft bereits besprochen (s. Abschn. 4.3.2). Wird gemäß Eisenhower-Prinzip vorgegangen, ist das Delegieren vor allem eine Maßnahme, die Führungskräfte nutzen, um sich selbst zu entlasten. Wie schon angedeutet, besteht bei einem sehr Ich-bezogenen Vorgehen die Gefahr, die Mitarbeitenden hauptsächlich mit uninteressanten Aufgaben einzudecken, während alle wichtigen – und womöglich angenehmen – Aufgaben von der Führungskraft wahrgenommen werden. Die Mitarbeitenden werden in diesem Fall als verlängerte Werkbank betrachtet und letztlich auch so behandelt. Deutlich kraftvoller wird dieses Führungstechnik, wenn sie als Instrument zur Mitarbeiterförderung eingesetzt wird. Dies passiert dann, wenn diesen mit steigender Kompetenz und Erfahrung zunehmend anspruchsvollere, unter Umständen auch attraktivere Aufgaben zugewiesen werden. Ein professionelles Delegationsverhalten stellt die Vorstufe des Empowerments dar, denn es zielt darauf ab, mit der Zeit ganze Aufgabenbereiche abzugeben. Sehr wichtig ist, dass ganzheitliche Verantwortlichkeiten und nicht Teilaufgaben abgegeben werden. Wenig motivierend ist es, wenn eine größere Aufgabe tayloristisch und top-down in kleine Teile untergliedert und die Einzeltätigkeiten gezielt oder zufällig auf die verschiedenen Mitarbeitenden verteilt werden. Die Übernahme einer ganzen Aufgabe fördert die Motivation und die Bereitschaft, Verantwortung für das Ergebnis zu übernehmen. Der Unterschied zum Empowerment liegt im besten Fall nur noch darin, dass einige Aufgaben immer noch bei der Führungskraft verbleiben, während das Team beim vollen Empowerment prinzipiell die ganze Aufgabe der Führungskraft übernimmt (Selbstorganisation) und die Führungskraft primär eine begleitende und unterstützende Funktion (Coach) einnimmt oder gar nicht mehr benötigt wird. Zusammenfassend stehen beim „technischen“ und transaktionalen Teil der Menschenführung der kompetente Umgang mit den Führungsmitteln und die Werteebene im Vordergrund. Wer eine Führungsaufgabe pflichtbewusst, konsistent und fair wahrnimmt und dabei eine eindeutige Linie verfolgt, wird grundsätzlich als verbindliche und verlässliche Führungskraft wahrgenommen, sofern zumindest durchschnittliche soziale Fähigkeit vorhanden sind. Selbstverständlich kann speziell durch Fehlleistungen bei wichtigen Gesprächen (z. B. Kritikgespräche) oder in heiklen Situationen (z. B. nicht hinter den Mitarbeitenden stehen) viel Goodwill verspielt werden. Bei einer ausreichenden Ausprägung der emotionalen und sozialen Kompetenzen sollte in der Regel nicht viel Porzellan zerschlagen oder gar eine irreparable Verletzung verursacht werden. Grundsätzlich darf davon ausgegangen werden, dass unter diesen Umständen die meisten Mitarbeitenden angemessen qualitätsbewusst und engagiert zu Werke gehen. Wenn einem das nicht ausreicht, ist Leadership gefragt.

7.3  Transformative Aufgaben (Leadership)

261

7.3 Transformative Aufgaben (Leadership) Die transformativen Aufgaben beschreiben im Prinzip die Ausgestaltung der transformationalen Führung, gehen mittlerweile aber über die ursprünglichen 4  I (idealisierter Einfluss, inspirierende Motivation, intellektuelle Stimulierung und individuelle Betreuung) von Bass (1985; Avolio & Bass, 1991) hinaus (vgl. Kap. 8). Als zusätzliche wichtige Themen sind – neben der bereits besprochenen Definition eines Purpose und einer inspirierenden Vision – insbesondere psychologisches Empowerment und das Fördern von psychologischer Sicherheit zu nennen. Grundsätzlich umfassen die transformativen Aufgaben sämtliche Aktivitäten, die geeignet sind, positive aktivierende Gefühle auszulösen und einen anregenden Effekt auf die intrinsische Motivation der Beschäftigten zu entfalten. Zusammen mit dem Vermeiden destruktiver Führung resp. der damit verbundenen aversiven Gefühlslagen und dem Vermögen, die Mitarbeitenden individuell an ihre jeweiligen Grenzen zu bringen (d. h. die Mitarbeitenden an ein mittleres, als herausfordernd erlebtes Stressniveau heranzuführen), entsteht ein gehirngerechtes, neuropsychologisch ideales Führungsverhalten gemäß aktuellem Forschungsstand. In der Forschung wird die individuelle Arbeitsleistung der Mitarbeitenden in der Regel anhand der folgenden 3 Komponenten erfasst (z. B. Wesche et al., 2015): 1) aufgabenbezogene Leistung (Erledigen der Kernaufgabe), 2) freiwilliges Arbeitsengagement (Organizational Citizen Behaviour, OCB) und 3) kontraproduktives Arbeitsverhalten (z. B. Sabotage). Den Untersuchungen der genannten Autorenschaft zufolge führen transformationale Führungsansätze nicht grundsätzlich zu besseren Arbeitsergebnissen beim Erledigen der Kernaufgabe. Stattdessen lässt ein leistungsabhängiges Belohnungssystem in etwa vergleichbare Resultate erwarten. Deutlich höheres Potenzial besteht beim Steigern der freiwilligen Arbeitsleistung und bei der Reduktion von unerwünschtem Arbeitsverhalten. So lohnt es sich, eine Atmosphäre zu schaffen, die eine Arbeitshaltung mit OCB-Charakter begünstigt resp. das Ausmaß an Dienst nach Vorschrift reduziert. Kontraproduktives Arbeitsverhalten tritt gehäuft als Folge aversiver Führung und in einer toxischen Arbeitsumgebung auf. Vorbildwirkung Der Wille und die Bereitschaft, sich als glaubwürdiges Vorbild zu positionieren, gehört zu den zentralsten Voraussetzungen für die Eignung als Führungskraft. Die Bedeutung von Vorbildwirkung für Gefolgschaft, Lernen (v.  a. Bandura, 1977) und Arbeitseinsatz der Mitarbeitenden ist seit Längerem bekannt und darf als unbestritten bezeichnet werden. Sowohl fachliche als auch natürliche Autorität sowie ein aus Mitarbeitersicht auffallend gutes Führungsverhalten können die Vorbildwirkung begründen. Dasselbe gilt natürlich auch für die charismatische Wirkung, bei der aber immer eine gewisse Skepsis angebracht ist. Gemäß Assessment-Praxis werden etwa eine eigenständige Linie, die Bereitschaft, bei Bedarf selbst mitanzupacken, statt etwaigen Druck weiterzugeben, der Schutz des Teams oder einzelner Mitglieder, Nahbarkeit, ein respektvoller, fairer Umgang sowie Verbindlichkeit und Verlässlichkeit im Führungsalltag von den Mitarbeitenden besonders geschätzt. Längerfristig entscheidend ist vor allem, dass Reden und Handeln kongruent sind.

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7 Führungsaufgaben

Wer sich nicht an die eigenen Vorgaben hält oder ein den propagierten Idealen widersprechendes Verhalten zeigt, wird über kurz oder lang die Akzeptanz verlieren. Der Ideal­ zustand ist natürlich freiwillige Gefolgschaft infolge des Bedürfnisses, sich an der Vorbildwirkung der Führungskraft auszurichten. Sinnstiftende Führung (Inspiration) Es wurde bereits erwähnt, dass ein Purpose und eine attraktive Vision Sinn und Orientierung vermitteln und im Idealfall eine eigenständige, indirekte Führungswirkung entfalten. Beispielsweise bei Spotify scheint das Ideal einer steuernden Wirkung der Vision bereits Realität, wenn man den Lobeshymnen auf dieses Unternehmen Glauben schenkt. Führungskräfte können inspirierend wirken, wenn es ihnen gelingt, die Vision oder den höheren Zweck auf eine begeisternde Weise zu übermitteln oder zu „verkaufen“. Die Eigenmotivation der Mitarbeitenden kann dadurch ebenso gesteigert werden wie durch das Vermögen, deren Selbstwertgefühl zu erhöhen, indem man die Bedeutung des individuellen Beitrags für das Ganze herausstellt Sinnstiftende Führung beinhaltet gemäß Rose (2020) sämtliche für das Sinnerleben wichtigen Aspekte. Das Wahrnehmen einer sinnstiftenden Aufgabe ist besonders geeignet, die intrinsische Motivation zu steigern. Gemäß Rosso, Deka & Wrzesniewski (nach Rose, 2020, S. 14) sind diesbezüglich die in Abb. 7.1 aufgeführten Komponenten zu unterscheiden. In diesem 4-Felder-Schema wird auf der vertikalen Achse unterschieden, ob es um die Person selbst oder die Person als Teil einer Gruppe geht. Die horizontale Achse dreht sich um die Frage, ob die Auswirkungen die Person selbst oder andere Menschen betreffen: Bei der Darstellung der 4 Quadranten folgt die Bezeichnung derjenigen des genannten Autors Tun und Wirkung

Eigenständigkeit Selbstwirksamkeit Potenzialentfaltung

Bestimmung Mehrwert Selbstüberwindung Andere

Selbst

Ganzheit Authentizität Selbstwerdung

Sein und Verbindung Abb. 7.1  Sinn-Matrix nach Rose (2020), eigene Darstellung

Zugehörigkeit Identifikation Bindung

7.3  Transformative Aufgaben (Leadership)

263

(1) Der „Freiheits-Quadrant“ (links oben) umfasst Aspekte, die sich um Autonomie und Wirksamkeitserleben drehen. Man schätzt Freiheiten bei der Arbeit, möchte sich entfalten und eine spannende Aufgabe wahrnehmen. Zudem hat man das Bedürfnis, das eigene Potenzial auszuschöpfen und seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Im Zentrum stehen die vorhandenen Handlungsspielräume. Je mehr man bewegen kann, desto zufriedener ist man grundsätzlich. (2) Der „Me-Myself-and-I-Quadrant“ (links unten) betrifft Themen in Zusammenhang mit dem Selbst. Man möchte sein Selbstwertgefühl stärken und zentrale Aspekte des Selbstkonzepts stabilisieren. Das eigene Selbst auszudrücken, wirkt sinnstiftend. (3) Der „Greenpeace-Quadrant“ (oben rechts) bezieht sich auf die Wirkung, die jemand für andere erzielt. Zentral sind dienende Aktivitäten für Kunden oder andere Stakeholder. Je edler der Zweck der Aufgabe, desto höher ist dessen sinnstiftendes Potenzial (4) Der„Wohlfühl- und Sympathie-Quadrant“ (unten rechts) dreht sich um das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit. Je wohler man sich in zwischenmenschlicher Hinsicht in einer bestimmten Umgebung fühlt, desto größer ist das sinnstiftende Potenzial. Dies trifft insbesondere auf Personen mit einem starken Beziehungsmotiv zu. Grundsätzlich darf davon ausgegangen werden, dass die meisten Menschen sich durch die Aspekte in einem Quadranten besonders stark motivieren lassen. Als Führungskraft lohnt es sich, sich Klarheit über die Zuteilung der Mitarbeitenden zu den verschiedenen Quadranten zu verschaffen und dies beim Delegieren zu berücksichtigen. Prallen beispielsweise hoch eigenständige Personen auf primär zugehörigkeitsorientierte Kollegen, sind vor allem unter Druck Konflikte zu erwarten. Die Grafik kann dabei helfen, Verständnis zwischen den Beteiligten zu fördern. Grundsätzlich gilt natürlich, dass die intrinsische Motivation mit der Anzahl und Stärke der befriedigten persönlichen Sinnelemente steigt. Alle Maßnahmen zur Steigerung des Sinnerlebens können die Eigenmotivation fördern oder steigern. Individuelle Betreuung und Coaching Dass es hilfreich ist, die einzelnen Mitarbeitenden zu beachten und auf sie einzugehen, liegt eigentlich auf der Hand. Aus heutiger Sicht ist eher schwer nachvollziehbar, dass dies nicht schon immer selbstverständlich war. Tatsächlich ist diese Erkenntnis noch nicht ­einmal 100 Jahre alt – sie wurde erst in den 1930er-Jahren als Hawthorne-Effekt im Rahmen der gleichnamigen Studien entdeckt (Roethlisberger et al., 1939). Wie viel Aufmerksamkeit angemessen ist, hängt im Alltag von situativen Aspekten (z. B. Art der Aufgabe, verfügbare Zeit) und dem entsprechenden Bedürfnis der einzelnen Mitarbeitenden ab. Nicht alle benötigen gleich viel Aufmerksamkeit, Zuspruch etc., aber niemand will übersehen oder vernachlässigt werden. Die meisten Menschen benötigen mehr Verständnis und Unterstützung, wenn sie sich in einer Krise befinden und beispielsweise eine schwierige Situation im Privatleben zu bewältigen haben. Ansonsten gehen die sozialen Bedürfnisse auseinander. Einige erwarten von Vorgesetzten, dass diese merken, wenn man beim Friseur war, oder gefragt zu werden, was man am Wochenende gemacht hat. Andere zie-

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7 Führungsaufgaben

hen es vor, sich nicht über private Themen zu unterhalten oder legen vor allem darauf Wert, dass sie Rückmeldungen zu ihrem Potenzial erhalten. Sowohl Art als auch Menge der individuell erwarteten und notwendigen Unterstützung variiert stark. Einerseits ist es wichtig, die Mitarbeitenden auch als Menschen und nicht nur als Arbeitskräfte zu würdigen sowie eine gewisse Nähe und Vertrauen herzustellen. Andererseits muss auch eine gewisse Distanz gewahrt werden. Vorgesetze sind keine Lebensberater und dürfen sich nicht zu sehr vereinnahmen lassen. Das absolute Führungsideal würde darin bestehen, sowohl die Fähigkeiten als auch die spezifischen Motivlagen – zum Beispiel basal nach SCARF bis hin zur individuellen Ausprägung der einzelnen sinnstiftenden Elemente  – der verschiedenen Mitarbeitenden haarklein zu kennen und im eigenen Führungsverhalten zu berücksichtigen. Selbstverständlich ist dies nur theoretisch möglich und in der Praxis nur ansatzweise durchführbar. Viel entscheidender ist ein respektvoller und partnerschaftlicher, aber nicht kumpelhafter Umgang. Respekt bedeutet allerdings auch, bei Bedarf auf Entwicklungsthemen hinzuweisen oder Kritik zu üben. Zum Teil missverstehen Mitarbeitende Wertschätzung als berechtigtes Anliegen, ausschließlich gelobt und ermuntert zu werden und nie etwaiges Fehlverhalten oder Entwicklungsthemen gespiegelt zu erhalten. Differenziertes, ehrliches Feed­ back zu geben, erfordert etwas Mut und ist für eine Führungskraft oder die Kollegen wesentlich anspruchsvoller. Der eine oder andere wird unter dem Vorwand einer wertschätzenden Haltung dies also zu vermeiden suchen. Nachdem die Mitarbeitenden bis vor Kurzem als unselbstständige Befehlsempfänger behandelt wurden, befürchtet Sprenger (2018), dass sie künftig infolge von Überfürsorge infantilisiert werden könnten. Zuweilen lässt sich ein solcher Umgang bei Assessment-Kandidaten aus dem Sozialbereich beobachten. Einige behandeln ihr Gegenüber im Rollenspiel derart wohlwollend und bemüht empathisch, dass man meint, sie hätten es mit einem kleinen Kind zu tun (z. B. mütterliche Stimmlage). Auch ein solches Vorgehen stellt eine Asymmetrie zwischen den Gesprächspartnern her, sodass das Gegenüber ungewollt abgewertet wird. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Intellektuelle Stimulierung Bei der intellektuellen Stimulierung geht es nicht primär darum, Mitarbeitende durch anspruchsvolle Problemstellungen kognitiv herauszufordern oder ihre Begeisterung für Fachthemen zu wecken, sondern eigentlich vielmehr darum, kritisches Mitdenken zu fördern. Tatsächlich zeigt die Praxis, dass es hoch mit ihrem Fachgebiet identifizierte Experten gibt, die das Lösen komplexer und herausfordernder Problemstellungen in ihrer Komfortzone als besonders anregend wahrnehmen und dadurch motiviert werden. Auf die durchschnittlichen Mitarbeitenden und Führungskräfte trifft dies grundsätzlich weniger zu, im Falle der Existenz einer inspirierenden Vision können jedoch viele dazu bewegt werden, etwa eigene Vorschläge einzubringen. Durch kollaborativen Wissensaustausch, fachlich heterogen zusammengesetzte Teams und den Einsatz gruppenbezogener Kreativitätstechniken sowie partizipative Entscheidungsprozesse kann dies gefördert werden.

7.3  Transformative Aufgaben (Leadership)

265

Wichtig ist allerdings auch eine Rückkopplung. Haben die Mitarbeitenden das Gefühl, dass ihre Vorschläge nur vordergründig erwünscht sind oder keine Resonanz finden, wird ihr Eifer und Mitwirkungswille rasch abnehmen. Noch heikler ist der Umgang mit offen geäußerter Kritik, beispielsweise wenn unangenehme Themen direkt angesprochen werden. Es darf erwartet werden, dass sehr sensibel registriert wird, wie die Führungskräfte resp. die Führung anschließend darauf reagieren. Sobald – berechtigt oder unberechtigt – negative Konsequenzen befürchtet werden müssen, finden allenfalls noch einige wenige Personen den Mut, sich offen und ehrlich zu äußern. Empowerment Bereits seit den 1990er-Jahren ist von „Empowerment“ die Rede. Damit gemeint ist das Ermächtigen der Mitarbeitenden durch Übertragen von Verantwortung. Zu unterscheiden ist zwischen einem strukturellen und einem psychologischen Empowerment (Schermuly, 2015). Ersteres kann auch im Rahmen von Reorganisationen mit dem Ziel, das eigene Unternehmen schlanker zu machen, geschehen. Schlimmstenfalls hat Empowerment unter diesen Umständen den Charakter einer reinen Sparübung durch Personalabbau. Die bestehende Arbeit wird einfach auf weniger Personen verteilt. Fehlen flankierende Maßnahmen, besteht ein hohes Risiko, dass viele Personen aufgrund der höheren Arbeitslast überfordert werden, wobei sie im Grunde gar nicht wissen, was jetzt eigentlich von ihnen erwartet wird – außer dass sie nun zusätzlich die Arbeit der entlassenen Kollegen erledigen sollen. Psychologisches Empowerment wird hingegen von der Mitarbeiterperspektive her gedacht und umfasst gemäß Scholl et  al. (2012) die 4  Komponenten 1)  Kompetenzerleben („ich kann das“), 2) Autonomie („ich kann selbst entscheiden“), 3) Sinn („ich verstehe den Sinn meiner Arbeit“) sowie 4) Wirksamkeit („ich bin wichtig, ich kann etwas beitragen“). Aufgrund seiner zentralen Bedeutung kann der Sinnaspekt auch hier nicht fehlen, während andere Gesichtspunkte beispielsweise im Flow-Konzept vorkommen und bestimmen, ob jemand eine bestimmte Aufgabe annehmen kann und will. Die Überlappung mit anderen Konstrukten zeigt, dass es im Kern immer wieder um dasselbe geht: Eigenständiges Handeln (inkl. dazu befähigt zu werden) sowie das Erleben von Sinn, Mitwirkung und Gemeinsamkeit. Für die Umsetzung in der Führungsarbeit nennen Arnold et  al. (2000) folgende Grundsätze: ( 1) Coaching als bevorzugter Führungsstil, (2) Umfassende und transparente Information, (3) Führung durch Vorbildwirkung, (4) Aufmerksamkeit sowohl für das gesamte Team als auch dessen einzelne Mitglieder, (5) Partizipative Entscheidungsfindung. Pseudo-Empowerment, bei dem einfach die ganze Verantwortung an die Mitarbeitenden abgeschoben und diese damit allein gelassen werden, funktioniert nicht. Stattdessen ist es essenziell, die Mitarbeitenden zu motivieren und zu befähigen, die sich bietenden Hand-

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7 Führungsaufgaben

lungsspielräume auch wirklich zu nutzen. Wenn dies gelingt – und das Team gut kooperiert –, ist mit deutlich besseren Leistungen zu rechnen, weil sich die Mitarbeitenden ganz einbringen und nicht nur die ihnen zugewiesenen Aufgaben abarbeiten. Allerdings ist die mehr oder weniger entmündigende Führungskultur der Vergangenheit noch immer tief in vielen Köpfen verankert, und eventuell vorhandene hehre Absichten bleiben Lippenbekenntnisse, wenn weiterhin die früher angelernten Verhaltensroutinen praktiziert werden. Gefordert ist ein umfassender Sinneswandel, der sich insbesondere auch in einem veränderten Verhalten niederschlägt. Der Prozess kann also dauern, weshalb ein langer Atem und ausreichend Geduld notwendig sind. Außerdem ist damit zu rechnen, dass es immer Personen geben wird, die diesen Weg nicht mitgehen können oder wollen. Aktiv mitdenken, Verantwortung übernehmen und Initiative zeigen behagt nicht allen. Empowerment stellt Ansprüche an die Reife aller Beteiligten – nicht nur an diejenige von Führungskräften. Psychologische Sicherheit Wer kennt das nicht? In einer Sitzung bleiben gute Vorschläge unerwähnt, weil sich einige Personen nicht äußern, weil sie Angst haben, sich zu blamieren. Oder ein Projekt droht aus dem Ruder zu laufen, es will aber niemand die Verantwortung übernehmen und auf die kritischen Entwicklungen hinweisen. Stattdessen werden Fehler vertuscht oder anderen in die Schuhe geschoben. Zudem werden riskante Entscheidungen vermieden oder potenziell nicht opportune Themen tabuisiert. Nicht selten werden auch wichtige Informationen zurückgehalten oder politische Spiele zwecks Machterhalt betrieben. All diese zwischenmenschlichen Themen kosten Geld sowie die Mitarbeitenden und Führungskräfte unnötig Energie und verhindern oft bessere Lösungsansätze. Sollen derartige Vorkommnisse vermieden werden, bedarf es einer Atmosphäre, die durch „psychologische Sicherheit“ geprägt ist (Edmondson, 2014): Biemann und Weckmüller (2021) definieren diese allgemein als Glaube einer Person oder einer Gruppe von Personen, dass Risiken innerhalb eines Teams oder einer Organisation ohne negative Konsequenzen eingegangen werden können. Kann man etwas ausprobieren, ohne sich dabei unsicher zu fühlen? Darf der Mitarbeitende er selbst sein – auch einmal verletzlich sein? Psychologische Sicherheit beschreibt den Glauben an eine Gruppennorm, die sich auf das ganze Team bezieht. Beim verwandten Konzept des Vertrauens stehen dagegen einzelne Personen im Mittelpunkt. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um ein recht diverses Konzept, das unterschiedliche Aspekte umfasst. Gemäß Clark (2019) stehen folgende Aspekte im Zentrum: Die Mitarbeitenden fühlen sich 1) einbezogen, wollen von sich aus 2) lernen und 3) mitmachen und haben 4) keine Angst, sich gegebenenfalls kritisch zu äußern. Unter den 5 in der erwähnte Google-Studie herausgefundenen Merkmalen von High Performing Teams handelt es sich bei der psychologischen Sicherheit um den wichtigsten Punkt. Neben Vertrauen, Transparenz und einer inspirierenden Vision gehört psychologische Sicherheit zu den Ingredienzien, die ein mehr oder weniger autonomes Team besonders leistungsfähig machen. Besonders zentral ist die Kombination mit Empowerment resp. einer Atmosphäre, in der die Mitarbeitenden selbst die Verantwortung übernehmen.

7.3  Transformative Aufgaben (Leadership) Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen

Komfortzone

Lernzone

Apathiezone

Angstzone

hoch

hoch

tief

Psycholog. Sicherheit

tief

267

Abb. 7.2  Verantwortlichkeit und psychologische Sicherheit. (Hoffmann & Hanisch, 2021)

Damit sich ein Team zu einem Hochleistungsteam entwickelt, braucht es neben der psychologischen Sicherheit auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen (s. Abb. 7.2). Das Team benötigt also ein gewisses Ambitionsniveau und das Bedürfnis, sich freiwillig für eine gute Leistung einzusetzen. Besteht eine hohe Bereitschaft, sich zu engagieren (Verantwortlichkeit), und herrscht psychologische Sicherheit, befindet sich ein Team in der besonders produktiven „Lernzone“. Dies bedeutet, dass es nicht nur die Aufgaben potenziell schneller und besser erledigt, sondern auch als Team ständig dazulernt. Entscheidend ist, dass die Mitglieder eines Top-Teams nicht nur möglichst gute Arbeit leisten, sondern laufend besser werden und ständig dazulernen wollen. Etwaige Fehlschläge oder untaugliche Ideen werden vor allem als Lerngelegenheiten begriffen und insofern begrüßt. Unter den Teammitgliedern herrscht ein starkes gegenseitiges Verständnis und ein so hohes Vertrauen, dass man sich mittels ehrlichen und konstruktiv-kritischen Feedbacks gegenseitig ermutigt, in jeder Hinsicht laufend kompetenter zu werden. Nirgends wird die Abkehr vom alten Führungsparadigma offensichtlicher: Statt Fehler tunlichst zu vermeiden, kann gerade die Anzahl unvermeidbarer und lernbezogener Fehler als Leistungskriterium eines Teams betrachtet werden. Mit psychologischer Sicherheit ausdrücklich nicht gemeint ist eine oberflächliche Wohlfühlatmosphäre, in der alle immer nett zueinander sind, die kritischen Themen aber nicht ausgesprochen und keine Risiken eingegangen werden. In einer solchen „Komfortzone“ ist keine überdurchschnittliche Produktivität zu erwarten. Außerdem finden keine substanziellen Lernprozesse statt, weil Lernen unter anderem auf Feedback basiert und eher durch Fehler als durch ein übervorsichtiges Vorgehen gefördert wird. Fehlt psychologische Sicherheit, aber besteht Druck, bewegt sich ein Team in der „Angstzone“. Auch unter Druck können zumindest eine Zeit lang gute Ergebnisse erbracht werden, aufgrund des defensiven Verhaltens der Teammitglieder finden aber keine echten Lernprozesse statt. Überdies ist längerfristig mit einer hohen Fluktuation und stressbedingten gesundheitlichen Risiken zu rechnen. Existiert weder psychologische Sicherheit noch ein Leistungsanspruch, entsteht ein Klima der Apathie, in dem beispielsweise Boreouts auftreten können. Gefährdet in dieser Beziehung sind besonders Teile der öffentlichen Verwaltung. Psychologische Sicherheit entsteht in einem Team, wenn etwa offen mit den vorhandenen Unterschieden umgegangen wird. Ist das Gegenteil der Fall, ist eher mit Grüppchenbildung zu rechnen. Obwohl die psychologische Sicherheit ein Gruppenphänomen ist, spielen die Führungskräfte eine große Rolle. Ihr Umgang mit Fehlern, ihre Authentizität

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7 Führungsaufgaben

und ihr Vermögen, eigene Unzulänglichkeiten oder Nichtwissen zuzugeben, fördern oder hemmen die Entstehung der erwünschten Teamkultur. Ebenfalls zentral ist eine wohlwollende Haltung zum Team und den einzelnen Teammitgliedern. Selbstverständlich müssen sie auch glaubwürdig vermitteln, dass kritische Impulse wirklich erwünscht sind, und auf diese konstruktiv reagieren. Nicht etwaige Fehler gemacht zu haben, sondern daraus nichts gelernt zu haben, kann unter Umständen bestraft werden. Dabei sind Aufrichtigkeit und Authentizität gefragt. Zentral sind die Haltung und das Verhalten der Vorgesetzten. Goller und Laufer (2018) nennen 3  Bereiche, die diesbezüglich eine Schlüsselrolle spielen: 1) Vorbild sein: Das gewünschte Verhalten konsequent vorleben (z. B. eigene Fehler zugeben, sich entschuldigen, eigene Grenzen offenbaren). Ebenfalls wichtig sind ein partnerschaftlicher Umgang, die Bereitschaft, sich selbst zu öffnen sowie einen persönlichen Kontakt herzustellen. 2) Arbeit als Lernaufgabe definieren: Hier geht es darum, Neugier zu zeigen und zu wecken, Offenheit für neue Lösungsansätze zu demonstrieren sowie gemeinsame Lern- und Entwicklungsprozesse zu gestalten. Besonders effektiv sind Reflexionsgefäße, zum Beispiel Retrospektiven im Scrum. 3) Andere zur Zusammenarbeit inspirieren: Zentral sind Zuhören, das Fördern der Kooperationsfähigkeit über die Integration im aktuellen Team hinaus sowie ein inklusiver Führungsstil. Konkret sind folgende Verhaltensweisen von Führungskräften geeignet, eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit zu fördern: die Mitarbeitenden zu befähigen und zu ermuntern, sie selbst zu sein und sich zu öffnen; etwaige Hemmungen zu überwinden und etwas zu riskieren; Fehler einzugestehen; eigenes Wissen und Informationen zu teilen; selbstständig zu handeln und Verantwortung zu übernehmen; Unterschiede als Chance zu begreifen und sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen; kritische oder heikle Themen anzusprechen; anderen ehrliches Feedback zu geben, gemeinsame Reflexionsprozesse zu etablieren; sich gegenseitig zu vertrauen und etwaige Fehler oder Schwächen nicht auszunutzen; Konflikte unter sich zu lösen; sich gegenseitig zu unterstützen (vgl. Frehner, 2022). Selbstverständlich funktioniert das alles nur, wenn die Führungskraft als Vorbild agiert, hinter dem Team steht, den Mitarbeitenden angemessene Handlungsspielräume zugesteht (Empowerment) sowie laufend Teamentwicklungs- und Lernprozesse anstößt und bei Problemen Unterstützung bietet. Ebenfalls zentral ist, dass die Worte und die Taten übereinstimmen. Eine besonders geschickte Führungskraft vermag auch unter schwierigen Bedingungen eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit herzustellen, je nachdem kann sich diese aber auch von selbst entwickeln. Edmondson (2018) weitet diese Überlegungen auf die Gesamtorganisation aus. Ziel ist das Schaffen einer „angstfreien Organisation“, in der man authentisch und man selbst sein darf, in der Kritik und Verbesserungsvorschläge nicht bestraft, sondern begrüßt werden und in der man etwas riskieren und Fehler machen darf, ohne Angst haben zu müssen. Dabei schlägt sie zusammenfassend folgende Maßnahmen vor: ( 1) Psychologische Sicherheit laufend messen und verbessern, (2) Eine Kultur der Transparenz und Aufrichtigkeit etablieren, (3) Walk the Talk, das gewünschte Verhalten als Vorbild vorleben,

Literatur

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( 4) Trainings, um Ängste zu überwinden, (5) Vertrauen aufbauen, zuhören und Mitarbeitende zum Reden ermutigen, (6) Partizipation und Einbezug der Mitarbeitenden beim Festlegen der Maßnahmen. In einer angstfreien Organisation werden die Mitarbeiterinteressen (Zufriedenheit, Mitwirkung, Inspiration, Engagement) und die betriebswirtschaftlichen Ziele (Produktivität, Lernen, Kreativität/Innovation) ausgewogen berücksichtigt, was für alle Seiten positive Auswirkungen hat. Dass psychologische Sicherheit tatsächlich einen Gewinn für alle verspricht, zeigen auch die Ergebnisse einer Metaanalyse von Frazier et al. (2017). In dieser ergaben sich sowohl starke Zusammenhänge zu Arbeitszufriedenheit und Engagement und Lernverhalten (> 0,4) als auch zu den Arbeitsergebnissen (ca. 0,3). Fazit Die Assessment-Erfahrung zeigt, dass eine – längerfristig wirksame und echte – natürliche Führungswirkung vor allem von Führungskräften ausgeht, die eine bestimmte Linie haben, die sie konsequent als Vorbild vorleben. Autorität basiert ansonsten im Wesentlichen auf Authentizität, Glaubwürdigkeit und der Qualität des gezeigten Führungsverhaltens. Mittels Selbsterkenntnis und laufender Selbstreflexion sollte danach gestrebt werden, die Führungseffektivität weiter zu steigern sowie laufend als Persönlichkeit zu wachsen. Sowohl von der Führungskraft als auch den Mitarbeitenden verlangen die neuen Führungsansätze eine höhere persönliche Reife ab. Feedbackprozesse sorgen zusätzlich für Lernprozesse auf der individuellen und der Teamebene. Im Führungsverhalten stehen das individuelle Eingehen auf die Mitarbeitenden, Empowerment sowie das Fördern von Selbstständigkeit und Selbstvertrauen im Vordergrund. Statt zu motivieren im klassischen Sinne geht es darum, das intrinsische Engagement und Mitwirkungsbedürfnis der Mitarbeitenden anzuregen. Dafür nötig sind besonders eine Vision, ermunterndes Coaching, wenn Probleme auftauchen, sowie Vertrauen. Damit die erwünschten Effekte eintreten, sind zudem Transparenz sowie ein umfassender Zugang zu allen wichtigen Informationen zu ermöglichen und eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit sicherzustellen.

Literatur Arnold, J. A., Arad, S., Rhoades, J. A., & Drasgow, F. (2000). The empowering leadership questionnaire: The construction and validation of a new scale for measuring leader behaviors. Journal of Organizational Behavior, 21, 249–269. Avolio, B. J., & Bass, B. M. (1991). The full range of leadership development programs: Based and advanced manuals. Bass, Avolio & Associates. Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review, 84(2), 191–215. Bartram, D. (2005). The great eight competencies: A criterion-centric approach to validation. Journal of Applied Psychology, 90, 1185–1203. Bass, B. M. (1985). Leadership and performance beyond expectations. Bass/Avolio & Associates.

270

7 Führungsaufgaben

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8

Führungsverhalten und Führungsstile

8.1 Klassische Taxonomien von Führungsstilen Als Vorläufer gilt Max Weber (1922), der sich mit den verschiedenen Arten von „Herrschaft“ befasste und dabei die folgenden 3 Typen identifizierte: die traditionale oder patrimoniale Herrschaft (Führungslegitimation durch Tradition), die charismatische Herrschaft (Führungslegitimation durch persönliches „Heldentum“) und die bürokratische Herrschaft (Legitimation durch geltendes Recht). Daraus wurden später der autokratische, der patriarchale, der charismatische und der bürokratische Führungsstil. Die beiden letztgenannten Führungsstile sind in der Politik und in der Verwaltung immer noch vorherrschend. Der charismatische Stil ist aufgrund seines Fokus auf eine einzelne, echt oder vermeintlich heroische Person problematisch. Eine hoch charismatische Person kann zu einer Führerfigur mit absolut unkritischer bis höriger Gefolgschaft mutieren und potenziell großen Schaden anrichten, wenn sie ihre Macht missbraucht und Menschen auf manipulative Weise dazu bringt, gemeinsam unethische Ziele zu verfolgen. Der bürokratische Stil ist im Grunde darauf ausgelegt, Führung unabhängig vom eigentlichen Führungspersonal sicherzustellen, das heißt durch bürokratische Prozesse, die von allen eingehalten werden müssen. Durch die gewollte Entpersonalisierung bleibt die individuelle Verantwortung auf der Strecke, was beispielsweise in der Pandemie bewirkt hat, dass die Behörden trotz Krise weiter Dienst nach Vorschrift betrieben, kaum jemand Eigeninitiative zeigte und an den durch Langsamkeit und Fehleranfälligkeit verursachten Schwierigkeiten nie jemand wirklich schuld war. Wobei letzteres in gewisser Weise auch stimmt, weil die Ursache systembedingt war, das heißt durch die Bürokratie zustande kam. Im Grunde sind angesichts der immer weiter steigenden Komplexität der Umweltbedingungen sowohl der heroisch-­ charismatische, auf eine Führerfigur ausgelegte, als auch der bürokratische Führungsstil nicht mehr zeitgemäß und gehören überwunden. Der patriarchalische Führungsstil wird in Form eines „Patrons alter Schule“ auch weiterhin in kleineren und mittleren Familienunternehmen anzutreffen sein. Allerdings han© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_8

273

274

8  Führungsverhalten und Führungsstile

delt es sich auch bei diesem Stil um ein Auslaufmodell, zumal es überdurchschnittlich häufig vorkommt, dass die Nachfolge bei diesen meist familiengeführten Unternehmen scheitert, weil es der Patron versäumt, seine Firma rechtzeitig in andere Hände zu geben und ein Führungsvakuum hinterlässt. Der autoritäre Stil ist eigentlich das Gegenteil des kooperativen Führungsstils, macht aber in gewissen Situationen nach wie vor Sinn. Vor allem in Krisen oder Katastrophen (z. B. Feuerwehreinsatz) bleibt keine Zeit für endlose Grundsatzdiskussionen. Unklare Verhältnisse hinsichtlich der Entscheidungskompetenzen bewirken Verzögerungen und kosten wertvolle Zeit. Der Einsatz des autoritären Stils sollte allerdings klar geregelt und zeitlich befristet sein. Die bekannteste klassische Einteilung von Führungsstilen stammt von Kurt Lewin (Lewin et al., 1939). Seine Unterscheidung zwischen einem autoritären, einem kooperativen und einem „Laissez-faire“-Führungsstil ist teilweise bis heute aktuell. Der kooperative Stil darf in Bezug auf den Umgang mit den Mitarbeitenden sogar als in vielerlei Hinsicht zeitgemäß bezeichnet werden. In den Assessments wird dieser Stil von den Kandidaten sehr oft als der von ihnen bevorzugte genannt. (1) Autoritärer Führungsstil: Damit ist das „Command and Control“ alter Schule gemeint. Die Führungskraft erteilt Anweisungen, die Mitarbeitenden führen die Aufträge aus. Es gibt keine Mitsprache, und es herrscht ein transaktionales Vorgehen vor. (2) Kooperativer Führungsstil: Beim kooperativen Stil entscheiden die Vorgesetzten partizipativ in einer Weise, bei der alle Mitglieder des Teams mitreden und ihre Meinung kundtun können. Die Führungskraft trifft ihre Entscheidungen basierend auf dem Input aller Mitarbeiter im Team, hat also immer noch das letzte Wort. In der Praxis verstehen die Führungskräfte unter kooperativem Führungsstil allerdings oft eher eine enge Zusammenarbeit und einen kollegialen Umgang mit den Mitarbeitenden. Man versteht sich als „Primus inter pares“, der diesen auf Augenhöhe begegnet und einen respektvollen und menschlichen Umgang mit ihnen pflegt. Neben Mitsprachemöglichkeiten werden gegenseitiges Vertrauen, eine offene Gesprächskultur, ein lösungsorientierter Umgang mit Fehlern und Konflikten sowie eine positive Haltung gegenüber Kritik und Vorschlägen seitens der Mitarbeitenden erwähnt. Ebenfalls als charakteristisch erachtet werden das großzügige Abgeben von Verantwortung und viele Freiheiten bei der Auftragserledigung. Mögliche Nachteile sind längere Entscheidungsfindungsprozesse und das Erfordernis, dass Führungskräfte über eine größere natürliche Autorität und persönliche Durchsetzungsstärke verfügen müssen, weil die Bedeutung von Positionsmacht abnimmt. Der kooperative Führungsstil ist die Vorstufe der agilen Führung, bei der die Verantwortung und die Entscheidungskompetenz vollständig an das Team übertragen werden und die Führungskraft primär beratend und begleitend wirkt. Der kooperative Führungsstil wirkt sich in aller Regel sowohl positiv auf die Zufriedenheit der Beteiligten als auch auf das von diesen erzielte Ergebnis aus (vgl. z. B. Nerdinger, 2014). (3) Laissez-faire-Führungsstil: Die Führungskraft greift nicht nur nicht aktiv ins Geschehen ein, sondern interessiert sich im Grunde weder für die Aufgabe noch für die Mit-

8.1  Klassische Taxonomien von Führungsstilen

275

arbeitenden. Eigentlich handelt es sich dabei gar nicht um einen echten Führungsstil, weil ja auf jegliche Führungsaktivitäten verzichtet wird. Schon Lewin war davon überzeugt, dass gar keine Führung keine echte Option ist resp. meist wenig effektiv ist. Dennoch ist der Laissez-faire-Stil Teil des noch zu diskutierenden „Full-­Range-of-­ Leadership“-Modells. Er darf aber keinesfalls mit agiler Führung oder Empowerment verwechselt werden. Einem Team einfach die ganze Verantwortung abzugeben und es mit der Aufgabe alleinzulassen, ist nicht die Idee moderner Führungskonzepte. Wird das skizzierte Führungsverständnis des kooperativen Stils hinsichtlich des Umgangs mit den Mitarbeitenden mit einem fairen und strukturierten Vorgehen (v. a. Regelkommunikation) kombiniert und konsistent gelebt, resultiert auf alle Fälle ein grundsolides und in ­gewisser Weise zeitloses und effektives Führungsverhalten. Als dritte klassische Führungsstiltheorie ist das Führungskontinuum von Tannenbaum und Schmidt (1958) zu nennen. In dieser Theorie werden 7 verschiedene Führungsstile nach dem Grad des Entscheidungsspielraums der Vorgesetzten und der Mitarbeitenden bzw. des gesamten Teams unterschieden: ( 1) Autoritär: Vorgesetzte entscheiden allein. (2) Patriarchalisch: Vorgesetzte entscheiden, begründen die Entscheide aber. (3) Konsultativ: Vorgesetzte holen Meinungen ein, entscheiden am Ende jedoch selbst. (4) Beratend: Vorgesetzte lassen sich von den Mitarbeitenden beraten, entscheiden aber selbst. (5) Partizipativ: Lösungen werden gemeinsam entwickelt, Vorgesetzte entscheiden am Schluss. (6) Delegativ: Vorgesetzte definieren Problem und Entscheidungsspielraum, Gruppe entscheidet. (7) Demokratisch: Gruppe entscheidet autonom, Vorgesetzte sind Koordinatoren. Tannenbaum und Schmidt gehen übrigens nicht davon aus, dass ein bestimmter Stil situationsunabhängig der richtige ist, sondern postulieren, dass die Wahl des Stils von den Merkmalen der Vorgesetzen, der Gruppe und ihrer Mitglieder sowie der jeweiligen Situation abhängig gemacht werden sollte. Diese Überlegung bildet die Grundlage des bekannten situativen Führungsstils von Hersey und Blanchard (1993), der später gesondert diskutiert wird. Der demokratische Führungsstil entspricht weitgehend der agilen Führung gemäß der in diesem Buch vertretenen Auffassung. Eine aktuellere Zusammenstellung von Führungsstilen stammt von Goleman et  al. (2005). Bemerkenswert ist dabei der Ansatz, die postulierten 6 Führungsstile auf ihre emotionale Wirkung zu untersuchen. Ihren Vorstellungen zufolge geht es in der Führung in hohem Maße darum, positive Resonanz zu erzeugen, das heißt, im Grunde die Mitarbeitenden auf der Gefühlsebene anzusprechen. Auf diese Weise soll ein positiver Einfluss sowohl auf das Arbeitsklima und das Wohlbefinden als auch auf die Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden erzeugt werden. Mit den Stilen „visionär, coachend, gefühlsorientiert und demokratisch“ soll dies nachhaltig, mit dem fordernden Stil entweder zeitlich begrenzt oder

276

8  Führungsverhalten und Führungsstile

in bestimmten Situationen möglich sein. Das Risiko beim fordernden Stil besteht in der Überforderung der Mitarbeitenden. Den befehlenden Stil erachtet er – außer in absoluten Ausnahmesituationen – dagegen als destruktiv, da er oft falsch angewendet wird und das Klima und das Wohlbefinden der Beschäftigten zumindest längerfristig oft schädigt. (1) Visionär: Verwirklichung gemeinsamer Träume. (2) Coachend: individuelle Ziele mit den Organisationszielen in Einklang bringen. (3) Gefühlsorientiert: Menschen verbinden und Harmonie herstellen. (4) Demokratisch: Einbezug der Mitarbeitenden. (5) Fordernd: Erreichung anspruchsvoller Zielsetzungen. (6) Befehlend: Vorgabe einer klaren Richtung, Mitarbeitende als Befehlsempfänger. Wichtig an diesem Katalog ist die Annahme eines destruktiven Führungsstils. Genau wie bei der Dark Triad of Personality handelt es sich bei der Annahme negativer Führung („Abusive Leadership“) um einen vergleichsweise neuen Forschungsansatz. Mittlerweile existiert eine ganze Reihe verschiedener schädlicher Führungsstile sowohl bezüglich Gesamtführung (z. B. als Ursache von Wirtschaftskriminalität) als auch hinsichtlich der eigentlichen Menschenführung (vgl. Schilling & May, 2015). Gemäß Brosi und Spörrle (2012) umfasst aversive Führung vor allem die Einschüchterung und Maßregelung der Mitarbeitenden. Aus Mitarbeitersicht ist dieses Verhalten nicht nur mit negativen Gefühlen und einem geringeren Wohlbefinden verbunden, sondern senkt mit der Zeit auch die Arbeitsleistung. Als Ergänzung zu diesen theoretischen Konzepten nicht unerwähnt bleiben sollen die Erkenntnisse des schon erwähnten Forschungsprojekts GLOBE (Global Leadership and Organizational Behavior Effectiveness (House et al., 2004; Javidan et al., 2004). In einer der umfangreichen Studien wurde der Frage nachgegangen, welche Erwartungen von den Menschen an Führungskräfte gerichtet werden und ob sich diese Erwartungen in den verschiedenen Kontinenten voneinander unterscheiden. Um dies herauszufinden, wurden die impliziten Führungstheorien in diversen Regionen der Welt erhoben. Am Ende wurden die folgenden 6 Führungsstile identifiziert: ( 1) Charismatische Führung: inspirierend, motivierend, entschlossen, erfolgsorientiert. (2) Teamorientierte Führung: gemeinsame Ziele, Teamerfolg im Zentrum, integrativ. (3) Partizipative Führung: Einbezug der Teammitglieder bei der Entscheidungsvorbereitung und bei der Umsetzung von Entscheidungen, Delegation von Aufgaben. (4) Menschliche Führung: unterstützend, aufmerksam, mitfühlend, großzügig. (5) Autonome Führung: unabhängig, individualistisch (d. h. im Prinzip ­Alleinentscheider). (6) Selbstschützende Führung: selbstbezogen, statusorientiert; sicherheitsorientiert, konfliktär. Die empirischen Ergebnisse zeigten, dass der charismatische und der teamorientierte Führungsstil kulturübergreifend als effektiv und wirkungsvoll eingeschätzt werden, während sich die Beurteilung der übrigen Stile zwischen den verschiedenen Kulturen unterscheidet. Dies ist

8.2  Aufgaben- versus Beziehungsorientierung

277

ein spannender Befund, für dieses Buch jedoch nur insofern von Bedeutung, als davon ausgegangen werden darf, dass Kooperation grundsätzlich auf fruchtbaren Boden fällt und dass hinsichtlich der wohl weltweit vorhandenen Empfänglichkeit für charismatische Führungsfiguren generell und überall ein mehr oder weniger starker Sensibilisierungsbedarf besteht.

8.2 Aufgaben- versus Beziehungsorientierung Bis heute orientieren sich diverse Führungskonzepte an einem zweidimensionalen Modell mit den Achsen Aufgaben- resp. Sach- und Beziehungsorientierung. Dieser Ansatz geht auf die Ohio- (Stogdill, 1948; Fleishman, 1953) sowie die Michigan-Studien (Katz et al., 1951) zurück, in denen auf empirische Weise zwei Grunddimensionen der Führung extrahiert wurden. Diese beiden Grunddimensionen konnten seither immer wieder nachgewiesen werden und sind bis heute gültig. Die Ohio-Schule differenziert dabei zwischen „Consideration“ und „Initiating Structure“: (1) Consideration (Mitarbeiterorientierung): In einer hohen Ausprägung kümmert sich die Führungskraft um die einzelnen Mitarbeiter und sorgt sich um deren Wohlergehen. (2) Initiating Structure (Aufgaben-, Ziel- und Leistungsorientierung): Die Aufgaben und Leistungsorientierung umfasst neben sachbezogenen Aktivitäten wie dem Definieren klarer Ziele, dem Aufzeigen der Wege zum Ziel und dem Strukturieren von Aufgaben auch zwischenmenschliche Aspekte wie Aktivieren (Ermuntern oder unter Druck setzen) oder Geben von Anerkennung oder Kritik im Rahmen von Kontrolle. Die wohl bekannteste auf diesem Ansatz basierende Theorie ist der „Managerial Grid“ von Blake und Mouton (1964). Bei dem von diesen Autoren entworfenen Verhaltensgitter handelt sich um eine zweidimensionale Kategorisierung verschiedener idealtypischer Führungsstile entlang der beiden Aspekte Aufgaben- und Mitarbeiterorientierung. Die x-Achse heißt in diesem Konzept „Concern for Production“, die y-Achse „Concern for People“, wobei jeweils ein Wertebereich von 1 bis 9 angenommen wird: Der 1,1-­Führungstyp („Impoverished Management“) ist weder an den Mitarbeitenden noch an der Aufgabe interessiert und betreibt Laissez-faire. Im Unterschied gelingt es dem 9,9-­ Typen („Team Management“), beide Aspekte in hohem Maße zu berücksichtigen und damit eine exzellente Arbeitsleistung sicherzustellen. Der 9,9-Führungsstil symbolisiert die idealtypisch „perfekte Führungskraft“, die in der Realität ebenso selten anzutreffen ist wie die beiden Extremtypen 1,9 und 9,1. Eine hoch sach-, aber gar nicht mitarbeiterorientierte Person lässt ein druckvolles, wenig empathisches Verhalten erwarten, während der gegenteilige Führungstyp Gefahr läuft, eine karitative Wohlfühlatmosphäre zu kreieren und die Zielerreichung zu vernachlässigen. In der Praxis dominiert der 5,5-­Durchschnittstyp („Middle-of-the-Road“-Management). Diese gewissermaßen gemäßigten Führungskräfte erbringen eine ausreichende Leistung, weil sie beiden Aspekten mehr oder weniger viel Aufmerksamkeit schenken und Extreme auf beide Seiten vermeiden.

278

8  Führungsverhalten und Führungsstile

Die Bedeutung der 2 Hauptdimensionen liegt nicht zuletzt darin, dass sie mit den beiden zentralen teambezogenen Führungsthemen „Lokomotion“ und „Kohäsion“ übereinstimmen. Ersteres steht für die Erfüllung der Aufgabe und die Zielerreichung, letzteres für die Förderung des Zusammenhalts und des Wir-Gefühls in einem Team. Die besten Ergebnisse erzielen Teams, die sich untereinander im Sinne der übergeordneten Ziele kooperativ verhalten. Sowohl bei einem internen „Jeder gegen jeden“ als auch bei einer übersteigerten Ausrichtung auf das emotionale Wohlbefinden aller Beteiligten sind tendenziell schlechte Ergebnisse zu erwarten. Entweder bleibt irgendwann das Miteinander oder aber die Zielerreichung auf der Strecke. Ob jemand hauptsächlich der Sache und der Zielerreichung verpflichtet ist, primär beziehungsorientiert ist oder beides auf sich vereint, gehört bis heute zu den wichtigsten Kriterien eines berufsbezogenen Persönlichkeitsprofils einer bestimmten Führungskraft.

8.3 Situative Führung Anders als die meisten traditionellen Führungsstile berücksichtigt der bekannte situative Führungsstil von Hersey und Blanchard (1993; Blanchard et al., 2019) auch die Bedingungen, unter denen Führung stattfindet. Situativ führen im Sinne der genannten Autoren bedeutet, je nach Reifegrad und Aufgabe des Mitarbeitenden einen jeweils anderen Führungsstil einzusetzen. Dabei umfasst der Reifegrad die fachliche Qualifikation der Mitarbeitenden ebenso wie ihre Motivation, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen. Grundlage ist auch bei diesem Konzept die Unterscheidung von Aufgaben- und Beziehungsorientierung. Je nachdem sind folgende Führungsstile einzusetzen: (1) Dirigieren: Ist der Reifegrad eines Mitarbeitenden niedrig, sollen genaue Instruktionen und sehr klare Vorgaben gemacht werden (hohe Aufgabenorientierung, niedrige Beziehungsorientierung). (2) Überzeugen: Bei einem mittleren Reifegrad steht immer noch Anweisen im Vordergrund, die Mitarbeitenden dürfen aber Fragen stellen. Ebenso werden sie bei Entscheidungen um ihre Meinung gefragt (hohe Aufgabenorientierung, hohe Beziehungsorientierung). (3) Einbeziehen: Bei einem fortgeschrittenen Reifegrad der Mitarbeitenden sollen diese recht selbstständig agieren können, die Führungskraft steht aber unterstützend zur Seite (niedrige Aufgabenorientierung, hohe Beziehungsorientierung). (4) Delegieren: Motivierten Fachleuten können Aufgaben vollständig abgegeben werden, ohne dass sich die Führungskraft besonders kümmern muss (niedrige Aufgabenorientierung, niedrige Beziehungsorientierung). Die Assessment-Praxis zeigt, dass der situative Führungsstil den meisten Führungskräften prinzipiell bekannt ist. Allerdings wird situative Führung oft wörtlich und nicht im Sinne der Erfinder verstanden. Das heißt, die Kandidaten verstehen darunter, dass sie sich gene-

8.4  Transaktionale und transformationale Führung

279

rell situationsspezifisch unterschiedlich verhalten sollen. Dass unterschiedliche Situationen nach verschiedenen, daran angepassten Führungsstilen verlangen, ist intuitiv logisch und insofern eigentlich allen klar. Eine aktuellere situative Klassifikation von Führungsstilen stammt von Kissel und Tschinkel (2018). Kissel (2016) unterscheidet die Stile Agieren, Agil, Delegieren und Lernen und Managen. 1) Agieren: In chaotischen, ungewissen und krisenhaften Situationen sind vor allem ein entschlossenes Vorgehen und rasches Handeln gefragt. 2) Der agile Stil ist angesagt, wenn weder das Ziel noch der Weg dahin völlig geklärt sind. Mittels Experimentierens und Lernens soll der Weg gefunden werden. Im Agilitätsverständnis der Autoren handelt das Team allerdings nicht eigenverantwortlich. 3)  Delegieren und Lehren kommt in berechenbaren und nicht zeitkritischen Situationen zum Tragen. Aufgaben werden zu Ausbildungszwecken delegiert, wobei die Führungskraft als beratender Experte zur Verfügung steht. 4)  Managen ist in diesem Modell in vorhersehbaren Situationen mit einem klaren Ziel die richtige Wahl. Mit klassischen Managementmethoden führt die Führungskraft das Team zum gewünschten Ergebnis.

8.4 Transaktionale und transformationale Führung Die letzten Jahrzehnte in Führungsforschung und -praxis waren vor allem durch die Unterscheidung von transaktionaler und transformationaler Führung geprägt (Burns, 1978; Bass, 1985). (1) Transaktionale Führung steht für eine Austauschbeziehung zwischen Mitarbeitenden und Unternehmen resp. Führungskraft. Die Mitarbeitenden werden belohnt, wenn sie die gesetzten Ziele erreichen und die ihr zugeordneten Aufgaben zuverlässig erledigen. Im Extremfall dominiert beim Führungsverhalten ein reines „Command and Control“. (2) Transformationale Führung zielt hingegen darauf ab, die Mitarbeitenden dazu zu bewegen, sich aus eigenem Antrieb für die übergeordneten Ziele des Unternehmens einzusetzen, wobei sie insofern „transformiert“ werden, als sie die angestrebte Vision für sich übernehmen sollen. Entscheidend ist das Menschenbild  Y, wonach sich Menschen von sich aus engagieren wollen, wenn sie in der Arbeit einen Sinn sehen und darin Erfüllung finden. Die transaktionale Führung passt zum klassischen Maschinenparadigma und basiert auf dem Menschenbild X. Dieses geht davon aus, dass Menschen grundsätzlich faul sind und mittels klarer Ziele, extrinsischer Belohnung (materielle Belohnung, Anerkennung) und eines engen Führungsstils gewissermaßen zu Leistung angetrieben werden müssen. Die Führungsbeziehung zwischen Vorgesetzten und Unterstellten wird dabei als unpersönlicher und rationaler Austauschprozess begriffen. Gemäß der Erwartungs-Valenz-Theorie von Vroom (1964) hängt das Gelingen der transaktionalen Führung davon ab, ob die Mit-

280

8  Führungsverhalten und Führungsstile

arbeitenden 1) die Erfahrung machen, dass Anstrengung zu Leistung führt, dass 2) Leistung angemessen belohnt wird und dass 3) die erhaltende Belohnung sicherstellt, dass die Geführten einen Teil ihrer persönlichen Bedürfnisse befriedigen können. Zentrale Elemente der transaktionalen Führung sind Zielvorgaben resp. -vereinbarungen (z. B. MbO), Kontrolle der Leistungsergebnisse sowie Belohnung für erwartungskonformes Verhalten resp. Bestrafung bei Nichterfüllen der Abmachungen. Für die weiteren Ausführungen relevant ist zum einen die bedingte Belohnung („Contingent Reward“), das heißt die Abmachung, dass das Erreichen der Ziele eine festgelegte und bekannte Belohnung nach sich zieht; zum anderen die Kontrollaktivitäten, die entweder laufend und aktiv oder nur im Bedarfsfall erfolgen („Management by Exception“). Transformationale Ansätze sprechen vor allem die intrinsische Motivation an, indem bei den Geführten das Bedürfnis geweckt wird, sich aus eigenem Willen für eine Idee oder eine Organisation einzusetzen und sich mit ihr verbunden zu fühlen. Transformational beschreibt die Veränderung von Werten und Einstellungen der Geführten. Unter den traditionellen Führungsstilen trifft dies auf den charismatischen Führungsstil zu. Wie schon erwähnt, gelingt es hier einer als charismatisch wahrgenommenen Führungsfigur, ihre Anhänger für eine bestimmte Vision zu mobilisieren. Noch einmal ausdrücklich erwähnt sei, dass dieser Führungsstil aufgrund der Ausrichtung auf eine Heldenfigur und der hohen Manipulationsgefahr als problematisch betrachtet wird. In der Theorie von Bass (1985; Avolio & Bass, 1991) umfassen die transformationalen Ansätze die sogenannten 4 I: Idealized Influence (idealisierter Einfluss; Vorbildwirkung), Inspirational Motivation (inspirierende Motivation), Intellectual Stimulation (intellektuelle Stimulierung) und Individual Consideration (individuelle Aufmerksamkeit). (1) Idealisierter Einfluss (Vorbildwirkung): Die Führungskraft wird als Vorbild wahrgenommen, weshalb sich die Mitarbeitenden an ihr orientieren. Im positiven Fall sind Glaubwürdigkeit und Integrität die ausschlaggebenden Faktoren, die den Willen zur Gefolgschaft begründen. (2) Inspirierende Motivation: Eine inspirierende Vision vermittelt nicht nur eine übergeordnete Richtung und Zielsetzung, sondern auch Sinn und Bedeutung. Im Idealfall wird das Bedürfnis geweckt, sich engagiert und aus freien Stücken für das attraktive Vorhaben einzusetzen. (3) Intellektuelle Stimulierung: Die Führungskraft ermutigt die Geführten zum Mitdenken und zum Äußern von innovativen Ideen. Ausdrücklich erwünscht ist kritisches Denken, beispielsweise indem bestehende Strukturen und Ansätze hinterfragt und neue Vorschläge gemacht werden. (4) Individuelle Aufmerksamkeit: Gemeint ist das individuelle Eingehen auf die Mitarbeitenden, wobei die Führungskraft hauptsächlich als Coach und Berater auftritt. Ziel ist es, nicht nur die jeweiligen Stärken und Fähigkeiten zu erkennen, sondern auch auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen sowie das Selbstvertrauen der Mitarbeitenden zu stärken.

281

8.4  Transaktionale und transformationale Führung effektiv

1 2 3 4

Idealisierter Einfluss

Inspirierende Motivation

Intellektuelle Stimulierung

Individuelle Aufmerksamkeit

5 Leistungsorientierte Belohnung

passiv

6 7 8

Aktive Kontrolle

aktiv

Eingreifen im Bedarfsfall Laissez-faire ineffektiv

Abb. 8.1  Full-Range-of-Leadership-Modell nach Avolio und Bass (1991)

Zusammen mit dem „Laissez-faire“-Führungsstil sowie den transaktionalen Komponenten „Contingent Reward“ und „Management by Exception“ bilden die 4 I das in Abb. 8.1 dargestellte „Full-Range-of-Leadership-Modell“. Bei den Führungsstilen 1–4 handelt es sich um die bereits diskutierten transformationalen Führungsstile, bei 5–7 um die transaktionalen Ansätze. Bei der leistungsorientierten Belohnung steht der Austausch zwischen einer Arbeitsleistung und der dafür erhaltenen Belohnung im Zentrum. Aktive Kontrolle beschreibt laufende und vorausschauende Kontrollaktivitäten (aktives Management by Exception), während Eingreifen im Bedarfsfall resp. passives MbE meint, dass nur eingegriffen wird, wenn die Leistung aus dem Ruder läuft oder andere Probleme auftauchen. Das Full-Range-of-Leadership-Modell wurde bereits 1991 von Avolio & Bass entwickelt. Es hat sich unter den Führungsstilklassifikationen mittlerweile weitgehend durchgesetzt und erfreut sich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis einer großen Zustimmung und Verbreitung. So konnte etwa die angenommene Hierarchie in der Wirksamkeit der verschiedenen Stile mehrfach bestätigt werden (Jackenroll, 2016). Allerdings wird zunehmend angezweifelt, dass dieses Modell wirklich das gesamte Verhaltensspektrum abdeckt. Es fehlt etwa die destruktive Führung, die agile Führung, die ethische Führung oder das Servant Leadership.

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8  Führungsverhalten und Führungsstile

Bereits seit Längerem diskutiert wird eine notwendige Ergänzung durch die instrumentelle Führung (Antonakis & House, 2004). Diese bezieht sich auf die strategische Dimension des Führungshandelns, indem sie postuliert, dass eine Führungskraft ihre Umwelt beobachtet, aus ihren Schlüssen Strategien und Ziele ableitet und die Mitarbeitenden dabei unterstützt, diese Ziele zu erreichen. Im Einzelnen umfasst instrumentelle Führung die folgenden 4 Dimensionen: (1) Umfeldanalyse: Die Führungskraft untersucht ihre Umwelt auf Chancen, Herausforderungen und Risiken. Es gilt, relevante Veränderungen frühzeitig zu entdecken. (2) Strategie: Dieser Aspekt ergänzt das visionäre Element der transformationalen Führung durch den konkreten Weg, wie dieses erreicht werden soll. Es werden Ziele und Maßnahmen definiert. (3) Weg-Ziel-Unterstützung: Hier agiert die Führungskraft als Facilitator, der den Mitarbeitenden den Weg zur Zielerreichung freimacht und Hindernisse aus dem Weg räumt. (4) Ergebnis-Feedback: Im Unterschied zur transaktionalen Führung, bei der die Ergebnisse in formalen, meist zeitlich lange auseinanderliegenden Abständen diskutiert werden, wird hier ein unmittelbarer, laufender Feedback-Dialog postuliert. Permanentes Feedback fördert die Ergebnisqualität und die Einsatzbereitschaft der Mitarbeitenden. Die Unterscheidung von transaktionaler und transformationaler Führung nimmt bei den Führungskräften resp. den Führungspraktikern eine überragende Bedeutung ein. Obwohl nicht ganz korrekt, nehmen diese im Prinzip an, dass früher nur transaktional geführt wurde, heutzutage jedoch primär transformationale Ansätze gefragt sind. Darunter wird in der Praxis grundsätzlich sämtliches Führungsverhalten verstanden, das nicht mit extrinsischen Belohnungen und Kontrollaktivitäten verbunden ist, sondern die intrinsischen Motive anspricht oder mit Sinngebung verbunden ist.

8.5 Aktuelle Leadership-Ansätze Mit dem Ziel, ein integriertes Gesamtmodell aller relevanten Führungskonzepte zu entwickeln, werden im Folgenden einige aktuelle Führungskonzepte vorgestellt. Zum Teil handelt es sich um ältere Konzepte, die erst seit einiger Zeit zunehmend Beachtung erfahren (z. B. Servant Leadership, Super-Leadership/Empowering Leadership), zum Teil um Ansätze, die unmittelbar mit dem derzeitigen Paradigmenwechsel hin zu einer menschengerechteren Arbeitsumgebung verbunden sind. Die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ermöglicht es aber, daraus die zukunftsgerichteten Best Practices abzuleiten. Die im Folgenden vorgestellten Konzepte überschneiden sich teilweise, sodass immer wieder ähnliche und bereits angesprochene Themen auftreten. Insofern zeigt die Zusammenstellung den Horizont der aktuellen Überlegungen auf. Dieser gemeinsame Kern definiert die wirklich zentralen Elemente und bildet die Grundlage der daraus abzuleitenden charakteristischen Verhaltensweisen eines New Leaders. Einige davon

8.5  Aktuelle Leadership-Ansätze

283

kommen auch in den bereits präsentierten Führungsmodellen (z. B. ethische oder sinnstiftende Führung) vor. Die zu vermeidende aversive Führung beschreibt oft das Gegenteil des erwünschten Verhaltens.

8.5.1 Servant Leadership Das im Grunde schon ältere Konzept des Servant Leadership (dienende Führung) geht auf einen Aufsatz von Greenleaf (1970) zurück und erfreut sich momentan speziell in den Vereinigten Staaten größter Beliebtheit. Gemäß Schnorrenberg (2014) wird diese Führungsphilosophie an den bedeutsamsten amerikanischen Business Schools (Harvard, Wharton) gelehrt und von diversen Management-Vordenkern (z. B. Senge, Blanchard, Covey) als die relevanteste Führungsvision des neuen Jahrtausends gepriesen. Dabei handelt es sich nicht um eine spezifische Methode oder Technik, sondern eher um eine Lebensphilosophie, die sich nicht nur an Führungskräfte, sondern – passend zu dem hier vertretenen Führungsverständnis – an alle Menschen richtet. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie jeder und jede Einzelne in einer dienenden Rolle Verantwortung für andere Menschen, die Gesellschaft und die Umwelt übernehmen kann. Dieser allumfassende Anspruch beinhaltet mehr als jede andere Führungstheorie auch das Gebot von Nachhaltigkeit im eigenen Tun. Implizit handelt es sich bei Servant Leadership auch um eine Entwicklungstheorie, deren Endpunkt durch eine hohe persönliche Reife markiert wird (Hinterhuber & Saeed, 2014). Das folgende Zitat von Albert Einstein bringt die Grundhaltung von Servant Leadership auf den Punkt: „Es ist die hohe Bestimmung des Menschen, mehr zu dienen als zu herrschen oder sich sonst in irgendeiner Form zu erheben.“ Auf der Ebene der Führung beschreibt der idealtypische Servant Leader eine Person, die eine bescheidene Grundhaltung im Sinne von „Primus inter pares“ und ein natürliches Bedürfnis aufweist, sich in den Dienst anderer oder des Gesamtwohls zu stellen sowie die Entwicklung der Mitarbeitenden in den Mittelpunkt ihres Führungshandelns zu setzen. Im Grunde lässt sich Servant Leadership in der Führungspraxis weitgehend auf die folgende Frage reduzieren: „Wie kann ich dich bei der Erreichung der Ziele unterstützen?“. Spears (2002) identifiziert die folgenden 10 Kernelemente dienender Führung: 1) aktiv Zuhören, 2) Empathie, 3) Heilung, 4) Bewusstsein, 5) Weitsicht und Intuition, 6) Überzeugungskraft auf der Basis von Vertrauen, 7) Mut, Visionen zu konzipieren, 8) Eigenverantwortung stimulieren und Gemeinschaft fördern, 9)  die Kunst der Kontemplation in der Aktion, 10) Bedürfnis und Bereitschaft, sich selbst ändern zu wollen. Mit dem Ziel, das offene, keinesfalls einheitliche Gesamtkonzept zu spezifizieren und messbar zu machen, hat van Dierendonck (nach Pircher, Verdorfer & Peus, 2015) die Servant Leadership Survey entwickelt. Diese beinhaltet die folgenden acht Dimensionen: (1) Übertragen von Verantwortung (Empowerment): Selbstgesteuerte Entscheidungsfindung der Mitarbeitenden ermöglichen, um diese zu mehr Autonomie und Eigeninitiative zu befähigen.

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8  Führungsverhalten und Führungsstile

(2) Verantwortungszuschreibung (Accountability): Volle Verantwortung für die Mitarbeitenden. Es werden nicht nur Aufgaben delegiert, vielmehr sind die Mitarbeitenden auch für die Ergebnisse verantwortlich. Ein etwaiger Vorgesetzter bleibt aber rechenschaftspflichtig. (3) Bescheidenheit (Standing back). Die Führungskraft nimmt sich zurück und hält sich im Hintergrund. Sie teilt oder überlässt die Anerkennung für Erfolge den Mitarbeitenden. (4) Demut (Humility). Realistische Selbsteinschätzung, Kenntnis der eigenen Schwächen und Grenzen sowie Zulassen von Kritik und anderen Ansichten und Standpunkten. (5) Authentizität (Authenticity). Unverfälschter Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, Werte und Schwächen. Übereinstimmung zwischen inneren Überzeugungen und äußerem Handeln. (6) Mut (Courage). Einstehen für die eigenen Überzeugungen auch bei Widerstand. Eingehen von Risiken zwecks Erprobung neuartiger Lösungswege und Ideen. (7) Versöhnlichkeit (Forgiveness). Toleranter Umgang mit Fehlern und Fehlverhalten seitens der Mitarbeitenden. (8) Verantwortung (Stewardship). Wille und Bereitschaft, eigene Interessen dem Wohlergehen Vieler unterzuordnen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Dieses breite Konzept von Servant Leadership vereinigt im Grunde auch die folgenden Führungsansätze in sich. Diese stellen mehrheitlich eher einen Teilaspekt der Gesamtphilosophie in den Mittelpunkt (z. B. Authentizität, Empowerment). Auch deshalb markiert das Servant Leadership in meinem Modell von New Leadership den Endpunkt der persönlichen Reife- und Führungsentwicklung. Als Ergänzung wird das Neuroleadership (inkl. positive Leadership) vorgestellt. Es fokussiert eher die neuropsychologische Fundierung der mehrheitlich bereits bekannten Grundsätze guter Führung.

8.5.2 Authentische Führung (Authentic Leadership) Authentizität bedeutet grundsätzlich, man selbst zu sein und echt zu sein. Nicht gemeint ist damit, etwa Launen oder cholerische Anfälle ungefiltert freien Lauf zu lassen. Vielmehr bedingt echte Authentizität eine hohe persönliche Reife. Authentische Führung ­glaubwürdig zu praktizieren, setzt voraus, zu sich gefunden zu haben und die eigenen Stärken und Entwicklungsfelder sehr genau zu kennen. Die erste Version von authentischer Führung geht auf George (2003) zurück und umfasst die folgenden 5 Komponenten: 1) Purpose: Man muss die eigene Mission kennen, was eine hohe Selbstkenntnis voraussetzt. 2) Values (Werte): Ein zur eigenen Person passender Wertekompass bestimmt das Handeln. Damit strahlt man Persönlichkeitsformat aus und wird im Handeln berechenbar. Andere wissen rasch, woran man ist. Auch dies setzt einen Selbstreflexionsprozess voraus. 3) Heart (Herz): Es geht darum, den Zugang zu den eigenen Emotionen und denjenigen anderer zu finden. Empathie ist hier das Stichwort und der Schlüssel. Auch die eigenen Gefühle gleichermaßen natürlich und situationsangepasst auszudrücken, braucht Übung.

8.5  Aktuelle Leadership-Ansätze

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4) Relationships (Beziehungen): Im Zentrum stehen bei diesem Aspekt das richtige Ausgestalten von Nähe und Distanz sowie die ausgewogene Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Stakeholder (inkl. das eigene Unternehmen). 5) Self-Discipline (Selbstdisziplin): „Practice what you preach“. Die eigene Linie muss auch in schwierigen Situationen konsequent verfolgt werden. In der Folge wurde der moralische Aspekt weiter gestärkt. Gemäß Peus et al. (2015) umfasst die aktuelle Konzeption von authentischer Führung noch 4 Komponenten. Es handelt sich dabei um folgende: (1) Selbsterkenntnis: Die Führungskraft kennt ihre Werte, Stärken und Grenzen ebenso wie ihre Wirkung auf andere. Außerdem holt sie sich regelmäßig Feedback von außen ein. (2) Ausgeglichene Informationsverarbeitung: Die Führungskraft berücksichtigt Informationen aus verschiedenen Quellen  – explizit auch solche, die ihrer Haltung widersprechen. (3) Transparente Beziehungsgestaltung: Die Führungskraft agiert transparent sowie ehrlich und bringt im Kontakt mit anderen ihre wirklichen Gedanken und Gefühle zum Ausdruck. (4) Moralische Werthaltung: Die Führungskraft hat höhere moralische Prinzipien internalisiert. Sie kommuniziert diese und richtet ihr eigenes Verhalten daran aus – auch gegenüber Widerstand. Die Autorinnen nehmen an, dass authentische Führung bei den Mitarbeitenden zu einer hohen Identifikation mit der Führungskraft führt. Diese Identifikation bewirkt positive Gefühle und Vertrauen. Letzteres wirkt sich wiederum positiv auf das Arbeitsverhalten aus. Grundsätzlich wird deutlich, dass authentische Führung weit über authentisches Verhalten im engeren Sinne hinausgeht. Im Zentrum stehen vielmehr eine hohe Bewusstheit sich und anderen gegenüber sowie eine moralische Haltung mit Vorbildwirkung. Stärker als bei der ethischen Führung steht hier die Persönlichkeit im Zentrum. Eine authentische Führungskraft vermittelt vor allem damit Orientierung, während die ethische Führungskraft ethisches Verhalten explizit einfordert. Erforderlich ist eine hohe persönliche Reife. In der Assessment-Praxis lassen sich authentische Führungskräfte vor allem daran erkennen, dass man sehr rasch das Gefühl hat zu wissen, woran man bei ihnen ist. In der Regel vermögen sie, ihre unverkennbare individuelle Linie darzustellen, wobei oft einige wenige Prinzipien und Überzeugungen ausschlaggebend sind. Wie schon erwähnt, sind nicht alle in der Lage, ihren persönlichen Entwicklungsprozess nachvollziehbar zu beschreiben, weil sie auf eine primär intuitive Weise zu sich gefunden zu haben. Eigentlich immer vorhanden sind dagegen eine starke Ausstrahlung und eine spürbare natürliche Autorität.

8.5.3 Empowering Leadership/Super-Leadership Das „Empowering Leadership“ resp. ursprünglich „Super-Leadership“ dreht sich im Kern um Führung durch Selbstführung sowie das Ermächtigen und Fördern von Mitarbeitenden durch die Vergabe weitreichender Kompetenzen und Verantwortlichkeiten, sodass zumin-

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dest ein Teil der Führungsarbeit in das Team übergeht und eine Art Shared Leadership entsteht. Das Konzept geht auf die Arbeiten von Manz und Sims (1990) zurück, die im Rahmen ihrer Untersuchungen die folgenden 4 Typen von Führungspersönlichkeiten identifizierten 1)  „Strongman“, 2)  „Transactor“, 3)  „Visionary Hero“ sowie den sogenannten 4) „Super-Leader“. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht nur gelernt hat, sich auf kompetente Weise selbst zu führen, sondern als Führungskraft seine Aufgabe darin sieht, die Mitarbeitenden dazu zu befähigen, sich selbst zu führen resp. eigenverantwortlich zu handeln. Die Mitarbeitenden sollen also dazu befähigt werden, sich selbstständig eigene Ziele zu setzen und diese zu verfolgen, wobei der Super-Leader sowohl als Vorbild wirkt als auch die Mitarbeitenden dabei unterstützt, zunehmend eigenverantwortlich zu handeln. Zunächst hauptsächlich als Coach und Moderator tätig, teilt er mit der Zeit Kontrolle, Wissen und Macht, sodass zunehmend eine Form von teambasierter geteilter Führung (Shared Leadership) mit wechselseitiger Kontrolle entsteht. Pearce und Sims (2002) beschreiben Empowering Leadership anhand der nachstehenden 6 Dimensionen. Ein alternatives Konzept bietet das Modell von Arnold et al. (zit. nach Furtner, 2017), das aus 5 Dimensionen besteht. Die beiden Ansätze werden in Tab. 8.1 einander gegenübergestellt. Manz und Sims (1991) legen auch ein 7-stufiges Phasenmodell zur Entwicklung von Empowering Leadership vor. Wichtig daran ist, dass eine Führungskraft zuerst ausreichende Selbstführungskompetenzen erwerben muss, damit sie eine Vorbildwirkung einnehmen kann. Bei der Förderung der individuellen Selbstführungskompetenz der ­Mitarbeitenden stehen die Aspekte Ermutigung zur Selbstzielsetzung, Vermittlung von positiven Gedanken und Zuversicht sowie eine Stärkung der Selbstführungsfähigkeiten im Zentrum. Anschließend wird das Self-Leadership des gesamten Teams und zu guter Letzt eine organisationale Self-Leadership-Kultur gefördert. Eine Anwendung dieser Ideen empfiehlt sich besonders bei kompetenten Personen, in einem komplexen Umfeld sowie bei anspruchsvollen Aufgaben oder wenn Innovation und Spitzenleistungen gefragt sind.

Tab. 8.1  Dimensionen von Empowering Leadership nach Furtner (2017) Pearce & Sims Partizipative Zielsetzung Ermutigung zum autonomen Handeln Ermutigung zur Selbstbelohnung Ermutigung zum Chancen-Denken Förderung/Ermutigung zu Selbstentwicklung Förderung der Teamarbeit

Arnold et al. Partizipative Entscheidungsfindung Positives Vorbild Coaching (Förderung von Eigenverantwortung) Informieren (Wissen teilen, Transparenz) Anteilnahme zeigen/Interaktion mit dem Team

8.5  Aktuelle Leadership-Ansätze

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8.5.4 Respektvolle Führung Obwohl zumindest implizit in verschiedenen Führungstheorien enthalten (v. a. als Teil von Individual Consideration), ist die respektvolle Führung daran, sich als eigenständiges Konstrukt zu etablieren (Decker & Van Quakebeke, 2015). Im Kern geht es um die – in diesem Buch als besonders wichtig erachtete – partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe trotz eines offensichtlichen Machtgefälles zwischen Führungskraft und geführten Personen. Ob sich Mitarbeitende ernst genommen und respektiert fühlen, ist enorm wichtig für deren Selbstwertgefühl. Wirklich entscheidend ist jedoch die auf Darwall (1977) zurückgehende Unterscheidung von horizontalem und vertikalem Respekt 1) Horizontaler Respekt meint die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Individuen. Dieser Respekt ist bedingungslos, allgemeingültig und allen Menschen entgegenzubringen. 2) Vertikaler Respekt bezieht sich hingegen auf die Anerkennung von Leistungen oder Eigenschaften einer Person. Dabei geht es darum, eine bestimmte Person mit anderen zu vergleichen und zu bewerten. Mit bestimmten Fähigkeiten kann man sich Respekt verschaffen und sich beispielsweise Gefolgschaft sichern. Decker und van Quakebeke untergliedern die respektvolle Führung in die folgenden 3 Komponenten: ( 1) Respektvolle Umgangsformen: Höflichkeit, Fairness und Ehrlichkeit. (2) Respektvolle Zusammenarbeit: Anerkennung geben, ernst nehmen, vertrauen und informieren. (3) Respektvolle Beziehung: Interesse, Loyalität und Verantwortlichkeit. Den genannten Forschenden schlagen sämtliche Aspekte dem horizontalen Respekt zu. Für die Praxis hilfreich wird der Ansatz, wenn man bezüglich horizontalem Respekt alle Mitarbeitenden als gleichwertig im Sinne von gleich wertvoll begreift und allen mit derselben wohlwollenden Grundhaltung begegnet, während man bei der vertikalen Dimension ehrliche Rückmeldungen zu den gezeigten Leistungen in den Mittelpunkt stellt. Dass gleichwertig nicht gleich fähig bedeutet, ist zwar im Grunde logisch, wird im Alltag aber oft nicht berücksichtigt. Oft werden diese beiden Aspekte vermischt oder gar nicht als zwei verschiedene Dinge erkannt. So wird eine unvoreingenommene und wertschätzende Grundhaltung oft als generell nicht wertende Einstellung missverstanden. Immer alles gut finden zu müssen, was die anderen machen, mag tolerant sein, nicht aber respektvoll. Wenn beispielsweise eine Person unangenehm riecht, ist es respektvoller, sie darauf ­anzusprechen, um sie vor negativen Reaktionen anderer zu schützen, als es einfach hinzunehmen. Letzteres ist eigentlich feige, es sei denn, es stört einen wirklich nicht. Das anzustrebende Führungsideal besteht im Vermögen, gleichzeitig allen Mitarbeitenden wohlwollend, gewährend und partnerschaftlich zu begegnen (horizontaler Respekt), ihnen aber gleichzeitig klares und differenziertes Feedback zu ihren Leistungen, ihrem Verhalten und ihren Entwicklungsthemen zu geben (vertikaler Respekt). Auch weil diese beiden Aspekte zu wenig getrennt werden, nehmen besonders empfindliche Menschen jegliche Kritik als Zeichen von Abwertung wahr, weil sie nicht damit umgehen können. Typischerweise behaupten solche Personen im Assessment, sie seien durchaus in der Lage, Kritik anzunehmen, sie müsse aber – aus ihrer Sicht – gerechtfertigt sein, oder sie begründen etwaige ablehnende Reaktionen auf erhaltenes Feedback mit der vermeintlich nicht

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8  Führungsverhalten und Führungsstile

respektvollen Art und Weise, wie die Kritik geäußert wurde. Teilweise wird auch argumentiert, dass man nicht von allen Personen Feedback annehmen könne, sondern nur von bestimmten – faktisch wohl von denen, die einem völlig unkritisch gegenüberstehen. In Tat und Wahrheit ist es schlicht und einfach so, dass nicht wenige Leute eigentlich ausschließlich für positive Rückmeldungen wirklich empfänglich sind, weil es ihnen an Kritikfähigkeit mangelt. Für eine hohe persönliche Reife ist eine zumindest angemessene Kritikfähigkeit aber unabdingbar. Bei sämtlichen Lernprozessen ist mangelnde Kritikfähigkeit ein Problem – sie werden behindert und finden deshalb zu wenig statt. Wenn jemand immer alles persönlich nimmt und beleidigt reagiert, kann dies bewirken, dass die anderen beginnen, solche Menschen ausschließlich pfleglich zu behandeln und ihnen – für ihre Entwicklung eigentlich wichtige – Hinweise vorenthalten. Dies umso mehr, als sich viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen damit unwohl fühlen, anderen kritisches Feedback zu geben. Eigentlich wäre das Gegenteil sinnvoller: In Feedback-Kursen wird zu Recht gepredigt, dass insbesondere kritisches Feedback als ein Geschenk begriffen werden sollte. Der Feedback-Geber hat Mut gezeigt, um jemandem etwas Gutes zu tun. Der Feedback-Nehmer erhält dadurch die Chance, an sich zu arbeiten. In der Assessment-Praxis fällt auf, dass viele Führungskräfte keine Mühe damit haben, Mitarbeitende explizit darauf hinzuweisen, dass sie Leistungsziele nicht erreicht haben, sich aber äußerst schwer damit tun, weiche Verhaltensthemen anzusprechen. In der Regel ist die Ursache dafür entweder eine falsch verstandene „Toleranz“ oder der Glaubenssatz, dass Kritik unnötige Konflikte verursacht oder gar Beziehungen schädigt. Sehr harmonieorientierte Personen neigen dazu, bei sich und anderen nicht genau hinsehen. Dies zeigt sich als vages Selbstbild und in tendenziell oberflächlichen Beurteilungen anderer Personen. Damit laufen sie Gefahr, konfliktträchtige Sachverhalte oft spät oder gar nicht zu erkennen, geschweige denn anzupacken. Prägt dieser Umgang ein Team oder eine Organisation, ist mit einer Scheinharmonie mit passiv-aggressiven Tendenzen zu rechnen. Vermutlich sind solche „pinken“ Kulturen aufgrund einer zuweilen übertriebenen „Political Correctness“ immer häufiger anzutreffen. Noch verheerender ist die grassierende „Cancel Culture“, die Meinungsverbote austeilt. Wenn etwa Frauen oder ethnischen Minderheiten gar kein kritisches Feedback mehr gegeben werden darf, werden sie im Grunde benachteiligt, weil ihnen die Gelegenheit genommen wird, sich zu entwickeln. Stattdessen wünschte man sich mehr Mut und Ehrlichkeit. Im New Leadership spielen Aspekte wie Lernen und Feedback eine zentrale Rolle. Dabei liegt das Entwicklungspotenzial hauptsächlich in den kritischen Hinweisen. So ist sowohl die Regel festzulegen, dass konstruktiv-kritische Rückmeldungen erwünscht sind, als auch das Bewusstsein zu schärfen, dass kritisches persönliches Feedback als Geschenk wahrgenommen werden sollte. Ein gewisses Maß an Kritikfähigkeit sollte von erwachsenen Menschen erwartet werden dürfen. Auch diese Eigenschaft ist lernbar. Der Feedback-­ Geber braucht dazu Mut und die Bereitschaft, eine Trübung der Beziehung in Kauf zu nehmen, falls die andere Person extrem kritikempfindlich ist. Die Unterscheidung zwischen horizontalem und vertikalem Respekt bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma, wenn sie allen bekannt ist. Sie kann als Richtschnur dienen., wenn es darum geht, eine offene Feed­ back-Kultur zu etablieren. Alle haben das Recht, als gleichwertig behandelt zu werden, müssen aber auch lernen, mit konstruktiv kritischem Feedback umzugehen. Echtes Lernen findet ansonsten nicht satt.

8.5  Aktuelle Leadership-Ansätze

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8.5.5 Neuroleadership Neuroleadership ist eine vergleichsweise neue Forschungsrichtung, die darauf abzielt, Erkenntnisse aus der Hirnforschung auf die Führung anzuwenden. Den Anfangspunkt bildet ein wegweisender Artikel von Rock und Schwartz (2006), in dem die genannten Autoren die folgenden 6 Thesen aufstellen: (1) „Change is pain“: Veränderungen bewirken Schmerzen, weil Netzwerke umgebildet werden müssen, was unter Umständen einer großen Anstrengung bedarf. (2) „Behaviorism doesn’t work“: Bestrafen und Belohnen ist langfristig nicht förderlich für die Motivation der Mitarbeitenden. (3) „Humanism is overrated“: Die Möglichkeit, Mitarbeitende vor allem mittels Empathie und Fragen zur eigenständigen Problemlösung anzuregen, wird überschätzt. (4) „Focus is power“: Aktive Aufmerksamkeit bewirkt physiologische Veränderungen im Gehirn. (5) „Expectation shapes reality“: Die persönliche Erwartungshaltung bestimmt die eigene Realität. (6) „Attention density shapes identity“: Durch aktives Lenken der Aufmerksamkeit lässt sich die eigene Persönlichkeit entwickeln. Im Zentrum von Neuroleadership stehen 1) das Belohnungssystem und 2) das Stress- oder Bedrohungssystem (Hoffmann, 2019), die beide schon seit Längerem bekannt sind. Hirnund in diesem Sinne menschengerechte Führung ist darauf ausgerichtet, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu fördern sowie positive Emotionen und intrinsische Motivation zu wecken. Dies geschieht, indem die basalen Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt resp. nicht verletzt werden und die Voraussetzungen geschaffen werden, dass diese aus eigenem Antrieb für das Unternehmen attraktive Ziele erreichen wollen. Das Belohnungssystem scheint prinzipiell nicht zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation zu unterscheiden. Gemäß Pelz (2004) entsteht intrinsische Motivation entweder durch die Freude an der Arbeit selbst oder im Zuge einer starken inneren Überzeugung, sich für etwas einsetzen zu wollen. Extrinsische Motivation ist entweder auf instrumentelle (Mittel zum Zweck, z. B. Lohn), normative (Erwartungen erfüllen) Motive oder auf die Internalisierung bestimmter Ziele zurückzuführen. Theoretisch kann das Belohnungssystem sowohl auf transaktionale als auch auf transformationale Weise angesprochen werden, der Dopaminkick beim Erreichen kurzfristiger Ziele verpufft allerdings rasch. Gleichzeitig ist auch das Stresssystem zu beachten. Nicht nur Über- oder Unterforderung, sondern auch ein aversives Führungsverhalten oder Angst vor Bestrafung (z. B. wenn man einen Fehler macht) kann dieses aktivieren. Starker Druck, übermäßige Kontrolle oder Ängste wirken leistungsmindernd und fördern ein stark defensives Verhalten. Ebenso wie das bereits angesprochene SCARF-Modell (Rock, 2008) mit den Aspekten S (Status), C (Certainty), A (Autonomy), R (Relatedness), F (Fairness) berücksichtigt auch die Konsistenztheorie von Grawe (2004) beide Systeme. Grawe unterscheidet die folgenden – sich stark mit dem SCARF-Modell überschneidenden – 4 Bedürfniskatego-

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rien: 1) Bindung, 2) Orientierung und Kontrolle, 3) Selbstwerterhöhung und -schutz sowie 4) Lustgewinn und Unlustvermeidung. Für beide Ansätze gilt, dass die Stärke der jeweiligen Bedürfnisse zwischen verschiedenen Personen variiert. Je nach Temperament und Lerngeschichte sind eher Annäherungs- oder Vermeidungsreaktionen zu erwarten. Aus Führungssicht sind die in Tab. 8.2 aufgeführten Aspekte für die verschiedenen Grundbedürfnisse relevant (Hoffmann, 2019, S. 100). Für eine Führungskraft lohnt es sich auf alle Fälle, die Ausprägung der verschiedenen Basismotive bei den Mitarbeitenden zu kennen und wenn möglich im Führungshandeln zu berücksichtigen. Besonders wichtig ist das Verständnis der individuellen Befindlichkeiten der Mitarbeitenden (S – Selbstwertgefühl). Mit diesen gilt es angemessen behutsam, aber nicht ausweichend umzugehen. Tab. 8.2  Aspekte, die Grundbedürfnisse befriedigen, nach Hoffmann (2019) Bindung Teamarbeit Verbundenheit mit KollegInnen Vertrauen zu Mitarbeitenden Beziehung zu Vorgesetzten Akzeptanz im Team Nähe zu anderen Personen Wertschätzung der Person Beziehung zu anderen Integrität Intimität Kontakte & Netzwerk

Orientierung, Kontrolle, Sicherheit Verantwortung

Selbstwert Lob

Leistungsfähigkeit

Stolz auf die Arbeit

Lustgewinn Vergnügen, Freude, Spaß Positive Gefühle

Zielorientierung

Zufriedenheit mit sich

Neugierde und Vielfalt

Ergebnisklarheit

Selbstachtung

Erfüllung/Befriedigung

Weiterbildung

Wertschätzung für die Arbeit Anerkennung der Leistung Selbstrespekt

Abwechslungsreiche Aufgaben Leistungswille durch Ehrgeiz Interessante, innovative Arbeit Lustvolle Tätigkeiten

Handlungsspielraum Kontrolle über die Arbeit Information der Organisation Kenntnis der Firmenstrategie Entscheidungskompetenz Einfluss im Unternehmen

Aufmerksamkeit auf Leistungen Beratung anderer

Zukunftssicherheit Neues Lernen Positive Erwartungen Optimismus Lösungsorientierung Energie für die Arbeit Freiheit/Selbstständigkeit

Ruhm & Ehre Prestige Erfolgsmöglichkeiten

Eigenwert Eigenleistung

Flow-Gefühle Herausforderungen

8.5  Aktuelle Leadership-Ansätze

291

Eine konkrete Anwendung der Theorie von Grawe für das Führungshandeln stellt das von Peters und Ghadiri (2011) entwickelte PERFEKT-Schema dar: P = Potenzialentfaltung der Mitarbeitenden unterstützen und fördern. E = Ermutigen der Mitarbeitenden für neue Lösungen und Wege. R = Rückmeldungen geben. F = Freiheiten einräumen. E = Emotionales Führen (Emotionen erkennen und berücksichtigen). K = Kommunikation auf Augenhöhe. T = Transparenz (transparentes Handeln) Bemerkenswert ist die hohe Übereinstimmung dieser neurowissenschaftlich entwickelten Themen mit den theoretischen Vorstellungen des Servant Leadership. Alle diese Aspekte sind für das Verhalten der New Leader in hohem Maße bedeutsam.

8.5.6 Positive Leadership Unter „Positive Leadership“ werden Führungsansätze verstanden, die aus der positiven Psychologie von Seligman (2012) abgeleitet sind. Das Konzept ist ebenfalls neurowissenschaftlich ausgerichtet und überschneidet sich stark mit dem Neuroleadership, ist aber etwas enger gefasst. Gemäß Giuliani (2019) basiert Positive Leadership auf dem „psychologischen Kapital“, das die Aspekte 1)  Selbstwirksamkeit, 2)  Hoffnung und Zielerreichung, 3) Optimismus und 4) Resilienz umfasst. Dabei meint Selbstwirksamkeit die Zuversicht, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, Hoffnung und Zielerreichung ein entschlossenes und engagiertes Vorgehen bei der Zielverfolgung, Optimismus eine positive ­Zukunftserwartung und Resilienz die Fähigkeit, auch unter widrigen Umständen auf die eigenen Ressourcen zugreifen zu können. Der genannten Autorin zufolge umfasst der positive Führungsansatz die folgenden 4  Elemente: 1)  Talententwicklung: Erfassung von Charakterstärken und ihr Einsatz im Alltag, 2) Engagement: z. B. Flow, 3) Entwicklung einer Vision und 4) Beteiligung (Mitwirkung). Ein auf der positiven Psychologie aufbauender Führungsstil fokussiert folglich auf die Förderung und die Stärkung der Ressourcen der Mitarbeitenden. Statt hauptsächlich als Kontrolleur und Kritiker aufzutreten, unterstützen Führungskräfte die Mitarbeitenden bei ihrer Entwicklung und Selbstentfaltung. Ebner (2019) hat einen eigenständigen Führungsansatz entlang der 5 Säulen des Wohlbefindens von Seligman (2015) entwickelt (PERMA): P = „Positive emotions“: Positive Emotionen spüren oder ermöglichen. E = „Engagement“: hier vor allem gemeint: sich einbringen können. R = „Relationships“: Verbundenheit mit anderen Personen erleben resp. fördern. M = „Meaning“: Sinn erleben oder aufzeigen. A = „Accomplishment“: Erfolgserlebnisse haben oder ermöglichen.

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Ebner leitet daraus konkrete Empfehlungen für die Führungspraxis ab. Als Faktoren von Relationships nennt er Vertrauen, regelmäßigen Kontakt, gemeinsame Zeit und gemeinsame Ziele, gemeinsame Normen und Werte, Teilen von Wissen und Informationen, richtige Gruppenzusammensetzung. Bei Sinn erleben stehen Themen wie die Passung zwischen Tätigkeit und Person, Zielorientierung, Bedeutsamkeit und Zugehörigkeit im Mittelpunkt. Was die positiven Emotionen betrifft, ist jegliches Führungsverhalten zweckdienlich, das positive Emotionen wie beispielsweise Glück, Dankbarkeit, Interesse, Hoffnung oder Inspiration auslöst. Die Bedeutung von Sinn wurde bereits eingehend erläutert, und dass Erfolgserlebnisse besonders guttun und motivierend wirken, liegt auf der Hand. Eine zentrale Rolle spielt auch das Flow-Konzept von Csikszentmihalyi (1995), das mehrere Aspekte in sich vereint.

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New Leadership

9.1 Verhalten von New Leadern Auf der Verhaltensebene stehen bei New Leadern die folgenden Aspekte im Mittelpunkt: Als Coach agieren  Außerhalb von Katastrophen ist das Erteilen von Anweisungen out. Will man selbstständig agierende Mitarbeitende, muss man diese wohl oder übel bis zu einem gewissen Grad machen lassen, solange sich ihre Aktivitäten innerhalb des Zielkorridors bewegen. Kontrolliert und bei Fehlern gemaßregelt zu werden, mögen die wenigsten Menschen. Die meisten aber reagieren positiv, wenn sie Unterstützung sowie Zuspruch erhalten und jemanden um Rat fragen können. Besonders wirkungsvoll ist aus Sicht der Führungskraft ein fragendes Vorgehen, bei dem die Ressourcen der Mitarbeitenden angesprochen und diese befähigt werden, selbst die Lösung zu finden. Je höher die Akzeptanz der Führungskraft, desto höher ist die Bereitschaft, dieser zuzuhören. Anerkennung geben  Anerkennung und Lob sind das Schmieröl gut funktionierender Beziehungen egal welcher Art. Alle Menschen brauchen mehr oder weniger Bestätigung, um ein positives Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Auch beim Feedback ist zu beachten, dass insgesamt – nicht in jeder einzelnen Situation – mehr Lob als kritische Hinweise geäußert wird (Verhältnis von ca.  3:1). Man braucht andere nicht ständig mit Lob zu überschütten, oft reichen kleine Signale der Wertschätzung oder Dankbarkeit. Das gilt nicht zuletzt auch für diejenigen Personen, von denen man eine gute Leistung oder ein konstruktives Verhalten gewohnt ist. Diese werden in der Praxis gern vergessen. Die Haltung, dass eigentlich nichts selbstverständlich ist, ist im Grunde schon die halbe Miete. Sie hilft, die Beiträge anderer überhaupt zu merken. Anschließend sind diese nur noch angemessen zu würdigen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_9

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9  New Leadership

Authentisch sein  Authentizität heißt, man selbst sein. Dies gelingt allerdings erst, wenn man zu sich gefunden hat. Das kann durchaus ein langer Weg sein. Voraussetzung ist eine genaue Kenntnis der eigenen Motive, Stärken und Entwicklungsthemen sowie der typischen eigenen Verhaltensmuster. Echte Authentizität ist demnach die Folge eines mehr oder weniger langwierigen Selbsterkenntnis- und Lernprozesses. Nur die eigenen Launen auszuleben, ist unreif und damit nicht gemeint. Und ja: Natürlich kann man sich laufend entwickeln und sich gleichzeitig treu bleiben – wenn man eine wertebezogene Linie hat. Nur veränderungsresistente Personen erkennen hier einen Widerspruch. Dienendes Selbstverständnis pflegen  Ein dienendes Selbstverständnis geht über Bescheidenheit hinaus. Vielmehr ist damit eine grundlegende Haltung gemeint, weniger die eigenen Interessen zu verfolgen, als sich in den Dienst einer größeren Sache und der Umwelt zu stellen. Es handelt sich um den Kern des Servant Leadership. Darin selbstverständlich eingeschlossen ist eine serviceorientierte Grundhaltung gegenüber den verschiedenen Stakeholdern. Wer nicht primär sich selbst im Blick hat, ist enorm glaubwürdig und schafft es problemlos, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen. Ehrliches Feedback geben  Sowohl die Tatsache, dass Feedback nützlich ist, als auch, dass es ausgewogen sein sollte, ist eigentlich unbestritten und jedem Menschen bekannt. Trotzdem ist eine offene und ehrliche, konstruktiv-kritische Feedback-Kultur noch immer mehr die Ausnahme als die Regel. Man getraut sich nicht und befürchtet eine schlechte Stimmung. Es kann aber nicht oft genug wiederholt werden: Ehrliche Rückmeldungen sind eine absolut notwendige Voraussetzung für die meisten Lernprozesse. Ansonsten droht Stillstand. Als Führungskraft sollte man nicht nur auf der individuellen Ebene Feedback geben und nehmen, sondern auch Feedback-Prozesse aller Art etablieren (z. B. Retrospektiven). Eigenständigkeit und Eigenmotivation fördern  Leisten Mitarbeitende eher Dienst nach Vorschrift, kann das darauf hindeuten, dass sie nicht die für sie richtige Tätigkeit ausüben, dass sie der Arbeit generell einen geringen Stellenwert beimessen oder aber egoistisch sind. Zuweilen reagieren sie mit dieser Haltung aber auch entweder auf die vorhandenen Strukturen oder den Führungsstil der Vorgesetzten. Sind Menschen am richtigen Ort – und dafür sind sie selbst verantwortlich –, wollen sie eigentlich eine gute Leistung erbringen. In gewisser Hinsicht kann man sie dann nur demotivieren, nicht aber motivieren im engeren Sinne. Es gilt also, ihnen die Freiheiten zu geben, die ein eigenständiges Arbeiten ermöglichen. Dass die Tätigkeit mehr oder weniger vollständig an das Team delegiert ist, wird hier vorausgesetzt. Gehirngerecht resp. menschengerecht führen  Wer motivierend wirken will, sollte sich an den Erkenntnissen der Hirnforschung orientieren. Sowohl die 5  Basismotive nach SCARF als auch die individuell unterschiedlichen sekundären Motive resp. Bedürfnisse sollten in das Führungsverhalten einbezogen werden. Transformationale Ansätze sowie das Anstreben anspruchsvoller Zielsetzungen sprechen das Belohnungssystem an. Wie

9.1 Verhalten von New Leadern

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schon erwähnt, gilt es zudem, positive Gefühle zu stimulieren und negative Einflüsse sowie Über- oder Unterforderung zu vermeiden. Während ein stimmiges Belastungsniveau ungeahnte Kräfte hervorrufen kann, geht von Stress oder Druck der gegenteilige Effekt aus. Schlimmstenfalls wird eine basale Flucht- oder Angriff-Reaktion ausgelöst. Unterforderung macht unzufrieden und unter Umständen ebenfalls krank. Individuell auf Leute eingehen  Menschen sind naturgemäß verschieden. Auf der einen Seite müssen faire Strukturen gegeben sein (z. B. Lohngleichheit), auf der anderen Seite muss den individuellen Unterschieden der Mitarbeitenden ausreichend Rechnung getragen werden. Für die Aufgabenerfüllung sind die jeweiligen Neigungen und Fähigkeiten zentral. Diese sind einzubeziehen. Darüber hinaus sollte man präsent sein sowie versuchen, Nähe und Vertrauen aufzubauen, indem man auch die Menschen hinter der Arbeitsleistung wahrnimmt. Ein regelmäßiger bilateraler Austausch ist empfehlenswert. Dabei ist echtes Interesse wichtiger, als in jeder Situation stets die richtigen Worte zu finden. Integer und aufrichtig sein  New Leader zeichnen sich durch eine integre und aufrichtige Grundhaltung aus. Integrität schafft Glaubwürdigkeit und schützt davor zu entgleisen. Nicht vertrauenswürdige Personen bewirken keine freiwillige Gefolgschaft – zumindest nicht von reifen Personen. Von anderen unter Umständen schon. Deshalb lauert auf der gesellschaftlichen Ebene stets die Gefahr, dass in unsicheren Zeiten nach dem starken Mann mit den einfachen Wahrheiten und Rezepten, womöglich gar wirren nationalistischen Ideen gerufen wird. Dies, obwohl diese Art von Führung niemals nachhaltig erfolgreich war und langfristig eher zusätzliche Probleme schafft. Stattdessen sollte integren Personen mit einem gesunden Realitätssinn der Vorzug gegeben werden. Konnektivität fördern  Sowohl hinsichtlich der Bildung von Kooperationen als auch hinsichtlich Lernen ist Vernetzung absolut zentral. Die klassische Linienorganisation mit festgelegten Dienstwegen und abgeschotteten Silos hat ausgedient. Netzwerkstrukturen sind gefragt. Diese können formell oder informell sein und basieren in einem hohen Maße auf Eigeninitiative. Alles, was der Zielerreichung und dem Lernen dient, ist grundsätzlich erwünscht. Alle sind aufgefordert, hierarchie- und bereichsübergreifende Verbindungen herzustellen, um wichtige Informationen zu sammeln, dazuzulernen oder eigene Ideen zu lancieren. Das gilt auch für die Führungskraft, die gleichzeitig darauf achten sollten, die Konnektivität der Mitarbeitenden bestmöglich zu fördern. Lernprozesse in Gang setzen  Lebenslanges Lernen wird heutzutage fast selbstverständlich erwartet. Irgendwelche Kurse zu belegen, um die eigene Fachqualifikation laufend auszubauen, reicht nicht. Das erworbene Wissen muss auch zielführend und gewinnbringend in der eigenen Tätigkeit eingebracht werden. Außerdem ist Entwicklung ganzheitlich zu begreifen und nicht auf die eigene Person zu beschränken. Wachstum als Mensch, als Team und als Organisation ist das Ziel. Damit nicht nur abgearbeitet, sondern gelernt wird, müssen psychologische Sicherheit und ein umfassender Zugang zu den relevanten Informationen vorhanden sein. Und: Lernen setzt Feedback voraus. Je mehr, desto besser.

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9  New Leadership

Mit Vorbild führen  Eine Vorbildwirkung zu demonstrieren, ist und bleibt die Kernaufgabe von Leadership. Dazu muss man sich zuerst überhaupt bewusst sein, dass man als Führungskraft eine Vorbildfunktion innehat, sowie bereit sein, ein Vorbild zu sein. Wichtige Themen dabei sind die Identifikation mit der Vision, der Aufgabe und der Firma, das Vorleben des gewünschten Leistungsverhaltens und eine klare Linie zwecks Vermitteln von Orientierung. Mittels Vorbild führen bedeutet letztlich nichts anderes, als das gewünschte Verhalten konsequent vorzuleben. Entscheidend ist die Kongruenz von Reden und Handeln. Gleichzeitig empfiehlt es sich, die eigenen Erwartungen explizit zu formulieren. Mitwirkung fördern  Gemeinsam gefällte Entscheidungen bewirken Akzeptanz und stellen sicher, dass diese auch wunschgemäß umgesetzt werden – und das freiwillig und aus eigener innerer Überzeugung. Die dadurch eingesparte Zeit bei der Umsetzung ist oft höher als diejenige für die längeren Diskussionen zu Beginn. Die meisten Menschen strengen sich auch mehr an, wenn sie mitbestimmen können. Die verfolgten Ziele werden dadurch zu ihren eigenen. Zudem sinkt das Risiko, dass sich eine einzelne Person oder ein kleiner Zirkel von der Basis und eventuell von der Realität entfernt und einsame Entscheidungen auf der Basis falscher oder unvollständiger Information fällt. Partnerschaftlich Einfluss nehmen  Ein wie auch immer geartetes Machtgefälle ist kein Freibrief, um andere von oben herab zu behandeln oder sie zu drangsalieren. Sie mögen weniger kompetent, belastbar oder unsicher sein, das schon. Man muss nicht allen das Gefühl geben, dass sie gleich fähig sind. Auch das wäre falsch: Wir sind nicht alle bei allem gleich kompetent, natürlich nicht. Aber gleich viel wert. Nur unreife Personen brauchen das Machtgefühl, das sich aus einer vermeintlich überlegenen Position ergibt. In Krisensituationen, in denen ein rasches Handeln gefragt ist, kann ein direktives Vorgehen dennoch durchaus gerechtfertigt sein. Und dieses ist nun einmal nicht partnerschaftlich. Psychologische Sicherheit schaffen  Der Chef als harter Kerl, der immer alles im Griff hat, keine Emotionen zeigt und zudem immer über alles Bescheid weiß!? Eine Illusion. Es gibt sie nicht, die Übermenschen. Nur solche, die sich dafür halten und diese falsche Gewissheit zur Schau stellen. Stets den Eindruck erwecken zu müssen, buchstäblich Herr der Lage zu sein, ist äußerst anstrengend und im Grunde unmenschlich. Stattdessen empfiehlt es sich, zu sich und den eigenen Gefühlen zu stehen und die eigenen Grenzen zu akzeptieren. Nur wer auch Feedback einholt, Kritik annehmen kann und mit Fehlern konstruktiv umgeht, kann eine Atmosphäre schaffen, in der sich auch das Umfeld angstfrei einbringen, wachsen und Risiken eingehen kann. Psychologische Sicherheit zu schaffen, hat sehr viel mit Vorbildwirkung zu tun. Fehlerkultur und Ermutigung sind eher nachgelagert und entfalten nur Wirkung, wenn die Führungskraft dies glaubwürdig vertritt. Sinn stiften und eine Vision formulieren  Sinn motiviert. Teilweise ergibt sich der Sinn wie von selbst (z. B. Arbeit in einem Krankenhaus), teilweise verfolgt die Organisation einen spezifischen höheren Zweck. Auf alle Fälle lohnt es sich, eine inspirierende Vision zu formulieren. Diese wirkt sowohl als Ziel attraktiv, motiviert aber zusätzlich über das

9.2 Entwicklung zum New Leader

299

Bindungsmotiv und soziale Identität. Gemeinsam etwas anzustreben, erhöht die Einsatzbereitschaft der einzelnen Personen. Auch beim Sinn gibt es individuelle Unterschiede, die man berücksichtigen kann und sollte. Immer nützlich ist es, wenn die Mitarbeitenden den eigenen Beitrag zum Ganzen verstehen resp. erläutert bekommen. Eine sinnvolle Tätigkeit hat das Potenzial, langfristig eine positive Wirkung zu erzielen. Transparent und umfassend informieren  Wer nicht weiß, wofür es eigentlich gut ist, was er tut, ist in der Regel nicht sehr motiviert. Wer signalisiert bekommt, dass er nur die für seine Arbeit unbedingt notwendige Informationen braucht, ebenfalls nicht. Information ist Macht, weshalb Informationsvorsprünge oft vor allem genutzt werden, um die eigene Position zu verbessern oder abzusichern. Produktiv ist das nicht. Wer umfassend informiert wird, hat eher das Bedürfnis, sich Gedanken zu machen und etwa Verbesserungsvorschläge einzubringen. Wird darauf positiv reagiert, bleibt das auch so. Je mehr Selbstständigkeit oder Selbstorganisation erwartet wird, desto mehr wird eine umfassende und transparente Information zur Pflicht, weil die Arbeit sonst gar nicht zielführend erledigt werden kann. Veränderungen einleiten und umsetzen  Eine Leader-Persönlichkeit zeichnet sich durch Initiative und die Bereitschaft aus, selbst aktiv zu werden, um Verbesserungen zu erzielen oder Veränderungen zu bewirken. Dabei geht es nicht darum, möglichst eine eigene Vision durchzusetzen. Mitwirkung und der Einbezug der betroffenen Stakeholder und Experten sind bei der Umsetzung ebenso zentral wie der sensible Umgang mit zu erwartenden Widerständen. Gefragt sind Ausdauer, Geduld sowie eine ausgeprägte Dialogbereitschaft. Betroffene zu Beteiligten machen, muss mehr als ein Schlagwort sein. Vertrauen herstellen  Vertrauen macht das Leben einfacher, senkt die Transaktionskosten und bewirkt tiefere Bindungen. Misstrauen bindet nicht nur viele Ressourcen für Kontrollaktivitäten, sondern bewirkt auch hohe psychische Kosten und erschwert die Zusammenarbeit. Der einfachste Weg, Vertrauen aufzubauen, ist, anderen einen Vertrauensvorschuss zu geben. Die meisten Menschen erwidern entgegengebrachtes Vertrauen. Selbstverständlich trifft das nicht auf alle zu, und gibt es Personen, die Vertrauen missbrauchen und nicht vertrauenswürdig sind. Diese brauchen klare Ansagen und Sanktionsdrohungen, womöglich müssen auch unpopuläre und harte Maßnahmen ergriffen werden. Deshalb alle Menschen unter Generalverdacht zu stellen, ist aber der falsche Weg. Bei der Arbeit wertvoll ist vor allem Vertrauen als Zutrauen. Hier liegt der Hebel zur Leistungssteigerung – selbstverständlich nicht ohne die Mitarbeitenden gleichzeitig zu befähigen und begleiten.

9.2 Entwicklung zum New Leader Abb. 9.1 stellt die Entwicklung zum New Leader in der Wirtschaft grafisch dar. Neben den diese Entwicklung begünstigenden organisationalen Bedingungen umfasst die Grafik das eigentliche Führungshandwerk sowie einige grundlegende Führungsstile als fachliche Basiskompetenz. Die eigentliche Leadership-Entwicklung vollzieht sich vor allem in einem

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9  New Leadership

New Leader Servant Leadership Ausrichtung an höherem Zweck

Empowering Leadership

Authentische Führung / Selbstführung Kooperative und situative Führung

Transformationale Führung

Neuroleadership (inkl. positive Leadership)

Ethische und respektvolle Führung

Führungskompetenz und -handwerk: Aufgaben und transaktionale Führung Transparente Information

Agile Strukturen

Nachhaltigkeit /ESG

Organisation. Fairness

Lern-, Feedbackkultur

Psycholog. Sicherheit

Purpose / Vision

Abb. 9.1  Entwicklung zum New Leader

umfassenden und ganzheitlichen persönlichen Reifeprozess (Selbstführung, authentische Führung) und in der zunehmenden Anwendung einiger ausgesuchter aktueller Führungsstile. Ziel ist eine sich in den Dienst höherer Ziele, der Allgemeinheit und der Mitarbeitenden stellende, souveräne Leader-Persönlichkeit. In einem organisationalen Kontext gibt es einige Voraussetzungen, die es begünstigen, dass sich eine Führungskraft zum Servant Leader entwickeln kann. Es handelt sich nicht um unbedingt notwendige Bedingungen, eine sehr reife Person kann prinzipiell unter allen Umständen als New Leader fungieren, weshalb es schon immer Führungskräfte gab, die diesem Ideal relativ nahegekommen sind. Zunächst ist zentral, dass ethische Grundsätze, organisationale Fairness und Nachhaltigkeit im Sinne von ESG („Environment, Social, Governance“) auch auf der organisationalen Ebene etabliert sind. In einer unethischen oder unfairen Organisation kann von den Führungskräften oder den Mitarbeitenden nicht glaubwürdig ethisches Verhalten eingefordert werden. In einer solchen Umgebung ist eher mit machiavellistischen Tendenzen zu rechnen. Nachhaltigkeit ist auch auf der organisationalen Ebene ein dringendes Gebot. Bei sämtlichen Werten muss das Top-Management zwingend eine Vorbildfunktion einnehmen. Strukturell stehen im New Leadership selbstorganisierte Teams oder Einheiten im Zentrum. Damit diese autonom agieren können, müssen ihnen nicht nur die Aufgaben und die Verantwortung, sondern auch die Entscheidungskompetenzen übertragen werden. Agile Strukturen meint, dass die Führungskräfte agil führen, das heißt die Selbstständigkeit des Teams fördern resp. begleiten und bei Problemen zur Verfügung stehen, nicht aber Vorgaben machen oder über die Köpfe der Mitarbeitenden hinweg Entscheidungen treffen. Wird das nicht beherzigt, ist kaum mit eigenverantwortlichem Handeln zu rechnen. Wer befürchtet, dass er für Dinge verantwortlich gemacht wird, die er gar nicht beeinflussen kann, wird in der Regel mutlos und defensiv agieren, d. h. nichts riskieren und sich nach allen Seiten absichern. Wer hingegen eine ganzheitliche Verantwortung übernimmt, wird im Normalfall versuchen, dieser auch gerecht zu werden. Wirklich Verantwortung übernehmen zu müssen, ist gleichzeitig der Preis der Autonomie. Das Bedürfnis, für sich, ge-

9.2 Entwicklung zum New Leader

301

meinsame Ergebnisse und andere Menschen die Verantwortung zu übernehmen, ist nicht bei allen Menschen einfach gegeben, sondern muss bei vielen Personen erst entwickelt werden, wobei dies bei einer Minderheit nicht möglich sein wird. Ebenfalls elementar ist der offene Zugang zu sämtlichen Informationen, die für das erwartete Handeln im Sinne des Gesamtunternehmens notwendig sind. Ein transparenter Wissenszugang beinhaltet auch die Erlaubnis oder die Aufforderung, sich nach allen Seiten vernetzen zu können, um sich die relevanten Informationen zu beschaffen, statt sich in starren Dienstwegen bewegen zu müssen. Als übergeordnete Richtschnur des selbstständigen Handelns dienen ein höherer Zweck (Purpose) und eine Vision. Diese geben die ungefähre Richtung vor, lassen aber auch viele Freiheiten bezüglich des Wegs zum Ziel. Risiken einzugehen oder situativ die Führung zu übernehmen, setzt ein Umfeld voraus, in dem erfahrungsbezogenes Lernen möglich und erwünscht ist. Zuoberst steht das Vertrauen, sowohl im Sinne von den Beschäftigten selbstständiges Handeln zuzutrauen als auch in Form einer wohlwollenden, gewährenden Grundhaltung und einem Menschenbild, das davon ausgeht, dass Menschen prinzipiell eine gute Leistung erbringen und ihr Bestes geben wollen – wohlwissend, dass dies nicht auf alle zutrifft. Psychologische Sicherheit und eine angstfreie Atmosphäre ermutigen die Mitarbeitenden dazu, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen oder neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Selbstverständlich sollte man erwarten können, dass Menschen die gemachten Erfahrungen auswerten und sich bei Bedarf kritisch hinterfragen, um es das nächste Mal besser zu machen. Damit verbunden ist zunächst die Einsicht, dass Fehler nicht nur menschlich sind und allen passieren, sondern Lernchancen darstellen. Nachdem 100 Jahre lang alles getan wurde, um Fehler um jeden Preis zu verhindern, stellt dies für die älteren Generationen eine schwierige Umstellung im Mindset dar. Bei Lernprozessen besonders wichtig ist Feedback. Dieses soll sowohl institutionalisiert, d. h. formal und geregelt, als auch informell stattfinden. Speziell Retrospektiven sind ein probates Mittel, um nicht nur die erzielten Ergebnisse und aufgetauchten Probleme, sondern auch den Umgang der Teammitglieder untereinander zu diskutieren und gegebenenfalls zu verbessern. Dies erfordert ein gewisses Maß an Selbstvertrauen sowie Kritik- und Konfliktfähigkeit. Damit schließt sich der Kreis zur Persönlichkeitsentwicklung. Erwachsene Menschen müssen gerechtfertigte, wohlwollende und konstruktive Kritik annehmen können. Selbstverständlich sind damit nicht verletzende Botschaften gemeint. Auch das Geben und Annehmen von Feedback und Kritik will gelernt sein. Ein professionelles Führungsverhalten setzt zunächst ein gutes Verständnis der dabei zu erledigenden Aufgaben sowie die Kenntnis der wichtigsten Führungskonzepte und -stile voraus. Bei Letzteren steht vor allem die Unterscheidung zwischen transaktionaler und transformationaler Führung und den entsprechenden Verhaltensweisen im Mittelpunkt. Grundsätzlich geht es darum, sich ein möglichst breites Verhaltensrepertoire anzueignen. Damit wird ein situationsgerechtes, d. h. an die jeweilige Situation und die daran Beteiligten angepasstes Führungsverhalten ermöglicht. Dabei müssen gleichzeitig die ethischen Grundsätze der Führungskräfte stets erkennbar werden. Dies bedeutet, eine klare eigene wertebezogene Linie mit einer optimalen situativen Flexibilität zu verbinden. Ähnliches

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9  New Leadership

gilt natürlich auch für die respektvolle Führung. Diese stellt an die Führungskräfte die Anforderung, die Mitarbeitenden einerseits fair, unparteiisch und gleichwertig zu behandeln, andererseits auch deren individuelle Stärken und Entwicklungsfelder zu kennen und anzusprechen. Die kooperative Führung steht vor allem für den partnerschaftlichen und einbeziehenden Umgang mit den Mitarbeitenden. Wichtige Stichworte sind Mitwirkung und Kontakt auf Augenhöhe. Ein direktives Verhalten kann in Krisensituationen gerechtfertigt sein, ein grundloses Ausnutzen oder Demonstrieren der hierarchischen Position ist aber zu vermeiden. Die authentische Führung steht in diesem Modell für die Führung mittels der eigenen Persönlichkeit und Vorbildwirkung bezüglich des erwünschten Verhaltens. Sie schließt die diskutierte Prinzipienorientierung ein, wobei die klare eigene Linie anderen Orientierung vermittelt und ein direktives Vorgehen damit in vielen Fällen überflüssig macht. Zusammen mit der Selbstführung bilden die Führungsstile die Basis für die 3 übergeordneten Führungsstile: (1) Empowering Leadership beschreibt ein Führungsverhalten, das primär auf die Förderung der Eigenständigkeit der Mitarbeitenden oder ganzer Teams abzielt. Es beinhaltet das Geben von Vertrauen, das Zulassen von Fehlern, das Ermutigen zum Eingehen von Risiken oder zum Ausprobieren neuer Wege. Die Führungskraft nimmt die Rolle eines Begleiters, Förderers und Sparringspartners ein. Ein Empowering Leader kreiert zudem eine Atmosphäre von psychologischer Sicherheit. Auch alle transformationalen Aspekten werden der Einfachheit halber diesem Führungsstil zugerechnet. (2) Neuroleadership steht für den Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in den Führungsalltag. Zunächst gilt es, das eigene Führungsverhalten so zu gestalten, dass die intrinsische Motivation geweckt und etwa Flow-Erlebnisse geschaffen werden. Ebenfalls zentral ist das Beachten der individuellen Belastungsgrenzen resp. das Finden einer optimalen Beanspruchung. Drittens ist den affektiven Konsequenzen des eigenen Handelns Beachtung zu schenken. Negative, potenziell schädliche Emotionen (z. B. Ängste) sind zu vermeiden, positive Gefühle sollen dagegen möglichst oft induziert werden. Dabei ist individuell auf die Mitarbeitenden einzugehen. (3) Servant Leadership beinhaltet in seiner weitesten Interpretation eigentlich alle wünschenswerten Verhaltensweisen eines New Leaders. Deshalb und weil es auch die Nachhaltigkeits- und die gesellschaftliche Dimension am stärksten aufnimmt, steht es an der Spitze. Der Servant Leader nimmt sein Ego zugunsten der Sache, der anderen Menschen und der Umwelt völlig zurück. Das heißt, er dient den anderen Menschen, der Gesellschaft und der Umwelt.

Zusammenfassung und Fazit

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Die Vision dieses Buchs besteht darin, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Welt, speziell die wichtigsten Staaten und die Wirtschaft, besser geführt werden. Die Voraussetzung dafür ist die raschere Verbreitung der Ideen und Konzepte des New Leadership, wobei dieses sowohl als charakteristisches Merkmals-Cluster moderner Leader als auch als eine Philosophie resp. als ein bestimmter Mindset begriffen werden kann. Konkret sind in diesem Buch einleitend die folgenden Ziele genannt worden: 1.) mehr geeignete Personen in Top-Funktionen, 2.) eine professionellere Auswahl von politischen Führungskräften und eine entsprechende Aufklärung der Wählenden sowie 3.) ein gesamtgesellschaftlicher Reifeprozess zur Überwindung von Narzissmus und Ideologien und zur Stärkung eines Gemeinsinns auf der Basis geteilter Werte. Grundsätzlich wird angenommen, dass sich die Wirtschaft seit der transformationalen Wende in weiten Teilen bereits in eine gute Richtung bewegt. Kopfzerbrechen bereitet momentan eher das politische Führungspersonal. Außerdem ist mit dem agilen Wandel auch ein Reifeprozess verbunden. Nicht nur die Führungskräfte, sondern auch die Mitarbeitenden müssen mehr Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative zeigen. Dies erfordert eine höhere persönliche Reife, als nur irgendwelche Weisungen auszuführen und Dienst nach Vorschrift zu machen. Die Basis von allen modernen Ansätzen bildet die Selbstführung, die zum einen garantiert, dass nur Personen, die sich selbst im Griff haben, andere Menschen führen. Zum anderen bildet praktizierte Selbstführung in Kombination mit einer ganzheitlichen Lernorientierung die Grundlage für eine reifere Gesellschaft. Reife – im Grunde könnte man einfach sagen: erwachsene – Personen werden als Leader-Persönlichkeiten begriffen. Sie sind weniger anfällig für Irrungen und Verwirrungen aller Art (z. B. Ideologien) und neigen weniger dazu, ungeeignete Personen zu wählen oder sich in ein Abhängigkeitsverhältnis von solchen zu begeben, weil es ihnen etwa an Orientierung und Eigenverantwortung mangelt. Mündige Menschen, die sich an eigenen Werten und Prinzipien ausrichten, benötigen keine „Vaterfiguren“. Es braucht mehr solcher Personen, weshalb eine gesellschaftliche Entwicklung nötig ist. Die Rezepte dafür können aus dem Leadership übernommen werden. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Frehner, Führung heute, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67780-3_10

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10  Zusammenfassung und Fazit

Besonders ungeeignet für Machtpositionen sind Psychopathen und Narzissten. Die vordergründige Stärke und Gewissheit solcher vermeintlichen Führungspersonen entpuppt sich bei genauem Hinsehen als Selbstüberschätzung, mangelnder Realitätssinn oder ignorante Risikofreude und beruht vor allem auf einem Mangel an Empathie sowie der Unfähigkeit, sich an einem höherwertigen moralischen Kompass auszurichten. Die für diese Personen typische Mischung aus Skrupellosigkeit, Unberechenbarkeit und Unfähigkeit, sich an Vereinbarungen zu halten, ist hoch gefährlich, zumal besonders Narzissten dazu neigen, andere mit in den Abgrund zu reißen, wenn sie Angst haben, zu „verlieren“. Im inneren Kreis bewirken destruktive Führungskräfte eine Angstkultur und scharen nur willfährige Kopfnicker um sich, während sie gegen außen die Gegenparteien oft zu großen Konzessionen zwingen, weil ständig eine unkontrollierbare Eskalation mit womöglich extremem Schaden droht, den vernünftige Menschen möglichst vermeiden wollen. Teilweise ist der Hintergrund einer vermeintlich gerechten Mission nichts weiter als eine erlittene, nicht einmal zwingend schwerwiegende, persönliche Kränkung. Deren fehlgeleitete und gegen außen gerichtete Aufarbeitung kann viel Leid verursachen. Vor allem für politische Ämter und in der Verwaltung besonders ungeeignet sind verbohrte Ideologen. Auch diese lassen nicht viel Konstruktives und Gutes erwarten, sondern vor allem Konfrontation sowie eine unflexible Blockadehaltung bei wichtigen Anliegen, weil der angestrebte Wunsch- oder Idealzustand meist nicht realistisch ist und alles andere bekämpft wird. Ihre extreme Gesinnung stellt nicht selten eine Art Ersatzidentität dar, weil es an einem stabilen Selbstwertgefühl oder an persönlichem Format resp. einer eigenständigen Identität fehlt. Solche Personen sind kaum fähig, im Interesse der für sie vordergründig wichtigen Sache Kompromisse zu schließen und mit Andersdenkenden auf zielführende Weise zu kooperieren. In der Regel stellen sie nur lauthals übertriebene Forderungen, um sich innerhalb der eigenen Kerngruppe zu profilieren. In der Regel handelt es sich eher um Blender als Machertypen. Reden geht bei ihnen über effektives, das heißt nicht nur symbolisches oder publikumswirksames Handeln (z.  B. „Klimakleber“). Sie können oder wollen gar keine konkreten Maßnahmen vorschlagen, sondern stellen vor allem sich selbst in den Vordergrund. Weil sie – auf ihre Weise ebenfalls narzisstisch – nach Bestätigung und Anerkennung streben, fallen sie vor allem durch Sturheit; Kompromisslosigkeit und Lautstärke auf. Statt sich wirklich in den Dienst ihrer vorgegebenen Vision zu stellen und etwa nützliche Projekte zu lancieren, fördern sie vor allem die Polarisierung der Gesellschaft. Dabei besteht auch die Gefahr, dass sie irgendwann ihr einseitiges Weltbild mit Gewalt durchsetzen wollen. Teilweise ist eine Ideologie auch nur vorgeschoben. Die Richtung des missionarischen Eifers zwecks Selbstinszenierung ist dann im Grunde eher zufällig. Wirkliche Verbesserungen lassen Menschen erwarten, die bescheiden sind, ihr Ego zurücknehmen und ihre Fähigkeiten in den Dienst einer zukunftsweisenden Vision stellen – Menschen, die integer und glaubwürdig sowie fähig sind, mit anderen zu kooperieren und für alle stimmige sowie tragfähige Lösungen zu entwickeln. Man erkennt sie daran, dass sie sich an Fakten und nicht an vorgefassten Meinungen ausrichten, wobei sie auch komplizierte Zusammenhänge nachvollziehbar vermitteln können. Vor allem aber wollen sie

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konkrete Resultate erzielen und nicht nur sich selbst reden hören. Dabei sind sie fähig, ihre Themen und Projekte langfristig zu verfolgen. Sie sind auf Ausgleich bedacht und lehnen extreme und wirklichkeitsfremde Positionen ab. Statt an abstrakten Ideen orientieren sie sich an den wirklichen Problemen ihrer Firma oder ihrer Wählerschaft. Sie wissen, was diese wirklich umtreibt, und können sich in deren Lage versetzen. Ihr Ziel ist es, für diese echte Verbesserungen zu erzielen. Die vielbeschworenen „alten weißen Männer“ sowie vermeintlich allwissende Alleinentscheider an der Spitze steiler Hierarchien sind in weiten Teilen der Wirtschaft bereits ein Auslaufmodell. Vor allem der weiterhin wirksame digitale Wandel sowie die Agilisierung treiben diese Entwicklung weiter voran. Die richtige Antwort auf die Herausforderungen besteht in neuen Führungsstrukturen, speziell in stärker selbstorganisierten Teams und Unternehmen. Die bessere Vernetzung kompetenter Personen lässt nicht nur bessere Entscheidungen erwarten, sondern bringt als Nebeneffekt eine ausgeprägte Machtteilung mit sich. Einerseits behindert dies das Aufkommen autoritärer und toxischer Führungspersonen, andererseits sind damit auch höhere Ansprüche an die Mitarbeitenden verbunden. Dienst nach Vorschrift und die Verantwortung abschieben, funktioniert in einem sol­ chen Umfeld nicht mehr. Gefragt sind insbesondere mehr Mitwirkung und Eigenverantwortung sowie eine höhere persönliche Reife. Mit Vision und Werten ist eine moderne, transformational ausgelegte Führung angesprochen. Wie im Buch dargelegt, täuschen immer wieder auftretende kleinere und größere Skandale darüber hinweg, dass sich in der Wirtschaft seit einiger Zeit auf breiter Front hinsichtlich Leadership vieles in die richtige Richtung bewegt. Dies trifft auf die neuen Führungskräfte ebenso zu wie auf die praktizierten Führungsstile. Empowerment im weitesten Sinne verspricht sowohl eine gute Leistung des Unternehmens als auch eine positive mentale Entwicklung und Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden, sofern der gesundheitlichen Dimension ebenfalls Rechnung getragen wird. Im Unterschied dazu herrschen in den Verwaltungen immer noch starre Hierarchien und bürokratische Führung vor. Während in der zunehmend agileren Privatwirtschaft ein steigendes Burnout-Risiko zu befürchten ist, bewegen sich die viele Behörden noch immer in der Boreout-Zone, d. h. die Beamten werden weniger gefordert, als es eigentlich gut im Sinne von menschengerecht ist. Die Pandemie hat die Langsamkeit und Fehleranfälligkeit der bürokratischen Führung schonungslos offengelegt. Auch für Behörden lässt sich ein geeignetes Warum finden, und es spricht auch nichts gegen eine verstärkte Einführung agiler Prinzipien. Last but not least krankt die Verwaltung natürlich auch an dem Umstand, dass nicht selten wichtige Führungsfunktionen nach Parteibuch besetzt werden und etwa abgehalfterten Politikern attraktive Posten zugeschanzt werden. Stattdessen sollten auch in der Verwaltung hauptsächlich die individuellen Fähigkeiten entscheidend sein. Zudem sollten sich die Politiker und Politikerinnen, die den Behörden vorstehen, mit Leadership beschäftigen und einen gewissen Ehrgeiz hinsichtlich guter Führung entwickeln. Auch in Politik und Verwaltung ist also dringend Wandel angesagt. Während der Trend in der Wirtschaft in die richtige Richtung geht, sind auf der politischen Ebene dringend neue Leader gefragt. Soll die Erde langfristig ein lebenswerter Ort

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bleiben und sollen die großen globalen Probleme gelöst werden, erscheint dies absolut unerlässlich. Dass es für wirklich entscheidende Fortschritte eher länderübergreifender Kooperation statt kriegerischer Auseinandersetzungen bedarf, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass es eher vertrauenswürdige und integrative Persönlichkeiten als Warlords und Egomanen an der Spitze braucht. New Leadership basiert auf geteilter Führung und somit auf einer stärker verteilten Machtbasis. Zumindest in den demokratischen Staaten liegt der Schlüssel in den Händen der Wählenden. Um die genannten problematischen Persönlichkeitstypen von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten, braucht es mehr aufgeklärte Bürger und Bürgerinnen, die sich nicht vom äußeren Schein oder irgendwelchen Parolen blenden lassen, sondern prinzipiengeleitete und lösungsorientierte Personen in die höheren Ämter wählen. Wie erwähnt, ist von mitdenkenden und persönlich reifen Menschen grundsätzlich eher zu erwarten, dass sie sich für lösungsorientierte Personen entscheiden. Allerdings bedarf es dazu auch einer Sensibilisierung resp. einer Steigerung der Fähigkeit, geeignete von ungeeigneten oder gar toxischen Personen zu unterscheiden. Dass der äußere Schein und politische Einstellungen nichts über echte Kompetenz und nachhaltige Führungsstärke aussagen, wurde detailliert ausgeführt. Wichtig ist, dass die Merkmale guter und potenziell nachhaltig erfolgreicher Leader einem größeren Kreis von Personen bekannt ist. Auf der gesellschaftlichen Ebene erscheint vor allem die zunehmende Polarisierung und Fragmentierung durch verschiedene extreme Wertvorstellungen, steigenden Narzissmus und Hedonismus als besonders problematisch. Der Fokus auf die eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten läuft dem Wunsch nach einer Gesellschaft aus mehr reifen Personen ent­ gegen. Wie dargelegt, wird in diesem Buch die Ansicht vertreten, dass eine Leader-­ Persönlichkeit im Grunde nichts anderes ist als eine reife und erwachsene Person. Statt einer entsprechenden gesellschaftlichen Entwicklung besteht momentan eher die Gefahr einer zunehmenden Infantilisierung. Dass sich viele Menschen in abgeschotteten Echokammern der Wirklichkeit ausschließlich mit Gleichgesinnten austauschen und alternativen Realitäten (z. B. Verschwörungstheorien) anhängen, ist besorgniserregend. Auch gutgemeinte Initiativen wie „Woke“ können mit der Zeit schädlich wirken, wenn sie vor allem Gräben vertiefen und Andersdenkende mit Denk- und Redeverboten belegt werden. Zensur und die Bekämpfung von Meinungsfreiheit sind Ausdruck einer totalitären und intoleranten Gesinnung. Ideologische Vorstellungen geben auch Personen, die faktisch keinen relevanten gesellschaftlichen Beitrag leisten, ein Gefühl von moralischer Überlegenheit – und nur lauthals Forderungen stellen kostet nichts. Statt sich an extremen oder kruden Einstellungen zu orientieren, wäre eine stärkere Hinwendung zu ethischen Werten und Prinzipien wünschenswert. Reife Personen definieren sich über grundlegende Prinzipien und nicht über irgendwelche Einstellungen. Ebenfalls zentral ist das Streben nach Eigenverantwortung. Der ebenfalls spürbare Trend eines abnehmenden Gemeinsinns zugunsten einer narzisstischen Selbstinszenierung dürfte auf den Zerfall der traditionellen Werte zurückzuführen sein. Auch ein Staat kann und sollte eine friedliche Vision haben (z. B. „Green City“ von Singapur), auf jeden Fall in einer Gemeinschaft oder einem Staatswesen notwendig ist ein verbindender Wertekompass, der Orientierung gibt, wofür man steht, weil ansonsten die Volkskrankheit Narzissmus weiter überhandnimmt. In der Öffentlichkeit bekannt ist vor

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allem der bösartige („maligne“) Narzissmus erfolgreicher und bekannter Personen, es sind aber nicht alle Narzissten erfolgreich. Viele haben nicht das Charisma, um andere Personen zu gewinnen, oder die Fähigkeiten, um ihre hochtrabenden Pläne zu realisieren. Neben dem bösartigen Narzissmus ist auch der angesprochene vulnerable „Opfer-­Narzissmus“ zu beachten. Auch nach Vergeltung oder Wiedergutmachung einer Kränkung strebende vulnerable Narzissten oder echte oder vermeintliche „Opfergruppen“ können großen Schaden anrichten. Zu den vielfältigen Arten und Auswirkungen des vulnerablen Narzissmus ist noch mehr Forschung notwendig. Entscheidend ist, dass Narzissmus generell als schädlich eingestuft werden sollte und ein gewisses Maß an Narzissmus nicht länger als positives Zeichen für ein gesundes Selbstwertgefühl schöngeredet werden darf. Es ist kein Zufall, dass ich noch nie in einem Assessment-Bericht mangelnden Narzissmus als Entwicklungsfeld aufgeführt habe. Tatsächlich nötig sind ein angemessen stabiles Selbstwertgefühl und eine gewisse Durchsetzungsstärke. Sich immer zurückzunehmen, ist ebenfalls nicht zielführend und nicht geeignet, das Selbstwertgefühl zu steigern. Man darf nicht vergessen, dass (subklinischer) Narzissmus keine Krankheit oder genetische Disposition ist, sondern anerzogen wird. Wird in einer Gesellschaft dem Individuum eine geringere Bedeutung beigemessen (z. B. asiatische Kulturen), ist automatisch mit weniger Narzissten zu rechnen. Zusätzlich ist ein selbstwertstützender und Kränkungen vermeidender Umgang in einigen Ländern als Teil der kulturellen Normen etabliert. Im Zentrum steht die Wertvorstellung, dass alle Beteiligten in Konflikten stets das Gesicht wahren können. Im Westen besteht eher eine Tendenz, „Opfergruppen“ zu definieren, die im Grunde überhaupt nicht mehr kritisiert werden dürfen. Diese Tendenz verstärkt die Polarisierung und verhindert, dass die Betroffenen den Schritt vom Opfer zum Gestalter machen und nur Forderungen stellen, statt selbst initiativ zu werden. Außerdem macht eine Opferhaltung unglücklich und behindert ein persönliches Wachstumsstreben. Gerade dies ist aber die Bedingung für mehr erwachsene Personen sowie eine reifere und wieder stärker verbindend wirkende Gesellschaft. Kritisches Feedback ist eine absolut zentrale Basis von Lernprozessen, weshalb darauf keinesfalls verzichtet werden darf. Notwendig ist also einerseits die Einsicht, dass Kritik etwas Gutes ist, und die Bereitschaft, gegebenenfalls an der eigenen Kritikfähigkeit zu arbeiten – sprich vor allem zu lernen, nicht alles persönlich zu nehmen und eine minimale emotionale Stabilität zu entwickeln. Andererseits braucht es das Verständnis, dass alle immer das Gesicht wahren können und Kritik deshalb sehr behutsam und wohlwollend angebracht werden muss. Ideal scheint ein Vorgehen, das die asiatische Sensibilität für mögliche Kränkungen mit einer westlichen Feedback-Kultur kombiniert. Damit würden auch horizontaler und vertikaler Respekt optimal berücksichtigt. Geeignete Feedback-­Regeln für das Geben von kritischen Hinweisen bestehen bereits und müssen nur ­konsequent angewendet werden. In einer reifen Gesellschaft ist die Mehrheit der Menschen in der Lage, Kritik zu äußern und anzunehmen. Damit ist auch gesagt, dass sich eine reife Leader-Persönlichkeit durch ein angemessen gesundes Selbstwertgefühl und emotionale Stabilität auszeichnet. Weitere wesentliche Eigenschaften sind Integrität, Verlässlichkeit und Kooperation auf Augenhöhe mit allen Per-

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sonen, ungeachtet ihrer Merkmale wie Geschlecht etc. Von größter Bedeutung ist auch die Bereitschaft, sich für die Zukunft des Unternehmens resp. des Landes, die größere Vision und die gemeinsamen Werte einzusetzen. Damit die erforderliche Selbstständigkeit und Eigenmotivation gewährleistet sind, muss man vor allem eine Aufgabe finden, die den eigenen Fähigkeiten und Neigungen besonders gut entspricht. Gemäß Artikel 6 der Schweizerischen Bundesverfassung ist ein mündiger Bürger oder eine mündige Bürgerin eine Person, die nicht nur alle ihre Rechte konsequent wahrnimmt, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber dem Staat resp. dem Gemeinwesen empfindet und einen aktiven Beitrag zu deren Wohlergehen leisten will. Der konkrete Gesetzestext „Jede Person nimmt Verantwortung für sich selbst wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei“ ist sehr vage gehalten und als Appell und nicht als Verpflichtung gedacht. In Juristenkreisen herrscht offenbar die Überzeugung vor, dass die Bevölkerung diesem Wunsch am ehesten nachkommt, wenn ihr diesbezüglich die volle Selbstbestimmung gelassen bzw. zugemutet wird und keine zwingenden Erwartungen an sie gerichtet werden. Abgesehen davon, dass die meisten Menschen diesen Artikel gar nicht kennen, lässt die psychologische Forschung eher annehmen, dass nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung tatsächlich in der Lage ist, eine derart vage und unverbindliche Erwartungshaltung für sich selbst mit Leben zu füllen. Die große Mehrheit benötigte dazu einen Leitfaden und eine gar nicht so kleine Minderheit eigentlich einen detaillierten Katalog sämtlicher Pflichten und Erwartungen. Im Grunde beschreibt der erwähnte Artikel high-level in etwa dasselbe wie die reife Leader-Persönlichkeit in diesem Buch. Insofern können viele Empfehlungen auch auf die eigene Positionierung als aktiver Bürger oder aktive Bürgerin übernommen werden. Eine möglichst hohe Anzahl mündiger Bürger und Bürgerinnen ist der beste Schutz vor politischen Irrläufern. Eine größere Vision anstelle eines übersteigerten Nationalstolzes wäre wünschenswert, zum Beispiel der Ehrgeiz, die fortschrittlichste Demokratie der Welt zu sein. Eigentlich unabdingbar ist ein allen bekannter Wertekatalog, der festlegt, wofür die Gemeinschaft stehen und einstehen möchte. Auf der Werteebene völlige Freiheiten lassen zu wollen, funktioniert schon deshalb nicht, weil gar nicht alle Menschen Werte haben. Der Wunsch nach Orientierung gehört aber zu den Grundbedürfnissen von Menschen, und sie sind mit einem falsch verstandenen freiheitlichen Verständnis von Toleranz schlicht überfordert. Eine Art völlige Wertefreiheit ist psychologisch gesehen nicht nur ein Unsinn, ein Unkonzept, sondern gefährlich, weil sie den Ruf nach dem starken Mann fördert. Wer Orientierung benötigt und keine erhält, läuft Gefahr, auf Irrwege zu geraten. Zum Schluss soll aber noch einmal unmissverständlich festgehalten werden, dass die wichtigste Maßnahme für eine bessere Zukunft darin besteht, alles zu tun, um ­problematische Personen von der Macht fernzuhalten resp. diesen mit einer harten und konsequenten Grundhaltung zu begegnen.