Gurdjieff heute

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Band 1 der Reihe 'Transformation des Menschen'. Titel der Originalausgabe: Gurdjieff Today Copyright (C) Elizabeth Bennett Erweitert durch ein Interview mit J.G. Bennett in Sherborne House 1973. Übersetzung aus dem Englischen von Bruno Martin. 2. verbesserte und erweiterte Auflage 1977 Druck: Klaus Becke, Frankfurt Verlag Sruno Martin, Saalburgstr. 4, 6 Frankfurt 60 ISBN3-921786-07-X

VORWORT Mit der vorliegenden Schrift wird die Reihe „Die Umwandlung des Menschen" eingeleitet. Dem Text hegt ein Vortrag zugrunde, der in Caxton Hall, London, im Dezember 1973 gehalten wurde. Dieses Buch ist bestimmt für Menschen, die Gurdjieff bereits kennen oder schon mit anderen Sufi-Lehren in Berührung gekommen sind. Aber die ganze Reihe kann auch als Zugang zur Praxis dienen, besonders für die Leute, die einen Ausweg aus ihren persönlichen und gesell­ schaftlichen Problemen suchen. Als Gurdjieff mit seinem System und seinen Methoden das erste Mal nach Frankreich kam, wurde die Bedeutung seiner Ideen und Metho­ den allgemein nicht anerkannt und verstanden. Jetzt, etwa fünfzig Jahre danach, in einer immer chaotischeren, expandierenden Welt, wird die Bedeutung seiner Lehre von einer ständig wachsenden Zahl von Menschen erkannt, die nach dem Sinn ihres Lebens suchen. Für diese Suche ist Gurdjieffs Lehre herausragend, denn er hebt hervor, daß wir „die Welt anders sehen müssen" und stellt uns die Methoden und Techniken dafür zur Verfügung.

J.G. Bennett GURDJIEFF HEUTE Verbesserte und erweiterte Neuauflage mit einem Interview mit J.G. Bennett über Themen wie Gemeinschaften, freiheitliche Erziehung, Freiheit, Sexualität und anderes

VERLAG BRUNO MARTIN

EINFÜHRUNG Das Ziel unserer Arbeit in Sherbome (Internationale Akademie für Fortdauernde Erziehung) heißt 'Umwandlung', also die Vereinigung der körperlichen und spirituellen Elemente unseres Wesens, die sonst durch eine Schranke der Illusion getrennt sind. Wir sind uns darüber im klaren, daß die Menschheit vor einer überaus kritischen Phase in der Geschichte steht, in der alles von unserer Fähigkeit abhängen wird, mit den spirituellen Kräften, die uns helfen wollen, zu kooperieren, um diese Krise zu bewältigen. Dafür werden aber viele Männer und Frauen gebraucht, welche diese Umwandlung in sich vollzogen haben — mehr als je zuvor in der Ge­ schichte. Jene, die diese Wahrheit erkannt haben, wollen ihre eigene Umwandlung schnell voranbringen, um den Bedürfnissen der Mensch­ heit gerecht zu werden. Zu diesem Zweck müssen alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden. Mit der Arbeit in Sherborne1 wird der Versuch unternommen, zu allen Teilen unseres Wesens vorzudringen. Durch Erlernen praktischer Fertigkeiten, durch Teilnahme an allen häuslichen Pflichten, durch Mitarbeit in den Gurdjieff-Bewegungsübungen und anderen inneren Übungen, entwickeln wir unsere Funktionen, — die körperlichen, gefühlsmäßigen und intellektuellen. Im Kampf gegen unsere negati­ ven Eigenschaften stärken wir unseren Willen. Darüber hinaus versu­ chen wir Gurdjieffs Rat zu folgen und „immer mehr über die Gesetze der Weltschöpfung und Welterhaltung" zu lernen. Für uns ist es in der heutigen Zeit notwendiger als jemals zuvor zu versuchen, die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Denn in dieser Welt müssen wir arbei­ ten und die Aufgaben erfüllen, die unsere Existenz als 'dreihirnige' Wesen von uns fordert. Wir studieren die Welt mittels Erfahrung und Beobachtung, anhand von Büchern und durch Gespräche und Diskussionen. Das Gespräch oder 'sohbet' stellt eines der Mittel dar, die ein Sufi-Lehrer in der Arbeit mit seinen Schülern zu Hilfe nimmt. Der ursprüngliche Name des Schülers ist 'salik' oder Suchender, also ein Suchender nach der Wahrheit. Einige besitzen aktive intellektuelle Kräfte und eine gute Ausbildung, andere einen natürlichen Drang nach Wissen. Es ist leicht für sie, sich in das Studium der Gesetze der Weltschöpfung und Welterhaltung einzufinden. Jene, denen diese Eigenschaften fehlen, oder meinen, ohne diese Voraussetzungen zu sein, müssen darauf vertrauen, auf einem anderen Weg zum Ziel zu kommen. Die Gesetze 4

• ri in ihrem Wesensgehalt nicht schwer zu verstehen. Sie werden llem was wir tun und was mit uns geschieht, veranschaulicht. m i^Qnnen in der Praxis besser verstanden werden als in der Theorie. n Wissenschaftler oder der Philosoph denkt selten in universalen Analogien oder kosmischen Gesetzen; er kann sogar durch Ideen heestoßen werden, denn diese könnten - wenn er sie einbeziehen würde - sein Verständnis über die Welt umwälzen. Sollten diese Vorträge Suchenden in die Hände fallen, denen diese Lehre noch unbekannt ist, deren Interesse an weiterer Information dadurch aber geweckt wird, so können sie an den Verlag schreiben. Es gibt viele Gruppen in allen Teilen der Welt, die versuchen, sich auf eine schwierige Zukunft vorzubereiten. Ganz gleich, wie unter­ schiedlich diese Gruppen die Situation auch sehen mögen, und auch dann, wenn ihre Aussagen gegensätzlich zu sein scheinen, müssen sie sich kennenlernen und ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, so weit wie möglich, teilen und austauschen. Es gibt keinen ausschließ­ lichen Weg, der zu Wahrheit führt — nein, nicht einmal einen 'besten' Weg. obwohl jeder von uns so denken mag. Das 'Werk' bringt genau wie die Natur eine große Menge Samen hervor und sät ihn reichlich aus, damit — ganz gleich wieviel daneben fällt — die Aussaat zur Zeit der Ernte reif ist. Wir müssen unsere eigene Saat pflegen und dürfen aber die der anderen nicht vernachlässigen. sln

GURDJIEFF HEUTE Kleinkinder im Alter von zwei bis drei Jahren kommen häufig mit der Frage „Warum?". Manchmal fragen sie auch „warum bin ich hier?". Wenn sie etwas mehr vom Leben sehen, fragen sie auch „Warum lebe ich?". Weil die meisten Leute nicht wissen, was sie darauf antworten sollen, speisen sie die Kinder mit dummen Ant­ worten ab und bald geben die Kinder es auf, die Frage ,,Warum?" zu stellen. Wahrscheinlich begreifen sie die Tiefe und Schwierig­ keit der Warum-Frage nicht; aber die Tatsache, daß sie die Frage stellen, weist darauf hin, daß irgendwo tief in unserem Innern diese Frage liegt, sogar bevor wir denken können, bevor uns jemand etwas über uns selbst und diese Welt gelehrt hat. Keiner kann uns eine überzeugende Antwort darauf geben und somit wird die Frage „Warum?", allmählich überdeckt und nur wenige nehmen sie wieder auf und gehen ihr weiter nach. Der Mann, von dem ich heute Abend sprechen will, George Gurdjieff, gab die Suche nach der Antwort auf diese Frage niemals auf. Dies verleiht ihm eine besondere Bedeutsamkeit für unsere gegenwärtige Zeit. Mehr denn je zuvor werden wir auf diese Frage zurückgeworfen. Mit Gurdjieff gibt sie keine Ruhe. Mit der Zeit nahm die einfache Frage „Warum lebe ich?" die Form von ,,Warum gibt es Leben auf der Erde?" an. „Was hat es mit diesem Leben auf der Erde aufsich?" und besonders „Was ist unser menschliches Leben, was für eine Be­ deutung hat es, wozu existieren wir?". Nun, die Frage nach dem Zweck des Lebens ist viel ungewöhnlicher, als Sie auf den ersten Blick annehmen würden. Denn im allgemeinen wurden wir ja schon von dieser Frage entweder dadurch abgebracht, daß man uns lehrte, Gott habe uns und die Welt erschaffen und es sei Gottes Angelegen­ heit. Oder es wurde uns gesagt, es gäbe keinen Sinn und Zweck des Lebens, es sei denn, wir Menschen selbst legen einen Sinn hinein. Man erwartet von uns zu glauben, daß ein Zweck des Lebens, falls dieser existiert, vom Menschen bestimmt sei. Wäre dem so, so lautete die Antwort auf die Frage: „Um unsere eigenen Ziele zu verfolgen und zu befriedigen, wenn wir den Wunsch dazu haben." Diese zweite Antwort wurde in den letzten Jahrhunderten bevorzugt und wird es auch heute noch. Die meisten Gelehrten sind der Ansicht, daß jede Frage nach Sinn und Ziel des Lebens als eine vom Menschen bestimmte Frage erachtet werden mirß, die einer vom Menschen bestimmten Antwort bedarf. Wenn das stimmte, so können wir dar-

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auf tatsächlich nach Belieben antworten. Geben wir uns aber nicht damit zufrieden und fühlen, daß an diesem Glauben, der Zweck des Lebens auf der Erde sei etwas vom Menschen selbst Herbeigeführtes, etwas nicht stimmen kann, dann nähern wir uns einem neuen Weg, Welt und Leben zu betrachten. Und dieser neue Weg ist in Gurdjieffs Beitrag hervorstechend. Hat das menschliche Leben einen Sinn und Zweck, den wir verstehen können, d.h. haben wir eine Aufgabe zu erfüllen, und wenn das für alles Leben gilt, dann muß dieser Zweck etwas mit dieser Erde zu tun haben, vielleicht sogar mit diesem Sonnensystem. Auf unserer Suche nach einer Antwort werden wir dann über diese Welt nicht hinausge­ hen, sondern wir werden sie auf eine andere Art betrachten. Anstatt das Leben auf dieser Erde blindem Zufall oder göttlicher Fügung zu­ zuschreiben, werden wir sie so sehen, daß sie für Zwecke geschaffen wurde, die der Größe und Bedeutung dieses Sonnensystems innerhalb des gesamten Universums entsprechen. So lange die Menschheit den­ ken konnte, diese Erde sei das Zentrum des Universums oder unser Sonnensystem sei die zentralste und bedeutendste Existenzform die­ ses Universums, dachten sie, alle Zwecke entsprächen denen dieser Erde und wären den menschlichen Zielen ähnlich, als ob er die höch­ ste Existenzform auf der Welt sei. Eine der einschneidensten Änderungen für unsere Weltanschauung ist auf die Entdeckung zurückzuführen, daß dieses Sonnensystem ei­ nen unbedeutenden Rang im großen Universum einnimmt. Wir sehen jetzt, daß es ziemlich absurd wäre, die Zwecke innerhalb des Sonnen­ systems und die des gesamten Universums für identisch zu halten. Wir können sagen, daß die Zwecke innerhalb des Universums unerforschlich sind und es wahrscheinlich auch bleiben werden. Aber dies trifft dann nicht zu, wenn wir bereit sind, das Sonnensystem immanent zu betrachten. Dann stehen wir vor einem vollkommen neuen Weg bei der Betrachtung des Problems 'Leben'. Wenn wir ein Ziel ins Auge fassen, das weder unendlich und transzendental ist, noch außerhalb des Universums liegt, und auch nicht auf die Belange des Menschen zugeschnitten ist, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß dieser Zweck begrenzt und sein Erreichen gefährdet ist. Die Geschichte der Erde lehrt uns, daß im Verlaufe der Evolution vielversprechende Ansätze zustandekamen, die fehlschlugen und nur einige Überreste als Zeugen zurückließen. Die menschliche Rasse, homo sapiens, hat im Neanderthaler, der über 50000 Jahre versuchte, lebensfähige Gemeinschaften zu schaffen, schließlich scheiterte und

durch das Auftreten einer neuen, befähigteren Menschart verschwand, ein durchschlagendes Beispiel. Die Konsequenz eines Denkens, das nur auf einen begrenzten, fehl­ baren Zweck gerichtet ist, der aber jeden nur menschlichen Zweck übertrifft, ist gewaltig. Wie Gurdjieff es ausdrückte, können wir uns als Schaf- oder Viehherde sehen, die nur wegen ihres Fleisches, ihrer Wolle und ihrer Felle gehalten wird. Es könnte sich herausstellen, daß der Mensch, in der modernen Sprache ausgedrückt, ein 'entbehrlicher Artikel' ist, dessen Sterben für die Erde eine große Erleichterung, für die Sonne eine Enttäuschung und für den Rest des Universums be­ deutungslos sein könnte. Wichtig ist für uns jetzt mit der Vorstellung vertraut zu werden, daß es Ziele geben könnte, die gewaltiger als menschliche Ziele und gleichsam winzig im Verhältnis zum ganzen Universum sind. Solche Gedanken führten Gurdjieff zu seiner Frage „Was ist der Sinn und Zweck des Lebens auf der Erde?". Im Zu­ sammenhang mit dem Sonnensystem, aber nicht in Begriffen einer absoluten Realität des ganzen Universums betrachtet, können wir herausfinden, daß eine radikale Änderung unserer Ansichten über das Leben notwendig ist. Wir sind gezwungen, ganz anders zu den­ ken, als in den beiden gerade erwähnten Fragestellungen. Um die erste Antwort auf die Frage „Was ist Sinn und Zweck des Lebens auf der Erde im allgemeinen und des menschlichen Lebens im besonderen?" geben zu können, betrachtete Gurdjieff die Zusam­ menhänge um uns herum. Immer wenn wir bemerken, daß Menschen sich einer Sache besonders annehmen, erwarten wir die Frage „War­ um tust du das, oder wozu?" beantworten zu können. Wenn wir Menschen riesige Vieh- oder Schafherden oder andere Tiere mit großer Sorgfalt hegen, fragen wir auch wozu. Und unsere Antwort lautet nicht: „Weil wir sie gerne haben", sondern: „Wir verwenden soviel Sorgfalt, weil wir ihr Fleisch, ihre Wolle, und ihr Leder wol­ len." Wenn wir dies nun auf die Menschheit übertragen und fragen „Wozu wird die Menschheit auf dieser Erde erhalten?", was sollten wir antworten? Warum wurde über Hunderte von Millionen Jahren so vieles sorgfältig für die Menschheit vorbereitet? Der fruchtbare Boden, mit dessen Hilfe die Vegetation das Leben erhält, diese zahl­ losen Mineralien, die unter der Erdoberfläche konzentriert sind und mit denen der Mensch all das schaffen konnte, was er brauchte, wozu all diese Sorgfalt? Können wir die Frage untersuchen, wie wir das bei unseren Schafen und Kühen taten? Können wir sagen: „Weil die Menschheit einer höheren Macht so am Herzen liegt, daß diese Bedin­

gungen Jahrmillionen hindurch vorbereitet wurden? Geben wir eine andere Antwort: „Nein, nicht aus diesem Grunde, sondern weil vom Menschen und der menschlichen Rasse etwas gebraucht wird, ver­ gleichbar dem Bedarf, den wir an Fleisch, Wolle und Leder haben." Dies ist die Antwort, zu der Gurdjieff kam. Eine Antwort, die dem Menschen lange Zeit nicht in den Kopf kam. Der letzte große Leh­ rer, der dies vor 2500 Jahren lehrte, war vermutlich Zoroaster. Es ist Bestandteil der älteren jüdischen Urschriften; wenn man sie unvor­ eingenommen liest, trifft man auf die Existenz einer solchen Haltung in den frühen biblischen Zeiten. Aber heute werden solche Ansichten beiseitegeschoben. Wir besitzen eine exaltierte Vorstellung über den Menschen, daß uns der Gedanke, wir seien in den Augen von höheren Mächten nicht mehr als Vieh oder Gras auf dem Feld der Vergänglichkeit, noch nicht einmal beleidigt. Wir belasten uns nicht einmal damit, solche lächerlichen Ansichten, die in das Zeitalter der Wilden gehören, wo der Mensch von der Natur eingeschüchtert wurde, zu erwägen. Heute wird der Mensch durch nichts tief beeindruckt, außer von der Vision seiner eigenen Größe. Müssen wir zurückkehren zu solch einer altertümlichen Ansicht, daß der Mensch nur existiere, um einem begrenzten, nicht von ihm be­ stimmten Zweck zu dienen? Wird er nur zu etwas gebraucht? Als Gurdjieff vor 50 Jahren uns seine Ideen zum ersten Mal vorstellte, waren sie etwas vollständig Neues, so seltsam und so schockierend, daß wir glaubten, diese seien nur beabsichtigt, um uns aufzurütteln, damit wir unsere eigene Frage „Wofür ist mein Leben", „Was fange ich damit an?" hochreißt. Und mit diesem heilsamen Schock dann unser Leben unter der Anwendung des Gelernten weiterzuleben, aber ohne den Konsequenzen der Frage „Ist unser Leben zu unserem ei­ genen Nutzen oder leben wir, um einem höheren Zweck zu dienen?" wirklich ins Gesicht zu schauen. Heute, kurze 50 Jahre nachdem Gurdjieff diese Vorstellungen der westlichen Welt näherbrachte, sieht es ganz anders aus. Die Ziele des Menschen sind bei weitem nicht mehr so überzeugend als zuvor. Die Annahme, der Mensch wisse, was er aus seinem Leben mache, und gäbe allem Leben auf der Erde Sinn, ist nicht mehr plausibel. Wir zerstören das Leben auf der Erde rücksichtslos und bereiten sogar die zukünftige Zerstörung menschlichen Lebens vor. In den letzten 60 Jahren haben wir einen großen Teil menschlichen Lebens unnötigerweise zerstört. Überall beginnen die Leute, menschliche Ziele in Frage zu stellen und sind

seit geraumer Zeit mehr denn je bereit, die Dinge auf eine neue Art zu sehen. Laßt uns nun versuchen, die Antwort auf die Frage, die Gurdjieff sich selbst stellte, aufzurollen. Menschliches Leben wird gebraucht, um 'etwas' herzustellen, das zur Harmonie des Sonnensystems und ganz besonders zur Harmonie dieses Planeten und des Mondes er­ forderlich ist. Dieses 'Etwas' ergibt sich aus der Art wie wir leben und wie wir sterben. Wir haben die Verpflichtung, dieses 'Etwas' her­ vorzubringen, ob wir wollen oder nicht. Dieses 'Etwas' entspricht dem Fleisch, der Wolle und dem Leder unserer Schafe und Kühe. In der Vergangenheit wurde den Menschen das Ziel ihres Lebens auf verschiedene Weise dargestellt. Aber allgemein ausgedrückt, war die Art zu leben, die dem Menschen als die richtige dargestellt wurde, die gleiche. Es gab ein allgemeines Verständnis wie die Menschen leben sollten. Abgesehen von gewissen künstlichen gesellschaftlichen Bräu­ chen, die in jeder Zeit verschieden waren, glaubte man allgemein, daß der Mensch nicht dazu bestimmt ist, für die Erreichung seiner eigenen egoistischen Ziele zu leben, und daß der Mensch Verpflichtungen einzuhalten haben, und das ist heute noch genauso wie damals. Der Mensch hat verstanden, daß er nicht wie ein wildes oder besser gesagt, ein besessenes Tier leben darf, das rückhaltlos jeder tierischen Leidenschaft oder jedem egoistischen Impuls nachgibt. Er hat begrif­ fen, daß er seine Mitmenschen respektieren und eine gewisse Art ge­ sellschaftlicher Disziplin akzeptieren muß. Dieses Verhaltensmuster wurde von jeder Art von Gesellschaft und verschiedenen Kulturen als richtig und notwendig akzeptiert. Geändert hat sich über Jahrhunder­ te hinweg das Motiv, das als Erklärung vorgebracht wurde, warum wir auf diese Weise leben sollten. Nehmen wir ein paar Beispiele aus der Geschichte. Gautama Buddha appellierte an die Vernunft. Er sagte: „Ihr seht, daß dieses Leben nicht zufriedenstellend ist. So wie es ist, ist es bedeutungslos. Es gibt nur einen Weg, der herausführt: Aufwachen zur Wahrheit, Aufwa­ chen zu Dhamma, dies ist der Edle Achtfache Weg, und um diesen Weg beschreiten zu können, müßt ihr zuerst ein diszipliniertes Leben — oder Moralgesetz — akzeptieren. Dieser Appell an die Vernunft war zunächst mächtig und wirkungsvoll, aber das änderte sich bald und er verlor an Kraft. Es wurde auch an den Glauben appelliert, ganz besonders in der jü­ dischen Tradition; wir sehen das bei Abraham, Moses und in den Psal­ men Davids. „Dies ist Gottes Gebot und ihr glaubt daran." Die jüdi10

schen Urschriften befassen sich mit der Stärkung des Glaubens. Die christliche Botschaft besagt, daß wir unser Leben auf das Ver­ trauen in die Liebe Gottes zu den Menschen und in unsere Liebe zu unserem Nächsten gründen sollten. So sollten wir leben. Mohammed brachte im wesentlichen die Lehre der Hoffnung vor. Das islamische Glaubensbekenntnis gründet auf der Hoffnung. Der Koran ist eine Botschaft der Hoffnung. Gott ist mitfühlend und stellt an die Menschheit keine Anforderungen, die schwer zu ertragen sind. ,,Erfüllt diese einfachen Lebensregeln und Erlösung ist Euch gewiß." Diese einfachen Lebensregeln entsprechen dem Leben, das geführt werden muß, um den Zweck unserer Existenz zu erfüllen. Die Grün­ der der großen Religionen der Welt appellierten an die Vernunft, den Glauben, die Liebe und die Hoffnung. Alle schlugen fehl. Der Appell an die Vernunft funktioniert nicht. Die Menschen leben nicht vernünftig, ausgenommen eine kleine Minderheit. Der Glaube verschwand weitgehend aus der Welt. Stattdessen nehmen wir blind hin, was uns ein Konditionierungsprozeß, der sich vom wirklichen Glauben vollkommen unterscheidet, sagt. Die christliche Religion war der tragischste Fehlschlag von allen. Im Namen der Liebe ist mehr Boshaftigkeit und Grausamkeit verübt worden, als durch die Anhänger jeder anderen Religion. Weil der Islam neuer als die anderen Religionen ist, verflüchtigt er sich vielleicht auch als letzter; aber diese Religion der Hoffnung wird ersetzt durch Motive, die sich von denen Mohammeds, des Gründers, vollkommen unterscheiden. Man kann sagen, alle Wege, die die Menschen zu einer Lebensweise führen sollten, die unseren Verpflichtungen auf dieser Erde ent­ spricht, schlugen fehl. Der moderne Mensch hat einen neuen Grund gefunden: 'Eigeninter­ esse'. Wir werden so und so leben, weil es zufriedenstellender ist. Wir sind dadurch für Schwierigkeiten weniger anfällig, wir haben eine grö­ ßere Chance ein 'gutes Leben' zu führen, wenn wir mehr oder weni­ ger auf die Art leben, die den Menschen immer gelehrt wurde. Die Religion des Eigennutzes ist die Neueste von allen. Sie weist jedes andere Motiv für rechtes Leben zurück, ausgenommen des Eigenin­ teresses. Aber es ist auch diejenige, die am schnellsten zusammenge­ brochen ist. Wir erkennen bereits die tragischen Konsequenzen der Religion des Eigeninteresses. All dies stellt eine Wiedergabe von Gurdjieffs Darlegung der Situation in seinen eigenen Büchern dar. Was ist seine Alternative zu diesen Wegen? Er sagt, jetzt muß der Mensch die Dinge so sehen, wie sie 11

wirklich sind. Wir haben in uns ein Instrument, das uns befähigt, die Wahrheit nicht indirekt durch das, was andere uns sagen, zu sehen, sondern durch eigene, direkte Wahrnehmung. Das Instrument für die­ se direkte Wahrnehmung bezeichnet er mit dem alten Begriff .Ge­ wissen'. Bis jetzt habe ich noch nichts über das 'Etwas' gesagt, das der Mensch aufgrund seiner Lebensweise hervorbringen muß. Jetzt haben wir Gurdjieffs Botschaft gehört, die in der Tat lautet: „Jetzt ist es für den Menschen an der Zeit, für sich selbst zu sehen, warum er auf eine bestimmte Weise leben sollte. Wir müssen für uns sehen, worin der Zweck unseres Lebens besteht, was Sinn und Bedeutung unserer Existenz ist. Wir sind an einem Punkt der Reife im menschlichen Leben angekom­ men, wo wir unsere kindliche Abhängigkeit von äußeren Bestimmun­ gen hinter uns lassen müssen und zur Selbstbestimmung finden sol­ len. Das ist ein schwieriger Augenblick für uns, wenn wir als Indivi­ duen 'erwachsen werden' müssen. Dies ist noch schwieriger, wenn es für die Gattung Mensch als Ganzes gilt. Es mag Jahrhunderte dauern, bis wir es erreichen. Aber wir befinden uns in einer Übergangsperio­ de, in der wir das Leben anders betrachten lernen müssen. Nicht in dem, was in der Vergangenheit gelehrt und geglaubt wurde, sondern in dem, was wir selbst durch eigene Einsichten gegenwärtig sehen. Um sehen zu können, muß man erkennen können, was man betrach­ tet. Deshalb muß ein Hinweis gegeben werden. Die gegenseitige Erhaltung Worüber ich nun sprechen will ist einer der außergewöhnlichsten Schritte in Gurdjieffs Darlegung. Ich bin mir keiner früheren Lehre dieser Richtung bewußt, noch daß es gegenwärtig in einer anderen Tradition gelehrt wird. Es gibt einen Hinweis, wie ich schon zuvor sagte, daß dies von Zoraster, diesem bemerkenswerten Propheten, von dem wir sowenig wissen, und wahrscheinlich Pythagoras, der nach der Überlieferung durch Zoroaster selbst lernte, gelehrt wurde. Es ist wirklich nicht so wichtig, ob diese Lehre nur wenigen in der fernen Vergangenheit bekannt war, sondern was zählt ist, daß es jetzt bekannt werden sollte, und daß wir in der Lage sind, es für uns selbst einzusehen. Gurdjieff nennt es die Lehre der gegenseitigen Erhaltung. Diese besagt, daß alles, was im Universum existiert, zu seiner Erhaltung von anderen Dingen abhängt und seinerseits die Existenz von anderem aufrechterhalten muß. Er fügt hinzu, daß dies 12

für uns Menschen auch gelte. Es ist sehr einfach festzustellen, daß wir von anderen Existenzformen abhängig sind. Wir hängen von Gütern dieser Erdoberfläche ab, von der Wärme und dem Licht, das von der Sonne kommt und von den Dingen, die wir nicht kennen. Aber am meisten hängen wir vom Leben ab. Wir sind ein integraler Bestand­ teil des Lebens auf der Erde und wir können uns nicht isolieren. Oh­ ne Leben auf der Erde können wir nicht essen und auch nicht atmen, weil das Leben auf der Erde den Sauerstoff produziert, den wir zum Atmen brauchen. Dann erhebt sich die Frage: „Wenn wir von so vielem abhängen, um existieren zu können, was können wir unsererseits dafür geben? Was wird von uns verlangt?" Es reicht nicht aus, zu sagen, unsere Körper kehren zur Erde zurück, denn wir sind weit mehr als nur lebende Or­ ganismen. Wir können nicht sagen, daß unsere Schuld dem Leben gegenüber einfach getilgt ist, indem unser Leib zur Erde zurückkehrt, von der er kam. Was haben wir mehr? Wir teilen die Eigenschaft der Sensibilität mit allem Leben. Diese Sensibilität ist in uns höher orga­ nisiert als in jeder anderen Lebensform. Wir können andersartige Erfahrungen machen. Diese Erfahrungen können nicht umsonst sein; sie werden uns nicht zu unserem eigenen Vergnügen und Leiden ge­ geben. Die menschliche Erfahrung gibt Energien frei, die auf keine andere Art Zustandekommen können. Auf dies im einzelnen einzu­ gehen reicht die Zeit heute abend leider nicht aus. Nehmen wir an, wir erkennen, daß sich die menschliche Erfahrung von jeder anderen Form der Erfahrung auf dieser Erde unterscheidet. Wenn jede Erfah­ rung von einer Form der sensiblen Energie abhängig ist, dann liegt es an uns, ob wir die Erfahrungen, die wir machen — was wiederum davon abhängt, wie wir leben — Energien verschiedener Qualität hervorbringen. Gurdjieff behauptet, daß einige dieser Energien die­ ses 'Etwas' seien, das zur ordnungsgemäßen Evolution dieses Son­ nensystems benötigt wird. Ein großer Prozeß der Sensibilisierung oder, wie er es nennt, Spiritualisierung, wirkt gegenwärtig auf dieser Erde und im ganzen Sonnensystem, und wir müssen unseren Beitrag dazu leisten. Und das ist nur durch eine andere Lebensweise als die heute übliche möglich. Wir wissen, daß wir viel mehr von dieser Erde nehmen, als wir geben. Wir beginnen einzusehen, daß wir mehr nehmen als uns zusteht, daß wir gegenüber der Erde und dem Leben in tiefe Schuld geraten. Des­ halb ist es für uns sogar noch wichtiger zu wissen, wie man zurück­ zahlt, wie wir unser Konto bei der Erde und dem Leben ausglei­ 13

chen können. Wir müssen zugeben, daß wir als menschliche Rasse Schulden haben, die wir kaum zurückzahlen können. Dies wird heute von vielen Menschen geahnt und es stimmt viele sehr unbehaglich, wenn sie die gesellschaftliche Situation betrachten. In gewöhnlichen Begriffen können wir es mit der Erschöpfung der Bodenschätze und der Umweltverschmutzung und all der anderen Dinge, die wir heute wissen, interpretieren; aber tiefer in uns sitzt etwas anderes, das wir nur erahnen, wenn von der Vergewaltigung der Erde oder der Zer­ störung der Umwelt gesprochen wird. Es beunruhigt uns — doch wir fühlen die volle Bedeutung nicht. Dabei können wir uns leicht vorstellen, daß es höhere Mächte gibt, die Einfluß auf das menschliche Leben haben und auch wissen, wie der Mensch anders leben kann. Gurdjieff versichert uns, daß den Höheren Kräften viel daran gelegen ist, daß die Menschen anders leben, aber daß sie auf das menschliche Verständnis angewiesen sind, um den Wandel bewirken zu helfen. Wenn es zutrifft, daß wir nicht auf dieser Erde existieren, um uns selbst zu gefallen, oder einfach aus Zufall, sondern weil wir für einen Zweck gebraucht werden, der größer ist als wir, muß folgen, daß wir entfernt und durch eine andere Art Leben ersetzt werden, wenn wir bei der Erfüllung dieses Zweckes versagen. Über diese Dinge haben Sie vermutlich nicht so eingehend nachge­ dacht, aber ich denke, daß Sie irgendwie spüren, daß an unserer augenblicklichen Haltung zum Leben auf der Erde und zum mensch­ lichen Leben im besonderen etwas nicht stimmt. Es fehlt etwas ganz Entscheidendes am Verständnis über das menschliche Schicksal. Deshalb sollten wir Gurdjieffs Antwort ganz ernsthaft betrachten. Es fehlt ein Glied in der Kette. Wir sehen nicht, daß unser Leben für 'Etwas' gebraucht wird. Erzeugen wir dieses 'Etwas', dann wird unser Leben seinen Zweck erfüllen können. Dann wird unsere Schuld ge­ tilgt und unsere individuelle Erfüllung möglich sein. Doch dies geht nicht isoliert von der Menschheit, wie die Menschen der Vergangen­ heit annahmen. Früher dachte man, daß die Suche nach einem höhe­ ren und bedeutsameren Leben Privatsache sei, die jeder Mensch allein unternehmen konnte, falls erforderlich in Einsamkeit. Sie dachten, daß wir die Gesellschaft anderer Leute nur dann suchen sollten, wenn sie uns lehren oder wenn wir mit ihnen stärker sein konnten, als alleine. Solche individualistischen - und tatsächlich egoistischen - Absichten haben heute keinen Erfolg mehr. Hier ist etwas, in das die gesamte Menschheit einbezogen ist. Wir brau­ 14

chen einander nicht nur, sondern es besteht eine grundlegende Ver­ bindung eben dadurch, daß alle für einen bestimmten Zweck ge­ braucht werden. Wenn sie diesen Zweck erfüllt, hat unsere mensch­ liche Rasse die Möglichkeit, eine andere Ebene der Erfüllung zu er­ reichen, wo eine neue Bedeutung in das menschliche Leben gelan­ gen kann. Eine Neue Welt Das ist die Attraktion der Neuen Welt. Der Mensch hat die Möglich­ keit, zu einem anderen Leben zu kommen, das auf eine andere Weise befriedigt, unter der Voraussetzung, daß die Menschen ihre Verpflich­ tung einsehen, dieses 'Etwas' zu erfüllen. Dann erhebt sich die Frage, wie das getan werden kann. Was hat Gurdjieff dazu zu sagen? Im all­ gemeinen besteht ein großer Unterschied zwischen dem Wissen, was getan werden muß und dem Wissen, wie es getan werden kann. Ge­ genwärtig wissen die Menschen weder was, noch wie sie leben sollen. Sie fühlen nur, daß es eine Lebensweise gibt, nach der sie leben soll­ ten, aber nicht, warum sie danach leben sollten. Sie sehen, wenn sie überhaupt sensibel, unparteiisch und ehrlich mit sich selbst sind, daß sie nicht so leben, wie es richtig wäre. An unserem Verhalten ist et­ was falsch, doch wir können die anderen Menschen nicht dafür ver­ antwortlich machen. Wir müssen wissen, wie wir unser Leben anders gestalten können, aber zunächst müssen wir wissen, was dieses 'ande­ re' ist. Ein moralisches, wohlgeordnetes Leben genügt nicht. Wir müssen bewußt die Verpflichtung erfüllen und die besonderen Ener­ gien hervorbringen, die notwendig sind. Das 'Wie' nennt Gurdjieff bewußte Arbeit und absichtliches Leiden. Dieser Satz taucht in seinen Schriften immer wieder auf. Es muß ver­ standen werden, was er damit meint. Bewußte Arbeit entspricht fast dem, was als 'Dienst' bezeichnet wird. Das heißt, dem Zweck des Lebens dienen und das hat sehr viel mit der Zukunft der Menschheit zu tun. Sein ganzes Leben hindurch und in jedem Bild, das er in sei­ nen Büchern über die Art, wie wir das Leben führen sollten, zeigt, unterstrich er immer die Verpflichtung, daß wir der Zukunft dienen müssen: „Der Menschheit eine bessere Zukunft zu bereiten." Wir müssen lernen, das Gegenwärtige zum Segen der Zukunft zu opfern. Wenn wir Eltern sind, erkennen wir alle die Notwendigkeit, augen­ blickliche Opfer für die Zukunft unserer Kinder zu bringen. Aber das sind nur begrenzte Opfer. Wie wenig bleibt davon übrig. Wie wenig sind wir bereit, heute auf Dinge zu verzichten und unseren Wünschen 15

und Impulsen Grenzen zu setzen, damit eine bessere Zukunft möglich wird. Wir erkennen kaum, daß Macht nicht ausgeübt werden darf, um zu bekommen, was wir gerade möchten, sondern um der Zukunft zu dienen. Im Hinblick auf diese Dinge ist die Bedeutung der bewußten Arbeit zu verstehen. Warum bewußte Arbeit? Weil man wissen muß, was zu tun ist! Es ist überaus schwierig, der Zukunft richtig zu dienen. Viele Menschen wollen Gutes für die Zukunft tun, aber sie wissen nicht, was gebraucht wird. Sie wissen nicht, wie die Saat für eine bessere Zukunft zu säen ist. Wir brauchen eine veränderte Wahrnehmung. Etwas muß verstanden werden, was jetzt noch nicht verstanden wird. Eines der Dinge die verstanden werden sollen ist, daß rechtes Leben immer Bezahlung und Opfer beinhaltet. Es ist heute nicht populär, Leiden als Notwendigkeit zu akzeptieren, weil wir die Notwendigkeit zu leiden nicht annehmen wollen, wenn wir dienen müssen. Nur widerstrebend geben wir, sogar wenn wir Überfluß haben. Und noch weniger, wenn es uns tatsächlich ‘schmerzt’. Ich kenne Menschen, die in ihrem Leben bereit sind, sich In Situationen zu begeben, wo sie zu leiden haben, um anderen zu helfen. Sie wissen, daß dieses Leiden unvermeidlich ist. Guter Wille zu dienen und zu leiden reicht nicht aus; es ist auch notwendig, neue Wahrnehmungen zu entwickeln, ein neues Verständnis für andere Menschen, sonst besteht die Gefahr zu scheitern. Trotz guter Absichten kann man Schaden anrichten. und das Falsche tun. Deshalb haben wir auch die Verpflichtung, das menschliche Leben besser zu verstehen. Dieses Verständnis beginnt damit, zu verstehen, wofür das menschliche Leben ist. Ein großer Teil von Gurdjieffs Lehre befaßt sich mit dem Studium des Menschen. Jedoch nicht einfach mit einem Wesen, das erfolgreich auf dieser Erde lebt, sondern hauptsächlich mit einem Wesen, das Verpflichtungen hat, und das durch die Erfüllung seiner Pflichten sich selbst verwirklichen kann. Das ist die Vorstellung von der Unwandlung des Menschen. Auf diese Weise kommen die Menschen zusammen. Fehlt es, bleiben sie getrennt. Das augenblickliche Leben leidet entsetzlich unter Isolation und Einsamkeit. Der Zerfall familiären Lebens ist ein Symptom dafür. Im al gemeinen aber ist es eines der traurigen Merkmale der großen Städte; das Verständnis für andere nimmt immer mehr ab und das Verstehen und der Kontakt zwischen den Menschen wird immer geringer als in der Vergangenheit. Unsere großen Organisationen sind so unpersönlich geworden, daß der Kern der menschlichen Existenz dabei wegfällt. Dieser Kern ist der Sinn für die Einheit der Menschheit! Wir müssen uns auf diese Einheit zu bewegen. aber nicht so, wie es in der Vergangenheit verstanden wurde, sondern auf eine neue Weise. Es wird

Veränderungen geben. Es wird etwas zum Vorschein kommen, und das zeigt sich schon jetzt in Form neuer Wahrnehmung, neuer menschlicher Fähigkeiten zur Kommunikation ohne Worte und äußere Zeichen, durch tieferes Verstehen und eine andere Weise sieh gegenseitig zu sehen. Ein Ausdruck, der allgemein verwendet wird, der aber richtig verstanden werden muß. heißt Gruppenbewußt-sein. Er ist jetzt häufig im Gebrauch, weil sich die Menschen irgendwie im klaren darüber sind, daß wir unsere isolierten, abgetrennten Persönlichkeiten hinter uns lassen müssen, um zu einem neuen Bewußtsein über die Verbindung zwischen uns zu gelangen. Ich sagte, daß das Leben nach Vernunft, Glauben, Liebe und Hoffnung scheiterte, deshalb muß etwas anderes, eine neue Art die Dinge zu sehen, entstehen, die diesen geheiligten Werten wieder zu ihrer wirklichen Bedeutung im menschlichen Leben verhilft. Wir müssen sehr vorsichtig sein, damit wir nicht auch die wirkliche Bedeutung des auftauchenden ‘Gruppenbewußtseins’ verderben und verlieren. Es besteht große Gefahr, daß wenn Ideen auftauchen, die in diese Neue Welt gehören, sie nach alter Art aufgenommen werden, und übersehen wird, daß wir zu etwas ganz Neuem und Andersartigem gehen müssen. Es gibt tatsächlich eine Sache wie Gruppenbewußtsein. Ich habe es mit vielen Menschen zusammen erfahren und wir verstehen jetzt, was es wirklich bedeuten kann. Wir wissen, daß dies einer der Neuen Formen ist, die zur Neuen Welt gehören. Gruppenbewußtsein entsteht durch eine Umwandlung der Energien, die vom Menschen benötigt werden und die uns bei der Erfüllung unserer Verpflichtungen sehr viel wirksamer machen. Ich sprach von dem Bedürfnis, eins bewußte Rolle in der gegenseitigen Erhaltung von allem im Sonnensystem einzunehmen. Das wird durch Gruppenbewußtsein noch wirkungsvoller. Am wichtigsten ist aber, daß wir in der Lage sein sollten, durch die Entwicklung eines neuen Bewußtseins die Dinge unmittelbar wahrzunehmen. Wir sollten den Zweck unseres Lebens durch diese direkte Wahrnehmung sehen - sehen wie alles Leben verbunden ist, wie dem Leben gedient werden kann und wie die Erfüllung unserer eigenen Schicksale davon abhängt. Man hat uns diese Sachen zuvor in Form von Moralregeln gelehrt. Auf diese Weise wird es Kindern beigebracht: .,So solltest du eigent-

lieh handeln," „das sollst du tun, weil es dein Vater sagt." Darüber müssen wir hinauskommen und für uns selbst sehen. Auch hier leiste­ te Gurdjieff einen enormen Beitrag aufgrund seiner langjährigen Su­ che in verschiedenen Ländern der Welt, wo es ihm gelang, zu alten Gruppen Zugang zu finden, die einmal das Geheimnis dieser Bewußt­ seinsumwandlung gefunden und erhalten hatten. Er erfuhr sogar, wie eine andere Art des Gruppenbewußtseins entwickelt werden kann und wie die Defekte unserer menschlichen Natur überwunden werden können. Er hinterließ uns diese Techniken. Sein Beitrag bestand nicht nur darin, ein Bild der Neuen Welt aufzuzeigen, sondern er zeigte auch einen praktischen Weg, wie diese geschaffen werden kann. Ich habe bis jetzt von dem, was Gurdjieff uns lehrte, gesprochen, da dieser Vortrag ihm gewidmet ist. Sie denken vielleicht, ich habe seine Bedeutung übertrieben. Ich spreche nicht von der Bedeutung, son­ dern von der Einzigartigkeit und den überraschenden Wendungen seiner Botschaft. Wenn sie sich daran machen, diese Botschaft besser zu verstehen, werden sie feststellen, daß es wirklich seltsam ist, daß sie gegenüber vielem, was gegenwärtig gesagt wird, so anders sein sollte. So viele Menschen proklamieren das Kommen einer Neuen Welt und sagen uns, was wir tun sollten. Sie sprechen gerechtfer­ tigt über neue Bewußtseinsformen und neue Wahrnehmungen, aber sie übersehen die besondere Tatsache, daß unser Leben unter der Verpflichtung stehen muß, etwas, was diese Welt braucht, hervorzu­ bringen. Da dies mit der Art unserer Erfahrungen zusammenhängt, folgt daraus, daß wir unsere eigene Lebensweise umwandeln müssen. Dies ist etwas, das nirgendwo anders zu sehen ist. Viele andere wert'volle Dinge werden gesagt und getan, die alle notwendig sind und zur Bildung einer Neuen Welt beitragen, aber gerade diese besondere Lehre ist die Wichtigste von allen. Warum ist das so? Weil wir jetzt zu dem Punkt kommen, an dem wir Menschen verstehen müssen, wozu unser Leben ist. Es genügt nicht mehr, das zu tun, was uns ge­ sagt wird, oder zu leben, weil man uns etwas Wunderbares dafür verspricht, wenn wir tun,, was verlangt wird. Wir müssen reifer sein. Ich beende meinen Vortrag an dieser Stelle und frage Sie, ob Sie Dinge haben, über die ich ausführlicher sprechen soll.

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FRAGEN UND ANTWORTEN Frage: Was meint Gurdjieff mit bewußter Arbeit und absichtlichem Leiden? In welchem Zusammenhang steht es in seinen Ausführun­ gen? J.G.B.: Dies ist eine gute Frage, die an die Wurzel der Sache geht. Ich sagte, wir haben der Zukunft zu dienen. Das einfachste Beispiel ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Wenn Eltern ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern ehrlich erfüllen, nehmen sie be­ wußte Arbeit und absichtliches Leiden in Kauf. Wenn sie nicht ge­ rade ganz dumm sind, dann wissen sie, daß sie arbeiten und leiden müssen. Keine Eltern, die ihre Kinder liebten, haben niemals gelitten. Wir müssen diese Leiden auf uns nehmen und wissen, daß unsere Be­ ziehung zu unseren Kindern gebender und nicht nehmender Art sein muß. Wir müssen wissen, daß wir unsere Eigenliebe opfern müs­ sen. Wir dürfen nicht etwas als Gegenleistung von unseren Kindern erwarten und dürfen gleichzeitig das Leiden, das auf uns zukommt, wenn wir standhaft mit unseren Kindern sind, nicht vermeiden. Es ist eine sehr harte Disziplin, gute Eltern zu sein. Dies ist ein sehr charak­ teristisches Beispiel für bewußte Arbeit und absichtliches Leiden. Das erfordert sehr viel Verständnis. Man kann nicht gut sein, nur wenn man will. Ganz gleich, wie sehr man seine Kinder liebt, man wird Fehler machen, es sei denn, man hat sich vorgenommen, sie zu ver­ stehen, d.h. fähig zu werden, in ihre Erfahrungen einzudringen. Des­ halb erfordert bewußte Arbeit und absichtliches Leiden eine Ände­ rung der Wahrnehmung. Frage: Was halten Sie von Gurdjieff als Menschen? War er so weiß oder schwarz, wie er gemalt wird? Was bezweckte er mit seinem merkwürdigen Verhalten? Sie standen in persönlichem Kontakt mit ihm, wofür hielten Sie ihn? J.G.B.: Ich habe gerade ein Buch geschrieben über Gurdjieff (Gurd­ j i e f f - Aufbau einer Neuen Welt, London 1974; deutsch: Freiburg 19 7 6 ) ; als ich beschloß, es zu schreiben, machte ich mich daran, diese Frage auf 364 Seiten zu beantworten. Aber lassen Sie mich ver­ suchen, eine kurze Antwort darauf zu geben. Gurdjieff hatte ein au­ ßergewöhnlich hartes Leben aufgrund seines eigenen, besonders schwierigen Wesens. Er mußte vieles an sich selbst überwinden. Er besaß außergewöhnliche Kräfte, die er recht selten anwandte, weil er aus bestimmten Gründen wußte, daß er sich ihrer enthalten mußte. Es stimmt, daß ich persönlichen Kontakt mit ihm hatte. Ich habe 19

gesehen, daß er über mehr als die üblichen Kräfte verfügte, mehr als bei jedem, den ich getroffen habe. Er hätte ein sehr angenehmes Le­ ben führen können, wenn er diese Kräfte ausgenutzt hätte. Aber im Gegenteil. Er führte durchweg ein sehr schwieriges Leben. Er be­ schäftigte sich schon sehr früh damit, ab seinem 32. Lebensjahr, wie er den Menschen das vermitteln könnte, was er unter glücklichen Umständen gelernt hatte. Von 1909 bis 1949, also 40 Jahre lang, arbeitete er daran, Wege der Vermittlung zu finden. Er war ständig am Experimentieren und beging manchmal recht schwerwiegende Fehler. Aber er gab niemals auf, nach Wegen zu suchen, wie er Menschen an seinen Erfahrungen, die er durch außerordentlich günstige Umstände machte, teilhaben lassen konnte. Sie müssen verstehen, daß er einen Unterschied zwischen absicht­ lichem und freiwilligem Leiden machte. Manchmal kann Leiden freiwillig akzeptiert werden, um ein spezielles Ziel zum eigenen Nutzen zu erreichen. Ein Athlet wird Leiden auf sich nehmen, sich einem scharfen Training unterwerfen und sehr viel Selbstbeherr­ schung üben, um seine Kräfte als Athlet zu entwickeln. Ein sol­ ches freiwilliges Leiden unterscheidet sich vollkommen vom ab­ sichtlichen Leiden. Absichtliches Leiden heißt, die Konsequenzen unserer Handlungen zum Wohle anderer auf sich zu nehmen. Jeder, der den ernsthaften Wunsch hegt, etwas zum Wohle anderer zu tun, muß verstehen, daß ihm das immer Schwierigkeiten bereiten wird. Dieses Gesetz verstand Gurdjieff wohl. Er brachte viele Schwie­ rigkeiten über sich. Absichtliches Leiden heißt ganz einfach, daß man die Konsequenzen seiner eigenen Aktionen akzeptiert, auch wenn diese schmerzliche Erfahrungen zur Folge haben werden. Freiwilliges Leiden ist anders. Hier tut man etwas zu einem bestimmten Zweck, im allgemeinen zum eigenen Wohl oder Vorteil, so wie ein Geizhals hungert, damit sein Reichtum noch größer wird. Frage: Gurdjieffs Ideen erhielten bis jetzt wenig Unterstützung in der Öffentlichkeit. Glauben Sie, daß sich das ändern wird? Sehen Sie ihn als Prophet des Neuen Zeitalters? J.G.B.: Er war gewiß ein Vorläufer, der deutlicher als die meisten seiner Zeitgenossen sah, daß die Lebens- und Verhaltensweisen der Menschen in der ganzen Welt nicht richtig sind. Aus meiner Sicht der gegenwärtigen Situation, 25 Jahre nach Gurdjieffs Tod ist die Zeit gekommen, seine Lehre tatsächlich wirksamer als bisher in die Praxis umzusetzen. Aus diesem Grunde spreche ich zu Ihnen. Ich habe in den letzten Jahren selbst einen Modellversuch mit einer

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Reihe von Leuten in Sherborne House gemacht. Ich möchte Ihnen davon berichten, weil dieses Experiment Bestandteil eines Plans ist, den Gurdjieff selbst in der Organisation seines eigenen Instituts etwa 50 Jahre vorher angedeutet hat. Da werden Menschen in den Dingen unterrichtet, von denen ich in meinem Vortrag sprach; d.h. der Ent­ wicklung ihrer Kräfte der äußeren und inneren Wahrnehmung, und es wird ihnen gezeigt, wie Gruppenbewußtsein erreichbar ist. Es ist ein großes Vorhaben und ich kann es nur mit Menschen wagen, die in der Lage und bereit sind, sich für eine ziemlich lange Zeit dieser Ar­ beit zu widmen. Aus vielen Gründen kam ich zu dem Schluß, daß dieses Experiment 10 Monate in Anspruch nehmen muß. Ich suche nach Menschen, die ein Potential zur Entwicklung dieser Kräfte haben. Denn es ist sehr wichtig, daß jene, welche diese Anlagen ha­ ben, so schnell wie möglich vorbereitet werden sollten. Es besteht ein wachsendes Bedürfnis für Menschen mit diesen Fähigkeiten. Diese Aufgabe habe ich mir in Sherborne gestellt. Ich habe auch mit einer Anzahl Menschen im Raum London in dieser Richtung ge­ arbeitet, auf ähnlichen Grundlagen, aber ohne diese intensiven Be­ dingungen. Es ist unmöglich, hier in kurzer Zeit von mehr als den allgemeinen Prinzipien von Gurdjieffs Weg, der zur Schaffung einer Neuen Welt führen soll, zu sprechen. Ich erachte es als meine Pflicht, Menschen an allem, was ich selbst von Gurdjieff und anderen Lehrern gelernt habe, soweit es möglich ist, teilhaben zu lassen. Frage: Was geschieht mit den Menschen, die an sich selbst zu arbeiten beginnen und den Kampf dann aufgeben? Wird dann für sie nicht al­ les schlimmer als vorher? J.G.B.: Da habe ich viel Erfahrung. Mehr als 50 Jahre ist es her, da ich Gurdjieff und P.D. Ouspensky das erste Mal begegnete. Ich habe den Lebensweg vieler Menschen miterlebt. Ich habe Menschen gese­ hen, die damit anfingen und scheinbar aufgegeben hatten. Sehr oft habe ich später gesehen, daß es keineswegs schlimmer für sie wurde. Ich rede jetzt über tatsächliche Erfahrung und Beobachtung. Wenn in den Menschen innen etwas wirklich begonnen hat, können sie äußer­ lich vielleicht aufgeben, aber etwas wirkt unter der Oberfläche wei­ ter. Vielleicht sieht man viele Jahre danach, daß dieser Prozeß in ih­ nen nicht aufgehört hat. In Gurdjieffs letztem Lebensjahr erinnere ich mich sehr an einen Mann, den ich kannte und der der erste Engländer war, der Gurdjieff jemals getroffen hatte - im Kaukasus, kurz bevor er nach Konstan­ tinopel kam, wo ich ihn das erst Mal im Jahre 1920 traf. Er war ein 21

guter Kenner der russischen Sprache und sehr wertvoll als Übersetzer für Gurdjieff. Er stand Gurdjieff in den frühen Jahren sehr nahe, aber nach einer gewissen Zeit schien er auszuscheren. Es ging bergab mit ihm. Aber er fuhr 1949 nach Paris, um Gurdjieff zu treffen. Ich saß mit Gurdjieff auf einer Seite und er saß uns gegenüber. ,,Ich habe auf­ gegeben," sagte er, „kann ich noch einmal neu beginnen?" Gurdjieff antwortete: ,,Es ist niemals zu spät. Diese Arbeit hört nicht auf. Wenn du jetzt meinen Hinweisen folgst, wirst du noch vor deinem Tod das finden, was du in deinem Leben gesucht hast." Dies war ein unvergeßlicher Augenblick, denn dies galt für ein ganzes Leben. Er starb tatsächlich gut. Ich habe das mehr als einmal in meiner langen Erfahrung gesehen. Bei Menschen, die scheinbar aufgegeben hatten, setzt die innere Arbeit nicht aus. Wenn im Menschen eine echte Sehn­ sucht liegt, die wahre Bedeutung des Lebens herauszufinden, kann er vielleicht aus äußeren, persönlichen Gründen aufgeben, aber nachdem die Saat einmal gelegt ist, muß sie weiter reifen. Wenn der Kontakt damit allerdings nur fiktiv oder intellektuell war, ist das anders. Wenn sie nicht richtig gearbeitet haben, sondern das nur vorgaben, dann ist keine Saat gesät worden. Die, die wirklich aufgaben, haben gar nicht angefangen. Wenn ich das sage, zitiere ich nicht aus Büchern oder Lehren eines anderen. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Frage: Können sie uns sagen, ob Gurdjieff mit einer Weltkatastrophe rechnete? Hat er etwas dafür vorbereitet? Hat er einen großen Kampf zwischen den Guten und Bösen Kräften vorausgesehen? J.G.B.: Ich glaube nicht, daß er die gesamte Zerstörung eines Groß­ teils der menschlichen Rasse erwartete. Das Ende der Alten und der Beginn der Neuen Welt waren Gegenstand des letzten Gesprächs mit ihm, gerade eine Woche vor seinem Tod. Ich war an jenem Morgen, dem 22. Oktober 1949 zwei Stunden lang bei ihm und er sprach über den Konflikt zwischen der Alten und der Neuen Welt. Er nahm Bezug auf eben diese Konfrontation, die Ihnen vorschwebt und auf einige bemerkenswerte Dinge über den offenen, und damals offen­ sichtlich drohenden Konflikt zwischen Ost und West, wie er es nannte, d.h. zwischen den U.S.A. und der U.d.S.S.R. Er sagte: „Das sieht aus, als wäre es unvermeidlich, aber es wird nicht geschehen. Dies ist nicht der wirkliche Konflikt zwischen der Alten und der Neuen Welt. Nicht zwischen der einen Form von Materialismus und einer anderen Form des Materialismus. Dieser wirkliche Konflikt zwischen der Alten und der Neuen Welt ist ernst. Der Ausgang ist unbestimmt. Mit der Welt kann nicht 'tchic' gemacht werden" (An­ 22

merk. d. Übers.: wenn man eine Laus zwischen den Fingernägeln knackt, entsteht dieses Geräusch 'tchic'). Er identifizierte sich ganz deutlich mit der Neuen Welt, als er sagte: ,,Entweder ich mache die Alte Welt 'tchic' oder sie macht mich 'tchic'. Es wird jetzt zu keinem weiteren Weltkrieg kommen. Wenn Beelzebub veröffentlicht wird, wird eine neue Kraft in die Welt kommen." Ich glaube, wir müssen in Betracht ziehen, daß die alte Welt eine enor­ me Trägheit in sich birgt — wir sehen sie schon sterben. In einem an­ deren Vortrag über dieses Thema sprach ich von Dinosauriern. Vor Hundert Millionen Jahren wurde das Leben auf der Erde von Repti­ lien beherrscht, die enorme Größen erreichten. Die Dinosaurier wa­ ren riesige, kleinhirnige, langsame Kreaturen, die sich dem milden und gleichbleibenden Klima der Kreidezeit gut anpassen konnten. das Klima in der Welt sich änderte, verschwand diese dominierende Lebensform. An ihre Stelle traten viel aktivere und positivere Lebens­ formen. Gegenwärtig befinden wir uns in einer dinosaurischen Zivi­ lisation. Enorme, langsame, kleinhirnige Organisationen beherrschen jetzt die Welt. Die Dinosaurier verschwanden langsam, als das Klima für sie unfreundlich wurde. Sie wurden immer hilfloser und eine neue Lebensform kam hervor: die warmblütigen Säugetiere. Das ist außer­ gewöhnlich, wie die gegenwärtige Weltsituation. Wir werden gegen­ wärtig von großen Organisationen, Regierungen, Kirchen, Parteien und industriellen Giganten, Finanzgruppen und internationalen Organisationen beherrscht. Sie sind alle groß und übertreffen bei weitem die Größe der Dinosaurier. Es ist für jeden ersichtlich, daß ihr Intelligenzgrad und ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, ausnehmend gering sind. Sie sind ziemlich unfähig, sich auf die Neue Welt einzustellen, aber sie geben nicht von alleine auf. Sie kön­ nen sich nicht auf das neue Klima einstellen. Das Klima der großen Organisationen war ein Klima der Expansion. Solange Raum und Mittel dazu vorhanden waren, konnten sie blühen. Dieses Klima ändert sich und wir betreten eine Zeit, in der eine Expansion unmög­ lich wird. Das gleiche gilt auch für das Wachstum. Dann wird es nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine Notwendigkeit sein, zu kontrol­ lieren, einzuschränken und zu verkleinern. Unter solchen Umständen brechen große Organisationen zusammen. Sie können nur in einem Zustand der Expansion existieren. Dies ist einleuchtend. Es ist erklär­ bar, warum es so kommen muß. Dies ist nicht erforderlich, weil es jeder von uns selbst sehen kann. In der Neuen Welt werden aktivere, beweglichere und viel intelligentere Formen gesellschaftlichen Lebens 23

dominieren. Deshalb müssen wir nach kleineren Gruppen und Ge­ meinschaften schauen und darüber hinaus das Auftreten von Grup­ penbewußtsein beobachten, das dem Zustand von warmblütigen Tie­ ren entspricht. Wir bedürfen einer warmblütigen Gesellschaft, im Gegensatz zur heute herrschenden kaltblütigen Form. Aufgrund des großen Vorteils, das warmes Blut in Zeiten der Belastung gegenüber kaltem hat, glaube ich, daß die Neue Welt überleben wird. Es wird eine Zeit großer Schwierigkeiten geben und es ist nicht wünschens­ wert, daß der Zusammenbruch der alten Welt plötzlich geschieht. Es wäre wahrscheinlich unmöglich, einen plötzlichen Zusammen­ bruch der gesamten Ordnung der ganzen Welt zu verkraften. Schritt für Schritt wird die alte Welt aussterben. Neue gesellschaftliche Formen, neue Existenzformen treten an ihre Stelle. Darauf müssen wir uns heute vorbereiten. Sollten wir in dieser Richtung ein Gefühl haben, sollte etwas in uns darauf ansprechen, dann ist es unsere erste Pflicht, Vorbereitungen dafür zu treffen. Frage: Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem von Ihnen Gesag­ ten und der Arbeit, die Sie in Sherborne ausführen? J.G.B.: In der Tat, eine sehr enge Verbindung. Frage: Wie wird echtes Gruppenbewußtsein erreicht? J.G.B.: Es ist notwendig, bestimmte gemeinsame Erfahrungen zu haben. Aber wie ich zuvor sagte, gibt es fiktives Gruppenbewußtsein und wirkliches Gruppenbewußtsein. Es ist sehr wichtig für jeden, der sich um die Gesellschaft der Zukunft bemüht, diesen Unterschied zu verstehen. Es kann durchaus eine emotionale Aufregung, die von ei­ ner großen Anzahl von Menschen geteilt wird, erzeugt werden. Dies ist nicht 'Gruppenbewußtsein', sondern 'Massenbewußtsein'. Das ist vollkommen verschieden und genau das Gegenteil. Massenbewußtsein ist immer verschwendet, selbst wenn es nicht destruktiv ist. Gruppen­ bewußtsein ist immer kreativ. Massenbewußtsein kann durch äußeren Anstoß hervorgerufen werden, während Gruppenbewußtsein nur durch inneren Wandel erreicht wird. In Sherborne haben wir eine Schule, die sich so weit wie möglich den Ideen anlehnt, die Gurdjieff für die Organisation seines eigenen In­ stituts für die harmonische Entwicklung des Menschen zugrundelegte. Das Ziel ist genau das: die harmonische Entwicklung aller Seiten un­ serer Natur. Dies sind nicht nur unsere intellektuellen, körperlichen und gefühlsmäßigen Kräfte — sondern auch die des Willens, das 'Ich', das geistige Wesen des Menschen. Dafür haben wir vielfältige Aktivi­ täten. Alle Arten von Fertigkeiten werden gelernt, alles wird gemein­ 24

sam gemacht. Alle Leute, die in Sherborne leben — insgesamt etwa 120 — arbeiten zusammen und durchlaufen dieses Training. Die praktischen Tätigkeiten umfassen Hausarbeit, Tierpflege, Nahrungs­ mittelerzeugung, das Zimmermanns- und Maurerhandwerk und an­ dere Handwerke. Aufgrund des schnellen Lernens neuer Fähigkeiten, besonders wenn diese von Menschen in der Gruppenzusammenarbeit gelernt werden, entwickeln sich Wahrnehmungen und gemeinsames Verständnis, das den Grund für das Gruppenbewußtsein bereitet. Wir machen viel Gebrauch der außerordentlichen Entdeckungen Gurdjieffs auf dem Gebiet der körperlichen Übungen, einschließlich heiliger Tänze und Rituale. Wir arbeiten ebenfalls an verschiedenen psychologischen, historischen und philosophischen Fragen. Wir studieren Sprache, Kunst und Musik, so daß alle Seiten unseres Seins, so weit wie möglich, zusammen entwickelt werden. Die Altersgruppe geht von 18 bis 70. Die Sherborne-Studenten kommen aus 10 bis 15 Ländern. Davon ein großer Teil aus USA. Das alles können sie im Prospekt der Akademie lesen. Diese trägt zur Beto­ nung ihres internationalen Charakters und der umfassenden Entwick­ lung des Menschen fürs ganze Leben den Namen Internationale Aka­ demie für Fortdauernde Erziehung. Für uns ist Erziehung nicht ein einmaliger Akt, den man einmalig in seiner Jugend abschließt. Wir meinen, daß der Prozeß der harmonischen Entwicklung fortdauert, bis, wie Gurdjieff es ausdrückte, „zu unserem letzten Atemzug". Sherborne stellt für mich die Erfüllung dessen dar, über das Gurdjieff im August 1923 mit mir sprach. Er erzählte mir vieles über seine Pläne, über die Hoffnungen, die er in die Entwicklung seines Insti­ tuts hatte. Ich war besonders im Vorteil, weil ich türkisch sprechen konnte. Gurdjieff sprach perfekt türkisch, es war die gebräuchlichste Sprache des Teils der Welt, in der er aufwuchs. Ich war in der Lage, mehr mit ihm zu sprechen, als die meisten seiner Besucher, so daß ich alles lernen konnte, was er mir von seinen Ideen über die Zukunft sagen wollte. Das ist mir geblieben und 1971 war ich in der außer­ ordentlich glücklichen Lage es in die Praxis umsetzen zu können. Ich konnte sehen, wie es funktioniert. Es ist bemerkenswert, wenn man herausfindet, wie gut er doch vor so langer Zeit vorausgesehen hatte, was gebraucht würde. Er sagte tatsächlich, daß dies die Zu­ kunft bringt. Frage: Können Sie mehr über Gurdjieff und sein Leben berichten? Ich habe viele Bücher gelesen, aber ich habe den Eindruck, daß wir nicht die ganze Geschichte gehört haben. Warum lief sein In­ 25

stitut damals nicht weiter und entwickelte sich? Gurdjieffs Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen konnte aufgrund eines fast tödlichen Autounfalls im Juli 1924 nicht weitergeführt werden. Sie müssen sich darüber im klaren werden, daß er enorm im Nachteil war, da er damals trotz seiner Kenntnisse östlicher Sprachen es schwer hatte, die europäischen Sprachen zu sprechen. Er war auf Dolmetscher angewiesen. Als er darüber hinaus noch diesem schrecklichen Unfall zum Opfer fiel, konnte er einfach nicht mehr weitermachen. Er mußte seine ganzen Pläne mit dem Institut aufgeben und brachte stattdessen seine Ideen schriftlich zum Ausdruck. So wurden seine Bücher geschrieben. Es gibt noch tiefere Gründe, die Gurdjieff in der dritten Serie seiner Bücher enthüllt. Frage: Können Sie uns erläutern, wie ihre Arbeit und die Arbeit Idries Shahs (s.a. Idries Shah, Die Sufis, Düsseldorf 1976) mitein­ ander in Verbindung stehen? Ist er an Sherborne House interessiert? J.G.B.: Shah hat seine Arbeit und ich meine. Diese sind verschieden und überlappen sich kaum. Shah rüttelt die Menschen überall in der Welt erfolgreich auf. Er macht sie glauben, daß die Art zu denken, die sich frei wähnt, nur konditioniert ist. Er kooperiert mit Gelehr­ ten, Wissenschaftlern und Männern der Tat in der ganzen Welt und erhält deren Unterstützung. Er unternimmt eine sehr wichtige Arbeit in einem weit größeren Maßstab, als alles was ich versuche. Es zielt darauf, den Menschen die absurde und ernste Situation der Gegen­ wart bewußt zu machen und ihnen die Hoffnung auf einen Ausweg zu geben. Es ist eine direkte Aktion, welche die nahe Zukunft der Menschheit betrifft. Ich sagte zu jemandem, daß ich Shah für den Krishnamurti des Sufismus halte. So wie Krishnamurti umhergeht und die festen Vorstellungen der Menschen bricht, so trägt Idries Shah dazu bei, die Illusionen der Leute zu stören. Dies ist ein wirk­ lich wichtiger Schritt bei der Vorbereitung der Neuen Welt. Was ich versuche ist, Menschen zu finden, die genügend Bestimmtheit besitzen und geeignet sind, ein ziemlich anstrengendes Training, kör­ perlich und psychisch, durchzugehen und sich darauf vorzubereiten, der Welt während des Prozesses ihrer Umwandlung zu dienen. So ist meine Aufgabe also völlig verschieden: sie ist auf eine entferntere Zukunft von 10, 20, oder sogar 50 Jahren gerichtet. Frage: Mir scheint, daß das, was sie sagen, dem was Idries Shah und die Sufis vertreten sehr nahe kommt?

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J.G.B.: Das ist richtig. Ein großer Teil von Gurdjieffs Ideen entstam­ men Sufiquellen. Aber ich bin der Ansicht, daß Sie feststellen wer­ den, daß diese spezielle Sache, über die ich sprach, in keiner Sufiquel­ le zu finden ist. Abgesehen von der Sufi-Überlieferung, die unter dem Namen Sarman-Bruderschaft bekannt ist. Erst als Gurdjieff auf die Sarman-Überlieferung stieß, sah er die Antwort auf seine Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens wirklich. Sie müssen wissen, daß Sufi-Tradition ein dehnbarer Begriff ist. Wenn wir von 'christlicher' Überlieferung sprechen, wissen wir, daß wir einen bedeutenden Unterschied zwischen östlichem und westlichem Christentum machen müssen, nicht als Lehre, sondern in der Art, wie das geistliche Leben im Osten und im Westen verstanden wird. Im Islam bestehen ebenfalls große Unterschiede, und besonders im Sufitum. Während die Lehre des Islam sagt, was zu tun ist, sagen die Sufis, wie man es tun kann. Meiner Meinung nach und nach lan­ gen Jahren des Studiums und der Begegnung mit vielen Sufis in allen Teilen der Welt kommt der Kern der Sufi-Tradition aus Zentral­ Asien. Es gibt eine sehr alte Quelle, in der viele Traditionen ihren Ursprung haben: Die vedische, die avestische oder zoroastrische, die buddhistische, die mithraische Tradition, und ein großer Teil der jüdischen und christlichen Überlieferungen. Bevor der Sufismus in den Islam eindrang, war der Buddhismus die herrschende Tra­ dition in Zentralasien. Aus diesem Grunde ist der echte zentralasia­ tische Sufismus sowohl buddhistisch als auch islamisch. Frage: Sie sprechen von der Möglichkeit, eine neue Wahrnehmung zu erlangen. Woher kommt diese Kraft? Wie weiß ich, ob ich sie habe oder nicht? J.G.B.: Alle Menschen besitzen sie. So ist der Mensch gemacht. Wir sind alle mit dieser Möglichkeit ausgestattet, genauso wie mit der Fähigkeit zu fühlen, zu riechen, zu sehen, und tatsächlich kann man sogar blind geboren werden, aber man kommt nicht ohne diese Anlage zur Welt. Sie liegt als Erbstück im essentiellen Kern des menschlichen Wesens. Das heißt aber nicht, daß jeder die gleiche Chance hat, sie zu realisieren. Keineswegs. Das kann bei jedem ver­ schieden sein. Auch wie weit jeder kommt, ist enorm unterschied­ lich. Jene, die den Weg bis zur Perfektion gehen können, sind die seltensten der Seltenen. So ist es eingerichtet. Aber jeder hat das Potential sie zu verwirk­ lichen oder zu vernachlässigen, das hängt von unserer eigenen Ent­ scheidung ab. Im neuen Gesetz des Moses wird gesagt: „Wahrlich, 27

ich gebe Dir an diesem Tag Leben und Tod, Segen und Fluch, des­ halb wähle das Leben, damit Du und Deine Nachkommen leben mögen!" Meine persönliche Aufgabe besteht darin, Menschen zu finden, die ein hohes Potential haben und ihnen zu helfen, es zu verwirklichen. Das heißt nicht, daß nicht viel für jeden getan werden kann, aber wenn Menschen mit einem hohen Potential bereit sind, 'bewußte Arbeit und absichtliches Leiden' anzunehmen, können sie die Mittel bekommen, um vielen anderen zu helfen. Dies ist wirk­ lich das Prinzip der gegenseitigen Hilfe: wenn man viel nehmen kann, kann man auch viel geben. Frage: Bekommen es alle Leute, die nach Sherborne gehen? J.G.B.: Das wird sich zeigen. Ich selbst bin sehr zufrieden. Keines­ wegs alle von ihnen konnten eigenständig weitermachen, aber eine gewisse Anzahl kann es und kann gegenwärtig mit anderen etwas teilen, was sie während des Grundkurses erhielten. Das geschieht in verschiedenen Teilen der Welt. Bei all dem müssen Sie verstehen, daß ich von dem Modell geleitet wurde, das Gurdjieff niedergelegt hatte. Er beabsichtigte, daß Leute, die durch ein Trai­ ning an seinem Hauptinstitut gingen, hinterher fähig sein sollten, an verschiedene Orte zu gehen und das Gelernte weiterzugeben. Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die Welt vor einer Katastrophe zu bewahren? J.G.B.: Die alte Welt kann nicht mehr gerettet werden. In diesem Jahrhundert geschah die erste Katastrophe schon. Das geschah wegen des Versagens der Menschheit, die ungeheure Verantwortung zu er­ kennen, die wir durch die großen technischen Entdeckungen auf uns zu nehmen hatten, besonders die Befreiung von Energie durch Dampf, Verbrennungsmotoren und elektrische Generatoren. Dieses Freiset­ zen von Energien warf die Welt aus dem Gleichgewicht. Nur bewußte Menschen hätten dies ausgleichen können. Nach Gurdjieffs Darstel­ lung gab es eine Gruppe in Tibet, die diese Kraft entwickeln hätte können, aber ihr Leiter wurde durch eine verirrte Kugel im tibetisch­ englischen Krieg 1902 getötet, und der Rest der Gruppe starb auch kurz danach. Diese Gruppe kannte das Geheimnis, die benötigten spirituellen Energien hervorzubringen, um die zerstörerischen Kräf­ te durch die technologischen Erfindungen zu neutralisieren. Gurd­ jieff hatte ein Teil dieses Geheimnisses gelernt und es an uns wei­ tergegeben. Es ist die Antwort auf die Frage „Was ist der Sinn und die Bedeutung des menschlichen Lebens auf dieser Erde?". Durch die Katastrophe im Jahre 1902 brach die alte Welt zusammen. 28

Die zwei Weltkriege und der Tod von 50 Millionen Menschen waren die sichtbaren Auswirkungen. Der Zusammenbruch der mensch­ lichen Gesellschaft und die Bedrohung durch einen 3. Weltkrieg standen 1950 vor uns, aber es geschahen seltsame Dinge, welche die endgültige Tragödie abwendeten. Jetzt müssen wir an die Rettung der Neuen Welt denken. Wir setzen unsere technischen Entdeckungen fort und verbrauchen immer mehr Energien. Kommt es zur Nutzbarmachung der Atomverschmel­ zung, dann stehen wir vor einer furchtbaren Situation. Die Arbeit, die vor Hundert Jahren in Tibet begann, muß jetzt in größerem Rahmen aufgenommen werden. Zur Rettung der Neuen Welt sind drei verschiedene Aktionen er­ forderlich: eine sichtbare und zwei unsichtbare. Die sichtbare Aktion besteht in der Vorbereitung einer neuen Gesellschaftsform. Wir werden 'psychokinetische Gemeinschaften' oder wie Gurdjieff sie nannte, Schulen des Vierten Wegs, brauchen. Diese sind dem Training von Leuten gewidmet, damit sie lernen zu überleben und sich unter den schwierigen Bedingungen der nächsten Hundert Jahre zu ver­ vollkommnen. Diese Schulen werden die praktische Aufgabe haben, selbsterhaltende, autonome Gemeinschaften zu bilden, die fähig sind, zusammenzuarbeiten und ihre Mittel zu teilen und auch der Umwelt zu helfen. Dies ist viel härter, als es scheint. Der moderne Mensch nimmt, aber er gibt nicht. Wer immer die Macht hat, benutzt sie, um zu nehmen und festzuhalten, doch das einzige Recht des Machtgebrauchs ist zu geben. Es ist möglich, die egoistische Gier nach dem eigenen Wohl bis zu einem gewissen Grade auszuschalten und fähig zu werden, in einer Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten. Aber dies erfordert Lehre und Training. Dafür sind die Schulen des Vierten Wegs, aber nur auf der äußeren, exoterischen Ebene. Die tiefere, mesoterische Abeit beschäftigt sich mit Energien. Psychi­ sche und spirituelle Energien müssen befreit werden, konzentriert, aufbewahrt und in der richtigen Weise eingesetzt werden. Dies erfor­ dert ein ganz spezielles Wissen und die Bereitschaft, zu arbeiten und Opfer zu bringen. Es gibt Schulen in der Welt, die das heute tun. Aber sie sind nicht im Westen. Wir müssen selbst diese Arbeit auf­ nehmen. Wenn Leute bereit sind, eine solche Arbeit zu unternehmen, müssen sie zuerst geprüft werden, um zu sehen, ob sie die erforderlichen Qualitäten haben. Sie müssen fähig sein, persönlichen Ehrgeiz bei­ 29

seitezustellen und sich vornehmen, der Zukunft zu dienen, ohne eine Belohnung zu erwarten. Gurdjieff sagte einmal, daß 200 bewußte Menschen den Krieg verhindern könnten. Wird diese Zahl 1990 ver­ fügbar sein, dann kann die Katastrophe, welche die Menschheit be­ droht, abgewendet werden. In Sherborne haben wir einen Anfang gemacht und ein paar Leute sind schon auf ihrem Weg. Wenn alles gut geht, werden wir unseren Beitrag zur Gruppe der 'Energieumwandler' bringen. Es gibt andere Zentren, wo eine ähnliche Vorbereitung gemacht wird. Schließlich gibt es noch die wahre esoterische Arbeit, die Überna­ türlich ist. Es gibt gegenwärtig eine große, spiritualisierende Aktion, welche die Neue Epoche vorbereitet. Diese Aktion kommt, wie Gurdjieff sagt, „von Oben"./Alles was wir dazu beitragen können, ist die Zusammenarbeit mit diesen Kräften zu suchen und deren Instrumente zu sein. Das Geistige kann nicht ohne das 'Fleisch' ar­ beiten. Die 'Gemeinschaften der Neuen Welt' sind das Fleisch der neuen Menschheit. Spirituelle Energien sind ihr Blut, aber ihr Leben kommt von Oben. Ich bin zuversichtlich, daß diese Aktion erfolgreich sein wird, und viele von Euch die Geburt der Neuen Welt sehen können.

Anmerkung: l Die. Arbeit in Sherborne wurde im Sommer 1976 nach den vorgesehenen fünf Grundkursen beendet. In Claymont, Virginia, USA gibt es seit 1975 Grundkurse auf der Basis der Sherborne-Methoden. Dort bildet sich auch eine langfristigere Lebensgemeinschaft, wie im Vortrag angedeutet wurde. In England sind ab Frühjahr 1978 wieder 10-Monatskurse möglich, an anderem Ort. Nähere Informationen: The Institute, Randolph House, Randolph Road 13 London W.S. England.

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EIN INTERVIEW MIT J.G. BENNETT, AUGUST 1973

Gekürzte Fassung eines Interviews mit dem britischen Femsehen. Sprecherin: J.G. Bennett ist ein Reisender; nicht nur im geographi­ schen Sinne, sondern auch in der Welt der Ideen. Er ist Mathemati­ ker, Wissenschaftler für angewandte Physik, und bis zu seinem Rück­ tritt war er Generaldirektor der Forschungsabteilung für die Britische Kohlenindustrie. Schriftsteller und unermüdlicher Student östlicher Sprachen und Religionen ist er der Begründer von 'Sherborne House' in England, einem Zentrum, das einen Kurs für intensive Arbeit an Körper, Geist, Gefühl und Willen anbietet. Wir besuchten ihn dort im August 1973. Bennett: Mein Leben ist in erster Linie durch die Suche nach dem wirklichen Sinn und Zweck des menschlichen Lebens auf dieser Welt bestimmt worden. 1918, am Ende des ersten Weltkrieges, be­ gann ich mit dieser Suche, nachdem ich beinahe getötet worden war und durch eine Kopfverletzung einige Tage bewußtlos lag. Da­ mals erlebte ich, was viele Leute erlebt haben, aber für mich eine ganz außerordentliche Erfahrung war, wie ich mich außerhalb meines Körpers befand und dabei ganz klar wußte, daß mein Körper zer­ stört werden könnte, weil wir bombardiert wurden. Ich war mir dessen bewußt. Und doch erkannte ich - mein Körper könnte zerstört werden und ich würde bleiben. Und diese seltsame Erkennt­ nis, die allem, womit ich groß geworden war, widersprach - ich wuchs unter dem Einfluß meines Vaters in einem sehr materialisti­ schen, sogar atheistischen Milieu auf - ließ mich, was ich erfahren hatte, hinterfragen. Sie widersprach zweifellos so sehr meinem gan­ zen Wesen, und daraus entspann sich eine Suche, die während meines ganzen Lebens angedauert hat, und hoffentlich nie aufhören wird, denn ich glaube, daß die Wirklichkeit unendlich ist und wir unsere Suche danach nie abschließen können und dürfen. Ich bin ein Su­ chender nach der wirklichen Bedeutung dieser Existenz. Sprecherin: Ich weiß, daß Sie auf dieser Suche einen sehr bemerkens­ werten Menschen trafen, Mr. Gurdjieff. Bennett: Ich traf Gurdjieff im Oktober 1920. Das ist schon bald 53 Jahre her, als ich in der Türkei weilte, in Istanbul, als ich an der Spitze einer politischen Abteilung des militärischen Geheimdienstes innerhalb der Britischen Armee stand, die am Schwarzen Meer sta­ tioniert war. Im Laufe meines Dienstes hatte ich von diesem außerordentlichen 31

Manne gehört, der vom Kaukasus kam. Ich traf ihm im Hause eines gemeinsamen Freundes. (Prinz Sabaheddin, selbst ein außergewöhn­ licher Mann, der viel dazu beigetragen hat, meine Augen für die Bedeutung des Ostens zu öffnen.) Ich war derart beeindruckt bei meiner ersten Zusammenkunft mit Gurdjieff, daß ich wußte, daß dieser Mann mein Lehrer werden würde, und ich hatte wirklich niemals zuvor daran gedacht, einmal einen Lehrer zu haben. Aber vom Jahre 1920 an, als ich ihm zum ersten Male begegnete, bis im Oktober 1949, als er starb, hatte er den größten Einfluß auf mein Leben. Seit er starb, habe ich mir vorgenommen, seine Ideen und seine Lehre_zu entwickeln und sie an andere weiterzugeben - in der Weise, wie ich annehme, -daß er es zu tun beabsichtigte. Also kann man sagen, daß der rote Faden, der mein ganzes Leben durchläuft, der Einfluß war, den Gurdjieff auf mich hatte. Aber natürlich war Gurdjieff selber keine isolierte Erscheinung. Gurdjieff war ein Teil eines außergewöhnlichen Geschehens, das, wie ich weiß, auf der Welt stattgefunden hat, nämlich der Übermittlung von Wissen von Ost nach West; Wissen über den Menschen und seine Natur, das während Jahrhunderten, Jahrtausenden zusammengetragen worden ist und von Gurdjieff im Laufe seiner lebenslangen Suche entdeckt werden konnte. Er selbst war zeitlebens und in erster Linie ein Suchender, und was er fand, gab er uns weiter. Auch ich habe in Asien gesucht. Ich habe mit vielen anderen außer­ gewöhnlichen Menschen Kontakt gehabt, und nun bin ich damit be­ schäftigt, weiterzugeben, was ich gefunden habe. Ich glaube, daß einige von uns diese Lebensaufgabe haben: zu suchen, zu finden und das, was wir gefunden haben, zu teilen. Wie sie wissen, und wie wahrscheinlich die meisten Leute wissen, hatte Gurdjieff in Frankreich ein Institut in der Prieure. Es war weit­ bekannt. Ich ging im Jahre 1923 dorthin, und als ich dort war, teilte er mir seine Hoffnung mit, eine Schule zu gründen, durch die seine Lehren verbreitet werden könnten. Und er beabsichtigte, diese Schu­ le dort zu gründen, doch dann, ein Jahr später, hatte er einen schreck­ lichen Unfall, bei dem er beinahe getötet wurde, und er mußte sein Vorhaben auf geben. Aber er sagte mir 1923: „Eines Tages wirst Du dies selbst tun müssen. Du wirst Deine eigene Schule gründen müs­ sen." Beinahe 50 Jahre vergingen, bevor die Zeit kam, genau 48 Jah­ re, während denen ich mich vor allem unter seiner Leitung vorberei­ tete. Dann endlich, vor etwa 2 Jahren, erkannte ich, daß die Zeit ge­ kommen war, um meine eigene Schule zu gründen. 32

Und das habe ich auch verwirklicht, indem ich mich vor allem auf das stützte, was ich von Gurdjieff gelernt hatte. Doch Sie müssen wissen, daß das, was Gurdjieff aus dem Osten brachte, bruchstück­ haft war; er hatte kein gegliedertes, zusammenhängendes System. Er brachte eine Anzahl Samen, die er säte; er säte sie in die Welt durch Bücher; er senkte sie in die Leute durch Lehren. Und nun ist die Zeit gekommen, so glaube ich, um die Ernte dessen, was er ge­ pflanzt hat, einzuholen. Auch andere Leute säten aus; Leute, die ich auf meinen Reisen getroffen habe. Und ich habe, wie Sie sagten, die ganze Welt bereist, vor allem große Teile des Ostens, und ich habe während einiger Jahre in östlichen Ländern gelebt. Dies hat mir gezeigt, wieviel der Osten dem Westen zu geben hat; aber wich­ tiger als das ist, daß die wirkliche Arbeit jetzt hier im Westen getan werden muß. Wir sollen uns weder nach dem Osten, noch zur Ver­ gangenheit wenden; wir müssen jetzt in die Zukunft blicken und zu uns selber schauen, hier und jetzt. Dies ist der Grund, warum ich diese Schule hier in Sherborne gründete. Eines der Dinge, zu dem ich mich entschloß als Gurdjieff nur noch wenige Tage zu leben hatte, nur eine Woche bevor er starb: ich ver­ sprach ihm, alles in meinen Kräften stehende zu tun, um seine Leh­ ren und deren Quellen bekannt zu machen. Über Jahre hinweg habe ich geforscht: ich begab mich an jene Orte, die er bereiste und wo er seine Lehre fand; ich habe die alten Traditionen studiert und habe mir nun mein eigenes Bild darüber gemacht, woher Gurdjieff seine Lehren hatte, wie er sie entwickelte, weshalb er sie in dieser beson­ deren Art und Weise vorlegte, wie sein Leben verschiedene Perioden durchlief — all dies habe ich zusammentragen können, und ich habe es zu einem Buch verarbeiten können, das nun veröffentlicht wird. Seine Absicht ist, Leuten zu zeigen, wie sie das alte Wissen benutzen können um eine Neue Welt zu schaffen. Deshalb habe ich mein Buch ' G u r d j i e f f : Making a New Worid’ ge­ nahnt. (deutsch: Gurdjieff - Aufbau einer Neuen Welt, Freiburg 1976) Was wirklich von Bedeutung ist, ist nicht, in welcher Zeit wir leben; wichtig ist, wie die Neue Welt erschaffen werden soll — nicht, was in der Vergangenheit geschah. Ich erinnere mich, wie er in der aller­ letzten Woche seines Lebens zu mir sagte: „Die alte Welt muß ver­ gehen, die alte Welt muß verschwinden. Eine Neue Welt muß kom­ men, und du und jedermann müßt für die Neue Welt einstehen." Er war durchdrungen von der Idee, daß wir uns in dieser Übergangszeit 33

befanden, wo eine Neue Welt entstehen mußte, eine völlig Neue Welt. Er gab nichts auf bestehende Institutionen: weder auf Regierungen, noch Kirchen, noch die großen industriellen Organisationen, und ich muß zugeben, daß nach den 25 Jahren, die seit seinem Tode vergan­ gen sind, ich mehr denn je davon überzeugt bin, daß all diese Dinge vergehen müssen und eine ganz neue Welt auf uns zukommt. S.: Gab er Ihnen irgendwelche Hinweise über die Gestalt, die diese neuen Institutionen - ich habe eine Abneigung dagegen das Wort 'Institutionen' zu gebrauchen — B: Es sind keine Institutionen, sondern eine neue Art von Gesell­ schaft. S: Gesellschaft, ja, ... B: Nein, er gab keine Hinweise. Aber er glaubte an Gemeinschaften. Er war davon überzeugt, daß sich in der Welt kleine Gruppen bilden müssen. In seinem Buche 'All und Alles — Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel' bezieht er sich auf die sogenannten 'Zorooaries', das heißt Gemeinschaften von Leuten, die die Wirklichkeit verstan­ den haben und die nun das Zentrum für die Verbreitung neuer Ideen sein können. Demzufolge dachte und handelte er sicherlich eher im Sinne von Gruppen und Gemeinschaften als im Sinne von mächtigen Institutionen oder gesondert lebenden Individuen. Seine Vorstellung war, daß jeder die nötige Kraft, um die Umstände zu ändern, dadurch erhält, indem er entweder in einer Gruppe lebt oder mit anderen in großen Städten arbeitet. Aber er glaubte sowenig wie ich an große Institutionen. Sie sind zu schwerfällig, zu umständlich, zu konser­ vativ, um mit der Welt Schritt zu halten. S: War er dann der Ansicht, daß diese kleineren Gruppen von Leuten, diese kleineren Körperschaften, sich tatsächlich selbst verwalten und regieren, ihren eigenen Bedürfnissen Rechnung tragen sollten - etwa in dieser Art? Sah er überhaupt einen Wert - sicher schon — in öffent­ lichen Verkehrsmitteln und derartigem? Es müßte ein gewisses Maß an Zusammenarbeit in größerem Rahmen geben. B: Weder sagte er, noch schrieb er etwas, das über die Notwendigkeit einer Gruppenbetätigung für die Entwicklung des Gruppenbewußt­ seins hinausreichte; er sagte, daß es etwas gäbe, das eine Gruppe er­ reichen kann, ein Einzelner oder eine große Institution nicht. Es war einfach seine Aufgabe, wie ich es vorhin sagte, Ideen zu haben, und wir anderen mußten sie ... ausarbeiten und zu verstehen suchen, was und wie sie anzuwenden seien. Vergessen Sie nicht, daß er im Jahre 1949 starb und wir im Jahre 1973 leben und die Welt völlig verschie­ 34

den ist. Die Welt ist keineswegs so, wie sie damals zu sein schien. Einige wenige von uns wußten, daß es so nicht weitergehen könnte. Ich wußte es, und zu dem Zeitpunkt, als die Atombomben auf Hiroshima fielen, wußte ich, daß die Welt dem Untergang geweiht war. Dies war so offensichtlich für mich wie nur etwas: daß von diesem Moment an, die Welt, wie wir sie kannten, vergehen mußte, und etwas ganz anderes kommen würde. Und seither habe ich mir immer wieder gesagt, daß wir uns für eine andere Welt vorzubereiten haben. Jedes Jahr, das seither verging, hat mich mehr und mehr da­ von überzeugt, daß die alte Welt nicht nur im Sterben liegt, sondern tatsächlich tot ist. Die Leute merken nicht, vor wie langer Zeit es mit dieser Welt bergab zu gehen begann. Aber Gurdjieff sah es, Gurdjieff sah es ganz klar in den letzten Jahren seines Lebens; deshalb, obwohl er kaum fähig war, sich zu bewegen, so krank und schwach war er, fuhr er fort, bis zuletzt zu arbeiten, um Leute aufzuklären und sie dazu zu bringen, sich selber vorzubereiten, damit sie die Arbeit weiterführen könnten. Ich empfand dies als eine Aufgabe, die ich ganz einfach erfüllen muß­ te. Aber ich hatte in der Folge noch viele Schwierigkeiten. Ich reiste. Ich fühlte mich ohne meinen Lehrer verloren. Ich wußte nicht, was tun. Es gab niemanden, der meine Probleme wie Gurdjieff verstehen konnte. Keiner von uns Zurückgebliebenen konnte das weiterführen, was er uns hinterlassen hatte. Kein einziger konnte sein Nachfolger sein. Ich ging in den Osten um zu suchen. Ich hatte meinen Platz in 'Coombe Springs', in der Nähe von Kingston, den ich beibehielt, und der mehr als 20 Jahre fortbestand. Im Osten fand ich wirkliche Leh­ rer. Der größte unter allen, die ich ausfindig machen konnte, war sicherlicher Shivapuri Baba, dieser außerordentliche Mensch, der 135 Jahre alt war, als ich ihn traf. Ich schrieb dieses Buch über ihn, Lang Pilgrimage' („Die lange Pilgerschaft"). Ein äußerst bemerkenswertes Leben hatte er gehabt. ... Dann hatte ich einige Jahre Beziehungen zur Subud-Bewegung und Pak Subuh, deren Begründer. Ich traf viele andere bemerkenswerte Menschen: Hindus, Buddhisten, Sufis und christliche Mönche. Mir wurde bewußt, daß ein sehr großer Reichtum an spiritueller Kraft auf dieser Welt ist, und ich dachte mir: „Irgendwie muß er angezapft und zum Wohle der Menschheit genutzt werden." Ich wußte nicht, wie dabei vorzugehen war. 35

Erziehung und Freiheit Ich dachte dann zuerst, daß dies über Erziehung erreicht werden kön­ ne, und vor etwa zehn Jahren begann ich mich ernsthaft mit Er­ ziehung zu beschäftigen, um zu versuchen, ein erzieherisches System zu begründen, das Menschen erlauben würde, sich selbst zu sein und nicht einfach konditioniert zu werden, was durch fast jede Erziehung bewirkt wird: nichts anderes als ein Programmieren. Man spricht da­ von, Freiheit zu geben, und alles was man tun kann, ist Freiheit in die Leute hineinzupumpen, als ob man Freiheit hineinpumpen könn­ te. Freiheit muß gefunden, muß gewonnen werden. Ich wußte, daß Millionen von Leuten mit dem gegenwärtigen Erziehungssystem bis zur Verzweiflung unzufrieden waren, und ich wußte, wie Gurdjieff wirklich, wirklich gezeigt hatte, wie Kinder erzogen werden können, sich selbst zu sein, ihre eigene Freiheit zu bewahren und ihre eigene Individualität zu finden. Ich wollte sehen, ob sich dies auf breiter Basis verwirklichen lassen würde und versuchte herauszufinden, ob sich Wege über Fernsehen, Lehrmaschinen, Computer usw. finden ließen. Aber schließlich gab ich das alles auf; ich sah, daß es mit bestem Willen nicht möglich ist, bewußte Dinge mechanisch erwir­ ken zu wollen; man kann nicht geistige Dinge über materielle Hilfs­ mittel vermitteln. Dies lernte ich aus bitterer Erfahrung. In Amerika arbeiteten wir sehr eng mit bemerkenswerten Leuten bei 'Westinghouse' und 'IBM', und wir gaben uns alle Mühe, einen Weg zu finden. Damals war man sehr daran interessiert — es war zu Johnsons Zeit, und viel Geld stand für Erziehungszwecke zur Verfügung. Aber es führte alles zu nichts. Nun sind wir zum Schluß gelangt, daß me­ chanische Erziehung herkömmliche Erziehung nicht verbessern kann, und für die gewöhnliche, herkömmliche Erziehung stehen ganz einfach nicht genügend Lehrer und Mittel zur Verfügung. Die alte Erziehungsweise mit einem Lehrer, der sich einem halben oder ganzen Dutzend Schülern widmet, ist nicht mehr möglich. Deshalb mußte etwas anderes kommen. ... Hier folgt die Geschichte, wie Bennett Sherborne House gründen konnte, wie plötzlich alle Dinge zusammenkamen. Das erste, was ich den Leuten sagte, als sie hierher kamen, war: „Wir wollen Freiheit. Wir sind in erster Linie hierher gekommen, um zu lernen, wie wir frei sein können, und die erste Bedingung, um frei zu sein, ist, sich von den eigenen Neigungen zu befreien. Und deshalb solltet ihr das gern haben, was man euch vorsetzt oder 36

anbietet. Ihr solltet die Tätigkeit schätzen, die euch anvertraut wurde . Ihr braucht sie nicht zu lieben, aber ihr dürft euch auch nicht durch eure Neigungen und Abneigungen stören lassen. Ebenso­ wenig dürft ihr eure Gefühle über andere Studenten euch beeinflus­ sen lassen. Jeder muß für euch gleich sein, jede Arbeit muß für euch gleich gut sein; ob ihr die Toiletten reinigt, die Mahlzeiten kocht, lehrt, oder die Bibliothek in Ordnung haltet. Keine Tätig­ keit sollte wichtiger sein als eine andere." Und es klappte tatsächlich und hatte eine enorme Wirkung auf alle Leute. Das prägte sich ihnen ein, diese Überzeugung, daß es durchaus möglich ist, von seinen eigenen Neigungen und Vorurteilen frei zu sein. Dies war einer der Ausgangspunkte, der für die Neue Welt wichtig ist. Denn, wenn sie sich, wie ich es glaube, auf Gemein­ schaften stützen wird, dann wird eine der ersten Forderungen in einer Gemeinschaft die sein, daß die Leute aufhören, Sklaven ihrer Nei­ gungen zu sein. Wenn man sich dieser Sklaverei entledigen kann, wird eine Gemeinschaft immer funktionieren. Schwierigkeiten kommen immer von persönlichen Vorurteilen, persönlichen Neigungen, dem Wunsche, diese und nicht jene Arbeit zu verrichten, in diesem und nicht jenem Zimmer zu wohnen. Beginnt man damit, das auf die Seite zu räumen, kann man weiter kommen. Dann natürlich genossen wir den großen Vorteil all der Lehren Gurdjieffs: seine wundervollen Bewegungsübungen, seine Musik, alle diese rhythmischen Bewegungen, die Sie gesehen haben, diese rituellen Gesten und Tänze. Musik. S: Diese Musik gründet auf Derwischtänzen, nicht wahr? B: Vor allem Derwisch, beinahe alles ist Derwisch, ja, das ist richtig. Sie kommen fast alle aus Zentralasien, vom Gebiete zwischen der Gobiwüste und dem kaspischen Meer. Durch Turkestan zieht sich ein Gürtel, der während lausenden von Jahren ein Ort höchster Ent­ wicklung sowohl des Studiums als auch des Wissens über den mensch­ lichen Körper war. Dann natürlich kannte ich Gurdjieffs psychologische Methoden. Ich verfügte über eigene Kenntnisse . . . Eine Zeitlang war ich ein eifriger Student des Buddhismus gewesen. Ich war sehr daran interessiert, und studierte unter der Leitung eines großen buddhistischen Lehrers. Ich kannte demzufolge den Buddhismus; all das, was ich von Shivapuri Baba über Yoga gelernt hatte, und auch vieles über den Sufis­ mus. Selbstverständlich war ich häufig im Nahen Osten, wo ich in 37

vielen bekannten Sufi-Schulen studierte. Auf diese Art und Weise stand mir ein überaus reiches Repertoire an Methoden und Wissen zur Verfügung, wovon wir das meiste in 'Coombe Springs' erprobt hatten, zur Zeit, als wir dort unsere Gruppe hatten, so daß wir im Gegensatz zu vielen anderen Schulen einen sehr guten Start ver­ zeichnen konnten. Dies wäre nicht geschehen, wenn nicht eine so bemerkenswerte Schar von Studenten gekommen wäre, und auch dieses Jahr war es so. ... Kindererziehung Dies ist einer der Vorzüge einer Gemeinschaft: die Kinder kommen hierher, die meisten von ihnen klammern sich an ihre Eltern und kön­ nen sieh von ihrer Mami nicht trennen. Es geht aber nicht lange, bis sie das alles vergessen haben. Die Kinder bilden ihre eigene Ge­ meinschaft und sie leben ihr eigenes Leben, aber selbstverständlich brauchen sie auch organisierte Tätigkeiten, worum sich Sally Harrison kümmert. Wir glauben auch, daß es wichtig ist, die Älteren, die Teenage-Kinder nicht in bestimmte Bahnen lenken zu wollen. Jeder Versuch der Eltern, ihre Kinder dazu zu bringen, ihrem Vorbilde zu folgen, endet gewöhnlich in einer widerstrebenden Reaktion; so kommt es, daß sich die Leute gegen die Kirchen und die Gesellschaft und alles wen­ den, hauptsächlich diese neue Generation: sie wollen auf keinen Fall beeinflußt werden, Gott sei Dank! Deshalb bestärken wir die Kinder sogar darin, sich lustig zu machen. Sie spielen ihre eigenen Possen, indem sie sich so verhalten, als ob sie meditieren oder Bewegungen (bezieht sich auf die Tänze) ausführen würden usw. Auf diese Art und Weise toben sie sich aus und fühlen sich nicht eingeschüchtert; sie haben dann nicht das Gefühl, daß hier etwas geschieht, das für sie, sagen wir, zu okkult oder fremd ist. Sie wissen, daß sie darüber lachen können, es nachahmen oder Scherzspiele daraus machen dürfen. Das Ergebnis ist, daß sich alles in seiner natürlichen Art und Weise entwickelt, und wenn sie dann das Alter erreichen, wo sie eigene Fragen zu stellen beginnen, dann sind in ihnen keinerlei Erin­ nerungen an irgendwelche Beeinflussungen oder einen Zwang, sich damit abzugeben, vorhanden. Sie sehen ein, daß wenn sie sich dem nähern wollen, sie es in aller Freiheit tun können, weil sie es selbst wollen und nicht etwa, weil ihre Eltern oder irgendjemand anders versucht hat, sie zu überzeugen. 38

Diese Suche nach Freiheit und Respekt vor der menschlichen Frei­ heit nimmt eine Schlüsselstellung ein. Man muß erkennen, daß alle von menschlicher Freiheit sprechen und wie wichtig es für einen Men­ schen ist, frei zu sein; aber nur sehr wenige Leute unternehmen tat­ sächlich etwas in diesem Sinne. Sexualität Wir haben eine ähnliche Haltung Sex gegenüber. Wir sprechen viel und auch sehr frei über Sex, und Leute kommen mit ihren eigenen persönlichen Sex- und Eheproblemen zu mir. Das Einzige, worauf sich all meine Lehren und all meine Lebenser­ fahrung über Sex stützen, ist, daß eine Sache zwischen Mann und Frau von Bedeutung ist: nämlich, daß sie beide frei sein sollten — wenn eine Frau einen Mann und ein Mann eine Frau freimachen kann, dann können sie wirklich vereint sein, wissen Sie. Alles, was die eigene Freiheit bedroht, treibt einen Menschen vom anderen weg. . . das ist meine Überzeugung. Wenn man nur einsehen könnte, wie wichtig dies ist: wie jede Neigung Besitz zu ergreifen, jeder Versuch, festzuhalten, das Ende des Sex bedeutet - ob man sich nun an eine Person oder an die Sexerfahrung festklammert, was es auch immer sei. . . .Nimm Sex und freue dich daran, und halte nichts fest! Nimm dir einen Mann und nimm dir eine Frau und sei glücklich mit ihm/ihr; klammere dich nicht an ihn/sie! Und dann, eines Tages wirst du mer­ ken, daß du einen Mann oder eine Frau gefunden hast, den/die du völlig zu akzeptieren und dich ihm/ihr hinzugeben bereit bist, weil du weist, daß deine Freiheit dadurch nicht bedroht sein wird; dann erst kommt die wahre Hochzeit. Meine Lehren über den Sex sind somit vielleicht ziemlich unorthodox. Ich möchte Ihnen aber gerne etwas mehr darüber mitteilen. Wissen Sie, Sex ist für die Zukunft sehr wichtig! So wie ich es sehe, gibt es drei Arten von Beziehungen zwischen Mann und Frau. Es gibt die vorübergehende Beziehung, die durchaus richtig, gültig und sogar sehr tief sein kann und wo etwas zwischen einem Mann und einer Frau geschieht — es kann in einem Moment, im Laufe eines Tages, eines Monats oder sogar eines Jahres geschehen - aber es ist, was es ist, wenn man verstanden hat, daß etwas Wirkliches zwischen einem Mann und einer Frau innerhalb eines gewissen Zyklusses ge­ schehen kann und der Versuch, es darüber hinaus zu verlängern, ver­ dirbt es. Das akzeptieren zu können und zu wissen, daß diese Art von 39

Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau eine ganz und gar gültige, natürliche und gute Sache ist, das ist etwas, was die Gesell­ schaft zu lernen hat. Die Gesellschaft versteht das nicht und übt ei­ nen künstlichen Zwang aus. Die jungen Leute sind sich dessen voll bewußt; aber sie sehen nicht, worum es geht. Die zweite Art Sex ist eine anhaltende Beziehung; etwas geschieht zwischen beiden: Es handelt sich dabei augenscheinlich und in er­ ster Linie darum, Kinder zu haben. Ein Mann und eine Frau wer­ den Eltern. Sie werden in die Wirklichkeit der Elternschaft hinein­ gestellt. Sie beschäftigen sich mit der Schaffung eines Heims. Ein Heim ist etwas anderes. Ein Heim ist nicht vorübergehend. Ein Heim spielt eine gute und wichtige Rolle im Leben, des Menschen, und die Rolle, die ein Mann und eine Frau beim Auftau eines Heims spie­ len, ist ziemlich verschieden von der Rolle in der ersten Art von Be­ ziehung. Man sollte einsehen, daß dies auch die eine Art von Bezie­ hung ist, in der sehr viel zwischen einein Mann und einer Frau ge­ schieht und beide einander viel Toleranz und auch anderes bezeigen und lernen müssen, wie sie miteinander leben sollen. Das ist die Vor­ aussetzung, um eine menschliche Situation zu schaffen — die Basis einer Gesellschaft; eine stabile Basis ist für die Gesellschaft nötig. Nicht alle Leute sind Heimgründer, und nicht alle Beziehungen zwi­ schen Mann und Frau sollen diesen besonders dauerhaften Charakter haben. Aber wenn es dazu kommt, muß sie respektiert werden, und man soll ihre Bedingungen erkennen und bereit sein, sich ihnen zu unterstellen. Etwas bleibt aber dennoch offen: der Mann und die Frau bleiben zwei einzelne Menschen, die im Wesentlichen getrennt leben. Es gibt eine dritte Art von Beziehung, die gegenwärtig noch selten auf dieser Welt anzutreffen ist, in Zukunft wahrscheinlich weniger seltener sein wird; wo Menschen wirklich eins werden, wo es eine solche Identität des Sich-Verstehens gibt, wo eine solche gegenseitige Kommunikation da ist, die über die physische Ebene von Worten, Gesten, Zärtlichkeiten und Liebesspiel hinausreicht - etwas Tieferes — ein wirkliches Zusammfließen von Willen . . .auch das ist möglich. Das ist die einzige Art von Beziehung, die als wahre Ehe bezeichnet werden kann. Wenn diese Beziehung eintritt, ist sie die wunderbarste Sache der Welt. Aber niemand kann das von sich aus bewirken. Wenn es geschehen soll, so wird es geschehen; und wenn es geschieht, stellt es ungeheure Anforderungen, weil dann beiden etwas vom Schwierig­ sten abverlangt wird, das heißt, jemand anderen an erste Stelle und

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sich selbst an die zweite Stelle zu setzen. Das kann niemand, solange nicht alles in Ordnung ist und er auch weiß, daß dem so ist. Doch diese drei Arten von Beziehungen sollten erkannt werden. Die Gesellschaft sollte sie akzeptieren und der Tatsache Rechnung tragen, daß zum Beispiel für die zweite Art von Beziehung nicht die gleichen Anforderungen gelten können. Die Möglichkeit zur Tren­ nung muß für die Partner bestehen, wenn es für eine gewisse Zeit nötig wird, weil sie nicht fähig sind, allein mit dem anderen zu leben. Man muß akzeptieren können, daß jede der drei grundlegenden Arten von Beziehungen — die vorübergehende, die dauernde und die, welche man die ewige oder die spirituelle nennen könnte — grund­ verschieden sind; solange eine Gesellschaft diese Tatsache nicht anerkennt, muß sie auf sexuellem Gebiet Verwirrung stiften. (Siehe auch das ausführliche Buch von J.G. Bennett über Sex, Frank­ f u r t 19 76, Verlag Bruno Martin) Beziehungen innerhalb der Gemeinschaften und zu anderen Gruppen S: Es scheint mir, daß sich heute ein großer Zuwachs geistiger Grup­ pen und Zentren auf der ganzen Welt feststellen läßt. Haben Sie irgendwelche Beziehungen zu diesen Gruppen? B: Ja, ziemlich enge sogar. Das fühle ich. Ich bin in der Findhorn-Ge­ meinschaft in Schottland gewesen und hier in der Nähe befindet sich die Beshara Gemeinschaft, die daran ist, neue Gruppen an der West­ küste zu gründen. Es gibt Gemeinschaften und Bewegungen in Eng­ land, von denen ich sehr viel halte. Wahrscheinlich wissen sie, daß ich ein sehr enger Freund von Idries Shah bin, der seine eigene Sufi-Tradition aus Afghanistan mitgebracht hat und der durch seine zahlreichen Bücher viel dazu beigetragen hat, um die Sufitra­ dition seines Landes bekannt zu machen. Er hat seine eigene Ge­ meinschaft im Süden Englands. Ich denke, daß das alles einen Teil eines großen geistigen Gesche­ hens bildet, das sich über die ganze Welt ausbreitet. Manchmal ist es einfach sehr leicht zugänglich und vielleicht oberflächlich; manchmal ist es zu eng, zu abgeschlossen, zu esoterisch. Aber all das ist notwendig — man muß den Vorgang als Ganzes anschauen. Es geschieht überall; es gibt kein Land, in welchem nicht etwas Derartiges zu finden wäre. Gleichzeitig könnte ich mir vorstellen, daß diese Dinge eher im Westen als im Osten geschehen müssen. Ich denke mir, daß die Zukunft der Welt nicht so sehr durch die 41

Ereignisse in Indien, sondern vielmehr durch die in Europa und Amerika bestimmt sein werden. Deshalb sind die geistigen Bewegun­ gen hierhergelangt. Obwohl diese, verglichen mit der östlichen Spiritualität, eher lahm und naiv anmuten mögen, sind es doch sie, die wir meiner Ansicht nach hüten und pflegen sollen. Hier kommt im Manuskript ein Absatz über die Entwicklung der Weltgeschichte in Zyklen. Wir nehmen hier den letzten Zyklus, der sich mit der Entwicklung der Humanität beschäftigt. Diese Einstellung gegenüber dem Einzelnen - daß es also bestimmte bevorzugte, halb-göttliche Wesen gab, Könige und Priester, die sich mit den Göttern verständigen konnten und daß der Rest der Bevöl­ kerung nichts galt: ihr Leben hatte keine Bedeutung außer durch den Willen ihres Herrschers - diese Einstellung änderte sich plötz­ lich vor etwa 2500 Jahren. Auf der ganzen Welt erschienen Prophe­ ten als Verkörperung eines neuen Geistes: Lao-Tse, Konfuzius, Buddha, die Gründer der Jain-Religion, Mahavira, Zoraster, die griechischen Propheten, die jüdischen Propheten in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft; die großen griechischen Philosophen: Solon, Pythagoras; die römischen Kaiser, die die Idee der Gleichheit aller Bürger Roms vor dem Gesetz einführten. Auf der ganzen Welt wandelte sich plötzlich die ganze Haltung dem Menschen gegenüber in der kurzen Zeitspanne von ungefähr hundert Jahren; und zwar un­ ter dem Einfluß von Hunderten durchwegs außergewöhnlichen Leu­ ten. Und das brachte uns unsere moderne Welt, und obgleich noch immer brutale Dinge geschehen, so ist heute doch ein moralisches Gefühl vorhanden: wir fühlen Abscheu vor Massenmord und Blut­ bädern. Damals war dem nicht so; vor 3000 Jahren sah niemand etwas Böses darin, wenn es darum ging zehntausende von Leuten zu töten, um sie aus dem Weg zu räumen, so hatte man das Recht dazu. Es ist sehr schwer sich vorzustellen, daß dem damals wirk­ lich so war. Sogar die guten Leute, sogar die Poeten usw. wie Homer, besangen diese Art von Massenmord, sogar die Schreiber des Alten Testaments billigten den Massenmord. Heute ist es aber so: der Kult um den Einzelnen ist zu weit gegangen. Er hat sich in diesem übertriebenen Intellektualismus, diesem über­ mäßigen Verlangen nach Rechten und der Ablehnung von Verpflich­ tungen gesteigert - beinahe unüberwindbare Hindernisse bei der Bildung wirklicher Gemeinschaften. Ich glaube, ein neues Gefühl für die Wichtigkeit der Gemeinschaft wird aufleben - nicht die Gemeinschaft im Staate, nichts dergleichen, nicht die Gemein42

Schaft in der Macht, sondern die Gemeinschaft in Brüderlichkeit: kleine Gruppen, wo wirkliche Bruderschaft unter gegenseitigem Respekt herrscht, so wie wir es hier erreicht haben. Darin liegt die Zukunft der Welt. Dieses Gefühl, daß ein Zeitalter zu Ende ist und niemand weiß, was vor der Tür steht, ist nicht neu. Sehen Sie, wir müssen uns der Wich­ tigkeit der spirituellen Seite des Lebens bewußt werden. Es sind nicht Priester, die uns von außen her aufgedrängt werden; es ist vielmehr ein Bedürfnis, das wir persönlich haben. Die Leute kommen nicht zu mir, weil ich ein Priester bin, sie kommen nicht zu mir, weil ich ein Bischof oder etwas Ähnliches bin. Sie kommen zu mir, weil ich sie lehren kann, ihre eigene geistige Wirklichkeit zu finden. Sie sehen in mir einzig eine Quelle der Hilfe für ihre eigene Entwicklung, um sich selber zu finden. Ich glaube, daß solche Leute in der Welt nötig sein werden und deshalb bin ich hier, um sie darauf vorzubereiten, so daß Leute zur Verfügung stehen werden, aber eben, mehr als Ratgeber oder man könnte sogar sagen als Begleiter, um den Leuten zu zeigen, wie etwas getan werden kann. Nicht um zu verwalten, nicht, um für andere Leute Entscheidungen zu treffen, nicht, um Be­ fehle zu geben, nicht um zu beaufsichtigen, nicht um zu herrschen. Ich unternehme alles, um sicher zu stellen, daß ich hier keine Macht ausübe, daß ich nicht als Autorität über den Leuten stehe, sondern, daß ich ganz einfach jemand mit mehr Erfahrung bin, der um etwas weiß und in sich gefunden hat, was er anderen mitteilen möchte. Und die Leute wünschen dies auch. Ich glaube, daß man immer solche Leute suchen wird; sie sind das einigende Element, das die Gemein­ schaften zusammenhalten kann. Alles andere hängt dann vom Ver­ ständnis des Dienstes ab, daß wir nämlich durch den Dienst leben sollen, daß das Leben nur dann befriedigend ist, wenn wir dienen; es ist nie befriedigend, wenn wir nur nehmen. Deshalb wirke ich auf diese Weise. Es gibt andere Gemeinschaften wie die unsrige. Dann gibt es auch solche, die Nahrungsmittel anbauen, welche die sich mit Transportund Kommunikationsmöglichkeiten befassen und Mittel und Wege suchen, um sie inmitten einer sich auflösenden Gesellschaft aufrecht zu halten, denn dies wird notwendig sein. Eine schreckliche Zeit wird in den Achtziger Jahren auf uns zu kommen und panische Angst sich über die Welt ausbreiten. Wenn Panik herrscht, weiß man nicht, was geschehen wird. Dann müssen 43

wir eine Ausweichmöglichkeit bereit halten. Darauf müssen wir hinarbeiten. S: Sind Leute bereits in diesem Sinne tätig - ist dies nicht bloße Theorie? B: Schon jetzt können Leute für sich selbst sorgen. Dies wird so bleiben, auch wenn sich die Gesellschaft auflöst und die Institu­ tionen zusammenbrechen. Wir können weiterleben, sogar zufrie­ denstellender, besser. Wir können dies aus eigenen Kräften bewerk­ stelligen, wenn wir einmal gelernt haben, zusammenzuarbeiten. Wir sind gegen niemanden, aber wir bieten eine neue Lebensweise an.

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Der moderne Mensch nimmt, aber ergibt nicht. Wer immer die Macht hat, benutzt sie, um zu nehmen und festzuhalten, doch das einzige Recht des Machtgebrauchs ist zu geben. Es ist möglich, die egoistische Gier nach dem eigenen Wohl bis zu einem gewissen Grade auszuschalten und fähig zu werden, in einer Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten.««

G.I. Gurdjieff war Denker und Praktiker zugleich. Er hinterließ Methoden und Ideen, die dem heuti­ gen Menschen helfen können, eine neue Lebens­ form zu finden. Seine fundamentalen Antworten stellen aber kein geschlossenes System dar, das mechanisch befolgt werden soll, seine Botschaft ist vielmehr, daß wir selbständig handeln, denken und fühlen lernen, um so aus eigener Einsicht die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er war sich darüber bewußt, daß die komplexen Probleme der kommenden Zeit weder durch Appelle noch durch institutionelle Maßnahmen gelöst werden können. Es werden Menschen gebraucht, die eigene Initiativen entfalten. In dieser Schrift wird versucht, die Grundlage von Gurdjieffs Ideen, ausgehend von der Frage „Was ist der Sinn und Zweck des Lebens auf der Erde im allgemeinen und des Menschen im besonderen" im Lichte unserer heutigen Zeit zu betrachten.