Handwörterbuch der Kriminologie: Band 3 Rechtsfriedensdelikte - Zwillingsforschung [Reprint 2011 ed.] 9783110882421, 9783110059212


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German Pages 720 Year 1974

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Table of contents :
R
Rechtsfriedensdelikte
Rechtspflegedelikte
Religion
Rückfall und Prognose
S
Schriftvergleichung
Schule
Selbstmord
Sexualdelikte• Spurenkundlich-gerichtsmedizinischer Beitrag
Sicherungsverwahrung
Sozialhygiene
Sozialpsychiatrie
Statistik und Kriminalität
Strafverfahrensrecht
Strafvollzug, Geschichte
Strafvollzug, Grundlagen
Strafvollzug, Seelsorge
T
Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung
Todesstrafe
Tötungsdelikte, nicht-fahrlässige. Forensisch-psychiatrischer Beitrag
Tötungsdelikte. Spurenkundlich-gerichtsmedizinischer Beitrag
Tötung und Psychose
V
Verbrechen und Schwachsinn
Verbrechen unter totalitärer Herrschaft
Verbrechertum, organisiertes
Verbrechertum, organisiertes
Verkehrsdelikte
Verwahrlosung
Viktimologie
W
Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug
Wirtschaftskriminalität
Wirtschaftsstrafrecht
Z
Zwillingsforschung
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Handwörterbuch der Kriminologie: Band 3 Rechtsfriedensdelikte - Zwillingsforschung [Reprint 2011 ed.]
 9783110882421, 9783110059212

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HANDWÖRTERBUCH DER KRIMINOLOGIE Begründet von

A L E X A N D E R ELSTER und H E I N R I C H

LINGEMANN

in völlig neu bearbeiteter zweiter Auflage herausgegeben von

Rudolf Sieverts und Hans Joachim Schneider Redaktionsassistentin: Marlene Stein-Hilbers

Rechtsfriedensdelikte-Zwillingsforschung

W DE G Berlin 1975 W A L T E R DE G R U Y T E R · B E R L I N · N E W Y O R K

Dr. jur. Rudolf Sieverts ist em. ο. Professor an der Universität Hamburg. Dipl.-Psych. Dr. jur. Hans Joachim Schneider ist ο. Professor an der Universität Münster/Westf. Er ist geschäftsführender Herausgeber dieses Bandes des Handwörterbuches der Kriminologie. Dipl.-Psych. Marlene Stein-Hilbers ist Verwalterin einer Assistentenstelle an der Universität Münster/Westf.

ISBN 3 11 0059215

© Copyright 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'ache Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Beimer, Earl J. Trübner, Veit & Comp., 1 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Becht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Walter de Gruyter Buchbindearbeiten: LUderitz • Rechtspflegedelikte) und Straftaten gegen die Staatsverwaltung der Fall ist (-> Staatsdelikte). Wird beispielsweise bei jenen Tatbeständen der Widerstand als solcher verboten, d. h. eine staatliche Funktion in den Vordergrund gestellt, so ist doch die Bedeutung des Widerstands gegen Beamte bei den Rechtsfriedensdelikten — ζ. B. beim Aufruhr — eine andere. Es geht hier nicht darum, die ungestörte Tätigkeit der staatlichen Organe zu gewährleisten oder gar dem bloßen Ungehorsam bzw. mangelnden Respekt der Obrigkeit gegenüber vorzubeugen, sondern es stehen hier mit dem Gemeinschaftsfrieden die Belange der Allgemeinheit im Vordergrund; das Vorgehen gegen Amtsträger h a t insoweit nur symptomatische Bedeutung. Die Rechtsfriedensdelikte gehören also nicht zu den Straftaten gegen den Staat, sondern zu den Straftaten gegen das Gemeinschaftsleben. Das geltende Gesetz allerdings h a t — anders jedoch der Strafgesetzentwurf 1962 (1. Titel des 1 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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4. Abschnitts) — den Begriff des Gemeinschaftsfriedens noch nicht systematisch verwendet; so finden wir die uns interessierenden Strafvorschriften vor allem im Zusammenhang des 6. Abschnitts „Widerstand gegen die Staatsgewalt" und des 7. Abschnitts „Verbrechen u n d Vergehen wider die öffentliche Ordnung". Daneben ist noch auf die in § 360 I Ziff. 11 StGB geregelte Übertretung, den sogen, groben Unfug, und auf § 49 b StGB, die Beteiligung am Mordkomplott, hinzuweisen. Diese gegenwärtige Situation erklärt sich — wie wir noch sehen werden — wohl vor allem aus der historischen Entwicklung u n d aus der Schwierigkeit, die Grenzen strafwürdigen Verhaltens beim Gemeinschaftsfrieden hinreichend klar zu umschreiben. In der Sache selbst lassen sich u. E. zwei Gruppen von Rechtsfriedensdelikten unterscheiden. Bei Landfriedensbruch, Aufruhr und anderen Massendelikten, aber auch beim Landzwang und groben Unfug m u ß der Gemeinschaftsfrieden bereits gestört worden sein. Dagegen handelt es sich bei anderen Tatbeständen u m Fälle der Gefährdung des Gemeinschaftsfriedens. Einmal ist hier an Äußerungsdelikte wie die Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze (§ 110 StGB) oder zu strafbaren H a n d lungen (§ 111 StGB) und zum anderen an Verbindungsdelikte zu denken, ζ. B. an Vorschriften, die Geheimbündelei (§ 128 StGB) oder Beteiligung an kriminellen Vereinigungen (§ 129 StGB) verbieten. Diese beiden Gruppen der Rechtsfriedensdelikte wollen wir im folgenden getrennt behandeln, weil ungeachtet des gemeinsamen normmotivierenden Rechtsguts sowohl die juristische als auch die kriminologische Problematik unterschiedlich sind. II. STÖRUNGEN DES GEMEINSCHAFTSFRIEDENS Bei den Störungen des Gemeinschaftsfriedens denken wir in erster Linie an Landfriedensbruch u n d an andere Massendelikte wie Aufruhr u n d Auflauf. Bei diesen Straftaten ist der eigentlich störende Faktor die Masse, die als solche notwendig die Allgemeinheit beunruhigen muß. Dabei spielt die strafrechtliche Problematik, wie diese gefährliche bzw. störende Tendenz der Masse zum Ausdruck gekommen sein m u ß u n d worin die strafbare Handlung selbst besteht, hier keine Rolle. Daneben gibt es aber auch Delikte gegen den Gemeinschaftsfrieden, die von einem einzelnen Rechtsbrecher u n d ohne den Hintergrund einer Masse begangen werden können. Dennoch handelt es sich auch hier um Delikte gegen die Allgemeinheit, weil sie sich ihrer Art nach notwendig gegen die Masse richten. Obwohl ein gewisser Zusammenhang mit den gemeingefährlichen Delikten unverkennbar ist, kommt es hier doch nicht auf die Gemeingefahr im klassischen Sinne des Entfesselns von

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Rechtsfriedensdelikte

Naturgewalten oder dergl. an. Vielmehr ist erforderlich und ausreichend, daß der geschilderte Friedenszustand als solcher für eine unbestimmte Vielzahl von Menschen gestört und somit das Vertrauen der Allgemeinheit in ihn erschüttert wird. A. Landfricdensbruch und andere Massendelikte Wichtiger als die letztgenannten Störungen des Gemeinschaftsfriedens sind in der Praxis jedoch die Massendelikte, deren Prototyp der Landfriedensbruch darstellt; neben diesem sollen im folgenden Überblick Aufruhr und Auflauf berücksichtigt werden. Als Grundtatbestand dieser Deliktsgruppe ist gewissermaßen der in § 125 StGB geregelte Landfriedensbruch anzusehen. Strafbar ist nach dieser Vorschrift die Teilnahme an einer öffentlichen Zusammenrottung, bei der mit vereinten Kräften Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen verübt werden. Dem Begriff der Masse wird hier also durch die Zusammenrottung genügt, die eine räumliche Vereinigung mehrerer Menschen voraussetzt; sie ist ohne Rücksicht auf den Ort öffentlich, wenn unbestimmt vielen Personen der Zugang möglich ist. Eine Störung des Gemeinschaftsfriedens liegt vor, wenn mit vereinten Kräften Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen begangen werden; dafür genügt es, daß die Gewalttätigkeiten von der Menge — nicht notwendig von jedem Einzelnen — getragen-werden. Strafbar ist jeder, der sich an einer solchen Zusammenrottung beteiligt. Wer unmittelbar an den Gewalttätigkeiten teilnimmt oder als Rädelsführer auftritt, wird nach § 125 II StGB schwerer bestraft; Rädelsführer ist jeder, der körperlich oder geistig eine führende Rolle in der Masse spielt. Auch der Aufruhr i. S. von § 115 StGB setzt die Teilnahme an einer öffentlichen Zusammenrottung voraus, bei der allerdings Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Beamtennötigung, d. h. Straftaten im Sinne der §§ 113, 114 StGB, begangen werden müssen. Dennoch handelt es sich nicht um einen qualifizierten Fall des Widerstands gegen die Staatsgewalt; vielmehr geht es auch hier in erster Linie um die Störung des Gemeinschaftsfriedens. Aufrührer, die eine der genannten Straftaten begehen, und Rädelsführer werden nach § 115 II StGB schwerer bestraft. § 116 StGB verkörpert im Verhältnis zu § 115 StGB einen Auffangtatbestand. Der für den Auflauf wesentliche Begriff der versammelten Menschenmenge entspricht im Grunde dem der Zusammenrottung; allerdings muß die Masse sich auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen versammelt haben. Jedoch werden der friedensstörende Charakter der Masse und folglich auch das Tatbestandsverhalten hier anders erfaßt. Strafbar sind nur diejenigen Teilnehmer, die sich auf eine

dreimalige Aufforderung des zuständigen Beamten hin nicht entfernen; natürlich muß diese Aufforderung rechtmäßig sein. Die Tathandlung besteht also in einem auf die Masse bezogenen Unterlassen. Obwohl das Gesetz neben dem Beamten den Befehlshaber der bewaffneten Macht erwähnt, was an preußische Pickelhauben und die historischen Zusammenhänge erinnert, darf es heute auch beim Auflauf nicht entscheidend auf den bloßen Ungehorsam der Obrigkeit gegenüber ankommen, sondern sollte maßgebend sein, daß ein solcher Ungehorsam eine Störung des Gemeinschaftsfriedens darstellt. In § 116 II StGB wird für schwerere Fälle auf die strengeren Strafvorschriften des § 115 StGB verwiesen. Diese Regelung der Massendelikte erscheint gerade unter dem Gesichtspunkt des Gemeinschaftsfriedens recht unbefriedigend. Deshalb sei erwähnt, daß der Strafgesetzentwurf 1962 zutreffend Landfriedensbruch und Aufruhr zusammenfaßt, um daneben einen erschwerten Fall zu bilden. Der Auflauf soll — angesichts seiner Natur zutreffend — auch künftig gesondert geregelt werden, wobei allerdings zweifelhaft erscheint, ob man mit dem Entwurf auch eine Menschenmenge erfassen soll, die sich an einem nicht-öffentlichen Ort versammelt hat. 1. Entidcklung

und praktische

Bedeutung

Kriminologisch verkörpern die Massendelikte eine noch wenig erforschte Materie, obwohl es weltgeschichtlich bedeutsame Beispiele gibt, die zugleich die Hintergründe dieser Kriminalität beleuchten. In diesen Kreis gehört ζ. B. der Sklavenaufstand im alten Rom, der als Folge einer zu schnell betriebenen Befreiungspolitik vor allem soziale Ursachen gehabt haben dürfte. Ähnlich war es in Deutschland im Jahre 1525 beim Bauernaufstand, in welchem die Unzufriedenheit der Bauern mit ihrer wirtschaftlichen Lage sichtbaren Ausdruck fand. Obwohl eine gewisse Verwandtschaft unverkennbar ist, waren demgegenüber die Hintergründe der französischen Revolution vom Jahre 1789, in deren Verlauf es ebenfalls zu Massendelikten kam, doch vorwiegend politischer Natur. In engem Zusammenhang damit stehen die Ausschreitungen, zu denen es bereits früher bei religiösen oder konfessionellen Auseinandersetzungen gekommen war. Diese Komponenten der Massenkriminalität haben auch die Entwicklung in den letzten 80 Jahren geprägt, die wir jetzt an Hand der Kriminalstatistik ( S t a t i s t i k und Kriminalität) betrachten wollen. Die verhältnismäßig geringe Kriminalität der Zeit des Kaiserreiches — beim Landfriedensbruch und beim Auflauf betrugen die Kriminalitätsziffern durchschnittlich jeweils etwa 0,4, beim Auflauf 0,2—0,1 — dürfte auf eine im wesentlichen ruhige politische Situation und

Rechtsfriedensdelikte eine insgesamt doch recht günstige wirtschaftliche Lage zurückzuführen sein. Wenn in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkriege die Auflaufskriminalität an der Spitze stand, so wird das vermutlich mit einer besonderen Empfindlichkeit der Amtsträger zusammenhängen. Bemerkenswert erscheint jedoch, daß im Gegensatz zur Gesamtkriminalität Aufruhr und Landfriedensbruch schon während des Weltkrieges erheblich zunehmen; wenn es hier bereits im Jahre 1917 zu hohen Verurteilungsziffern kam, so handelte es sich u. E. nicht nur um die ersten Anzeichen der mit der einsetzenden Ernährungskrise verbundenen wirtschaftlichen Not, sondern es kam darin auch eine politische Unzufriedenheit zum Ausdruck, die überdies den Respekt der Obrigkeit gegenüber geschmälert haben dürfte. Es kündigte sich hier in der Kriminalstatistik bereits die bevorstehende Revolution an. Die niedrigen Verurteilungsziffern für die Massendelikte im folgenden Revolutionsjahr 1918 erklären sich wohl daraus, daß viele auf Aburteilung harrende Täter durch den politischen Sieg ihrer Gesinnungsgenossen befreit wurden und die Strafrechtspflege auch sonst nicht mehr einwandfrei funktionierte. Denn schon sehr bald erwies sich die Kriminalität der Massendelikte wieder als ein Spiegelbild der wechselvollen politischen Entwicklung. Lagen die Höhepunkte des Aufruhrs in den Jahren 1919, 1920 und 1924 (Kriminalitätsziffern — 1919: 1,5; 1920: 2,3; 1924: 2,2), so überschritt vor allem der Landfriedensbruch weit den Stand der Vorkriegskriminalität (Kriminalitätsziffern —1919: 4; 1920: 4,2; 1924: 18,8); etwas ausgeglichener war die Lage beim Auf lauf (Kriminalitätsziffern — 1919: 0,06; 1920: 0,2; 1924: 1,9). Diese Massenkriminalität nahm in den folgenden ruhigen Jahren dann schnell wieder ab, um allerdings vom Jahre 1930 an wiederum eine ähnliche, für Krisenzeiten typische Entwicklung zu zeigen. Auch die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, die entscheidend durch die im Zuge der Weltwirtschaftskrise eintretende Massenarbeitslosigkeit erleichtert wurde, hat also in der Kriminalstatistik ihren Niederschlag gefunden. Die Kriminalitätsziffer des Aufruhrs kletterte von 0,2 im Jahre 1929 über 0,7 im Jahre 1930 auf 1,4 im Jahre 1932; die entsprechenden Ziffern für den Landfriedensbruch lauteten 0,5, 0,9 und 6. Die hohen Verurteilungsziffern des Jahres 1934 dürften sich allerdings auch daraus erklären, daß die NS-Machthaber auf diese Weise politische Gegner auszuschalten und ihre Herrschaft zu befestigen suchten. Auch wenn die Zahlen sich alsbald wieder normalisierten, so ist doch zu beachten, daß die Statistik hier ein recht einseitiges Bild vermittelt, weil sie einen großen Teil der Massendelikte tatsächlich nicht mehr erfassen konnte; denn diese wurden jetzt im Auftrage oder mit Billigung des autoritären Staates begangen, der nicht selten in extremer Weise das Täterr

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kollektiv sogar selbst organisierte. Hier sei nur auf die Ereignisse der sogen. Kristallnacht am 9. November 1938 und auf andere Maßnahmen gegen Juden oder politische Gegner hingewiesen, um darzutun, daß man in diesen Jahren nicht mehr vom statistischen Gesetz der konstanten Verhältnisse ausgehen kann. In der jüngsten Vergangenheit, d. h. seit 1950, ist in der Bundesrepublik die Kriminalität der Massendelikte wieder verhältnismäßig gering. Aufruhr und Auflauf kommen zusammen nur auf eine Kriminalitätsziffer von etwa 0,4. Dagegen hat der Landfriedensbruch (in der Statistik mit dem wohl nicht in das Gewicht fallenden schweren Hausfriedensbruch zusammengefaßt) etwas zugenommen; denn seit 1956 liegt die Kriminalitätsziffer um 0,7 herum. Dieses dürfte vor allem auf die sogen. Halbstarkenkrawalle als eine neue Erscheinungsform der Massendelikte zurückzuführen sein; das zeigt sich vor allem an der beträchtlichen Zunahme des Anteils jugendlicher und heranwachsender Täter. Die insgesamt gesehen aber doch verhältnismäßig günstige Entwicklung dürfte einmal auf der besseren wirtschaftlichen Lage und zum anderen auf einer weithin zu bemerkenden politischen Interesselosigkeit beruhen. Erst die jüngste Entwicklung dürfte hier, wenn wir an die im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung entwickelten, 1968 praktizierten neuen Formen außerparlamentarischer, insb. studentischer Opposition oder Rebellion denken, einen Wandel gebracht haben, der sich auf die Kriminalstatistik ungünstig auswirken wird. Aber auch abgesehen von den genannten Fehlerquellen gibt die Statistik der Massendelikte ein etwas verzerrtes Bild. So dürfen die im Verhältnis, zu den Abgeurteilten hohe Zahl Verurteilter sowie die hohe Aufklärungsziffer nicht darüber hinwegtäuschen, daß Strafverfahren in derartigen Fällen nur gegen diejenigen eingeleitet werden, die man ergreift und damit praktisch auf frischer Tat ertappt. Das ist bei Massendelikten erfahrungsgemäß immer nur bei einem Bruchteil der wirklich an der Zusammenrottung Beteiligten der Fall, weshalb die Dunkelziffer insoweit recht erheblich sein dürfte. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Allgemein ist zur Kriminalphänomenologie der Massendelikte zu sagen, daß sie nach den Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik ( S t a t i s t i k und Kriminalität) vor allem in der Großstadt und im Landgebiet begangen werden. Mag einmal bei der Zusammenballung von Menschen die Anonymität der Großstadt, die zudem politisch wichtige Zentren birgt, begünstigend wirken, so ist es zum anderen eine auf dem flachen Lande zu verzeichnende Schwäche der Staatsgewalt. Was die Tatzeit anlangt, so liegen eindeutig Frühjahr und

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Rechtsfriedensdelikte

Sommer an der Spitze. Das dürfte sich daraus erklären, daß diese Taten im Freien begangen zu werden pflegen, weshalb man die wärmere Jahreszeit schätzt. Wichtiger als diese allgemeinen Daten sind kriminologisch jedoch die besonderen Erscheinungsformen, die Tattypen darstellen, mit deren Hilfe man die Lebenswirklichkeit systematisch zu erfassen trachtet. Hier bietet sich nach dem zur Entwicklung Gesagten eine Klassifikation nach dem Anlaß an, womit sich drei Erscheinungsformen unterscheiden lassen. a) Soziale M a s s e n d e l i k t e . Zu den sozialen Massendelikten würden wir diejenigen Fälle des Landfriedensbruchs, Aufruhrs und Auflaufs rechnen, die wesentlich durch wirtschaftliche Not veranlaßt sind. Diese Taten haben im allgemeinen das Gepräge von Protest- oder Notaktionen. Sie sind deshalb häufig mit Plünderungen von Läden, Magazinen oder landwirtschaftlich genutzten Feldern verbunden, wodurch der Not unmittelbar gesteuert werden soll. Nur ausnahmsweise richten Gewalttätigkeiten sich gegen eventuell einschreitende Polizeibeamte, weshalb es sich strafrechtlich gesehen überwiegend um Landfriedensbruch handeln dürfte. b) P o l i t i s c h e M a s s e n d e l i k t e . Auch politische Massendelikte können ihren Ursprung natürlich in einer Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage haben. Doch erscheint das Massendelikt hier im politischen Gewände. Es soll nicht mehr unmittelbar der Not abhelfen, sondern man fordert politische Maßnahmen, durchweg den Rücktritt bestimmter Amtsträger oder der Regierung überhaupt. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ist hier nur noch ein Argument der politischen Agitatoren, um die Masse für eine Änderung der politischen Machtverhältnisse oder gar des politischen Systems zu gewinnen. Die materiellen Interessen werden zumindest äußerlich durch eine politische Zielsetzung überspielt. Diesen politischen Massendelikten sind historisch gesehen die Massendelikte aus religiösem Fanatismus vergleichbar, die als solche in Deutschland heute aber keine Rolle mehr spielen dürften. Bei der Zielsetzung der politischen Massendelikte wird strafrechtlich der Aufruhr dominieren, neben dem natürlich auch Auflauf und Landfriedensbruch in Betracht kommen. c) K r a w a l l - M a s s e n d e l i k t e . Eine dritte Erscheinungsform stellen die vorwiegend emotional bedingten Krawall-Massendelikte dar, deren Prototyp die im Jahre 1956 in fast allen westdeutschen Großstädten einsetzenden Halbstarkenkrawalle sind. Der Name rührt daher, daß es sich vor allem um Zusammenrottungen junger Menschen handelte, die auf Plätzen oder Straßen randalierten, Fensterscheiben einwarfen, Personenwagen umstürzten oder gegen Passanten bzw. einschreitende Beamte tätlich vorgingen. Natürlich haben

an diesen Krawallen auch Erwachsene teilgenommen. Und selbstverständlich gibt es auch KrawallMassendelikte, die wesentlich von Erwachsenen begangen werden. Zu solchen Krawallen kann es beispielsweise bei Sportveranstaltungen oder aus Anlaß von sensationellen Gerichtsverhandlungen kommen. Bei den Jugendkrawallen hat man, was sich demnach verallgemeinern läßt, nach der Art des Zustandekommens drei Fälle unterschieden. Der sogen, „reine Krawall" ist dadurch gekennzeichnet, daß die Zusammenrottung ohne ersichtlichen Anlaß erfolgt. Dagegen ist beim „Veranstaltungs-Krawall" eine bestimmte Veranstaltung der Anlaß. Typisch sind hier Jazz-Veranstaltungen oder andere Musikdarbietungen, bei denen die Jugendlichen in Ekstase geraten; natürlich kann das auch bei Vorführung entsprechender Filme geschehen. Der „Folge-Krawall" ist ein Produkt der kriminellen Ansteckung, ein Anschlußverbrechen, das durch einen vorangegangenen Krawall in der betreffenden oder einer anderen Stadt ausgelöst worden ist (Jugendkriminalität). — Bei den Krawall-Massendelikten werden die Gesetzesverstöße überwiegend in Form der Teilnahme am Auflauf begangen; nicht gar so selten wird aber auch die Intensität von Landfriedensbruch oder — bei Einschreiten von Beamten — von Aufruhr erreicht. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Fragen wir nach den Ursachen dieser Massenkriminalität, so müssen wir uns von der auch heute noch vielfach praktizierten Anlage-UmweltFormel frei machen. Denn sie simplifiziert, indem sie die für die Kriminalität ausschlaggebenden Faktoren einseitig erfaßt. Zudem bleibt unberücksichtigt, daß deT Mensch ungeachtet der durch Anlagen und Umwelt gesetzten Grenzen und eröffneten Möglichkeiten als Persönlichkeit Träger eines im Einzelfalle mehr oder weniger bedeutsamen freien Willens ist. — Da das kriminelle Verhalten nie auf einem einzigen kriminogenen Faktor beruht, kann es nur Aufgabe der Kriminalätiologie sein, typische Faktoren-Kombinationen herauszuarbeiten, die dem Gesetz der großen Zahl unterliegen und im Einzelfall lediglich als allerdings wertvolles Orientierungsmittel dienen können. Die Täter der Massendelikte gehören nahezu alle dem männlichen Geschlecht an. In den letzten 10 Jahren betrug der Anteil weiblicher Verurteilter bei Aufruhr und Auflauf durchschnittlich nur 6,5%; beim Landfriedensbruch waren es sogar nur 4%. Was das Alter anlangt, so ist bei den Massendelikten der Anteil Jugendlicher und Heranwachsender größer als bei der Gesamtkriminalität. Ganz besonders gilt dies für die Jahre seit 1956. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik stellten die genannten Altersgruppen

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Rechtsfriedensdelikte insgesamt rund 50% der ermittelten Täter. Dürfte dieses auch im wesentlichen auf die Halbstarkenkrawalle zurückzuführen sein, so treten Minderjährige auch bei sozialen und politischen Massendelikten häufig als Mitläufer auf. Über I n t e l l i g e n z u n d E r z i e h u n g läßt sich für diese Rechtsbrecher zur Zeit nicht viel sagen. Man will vereinzelt zwar festgestellt haben, daß Erziehungsfähigkeit und -Willigkeit bei den Eltern der Rädelsführer von Jugendkrawallen bedeutend schlechter seien als bei anderen Teilnehmern; andererseits jedoch sagt man, das Bild dieser jungen Menschen weiche insgesamt gesehen nicht sehr von der durchschnittlichen Familiensituation ab. Hinsichtlich der s o z i a l e n L a g e muß man grundsätzlich wohl annehmen, daß die Täter der Massendelikte allen Schichten der Bevölkerung entstammen können. Natürlich gibt es bei den einzelnen Erscheinungsformen und bei bestimmten politischen Verhältnissen Unterschiede. Im Kaiserreich war angesichts der Sozialisten-Verfolgungen vermutlich die Arbeiterschaft stärker beteiligt, die nach 1918 zumindest bei der extremen Linken auftaucht. Daneben werden wir in der Weimarer Republik im Hinblick auf die Opposition von rechts mit einer stärkeren Beteiligung von Bürgern an Massendelikten zu rechnen haben. Die wirtschaftliche Lage dürfte vor allem bei den sozialen Massendelikten wichtig sein. Für das soziale V e r h a l t e n läßt sich nur sagen, daß der Anteil der Vorbestraften bei den Massendelikten eher niedriger als im allgemeinen ist, obwohl das Ergreifen dieser Täter sicherlich eine negative Auslese darstellt. Bei der M o t i v a t i o n dürfte für soziale Massendelikte die wirtschaftliche Not das typische und überwiegende Motiv verkörpern. Dieses kann natürlich auch bei politischen Massendelikten eine Rolle spielen, bei denen aber emotionale Motive wie Rachsucht, Haß und dergl. sowie der Geltungsdrang größere Bedeutung haben dürften. Namentlich der Geltungsdrang wird das wichtigste Motiv bei den Krawall-Massendelikten sein. In diesem Zusammenhang muß auch auf die Problematik der kriminellen Ansteckung hingewiesen werden, die bereits beim „Folge-Krawall" deutlich wurde. Aber nicht nur bei den Jugendlichen spielt das Gefühl der Verbundenheit eine Rolle; es wird ebenso bei sozialen und politischen Massendelikten im Hinblick auf die gemeinsame Not oder den Kampf für die gemeinsame Sache wichtig sein und entscheidend auf den Motivationsprozeß einwirken. Insoweit wird man auch die Bedeutung der Presse noch näher untersuchen müssen; denn die Halbstarkenkrawalle sind sicher nicht zuletzt auf reißerische Berichte der Sensationspresse zurückzuführen. Dagegen wird das ungeschickte Verhalten einschreitender Beamter im allgemeinen nur einen tatauslösenden, d. h. keinen kriminogenen Faktor darstellen.

4.

Tätertypologie

Ist es Ziel der Tätertypologie (->· Typenlehre), kriminologisch aufschlußreiche Persönlichkeitstypen herauszuarbeiten, so verbietet es sich, hier auf Typologien anderer Disziplinen — ζ. B. der Konstitutionsbiologie oder Psychologie — zurückzugreifen. Aber auch die kriminalpolitischen Theorien vermögen u. E. im allgemeinen nicht zu überzeugen, weil sie sich in methodisch bedenklicher Weise an der Tat oder an Erkenntnissen der Kriminalätiologie orientieren. Deshalb wollen wir nach dem Lebenswandel und der kriminellen Karriere zwischen Rückfalls- und Durchschnittstätern unterscheiden. Setzen wir bei R ü c k f a l l s t ä t e r n zumindest kriminologisch einschlägige frühere Taten voraus, so sieht man, daß bei den Massendelikten der Anteil dieser Tätergruppe sehr gering sein dürfte; denn der Anteil der Vorbestraften liegt sicher noch zu hoch. Vermutlich kann man nur ungefähr 10% aller Verurteilten als Rückfallstäter bezeichnen, die dann aber ganz überwiegend zum Typ des Antisozialen gehören, der durch aktive Gemeinschaftsfeindlichkeit gekennzeichnet ist. Es ist auch ganz verständlich, daß gerade Antisoziale von den Massendelikten immer wieder angezogen werden, wenn man etwa an die Schlägertypen der politischen Kampfgruppen der Jahre um 1933 denkt. Ganz überwiegend jedoch, wir schätzen auf durchschnittlich etwa 90%, haben wir es mit D u r c h s c h n i t t s t ä t e r n zu tun. Hier dürfte bei den Massendelikten jedoch der Typ des Entwicklungstäters, der sich nur durch seine mangelnde Reife vom Erwachsenen unterscheidet, mit vermutlich 33—40% aller Verurteilten einen verhältnismäßig großen Anteil stellen. Da der Konfliktstäter relativ selten ist, werden die eigentlichen Durchschnittstäter die andere große Gruppe verkörpern. B. Landzwang, grober Unfug nnd andere Friedensstörungen Im Gegensatz zu den Massendelikten ist bei den nunmehr zu behandelnden Tatbeständen die Masse nur in dem Sinne notwendig, daß sie von dem kriminellen Verhalten betroffen wird. Eine typische Straftat dieser Art ist der in § 126 StGB geregelte Landzwang, der als solcher auch von einem Einzeltäter begangen werden kann. Denn vorausgesetzt wird nur, daß durch die Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens der öffentliche Frieden gestört wird. Doch zeigt das Merkmal Störung des öffentlichen Friedens, daß es sich nicht um eine Vorbereitung zum gemeingefährlichen Delikt handelt. Überhaupt wirft § 126 StGB insoweit mancherlei Zweifelsfragen auf. Kann man einmal fragen, ob nur Verbrechen im

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Rechtsfriedensdelikte

Sinne von § 1 StGB gemeint sind, so wäre auch eine Beschränkung auf gemeingefährliche Delikte im technischen Sinne bedenklich. Denn zumindest ebenso gefährlich für den Gemeinschaftsfrieden wie die Drohung mit Brand oder Sprengstoff k a n n das Androhen eines Massenmordes oder eines Raubes in Form ausgedehnter Plünderung sein. Das zutreffend begrenzende Merkmal der Störung des öffentlichen Friedens hilft also jedenfalls nicht mehr, wenn man — was im einzelnen umstritten ist — ein Verbrechen bzw. ein gemeingefährliches Delikt im technischen Sinne ablehnen miißte. Namentlich beim Landzwang t a u c h t die Frage der Abgrenzung von der nach § 241 StGB strafbaren Bedrohung eines anderen mit einem Verbrechen auf (-»· Freiheitsdelikte). Diese Bedrohung richtet sich jedoch wesentlich gegen den Einzelnen, weshalb der Gemeinschaftsfriede nicht gestört zu werden b r a u c h t ; es geht also u m den individuellen Frieden, d. h. wie beim Hausfriedensbruch um ein Delikt gegen den persönlichen Frieden. — Zumindest kriminologisch fallen unter den Begriff des Landzwanges auch Praktiken der NS-Machthaber. Strafrechtlich ist in diesem Zusammenhang noch kurz auf die Übertretung des § 360 I Ziff. 11 StGB hinzuweisen. Denn der nach dieser Strafvorschrift zu ahndende grobe Unfug bzw. ruhestörende Lärm verkörpert nicht so sehr eine Straftat gegen den Einzelnen als vielmehr eine Belästigung der Allgemeinheit, weil der Gemeinschaftsfrieden gestört wird. So setzt ζ. B. ruhestörender Lärm voraus, daß die Ruhe einer unbestimmten Mehrzahl von Personen gröblich gestört werden kann. Grober Unfug ist jedes Verhalten, das als Belästigung, Beunruhigung oder Gefährdung geeignet ist, in ungebührlicher Weise den Gemeinschaftsfrieden gröblich zu stören. — Der Strafgesetzentwurf sieht für den Landzwang keine großen Änderungen vor. Der grobe Unfug wird als Vergehen den Rechtsfriedensdelikten zugeordnet. 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Über Entwicklung und praktische Bedeutung dieser Rechtsfriedensdelikte läßt sich bisher sehr wenig sagen. So wird ζ. B. der grobe Unfug als Übertretung von der Kriminalstatistik nicht gesondert erfaßt. Auch für den Landzwang (§ 126 StGB) finden sich gerade in jüngster Zeit nur zusammenfassende Zahlen. Immerhin läßt sich f ü r die Zeit des Kaiserreiches feststellen, daß die Kriminalitätsziffern, verglichen mit denen der Massendelikte, durchweg sehr gering sind. Finden sich zu Anfang der achtziger J a h r e des vorigen Jahrhunderts noch Zahlen u m 0,3 bzw. 0,2, so sinkt die Kriminalitätsziffer alsbald auf 0,1, um sich nach der Jahrhundertwende um 0,04 herum flu bewegen. Auch nach dem ersten Weltkrieg erreichen die Kriminalitätsziffern ungeachtet einer

leichten Zunahme nicht einmal 0,1. In der jüngsten Entwicklung dürften sie, wie die Zahlen der nach den §§ 126, 127, 134, 144, 145 StGB Verurteilten vermuten lassen, noch sehr viel geringer sein. Lassen sich demnach auch gewisse Zusammenhänge mit der Massenkriminalität erkennen, so ist die Entwicklung beim Landzwang doch augenscheinlich ausgeglichener. Vermutlich wäre das Bild noch anders, wenn man den groben Unfug und andere Friedensstörungen berücksichtigen könnte. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Angesichts der geschilderten Lage können und müssen wir uns auch im übrigen kurz fassen. So werden wir uns bei den Erscheinungsformen grundsätzlich wohl an das bei den Massendelikten Gesagte halten können. Sowohl Landzwang als auch grober Unfug werden ersichtlich überwiegend aus sozialen oder politischen Gründen begangen, bzw. sie sind — wie die Krawalle — vorwiegend emotional bedingt. Hinzu t r i t t hier allerdings eine Erscheinungsform krimineller Friedensstörungen, die man bei den Massendelikten zumindest heute als atypisch bezeichnen m ü ß t e ; denn es kommt nicht auf die Strafbarkeit des Verhaltens an, sondern darauf, daß beispielsweise beim Landzwang die Bedrohung im Zuge einer weitergehenden kriminellen Aktion geäußert wird. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Auch hinsichtlich der Ursachen dieser Formen kriminellen Verhaltens ist allgemein auf die Massendelikte zu verweisen. Es wird sich um Straftaten handeln, die eigentlich nur von Männern begangen werden, welche überdies häufig minderjährig sind. Der Anteil der Vorbestraften könnte im Hinblick auf die kriminellen Friedensstörungen etwas größer als bei den Massendelikten sein. Die Motivation dürfte beim Landzwang u n d groben Unfug vielschichtiger sein. 4.

Tätertypologie

Nach allem dürfte vermutlich auch der Anteil der Rückfallstäter bei diesen Straftaten etwas größer sein. Eindeutig dominieren wird aber wiederum die Gruppe der Durchschnittstäter, wobei der Typ des Entwicklungstäters besonders bedeutsam sein dürfte. III. GEFÄHRDUNG DES GEMEINSCHAFTSFRIEDENS Wenden wir uns nunmehr denjenigen Rechtsfriedensdelikten zu, bei denen es lediglich zu einer Gefährdung des Gemeinschaftsfriedens kommt, so wollen wir — wie angedeutet — wiederum zwei Gruppen von Tatbeständen unterscheiden. Bei der strafrechtlich schwierigen Problematik, in

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Rechtsfriedensdelikte welcher Weise die Gefahr objektiviert sein muß, um Strafe zu rechtfertigen, stellt man bei den Äußerungsdelikten — ζ. B. der Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze — auf bestimmte Äußerungen ab, die auf eine Störung des Gemeinschaftsfriedens abzielen. Zum anderen erblickt das Gesetz die Gefahr für den Gemeinschaftsfrieden in einer Verbindung, deren Ziele der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuwiderlaufen; bestraft wird hier derjenige, der sich an bestimmten Verbindungen, deren Vorhandensein eine latente Gefahr für den Gemeinschaftsfrieden darstellt, beteiligt. A. Äußerungsdelikte Zu den Äußerungsdelikten, die wesentlich den Gemeinschaftsfrieden gefährden, gehören einmal die im 6. Abschnitt des Besonderen Teils (Widerstand gegen die Staatsgewalt) geregelten §§ 110, 111 StGB, die das öffentliche Auffordern zum Ungehorsam gegen die Gesetze bzw. zu strafbaren Handlungen verbieten. Die Tathandlung ist im § 110 StGB darauf berechnet, durch Auffordern zur Mißachtung der Gesetzesautorität die unberechenbare Kraft der Masse zu wecken. § 111 StGB ist nur insoweit spezieller gestaltet, als hier zu strafbaren Handlungen aufgefordert werden muß; mögen dabei auch Erwägungen der Kriminalprävention eine Rolle spielen, so steht dennoch der Schutz des Gemeinschaftsfriedens im Vordergrund. Im 7. Abschnitt (Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung) ist einmal auf § 140 StGB hinzuweisen, der die moralische Unterstützung von Rechtsbrechern verbietet, die — im Gegensatz zu § 111 StGB — bereits ein Verbrechen begangen haben; dabei muß es sich um eines der im § 138 StGB genannten schweren Verbrechen oder ein Sprengstoffdelikt handeln. § 130 StGB verbietet gewisse Verhaltensweisen, die einen Angriff auf die Menschenwürde darstellen, indem der Täter gegen Teile der Bevölkerung hetzt. Erinnern wir uns hier an die Vorgänge nach 1933, so sollte klar sein, daß auch diese Gruppen bzw. Minderheiten Teile des Staatsvolkes sind und daher Anspruch auf den Gemeinschaftsfrieden haben. Die Art des Angriffes ist also nur eine Spezialisierung des Handlungsunwertes. Schwieriger ist es, den Unrechtsgehalt des § 131 StGB zu erfassen. Strafbar ist nach dieser Vorschrift, wer durch öffentliches Behaupten oder Verbreiten erdichteter oder entstellter Tatsachen Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich macht, weshalb man häufig von Staatsverleumdung spricht. Dennoch erscheint es uns nicht richtig, diesen Tatbestand in die Nähe des § 134 StGB (Beschädigen amtlicher Bekanntmachungen) zu verweisen und so die Ehre des Staates in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr dürfte es richtig sein, dem Verunglimpfen der Staatseinrichtungen — wie bei den §§ 110, 111

StGB — nur symptomatische Bedeutung beizulegen und entscheidend auf die dadurch hervorgerufene Gefahr für den Gemeinschaftsfrieden abzustellen. 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Vereinzelte Vorläufer der Äußerungsdelikte finden sich sehr früh unter den Staats- bzw. Majestätsverbrechen, obwohl hier damals begrenzend wirkte, daß man durchweg eine Verletzung forderte. Erst im Zeitalter des Absolutismus gewinnen Tatbestände dieser Deliktsgruppe konkretere Gestalt, nachdem zunächst der weidlich strapazierte Allerweltsbegriff des Majestätsverbrechens derartige Verhaltensweisen hatte erfassen können. Als dieser jedoch mehr und mehr in Mißkredit kam, war man bestrebt, die bestehende Herrschaftsform auf andere Weise gegen Umsturzversuche oder ähnliche Gefahren zu sichern. Wenn man deshalb derartige Äußerungsdelikte schuf, war es u. a. deren Ziel, so einem von der Obrigkeit befürchteten Mißbrauch des dem Einzelnen nunmehr zugestandenen Rechts der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit entgegenzuwirken. Besonders deutlich zeigt das § 131 StGB, während die Neufassungen der §§ 140, 130 StGB aus den Jahren 1953,1960 und 1964 der inzwischen veränderten Situation Rechnung tragen. In der Zeit des Kaiserreiches hält die Zahl der Verurteilungen nach diesen Strafvorschriften sich in sehr mäßigen Grenzen. Die Verstöße gegen die §§ 110, 111 StGB kommen vielfach nicht über Kriminalitätsziffern von 0,05 hinaus. Verurteilungen nach § 131 StGB sind ausgesprochen selten. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches jedoch erreicht die Zahl der Verurteilungen nach den §§ 110,111 StGB eine bemerkenswerte Höhe; sie entspricht im Jahre 1924 mit 443 Verurteilungen im Reichsgebiet einer Kriminalitätsziffer von nahezu 1. In den folgenden Jahren sinkt diese Ziffer jedoch sogleich wieder auf 0,1, um erst vom Jahre 1928 an wieder zu steigen; 1933 beträgt die Kriminalitätsziffer 0,6. Der Höhepunkt der Nachkriegszeit im Jahre 1952 liegt demgegenüber mit einer Kriminalitätsziffer von 0,15 für die §§ 110, 111 StGB verhältnismäßig tief. Zudem ist eine ständige Abnahme zu verzeichnen; 1959 wurden im Bundesgebiet nur 4 Personen nach diesen Vorschriften verurteilt, was eine Kriminalitätsziffer von 0,01 bedeuten würde. 1960 beispielsweise wurden im Bundesgebiet verurteilt nach den §§ 110, 111 StGB 8 Personen, nach § 140 StGB 15 Personen, nach § 130 StGB 8 Personen; für § 131 StGB, der 1959 ein einziges Mal angewendet wurde, ist keine Verurteilung verzeichnet. Die Spitzen der Kriminalität liegen ersichtlich — wie bei den Massendelikten — in Krisenzeiten. Dabei dürfte aber hier noch mehr als dort die politische Krisensituation ausschlaggebend sein.

Rechtsfriedensdelikte

8 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Bei den Äußerungsdelikten scheint es nach allem angebracht, nach dem Anlaß der friedensstörenden Äußerung drei Formen kriminellen Verhaltens zu unterscheiden. a) P o l i t i s c h e Ä u ß e r u n g s d e l i k t e . Sehr häufig haben Äußerungsdelikte im Sinne der §§ 110, 111,140,130,131 StGB ausgesprochen politisches Gepräge. Die Äußerungen stellen also politische Kampfparolen dar, die den Sturz der Monarchie, die Beseitigung der legitimen Regierung oder die Vernichtung politischer Gegner von rechts bzw. links fordern. Natürlich kann auch die Verherrlichung der eigenen politischen Ziele im Vordergrund stehen. Zuweilen werden parteipolitische Äußerungen in ein rassenpolitisches Gewand gekleidet, wie das die NS-Machthaber gegenüber den Juden taten oder wie es bei Rassenstreitigkeiten der Fall sein kann. b) R e l i g i ö s e Ä u ß e r u n g s d e l i k t e . Den politischen Äußerungsdelikten sind religiöse Äußerungsdelikte eng verwandt. Antisemitische Kundgebungen können vorwiegend religiös bedingt sein. Auch wenn dieser Erscheinungsform in Deutschland gegenwärtig keine große Bedeutung mehr zukommt, ist es vielleicht im Hinblick auf andere Länder doch richtig, sie gesondert zu erfassen. c) Ä u ß e r u n g s d e l i k t e a u s p e r s ö n l i c h e n G r ü n d e n . Geben die soeben behandelten Formen der Äußerungsdelikte zumindest vor, allgemeine Interessen im Auge zu haben, so gibt es auch Fälle, in denen unverkennbar persönliche Interessen dominieren. Diese Äußerungsdelikte sind der Sache nach den kriminellen Friedensstörungen vergleichbar. In diese Gruppe kann u. U. natürlich auch die Aufforderung zum Streik gehören. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Hinsichtlich der Kriminalätiologie können und müssen wir uns hier auf wenige Hinweise beschränken. Täter der Äußerungsdelikte sind ganz überwiegend Männer. Der Anteil weiblicher Verurteilter liegt bei den §§ 110, 111 StGB in den letzten 10 Jahren im allgemeinen unter 10%. An den Äußerungsdelikten sind — anders als bei den Massendelikten — jüngere Rechtsbrecher verhältnismäßig selten beteiligt. Vor allem haben wir es mit Tätern zwischen 25 und 50 Jahren zu tun. Ebenso wie früher im Bereiche der Ursachen die Bedeutung des religiösen Bekenntnisses umstritten war, läßt sich auch für die heute wohl maßgebende weltanschauliche Einstellung nichts Genaues sagen. Der Anteil der Vorbestraften schwankt sehr. Sollten jedoch die in den letzten Jahren allerdings geringen Ziffern Verurteilter nicht trügen, so könnte er etwas größer als im Durchschnitt sein. Die Motivation ist auch hier

vielschichtiger als bei den Massendelikten. Vermutlich werden Motive der eirotionalen Gruppe und der Geltungsdrang häufig überwiegen. 4. Tätertypologie Dennoch dürfte der Anteil der Rückfallstäter auch bei den Äußerungsdelikten verhältnismäßig klein sein und jedenfalls 20—25% nicht überschreiten. Vorwiegend handelt es sich dabei um Antisoziale, weil der Asoziale angesichts der Erscheinungsformen kaum eine Rolle spielen dürfte. Gewisse Mitläufer bei den politischen Delikten wird man dem Typ des sozial Hilflosen zuordnen können. Bei der Masse der Durchschnittstäter stoßen wir zwar wiederum auf Entwicklungstäter; doch wird dieser Tätertyp hier nicht so bedeutsam wie bei den Massendelikten sein. B. Verbindungsdelikte Die den Gemeinschaftsfrieden gefährdenden Verbindungsdelikte sind durchweg im 7. Abschnitt des Besonderen Teils geregelt. Zu diesen §§ 127, 128,129 StGB könnte man im weiteren Sinne auch § 49 b StGB zählen, der die Beteiligung an einem Mordkomplott unter Strafe stellt. Schließlich sei noch auf § 46 Bundesverfassungsgerichtsgesetz hingewiesen, der das Fortführen einer für verfassungswidrig erklärten politischen Partei verbietet. Juristisch gesehen kommt es in allen diesen Fällen der Gefährdung des Gemeinschaftsfriedens auf Art bzw. Zweck der Verbindung an. Im Gegensatz zu dem für die Massendelikte wesentlichen Begriff der Zusammenrottung ist die Verbindung auf längere Dauer berechnet. Tatbestandsmäßig handelt im übrigen, wer sich irgendwie an einer solchen Verbindung beteiligt oder sie fördert. Für Rädelsführer und dergl. sieht lediglich § 129 IV StGB schwerere Strafe vor. Die allgemeinste Norm dieser Gruppe ist die in § 128 StGB enthaltene Vorschrift gegen Geheimbündelei. Löst man sich etwas von der historisch bedingten Form, so wird man hierin ganz allgemein das Verbot der Teilnahme an unkontrollierbaren Verbindungen erblicken können, die ihrer Natur nach den Gemeinschaftsfrieden gefährden. Die Verbindung braucht also nicht, wie man es früher forderte, staatsgefährlich oder -feindlich zu sein. Spezieller ist die friedensstörende Verbindung in § 127 StGB beschrieben worden, der bewaffnete Haufen verbietet; dabei mag auch der Wille des Staates zur Neutralität eine Rolle spielen. In anderer Weise hat man bei der Neufassung des bereits 1964 wieder geänderten § 129 StGB die den Gemeinschaftsfrieden gefährdende Verbindung erfaßt, wenn es sich hier um kriminelle, d. h. rechtsfeindliche Vereinigungen handeln muß. Genau genommen verkörpert § 49 b StGB insoweit wiederum einen Spezialfall, weil eine Verbindung

Rechtsfriedensdelikte vorausgesetzt wird, die Mordpläne verfolgt; praktisch h a t das im Hinblick auf die Gesetzeskonkurrenz aber nur als Vorbereitungstat zu den Tötungsdelikten Bedeutung. Dieser Überblick zeigt, daß der für den Gemeinschaftsfrieden gefährliche Charakter dieser Verbindungen gegenwärtig kasuistisch erfaßt wird, was im wesentlichen auf die von aktuellen Bedürfnissen beeinflußte historische Entwicklung zurückzuführen sein wird. Diese Schwierigkeiten h a t offenbar auch der Strafgesetzentwurf, von dem m a n insoweit eine straffere Tatbestandssystematik erwartet hätte, nicht überwinden können. 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Historisch haben Verbindungs- und Äußerungsdelikte dieselbe Wurzel. Besonders die ältesten Tatbestände, die sich gegen Geheimbündelei und gegen bewaffnete Haufen richten, sind ersichtlich dazu bestimmt, Umsturzversuchen vorzubeugen. Jedoch zeigen die §§ 129, 49 b und der durch das Vereinsgesetz vom 1. 6.1964 wieder aufgehobene § 129 a StGB, daß die Entwicklung nicht immer einheitlich verlaufen ist. Griff bei Erlaß des Strafgesetzbuches der § 129 a. F. bereits über diese beschränkte politische Zielsetzung hinaus, indem er von staatsfeindlichen Verbindungen ausging, so h a t die Neufassung vom J a h r e 1951 den § 129 StGB zu einem allgemein gegen kriminelle Gefahrenherde gerichteten Instrument umgestaltet. Dies liegt auf derselben Ebene wie § 49b StGB. Obwohl dieser Tatbestand im Hinblick auf die Ermordung der Reichsminister Erzberger und Rathenau im J a h r e 1922 in das Republikschutzgesetz eingefügt wurde, war er doch allgemeiner gehalten und wurde so als § 49 b im Jahre 1943 in das StGB übernommen. Bei dem ebenfalls im J a h r e 1951 geschaffenen § 129 a StGB hatte man dagegen wiederum mehr auf eine politische Zielsetzung abgestellt. Die Verurteilungen nach den §§ 128,129 (a. F.) StGB halten sich in der Zeit des Kaiserreiches in mäßigen Grenzen; abgesehen von einer Spitze um 1888 herum, wo die Kriminalitätsziffer 0,3 überschreitet, was noch auf die Sozialistengesetze von 1878 zurückzuführen sein dürfte, liegt sie durchweg um 0,2. Bemerkenswert ist jedoch die Entwicklung nach 1918. Zwar fehlen nunmehr Verurteilungen wegen Geheimbündelei (§ 128 StGB); doch wird dafür § 127 StGB, der sich gegen bewaffnete Haufen richtet, ungewöhnlich häufig angewendet. Die Kriminalitätsziffer beträgt 1919 sogar 1,9 und 1920 immer noch über 1, um nach 1923 alsbald wieder auf 0 zu sinken. Vom Jahre 1931 an müssen die Strafgerichte dann allerdings wieder gegen die Beteiligung an bewaffneten Haufen einschreiten; im J a h r e 1932 wird immerhin eine Kriminalitätsziffer 0,24 erreicht. Ganz anders ist die jüngste Entwicklung der Verbin-

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dungsdelikte verlaufen. Die §§ 127,128 StGB sind kaum angewendet worden. Dennoch ist hier im Gegensatz zu den Äußerungsdelikten eine ständige Zunahme zu verzeichnen. Dazu h a t außer der Neufassung des § 129 StGB vor allem wohl der im J a h r e 1951 geschaffene, inzwischen aber wieder aufgehobene § 129 a StGB beigetragen. Auf ihn sind vermutlich die meisten Verurteilungen bei einer allerdings zusammenfassenden Kriminalitätsziffer entfallen, die im J a h r e 1953 sogar 3,5 betrug, sich in den folgenden J a h r e n dann um 0,5 bis 0,2 herum hielt. 1960 wurden nach den §§ 128, 129, 129 a StGB 66 Personen verurteilt. Dies zeigt deutlich, daß die Formen politischen Kampfes sich verändert haben. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie^

Haben wir bei den Äußerungsdelikten nach dem Anlaß typisiert, so erscheint es angesichts der engen Verwandtschaft auch bei den Verbindungsdelikten sinnvoll, in dieser Weise nach den Zielen der Verbindung zu klassifizieren. Allerdings spielen religiöse Verbindungen nach Gewährung der Glaubensfreiheit in Deutschland keine Rolle mehr. a) P o l i t i s c h e V e r b i n d u n g e n . Die weitaus wichtigste Gruppe der Verbindungen, die durch die genannten Strafvorschriften erfaßt werden, sind politischer N a t u r . Dabei macht es nichts aus, ob im -engeren Sinne parteipolitische oder weltanschauliche Gründe eine Rolle spielen. Vorwiegend handelt es sich bei diesen Verbindungen um Untergrundorganisationen im Stile einer f ü n f t e n Kolonne. Dazu gehören natürlich auch verbotene Vereinigungen. Als Beispiele sind für das Kaiserreich linksextreme Organisationen, für die Weimarer Republik u n d die Bundesrepublik kommunistische Vereinigungen zu nennen. Ferner ist jedoch auch auf die Opposition von rechts hinzuweisen, ζ. B. gewisse Freikorps aus der Zeit nach dem ersten Weltkriege u n d die im J a h r e 1952 durch das Bundesverfassungsgericht verbotene Sozialistische Rcichspartei. Daß es insoweit auch eine mehr rassenpolitische Orientierung geben kann, zeigt das Beispiel des Ku Klux Klan in den Vereinigten Staaten. b) K r i m i n e l l e V e r b i n d u n g e n . F ü r kriminelle Verbindungen bietet die Geschichte eine Reihe bekannter Beispiele. Außer an die Räuberbanden aus der Zeit nach dem dreißigjährigen Kriege ist hier beispielsweise an die Rosenkreuzler und an andere Geheimbünde zu denken, in denen Hochstapler wie Cagliostro ein reiches Betätigungsfeld fanden. Nicht hierher gehören die sogen. Ringvereine aus der ersten Hälfte dieses J a h r hunderts ; hier handelte es sich durchweg u m Vorbestraften-Vereine, die nicht der Organisation des Verbrechens dienten, sondern die einen Ersatz f ü r bürgerliches Ansehen bilden sollten. Anders

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Rechtsfriedensdelikte

lag die Sache allerdings bei den Zuhälter-Vereinen, weil hier naturgemäß das kriminelle Treiben organisiert wurde (-> Organisiertes Verbrechertum). Doch auch die Formen der kriminellen Verbindungen sind offenbar andere geworden, weshalb die Ringvereine sich nach dem letzten Kriege nicht beleben ließen. Die Verbindungen haben heute einen mehr zufälligen, individuelleren und anonymeren Charakter, sind etwa ad hoc gebildete Räuber-, Einbrecher- oder Schmugglerbanden; in begrenztem Umfange sind zu ihnen auch Banden Halbstarker und Kinder zu rechncn (-»• Jugendkriminalität). 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Bei den Verbindungsdelikten ist der Anteil weiblicher Verurteilter ebenfalls durchweg geringer als im Durchschnitt. E r lag in den letzten 10 J a h ren zwischen 10 und 20%. Dem Alter nach handelt es sich um typische Erwachsenendelikte. Von 2293 nach den §§ 128, 129, 129 a, 90 a StGB in den J a h r e n 1950—1959 Verurteilten waren nur 14 Jugendliche. Über die soziale Lage dieser Rechtsbrecher läßt sich nach dem vorhandenen Material nichts sagen. Der Anteil der Vorbestraften hält sich — nach der Statistik zu urteilen — mit r u n d einem Drittel im Durchschnitt. Er dürfte bei politischen Verbindungen etwas geringer, bei den kriminellen Vereinigungen jedoch beträchtlich höher sein. In der Motivation wird die Lage sich vermutlich nicht sehr von den Äußerungsdelikten unterscheiden. 4.

Tätertypologie

Auch für den Bereich der Tätertypologie läßt das vorhandene spärliche Material wenig erkennen. Dürfte die Lage im großen u n d ganzen auch dem bei den Äußerungsdelikten Angedeuteten entsprechen, so ist hier doch noch besonders auf die schwierige Problematik der politischen Straftaten hinzuweisen, die zumindest bei denjenigen Tätern, die sich an politischen Verbindungen beteiligen, beachtet werden sollte. Man muß sich u. E . hier — wie auch sonst — vor Verallgemeinerungen hüten, die wesentlich an der Tat orientiert sind. Der so geprägte Begriff des Überzeugungstäters betrifft vermutlich eine kriminologische Rarität. Viel wichtiger wird es f ü r die Praxis sein, Erscheinungen wie politische Mitläufer, Opfer politischen Druckes u n d politisierende Kriminelle mit der kriminologischen Tätertypologie einzufangen. IV. SCHLUSSBETRACHTUNG Die Kriminologie unterstreicht nach allem sehr deutlich die vielschichtige Problematik der Rechtsfriedensdelikte. Auch wenn wir den Staat hier nur als Garanten des Gemeinschaftsfriedens ansehen,

so sind doch Störungen und Gefährdungen dieses Friedens vielfach politischer Natur. Eben deshalb grassieren Massendelikte ebenso wie Äußerungsu n d Verbindungsdelikte gerade in politischen Krisenzeiten. Zumindest insoweit teilen also die Rechtsfriedensdelikte in gewissem Sinne das Schicksal politischer Straftaten. Eben aus diesem Grunde aber können diese Tatbestände, wie insb. die historische Entwicklung zeigt, sehr leicht zu einer Gefahr f ü r die freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und damit gegen die legale Opposition werden. Andererseits ist natürlich uneingeschränkt anzuerkennen, daß die Sicherung des Gemeinschaftsfriedens wichtiger ist als manche Strafvorschriften zum Schutze des Einzelnen. Kriminologisch wird man sich bei den Massendelikten u n d den sonst auf Massenwirkung berechneten Rechtsfriedensdelikten noch sehr viel eingehender mit den Problemen der Massen- u n d Sozialpsychologie zu befassen haben, die gerade für die moderne Gesellschaft lebenswichtig sind. Monographien T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, Bin Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Berlin und Stuttgart 1926. E. L e n n h o f f : Politische Geheimbünde, 1. Bd., Zürich, Leipzig und Wien 1931. K. S. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität, Tübingen 1949. A. G e h l e n , H. S c h e l s k y : Soziologie, Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf und Köln 1955. C. B o n d y , J. B r a d e n , R. Cohen, K. E y f e r t h : Jugendliche stören die Ordnung, Bericht und Stellungnahme zu den ,,Halbstarkenkrawallen", Bd. 1 der Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge, München 1957. G. Le B o n : Psychologie der Massen, mit einer Einführung von H. Dingeldey, Stuttgart 1957. H. S c h c l s k y : Die skeptische Generation, Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf und Köln 1957. G. K a i s e r : Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogen. „Halbstarken", Heidelberg 1959. O. W i l f e r t : Jugend-„Gangs". Entstehung, Struktur und Behandlungsmöglichkeiten der Komplicengemeinschaft Jugendlicher, KrimAbh. NF H. 4, Wien 1959. R. J o r a y : Bandenbildung und Bandendelikte, Psych. Praxis H. 28, Basel und New York 1961. S. S t a u b : Ursachen und Erscheinungsformen bei der Bildung jugendlicher Banden, Zürich 1965. H. J ä g e r : Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität. Ölten und Freiburg i. Br. 1967. Z e i t s c h r i f t e n - und S a m m e l w e r k a u f s ä t z e M. H a g e m a n n : Organisiertes Verbrechertum, in: HdK. 1. Aufl. II. 1936, S. 901 ff. H o b e r g : Ringvereine — einst und jetzt, in: Diebstahl, Einbruch und Raub, hrsg. vom Bundeskriminalamt, Wiesbaden 1958, S. 143ff. H. J ä g e r : Betrachtungen zum Eichmann-Prozeß, MschrKrim 1962, S. 73ff. Materialien Die amtliche Kriminalstatistik, herausgegeben bis 1936 vom Statistischen Reichsamt in Berlin und seit 1950 vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden; die Polizeiliche Kriminalstatistik, seit 1953 herausgegeben vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden. FRIEDRICH GEERDS

Re chtspf lege delikte

RECHTSPFLEGEDELIKTE I. EINLEITUNG Rechtspflegedelikte sind Straftaten, die sich gegen das ungestörte Funktionieren der rechtsprechenden Gewalt richten. Zählen die Rechtspflegedelikte demnach zu den Straftaten gegen die Allgemeinheit, so sind sie in diesem Rahmen den Straftaten gegen den Staat ( S t a a t s d e l i k t e ) zuzuordnen, weil sie — ohne den Bestand des Staates als solchen zu beeinträchtigen — gegen Funktionen einer bestimmten Staatsgewalt gerichtet sind. Die Rechtspflegedelikte sind also einmal von den Straftaten gegen die Legislative — ζ. B. den Delikten gegen die ordnungsmäßige demokratische Willensbildung—und zum anderen von den Straftaten gegen die Staatsverwaltung, die Exekutive, zu unterscheiden, die beispielsweise im 6. Abschnitt des Strafgesetzbuches beim Widerstand gegen die Staatsgewalt, aber auch im 28. Abschnitt bei den Amtsdelikten (-> Amtsdelikte) geregelt sind. Am einfachsten läßt diese Abgrenzung sich am Beispiel der Korruption demonstrieren. Ordnet man die §§ 331—333 StGB den Delikten gegen die Staatsverwaltung zu, so verkörpert die in § 108 b StGB zumindest teilweise erfaßte Wahlbestechung eine Straftat gegen die Legislative. Nur die nach § 334 StGB strafbaren Fälle der Bestechung und Bestechlichkeit von Richtern verkörpern Rechtspflegedelikte. Das geltende Strafgesetzbuch h a t — wie schon daraus hervorgeht — den so zu verstehenden Begriff des Rechtspflegedelikts systematisch nicht berücksichtigt. Die einschlägigen Tatbestände finden sich vielmehr in den verschiedenartigsten Abschnitten und dabei oft in einem systematisch seltsam anmutenden Zusammenhang. Zum Teil ist das erklärlich, weil namentlich die Abgrenzung der Rechtspflegedelikte von den Delikten gegen die Staatsverwaltung, ζ. B. dem Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 113ff. StGB) oder den in den §§ 133ff. StGB verbotenen Verletzungen staatlicher Rechte, nicht einfach ist; denn zumindest phänomenologisch werden von diesen Tatbeständen vielfach Verhaltensweisen erfaßt, die sich im Grunde gegen die Rechtspflege richten, weshalb wir sie auch in diesem Zusammenhange berücksichtigen wollen. Den Prototyp der Rechtspflegedelikte stellen wohl die im 9. Abschnitt in den §§ 153ff. StGB geregelten Aussagedelikte dar, weil hier alle Sparten der Rechtspflege vor Gefährdung durch falsche Aussagen geschützt werden sollen. Eine ganze Reihe von Tatbeständen bezweckt jedoch speziell einen Schutz der Strafrechtspflege vor Störung bzw. Gefährdung. Hierher gehören einmal die im 10. Abschnitt in den §§ 164,165 StGB geregelte falsche Anschuldigung oder Falschverdächtigung, die im 7. Abschnitt

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bei den Straftaten gegen die öffentliche Ordnung in § 145 d StGB geregelte Vortäuschung einer S t r a f t a t u n d die systematisch gegenwärtig unzutreffend bei den Vermögensdelikten zusammen mit sachlicher Begünstigung und Hehlerei im 21. Abschnitt in den §§ 257, 258 StGB geregelte Strafvereitelung bzw. persönliche Begünstigung. I m weiteren Sinne gehören zur Strafvereitelung außer dem unechten Amtsverbrechen im Sinne von § 346 StGB auch § 257 a StGB sowie die §§ 145 c, 330 b, die das Gesetz als S t r a f t a t gegen die öffentliche Ordnung bzw. gemeingefährliches Delikt klassifiziert h a t ; diese Vorschriften sind nur durch den Dualismus von Strafe und Maßregel bedingt. Als Strafrechtspflegedelikte sind ferner die beim Widerstand gegen die Staatsgewalt im 6. Abschnitt in den §§ 120—122 b StGB geregelten Fälle der Gefangenenbefreiung und -meuterei zu werten, zu denen der Sache nach auch § 347 StGB gehört. Zumindest im weiteren Sinne sind hierher auch die §§ 138, 139 StGB zu rechnen, die das Unterlassen einer Verbrechensanzeige betreffen. Schließlich gibt es noch eine Reihe von Sonderverbrechen, die sich gegen die Strafrechtspflege richten. Dabei denken wir weniger an die ebenfalls im 28. Abschnitt in den §§ 346, 347 StGB geregelten, bereits erwähnten unechten Amtsverbrechen als vielmehr an Aussageerpressung (§ 343 StGB), die Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) und die unzulässige Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel (§ 345 StGB), d. h. echte Amtsverbrechen. Neben diesen beiden großen Gruppen von Rechtspflegedelikten sollen im folgenden Überblick noch einige Straftatbestände berücksichtigt werden, die entweder als solche oder doch in ihrer praktischen Anwendung die Rechtspflege schützen. Echte Rechtspflegedelikte sind die heute ebenfalls bei den Amtsdelikten im 28. Abschnitt behandelten Fälle des Parteiverrats (§ 356 StGB), der Richterkorruption (§ 334 StGB) und der Rechtsbeugung (§ 336 StGB). I m geschilderten weiteren Sinne sollen auch gewisse Verletzungen staatlicher Rechte (§§ 133, 137, 136 StGB) u n d der Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 113 ff. StGB) berücksichtigt werden. Daß es sich bei den Rechtspflegedelikten u m eine strafrechtlich schwierige Problematik handelt, folgt schon daraus, daß die zur Entscheidung berufene Rechtspflege hier gewissermaßen in eigener Sache betroffen ist. In einer ganzen Reihe von Tatbeständen spielen überdies schon im materiellen Recht Grundsätze des Verfahrensrechts eine erhebliche Rolle. Kriminologisch ist die Situation bei den einzelnen Rechtspflegedelikten recht unterschiedlich. Doch k a n n m a n wohl sagen, daß sie überwiegend kriminologisch noch nicht in etwa erforscht sind, weshalb auch wir uns ζ. T. auf Hinweise u n d Vermutungen beschränken müssen.

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Rechtspflegedelikte IL AUSSAGEDELIKTE

Eine typische und praktisch besonders wichtige Gruppe von Straftaten gegen die Rechtspflege stellen die Aussagedelikte dar. A. Die gesetzliche Regelung Die im 9. Abschnitt des Besonderen Teils in den §§ 153ff. StGB enthaltene Regelung ist nicht ganz einfach zu überblicken. Obwohl Einzelfragen umstritten sind, darf man heute doch wohl falsche uneidliche Aussage, Falscheid und falsche Versicherung an Eides Statt als die Grundformen der Aussagedelikte betrachten. Auf sie beziehen sich eine Reihe von Tatbeständen, die nur besondere Formen der Beteiligung erfassen, und einige Vorschriften, die die Rechtsfolgen bzw. die Strafzumessung betreffen. Der Kern aller Aussagedelikte ist eine falsche Aussage, wobei die genannten Grundtypen nur jeweils abweichende Formen verkörpern. Aussage ist insoweit jeder Vorgang, der die Benutzung eines persönlichen Beweismittels zum Zwecke einer Beweisaufnahme darstellt. Der Begriff umfaßt also außer dem Zeugen, der über eigene Wahrnehmungen berichtet, und dem Sachverständigen, der über Erfahrungswissen und die auf Grund desselben getätigten Schlüsse berichtet, auch andere zum Beweis geeignete Erklärungen von Personen über Vorgänge, die außerhalb dieser Erklärung liegen. Üblicherweise werden derartige Aussagen im Rahmen einer Vernehmung gemacht, worunter demnach jedes Verhalten zu verstehen ist, das zur Ermittlung eines Lebenssachverhalts mit Hilfe von Aussagen dient. Allerdings wird häufig übersehen, daß die strafrechtlich relevante Aussage ihrem Umfange nach durch den vom Vernehmenden keineswegs frei zu bestimmenden prozessualen Aussagegegenstand begrenzt wird. Umstritten ist in diesem Zusammenhange vor allem, unter welchen Voraussetzungen eine Aussage als falsch anzusehen ist. Bei diesem für die Aussagedelikte zentralen Falschheitsbegriff befürwortet die heute eindeutig herrschende Meinung einen objektiven Standpunkt. Falsch ist nach ihr jede Aussage, deren Erklärungsinhalt objektiv betrachtet nicht mit dem Gegenstand der Aussage übereinstimmt; auf die Vorstellung des Aussagenden käme es für die Tatbestandsmäßigkeit demnach nicht an. Dagegen hält eine subjektive Theorie einen Vergleich der Erklärung mit der Vorstellung des Aussagenden für maßgebend, wobei üblicherweise auf eine Divergenz zwischen Erklärung und Vorstellung im Zeitpunkt der Aussage abgestellt wird. Falsch wäre eine Aussage immer und auch nur dann, wenn der Aussagende sich den Gegenstand seiner Aussage anders vorstellt, als er dies in der Aussage zum Ausdruck bringt. Würde diese Ansicht eine objektiv unrichtige Aussage dann nicht als falsch werten,

wenn der Täter von ihrer Richtigkeit überzeugt ist, so müßte sie andererseits Falschheit bejahen, wenn der Aussagende etwas Richtiges erklärt, das er jedoch irrig für falsch hält. Eine dritte Gruppe von Ansichten will beim Falschheitsbegriff — in allerdings unterschiedlicher Weise — darauf abstellen, ob der Aussagende seine prozessualen Pflichten verletzt. Bei dieser sogen. Pflichttheorie der Aussage muß man also die unterschiedlichen prozessualen Pflichten beispielsweise für Zeugen und Sachverständige berücksichtigen. Die Ergebnisse würden einmal in Richtung der subjektiven Theorie liegen, weil man nur insoweit von einer falschen Aussage sprechen könnte, als der Gegenstand der Aussage überhaupt richtig wahrgenommen worden ist; dabei sollte man allerdings nicht auf den Zeitpunkt der Aussage, sondern auf den der Wahrnehmung abstellen. Das hätte die Konsequenz, daß Wahrnehmungsfehler nicht zu Lasten des Aussagenden gehen würden, sofern er nicht zu Unrecht gerade eine einwandfreie Wahrnehmung behauptet. Dagegen können Erinnerungs- und Wiedergabefehler je nach der prozessualen Lage zur Annahme einer falschen Aussage berechtigen. Dieser im Grundsatz allerdings einschränkende Standpunkt beruht auf der Erwägung, daß man mit dem strafrechtlichen Gebot vom Menschen nichts Unmögliches verlangen kann. Andererseits ist diese Lehre — im Gegensatz zur subjektiven Theorie — aber auch in der Lage, gewichtigen Argumenten der objektiven Lehre Rechnung zu tragen. Denn ist den Aussagedelikten eine Gefährdung der Rechtspflege eigentümlich, so wird man eine solche verneinen müssen, wenn der Täter, obwohl er lügen will, tatsächlich eine objektiv richtige Aussage macht. Verneint man hier eine falsche Aussage, so ist es selbstverständlich möglich, einen strafbaren untauglichen Versuch zu bejahen. — Diese unterschiedlichen Ansichten sind ersichtlich nicht nur für die Anwendung der §§ 153ff. StGB bedeutsam, sondern zeigen auch, wie wichtig gerade hier kriminologische und kriminalistische Erkenntnisse sind. Der Bereich des Strafwürdigen wird im übrigen durch die §§ 153, 154,163,156 StGB im Hinblick auf die Form abgesteckt. Beschränkt § 153 StGB sich bei der uneidlichen Aussage als Sonderverbrechen auf Zeugen und Sachverständige, so ist das nach allem so zu verstehen, daß im übrigen falsche Aussagen nicht als strafwürdig angesehen werden sollen, was namentlich für den Angeklagten im Strafprozeß und für die Partei bzw. den Vollstreckungsschuldner im Zivilprozeß gilt. Daß die uneidliche Aussage vor Gericht oder einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle erfolgen muß, ist letztlich auf die prozessuale Form der Aussage zurückzuführen; die Aussage ist hier also enger im prozessualen Sinne der Zeugen- oder Sachverständigenaussage zu verstehen. Wer die un-

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Rechtspflegedelikte eidliche Aussage so auffaßt, wird trotz des engeren Anwendungsbereiches den § 153 StGB mit der herrschenden Meinung als Grundtatbestand des in § 154 StGB geregelten Meineides ansehen können. Dabei muß streng genommen § 154 StGB zunächst einmal mit § 163 StGB unter dem Begriff des Falscheides zusammengefaßt werden, weil beide Vorschriften sich nur hinsichtlich der Schuldform unterscheiden. Ist insoweit beim Meineid vorsätzliches Handeln erforderlich, genügt bei § 163 StGB Fahrlässigkeit; im übrigen aber ist die Tatbestandsbeschreibung dieselbe. Vorausgesetzt wird, was § 154 StGB mit dem Begriff •des „falschen Schwörens" allerdings etwas unglücklich beschreibt, daß der Täter eine falsche Aussage mit dem Eide bekräftigt. Obwohl man in früheren Zeiten den sakralen Charakter des Eides betont hat, ist der Eid heute ungeachtet einiger prozessualer Unebenheiten nur noch als eine besonders feierliche Form der Aussage anzusehen. Wird formal der Täterkreis im Gegensatz zu § 153 StGB bei den §§ 154,163 StGB nicht beschränkt, so wirkt materiell doch diese besonders feierliche Form begrenzend; denn Täter des Falscheides kann nur sein, wer prozessual in dieser feierlichen Form aussagen darf, wobei es jedoch nicht unbedingt darauf ankommt, ob die Vereidigung prozessual ordnungsgemäß ist. Hier aber ergibt das Prozeßrecht, daß außer Zeugen und Sachverständigen im Zivilprozeß auch die Partei und der Vollstreckungsschuldner in Betracht kommen, nicht jedoch — im Gegensatz zum angloamerikanischen Recht — der Angeklagte im Strafprozeß. Sowohl § 153 StGB als auch die §§ 154, 163 StGB hängen also mit der Form vom Prozeßrecht ab. Die in § 156 StGB unter Strafe gestellte falsche Versicherung an Eides Statt ist im Verhältnis zur falschen Aussage und zum Falscheid nun allerdings weder ein majus noch ein minus, sondern ein aliud. Auch hier wird der Täterkreis sachlich durch die Form der falschen Aussage begrenzt, die hier aber in anderer Weise beschrieben ist, wenn von einer Versicherung an Eides Statt vor einer zuständigen Behörde gesprochen wird. Denn das Prozeßrecht zeigt, daß die Versicherung an Eides Statt nicht als Beweismittel im Sinne des Strengbeweises, sondern als Mittel der Glaubhaftmachung beim Freibeweis verwendet wird. Gerade deshalb wird es häufig im Zwangsvollstreckungsverfahren angewendet, und zwar gerade dort, wo eine Aussage im engeren Sinne oder ein Eid nicht in Betracht kommen. Ungeachtet der angesichts der Zuständigkeit zur Abnahme eidesstattlicher Versicherungen bestehenden Unsicherheiten läßt sich also sagen, daß es sich auch hier nur um eine besondere Form einer Aussage i. w. S. handelt. Da die genannten Tatbestände eigenhändige Verwirklichung voraussetzen, d. h. eigenhändige Delikte beinhalten, erhebt sich die Frage, wie be-

stimmte, strafwürdig erscheinende Beteiligungsformen zu erfassen sind. Da bei eigenhändigen Delikten aus tatbestandlichen Gründen die Konstruktion der mittelbaren Täterschaft, der fremdhändigen Begehung nicht möglich ist, bietet das Gesetz hier mit dem in § 160 StGB unter Strafe gestellten Verleiten zu einer falschen Aussage eine Handhabe. Kurz gesagt ist nach dieser Vorschrift strafbar, wer einen anderen dazu veranlaßt oder zu verleiten sucht, „gutgläubig" eine falsche uneidliche Aussage, eine falsche Versicherung an Eides Statt zu machen oder einen Falscheid zu leisten. Anders liegt die Problematik bei der erfolglosen Anstiftung eines „Bösgläubigen" zu einer falschen Aussage; während ein solches Verhalten im Hinblick auf einen Meineid bereits nach § 49 a StGB strafbar ist, dehnt hier § 159 StGB die Strafbarkeit auf die in den §§ 153, 156 StGB genannten Vergehen aus. § 161 StGB sieht ergänzend zu den Strafdrohungen als besondere Rechtsfolge die Eidesunfähigkeit und den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte vor; bei der Strafzumessung sind die §§ 157, 158, 163 I I StGB zu beachten. Nach § 157 StGB kann das Gericht in Fällen des sogen. Eidesnotstands nach pflichtgemäßem Ermessen die Strafe mildern oder von Strafe absehen, während nach den §§ 158, 163 II StGB dieselben Folgen in Fällen tätiger Reue eintreten können, wenn die falsche Aussage rechtzeitig berichtigt wird. Nur am Rande sei erwähnt, daß diese Aussagedelikte keineswegs die bei Aussagen möglichen kriminellen Verhaltensweisen abschließend regeln. Selbstverständlich können falsche oder als solche nicht strafbare Aussagen unter einem anderen Gesichtspunkt zur Strafbarkeit führen. Hier sei nur beispielsweise auf eine falsche Anschuldigung, die Ehrverletzungsdelikte und den Betrug hingewiesen, der in diesem Zusammenhange namentlich in Form des sogen. Prozeßbetruges bedeutsam ist ( B e t r u g ) . Wir müssen uns also vor dem Kurzschluß hüten, daß eine Partei bei einer uneidlichen Aussage im Zivilprozeß oder der Angeklagte im Strafprozeß ungestraft lügen dürfen. Mögen diese Verfahrensbeteiligten auch die Freiheit zur Aussage haben, so sind sie prozessual, sofern sie aussagen, doch verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Auch wenn das Strafgesetz dem widersprechende Verhaltensweisen nicht als Aussagedelikte erfaßt, bietet es doch ersichtlich Handhaben, um Lügen im Prozeß unter einem anderen Gesichtspunkt strafrechtlich zu ahnden. B. Kriminologie Beschränken wir uns hier auf die Kriminologie i. e. S., lassen wir also die Kriminalpädagogik außer acht, so erscheint es uns auch bei den Aussagedelikten zweckmäßig, vier Fragenkreise zu unterscheiden.

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Rechtspflegedelikte 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Die Aussagedelikte verkörpern Verhaltensweisen, die rechtlich erfaßt werden, sobald die Rechtspflege sich der Aussage eines Menschen als Beweismittel bedient. Im römischen Recht fielen sie unter den weiten Begriff des falsum und wurden u. a. nach der lex Cornelia de falsis geahndet. Diese Rechtsvorstellung übernahm das deutsche gemeine Recht in der Rezeption. Das falsum oder der Falsch umfaßte hierzulande außer den Aussagedelikten auch Urkundenfälschung, Münzfälschung, Warenfälschung, Betrug und dergl. Erst bei der Zertrümmerung dieses MonstreBegriffes im 18. und 19. Jahrhundert erlangte die Deliktsgruppe ihre Selbständigkeit. Betrachten wir die Aussagedelikte an Hand der Statistik, so müssen wir vor allem die Gesetzesänderung vom Jahre 1943 bedenken, die auch die falsche uneidliche Aussage unter Strafe stellte. In der Zeit des Kaiserreiches nahm die Meineidskriminalität ständig ab; die Kriminalitätsziffer ( S t a t i s t i k und Kriminalität) sank von 3,2 im Jahre 1882 auf 1,2 im Jahre 1913. Obwohl die eidesstattliche Versicherung sich angesichts zusammenfassender Zahlen nicht ganz genau verfolgen läßt, ist hier wohl mit einer Zunahme zu rechnen; dennoch erreichte die Kriminalitätsziffer im Jahre 1913 nicht einmal 0,2. Nach Abnehmen der Aussagekriminalität während des ersten Weltkrieges nahm die Zahl der Verurteilungen dann vom Jahre 1923 an (Kriminalitätsziffer 0,8) sehr stark zu, um beim Meineid bereits 1924 die Kriminalitätsziffer 2 und 1927 mit 2,6 einen Höchststand zu erreichen. Ähnlich war es bei der falschen Versicherung an Eides Statt, wo jedoch eine ständige Zunahme zu verzeichnen war, während die Meineidskriminalität in den Jahren 1929—1931 zunächst etwas zurückging; die Kriminalitätsziffern betrugen für den Meineid im Jahre 1934 2,9 und für die falsche Versicherung an Eides Statt im Jahre 1933 0,7. Auch in der Bundesrepublik ist seit 1950 eine ständige Zunahme der Aussagedelikte zu verzeichnen. Zwar ist dies beim Meineid nicht so deutlich, wo für das Jahr 1950 eine Kriminalitätsziffer von 1,8 und für das Jahr 1958 eine solche von 2,1 zu verzeichnen ist. Sehr viel augenfälliger ist das jedoch bei dem neuen Straftatbestand der falschen uneidlichen Aussage. Betrug die Kriminalitätsziffer im Jahre 1950 noch 1,2, so wird 1958 bereits 2,9 erreicht. Der Tatbestand hat also nicht der „Meineidsseuche" entgegengewirkt, sondern die Aussagekriminalität um mehr als das Doppelte erhöht. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der falschen Versicherung an Eides Statt, wo zwar die Maximalwerte in den Jahren 1951—1953 liegen, die Kriminalitätsziffer sich aber auch in den folgenden Jahren um 1 bewegt, was verglichen mit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg das Zehn- bis

Fünffache und mit den zwanziger Jahren mehr als das Doppelte bedeutet. Diese Zunahme der Aussagekriminalität ist wohl nicht so sehr auf die zuweilen zitierte geringere Achtung vor dem Eide zurückzuführen als vielmehr darauf, daß die deutschen Gerichte und Behörden sich dieser prozessualen Hilfsmittel sehr viel häufiger bedienen, als das in anderen Ländern der Fall ist. Was die Entwicklung selbst anlangt, so ist sie ersichtlich einmal von der jeweiligen Fassung der Verfahrens Vorschriften und zum anderen von der Zahl der Verfahren abhängig, die hinsichtlich der Kriminalitätsspitzen nur mit Verzögerung in der Statistik erscheinen; das zeigt sich sowohl nach dem ersten Weltkrieg als auch in der Weltwirtschaftskrise. Für die jüngste Entwicklung ist vor allem die durch die Änderung des Gesetzes bedingte Schwerpunktsverlagerung auf die falsche uneidliche Aussage bemerkenswert, die letztlich aber eine beträchtliche Ausweitung der Aussagekriminalität bewirkt hat. Diese Besorgnis erweckende Tendenz zur weiteren Ausdehnung hängt vermutlich mit dem Ausbau der Gerichtsbarkeit und der Erweiterung ihres Zuständigkeitsbereiches zusammen; zumindest bei § 156 StGB dürfte auch das für den Wohlfahrtsstaat typische Wachsen der Bürokratie bedeutsam sein. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Aufgabe der Kriminalphänomenologie ist es, die tatsächlichen Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens nach phänomenologischen Gesichtspunkten typisierend zu erfassen und so systematisch in den Griff zu bekommen, um uns die unterschiedliche Funktion der Tattypen in kriminologisch aufschlußreicher Weise vor Augen zu führen. — Tatort und Tatzeit sind bei den Aussagedelikten im wesentlichen von Gerichtsverfahren bzw. Dienststunden der Behörden abhängig und deshalb wenig aufschlußreich. Eid, uneidliche Aussage und eidesstattliche Versicherung sind — wie gesagt — prozessuale Formen. Kriminologisch aufschlußreich ist u. E. der Hintergrund der falschen Aussage, weshalb wir an Hand dieser typisieren wollen. a) F a l s c h a u s s a g e n m i t s t r a f r e c h t l i c h e r K o n s e q u e n z . Ein beträchtlicher Teil von Falschaussagen — nach einer Kieler Einzeluntersuchung 16% (auf sie beziehen sich auch die folgenden Angaben in den Abschnitten 2 und 3) — wird in Strafprozessen begangen, und zwar insb. im Privatklageverfahren. Überwiegend handelt es sich hier um uneidliche Aussagen, die entweder von einem dem Angeklagten feindlichen oder aber ihm freundlichen Zeugen gemacht werden. b) F a l s c h a u s s a g e n m i t v e r m ö g e n s r e c h t l i c h e r K o n s e q u e n z . In der absoluten Mehrzahl der Fälle (71%) handelt es sich jedoch um Ver-

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Rechtspflegedelikte fahren, die vermögensrechtliche Konsequenzen haben. Dabei ist außer an die allgemeinen Forderungsprozesse (12%) vor allem an Unterhaltsprozesse (29%) zu denken. Auch Vollstreckungsverfahren (etwa 23%) spielen eine große Rolle. Verhältnismäßig selten werden Falschaussagen im Armenrechtsverfahren, Versorgungsverfahren und Erbscheinerteilungsverfahren begangen. c) F a l s c h a u s s a g e n m i t p e r s o n e n r e c h t l i c h e r K o n s e q u e n z . Eine weitere, praktisch bedeutsame Erscheinungsform verkörpern die Falschaussagen mit personenrechtlicher Konsequenz (10%). An der Spitze stehen hier Ehescheidungsverfahren (5,8%), neben denen die Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes (1,7%) und standesamtliche Verfahren (2,5%) schon sehr zurücktreten. d) F a l s c h a u s s a g e n m i t K o n s e q u e n z e n für Ausbildungs- und berufsständische V e r f a h r e n . Zu dieser zahlenmäßig relativ seltenen Erscheinungsform (2—3%) gehören falsche Versicherungen bei Examensarbeiten, Dissertationen usw. Ferner ist hier an Falschaussagen in Ehrengerichts- und Disziplinarverfahren zu denken. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Die Ursachen der Aussagekriminalität wollen wir unabhängig von der auch heute noch verbreiteten Anlage-Umwelt-Formel darstellen, die den einzelnen kriminogenen Faktor simplifizierend unter einem einzigen Gesichtspunkt erfaßt und nicht dem Umstände Rechnung zu tragen vermag, daß der Mensch Träger eines im Einzelfalle mehr oder weniger bedeutsamen freien Willens ist. Dem G e s c h l e c h t nach ist der Anteil weiblicher Täter bei den Aussagedelikten beträchtlich größer als im Durchschnitt. Von früher etwa 30% ist er seit 1950 auf etwa 35—55% gestiegen. Es handelt sich — namentlich bei der falschen uneidlichen Aussage und beim Falscheid — um Straftaten, die man bereits als typische Frauendelikte ansprechen kann, was angesichts der besonderen Erscheinungsformen, wenn wir an Unterhalts- und Ehescheidungsprozesse denken, nicht verwundern sollte. Aber auch sonst ist die Situation der Frau vielfach der für die Männer vergleichbar. Auch hinsichtlich des A l t e r s weicht die Aussagekriminalität etwas vom gewohnten Bild ab. Werden bei § 153 StGB noch etwa 55—60% aller Vergehen von Tätern unter 80 Jahren verübt, so zeigt sich beim Meineid das umgekehrte Verhältnis. Ist das eine auf den großen Anteil junger Zeugen bei Strafverfahren, Vaterschaftsprozessen und dergl. zurückzuführen, so ist die andere Lage beim Meineid verständlich, wenn wir an die Prozeßpartei sowie vor allem an Vollstreckungs- und Offenbarungseidsschuldner denken. Das dürfte

auch erklären, warum bei § 156 StGB sogar 60—70% aller falschen Versicherungen von Tätern über 30 Jahren begangen werden. Hier bewirken u. a. auch die Versorgungsverfahren, daß wir von einem typischen Erwachsenendelikt sprechen können. Für I n t e l l i g e n z u n d E r z i e h u n g der Täter ist aufschlußreich, daß die nach diesen Vorschriften in den Jahren nach 1950 verurteilten jugendlichen und heranwachsenden Rechtsbrecher fast ausnahmslos Volksschüler waren. Selbstverständlich aber wird die Dunkelziffer bei intelligenteren Tätern größer sein. — Die Zusammenhänge der Aussagekriminalität mit der Religion, die man früher zu klären suchte, lassen sich nicht eindeutig beurteilen, obwohl man festgestellt hat, daß die katholische Bevölkerung etwas stärker als die protestantische belastet ist. Daß bezüglich der s o z i a l e n L a g e der Schwerpunkt der Aussagekriminalität bei den Verheirateten liegt, entspricht der Altersschichtung. Überwiegen dagegen bei weiblichen, im allgemeinen jüngeren Tätern die Ledigen, so ergibt sich das wohl aus den Unterhaltsprozessen unehelicher Mütter. Über Beruf und wirtschaftliche Lage läßt sich bisher nichts Besonderes sagen. Einzeluntersuchungen haben ergeben, daß die Vermögenslage in aller Regel nicht sehr günstig ist. Derfürdas s o z i a l e V e r h a l t e n aufschlußreiche Anteil der Vorbestraften, der in den letzten Jahren zugenommen hat, liegt etwas über dem Durchschnitt. Doch zeigt die Entwicklung, daß dieses für normale Zeiten typisch ist, während der Anteil in Krisenzeiten etwas tiefer zu liegen pflegt. Der Art nach sind die früheren Straftaten überwiegend einfache oder schwere Diebstähle (43,5%), die ja auch die höchste Verurteilungsquote nach den Körperverletzungen aufweisen. Bezeichnender ist u. E. die starke Belastung mit Betrug (25,5%). In der M o t i v a t i o n überwiegen wohl — namentlich im Strafprozeß — Motive der emotionalen Gruppe, wobei einmal aus Verbundenheit oder Freundschaft und zum anderen aus Haß, Rachsucht usw. gehandelt wird. Bei einer Vielzahl von Fällen — vor allem bei Falschaussagen mit vermögensrechtlicher Konsequenz — aber handelt es sich vorwiegend um wirtschaftliche Motive. Einmal finden wir hier die Gewinnsucht in ihren vielfältigen Formen, zum anderen echte wirtschaftliche Not. Bei personenrechtlichen Verfahren jedoch dürfte die subjektive Not überwiegen; bei Zeugen wird — wie im Strafprozeß — philanthropischen Motiven, ζ. B. Handeln aus Mitleid oder Freundschaft, große Bedeutung zukommen. 4.

Tätertypologie

Ist es Ziel der Tätertypologie, kriminologisch aufschlußreiche Persönlichkeitstypen zu erarbei-

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Rechtspflegedelikte

ten, so können Typologien anderer Disziplinen hier als solche nicht Anerkennung beanspruchen. Aber auch die üblichen kriminologischen Ansichten, die sich methodologisch bedenklich an der Tat bzw. an den Erkenntnissen der Kriminalätiologie orientieren, vermögen u. E. nicht zu überzeugen. Vielmehr wollen wir nach dem Lebenswandel und insb. dem kriminellen Verhalten zwischen Ilückfalls- und Durchschnittstätern unterscheiden. Zur Gruppe der R ü c k f a l l s t ä t e r , die sich wiederholt gemeinschaftswidrig verhalten haben, gehören bei den Aussagedelikten vermutlich nur 20% aller Rechtsbrecher. Vor allem werden wir es dabei mit dem Typ des Antisozialen und des sozial Hilflosen zu tun haben. Bei dem aktiv gemeinschaftsfeindlichen Antisozialen ist an die typischen Ganoven in Straf- und Unterhaltsprozessen zu denken. Der sozial hilflose Rückfallstäter, der durch ein schweres Schicksal aus der Lebensbahn geworfen ist, kommt u. a. in Versorgungsverfahren vor. Der mehr lästige als gefährliche, passive Asoziale hat nur verhältnismäßig selten Gelegenheit, falsch auszusagen. Die D u r c h s c h n i t t s t ä t e r , die sich außer durch den konkreten Gesetzesverstoß in nichts vom Durchschnitt der Bevölkerung unterscheiden, stellen mit schätzungsweise rund 80% die Mehrzahl der Täter. Das ist verständlich, wenn wir bedenken, daß häufig Verwandte, Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen so oder so in Gerichtsverfahren hereingezogen werden, wo es dann aus diesem oder jenem Grunde zu Falschaussagen kommt. Der Typ des Entwicklungstäters, dessen Tat durch die in der Entwicklung begriffene Persönlichkeit geprägt ist, kommt bei den Aussagedelikten — wie schon die Altersschichtung zeigt — verhältnismäßig selten vor. Wichtiger ist der Typ des Konfliktstäters, der nur unter dem Zwang einer Konfliktssituation zum kriminellen Mittel greift; derartige Gewissenskonflikte sind naturgemäß bei Verwandten, Geliebten oder Freunden häufig. Dennoch werden wir es in der Mehrzahl aller Fälle auch bei den Aussagedelikten mit eigentlichen Durchschnittstätern zu tun haben, deren Persönlichkeit an sich nichts Besonderes zeigt. C. Kriminalistik Sowohl die Ausführungen zur gesetzlichen Regelung als auch die zur Kriminologie dürften gezeigt haben, daß gerade im Bereiche der Aussagedelikte der Kriminalistik besondere Bedeutung zukommt, wenn wir darunter die Lehre von der unmittelbaren Bekämpfung der Kriminalität in der Lebenswirklichkeit durch die Strafverfolgungsorgane verstehen. Insb. die Kriminaltaktik, deren Aufgabe als Zweig der Kriminalistik es ist, die taktisch richtige, d. h. technisch, psycho-

logisch und ökonomisch zweckmäßige Anwendung der vorhandenen Hilfsmittel zur Aufdeckung und Verhinderung von Straftaten zu erforschen, befaßt sich u. a. im Rahmen des persönlichen Beweises mit der Aussage, die im Mittelpunkt der Vernehmung als einer kriminalistischen Leistung steht. Denn über Vernehmungstechnik und -taktik läßt sich kaum etwas sagen, wenn man nicht mit der Psychologie der Aussage (-*• Forensische Psychologie) vertraut ist, die demnach auch kriminologisch und strafrechtlich bedeutsam ist. Deshalb muß auch in diesem Zusammenhange zumindest in aller Kürze auf die diesbezüglichen Erkenntnisse der Kriminalistik eingegangen werden. Besonders wichtig erscheint es uns bei der P s y c h o l o g i e der A u s s a g e , was schon beim Streit um den Falschheitsbegriff offenbar wurde, die Beziehungen der Aussageperson zur Lebenswirklichkeit zu klären. Hierbei unterscheidet man drei Stadien, die zugleich drei Arten von Fehlerquellen der Aussage deutlich werden lassen. Schon bei der W a h r n e h m u n g , d. h. der Aufnahme der Erlebnisinhalte durch die Aussageperson, sind mancherlei Unsicherheitsfaktoren zu beachten, die zu Wahrnehmungsfehlern und damit zu einer objektiv unrichtigen Aussage führen können. Neben den einzelnen Sinnesorganen, deren Aufnahmekapazität beschränkt ist, spielt hier vor allem die unterschiedliche Reaktion des Bewußtseins eine Rolle, das mit Hilfe geeigneter Erfahrungsinhalte das Wahrgenommene registrieren muß. Ferner hängt die Güte der Wahrnehmung wesentlich von der Bereitschaft ab, die wiederum eng mit der Stimmung, den Interessen und der jeweiligen Beschäftigung zusammenhängt. Auch der Vergleich der Empfindung mit einer unzutreffenden Erfahrung kann zur Fehlapperzeption führen. — Das zweite Stadium der Aussage stellt die R e p r o d u k t i o n der Objekte des Seelenlebens dar, bei der uns namentlich die sogen. Erinnerungsfehler interessieren. Hier ist einmal zu beachten, inwieweit die Vorstellung überhaupt eine tragfähige Basis verkörpert. Ferner können die Verbindung zweier Erlebnisse zu einer einheitlichen Erfahrung, die sogen. Kontamination und die Konfabulation, störend wirken, bei der das Wahrgenommene mit Phantasie ergänzt wird. Doch auch der für die Wiedergabe erforderliche Reproduktionsakt weist — wie man ermittelt hat — Gefahrenquellen auf. Die hier bedeutsame Assoziationstärke ist von Mensch zu Mensch und von Fall zu Fall verschieden. — Das dritte Stadium schließlich ist die W i e d e r g a b e der Bewußtseinsinhalte, wo es uns insb. auf die Wiedergabefehler ankommen muß. Der Denkprozeß kann trotz guter geistiger Begabung zu intellektuellen Fehlleistungen führen. Überdies sind die für eine einwandfreie Wiedergabe wichtigen Begleitumstände der Aussage, d. h. des Wiedergabe Vorgangs, zu beachten.

Rechtspflegedelikte Führt man sich diese Fehlerquellen vor Augen, so ist klar, daß auch andere Faktoren für die Richtigkeit und den Wert der Aussage bedeutsam sind. Einmal gilt dies f ü r das Alter, bei dem namentlich die Problematik der Kinderaussage viel diskutiert worden ist und immer noch rege erörtert wird. Das früher ablehnende Urteil ist jetzt aber dahin korrigiert worden, daß man bei Kenntnis der Besonderheiten des jungen Menschen in vielen Fällen doch von ihm brauchbare Aussagen erwarten kann. Ähnlich ist es beim Geschlecht, wo sich das früher für die Frauen sehr ungünstige Urteil zumindest in dieser Allgemeinheit als unhaltbar erwiesen hat. Weniger beachtet hat man bisher die soziale Stellung des Aussagenden und vor allem seine Rolle im Prozeß; dabei ist es sicherlich bedeutsam, ob der Betreffende als Beschuldigter bzw. Partei aussagt oder ob er als Zeuge oder Sachverständiger gehört wird. Alle diese Dinge aber müssen genauer erforscht und mehr als bisher beachtet werden, wenn man die genannten Fehlerquellen auf ein Mindestmaß reduzieren will, das immer noch hoch genug sein wird. Die wesentliche Aufgabe der Vernehmung ist insoweit gerade die, einerseits Wiedergabefehler zu vermeiden und andererseits Wahrnehmungsbzw. Erinnerungsfehler zu entdecken. Dies gilt insb. auch für Zweit- und Drittvernehmungen, ζ. B. durch den Richter in der Hauptverhandlung, die im übrigen wesentlich bestätigenden Charakter haben, weshalb wir sie als Bestätigungsvernehmungen den Ermittlungsvernehmungen gegenüberstellen würden. Diese wenigen Hinweise müssen genügen, um die Bedeutung der Kriminalistik für die Aussagedelikte aufzuzeigen. Da man diese vielfach nicht genügend beachtet, ist es jedenfalls nicht völlig aus der Luft gegriffen, wenn heute ein böses Wort sagt: „Die meisten Meineide schwört der Richter". III. GEFÄHRDUNG UND STÖRUNG DER STRAFRECHTSPFLEGE Anders als bei den Aussagedelikten richtet eine Reihe von Rechtspflegedelikten sich speziell gegen die Strafrechtspflege. Wir müssen uns hier allerdings auf einige kriminologisch besonders bedeutsame Tatbestände beschränken, obwohl ζ. B. auch die oben erwähnten Sonderverbrechen der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB), der Aussageerpressung (§ 343 StGB) und der unzulässigen Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel (§ 345 StGB) sowie das Unterlassen der Anzeige bei bestimmten schweren Verbrechen (§§ 138, 139 StGB) hierher gehören. A. Falsche Anschuldigung Der Unrechtsgehalt der in den §§ 164,165 StGB unter Strafe gestellten falschen Anschuldigung 2 HdK, 2. Aufl., Ed. III

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(-> Beleidigung und falsche Anschuldigung) is^ umstritten. Hielt man sie früher wesentlich für eine Ehrverletzung, so ordnet man diese Straftat heute entweder den Rechtspflegedelikten zu, oder man verbindet beide Gesichtspunkte so, daß man von einer doppelten Angriffsrichtung spricht. Aber auch die verbindende Ansicht vermag u. E. nicht zu überzeugen; viele Straftaten gegen die Allgemeinheit verletzen Rechte des einzelnen, ohne daß man dieses als konstitutiv für den Unrechtsgehalt ansehen könnte. Vielmehr verkörpern die Tatbestände des § 164 StGB Rechtspflegedelikte, wobei man einschränkend sogar von einem Delikt gegen die Strafrechtspflege sprechen muß, wenn man darunter auch die den eigentlichen Straftaten verwandten Disziplinarsachen versteht. Dies ergibt sich sowohl daraus, daß die Anschuldigung eine Straftat oder Amtspflichtverletzung betrifft und bei einer Behörde bzw. einem zuständigen Beamten oder öffentlich erfolgen muß. Dem Handlungsunwert nach ist die falsche Anschuldigung ein Täuschungsverbrechen bestimmter Art. Die falsche Anschuldigung muß sich auf eine bestimmte, existente Person beziehen und geeignet sein, ein behördliches Verfahren der geschilderten Art, d. h. strafprozessuale oder disziplinäre Maßnahmen, auszulösen, was das geltende Gesetz in Form einer Erfolgsabsicht zum Ausdruck bringt. Falsch ist eine derartige Anschuldigung, wenn die in ihr enthaltene Verdächtigung objektiv unrichtig ist. Insoweit enthalten die Abs. I und I I des § 164 StGB nur verschiedene unselbständige Begehungsweisen, wobei im Abs. I namentlich an die Strafanzeige im eigentlichen Sinne bzw. eine entsprechende öffentliche Erklärung gedacht ist, während Abs. II auf tatsächliche Behauptungen anderer Art abstellt, die dieselbe Wirkung haben können. Im Grunde besteht insoweit kein Unterschied zu dem in § 164 V StGB geregelten Fall der falschen Anschuldigung, der allerdings einen selbständigen Tatbestand verkörpert, weil er eine andere Schuldform voraussetzt. Unzutreffend erscheint uns allerdings, daß man üblicherweise das Vorliegen einer Straftat als Kern der Verdächtigung ansieht, die Falschheit derselben also nach strafrechtlichen Grundsätzen beurteilt. Ausschlaggebend ist u. E., ob die für den prozessualen Tatverdacht wesentlichen Umstände richtig oder falsch dargestellt werden. Ist es in den Abs. I und I I erforderlich, daß der Täter etwas wider besseres Wissen äußert, d. h. mit Dolus directus gehandelt hat, so genügen für § 164 V StGB Dolus eventualis bzw. Leichtfertigkeit, die etwa im Sinne von grober Fahrlässigkeit zu verstehen ist. Einmal muß der Täter also sicher wissen, daß die Verdächtigung unrichtig ist, während zum anderen ausreicht, daß er diese Möglichkeit billigend in Kauf nimmt oder grob fahrlässig nicht bedenkt. Sieht man von der schwierigen kriminalpolitischen Frage ab, ob in § 164 V StGB der Bereich des

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Rechtspflegedelikte

Strafwürdigen nicht zu weit geraten ist, so ist im Gegensatz zur herrschenden Ansicht, die die Abs. I und I I als Grundtatbestand u n d § 164 V StGB als Auffangtatbestand wertet, wohl anzunehmen, daß Abs. V den Grundtatbestand der falschen Anschuldigung und die Abs. I u n d II einen durch Dolus directus qualifizierten Fall enthalten. Eine weitere Qualifikation findet sich in § 164 I I I StGB, der voraussetzt, daß der Täter in Vorteilsabsicht handelt. — Für alle Fälle der falschen Anschuldigung sei noch auf die Problematik hingewiesen, die bei der Konstruktion der Erfolgsabsicht sehr kompliziert werden kann, daß § 164 StGB sicher nicht prozessual ordnungsmäßige — wenn auch unrichtige — Strafanzeigen oder die Weitergabe derselben verhindern soll. Könnte man in derartigen Fällen zuweilen auch die Erfolgsabsicht ablehnen, so scheint uns, daß wesentliche Fragen der Tatbestandsmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit übergangen werden. Zumindest müßte man bei der Rechtswidrigkeit berücksichtigen, daß eine prozessual ordnungsmäßige Anzeige strafrechtlich gesehen nicht rechtswidrig sein darf; doch kann man diese Fragen bereits bei der Tatbestandsmäßigkeit beachten. Wer verlangt, daß die falsche Anschuldigung objektiv geeignet sein muß, strafprozessuale Maßnahmen herbeizuführen, könnte auch das einschränkende normative Tatbestandsmerkmal fordern, daß dies in prozessual ordnungswidriger Weise geschehen müßte. — § 165 StGB regelt als besondere Rechtsfolge die Befugnis zur Veröffentlichung des Urteils, während § 164 IV StGB in den erschwerten Fällen der Falschen Anschuldigung den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zuläßt. 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Die falsche Anschuldigung ist eines der ältesten Delikte, auf das wir bereits in den antiken Rechten stoßen, sobald es eine geordnete „Strafrechtspflege" gibt. Der typische Fall ist der einer falschen Anklage. Auch das alte deutsche Recht erfaßte derartige Verhaltensweisen, stellte dabei aber die Gefährdung des Beschuldigten bzw. seines Vermögens in den Vordergrund. D i e Rechtsfolgen entsprachen vielfach dem, was die falsche Beschuldigung als solche zur Folge gehabt hätte. Wer einen anderen fälschlich des Diebstahls beschuldigte, hatte also an diesen die Diebstahlsbuße zu entrichten. Mit dem Durchbruch zum peinlichen Strafrecht k a m es dann zu Leibes- oder Lebensstrafen, wobei m a n zuweilen auch auf den Bruch des Prozeßeides abstellte. Aber noch nach Art. 110 der Constitutio Criminalis Carolina vom Jahre 1532 traf denjenigen, der in einer anonymen Schmähschrift einen anderen fälschlich eines peinlich zu strafenden Delikts bezichtigte, die für dieses vorgesehene Strafe. Mit der Ausbreitung des Inquisitionsprozesses t r a t an die Stelle der falschen

Anklage die falsche Anzeige als Hauptfall der falschen Anschuldigung. Wirklich verselbständigt wurde die falsche Anschuldigung erst im § 133 des preußischen Strafgesetzbuches, der dann als § 164 in das geltende Strafgesetzbuch übernommen wurde. Diese Vorschrift wurde im Jahre 1933 durch die sogen. Denunzianten-Novelle neu gef a ß t und beträchtlich erweitert. In den Jahren vor der Jahrhundertwende lag die Kriminalitätsziffer für die falsche Anschuldigung um 1,5; sie nahm dann etwas ab und lag vor dem ersten Weltkrieg um 0,9. Nach dem Weltkriege, der auch hier eine Abnahme zeigte, stieg die Zahl der Verurteilungen vom J a h r e 1920 an ständig. Bereits in den Jahren 1922, 1923 wurde der verhältnismäßig niedrige Vorkriegsstand erreicht; im Jahre 1925 betrug die Kriminalitätsziffer schon 1,4, um bis 1932 etwa konstant zu bleiben. Erst das J a h r 1933, in welchem die DenunziantenNovelle den Anwendungsbereich des § 164 StGB ausdehnte, brachte mit 946 Verurteilungen (Kriminalitätsziffer 1,9) eine beträchtliche Zunahme. 1934 h a t die Zahl der Verurteilungen sich mit 2247 gegenüber 1932 schon nahezu vervierfacht (Kriminalitätsziffer 4,4), um in den Jahren 1935 und 1936 noch weiter zuzunehmen. — Die etwas niedrigeren Zahlen nach dem zweiten Weltkriege (1950: 935 Verurteilungen; 1951: 1341 Verurteilungen) liegen mit Kriminalitätsziffern von 2,6 und 3,6 jedoch immer noch erheblich über dem vor 1933 üblichen Niveau. Zudem ist bis zum J a h r e 1959, wo 1705 Verurteilungen verzeichnet worden sind (Kriminalitätsziffer 4,1), eine ständige Zunahme und erst 1960 (Kriminalitätsziffer 3,4) eine Abnahme zu verzeichnen. Sicherlich ist ein großer Teil dieser strukturell beträchtlich erhöhten Kriminalität der falschen Anschuldigung auf den seit 1933 erweiterten Anwendungsbereich des § 164 StGB zurückzuführen; doch erscheint es nicht ausgeschlossen, daß gerade in ruhigeren Zeiten auch die zunehmende Bedeutung des mit einem Strafverfahren verbundenen sozialen Makels eine Rolle spielt. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Allgemein läßt sich in der Kriminalphänomenologie sehr wenig über falsche Anschuldigungen sagen, weil sie weder örtlich noch zeitlich nennenswert gebunden sind. Eine gewisse Zunahme der anonymen bzw. Pseudonymen Anzeigen von etwa 10 auf 15% bis zu 40% in den Jahren nach dem zweiten Weltkriege dürfte sich aus den besonderen Verhältnissen erklären. Öffentliche oder anläßlich einer Vernehmung geäußerte Verdächtigungen bewegen sich nach Einzeluntersuchungen zwischen 6 u n d 10%, weshalb in der Mehrzahl der Fälle (75—85%) eine Anzeige erfolgen dürfte. Was die Schuldform anlangt, überwog in einer neueren Untersuchung Handeln wider besseres Wissen

Rechtspflegedelikte (59, 6 % ; vorsätzliches Handeln 3,2%); immerhin wurde den Tätern in 37,2% der untersuchten Fälle Leichtfertigkeit zum Vorwurf gemacht. Was die besonderen Erscheinungsformen anlangt, so erscheint es u. E. zweckmäßig, nach dem Inhalt der Beschuldigung zu klassifizieren, weil damit zugleich der Hintergrund aufgezeigt wird, auf dem die Tat sich auswirken soll. Gehen wir zunächst einmal von den vom Täter behaupteten Delikten aus, überwiegen mit Anteilen von 25—50% die Vermögensdelikte, wobei es sich vor allem um Diebstahl und Betrug handelt. Angebliche Verstöße gegen das Gemeinschaftsleben sind dagegen nur auf einen Anteil von 37,0%, einem Drittel etwa, gekommen, wobei es sich überwiegend um Sexualdelikte und um Verkehrsdelikte handelt. Straftaten gegen die Person (13,5%) und gegen den Staat und seine Organe (2,4%), zu denen allerdings die Disziplinarwidrigkeiten hinzugezählt werden müßten, spielen im allgemeinen bei der Falschverdächtigung nur eine untergeordnete Rolle. Schon dieser Überblick zeigt, daß wichtiger als das Delikt der mit der Verdächtigung verfolgte Zweck ist. Hier lassen sich die Formen der falschen Anschuldigung zu drei Gruppen zusammenfassen, wenn wir uns an bestimmten Lebensbereichen orientieren. a) D e n u n z i a t i o n e n in b e z u g auf d e n Ber u f , die den Verdächtigten in seiner beruflichen Stellung treffen, machten in einer neueren Untersuchung mehr als ein Drittel aller Fälle aus. Eine prägnante Erscheinungsform ist die B e a m t e n D e n u n z i a t i o n , die durchschnittlich 10—15% aller Fälle ausmacht. Zu Zeiten einer Bewirtschaftung kann der Anteil dieser Erscheinungsform noch größer sein. Im übrigen richten derartige Taten sich in der Mehrzahl gegen Polizeibeamte. Die D e n u n z i a t i o n v o n f r e i b e r u f l i c h T ä t i g e n richtet sich vor allem gegen Rechtsanwälte und Ärzte, denen ähnlich wie Beamten besondere Berufspflichten obliegen. Soll der Anwalt Prozeßbetrug oder Parteiverrat begangen, anvertraute Gelder unterschlagen haben, bezichtigt man Ärzte vorzugsweise einer Abtreibung oder eines Sexualdelikts. D e n u n z i a t i o n e n i m W i r t s c h a f t s l e b e n richten sich gegen Unternehmer und Kaufleute als Wirtschaftssubjekte; dazu zählen auch Prokuristen und andere leitende Angestellte. Diese Personen verdächtigt man vielfach des Betruges, der Wechselreiterei, des unerlaubten Wettbewerbs oder unsauberer, u. U. gesundheitsgefährlicher Produktionsmethoden. b) Eine p o l i t i s c h e D e n u n z i a t i o n , bei der wir hier nicht weiter untergliedern wollen, liegt vor, wenn die Verdächtigung politische Gegner treffen soll. Die Möglichkeiten sind entsprechend groß. Von der angeblichen Teilnahme an Judenvernichtungen reichen sie über Korruption, Unterschlagung von Parteigeldern bis zu gewissen Sexualdelikten, bei denen die Homosexualität wie-

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derum eine unglückliche Rolle spielt. Die Bedeutung dieser Formen kriminellen Verhaltens ist naturgemäß unterschiedlich, die Entwicklung infolgedessen uneinheitlich verlaufen. Diese Erscheinungsform machte z.B. in den Jahren von 1933 bis 1936 ein Fünftel bis ein Viertel aller Fälle aus. Dagegen erreichte sie in den Jahren nach 1945 nicht einmal 10%; vielleicht wirkte sich hier die Furcht hemmend aus, selbst überprüft zu werden. c) Von D e n u n z i a t i o n e n i n b e z u g auf d a s P r i v a t l e b e n spricht man, wenn es dem Täter vor allem darum geht, das Opfer in seiner privaten Sphäre zu treffen. Aber natürlich sind auch im Verhältnis zu den anderen Gruppen Mischformen möglich. Bei den D e n u n z i a t i o n e n i n b e z u g auf d i e F a m i l i e kann der Täter selbst der Familie angehören. Neben dem vergleichsweise simplen Vorwurf des Diebstahls finden sich niederträchtige Taten, bei denen Abtreibung, Blutschande, Kuppelei und dergl. behauptet wird. Die Verdächtigung kann individuell gezielt, aber auch kollektiv — gegen die Familie als solche — gerichtet sein. Bei den D e n u n z i a t i o n e n i n b e z u g auf die s o z i a l e S t e l l u n g ist insb. auf nachbarliche Verhältnisse hinzuweisen, die aus nichtigen Anlässen mitunter zu Bespitzelung und zu niederträchtigen Vorwürfen führen, die den Verdächtigten vor allem gesellschaftlich treffen sollen. Neben Vermögensdelikten werden hier ebenfalls häufig Sexualdelikte behauptet. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

In das Auge fällt hinsichtlich des G e s c h l e c h t s bei der falschen Anschuldigung die im Vergleich zur Gesamtkriminalität erheblich stärkere Belastung der Frauen, die durchweg 25—30% (in Notzeiten sogar 40 oder 50%) der Verurteilten stellen. Dieses Delikt ist ersichtlich nicht nur ein für körperlich Schwache geeignetes Instrument, sondern es bietet auch besonderen Anreiz für Frauen, wenn wir etwa an eine Bewirtschaftung denken. Auch das A l t e r der Rechtsbrecher weicht bei der falschen Anschuldigung erheblich vom gewohnten Bild ab. Liegt im allgemeinen der Schwerpunkt bei Tätern zwischen 18 und 30 Jahren, so entfallen bei der falschen Anschuldigung rund 50% der Rechtsbrecher auf die Altersgruppen von 40 und mehr Jahren; am stärksten belastet ist durchweg allerdings die Altersgruppe von 30—40 Jahren mit etwa 25% aller Verurteilten. Dagegen erreicht die sonst am meisten belastete Altersgruppe von 21—30 Jahren eigentlich nie 20% und sind jugendliche bzw. heranwachsende Täter ausgesprochen selten. Über I n t e l l i g e n z u n d E r z i e h u n g läßt sich bisher wenig sagen, was nicht mit dem Alter zu erklären wäre. Auch wenn eine gewisse Intelligenz bei der falschen Anschuldigung erforderlich sein dürfte, sollte man diese doch nicht überschätzen. Eine Einzel-

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Rechtspflegedelikte

Untersuchung h a t ζ. B. nur bei 20% dieser Täter überdurchschnittliche Intelligenz angenommen. Hinsichtlich der Erziehung wird der Zusammenhang mit der Lüge näher zu erforschen sein. Die s o z i a l e L a g e bietet durchweg nichts Besonderes. Daß die Täter überwiegend verheiratet sind, erklärt sich vor allem aus ihrem Alter, obwohl zuweilen die Familie—etwa bei Bewirtschaftung— fördernd wirken mag. Sonst aber h a t die wirtschaftliche Lage wohl wenig zu bedeuten. Genauer müßten dagegen die Zusammenhänge von Beruf und Kriminalität bei der falschen Anschuldigung untersucht werden. Es könnte ζ. B. die Berufsgruppe Handel und Verkehr besonders belastet sein. Der beruflichen Stellung nach sind Selbständige gewiß erheblich mehr gefährdet. Für das s o z i a l e V e r h a l t e n ist die Zahl der Vorbestraften aufschlußreich, die in Einzeluntersuchungen sehr schwankt, wenngleich sie immer über dem Durchschnitt liegt. Doch ist wohl mit den Angaben der Kriminalstatistik anzunehmen, daß durchschnittlich mindestens 50% der wegen falscher Anschuldigung Verurteilten vorbestraft sind, womit dieses Delikt an 2. Stelle hinter dem Betrüge liegen würde, was für gewisse Zusammenhänge zwischen diesen Deliktstypen spricht. Die Vortaten dürften der Art nach vermutlich vielfach Betrug oder andere Vermögensdelikte sein; die Beleidigungsdelikte sind anscheinend nicht besonders stark vertreten. Bei der M o t i v a t i o n werden in der Regel wohl Motive der emotionalen Gruppe wie Rachsucht, Ilaß, Eifersucht und dergl. überwiegen (40—45%). Natürlich wird verbunden damit oder allein (3%) auch Geltungsdrang eine Rolle spielen. Häufiger wird insoweit allerdings eine subjektive Not sein (etwa 15%), die den Rechtsbrecher veranlaßt, auf diese Weise einen Verdacht von sich abzulenken; handelt er so im Hinblick auf einen ihm verbundenen Menschen, wäre ein philanthropisches Motiv ausschlaggebend (3—4%). Nur verhältnismäßig selten (etwa 10%) wird die falsche Anschuldigung aus Gewinnsucht begangen werden. Eine überraschend große Bedeutung h a t nach geltendem Recht die Leichtfertigkeit (rund 25%). Manchmal ist auch hier das Verhalten des Täters motivisch absolut unverständlich. 4.

Täteriypologie

Schon der große Anteil der Vorbestraften deutet darauf hin, daß die falsche Anschuldigung häufig von R ü c k f a l l s t ä t e r n begangen wird. Stellt man jedoch auf kriminologisch einschlägigen Rückfall ab, so wird man insoweit vermutlich nicht über 25—40% aller Rechtsbrecher kommen, die dann allerdings vorwiegend dem Typ des Antisozialen zuzuordnen sein werden. Daneben werden bei der Falschverdächtigung sozial hilflose R ü c k f a l l t ä t e r bedeutsam sein. Auch bei der falschen Anschuldi-

gung wird demnach zumindest die Mehrzahl der Rechtsbrecher zur Gruppe der D u r c h s c h n i t t s t ä t e r gehören. Da der Entwicklungstäter mit Anteilen um 10% aller Täter kaum in das Gewicht fällt u n d auf Konfliktstäter zumindest etwa ein Viertel dieser Taten entfallen dürfte, wird es sich überwiegend um eigentliche Durchschnittstäter handeln (33—45%). B. Vortäuschung einer Straftat Der falschen Anschuldigung eng verwandt ist das in § 145 d StGB unter Strafe gestellte Vortäuschen einer Straftat. Handelt es sich auch hier um eine Straftat gegen die Strafrechtspflege, so unterscheidet der Verstoß gegen § 145 d StGB sich doch als Täuschungsverbrechen im Handlungsunwert von der falschen Anschuldigung. Die unrichtige Tatsachenbehauptung im Hinblick auf strafbares Verhalten, die das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden beeinflussen soll, lenkt nicht — wie bei § 164 StGB — den Verdacht auf einen bestimmten Menschen, sondern löst entweder ohne jeden Grund Maßnahmen der Strafverfolgungsorgane aus oder lenkt doch vom wahren Schuldigen ab. Es kommt also nicht entscheidend darauf an, ob überhaupt eine strafbare Handlung begangen wurde oder nicht; vielmehr ist in beiden Fällen ausschlaggebend, daß die Strafverfolgungsbehörden in die Irre geführt werden, ohne daß eine bestimmte Person verdächtigt wird. So ist es natürlich auch, wenn der Täter sich auf den „großen Unbekannten" bezieht, der niemals existiert h a t . Da das Gesetz davon spricht, daß der Täter die Strafverfolgungsbehörden zu täuschen sucht, ist klar, daß eine Gefährdung genügt, die Behörden also nicht auf das Täuschungsmanöver hereinzufallen brauchen. Der Täter muß wider besseres Wissen, d. h. mit Dolus directus, handeln, der namentlich sichere Kenntnis der Unwahrheit der täuschenden Behauptung voraussetzt. Nicht berücksichtigt wird — im Gegensatz zur Strafvereitelung — die Tatsache, daß ein Täter handelt, um sich oder einen Angehörigen vor Strafe zu schützen, was mithin nur im Strafmaß beachtet werden kann. Hinsichtlich der Konkurrenz ist auf die Subsidiaritätsklausel hinzuweisen, die § 145 d StGB gegenüber gleichzeitig zutreffenden Gesetzen mit schwerer Strafdrohung als unanwendbar erscheinen läßt, was jedenfalls in dieser Ausdehnung nicht ganz unbedenklich sein dürfte. 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Obwohl § 145 d erst im J a h r e 1943 in das Strafgesetzbuch eingefügt worden ist, finden wir entsprechende Strafvorschriften doch schon in den Partikulargesetzbüchern des 19. Jahrhunderts und auch in ausländischen Strafgesetzen. Über die Entwicklung läßt sich aber natürlich noch nicht

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Rechtspflegedelikte viel sagen. Immerhin h a t die Vorschrift eine gewisse praktische Bedeutung erlangt. Die Statistik verzeichnet im J a h r e 1950 insgesamt 761 und im Jahre 1960 nach einer leichten Zunahme 1235 Verurteilungen, was Kriminalitätsziffern von 2,1 bzw. 2,9 entspricht. Überdies ist hierbei zu beachten, daß § 145 d StGB in der Mehrzahl der Fälle auf Grund der Subsidiaritätsklausel statistisch nicht erfaßt werden kann. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Tatort und Tatzeit sind für die Vortäuschung einer Straftat ebenfalls nicht sonderlich aufschlußreich. Überwiegend werden die Verstöße gegen § 145 d StGB durch unwahre Erklärungen begangen; das Schaffen irreführender Spuren ist recht selten. So erscheint es uns zweckmäßig, die besonderen Erscheinungsformen an Hand der Täuschung zu unterscheiden. Denn einmal haben wir es bei § 145 d StGB mit fingierten Verbrechen zu tun, zum anderen mit ablenkendenTäuschungsmanövern. Bei den f i n g i e r t e n V e r b r e c h e n stehen wahrscheinlich Notzuchtsverbrechen mit mehr als einem Drittel dieser Fälle an der Spitze. Mit vermutlich 20—25% dürften vorgetäuschte Raubüberfälle folgen. Bei einem weiteren Drittel werden andere Vermögensdelikte vorgetäuscht, ζ. B. angebliche Diebstähle, die zu Versicherungsleistungen berechtigen sollen. A b l e n k e n d e T ä u s c h u n g s m a n ö v e r werden vor allem wohl dann begangen, wenn der Täter selbst eine Straftat — ζ. B. eine Brandstiftung — verübt hat, wobei es ihm vielfach auf Versicherungsleistungen ankommen wird. Vermutlich spielen hier fahrlässige Handlungen eine nicht unerhebliche Rolle. Natürlich kann es auch das Ziel des Täters sein, mit der Täuschung die Strafverfolgungsbehörden von einem Rechtsbrecher abzulenken, dem er besonders verbunden ist. 3. Ursachen

sind sie jünger als bei Verstößen gegen § 164 StGB. Die Masse der Täter steht im Alter v o n 18—30 J a h r e n ; in den Jahren 1959 u n d 1960 entfielen 64,9 bzw. 65,2% der Verurteilten auf diese Altersgruppen. Die s o z i a l e L a g e dieser Rechtsbrecher ist bisher noch nicht hinreichend geklärt worden. F ü r das s o z i a l e V e r h a l t e n ist zu erwähnen, daß der Anteil der Vorbestraften, der früher mit 28—30% etwas geringer als im Durchschnitt war, in den letzten J a h r e n mit 43% (1959) bzw. 42% (1960) etwas größer geworden ist. I m Rahmen der M o t i v a t i o n dürfte an der Spitze die subjektive Not stehen; gerade bei fingierten Verbrechen will der Täter häufig ein Verhalten verdecken, das ihm zur Unehre oder zu sonstigen Nachteilen gereichen kann. Daneben sind aber auch wirtschaftliche Motive, u n d zwar sowohl Gewinnsucht als auch wirtschaftliche Not, zu beachten; insb. im Zusammenhang mit Versicherungsleistungen dürfte das wichtig sein. Zuweilen wird, gerade bei jüngeren Tätern, der Geltungsdrang das überwiegende Motiv verkörpern. 4.

Täteriypologie

Der Anteil der R ü c k f a l l s t ä t e r dürfte nach allem verhältnismäßig gering sein; er wird vermutlich nicht über 25—30% hinauskommen. Nicht gar so selten werden sich neben Antisozialen sozial Hilflose finden, die, in wirtschaftliche oder subjektive Not geraten, auf den Weg des Verbrechens gekommen sind. Asozialen Rückfallstätern werden wir nur sehr selten begegnen. Ganz überwiegend — in wahrscheinlich 70—75% der Fälle — haben wir es mit D u r c h s c h n i t t s t ä t e r n zu t u n . Neben Entwicklungstätern sind hier vor allem Konfliktstäter bedeutsam. Natürlich werden auch Personen nach § 145 d StGB verurteilt, die m a n nur als eigentliche Durchschnittstäter bezeichnen kann.

(Kriminalätiologie)

Die Verstöße gegen § 145 d StGB weichen bezüglich des G e s c h l e c h t s ebenfalls vom üblichen Bild ab. Auch wenn Einzeluntersuchungen hier bei weiblichen Tätern auf einen Anteil von nahezu 66% gekommen sind, dürfte angesichts der Statistik, die einen Anteil von etwa 18—25% an den Verurteilten ausweist, anzunehmen sein, daß die Frauen ungefähr 25—33% aller Täter stellen. Hinsichtlich des A l t e r s sind jüngere Rechtsbrecher, was gerade im Hinblick auf Notzucht u n d Raub nicht verwundern sollte, etwas stärker als bei der falschen Anschuldigung beteiligt. In den Jahren 1959 u n d 1956 waren 23,9% bzw. 24,3% der Verurteilten Jugendliche oder Heranwachsende. Doch wird auch diese Art von Kriminalität vorwiegend auf Erwachsene zurückzuführen sein, die in den genannten Jahren 76,1% bzw. 75,3% der Verurteilten stellten. Allerdings

C. Strafvereitelung Die Strafvereitelung — im allgemeinen noch persönliche Begünstigung genannt — ist im 21. Abschnitt (Begünstigung und Hehlerei) in den §§ 257, 258 StGB zusammenfassend mit der sachlichen Begünstigung geregelt, die ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten jedenfalls kein Delikt gegen die Strafrechtspflege verkörpert. Die verunglückte Systematik des geltenden Gesetzes, die überdies die Strafvereitelung in den Zusammenhang der Vermögensdelikte verweist, erklärt sich aus der bei seinem Erlaß noch stark nachwirkenden gemeinrechtlichen Auffassung von einer Teilnahme nach der Tat. Nach heute einhelliger Ansicht stellt die Strafvereitelung jedoch ein selbständiges Rechtspflegedelikt dar, und zwar genau genommen ein Delikt gegen die Strafrechtspflege.

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Rechtspflegedelikte

Die Strafvereitelung muß sich auf eine bereits begangene Straftat beziehen, wobei es von untergeordneter Bedeutung ist, daß § 257 I StGB insoweit nur Verbrechen und Vergehen (§ 1 StGB) erfaßt. Anders als bei der sachlichen Begünstigung, wo man ungeachtet der Frage, ob die Vortat nicht ein Vermögensdelikt sein muß, tatbestandsmäßigrechtswidriges Handeln ausreichen lassen kann, wird man bei der Strafvereitelung fordern müssen, daß die Vortat eine strafbare Handlung verkörpert, die schuldhaft begangen und strafwürdig sein muß. Es wäre sogar denkbar, nicht auf die materiellrechtlich zu verstehende Strafbarkeit, sondern auf die prozessuale Verfolgbarkeit abzustellen, was aber doch wohl über den Verbotsinhalt dieser Vorschrift hinausgehen würde; denn sie soll nicht jeglicher Störung eines Strafverfahrens vorbeugen bzw. die Strafverfolgungsbehörden — wie die §§ 164, 145 d StGB — vor Irreführung und überflüssiger Arbeit schützen. Vielmehr zeigt u. E. der für den Handlungsunwert wesentliche Beistand, der einem Täter oder Teilnehmer der Vortat geleistet werden muß, daß hier nur an Verhaltensweisen gedacht ist, die eine tatsächlich berechtigte Durchsetzung des Strafrechts im Einzelfalle gefährden könnten. Obwohl demnach die materielle Strafberechtigung ausschlaggebend sein muß, ist es für den Beistand nicht erforderlich, daß dem Vortäter wirklich ein Vorteil erwächst oder seine Bestrafung wenigstens hinausgezögert wird; vielmehr genügen alle Handlungen, die — wie Versuchshandlungen — auf einen solchen Erfolg abzielen. In welcher Weise diese für die Strafvereitelung wesentliche Tendenz festgestellt werden muß, ist allerdings umstritten. Denn das geltende Recht verwendet auch insoweit die subjektive Konstruktion einer Erfolgsabsicht. Wie bei der falschen Anschuldigung müßte jedoch zumindest beachtet werden, daß der Beistand u. U. als prozeßordnungsmäßiges oder sonst sozialtypisches Verhalten — ζ. B. bei Antrag eines Verteidigers auf Freispruch mangels Beweises — rechtmäßig sein kann. Ebenso wie dort könnte man aber auch bei der Strafvereitelung den Tatbestand restriktiv dahin interpretieren, daß der Beistand als normatives Tatbestandsmerkmal eine illegale Einflußnahme auf die Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane voraussetzt. Subjektiv muß der Täter vorsätzlich handeln, wobei — von dem umstrittenen Inhalt der Absicht abgesehen — Dolus eventualis genügt. — § 257 II StGB läßt Straflosigkeit eintreten, wenn die Strafvereitelung begangen wird, um einen Angehörigen der Strafe zu entziehen. Dasselbe Ergebnis greift, worüber Einigkeit besteht, auch dann Platz, wenn der Täter handelt, um sich selbst der Strafe zu entziehen, wobei unerheblich ist, ob dadurch auch andere an der Vortat Beteiligte begünstigt werden. Umstritten ist allerdings die rechtliche Konstruktion, wo man mit einer Beschränkung des Tatbe-

stands oder einer notstandsähnlichen Situation zu operieren pflegt. Hilft die Beschränkung, daß der Beistand einem anderen geleistet werden muß, jedenfalls nicht bei einer Teilnahme an der von einem anderen begangenen „Fremdbegünstigung", so versagt die andere Ansicht, weil sie der für ein Verneinen der Schuld erforderlichen gesetzlichen Grundlage entbehrt. Zutreffend erscheint daher u. E. — per argumentum a fortiori aus § 257 II StGB — die Konstruktion eines allerdings ungeschriebenen Strafausschließungsgrundes, der sich unschwer aus dem Sinn des Gesetzes entnehmen läßt; denn es soll ja nur denen, die nicht in strafbarer Weise an der Vortat beteiligt sind, verboten werden, jemand der Strafe zu entziehen. Straffreiheit sollte, was allerdings im einzelnen umstritten ist, daher sowohl dem Täter als dem Teilnehmer der Vortat gewährt werden, und zwar sowohl für täterschaftliche als auch in Form der Teilnahme begangene Strafvereitelung. Ebenfalls in § 257 I StGB ist als qualifizierter Fall die sogen, eigennützige Straf Vereitelung enthalten, die wiederum mit der sachlichen Begünstigung zusammengefaßt ist. Sie unterscheidet sich vom Grundtatbestand nur dadurch, daß Handeln in Vorteilsabsicht vorausgesetzt wird. Auch hier ist die Konstruktion der Erfolgsabsicht fragwürdig, jedoch in anderer Weise, weil man de lege ferenda wohl mit der Gewinnsucht von einem Fall einer intensivierten Innentendenz ausgehen sollte. Völlig mißglückt ist der ebenfalls zusammenfassende Tatbestand der sogen. Personenhehlerei (§ 258 StGB), wo u. a. die eigennützige Strafvereitelung im Hinblick auf bestimmte Arten von Vortaten differenzierend qualifiziert wird. Schließlich qualifiziert das Gesetz auch im Hinblick auf den Täter. Wird die Strafvereitelung von einem für die Strafverfolgung im konkreten Falle zuständigen Beamten begangen, so ist § 346 StGB anzuwenden, der die „Begünstigung im A m t " als unechtes Amtsverbrechen dem 28. Abschnitt zugeordnet hat. Wenn das Gesetz eine Übertretung (§ 1 StGB) ausreichen läßt und überdies verlangt, daß der Vortäter der Strafe bzw. Maßregel entzogen werden muß, wofür eine Verzögerung allerdings ausreicht, so berechtigen diese Divergenzen u. E. nicht, hier ein echtes Amtsdelikt anzunehmen; vielmehr ist aus den bei den §§ 153, 154 StGB dargelegten Gründen auch § 346 StGB als ein unechtes Amtsverbrechen und damit als ein qualifizierter Fall der Strafvereitelung anzusehen. Völlig überflüssig erscheint die historisch bedingte Sonderregelung des § 257 III StGB, weil hier in allen strafwürdigen Fällen Beihilfe an der Vortat vorliegt. Schließlich ist noch kurz auf eine Reihe ergänzender Tatbestände hinzuweisen, die sich daraus erklären, daß unser Gesetz im allgemeinen ·— anders als bei § 346 StGB — zwischen Strafen i. e. S. und Maßregeln der Sicherung und Besserung un-

Rechtspflegedelikte terscheidet. Diese Vorschriften wären überflüssig, würde man in § 257 I StGB den Begriff Strafe nicht zu eng, sondern im Sinne von kriminalrechtlicher Sanktion verstehen. § 257 a StGB verbietet es, die Vollstreckung einer rechtskräftig angeordneten Maßregel ganz oder zum Teil zu vereiteln. Der einzige nennenswerte Unterschied zum § 257 I StGB ist also der, daß hier eine rechtskräftige Entscheidung vorausgesetzt wird. Im früheren Stadium aber wird im allgemeinen, sofern es sich nicht ausnahmsweise einmal um eine isoliert anwendbare Maßregel wie die Unterbringung in einer Heilanstalt handelt, § 257 I StGB anwendbar sein. Die Gefährdung des Zwekkes der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder dergl. wird in § 330b StGB bei den gemeingefährlichen Delikten geregelt. In diesen Zusammenhang gehört schließlich noch § 145 c StGB, der sich auf das Verbot der Berufsausübung bezieht und insoweit sogar einen Fall der „Selbstbegünstigung" für strafbar erklärt. Im weiteren Sinne könnten hierher übrigens auch — wie die Subsidiaritätsklausel des § 257 a StGB zeigt — die in den §§ 120—122b StGB geregelten Fälle der Gefangenenbefreiung und -meuterei gerechnet werden, die wir aber alsbald gesondert behandeln wollen. 1. Entwicklung

und praktische

Bedeutung

Die Strafvereitelung ist —• wie angedeutet — ein verhältnismäßig junger Straftatbestand, auch wenn in der Tatbestandskasuistik zuweilen schon in alten Rechten derartige Verhaltensweisen erfaßt wurden, indem man sie der Vortat gleichstellte. Erst mit dem im Mittelalter von den italienischen Juristen entwickelten Rechtsinstitut des auxilium post factum wurden Fälle der Strafvereitelung und der sachlichen Begünstigung bzw. Hehlerei allgemeiner erfaßt. Diese Konstruktion der nachfolgenden Beihilfe hat auch Art. 177 Constitutio Criminalis Carolina übernommen. Sie wirkte — wie dargelegt — noch bei Erlaß des geltenden Strafgesetzbuches fort. Die unglückliche Systematik des geltenden Gesetzes macht es unmöglich, Allgemeineres über die praktische Bedeutung der Strafvereitelung auszusagen; denn die Statistik enthält nur zusammenfassende Zahlen, weshalb wir mangels entsprechender Einzeluntersuchungen darauf angewiesen sind zu vermuten, wie sich das Verhältnis der beiden Deliktstypen im Laufe der Zeiten gestaltet hat. Im Kaiserreich schwankte die gemeinsame Kriminalitätsziffer zwischen 2 und 3, um nach dem Kriege im Jahre 1920 mit einer Kriminalitätsziffer 10 auf das Vierfache anzusteigen. Für 1923 sind 5737 Verurteilungen im Reichsgebiet verzeichnet, was einer Kriminalitätsziffer 12 entspricht. Dann nahm diese Kriminalität schnell ab, um sich 1925 mit einer Kriminalitätsziffer

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von 4,3 dem Vorkriegsstand schon wieder anzunähern. Dieser wurde dann bei weiterem Sinken der Verurteilungsziffern im Jahre 1930 mit 2,1 erreicht. Alsdann allerdings stieg die Kriminalitätsziffer wieder um rund 50% auf 3,3 im Jahre 1933; danach war wieder eine abnehmende Tendenz zu verzeichnen. — Im Jahre 1950 erfolgten in der Bundesrepublik 1303 Verurteilungen; die Kriminalitätsziffer 3,6 steigt allerdings im Jahre 1952 wieder auf 4,4, um dann 1955 auf 2,6 zu sinken. Dieser Stand wird bis zum Jahre 1960 in etwa gehalten. Bei diesem Blick in die Statistik ist zu beachten, daß schon die Quote für Freisprüche und dergl. relativ hoch ist. Die hohe Aufklärungsziffer darf also nicht über eine sehr erhebliche Dunkelziffer hinwegtäuschen. Aus der Statistik aber läßt sich immerhin entnehmen, daß wirtschaftliche und politische Krisen einen starken und ungünstigen Einfluß auf die Gesetzesverstöße gegen § 257 StGB ausüben. Doch sowohl in den Jahren nach dem ersten Weltkriege als auch während der Weltwirtschaftskrise wird die Zunahme vor allem auf sachliche Begünstigungen zurückzuführen sein. Mag sich in diesen Zeiten auch die Basis für persönliche Begünstigungen verbreitert haben, so wirkt sicherlich eine verworrene politische Lage doch insoweit hemmend. Wird man nach allem auch in Notzeiten mit einer gewissen Zunahme der Strafvereitelung zu rechnen haben, so ist doch wohl anzunehmen, daß sie hier gegenüber der sachlichen Begünstigung weit in das Hintertreffen gerät. Wenn nicht alles trügt, so wird gerade bei geordneten Verhältnissen der Anteil der Strafvereitelung im Verhältnis zur sachlichen Begünstigung beträchtlich wachsen. 2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Die Tatzeit ist bei der Strafvereitelung nicht besonders aufschlußreich. Ebenso kann nicht überraschen, wenn hinsichtlich des Tatortes nach der Polizeilichen Kriminalstatistik Großstadt und Mittelstadt eine stärkere Belastung als Kleinstadt und Landgebiet aufweisen, weil dies der üblichen Situation entspricht. Wichtiger sind wiederum die besonderen Erscheinungsformen, bei denen sich verschiedene Klassifikationspunkte anbieten. Aber weder die Art der Vortat noch die Beziehung zwischen Täter und Vortäter sind für die Strafvereitelung als solche besonders instruktiv. Vielmehr scheint uns, daß man auf die Art und Weise der Gefährdung der Strafrechtspflege abstellen sollte, d. h. auf die verschiedenen Formen des Beistands. Das V e r b e r g e n e i n e r P e r s o n stellt eine prägnante, zahlenmäßig aber wohl relativ kleine Erscheinungsform der Strafvereitelung dar. Ziel des Täters kann es sein, entweder — ζ. B. vor einer Festnahme — die Durchführung des Er-

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Rechtspflegedelikte

kenntnisverfahrens oder—etwa nach dem Urteil— ein Vollstreckungsverfahren zu verhindern. Das E r m ö g l i c h e n d e r F l u c h t ist dem Verbergen des Straftäters insoweit verwandt, als der Rechtsbrecher denselben durch Warnung, Transport, Vermitteln von Kraftfahrzeugen oder Bereitstellen bzw. Verschaffen von Barmitteln die Gelegenheit verschafft, sich selbst dem Zugriff der Strafverfolgungsorgane zu entziehen. Die Mehrzahl der Fälle der Strafvereitelung aber wird wohl durch f a l s c h e A n g a b e n gegenüber den Strafverfolgungsbehörden begangen werden. So kann der Täter beispielsweise versuchen, die Polizei oder die Staatsanwaltschaft durch falsche Angaben irrezuführen. Derartige falsche Angaben können sich sowohl auf die Person des Vortäters als auch auf Sachen — Beute oder Sachspuren — beziehen. Natürlich kann Strafvereitelung auch durch falsche Aussagen vor einem Untersuchungsrichter oder vor dem erkennenden Gericht begangen werden. Als weitere Erscheinungsform der Strafvereitelung würden wir die illegale E i n f l u ß n a h m e a u f p e r s ö n l i c h e B e w e i s m i t t e l auffassen, ζ. B. das Zahlen eines Schweigegeldes an einen Zeugen oder das Veranlassen von Falschaussagen. Es kann aber auch versucht werden, durch Zahlung einer Geldsumme eine Anzeige bzw. einen Strafantrag zu verhindern, was — wie angedeutet ·— schwierige Rechtsfragen aufwirft. Auf derselben Ebene liegt das V e r n i c h t e n oder Beiseiteschaffen sachlicher Beweism i t t e l . Dazu gehören das Aufbewahren und das Absetzen der Beute. Dies kann der Täter eigenhändig oder auch fremdhändig bewirken, indem er eine andere Person zu derartigen Manipulationen veranlaßt. Die S a b o t a g e d e r S t r a f v e r f o l g u n g d u r c h i h r e O r g a n e kann nur durch Beamte oderdergl. begangen werden, die zur Verfolgung der Rechtsbrecher verpflichtet sind; strafrechtlich handelt es sich also vorwiegend um Verstöße gegen § 346 StGB. Denn zuständige Beamte können die Strafvereitelung bereits dadurch begehen, daß sie es unterlassen, ihrer Pflicht nachzukommen oder völlig ungeeignete Maßnahmen ergreifen. Natürlich kommt auch eine Warnung des Vortäters in Betracht. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Bei den nach § 257 StGB Verurteilten und ganz sicher auch bei der Strafvereitelung ist im Hinblick auf das G e s c h l e c h t der Anteil weiblicher Täter größer als üblich. Auch wenn die Statistik f ü r § 257 StGB etwas niedrigere Werte ausweist, wird er bei der Straf Vereitelung größer sein als bei der sachlichen Begünstigung; vermutlich wird er über 33% liegen. Dafür spricht insbes., daß der Anteil weiblicher Täter in Notzeiten kleiner als

in normalen Zeiten zu sein pflegt. Was das A l t e r anlangt, weisen die Altersgruppen der 21—40 jährigen die größte Belastung auf, wobei jedoch Täter im Alter von 21—30 Jahren dominieren, was der besonderen kriminellen Belastung entspricht; denn die Strafvereitelung wird sich überwiegend auf Altersgenossen beziehen. Über I n t e l l i g e n z u n d E r z i e h u n g läßt sich im vorstehenden Bereich kaum etwas sagen. Vermutlich wird die Lage etwa dem Durchschnitt der Rechtsbrecher entsprechen. Die s o z i a l e L a g e entspricht im Hinblick auf den Familienstand der Straftäter in etwa der Altersschichtung, obwohl klar ist, daß die Ehe gerade Strafvereitelungen zugunsten des Ehegatten fördern wird, die allerdings straflos bleiben. Ähnlich undurchsichtig ist die berufliche Situation der Täter und deren wirtschaftliche Lage; immerhin wird eine allgemeine wirtschaftliche Not die persönliche Not im Gefolge haben u n d somit die Kriminalität anschwellen lassen, was sich dann auch auf die Zahl der Strafvereitelungen auswirken dürft?.Beim s o z i a l e n V e r h a l t e n können wir uns einstweilen nur an den Vorstrafen orientieren, bei denen jedenfalls der Anteil für die nach § 257 StGB Verurteilten etwas unter dem Durchschnitt zu liegen pflegt. Ganz besonders gilt dies natürlich für Krisenzeiten, während die Lage in normalen Zeiten praktisch ausgeglichen sein kann. Über die Art der Vortaten läßt sich bisher leider nichts aussagen. In der M o t i v a t i o n wird bei der Strafvereitelung — und zwar nicht nur bei der eigennützigen — die Gewinnsucht eine gewisse Rolle spielen; daneben k o m m t naturgemäß wirtschaftliche Not in Betracht. Dem Geltungsdrang dürfte nur ganz untergeordnete Bedeutung zukommen; Motive der emotionalen Gruppe scheiden angesichts der Struktur dieses Delikts nahezu völlig aus. Nach allem dürften eindeutig philanthropische Motive dominieren, die auf Verwandtschaft, Freundschaft, Liebe oder Mitleid zurückzuführen sind. 4.

Tätertypologie

Die Gruppe der R ü c k f a l l s t ä t e r wird bei der Strafvereitelung verhältnismäßig klein sein. Sie wird selbst in normalen Zeiten kaum über 20% hinauskommen. Überwiegend wird es sich dabei allerdings um antisoziale Rückfallstäter handeln, die bedenkenlos oder aus H a ß auf die Strafverfolgungsbehörden Kriminellen Beistand leisten. Aber auch bei den Asozialen wird man das finden, während sozial Hilflose nur sehr selten auftauchen werden. Mit rund 8 0 % wird die Gruppe der D u r c h s c h n i t t s t ä t e r bei der Straf Vereitelung eindeutig überwiegen. Dabei ist es natürlich, daß E n t wicklungstäter, die aus falscher Kameradschaft handeln, hier verhältnismäßig häufig sind. Auf

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Rechtspflegedelikte Konfliktstäter wird man seltener treffen. Überwiegend werden wir eigentliche Durchschnittstäter vor uns haben, die durch Straftaten ihnen nahestehender Menschen veranlaßt werden, diesen in einer an sich verständlichen, aber strafbaren Weise zu helfen. E s zeigt sich hier also eine nicht unbedenkliche Weite des Straftatbestands, der andererseits ein wichtiges kriminalpolitisches Instrument gegen diejenigen darstellt, die als Antisoziale dem Kriminellen skrupellos das Rückgrat stärken und ihn dadurch zu Gesetzesverstößen ermuntern. D. Gefangenenbefreiung und -meuterei Die Strafvorschriften, die der Gefangenenbefreiung und -meuterei vorbeugen sollen, sind streng genommen Sonderfälle der Strafvereitelung, die sich auf den Vollzug einer Freiheitsstrafe oder eines anderen Freiheitsentzuges beschränken; überdies handelt es sich um ausnahmsweise strafbare Fälle einer Selbstbegünstigung oder des Beistands dazu. Gerade im Hinblick auf die §§ 257a, 330b, 145c S t G B ist dieser Zusammenhang unverkennbar; dort werden andere Fälle als die hier interessierenden erfaßt, die auf Befreiung eines Inhaftierten oder Störung des Vollzugs der Freiheitsstrafe bzw. bestimmter mit Freiheitsentzug verbundener Maßregeln hinauslaufen. Insoweit aber liegt die spezielle Problematik doch etwas anders, weshalb wir diese Vorschriften gesondert behandeln wollen, die der Gesetzgeber in den §§ 120—122 b S t G B dem Widerstand gegen die Staatsgewalt zugeordnet hat. Das kann schon deshalb nicht überzeugen, weil die Gefangenenbefreiung an sich keinen Widerstand gegen Beamte voraussetzt; aber auch sonst, ζ. B . bei der Gefangenenmeuterei, ist es u. E . nicht richtig, die Verletzung des Beamten oder den Ungehorsam in den Vordergrund zu stellen, weil dieser nur symptomatisch für die Störung bzw. Gefährdung der Strafrechtspflege ist. Ein qualifizierter Fall der Gefangenenbefreiung durch Beamte, der ebenfalls hierher gehört, ist heute als unechtes Amtsverbrechen in § 347 S t G B geregelt. Löst man sich etwas von dem gegenwärtig unser Sanktionensystem beherrschenden Dualismus von Strafe und Maßregel, so ist die Systematik des Gesetzes einfach zu überblicken. Bei der Befreiung des Gefangenen, d. h. einem Verhalten, das den Inhaftierten dem Freiheitsentzug entziehen soll, unterscheidet das Gesetz zwischen der Befreiung durch einen Dritten und der Beihilfe zur Selbstbefreiung. Die hier maßgebenden §§ 1 2 0 , 1 2 1 S t G B , die außer Strafgefangenen auch Untersuchungshäftlinge und vorläufig Festgenommene betreffen, werden durch § 122 a S t G B nur dahin ergänzt, daß sie ebenso für Sicherungsverwahrte und Arbeitshäusler gelten, weshalb insoweit kein Unterschied zwischen Strafe und Maßregel besteht.

Lediglich für andere Fälle behördlichen Freiheitsentzuges sieht § 122 b S t G B eine ergänzende Sonderregelung vor. Erfaßt § 120 S t G B als allgemeine Vorschrift sowohl die Gefangenenbefreiung i. e. S. als auch den Beistand zur Selbstbefreiung, so enthält § 121 S t G B für den letztgenannten Fall eine Sonderregelung für Täter, die mit der Beaufsichtigung oder Begleitung Inhaftierter beauftragt sind. Einen praktischen Sinn hat diese Vorschrift überhaupt nur im Hinblick auf ihren Abs. I I , der bei diesen Tätern Fahrlässigkeit ausreichen läßt. Da in aller Regel jedoch nur Beamte mit der Bewachung, Beaufsichtigung oder Begleitung Inhaftierter betraut werden, kommt insoweit durchweg § 347 S t G B in Betracht, nach dessen Abs. I I ebenfalls Fahrlässigkeit ausreicht. § 347 I I I S t G B entspricht in der Sache § 122 a S t G B . I m übrigen umfaßt § 347 I S t G B — wie § 120 S t G B — außer der Beihilfe zur Selbstbefrciung auch die Gefangenenbefreiung i. e. S. — Negativ zeigt die geschilderte Regelung, daß der Gefangene für die Selbstbefreiung als solche grundsätzlich nicht strafbar sein soll. Obwohl die herrschende Meinung unter dem Gesichtspunkt der „notwendigen Teilnahme" gewisse Grenzen eingehalten wissen will, sind u. E . die Teilnahmevorschriften überhaupt unanwendbar, weil es sich um einen aus der Regelung zu entnehmenden ungeschriebenen Strafausschließungsgrund handelt, der wie für die Täterschaft des Gefangenen so auch für seine Teilnahme gelten muß. Natürlich kann der Gefangene bei der Selbstbefreiung gegen andere Strafvorschriften verstoßen. Die Gefangenenmeuterei ist an sich ein eigenständiges Delikt, auch wenn in § 122 I S t G B neben einem Angriff auf Beamte der Widerstand und das Unternehmen der Beamtennötigung erwähnt werden. Die Zusammenrottung, bei der die Täter mit vereinten Kräften vorgehen müssen, zeigt, daß es entscheidend auf die Gefährdung der Strafrechtspflege ankommt. Wie bei den insoweit vergleichbaren §§ 115, 125 S t G B ( R e c h t s f r i e d e n s delikte) werden diejenigen, die selbst eine Gewalttätigkeit verüben, nach § 122 I I I S t G B erschwert bestraft. Ein Sonderfall der Gefangenenmeuterei und zugleich ein ausnahmsweise strafbarer, erschwerter Fall der Selbstbefreiung ist der in § 122 I I S t G B geregelte gewaltsame Ausbruch mit vereinten Kräften. 1. Entwicklung und praktische

Bedeutung

Fassen wir Gefangenenbefreiung (i. w. S.) und Gefangenenmeuterei unter dem Begriff der Gefangenenkriminalität zusammen, weil es sich um durch Freiheitsentzug bedingte Formen kriminellen Verhaltens handelt, so müssen wir historisch beachten, daß die praktische Bedeutung derartiger Gesetzesverstöße wesentlich vom strafrechtlichen Sanktionensystem abhängt. Einschlägige Vor-

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chriften alter Rechte bezogen sich auf Personen, die aus politischen Gründen oder für die Zwecke eines Strafverfahrens — gewissermaßen als Untersuchungshäftlinge — verwahrt wurden. Erst im 18. Jahrhundert, als die Freiheitsstrafe im modernen Sinne, von der man erst seit dem Ende des 16. Jahrhunderts sprechen kann, auch in Deutschland gegenüber Lebens- und Leibesstrafen sehr an praktischer Bedeutung gewonnen hatte, bemühte man sich, die Problematik klarer in den Griff zu bekommen. Dabei beschränkte die Lehre sich auf die Gefangenenbefreiung i. w. S., bei der man Selbstbefreiung, Befreiung durch einen Beamten und Befreiung durch sonstige Dritte unterschied. In den Vordergrund stellte man dabei den Ungehorsam gegenüber dem Staat. Noch im Preußischen Allgemeinen Landrecht vom Jahre 1794 wurde so die Gefangenenmeuterei dem Aufruhr gleichgestellt. Erst das preußische Strafgesetzbuch gelangte zur heutigen Konzeption, die aber — wie gesagt — insoweit irreführend erscheint, als sie auf den Widerstand gegen die Staatsgewalt abstellt. Für die Entwicklung und die praktische Bedeutung dieser Tatbestände läßt sich an Hand der Kriminalstatistik nur wenig sagen, weil die statistische Methode uneinheitlich ist; vor allem aber werden die kriminologisch besonders interessanten Fälle der Selbstbefreiung mangels Strafbarkeit als solche nicht erfaßt. — Für die G e f a n g e n e n b e f r e i u n g (i. w. S.) liegen die Kriminalitätsziffern, wenn man von § 347 StGB absieht, in der Zeit des Kaiserreiches durchweg zwischen 3 und 4. Täuschend wirken wohl die niedrigen Zahlen der Nachkriegszeit, ζ. B. 0,6 im Jahre 1919. Nachdem 1923 etwa der Vorkriegsstand erreicht wird, sinkt die Zahl der Verurteilungen, um sich etwa zwischen 2 und 3 zu halten. In der jüngsten Entwicklung seit 1950 liegt die Kriminalitätsziffer mit 0,35 sogar erstaunlich tief. Aus den etwas unvollständigen Zahlen für die G e f a n g e n e n m e u t e r e i , die — wie gesagt — erschwerte Fälle der Selbstbefreiung umfassen, läßt sich entnehmen, daß die Kriminalitätsziffer vor dem ersten Weltkrieg mit etwa 0,15 recht tief liegt. Sie steigt in den unmittelbaren Nachkriegsjahren beträchtlich auf 1,4 im Jahre 1920 und 1,6 im Jahre 1921, um dann wieder allmählich auf den Vorkriegsstand zu sinken. Im Gegensatz zur Gefangenenbefreiung zeigt die Entwicklung nach dem zweiten Weltkriege hier eine nicht unerhebliche Zunahme; die Kriminalitätsziffer liegt um 0,5 herum. Trotz aller Vorbehalte dürfte die günstige Entwicklung auf dem Gebiete der Gefangenenbefreiung vor allem auf das Zurückgehen der Freiheitsstrafen und auf die Vollzugserleichterungen zurückzuführen sein, die einen Beistand erübrigen. Denn sicherlich ist die Zahl der Selbstbefreiungen,

obwohl sie üblicherweise überschätzt wird, größer, wenn man hier Anstaltsstatistiken zum Vergleich heranzieht. Die deutliche Zunahme von Gefangenenmeuterei dürfte darauf beruhen, daß der Respekt vor dem Anstaltspersonal abgenommen hat und die Gefangenen es im Vertrauen auf ihre Rechte eher wagen zu opponieren.

2. Erscheinungsformen

(Kriminalphänomenologie)

Allgemein läßt sich zur Phänomenologie der Gefangenenkriminalität nur sagen, daß nach Einzeluntersuchungen Fluchtversuche in etwa 75% aller Fälle dann unternommen werden, wenn der Gefangene sich zur Arbeit außerhalb der Mauer aufhält. Nur 15% der Gefangenen entfliehen aus der geschlossenen Anstalt. Die restlichen 10% ergreifen die Gelegenheit zur Flucht anläßlich eines Transports, einer Vorführung, eines Krankenhausaufenthalts oder dergl. Die G e f a n g e n e n b e f r e i u n g i. w. S. umfaßt die Selbstbefreiung ohne fremde Hilfe und die Befreiung mit Hilfe Dritter. In beiden Fällen kann die Tat einmal mit Gewalt gegen Personen oder Sachen begangen werden. Zum anderen, und das ist wohl überwiegend der Fall, handelt der Gefangene bzw. der ihm Beistand leistende Dritte, ohne Gewalt anzuwenden. Die G e f a n g e n e n m e u t e r e i , zu der nach dem Gesagten nicht der gewaltsame Ausbruch zu rechnen ist, umfaßt einmal den in der Anstalt geleisteten Widerstand und zum anderen Zusammenrottungen, die mit Gewalttätigkeiten verbunden sind, wobei es nicht um eine Befreiung geht. Handelt es sich einmal um relativ harmlose Fälle des Ungehorsams, so müssen wir andererseits an blutige Gefängnisrevolten denken, die glücklicherweise in Deutschland verhältnismäßig selten sind. 3. Ursachen

(Kriminalätiologie)

Hinsichtlich des G e s c h l e c h t s entspricht der Anteil weiblicher Täter bei der Gefangenenbefreiung in etwa dem Durchschnitt, während er bei der Gefangenenmeuterei verständlicherweise sehr viel tiefer liegt. In der Altersgruppierung überwiegt der Anteil junger Rechtsbrecher sogar noch deren Anteil an den Gefangenen. So hat man ζ. B. bei der Gefangenenbefreiung ermittelt, daß nahezu 66% der Flüchtigen noch nicht 25 Jahre alt waren. Über I n t e l l i g e n z u n d E r z i e h u n g läßt sich ebenso wie über die s o z i a l e L a g e nichts sagen, weil die Situation vor allem durch das Anstaltsleben geprägt wird. Für das s o z i a l e V e r h a l t e n ist bemerkenswert, daß bei der Gefangenenbefreiung der Anteil Vorbestrafter besonders groß ist. Einzeluntersuchungen haben bei den Flüchtigen einen Anteil von 98% Vorbestraften ergeben, während durchschnittlich nur 66% der

Rechtspflegedelikte Gefangenen vorbestraft sind. Vor allem aber handelt es sich überwiegend um einschlägig Vorbestrafte; man hat hier bei den Entfliehenden Sätze von 8 6 % festgestellt. Auch bei der Gefangenenmeuterei sind Anteile von 75—66°/ 0 Vorbestraften ermittelt worden. In der M o t i v a t i o n dürfte bei der Gefangenenbefreiung — aber wohl auch bei der Gefangenenmeuterei — an erster Stelle die subjektive Not stehen, die vor allem durch den Freiheitsdrang bewirkt wird. Auch Sorge um Angehörige oder dergl. können für den Täter ausschlaggebend sein. Hinsichtlich der Dritten werden philanthropische Motive — Verbundenheit, Mitleid usw. — überwiegen. Natürlich können bei den beiden Tätergruppen auch emotionale Motive wie Haß, Rachsucht usw. vorherrschend sein, die namentlich bei der Gefangenenmeuterei wichtig sein dürften. Schließlich aber gibt es auch abnorme Haftreaktionen, die sich nur als solche erfassen lassen. 4.

Tätertypologie

Bei der Gefangenenkriminalität werden wir es in besonders großem Umfange mit R ü c k f a l l s t ä t e r n zu tun haben. Vermutlich wird ihr Anteil etwa 6 6 % ausmachen. Noch größer wird der Anteil bei der Selbstbefreiung sein (80—90%). Doch wird die Gruppe der antisozialen Rückfallstäter nicht so groß sein, wie man auf den ersten Blick hin annehmen könnte, weil wir es vermutlich ebensooft mit sozial Hilflosen zu tun haben werden. Bei den D u r c h s c h n i t t s t ä t e r n wird die Mehrzahl der Rechtsbrecher — vielleicht 20—25% aller Täter — dem Typ des Entwicklungstäters zuzuordnen sein. Konfliktstäter und eigentliche Durchschnittstäter werden demgegenüber verhältnismäßig selten sein.

IV. ANDERE RECHTSPFLEGEDELIKTE UND VERWANDTE TATBESTÄNDE Abschließend sollen nun, um das Bild abzurunden, noch einige Tatbestände behandelt werden, die entweder allgemeine Rechtspflegedelikte verkörpern oder die doch in praxi wesentlich die Rechtspflege schützen. Beschränkung ist hier jedoch einmal geboten, weil die praktische Bedeutung der erstgenannten Delikte gering ist und sich schon deshalb kriminologisch nicht viel sagen läßt; zum anderen müssen wir bedenken, daß wir mit den anderen Delikten streng genommen den uns gesetzten Rahmen überschreiten. Dennoch erscheinen einige Hinweise unerläßlich, weil u. E. gerade die Kriminologie den engen Zusammenhang dieser Straftaten mit den Rechtspflegedelikten deutlich werden läßt.

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A. Richterkorruption, Rechtsbeugung und Parteiverrat Rechtspflegedelikte sind — wie angedeutet — die nach § 334 StGB als Korruption von Richtern strafbaren Verhaltensweisen. Abs. I stellt die Bestechlichkeit von Richtern und Abs. I I entspechend die Bestechung dieser Personen als allgemeines Verbrechen unter Strafe. Die Tathandlung bezieht sich in verschiedenen Formen auf Geschenke oder andere Vorteile. Dieses eigennützige Verhalten muß ferner im Zusammenhang mit der richterlichen Tätigkeit stehen. — Entsprechende Strafvorschriften finden wir bereits im Zwölftafelrecht der Römer aus dem Jahre 451 v. Chr. Das alte deutsche Recht ist sehr unübersichtlich. Erst in der gemeinrechtlichen Doktrin taucht zunächst der Tatbestand der Bestechlichkeit und später der Bestechung von Richtern auf, wobei man sich zuweilen auf Strafrichter beschränkte. Die praktische Bedeutung der Strafvorschriften ist gering. Die Statistik weist in zahlreichen Jahren nicht eine einzige Verurteilung im Reichs- oder Bundesgebiet aus. Sind einmal Verurteilungen verzeichnet, so beziehen sie sich durchweg auf die Bestechung, deren Problematik im wesentlichen der Bestechung von Exekutivbeamten entsprechen dürfte. Auch die Rechtsbeugung ist ein Sonderverbrechen, das — wie die Bestechlichkeit — nur von Richtern begangen werden kann, die allerdings beamtet sein müssen. Rechtsbeugung begeht, wer sich bei der richterlichen Tätigkeit zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht. Kriminologisch ist die Situation der Richterbestechlichkeit vergleichbar. Der in § 356 S t G B geregelte Parteiverrat ist ein Son der verbrechen, das allerdings kein echtes Amtsdelikt verkörpert. Denn Täter dieser Delikte können nur Anwälte oder andere Rechtsbeistände sein. Tatbestandsmäßig handelt, wer hinsichtlich seiner Obliegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient. Kriminologisch ist diese interessante Materie bisher noch zu wenig erforscht. B. Verletzung staatlicher Rechte Nicht im technischen Sinne, wohl aber der Sache nach gehören zu den Rechtspflegedelikten eine Reihe von Strafvorschriften, die staatliche Rechte schützen, weil diese sich zumindest in praxi vorwiegend auf Rechtspflege Organe beziehen. Vor allem gilt das für die §§ 133, 137, 136 StGB, die das Gesetz den Straftaten gegen die öffentliche Ordnung zugewiesen hat, obwohl es sich um Delikte gegen die Staatsverwaltung handeln dürfte. Historisch gesehen haben diese Tatbestände allerdings eine andere Wurzel. Die Entwicklung nahm ihren Ausgang vom Beschädigen amtlicher Bekanntmachungen, das letztlich

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Rechtspflegedelikte

cine Verletzung der Ehre des Staates darstellt. Finden wir schon im römischen Recht einschlägige Vorschriften, so waren diese doch recht maßvoll. Ähnlich war es im mittelalterlichen deutschen Recht. Im Zeitalter des Absolutismus jedoch gewann dieses Delikt als Majestätsverbrechen große Bedeutung; wie insb. das Preußische Allgemeine Landrecht zeigt. Alsbald nun erklärte der preußische König durch Reskript vom Jahre 1798 diese Vorschrift für analog anwendbar auf Täter, die ein gerichtliches Siegel abrissen, ohne etwas wegzunehmen. Das war die Geburtsstunde des heute in § 136 StGB geregelten Siegelbruches, bei dem es aber nicht so sehr auf die Form als vielmehr auf die Funktion des Siegels im Rahmen der Vollstreckung ankommt. Auch der in § 137 StGB bei Strafe verbotene Verstrickungsbruch hängt eng mit der Entwicklung des Vollstreckungsrechts zusammen. Das bei Pfändung oder Beschlagnahme entstehende Verstrickungsverhältnis ist das, was beim Siegelbruch durch das Siegel symbolisiert wird. Diese Konsequenzen zog aber erst der Entwurf des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund; zuvor hatte man sich hier mit Vorschriften zum Schutze des privaten Pfandrechts geholfen. Am allgemeinsten kommt die Funktion eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses im § 133 StGB zum Ausdruck, der Sachen vor Beschädigung bzw. dem Beiseiteschaffen schützt, welche sich zu einem besonderen Aufbewahrungszweck im amtlichen Gewahrsam befinden. Dieser Verwahrungsbruch wurde im 19. Jahrhundert aus Vorschriften entwickelt, die das Entwenden von Urkunden aus öffentlichen Archiven und dergl. verboten. Die E n t w i c k l u n g ist etwas schwierig zu beurteilen, weil man in der Kriminalstatistik nicht immer einheitlich verfahren ist. Die vor dem ersten Weltkriege niedrige Kriminalitätsziffer des V e r w a h r u n g s b r u c h e s von etwa 0,07 stieg während des Krieges sehr schnell auf 7,7, um 1925 wieder etwa den Vorkriegsstand zu erreichen. Von einer Kriminalitätsziffer 2,3 im Jahre 1951 sind wir im Jahre 1960 wieder bei 0,2 angelangt. Der S i e g e l b r u c h tritt im allgemeinen zahlenmäßig sehr zurück, obwohl wir vor dem ersten Weltkriege die Kriminalitätsziffer 0,4 finden. Beträchtlich höher liegen durchweg die Kriminalitätsziffern f ü r den V e r s t r i c k u n g s b r u c h . Schon im Kaiserreich finden \vir Werte um 4 und 5 herum, die dann allerdings in den Nachkriegsjahren abnehmen (1923: 2,8). Nach einer rapiden Zunahme vom Jahre 1925 ab wird 1932 die Kriminalitätsziffer 15,7 erreicht. Die zusammenfassende Kriminalitätsziffer für die §§ 137, 136 StGB steigt von 2,5 im Jahre 1950 auf 5,1 im Jahre 1952, um sich dann nach Rückgang der Verurteilungen in den Jahren 1956—1960 um 2 herum zu bewegen, was immerhin im Verhältnis zu § 133 StGB das Zehnfache bedeutet.

Die unterschiedliche Struktur dieser Delikte bestätigt sich auch in der K r i m i n a l p h ä n o m e n o l o g i e , wo man beim Verwahrungsbruch zwischen dauernd in amtlicher Verwahrung befindlichen öffentlichen Sachen und treuhänderisch aufbewahrten Sachen unterscheiden sollte. Beim Verstrickungsbruch wird man sich nach der Art der Verstrickung richten, wobei eindeutig Zwangsvollstreckung und Zwangsversteigerung im Vordergrund stehen. Beim Siegelbruch würden wir nach der Art des Amtssiegels klassifizieren. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Pfändungszeichen des Gerichtsvollziehers; daneben tauchen der Stempel auf den polizeilichen Kennzeichen der Kraftfahrzeuge und Verschlußplomben an Zählern und Feuermeldern auf. Hinsichtlich der U r s a c h e n weisen diese Delikte wiederum einige Unterschiede auf. Insgesamt aber liegt der Anteil weiblicher Täter wohl höher als im Durchschnitt. Während Verstrickungs- und Siegelbruch im allgemeinen nur von erwachsenen Tätern begangen werden, nähert die Altersschichtung sich beim Verwahrungsbruch dem üblichen Bild an. Die Belastung mit Vorstrafen entspricht in etwa dem Durchschnitt. T ä t e r t y p o l o g i s c h haben wir es bei den gen. Verletzungen staatlicher Rechte im wesentlichen mit Durchschnittstätern zu tun, die nicht gar so selten dem Typ des Konfliktstäters zuzuordnen sein werden. Diese wenigen Hinweise müssen genügen, um darzutun, daß diese Straftaten interessante kriminologische Probleme bieten, die zumindest eine enge Verwandtschaft mit denen der Rechtspflegedelikte zeigen. C. Beamtennötigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt Ebenso sind die Beamtennötigung und die ebenfalls im 6. Abschnitt des Strafgesetzbuchs geregelten Fälle des Widerstands gegen die Staatsgewalt, obwohl Straftaten gegen die Staatsverwaltung, im weiteren Sinne den Rechtspflegedelikten zuzuordnen, weil derartige Gesetzesverstöße sich vor allem gegen Rechtspflegeorgane richten. Strafrechtlich ist hier von der Beamtennötigung (§ 114 StGB) auszugehen, bei der es darauf ankommt, daß die nur durch den Amtsträger mögliche Bildung und Betätigung des staatlichen Willens nicht beeinträchtigt werden soll. Der Widerstand gegen die Staatsgewalt im Sinne von § 113 StGB ist insoweit nur ein Spezialfall, bei dem die Tat sich gegen einen in rechtmäßiger Ausübung seines Amtes begriffenen Vollstreckungsbeamten richten muß. Allerdings greift die Begehungsweisc des tätlichen Angriffs u. U. darüber hinaus, weil derartige Beamte ohne Rücksicht auf Willensbildung bzw. -betätigung geschützt werden, was an einen besonderen Schutz

Rechtspflegedelikte der Staatsdiener vor tätlicher Beleidigung erinnert. Die §§ 117—119 StGB enthalten wohl vor allem historisch bedingte Fälle des Forstwiderstands, die gegenüber § 113 StGB ergänzende bzw. qualifizierende Funktion haben. Die antiken Rechte zeigten in diesem Bereich ebenso wie das alte deutsche Recht eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Wenn entsprechende Tatbestände dann auch in den Stadtrechten des ausgehenden Mittelalters auftauchten, so schuf doch erst die absolute Monarchie hier strenge Strafvorschriften, deren Zusammenhang mit der Majestätsbeleidigung unverkennbar ist. Obwohl man sich nach der französischen Revolution mit dem Erfordernis einer rechtmäßigen Amtsausübung um Begrenzung bemühte, haben derartige Gedanken sich in dem f ü r die Entwicklung hierzulande maßgebenden preußischen Recht nur schwer durchsetzen können. Dies zeigen noch das geltende Gesetz u n d der Entwurf. Die p r a k t i s c h e B e d e u t u n g dieser Delikte ist erheblich. Dabei überwiegen die Fälle des Widerstandes (§ 113 StGB), die etwa im Verhältnis 6 : 1 zur Beamtennötigung stehen. Besonders in Krisenzeiten nehmen die Verurteilungen sehr zu; so lautete ζ. B. im J a h r e 1932 die zusammenfassende Kriminalitätsziffer 35. I m J a h r e 1950 ist für erwachsene Verurteilte beim Widerstand die Kriminalitätsziffer 13 und bei der Beamtennötigung 1,6 zu verzeichnen. Sie blieben in den folgenden Jahren einigermaßen konstant. So wurden im J a h r e 1960 insgesamt 4117 Personen wegen Widerstandes u n d 514 Rechtsbrecher wegen Beamtennötigung bestraft, was Kriminalitätsziffern von 9,9 u n d 1,2 entsprechen würde. K r i m i n a l p h ä n o m e n o l o g i s c h ist hinsichtlich des Tatorts festzustellen, daß Widerstand gegen die Staatsgewalt überwiegend im Freien und Beamtennötigung in der Mehrzahl in Räumen begangen wird. Was die Jahreszeit anlangt, so zeigen beim Widerstand die Sommermonate eine Zunahme ; Entsprechendes gilt für das Wochenende, das besonders belastet ist. — Der W i d e r s t a n d richtet sich in der Mehrzahl der Fälle — vermutlich sind es 75% — gegen Polizeibeamte, die bekanntlich häufig strafprozessuale Funktionen wahrnehmen. Im übrigen wird vor allem der Gerichtsvollzieher betroffen. — Bei den Erscheinungsformen der B e a m t e n n ö t i g u n g , die sich schwerer überblicken lassen, wird man wohl von der Tätigkeit des Beamten ausgehen müssen. Für die K r i m i n a l ä t i o l o g i e sei erwähnt, daß der Anteil weiblicher Täter mit heute um 7 % der Vnrurteilten recht gering ist. Hinsichtlich der Altersschichtung dürfte beim Widerstand bemerkenswert sein, daß junge Rechtsbrecher jedenfalls nicht besonders belastet sind. Vielmehr handelt es sich überwiegend u m Täter zwischen 21 und 40 Jahren. Die Täter der Beamtennötigung pflegen noch älter zu sein. Die Belastung mit Vor-

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strafen ist beim Widerstand größer als üblich. Sätze u m 5 0 % sind keine Seltenheit; im J a h r e 1960 waren ζ. B. 58% der nach den §§ 113, 114 StGB Verurteilten vorbestraft. Einzeluntersuchungen haben ergeben, daß ein Drittel der Rechtsbrecher mehr als viermal vorbestraft ist. Der Art nach überwiegen Gewaltdelikte wie Körperverletzung, Sachbeschädigung, tätliche Beleidigung u n d dergl. In der Motivation spielen in erster Linie wohl Motive der emotionalen Gruppe — Haß, Rachsucht usw. — eine Rolle. Daneben kommen wirtschaftliche Motive ·— Gewinnsucht oder Not — in Betracht. Wichtiger dürfte aber subjektive Not sein, wenn ein Täter sich beispielsweise einer Festnahme widersetzt. In allen Fällen k o m m t dem Alkohol als tatauslösendem Faktor eine erhebliche Bedeutung zu; einzelne Untersuchungen sind auf Sätze von 7 5 % gekommen u n d haben den Widerstand als typisches Alkoholdelikt bezeichnet. T ä t e r t y p o l o g i s c h werden dennoch die Durchschnittstäter überwiegen. Allerdings spielen auch Rückfallstäter hier eine nicht unerhebliche Rolle, wobei es sich vielfach um antisoziale Rückfallsverbrecher handeln wird.

V. SCHLUSSBETRACHTUNG Dieser in Teilen notwendig gedrängte Überblick über die Rechtspflegedelikte sollte nach allem zumindest gezeigt haben, daß wir es auch kriminologisch mit einer überaus wichtigen u n d reizvollen Materie zu t u n haben. Und ganz sicher würden die hier weithin noch fehlenden genaueren kriminologischen Untersuchungen sich vermutlich auch klärend u n d anregend auf die strafrechtliche Diskussion auswirken. Monographien G. F u c h s : Wir Zuchthäusler, Erinnerungen des Zellengefangenen Nr. 2911, München 1931. P. P l a u t : Der Zeuge und seine Aussage im Strafprozeß, Leipzig 1931. H. T e i c h m a n n : Meineidige und Meineidssituationen, KrimAbh. H. 21, Leipzig 1935. A. A m e n d : Die Kriminalität in Deutschland 1919—1932, KrimAbh. H. 27, Leipzig 1937. F. M a n g l k a m m e r : Der Widerstand gegen die Staatsgewalt. Eine kriminologische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Bayerns, KrimAbh. II. 26, Leipzig 1938. W. H i l l m a n n : Die Eidesverletzungen im Landgerichtsbezirk Eisenach in den Jahren 1900—1936, KrimEinzelf. H. 3, Jena 1939. K. P e t e r s : Zeugenlüge und Prozeßausgang, Bonn 1939. H. S i m o n : Das Wesen der falschen Anschuldigung in der geschichtlichen Entwicklung und im ausländischen sowi e geltenden und kommenden deutschen Strafrecht, StrafrAbh. H. 401, Breslau-Neukirch 1939. H. G e s c h k e : Das Delikt der falschen Anschuldigung im Bereich des Amtsgericht9bezirks Leipzig, KrimEinzelf. H. 6, Jena 1940. G. B e r n a t s : Die Eidesverletzungen im Landgerichtsbezirk Essen in den Jahren 1931—1938, Diss. Bonn 1941.

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Religion

Η. F a s c h i n g e r : Die Eidesverletzungen im Landgerichtsbezirk Bonn in den J a h r e n 1905—1939, KrimEinzelf. H. 12, Jena 1941. F. S c h m i t z : Die Eideskriminalität im Landgerichtsbezirk Duisburg von 1906—1936, KrimEinzelf. II. 10, Jena 1941. Ii. G ö h m a n n : Die Eidesverletzungen im Landgerichtsbezirk Göttingen in den J a h r e n 1920—1942, Diss. Göttingen 1947. K. S. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität, Tübingen 1949. P. J . S c h w e i s t h a l : Die Eidesdelikte. Eine kriminalsoziologische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Kriminalität im Landgerichtsbezirk Münster von 1924—1941, Diss. Münster 1949. R. S c h w e g e l b a u e r : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei der falschen Anschuldigung. Eine Untersuchung an Hand der Akten der Amtsgerichte Freiburg i. Br., Göppingen und Geislingen/Steige aus den Jahren 1928—1949, 1950, Diss. Freiburg i. Br. 1951. Ii. G r a ß b e r g e r : Psychologie des Strafverfahrens, Wien 1950. A. H e l l w i g : Psychologie und Vernchmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen, 4. Aufl., Stuttgart 1951. J . M a r t i n : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei den Delikten der Gewalt und Drohung gegen Beamte, dargestellt anhand von Akten aus dem Landgerichtsbezirk Bremen, Diss. Freiburg i. Br. 1951. M. R o d e : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei der falschen Anschuldigung und Vortäuschung einer Straftat. Eine Untersuchung an H a n d von Akten aus dem niedersächsisch-hamburgischen R a u m aus den Jahren 1945 bis 1949, Diss. Freiburg i. Br. 1951. H . G o e b e l : Die Eideskriminalität im Landgerichtsbezirk Wiesbaden in den Jahren 1927—1950, Diss. Bonn 1952. H. O. S p a l l : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei falscher uneidlicher Aussage und Meineid mit Ausnahme der falschen Versicherung an Eides S t a t t . Eine Untersuchung an Hand von Gerichtsakten der Landgerichtsbezirke Karlsruhe, Mannheim und Heidelberg aus den Jahren 1944—1951, Diss. Freiburg i. Br. 1953. W, G a s s m a n n : Die falsche Anzeige (§§ 104, 145d StGB), Diss. Tübingen 1953. F. M e i n e r t : Vernehmungstechnik, 4. Aufl., Lübeck 1956. II. Gig e r : Kriminologie der Entweichung, Winterthur 1959. W. K. R i c h t e r : Die Aussage- und Eideskriminalität nach dem zweiten Weltkrieg, eine kriminologische Untersuchung über die Zeit von 1945—1955 an Hand der Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Essen, Diss. Bonn 1962. M. R e i c h - D ö r r : Zur Psychologie der falschen Anschuldigung und falschen Selbstbezichtigung, Krim. Schriftenreihe Bd. 7, Hamburg 1962. D. M u m m : Zum Wesen der Aussagedelikte. Ein Beitrag zur Kriminologie, Kriminalistik und zum Unrechtsgehalt dieser Delikte unter Berücksichtigung der Verfahren im Landgerichtsbezirk Kiel in den J a h r e n 1957—1961, Diss. Kiel, H a m b u r g 1964 ( = Krim. Schriftenreihe Bd. 16). W. D i e k m a n n : Das Entweichen Gefangener. Eine kriminologische Studie unter besonderer Berücksichtigung der Strafvollzugsverhältnisse in dem Gerichtsbezirk Bonn in den Jahren 1953—1961, Krim. Unters. H. 20, Bonn 1964. U. R a n n i g e r : Die Falschverdächtigung (§ 164 StGB). Eine kriminologische und juristische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren im Oberlandesgerichtsbezirk Schleswig in den Jahren 1959—1963, Diss, ^iel, F r a n k f u r t 1967. Zeitschriften- und

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F. G e e r d s : Über die Erscheinungsformen der Strafvereitelung, Kriminologische Wegzeichen (Festschr. f. II. v. Hentig), Krim. Schriftenreihe Bd. 29, Hamburg 1967, S. 133 ff. Materialien Die amtliche Kriminalstatistik, herausgegeben bis 1936 vom Statistischen Reichsamt in Berlin und seit 1950 vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden; die Polizeiliche Kriminalstatistik, seit 1953 herausgegeben vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden. FRIEDRICH

GEERDS

RELIGION A. Einleitung W e n n wir das Verhältnis v o n Kriminalität u n d R e l i g i o n b e h a n d e l n w o l l e n , s o e r s e h e i n t es u n s r i c h t i g , d a ß w i r die R e l i g i o n i n e i n e m m ö g l i c h s t umfassenden K o n t e x t begreifen. K r i m i n o l o g e n h a b e n es, w i e s i c h i m m e r w i e d e r z e i g t , b i s w e i l e n s c h w e r m i t der B e s t i m m u n g v o n dem, was Kriminalität ist, das heißt mit d e m Z w e c k ihrer W i s s e n s c h a f t . W e n n sie es w a g e n , über das Verhältnis v o n Kriminalität u n d Relig i o n z u s p r e c h e n , m ü s s e n sie a u ß e r d e m n o c h die heikle Frage beantworten, was Religion ist. S c h l u ß f o l g e r u n g e n , die u n s d i e E t y m o l o g i e z u b i e t e n s c h e i n t , w e n n w i r u n s m i t der S c h w i e r i g keit v o n Begriffsbestimmungen befassen müssen, sind meistens zu einfach. Aber in diesem Falle w o l l e n w i r d e n A n s a t z b e i d e m s u c h e n , w a s — aller W a h r s c h e i n l i c h k e i t n a c h — die W u r z e l d e s W o r t e s i s t . K o m m t R e l i g i o n v o n r e l i g a r e oder v o n r e l e g e r e ? W o h l ziemlich sicher v o n r e l e g e r e ( v g l . die D a r l e g u n g i n : L a t e i n i s c h e s etymol o g i s c h e s W ö r t e r b u c h v o n A . W a l d e , 3. n e u b e arb. A u f l a g e v o n J . B . H o f m a n n , u n t e r d e m W o r t e d i l i g o , B d . I, H e i d e l b e r g 1 9 3 8 , S. 3 5 2 / 3 5 3 ) . R e legere b e d e u t e t Observanz b e a c h t e n . Die A b l e i t u n g f i n d e t m a n b e i Cicero, D e n a t u r a d e o r u m 2, 7 2 . ( H o f m a n n b e m e r k t h i e r z u : „ r e n a c h Cicero w i e i n r e t r a c t a r e , a l s o , ν ο η n e u e m i n G e d a n k e n d u r c h g e h e n ' " . V g l . a u c h Cassel's L a t i n D i c t i o n a r y , 1 9 5 6 , S. 4 7 8 ) . R e l i g i o n i s t d a n n e i n S y s t e m der A n e r k e n n u n g e i n e r e n t d e c k t e n W a h r h e i t u n d d a s E r l e b e n oder I n - S t a n d - h a l t e n d a v o n i m t ä g l i c h e n U m g a n g m i t ihr, w a s z u m A u s b a u e n der e n t d e c k t e n W a h r h e i t u n d der A n n a h m e der K o n s e q u e n z e n f ü h r t . D a n e b e n h a t m a n i m s p ä t e n A l t e r t u m das W o r t R e l i g i o n a u c h v o n religare a b g e l e i t e t . O b w o h l diese A b l e i t u n g z i e m l i c h s i c h e r n i c h t die u r s p r ü n g l i c h e i s t , k a n n sie d o c h f ü r s i c h s e l b s t b e t r a c h t e t i n t e r e s s a n t sein. D e n n sie z e u g t v o n einer a n d e r e n A u f f a s s u n g des Wortes Religion, n ä m l i c h : binden. D u r c h R e l i g i o n b e k o m m t der M e n s c h e i n e V e r b i n d u n g m i t o d e r e i n e n A n t e i l a n d e m , w a s m a n liier v o r l ä u f i g die „ k o s m i s c h e A l l m a c h t " n e n n e n k ö n n t e . Die Allmacht braucht nicht personifizierbar zu

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Religion sein. Der Mensch, der diese kosmische Allmacht für subjektiv und für eine Person hält, verwendet das Wort Gott. Wenn man die erforderliche „Gemütsbewegung" hinzufügt, kommt man mit beiden Ableitungen zu ein und demselben Komplex: eine gefühlsmäßig erlebte Auffassung des menschlichen Lebens als Teil des kosmischen Geschehens. Dieses Erleben durch Aktivität des Menschen selbst kann durch aktive Observanz aufrechterhalten werden. Religion ist sicher möglich ohne Gott. Der Buddhist etwa glaubt an eine zugleich kosmische und moralische strukturelle Einheit des Lebens, aber nicht an Gott. (Dies betrifft den orthodoxen Buddhisten; es gibt auch Buddhisten, die nicht Atheisten sind. Es gibt solche, die einen Teil des Parthenon des Hinduismus in Ehre halten. Es gibt Animisten, und bei den meisten kann man verschiedene der genannten Schichten von Religiosität übereinander gelagert vorfinden.) Den Buddhismus deswegen keine Religion nennen zu wollen, wäre ebenso hochmütig wie kurzsichtig. Religion ist unsere Bezeichnung für das System, in dem man gefühlsmäßig eine Relation mit der kosmischen wie auch mit der ethischen Basis des Lebens meint unterhalten zu können. Die existentielle Aktualität dieser Relation kann man „Glauben" nennen. Glauben ist mehr als die Annahme einer Wahrheit oder einer Theorie. Es ist das gefühlsmäßige Erleben der Relation mit der kosmischen und zugleich moralischen Allmacht. So ist etwa der christliche Glaube nicht identisch mit der Zugehörigkeit zu einer der vielen christlichen Glaubensgemeinschaften, aber auch nicht mit der verstandesmäßigen Zustimmung zu einem bestimmten Glaubensbekenntnis, sondern das Leben aus dem Erlebnis der christlichen Relation mit Gott, das ist die Beziehung, die über Christus hin zu Gott verläuft. Es wird ein sehr weit umfassendes Gebiet gemeint, wenn wir von Religion sprechen. Für manche scheint der Mensch selbst Anfang und Ende seiner religiösen Philosophie zu sein; für andere gibt es etwas außerhalb des Menschen, das ihm seine Möglichkeiten zuweist und seine Grenzen stellt: der persönliche Gott, die Menschheit, die Volksgemeinschaft, der Staat, die Rasse, die Geschichte. Und die Sache ist noch komplizierter, weil es sicher nicht ungebräuchlich ist, daß die hier gemeinten Buddhisten, Marxisten, Faschisten, Christen, Mohammedaner, Nationalsozialisten und dergleichen mehr ihre Auffassungen entweder verstärken oder praktikabler machen mit Hilfe von Elementen aus anderen Religionen. Wenn wir sehen wollen, wie die Religion praktisch wirkt, stellen wir uns vor, daß die kosmische Allmacht durch Gott personifiziert wird. Gott kann von seiner Allmacht etwas abgeben. Er kann dafür sorgen, daß der Mensch Anteil daran

bekommt, etwa durch seine Anstrengungen (Opfer, Liturgien, Verhaltensweisen: „do u t des", oder besser: „facio ut des") oder auf rein spirituellem Wege (sola fide). Um zur Partizipation mit dem Übermenschlichen zu gelangen, ist die eigene Anstrengung oder Gnade und oft die erfinderische Kombination beider Formen nötig. Die nicht durch Gott personifizierten umfassenderen Kräfte, die nach dem Glauben anderer den Menschen im Zwange halten und regieren, kennen ebenfalls die Leistung oder die „Gnade" (zum Beispiel: zu einer bestimmten Rasse oder einer bestimmten Klasse zu gehören). Ein schwaches Reduktum der Religion ist der Aberglaube. Er erkennt die Möglichkeit an, der kosmischen Allmacht mit dem Instrument „facio ut des" ein Tun oder Unterlassen zu entlocken, aber es besteht kein Bedürfnis nach einem Anteil an dieser Allmacht, geschweige denn ein gefühlsmäßiges Bedürfnis. B. Religion und Strafrecht Erwähnt werden muß, ohne daß darauf jedoch tiefer eingegangen werden kann, die Möglichkeit, daß religiöse Gruppierungen sich in einem so hohen Grade mit der Rechtsordnung identifizieren, daß die Verletzung der letzteren zu einer antireligiösen Tat wird. Man kann weiter — das scheint mir thomistisch — bestimmte strafrechtliche Funktionen als Abschattierungen von göttlichen sehen. Diese Identifikation kann sich auch in umgekehrter Richtung vollziehen. Middendorff (1964, S. 127) schreibt: „Nach offizieller katholischer Auffassung, die Papst Pius X I I . in drei Ansprachen an Juristen in den Jahren 1953—1955 dargelegt hat, ist die Funktion des Strafrechts immer unter dem Aspekt des Letzten Gerichtes zu sehen. Da dieses nur Vergeltung ist, dient auch das weltliche Strafen der Verwirklichung des Vergeltungsgedankens. Auf der anderen Seite findet sich im modernen katholischen Schrifttum eine Einwendung zu den Grundsätzen des ganz frühen Christentums, nämlich eine Mahnung zur Liebe, Güte und Milde". Ich glaube, daß der Anspruch, das Menschenbild müsse im Strafrecht von „einem christlichen Menschenbild" (Jescheck) ausgehen, die Gefahr von Intoleranz einschließt, und Intoleranz findet immer Ausdrucksformen, die kaum weniger als kriminell sind. Im nächsten Paragraphen gehe ich noch näher darauf ein. C. Objektive Religionsdelikte Kann Gott das Objekt strafrechtlichen Schutzes sein? Der Gedanke scheint im Widerspruch mit dem Begriff der Göttlichkeit selbst zu stehen. Im niederländischen Recht ist zum Beispiel — und zwar mit Recht — Blasphemie an sich nicht straf-

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Religion

bar. Gott kann seine Ehre selbst verteidigen. Aber strafbar sind die blaspliemischen Äußerungen, die einen Gläubigen in seinen religiösen Gefühlen verletzen. Hierbei zeigt sich ein Unterschied, wenn er auch nicht groß ist. Menschliche Einmischung ist hierbei nötig: ein Mensch, der sich verletzt fühlt durch die Beleidigung, die Gott angetan worden ist. Aber könnte das Maß seines subjektiven Verletztseins nicht im Verhältnis stehen zu dem, was er als den objektiven Angriff auf Gottes Ehre auffaßt? Könnte er sich nicht bei einer geringeren objektiv blaspliemischen Äußerung subjektiv weniger stark in seinem religiösen Gefühl als verletzt erachten ? Es ist meistens nicht mehr als ein profaner Ehrgeiz der Rechtsordnung, wenn sie meint verpflichtet zu sein, die Ehre Gottes verteidigen zu müssen. In der Geschichte hat dieser unheilige Geist zu der Inquisitionspraxis und zu verbrecherischen Kreuzzügen geführt. Meiner Meinung nach müßte für den Papst Gregor I X in der Geschichte der Kriminologie ein Platz eingeräumt werden, vielleicht sogar als Autor. Es ist übrigens nicht richtig, den so unheiligen „heiligen" Krieg als eine Erscheinung zu betrachten, die nur bei Christen vorkäme. Die Auffassung etwa, daß die Mohammedaner alle Nicht-Moslems als „Feinde der großen Monarchie Allahs" betrachten, „deren Widerstand gegen seine Alleinherrschaft" von den Mohammedanern gebrochen werden muß, ist im Prinzip nicht ungerechtfertigt (Snouck Hurgronje). Im Augenblick scheint jedoch eine Mehrheit für die Idee zu sein, daß ,,le mal est venu de cette id6e, qu'il faut venger la Divinitö" (de Montesquieu). Dennoch kennt die Geschichte aber viel zu viele Beispiele dieser „religiösen" Kriminalität. Man kann sagen, daß der Verfall der christlichen Kirche nicht allein mit der Entfaltung ihrer weltlichen Macht, sondern zugleich mit der Entwicklung ihrer kriminellen Bekämpfung der abweichenden oder der Nichtreligiosität verbunden war. Nicht alle Reformatoren brachten in dieser Hinsicht eine prinzipielle Moderation. In Zürich war seit 1529 der Kirchenbesuch Pflicht, das Nicht-Erscheinen strafbar; Königin Elisabeth von England verbot 1558 jede Kritik an dem „Prayerbook"; in den Niederlanden wurde 1628 Torrentius wegen Ketzerei und Blasphemie verurteilt; in Österreich war es 1868 noch strafbar, jemanden zum „Abfall" zu überreden. Die christlichen religiösen Richtungen haben sich scheinbar im Augenblick zur Toleranz hindurchgerungen, aber die an ihre Stelle getretenen „Religionen" politischer Tendenz haben diese Intoleranz begierig übernommen. Die Wurzel allen Übels ist in den genannten Fällen überall die gleiche: der verkehrte Mensch. Wenn man demgegenüber behauptenwill, daß man dann doch noch zwischen den nichtguten Menschen mit einer objektiv-guten

Ideologie (wie das Christentum) und dem nichtguten Menschen mit einer objektiv dämonischen Ideologie (dem Faschismus) unterscheiden muß, dann muß hiergegen eingewendet werden, daß — wenigstens in unserer Welt — im Namen des Christentums die meisten Verbrechen gegen die Menschen und die Menschheit begangen worden sind. Wenn wir nach Religionsdelikten im engeren Sinne unserer Zeit suchen, scheint der Meineid ein solches zu sein. Im Wesen ist das jedoch nicht der Fall. Eine religiös indifferente Rechtsordnung bedient sich dadurch, daß sie den Meineid als strafbar ansieht, nur (oft fruchtlos, oft banal) religiöser Gefühle, wenn sie diese bei einem Teil der Rechtsgenossen voraussetzen kann, um dadurch die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen zu vergrößern. Wieweit die kriminologischen und die religiösen Bedeutungen des gleichen Verhaltens sich voneinander entfernt haben können, ergibt sich aus dem folgenden Beispiel: Das Strafgesetzbuch von Surinam kennt die Übertretung der Abgötterei (§ 540). Ursprünglich ist dies ohne Zweifel ein religiöses Delikt gewesen, und manche werden es vielleicht auch heute noch so auffassen wollen. Aber tatsächlich wird im Augenblick die Anwendung dieses Paragraphen als notwendig verteidigt, weil die Verhaltensweisen, die gemeint werden, mit anderen Teilen von Kriminalität im Zusammenhang stehen, ζ. B. mit der unerlaubten Ausübung der Medizin, mit Betrug und Sittlichkeitsverbrechen. „De internis non curat praetor". Selbst ein Diktator wird behaupten, daß er sich an diesen Lehrsatz hält. Er kann j a auch nicht „de internis" urteilen, selbst wenn er es wollte. Er verfügt jedoch über andere Mittel, um seine religiösen Gegner zu treffen: Er kann sie daran hindern, ihren religiösen Gebräuchen nachzukommen oder ihre Gottesdienste abzuhalten. Er kann sie zu Gebräuchen und Gottesdiensten zwingen, die gegen ihre eigenen religiösen Überzeugungen verstoßen. Das abscheulichste Beispiel von Heterogonie der Zwecke ist wohl: Religion als Mittel zur Diskrimination. Die Beispiele von Überzeugungsdelikten sind Legion, um nur einige zu nennen: das Verbieten von Prozessionen in protestantischen Ländern und in katholischen Ländern das Bestrafen von denjenigen, die sich während einer Prozession „respektlos" verhalten; ein spanischer Soldat, der Baptist Redreso, wurde 1961 zu zweieinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, weil er, nachdem er gezwungen worden war, einer Messe beizuwohnen, sich weigerte zu knien. das Verbieten jüdisch rituellen Schlachtens in Europa unter Hitler; das Bestrafen mit der Todesstrafe von religiösen Wehrdienstverweigerern in Griechenland (1966 wurde dort die Todesstrafe eines wegen Wehrdienstverweigerung verurteilten

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Religion Zeugen Jehovas noch auf dem Wege der Begnadigung auf sieben Jahre ermäßigt.); das Schlachten von Kühen als Verbrechen in Teilen Indiens; die Verurteilung (in Holland) von Viehzüchtern, die aus religiösen Gründen sich weigern, ihr Vieh vakzinieren zu lassen. Nach einem Bericht in der New York Times vom 17. Dezember 1962 wurden drei Marokkaner zum Tode und sechs zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie sich zum Bahaismus bekehrt hatten. Die Beschuldigung lautete: Rebellion, Störung der öffentlichen Ordnung, das Gründen einer verbrecherischen Genossenschaft und das In-Gefahrbringen des Glaubens. König Hassan II. erklärte in einer Pressekonferenz, daß er in Marokko, wo der Mohammedanismus Staatsreligion ist, die jüdische und die christliche Religion dulden wolle, aber keine ketzerische Sekte wie den Bahaismus tolerieren würde. Er sagte zu, die strengen Strafen durch Begnadigung aufheben zu wollen. Er fand die Verurteilung an sich aber völlig in Ordnung. Der höchste Gerichtshof von Marokko kassierte jedoch das Urteil.

D. Beziehungen zwischen Religion und kommunen Delikten 1. Irreligiosität

als Faktor für

Kriminalität

Die Frage von Religion und Kriminalität läuft meistens darauf hinaus, ob Religiosität oder ihr Fehlen Kriminalität fördert. Eine hiermit zusammenhängende Frage ist, ob es religiöse Angriffspunkte gibt für die Bekämpfung von Kriminalität und für die Behandlung von Rechtsbrechern. Daß die Zunahme der Abwendung von der Kirche für die Zunahme der Kriminalität verantwortlich ist, ist die älteste Behauptung. In „Die Marquise de la Pivardiere" von Ε. T. A. Hoffmann liest man schon ein Salongespräch, in dem die Tatsache, daß „das Volk" zu größerer Kriminalität gekommen sei, der verhängnisvollen Vernachlässigung der Religion zugeschrieben wird. Hoffmann läßt diese „Korrelation" jedoch von einem Gesprächspartner kritisch unter die Lupe nehmen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Lupe im weniger großen Maße manchen der Neo-Spiritualisten am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zur Verfügung gestanden hat. Der Anstaltsgeistliche Krauss sagt noch etwas weniger differenziert: Die immer mehr auch in die breiten Volksschichten dringende Gottesentfremdung und die darauf basierende, aller sittlichen Motive bare Welt- und Lebensanschauung sind der dunkle Untergrund, auf dem Laster und Verbrechen sich üppig entwickeln. Wahre Sittlichkeit ist nicht möglich ohne Religion. 3 HdE, 2. Aufl., Bd. I I I

Joly will die kriminell-soziologische Auffassung dieser Zeit, daß die „misere" ein wichtiger Faktor der Kriminalität ist, zwar übernehmen, aber dann mit dem Zusatz, daß der Mensch oft schuldig an seiner „misere" ist. Der belgische Abb£ Maurice de Baets sagt 1895: „Der moralische Widerstand nimmt in dem Maße ab, wie der Glauben abnimmt". Von Oettingen gibt jedoch zu, daß der Einfluß der Konfession auf das Verhalten des Menschen nicht genau festzustellen ist, weil der Faktor Religion nur schwer von den Faktoren Nationalität, Kultur, Bildungsniveau und wirtschaftliche Verhältnisse abgelöst werden kann. Auch dann noch ist das Maß der Lebendigkeit und der Tiefe der Religiosität nur schwer zu ermessen (S. 646). Es könnte übrigens sein, daß die Kirche zu „entnervt und veräußerlicht ist", um noch als Sauerteig dem Volksleben dienen zu können (S. 647). „Immerhin", sagt er, ist es von großer Bedeutung, daß in Gefängnissen und Bordellen „allgemeine Verwahrlosung" in „kirchlich religiöser Hinsicht" festzustellen ist. Er stellt weiterhin beim Vergleich der Verhältnisse in den deutschen Staaten fest, daß religiöse Minderheiten sowohl besser gebildet wie auch weniger kriminell sind. Man kann noch darauf hinweisen, daß am Ursprung der Kriminologie die zunehmende Sorge gleichzeitig für den geisteskranken und für den verbrecherischen Menschen liegt. Nun, der Arzt Heinroth behauptete 1801, daß Geisteskrankheit die Konsequenz sei des Verlassens des Weges der Tugend und des Verlustes der Gottesfurcht. In Übereinstimmung mit dieser Auffassung, daß das Verhalten auf dem „freien Willen" beruht und daß die Religion den Zugang zur persönlichen Moralität und zu ethischen Verhaltensregeln bildet, hat man im Gefängniswesen schon früh damit begonnen, die Religion als einen der wichtigsten Punkte bei der Resozialisierung von Straffälligen zu betrachten (Cavan). In der Resolution des Internationalen Strafrechtskongresses in London 1872 wird dann auch zum Ausdruck gebracht, daß von allen Kräften, die zur Verbesserung dienen könnten, die Religion die wichtigste ist, „because it is the most powerful in its notions upon the human heart and soul". Man kann sagen, daß die gegenwärtigen Kriminologen sich von den Behauptungen der Spiritualisten abwenden, wenn auch nicht „with a smile of incredulity" (Schlapp und Smith). Manchmal schlägt die Auffassung um ins Gegenteil.

2. Religiosität und Konfession als Faktoren und Ursachen der Kriminalität Es werden auch in diesem Jahrhundert noch religiöse Morde begangen — Nagel hat drei Fälle

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Religion

in Holland beschrieben (1960) —, aber der religiöse Charakter dieser Morde beruht sichtlich auf einem psychotischen Wahn. Der kriminelle Stamm der Barwar in Uttar Pradesh, in Indien, wird von Shrivastav, der unter ihnen gelebt hat, als entschieden religiös bezeichnet. Er führt aus, daß die Barwar mit religiösen Argumenten ihren Glauben ihren verbrecherischen Praktiken dienstbar machen, und insoweit bilden sie keine Ausnahme. Taft (S. 215—217) sagt: „Die meisten Verbrecher haben einige religiöse Erfahrung und Erziehung gehabt, nur wenige können zur Gruppe ohne Religion gerechnet werden." Die Gluecks stellten fest, daß 39% ihrer Delinquentengruppe aus regelmäßigen Kirchgängern bestanden, 54% gingen unregelmäßig in die Kirche und 7% niemals. In der Kontrollgruppe von Nichtdelinquenten war das Verhältnis: 67,29 und 4. Kvaraceus' Studie zeigt, daß 92% der delinquenten Kinder, die vor das „Passaic Children's Bureau" kamen, auf die eine oder andere Weise etwas mit der Kirche zu tun hatten und daß 58% von ihnen regelmäßig den Gottesdienst besuchten. Barnes und Teeters sagen: „Es ist deutlich, daß eine Mehrheit unserer Delinquenten — sicher von unseren Häftlingen — in einer orthodox-religiösen Umgebung erzogen worden sind"; in einer Studie über 27 Gefängnisse und 19 Erziehungsheime wird festgestellt, daß 71,8% der Bewohner zu der einen oder anderen Religionsgemeinschaft gehörten, während zur gleichen Zeit von der Bevölkerung der Vereinigten Staaten nur 46,6% Mitglieder einer Religionsgemeinschaft waren. Sie fügen dann hinzu, daß die Gefängnispopulationen eine überwältigende Mehrheit von Menschen aufweisen, die behaupten, in der einen oder anderen Weise religiös engagiert zu sein. Kaufmann sagt: „Der Prozentsatz von Menschen, die an die Hölle glauben, ist viel höher innerhalb als außerhalb des Gefängnisses". Putney und Middleton verglichen „ethische Absolutisten", wie man Gläubige auch nennen könnte, mit ethischen Relativisten in den Punkten der Annahme und des Beachtens bestimmter sozialer Formen. Bei ihren Versuchspersonen (Studenten) zeigte sich, daß beim Erfüllen sozialer Normen der „ethische Absolutismus" keine Rolle spielte. Es ist nicht der Glaube des individuellen Gesetzesübertreters, der in einer Wechselbeziehung mit der Übertretung oder einem Vergehen steht, sondern das kirchliche Kredo im allgemeinen, das die strafrechtlichen Konflikte fördert (Taft, S. 222). Es ist die Kirche, sagt Taft, die den Staat zu zu vielen juristischen Regelungen auf dem Gebiet der Sitten nötigt. Aber wenn der Staat darauf eingeht und zu viele Gesetze auf dem Gebiet des Trinkens, Spielens, Hurens usw. erläßt,

dann kann das die moralische Spannkraft des Bürgers zu sehr belasten und Kriminalität verursachen. Die katholischen Priester Kalmer und Weir, die sehr weitreichende Forschungen unternahmen, stellen fest, daß von 87% der Häftlinge in 45 Gefängnissen ein gewisses Maß von religiöser Beteiligung registriert wurde, während dies 1926 nur bei 40% der gesamten Bevölkerung der Vereinigten Staaten der Fall war. Aber, so fügen sie hinzu, die Insassen unserer Gefängnisse sind Menschen, die beinahe immer ihre Religion vernachlässigt haben oder nicht die Möglichkeit hatten, ihre Chancen zu nützen. Diese Forscher richteten später ihre Untersuchungen auf die katholischen Häftlinge eines Gefängnisses (JoliotStateville), wobei sie zu dem Resultat kamen, daß noch keine 4% der als katholisch registrierten Häftlinge in normaler Weise ihren religiösen Pflichten nachgekommen waren und 80% auch noch nicht einmal das „indispensable minimum" erfüllt hatten. Häftlinge, die, ehe sie ihr Vergehen begingen, regelmäßig den Gottesdienst besucht hatten, zeigten öfter bei der bedingten Entlassung (parole) bessere Erfolge als andere. Kalmer und Weir verlagern auf diese Weise die Aufmerksamkeit von der Quantität auf die Qualität. Sie sagen, daß die Gefängnisstatistiken in dieser Frage völlig irrelevant sind. Diese Schlußfolgerungen stimmen mit denen von Healy und Bronner überein, zu denen sie zehn Jahre früher kamen. Der Effekt der Aktivität der Kirchen hinsichtlich der Verhütung von Verbrechen oder der pönitentiären Behandlung kann nicht aus den Zahlen über die Religionszugehörigkeit der Delinquenten abgeleitet werden. Es gibt andere Tatsachen, die bei der Interpretation mit einbezogen werden müssen, vor allem diejenigen, die mit kulturellen Normen, ökonomischem Niveau, mit Gewohnheiten und Maßstäben in nationalen Gruppen und Gruppen innerhalb dieser Gruppen zusammenhängen. Alles dies beeinflußt das Erheben von Anklagen, die Urteile, die Justiz- und Gefängnisstatistiken. Selbst wenn wir die Qualitäten des „Glaubens" von unseren Häftlingen kennen würden, dann würden doch noch genügend Faktoren übrig bleiben, mit denen man rechnen muß. Ein kirchliches Band bedeutet für viele das Band mit einem Kultursegment; durch eine Kirche gehört ein Mensch oft zu seiner Kulturgruppe. Die Studie von Sutherland zum Beispiel weist nach, daß Baptisten und Katholiken verhältnismäßig viel die Gefängnisse in Amerika bevölkern; aber viele Neger sind Baptisten und arm und unterentwickelt zugleich, und viele Immigrantenfamilien in den großen Städten sind katholisch, während weiterhin die Mitgliedschaft zur katholischen oder baptistischen Kirche verhältnismäßig oft mit der Zugehörigkeit zu einer niederen ökonomischen und kulturellen Schicht zusammenfällt.

Religion 3. Der Seitenweg:

Welche

Religion?

Gleich am Anfang der Diskussionen sind die Kriminologen auf einen Seitenweg geraten. Bonger, der die Spiritualisten erfolgreich bekämpfte, entdeckte, daß die Katholiken weitaus die stärkste kriminelle Gruppe seines Landes bildeten und daß die Ungläubigen zusammen mit den Israeliten am günstigsten abschnitten. Seitdem ist der Versuch, den Unterschied hinsichtlich der Kriminalität der verschiedenen religiösen Gruppierungen zu erklären, zu einem Hauptthema in der niederländischen Kriminologie geworden. Auch „im Deutschen Kaiserreich konstatierte man eine stärkere Kriminalität unter den Katholiken und führte diese zurück auf die weniger günstigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen" (Middendorff 1964, 124). Der Selbstmord kommt häufiger bei Protestanten als bei Katholiken vor. Wallner hat sich mit dieser Tatsache beschäftigt: In protestantischen Gebieten mit dem schwächsten Abendmahlbesuch ist der Selbstmord am häufigsten. Laulicht fand, daß die Religion der Mütter seiner jugendlichen Delinquenten in Beziehung stand zu ihrem Erfolg oder Fehlschlag: Jungen mit protestantischen Müttern zeigten eine Neigung zum Erfolg, Jungen mit katholischen Müttern eine Tendenz zum Scheitern. Miner hat für Amerika festgestellt, daß in Staaten mit starker katholischer Mehrheit der Totschlag wenig vorkommt und daß in Staaten, wo Methodisten und Baptisten überwiegen, die Zahl der Totschläge höher ist. Barnes und Teeters meinen: „Die Ursache dieses Unterschiedes wird jedoch wohl eher in den allgemeinen sozialen Umständen gesucht werden müssen als in der religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung. Eine Übersicht des „Federal Council of Churches" zeigt, daß 2 / 3 der Mitglieder der katholischen Kirche und der Baptistengemeinden aus niederen Klassen der Bevölkerung stammen. Diese beiden Religionsgemeinschaften stellen den größten Anteil der Gefängnisinsassen. Sowohl in den Vereinigten Staaten wie in Europa ist der Prozentsatz der sich im Gefängnis befindenden Juden gering, und diese Tatsache hat man den engen Familien- und Gemeinschaftsbanden unter den Mitgliedern dieser Gruppe zugeschrieben (Sutherland und Cressey). Bei einer Untersuchung, die man vor dem Krieg in Polen unternommen hat, stellte sich heraus, daß die Kriminalität bei den Juden die Hälfte beträgt von der Kriminalität bei der nichtjüdischen Bevölkerung Polens. Zugleich hat man in Ungarn die Unterschiede in den Verbrechens-Prozentsätzen unter den verschiedenen Sekten untersucht, und diese Untersuchung hat die Schlußfolgerung zum Resultat gehabt, daß die vorhandenen Unter3*

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schiede nicht den Unterschieden in der Glaubensauffassung, sondern den Unterschieden im ökonomischen, Entwicklungs- und Familienstatus der Mitglieder dieser Sekten und dem Unterschied im Wohnort, Alter und Geschlecht zugeschrieben werden müssen (Hacker). Um die Kirche von vielem Tadel freizusprechen, sagt Mabel Elliot: Viele Häftlinge von süd- oder osteuropäischer Herkunft sind — dem Namen nach — Mitglied der katholischen Kirche. Sie haben oft einen nationalen Gruppennamen, ζ. B. polnisch-katholisch oder italienisch-katholisch. Aber in Wirklichkeit wollen sie sich von diesen fremden Kirchen lösen, weil sie vor allem als Amerikaner anerkannt werden wollen. Die „Abtrünnigkeit" von der alten Solidarität bedeutet auch oft Abtrünnigkeit von den alten Normen. Der Gefängnispfarrer Marcus weist darauf hin, daß in Afrika behauptet wird, daß die Kriminalität unter den Katholiken am größten ist, weil es beinahe nur Katholiken sind, die zum Tode verurteilt werden. Die Erklärung dieser Erscheinung wurde jedoch im Gefängnis von Kampala in Uganda gefunden. Die ungefähr 2500 Mann, die sich da durchschnittlich pro Tag aufhalten, waren ziemlich alle angekommen, ohne zu einer Glaubensgemeinschaft zu gehören. Diejenigen, die zum Tode verurteilt wurden, ließen sich aber in großer Zahl taufen. Der Gefängnispfarrer von Kampala drückte es dem Verfasser gegenüber folgendermaßen aus: „Der Afrikaner ist von Natur schon fatalistisch eingestellt, und es kostet nicht viel Mühe, diesen Fatalismus zu einer völligen Anerkennung der Strafe zu sublimieren, weil ein barmherziger Gott sie im himmlischen Paradies erwartet". Dieser Gefängnispfarrer von Kampala erklärte, daß er in einem Jahr 20 Männer, die ursprünglich nicht katholisch waren, zur Hinrichtung begleitet hat, von denen sich nur einer weigerte, getauft zu werden. E. Religare und Relegere In der Einleitung wurde über das Wesen der Religion gesprochen und im folgenden vor allem die Korrelation zwischen Religion und Kriminalit ä t behandelt. Auf das Wesen der Religion müssen wir jedoch am Ende dieses Beitrages noch einmal zurückkommen. Das, mit dem der Mensch durch Religion in Verbindung kommt, haben wir in der Einleitung vorläufig „kosmische Allmacht" genannt. Hier können wir darauf zurückkommen. Wir finden diesen Ausdruck zu metaphysisch und dadurch zu nichtssagend. Die bedeutenderen Beziehungen, die durch die Religion geschaffen und unterhalten werden, sind Beziehungen zwischen Menschen. Der Mensch sucht aus der existentiellen Angst seines Alleinseins und seiner zeitlichen wie räumlichen Endlichkeit herauszukommen und sich auszuweiten. Er will mit und bei den anderen sein,

Religion

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und er will, daß die anderen mit und bei ihm sind. Die Verlängerung des Lebens vor dem konkreten Leben, über dieses Leben hinaus bis nach diesem Leben ist immer die vornehmste Voreingenommenheit des Christentums gewesen. Aber ebenso wichtig ist die Ausdehnung des individuellen Lebens auf die anderen, die Gemeinde. Im Christentum ist die Funktion der Religion sehr deutlich: die Rettung des Menschen aus seiner tödlichen Isolation und die Ausweitung seines Lebens im vertikalen und horizontalen Sinne. Beide Linien formen visuell ein Kreuz. I Ρ

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Sichernde Maßnahmen, Sicherungsverwahrung). Es versteht sich ferner von selbst, daß solche Gegenstände wie Strafvollzug, Entlassenenfürsorge, Kriminologische Typenlehre, -*• Psychopathologie des Verbrechens und ähnliche, obgleich nahe mit der Rückfallsfrage verwandt, auch in der Neuauflage selbständig behandelt werden und hier nur kurz zu berühren sind. Wie f ü r den Meteorologen der Begriff der Prognose unlöslich mit der Wettervoraussage verknüpft ist, so bedeutet dieses Wort für den Kriminologen mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Voraussage des strafrechtlichen Rückfalls, obgleich in den letzten Jahrzehnten auch Versuche einer Voraussage der Wahrscheinlichkeit des Straffälligwerdens von noch nicht Straffälligen gemacht worden sind. Prognose und Rückfall sind daher in der kriminologischen Forschung auf das engste verbunden. Zur Zeit der Veröffentlichung der ersten Auflage waren zwar in den Vereinigten Staaten einige „Prediction Studies" unternommen worden, aber Exner begann erst damals (1935), in Deutschland die Aufmerksamkeit der Kriminologen hierauf zu lenken, und im ganzen genommen war das Gebiet der Verbrechensprognose damals noch so wenig erforscht, daß ein Bedürfnis für eine Behandlung des Gegenstandes nicht vorlag. Das h a t sich in den letzten 30 Jahren grundlegend geändert, und die Neuauflage enthält daher in dem vorliegenden Artikel eine kurze Darstellung der Entwicklung und des jetzigen Standes der Prognose-Forschung, ihrer theoretischen Schwierigkeiten und praktischen Bedeutung. Aus dem Gesagten und aus der Natur der Sache ergibt sich die folgende Gliederung unseres Beitrags :

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Rückfall und Prognose

Einleitende Bemerkungen I. Rückfall A. Begriffsbestimmungen und ihre Rechtsfolgen. Gesetzgebungsfragen im deutschen und ausländischen Strafrecht. Der Rückfall als Problem der gesetzlichen Strafänderung und Strafschärfung und als richterliches Strafzumessungsproblem. B . Statistisches. C. Empirisch-beschreibende Darstellungen der Lebensläufe einzelner Rückfälliger. D. Die Ursachen des Rückfalls: Ätiologische Untersuchungen psychologisch-psychiatrischer und soziologischer Orientierung. E . Typologie. F . Die pönologische Sonderbehandlung der Rückfälligen. G. Zusammenfassung: Was haben wir in den letzten 30 Jahren gelernt ? I I . Prognose A. Einleitendes. B . Geschichtliche Entwicklung. C. Kritische Einwände gegen die statistische Methode. D. Die intuitive Methode und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit beider Methoden. E . Die Prognose erstmaliger Kriminalität.

I . RÜCKFALL A. Begriffsbestimmungen und ihre Rechtsfolgen; Gesetzgebungsfragen im deutschen und ausländischen Straf recht; der Rückfall als Problem der gesetzlichen Straf änderung und Strafschärfung und als richterliches Strafzumessungsproblem. Es ist das Verdienst des australischen, jetzt in Chikago wirkenden Strafrechtslehrers und Kriminologen Norval Morris, in seinem Generalbericht für den I I I . Internationalen Kriminologischen Kongreß in London (1955) klargestellt zu haben, daß es keinen einheitlichen Rückfallsbegriff geben kann, daß dieser Begriff vielmehr je nach den mit seinem Gebrauch verfolgten Zwecken und der gesamten Einstellung der ihn benutzenden Personen und Behörden anders zu bestimmen ist (Summary of Proceedings, S . 5 0 f f . ) . Morris unterscheidet demgemäß einen pönologischen, einen strafrechtlichen und einen kriminologischen Rückfallsbegriff. 1. Der pönologische

Begriff

Der pönologische Begriff ist der engste; er wird von den Strafvollzugsbehörden und -beamten verwendet: Sie legen nach Morris nur darauf Gewicht, ob ein Strafgefangener bereits vorher eine Freiheitsstrafe verbüßt hatte, die ihn nicht

von der Begehung einer neuen Straftat abgehalten hat, und ob er bereits mit dem Wesen der Freiheitsentziehung und den in der Anstalt geltenden Vorschriften vertraut oder ob er hierin noch ein Neuling ist. Daher die ζ. B . in England übliche pönologische Einteilung der Insassen in „ S t a r s " (Erstmalige, d. h. wenigstens noch nicht mit Freiheitsstrafe vorbestraft), und „Ordinaries" (mit Freiheitsstrafe vorbestrafte Gefangene). Nun wäre es wohl durchaus ungerecht, von den Strafvollzugsbeamten — wenigstens in den auf diesem Gebiete etwas fortgeschrittenen Ländern — ganz allgemein anzunehmen, daß ihre Klassifizierungs- und Behandlungsmethoden sich lediglich nach dem Gesichtspunkt der vorherigen Verbüßung einer Freiheitsstrafe richten; die flüchtigste Durchsicht des einschlägigen Schrifttums zeigt, daß dieser Gesichtspunkt theoretisch wenigstens nur einer von vielen ist und daß er in der Praxis des Strafvollzuges immer mehr von dem viel umfassenderen Gesichtspunkt der Klassifizierung verdrängt wird (ζ. B . Karl Peters, Kriminalpädagogik, 1960; S. 2 3 b ; Frank Loveland, Kap. V I I in Contemporary Correction, herausgegeben von Paul W. Tappan, 1951; für Frankreich Charles Germain, Elements de Science pdnitentiaire, 1959, S. 53—69). Auch in England ist die Strafvollzugsbehörde berechtigt, in besonderen Fällen „Ordinaries" als „ S t a r s " zu behandeln und umgekehrt. Andererseits läßt es sich aber nicht bestreiten, daß die Tatsache der früheren Verbüßung einer Freiheitsstrafe praktisch gewissermaßen eine Vermutung gegen den Gefangenen begründet, daß er in der Anstalt einen ungünstigen Einfluß auf Mitgefangene ausüben wird, und daher vielfach von vornherein die Wahl der Anstalt, in die der Gefangene eingewiesen wird, bestimmt und infolgedessen eine ähnlich entscheidende Rolle spielt wie Geschlecht und jugendliches Alter. So sind ζ. B . zwei der größten Strafanstalten Londons, Pentonville und Wandsworth, ausschließlich für „recidivists" der verschiedensten Spielarten bestimmt. Derartig radikale Absonderungen sind begreiflicherweise aus technischen Gründen gewöhnlich nur in sehr großen Städten anzutreffen; im übrigen werden die Rückfälligen meistens in den gleichen Anstalten wie die Ersttäter — wenn auch nach Möglichkeit getrennt von ihnen — untergebracht, soweit sie nicht, was neuerdings häufig versucht wird, in aussichtsvoll erscheinenden Fällen offenen, mehr ländlichen Spezialanstalten für Rückfällige zugewiesen werden können oder in schwereren Fällen der Sicherungsverwahrung überwiesen werden müssen. Man wird aber den pönologischen Begriff des Rückfalls nicht auf Täter beschränken dürfen, die bereits früher eine Anstaltsstrafe verbüßt haben; diejenigen, bei denen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden war und die dann entweder während oder nach Ablauf der Bewährungsfrist

Rückfall und Prognose eine weitere Straftat begangen haben, dürften auch im pönologischen Sinne oft ebenfalls Rückfällige sein, besonders dann, wenn sie einem Bewährungshelfer unterstellt oder wenn ihnen vom Gericht Auflagen gemacht worden waren. 2. Der strafrechtliche

Rückfallsbegriff

Der strafrechtliche Rückfallsbegriff ist erheblich weiter als der pönologische und auch vielgestaltiger. Im Schrifttum werden Fragen der strafrechtlichen Begriffsbestimmung vielfach mit solchen der sich an die Begriffsbestimmungen knüpfenden Rechtsfolgen vermengt; obwohl diese beiden Fragenkomplexe praktisch eng zueinander gehören, sollten sie theoretisch-begrifflich doch scharf getrennt werden. Für die Begriffsbestimmung ist hier an sich nur die Tatsache einer vorhergehenden Verurteilung zu einer wie auch immer gearteten Strafe wesentlich, ohne daß es auf deren völlige oder auch nur teilweise Verbüßung ankäme. (Durch dieses Merkmal der vorherigen Verurteilung unterscheidet sich der Rückfall insbesondere von der Realkonkurrenz, bei der mehrere Straftaten ohne vorherige Verurteilung gleichzeitig zur Aburteilung kommen.) In der Strafgesetzgebungspraxis wird indessen dieser allzu weite Begriff gewöhnlich dadurch erheblich eingeschränkt, daß erstens mehr als eine einzige Verurteilung vorangegangen sein muß, und zweitens, daß die vorhergehenden Verurteilungen zu nicht ganz geringfügigen Strafen geführt haben müssen, deren Verbüßung auch mitunter erfordert wird. Abgesehen hiervon sind noch mehrere Unterfragen von wesentlicher Bedeutung für die strafrechtliche Begriffsbestimmung. Eine vollständige rechtsvergleichende Betrachtung auch nur der wichtigsten dieser Einzelpunkte würde einen unangemessenen Teil des hier zur Verfügung stehenden Raumes in Anspruch nehmen; außerdem ist sie für die Zeit bis 1954 bereits von Geerds vorgenommen worden (Geerds 1954), in kürzerer Form auch von Morris und Grassberger (Summary of Proceedings 1957). Auf die ebenfalls vorzüglichen älteren Darstellungen von Radbruch (1908) und W. Mittermaier (1927) sei hier auch kurz verwiesen. Wohl eine jede brauchbare gesetzgeberische Regelung wird zu den folgenden Punkten Stellung nehmen müssen: a) Soll der Rückfall bei allen (oder fast allen) oder nur bei bestimmten, praktisch besonders wichtigen Deliktsarten berücksichtigt werden? Das deutsche StGB von 1871 hat bekanntlich den zweiten Weg eingeschlagen; es berücksichtigt den Rückfall nur bei Diebstahl (§§ 244, 245), Raub (§ 250 Nr. 5), Hehlerei (§ 261) und Betrug (§ 264). Außerdem enthält die durch das Gesetz vom 24.11. 33 eingefügte Vorschrift des § 2 0 a l eine allgemeine Strafschärfungsvorschrift für gefähr-

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liche Gewohnheitsverbrecher, ohne daß es hierbei auf die Art der begangenen Straftaten ankäme. Im Ausland herrscht wohl das System des allgemeinen Rückfallsbegriffs ohne Beschränkung auf bestimmte Deliktstypen vor, ζ. B. in Frankreich, Sowjet-Rußland, Italien, Dänemark, Belgien, der Schweiz, Kuba, Äthiopien, Jugoslawien,der Türkei, und wohl in den meisten der Vereinigten Staaten von Amerika (über diese siehe Brown, der S. 18—9 besonders betont, wie schwierig es oft ist, den Inhalt der amerikanischen Einzelstaaten-Gesetzgebung zu ergründen). Als Länder, die nur einen besonderen Rückfall bei bestimmten Deliktstypen kennen, werden gewöhnlich die folgenden genannt: Holland, die skandinavischen Staaten, die Tschechoslowakei und eine Anzahl der Einzelstaaten der Vereinigten Staaten. Die deutschen Entwürfe haben zutreffenderweise eine allgemeine Rückfallsvorschrift aufgestellt. Es ist auch in der Tat nicht einzusehen, weshalb derartige Vorschriften grundsätzlich nur als für bestimmte Deliktstypen zweckdienlich anzusehen sein sollten. Es ist wohl richtig, daß bei gewissen Deliktsarten die Gefahr des Rückfalls besonders groß zu sein scheint; zum Teil liegt die besondere Häufigkeit aber nur daran, daß die in Frage kommenden Deliktsarten überhaupt zu den am häufigsten begangenen gehören. Auch bei einer allgemeinen Rückfallsvorschrift ist es gleichwohl denkbar, daß gewisse, gewöhnlich leichtere Deliktsarten, wie Übertretungen oder auch fahrlässige Taten, von der Geltung der allgemeinen Rückfallsvorschriften ausgeschlossen werden. Das ist im Entwurf 1962 für fahrlässige Taten und im türkischen StGB außerdem für Übertretungen und militärische Vergehen geschehen (Art. 87). Vor allem aber muß es sich nach dem Entwurf bei den Vortaten um solche handeln, die mit Zuchthaus oder Gefängnis bedroht sind. b) Verschieden von der soeben behandelten Frage ist die weitere des g l e i c h a r t i g e n („monotrop") oder u n g l e i c h a r t i g e n („polytrop") Rückfalls, d. h. ob nur eine wiederholte Begehung des im Rechtssinne gleichen (monotrop) oder wenigstens eines dem früheren ähnlichen Delikts (homotrop) rückfallbegründend wirkt oder ob die Begehung irgendeines neuen Delikts (hetero- oder polytrop) genügen soll (rdcidive sp6cifique oder g^nMque). Auch diese Frage ist in den nationalen Gesetzgebungen sehr verschieden entschieden worden; die Gesamttendenz geht aber unverkennbar in die Richtung der zweiten Lösung. Das deutsche StGB von 1871 verlangt noch Gleichheit oder wenigstens sehr nahe Verwandtschaft beider Deliktsarten; der Entwurf 1962 sieht von einem solchen Erfordernis mit Recht völlig ab. Hinsichtlich der ausländischen Gesetzgebungen h a t W. Mittermaier für die Zeit vor 1927 eine gute Übersicht gegeben, die zeigt, daß ζ. B. Belgien, die Schweiz, Argentinien und Sowjetrußland Gleichartigkeit

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Rückfall und Prognose

nicht erfordern. Das gleiche gilt für Jugoslawien und Äthiopien, nicht dagegen für die Tschechoslowakei. Mehrere Staaten verbinden beide Systeme, ζ. B. Frankreich (siehe Germain S. VII), die Türkei, Spanien und Kuba. Nach französischem Recht genügt ungleichartiger Rückfall zur Strafschärfung bei schweren Verbrechen, bei leichteren ist gewöhnlich Gleichartigkeit erforderlich. Das italienische StGB bestraft den gleichartigen Rückfall schwerer. Auch das japanische Recht unterscheidet zwischen dem gewöhnlichen Rückfall, der für alle Verbrechen gilt, für die der Täter mit Zuchthaus bestraft worden ist, und dem Rückfall des Gewohnheitsverbrechers, der wegen Raubes oder schweren Diebstahls bereits dreimal vorbestraft war und dann wieder ein gleichartiges Verbrechen begeht (Gesetz von 1930, siehe Baba und Nakano). Die Gesetze der Vereinigten Staaten sind auch in dieser Frage uneinheitlich und verwirrend (Brown S. 11 ff. und sein Appendix III). Welches der verschiedenen Systeme vorzuziehen ist, kann nur auf Grund eingehender kriminologischer, insbesondere typologischer Untersuchungen entschieden werden, über die weiter unten (C) zu berichten ist. Es ist nicht immer zutreffend, daß, wie W. Mittermaier annahm, „die immer erneut Rückfälligen meist Spezialisten einer Tatart sind". Auch ist es zweifelhaft, ob, wie oft ohne weiteres behauptet wird, die Gleichartigkeit des Rückfalls stets auf eine größere Gefährlichkeit des Täters schließen läßt. All diese Fragen lassen sich befriedigend nur auf Grund kriminologischer Untersuchungen beantworten (siehe unten C und D). Jedenfalls aber besteht heute wohl Einstimmigkeit darüber, daß eine bloße Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit der verletzten Strafgesetze und des Rechtsguts im juristischen Sinne oder des polizeitechnischen m o d u s o p e r a n d i von geringerer Bedeutung ist als die des Motivs und der charakterologischen Hintergründe der beiden Straftaten. Das italienische StGB stellt der Gleichheit der verletzten Strafgesetze die Gleichartigkeit der „Natur der die Straftaten begründenden Tatsachen oder der sie bestimmenden Motive" gleich (Art. 101). Man kann hier auch sehr wohl von einem Erfordernis des „inneren Zusammenhanges" sprechen, wie es die Begründung des Entwurfs 1962 t u t (S. 182). Dort wird darauf hingewiesen, daß die Wendung im § 61, es müsse dem Täter „im Hinblick auf Art und Umstände der Straftaten" vorzuwerfen sein, daß „er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen", auf das Erfordernis eines solchen Zusammenhanges deuten solle. Man kann das wohl so auslegen, daß dort, wo die Straftaten keinen inneren Zusammenhang zeigen — sei es hinsichtlich des Motives oder der gesamten charakterologischen Hintergründe, die gelegentlich vielleicht auch durch die rechtliche Eigenart der Taten aufgehellt werden können —,

von dem durchschnittlich gearteten Täter nicht zu erwarten ist, daß die Vorstrafe ihm zur Warnung dienen würde. Der Entwurf glaubt hiermit noch innerhalb des Rahmens der Tatschuld zu bleiben und zu zeigen, daß er den Begriff der Lebensführungsschuld ablehnt, der mit dem Gedanken des Schuldstrafrechts unvereinbar wäre und auch den Richter vor unlösbare Aufgaben stellen würde. Diese Ablehnung ist zu begrüßen, obwohl der Begriff der Lebensführungsschuld oder Charakterschuld in mancher Hinsicht natürlich kriminologisch wertvoll ist und auch von bekannten Strafrechtslehrern noch jetzt vielfach vertreten wird (ζ. Β. E. Schmidt, S. 372, 386). Es ist freilich nicht zu übersehen, daß die Beantwortung der Frage eines inneren Zusammenhanges in dem oben erörterten Sinne für den Richter ebenfalls sehr schwierig sein kann. Es ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, daß — wie Bindokat (S. 286) befürchtet — der Schluß von einem inneren Zusammenhange auf das Vorliegen einer hinreichenden Warnung und umgekehrt von dem Gegebensein einer solchen auf das Vorliegen eines Zusammenhanges gezogen werden könnte, d. h. also, daß die Gefahr eines Zirkelschlusses hier bestehe. Von großer praktischer Bedeutung wird daher die Auffassung der Begründung zu § 61 sein, daß Zweifel hinsichtlich des Bestehens eines inneren Zusammenhanges nicht zu Lasten des Täters gehen sollen; das müßte aber wohl im Gesetz selbst klar zum Ausdruck gebracht werden. c) Ob Rückfall gesetzlich schon beim Vorhandensein einer einzigen Vorstrafe vorliegen kann oder ob er mindestens zwei solche Strafen erfordert, ist in den einzelnen Ländern verschieden beantwortet worden. Das StGB 1871 ist hierin in sich selbst nicht einheitlich; bei Raub genügt schon eine einzige gleichartige Vorstrafe, was wohl mit der besonderen Schwere dieses Verbrechens zusammenhängt; im übrigen werden mindestens zwei Vorstrafen verlangt. Der Entwurf 1962 erhebt die letztere Regelung zum allgemeinen System. Im Ausland ist die Regelung wiederum durchaus verschieden, aber meistens genügt bereits eine Vorstrafe (ζ. B. Sowjet-Rußland). Mitunter werden die Strafdrohungen bei wiederholten Rückfällen noch weiter verschärft. Die Regelung des Entwurfs ist m. E. auch hier vorzuziehen. d) Eng verknüpft mit den vorher Besprochenen ist die Frage der Rückfallsverjährung. Wenn man einen inneren Zusammenhang, eine warnende Funktion der Vorstrafe (oder Vorstrafen) zur Bedingung macht, so muß man zur Vermeidung übergroßer Schwierigkeiten für die Rechtsprechung und gekünstelt erscheinender Rückfallstrafen solche Vorbestrafungen, die zu weit zurückliegen, unberücksichtigt lassen. Die Gesetzestechnik, die ja vielfach genötigt ist, sich vereinfachter Lösungen zu bedienen, setzt an die Stelle der psychologischen Untersuchungen der Frage

Rückfall und Prognose des inneren Zusammenhanges eine chronologische Lösung: Die Anwendung der Rückfallsvorschriften bleibt ausgeschlossen, wenn seit der Verbüßung oder dem Erlasse der letzten Strafe bis zur Begehung der neuen Straftat zehn Jahre verflossen sind (StGB § 245). Der Entwurf 1962 kürzt die Frist auf fünf Jahre ab. Wie unentbehrlich derartige schematische Lösungen sind, mag an folgendem Beispiel gezeigt werden: Im Mai 1965 wurde ein 52 jähriger englischer höherer Beamter in London zu einer Gefängnisstrafe von 21 Jahren unter der „Official Secrets A c t " von 1911 verurteilt. Er hatte gestanden, wichtige LuftwaffenGeheimnisse, die ihm in seiner Stellung in der „Guided Weapons Research and Development Division" des Luftkriegsministeriums zugänglich waren, an Sowjetrußland für etwa 5000 englische Pfund verkauft zu haben. Im Jahre 1934 war er, im Alter von 21 Jahren, wegen mehrerer Betrügereien zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Das war seine einzige Vorstrafe, und als er im Jahre 1946 eine Beamtenstellung erhielt, verschwieg er sie, da er, wie er bei einer späteren Befragung angab, aufrichtig glaubte, diese jugendliche Verfehlung völlig überwunden zu haben. Diese Erklärung wurde von seiner Behörde nicht weiter beanstandet, und er wurde sogar bald darauf in eine höhere Stellung befördert. Zur Begründung seiner verbrecherischen Tätigkeit gab er an, daß er trotz seines recht guten Gehalts aus Familiengründen in immer größere Geldverlegenheiten gekommen sei, die ihn seit 1961 dazu gezwungen hätten, den Russen Staatsgeheimnisse zu verkaufen. Er sei nie Kommunist gewesen und habe nicht aus politischen Beweggründen gehandelt (vgl. den Bericht in der Londoner Times vom 11. 5. 65). Falls in diesem Falle etwa die Frage der Rückfälligkeit rechtlich von Bedeutung gewesen wäre (ζ. B. wenn die Betrugsfälle nicht gleichzeitig, sondern nacheinander zur Aburteilung gekommen wären), so hätte die Feststellung eines inneren Zusammenhanges dem Gericht wohl erhebliche Schwierigkeiten bereitet. In allen Fällen waren anscheinend wirtschaftliche Motive entscheidend. Aber war der junge Mensch von 21 Jahren mit dem 52 jährigen Beamten mit seiner langen Erfahrung als Charakterologie che Persönlichkeit noch vergleichbar ? Mit der bloßen Feststellung, daß der Täter in beiden Fällen anscheinend dem Ansturm wirtschaftlicher Schwierigkeiten nicht gewachsen gewesen war, ist hier doch wohl nicht viel geholfen, da ja die psychologischen Hintergründe ganz verschieden sein konnten: in dem ersten Falle vielleicht jugendlicher Leichtsinn, im zweiten die Ratlosigkeit des über seine Verhältnisse hinauswollenden Familienvaters, der schließlich keinen anderen Ausweg aus seinen Geldsorgen sah als das Verbrechen. Aber all das sind bloße Vermutungen, und nur die genaueste Kenntnis aller Tatsachen zusammen mit einer tiefenpsycho-

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logischen Untersuchung könnte möglicherweise zu einer wirklichen Beantwortung der Frage des „inneren Zusammenhanges" führen. Auch eine solche Antwort hätte aber den Ausgang des Verfahrens wohl kaum beeinflußt, da die sehr lange Gefängnisstrafe vom Gericht ausdrücklich mit generalpräventiven Erwägungen begründet wurde, die von individuell-persönlichen Gesichtspunkten unabhängig waren. Die Tatsache der dreißigjährigen einwandfreien Führung wurde in jedem Falle berücksichtigt wie auch das Alter des Angeklagten, den das Gericht offenbar nach Möglichkeit davor bewahren wollte, seine Tage im Gefängnis beschließen zu müssen. e) Mehrere andere technische Gesichtspunkte, die für den gesetzlichen Rückfallsbegriff Bedeutung haben, sind noch kurz zu erörtern: aa) Art und Länge und Verbüßung der Vorstrafen : Das geltende deutsche Recht enthält keine besonderen Vorschriften hinsichtlich der Art und Dauer der Vorstrafen; das ist auch nicht erforderlich, da die Vordelikte ihrer Schwere wegen nicht zu leichten Bestrafungen geführt haben konnten. Nach dem Entwurf 1962 soll das anders werden. Da nunmehr Vordelikte jeder Art rückfallbegründend wirken können, wird es nötig, für ganz leichte Vorstrafen diese Wirkung auszuschalten. Daher verlangt § 61 I des Entwurfs Freiheitsstrafen von mindestens drei Monaten, die außerdem für vorsätzliche Straftaten verhängt sein müssen. In Sowjet-Rußland, wo ja eine einzige Vorstrafe genügt, muß sie länger als sechs Monate sein. In Argentinien genügt ebenfalls eine einzige Vorstrafe ohne Rücksicht auf ihre Dauer, aber bei zum zweiten Male Rückfälligen, die zu Einschließung verurteilt werden müssen, genügt die zweite Vorstrafe nur dann, wenn sie zwei Jahre überstieg. bb) Müssen die Vorstrafen verbüßt worden sein? Auch diese Frage ist, wie die rechtsvergleichende Betrachtung zeigt (ζ. B. Mittermaier S. 82—3), sehr umstritten. Nach StGB § 245 ist eine wenigstens teilweise Verbüßung oder wenigstens teilweiser Erlaß erforderlich, nach dem Entwurf dagegen nicht mehr, so daß also die bloße rechtskräftige Verurteilung genügt, wenn nur aus der Tatsache der erneuten Straffälligkeit im Zusammenhange mit anderen Tatsachen geschlossen werden muß, daß der Täter sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen. cc) Ausländische Verurteilungen können nach dem geltenden deutschen Strafrecht nicht, nach dem Entwurf 1962 dagegen wohl rückfallbegründend sein. Schon W. Mittermaier berichtete (S. 82), daß die Tendenz im Auslande immer mehr dahin gehe, ausländische Verurteilungen zu berücksichtigen. Natürlich muß die Verurteilung sich auf eine Tat beziehen, die nach deutschem Strafrecht ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen darstellt.

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Rückfall und Prognose

dd) Können Jugendstrafen Riickfall begründen? Nach geltendem deutschen Recht ist das wohl für Jugendstrafen, nicht aber für Jugendarrest zu bejahen (Schwarz-Dreher, 2 Α zu § 244), und der Entwurf 1962 scheint hieran nichts ändern zu wollen. Nach dem englischen Criminal Justice Act 1948, Sect. 21, bleiben vor dem Alter von 17 Jahren erlittene Vorstrafen für die Verhängung von Preventive Detention und Corrective Training ganz außer Betracht; in Argentinien sind sogar vor dem Alter von 21 erlittene Vorstrafen nicht rückfallbegründend. Nach der Regelung der vorbeugenden Verwahrung im Entwurf 1962 (§ 86) sollen nur nach Vollendung des sechzehnten Lebensjahres erlittene Vorstrafen berücksichtigt werden dürfen. Gleichwohl betont die Begründung, wohl mit Recht, daß durch diese Bestimmung das kriminalpolitisch wünschenswerte Bindeglied zwischen Jugend- und ErwachsenenStrafrecht hergestellt werde. Die kriminologische Beantwortung dieser Frage hängt wohl davon ab, ob man jugendlichen Verfehlungen gegenüber ganz allgemein ein Auge zudrücken will oder ob man, wie Mittermaier die gegenteilige Meinung (ohne sich mit ihr zu identifizieren) ausdrückte, „nicht früh genug den Rückfall bekämpfen könne". Wesentlich ist hierbei, ob man sich den typischen Werdegang des Rückfallverbrechers als in der Jugend beginnend und dann zu immer schwereren Verbrechen aufsteigend denkt und daher eine enge Verbindung zwischen Jugend- und Erwachsenen-Strafrecht verlangt oder obmanirgendwo, etwa mit der Erreichung der vollen Strafmündigkeit, eine Zäsur machen will. Der Schweizer Strafrechtler und Kriminologe Erwin Frey hat in seinen bedeutsamen und einflußreichen Schriften mit Entschiedenheit den Gedanken der Einheit von Frühkriminalität und Rückfallkriminalität vertreten. „Das geltende (d. h. schweizerische) Strafrecht geht von der unhaltbaren Fiktion aus, mit Erreichung der oberen jugendstrafrechtlichen Altersgrenze sei die frühkriminelle Laufbahn abgeschlossen, und es beginne — sozusagen von vorne — die Laufbahn des erwachsenen Verbrechers" (Frey, 1951a, S. 8). Demgegenüber betont Frey die Kontinuität zwischen Jugend- und Erwachsenenkriminalität, wobei er sich dessen durchaus bewußt ist, daß in den meisten Fällen die erstere frühzeitig abklingt, ohne zu einer gewohnheitsmäßigen Verbrecherlaufbahn zu führen. Daß die letztere Annahme tatsächlich zutrifft, ergibt sich ja schon aus den Zahlen der Kriminalstatistik, die in allen Ländern ein starkes Absinken der Kriminalität nach Erreichung der Volljährigkeit oder oft schon erheblich früher aufweist. Für die von Frey besonders untersuchte Gruppe von Kindern des Kantons Basel-Stadt aus der Zeit des letzten Weltkrieges fand er, daß nur etwa 20% der jugendlichen Rechtsbrecher nach Erreichung der Volljährigkeit

wieder rückfällig geworden waren, daß dieser Prozentsatz aber bei denjenigen, die bereits im Kindes- oder Jugendalter nicht nur straffällig geworden waren, sondern daneben auch Verwahrlosungserscheinungen zeigten, auf über 43% anstieg (Frey 1951b, S. 62—3). Als rückfällig wurden hierbei nur Personen bezeichnet, die wegen Vergehen oder Verbrechen verurteilt worden waren (S. 69); weiterhin ergab sich, daß die Rückfallzahlen für das männliche Geschlecht viel höher waren als für das weibliche (S. 70), so daß Frey für seine weiteren Untersuchungen die weiblichen Rückfälligen ganz außer Betracht ließ. Unter Zugrundelegung eines recht engen Begriffs des Rückfälligen als einer Person, die seit Erreichung der Volljährigkeit mindestens fünf Freiheitsstrafen wegen Vergehen oder Verbrechen verurteilt worden war, fand er weiterhin, daß der Prozentsatz von Rückfälligen in der Gruppe der ehemaligen frühkriminellen Jugendlichen rund siebenmal größer war als in der der nicht frühkriminellen (S. 72). Ohne an dieser Stelle auf die allgemeine Bedeutung der Ergebnisse Freys eingehen zu wollen, haben wir uns zu fragen, welche Folgerungen aus ihnen für unsere Sonderfrage zu ziehen sind, ob Jugendstrafen als rückfallbegründend anzusehen sind. Obgleich es Frey natürlich viel mehr um die Ausarbeitung eines praktisch brauchbaren Systems der Frühprognose (hierüber siehe unten unter I I : Prognose), verbunden mit einer lückenlosen Kette von Erziehungs- und SicherungsMaßnahmen, als um die Anwendung formeller Rückfallsvorschriften der hier besprochenen Art zu tun ist, dürfte ein grundsätzlicher Ausschluß von Jugendstrafen bei der Feststellung der gesetzlichen Rückfallvoraussetzungen wohl nicht in seinem Sinne liegen. Diese Erwägungen führen uns bereits zu einer Erörterung der sich an die Begriffsbestimmung anschließenden Rechtsfolgen.

der gesetzlichen

3. Die Rechtsfolgen Begriffsbestimmung

des

Räckfalls

Morris (S. 55) unterscheidet dreierlei Arten von Rechtsfolgen: Das Gericht kann (oder muß) die ordentliche Strafe verschärfen oder die Strafart ändern oder den Rückfälligen von gewissen milderen Strafen oder Behandlungsarten ausschließen oder ihn für sonst straflose Akte bestrafen (siehe auch die internationalen Übersichten bei Mittermaier S. 84—5 und Geerds S. 178—9). Die erste ist die häufigste Rechtsfolge und hat der Gesetzgebung Anlaß zu einer außerordentlichen Vielfalt verschiedenartigster Lösungen gegeben. Zunächst handelt es sich darum, ob die Strafschärfung oder -änderung zwangsläufig eintreten muß oder dem Ermessen des Gerichts überlassen wird. Im geltenden deutschen StGB ist ein erschwerter Strafrahmen mit schär-

Rückfall und Prognose ferer Strafart (Zuchthaus) und höherem Strafmaximum zwangsläufig vorgesehen, der bei mildernden Umständen aber abgemildert werden kann. § 20 a enthält eine Mischung von zwangsläufig vorgeschriebenen (Abs. I) und dem gerichtlichen Ermessen überlassenen (Abs. II) Strafschärfungen. Die zur Rückfallstrafe hinzutretende Anordnung der Sicherungsverwahrung ist zwangsläufig, „wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert" (§ 42 e), was dem Ermessen des Gerichts natürlich einen weiten Spielraum läßt. Der Entwurf 1962 hat ein recht kompliziertes System geschaffen; einerseits schlägt er im allgemeinen niedrigere Mindeststrafen vor als das geltende Recht (§§ 61 I, 63, 64), was sich — wie bereits betont — daraus erklärt, daß die zu Rückfallstrafen führenden Vordelikte leichter sein können als die des geltenden Rechts; andererseits aber enthält er für einzelne Deliktsgruppen besondere Strafschärfungen für den Fall, daß der Täter diese Delikte „derart wie einen Beruf betreibt, daß er daraus ganz oder zu einem erheblichen Teil seinen Lebensunterhalt bezieht" (so §§ 238, 246 I 4, 254 I, 287 II für Diebstahl, Raub, Betrug und Hehlerei). Hierdurch wird der Zusammenhang zwischen Rückfall und berufsmäßiger Begehung hergestellt, und eine kurze Erörterung des letzteren Begriffs und verwandter Erscheinungen läßt sich nicht umgehen. Während die erste Auflage einen ausführlichen Artikel über „Berufsverbrecher" von Hagemann enthielt, werden dieser Begriff ebenso wie die gewerbs- und gewohnheitsmäßige Begehung nunmehr unter dem Stichwort -»-„Typologie" behandelt, auf das daher verwiesen werden kann. Es seien hier nur die folgenden Punkte, die unter dem besonderen Gesichtspunkte des Riickfallproblems wichtig sind, hervorgehoben: Es ist vor allem klar, daß Rückfall der weitere Begriff ist, (1. h. es gibt Rückfällige, die weder Berufs- noch Gewerbs- oder Gewohnheitsverbrecher sind. Den ersten zwei Spielarten haftet ein wirtschaftlicher Beigeschmack an, der etwa dem rückfälligen Sittlichkeits- oder Roheitsverbrecher fehlt. Andererseits kann aber Gewerbsmäßigkeit schon bei der ersten Tat vorliegen, wenn nur der Täter gewerbsmäßige Wiederholungen beabsichtigt. Dem Begriff Gewohnheitsmäßigkeit fehlt theoretisch der wirtschaftliche Beigeschmack, und dieser Umstand hat wohl zu der gesetzgeberischen Beliebtheit des Begriffs geführt. In der Praxis des geltenden StGBs, das die Begriffe Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit, nicht aber den Begriff des Berufsverbrechers verwendet, hat sich aber gezeigt, daß die wirtschaftliche Seite auch bei der Anwendung des § 20 a weitaus überwiegt. Hagemann zog den Begriff Berufsverbrecher vor, aber nur als kriminologischen, nicht als Legaldefinition. Ullrich hält im Anschluß an Heindls berühmtes Werk ebenfalls den Ausdruck Berufsverbrecher für praktisch brauchbarer als den des Gewohnheitsverbrechers

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(S. 8—12), und Sieverts (ZStW 68, S. 418) zieht den Ausdruck,, beharrlich rückfälliger Verbrecher" dem „dramatisierenden" Begriff des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers vor. Der Entwurf 1962 will den § 20 a abschaffen, aber den Begriff der berufsmäßigen Begehung einführen. Die Abschaffung des § 20 a wäre zu begrüßen, zumal da die vorliegenden Untersuchungen über seine praktische Anwendung (insbesondere Hellmer) unter anderem gezeigt haben, daß er die wirklich gefährlichen Gewohnheitsverbrecher nur zum kleinsten Teile erfaßt und daß die Gewohnheitsverbrechereigenschaft von den Gerichten in Wirklichkeit nicht als ein zusätzlich erfordertes Merkmal des Täters behandelt, sondern „in der Mehrzahl der Fälle einfach aus der Tatsache der Vorbestrafungen geschlossen" worden ist (Hellmer, S. 306—7). Falls das wirklich der letzte Schluß unserer Weisheit sein sollte, so könnte das Gesetz sich mit den schwereren Rückfallstrafen begnügen. Andernfalls muß die Suche nach einem über den bloßen, wenn auch durch das Erfordernis des „inneren Zusammenhanges" und der erfolglosen Warnung qualifizierten Rückfall hinausgehenden Merkmal fortgesetzt werden. Das Reichsgericht (RGSt. 68, 149) hatte s. Zt. das Merkmal des „auf Grund charakterlicher Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen inneren Hanges" zu wiederholten Rechtsbrüchen verwendet, und auch der Entwurf 1962 benutzt es als Erfordernis der die Rückfallstrafe ergänzenden Sicherungsverwahrung (§ 85). Die Begründung führt — wohl im Einklang mit dem zitierten RGUrteil — aus, der Begriff des Hangtäters habe den Vorzug, daß er es dahingestellt sein lasse, ob der Hang auf Veranlagung oder erworbener Gewöhnung beruhe, während der jetzige Begriff des Gewohnheitsverbrechers dahin mißverstanden werden könne, daß er nur den letzteren Fall berücksichtige. Hiergegen ist im Schrifttum wiederum eingewendet worden, daß das Merkmal des inneren Hanges praktisch ebenfalls nur aus der häufigen Wiederholung geschlossen werden könne (Hellmer, S. 322). Das wird im wesentlichen wohl zutreffen. Wenn aber dem Merkmal des Hanges das des Willens zur ständigen Wiederholung von Verbrechen vorgezogen wird (S. 323), so ist demgegenüber zu bedenken, daß auch ein solcher Wille gewöhnlich nur aus äußeren Merkmalen entnommen werden kann. Wir sind also im ganzen genommen bisher nicht viel über den gewöhnlichen Rückfallsbegriff hinausgekommen. Bedenken sind im Schrifttum auch gegen das neu vorgesehene Institut der vorbeugenden Verwahrung (Entwurf 1962 § 86) geäußert worden. Sie stützen sich im wesentlichen darauf, daß die Wahrscheinlichkeit von Fehlprognosen zu groß sei, um eine sichere Voraussage der Gefahr zu ermöglichen, daß der Täter sich zum Hangtäter entwickeln und in der Zukunft schwere Straftaten

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begehen werde (Grünwald, S. 654, Brauneck, S. 14 u. 27 und die sorgfältig abwägende Untersuchung von Spieler; in der letzteren werden englische Erfahrungen verwertet, die sich inzwischen noch weiter verschlechtert haben, siehe unter B). Eine Stellungnahme zu solchen Bedenken ist offensichtlich aufs engste mit unserer Auffassung von der Möglichkeit zuverlässiger Prognosen verknüpft und hat daher weiter unten (II) zu erfolgen. Dagegen ist schon jetzt zu betonen, daß die mit Bezug auf die rechtliche Behandlung der Gewohnheits- und Berufsverbrecher im Verlaufe der deutschen Strafrechtsreform entstandenen Schwierigkeiten in keiner Weise national begrenzt sind, sondern eine durchaus internationale Erscheinung darstellen. Man kann geradezu behaupten, daß nationale Besonderheiten hier überhaupt keine Rolle zu spielen scheinen, abgesehen von dem selbstverständlichen Vorbehalt, daß das Problem in industriell hochentwickelten und engbevölkerten Ländern erheblich intensiver und ernster ist als in den anderen. Aus dem letzteren Grunde sind ζ. B. günstige Erfahrungen, die etwa in den skandinavischen Staaten mit gewissen pönologischen Experimenten gemacht worden sein sollen, nur von begrenztem Wert für große Industrieländer mit Weltstädten, deren Einwohnerzahl die Gesamtbevölkerung jedes einzelnen skandinavischen Staats übersteigt. Das bedeutet natürlich nicht, daß man die Entwicklung in diesen Ländern unbeachtet lassen dürfe. Viele wertvolle Anregungen — besonders auf dem Gebiete des Strafvollzugs — sind bekanntlich von ihnen ausgegangen. Man muß sich nur davor hüten, daraus, daß gewisse Maßnahmen unter weniger schwierigen Verhältnissen erfolgreich zu sein scheinen, ohne weiteres zu schließen, daß das allgemein zutreffen müsse. Im Zweifel darf man nur Gleiches mit Gleichem oder wenigstens Ähnliches mit Ähnlichem vergleichen. Das Rückfallproblem Deutschlands ist daher sinnvoll wohl hauptsächlich im Lichte des entsprechenden Problems etwa in den Vereinigten Staaten und Großbritannien rechtsvergleichend und kriminalpolitisch zu erörtern, und hier ergibt auch die flüchtigste Betrachtung das Versagen der bisherigen gesetzgeberischen Versuche, durch neue Rechtsformen des Rückfallproblems Herr zu werden (wie weit kleinere Länder wie Belgien Ausnahmen hiervon darstellen, wird weiter unten noch kurz zu erörtern sein). Einen bemerkenswerten Beweis hierfür bieten zunächst die Vereinigten Staaten mit ihren mißglückten „Habitual Criminal Acts", deren bekanntestes Beispiel der Baumes Act von 1926 des Staates New York ist. Es war nicht das erste Gesetz dieser Art, vielmehr begann die gesetzgeberische Tätigkeit in New York wie in mehreren anderen Einzelstaaten der Union bereits im Jahre 1907 (ζ. B. Indiana), in Massachusetts schon im Jahre 1817. Mitunter ist diese Art Gesetzgebung

als gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten verstoßend angegriffen worden mit der Begründung, daß nach dieser Verfassung (Sect. 1 des Thirteenth Amendment) „neither slavery nor involuntary servitude, except as punishment for crime" auferlegt werden dürfe, daß aber eine lebenslängliche Einsperrung als „habitual criminal" nach Verbüßung der ordentlichen Strafe keine Strafe für wiederholte Verbrechensbegehung, sondern für einen „status or condition", d. h. also für den Zustand des Gewohnheitsverbrechers, sei, mit anderen Worten, daß das zweispurige System dieser Art der Gesetzgebung verfassungswidrig sei. Dieser Einwand ist von den höchsten Gerichten der Einzelstaaten zwar zurückgewiesen worden (vgl. ζ. B. das bei Donnelly et al. S. 483 abgedruckte Urteil), und ebenso erfolglos war der Einwand des „cruel and unusual punishment". Aber ganz unabhängig von der Frage der Verfassungswidrigkeit wurden im Schrifttum schwerwiegende Bedenken geäußert. Soweit diese Gesetzgebung die Verhängung der nachfolgenden schweren Maßnahme zwangsläufig vorschrieb, wurde sie von den Gerichten meistens unter den verschiedenartigsten Vorwänden fast völlig umgangen; die Ungleichmäßigkeit in ihrer Anwendung wurde unerträglich, und es war auch klar, daß sie die wirklich gefährlichen Berufsverbrecher großen Stiles überhaupt nicht erfaßte (so ζ. B. Brown, S. 32, Tappan bei Donnelly S. 486, der geradezu behauptet, daß diese Kategorie von den „Habitual Criminals Acts" sogar profitiert habe). Die lediglich eine bestimmte Anzahl von Vorstrafen erfordernden Voraussetzungen lieferten kein wirkliches Kriterium der Gefährlichkeit; die Strafverfolgungsbehörden benutzten diese Art der Gesetzgebung hauptsächlich für einen Kuhhandel mit der Verteidigung, um möglichst viele mildere Verurteilungen anstelle einer kleineren Anzahl schwerer Bestrafungen herauszuschlagen (Einzelheiten bei Tappan in Ploscowe). Hierbei werden sie von der dieser Gesetzgebung abgeneigten öffentlichen Meinung unterstützt. Die neueren amerikanischen Gesetzgebungsarbeiten wie auch das vorbereitende Schrifttum haben sich bemüht, aus diesen Mißgriffen und vor allem auch aus den noch zu erwähnenden Veränderungen in dem Charakter des amerikanischen Berufsverbrechertums die entsprechenden praktischen Folgerungen zu ziehen. Ob diese Bemühungen durchweg erfolgreich gewesen sind, mag fraglich erscheinen und kann jedenfalls nicht in Kürze entschieden werden. Sicherlich aber steht man dort der Erscheinung des modernen Berufsverbrechertums jetzt realistischer gegenüber als zu Beginn des Jahrhunderts. Vom kriminologischen Standpunkt aus muß betont werden, daß wohl in keinem anderen Lande die verschiedenartigen Formen dieses krankhaften Gewächses so umfassend und rücksichtslos untersucht worden sind wie in den Vereinigten Staaten—

Rückfall und Prognose freilich zeigen sie wohl auch in keinem anderen Lande eine derartig riesenhafte und bedrohliche Ausdehnung und Intensivität. Zum mindesten seit den monumentalen Veröffentlichungen der „National Commission on Law Observance and Enforcement" (Wickersham Commission) von 1931, denen 20 Jahre später der Bericht der „Senate Investigation of Organized Crime" (Kefauver Report) von 1951 und darauf die privaten Arbeiten „Organized Crime and Law Enforcement" (herausgegeben von Morris Ploscowe) von 1952 und schließlich das Sammelwerk „Combating Organized Crime" der „Annais der American Academy of Political and Social Science" (Mai 1963) folgten, haben amerikanische Politiker und Kriminologen rücksichtslos bis in die letzten Schlupfwinkel dos Gangsterwesens hineingeleuchtet. Es hat sich hierbei ergeben, daß die größten Gefahren der Gesellschaft jetzt nicht mehr von den mit verhältnismäßig primitiven Mitteln arbeitenden örtlichen „stick-up gangs" des 19. und frühen 20. Jahrhunderts drohen, sondern von den erheblich verfeinerten Methoden der sich über die Gesamtfläche der Vereinigten Staaten erstreckenden und besonders auf den Gebieten des Glücksspiels, des Rauschgifthandels, der Prostitution, der politischen Bestechung, des „protection money" rackets und in ähnlichen Formen arbeitenden Organisationen. Ob die pönologischen Abwehrmaßnahmen mit diesen kriminologischen Erkenntnissen Schritt gehalten haben, ist — wie bereits angedeutet — fraglich. Jedenfalls aber haben sie auf gesetzgeberischem Gebiete dazu geführt, daß die primitiven „Habitual Criminals Acts" mehr und mehr durch den Ausbau der unbestimmten Verurteilung, des Parole Systems und des Gefängniswesens ersetzt worden sind, die alle außerhalb des Rahmens dieses Beitrages liegen. Der Erwähnung bedürfen jedoch die Arbeiten des „American Law Institutes", das in seinem „Model Penal Code" eingehende Strafzumessungsgrundsätze enthält. Die hier vorgesehenen „extended terms" sind den für Rückfällige aller Arten in den einzelstaatlichen Gesetzgebungen geltenden Strafschärfungsbestimmungen ähnlich, versuchen aber, eine Vereinheitlichung dieser Gesetzgebungen herbeizuführen. Kritiker haben bereits bemängelt, daß der „Model Penal Code" keine ausreichende Begriffsbestimmung des „dangerous persistent offenders" enthalte und auch keine Mittel vorsehe, ihn mit Sicherheit zu erkennen (so ζ. B. der Direktor der National Probation und Parole Association, Will C. Turnbladh, in „Sentencing", einem von der Zeitschrift Law and Contemporary Problems der Duke University, North Carolina, veröffentlichten Sammelwerk, Sommer 1958, S. 546—7; siehe dort auch Paul W. Tappan, S. 539—40, und ausführlicher in Crime, Justice and Correction, 1960, S. 468ff. Tappan stand aber als Berichterstatter

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des „American Law Institutes" diesen Vorschriften wohl nicht kritisch genug gegenüber). Auch hier ist wieder die Befürchtung geäußert worden, daß die Gerichte von den sehr langen unter den „extended terms" vorgesehenen Freiheitsstrafen einen unrichtigen Gebrauch machen könnten. Die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten und sich aus ihnen ergebenden Schwierigkeiten sind neuerdings von Harold Dubroff, Recidivist Procedures, New York University Law Review Bd. 40 Nr. 2, April 1965, S. 332—50, eingehend untersucht worden. Die englischen Erfahrungen sind wohl besonders lehrreich, unter anderem weil England bekanntlich nach einer 40jährigen Anwendung — oder wohl richtiger einer der Nichtanwendung fast gleichkommenden äußerst zaghaften Anwendung — des zweispurigen Systems des „Prevention of Crime Acts" von 1908 mit dem „Criminal Justice A c t " von 1948 zum einspurigen System überging, das außerdem noch einige andere gesetzgeberische Verbesserungen aufwies. Es liegt also nunmehr eine etwa 19 jährige Erfahrung mit dem einspurigen System vor. Der Verfasser dieses Artikels betonte bereits im Jahre 1959, aus den gegen das zweispurige System mit Recht geltend gemachten Einwendungen sei durchaus noch nicht zu folgern, daß „ein einspuriges System das Ende aller Schwierigkeiten bedeutet" (ZStW 71, 1959, wieder abgedruckt in Deutsche Strafrechtsreform in englischer Sicht, S. 26 und 53). In der Tat läßt sich nunmehr wohl feststellen, daß der Wechsel des Spurensystems im wesentlichen nur den Erfolg gehabt hat, die Abneigung der Gerichte gegenüber der „Preventive Detention" zu verringern. Während diese Maßregel unter dem alten Gesetz schließlich nur in durchschnittlich etwa 10 Fällen jährlich angeordnet worden war (Morris 1950, S. 61), ist die durchschnittliche Jahreszahl unter dem Gesetz von 1948 auf etwa 200 Fälle gestiegen — eine Zahl, die eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Anzahl der in Deutschland zu Sicherungsverwahrung verurteilten Gewohnheitsverbrecher aufweist. Im übrigen hat sich nicht vieles gebessert. Das Gefühl einer ungerechten Behandlung, das die unter dem alten Gesetz Verurteilten gegen die ihnen als Doppelbestrafung und bloßer „Etikettenschwindel" erscheinende Verkoppelung von Zuchthaus mit darauffolgender Verwahrung hatten, ist ihnen geblieben, mit dem einzigen Unterschiede, daß sie jetzt die lange Dauer der Preventive Detention bei verhältnismäßig nicht allzu schweren Straftaten als ungerecht empfinden. Die psychologische Wirkung ist natürlich nicht wesentlich verschieden; sie beeinträchtigt den Erfolg etwaiger Besserungsmaßnahmen auf das schwerste und dient, wenn auch nicht immer als wirklicher Grund, so doch zum mindesten als willkommener Vorwand für erneute Straftaten. Die früheren Versuche, im

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kontinentalen Sinne zu argumentieren, daß die „Preventive Detention" keine Strafe, sondern eine Sicherungsmaßnahme sei, sind als völlig erfolglos endgültig aufgehoben worden; „im englischen Recht gibt es eine solche Unterscheidung nicht, und im Hinblick auf die heutige Auffassung von einer Gefängnisstrafe ist sie auch praktisch gegenstandslos geworden" (Sir Lionel Fox, S. 301). Alle diese Schwierigkeiten sind noch wesentlich dadurch verschlimmert worden, daß — nicht anders als vor 1948 und als in den amerikanischen „Habitual Criminal Acts"—die englischen Gerichte im allgemeinen einen ganz ungeeigneten Tätertyp für diese Behandlungsart ausgesucht haben. Aus der wertvollen und eingehenden Untersuchung, die ein Mitglied der „Home Office Research Unit", der Psychologe Hammond (und seine Mitarbeiterin Edna Chayen) im Auftrage des englischen Innenministeriums vor einigen Jahren ausführten (Hammond-Chayen 1963), seien nur die folgenden Hauptpunkte hier kurz wiedergegeben : a) Trotz des Ansteigens der Verurteilungen zu Preventive Detention stellen die tatsächlich hierzu Verurteilten nur etwa den achten Teil derer dar, die im gleichen Zeitraum die gesetzlichen Voraussetzungen für diese Strafart erfüllten (S. 2). Die Zahl der über 30 jährigen, zu Gefängnis Verurteilten mit 6 oder mehr Vorstrafen wurde auf 30—35000 geschätzt, b) Auf Berufung hin wurde eine immer mehr ansteigende Zahl der Verurteilungen zu „Preventive Detention" aufgehoben (i. J. 1961 waren es 16% geworden) und größtenteils durch Gefängnisstrafen ersetzt, was auf eine erhebliche Unsicherheit oder sogar auf einen Zwiespalt der Auffassungen innerhalb der Gerichte hinsichtlich der Anwendung von „Preventive Detention" deute (S. 5). c) Die für die Gerichte für eine solche Anwendung maßgeblichen Faktoren seien vor allem die Zahl der Vorstrafen mehr als ihre Art — es sei denn, daß es eine „Preventive Detention" Vorstrafe war —, besondere Bevorzugung der Einbrecher und die Kürze des seit der letzten Strafe verflossenen Zeitraums. Besonders ungünstig wirkte eine Verbindung mehrerer dieser Faktoren (S. 184). d) Alles in allem seien die zu „Preventive Detention" Verurteilten meistens Täter, die in ihrer gesamten Art der Lebensführung versagt hätten, viel mehr als wirklich gefährliche Verbrecher. Die letzteren erhielten in der Regel nicht „Preventive Detention", sondern lange Gefängnisstrafen. In ihren Schlußfolgerungen betonen die Verfasser, daß die zu allgemeine Fassung der gesetzlichen Vorschriften und insbesondere das unzureichende Erfordernis von nur 2 Vorstrafen für mit mindestens 2 Jahren Gefängnis bedrohte Delikte zum Teil die Schuld an der verkehrten Auswahl treffe. Wenn man vermeiden wolle, daß die Gerichte — was natürlich einfacher ist — anstatt der wirklich gefährlichen Gewohnheitsverbrecher die verhältnismäßig harm-

losen passiv-asozialen kleinen Rückfall-Diebe und -Betrüger in die Sicherungsverwahrung schicken, so müsse man die Voraussetzungen für die letztere erheblich verschärfen. Es sei nicht angängig, diese Maßnahme unterschiedslos für allzu verschiedene Tätertypen zu verwenden. Für die letztgenannte, zahlenmäßig weitaus größere Gruppe sei eine ganz andere Behandlung geboten als für die viel kleinere, aber unverhältnismäßig schwierigere erste Gruppe. Auch könne die Existenz der „Preventive Detention" keine wirkliche Abschreckungswirkung haben, da sie nur auf einen sehr kleinen Prozentsatz der für diese Strafart qualifizierten Täter wirklich zur Anwendung komme. Einstweilen seien die Erfolgsaussichten für die zu „Preventive Detention" Verurteilten wie auch für die hierfür qualifizierten, tatsächlich aber zu anderen Strafen verurteilten Täter sehr gering. Nach Hammonds Berechnung waren von der ersten Kategorie innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Entlassung 63% und von der zweiten Kategorie innerhalb des gleichen Zeitraums 68% wieder bestraft worden (S. 101). Ganz allgemein könne man der „Preventive Detention" keine nennenswerte Abschreckungswirkung beilegen, auch insoweit es sich nicht um nachfolgende dauernde Straffreiheit, sondern nur um eine Verlängerung der straffreien Zwischenräume und eine Bevorzugung leichterer Straftaten handele (S. 188). Eine Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzungen, die wahrscheinlich zu einer prozentual, wenn auch nicht notwendigerweise absolut genommen, häufigeren Anwendung führen würde, werde die Abschreckungswirkung wahrscheinlich verstärken. Man wird diesen Erwägungen wohl beistimmen müssen. Wenn wir uns in dem vorliegenden ersten Abschnitt dieses Artikels auch nicht mit Behandlungsfragen befassen können, so scheinen uns doch Hammonds Ausführungen hinsichtlich der sich aus einer zu laxen Begriffsbestimmung für die Rechtsprechung ergebenden Gefahren an dieser Stelle besonders bedeutsam zu sein. Andererseits gibt aber seine der Auffassung Hellmers und der meisten anderen Sachkenner entsprechende Feststellung zu denken, daß wirklich gefährliche Gewohnheitsverbrecher —· wenn es überhaupt einmal gelingt, sie vor Gericht zu bringen — auch dann gewöhnlich nicht zu „Preventive Detention" oder Sicherungsverwahrung verurteilt werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Das deutet doch darauf hin, daß den Gerichten Maßregeln dieser Art für den wirklich gefährlichen Verbrechertyp ungeeignet erscheinen. Es ist hierfür höchst bezeichnend, daß in dem großen „Mail Train Robbery" Fall vom August 1963, bei dem es sich bekanntlich um einen Raubüberfall größten Stils und eine Beute von fast 2300000 englischen Pfunden handelte, keiner der Täter zu „Preventive Detention" verurteilt wurde, obgleich bei

Rückfall und Prognose einigen von ihnen die gesetzlichen Voraussetzungen vorlagen und es sich zum Teil um gefährliche Berufsverbrecher handelte. Statt dessen wurden Gefängnisstrafen bis zu 30 Jahren verhängt. Es mag das in England eben wenigstens teilweise auf die den Gerichten als zu niedrig erscheinende Höchstgrenze von 14 Jahren für „Preventive Detention" zurückzuführen sein, aber für die nach StGB § 42f an keine Höchstdauer gebundene deutsche Sicherungsverwahrung kann diese Erwägung doch eben nicht maßgebend sein. Hierbei ist ja auch zu bedenken, daß die englische „Preventive Detention" an die Stelle der Zuchthausoder Gefängnisstrafe tritt, während die deutsche Sicherungsverwahrung neben eine Zuchthausstrafe von bis zu 5 oder gar 15 Jahren tritt. Deshalb sind die deutschen Zahlen von jährlich etwa 200 Anordnungen (225 i. J . 1962, siehe Bevölkerung und Kultur, Reihe 9: Rechtspflege S. 40, Tabelle A 2) mit den englischen nicht gut vergleichbar. Der amtliche von dem englischen Home Office veranlaßte „Report of the Advisory Council on the Treatment of Offenders" (A C Τ Ο) über das Problem der „Preventive Detention" (1963) stützt sich teilweise auf die Vorarbeit Hammonds, ohne aber die richtigen Schlußfolgerungen aus ihr zu ziehen. Ohne im geringsten auf die internationale Literatur zu diesem weltweiten Problem einzugehen, begnügt diese amtliche Veröffentlichung sich damit, die allbekannten Tatsachen zu wiederholen, daß „Preventive Detention" ihren Zweck verfehlt habe, weil sie nicht richtig und nicht häufig genug angewendet werde und weil sie sich im praktischen Strafvollzug nicht hinreichend von der Gefängnisstrafe unterscheiden lasse. Hieraus folgert der Bericht, ohne die Verbesserungsvorschläge Hammonds und anderer zu berücksichtigen, daß „Preventive Detention" abgeschafft und durch Gefängnisstrafen bis zu 10 Jahren oder eine noch längere Strafe ersetzt werden solle, falls die letztere bereits vom Gesetz für den betreffenden Deliktstyp vorgesehen sein sollte. Es solle den Gerichten vom Gesetzgeber eingeschärft werden, daß es nicht unangemessen sei, auch für die wiederholte Begehung leichterer Straftaten sehr lange Gefängnisstrafen zu verhängen (S. 24ff.). Andererseits aber werden die Strafvollzugsbehörden ermahnt, neue Methoden zu ersinnen, die den Bedürfnissen der verschiedenen Spielarten der Rückfalltäter besser gerecht werden würden als bisher. Das ist natürlich nichts als eine Geste der Ratlosigkeit, die einer nahezu 60jährigen Periode des Experimentierens ein Ende bereiten würde, ohne etwas Brauchbares an ihre Stelle zu setzen. Wenn dieser rein negative Lösungsversuch vom englischen Parlament angenommen werden sollte, so würde der Gesetzgeber die ihm obliegenden Verpflichtungen noch mehr als bisher auf die Gerichte und den Strafvollzug abzuschieben suchen, 4 HdX, 2. Aufl., Bd. III

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ohne ihnen hinreichende Richtlinien zur Verfügung zu stellen. Die Gerichte zu ermahnen, den für die Allgemeinheit nicht wirklich gefährlichen Typ des kleinen Gewohnheitsdiebes mit langjährigen Gefängnisstrafen zu bekämpfen, wird in Zukunft ebenso wirkungslos bleiben wie bisher, weil die meisten Richter eine solche Strafpolitik nicht mit ihrem Gerechtigkeitssinn vereinbaren können. Und dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher kann man wohl — wenn überhaupt — nur auf zweierlei Weise beikommen: einerseits durch sehr früh einsetzende und umfassende soziale Maßnahmen vorbeugender Art und andererseits für diejenigen, die ihnen gegenüber unempfänglich bleiben, wirksamere polizeiliche Bekämpfung durch eine technisch bis aufs kleinste modernisierte und schlagkräftige Kriminalpolizei. Weiter unten (C und D) geben wir Einzelfälle, die die verschiedenen in Betracht kommenden Typen illustrieren sollen. Neuerlich wurde in England, wie in dem „ACTO Report" vorgeschlagen, die „Preventive Detention" tatsächlich abgeschafft und durch ein System von „extended terms of imprisonment" ersetzt (Crim. Justice Act, 1967, sect. 37). Unsere obige Kritik ist hierdurch in keiner Weise gegenstandslos geworden, da die alten Probleme bestehen geblieben sind. Ein sachverständiger Beurteiler schreibt (J. E. Hall Williams, 84 SchwZStr. 1968, S. 18), daß diese Neuerungen „sich nicht als Verbesserungen erweisen und ebenso unwirksam bleiben" dürften „wie die früheren Versuche, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden...". An die oben skizzierte amerikanische Situation erinnert übrigens auch eine Bemerkung in dem japanischen Bericht von Baba und Nakano (S. 14—5). Die diesen Autoren sehr niedrig erscheinenden Zahlen der als Gewohnheitsverbrecher Verurteilten (von 6285 i. J . 1949 allmählich auf 2589 i. J.1954 absinkend) werden hier damit erklärt, daß Gewohnheitsverbrecher nicht immer als solche behandelt würden, weil sonst die Strafen äußerst schwer wären und man daher damit rechnen müsse, daß die Angeklagten sich gegen eine solche Verurteilung wehren würden („there will be a high rate of contention by the accused"). Man könne hinreichend lange Strafen auch verhängen, ohne sich der Gesetzgebung gegen Gewohnheitsverbrecher zu bedienen. Abschließend sei noch auf die Erfahrungen hingewiesen, die in Belgien seit dem Inkrafttreten des international viel beachteten Gesetzes vom 9. April 1930 (Loi de defense sociale) über anormale und gewohnheitsmäßige Verbrecher gemacht worden sind. Dieses Gesetz folgt bekanntlich dem zweispurigen System und sieht in seinem sich auf „Rückfällige und Gewohnheitsverbrecher" beziehenden Abschnitt (Art. 24—28) vor, daß diese beiden Gruppen je nach der Schwere der erkannten Strafe für die Dauer von 10 oder 20 Jahren vom

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Gericht nach Verbüßung ihrer Strafe „zur Verfügung der Regierung" gestellt werden können oder in den schwersten Fällen sogar gestellt werden müssen. Der Begriff des Gewohnheitsverbrechers wird im Art. 25 (2) dahin umschrieben, daß er während der letzten 15 Jahre mindestens 3 mit Gefängnis von mindestens 6 Monaten bestrafte Delikte begangen hat und eine beharrliche verbrecherische Tendenz besitzt. Wie Paul Cornil, wohl der beste Kenner dieser Gesetzgebung und ihrer praktischen Durchführung, betont, ist das eine in ihrem letzten Teil dem italienischen StGB (Art. 108) sehr ähnliche Begriffsbestimmung, die mehr kriminologischer als strafrechtlicher Natur sei und dem Richter erhebliche Schwierigkeiten bereite. Nur eine sorgfältige medizinisch-psychologische und soziologische Untersuchung des Täters könne dem Gericht die erforderlichen Unterlagen verschaffen (Cornil, 1958, S. 184). Für die Zeit von 1931 bis 1954 einschl. gibt Cornil die folgenden Zahlen an: Insgesamt 1338 Personen wurden der Regierung von den Gerichten als Rückfällige und Gewohnheitsverbrecher „zur Verfügung gestellt", und zwar 427 davon während der letzten 10 Jahre. Nach einer Mitteilung des General-Inspektors des belgischen Gefängniswesens, Marcel van Helmont, war von der durch das Gesetz geschaffenen Möglichkeit der Unterbringung auf relativ unbestimmte Zeit bis zum 1. 1. 49 in 5 8 % der möglichen Fälle Gebrauch gemacht worden (van Helmont, 1950, S. 315); dagegen waren die Zahlen in späteren Jahren erheblich niedriger, ζ. B. 3 6 % und 3 2 % in den Jahren 1955 und 1956 (Cornil, S. 194), was wohl auf eine wachsende Enttäuschung der zuständigen Stellen gegenüber den Ergebnissen der Einrichtung schließen lassen dürfte. Die zur Unterbringung führenden Delikte waren auch hier wieder hauptsächlich Diebstähle (Cornil, S. 194). An statistischen Erfolgszahlen stehen anscheinend nur die Angaben Cornils zu Verfügung, nach denen bis 1958 ungefähr 8 0 % als Versager und 2 0 % als erfolgreich anzusehen waren (Cornil 1958, S. 185). Cornil führt aber aus, daß die Mißerfolge zum großen Teil mehr in allgemein schlechter Lebensführung und Nichtbefolgung der auferlegten Bedingungen als in wirklichen Straftaten zu erblicken waren. Van Helmont spricht sich auf Grund seiner Erfahrungen durchaus gegen das zweispurige System des Gesetzes aus (van Helmont 1960, S. 123) und betont seine Mängel, die hauptsächlich auf psychologischem Gebiete zu finden seien (1950, S. 316—7). Auch hat sich nach seiner Auffassung eine praktisch brauchbare Unterscheidung zwischen Rückfälligen und Gewohnheitsverbrechern als nicht durchführbar erwiesen (1959, S. 314). Ganz kurz seien nur noch die nicht in einer Strafschärfung oder Strafänderung bestehenden gesetzlichen Rechtsfolgen des Rückfallsbegriffs ge-

streift. Sie können zunächst in der Schaffung besonderer Delikte bestehen, die nur von Rückfälligen begangen werden können. Hier wird also eine Betätigung unter Strafe gestellt, die straflos wäre, wenn sie von einer im Gesetzessinne nicht rückfälligen Person vorgenommen werden würde (ζ. B. §§ 245 a und 296 StGB). Die berüchtigte Vorschrift dos englischen „Vagrancy Acts" von 1824, Sect. 4, mag hier erwähnt werden, nach der eine „suspected person" oder ein „reputed thief" wegen „loitering with intent" bestraft werden können, wenn sie sich an gewissen Stellen in der Absicht, ein Verbrechen zu begehen, aufhalten. Allerdings ist eine frühere Verurteilung hier nicht unbedingt erforderlich, aber der „known character as proved" kann als Beweis für eine solche Absicht benutzt werden, was dem sonst im englischen Strafverfahrensrecht bekanntlich vorherrschenden Verbot einer Bekanntmachung der Vorstrafen vor der Verurteilung widerspricht (Glanville Williams, Criminal Law. The General Part, § 154) und auch eine außerordentliche Erweiterung der Bestrafung bloßer Vorbereitungshandlungen darstellt. N. Morris (Proceedings, S. 64) berichtet ferner über gewisse Bestimmungen des australischen Rechts, wonach ein Rückfälliger mit einer bestimmten Anzahl von Vorstrafen sich strafbar macht, wenn er in der Gesellschaft anderer Vorbestrafter angetroffen wird (man hat mit Bezug auf derartige Vorschriften gelegentlich gefragt, ob von Rückfälligen erwartet werde, daß sie sich hauptsächlich in der Gesellschaft von Ministerpräsidenten bewegten). Weiterhin sind hier die Vorschriften zu nennen, die die Anwendung der -> Strafaussetzung zur Bewährung für Täter verbieten, die bereits vorher in den letzten 5 Jahren zu Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als 6 Monaten verurteilt worden waren oder die innerhalb dieses Zeitraums bereits einmal Strafaussetzung zur Bewährung oder im Gnadenwege erhalten hatten (§ 23 I I I 2 und 3). Diese Vorschrift ist im Entwurf 1962 § 72 sogar noch etwas verschärft worden, obgleich die Begründung anerkennt, daß kriminalpolitische Bedenken gegen derartig enge Ausschlußbestimmungen bestehen. Auch der Verfasser des vorliegenden Beitrages hat solche Bedenken geltend gemacht (Deutsche Strafrechtsreform, S. 22). In der Praxis der englischen Gerichte macht sich eine immer wachsende — wenn auch zahlenmäßig noch nicht sehr bedeutsame — Neigung bemerkbar, Tätern, die an sich sehr wohl „Preventive Detention" hätten erhalten können, statt dessen „Probation" aufzuerlegen. In einer von Hammond untersuchten Gruppe von 380 solchen Tätern hatten 53 „Probation" oder Geldstrafe erhalten (die Zahl für „Probation" wird leider nicht gesondert angegeben) und weitere 40 Gefängnis von unter einem Jahr (S. 78). Die für die Gerichte bestimmenden Erwägungen sind klar: Es handelt

Rückfall und Prognose sich hier um kleine, meistens ältere Gewohnheitsdiebe oder -betriiger, die in ihrer Jugend niemals die Vorteile von „Probation" erhalten hatten, sondern von einer Gefängnisstrafe zur anderen gewandert waren, hierbei immer mehr verbittert worden sind und die nunmehr einmal zeigen sollten, ob sie für eine andere Behandlungsart empfänglich sein würden. Der Gesetzgeber sollte den Gerichten die Möglichkeit eines solchen Experiments möglichst weit offen lassen. Um Mißbräuche zu verhüten, könnte sie auf einen einmaligen Versuch beschränkt werden. 4. Der kriminologische

Rückfallsiegriff

Der kriminologische Rückfallsbegriff ist der weitaus umfassendste. Er ist weder von vorherigen Verurteilungen und Strafverbüßungen noch überhaupt von irgendwelchen amtlichen Feststellungen der Begehung früherer Straftaten abhängig, sondern verlangt nur ihre tatsächliche Begehung. Insofern weicht diese Definition von derjenigen ab, die von Morris (Proceedings S. 66) und von der 1. Sektion des Londoner Kongresses (1955) vorgeschlagen wurde. Die letztere wollte als einen Rückfalltäter nur den Täter anerkennen, der bereits eine Straftat begangen hatte, die gesetzlich als solche festgestellt und in irgendwelcher Weise von den Organen der Gesellschaft offiziell behandelt worden war; hiergegen meine Einleitung S. 40/41). Vom Standpunkte des Kriminologen sind derartige vorhergegangene amtlichgesellschaftliche Feststellungen und Maßnahmen, ihr Vorhandensein oder ihr Fehlen im Hinblick auf die von ihnen ausgelösten psychologischen und soziologischen Wirkungen selbstverständlich ebenfalls von größter Bedeutung. Hieraus darf aber nicht die Folgerung gezogen v/erden, daß das kriminologische Studium des Rückfalls sich auf diese sozusagen amtlich oder wenigstens gesellschaftlich abgestempelten Tätergruppen beschränken müsse. Unser statistisches Material — wie unvollkommen es auch sein mag — zeigt zur Genüge, daß eine solche Abstempelung in Wirklichkeit nicht der Gesamtheit der rückfälligen Täter zuteil wird. Die von dieser Abstempelung nicht Erfaßten dürfen kriminologisch nicht ignoriert werden, wenn es etwa Sozialarbeitern oder Psychiatern gelingt, mit ihnen außeramtlich Fühlung zu gewinnen und sie zu studieren. Wie die Kriminologie von den nach Zeit und Ort begrenzten strafrechtlichen Begriffsbestimmungen der einzelnen Delikte unabhängig ist, so muß sie auch von dem strafrechtlichen Rückfallsbegriff unabhängig sein, um ihre Aufgaben ungehindert erfüllen zu können. B. Statistisches 1. Allgemeine

Bemerkungen

Kriminologen sind sich heute im allgemeinen der Bedeutung und Unentbehrlichkeit wie auch 4*

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der Beschränkungen und Gefahren statistischen Materials und statistischer Beweisführungen so klar bewußt, daß es ihnen nicht mehr allzu schwer fällt, den letzteren gegenüber eine wissenschaftlich einwandfreie Haltung einzunehmen. Das gilt auch für die Rückfallstatistik. In der ersten Auflage hatte Roesner eine sehr ausführliche und wissenschaftlich vorbildliche Darstellung der Entwicklung und hauptsächlichsten Schwierigkeiten einer solchen nationalen und internationalen Statistik gegeben, die auch heute noch wertvoll ist. Der jetzige, von einem Nicht-Statistiker verfaßte Beitrag kann nur auf der von ihm gelegten Grundlage weiterbauen und die Entwicklung der letzten 30 Jahre skizzieren. Obgleich die Probleme im wesentlichen die gleichen geblieben sind, ist das allgemeine statistische Bild doch durch die inzwischen veröffentlichten Forschungen von Grassberger, Frey, Sellin, Sellin-Wolfgang, den Gluecks und anderer ganz erheblich bereichert und verfeinert worden, und diese Bereicherung ist auch der Rückfallstatistik zu gute gekommen. Nur einige der wichtigsten Erwägungen Roesners seien hier einleitungsweise kurz zusammengefaßt. Sie beruhen, wie er hervorhebt, zu einem erheblichen Teile ihrerseits wiederum auf der 40 Jahre vorher veröffentlichten grundlegenden Arbeit 0 . Köbners „Die Methode einer wissenschaftlichen Rückfallstatistik als Grundlage einer Reform der Kriminalstatistik" (1893). Nach Roesner liefern die meisten einzelstaatlichen Kriminalstatistiken Informationen über „die Zahl der Vorbestraften . . . , die Häufigkeit des Vorkommens der Vorbestrafungen. . . , die Art der Vorbestrafungen . . „über gleichartigen oder ungleichartigen Rückfall sowie über die Zeitspanne zwischen der jedesmal letztvorhergegangenen Strafe und der neuen Straftat" (Bd. 2 S. 1001). Hinsichtlich der Einzelheiten konnte Roesner damals auf die Statistik des Deutschen Reichs Bd. 370, S. 69ff. verweisen. Seither hat sich auf internationalem Gebiete natürlich sehr vieles geändert. Von den in seiner Liste S. 1024 genannten Ländern bestehen einige nicht mehr als selbständige Staaten. Andererseits sind neue Staaten entstanden, die bereits Rückfallstatistiken besitzen, und schließlich fehlen in der Liste auch einige Staaten, die damals bereits derartige Angaben veröffentlicht hatten. Hierüber wird weiter unten noch einiges mitzuteilen sein. Mit Recht beanstandete Roesner, daß die meisten dieser Statistiken nur absolute, nicht relative, d. h. auf die „rückfallsfähige" Bevölkerung bezogene Zahlen verwerteten. „Rückfallsfähig" sind nur diejenigen, die bereits vorbestraft und noch in der Lage waren, eine neue Straftat zu begehen. Eine solche Statistik könne nach den Darlegungen Koebners nur mit Hilfe der Strafregister aufgebaut werden, die alle auf den einzelnen Täter bezüglichen Nachrichten sammeln.

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Rückfall und Prognose

Auf die eingehenden Bemühungen Roesners, eine mathematisch richtige Rückfallsformel zu finden (S. 1002—4), kann hier nicht eingegangen werden; es ist aber noch heute von Interesse, daß nach seiner Feststellung das Deutsche Reich das einzige Land war, das vor dem 1. Weltkriege eine in diesem Sinne wissenschaftlich einwandfreie, auf dem Strafregister aufgebaute Rückfallstatistik besaß. Diese Arbeit mußte bei Beginn des Krieges eingestellt werden und konnte seitdem nicht wieder aufgenommen werden. Wenn man berücksichtigt, daß ζ. B. im Jahre 1962 in der Bundesrepublik Deutschland von insgesamt 597198 nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Personen 232420 vorbestraft waren, so kann daraus das ungeheure Ausmaß der für eine ideale Rückfallstatistik im Sinne Roesners und Koebners erforderlichen Arbeiten entnommen Averden, und die Frage wäre nicht zu umgehen, ob die gewonnenen Ergebnisse einen solchen Aufwand wirklich rechtfertigen würden. Die von Roesner erwähnte, von einer Kommission der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung" im Jahre 1894 ausgearbeitete Denkschrift hatte daher bereits eine „Kombination periodischer Bestandsaufnahmen und fortlaufender Bewegungsaufnahmen" empfohlen (Roesner S. 1004). Außerdem sind statistische Reihenuntersuchungen im Sinne Exners (S. l l f f . ) und Freys (S. 3 und 95ff.) — die englischen „sample enquiries" — geboten. Man muß sich hier aber von der für den Nichtstatistiker so überaus naheliegenden Auffassung freimachen, daß solche Untersuchungen — wenn sie schon nicht das gesamte überhaupt vorhandene Material verwerten können — doch wenigstens den größten praktisch erreichbaren Teil der Fälle erfassen müßten. Der englische Statistiker Wilkins hat erst kürzlich wieder betont, es sei für den auf diesem Gebiete Nicht-Sachverständigen sehr schwer zu begreifen, daß „a very small proportion of the population can yield figures which are more reliable than a total count" (Social Deviance, S. 155). Wichtigere kriminologische „sample enquiries" sollten aber jedenfalls niemals ohne sachverständige statistische Beratung unternommen werden, besonders da sich allgemeingültige Regeln für die Größe des im Einzelfalle benötigten Materials nicht aufstellen lassen. Grassberger, der sich bei Beginn seiner bekannten Untersuchungen einem Gesamtbestande von 1600000 männlichen und 400000 weiblichen Straflisten gegenüberfand, schied sogleich die letzteren aus und eliminierte dann noch eine Anzahl weniger wichtiger Deliktarten. Schließlich wählte er von den 2863 auf die 1600000 männlichen Verurteilten bezüglichen Kästchen des Strafregisteramtes 128 Kästchen aus, die eine Gesamtzahl von 80000 Straffällen enthielten und als die richtige Mitte haltend angesehen werden konnten (S. 9—12). Neben solchen rein statistischen Rückfallsberechnungen wird

man aber in jedem Falle als notwendige Ergänzung eine Anzahl eingehender Untersuchungen von Einzelfällen, etwa nach dem Muster der Glueckschen „follow-up studies" und der besonders von Reckless empfohlenen beschreibenden Darstellungen von typischen Verbrecherlaufbahnen, verlangen müssen, auf die unten (C) näher einzugehen ist. Wenn wir uns nunmehr fragen, welche Teile des Rückfallproblems insbesondere einer statistischen Behandlung bedürfen und auch zugänglich sind, so wird die Antwort wohl folgendermaßen zu lauten haben: 1. Das zahlenmäßige Verhältnis der Rückfälligen zu den Ersttätern bedarf der Aufklärung sowohl in seiner zeitlichen und örtlichen Entwicklung wie auch für die wesentlichen Deliktsgruppen gesondert. Es ist für unsere gesamte Kriminalpolitik wesentlich, zunächst in großen Zügen festzustellen, inwieweit die fortwährend steigende Kriminalität auf die immer intensiver werdende Tätigkeit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von rückfälligen Verbrechern oder auf die einer mehr und mehr anwachsenden „kriminellen Reservearmee von Ersttätern" (um diesen Ausdruck Grassbergers zu brauchen) zurückzuführen ist. Dieses Problem zerfällt in mehrere Teilfragen: a) Nimmt der Anteil der Vorbestraften zu oder ab, und ist eine solche Bewegung besonders zu gewissen Krisen-Zeiten zu beobachten? Ist es ζ. B. zutreffend, daß der Anteil der Ersttäter in Kriegszeiten steigt, und worin ist die Erklärung (die natürlich nicht mehr rein statistisch sein kann) zu suchen ? b) Welche Eigenschaften sind bei Rückfälligen häufiger als bei Ersttätern ? Welche Rolle spielen hier insbesondere das Alter, Geschlecht, die Intelligenz und gewisse soziale und demographische Faktoren ? c) Ist bei gewissen Deliktsarten die Rückfälligkeit häufiger als bei anderen ? d) Welche Wirkung auf die statistische Erfaßbarkeit des Rückfalls haben gesetzliche Straflöschungsmaßnahmen und die Gerichtspraxis bei der gleichzeitigen Aburteilung mehrerer zu verschiedenen Zeiten begangener Straftaten ? 2. Derartige im wesentlichen kriminologische Fragen sind weiterhin durch eine Anzahl pönologischer zu ergänzen: Welche Wirkung haben die verschiedenen Strafund Behandlungsarten auf den Rückfall ? Im einzelnen: Wie entwickelt sich die Laufbahn des Rückfalltäters im allgemeinen nach den ersten und den weiteren Bestrafungen? Welche Rückfallsintervalle sind festzustellen, und mit welchen Faktoren (ζ. B. Alter, Strafart) sind sie besonders eng verbunden? Ist eine Abkehr von gewissen Delikten und eine Zuwendung

Rückfall und Prognose zu anders gearteten festzustellen? Wächst die Rückfallshäufigkeit, und verringern sich die straffreien Intervalle mit der Zahl und Art der Vorstrafen ? International gesehen sind die amtlichen Veröffentlichungen der einzelnen Staaten von sehr verschiedenem Wert für die Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen, und in den meisten Fällen bedürfen sie in sehr erheblichem Maße der Ergänzung durch die nichtamtliche oder halbamtliche Forschung. Sowohl die amtlichen wie auch die durch die Wissenschaft erarbeiteten Zahlen sind aber unvermeidlicherweise unvollkommen, da die Dunkelziffer auch bei der Rückfallstatistik eine sehr bedeutsame Rolle spielt. Man kann zwar mit einem gewissen Recht darauf hinweisen, daß bereits Vorbestrafte von der Polizei scharf beobachtet werden und daß insbesondere schwere Berufsverbrecher unter ständiger Kontrolle sind. Einer der Haupttäter in dem englischen „Train Robbery Trial" von 1963, der von vielen als der „master mind" hinter dem Verbrechensplan angesehen wurde und mehrfach vorbestraft war, erwähnte im Laufe der Hauptverhandlung, teils anerkennend und prahlend und teils voller Bitterkeit, daß die Polizei jedesmal hinter ihm her gewesen sei, wenn ein wirklich großes und lohnendes Verbrechen untersucht wurde. Andererseits aber sind Berufsverbrecher meistens viel gewitzter als Amateure, und es gelingt ihnen, gewöhnlich lange Zeit unentdeckt zu bleiben; auch wenn die Polizei von ihrer Täterschaft überzeugt ist, fehlen doch sehr oft die nötigen Beweise. Eine Untersuchung, die kürzlich für das Londoner „Institute for the Study and Treatment of Delinquency" und eine Gesellschaft für Entlassenenfürsorge, die „Royal London Prisoners' Aid Society", in einigen englischen Gefängnissen durchgeführt wurde, ergab, daß 5 % von den offiziell als „first offenders" geführten Gefangenen in Wirklichkeit Berufsverbrecher waren, von denen es manche verstanden hatten, 10 Jahre hindurch eine Verhaftung zu vermeiden (die London Times vom 15. 4. 64). Das ist keine sehr hohe Prozentzahl, aber sie gibt doch zu denken. Die Schätzungen Wehners in seiner bekannten Schrift „Die Latenz der Straftaten" (1957) sind viel pessimistischer, und das gleiche gilt für die Ausführungen Roesners in der 1. Auflage (Bd. I I S. 32). Auf Einzelheiten braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden, besonders da wir nicht an dem Problem der Dunkelziffer im allgemeinen, sondern nur an der Frage interessiert sind, ob die Dunkelziffer für bereits Vorbestrafte besonders hoch oder niedrig ist. Wie schon angedeutet, lassen sich für beide Möglichkeiten gute Gründe geltend machen. Von Interesse sind aber in diesem Zusammenhang gewisse Tabellen der englischen Kriminalstatistik, die sich auf die sogenannten „offences taken into conside-

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ration" (auch „taken into account" genannt) beziehen. Das theoretisch auf diesem Gebiete nur sehr unvollkommen ausgebildete englische Strafrecht (siehe auch Stoecker in Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 2, 1954, S. 452) behandelt in dieser recht primitiven Weise gewisse Fälle der Realkonkurrenz und fortgesetzten Handlung, d. h. der Angeklagte darf in der Hauptverhandlung das Gericht bitten, bei der Strafzumessung auch bestimmte andere von ihm begangene Straftaten zu berücksichtigen, die bisher nicht abgeurteilt worden waren, und zwar gewöhnlich deshalb nicht, weil sie der Polizei unbekannt geblieben waren. Es handelt sich hier also um Fälle des kriminologischen, nicht aber gesetzlichen Rückfalles (oben A 3). Die Möglichkeit einer solchen Berücksichtigung wurde im Jahre 1908 von dem „Court of Criminal Appeal" bestätigt und ist auf Straftaten beschränkt, die gewisse ähnliche Züge aufweisen; das Gericht darf also bei einer Verurteilung wegen Raubes nicht auch eine von dem Täter eingegangene Doppelehe in Betracht ziehen, was dem Erfordernis eines „inneren Zusammenhangs" zu entsprechen scheint. Es wird sich bei solchen Straftaten wohl im wesentlichen um kurz vor dem zur Anklage stehenden Delikt begangene Delikte handeln, da der Täter im allgemeinen damit rechnen wird, daß nur bei ihnen noch eine Entdeckung zu befürchten sei. In der Praxis kommen aber auch Fälle vor, in denen mehrere Jahre zurückliegende Straftaten noch mit abgegolten worden sind (siehe Mannheim, Social Aspects of Crime, S. 46). Die statistische Bedeutung dieser Erscheinung ergibt sich aus einigen Tabellen der „Supplementary Statistics relating to Crime and criminal Proceedings", die nicht mit der englischen Kriminalstatistik veröffentlicht, aber einer Anzahl von Bibliotheken und interessierten Personen übersandt werden. Seit 1951 enthalten sie auch Angaben über die Anzahl der Delikte „taken into consideration" (Tabelle 6). Für das J a h r 1963 ergibt sich folgendes: Von einer Gesamtzahl von 22267 Personen, die von den höheren Gerichten (Assizes und Quarter Sessions) abgeurteilt worden waren, hatten 16517 keine „offences taken into consideration", 1240 hatten eine solche weitere Straftat, 3059 hatten 4 und mehr solcher Straftaten, 594 sogar mehr als 20. Insgesamt hatten 5750, also ungefähr ein Viertel, derartige weitere Straftaten begangen, die bis zur Hauptverhandlung unbekannt geblieben waren. In wievielen Fällen die Täter es vorzogen, weitere Straftaten zu verschweigen, wissen wir nicht. Bei den 118977 von den Magistratsgerichten im gleichen Jahre Abgeurteilten im Alter von 21 J a h ren und darüber gaben 12702 andere Straftaten an, davon 4242 sogar 4 und mehr. Hier war also der Anteil der um Berücksichtigung weiterer Straftaten bittenden Täter erheblich geringer als bei den höheren Gerichton, weniger als 1 0 % . Bei den

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Rückfall und Prognose

unter 14jährigen dagegen waren es wiederum etwa ein Viertel. Es fragt sich, ob diese jüngsten Altersgruppen mehr rückfällig waren als die Erwachsenen oder ob sie — was wohl wahrscheinlicher ist — mehr geneigt waren, mit ihren unentdeckt gebliebenen Unternehmungen zu prahlen. Wir wenden uns nun den amtlichen, d. h. nicht nur auf den Angaben der Täter selbst, sondern auf amtlichen Unterlagen beruhenden Rückfallstatistiken einiger ausgewählter Länder zu. Es wird sich hierbei zeigen, daß — wie auch auf allen anderen Gebieten der Kriminalstatistik — die fortlaufenden amtlichen Jahresveröffentlichungen sich auf einige grundlegende Daten beschränken müssen. Für die weiteren Einzelheiten, die oft für die Forschung und Rechtsprechung ebenso unentbehrlich sind, ist eine Ergänzung durch halbamtliche oder private, in selteneren Fällen aber auch amtliche Untersuchungen an kleineren und daher handlicheren Ausschnitten des Gesamtbildes erforderlich, und im folgenden wird daher wiederholt auf Untersuchungen dieser Art hingewiesen. 2. Rückfallstatistiken

einiger

ausgewählter

Staaten

a) B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d . Wir haben bereits die Zahlen für 1962 genannt: Von insgesamt 597198 wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilten waren 232420 vorbestraft, also nahezu 40%. Im Jahre 1960 waren die entsprechenden Zahlen 548954 und 214667, also ebenfalls ungefähr 40% Vorbestrafte (Tabelle A 1 Spalten 5 und 6). Hiervon waren im Jahre 1962 Erwachsene, d. h. 21 und mehr: insgesamt 468443 Verurteilte, von denen 200738, d. h. etwa 42,8%, vorbestraft waren; und zwar 68277 einmal, 54540 mehr als 4mal; 6447 hatten Jugendstrafen, 5337 Zuchthausstrafen gehabt (Tabelle Β 1). Bei den nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilten Heranwachsenden (18 bis unter 21) waren die entsprechenden Zahlen 57500 Verurteilte, von denen 13302 frühere Verurteilungen hatten (Tabelle C 1). Bei den nach Jugendstrafrecht abgeurteilten Heranwachsenden waren von 28355 Verurteilten 9977 vorbestraft (Tabelle C 4). Bei den letzteren war also der Anteil der Vorbestraften erheblich höher als bei den nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilten Heranwachsenden. Schließlich waren von 42900 verurteilten Jugendlichen (14 bis unter 18 Jahren) 8403 vorbestraft (Tabelle D 2). Es würde zu weit gehen, die Zahlen für mehr als einige Delikte gesondert hier zu erwähnen; wir beschränken uns daher auf die Zahlen für Mord: 145, davon 78 vorbestraft; einfacher Diebstahl: 58668 (20524); Raub: 1692 (1003). Wenn wir, mit allen Vorbehalten, die oben für die Jahre 1960 und 1962 errechnete Zahl von etwa 40% Vorbestrafter mit den entsprechenden Angaben Roesners (S. 1010—1) für die etwa 30 Jahre zurückliegende Zeit vergleichen, so finden wir eine auffallende Übereinstimmung: für 1930:

38,2; 1931: 41,1; 1932: 42,9; 1933: 43,8. In Friedenszeiten hat sich hier jedenfalls nicht vieles geändert. Dagegen sank nach Roesner das Verhältnis der Rückfälligen im 1. Weltkriege und unmittelbar darauf sehr erheblich: 1914: 46,0; 1915: 39,6; 1916: 34,1; 1917: 28,7; 1918: 25,2; 1919: 23,5; 1920: 20,5; 1921: 18,6. Dann erreichten die Verhältniszahlen allmählich wieder ihren Vorkriegsstand. Der Anteil des weiblichen Geschlechts an den bereits Verurteilten ist in den letzten 30 Jahren erheblich gefallen. In den Jahren 1932 und 1933 waren die weiblichen Rückfallzahlen 6,8 und 6,7 gegenüber den gesamten Rückfallszahlen von 42,9 und 43,8, also ungefähr 1 / 7 der Gesamtzahlen. Für das Jahr 1962 war der weibliche Anteil an der Gesamtkriminalität 1:7,7, während der Anteil an der Rückfallkriminalität 1:14,9, also nur etwa die Hälfte des früheren Anteils darstellte. Von privaten deutschen Untersuchungen sei hier insbesondere die sehr sorgfältige Arbeit von Anne-Eva Brauneck hervorgehoben. Von 300 i. J . 1949 vom Jugendgericht Hamburg für Vermögensdelikte abgeurteilten Jugendlichen (256 Jungen und 44 Mädchen) waren bis zum 31. 3. 55 insgesamt 56% (58% der Jungen und 45% der Mädchen) auf dem Gebiete der Vermögensdelikte rückfällig geworden; für Nicht-Vermögensdelikte weitere 30% und 14% (S. 18ff.). Weitere Ergebnisse dieser Arbeit werden unten (Sonderfragen) erwähnt werden. b) E n g l a n d u n d W a l e s . Vor dem 1. Weltkriege gaben die jährlichen Bände der Kriminalstatistik „England und Wales" Auskunft über die Vorstrafen der von den „Assizes und Quarter Sessions" Verurteilten für die einzelnen Deliktarten gesondert; für die Magistratsgerichte wurden diese Auskünfte nicht gegeben, aber die Gefangenenstatistik enthielt Material über Vorbestrafungen, allerdings nicht nach Delikten getrennt. Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges wurden diese Tabellen aufgegeben; 1918 wurden sie wieder eingeführt, um dann 1922 endgültig abgeschafft zu werden. Die Gefangenenstatistik wurde allerdings in die Jahresberichte der Gefängnisverwaltung übernommen (siehe mein Buch „Social Aspects of Crime in England between the Wars" S. 99). Die allgemeine Rückfallstatistik erschien erst wieder einige Zeit nach dem Ende des 2. Weltkrieges in den nicht allgemein zugänglichen „Supplementary Statistics", gegliedert nach 5 Deliktskategorien, nach Gleichartigkeit oder Ungleichartijkeit der Deliktskategorien, nach der Anzahl der Vorstrafen, nach Alter und Geschlecht (Tabellen 5 A—D). So waren ζ. B. im Jahre 1963 von 105504 männlichen Personen von 21 Jahren und mehr, die in allen 5 Deliktskategorien der „Standard List of Offenders" für schuldig befunden wurden, 40696 in der gleichen Deliktskategorie vorbestraft, also 38%. Wegen gleichartigen und

Rückfall und Prognose ungleichartigen Rückfalls zusammen waren 5 0 % vorbestraft. Es ergab sich also ein Überwiegen der ersteren Rückfallsart, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß einige der 5 Deliktskategorien eine sehr große Anzahl verschiedenartiger Delikte umfassen. „Class I " umfaßt ζ. B. alle Straftaten gegen die Person mit Einschluß der Sittlichkeitsdelikte, „Class I I I " alle nicht gewaltsamen Eigentums- und Vermögensdelikte, d. h. Betrügereien ebenso wie Diebstahl, Unterschlagung und Hehlerei. Die allgemeine Rückfallsziffer von nahezu 5 0 % ist erheblich höher als die entsprechende deutsche Zahl von 4 2 , 8 % für 1962; es ist aber zu berücksichtigen, daß sie sich nur auf männliche Erwachsene bezieht. Für weibliche Erwachsene waren die Zahlen wie folgt: von 17743 Personen, die für schuldig befunden wurden, waren 3517, d. h. etwa 2 0 % , wegen gleichartigen Rückfalls vorbestraft und 4302 wegen gleich- und ungleichartigen Rückfalls, d. h. etwa 2 4 % . Die Zahl für beide Geschlechter zusammen wegen beider Rückfallsarten ist daher nur etwa 4 6 % , d. h. immer noch etwas höher als die entsprechende deutsche Zahl. Abgesehen von diesen nunmehr regelmäßig in den „Supplementary Statistics" enthaltenen, sich auf die gesamte straffällige Bevölkerung beziehenden und nach Alter, Geschlecht und Deliktsgruppen geordneten Angaben sind in England im Laufe der letzten 35 Jahre noch mehrere Spezialuntersuchungen amtlich vorgenommen worden. Sie verfolgten insbesondere den Zweck, den Einfluß der verschiedenen Arten von Strafen und anderen gerichtlichen Behandlungsmethoden, wie „Probation", auf die Rückfallsraten zu studieren. Hier sind zunächst 2 vom „Home Office" veranstaltete Untersuchungen zu nennen, die in den „Criminal Statistics England and Wales" von 1932 und 1938 veröffentlicht wurden. Die erstgenannte betraf 15417 männliche und 2540 weibliche im Jahre 1927 über 16 Jahre alte, vorher unbestrafte Personen, die damals einer Straftat schuldig befunden worden waren, die die Polizei zur Entnahme eines Fingerabdrucks berechtigte, also nicht ganz unerheblich war. Die Verfolgung der weiteren Schicksale dieser Gruppe von Erstverurteilten bis zum Jahre 1932 ergab, daß 21,5% der Männer und 2 0 % der Frauen innerhalb dieser 5 Jahre wieder verurteilt worden waren, daß aber zwischen den einzelnen Altersgruppen wesentliche Unterschiede bestanden: Während ζ. B. von den weniger als 21 Jahre alten männlichen Personen 3 0 , 3 % und von den weiblichen dieser Altersklasse 2 3 % wieder verurteilt worden waren, ergaben sich für die über 40jährigen nur 12 bzw. 12,6%. Außerdem zeigte es sich, daß von den Männern, die zu Gefängnis verurteilt waren, nur 1 9 , 1 % wieder rückfällig geworden waren und von den zu Geldstrafen verurteilten 2 0 % , dagegen von denen, die „bound over or dismissed" waren, 25,2%. Die

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zweite Untersuchung betraf 17918 männliche und 2749 weibliche Personen der gleichen Altersklasse, die im Jahre 1932 zuerst einer „fingerprintable offence" für schuldig befunden und dann über 5 Jahre bis 1937 weiter beobachtet worden waren. Die Ergebnisse waren denen der ersten Untersuchung sehr ähnlich, und in beiden Fällen erregte das verhältnismäßig ungünstige Ergebnis für die Gruppe der „bound over or dismissed" Fälle Aufsehen. Da die unter Aufsicht eines „Probation Officers" (Bewährungshelfers) gestellten Fälle unter diese Kategorie fielen, lag es für oberflächliche Beurteiler nahe, aus den Zahlen den Schluß zu ziehen, daß Gefängnis- und Geldstrafen erfolgreicher gewesen waren als „Probation". Tatsächlich lieferten diese Zahlen hierfür keinen Beweis, da man die Fälle, in denen „Probation" angewendet worden war, unterschiedslos mit solchen zusammengeworfen hatte, in denen nur ein Strafaufschub mit Bewährungsfrist ohne Mitwirkung eines „Probation Officers" angeordnet worden war oder in denen wegen der anscheinenden Geringfügigkeit des Falles überhaupt keine Maßnahmen getroffen worden waren; die ungünstigen Gesamtergebnisse waren also möglicherweise nur den letzteren Fällen zuzuschreiben. Außerdem hatte man bei den zu Gefängnis verurteilten Ersttätern die Länge ihrer Strafen nicht ermittelt; das scheinbar günstige Ergebnis der Gefängnisstrafen konnte daher möglicherweise darauf zurückzuführen sein, daß viele dieser Täter einen erheblichen Teil oder sogar die ganze 5jährige Beobachtungszeit im Gefängnis verbracht hatten. Der Wert dieser beiden Vorkriegs-Untersuchungen besteht daher hauptsächlich darin, daß sie als Warnung dienen, derartig elementare methodologische Fehler zu vermeiden und Studien dieser Art nicht ohne sachverständige, pönologische und statistische Beratung zu unternehmen. In einer vor einigen Jahren von der „Home Office Research Unit" vorgenommenen Untersuchung, deren vorläufige Ergebnisse im Jahre 1964 veröffentlicht wurden (The Sentence of the Court, S. 40 ff.), ist diese Lehre beachtet worden. Die hier studierte Gruppe unterscheidet sich von den früheren dadurch, daß sie sich nur auf die im „Metropolitan Police District" (d. h. also Groß-London) im März und April 1957 verurteilten Personen bezieht, andererseits aber auch Vorbestrafte und unter 16jährige umfaßt. Das ermöglichte eine Unterscheidung der weiteren Bestrafungen zwischen bereits Vorbestraften und Ersttätern über einen Zeitraum von 5 Jahren. Außerdem wurde Probation nunmehr von anderen Maßnahmen unterschieden. Aber auch in dieser Studie wurde weder die Länge der Gefängnisstrafen noch auch die Tatsache berücksichtigt, daß die Ergebnisse der einzelnen Arten von Strafen und anderen Maßnahmen wesentlich der von den Gerichten vorgenommenen Auswahl zuzuschreiben sind. Mit

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R ü c k f a l l u n d Prognose

anderen Worten, wenn ζ. Β. von den 21 bis unter 30jährigen Ersttätern für diejenigen, die „Probat i o n " erhalten hatten, innerhalb der 5 J a h r e die Rückfallsrate 31%, dagegen für die mit Gefängnis bestraften 43% betrug, so besagt das noch nichts für die Überlegenheit von „Probation", da diese Gruppe wahrscheinlich auch ohne Rücksicht auf die Behandlungsart bessere Erfolgsaussichten besaß. Um wirklich sinnvolle Vergleiche anstellen zu können, muß man sich schon technisch feinerer Methoden bedienen. Leslie Τ. Wilkins, damals ein Mitglied der „Home Office Research Unit", veröffentlichte im J a h r e 1958 eine kleinere, aber methodologisch einwandfreiere Studie, in der er 2 Gruppen von je 50 Männern verglich, die im Jahre 1952 von verschiedenen höheren Gerichten verurteilt worden waren und deren nachfolgendes Verhalten bis Juni 1957 mit Hilfe des verfügbaren amtlichen Materials verfolgt wurde (BritJournDel. Bd. 8 S. 201—209). Die eine dieser Gruppen war von einem Gericht abgeurteilt worden, das „Probation" in etwa 50% seiner (männlichen) Fälle anwendete, während die Durchschnittszahl für alle höheren Gerichte in England und Wales nur etwa 15—20% für männliche Täter betrug. Die Kontrollgruppe k a m demgemäß von einem Gericht, das „Probation" in 18% anwendete. Die beiden Gruppen waren so ausgewählt (bevor ihre nachfolgende L a u f b a h n ermittelt worden war), daß sie in einer Anzahl wesentlicher Faktoren gleich waren, nämlich hinsichtlich des Alters, der Deliktsart und der Anzahl der gleichzeitig abgeurteilten Straftaten, der Anzahl der Straftaten „taken into consideration" und der Zahl der früher abgeurteilten, nicht ganz unerheblichen Straftaten. Der einzige Unterschied zwischen den Gruppen bestand darin, daß in der einen Gruppe alle, in der anderen nur ein Teil „Probation", die übrigen aber Gefängnis, Borstal, Geldstrafen etc. erhalten hatten. Das Ergebnis zeigte, daß von der ersten Gruppe 20, von der zweiten 22 wieder rückfällig geworden waren (vgl. die Einzelheiten in der Tabelle S. 208—9). Wilkins weist darauf hin, daß die zu Freiheitsstrafen verurteilten Mitglieder der zweiten Gruppe mindestens zeitweise außer Gefecht gesetzt worden waren u n d daß dieser Umstand ihre Rückfallzahl noch ungünstiger erscheinen lasse. Man kann gegenüber dieser Untersuchung freilich einwenden, daß trotz der Gleichartigkeit der beiden Gruppen in den genannten Faktoren immerhin noch manche andere von Wilkins nicht berücksichtigte Umstände von Gewicht sein konnten, die die Rückfallsaussichten der zweiten Gruppe verstärkten, wie ζ. B. ungünstige Familienverhältnisse. Es ist aber doch zu erwägen, daß zwei der von Wilkins konstant gehaltenen Faktoren, nämlich Alter und Zahl der Vor Verurteilungen, allgemein als die wichtigsten Kriterien bei der Beurteilung der Rückfallsaussichten angesehen werden. Wilkins selbst zieht

aus seinen statistischen Vergleichen mit aller Vorsicht den Schluß, daß eine Anwendung von „Prob a t i o n " auf eine Anzahl der zu Gefängnis oder Borstal Verurteilten ihre Rückfallsaussichten nicht vermehrt hätte. E r erkennt aber an, daß seine Untersuchung in dieser Hinsicht keine Beweise f ü r diejenigen Täter geliefert habe, die so schwere Straftaten begangen hatten, daß sie wahrscheinlich von jedem Gericht zu Gefängnis oder sogar zu „Preventive Detention" verurteilt worden wären. Für die mittlere Gruppe aber scheinen seine Ergebnisse — obwohl sie sich auf recht kleine Zahlen stützen — darauf zu deuten, daß Probation mindestens ebenso rückfallverhütend wirken kann wie eine Freiheitsstrafe. Weitere statistische Angaben über die Rückfallshäufigkeit verschiedener Gruppen von Gefangenen sind in den Jahresberichten der englischen „Prison Commission" (jetzt das „Prison Department" im „Home Office") und des „Council of the Central After-Care Association" enthalten. Auch sie zeigen, daß die Rückfallsraten wesentlich verschieden sind je nach dem Alter der Täter, ihrer Vorbestraftheit und der Art der Verurteilung. Von „Star prisoners", die im Jahre 1957 entlassen worden waren, hatten bis Ende 1963 79,5% noch keine weiteren Gefängnisstrafen erhalten (Frauen 86,1%), aber für die 21—29 jährigen mit bis zu 2 Jahren Gefängnis Bestraften waren es nur 73,5%, für die im Alter von 40 u n d darüber stehenden dagegen 88,4%. Bei den zu „Corrective Training" Verurteilten war die Zahl der nicht mehr Rückfälligen in der gleichen Periode nur 32,7% und bei den zu „Preventive Detention" Verurteilten 33,3%, f ü r Borstal Jungen sogar nur 29,1% (Prison and Borstal 1963, Statistical Tables, Reconvictions). Diese Zahlen beweisen natürlich in der Hauptsache wieder nur, daß die Gerichte bei der Auswahl der Strafart die Rückfallswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Tätergruppen im allgemeinen richtig berurteilt h a t t e n ; zum Teil aber zeigen sie wohl auch, daß die verschiedenen anstaltlichen Behandlungsarten an dem Endergebnis nicht viel zu ändern vermochten. c) F r a n k r e i c h . Pinatel (Criminologie, 1963, S. 121—30) zitiert eine Anzahl meistens älterer Zahlen, die hauptsächlich den bekannten Untersuchungen von Gabriel Tarde und Enrico Ferri entlehnt sind. E r betont den Einfluß der Kriege und der Nachkriegs-Amnestien, die die amtlichen Rückfallstatistiken stark beeinflußt hätten. Die von ihm zitierten Zahlen zeigen einen Rückgang der Rückfälligkeit während des letzten Krieges u n d in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 2 6 % im Jahre 1937 auf 13% im Jahre 1945—6 für Verbrechen u n d von 20% auf 12,1% für Vergehen. Pinatel f ü h r t das aber weniger auf eine wirkliche Abnahme der kriminellen Betätigung der Rückfälligen als auf die einer Strafverfolgung hinderlichen Kriegsverhältnisse zurück.

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Rückfall und Prognose Wichtiger als die amtlichen Zahlen ist wohl eine dem III. Internationalen KriminologenKongreß vorgelegte statistische Privatarbeit von Sanni0 und Vernet (RIDP 26. Bd., 1955), die auf dem Studium der Akten von 2 Tätergruppen beruht: Erstens 10000 Verurteilte, von denen 2180 (22%) rückfällig, d. h. mindestens zweimal verurteilt worden waren, und zweitens 2300 zu langen Strafen Verurteilte, von denen 1230 (52%) rückfällig waren. Die Fälle der ersten Gruppe erstreckten sich über die 70 Jahre von 1870—1939, aber in der Untersuchung werden die Ergebnisse vielfach nach Jahrzehnten getrennt wiedergegeben. Die 2. Gruppe besteht dagegen aus Verurteilten, die sich in den Jahren 1950—54 in der Klassifizierungsanstalt Fresnes befanden. Den Gegenstand der statistischen Untersuchung bildeten u. a. die Art und örtliche Verteilung der Straftaten, das Alter bei der Erstverurteilung, die Motive und Familienverhältnisse, die Gleich- oder Ungleichartigkeit des Rückfalls, die erlittenen Strafen, Beruf, Schulbildung, der Einfluß des Alkohols. Nur die folgenden Ergebnisse können hier erwähnt werden: 67% waren gleichartige und 33% ungleichartige Rückfälle; 76% hatten weniger als 5 Bestrafungen, 19% zwischen 5 und 10 und 5% mehr als 10. d) I t a l i e n . Die vom „Istituto Centrale di Statistica" herausgegebenen Bände des „Annuario di Statistiche Giudiziarie" enthalten in den Tabellen 141 und 161 eingehendes Material über Rückfalltäter nach Geschlecht, Alter, Zahl und Art der Vorstrafen, Familienstand und Schulbildung. Bereits Roesner hatte auf die Sorgfalt dieser Erhebungen hingewiesen (S. 1001). Für das Jahr 1958 (veröffentlicht 1960) finden wir in den Tabellen 141 und 161 unter den 76772 Verurteilten ζ. B. 52357 Ersttäter und 24415, d.h. etwa31,5%, Rückfällige. Von den letzteren hatten 10295 eine Vorstrafe, 3797 hatten 4—6, 1878 hatten 7—10, 810 hatten 11—15 und 449 sogar 16 und mehr Vorstrafen. Die Art der Tabulation ist jetzt etwas geändert worden, und die einschlägige Information findet sich nunmehr (zuletzt für 1961, veröffentlicht 1964) in den Tabellen 105ff., 150ff. und im Diagramm 23. e) B e l g i e n . In der amtlichen „Statistique Criminelle de la Belgique" 1961, Sect. VI, S. 103, sind die Rückfallzahlen nach der Gleich- oder Ungleichartigkeit des Rückfalls getrennt. Es war ζ. B. der Durchschnittsindex der Rückfälligkeit für die Periode von 1930—39 per 1000 der Verurteilten: Ree. speciale Männer 207 Frauen 151 insgesamt 194

Ree. generale 264 186 247

Total 471 337 441

Wenn diese Zahlen als 100 zur Grundlage für die Berechnung späterer Rückfallzahlen per 1000

genommen werden, so ergab sich für die Periode 1952—61 folgendes: Ree. speciale Männer 107 Frauen 94 insgesamt 106

Ree. generale 89 87 89

Total 97 90 97

Die Schwankungen nach oben oder unten waren also im Höchstmaße 13%, was ebenfalls die von van Bemmelen für Holland betonte Gleichmäßigkeit bestätigt (anders dagegen Österreich und Japan, siehe unten). f) H o l l a n d . Van Bemmelen (Criminologie, 3. Aufl. 1952, Kap. IV) weist auf den — abgesehen von den Kriegsjahren — im wesentlichen gleichbleibenden Umfang der Rückfälligkeit hin: „Die Schwankungen der Rückfallkriminalität sind geringer als die der Kriminalität als Ganzes" (S. 71). Er weist aber, wie es u. a. auch Sannie und Vernet getan haben, auf die nicht unwesentlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Deliktarten hin (S. 74). Die neueste amtliche Veröffentlichung, „Criminele Statistick" 1962 (veröffentlicht 1965), Kap. I B. S. 21ff., bestätigt den einigermaßen gleichbleibenden Anteil der Rückfälligen in Raten der gesamten Zahlen der Verurteilten: siehe etwa 1911: 44%; 1940: 39,8%; 1960: 45,6%. Im Jahre 1962 gab es 11118 Rückfällige gegenüber 13249 Ersttätern. g) Ö s t e r r e i c h . Im Abschnitt „Vorleben" der Kriminalstatistik (S. 78—91) sind eingehende Angaben über Rückfälligkeit enthalten. Sie beziehen sich allerdings, wie in der Veröffentlichung betont wird, nur auf die „allgemeinen" Kriminalitätsziffern, während die Bildung „spezieller" Ziffern mangels geeigneter Unterlagen über die diesbezügliche Struktur der Bevölkerung nicht möglich war. Diesen Mangel teilt die österreichische Kriminalstatistik jedoch mit den meisten anderen. Für das Jahr 1954 (veröffentlicht 1956) finden sich ζ. B. folgende Angaben: Auf 100000 Straf mündige entfielen Vorbestrafte Nicht Vorbestrafte bei Verbrechen 168 132 bei Vergehen 33 41 bei Übertretungen 703 784 zusammen 957 904 Im gleichen Jahre waren jeder zweite verurteilte Mann und jede dritte verurteilte Frau vorbestraft. In der Zeit von 1946 bis 1954 stieg der Anteil der Vorbestraften allmählich von 18% auf 56%. Die Rückfallzahlen werden nach Alter, Geschlecht und Familienstand gegliedert. Abgesehen von den regelmäßigen amtlichen Veröffentlichungen besitzt Österreich die ausgezeichnete Privatarbeit Grassbergers, die — obwohl sie sich ausschließlich auf österreichisches Vorkriegsmaterial stützt (sie war im März 1939 abgeschlossen, konnte aber erst 1946 veröffentlicht

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Rückfall und Prognose

werden) — wegen ihrer methodologischen Vorzüge auch jetzt noch internationale Bedeutung besitzt. Es war eines der Hauptziele dieser Arbeit — und aus diesem Grunde ist sie für die Rückfallstatistik besonders wertvoll — zu untersuchen, inwieweit das Anwachsen des Verbrechens in Österreich zwischen den beiden Weltkriegen auf die vermehrte Tätigkeit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Gewohnheitsverbrechern und inwieweit es auf die neu entstandenen kriminellen Neigungen der großen Masse bisher unbestrafter Bevölkerungskreise zurückzuführen sei. Wie bereits zu Beginn unseres statistischen Abschnitts angedeutet, beruhte Grassbergers Untersuchung auf den Straflisten von etwa 27300 Männern, die zwischen dem 1 . 1 . 1 9 und dem 3 1 . 1 2 . 37 insgesamt etwa 80000 Verurteilungen erlitten hatten. Gewisse Deliktsarten wurden hierbei ausgeschieden (S. 9—12). Die oben aufgeworfene Frage beantwortete Grassberger dahin, daß das Ansteigen der Kriminalität innerhalb der Untersuchungsperiode im wesentlichen, d. h. zu mehr als neun Zehnteln, auf „Änderungen im Mobilisierungsgrad der kriminellen Reservearmee" und nur zu weniger als einem Zehntel auf Änderungen in der Intensität der kriminellen Betätigung des einzelnen Verbrechers zurückzuführen sei (S. 58). Der Anstieg sei daher hauptsächlich dem erhöhten Druck der das Verbrechen begünstigenden Umweltreize auf bisher Unbescholtene zuzuschreiben (S. 50). (In Parenthese sei daran erinnert, daß Franz von Liszt 40 Jahre vorher zu dem entgegengesetzten Ergebnis hinsichtlich der deutschen Kriminalität um die Wende des 19. Jahrhunderts gelangt war, siehe Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 324—5, und daß auch Roesner und Hagemann in der ersten Auflage, Bd. 2 S. 904 und 1012, zur gegenteiligen Ansicht neigten). Allerdings bezogen diese Schlußfolgerungen sich mehr auf die Diebstahlskriminalität als auf vorsätzliche Angriffe gegen Leib und Leben (S. 51). Weiterhin glaubt Grassberger feststellen zu können, daß bei Personen, die nur unter dem Einfluß verstärkter Umweltreize straffällig werden, nach Wegfall dieser Reize keine erhöhte kriminelle Anfälligkeit zurückbleibe (S. 61). Das ist eine interessante Feststellung, bei der aber doch wohl zu berücksichtigen ist, daß die Verurteilung selbst oft gewisse neue Umweltreize schafft, die eine nicht vorher vorhandene Rückfallsquelle bedeuten können. Es ist daher begreiflich, daß Grassberger selbst leise Zweifel an der unbedingten Richtigkeit seiner Feststellung andeutet (S. 63). Auf einige weitere Ergebnisse dieser Untersuchung wird noch unten einzugehen sein (siehe unter Statistische Sonderfragen). h) D i e V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a . Die amtlichen Rückfallstatistiken sind hier fast ausschließlich auf die Gefängnisstatistiken beschränkt. Das „Federal Bureau of Prisons" in

Washington veröffentlicht Material für die von den einzelstaatlichen sowie für die von den bundesstaatlichen Gefängnissen entlassenen Gefangenen. In beiden Fällen ist die Information über Rückfall recht knapp. Nach dem sich auf die Einzelstaaten beziehenden Bericht „Characteristics of State Prisoners 1966" (S. 39) waren 4 9 % der wegen Verbrechen (felony) am 3 1 . 1 2 . 60 in einzelstaatlichen Gefängnissen befindlichen Gefangenen bereits vorher mindestens einmal in Gefangenenanstalten für Erwachsene gewesen. Der Bericht bemerkt hierzu, daß 4 Staaten wegen mangelnder Information nicht berücksichtigt worden seien und daß auch hinsichtlich der übrigen Zweifel an der Genauigkeit ihrer Angaben beständen, da sie möglicherweise nur solche vorherigen Gefängnisstrafen berücksichtigt hätten, die innerhalb desselben Staates verbüßt worden waren. Wie sehr dieser letztere Umstand die Zahlen beeinflußt haben mag, kann man sich angesichts der hohen Mobilität der Amerikaner im allgemeinen und insbesondere der antisozialen und asozialen Bevölkerungsschichten unschwer vorstellen. Ebensowenig brauchbar sind auch die Zahlen in dem jährlich erscheinenden NPS Bulletin (National Prisoners Statistics) des „United States Department of Justice, Bureau of Prisons", da die dort in Tabelle 9 mitgeteilten Zahlen der „Violators returned" nach der Anmerkung (c) nicht diejenigen mit umfassen, die mit neuen Verurteilungen wieder ins Gefängnis zurückkehren, und sich daher anscheinend auf solche Gefangene beschränken, die aus anderen Gründen als „Parole Violators" wieder in die Anstalt zurückgebracht werden. Um ein zuverlässigeres Bild von der Rückfälligkeit amerikanischer Gefängnisinsassen zu erhalten, müssen wir uns daher den Ergebnissen der privaten Forschung zuwenden, und hier sind wir in der Lage, das vor einigen Jahren erschienene umfassende Werk von Daniel Glaser (Urbana/Ulinois) verwerten zu können (Glaser, The Effectiveness of a Prison and Parole System, 19G4). Glasers mehrjährige Untersuchung der Ergebnisse des „Federal Correction Systems" wurde von der staatlichen Universität in Illinois in Verbindung mit der Ford-Foundation unternommen und von den beteiligten Behörden der Bundesregierung in jeder Weise gefördert. Er ging davon aus, daß die üblichen Gefängnisstatistiken, die lediglich die Anzahl der in den Anstalten befindlichen Vorbestraften mit denen der Ersttäter vergleichen, irreführend seien, da Vorbestrafte gewöhnlich längere Strafen erhalten, seltener auf „Parole" entlassen werden und daher trotz ihrer möglicherweise kleineren Gesamtzahl diese Statistiken ungebührlich schwellen. Um zutreffendere Ergebnisse zu erhalten, müsse man alle zu einer bestimmten Zeit Entlassenen weiter verfolgen („cohort follow-up study"), eine Methode, die natürlich durchaus nicht neu ist, sondern vor allem in den berühmten

Rückfall und Prognose Harvarder „Follow-up" Studien von Sheldon und Eleanor Glueck seit Jahrzehnten in weitem Umfange verwertet worden war. Glaser beanstandet an diesen und anderen, weniger bekannten Studien, daß sie nicht genügend nach der Schwere des Rückfalls unterschieden und daher ein zu ungünstiges Gesamtbild lieferten (S. 28) — eine Kritik, die auf die Glueck-Studien jedenfalls nicht zutrifft. Er behauptet, daß die oft zu findenden Rückfallziffern von etwa 7 5 — 8 0 % für die Vereinigten Staaten unzutreffend seien, und setzt an ihre Stelle eine Zahl von etwa einem Drittel rückfälliger Gefangener. Das Ziel seiner Untersuchung war aber nicht nur, die statistischen Rückfallraten verschiedener Kategorien von Gefangenen festzustellen, sondern darüber hinaus — ebenso wie es die Glueck-Studien getan haben — die für Erfolg und Mißerfolg verantwortlichen Faktoren und die hiernach den besten Erfolg versprechenden Gegenmaßnahmen zu ermitteln — Gesichtspunkte, auf die weiter unten in den nicht-statistischen Abschnitten zurückzukommen sein wird. Glasers Untersuchung stützt sich auf die Akten jedes zehnten im Jahre 1956 von einem bundesstaatlichen Gefängnis entlassenen erwachsenen männlichen Insassen, insgesamt etwa über 1000. Im Jahre 1960 befanden sich etwa 3 1 % von ihnen wieder im Gefängnis. Dieses Ergebnis beruhte auf den Mitteilungen des „Federal Bureau of Prisons" und „Board of Parole" hinsichtlich möglicher Wiederverurteilungen im Bereich der BundesAnstalten, darüber hinaus aber auch auf den Mitteilungen der einzelstaatlichen Gefängnisse, die sich im Falle einer erneuten Verurteilung aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem „Federal Bureau of Prisons" in Verbindung gesetzt haben würden (S. 19—20). Inwieweit diese Nachforschungen tatsächlich eine Erfassung aller erneuten Verurteilungen zu Gefängnisstrafen gewährleisten konnten, kann der Außenstehende nicht beurteilen ; gewisse Zweifel lassen sich aber wohl kaum unterdrücken, insbesondere mit Rücksicht auf die außerordentliche Vielgestaltigkeit des amerikanischen einzelstaatlichen Gefängniswesens. Zu den von Glaser festgestellten 3 1 % mit erneuten Gefängnisstrafen belegten Rückfälligen treten noch weitere 3 , 9 % nicht mit Gefängnis Bestrafte, so daß die gesamte Rückfallsrate seiner Gruppe etwa 3 5 % betrug. i) I s r a e l . Der i. J . 1948 gegründete Staat veröffentlichte im Jahre 1964 einen umfangreichen halbamtlichen Band „Criminal Statistics in Israel 1949—1962, Volume II. Analysis", herausgegeben von dem „Institute of Criminology, Hebrew University of Jerusalem" mit Unterstützung des „Central Bureau of Statistics" und größtenteils in englischer Sprache verfaßt. Kap. D dieses Bandes (S. L X X X V — C V ) behandelt den Rückfall. Der Rückfalltäter wird hier als eine Person definiert, die 1. in dem betreffenden Jahre in

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Israel einer Straftat schuldig befunden wird und 2. an dem Ende des Jahres mindestens zweier Straftaten in Israel schuldig befunden worden war. Hierbei werden alle Straftaten mitgezählt, einschließlich solcher, die der Täter als Jugendlicher begangen hatte. Diese Definition ist insofern im juristischen Sinne nicht glücklich, als sie die eigentlichen Rückfalltäter mit solchen vermengt, die noch nicht vorbestraft, sondern wegen mehrerer Straftaten gleichzeitig verurteilt worden waren (Realkonkurrenz). Wie oben ausgeführt wurde, ist zwar der kriminologische Rückfallsbegriff von vorherigen Verurteilungen unabhängig; die Rückfallstatistik sollte aber den juristischen und den kriminologischen Rückfall getrennt behandeln. Abschnitt 27 enthält die Rückfallzahlen für die Periode von 1951 bis 1960 für Erwachsene, getrennt für die jüdische und nicht-jüdische Bevölkerung. Sie weisen ein stetiges Anwachsen des Rückfalls von 2 0 , 4 % auf 4 5 , 2 % für Juden und von 3 8 , 6 % auf 6 5 , 4 % für Nicht-Juden auf. Die Raten für 1000 der in Frage kommenden Bevölkerung stiegen von 1,4 auf 3,5 und von 6,6 auf 13,9, während die Zahlen der Ersttäter fielen. Dieses auffällige Anwachsen der Rückfälligen wird einleuchtenderweise zum Teil wenigstens darauf zurückgeführt, daß in den ersten Jahren nach der Staatsgründung mit ihrer starken Einwanderung keine Information hinsichtlich der Vorstrafen der Einwandernden verfügbar war. Infolgedessen mußten viele möglicherweise bereits Vorbestrafte amtlich als Ersttäter geführt werden, und die Prozentzahl der Vorbestraften wurde hierdurch künstlich verringert. In den späteren Jahren nahm die Einwanderung ab, und die zur Verfügung stehende Information hinsichtlich bereits in Israel begangener Straftaten wurde vervollständigt, so daß der Prozentsatz der Rückfälligen zunahm. Es fragt sich, inwieweit diese Erklärung auch auf die nicht-jüdische und nicht-eingewanderte Bevölkerung zutrifft, die ebenfalls eine starke Zunahme der Rückfallziffern aufweist. Aber auch hier mag die für die ersten Jahre des neuen Staates vorhandene Information infolge der politischen Unruhen lückenhaft gewesen sein, und die Rückfallzahlen sind daher wohl im ganzen mit einer gewissen Zurückhaltung anzusehen. Auch in Israel war der Prozentsatz der männlichen Rückfälligen viel höher als der der weiblichen (Section 29), und die Altersgruppe der 25—29jährigen hatte den höchsten Prozentsatz (Abschnitt 30); jedoch hatten die jüngeren Altersgruppen höhere Sätze im Verhältnis zu der in Frage kommenden Bevölkerung. Die Erklärung wird auch hier darin gesucht, daß viele Personen erst im mittleren oder vorgerückten Lebensalter eingewandert seien und daß unter diesen Altersklassen daher die Zahl der Rückfälligen künstlich gedrückt war, während für die jüngeren Alters-

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Rückfall und Prognose

klassen die Wahrscheinlichkeit wiederholter amtlich bekannter Straftaten größer war. Nach der geographischen Herkunft waren die Rückfallzahlen am höchsten in der in Israel geborenen Bevölkerung, geringer bei den in Asien und Afrika Geborenen und am geringsten bei den in Europa und Amerika Geborenen. j) J a p a n . Der halbamtlichen Arbeit von Baba und Nakano entnehmen wir die folgenden Daten: Für die Periode 1882—1953 (mit Ausnahme der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre 1943—8) zeigt sich ein Anwachsen der Rückfallziffern von etwa 13% i. J. 1882 auf einen Höchststand von etwa 44% i. J . 1908, dann ein Absinken auf etwa 30% i. J . 1921 und wiederum ein Anstieg auf etwa 48% i. J. 1953. Die Verfasser betonen, daß es sich nicht mit Bestimmtheit entscheiden lasse, ob das Steigen der prozentualen Rückfallziffern in der letztgenannten Periode einer wirklichen Zunahme der Rückfälligkeit oder dem durch die verbesserte Wirtschaftslage bedingten Rückgang in der Zahl der Ersttäter ( von etwa 70000 i. J . 1949 auf etwa 45000 i. J . 1953) zuzuschreiben sei. Für die einzelnen Deliktsgruppen bewegten sich die Prozentzahlen (für die Periode 1949—53) zwischen 73% Rückfälliger für Glücksspiel, 49% für Diebstahl, 42% für Raub, 46% für Betrug und 26% für Tötungsdelikte. 3. Rückfall

und

Bewährungshilfe

Das von uns bisher benutzte statistische Material bezog sich — mit Ausnahme der verschiedenen englischen Vergleiche zwischen den Erfolgen von Gefängnisstrafen und „Probation" — auf die Rückfallziffern von Verurteilten im allgemeinen und von Gefangenen. Wir betrachten nunmehr die entsprechenden Daten speziell für „Probation" und die -»· Strafaussetzung zur Bewährung (SzB), und zwar ist die Frage der Vorbestrafungen vor Anordnung dieser Maßnahme und der Rückfälle nach Anordnung von Interesse. Für Deutschland liegt hier die aufschlußreiche Untersuchung von Sydow vor, aus der nur wenige Daten hier wiedergegeben werden können. Er zeigt zunächst, daß nach der durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 erfolgten Einführung der SzB (§§ 23—25 StGB) der Prozentsatz solcher Anordnungen bei Erwachsenen von 34% i. J . 1954 auf 43% i. J . 1959 gestiegen war. Da die ausgesetzten Strafen bis zu 9 Monaten Gefängnis 90% aller Gefängnisstrafen ausmachten, seien 40% aller Gefängnisstrafen zunächst ausgesetzt worden. Sydows Material bestand aus 188 Personen (145 Männern und 43 Frauen) im Alter von 21—29 Jahren, bei denen die zwischen dem 1.10. 53 und 30. 6. 55 vom Amts- und Landgericht Hannover verhängten Gefängnisstrafen zur Bewährung ausgesetzt worden waren. Verkehrsdelikte blieben hierbei außer Betracht. Der

Anteil der Vorbestraften war sehr hoch: 86 Männer (59,3%) und 14 Frauen (32,6%), insgesamt 53,2%. Allerdings waren viele dieser Vorstrafen, nämlich 126 von insgesamt 258, nur Geldstrafen (S. 27). Die Bewährungsfrist betrug in 77,1% der Fälle 3 Jahre. Die Zahl der Fälle, die einem Bewährungshelfer unterstellt wurden, war außerordentlich gering, weniger als 2%, während sie bei den Heranwachsenden etwa 20% betrug (S. 45). In 39,9% der Fälle wurde die Strafaussetzung widerrufen, wobei der Anteil der Männer fast doppelt so groß war wie der der Frauen. Sydow vergleicht die hohe Zahl der Widerrufe mit den günstigeren Erfolgszahlen der englischen „Probation" und weist mit Recht darauf hin, daß die englische Bewährungsfrist meistens kürzer sei und daß dort außerdem viel häufiger von der Unterstellung unter die Aufsicht eines „Probation Officers" Gebrauch gemacht werde, was die Erfolgsaussichten erheblich verbessere (S. 49). In 20,2% der Fälle war der Widerruf wegen Begehung einer neuen Straftat und in 17% wegen eines Verstoßes gegen Auflagen erfolgt, während in 62,8% die Strafe erlassen wurde. Diese 20,2% stellten aber nicht die Gesamtheit der Rückfälle dar, da ja ein Widerruf nach § 25 Nr. 2 StGB nur erfolgen muß, wenn ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen begangen wird, das zu einer Freiheitsstrafe führt. Bei nicht hierunter fallenden Straftaten erfolgt ein Widerruf nur selten (S. 54). Ein Vergleich der Häufigkeit der Widerrufe wegen Rückfälligkeit mit der Anzahl der Vorstrafen ergab keinen wesentlichen Unterschied zwischen den nicht und den einmal Vorbestraften (22,7 und 25,7%), dagegen waren die Widerrufe viel höher bei den 2 mal oder öfter Vorbestraften (63,1%). Sydow untersucht ferner die Zahl der erst nach Ablauf der Bewährungsfrist rückfällig gewordenen Probanden; sie betrug 14 Fälle, die in erheblichem Maße wieder strafbar wurden, was die Gesamtzahl der Mißerfolge auf 46,9% erhöhte (S. 60). Ein internationaler Überblick über die Resultate von „Probation" und verwandten Einrichtungen, wie insbesondere die bedingte Verurteilung (suspended sentence oder sursis), verfaßt von Max Grünhut, wurde i. J. 1954 von den Vereinten Nationen veröffentlicht. Er enthält Daten von den folgenden Ländern: Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Holland, den Vereinigten Staaten und einigen ihrer Einzelstaaten. Grünhut betont zusammenfassend, daß es verfehlt wäre, den Wert eines Probationsystems ausschließlich nach den Rückfallziffern zu beurteilen, da die Art der Auswahl und persönliche Faktoren für den Erfolg entscheidend seien. Im Durchschnitt seien aber Erfolgsraten von 70—80% zu verzeichnen. Ebenso wie Sydows Arbeit für Deutschland ergab dieser internationale Überblick bessere Ergebnisse für Frauen und ältere Personen als für Männer und jüngere Probanden.

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Rückfall u n d Prognose Der Einfluß des Alters auf den Erfolg der bedingten Verurteilung zeigt sich auch in den norwegischen Zahlen, die in dem sich sonst nicht mit Rückfallstatistik beschäftigenden Bericht der Vereinten Nationen „Probation and related Measures" (1951) enthalten sind (S. 150). Der internationalen Untersuchung Grünhuts folgte 4 Jahre später eine auf England und Wales beschränkte Veröffentlichung des „Cambridge Department of Criminal Science", die Sydow mehrfach vergleichsweise heranzieht. Eine amerikanische Untersuchung von 1000 Personen, die i. J . 1937 im Essex County des Staates New Jersey „ P r o b a t i o n " erhalten hatten, wurde i. J . 1952 von dem Soziologen Rumney u n d dem Probation Officer Murphy veröffentlicht. Es ergab sich, daß bis 1948 4 8 % der Probanden keine Arreste aufzuweisen hatten. Ein enges Verhältnis bestand zwischen der Anzahl der Arreste vor und nach der „Probation" Periode und ebenso zwischen ihnen und der Art der Straftaten. Die Prognose f ü r die Zukunft dieser Probanden war günstig in 60%, ungünstig in 2 2 % und zweifelhaft in 14%, wobei die Anzahl der Vorstrafen aufs engste mit der Voraussage des künftigen Verhaltens verk n ü p f t war. 4. Einige rückfallstatistische

Sonderfragen

Inwieweit vermehrt sich die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls mit der Zahl der Vorstrafen? Bereits Franz von Liszt h a t t e den Satz aufgestellt, daß der Hang zum Verbrechen mit jeder Verurteilung wachse (Strafr. Aufsätze u n d Vorträge, Bd. 2 S. 325). Exner (Kriminologie, 3. Aufl. 1949, S. 267) gibt aus der deutschen Kriminalstatistik die folgenden Zahlen für die i. J . 1902 verurteilten Personen wieder, die während der nächsten 10 Jahre rückfällig wurden: Von den i. J . 1902 erstmals Verurteilten wurden 22,1% rückfällig; von den damals bereits einmal Vorbestraften wurden 48,7% rückfällig; von den damals bereits 2—4mal Vorbestraften wurden 65,3% rückfällig; von den damals bereits 5 mal und öfter Vorbestraften 83,3%. Roesner (S. 1008) zitiert aus der Reichskriminalstatistik den Satz: „Die Wahrscheinlichkeit, daß eine in den letzten 10 Jahren vorbestrafte Person im nächsten J a h r von neuem verurteilt wird, ist also über siebenmal so groß wie die bei einer im gleichen Zeitraum nicht vorbestraften Person". Diese Zahlen haben seither in der bekannten Tatsache ihre Bestätigung gefunden, daß die Prognoseforschung in der Anzahl der Vorstrafen einen der die zukünftige Entwicklung am ungünstigsten beeinflussenden Faktoren erblickt (unten II). Unabhängig hiervon h a t kürzlich Wilkins berechnet, daß die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer 2. Straftat seitens eines Ersttäters 19,6% sei, die Wahrscheinlichkeit einer

3. S t r a f t a t 66,9%, die einer 4. S t r a f t a t 71,2%. Diese Zahlen, die auf der englischen Kriminalstatistik für 1956 beruhen u n d voraussetzen, daß dieses J a h r typisch war, beziehen sich nur auf männliche Täter im Alter von 17 J a h r e n und darüber. Wilkins schließt aus ihnen, daß die Verh ü t u n g des ersten Rückfalls f ü r die spätere Laufbahn entscheidend sei (Leslie Τ. Wilkins, Social Deviance, 1964, S. 204—8). Sind außer der Anzahl der Vorstrafen auch die zwischen ihnen bestehenden zeitlichen Zwischenräume bedeutsam? Folgen diese Abstände gewissen Regeln, und sind sie von bestimmten Faktoren, wie etwa Art und Länge der Vorstrafen, Alter des Täters und Deliktsart, abhängig? Und welche Bedeutung h a t das Alter des Täters überh a u p t für seine Rückfallsneigung? Auch diese Fragen sind schon seit langem erörtert worden. Franz von Liszt fügte seinem oben erwähnten Satze den weiteren hinzu, dessen Richtigkeit durch die Reichskriminalstatistik dargetan sei: „ J e schwerer nach Art und Maß die vorausgegangene Bestrafung gewesen ist, u m so rascher erfolgt der Rückfall" (S. 325). Exner bezeichnet es als eine statistisch festgestellte Tatsache, daß das Rückfallsintervall um so kürzer sei, je mehr Vorstrafen der Täter bereits aufzuweisen habe. Zur Nachprüfung der Richtigkeit dieser Sätze bedarf es verschiedener Zahlenreihen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen: erstens einer Statistik der Rückfallshäufigkeit u n d der Zwischenräume zwischen den einzelnen Rückfällen; zweitens einer Statistik der Arten u n d Dauer der Vorstrafen mit besonderer Berücksichtigung der Entlassungsdaten; drittens einer Berechnung des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen diesen beiden Reihen. Nicht immer sind die hierfür erforderlichen Daten vollständig verfügbar. Die neuere deutsche Kriminalstatistik ist eine der wenigen amtlichen Veröffentlichungen, die die Frage der Intervalle mit Angabe der Wiedereinlieferungsabstände nach der vorhergehenden E n t lassung behandelt. Für das J a h r 1962 werden ζ. B. die folgenden Intervalle angegeben (vgl. Rechtspflege, Tab. D 4, S. 23): wieder eingeliefert

im 1. J a h r im 2. J a h r im 3.—5. J a h r später

Zuchthaus von 7080 Vorbestraften u n d 1112 NichtVorbestraften 2220 1961 1773 760

Gefängnis von 25 OOS Vorbestraften u n d 5029 NichtVorbestraften 9132 5323 4974 2224

Für Österreich h a t Grassberger die Frage der Intervalle eingehend untersucht (S. 64ff.). Allerdings konnte er die Berechnung nur nach vollen Jahren vornehmen und daher die bereits im Jahre

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Rückfall und Prognose

der ersten Verurteilung erfolgenden Rückfälle nur als Null-Intervalle zählen, während der Grenzfall einer ersten am 31. Dezember ausgesprochenen Verurteilung und eines am nächsten Tage erfolgenden Rückfalls einen Intervall von einem Jahr darstellte. Hierdurch wurden natürlich erhebliche Ungenauigkeiten verursacht. Hiervon abgesehen sind Grassbergers Berechnungen recht aufschlußreich. Sie zeigen ζ. B., daß die Rückfallsprozente für die ersten 7 Jahre nach der Brstverurteilung bei Diebstahl auf einer Parabel liegen und daß die meisten Rückfälle — ähnlich wie bei den oben erwähnten deutschen Zahlen — in dem der ersten Verurteilung folgenden Jahre stattfanden, während später der Zuwachs an Rückfällen sich von J a h r zu J a h r verkleinerte und nach dem 7. Jahr noch stärker abnahm (S. 69). Die Prozentzahl der Rückfälligkeit fiel von 10,5 im 1. Jahr auf 3,1 im 6. Jahr (S. 68 und 78). Am spätesten erfolgte der Rückfall bei den vorsätzlichen Angriffen auf Leib und Leben (S. 77). Die Rückfallsparabeln wurden umso steiler, d. h. die Intervalle wurden umso kürzer, je jünger die Täter ζ. Z. ihrer ersten Verurteilung waren (S. 84). Aus den gewonnenen Ergebnissen zieht Grassberger verschiedene Schlüsse hinsichtlich der Fristen für die Vorstrafenverjährung und Straftilgung. Da ζ. B. nach Ablauf von 10 Jahren nach der ersten Verurteilung wegen Diebstahls innerhalb der nächsten 5 Jahre nur noch ein Verurteilungszuwachs von 5 % zu erwarten sei, könne die gesetzliche Verjährungsfrist für Rückfall ohne Gefahr auf 10 Jahre festgesetzt werden; eine richterliche Straftilgung könne bereits nach 5 Jahren erwogen werden (S. 92 und 94). Mehrere Ergebnisse Grassbergers finden ihre Bestätigung durch andere Studien. Daß ζ. B. die meisten Rückfälle kurz nach der ersten Entlassung stattfinden und daß dann die Zwischenräume immer länger werden, konnte in der englischen Borstal Untersuchung ebenfalls festgestellt werden (Mannheim und Wilkins, S. 126—8): Von den 362 Borstal Jungen, die überhaupt wieder straffällig wurden, waren 142, d. h. etwa 4 0 % , bereits innerhalb von 6 Monaten nach der Entlassung rückfällig geworden, 90 innerhalb weiterer 6 Monate und nur 37 nach weiteren 6 Monaten. Hieraus wurde geschlossen, daß nicht mehr als weitere 1 0 % in den nächsten 7 Jahren rückfällig werden würden (S. 148) und daß man für prognostische Studien daher keine über einige Jahre hinausgehenden Beobachtungszeiten brauche. Sydow (S. 57 u. 94) fand, daß bei seiner Probandengruppe nahezu 8 0 % aller Widerrufe innerhalb der ersten 3 Jahre stattfanden, 35,7% davon im 1. und 25,7% im 2. Jahr, also über 6 0 % in den ersten beiden Jahren. Von Piechas Fürsorgezöglingen dagegen wurden sogar über 8 0 % von den überhaupt Rückfälligen bereits in den ersten 2 Jahren rückfällig (Piecha S. 116). In der von Kühling

untersuchten Gruppe von 110 Insassen des Zuchthauses Celle i. J . 1962—3 fand er folgende Intervalle zwischen der letzten Haftentlassung und der Tat, auf die sich die nunmehrige Strafverbüßung bezog: bis 1 Monat in 2 4 % ; 1—3 Monate in 1 4 % ; 3—6 Monate in 1 6 % ; also waren 5 4 % innerhalb von 6 Monaten rückfällig geworden,v/eitere 2 2 % innerhalb der nächsten 6 Monate (Paul Kühling, MschrKrim. 47. J g . [1964] S. 163). Ähnliche Intervalle fand der leitende Psychologe des „Allocation Centre for Preventive Detention" in Wandsworth-London, R . S. Taylor, in einer Gruppe von 100 neu Eingelieferten; er macht aber darauf aufmerksam, daß die kurzen Intervalle hier eine Funktion der Verurteilung seien, da die Gerichte Rückfällige mit einem längeren straffreien Intervall nur selten zu Preventive Detention verurteilten (R. S. Taylor, BritJournCrim. Bd. I [1960] S. 25). Auch hier zeigt es sich also, wie sehr bei der Verwertung statistischen Materials der Gesamtzusammenhang berücksichtigt werden muß. Mit Bezug auf das Verhältnis von Rückfall und Alter hat Thorsten Sellin (Recidivism and Maturation) in einer amerikanischen Zeitschrift einige Tabellen aus einer i. J . 1944 veröffentlichten schwedischen Studie von G. Dahlberg und T. Lindberg wiedergegeben, die ebenfalls zeigen, daß das Rückfallsrisiko abnimmt und sein Tempo sich verlangsamt, je älter der Täter bei der ersten Verurteilung war. Andere von Sellin erwähnte schwedische Arbeiten ergeben gleichfalls, daß je jünger ein Täter bei der 1. Verurteilung war, desto größer seine Rückfallswahrscheinlichkeit ist und desto kürzer die Intervalle sind. Bereits oben ist erwähnt worden, daß nach Erwin Freys Untersuchungen die Rückfälligkeit der Täter, die bereits in frühem Alter Verwahrlosungserscheinungen aufwiesen, etwa 6 mal höher war als die NichtVerwahrloster (S. 59 u. 77). Darüber hinaus hat Frey aber auch der Schwere des Rückfalls und seinem Rhythmus besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar im Einklang mit seinem Ausgangsproblem stets bezogen auf die Frage der Frühkriminalität (Frey 1951b, S. 77—89, 254 bis 269). Es ergab sich, daß die Frühkriminellen nicht nur häufiger, sondern auch erheblich schwerer rückfällig wurden; die mittlere Dauer der verbüßten Freiheitsstrafen „pro Rückfälligen" war bei der ersten Gruppe 590 Tage, bei der 2. nur 216, wobei freilich auch die Tatsache der Frühkriminalität selbst bei der Strafzumessung eine Rolle gespielt haben mag. Hinsichtlich der Frage der Intervalle stellt Frey, ähnlich wie vorher bereits Grassberger (S. 103), den Satz auf, daß die Kürze der Intervalle ein gewisses Indiz für eine anlagemäßige Disposition zur Kriminalität bilde (S. 83). An einer späteren Stelle seines Werkes, im 16. Kapitel, kommt Frey nochmals auf die „Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitstypus und krimi-

Rückfall und Prognose neller Intensität" zurück und versucht einen „Quotienten der kriminellen Intensität" bei Rückfallverbrechern aufzustellen, der die Häufigkeit der Verurteilungen und Länge der erlittenen Strafen in Beziehung setzt zur Rückfallsfähigkeit, die er als die Zahl der vollendeten Lebensjahre seit Erreichung der Strafmündigkeit definiert (S. 263). — Ein spanischer Kriminologe, de Landecho, kommt auf Grund seiner kritischen Analyse der Statistik Schwabs ebenfalls zu dem Ergebnis, daß sich Frühkriminalität und Rückfall, Spätverbrechertum und Einmaligkeit weitgehend decken (Carlos Maria de Landecho, Körperbau, Charakter und Kriminalität, 1964, S. 171). Norval Morris, der 2 Gruppen von Rückfalltätern untersuchte, nämlich 32 „Preventive Detention" Gefangene und 270 „confirmed recidivists", warf die Frage auf: Hat die Länge der Strafzeit irgendeinen Einfluß auf die Länge der auf die Strafe folgenden straffreien Zeit? Wie bereits erwähnt, hatte v. Liszt geglaubt, je länger die Strafe sei, desto kürzer sei der Intervall.' Morris dagegen fand auf Grund seiner mathematischen Berechnungen, daß die Länge der Strafzeit bei den von ihm untersuchten Gruppen keinerlei Einfluß auf die Länge des darauffolgenden straffreien Intervalls hatte (S. 326 u. 368). Er schließt daraus, daß sehr lange Strafen keine größere Abschreckungswirkung hätten als andere Strafen. Gustav Nass (Der Mensch und die Kriminalität, Bd. 1: Krimmalpsychologie, 1959, S. 84) kommt auf Grund seines aus Einbrechern und Dieben bestehenden Fallmaterials zu gleichen Ergebnissen. Daß die Anzahl der Vorstrafen keine Bedeutung für die Dauer der Intervalle hat, bemerkt auch Grassberger (S. 103). Daniel Glaser betrachtet es als eines der wichtigsten Ergebnisse seiner umfangreichen Untersuchung, daß die meisten Täter einen Zickzackkurs durchmachen, in dessen Verlauf Straftaten und straffreie Perioden stetig abwechseln. Auch er fand, daß diejenigen, die ihre Verbrecherlaufbahn früh beginnen, im allgemeinen am längsten darin beharren (S. 37 u. 473). Hinsichtlich der Intervalle fand er, daß von seinen 306 rückfälligen „federal prisoners" etwa 6% fast unmittelbar nach ihrer Entlassung rückfällig wurden und weitere 16% innerhalb eines Monats, 19% nach mehr als einem J a h r und 5Y 2 % nach mehr als 2 Jahren (S. 475). Die Anzahl der Vorstrafen war hier für die Rückfallswahrscheinlichkeit sehr stark maßgebend. Hinsichtlich der Deliktsart fand er in Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung, daß Diebstahl, Einbruch und Autodiebstahl die höchsten, Mord, Notzucht und Unterschlagung die niedrigsten Rückfallsraten hatten (S. 44). Innerhalb der Rückfälligen stellt Glaser eine Typologie auf, die von den nach anfänglichem Rückfall Resozialisierten zu den klaren Mißerfolgen herabsinkt (Kap. 4). Unter den letzteren

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unterscheidet er den „aufgeschobenen" (deferred) und den sofortigen (immediate) Rückfall. In einer Gruppe von 308 Rückfälligen wurden 70% als klare Mißerfolge klassifiziert, von denen 58% „deferred" und 12% „immediate" Rückfällige waren. Eine Gruppierung der Rückfälligen nach der Schwere der Rückfälle nimmt auch Brauneck vor (S. 23), wobei u. a. auch die Intervalle berücksichtigt werden. Hiernach waren 75,6% der Jungen in der schwersten Gruppe unmittelbar wieder in Haft genommen worden, weitere 17,1% innerhalb von 6 und weitere 7,3% innerhalb von 12 Monaten, während in der besten Gruppe 60,7% sich über 4 Jahre straffrei hielten. D. J . Wests Untersuchung „The Habitual Prisoner" (1963) ist auf dem Gegensatz zwischen 2 Gruppen rückfälliger Gefangener aufgebaut: 50 mit „Preventive Detention" bestrafte und 50 gewöhnliche Rückfällige im Gefängnis von Wandsworth in London. Das entscheidende Merkmal für die Auswahl der letzteren war, daß sie einen Zeitraum von mindestens 4 Jahren in der Freiheit zwischen wenigstens 2 vorherigen (nicht jugendgerichtlichen) und wenigstens 2 nachfolgenden Verurteilungen aufzuweisen hatten (S. 3). Etwa 8 % aller Insassen von Wandsworth hatten derartige Intervalle, und die Gruppe von 50 wurde in alphabetischer Reihenfolge für die Untersuchung ausgesucht. Ihr Hauptzweck war, eine Typologie der beiden Gruppen herauszuarbeiten, die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede festzustellen und die die langen Intervalle in der einen Gruppe verursachenden Faktoren zu erklären. Die umfassendsten Erkenntnisse auf dem gesamten Gebiet der Rückfallstatistik verdanken wir den allbekannten „follow-up studies" von Sheldon und Eleanor Glueck. Die Bedeutung der meisten von uns bisher besprochenen Faktoren und viele weitere Einzelheiten krimineller Laufbahnen sind von ihnen über längere Zeiträume wie 5,10 oder sogar 15 Jahre nach Entlassung aus der Strafanstalt zahlenmäßig beleuchtet worden. So bestätigen ihre Untersuchungen ζ. B. den Satz, daß die Rückfallsrate umso höher ist, je früher der Täter zum ersten Male verurteilt worden ist und je häufiger er vorbestraft ist (ζ. B. After-Conduct, S. 48—9). Bei den immer wieder rückfällig Gewordenen war keine Kürzung der Intervalle zwischen den erneuten Arresten zu verzeichnen (Later Criminal Careers, S. 64; Juvenile Delinquents Grown Up, S. 45 u. 64). Dem mit zunehmendem Alter stattfindenden Wechsel der Deliktsart schenken diese Studien besondere Beachtung: Eigentumsdelikte wurden seltener, Trunkenheitsdelikte häufiger (Later Criminal Careers, S. 62; After-Conduct, S. 35). Von besonderem Interesse ist die von den Gluecks aufgestellte Hypothese, daß die meisten Rechtsbrecher zu einem be-

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Rii ckfall und Prognose

stimmten Zeitpunkte resozialisiert werden; während dieser Zeitpunkt zunächst auf die Erreichung eines bestimmten Alters, nämlich 36, fixiert wurde, waren die Gluecks später geneigt anzunehmen, daß es sich hier nicht um einen absolut fixierbaren Zeitpunkt, sondern um eine bestimmte Zeitspanne handele, die mit der ersten Straftat beginne und nach Ablauf einer bestimmten Anzahl von Jahren ihr Ende erreiche (Later Criminal Careers, S. 202; After-Conduct, S. 89). Falls diese zweite Hypothese zutreffend wäre, so würde ζ. B. ein erstmalig mit 14 Jahren ein Delikt Begehender früher seine Verbrecherlaufbahn aufgeben als ein erstmalig mit 24 Jahren straffälliger Täter, was der herrschenden Auffassung von der besonders hartnäckigen Rückfälligkeit der frühzeitig Straffälligen widerspricht. Die Gluecks haben diese Hypothese daher auch nicht weiter verfolgt. Die Gesetzgebung vieler Länder hat dem Gegensatz gleichartiger und ungleichartiger Rückfall erhebliche Bedeutung beigelegt. Der gleichartige Rückfall ist oft als gefährlicher angesehen und mit schwereren Strafen bedroht worden. In der 1. Auflage führte Hagemann aus (Bd. I S. 999), daß eine „in ätiologischem Sinne" vorhandene Gleichartigkeit auf einen intensiveren verbrecherischen Willen schließen lasse, eine Ungleichartigkeit dagegen auf einen extensiven. Gleichartigkeit deute daher auf Gewohnheits-, Ungleichartigkeit auf Gelegenheitsverbrechertum. Exner (3. Aufl. S. 269—71) Schloß sich ihm hierin an, fügte aber hinzu, daß man eine „bunte Strafliste" nicht ohne weiteres als günstiges Anzeichen deuten dürfe. Vielmehr sei ein zur Begehung ungleichartiger Straftaten neigender Verbrecher sozusagen „zu allem fähig". Die Statistik kann über diese Frage der größeren Gefährlichkeit keine völlig befriedigende Auskunft geben, sie kann bestenfalls über die Häufigkeit der einen gegenüber der anderen Art des Rückfalls und darüber, ob die Straflisten der gleichartigen Rückfälligen länger und schwerwiegender sind, etwas aussagen. Unsere vergleichende Übersicht hat gezeigt, daß ζ. B. die englische „Supplementary Statistics" ein Überwiegen der gleichartigen Rückfälle verzeichnete, ebenso in Frankreich die Arbeit von Sannie und Vernet. Für Japan zeigen Baba und Nakano (Tabelle 4) sehr erhebliche Unterschiede in dieser Hinsicht zwischen den einzelnen Deliktsarten: Während bei Diebstahl und Glücksspiel die gleichartigen Rückfälle sehr stark überwiegen, ist das Verhältnis bei den meisten anderen Deliktsarten anders. Mehrere spezielle Untersuchungen haben sich mit dieser Frage der Häufigkeit und Art von Variationen innerhalb verbrecherischer Laufbahnen näher befaßt. Der Verfasser dieses Beitrags prüfte die Straflisten von 226 männlichen Rückfalltätern in London aus den Jahren 1915—35 nach (Social Aspects of Crime, S. 359 bis 361). Er teilte die hauptsächlichsten Deliktsarten

in 14 Kategorien und fand, daß sich auf eine ein zige Kategorie beschränkende Täter fast gänzlich fehlten. Die meisten wiesen Kombinationen von mehr als 3 Kategorien auf, und in 23% waren Kombinationen von Delikten gegen Eigentum und Vermögen mit solchen gegen die Person einschließlich von Sittlichkeitsdelikten vorhanden. Norval Morris (The Habitual Criminal, S. 317 u. 360) führte diese Untersuchung fort hinsichtlich seiner 2 Gruppen von Rückfälligen, wobei er sich teilweise der gleichen und teilweise einer etwas abgeänderten Typologie der Deliktsarten bediente und zu sehr ähnlichen Ergebnissen kam; anstatt der 23% fand er aber 38% von kombinierten Fällen. Spezialisierung auf einen einzigen Deliktstypus war sehr selten und, wenn überhaupt, nur bei den Betrügern festzustellen. Kein einziger Täter beschränkte sich auf Delikte gegen die Person. Eine Untersuchung der in den Jahren 1950 u. 1957 in London vorgekommenen Raubüberfälle (F. H. McClintock u. Evelyn Gibson, Robbery in London, 1961, Kap. V) zeigte, daß von den 62,6% (1950) und 70,1% (1957) Räubern mit Vorstrafen etwa 1 l l wegen Gewalttätigkeiten vorbestraft waren. Die meisten hatten ungleichartige Straftaten begangen. Eines der wichtigsten Resultate einer vor einigen Jahren erschienenen Untersuchung einer größeren Zahl (653) von Verkehrstätern im Süden Englands war die nicht unerhebliche Anzahl (151) solcher Täter, die bereits wegen andersartiger Delikte vorbestraft worden waren (T. C. Willett, Criminal on the Road, 1964, S. 299—300). Der Verfasser zieht hieraus den Schluß, die verbreitete Vorstellung, daß der Verkehrstäter stets ein im übrigen rechtschaffener Staatsbürger sei, treffe oft nicht zu. Auch W. Middendorff (Soziologie des Verbrechens, 1959, S. 153) weist darauf hin, daß es eine kleine Anzahl von Verkehrssündern gebe, bei denen die Begehung eines Verkehrsdeliktes nur eine Abart sonstiger Kriminalität oder Verwahrlosung darstelle (siehe auch seine Schrift 600 Alkoholtäter, 1961, S. 29). Glaser (S. 42) spricht von der Häufigkeit, mit der Verbrecher „mix their offences" und mit der die Begehung einer Straftat zu der einer anderen verschiedenen Charakters führe; trotzdem aber gebe es viele Spezialisten. Die bisher zitierten Zahlen werden klargestellt haben, daß das numerische Verhältnis von Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit wesentlich davon abhängt, wie man diese Begriffe formuliert, und daß ferner das Verhältnis für die einzelnen Deliktsarten sehr verschieden sein kann. Was über diese statistischen Tatsachen hinaus die Frage der größeren Gefährlichkeit betrifft, so könnte sie nur mit Hilfe eingehender Vergleichung einer größeren Zahl von Lebensläufen beantwortet werden. — Der Psychologe Eysenck hat kürzlich die schon früher von den Amerikanern Hartshorne und May aufgeworfene Frage der „generality" oder „speci-

Rückfall und Prognose ficity" menschlichen Verhaltens und Charakters wieder erörtert, d. h. die Natur solcher Charakterziige wie Ehrlichkeit und Unehrlichkeit: Ist ζ. B. ein Mensch, der in bestimmten Lebenslagen ehrlich zu sein pflegt, aller Wahrscheinlichkeit nach auch in andersgearteten Situationen ehrlich? (H. J. Eysenck, Crime and Personality, 1964, S. 8—19). Es wäre interessant zu prüien, ob zwischen dieser Frage und der Unterscheidung von gleichartigem und ungleichartigem Rückfall irgendwelche Beziehungen bestehen; jedenfalls aber ist das Problem für die Frage der Möglichkeit einer individuellen Prognose menschlichen Verhaltens belangreich. Daß Amnestien, Straftilgungsgesetze und ähnliche Maßnahmen die Rückfallstatistik beeinflussen können, ist einleuchtend. Es handelt sich hier um eine der vielfachen Möglichkeiten eines Konflikts zwischen den Bedürfnissen der Rechtspflege und Wissenschaft, die vollständigste Information über das Vorleben und die Vorstrafen eines Rechtsbrechers zu besitzen, und dem menschlich berechtigten Interesse des letzteren, über seine Vergangenheit einmal das Gras wachsen zu sehen. Die Straftilgungsvorschriften haben sich bemüht, einen erträglichen Ausgleich in diesem Konflikt zu schaffen, und wie bereits oben bei der Behandlung der Frage der Intervalle angedeutet, hat besonders Grassberger versucht, sein statistisches Material zur Rechtfertigung der gesetzlichen Tilgungsfristen zu verwerten. In der Tat wird man im Hinblick darauf, daß die meisten Rückfälle sich in den ersten Jahren nach einer Bestrafung ereignen, den Schluß ziehen dürfen, daß sowohl die Gesetzgebung und Strafrechtspflege als auch die kriminologische Wissenschaft sich mit einer sachgemäßen Beschränkung des ihnen zur Verfügung gestellten Materials abzufinden haben. Wieviele B e r u f s v e r b r e c h e r gibt es in einem bestimmten Lande zu einer bestimmten Zeit? Diese Frage ist wiederholt aufgeworfen worden, kann aber mit den vorhandenen Hilfsmitteln wohl auch nicht einmal annähernd beantwortet werden. Die Zahl der vielfach Rückfälligen, die ζ. B. von Seelig als symptomatisch hierfür angesehen wurde (E. Seelig, Lehrbuch der Kriminologie, 1. Aufl. 1951, S. 187), ist nicht unbedingt maßgebend, da, wie hier immer wieder zu betonen ist, wohl die meisten oft vorbestraften Täter gerade nicht zum Berufsverbrechertyp gehören (siehe ζ. B. unter C). Das gleiche gilt von den Zahlen der zu Sicherungsverwahrung, „Preventive Detention" und entsprechenden Maßnahmen in anderen Ländern Verurteilten. Heindl (Der Berufsverbrecher, 4. Aufl. 1927, S. 190) schätzte die Zahl der Berufsverbrecher in Deutschland im Alter von 20 bis 40 Jahren für die Jahre 1907—8 auf etwa 8500. Wie aber Exner (Kriminologie, 1949, S. 212) betont, verwertet Heindl den Begriff in einem zu 5 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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weiten, alle Gewohnheitsverbrecher umfassenden Sinne. Ohne eine feste Begriffsbestimmung, auf deren Schwierigkeiten bereits hingewiesen worden ist (oben A), und ohne die eingehende Betrachtung einer hinreichenden Anzahl von Fallgeschichten Rückfälliger läßt sich hier kaum eine brauchbare Schätzung vornehmen. Erwähnenswert ist jedoch, daß bei einer im Jahre 1959 von 2 Londoner Kriminologen in Pentonville, einem der beiden Londoner Gefängnisse für Rückfällige, vorgenommenen Zählung der Insassen gefunden wurde, daß von 1251 Gefangenen 28, d. h. mehr als 2%, sich selbst freiwillig als „professional criminals" bezeichneten und angaben, daß sie ihren Lebensunterhalt aus ihrer verbrecherischen Betätigung bezögen (Terence and Pauline Morris, Pentonville, 1963, S. 66 und 294). Die Verfasser hatten aber den Eindruck, daß die Zahl dieser „professionals" in Pentonville in Wirklichkeit viel größer sei. Zu ähnlichen Ergebnissen kam Pauline Morris kürzlich in einer sich hauptsächlich mit den Familien von Gefangenen aus ganz England beschäftigenden Studie: Hier bezeichneten sich 0,9% der befragten „Stars" und 2,1% der Rückfälligen, zusammen 1,7%, als „professional or habitual criminals" und erwarteten, durch Verbrechen ihren Unterhalt zu verdienen; auch hier betrachtet die Verfasserin diese Zahlen als zu niedrig (Prisoners and their Families, 1965, S. 46—7). Ganz kurz sei noch auf die verschiedene Häufigkeit des Rückfalls bei den e i n z e l n e n D e l i k t s a r t e n hingewiesen. Unsere statistische Übersicht hat bereits gezeigt, daß die zahlenmäßig häufigsten Delikte, wie Diebstahl, Einbruch und Betrug, auch die höchsten Rückfallszahlen aufweisen. Die Rückfallswahrscheinlichkeit ist besonders groß bei Betrügern (vgl. Middendorff, Soziologie des Verbrechens, 1959, S. 116; v. Hentig, Der Betrug, 1957, S. 3, 30,155). Auf dem Gebiete der Warenhausdiebstähle fanden Gibbens und Prince, daß von ihrer Gruppe von i. J. 1949 verurteilten Dieben im Laufe der nächsten 10 Jahre 77% nicht mehr rückfällig geworden waren (Shoplifting, 1962, S. 92; vgl. auch S. 28ff. über die Gleichartigkeit der Rückfälle). Für -> Verkehrsdelikte fand Willett, daß in seiner Gruppe von 653 Verkehrstätern 134 bereits vorher eine ernste Verkehrsstraftat begangen hatten und daß 12% von den 653 sogar wegen 4 oder mehr derartiger Taten vorbestraft waren (T. C. Willett, Criminal on the Road, 1964, S. 304—5). Für Sittlichkeitsverbrechen kam Paul Tappan auf Grund einer eingehenden Prüfung des Materials zu dem Ergebnis, daß die verbreitete Meinung, sie seien meistens zur Wiederholung ihrer Straftaten geneigt, irrig sei; tatsächlich hätten sie nach den Mördern die niedrigste Rückfallsrate (Paul W. Tappan, The habitual Sex Offender, 1950, S. 14, 22ff.). Immerhin darf aber nicht übersehen werden, daß gerade bei schweren Sittlichkeitsverbrechern oft ein

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Rückfall und Prognose

starker Drang zur Wiederholung besteht (-»· Sexualdelikte). In den berüchtigten Fällen sadistischer Massenmörder wie etwa Christie in England oder Peter Kürten in Deutschland (vgl. Seelig, Kriminologie, S. 93; George Godwin, Peter Kürten, 1938) liegt Rückfall im juristischen Sinne freilich nur selten vor, da sie gewöhnlich erst nach Begehung mehrerer Morde — bei Kürten waren es 9 vollendete und mehrere versuchte — verhaftet und verurteilt werden. Diejenigen, die bereits nach der ersten Tat abgeurteilt werden können, erhalten — auch wenn sie nicht zum Tode verurteilt werden — meistens so lange Strafen, daß Riickfälle unmöglich werden. Aber von Sexualmorden abgesehen, zeigt doch die Sterilisierungs- und Kastrierungsgesetzgebung der skandinavischen Länder, deren Wert oder Unwert hier nicht zu erörtern ist, die auf Grund eines umfangreichen Materials bestehende Befürchtung weitgehender Rückfälligkeit bei Sexualdelikten. Wie Georg K. Stürup in seinem Beitrag in „Sexualität und Verbrechen" (1963, S. 237ff.) betont, stellt diese Sondergesetzgebung keinesfalls die hauptsächlichste Waffe gegen den Sexualverbrecher, sondern nur einen alleräußersten, sehr selten angewendeten Notbehelf dar. Die weit wichtigere Regel in Herstedvester ist therapeutische Arbeit und Hormonbehandlung, und Stürup sagt mit Recht, daß diese Methoden, sogar wenn sie die Rückfallsquoten nicht wesentlich reduzieren sollten, ihren eigenen humanitären Wert haben. Über deutsche Erfahrungen mit Psychotherapie, Hormonbehandlung und Kastration rückfälliger Sittlichkeitsverbrecher berichtet ausführlich Hermann Plenge in MschrKrim. Bd. 44 Heft 1—2, J u n i 1961. — In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß F . Bschor (MschrKrim. Bd. 41 [1958] S. 1 4 9 , 1 5 2 , 1 6 1 ) die Rückfallsgefahr bei Notzucht für gering hält. In dem Atascadero State Hospital in Kalifornien, das für die Behandlung der „sexual psychopaths" (jetzt „mentally-disordered sex offenders" genannt) unter der diesbezüglichen kalifornischen Gesetzgebung zuständig ist, haben Untersuchungen der Rückfallshäufigkeit unter den entlassenen Insassen folgendes ergeben: Innerhalb von 5 Jahren nach der Entlassung wurden für alle Sittlichkeitsdelikte zusammen 2 6 , 6 % rückfällig. Für die Pädophilen, die sich an Mädchen vergingen, war die Rate 1 8 , 2 % ; die entsprechende Rate für Knaben war 3 4 , 5 % . Die Rate wechselte also stark je nach der Art des Delikts (Louise Viets Frisbie, FedProb. Bd. X X I X Nr. 2, J u n i 1965, S. 55). In einer eingehenden statistischen Untersuchung von 1985 Sittlichkeitsverbrechern durch das „Department of Criminal Science" der Universität Cambridge fand man, daß nur 2 % der Verurteilten als dauernde und ausschließliche sexuelle Rückfallstäter bezeichnet werden konnten, d. h. Täter mit mindestens 4 Verurteilungen auf diesem Gebiet. Von den zu

Gefängnis Verurteilten wurden aber fast 2 5 % innerhalb von 4 Jahren nach der Entlassung auf dem gleichen Gebiete rückfällig, von den bereits früher auf diesem Gebiete Vorbestraften sogar fast die Hälfte (S. 201—3). Auf dem 4. Internat. Kriminologischen Kongreß (Haag, 1960) berichtete Grassberger, daß von einer Gruppe von 581 Männern, die i. J . 1937 in Österreich wegen Sittlichkeitsverbrechen an Kindern verurteilt worden waren, 2 5 % entweder schon vorher wegen Sittlichkeitsverbrechen verurteilt waren oder innerhalb von 15 Jahren wiederum eine solche Verurteilung erlitten hatten (Proceedings S. 191). Das war keine sehr hohe Zahl. Hier, wie auch in sonstigen Untersuchungen, ergab sich kein Anhalt dafür, daß Sittlichkeitsverbrecher von leichteren zu schwereren Taten graduierten; gewöhnlich waren die sich wiederholenden Delikte von ähnlicher Art (Sexual Offences, herausgeg. von L. Radzinowicz, 1957, S. 178—9). Auch bei nicht sexuellen Morden sind die amtlichen Rückfallziffern begreiflicherweise niedrig infolge der Todesoder langjährigen Freiheitsstrafen, v. Hentig (ZStW Bd. 74, 1962, S. 562) hat eine Anzahl von Fällen mehrfacher Mörder zusammengestellt, in denen die Wiederholung infolge von Nichtergreifung oder irrigen Freisprüchen möglich war. Das waren zwar nicht juristische, aber kriminologische Rückfälle, und sie sind vermutlich viel häufiger, als die Allgemeinheit annimmt (siehe auch J . D. J . Ilavard, The Detection of secret Homicide, 1961). C.

Empirisch-beschreibende Darstellungen Lebensläufe einzelner Rückfall-Täter

der

An den Grenzstreitigkeiten zwischen der beschreibenden und kausalen Betrachtungsweise in den Geisteswissenschaften hat die moderne Kriminologie bekanntlich einen bescheidenen Anteil genommen. Ohne sich ausdrücklich auf Dilthey und Max Weber zu beziehen, hatte Exner bereits in der 1. Auflage seines Lehrbuchs auf die Rolle des Beschreibens, Erklärens, Verstehens des Kausal- und Sinnzusammenhanges hingewiesen (Kriminal-Biologie, 1939, S. 1 6 ; Kriminologie, 3. Aufl. 1949, S. 6), und neuerdings haben Mergelt (Die Wissenschaft vom Verbrechen, 1961, Kap. IV, und Methodik kriminalbiologischer Untersuchungen, 1953) und besonders Würtenberger (Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 1. Aufl. 1957, Kap. 3) ähnliche Gedanken geäußert (auch meine Comparative Criminology, Kap. 1). In der anglo-amerikanischen Literatur sind wohl im allgemeinen weniger diese umfassenderen geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte als die speziellen Gegensätze zwischen der kausalen und der deskriptiven Betrachtungsweise erörtert worden. Das zunehmende Interesse an der letzteren ist großenteils daraus zu erklären, daß die bisherigen Ergebnisse der kausalen Arer-

Rückfall und Prognose brechenserforschung im Verhältnis zu der ihr gewidmeten Arbeit weithin als recht enttäuschend angesehen werden. Insbesondere innerhalb der Prognoseforschung hat sich daher die Tendenz gezeigt, die Voraussage künftigen verbrecherischen Verhaltens von der Ermittlung der Ursachen unabhängig zu machen (siehe unter II), und die aufs engste mit der Verbrechensprognose zusammenhängende Erforschung des Rückfallproblems weist begreiflicherweise ähnliche Neigungen auf. Hieraus erklärt sich die oben bereits erwähnte, auf dem I I I . Internationalen Kriminologen-Kongreß 1955 erfolgte Schaffung einer besonderen Sektion für das Studium der Symptomatologie im Gegensatz zur Ursachenforschung. Wie der Verfasser in seiner Einleitung zu den Kongreßberichten ausführte, sind diese beiden Seiten des gesamten Rückfallproblems so eng miteinander verbunden, daß eine solche Trennung zunächst gekünstelt erscheinen mag. Tatsächlich zeigte es sich denn auch, daß beschreibende und kausale Betrachtung in den Referaten und in der Diskussion ständig vermengt wurden. Und trotzdem war der ernstliche Versuch einer Sonderbehandlung der beschreibenden Symptomatologie insofern wertvoll, als er dazu anregte, die Lebensläufe rückfälliger Täter ohne wesentliche theoretische Zutaten, so wie sie sich dem Betrachter von außen her darboten, und ohne das ständige Aufwerfen der Kausalfrage als Tatsachen zunächst einmal hinzunehmen. Es war das sicherlich nur ein erster Schritt, und es ist auch unbestreitbar, daß es eine bloße Sammlung von „Tatsachen" ohne eine Leitidee gar nicht geben kann. Schon die allererste Auswahl der in die Darstellung aufzunehmenden Tatsachen ist ja von unseren vorgefaßten Ansichten über ihre mögliche kausale Bedeutung abhängig (siehe meine Comparative Criminology, 1965 Bd. I S. 75—6). Andererseits kann aber ein zu frühzeitig einsetzendes Aufwerfen der Kausalfrage zu einer Vernachlässigung und gelegentlich auch wohl Verfälschung des wirklichen Sachverhalts führen. Auf die allgemeinen Methodenfragen der deskriptiven Fallbetrachtung kann hier nicht weiter eingegangen werden. Bekanntlich hat die geschichtliche Entwicklung dieser Methode sich im engen Anschluß an die verschiedenen Phasen der allgemeinen kriminologischen Forschung bewegt und hat daher von den Schwankungen der Ursachenerforschung nicht unberührt bleiben können. Abgesehen von den zahlreichen Selbstdarstellungen aus der Verbrecherwelt besitzen wir zahlreiche Fallgeschichten, die entweder stark kriminalbiologisch oder ebenso stark psychoanalytisch oder soziologisch orientiert sind. Wir besitzen Fallgeschichten, die von Gefängnisbeamten, und solche, die von Bewährungshelfern, von beratenden Psychologen oder Psychiatern, oder solche, die von außenstehenden Forschern zu rein theoretischen Zwecken verfaßt worden sind. 5'

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Die hierbei angewendeten Methoden wechseln, wodurch Vergleiche außerordentlich erschwert werden. Kausale Betrachtungen spielen gewöhnlich eine große Rolle, und der Verfasser solcher Fallgeschichten sieht die „Tatsachen" oft mehr oder weniger durch seine höchstpersönliche theoretische Brille. Nicht alle dieser Fallgeschichten behandeln Rückfalltäter; das nach seinem ganzen Charakter nur einmalige Verbrechen, besonders beim Morde, kann j a ebenfalls von großem Interesse sein. Im allgemeinen aber ist es die sich über eine längere Zeitspanne erstreckende verbrecherische Tätigkeit, die den Betrachter anzieht. Die Methode der „case history" wurde bekanntlich hauptsächlich in den Vereinigten Staaten in der 1. Hälfte dieses Jahrhunderts von dem Psychiater W. Healy, dem Soziologen Clifford Shaw und dem Psycho-Analytiker Franz Alexander ausgebildet. Die frühesten dieser Arbeiten konnten bereits in der 1. Auflage kurz erwähnt werden, aber Shaws „Brothers in Crime" (1938) und E. H.Sutherlands „The Professional Thief" (1937) — um nur die wichtigsten zu nennen — erschienen zu spät. Sehr bald meldeten sich auch die ersten kritischen Stimmen, die gewisse theoretische Mängel besonders der Shawschen Studien betonten (literarische Nachweise hierzu sind in meiner Comparative Criminology Bd. I Kap. 8 gegeben). Reckless hat in seinem wertvollen Generalbericht für die 2. Sektion des Londoner Kongresses (1955) gewisse Richtlinien aufgestellt, die bei der Ausarbeitung von Studien rückfälliger Täter zu beachten seien, und auch versucht, eine Typologie auszuarbeiten. Er fordert mit Recht, daß die spezielle Funktion des Rückfalls in diesen Fallstudien besonders berücksichtigt werde. In dem nicht-amerikanischen Schrifttum gibt es leider noch sehr wenige eingehende Fallstudien, die den in der Theorie aufgestellten Kriterien auch nur annähernd genügen würden. In England mag die übertrieben strenge Libel-Gesetzgebung abschrekkend wirken. Was wir anstelle der fehlenden in alle Einzelheiten gehenden Beschreibungen einer kleinen Anzahl von Rückfalltätern einer bestimmten Kategorie erhalten, ist gewöhnlich eine Sammlung von kurzen Abrissen, in denen die rein tatsächliche Seite mit der interpretativen und nach Ursachen forschenden untrennbar vermengt wird. Das gilt für Cyril Burts „Young Delinquent" (1. Aufl. 1925) ebenso wie nahezu 40 Jahre später für D. J . Wests „The Habitual Prisoner" (1963), der etwa 100 kurze Fallgeschichten von Rückfalltätern bietet, die zur Illustrierung bestimmter Gesichtspunkte verwertet werden. Auch in dem bereits mehrfach erwähnten Buch von Norval Morris finden wir eine Anzahl recht eingehender Fallgeschichten Rückfälliger. Das ist die weitaus häufigste Methode, und sie hat einen unbestreitbaren Wert, aber die eingehende Beschreibung des Einzelfalles will und kann sie nicht ersetzen. Aus

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Rückfall und Prognose

der neueren deutschen Literatur sei auf Joachim Hellmers bereits früher erwähntes Buch „Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934—45" und auch auf Gustav Nass, „Der Mensch und die Kriminalität" (Bd. I : Kriminalpsychologie, 1959) hingewiesen, dessen Fälle jedoch nur zum Teil Rückfalltäter sind. Einer anderen Methode bedient sich v. Hentig in mehreren seiner Schriften, ζ. B. in „Der Gangster" (1939) und den Monographien der Serie „Zur Psychologie der Einzeldelikte": Kein einziger Fall wird hier im Zusammenhang beschrieben; vielmehr werden kurze Bruchstücke hier und da verwendet, um bestimmte Punkte in der Gesamtdarstellung zu erklären; Rückfallprobleme spielen hierbei kaum eine Rolle. Ε. H. Sutherlands „The Professional Thief by a Professional Thief" (1937) stellt eine originelle Mischung verschiedener Methoden dar: Teils war es eine Selbstdarstellung des Lebens und der Arbeitsweise eines Chikagoer Berufsdiebes mit 20jähriger Berufserfahrung, Chic Conwell genannt, im ersten Viertel des Jahrhunderts, dargestellt an Hand von Fragen, die Sutherland ihm vorgelegt hatte, mit nachfolgender Diskussion zwischen den beiden Beteiligten. Zum anderen, kleineren Teil war es ein Versuch Sutherlands, das Ergebnis in eine sachdienlichere Form zu bringen, gefolgt von seinen Interpretationen und Schlußfolgerungen. Das Gesamtresultat ist ein wertvoller Ausschnitt aus dem Leben und Wirken der Chikagoer Unterwelt vor 40 oder 50 Jahren, die möglicherweise heute nicht mehr in dieser Art existiert. In keinem Falle aber kann es als eine objektive Erzählung der Geschichte eines Berufsdiebes gelten; denn wir wissen nicht, inwieweit Sutherlands Fragestellungen und die nachträglichen Diskussionen und Verbesserungsversuche das tatsächliche Bild unbewußt geändert haben können. Andererseits hat Sutherland aber, im Gegensatz etwa zu Clifford Shaw, davon Abstand genommen, kausale Erklärungen des Werdens eines Berufsdiebes zu geben. Wir erfahren in diesem Buche sehr wenig über die Jugendjahre und Familienverhältnisse „Chic Conwells", außer daß er aus einer in guten Verhältnissen lebenden Familie stammte, ein Chormädchen heiratete, Rauschgifte liebte und ein Zuhälter wurde. Zur Zeit unserer Bekanntschaft mit ihm ist er bereits etwa 50 Jahre alt und hat außer dem Aufenthalt in einigen Reform-Anstalten nur die für einen unaufhörlich tätigen Berufsdieb sehr geringe Zahl von 3 Gefängnisstrafen von insgesamt 5 Jahren zu verzeichnen. Für einen psychologischen Entwicklungsproblemen skeptisch und uninteressiert gegenüberstehenden und von der alleinigen Geltung seiner Theorie der „differential association" überzeugten Soziologen wie Sutherland war es nur natürlich, daß er auch in dieser Arbeit die Bedeutung der Gruppeneinflüsse mehr als den Anteil der Einzelpersönlichkeit betonte. Wieweit er

hierin recht hatte, steht hier nicht zur Untersuchung, aber als rein beschreibende Studie kann der „Professional Thief" nicht angesehen werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß „Chic Conwell" wohl kaum mehr als typisch für den heutigen amerikanischen Berufsverbrecher angesehen werden kann. Wie schon oben (I A) erwähnt, ist der letztere jetzt mehr auf anderen Gebieten als dem des Diebstahls tätig, obgleich Reckless (The Crime Problem, 3. Aufl. 1961, Kap. 9) dem Berufsdieb erheblichen Raum in seiner Darstellung der „professional criminals" gewährt. Den Gegensatz zwischen den beiden Haupttypen der Rückfälligen, dem schwächlichen, haltlosen, unzulänglichen und entsprechend erfolglosen asozialen „ewigen Gefangenen", der die Strafanstalten der meisten Länder bevölkert, und dem willensstarken, rücksichtslosen und meistens erfolgreichen anti-sozialen Berufsverbrecher, der sich der Sicherungsverwahrung gewöhnlich zu entziehen weiß (siehe oben I A ) , hat ein englischer, die Kriminologie nur im Nebenberuf betreibender Schriftsteller, Tony Parker, in zwei eindrucksvollen Büchern an je einem Exemplar klar illustriert. Sein „The Courage of his Convictions" beschreibt den Lebenslauf eines 33jährigen intelligenten und nicht ungebildeten Berufsverbrechers „Robert Allerton", mit 9 Vorstrafen und 12%jähriger Gefängniszeit für Diebstahl, Einbrüche, bewaffnete Raubüberfälle, schwere Körperverletzung und Widerstand. Parker lernte ihn als „prison visitor" im Gefängnis kennen und setzte die Bekanntschaft nach Roberts Entlassung fort, der ihm dann seine Geschichte und seine persönliche Auffassung von seiner Verbrechenslaufbahn im Laufe von 6 Monaten in den ,,tape recorder" vortrug. Diese Auffassung war völlig sachlich und geschäftsmäßig, und Robert machte keine Versuche, sie zu beschönigen oder auch nur zu erklären. Er war ein Berufsverbrecher und wollte auch in Zukunft nichts anderes sein. Seinen durchschnittlichen Jahresverdienst gab er mit 2000—2500 englischen Pfunden an. Für die Vertreter der sogenannten ehrbaren Gesellschaft, einschließlieh Sozialarbeiter, Geistlichen und Kriminologen, hatte er nichts als Verachtung. Trotz gelegentlicher Hinweise auf seine armselige Kindheit benutzte er sie nicht als Entschuldigungsgrund ; er machte niemanden für das verantwortlich, was er geworden war, und an einer Ursachenerforschung war er nicht interessiert. Einige Jahre später folgte Parkers Buch „The Unknown Citizen", ein Versuch, auf ähnlichem Wege den entgegengesetzten Typ des Rückfälligen zu beschreiben: der Held, „Charlie Smith", 48 Jahre alt, mit 8 Strafen von zusammen 26 Jahren (von denen die zweite Strafe von 10 Jahren „Preventive Detention" aber in der Berufungsinstanz gestrichen wurde) für Diebstähle und Einbrüche mit einer Gesamtbeute von 178 Pfund (!). Der Ver-

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Rückfall und Prognose fasser hat eine kritische Analyse dieses Falles im „British Journal of Criminology" (Bd. 4 [1964] S. 395—9) gegeben, auf die hier verwiesen sei. Ein „Berufsverbrecher" war Charlie jedenfalls nicht. Dieser Überblick über einige der wesentlichsten beschreibenden Studien von Rückfalltätern zeigt die Verschiedenartigkeit der von den Verfassern verwendeten Methoden und die Notwendigkeit der von Reckless befürworteten Vereinheitlichung. Leider ist die vom Londoner Kongreß (1955) geforderte weitere Untersuchung dieses Gegenstandes bisher unterblieben. D. Die Ursachen des Rückfalls: Ätiologische Untersuchungen psychologisch-psychiatrischer und soziologischer Orientierung 1. Methodische

Bemerkungen

Zwei allgemeine Gesichtspunkte sind hier vorwegzunehmen: Zunächst die bekannte Fragwürdigkeit des Ursachenbegriffs, den viele neuere Autoren gänzlich aus dem Bereich der Sozialwissenschaften verbannen wollen (siehe hierüber meine Comparative Criminology, 1965, Bd. 1 S. 5ff.; Stephan Quensel, Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie, 1964, S. 49). Ferner ist im Auge zu behalten, daß die Ursachen des Rückfalls keineswegs mit den Ursachen des Verbrechens im allgemeinen identisch zu sein brauchen. Die ursprünglichen Ursachen einer Straftat können im Laufe der Zeit infolge von Wandlungen in der Persönlichkeit des Täters und seiner Umwelt ihre treibende Kraft ganz oder zum Teil eingebüßt haben, und an ihre Stelle können neue Triebkräfte getreten sein (vgl. „Deutsche Strafrechtsreform in englischer Sicht", 1960, S. 127). Inwieweit ein solcher Wechsel den „inneren Zusammenhang" im Sinne der Rückfallsgesetzgebung (oben A) in Frage stellen mag, kann eines der schwierigsten Probleme für das Gericht sein, ist aber an dieser Stelle nicht weiter zu erörtern. Die innere Wahrscheinlichkeit, die durch die Ergebnisse kriminologischer Forschung noch erheblich verstärkt wird, spricht dafür, daß ein derartiger Faktorenwechsel häufiger auf dem Gebiete der Umwelteinflüsse erfolgt als auf dem Gebiete der Persönlichkeitsstruktur. Ein ständiger Anreiz zum Unrechttun, der aus beengenden häuslichen Verhältnissen erwächst, kann durch eine Trennung von der Familie beseitigt werden, und eine unglückliche Ehe oder Arbeitslosigkeit können an ihre Stelle treten. In beiden Fällen wird die Persönlichkeit des Täters eine wesentliche Rolle spielen, aber die auf sie einwirkenden äußeren Umstände sind völlig anders geworden. Andererseits sind wir aber weit davon entfernt, die menschliche Persönlichkeit als etwas ein-für-allemal Gegebenes und keinem Wechsel Unterworfenes anzusehen. Die „dynamische Interpretation

der Gesamtpersönlichkeit", die Auffassung von der „Person als Prozeß", die „situativ-dynamische Sicht der Persönlichkeit" sind in der modernen Psychologie vorherrschend (siehe die eingehende Erörterung von Stephan Quensel, Teil II, Kap. 2). Wenn nun aber die menschliche Persönlichkeit innerhalb gewisser Grenzen ständigen Änderungen unterworfen ist, wenn nicht nur die Umwelt, sondern auch die auf sie reagierende Persönlichkeit selbst sich niemals ganz gleich bleibt, so muß man daraus schließen, daß auch die Reaktion des Delinquenten auf möglicherweise kriminogene Umwelteinflüsse zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen nicht die gleiche zu bleiben braucht. Immerhin läßt sich indessen vermuten, daß bei kurz aufeinanderfolgenden Straftaten derselben Art, wenn auch nicht immer die äußeren Anlässe, so doch die eigentlichen Ursachen und Motive der verschiedenen Handlungen im wesentlichen unverändert geblieben sein werden, während das bei durch längere Zeiträume getrennten und in ihrer Art völlig verschiedenen Straftaten anders sein mag. — 2. Interpretationen

der

Rückfallsursachen

Die zwischen den einzelnen Wissenschaftszweigen hinsichtlich ihrer Interpretation der Verbrechensursachen bestehenden Gegensätze treten auf dem Gebiete der Rückfallsursachen besonders scharf hervor. a) Von den konstitutionellen Typen Kretschmers ausgehend, fanden mehrere Autoren bekanntlich eine besonders ausgeprägte Rückfallsneigung bei den Schizothymen und Dysplastikern, dagegen eine geringe Rückfallsrate bei den Pyknikern (siehe die Einzelheiten bei Exner, Kriminologie, 1949, S. 178). Neuerdings hat de Landecho die Daten eines dieser Autoren, Schwabs, einer statistischen Nachprüfung unterzogen, die trotz einiger Vorbehalte dieses Ergebnis bestätigt hat (Körperbau, Charakter und Kriminalität, 1964, S. 173). Wieweit derartige statistische Zusammenhänge die Ursacheneigenschaft dieser konstitutionellen Typen beweisen, muß hier dahingestellt bleiben. Auch Seelig warnt davor, die Kretschmerschen Typen ohne weiteres als ursächliche Faktoren anzusehen; sie könnten nur die Art der verbrecherischen Betätigung näher erklären (Kriminologie, 1951, S. 139—40). „Mit der somatischen Ursachenforschung in der Kriminologie befinden wir uns immer noch in einem frühen Anfangsstadium" (H. Ehrhardt in Sexualität und Verbrechen, herausgeg. von F. Bauer, H. BürgerPrinz, H. Giese, H. Jäger, 1963, S. 253). b) Besonders kritisch gegenüber der herkömmlichen Idee des Rückfalls und seiner Ursachen haben sich aus Anlaß des Londoner Kongresses einige bedeutende Psychiater ausgesprochen. Baan ging so weit, in seinem Generalreferat von

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Rückfall und Prognose

dem Märchen, der Mythe des Berufs- oder Gewohnheitsverbrechers zu sprechen. Niemand wähle einen derartigen Beruf freiwillig; das antisoziale Verhalten des sogenannten Berufsverbrechers, der — wenn er überhaupt existiere — wohl kaum in den Gefängnissen zu finden sei, sei ausnahmslos seinem verletzten Stolz, seinen Enttäuschungen und seiner Verbitterung zuzuschreiben (Proceedings, S. 124). Hierin liegt viel Wahres (siehe auch unten unter „Typologie"), aber auch einige Übertreibung. Enttäuschung und Verbitterung, die Verzweiflung an der menschlichen Gerechtigkeit, der „sense of injustice" bilden sicherlich die sozio-psychologische Erklärung nicht nur für einen Michael Kohlhaas, sondern auch für die Entstehung mancher der gefährlichsten Verbrecher-Laufbahnen (siehe ausführlicher meine Comparative Criminology, 1965, S. 61—7, 307, 442, 455—6). Wenn man einer Persönlichkeit wie der „Robert Allertons" wirklich auf den Grund gehen könnte, so würde man das vermutlich bestätigt finden; auch der eine oder andere der Anführer des großen Buckinghamshire Eisenbahn-Raubüberfalls (Comparative Criminology, S. 657—8) mag derartige Züge aufweisen. Das alles aber berechtigt uns nicht, die Existenz der Kategorie „Berufsverbrecher" selbst anzuzweifeln, mag es auch für unser Verständnis des Typs und für die Frage der Behandlung des einzelnen entscheidend sein. Baan verwirft die meisten der gebräuchlichen Erklärungen des Rückfallphänomens und läßt außer den bereits erwähnten Charakterzügen nur die folgenden gelten: zwangsmäßige Wiederholung, das „Schablonenhafte" des Verhaltens und vor allem die unheilvollen Folgen der in allen Stadien der Behandlung gemachten Fehler, ein Gesichtspunkt auf den noch zurückzukommen sein wird. In ähnlicher Weise verwirft Glover (The Roots of Crime, 1960, S. 327—38) vom Standpunkt des Psycho-Analytikers aus mit einer einzigen Ausnahme die traditionellen Erklärungen des Rückfalls. Allerdings beschränkt er sich zunächst auf Fälle des pathologischen Verbrechens. Hier könne die Tatsache einer Wiederholung des Verbrechens nach Strafverbüßung in keiner Weise als ein Verschulden des Täters und als ein Beweis für das Versagen der getroffenen punitiven, psychiatrischen oder sonstigen Maßnahmen angesehen werden, sondern nur als eine wesentliche Etappe des natürlichen Gesamtverlaufs einer Krankheit (S. 334). Die Ausnahme gelte für episodische Krankheitsformen; hier könne man in der Tat von „Rückfällen" sprechen. Im Verlauf seiner Erörterung dehnt Glover aber seine Kritik des Rückfallbegriffs weit über den Rahmen des pathologischen Verbrechens, innerhalb dessen man ihm beipflichten könnte, auf das Verbrechen als solches aus. Seine Begründung ist die oft von Psychiatern gebrauchte, daß die sorgfältige (kli-

nische) Untersuchung von Rückfalltätern noch in den Kinderschuhen stecke und daß man den Bereich des pathologischen Verbrechens daher nicht mit Sicherheit statistisch abgrenzen könne. Auch hier ist wohl Richtiges mit Falschem vermengt. Es trifft zu, daß man mit der psychiatrischen Untersuchung von Rückfälligen, insbesondere Erwachsenen, oft noch zu sparsam ist, obgleich hier seit dem 2. Weltkriege in mehreren Ländern quantitativ und wohl auch qualitativ erhebliche Fortschritte gemacht worden sind. Um nur einige englische Zahlen zu geben: Im Jahre 1963 wurden 7881 Personen auf gerichtliche Anordnung in den Gefängnissen auf ihren Geisteszustand untersucht, und in weiteren 557 Fällen erstatteten die Gefängnisärzte aus eigenem Antriebe psychiatrische Gutachten (Prisons and Borstals 1963, S. 57). Wie der leitende Psychologe des Untersuchungsgefängnisses Brixton in London berichtet, waren 6 5 % der dort Untersuchten Rückfällige (Paul de Berker, „State of Mind" Reports, BritJournCrim. Bd. 1 Nr. 1, Juli 1960, S. 6). Man könnte zwar argumentieren, daß die psychiatrische Untersuchung von etwa 8—9000 Gefangenen bzw. Angeklagten wahrscheinlich nur einen sehr kleinen Bruchteil derer darstelle, die eine solche Untersuchung nötig hätten; es ist aber doch wohl zu vermuten, daß wenigstens die schwersten Fälle der pathologischen Rückfälligen im Sinne Glovers untersucht werden. Allerdings litten mindestens 1 / 3 von Wests Gruppe von 50 Preventive Detention Gefangenen (siehe oben B, Sonderfragen) an einer ernstlichen Geisteskrankheit oder waren jedenfalls noch nicht völlig wiederhergestellt (S. 52), so daß sie wohl nicht zu einer solchen Strafe hätten verurteilt werden sollen. Die Zahl der Neurotiker, Psychopathen und „inadequate Personalities" war, wie immer, erheblich größer als die der eigentlichen Geisteskranken (S. 22—3). Sicherlich würde eine umfassendere und gründlichere psychiatrische Untersuchung der Rückfälligen ergeben, daß unter ihnen der Prozentsatz der geistig Abnormen (im weiteren Sinne) noch erheblich größer ist, als man es bisher im allgemeinen annimmt. Das bedeutet freilich nicht unbedingt, daß man von allen unter diesen Begriff Fallenden ohne weiteres annehmen kann, daß sie ihre Straftaten unter dem Einfluß ihrer geistigen Störung begangen haben müssen (siehe ζ. B. West, S. 22—3). Es bedeutet auch nicht ohne weiteres, wie beiläufig erwähnt sei, daß sie im Rechtssinne unzurechnungsfähig oder auch nur erheblich vermindert zurechnungsfähig waren (StGB § 5 1 1 und I I oder die entsprechenden Vorschriften anderer Rechtssysteme; siehe den kritischen rechtsvergleichenden Überblick in meinem Vortrag auf dem IV. Internationalen Kriminologischen Iiongreß im Haag 1960, Proceedings, S. 465—81, ebenfalls abgedruckt im BritJournCrim. Bd. 1 [1961] S. 203—20). Wir sind an dieser

Rückfall und Prognose Stelle zwar nicht mit der strafrechtlichen Bedeutung der geistigen Störungen, sondern mit ihrer Eigenschaft als mögliche Verbrechensursachen beschäftigt. Es ist aber anzunehmen, daß diese beiden Faktoren: das bessere Verständnis der modernen Psychiatrie für die verschiedenen Arten der geistigen Störungen, einschließlich der Psychopathien, und die größere Bereitwilligkeit der Gesetzgeber und Richter, sie als mögliche Verbrechensursachen anzuerkennen, derartigen Störungen eine erheblich wichtigere Rolle im Katalog der Rückfallsursachen sichern, als es früher der Fall war. Es vollzieht sich hier eine allmähliche Annäherung in der kriminologischen Auffassung von geistiger Abnormität und Rückfallsneigung, die es nicht verwunderlich erscheinen läßt, daß ζ. B. Cornil in einer seiner letzten Erörterungen der belgischen Gesetzgebung von 1930 mit ihrer verschiedenen Behandlung dieser beiden Kategorien von einer wachsenden Tendenz spricht, „to envisage both groups of offenders as belonging to the same larger category" (Acta Criminologiae et Medicinae Legalis Japonica, Bd. 30,1964, S. 1). Wehren müssen wir uns nur gegen Verallgemeinerungen, die keinerlei Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen mehr anerkennen wollen. Das Verhalten des Rückfälligen und insbesondere des Berufsverbrechers erfordert ein tiefergehenderes psychologisches und soziologisches Verständnis, als es ihnen in der Vergangenheit oft zuteil geworden ist, aber zuweitgehende Ansprüche seitens einiger Psychiater sind abzulehnen. „Robert Allerton" läßt es an beißender Verspottung der sich um ihn vergeblich bemühenden GefängnisPsychiater und -Psychologen nicht fehlen (The Courage of his Convictions, S. 123 und 139); vielleicht hätte er sie weniger entschieden abgelehnt, wenn sie nicht darauf bestanden hätten, ihn nach ihren üblichen, für Berufsverbrecher seines Kalibers ungeeigneten Schablonen zu behandeln. Möglicherweise ist hierin in den letzten 10 oder 20 Jahren eine Besserung eingetreten. In diesem Zusammenhang verdient eine neuere Untersuchung des Kriminologischen Instituts der Universität Groningen Erwähnung, in der 2 Gruppen von Rückfälligen im dortigen Gefängnis eingehend miteinander verglichen wurden: 16 von ihnen waren als Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher mit Gefängnis bestraft (Gruppe I), während die anderen 16 wegen pathologischer Züge vom Gericht „der Regierung zur Verfügung gestellt" worden waren (Gruppe I I ; §§ 37, 37a und b des Holländischen StGB) und in einem besonderen hospital-ähnlichen Flügel des Gefängnisses lebten. Die Durchschnittszahl der Vorstrafen war für beide Gruppen 13. Der Zweck der Untersuchung war festzustellen, ob die zwischen den beiden Gruppen bestehenden Unterschiede ihre verschiedene Behandlung rechtfertigten (siehe van Rooy in Excerpta Crim., Bd.3 N r . l , 1963, S . l l , und

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eingehender v. d. Walt, BritJournCrim., Bd. I I I [1963] S. 283). Das Ergebnis zeigte trotz mancher Ähnlichkeiten in der Tat deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen: Gruppe II h a t t e ζ. B. weniger Straftaten begangen, die auf den Druck äußerer Lebensverhältnisse zurückzuführen waren; sie waren im Sinne des bekannten RosenzweigTests mehr „intra-punitive" als „extra-punitive", d. h. mehr geneigt, sich selbst die Schuld an ihrem Unglück zu geben, anstatt andere oder die Gesellschaft zu tadeln; und sie waren in neurologischpsychiatrischer Hinsicht mehr „deficient", und ihre Straftaten schienen mehr anormal als die der Gruppe I. Der Bericht zieht die Schlußfolgerung, daß, wenn man sich auch der Auffassung des an der Untersuchung beteiligten Psychiaters anschließen wolle, der geistige Störungen in beiden Gruppen feststellte, diese Störungen doch jedenfalls zum mindesten quantitativ verschieden, d. h. in Gruppe II ernster waren als in Gruppe I. Auch hatten andere psychiatrische Gutachten das Vorhandensein jeder Art von geistiger Abnormität in mehreren Fällen der Gruppe I und sogar in einigen Fällen der Gruppe II verneint, d. h. also die Existenz von geistig normalen Berufs- oder Gewohnheitsverbrechern bejaht. Wenn wir von dieser Sonderfrage des Vorhandenseins einer Kategorie geistig normaler Berufsoder Gewohnheitsverbrecher absehen, so ist jedoch der starke Einfluß geistiger Anormalitäten auf die Aussichten einer Rückfälligkeit nicht zu bestreiten. In einer der Glueckschen „follow-up" Studien, „Later Criminal Careers" (1937, S. 92, 125ff.) wird ζ. B. gezeigt, daß innerhalb ihrer ursprünglichen Gruppe von über 500 jüngeren Insassen des Massachusetts Reformatory, deren Schicksale über eine Periode von insgesamt 10 Jahren weiter verfolgt worden waren, bei 9 / 10 aller Rückfälligen die Ursachen in einer wesentlichen Abnormität der Persönlichkeit zu finden waren. Von den normalen Tätern waren 21,1%, von den anormalen 92% rückfällig geworden. Hierbei wird jedoch zwischen den verschiedenen Arten der Abnormität nicht unterschieden und der Begriff so weit gefaßt, daß er ζ. B. jede Art von „great emotional instability" umfaßt. Andererseits spielte Schwachsinn keine erhebliche Rolle (das wird auch von Hellmer auf Grund seines Materials bestätigt, vgl. Gewohnheitsverbrechertypen, MschrKrim. Bd. 43 [1960] S. 143; ebenso Frey 1951b S. 111). Diese Autoren betonen, daß bei den anormalen Tätern auch abgesehen von ihrer hohen Rückfallsrate viele sonstige ungünstige Faktoren festgestellt wurden, die bei den anderen erheblich seltener zu finden waren. Wie auch in ähnlichen Fällen sind die Gluecks hier mit der Behauptung eines kausalen Verhältnisses zwischen Abnormität und Rückfall recht vorsichtig und ziehen die bloße Feststellung einer statistischen Korrelation vor. Hinsichtlich des Grades der statistischen Zu-

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sammenhänge zwischen den einzelnen Arten der Abnormität und der Rückfälligkeit gilt im wesentlichen wohl das gleiche wie für Ersttäter, mit folgenden Ausnahmen: Wo eine schwere Psychose ein ernstes Verbrechen nach sich zieht, ist die Wiederholungsgefahr im allgemeinen gering, da der Täter in den meisten Fällen durch Internielung unschädlich gemacht werden wird. Andererseits liegt eine Wiederholungsgefahr im Wesen der Psychopathie, obwohl auch bei ihr die Möglichkeit einer Besserung mit zunehmendem Alter neuerdings von psychiatrischer Seite günstiger beurteilt wird als früher. Man muß jedenfalls der Versuchung widerstehen, aus der Tatsache wiederholter Verbrechensbegehung ohne weiteres auf das Vorliegen einer psychopathischen Veranlagung zu schließen, und umgekehrt. Auch Würtenberger hat sich in seiner Übersicht über die Ursachen der Rückfälligkeit entschieden dagegen gewendet, den Psychopathen mit dem Hangverbrecher gleichzusetzen, und Freys in diese Richtung gehende Ausführungen sind überwiegend abgelehnt worden. Die im dänischen Strafvollzug mit Psychopathen gemachten Erfahrungen sind ebenfalls nicht allzu ungünstig (vgl. ζ. B. Widmer, MschrKrim. Bd. 46 [1963] S. 156). c) Unter den normal-psychologischen Erklärungsversuchen der Rückfallsursachen ist die Eysencksche, auf die Lehren Pavlovs zurückgehende Theorie des „conditioning" in letzter Zeit wohl am häufigsten erörtert worden. Sie geht in Kürze davon aus, daß Verbrecher meistens extravertierte Persönlichkeiten sind und daß solche Persönlichkeiten nur sehr schwer „conditioned", d. h. umgemodelt werden können. Der Rückfällige ist daher in der Regel ein Mensch, der nicht umlernen kann; er hat sich daran gewöhnt, antisozial zu handeln, und muß dabei bleiben. Eysenck und seine zahlreichen Anhänger behaupten, die beiden Teile dieser Hypothese durch Experimente bewiesen zu haben. Psychopathische und hysterische Persönlichkeiten sind nach dieser Theorie extravertiert, lernen nur schwer durch Erfahrung und sind daher zum Rückfall geneigt, während Neurotiker introvertiert, leicht beeinflußbar und eher erziehbar sind. Andererseits gibt es aber auch „dysthymics" und introvertierte Persönlichkeiten, die, wenn sie in einer verbrecherischen Umwelt leben, deren Einflüsse nicht abschütteln können. Einer der Mitarbeiter Eysencks, Franks, hat dessen Theorie daher dahin verfeinert, daß es 2 Arten der Rückfälligen gebe: erstens die Gruppe der Introvertierten, die nur infolge ihrer ungünstigen Umwelt kriminell geworden sind, niemals geeigneten Reformmaßnahmen unterworfen worden sind, aber günstig auf sie reagieren würden, und zweitens die Gruppe der extravertierten Psychopathen, die aus konstitutionellen Ursachen schwerer umlernen, sogar wenn sie unter günstigen Umwelteinflüssen leben, und daher auf Erzie-

hungsversuche oder Psychotherapie nicht reagieren. Alan Little hat diese Hypothesen vor kurzem an einigen Gruppen von Borstal Insassen nachgeprüft, aber keinerlei positive Korrelationen zwischen der Intensität der Extraversion und der Rückfallswahrscheinlichkeit (berechnet nach den Mannheim-Wilkinsschen Tabellen) gefunden. Die Frage muß daher einstweilen als offen bezeichnet werden. Ebenfalls von psychologischer Seite hat Gordon Trasler kürzlich darauf hingewiesen, daß die Dauer der Periode, in der Kinder den erzieherischen Einflüssen ihrer Eltern unterworfen sind, von entscheidender Bedeutung für ihre spätere Sozialisierung sei. Da diese Periode bei den ärmeren Volksschichten viel kürzer sei als bei den wohlhabenden, bestehe bei den ersteren die Gefahr einer zu frühzeitigen Abhängigkeit von Gruppen ihrer Altersgenossen, die zu einer dauernden antisozialen Haltung führen könne (G. Trasler in Sociological Studies in the British Penal Services, herausgegeben von Paul Haimos, 1965). d) Soweit die sozialen Rückfallsursachen nicht mit den entsprechenden Verbrechensursachen identisch sind und auch nicht mit der Tatsache des Älterwerdens zusammenhängen, sind sie aufs engste mit den Folgen der Verurteilung und Strafverbüßung verknüpft. Nicht nur derjenige, der „einmal aus dem Blechnapf gefressen hat", sondern in schwächerem Maße auch ein jeder, der einmal gerichtlich bestraft worden ist, ist damit sozialpsychologisch ein anderer Mensch geworden. Sein „Selbstbild" ist beschädigt; es ist im Werte gefallen und kann ihn nicht mehr von weiteren Straftaten zurückhalten. Das ist einer der wesentlichsten Gesichtspunkte in der von Reckless vertretenen sog. Halttheorie (siehe ζ. B. MschrKrim. Bd. 44 [1961] S. 8) und in der amerikanischen Soziologie des Verbrechens (ζ. Β. M. Clinard, Sociology of deviant Behavior, 1957, S. 38; J . Toby, Criminal Motivation, BritJournCrim., Bd. 2 [1962] S. 332). Die Erfahrungen im Strafvollzug und nach der Entlassung verschlimmern diese ersten Eindrücke immer weiter. Fr. Panse (MschrKrim. Bd. 39 [1956] S. 6) zitiert zustimmend H. Mayers Verdikt: „Die Rückfallstatistiken legen den Schluß nahe, daß der Durchschnitt der Sträflinge in der Haft verschlechtert wird". Und es sind nicht nur die Statistiken, sondern auch die Kenntnis einzelner Lebensschicksale, die diesen Schluß unvermeidlich machen. In den Strafanstalten sind es wohl regelmäßig nicht die besseren, sondern die schlechteren Elemente, die den Ton angeben, und kein Klassifizierungssystem kann die Ansteckungsgefahr beseitigen. In der Entlassenenfürsorge sind trotz aller wohlgemeinten Anstrengungen die Lücken immer noch deutlicher sichtbar als das Gewebe der positiven Hilfe. Kleine und oft entschuldbare Versehen und Unterlassungen können hier tragische Folgen haben. Um wieder auf „Charlie Smith" zurückzukommen:

Rückfall und Prognose Der Beamte der Entlassungsfürsorge im Gefängnis von Chelmsford hatte ihm auf seine Bitte einen Freifahrtschein nach Newcastle im Norden Englands versprochen, wo seine Schwester wohnte, bei der er unterzukommen hoffte. Am Entlassungstage erhielt er aber nur einen Fahrschein nach London, und seine vergeblichen Versuche, sich das Geld für die Reise nach Newcastle zunächst auf legale Weise zu beschaffen, führten schließlich zu dem törichten Diebstahl eines Postsacks, bei dem er auf frischer Tat arretiert wurde. Ergebnis: 10 Jahre „Preventive Detention", die aber im Berufungswege aufgehoben wurden, als dem Berufungsgericht die ganze Geschichte seiner Erlebnisse nach der Entlassung vorgetragen wurde. Auf seine erste Verurteilung zu „Preventive Detention" für den Diebstahl von einem Paar Handschuhen hatte er mit den klassischen Worten reagiert: „If that is the way you want it, that's all right with me". E. Typologie Da die gegenwärtige Auflage einen besonderen Artikel Typenlehre enthält, können wir uns hier sehr kurz fassen und uns auf einige Bemerkungen über die besondere Typologie des Rückfälligen beschränken. Hinweise auf die Literatur, insbesondere die deutsche und anglo-amerikanische, sind in meiner „Comparative Criminology" (Kap. 8, S. 161—73 und 383ff.) zu finden; neuestens ist noch zu erwähnen S. und E. Glueck, Varieties of Delinquent Types, BritJournCrim. Bd. 5 (1965). Ob die folgenden Bemerkungen ihren Platz besser in dem Abschnitt über beschreibende Methoden gefunden hätten, kann wohl kaum eindeutig entschieden werden. Typenbildungen können sowohl nach kausalen als auch nach deskriptiv-phänomenologischen Gesichtspunkten erfolgen. Im Schrifttum stechen unter den Typen der Rückfälligen, wie bereits früher bemerkt, zwei Extreme so stark hervor, daß Zwischenbildungen oft ignoriert werden, nämlich: der willensschwache, haltlose, inadäquate Asoziale und der willensstarke Antisoziale. Hier wie überall sind indessen die Mischtypen wohl viel zahlreicher als die Extreme, und sogar innerhalb der letzteren selbst gibt es verschiedene Spielarten. Nur zwei Beispiele seien hierfür gegeben: Wie der englische Gefängnispsychologe Paul de Berker berichtet, ergab eine Rundfrage unter seinen Kollegen, daß — obwohl sie sich der Kategorie „inadäquate Persönlichkeit" häufig bedienten — viele von ihnen die Existenz eines solchen Typus bezweifelten, der eher ein moralisches Urteil als eine Diagnose darstelle. Das Wesen dieses Typus liege in einem Versagen in der Erfüllung sozialer Verpflichtungen, aber man müsse sich davor hüten, den Inhalt dieser Verpflichtungen zu ausschließlich von dem Standpunkt der Mittelklasse zu umschreiben. Das

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Normensystem, dessen Anforderungen der inadäquate Rechtsbrecher nicht gerecht zu werden vermöge, könne sowohl das der Zigeuner als auch das der Bankiers sein. Das Wesentliche dieses Typus sei der Mangel an Energie und Zielbewußtsein, aber der Begriff sei so weit gefaßt, daß er sowohl solche Individuen, die mehr aktiv und aggressiv versagten, als auch die rein passiv dahin vegetierenden umfasse. T. Grygier hat kürzlich an einer kanadischen Gruppe von chronischen Delinquenten dieser Art gezeigt, daß — obwohl Rauschgift-Täter ausgeschlossen waren — Trunksucht unter ihnen eine Hauptrolle spielte und soziale Isolierung und Unzulänglichkeit die wesentlichen Faktoren bildeten (Journal of Research in Crime and Delinquency, Bd. 1 [1964] S. 155 bis 170). Merfyn Turner, weithin bekannt als der Gründer der „Norman Houses" für entlassene Gefangene, hat die Geschichte des in der 1. Instanz zu 12 Jahren „Preventive Detention" verurteilten „Thomas William Kenny" erzählt, den das Gericht als eine „Gefahr für die Gesellschaft" bezeichnet hatte (A pretty Sort of Prison, 1964). Das Berufungsgericht wandelte seine Strafe in „Probation" um, und der Vorsitzende bemerkte, Kenny sei sogar unfähig, eine Straftat erfolgreich auszuführen. Tatsächlich war das auch gar nicht seine Absicht, er wollte mit Hilfe seiner kleinen Diebstähle nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken, was ihm infolge seiner Unzulänglichkeit auf andere Weise nicht gelang. Das zweite Beispiel für die Existenz von Mischtypen bezieht sich auf den antisozialen Berufsverbrecher. Hier können wir ζ. B. den völlig geschäftsmäßigen, nüchternen Typus, der das Verbrechen wie jedes andere Geschäft betreibt und von Gemütsbewegungen und politischen oder sozialen Erwägungen und Prinzipien gänzlich unberührt ist — etwa Sutherlands „Chic Conwell" — von dem Rebellentyp unterscheiden, der sich gegen die wirkliche oder vermeintliche Ungerechtigkeit der menschlichen Gesellschaft und der staatlichen Organe auflehnt. Der mehrfach erwähnte „Robert Allerton" kann als Beispiel dafür gelten (vgl. Comparative Criminology, S. 455—6). Während sein Vater noch an die Möglichkeit einer sich langsam durchsetzenden sozialen Evolution im Interesse der arbeitenden Klassen glaubte, weigerte der Sohn sich, hieran zu glauben und „200 Jahre lang auf den Tag zu warten, wenn jedem Gerechtigkeit zuteil werden würde". Daher zog er das Leben des sozialen Rebellen und Berufsverbrechers vor. Wenn Friedrich Engels i. J . 1844 geschrieben hatte (Die Lage der arbeitenden Klassen in England; vgl. auch mein Criminal Justice and Social Reconstruction, 1946, S. 107), die Arbeiterschaft habe eingesehen, daß das Verbrechen als eine rein individuelle Reaktion gegen die bestehende Wirtschaftsordnung zwecklos sei, so galt das ein Jahrhundert später zwar noch für die Massen, aber nicht für Einspänner

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wie „Allerton" mit seiner höchst-persönlichen, aktiv-revolutionären Philosophie. Als „Überzeugungsverbrecher" (siehe e t w a die 1. Aufl. Bd. I S. 203 und 912; Liszt-Schmidt, Lehrb. des deutschen Strafrechts, § 40 Note 11; Seelig, Kriminologie, S. 108; Erik Wolf, Verbrechen aus Überzeugung, 1927; Karl Peters, Grundprobleme der Kriminalpädagogik, 1960, S. 304) wird „Allerton" sicherlich nicht gelten können, da ihm sein eigenes Wohlergehen mehr a m Herzen l a g als die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, und außerhalb des rein politischen u n d religiösen Gebiets gibt es wohl auch nur sehr wenige unter diesen Typ fallende Berufsverbrecher, aber der Gegensatz zwischen ihm und dem ausschließlich aus Gewinnsucht Handelnden ist doch unverkennbar. In seinem außerordentlich aufschlußreichen Aufsatz „Probleme der Behandlung Rückfälliger in der S t r a f a n s t a l t " (ZStW Bd. 68 [1956] S. 198 bis 212) h a t Albert Krebs versucht, eine Typologie Rückfälliger vom S t a n d p u n k t ihres Verhaltens in der S t r a f a n s t a l t auszuarbeiten. Hierauf wird unten noch zurückzukommen sein. F. Die pönologlsche Sonderbehandlung der Rückfälligen Um der theoretischen F r a g e der Behandlung Rückfälliger auch nur einigermaßen gerecht zu werden, müßte m a n nicht nur ein Lehrbuch der Pönologie schreiben, sondern auch einen Abriß der Strafzumessungslehre u n d der Psychologie des Strafrichters und der Öffentlichkeit mit ihren Organen wie Presse, R u n d f u n k , usw. verfassen (-»• Psychologie des Verbrechens). Hier können auch die wesentlichsten P u n k t e nur angedeutet werden. Die besonderen Probleme des Strafvollzugs an Rückfälligen sind i m wesentlichen die folgenden: Der Rückfällige genießt seltener als der Ersttäter die Vergünstigung einer Strafaussetzung auf Bewährung oder einer Geldstrafe und erhält gewöhnlich längere Freiheitsstrafen. Hierdurch wird er oft von vornherein verbittert, und seine Empfänglichkeit f ü r konstruktive erzieherische Maßnahmen i m Strafvollzug ist stark beeinträchtigt. Polizei, Richter und Strafvollzugsbeamte sind leichter geneigt, ihn mit skeptischen Vorbehalten zu begrüßen und häufig sogar ganz offenkundig als „unerziehbar" und „unverbesserlich" anzusprechen. Hierdurch wird sein „Selbstbild", seine Selbstachtung noch weiter beeinträchtigt. Er ist mit den technischen Einzelheiten, dem äußeren „ B e t r i e b " des Strafvollzuges, schon allzusehr v e r t r a u t und n i m m t weder sie noch die mit ihm vorgenommenen Besserungsversuche ernst. J e öfter er in die S t r a f a n s t a l t zurückkehrt und je länger seine Strafen werden, desto mehr verliert er die Fühlung mit der Welt außerhalb, und desto gründlicher wird er „veranstaltlicht". Die Gefahr der „institutionalization" und „priso-

n i z a t i o n " der Gefangenen, insbesondere der langfristigen und immer wiederkehrenden, wird vor allem in der neueren anglo-amerikanischen Liter a t u r sehr stark betont. Hier sei nur auf die Nachkriegs-Arbeiten von Donald Clemmer, Gresham M. S y k e s u n d Donald R. Cressey in den Vereinigten S t a a t e n und von Terence und Pauline Morris und Merfyn Turner in England verwiesen ( - y Gefängnispsychologie und -Soziologie). In ihrer eingehenden Untersuchung der Zustände in Pentonville, einem der Londoner Gefängnisse für Rückfällige, haben T. und P. Morris versucht, eine Typologie der „Prisonization" auszuarbeiten unter Zugrundelegung der Formen der soziologischen Anpassungsmöglichkeiten, die der amerikanische Soziologe Robert K. Merton in seinem bedeutenden Buch „Social Theory and Social S t r u c t u r e " (neue verbesserte Aufl. 1957) unterschieden h a t : Conformity — Innovation — R i t u alism — R e t r e a t i s m — Rebellion — Manipulation (vgl. Pentonville, 1963, Kap. VII, bes. S. 169ff.). Auf Grund ihrer mehrjährigen täglichen Beobachtungen in Pentonville k a m e n diese Autoren zu folgenden Ergebnissen mit Bezug auf die Frage der „Prisonization" der 1200 Gefangenen: Diese Rückfälligen waren ausnahmslos „prisonized", d. h. in einer pathologischen, ungesunden Weise an das Gefängnisleben angepaßt. Obgleich diese Anpassung i m wesentlichen negativ wirkt, d. h. eine Erosion, eine Aushöhlung, ein Wegfressen der ursprünglichen Persönlichkeit darstellt, h a t sie auch gewisse positive — allerdings ebenso unerwünschte — Züge, indem sie i m Gefängnis einen T y p des Führers hochkommen läßt, der die antisoziale ,,sub-culture" der Anstalt personifiziert und einen viel stärkeren Einfluß auf die anderen Gefangenen ausübt, als es der Beamtenschaft und den Sozialarbeitern möglich ist (S. 170 u. 240—52). Trotz dieser ausnahmslosen „Prisonization" ist aber ihr Ausmaß, wie diese Autoren betonen, nicht durchweg gleichmäßig s t a r k ; sie weisen ferner auf neuere Erfahrungen in den Vereinigten S t a a t e n hin, wonach die Einstellung der Gefangenen i m Laufe ihrer Strafzeit deutliche Wandlungen zeigt, d. h. die meisten weisen eine besonders antisoziale Einstellung in der Mitte der Strafdauer auf, der eine günstigere Haltung vorangeht und nachfolgt (Morris, S. 182). Auch Glaser neigt dazu, seine Theorie des zyklischen Verhaltens Rückfälliger auch auf ihre Haltung während der Strafverbüßung zu übertragen. Sollte aber diese angebliche Besserung gegen Ende der Strafzeit nicht oft nur vorgetäuscht sein, u m sich dadurch eine frühere Entlassung und ein besseres „Abschiedszeugnis" zu sichern? Die Äußerungen Rückfälliger über ihre Eindrücke während der Strafverbiißung u n d nach der Entlassung sind in der Regel nicht ermutigend. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß es sich hier eben u m die Versager h a n d e l t ; die Erfolgreichen schweigen gewöhnlich. Immer-

Rückfall und Prognose hin sind z.B. die von Walter Luz vor nunmehr 40 Jahren veröffentlichten Urteile von Gefangenen über die „Ursachen der Rückfälligkeit" noch heute lesenswert (W. Luz, Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens im Urteil des Verbrechers, 1928, S. 192ff.). Albert Krebs hat auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen im Strafvollzug einen ausgezeichneten Überblick über die verschiedenen Reaktionsarten Rückfälliger in der Strafanstalt gegeben. Er unterscheidet unter ihnen fünf Gruppen, von denen die meisten „für eine Behandlung nur sehr schwer zugänglich sind" oder nach der Entlassung mitunter sehr bald versagen, wenn sie den harten Lebensbedingungen in der Freiheit wieder ausgesetzt sind. Andererseits bejaht Krebs aber die Existenz einer Gruppe, die ihre Rückfallsneigungen völlig überwinden kann, und die oben unter Β zitierten Statistiken beweisen j a zur Genüge, daß es zu jeder Zeit und in jedem Lande viele Rückfällige gibt, die ihre kriminelle Laufbahn früher oder später — vielfach natürlich nur infolge ihres Älterwerdens, ihrer „Maturation" im Sinne der Gluecks — aufgeben. Trotzdem ist der Grundton des Krebsschen Aufsatzes begreiflicherweise pessimistisch: Die Träger des Strafvollzugs müßten sich darüber im klaren sein, daß die Möglichkeiten der Strafanstalt eng begrenzt seien; denn „das Gefängnis ist nur ein künstliches Gebilde und selbst ein kriminogener Faktor". Solange ferner an dem bestimmten Strafmaß festgehalten werde, könne man von den Rückfälligen nicht mehr als eine rein äußerliche Einordnung in den Strafvollzug erwarten. Die relativ unbestimmte Strafe mit entsprechenden Rechtsgarantien sei daher unerläßlich, verbunden mit modernen medizinisch-diagnostischen Untersuchungsmöglichkeiten und einer mehr individuellmenschlichen Einstellung der Organe der Strafrechtspflege. Welche äußerst schwerwiegenden Fehler auch heute noch auf diesem Gebiete gemacht werden, ist bereits oben wiederholt, ζ. B . an den Fällen von „Charlie" und „Kenny", gezeigt worden. Der Verfasser kann nicht umhin, auch an dieser Stelle wieder C. J . A. Mittermaiers Bemerkung § 132 a in der 14. Ausgabe von Feuerbachs Lehrbuch des Peinlichen Rechts (1847) zu zitieren: „Nicht selten ist es nach der Art unserer Gefängnisse, unseres Strafsystems und unserer Zustände überhaupt der Staat selbst, der die Schuld trägt, daß Jemand rückfällig wird . . . " . Vieles hat sich in den seither vergangenen 120 Jahren erheblich gebessert, aber, soweit es die Rechtspflege und den Strafvollzug betrifft, doch nicht durchweg genug, um die Erinnerung an diese Worte gänzlich überflüssig zu machen. Der Krebssche Aufsatz war für den Londoner Kongreß 1955 geschrieben. Auf dem gleichen Kongreß erstattete ein französischer Sachverständiger, der inzwischen verstorbene damalige Direktor des

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französischen Gefängniswesens, Charles Germain, Verfasser der eingehenden Darstellung „Le Traitement des Recidivistes en France" (1953), eines der beiden Generalreferate zum Thema der Behandlung Rückfälliger im Strafvollzug. Sein Urteil war noch pessimistischer als das von Krebs: Man müsse sich damit abfinden, daß das Gesetz allein die Probleme der Behandlung nicht lösen könne. Auf dem Gebiet des praktischen Strafvollzuges aber hätte man — so meinte er — erwarten können, die Initiative, die Erfahrungen, die Reformen zu finden, die einen fundamentalen Gegensatz herausarbeiten würden zwischen der Behandlung Rückfälliger und anderer Rechtsbrecher. In dieser Erwartung habe man sich getäuscht (Summary of Proceedings, 1957, S. 182—3). Seitdem ist nun wieder mehr als ein Jahrzehnt verstrichen. — Hat sich inzwischen eine grundlegende Besserung angebahnt? Der bereits oben (A) erwähnte Schritt, in England die Einrichtung der „Preventive Detention" abzuschaffen, deutet nicht auf eine solche Besserung und ist vielmehr als ein Symptom völliger Ratlosigkeit anzusehen. Und was soll an die Stelle dieser Einrichtung gesetzt werden? Immer längere Gefängnisstrafen, die ganz gewiß keine Lösung darstellen? Die Erfahrungen, die der englische Strafvollzug mit den zu 25 oder 30 Jahren Gefängnis verurteilten Eisenbahnräubern (oben A) bereits in den allerersten Jahren ihrer Strafzeit gemacht hat, sind nicht ermutigend; einige von ihnen sind entkommen, andere haben durch Hungerstreiks gegen ihre völlige Isolierung und rein negative Behandlung protestiert. Wenn sie auch keineswegs das ihnen von sentimentalen Laien und Teilen der Presse entgegengebrachte Mitleid verdienen, so bedürfen doch die durch derartig überlange Strafen aufgeworfenen Probleme einer sehr ernsthaften Prüfung (auch in der Deutschen Bundesrepublik werden im Jahresdurchschnitt etwa 300 Personen zu Strafen von 5 bis 15 Jahren und etwa 50 zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt). Die Erfordernisse einer absolut ausbruchssicheren Überwachung bei Tag und Nacht lassen sich eben kaum mit denen eines modernen humanitären \rollzugs vereinigen. Sir Alexander Patersons bekannter Ausspruch „ I t requires a superman to survive 20 years of imprisonment with character and soul i n t a c t . . . I gravely doubt whether an average man can serve more than ten continuous years in prison without deterioration" ist in den letzten 35 Jahren oft genug zitiert, aber nur selten beachtet worden. Nathan Leopold („Life plus ninety-nine Years", 1958) war eine der wenigen Ausnahmen, aber er war eben kein Durchschnittsmensch und kein Durchschnittsverbrecher und überdies kein Rückfälliger. In der Nachkriegszeit sind die Probleme der langen Freiheitsstrafen wiederholt untersucht worden, so ζ. B. von A. Ohm, Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug, 1964, (Kap. I I I )

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in Deutschland und von R. Rijksen u. a. in Holland (De lange Gevangenisstraf, 1957). Ohm glaubt den Beginn des völligen seelischen und körperlichen Zusammenbruchs nach etwa 15 bis 20jähriger Strafzeit erwarten zu müssen. Wilhelm Mollenhauer (MschrKrim. Bd. 44, [1961] S. 162) ist im ganzen etwas optimistischer, aber er hat es nicht mit rückfälligen Erwachsenen, sondern mit jugendlichen Ersttätern zu tun, die eine besonders schwere Straftat begangen hatten und deren Lage daher psychologisch anders zu beurteilen war. Auf Grund tiefenpsychologischer Untersuchungen in der Männerstrafanstalt Graz kommt Erich Pakesch zu dem Ergebnis, daß die von ihm Untersuchten in ihrer „Tiefenperson" auch nach 4 oder 5 Jahren Strafhaft im wesentlichen unverändert geblieben seien und daß „die Möglichkeit, einen asozialen Gewaltverbrecher durch eine langjährige Kerkerstrafe zu einem anpassungsfähigen Menschen erziehen zu können, nicht gegeben zu sein scheint" (MschrKrim. Bd. 44 [1961] S. 83). Welches Persönlichkeitsbild sich nach 10 oder 15 jähriger Strafzeit ergeben hätte, konnte Pakesch auf Grund seines Materials nicht feststellen. Die von Krebs mit Recht empfohlenen Übergangshäuser — er erwähnt das hessische „FliednerHaus", aber das von ihm inspirierte „Gustav Radbruch Haus" bei Frankfurt ist ebenfalls erwähnenswert — und die in England eingerichteten 16 staatlichen „Hostels" für Männer und Frauen mit langen Freiheitsstrafen (siehe hierüber ζ. B. den Jahresbericht der Commissioners of Prisons für 1962, S. 20—22) sowie die privaten „NormanHouses" und „Langley-Houses" sind außerordentlich zu begrüßen, aber einstweilen nur für verhältnismäßig wenige verfügbar und auch nicht für alle langfristigen Gefangenen geeignet und erfolgreich. Der Jahresbericht „Prison and Borstal After-Care" der englischen Central After-Care Association für 1961 berichtet, daß die Erfolgszahlen der „Preventive Detention" Gefangenen, die vor ihrer Entlassung in Hostels untergebracht worden waren, kein eindeutiges Bild gäben (S. 10; ebenso Hammond und Chaven, Persistent Criminals, 1963, S. 92 und 190—1) und folgert hieraus: „This may well imply that the underlying causes of breakdown are deeper and more acute than can be counteracted by material provision on release and that the hostelscheme ...has little lasting effect on men who basically have become emotionally unable to survive outside the institutional supports" (S. 10). Sehr lange Strafen für Rückfällige können — wenn überhaupt — nur auf zweifache Weise einigermaßen erträglich gemacht werden: erstens durch ein bis aufs letzte durchdachtes und durchgearbeitetes Zusammenwirken des verurteilenden Gerichts und der die spätere Entwicklung in geeigneten Zwischenräumen in persönlicher Fühlung mit dem Verurteilten und den Gefängnis-

behörden nachprüfenden Stelle, mag sie ein Gericht oder ein „Board of Parole" sein. Wie Glaser es in seiner oben (B) erwähnten Untersuchung der Tätigkeit der zuständigen amerikanischen Stellen ausdrückt; „The courts increasingly share the sentencing function with nonjudicial agencies" (The Effectiveness of a Prison and Parole System, 1964, S. 288). Die überaus schwierige Frage, ob die letzte Entscheidung hier, wie es im deutschen Entwurf geschieht, den Gerichten vorbehalten wird oder, wie in Amerika, der Verwaltung zu überlassen ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Wie sie auch beantwortet werden mag, eine befriedigende Lösung setzt einen weiten Ermessensspielraum und eine die sachgemäße Ausübung des Ermessens ermöglichende fachliche Ausbildung der verantwortlichen Organe voraus. Ein verfeinertes Prognose-System wird hierbei nützlich sein (unten II). Zweitens müssen in allen Ländern die Lehren, die seit dem letzten Weltkrieg besonders in Dänemark (Herstedvester), Holland (Utrechts van der Hoeven Klinik), England (Belmont), Deutschland (Hohenasperg in Württemberg) und Kalifornien gemachten Erfahrungen mit aufs höchste spezialisierten psychotherapeutischen Anstalten beachtet werden, die eine Zwischenstufe zwischen Gefängnis und Krankenhaus darstellen (-*• Psychologie des Verbrechens). Auf den instruktiven Bericht von Mauch über seine Beobachtungen in Utrecht sei hingewiesen (MschrKrim., Bd. 48, [1965,] S. 177), wie auch auf den kürzlich erschienenen umfassenden, kritischen Reisebericht des bekannten kalifornischen Pönologen John P. Conrad über seine Eindrücke von einer längeren europäischen Studienreise, die die meisten oben genannten Anstalten und viele andere umfaßte (Crime and its Correction, 1965). Conrads Buch enthält auch (S. 236—47) eine eindringende, keineswegs unkritische, aber im Grundton doch optimistischeErörterung der vonKalifornien ausgegangenen und im letzten Jahrzehnt von mehreren europäischen Ländern übernommenen Praxis des „Group-Counseling" (nicht zu verwechseln mit dem von Psychiatern und Psychologen geleiteten „Group Treatment"). Es ist das vielleicht eine der wenigen wirklich einen Fortschritt in der Behandlung langfristiger Rückfälliger versprechenden Ideen. Eine begrüßenswerte Entwicklung hat sich in den letzten Jahren in kleinem Maßstabe in dem Londoner Gefängnis Wandsworth angebahnt. Nach dem Vorbilde von „Alcoholics Anonymous" wurde dort eine Organisation ausgewählter Rückfälliger, „Recidivists Anonymous", gebildet, die mit behördlicher Bewilligung kleine Gruppenversammlungen und gelegentlich Vorträge von Gastrednern veranstaltet, bei denen die besonderen Probleme dieser vielfach rückfälligen Gefangenen erörtert werden. Enge Fühlung mit der Entlassencnfürsorge wird unterhalten, und ein

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Rückfall und Prognose kleines verfallenes Häuschen wurde in einem Vorort Londons gekauft und von den Gefangenen instandgesetzt, wo einige von ihnen nach der Entlassung für einige Zeit wohnen können. Hier wie in den „Norman Houses" und ähnlichen Einrichtungen in Deutschland und anderen Ländern zeigt es sich, daß man immer mehr von der veralteten Auffassung abkommt, zwischen entlassenen Strafgefangenen, insbesondere Rückfälligen, dürfe es keinerlei persönliche Fühlung geben, da sie nur zu weiteren Verbrechen führe. Man hat endlich eingesehen, daß man eine solche Fühlungnahme j a doch nicht verhindern kann und daß es besser ist, sie nach Möglichkeit zu fördern und in konstruktive Wege zu leiten. Eingreifende Neuerungen in der Behandlung rückfälliger Gefangener werden in einem im Dezember 1965 veröffentlichten „White Paper" des englischen „Home Office" „The adult Offender" vorgeschlagen; insbesondere soll dem Innenminister die Befugnis gegeben werden, langfristige Gefangene in geeigneten Fällen bereits nach Verbüßung von einem Drittel ihrer Strafzeit unter Überwachung durch einen „Probation Officer" zu entlassen. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, zumal da es sich vorläufig nur um Vorschläge handelt, die der Genehmigung seitens des Parlaments bedürfen. G. Zusammenfassung: Was haben wir in den letzten 30 Jahren gelernt? Die hier versuchte Übersicht hat zunächst ergeben, daß die verschiedenen Betrachtungsweisen des Rückfallproblems aufs engste zusammengehören und ineinandergreifen. Die gesetzlichen Definitionen bestimmen zwar Art und Mindest- und Höchstdauer der Bestrafung, aber sind ihrerseits vielfach von statistischen, psychiatrisch-psychologischen, soziologischen und pönologischen Tatsachen abhängig oder sollten sie jedenfalls sorgfältig berücksichtigen. Die gesetzlichen Verjährungsbestimmungen sollten sich ebenfalls nach dem statistischen und prognostischen Erfahrungsmaterial hinsichtlich der Rückfallsintervalle richten, und die Frage der größeren oder geringeren Gefährlichkeit des gleich- oder ungleichartigen Rückfalls kann im wesentlichen nur durch statistische Massenuntersuchung verbunden mit sorgfältigem Studium von Einzelfällen entschieden werden. Die Erkenntnis, daß der Rückfall als solcher nicht unbedingt auf eine besondere Verdorbenheit und Sozialgefährlichkeit des Täters schließen läßt, ist zwar nicht neu — siehe die oben wiedergegebenen Worte K. J . A. Mittermaiers — , aber sie ist in den letzten 30 Jahren wohl sehr viel allgemeiner geworden und wird mehr und mehr nicht nur als eine Papierweisheit, sondern als eine praktische Selbstverständlichkeit anerkannt. Insbesondere in der statistischen,

beschreibenden, typologischcn und psychiatrischpsychologischen Erfassung des Rückfallproblems sind erhebliche Fortschritte gemacht worden. Das gleiche läßt sich aber von seiner pönologischen Behandlung — mit Ausnahme einiger vorbildlicher Spezialanstalten und tastender Versuche der Entlassenenfürsorge sowie der Ausbildung des „Group-Counseling" — nicht sagen. Fast völlig neu ist die Wissenschaft der kriminellen Prognose in den letzten 30 J a h r e n aufgebaut worden, deren Erörterung wir uns nunmehr zuwenden.

II. PROGNOSE A. Einleitendes Bei der Lehre von der strafrechtlichen Prognose handelt es sich im wesentlichen um folgende Fragen: Was wollen wir voraussagen, und weshalb wollen wir es ? Und wie können wir unsere Zwecke am besten erreichen? Bei so komplizierten Erscheinungen wie Verbrechen und Strafe ist es begreiflich, daß schon die Beantwortung der ersten Frage nicht ganz einfach ist. Wenn wir vor der Notwendigkeit stehen, dem Rechtsbrecher gegenüber bestimmte Maßnahmen anzuwenden, so sind die hierbei verfolgten Ziele keineswegs eindeutig. Die Geschichte und Philosophie des Strafrechts, der Strafzumessungslehre und der Strafvollzugspraxis legen hiervon Zeugnis ab. Auf sie ist hier nicht näher einzugehen, aber auf gewisse grundlegende Tatsachen ist kurz hinzuweisen. E r s t e n s : Nur ein auf Kants kategorischen Imperativ gegründetes, keinerlei Kompromisse zulassendes Strafrecht kann ohne Voraussagen auskommen, da es nur ihm auf die praktischen Wirkungen der Strafe nicht ankommt. Alle Vereinigungstheorien brauchen Voraussagen; denn wenn die Strafe in ihrem Sinne nur dann als gerechte Vergeltung wirken kann, „wenn sie in Übereinstimmung steht mit den herrschenden ethischen Anschauungen und Werturteilen" ( R . v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. I, 1925, S. 478), so muß bei ihrer Verhängung versucht werden, ihren Eindruck auf die öffentliche Meinung, ihre Anschauungen und Werturteile vorauszusehen. Es wäre daher unrichtig, auf der Grundlage einer abgemilderten Vergeltungstheorie, wie etwa der Adolf Merkels, die Notwendigkeit einer Prognose völlig zu verneinen. Sogar bei Todesurteilen und lebenslänglichen Gefängnisstrafen bedürften doch immer noch ihre Genugtuungsfunktion und ihre abschreckende Wirkungauf die Öffentlichkeit einerprognostischen Überprüfung. Sehr viel deutlicher wird die Notwendigkeit einer Voraussage natürlich bei Zugrundelegung der Philosophie der reinen Zweckstrafe, sei es als Abschreckungs- oder als Besserungsstrafe; hier ist es von entscheidender Bedeutung, im voraus zu wissen, inwieweit diese

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Zwecke sich durch eine bestimmte Einwirkung auf den Täter und auf die Allgemeinheit erreichen lassen werden. Z w e i t e n s : Da die Verhängung und praktische Durchführung der Strafe und verwandter Maßnahmen in den Händen der Gerichte und der Strafvollzugsorgane im weitesten Sinne (einschließlich der Bewährungshelfer) liegen, muß ihnen allen an der Möglichkeit einer Voraussage des künftigen Verhaltens des Täters gelegen sein. Das sind ganz elementare Erwägungen, die aber in der Praxis nur zu oft übersehen worden sind. D r i t t e n s : In Wirklichkeit hat aber sogar die wissenschaftliche Prognose-Forschung das hier angedeutete Problemgebiet niemals in seiner ganzen Breite behandelt, sondern sich auf Versuche beschränkt, das künftige Verhalten des Täters vorauszusagen, und auch das meistens nur im Dienste der Strafvollzugsbehörden; die Voraussage der Wirkung der Strafe etc. auf die Öffentlichkeit ist bisher nicht systematisch untersucht worden, und die Gerichte haben sich bei ihrer Strafzumessung der Ergebnisse der Prognose-Forschung noch wenig bedient. Hierauf ist unten noch einzugehen. B. Geschichtliche Entwicklung Die Anklage, daß die richterliche Strafzumessung „in der Luft schwebe", daß der Richter den Verbrecher, den er bestrafen solle, und die Wirkungen der von ihm verhängten Strafe nicht kenne, ist recht alt. Vor allem Franz v. Liszt hat sie vor nahezu 80 Jahren nachdrücklich erhoben (ζ. B. Strafr. Aufsätze u. Vorträge, Bd. I S. 332—3 u. 532). Den Weg zur Reform erblickte er im wesentlichen in der besseren kriminologischen und pönologischen Ausbildung der Strafrichter, in dem relativ unbestimmten Strafurteil und in der Schaffung von Strafvollzugsämtern, denen auf Grund ihrer praktischen Kenntnis des Täters die endgültige Festsetzung der Strafe zu überlassen sei — ein die moderne amerikanische Idee der „Treatment Tribunals" vorwegnehmender Vorschlag. Liszt konnte damals nicht voraussehen, daß etwa ein Menschenalter später zu seinem Programm die Forderung nach einer im wesentlichen auf statistischen Methoden aufgebauten systematischen Prognose-Forschung treten könnte, die sogar den Anspruch erheben würde, den intuitiven Voraussagen von Strafvollzugsbehörden und ähnlichen Stellen überlegen zu sein. Die geschichtliche Entwicklung der PrognoseForschung ist bereits mehrfach dargestellt worden, ζ. B. vom Verfasser im 1. Kapitel von MannheimWilkins, Prediction Methods in relation to Borstal Training (1955), von Frey (S. 304ff.), Geerds (MschrKrim. Bd. 43, S. 99ff.), Welsch, Persönlichkeitsforschung und Prognose (1962, 2. Teil), Middendorff, Kriminologische Prognose, S. 1 ff., u. a. Sie zeigt, daß systematische prognostische Forschungen in den Vereinigten Staaten etwa vor

45 Jahren, in Deutschland vor etwa 30 Jahren, in England und in der Schweiz (Frey) vor etwa 20 Jahren begannen. Die Hauptstadien sind in aller Kürze die folgenden: Als die amerikanischen Vorläufer der Bewegung werden allgemein S. B. Warner und sein Kritiker Hornell Hart angesehen, deren Arbeiten i. J. 1923 veröffentlicht wurden. Warner bestimmte insofern die Richtung der späteren amerikanischen Studien, als sein Material aus entlassenen Gefangenen des „Massachusetts State Reformatory" bestand, deren Rückfälligkeitsraten statistisch untersucht wurden, um nachzuprüfen, ob die von dem zuständigen „Board of Parole" verwerteten Kriterien im Lichte des wirklichen Ausfalls zweckdienlich waren. Diese letztere Frage verneinte er. Richtungweisend war seine Veröffentlichung vor allem in dreifacher Hinsicht: erstens indem sie rein statistischer Natur war; zweitens indem sie sich auf die prognostische Tätigkeit eines „Boards of Parole", also einer Verwaltungsbehörde, bezog; und drittens indem sie in Massachusetts stattfand, also dem Staate, in dem bald darauf die Gluecks ihre jahrzehntelangen Arbeiten begannen. Es würde natürlich zu weit gehen, wenn man die gesamte weitere Entwicklung der amerikanischen Prognose-Forschung als durch diesen ersten Versuch Warners im voraus festgelegt ansehen wollte; es ist wohl wahrscheinlicher, daß die in ihm zum Vorschein kommenden Tendenzen, d. h. besonders die rein statistische und verwaltungsmäßige Orientierung, bereits in der Luft lagen. Bezeichnend war es weiterhin, daß die Ergebnisse des Juristen Warner sofort von dem Sozialwissenschaftler Hart als statistisch fehlerhaft angegriffen wurden. Nachdem der erste Anstoß von juristischer Seite gegeben worden war, wurde die weitere Entwicklung des Prognosegedankens in den Vereinigten Staaten hauptsächlich den Statistikern und Soziologen überlassen, mit der wichtigen Ausnahme der Gluecks, die teils von der Rechtswissenschaft und teils von der Pädagogik an das Problem herantraten. In Wirklichkeit hat die Erfahrung der letzten 40 Jahre gezeigt, daß die Notwendigkeit von engstem „Teamwork", d. h. der Zusammenarbeit von Juristen, Statistikern, Soziologen und Psychologen sowie Psychiatern, hier unabweisbar ist, wenn elementare Fehler vermieden werden sollen. Es genügt nicht, daß — wie in dem Schulbeispiel von Warner und Hart — zunächst eine statistisch fehlerhafte Untersuchung durchgeführt wird, die dann von statistischer Seite kritisiert werden muß. Es müssen vielmehr, wie es in der englischen BorstalUntersuchung geschah, von Anfang an zum mindesten drei der beteiligten Disziplinen, hier die juristische, kriminologische, und statistische, aufs engste zusammenwirken. Auch dann sind natürlich gelegentliche Mißverständnisse und Meinungsverschiedenheiten unvermeidbar; sie können aber oft rechtzeitig erkannt und unschädlich

Rückfall und Prognose gemacht werden. Falls die statistische durch eine intuitiv-psychologische Untersuchung ergänzt werden soll, so müssen Psychologen und Psychiater ebenfalls von Anbeginn mitwirken können. Der nächste Schritt in der amerikanischen Entwicklung wurde von dem bekannten Soziologen der Universität Chikago, Ernest W. Burgess, getan, dessen Werk in der deutschsprachigen Literatur und auch sonst so eingehend gewürdigt worden ist, daß eine ausführliche Darstellung sich hier erübrigt (siehe ζ. B. Welsch S. 99, Frey S. 304, Mannheim-Wilkins S. 2). Die Grundzüge seines Systems bestehen darin, daß er aus seinem Fall-Material (3000 im Staate Illinois mindestens 2i/2 Jahre vorher aus dortigen Strafanstalten auf „Parole" entlassene Gefangene) 21 Faktoren heraussuchte und für sie die Rate der Rückfälligkeit oder sonstigen Parole-Verletzung bei den einzelnen Kategorien der Ex-Gefangenen mit der Durchschnittsrate verglich. Darüber hinaus aber stellte er — was weder Warner noch Hart getan hatten — eine prognostische Tabelle auf, indem er für jede günstige Abweichung von der Durchschnittsrate einen Gutpunkt gewährte, so daß die mögliche Iiöchstzahl solcher Punkte 21 betrug. Hiernach berechnete er dann, daß ζ. B. ein Gefangener mit 16—21 Gutpunkten nur eine Rückfallswahrscheinlichkeit von 1,5%, dagegen ein Gefangener mit nur 2—4 Gutpunkten eine solche von 76% hatte. Er warnte aber davor, eine derartige rein statistische Tabelle als Ersatz für eingehende Studien von Einzelfällen zu betrachten, wie er ja auch sein Interesse an den letzteren durch seine Mitarbeit an den Chikagoer Fallstudien Clifford Shaws bezeugte. Im übrigen aber wurde an seiner Technik mit Recht beanstandet, daß sie in willkürlicher Weise jeder günstigen Abweichung vom Durchschnitt einen Gutpunkt gewährte, ohne das Maß der Abweichung und die Eigenart der in Frage stehenden Faktoren zu berücksichtigen und ohne für ungünstige Abweichungen entsprechende Schlechtpunkte zu geben. Weitere Mängel bestanden darin, daß Burgess nur amtliches Material verwertete, das außerdem nicht über das Ende der Parole-Zeit hinausführte, und daß er mehrere seiner Faktoren in einer zu subjektiven, einer Nachprüfung durch andere schwer zugänglichen Weise formulierte (wie z. B. „ne'er do-well" oder „gangster" als Untertyp eines „social type"). Frey kann daher nicht zugestimmt werden, wenn er es als einen Vorzug der Burgesschen Methode bezeichnet, daß sie auf „leicht feststellbaren" Faktoren beruhe (S. 307). Unter den nicht allzu zahlreichen amerikanischen Nachfolgern von Burgess ist vor allem der jetzige Harvard Professor der Kriminologie Lloyd E. Ohlin zu nennen, der i. J. 1951, also erheblich später, als Soziologe der „Division of Correction" des Staates Illinois ebenfalls ein aus auf „Parole" entlassenen Gefangenen dieses Staates bestehendes Fall-Material benutzte,

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wobei er die Technik von Burgess insofern verbesserte, als er auch Schlechtpunkte gab und die Anzahl der Faktoren verringerte, andererseits aber ebenfalls von einer Abwägung nach der Stärke der Faktoren absah und die subjektiv gefärbten Faktoren beibehielt (eingehender über Ohlin siehe Mannheim-Wilkins, S. 14—5). Inzwischen hatten die Gluecks, beginnend mit „500 Criminal Careers" (1930), die lange Reihe ihrer Veröffentlichungen auf diesem Gebiet eröffnet. Ihre Arbeiten sind vielfach, ζ. B. von Frey, Rubin, Reiss, Wilkins, Grygier, Stott u. a. kritisiert worden, während die Gluecks ihre Methode gegenüber diesen Kritikern wiederholt eingehend verteidigt haben. Eine etwas mehr in die Einzelheiten gehende Erörterung scheint daher im Hinblick auf die überragende Rolle der Glueckschen Studien innerhalb der internationalen PrognoseForschung erforderlich. Ob und inwieweit diese Studien, die ja bereits i. J . 1925 begonnen hatten, von der 3 Jahre später veröffentlichten Monographie von Burgess beeinflußt worden waren, können Außenstehende nicht beurteilen. Der mitunter geäußerten Auffassung, daß sie nur eine verhältnismäßig geringfügige Abwandlung und Verfeinerung der Burgesschen Methode darstellten (ζ. B. Welsch, S. 101), kann jedoch nicht beigestimmt werden, da die in ihnen zu findenden Fortschritte hierfür zu erheblich sind. Die folgenden Punkte sind hier vor allem zu erwähnen, zumal da sie für in Zukunft auf diesem Gebiete arbeitende Prognose-Forscher von Bedeutung sein können. Wir legen hierbei im wesentlichen die Methode der ersten dieser Untersuchungen, „500 Criminal Careers", zugrunde, die später nur in Einzelheiten geändert wurde. Das in den amtlichen Fall-Akten enthaltene Material, das bekanntlich mitunter ungenau oder unvollständig und jedenfalls nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten hergestellt ist, wurde mit Hilfe anderer dokumentarischer Quellen und weiterhin durch einen erfahrenen Sozialarbeiter nachgeprüft, der in vielen Fällen die entlassenen Gefangenen und ihre Angehörigen persönlich aufsuchte, um sich von der tatsächlichen Sachlage an Ort und Stelle zu überzeugen. Die der Entlassung folgenden Zeiträume, mindestens 5 Jahre, waren erheblich länger als die Burgess zur Verfügung stehenden und umfaßten daher auch einige dem Ablauf der „Parole" folgende und von amtlicher Überwachung freie Jahre, so daß ein Urteil darüber ermöglicht wurde, wie die Entlassenen sich unbeaufsichtigt führten. Etwa 50 Faktoren, betreffend die Lebensgeschichte der 500 von ihrer Kindheit bis zur Beendigung der „Parole", wurden auf diese Weise geprüft. Die Anzahl der für die Aufstellung der prognostischen Tabellen benutzten Faktoren wurde aber auf diejenigen beschränkt, die — bei Verwertung der s. Zt. von dem Statistiker Karl Pearson in London ausgearbeiteten Technik des

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„mean square contingency coefficient" — die höchsten statistischen Assoziationen mit dem entscheidenden Kriterium, d. h. Erfolg oder Mißerfolg, zeigten (über Pearsons Technik vgl. ζ. B. G. Udny Yule, An Introduction to the Theory of Statistics, 8. Aufl. 1927, S. 64). Späterhin versuchten die Gluecks, anstelle dieser recht zeitraubenden statistischen Technik ein einfacheres Verfahren anzuwenden (vgl. Predicting Delinquency and Crime, 1959, S. 25). Auf diese Weise wurden zunächst durch Summierung der die höchsten Assoziationen aufweisenden 6 Faktoren Gesamt-Punktwerte (total scores) berechnet und für den Gebrauch der Gerichte in Form einer Tabelle ausgedrückt, in der nur bei der Aburteilung bereits bekannte Faktoren berücksichtigt wurden. Ihnen folgten weitere Tabellen für den Gebrauch der „Boards of Parole", in die auch erst später bekannt werdende Faktoren, wie die Führung während der Gefängniszeit, Aufnahme fanden. Die wesentlichste Verbesserung gegenüber der Burgess-Ohlin Methode bestand, wie bereits erwähnt, darin, daß jeder Faktor — anstatt eines für alle gleichbleibenden Punktwertes — die ihm je nach der Stärke seiner statistischen Korrelation zur Rückfallshäufigkeit zukommende Rolle in der Tabelle zugewiesen erhielt. Außerdem waren die Verfasser bemüht, allzu subjektive Formulierungen ihrer Faktoren und allzu krasse Überschneidungen zu vermeiden, was ihnen allerdings nicht durchweg gelang. Ein erheblicher Fortschritt bestand auch darin, daß gesonderte Tabellen für die verschiedenen Stadien des gesamten strafrechtlichen und strafvollzugsmäßigen Verfahrens, insbes. auch für die einzelnen in Frage kommenden Strafarten, ausgearbeitet wurden, ζ. B. für den zu erwartenden Erfolg von „Probation" bei den verschiedenen Tätertypen und Altersgruppen, mit oder ohne Hinzufügung einer „suspended sentence". Zur Veranschaulichung greifen wir hier nur eine der einfachsten dieser Tabellen heraus, die das Verhalten von jugendlichen Tätern unter „Probation" voraussagen soll: Bei einer „score class" von weniger als 240 Schlechtpunkten ist die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls 36,0%, bei 240—270 solcher Punkte 66,7%,und bei 270 und mehr ist sie 85,6% (Predicting etc., S. 31). Eine gute Darstellung der Entwicklung ihrer Methode ist von den Gluecks in „Predicting Delinquency and Crime" (1959) gegeben worden. Frühzeitig erkannten sie die Notwendigkeit, ihre Tabellen an Hand neuer, nicht bereits für ihre Herstellung verwendeter Fälle nachzuprüfen: „Solange das nicht geschehen i s t " — so schreiben sie ζ. B. in dem letztgenannten Buch (S. 24 u. 47) — „wäre es richtiger, die Tabellen nicht als endgültige prediktive Instrumente, sondern nur als versuchsweise vorgenommene Summierungen von bisher gemachten Erfahrungen anzusehen". Inwieweit die bisher vorgenommenen Nachprüfun-

gen (validations) ihre Tabellen wirklich bestätigt haben, ist freilich sehr umstritten (H. J . Schneider, 1967). — Die besonders lebhaft erörterten Versuche der Gluecks, prognostische Tabellen für bisher noch nicht strafbar gewordene Jugendliche und sogar für noch nicht schulpflichtige Kinder auszuarbeiten, interessieren hier weniger, da sie sich nicht auf die Rückfall-Prognose beziehen (-»• Psychologie des Verbrechens). — Erwähnenswert ist noch, daß in dem nicht in erster Linie der Prognose gewidmeten Werk „Unraveling Juvenile Delinquency" (1950) für die 500 ζ. Z. der Untersuchung etwa 11—17jährigen (Durchschnittsalter etwas über 14 Jahre) Insassen einiger Reform-Anstalten für Jugendliche in Massachusetts 3 gesonderte prognostische Tabellen aufgestellt wurden: a) eine auf der Basis von 5 „social background" Faktoren, wie ζ. B. väterliche Disziplin, väterliche und mütterliche Zuneigung gegenüber dem Jungen, der innere Zusammenhalt der Familie; b) eine auf den von Psychologen vorgenommenen eharakterologischen Rorschach-Tests aufgebaute und c) eine auf einer psychiatrischen Untersuchung der Persönlichkeit beruhende Tabelle (Kap. X X ) . Zwischen den auf diesen 3 Gebieten arbeitenden Spezialisten durfte — um gegenseitige Beeinflussung zu verhüten — keinerlei Zusammenarbeit bestehen, was zwar gewisse Vorteile bietet, aber im Grunde doch dem Gedanken des „teamwork" völlig widerspricht und nicht zum Muster genommen werden sollte. Obgleich in 49% der Fälle alle 3 Faktoren und in weiteren 37,8% wenigstens zwei von ihnen übereinstimmende Voraussagen lieferten, betonen die Verfasser vorsichtigerweise, daß die praktische Anwendung ihrer Tabellen unter Ausschluß anderer Hilfsmittel, wie insbesondere auf Erfahrung gestützte Intuition, nicht ratsam sei (S. 267). Wegen weiterer Einzelheiten sei auf die eingehende Darstellung von Frey (S. 311—18) verwiesen. Im Interesse einer klareren Übersicht sei noch bemerkt, daß die verschiedenen Glueckschen Prognose-Studien sich folgendermaßen klassifizieren lassen: a) Die Lebensläufe der zunächst in „500 Criminal Careers" untersuchten 500 männlichen Gefangenen (Durchschnittsalter etwa 21) wurden zunächst über mindestens 5 Jahre verfolgt. In dem 7 Jahre später erschienenen Buch „Later Criminal Careers" wurden dann die noch lebenden 454 über weitere 5 Jahre beobachtet, und in der 3. Studie dieser Serie, „Criminal Careers in Retrospect", (1943) wurden noch weitere 5 J a h r e hinzugefügt und die Ergebnisse zur Aufstellung weiterer prognostischer Tabellen verwertet. b) Die 2. Serie beginnt 1934 mit „One Thousand Juvenile Delinquents" und wird durch die eine weitere 10jährige Periode behandelnde Arbeit „Juvenile Delinquents Grown Up" (1940) fortgesetzt, c) In „Five Hundred Delinquent Women" (1934) wurde ein Versuch gemacht, die

Rückfall und Prognose statistische Technik etwas zu vereinfachen, aber diese Gruppe wurde im Gegensatz zu den anderen nicht über die ursprüngliche Periode hinaus weiter verfolgt. Bevor wir uns den Kritikern der Glueckschen Theorien zuwenden, ist es ratsam, die geschichtliche Entwicklung der deutschen und schweizerischen Prognose-Forschung kurz darzustellen, zumal da sie nicht nur eine Fortführung jener Theorien, sondern zum großen Teil auch eine Reaktion gegen sie darstellt. Nach unbestrittener Meinung bildet Exners Reise nach den Vereinigten Staaten i. J. 1935 den Beginn der deutschen Prognose-Forschung. Sie führte unmittelbar zu seiner im gleichen Jahre erschienenen Schrift „Kriminalistischer Bericht über eine Reise nach Amerika" und zu der nach seiner Rückkehr veranlaßten Arbeit von Schiedt sowie zu den sich hieran anschließenden Veröffentlichungen von Trunk, Meywerk, Schwaab und Gerecke. In dem letzten Kapitel seines Lehrbuchs gibt Exner eine klare Darstellung des damaligen Standes der deutschen Entwicklung (bis 1949). Hierbei legt er die Unterscheidung zwischen Zustande- und Gewohnheitsverbrechern zugrunde; bei den letzteren sei jede Prognose von zweifelhaftem Wert, da zu vieles von äußeren Umständen abhänge; bei den ersteren dagegen sei das Prognose-Problem lösbar, da es hier im wesentlichen von dem Persönlichkeitstyp des Täters abhänge. Für die Symptome der Rückfallsgefahr seien die einschlägigen amerikanischen Arbeiten bahnbrechend; nach ihrem Vorbild habe Schiedt auf seine Anregung hin eine Untersuchung an Hand der Akten der Münchener Kriminalbiologischen Sammelstelle für 500 i. J . 1931 aus der Strafhaft entlassene Gefangene durchgeführt. Die Hamburger Untersuchung von Meywerk habe eine „geradezu verblüffende Übereinstimmung" mit den Ergebnissen Schiedts gezeigt, die dann auch von der Arbeit Schwaabs bekräftigt worden seien. Exner versucht dann die Übereinstimmung der Ergebnisse dieser 3 Arbeiten durch eine Tafel zu illustrieren, die die von ihnen gewonnenen Prozentsätze der Rückfälligkeit für 15 ungünstige Faktoren wiedergibt. Bei fast allen dieser Faktoren habe sich eine Rückfallsrate von 70—90% ergeben. Von welcher Art sind diese Faktoren ? Exner teilt sie in 2 Gruppen ein: Die ersten 12 oder 13 bezögen sich auf den kriminalbiologischen Verbrechertyp, die übrigen auf die Verhältnisse, unter denen der Gefangene nach der Entlassung leben werde. Er bezeichnet sie als „präzis aktenmäßig feststellbar und dem subjektiven Ermessen des Beurteilers nach Möglichkeit entzogen". Auf mehrere der verwerteten Faktoren trifft das zu, wie ζ. B. „Nichtbeendigung einer angefangenen Lehre", „Beginn der Kriminalität vor dem 18. Lebensjahr", „mehr als 4 Vorstrafen", „besonders rasche Rückfälligkeit", „interlokale Kriminalität", β HdK, 2. Aufl.. Bd. III

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„Trunksucht", „Entlassung aus der Anstalt vor dem 36. Lebenjahr" (das letztere Datum anscheinend im Hinblick auf die Gluecksche These, daß dieses Alter im allgemeinen die entschiedene Abkehr vom Verbrechen kennzeichne (oben I). Einige andere der in den genannten Untersuchungen verwendeten Faktoren können dagegen wohl kaum als „dem subjektiven Ermessen des Beurteilers entzogen" angesehen werden: ζ. B. „erbliche Belastung", „schlechte Erziehungsverhältnisse", „Psychopathen" — ein, wie jetzt immer mehr anerkannt wird, sehr dehnbarer und von den Sachverständigen in der verschiedensten Weise definierter Begriff (-> Psychopathologie). Exner versucht es auch seinerseits nicht, den Begriff zu definieren, sondern fügt nur die Worte hinzu: „nach der Diagnose des Anstaltsarztes". Aber der letztere mag vielleicht keine psychiatrische Spezialausbildung besessen oder sich in seiner Diagnose unklar ausgedrückt haben. Es kann daher auch Welsch nicht zugestimmt werden, wenn er das Schiedtsche Verfahren als „einfach und leicht zu handhaben" bezeichnet, und zwar sogar für Gutachter ohne psychologische und psychiatrische Spezialausbildung (S. 105). Man kann sich unschwer vorstellen, welche Irrtümer von solchen Gutachtern bei der Auslegung schwieriger Begriffe begangen werden können und wie sehr die einzelnen Meinungen hierbei voneinander abweichen mögen. F. Meyer (1965) äußert ähnliche Bedenken gegen mehrere der Schiedtschen Faktoren. Mit Recht legte Exner, wie auch Welsch (S. 103—4), besonderes Gewicht darauf, daß das Schiedtsche Punktverfahren trotz seiner offensichtlichen Schwächen bessere Ergebnisse geliefert habe als die von den Anstaltsärzten „dem Gefühl nach" gemachten intuitiven Voraussagen. Ein wesentlicher Mangel seines Verfahrens lag aber, wie besonders Trunk und Gerecke zeigten, darin, daß Schiedt — wie vor ihm Burgess — die Punkte einfach addierte, ohne sie nach ihrem statistischen Gewicht zu werten. Außerdem wurden die hohe Rate (57%) seiner als zweifelhaft offen gelassenen Fälle und die Gefahr eines Überschneidens zwischen einigen Faktoren (ζ. B. Psychopathie und Trunksucht, schlechte Erziehungsverhältnisse und schlechter Schulerfolg) beanstandet. Schwaab machte auch darauf aufmerksam, daß die Geschwindigkeit des Rückfalls nur bei den mehrfach Rückfälligen einen Faktor bilden könne, und Welsch (S. 106) betonte, daß man die Verbreitung aller solcher Faktoren in der Gesamtbevölkerung feststellen und mit ihrer Häufigkeit innerhalb der untersuchten Gruppe vergleichen müsse, um sagen zu können, daß es sich wirklich um überdurchschnittlich ungünstige Umstände handle. Der Hamburger Gerichtsarzt Meywerk, der — wie bereits erwähnt — im wesentlichen das

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Schiedtsche Verfahren an seinem Hamburger Material nachprüfte und es ebenfalls für zuverlässiger hielt als die intuitive Begutachtung seitens der Anstaltsärzte, versuchte die hohe Rate der fraglichen Fälle durch eine veränderte Klassifizierung herabzudrücken. Hierdurch wurde aber, wie Welsch richtig darlegt (S. 107), nur eine scheinbare Verbesserung erreicht. Ein anderer beamteter Arzt, Trunk, überprüfte die von ihm selbst intuitiv im Zuchthaus Straubing gestellten Prognosen für von ihm kriminalbiologisch untersuchte Gefangene später mittels des Schiedtschen Verfahrens und fand, daß das intuitive Verfahren ihm vorzuziehen sei. Seine Beweisführung ist aber überwiegend abgelehnt worden. Bemerkenswert ist noch, daß Trunk fragliche und fehlerhafte Prognosen gleichsetzte, was nicht unbedenklich ist (vgl. auch Welsch S. 113): Eine Prognose mag als fehlerhaft bezeichnet werden, wenn sie dem tatsächlichen Ausfall widerspricht; fraglich ist sie dagegen, wenn der Beurteiler auf Grund seines Materials keine bestimmte Voraussage zu machen wagt; sie könnte daher höchstens dann als fehlerhaft bezeichnet werden, wenn nachgewiesen werden könnte, daß eine bestimmte und richtige Voraussage mit Hilfe des gleichen Materials möglich gewesen wäre. Eine wesentliche Verbesserung des bis dahin in Deutschland angewendeten Punktverfahrens wurde 1939 von Gerecke vorgeschlagen: An die Stelle der auf Burgess zurückgehenden unterschiedslosen Gleichbewertung aller Punkte setzte er eine verschiedenartige Bewertung der einzelnen Faktoren je nach ihrer erfahrungsmäßigen Bedeutung für die Rückfallswahrscheinlichkeit. Außerdem sollte jeder hiernach generell bewertete Faktor noch im Einzelfalle dadurch eine weitere Bewertung erhalten, daß der allgemeine Punktwert nach dem jeweiligen Ausprägungsgrade mit 1—4 multipliziert werde (siehe die Tabelle bei Exner, l.Aufl. S. 354). Dieses sog. Punktwert-Verfahren nähert sich dem Glueckschen an, unterscheidet sich von ihm aber dadurch, daß die Bewertungen nicht auf statistischen Korrelationen, sondern auf mehr oder weniger begrenzten persönlichen Erfahrungen beruhten und daher recht willkürlich waren (so schon Exner, S. 353/5, der besonders in der 3. Aufl., S. 313, auch die völlige Subjektivität einiger der von Gerecke benutzten Faktoren bemängelte und dem Glueckschen Verfahren den Vorzug gab. Auch Frey, S. 321, ist recht kritisch). Nach Kriegsende wurde die deutsche Prognose-Forschung mittels des Punkt- oder Punktwert-Verfahrens besonders von v. Brocke, Brückner, F. Meyer, Riffel und Mey fortgesetzt. Einige dieser Arbeiten werden von Welsch eingehend besprochen (S. 117—25), der aus ihnen die Folgerung zieht, daß sogar die von Nichtspezialisten wie Lehrern, Geistlichen, Aufsichtsbeamten etc. gestellten sozialen Prognosen infolge der in ihrer Ausbildung

neuerdings gemachten Fortschritte zuverlässiger seien als das statistische Verfahren. Die i. J . 1958 veröffentlichte Arbeit von G. Brückner, die die gegenteilige Ansicht vertritt, wird von Welsch nicht berücksichtigt; andererseits kam nach Erscheinen seines Buchs i. J . 1965 noch der Aufsatz von Mey hinzu, der auf Grund seiner Forschungen die intuitive Methode vorzieht. Brückner hielt das von ihm ausgearbeitete Punktwert-Verfahren (mit besonderen Tafeln für Früh- und Spätkriminelle) für zuverlässiger als die von dem Personal der Landesstrafanstalt Bruchsal intuitiv gestellten Prognosen (88,5% gegenüber 7 7 % richtiger und 15,9% gegenüber 21,5% fraglicher Prognosen). Er gibt jedem seiner Faktoren nach Unterteilung einen fest bestimmten, also nicht je nach der Eigenart des Einzelfalles schwankenden Punktwert und glaubt, hierdurch jede subjektive Wertung ausgeschaltet zu haben. Ganz können wir ihm hierin nicht folgen, da u. U. jede nicht auf statistische Korrelationen gestützte Wertung als subjektiv angesehen werden muß. Die ebenfalls sehr sorgfältige neuere Arbeit des Herforder Anstaltspsychologen Hans-Georg Mey geht von einer Nachprüfung des von F. Meyer ausgearbeiteten Punkt-Verfahrens aus, das nur Schlechtpunkte verwertet. Seine Bedenken gegen dieses Verfahren veranlassen ihn dazu, das statistische Verfahren nochmals kritisch mit der intuitiven Methode zu vergleichen, die auch nach seiner Ansicht in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht habe. Als Material für diesen Vergleich standen ihm 207 Fälle Rückfälliger zur Verfügung, die in der Jugendstrafanstalt Herford vor ihrem Rückfall bereits eine Jugendstrafe von bestimmter oder unbestimmter Dauer verbüßt hatten. Er unterscheidet zwischen der Urteils- und der Entlassungsprognose und kommt zu dem Ergebnis, daß das intuitive Verfahren bei der ersteren und das Punkt-Verfahren bei der letzteren überlegen sei, soweit es sich um eine Jugendstrafe von unbestimmter Dauer gehandelt habe. Das erkläre sich aus der Fassung des § 89 JGG, die die Vollzugsleiter dazu veranlasse, bei ihrer intuitiven Prognose im Interesse frühzeitiger Entlassungen zu optimistische Voraussagen zu stellen. Bei der festbestimmten Jugendstrafe bestehe eine solche Versuchung nicht, und daher sei hier das intuitive Verfahren besser. Wir werden hier an ähnliche Überlegungen in der englischen Borstal-Studie erinnert, wo ausgeführt wird, daß Erzieher optimistisch sein müssen und daß dieser Zug bei der Interpretation ihrer Prognosen in Ansatz gebracht werden müsse (Prediction Methods in relation to Borstal Training, S. 57 u. 167—8). Mey betrachtet seine Ergebnisse übrigens nicht als endgültig, da sie einer einseitigen Methodik entstammten, glaubt aber doch, aus ihnen wichtige Schlußfolgerungen ziehen zu können, insbes. dahin, daß es voreilig wäre, das Punkt-Verfahren schon jetzt

Rückfall und Prognose für die Anwendung in der Praxis freizugeben (worin ihm die meisten Vertreter der statistischen Methode beistimmen); daß sowohl das statistische wie das intuitive Verfahren nur von einem fachlich hinreichend geschulten vielseitigen Mitarbeiterstab mit Sicherheit angewendet werden könne; insbesondere erfordere die korrelationsstatistische Methodik eine spezielle Fachkunde (auch hier kann er allgemeiner Zustimmung sicher sein). Die statistischen Prognosetafeln hätten „als unüberhörbare Verdeutlicher einer wesentlichen Symptomatik in der Kriminologie des Rückfalltäters" eine wichtige Rolle gespielt; aber ihre Funktion scheine nunmehr wenigstens in der Jugendkriminalrechtspflege vollauf erfüllt zu sein, und weitere statistische Verfeinerungen könnten hieran nichts ändern (was erheblichen Widerspruch seitens der Statistiker hervorrufen wird, die ζ. Z. an weiteren Verfeinerungen ihrer Technik arbeiten, so ζ. B. L. T. Wilkins und P. MacnaughtonSmith, The Journal of Research in Crime and Delinquency, Bd. 1 Nr. 1, S. 19—33, vgl. auch H. J. Schneider, 1967). Die großangelegte und mit bewunderungswürdiger Folgerichtigkeit durchgeführte Arbeit des Schweizer Kriminologen Erwin Frey ist unzweifelhaft eine der wichtigsten und einflußreichsten deutschsprachigen Untersuchungen nicht nur, wie oben unter I hervorgehoben, für die Ätiologie des Rückfalls, sondern auch auf dem Gebiet der Prognose. Im 15. Kapitel seines Hauptwerkes erörtert Frey zunächst im allgemeinen „die prognostische Bedeutung spezifischer Symptome asozialen Verhaltens", wobei er aus seinem statistischen Material schließt, daß ζ. B. das chronische Ausreißen aus Erziehungsanstalten ein ungünstiges prognostisches Indiz sei, während das sonstige Verhalten in der Anstalt, besonders in der Anfangsperiode, im allgemeinen keinen prognostischen Wert besitze. Im 17. Kapitel wird u. a. die dynamische Einheit von Täter und Tat betont und vor einer dilettantischen Vernachlässigung der Bedeutung der Tat zugunsten der Persönlichkeitserforschung gewarnt. Auch die Tat sei eine wichtige prognostische Erkenntnisquelle, allerdings nur „aus der Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur". Die eigentliche Prognose-Theorie Freys findet sich im 3. Teil seines Buchs: Während das 18. Kapitel einen kritischen Überblick über die früheren Systeme, insbes. die deutschen und das Gluecksche, gibt, enthält das 19. die Darstellung des Freyschen Systems der Frühprognose. Das Ziel wird darin erblickt, eine zuverlässige Unterscheidung der Fälle „mit maximaler von denjenigen mit minimaler Resozialisierungschance" zu ermöglichen; für eine entsprechende prognostische Erfassung der mittleren Gruppe der latenten Gelegenheitsverbrecher, die immer schwierig bleiben werde, bestehe kein praktisches Bedürfnis (S. 321—2) — eine Auffassung, die wohl β»

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nur aus der Not eine Tugend zu machen scheint. Frey hält es für einen besonderen Vorzug seiner Tabellen, daß sie im Gegensatz zu den deutschen und amerikanischen „direkt aus der beruflichen Praxis" hervorgegangen seien. Sie beruhten auf Fällen, mit denen er selbst als Jugendstaatsanwalt oft lange Zeit hindurch befaßt gewesen sei, während die anderen Tabellen lediglich auf oft unzuverlässigem Aktenmaterial beruhten und sich auf Fälle bezögen, die der Prognosesteller persönlich nicht gekannt hätte. Inwieweit diese Kritik stichhaltig ist, wird weiter unten zu erörtern sein. Freys eigenes System baut sich auf der Unterscheidung von Vorprognose und Nachprognose auf: Die erste wird am besten im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Voruntersuchung des Falles, in der Regel zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr erstellt (vor dem 16. Jahr kann nach Freys Ansicht — im Gegensatz zu den Gluecks —• keine zuverlässige Prognose geliefert werden). Die Nachprognose erfolgt frühestens 3 Jahre nach der Entlassung und jedenfalls nicht vor Vollendung des 24. Jahres. Des weiteren besteht Freys System aus der Kombinierung zweier Elemente, des statistischen und der Bewertung der Gesamtpersönlichkeit. Seine statistische Tabelle folgt dem Punkt wert-Verfahren, indem den 8 einzelnen Faktoren je nach ihrer kriminogenen Bedeutung verschiedene Basiswerte beigelegt werden, die dann je nach der im Einzelfalle festgestellten Ausprägungsintensität einen von 1—5 wechselnden Koeffizienten erhalten. Das ist im Grunde nichts anderes als die von Frey als „allzu willkürlich" bezeichnete Methode Gereckes, wobei aber zuzugeben ist, daß Frey bei der Auswahl der Koeffizienten wohl systematischer vorging. Aber das subjektive Element spielt auch bei ihm eine erhebliche Rolle; wie Frey es ausdrückt, „die Bewertung der einzelnen Prognosefaktoren erfordert lange empirische Erfahrung und kriminologisches Fingerspitzengefühl" (S. 335) und, wie hinzugefügt werden mag, eine bis ins einzelne gehende Differenzierung der möglichen Ausprägungsarten jedes einzelnen Faktors. So erhält ζ. B. der Faktor „Erziehungsschwierigkeiten" einen viel höheren ungünstigen Koeffizienten, wenn er kontinuierlich während aller Entwicklungsstufen zu beobachten ist, als wenn er nur vorübergehend besteht (S. 331). Infolgedessen kann Frey sagen, daß sein Verfahren die Intuition zwar keineswegs ausschließe, aber es sei eine Intuition auf der Grundlage objektiver Tatsachen und nicht rein gefühlsmäßiger Eindrücke. Daß seine Faktoren und Koeffizienten aber wirklich rein objektiv und nicht wenigstens teilweise gefühlsmäßig gefärbt sind, mag bezweifelt werden. Ein Vergleich seiner Resultate auf Grund des Punktwert-Verfahrens mit den von ihm selbst vorher gestellten rein intuitiven Prognosen ergab die Überlegenheit der ersteren (bei 75 Fällen 16% Fehlprognosen gegenüber

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25,4%)· Er erklärt das damit, daß die intuitiven Prognosen zu sehr von dem oft trügerischen äußeren Eindruck der Jugendlichen beeinflußt seien, während die Fehler der Punktprognosen auf technische Unvollkommenheiten in der Abklärung der Persönlichkeit zurückzuführen seien. Hieraus schließt er, daß die Mängel der Punktprognose vermeidbar seien, die der intuitiven dagegen nicht (S. 335). (U. E. sind gewisse Mängel beider Verfahrensarten nicht restlos vermeidbar.) Infolge seiner starken Betonung der Notwendigkeit einer „Abklärung der Gesamtpersönlichkeit" ist das Freysche Verfahren von intuitiven Elementen sehr stark durchtränkt. Inwieweit das ein Fehler oder ein Vorzug ist, soll hier noch nicht erörtert werden. Die englische Prognose-Forschung ist nicht nur jünger, sondern auch weniger umfangreich und systematisch als die amerikanische und deutsche. Im Zusammenhang mit einer Untersuchung der Jugendkriminalität in Cambridge (England) arbeitete der Verfasser dieses Beitrags eine Tabelle von Schlechtpunkten aus, die zeigte, daß die Anzahl solcher Punkte einen brauchbaren Anhaltspunkt für das spätere Verhalten der Jugendlichen bildete: Von den Jugendlichen, die ihre Probation-Periode erfolgreich beendet hatten, wiesen nur 34,1% 20 oder mehr solche Schlechtpunkte auf; von denen, die während oder nach dieser Periode rückfällig wurden, hatten 60% die gleiche Anzahl solcher Punkte und von den hartnäckigen Rechtsbrechern sogar 81,8% (siehe Juvenile Delinquency in an English Middletown, S. 86). Der Verfasser legte besonderen Wert auf die Feststellung, daß sein Fall-Material zu klein und unvollständig war, um daraus eine PrognoseTabelle herzustellen; daß aber dieses Material es andererseits dem Jugendgericht ermöglicht haben würde, eine einigermaßen zuverlässige Voraussage der Aussichten dieser Jugendlichen unter „Probation" zu machen. Hierbei sei allerdings die Bedeutung künftiger, dem Gericht nur zum Teil bekannter Faktoren wie der persönliche Einfluß des „Probation Officers" und anderer Personen außer Ansatz geblieben. Einige Jahre später wurde der Verfasser von dem englischen „Home Office" beauftragt, eine größere prognostische Untersuchung an zu einer Borstal-Strafe verurteilten jungen Männern durchzuführen, wofür ihm das wissenschaftliche Personal des amtlichen „Social Survey", einer speziell mit sozial-statistischen Arbeiten befaßten Behörde, zur Verfügung gestellt wurde. Die Ergebnisse dieser gemeinsam mit einem Statistiker des „Social Survey", Leslie Τ. Wilkins, und seinen Assistenten durchgeführten Untersuchung wurden i. J . 1955 als „Prediction Methods in relation to Borstal Training" veröffentlicht. Die hauptsächlichsten Aspekte dieses Buchs sind a) ein Überblick über die geschichtliche Entwicklung der kriminologischen Prognose-Forschung (Kap.I); b) die Aus-

arbeitung statistischer Prognose-Tabellen und ihre Nachprüfung an anderem Material (Kap. IV—VII); c) Erörterung der grundlegenden Probleme der Prognose-Forschung (Kap. III); d) eine Darstellung von 18 einzelnen Fällen und Prüfung des Verhältnisses zwischen der statistischen Prognose-Forschung und der Verwertung individueller Fall-Geschichten (Kap. VIII); e) die aus der Untersuchung zu ziehenden Lehren für die künftige kriminologische Forschung (Kap. IX). Im einzelnen: Die statistische Technik der Arbeit schließt sich zwar an die Gluecksche an, sucht sie aber in folgenden Punkten zu verbessern: a) eine Verkleinerung der gewöhnlich allzu großen Mittelgruppe zweifelhafter Fälle, für die eine Prognose unmöglich erscheint. Sowohl bei den Gluecks als auch in der Borstal Studie schien diese Gruppe etwa x / 3 aller Fälle zu umfassen; bei Schiedt sogar 57%. Für die Borstal Studie wurde daher eine besondere „second equation" ausgearbeitet, und im Gegensatz zu der ursprünglichen hauptsächlich die kriminelle Vergangenheit des Individuums berücksichtigenden Formel wurde nunmehr das Hauptgewicht auf mehr persönliche Faktoren gelegt, wie Intelligenz, Freizeit-Betätigung, letzte Beschäftigung, Beruf des Vaters, Kriminalität in der Familie. Hierin lag bereits eine unverkennbare, wenn auch nur vorsichtige Annäherung an die Verwendung mehr subjektiver Faktoren. Mit Hilfe dieser 2. Tabelle gelang es, die Mittelgruppe um etwa 2 / 3 zu reduzieren; leider war aber die für diese Tabelle erforderliche Information nur für eine Minderzahl der Fälle der Mittelgruppe vorhanden, was jedoch der Richtigkeit des Prinzips keinen Abbruch tat. Ein Nebenprodukt dieses Verfahrens war nicht ohne Interesse: Es zeigte sich, daß die Qualität der Intelligenz und Beschäftigung des Jungen sowie der Beruf seines Vaters für seine Erfolgsaussichten bedeutungslos waren, sofern sie alle miteinander im Einklang standen; nur dort, wo ein Zwiespalt zwischen ihnen bestand (ζ. B. zwischen Intelligenz und Beschäftigungsart), führte die sich hieraus ergebende Konfliktssituation zu einer ungünstigen Prognose (S. 48, 153—5). Eine zweite Verbesserung der Glueckschen Technik betraf das schwierige Problem des möglichen Überschneidens zwischen den für die Tabelle verwendeten Faktoren. Es ist offensichtlich, daß, wenn 2 Faktoren in die Tabelle aufgenommen werden, sie sich ζ. T. decken, d. h. teilweise die gleiche Idee zum Ausdruck bringen und daher statistisch nicht zweimal berücksichtigt werden dürfen, das Ergebnis verfälscht wird, weil diesen beiden Faktoren ein ihnen nicht zukommendes Gewicht beigemessen wird. Die Gluecks, die in ihren ersten Arbeiten solche sich großenteils deckenden Faktoren wie „industrial habits" und „economic responsibility" nebeneinander verwendet hatten, wurden sich später der hierin liegenden Fehlerquelle bewußt und suchten ein

Rückfall und Prognose „overlapping" möglichst zu vermeiden; sie sind darin aber nicht immer radikal genug oder mitunter auch zu radikal vorgegangen (ζ. B. Predicting Crime and Delinquency, S. 26; eingehend hierüber Mannheim-Wilkins, S. 139 u. 143). In der Borstal-Studie wurde hierauf besonderes Gewicht gelegt, wofür nur folgendes Beispiel gegeben werden mag: Wie in den meisten derartigen Untersuchungen so ergab sich auch hier, daß früh beginnende Kriminalität eine ungünstige Prognose rechtfertigt. Überraschenderweise ergab sich ferner das gleiche für die Tatsache einer vor der BorstalStrafe liegenden Probation-Periode. Es hätte daher nahegelegen, diese beiden Faktoren nebeneinander in die Tabelle aufzunehmen, ein Verfahren, das in der Borstal-Studie als das Addieren einfacher „zero-order" Korrelationen kritisiert wird. Der hierin liegende statistische Fehler würde darin bestehen, daß übersehen wird, daß der Frühkriminelle eher „Probation" erhält als der Spätkriminelle (der Beweis hierfür ist in Tabelle 14, S. 75, zu finden); die beiden Faktoren überschneiden sich also erheblich, und nur einer von ihnen darf daher in die Tabelle aufgenommen werden. Dieser Prozeß des Ausmerzens aller Faktoren, die nicht wirklich zu einer Verbesserung der Prognose beitragen, führte zu einer wesentlichen Vereinfachung der Tabelle (siehe die Erörterung dieser Frage S. 143—5). Besondere Aufmerksamkeit wurde ferner der Qualität der Fall-Geschichten gewidmet, die für die Untersuchung verwertet werden mußten, d. h. der von den einzelnen Borstal-Anstalten geführten Akten, und allgemeine Richtlinien wurden ausgearbeitet zwecks künftiger Verbesserung dieser Akten (S. 55—63, 88—9, 215—6). Schwierigkeiten ergaben sich u. a. daraus, daß diese Akten von verschiedenen Anstalten und daher vielfach in verschiedener Art geführt worden waren, was ihre Vergleichbarkeit erschwerte; ferner daraus, daß sie nicht wissenschaftlichen, sondern im wesentlichen praktischen Zwecken dienten, und schließlich daraus, daß sie oft rein subjektive Werturteile enthielten, die einer Nachprüfung durch Außenstehende nicht zugänglich waren, während andererseits wichtige Tatsachen häufig übergangen oder nicht mit der für wissenschaftliche Zwecke erforderlichen Genauigkeit berichtet wurden. Das führte zur Ausarbeitung von Vorschlägen für die künftige Gestaltung der von Borstals und ähnlichen Anstalten geführten Akten unter besonderer Betonung der Notwendigkeit engster Zusammenarbeit zwischen Anstaltspraktikern und wissenschaftlichen Arbeitern. Weiterhin wurden die von den Leitern (Governors) der Borstal-Anstalten und ihren Gehilfen (Housemasters) intuitiv gestellten Prognosen mit den Ergebnissen der statistischen Untersuchung verglichen (S. 57, 103, 121, 126, 140—1, App. V). Im Ergebnis zeigte es sich, daß erstens diese intuitiven Prognosen oft

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nicht miteinander übereinstimmten, weil sie zu sehr auf rein subjektiven Elementen aufgebaut waren, und zweitens, daß die statistische Prognose mindestens dreimal so zutreffend war wie die intuitive, mit Ausnahme der von den Anstaltspsychologen gestellten Voraussagen, die denen der Leiter und ihrer Gehilfen sowie den ärztlichen überlegen waren. Ferner sei noch erwähnt, daß die Nachprüfung der Tabelle an einer anderen Gruppe von Borstal-Jungen ihre Richtigkeit ergab (Kap. VII). Als Gegengewicht gegen die allzu unbefriedigend anmutende Kahlheit der statistischen Tabellen enthält die Borstal-Studie in einem besonderen Kapitel eine Anzahl von Fall-Geschichten. Sie wurden ohne besondere Auswahl dadurch gewonnen, daß jeder 15. der insgesamt 720 für die statistische Untersuchung verwendeten Fälle nach einem bestimmten Schema so eingehend dargestellt wurde, wie es das leider oft recht dürftige Aktenmaterial zuließ. Diese Fälle wurden im Einklang mit der statistischen Klassifizierung je nach der in der Tabelle aufgestellten Prognose in 5 Gruppen geteilt, und es wurde dann untersucht, inwieweit sich das aus der Fall-Geschichte ergebende Bild mit der statistischen Prognose deckte. Obgleich sich in den meisten Fällen eine völlige Übereinstimmung ergab, bestanden doch auch einige Ausnahmen. Es wurde betont, daß derartige Vergleiche den Zweck zu verfolgen hätten, solche Widersprüche genau zu untersuchen und mit ihrer Hilfe die statistische Tabelle gegebenenfalls durch Neubewertung einzelner Faktoren zu verbessern (S. 174). Ganz allgemein wurde darauf hingewiesen, daß eine Revision der Tabelle im Hinblick auf Änderungen in der beteiligten DelinquentenGruppe, auf die sie Anwendung finden sollte, oder in den verschiedenen Behandlungsarten möglicherweise von Zeit zu Zeit erforderlich werden könne (S. 141, 218—20). Aber auch abgesehen von dieser in der Natur der Dinge liegenden technischen Schwierigkeit wurde davor gewarnt, die ausgearbeitete Tabelle zur Entscheidung praktischer Fälle zu verwenden, da das Fall-Material hierzu nicht gut genug gewesen sei. Die Untersuchung habe sich daher damit begnügen müssen, die Methode der statistischen Prognose an einem praktischen Beispiel zu demonstrieren. Tatsächlich haben die englischen Strafvollzugsbehörden sich bisher denn auch auf gelegentliche versuchsweise Anwendungen beschränkt (siehe die Nachweise in „Deutsche Strafrechtsreform in englischer Sicht", S. 36 Fn. 73 und nunmehr in John P. Conrads „Crime and its Correction" [1965, S. 186ff.]). Die Gerichte haben bisher kein Interesse an der Frage gezeigt. In der Theorie dagegen ist von der Tabelle wiederholt, und zwar sowohl von Psychiatern und Psychologen als auch von Soziologen, Gebrauch gemacht worden (siehe insbes. Gibbens und Little). Der „Home Office" Psychologe Ham-

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mond bediente sich in seiner amtlichen Studie von „Preventive Detention" Fälle der gleichen Technik (oben I). Seine wichtigsten Ergebnisse waren folgende: Die in der Borstal-Studie ausgearbeitete Technik war auch für die von ihm untersuchte Gruppe vielfach rückfälliger Erwachsener brauchbar. Die von ihm benutzten Faktoren waren: verbrecherische Vorgeschichte, Arbeitsamkeit, Disziplinarvergehen im Gefängnis, psychologische Charakterzüge. Die häuslichen Verhältnisse und die von den Gefängnisbeamten gestellten Prognosen waren verhältnismäßig unwesentlich. Hammonds Schlußfolgerungen waren recht pessimistisch: Diese Täter seien so sehr zu Rückfällen geneigt, daß es auch bezüglich der günstigsten prognostischen Gruppe sehr schwer sei, eine gute Voraussage zu stellen. Auch habe den für die Entlassung verantwortlichen Behörden bisher kein zuverlässiges Material zur Verfügung gestanden, auf das sie ihre Entscheidungen hätten stützen können.

C. Kritische Einwände Bei der frühzeitig einsetzenden Kritik der kriminologischen Prognose-Forschung lassen sich zwei Hauptströmungen unterscheiden: die eine auf philosophisch-ethischer Grundlage alle Bestrebungen eines Voraussagens menschlichen Verhaltens verwerfende und eine andere derartige Bestrebungen zwar grundsätzlich billigende, aber einzelne ihrer Erscheinungsformen aus methodischen Gründen kritisierende. Die Gluecks und andere haben sich verschiedentlich mit den Kritikern beider Kategorien auseinandergesetzt (Summary of Proceedings, Third Intern. Congress, S. 164ff.; Predicting Crime and Delinquency, Kap. X I I ; Ventures in Criminology, S. 294ff.; meine Deutsche Strafrechtsreform in englischer Sicht, S. 33—8). Gegen jede Art der kriminologischen Prognose wenden sich Kritiker, die — wie ζ. B . Leferenz es formuliert — den Standpunkt vertreten, daß eine solche Prognose „im Gegensatz zu den Prinzipien unseres Strafrechts von einem kausal-deterministischen, positivistischen Ansatz" ausgehe (Gegenwartsfragen 1958, S. 45). Das soll offenbar bedeuten, daß die Einzigartigkeit des Individuums und seine Freiheit der Willensentscheidung jede Voraussage seines künftigen Verhaltens ausschlössen. Damit wird u. E . sogar von einem extrem indeterministischen Standpunkt aus zuviel behauptet und andererseits auch das Ziel der statistischen Prognose-Forschung verkannt. Man kann durchaus bereit sein, der Freiheit des menschlichen Individuums den größtmöglichen Spielraum zu gewähren, und trotzdem anerkennen, daß unser tägliches Leben ohne unaufhörliche, sich auf alle Gebiete menschlichen Verhaltens erstreckende, uns meistens gar nicht

klar zum Bewußtsein kommende Versuche einer Voraussage wenigstens der Hauptlinien eines solchen Verhaltens praktisch unmöglich wäre. Wenn wir eine Eisenbahnfahrt oder Luftreise unternehmen wollen, so befragen wir die Fahrpläne, d. h. wir setzen voraus, daß nicht nur das Wetter, sondern auch die beteiligten Eisenbahner oder Flugzeugangestellten sich so verhalten werden, wie der Fahrplan — der j a nur eine knappe Zusammenfassung vieler Erfahrungstatsachen und Verhaltens Vorschriften darstellt — es ihnen vorschreibt. Mitunter täuschen wir uns hierin, aber in der Regel treffen unsere Voraussagen doch zu — ungeachtet aller menschlichen Willensfreiheit. Sollen wir trotz häufiger Nebel- und Streikgefahr, falscher Wetterberichte und gelegentlicher Unachtsamkeiten des Personals auf den Fahrplan und auf Wettervoraussagen gänzlich verzichten und unsere Reisen völlig aufs Geratewohl antreten ? So ungefähr stellte sich das Bild der Strafzumessungspraxis früher dar. Die PrognoseForschung versucht, etwas mehr Ordnung in das Chaos zu bringen. — Abgesehen von diesen indeterministischen Einwänden stützt die grundsätzliche Ablehnung des statistischen Punkt- oder Punktwert-Verfahrens sich auf folgende Bedenken: Diese Tabellen sind „seelenlos"; sie lassen die Gesamtpersönlichkeit völlig außer Betracht und greifen einige wenige Faktoren zusammenhanglos und mehr oder weniger willkürlich heraus. Außerdem seien diese Tabellen rein statisch und ließen die dynamischen Veränderungen, die die Persönlichkeit und ihre Umwelt in Zukunft möglicherweise durchzumachen haben würden, unberücksichtigt. Die Anwendung der Tabellen in der gerichtlichen Praxis könne auch deshalb zu ernsten Ungerechtigkeiten für den Täter führen, weil statistische Tabellen nur für Gruppen, nicht für Individuen bestimmt seien, trotzdem aber die Entscheidung des Einzelfalles stark beeinflussen könnten. In diesen Bedenken sind Irrtum und Wahrheit auf das engste vermengt: Es ist natürlich zutreffend, daß eine statistische Tabelle „seelenlos" ist und für die Gesamtpersönlichkeit kein Verständnis hat, aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. Wie jede Maschine ist sie nur für einen bestimmten, eng begrenzten Zweck geschaffen und darf nur in diesem Rahmen verwertet werden. Wir sind auf solche seelenlosen Maschinen in stetig wachsendem Maße angewiesen; die Hauptsache ist, daß wir ihren Sinn und ihre Handhabung verstehen und nicht die Kontrolle über sie verlieren. Statistische Prognose-Tabellen können und dürfen nur zur Kontrolle und Vorbereitung der Bildung richterlicher und administrativer Überzeugung verwandt werden, niemals aber als alleinige Quelle. Man darf vielleicht auf das Beispiel des Elektro-Enzephalogramms ( E E G ) verweisen, das ebenfalls nur eines von vielen Hilfsmitteln — hier zur Feststellung gewisser

Rückfall und Prognose Geistiger Erkrankungen — ist und niemals für sich allein die Grundlage einer Diagnose bilden darf, trotzdem aber oft sehr wertvolle Dienste bei ihr leisten kann. Die Rolle statistischer PrognoseTabellen ist ähnlich, wenn auch vielleicht noch etwas bescheidener. Diese Vorbehalte werden u. E. von Geerds nicht genügend beachtet, wenn er (S. 111—2) ausführt, daß die statistischen Tabellen niemals für Richter und Vollzugsbeamte bindend sein dürfen; eine solche Bindung ist von der statistischen Forschung immer abgelehnt worden. — Ähnlich wie mit dem Vorwurf der „Seelenlosigkeit" steht es mit dem Bedenken, daß die Anwendung derartiger Tabellen im Einzelfalle zu ungerechten Ergebnissen führen könne. Wie es in der Borstal-Studie in vielleicht etwas zu stark zugespitzter Form ausgedrückt wurde (S. 47), ist „die Gerechtigkeit keine Funktion der Statistik" (siehe jetzt auch L. T. Wilkins, Social Deviance, 1964, S. 25ff. über das Verhältnis von Ethik und Wissenschaft im allgemeinen; ebenso Glaser a. a. 0 . S. 292: „Tabellen können keine moralischen Entscheidungen treffen"). Die Kehrseite dieser Trennung von Wissenschaft und Ethik besteht freilich darin, daß diejenigen Stellen, die wie Richter und Strafvollzugsbehörden — anders als der Statistiker — beide Elemente, Wahrheit und Gerechtigkeit, im Auge zu behalten haben, darauf achten müssen, daß die ihnen zur Verfügung gestellten statistischen Hilfsmittel nicht überfordert werden. Wenn also die Tabelle zeigen sollte, daß ζ. B. im Falle von X eine GruppenRückfallswahrscheinlichkeit von 80% besteht, so haben die mit X befaßten Behörden mit verdoppelter Gewissenhaftigkeit und allen ihnen sonst noch verfügbaren Hilfsmitteln zu prüfen, ob X nicht etwa zu der Minderheit von 20% gehören könnte, bei der eine Rückfallswahrscheinlichkeit nicht oder nur in sehr geringem Maße vorliegt. In diesem Zusammenhang sei auch die in der anglo-amerikanischen Literatur gelegentlich erwähnte Gefahr der „self-fulfilling prophecy" erwähnt (ζ. B. Robert Merton, Social Theory and Social Structure, 1957, Kap. XI), d. h. die Möglichkeit, daß individuelle Täter, die von einer für sie gestellten ungünstigen Prognose Kenntnis erhalten, sich teils aus Trotz, teils unter allzu starkem psychologischen Druck entsprechend verhalten, insbesondere wenn ihnen der Inhalt der Prognose amtlich eröffnet wird. Solche Mitteilungen sollten daher, wenn sie aus prozeßrechtlichen Gründen nicht zu vermeiden sind, in sehr vorsichtiger und schonender Form und mit den nötigen Vorbehalten erfolgen. Wenn mitunter aus der naturbedingten Begrenzung der Brauchbarkeit statistischer Prognose-Tabellen der Schluß gezogen wird, sie seien nicht imstande, das Problem der richterlichen Prognose befriedigend zu lösen (so Leferenz a. a. 0 . S. 40), so ist dem entgegenzuhalten, daß

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eine „befriedigende", d. h. alle anderen Mittel unnötig machende Lösung niemals beabsichtigt war; die Statistik ist sich der ihr innewohnenden Begrenzungen sehr wohl bewußt. Trotzdem ist sie wertvoll und insofern geradezu unentbehrlich, als sie ein viel größeres Erfahrungsmaterial — wenn auch nur unvollkommen — verarbeiten kann, als es mehr individuelle und daher notwendigerweise auf eine kleinere Anzahl von Fällen beschränkte Methoden tun können. In der Borstal-Studie ist ferner ausgeführt worden (S. 41—3), daß das Studium einer größeren Gruppe mitunter zu Erkenntnissen führen könne, die eine — im übrigen genauere — Beobachtung einiger weniger Fälle nicht ermöglichen würde. Es ist dort weiter darauf hingewiesen worden, daß eine jede Voraussage für den Einzelfall daran scheitern müsse, daß die künftige Entwicklung eines menschlichen Schicksals von unzähligen und oft völlig unvorhersehbaren Faktoren abhänge und eine Voraussage daher entweder Allwissenheit oder wenigstens eine völlige Kontrolle über das künftige Leben des einzelnen erfordere, die unmöglich und auch unerwünscht sei. Hierin liege offensichtlich eine der Erklärungen dafür, daß die Ergebnisse der intuitiven Methode sich so oft als weniger zuverlässig erwiesen haben als die der statistischen. Der Unterschied zwischen den beiden Methoden sei letzten Endes mehr quantitativ als qualitativ— ein Punkt, auf den unten noch zurückzukommen ist. Dem Einwände, daß die statistische Methode rein statisch nur auf die gerade bestehenden Verhältnisse zugeschnitten sei und künftige Entwicklungen unbeachtet lassen müsse, kann in beschränktem Maße wenigstens durch den Hinweis auf die statistischen Möglichkeiten einer Revision der Tabellen im Lichte späterer Veränderungen begegnet werden. Middendorff (bei Blau und Müller-Luckmann, S. 340), der sich ebenfalls mit den „Einwänden der traditionell bestimmten Strafrechtler gegen eine empirische wissenschaftliche Prognosemethode" auseinandersetzt, weist darauf hin, daß der Einwand, die statistische Prognose sei nicht mit der Forderung einer Individualisierung des Strafrechts zu vereinbaren, nicht mehr im Sinne des modernen Strafrechts liege, das es immer mehr mit dem Gruppenproblem in der Kriminalität zu tun habe. Es kommt hierbei natürlich darauf an, welche Art von Individualisierung man im Auge hat und in welcher Weise man ihre Berücksichtigung beschränken will. Es ist ferner auch mißverständlich, die Tabellen als Versuche aufzufassen, allzu vereinfachte Feststellungen über mögliche Verbrechensursachen zu treffen; die Ausführungen in der Borstal-Studie (S. 43—45, 59, 92) sollten es hinreichend klargestellt haben, daß das nicht der Fall ist. Auf die nicht grundsätzlich ablehnenden, sondern nur gewisse Einzelheiten der statistischen

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Prognose kritisierenden Stimmen ist vielfach im Laufe der Darstellung bereits eingegangen worden. Hier seien nur noch die folgenden Einwände behandelt: Wie schon früher erwähnt, h a t Frey die Glueckschen Arbeiten deshalb bemängelt, weil die Verfasser — und das gleiche trifft für viele andere Prognose-Forscher zu — die ihren Tabellen zugrunde liegenden Einzelfälle nicht persönlich gekannt hätten. Wir haben schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß eine solche persönliche Bekanntschaft vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus ein zweischneidiges Schwert sein kann (Group Problems in Crime and Punishment, 1955, S. 141—2): Einerseits mag sie die Erforschung der Tatsachen und das Verständnis der Persönlichkeit erleichtern; andererseits kann sie von Anbeginn ein Element der Voreingenommenheit hineintragen, das die Objektivität der Untersuchung schwer gefährden kann. Deshalb ist wohl die in den Vereinigten Staaten oft angewendete, allerdings kostspielige Methode vorzuziehen, die Untersuchung u n d auch die spätere Nachprüfung der Resultate an anderem Material (validation) von solchen Sachverständigen vornehmen zu lassen, die mit den Fällen nicht persönlich befaßt gewesen waren (siehe ζ. B. über die bekannte Cambridge-Somerville-Studie [Massachusetts] von Powers und Witmer meine Group Problems S. 146ff.). Hier besteht, wie anerkannt werden muß, ein Dilemma, das sich kaum vollkommen befriedigend lösen läßt. Ähnlich steht es mit dem Einwand, daß die statistischen Tabellen zu nichtssagend und zusammenhanglos seien. Das ist ebenfalls richtig, verkennt aber wiederum die Funktionen u n d Möglichkeiten der Statistik, deren Aufgabe es eben nicht ist, eine zusammenhängende Beschreibung der Persönlichkeit zu geben. Aber auch mit Bezug auf den eigentlichen Bereich der statistischen Tabellen ist — insbesondere von Nass in interessanten Ausführungen — darauf hingewiesen worden, daß die einzelnen in den Tabellen verwerteten Faktoren oder Symptome nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang miteinander Bedeutung haben können und daß daher die übliche Summierung, das schematische Aneinanderreihen von Faktoren bedenklich sei. Daß die amerikanischen Prognose-Forscher das nicht erk a n n t hätten, liege an ihrem Festhalten an einer überlebten psychologischen Lehre, dem Behaviorismus (Nass, Gegenwartsfragen 1958, S. 49—51). Es ist nicht ohne Interesse, daß ein anderer Psychologe, T. Grygier, neuerdings ganz ähnlich wie Nass — ohne dessen Ausführungen zu kennen — auf die Beziehungen zwischen den Faktoren hingewiesen h a t (Criminology in Transition, herausgeg. von T. Grygier, H. Jones und J . Spencer, 1965, S. 162—4), und dasselbe gilt für die BorstalStudie (S.154—5); vgl. auch oben: Es sei die sich aus dem Verhältnis verschiedener Faktoren möglicherweise ergebende Spannung, die „conflict

Situation", die oft das f ü r eine Prognose eigentlich Entscheidende sei. Auch die Gluecks haben übrigens besonders in ihren neuesten Schriften hierauf hingewiesen (ζ. B. Family Environment and Delinquency, 1962, S. 19—21 u. 155). Ein vielfach gegenüber dem Glueckschen Verfahren von Statistikern und statistisch geschulten Psychologen und Soziologen erhobener Einwand geht dahin, daß ihr in „Unraveling Juvenile Delinquency" benutztes Fall-Material einen viel höheren Prozentsatz, nämlich 50%, von Delinquenten enthalte, als man ihn in der Gesamtbevölkerung finden würde; die Außerachtlassung dieses Unterschieds führe zu einem grundlegenden mathematischen Fehler, der die gesamten Ergebnisse verfälsche. Das Gluecksche Verfahren könne nur dann statistisch korrekt sein, wenn die Proportion der Delinquenten in der Gesamtbevölkerung ungefähr die gleiche sei wie die Proportion in ihrem Fall-Material (so der Statistiker Α. A. Walters, BritJournCrim., Bd. VI [1956] S. 297ff.; der Soziologe A. J . Reiss, American Journal of Sociology, Bd. 57, S. 115; die Psychologen D. H. Stott, International Journal of Social Psychiatry, Bd. VI [1960] und T. Grygier, der in einem bisher unveröffentlichten Vortrag diesen Gedanken so formuliert: „The less delinquent the population from which the sample is drawn the less valid are the prediction tables".) Dieser Einwand betrifft aber, wie Walters anerkennt, im wesentlichen nur die in „Unraveling" angewendete Technik, nicht auch solche Prognose-Studien, die Gruppen von entlassenen Gefangenen oder ähnliches Material verwenden. Die Gluecks haben ihren Kritikern ausführlich erwidert (Ventures in Criminology, S. 295ff.); die Diskussion über diesen wichtigen P u n k t kann jedoch einstweilen noch nicht als abgeschlossen angesehen werden (H. J . Schneider, 1967). D. Die intuitive Methode Die bisher unternommene bedingte Verteidigung des statistischen Verfahrens bedeutet keineswegs eine Verwerfung der intuitiven Methode; vielmehr müssen sich beide ergänzen und in engstem Einvernehmen miteinander arbeiten. Es fragt sich aber, ob und wie eine solche Zusammenarbeit möglich ist. Die Bedeutung und Eigenart der intuitiven Methode in der Prognose-Forschung sind in der amerikanischen Literatur besonders von Paul Meehl in seinem beachtlichen Buch „Clinical versus Statistical Prediction", 1954, u n d in Deutschland hauptsächlich von Suttinger, Leferenz, Welsch und Geerds in wertvollen Ausführungen untersucht worden. Die Unterscheidung zwischen statistischen und intuitiven Methoden ist — wie kaum erwähnt zu werden braucht — von allgemeiner Bedeutung und nicht auf die Prognose-Forschung beschränkt. Sie ist verwandt, aber nicht identisch mit dem Gegensatz zwischen

Rückfall und Prognose der nomothetischen und der idiographischen Methode. Ohne sich ausdrücklich auf Dilthey und Max Weber zu berufen (vgl. die Nachweise in meiner „Comparative Criminology", S. 4 u. 360), suchte Exner (3. Aufl., S. 6) die Bedeutung einer „verstehenden" Psychologie für den Kriminologen zu erklären: „Verstehen ist Erfassen der Sinnzusammenhänge", „eineinfühlendes Erkennen"; diese Erforschung des Sinnzusammenhanges sei oft wesentlicher als die des naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhanges. In der neuesten Prognose-Literatur wird von einer „verstehenden Erfassung der Täterpersönlichkeit" gesprochen. Leferenz (a. a. 0 . S. 36—7), Welsch (S. 96) und Suttinger (S. 305) unterscheiden in der Entwicklung der intuitiven Methode etwa folgende Stufen: Zunächst die an keinerlei allgemeinen Regeln gebundene und daher völlig subjektive und nicht durch andere wiederholbare Beurteilung der Täterpersönlichkeit durch Praktiker wie Strafrichter und Anstaltsärzte, die ihre Prognosen teils bewußt, teils unbewußt auf ihre persönliche Kenntnis des Täters in Verbindung mit dem Studium seiner Akten und ihrer sonstigen Gerichts- und Anstaltserfahrung basieren. Alsdann kommt die von den kriminalbiologischen Dienststellen ausgebildete Fragebogenmethode, die „letztlich ebenfalls intuitiv" sei und sich zweifellos nicht bewährt habe. Sie hätten zwar ein umfangreiches objektives Material gesammelt, seien aber mit „einer Unzahl von Punkten" belastet, die für die psychologische Beurteilung nebensächlich oder gar verwirrend gewesen seien. Diese Methode habe außerdem auch deshalb versagt, weil sie eine anstaltliche Entlassungsprognose bezweckt habe, die keinen geeigneten Maßstab für die Beurteilung des Täters liefern könne (Leferenz, S. 37). Aber auch die verfeinerte intuitive Methode, die das letzte Stadium bildet, ermöglicht, wie Leferenz zugibt, keine sichere Voraussage (S. 45) oder, wie er es an anderer Stelle ausdrückt, sie wird nur in einem kleinen Prozentsatz der Fälle zu sicheren Urteilen gelangen können; wer mehr von ihr verlange, überfordere sie. Auch Suttinger (S. 305) und vor allem F. Meyer (1965, S. 231 ff.) äußern kritische Bedenken. Welsch (S. 96) will zwischen einem weiteren Begriff der intuitiven Prognose und einem engeren Begriff der „verstehenden Erfassung der Täterpersönlichkeit" unterscheiden; unter den letzteren Begriff seien nur diejenigen intuitiven Methoden zu bringen, die nicht rein gefühlsmäßig, sondern im Einklang mit den Grundsätzen der verstehenden Psychologie arbeiteten. U. E. ist eine über diese Versuche hinausgehende Klarstellung des Begriffs „intuitiv" wohl kaum möglich; er entzieht sich letzten Endes einer logischen Definierung. Meehl (a. a. 0 . S. 16) wendet sich gegen eine völlige Gleichsetzung der Begriffe „intuitiv" und „nichtstatistisch" oder „nicht-mechanisch"; die Be-

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griffe „klinisch" und „statistisch" seien keine unbedingten Gegensätze. Hierin liegt etwas Richtiges. Amerikanische Soziologen wie George Lundberg und Psychologen wie Theodore Sarbin stehen auf dem Standpunkt, daß auch eine scheinbar rein individuelle Methode nicht ganz auf statistische Hilfsmittel verzichten könne. Sogar der Psycho-Analytiker könne den Einzelfall oft nicht verstehen, ohne ihn mit anderen, ähnlichen Fällen aus seiner Praxis zu vergleichen; eine jede solche Vergleichung gehe aber bereits über den zur Beurteilung stehenden Fall hinaus und bedeute daher eine Annäherung an statistische Methoden. Alle diese Erwägungen laufen darauf hinaus, daß eine wissenschaftlich und praktisch befriedigende prognostische Methode ohne eine Kombination des intuitiven mit dem statistischen Verfahren nicht denkbar ist. Es fragt sich nur noch, wie eine solche Kombination aussehen müßte und insbesondere, welcher Methode bei einer Unvereinbarkeit ihrer Ergebnisse im Einzelfalle der Vorzug zu geben wäre. Suttinger (S. 316) fürchtet, daß eine Ergänzung der statistischen Ergebnisse durch individuelle Eindrücke, wie sie oft versucht wird, zu methodologischen Unklarheiten führen müsse. In der Tat kann eine solche Gefahr nicht von der Hand gewiesen werden, besonders falls man sich damit begnügt, die Ergebnisse der beiden Methoden unvermittelt nebeneinanderzustellen und dann nach Belieben der einen oder anderen den Vorzug zu geben, anstatt vorher einen konstruktiven Versuch zu unternehmen, die eine der anderen nutzbar zu machen, d. h. sie als Korrektur der anderen zu verwerten. Oben ist eine solche Möglichkeit bereits angedeutet worden: Die Einzelfälle, die sich abweichend von der statistischen Gruppenprognose verhalten haben, müssen — soweit sich das praktisch noch ermöglichen läßt — sorgfältig mittels der intuitiven Methode nachgeprüft werden, um auf diese Weise die Fehlerquellen in der statistischen Methode oder die infolge von Veränderungen der wesentlichen Umstände nötig werdenden Modifikationen der Tabellen klarzustellen. Ebenso müssen umgekehrt die Ergebnisse der intuitiven Methode ständig an Hand der statistischen Tabellen kontrolliert werden, die als Warnungssignale dienen können, daß die Intuition möglicherweise fehlgegangen sei, d. h. etwa einem Faktor entscheidende Bedeutung beigemessen habe, der sich statistisch durchweg als unwesentlich erwiesen hatte. Das ist ein langwieriges Verfahren, und es wird noch lange dauern, bis diese Kontroll-Untersuchungen zur Ausarbeitung einer zuverlässigeren kombinierten Methode führen können. Das gilt auch für die ähnlichen Vorschläge von F. Meyer (1965, S. 244 bis 245), der ebenfalls für eine Verbindung des statistischen und intuitiven Verfahrens eintritt.

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Rückfall und Prognose

Wenn Suttinger (S. 321) die individuelle Prognose „heute noch fast ausschließlich ein Programm, eine Forschungsaufgabe" nennt, so gilt das gleiche auch für die statistische Prognose. In der Zwischenzeit haben die beteiligten Praktiker die schwierige Aufgabe, die beiden Methoden mit aller Vorsicht anzuwenden und ihnen dadurch die Möglichkeit einer Verfeinerung zu geben, ohne andererseits die rechtsstaatlichen Garantien zugunsten des Täters zu vergessen. Die Frage der Beweislast in Fällen einer zweifelhaften Prognose, aber auch für die „Mittelgruppe" kann hier ausschlaggebend werden (siehe hierzu Geerds a. a. 0 . und F. Nowakowski in: Festschrift für H. von Weber, 1963, S. 113 ff.). E. Die Prognose erstmaliger Kriminalität In dem vorliegenden, hauptsächlich dem Rückfallproblem gewidmeten Artikel ist die Möglichkeit einer Voraussage erstmaliger Kriminalität bisher nur gelegentlich gestreift worden. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß eine solche Möglichkeit in der Nachkriegszeit eingehend untersucht und vielfach bejaht worden ist. Auch hier finden wir den Gegensatz zwischen der statistischen und der intuitiven Methode klar ausgeprägt. In der berühmten amerikanischen „Cambridge-Somerville Youth Study" wurden i. J. 1937 Prognosen dieser Art von 3 Kriminologen für 782 Jungen der beiden Städte Cambridge und Somerville in Massachusetts im Alter von 8—12 Jahren gestellt (Erwin Powers und Helen Witmer, An Experiment in the Prevention of Delinquency, 1951, Kap. V). Ihre Prognosen waren intuitiv, impressionistisch und „configurational" (S. 58, 276—277). Eingehendes Material war verfügbar hinsichtlich der persönlichen und sozialen Lebensgeschichte der Jungen, mit Ausnahme der ersten 3 Lebensjahre und der Heredität. Etwa 10 Jahre später wurden diese Prognosen von dritter Seite für 200 Jungen nachgeprüft (Kap. XVIII). Die ursprünglichen Prognosen hatten 69% als „wahrscheinliche künftige Delinquenten", 25% als „wahrscheinliche künftige Nicht-Delinquenten" und 6% als zweifelhaft bezeichnet. Das hervorstechendste Ergebnis der Nachprüfung war, daß i. J . 1937 die zukünftige Delinquenz erheblich überschätzt worden war. Bemerkenswert war ferner, daß zwischen den Jungen, die in der Zwischenzeit von Sozialarbeitern besonders betreut worden waren, und denen, die keine solche Betreuung erhalten hatten, kein nennenswerter Unterschied bestand (S. 281). Auf weitere Einzelheiten dieser interessanten Untersuchung kann hier nicht eingegangen werden (vgl. meine eingehende Besprechung des Buches in Group Problems in Crime and Punishment, S. 146—155). Mit größtem Nachdruck sind, besonders seit dem Erscheinen ihres „Unraveling Juvenile Delinquency" (1950),

die Gluecks für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Prognose künftiger Erstkriminalität sogar für 6jährige Kinder als eines unentbehrlichen Bestandteils der „preventiven sozialen Medizin" eingetreten (Preventing Delinquency and Crime, Kap. I X u. X, S. 148, und vor allem Ventures in Criminology, Kap. 7—10). Sie behaupten u. a., daß mehrere Studien in den Vereinigten Staaten und einigen anderen Ländern die Möglichkeit einer derartigen frühzeitigen Identifikation künftiger Delinquenten bewiesen hätten. Die Gegner, wie ζ. B. Stott, Grygier und bereits früher Frey, betrachten den Beweis als nicht erbracht (siehe schon oben C am Ende hinsichtlich der mathematisch-statistischen Frage des Vergleichsmaterials, auf dem die Tabellen in „Unraveling" aufgebaut waren) und lehnen derartige Versuche als zu gefährlich ab. Auch diese Diskussion kann ζ. Z. noch nicht als abgeschlossen gelten (H. J . Schneider, 1967). Die theoretischen Argumente der Gegner scheinen durchschlagend zu sein, aber es wird letzten Endes auf die praktischen Ergebnisse der Glueckschen Tabellen in ihrer Anwendung auf noch nicht-delinquierende Kinder ankommen. In jedem Falle müssen diese praktischen Versuche jedoch mit größter Vorsicht unternommen werden, um auch die entfernteste Möglichkeit von psychologischen und sozialen Schädigungen der beteiligten Kinder (die Gefahr der „self-fulfilling prophecy" 1) unter allen Umständen zu vermeiden (-> Psychologie des Verbrechens). I. A. Begriffsbestimmungen

Rückfall und

Gesetzgebungsfragen

Monographien Y. B a b a und T. N a k a n o : Some Observations on Recidivism in Japan (ohne Datum, enthält Information bis 1954). A.-E. B r a u n e c k : Die Entwicklung jugendlicher Straftäter (1961). L. F o x : The English Prison and Borstal-Systems (1952). E. F r e y : Reform des Maßnahmenrechts gegen Frühkriminelle (1951). Derselbe: Der frühkriminelle Rückfallsverbrecher (1951b). C. G e r m a i n : Le Traitement des Röcidivistes en Prance (1953). W. H. H a m m o n d und E. C l i a y e n : Persistent Criminals (1963). R. H e i n d l : Der Berufsverbrecher (4. Aufl., 1927). J. H e l l m e r : Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934—45 (1961). F. v o n L i s z t : Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge (2 Bde., 1905). N. M o r r i s : The Habitual Criminal (1951). Η. D. S p i e l e r : Die vorbeugende Verwahrung (I960). P. W. T a p p a n : Crime, Justice and Correction (1960). D e r s e l b e : in: Organized Crime and Law Enforcement, herausgeg. von M. Ploscowe (1952). W. U l l r i c h : Verbrechensbekämpfung (1961). It. V o u i n und J. L 6 a u t 6 : Droit P^nal et Criminologie (1956). Zeitschriften- und

Sammelwerkaufsätze

M. A n c e l : Le Röcidivisme en Droit Compares. R I D P , 26, 1955, S. 9—25.

Rückfall und Prognose Η . B i n d o k a t : Zur Rückfallsstrafe de lege ferenda, ZStW 71, 1959, S. 281 ff, G. Κ. B r o w n : The Treatment of the Recidivist in the United States. The Canadian Bar Review, Oktober 1945. P. C o r n i l : L'Exp6rlence Beige de Defense Sociale: Traitement des Rgcidivistes, Deuxiöme Cours International de Criminologie, Paris 1953, S. 42ff. D e r s e l b e : Le Probleme de la R^cidive et la Loi Beige de Defense Sociale. Bulletin de i'Administration des Prisons, Bruxelles, 12 e AnniSe Nr. 3, 1958. D e r s e l b e : The Treatment of Habitual and Abnormal Offenders. Acta Criminoiogiae et Medicinae Legalis Japonica, Bd. 30 Nr. 1, 1964, S. 1—6. E. D r e h e r : Die Vereinheitlichung von Strafen und sichernden Maßregeln. ZStW 65, 1953, S. 481. G. G r ü n w a l d : Sicherungsverwahrung, Arbeitshaus, vorbeugende Verwahrung u n d Sicherungsaufsicht im Entwurf 1962. ZStW 76, 1964, S. 633. M. H a g e m a n n : Art. Berufsverbrecher in der 1. Aufl. des H d K . Bd. I S. 132 ff. M. v a n H e l m o n t : Traitement et Liberation des Dilinquants d'Habitude: Aspects P^nitentiaires et Postpinitentiaires. Bulletin de I'Administration des Prisons,Bruxelles, Sept. 1950, S. 306 ff. D e r s e l b e : Le Traitement P^nitentlaire des Dilinquants Röcidivistes et des Anormaux. Bulletin Nov. Dez. 1959, S. 313 ff. D e r s e l b e : L'Indötermination de la Sentence et ses R6percussions. Bulletin Mai-Juni 1960, S. 111 ff. E. S c h m i d t : Kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Probleme in der deutschen Strafrechtsreform. ZStW 69, 1957, S. 359. R. S i e v e r t s : Referat auf der 8. Arbeitstagung der Großen Strafrechtskommission. ZStW 68, 1956, S. 417ff. J . E. H a l l W i l l i a m s : Zwanzig Jahre Strafrechtsreform in England u n d Wales. SchwZStr. 84, 1968, S. 1—41. Arbeitsmaterial Vergl. Darstellung des Deutschen u. Ausländischen Straf" rechts, Allg. Teil Bd. 3, 1908: Bericht von G. Radbruch· Anlage I zum Entwurf eines StGB von 1927: Die Behandlung wichtiger Fragen der Strafrechtsreform in der ausländischen Gesetzgebung: Bericht von W. Mittermaier, S. 79ff. Materialien zur Strafrechtsreform 2. Bd.: Rechtsvergleichende Arbeiten I. Allg. Teil: F. Geerds, Die Bekämpfung des Berufs- und Gewohnheitsverbrechens und Behandlung des Rückfalls, S. 175—92. Summary of Proceedings. Third International Congress on Criminology, London, September 1955. Published by The British Organising Committee, 1957: Berichte von N. Morris and R. Grassberger. E n g l a n d : Report on Persistent Offenders (1952). E n g l a n d : Preventive Detention. Report of the Advisory Council on the Treatment of Offenders (1963). V e r e i n i g t e S t a a t e n : National Commission on Law Observance and Enforcement (Wickersham Commission, 1931). Senate Investigation of Organized Crime (Kefauver Report, 1951). B e l g i e n : Loi de Defense Sociale k l'Egard dea Anormaux et des Delinquents d ' H a b i t u d e 9. 4. 1930. E . D r e h e r in S c h w a r z - D r e h e r : Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 27. Aufl. 1965. Β.

Statistisches

Monographien A.-E. B r a u n e c k : Die Entwicklung jugendlicher Straftäter (1961). F. E x n e r : Kriminalbiologie (1939); Kriminologie (1949). E. F r e y : Der frühkriminelle Rückfallsverbrecher (1951b). T. C. N. G i b b e n s und J . P r i n c e : Shoplifting (1962). D. G l a s e r : The Effectiveness of a Prison and Parole System (1964). R. G r a s s b e r g e r : Die Lösung kriminalpolitischer Probleme durch die Mechanische Statistik (1946).

91

M. G r ü n h u t : Practical Results and Financial Aspects of Adult Probation in selected Countries (United Nations, 1954). D e r s e l b e : Penal Reform (1948). R. H e i n d l : Der Berufsverbrecher (4. Aufl. 1927). F. v. L i s z t : Strafrechtliche Aufsätze u n d Vorträge (1905). H . M a n n h e i m : Social Aspects of Crime in England and Wales between the Wars (1940). D e r s e l b e : Comparative Criminology Bd. I (1965). D e r s e l b e und L. Τ. W i l k i n s : Prediction Methods in relation to Borstal Training (1955, Neuauflage 1965). F. Η. M c C l i n t o c k und Ε. G i b s o n : Robbery in London (1961). W. M i d d e n d o r f f : Soziologie des Verbrechens (1959). Τ. Ρ. und P. M o r r i s : Pentonviile (1963). J . P i n a t e l : Criminologie (1963). L. R a d z i n o w i c z (Herausg.): Sexual Offences (1957). J . R u m n e y und J . P. M u r p h y : Probation and Social A d j u s t m e n t (1952). Κ. S c h n e l l : Anlage und Umwelt bei 500 Rückfallsverbrechern. Ein Beitrag zum Problem des Gewohnheitsverbrechertums, erarbeitet an einem Material der Bayerischen Kriminologischen Sammelstelle (1935). E. S e e l i g : Lehrbuch der Kriminologie (1. Aufl. 1951). K.-H. S y d o w : Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung (1963). P. W. T a p p a n : The Habitual Sex Offender (1950). Β. W e h n e r : Die Latenz der Straftaten. Die nicht entdeckte Kriminalität. Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes (1957). J . W e n d : Untersuchungen an Straflisten vielfach rückfälliger Verbrecher (1936). D. J . W e s t : The Habitual Prisoner (1963). L. Τ. W i l k i n s : Social Deviance (1964, App. II). T. C. W i l l e t t : Criminal on the Road (1964). Zeitschriften- und

Sammelwerkaufsätze

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insbes.

Amtliche

Statistiken

D e u t s c h l a n d : Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik. Statistisches B u n d e s a m t : Bevölkerung und Kultur: Reihe 9. Rechtspflege. E n g l a n d : Criminal Statistics England and Wales. Neue Reihe. The Sentence of the Court (1964). F r a n k r e i c h : Compte General de I'Administration de la Justice Criminelle en France. I s r a e l : Criminal Statistics in Israel 1949—62 Vol. I 1962; Vol. I I 1964. I t a l i e n : Annuario di Statistiche Giudiziarie. B e l g i e n : Statistique Criminelle de la Belgiquc. H o l l a n d : Criminelc Statistick. Ö s t e r r e i c h : Kriminalstatistik. V e r e i n i g t e S t a a t e n v o n A m e r i k a : N P S Bulletin. National Prisoners Statistics (United States D e p a r t m e n t of Justice). Characteristics of State Prisoners (Federal Bureau of Prisons). Uniform Crime Rcports(FederalBureauoflnvestigation).

Rückfall und Prognose

92 C, Empirisch-beschreibende Darstellungen einzelner Rückfall- Täter

der

Lebensläufe

Monographien Sir C y r i l B u r t : The Young Delinquent (4. Aufl. 1944). W. H e a l y : The Individual Delinquent (1916). J . H e l l m e r : Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934—45 (1961). Η. M a n n h e l m : Comparative Criminology (2 Bde., 1965). A. M e r g e n : Die Methodik kriminalbiologischer Untersuchungen (1953). D e r s e l b e : Die "Wissenschaft vom Verbrechen (1961). Q. N a s s : Der Mensch und die Kriminalität. Bd. I : Kriminalpsychologie. Die Strukturgesetze der Täterpersönlichkeit (1959). T. P a r k e r und R. A l l e r t o n : The Courage of his Convictions (1962). Τ. P a r k e r : The Unknown Citizen (1963). W. R e c k l e s s : The Crime Problem (3. Aufl. 1961). C. S h a w : The Jack Roller (1930). D e r s e l b e : The Natural History of a Delinquent Career (1931). D e r s e l b e : Brothers in Crime (1938). Ε . H. S u t h e r l a n d : The Professional Thief (1937). D. J . W e s t : The Habitual Prisoner (1963). T. W ü r t e n b e r g e r : Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft (1957). Zeitschriften- und Sammelwerkaufsätze R. G a n a l : Biographien Jugendlicher Rechtsbrecher. Kriminalbiologische Gegenwartsfragen, H e f t 3, 1958, S. 109—21. D. Die Ursachen des

Arbeitsmaterial Summary of Proceedings. Third International Congress on Criminology, London, September 1955. Published by the British Organising Committee, 1957: Bericht von Baan. E.

Μ. B. C l i n a r d : Sociology of Deviant Behavior (1957). F. E x n e r : Kriminologie (3. Aufl. 1949). Η . J . E y s e n c k : Crime and Personality (1964). D. G l a s e r : The Effectiveness of a Prison and Parole System (1964). E . G l o v e r : The Roots of Crime (I960). S. und Ε. G l u e c k : Later Criminal Careers (1937). R . G r a s s b e r g e r : Die Lösung kriminalpolitischer Probleme durch die mechanische Statistik (1946). W. L u z : Ursachen u n d Bekämpfung des Verbrechens im Urteil des Verbrechers (1928). H . M a n n h e i m : Comparative Criminology (2 Bde. 1965). Ν. M o r r i s : The Habitual Criminal (1951). S. Q u e n s e l : Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie (1964). E . S e e l i g : Lehrbuch der Kriminologie (1. Aufl. 1951). D. J . W e s t : The Habitual Prisoner (1963). Sammelwerkaufsätze

P. d e B e r k e r : „ S t a t e of Mind" Reports. BritJournCrim. Bd. I, Juli I960, S. I f f . C. M. F r a n k s : Recidivism, Psychopathy and Personality, BritJournDel. VI, J a n u a r 1956, S. 192. J . H e l l m e r : Gewohnheitsverbrechertypen. MechrKrim. 43, November I960, S. 113. A. L i t t l e : Professor Eysenck's Theory of Crime. An empirical Test on Adolescent Offenders BritJournCrim. 4, Oktober 1963, S. 152—63. F . P a n s e : Die psychologische Problematik des Strafvollzugs im Hinblick auf den Besserungsgedanken. MschrKrim. 39, J a n u a r 1956, S. 6. W. R e c k l e s s : Halttheorie. MechrKrim. 44, Juni 1961, S. 8. J . T o b y : Criminal Motivation. BritJournCrim. 2, April 1962, S. 332. G. T r a s l e r : The social Relations of Persistent Offenders. Sociological Studies in the British Penal Services, herausg. von P. Haimos, 1965, S. 87—98. H . v a n R o o y : Findings of an Investigation into Habitual Offenders. Excerpta Crim. 3, 1963, S. 11—14.

Typologisches

Monographien Η. M a n n h e i m : Comparative Criminology (1965). E. S e e l i g : Lehrbuch der Kriminologie (1. Aufl. 1951). Ε. S e e l i g u n d W e i n d l e r : Die Typen der Kriminellen (1949). Zeitschriftenaufsätze S. uud E. G l u e c k : Varieties of Delinquent Types. BritJournCrim. 5, Juli und Oktober 1965. T. G r y g i e r : The Chronic P e t t y Offender: Law Enforcement or Welfare Problem 1 The Journal of Research in Crime and Delinquency, 1, Juli 1964, S. 150—70. A. K r e b s : Probleme der Behandlung Rückfälliger in der Strafanstalt. ZStW 68, 1956, S. 198—212. F. Die pönologische Sonderbehandlung

Rückfalls

Monographien

Zeitschriften- und

P. J . v a n d e r W a l t : Recidivism. BritJournCrim. 3, J a n u a r 1963, S. 283—8. T. W ü r t e n b e r g e r : Considerations Crlminologiques s u r les Causes de la Riicidive. R I D P , 26, 1955, S. 203—20.

der

Rückfälligen

Monographien J . P. C o n r a d : Crime and its Correction (1965). D. R. C r e s s e y (Herausg.): The Prison (1961). Τ. P. und P. M o r r i s : Pentonville (1963). A. O h m : Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug (1964). R. R i j k s e n : De lange Gevangcnisstraf (1957). G. S y k e s : The Society of Captives (1958). Zeitschriftenaufsatz G. M a u c h : Psychotherapie an Kriminellen in Holland. MschrKrim. 48, September 1965, S. 177.

I I . Prognose Ausschließlieh

oder wesentlich auf Prognose-Fragen schränkte Monographien

be-

Α. A. B r u c e , E. W. B u r g e s s und A. J . H a r n o : The Workings of the Indeterminate-Sentence Law and the Parole System in Illinois (1928). E . F r e y : Der frühkriminelle Rückfallsverbrecher (1951b). S. und E. G l u e c k : Predicting Delinquency and Crime (1959). D i e s e l b e n : Ventures in Criminology (1964). Η . M a n n h e i m und L. T. W i l k i n s : Prediction Methods in relation to Borstal Training (1955, Neudruck 1965). P. M e e h l : Clinical versus Statistical Prediction (1954). W. M i d d e n d o r f f : Die kriminologische Prognose (1967). L. E. O h l i n : Selection for Parole (1951). R. S c h i e d t : Ein Beitrag zum Problem der Rückfallsprognose (1936). Η. D. S p i e l e r : Die vorbeugende Verwahrung (1960). X. W e l s c h : Persönlichkeitsforschung und Prognose des sozialen Verhaltens von Rechtsbrechern in Deutschland (1962). Prognose-Fragen

nur nebenher behandelnde Monographien J . P. C o n r a d : Crime a n d its Correction. An International Survey of Attitudes and Practices (1965).

93

Schriftvergleichung F. E i n e r : Kriminalbiologie (1939); Kriminologie (1949). Τ. C. Ν. G i b b e n s et al.: Psychiatric Studies of Borstal Lads (1963). D. G l a s e r : The Effectiveness of a Prison and Parole System (1964). E. G l o v e r : The Boots of Crime (1960). S. und Ε. G l u e c k : Five Hundred Criminal Careers (1930); D i e s e l b e n : Later Criminal Careers (1937); D i e s e l b e n : Criminal Careers in Retrospect (1943); D i e s e l b e n : Juvenile Delinquents Grown Up (1940); D i e s e l b e n : Unraveling Juvenile Delinquency (1950); D i e s e l b e n : After-Conduct of Discharged Offenders (1945). R. G r a s s b e r g e r : Die Lösung kriminalpolitischer Probleme durch die mechanische Statistik (1946). W. H. H a m m o n d und E. C h a y e n : Persistent Criminals (1963). Η. M a n n h e i m : Group Problems in Crime and Punishment (1955); D e r s e l b e : Deutsehe Strafrechtsreform in englischer Sicht (I960); D e r s e l b e : Comparative Criminology, Bd. I (1965). F. M e y e r : Rückfallsprognose bei unbestimmt verurteilten Jugendlichen (1956). W. P i e c h a : Die Lebensbewährung der als „unerziehbar" entlassenen Fürsorgezöglinge (1959).

Zeitschriften- und

Sammelwerkaufsätze

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MANNHEIM

s SCHRIFTVERGLEICHUNG Α. Allgemeines 1. Gegenstand

der

Schriftvergleichung

Der Gegenstand der Schriftvergleichung (Sch.) oder Schriftexpertise wird von einigen Autoren

sehr weit gefaßt, nämlich als Untersuchung von Beschriftungen aller Art zur Tatbestands- und Wahrheitsermittlung bei der Rechtsfindung. Solche Beschriftungen können handschriftlich gefertigt oder mit Hilfe von Schreibmaschinen, verschiedener Druckverfahren oder sonstiger Techniken hergestellt worden sein.

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S chrif tvergleichung

Im engeren Sinne wird unter Sch. — teils aus historischen, teils aus sachlichen Gründen — die Untersuchung h a n d s c h r i f t l i c h e r Produkte aller Art zur Ermittlung ihrer Echtheit oder Unechtheit sowie zur Identifizierung des Urhebers verstanden. Im folgenden wird Sch. nur in dieser Bedeutung behandelt werden; zu den übrigen Fragen Kriminaltechnik. Die Sch. ist zu unterscheiden von der Handschriftendeutung, deren Ziel es ist, Aussagen über die psychische Eigenart des Schrifturhebers zu machen. (Sie wird meist kurz als Graphologie bezeichnet; einige Autoren möchten diesen Begriff jedoch als Oberbegriff für Sch. und Handschriftendeutung verstanden wissen.) Für die Sch. ist es unerheblich, wie eng die Zusammenhänge zwischen Schriftausdruck und Charaktereigenschaften sind. (Lediglich in Grenzfällen wird auch der Schriftsachverständige zu Fragen Stellung zu nehmen haben, die spezielle Kenntnisse in der graphologischen Interpretationstechnik erfordern; gerade bei solchen Fragestellungen ist aber meist besondere wissenschaftliche Vorsicht geboten.)

2.

Inter-

und

intraindividuelle Handschrift

Variabilität

der

In der -»• Handschrift hinterläßt eine Person eine Bewegungsspur, die in ihrer Eigentümlichkeit unter normalen Bedingungen interindividuell mehr oder minder unverwechselbar und intraindividuell relativ konstant ist. Die individuelle Handschrift ist also nicht durch absolute Einmaligkeit und Unveränderlichkeit gekennzeichnet, wie dies ζ. B. (praktisch) f ü r Fingerabdrücke gilt. Im einzelnen ist dazu auszuführen. Durch Anlagefaktoren und Lernprozesse im weitesten Sinne bilden sich im Individuum bestimmte lnnervationsmuster für die Sclireibbewegung, die neben den anatomischen Gegebenheiten des ausführenden Organs und der optischen Kontrolle das normale Schriftbild bestimmen. Die Handschrift einer Person ist aber keineswegs schlechthin individuell. Gemeinsamkeiten zwischen Handschriften ergeben sich vor allem durch Gleichheit oder Ähnlichkeit der Schulvorlage, nach der die Schrift erlernt wurde, durch bewußte oder unbewußte Anlehnung der Schrift an den Schriftstil bestimmter Nationen, Schichten und auch Einzelpersonen (ζ. B. Ehepartner) oder an den jeweiligen „Zeitstil" und weiter durch anatomische, physiologische und pathologische Ähnlichkeiten. Individualität der Schrift ist auch nicht durch absolute Individualität bestimmter Einzelmerkmale gegeben. Solche können zwar einen mehr oder minder großen Seltenheitswert haben, aber niemals als völlig individuell bezeichnet werden. Die Individualität einer Handschrift ist vielmehr durch die besondere K o n f i g u r a t i o n

ihrer graphischen Merkmale gegeben. Die Spezifit ä t dieser Merkmalskonfiguration kann mehr oder minder groß sein. In Extremfällen kann sie so gering oder wegen des geringen Umfanges der Schriftzüge nur so ungenau bestimmbar sein, daß die Möglichkeit einer Sch. ausgeschlossen werden muß. Die Handschrift einer Person ist nur relativ konstant. Konstanz ist in der Schrift niemals in dem Sinne gegeben, daß bei wortgleichen Schriftzügen völlige Deckungsgleichheit zu erwarten ist. Vielmehr weist jede Schrift auch unter konstanten Bedingungen eine mehr oder minder große Variabilität auf. Die Schrift ist weiterhin altersspezifischen Wandlungen unterworfen, vor allem vor Eintritt in das Erwachsenenalter und im höheren Alter. Darüber hinaus kann sich die Schrift durch eine Reihe von Einflußgrößen dauerhaft oder aktuell ungewollt verändern. Dabei ist meist nur begrenzt eine willkürliche Unterdrückung oder Kompensation solcher Veränderungstendenzen möglich. Insbesondere kann sich die Schrift verändern durch a) Läsionen oder Erkrankungen der am Schreibprozeß beteiligten Teile des Nervensystems oder des ausführenden Organs, b) den Einfluß bestimmter Pharmaka (am häufigsten Alkohol), c) besondere psychische oder psychosomatische Bedingungen (ζ. B. Erregung, Hast, E r m ü d u n g usw.), d) sonstige direkte Beeinträchtigung der Schreibmotorik (ζ. B. beim Schreiben nach besonderer Beanspruchung der beim Schreiben beteiligten Muskulatur oder bei direkter Mitwirkung einer zweiten Person), e) Fehlen oder Beeinträchtigung der optischen Kontrolle des Schreibvorganges (ζ. B. beim Schreiben ohne die benötigte Brille, bei unzureichender Beleuchtung oder Dunkelheit), f) sonstige ungünstige oder ungewohnte äußerliche Schreibbedingungen (ζ. B. ungünstige oder ungewohnte Körperhaltung, Schreibunterlage oder Schreibgeräte). Endlich aber ist es möglich, die Schrift — innerhalb mehr oder minder weiter Grenzen — willkürlich zu verändern. Eine solche Veränderung kann erfolgen, a) um die Schrifturheberschaft unkenntlich zu machen (Schriftverstellung), b) um die Schrift einer anderen Person nachzuahmen (Schriftnachahmung), c) mit sonstigen Vorsätzen, ζ. B. besonders deutlich, gefällig oder klein zu schreiben. Hierzu kann weiterhin auch die Wahl eines anderen Schriftsystems gehören — ζ. B. Blockschrift —, es sei denn, diese Wahl erfolge in Verstellungsabsicht (willkürliche Schrift Veränderung ohne Verstellungs- oder Nachahmungsabsicht).

S chriftvergleichung Aus den vielfältigen Variabilitätsursachen ergeben sich die besonderen Problemstellungen der Sch. Äußerliche Schriftähnlichkeit kann nicht nur durch Urheberidentität bedingt sein, sondern auch durch Schriftnachahmung oder zufällige Ähnlichkeit mit der Schrift einer anderen Person. Äußerliche Schriftunähnlichkeit kann nicht nur auf unterschiedliche Urheberschaft zurückgehen, sondern auch darauf, daß ein und derselbe Schreiber der Urheber ist, aber unter verschiedenen Bedingungen geschrieben oder seine Schrift willkürlich verändert hat. 3. Wissenschaftliche

Grundlagen

Angesichts dieser Situation dürfte es völlig einsichtig sein, daß ein reiner Vergleich der Buchstabenformen, wie er bis zu unserem Jahrhundert in der Sch. vorherrschte, notwendigerweise in vielen Fällen zu Fehlschlüssen führen muß und bekanntlich auch geführt hat. Sieht man von einzelnen, historisch bemerkenswerten Arbeiten ab, so kann erst im 20. Jahrhundert von der Konstituierung einer wissenschaftlich begründeten Sch. gesprochen werden. Der entscheidende Wandel ist vor allem in zwei Tatsachen zu sehen: a) Handschrift wurde nicht mehr nur als ein reines Formengebilde betrachtet, sondern als graphische Objektivierung eines Bewegungsvollzuges. Diese Änderung der Betrachtungsweise war für die deutende Graphologie und die Sch. in gleicher Weise bedeutsam. Einerseits rückte dadurch die Erforschung der psycho-physischen Entstehungsbedingungen der Handschrift in den Vordergrund, andererseits wurde dadurch die Grundlage für eins differenziertere Erhebung der graphischen Befunde geschaffen. Die Merkmalsanalyse richtete sich nun auf übergreifendere, nicht an die einzelnen Buchstaben gebundene graphische Eigentümlichkeiten, die mit Heiß eingeteilt werden in Merkmale der Bewegungsführung, der Raumeinpassung und der Formgebung. (Für die Sch. ist allerdings in der Hegel eine noch detailliertere Merkmalserfassung erforderlich als für die Schriftdeutung; sie hat sich gerade auch auf die scheinbar nebensächlichen Feinheiten des Striches und der Bewegungsführung, insbesondere auf spezielle Symptome der Schriftnachahmung und -Verstellung zu richten, die häufig erst unter dem Mikroskop erkennbar werden. Darauf wird im einzelnen noch zurückzukommen sein.) b) Es wurde aber weiterhin erkannt, daß Sch. (wie auch deutende Graphologie) wissenschaftlich nicht ohne systematische empirische Grundlagenforschung betrieben werden kann. Die Forderung nach empirischer Grundlagenforschung trat allerdings zeitweise — besonders durch den Einfluß von Klages — bedauerlicherweise wieder etwas in den Hintergrund. Man glaubte nämlich aus den „Gesetzen" der von Kla-

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ges begründeten Ausdruckswissenschaft alles Wichtige für die Sch. deduzieren zu können. Eine solche Position ist zuletzt noch für Deitigsmann (1954) weitgehend kennzeichnend, wenngleich er aufgrund seiner praktischen Erfahrungen als Schriftsachverständiger Klages zu ergänzen versucht. Wissenschaftstheoretisch gesehen stellen die „Gesetze" der Ausdruckswissenschaft lediglich Hypothesen dar. Sie haben sich überdies nur teilweise als brauchbare heuristische Arbeitsprinzipien erwiesen, wie insbesondere die Untersuchungen von Pfanne gezeigt haben. Seit etwa 15 Jahren hat sich jedoch die für die Schriftpsychologie und Sch. gleichermaßen bedeutsame Grundlagenforschung wieder erfreulich intensiviert. Sie richtete sich vor allem auf Fragen der Objektivität und Zuverlässigkeit der Erhebung graphischer Befunde, auf faktorenanalytische Untersuchungen der Dimensionen graphischer Ausdrucksbewegungen, auf Versuche exakterer, insbesondere quantitativer Merkmalserfassung sowie auf die weitere Erforschung der bewegungsphysiologischen Grundlagen des Schreibens. Darüber hinaus benötigt die Sch. jedoch spezielle Grundlagenforschung, insbesondere zu allgemeinen und besonderen Fragen der Schriftverstellung und -nachahmung sowie der ungewollten Schriftveränderungen unter den verschiedensten besonderen Schreibbedingungen. Dabei bestehen vielerlei Berührungspunkte und Querverbindungen mit Nachbardisziplinen der Kriminalistik, Psychologie und Medizin. Insgesamt ist hierzu ein durchaus beachtliches Erfahrungswissen zusammengetragen worden; die systematische Grundlagenforschung muß jedoch zweifellos noch intensiviert werden. Praktische Sch. ist weder eine einfache Technik des Formenvergleichs noch eine mehr oder minder intuitive „Kunst". Sie bedient sich rationaler, wissenschaftlich (i. S. v. scientific) begründeter Methoden. Durch Sch. werden Indizienbeweise geführt. Die Beweisführung ist dementsprechend gekennzeichnet durch lückenlose und objektive Befunderhebung und Bewertung der Befunde nach wissenschaftlichen Prinzipien. Daß in die Befundbewertung — wie in jede wissenschaftliche Interpretation — auch subjektive Momente eingehen können, versteht sich von selbst. Ebenso klar sollte aber auch sein, daß es keineswegs in jedem Fall möglich ist, zu eindeutigen Schlußfolgerungen zu gelangen; zuweilen ist überhaupt kein Urteil möglich, nicht selten nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil. Die Ursache hierfür ist in der Regel nicht in Unzulänglichkeiten der Methoden zu suchen, sondern weitaus überwiegend in der Unergiebigkeit des zu beurteilenden Schriftmaterials oder im Mangel an sonstigen erforderlichen Informationen; zuweilen allerdings auch in der unzureichenden Qualifikation des Sachverständigen.

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S chrif tvergleichung 4. Der

Schriftsachverständige

Leider streut die fachliche Qualifikation derjenigen, die als Schriftsachverständige tätig werden, immer noch recht beträchtlich. Diese Tatsache ist um so bedauerlicher, weil eben die Methodik der Sch. heute — im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten — so weit entwickelt ist, daß das Schriftsachverständigenwesen allgemein ein hohes Niveau haben könnte. Die fachlichen Voraussetzungen, die ein Schriftsachverständiger unbedingt erfüllen muß, sind schon an anderer Stelle genannt worden (->• Handschrift). Dort ist auch schon ausdrücklich betont worden, daß der nur in der Handschriftendeutung ausgebildete Graphologe, der häufig als Schriftsachverständiger herangezogen wird, für diese Tätigkeit nicht qualifiziert ist. Noch mehr gilt dies für Sachverständige, die nur eine allgemeine kriminalistische, medizinische oder sonstige naturwissenschaftliche Ausbildung absolviert haben. Es ist vielmehr in jedem Falle eine (zusätzliche) gründliche theoretische und praktische Ausbildung in Sch. unerläßlich. Es mangelt jedoch immer noch erheblich an Ausbildungsmöglichkeiten. An den Universitäten wird fast durchweg allenfalls eine Ausbildung in graphologischer Diagnostik geboten. Bislang ist nur an der Universität Mannheim ein systematisches Studium der Sch. möglich und kann hier als Prüfungsfach innerhalb der Diplom-Hauptprüfung für Psychologen gewählt werden. Es sollten aber auch spezielle Möglichkeiten der Ausbildung und Prüfung von Schriftsachverständigen geschaffen werden, wie dies zuletzt Meinert gefordert hat. Mehrmonatige Lehrgänge für geeignete Oberbeamte der Kriminalpolizei sind vom Bundeskriminalamt geplant (hierzu Klozbücher). So lange also immer noch eine verbindliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Schriftsachverständige fehlt, die schon seit vielen Jahrzehnten immer wieder nachdrücklich gefordert wurde, so lange sollten die Ermittlungsbehörden und Gerichte bei der Auswahl der Schriftsachverständigen mit besonderer Sorgfalt vorgehen. B. Beschaffung des Schriftmaterials Voraussetzung für die Durchführung einer wissenschaftlich vertretbaren Sch. ist, a) daß die in Frage stehende Schrift im Original zur Verfügung steht, b) daß ein qualitativ u n d quantitativ ausreichendes Vergleichsmaterial vorliegt. Obwohl diese Grundforderungen in der einschlägigen Literatur immer wieder und mit Nachdruck gestellt worden sind und obwohl von den Landeskriminalämtern — nunmehr nahezu einheitlich — sehr brauchbare und klare Richtlinien f ü r die Beschaffung von Schriftproben herausgegeben worden sind, wird dem Schriftsachverstän-

digen sehr häufig ein mehr oder minder unzureichendes Schriftmaterial zur Begutachtung vorgelegt. In der Tatsache, daß sich Sachverständige bisweilen mit einem unzulänglichen Material zufrieden geben, ist zweifellos eine Hauptquelle von Fehlbegutachtungen zu sehen. Es ist daher seine Pflicht, hartnäckig auf der Beschaffung befriedigenden Schriftmaterials zu bestehen, auch wenn seinen Anforderungen zuweilen nicht das nötige Verständnis entgegengebracht wird. Die Idealforderung, daß Vergleichsschriftproben durch den Sachverständigen selbst abzunehmen sind, läßt sich leider häufig aus Zeit- und Kostengründen nicht realisieren. In schwierigen Fällen kann diese Forderung jedoch unerläßlich sein; zumindest aber sollte in solchen Fällen der Sachverständige vor der Schriftprobenabnahme um R a t gefragt werden. Die wichtigsten allgemeinen Richtlinien für die Beschaffung von Vergleichsschriftproben sollen hier wenigstens kurz zusammengefaßt werden. Es wird dabei im wesentlichen den Richtlinien gefolgt, die 1964 durch die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt beschlossen wurden. (Hierzu Pfanne 1963 a und 1964.) 1. Von jeder als Schreiber der fraglichen Schrift in Betracht kommenden Person ist zunächst unbefangen geschriebenes Schriftmaterial (Spontanschriftproben), das etwa zur gleichen Zeit wie die fragliche Schrift entstanden ist, in möglichst großem Umfang zu beschaffen. Es soll einen breiten Überblick über die Variationsbreite dieser Handschrift geben. Von besonderem Wert ist Schriftmaterial, das mit dem fraglichen Schriftstück direkt vergleichbar ist hinsichtlich des Schriftsystems (ζ. B. lateinische Kurrentschrift), Schreibgerätes und Schriftträgers (Format, Papierqualität, Vordruck usw.). Es muß bei jeder Schriftprobe gesichert werden, ob sie auch tatsächlich von der betreffenden Person stammt. 2. Darüber hinaus müssen in der Regel von den in Frage stehenden Personen weitere Schriftproben (ad hoc-Schriftproben) abgenommen werden. Durch die Schriftprobenabnahme sollen vor allem gezielte Schriftproben gewonnen werden, die in der allgemeinen Schreibweise und in ihren E n t stehungsbedingungen der fraglichen Schrift möglichst weitgehend entsprechen. Dem Schreiber darf dabei aber niemals das fragliche Schriftstück gezeigt werden; sein Text ist vielmehr wörtlich zu diktieren. Im einzelnen ist vor allem folgendes zu beachten: a) Schreibgerät und Schriftträger müssen den bei der fraglichen Schrift verwendeten entsprechen. b) Es muß in demselben Schriftsystem geschrieben werden, in dem die fragliche Schrift gefertigt wurde. Häufig wird vom Schreiber behauptet, er beherrsche das geforderte Schrift-

Schriftvergleichung system nicht. Bleiben alle Ermunterungen und Aufforderungen erfolglos, so können nach einem Verfahren von Klüter oder von Pfanne (1963 a) dennoch brauchbare Schriftproben erzielt werden. c) Der in Frage stehende Text muß stets mehrfach geschrieben werden. Dabei werden meist spezielle zusätzliche Anweisungen zu geben sein, ζ. B. schneller, schulförmiger, linksschräger, „wie ein General" zu schreiben. Diese Anweisungen richten sich jeweils nach der Schreibweise in der fraglichen Schrift. d) Auch alle sonstigen Schreibbedingungen, die offensichtlich bei der Entstehung des fraglichen Schriftstücks gegeben waren, müssen soweit wie möglich bei der Schriftprobenabnahme reproduziert werden. Nur vermutete Schreibbedingungen können bei einer Wiederholung des Diktats eingeführt werden. Durch alle Vorkehrungen und Anweisungen bei der Schriftprobenabnahme soll erreicht werden, den verdächtigen Schreiber zu veranlassen, „experimentell so zu schreiben, wie er damals geschrieben haben müßte, wenn er der fragliche Schreiber wäre" (Pfanne 1963a, S. 454). 3. Bei strittigen Unterschriften gelten die vorgenannten Richtlinien sinngemäß. Am wichtigsten ist in der Regel die Beschaffung einer möglichst großen Anzahl unbefangen entstandener Unterschriften des Namensträgers, die erforderlichenfalls durch ad hoc geleistete Unterschriften ergänzt werden müssen. U. U. müssen aber vom Namensträger auch noch gezielte Text- und Unterschriftproben abgenommen werden. Ebenso sind von Personen, die der Fälschung der Unterschrift verdächtig sind, Spontan- und ad hocSchriftproben zu beschaffen. 4. Über jede Schriftprobenbeschaffung ist ein genauer Bericht anzufertigen. Insbesondere müssen aus ihm sämtliche Bedingungen der Schriftprobenaufnahme und alle Besonderheiten im Verhalten des Schriftprobengebers eindeutig hervorgehen. Der Untersuchungsauftrag an den Sachverständigen muß klar und eindeutig formuliert sein. In der Regel müssen ihm neben dem Schriftmaterial auch die Gerichtsakten zur Verfügung gestellt werden, aus denen er die notwendigen sonstigen Informationen meist entnehmen kann. Auf jeden Fall muß er aber Informationen über den (mutmaßlichen) Zeitpunkt und die (mutmaßlichen) Bedingungen der Entstehung des fraglichen Schriftstückes erhalten, ferner Angaben über Alter, Geschlecht, erlernten und ausgeübten Beruf der in Frage stehenden Schreiber, möglichst auch über Schulorte und Art der von ihnen besuchten Schulen.

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C. Schriftvergleichung im Rahmen der Urkundenuntersuchung 1. Prüfung von

Unterschriften

Die große Bedeutung der Unterschrift im Rechtsverkehr ist bekannt. Durch Unterschriftsfälschungen können auf scheinbar relativ einfache Weise unrechtmäßig Vermögensvorteile und sonstige Vorteile erlangt werden. Die relativ große Häufigkeit dieser Form der Urkundenfälschung ( U r k u n d e n d e l i k t e ) ist daher kaum verwunderlich. Auf der anderen Seite wird auch keineswegs so selten die Echtheit einer vom Namensträger tatsächlich geleisteten Unterschrift später — irrtümlich oder vorsätzlich — bestritten. Wie unzuverlässig die Aussagen von Laien — und zwar auch des Namensträgers selbst — sind, hat eine empirische Untersuchung von Michel gezeigt. Einer repräsentativen Stichprobe von 100 Erwachsenen wurden Unterschriftsproben unter variierten Bedingungen abgenommen. Diese wurden den Unterschriftsgebern später, vermischt mit zu diesem Zweck hergestellten „Fälschungen", zur Identifizierung wieder vorgelegt (insgesamt 25 Unterschriften). Im Durchschnitt ergab sich, daß jede dritte Fälschung des eigenen Namenszuges für echt gehalten wurde, während jede fünfte echte Unterschrift irrtümlich als Fälschung bezeichnet wurde. 2 5 % der Beurteilungen des eigenen Namenszuges waren also unrichtig. Als noch unzuverlässiger erwiesen sich die Urteile über fremde Unterschriften. Dasselbe Material wurde mit entsprechendem Vergleichsmaterial Laien vorgelegt, die sich für Unterschriftsidentifizierung interessierten. Bei diesen erweisen sich nahezu 3 5 % der Beurteilungen als falsch. Diese Ergebnisse dürften wohl nachdrücklich zeigen, daß bei fraglichen Unterschriften niemals auf die Begutachtung durch einen Schriftsachverständigen verzichtet werden sollte. Es muß allerdings sogleich betont werden, daß auch dieser nicht selten hier vor einer besonders schwierigen Aufgabe steht. Das ist von verantwortungsvollen Schriftsachverständigen immer wieder hervorgehoben worden. In einer weiteren — ζ. Z. noch nicht abgeschlossenen — Untersuchung wurde das obengenannte Unterschriftsmaterial nun auch Schriftsachverständigen vorgelegt. Sie gelangten zwar bislang zu ganz wesentlich besseren Resultaten, doch sind auch bei ihnen in besonders schwierigen Fällen Beurteilungsfehler und -Unsicherheiten offenbar k^um zu vermeiden. Dabei ist allerdings die bereits erwähnte ζ. T. recht unterschiedliche Qualifikation der Sachverständigen zu berücksichtigen. Doch wenden wir uns zunächst den Unterschriftsfälschungen und den Möglichkeiten ihrer Erkennung zu. Es kann unterschieden werden zwischen Pausfälschung („mechanischer Fälschung"), Freihandfälschung und Fälschung ohne

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S chrif t vergleichung

Vorlage. Zwischen diesen Grundarten bestehen jedoch gleitende Übergänge bzw. verschiedene Kombinationsmöglichkeiten. Bei Pausfälschungen bedient sich der Fälscher unterschiedlicher Hilfsmittel, um zu einem Namenszug zu gelangen, der mit der Originalunterschrift völlig oder doch weitgehend deckungsgleich ist. So kann er mit Hilfe von Pauspapier oder durch einfaches Durchdrücken eine Vorzeichnungsspur fertigen, die er dann mit einem normalen Schreibgerät nachfährt. — Auch wenn versucht wird, die Vorzeichnungsspur nachträglich zu entfernen, läßt sie sich doch sehr häufig schon bei Betrachtung mit der Lupe oder dem Binokularmikroskop — evtl. unter streifendem oder durchscheinendem Licht — nachweisen. Nur gelegentlich ist eine Überprüfung im I R - oder UVLicht oder die Anwendung anderer physikalischer ( - * Kriminaltechnik) oder chemischer Untersuchungsmethoden erforderlich. — Allerdings kann durch die Ermittlung derartiger Spuren eine Fälschung keineswegs als erwiesen gelten; die eigentliche schriftvergleichende Analyse muß sich vielmehr noch anschließen. Es ist wiederholt von Fällen berichtet worden, bei denen eine Unterschrift scheinbar Vorzeichnungsspuren enthielt, sich jedoch als echt erwies (ζ. B . Schneickert 1930 oder B . Mueller). Pausfälschungen können aber auch durch Abpausen hergestellt werden. Hierzu wird als Schriftträger entweder dünnes Papier verwendet, oder die Originalvorlage muß von hinten beleuchtet werden, so daß sie auf dem zu fälschenden Schriftstück durchscheint und nachgezogen werden kann. Letzteres kann ζ. B . einfach an einem Fenster erfolgen, weswegen dieses Vorgehen auch als „Durchfensterung" bezeichnet wird; treffender ist jedoch der allgemeinere Terminus „Gegenlichtpause". Pausfälschungen können durch den Laien sehr häufig nicht von echten Unterschriften unterschieden werden. Ihr Erfolg beruht darauf, daß auf diesem Wege eine weitestgehende Übereinstimmung in der Unterschrifts/orm erreicht werden kann. Durch eingehende Sch. lassen sich jedoch Pausfälschungen im allgemeinen an mehr oder minder deutlichen Widersprüchen zwischen der Bewegungsführung und Formgebung erkennen: Sie sind eine unlebendige Formkopie des Originals. Der Fälscher richtet nämlich im allgemeinen seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich darauf, die Buchstabenformen möglichst genau nachzufahren, und ist dadurch zu einer verlangsamten Bewegungsführung gezwungen. Es kommt dadurch zu mehr oder minder stark ausgeprägten Veränderungen des Striches: E r ist ungespannt oder nur schwach gespannt, es treten Verunsicherungen und fein ausschlagende Verzittcrungen auf (die oft aber erst bei entsprechenden Vergrößerungen sichtbar werden); die Druckverteilung weist

meist keinen natürlichen Rhythmus auf, sondern ist häufig gleichbleibend („gemalter" Strich), zuweilen arrhythmisch. Weiterhin ist der Fälscher häufig gezwungen, beim Nachfahren der Unterschrift einmal oder mehrfach innezuhalten. E s kommt dadurch zur Ausbildung von Haltepunkten oder — wenn das Schreibgerät abgesetzt wird — zu „Anflickungen". Besonders beweiskräftig ist schließlich noch jede in der Form richtige, in der Bewegungsabfolge jedoch falsche Wiedergabe von Schriftelementen. Korrekturen, die in der Literatur häufig als Fälschungsindiz auch bei Unterschriften genannt werden, geben nach eigenen empirischen Untersuchungen in der Regel nur dann Hinweise für das Vorliegen einer Fälschung, wenn sie besonders sorgsam ausgeführt sind. Gröbere Korrekturen findet man bei echten Unterschriften eher häufiger als bei Fälschungen. Selbstverständlich treten die genannten, für Pausfälschungen typischen Symptome nicht in jedem Fall mit gleicher Deutlichkeit auf. Überdies kann ihr Beweiswert dadurch gemindert werden, daß auch in den Vergleichsproben ähnliche Merkmale auftreten. E s ist daher in der Regel unerläßlich — auch wenn Fälschungssymptome festgestellt wurden — , daß noch eine gründliche Vergleichung mit den authentischen Unterschriften durchgeführt wird. Diese Vergleichung hat sich vor allem auf Feinheiten der Bewegungsführung, insbesondere der Druckgebung, zu konzentrieren. Dabei ist selbstverständlich die natürliche Variationsbreite innerhalb der echten Unterschriften zu beachten. Eine Merkmalsdiskrepanz zwischen einer einzelnen echten und der fraglichen Unterschrift besagt meist überhaupt nichts. Von besonderer Bedeutung sind daher Merkmalsbesonderheiten, die in den Vergleichsunterschriften relative Konstanz aufweisen und die zudem unauffällig sind, also vom Fälscher in der Regel nicht beachtet werden oder sich nur schwierig nachahmen lassen. Eine besonders günstige Situation ist übrigens gegeben, wenn sich das Original, nach dem die Pausfälschung gefertigt wurde, beschaffen läßt. Die dann nachweisbare Deckungsgleichheit von Original und Fälschung gilt in der einschlägigen Literatur als absolut sicheres Indiz für eine Fälschung. Diese Auffassung stützt sich auf das Klagessche Dogma von der Unwiederholbarkeit individueller Schreibbewegungen, das zwar plausibel, aber kaum beweisbar sein dürfte. Lassen sich auf dem Original nicht auch Spuren der Pausmanipulation feststellen, sollte auf eine weitere Analyse der fraglichen Unterschrift auch in diesem Falle nicht verzichtet werden. Bei Freihandfälschungen arbeitet der Fälscher ohne besondere Hilfsmittel, sondern versucht — meist nach vorheriger Einübung — die zu fälschenden Unterschriften nach der Vorlage nachzuahmen. Erfolgt die Nachahmung durch ein mehr

Schriftvergleichung oder minder langsames „ N a c h m a l e n " , so t r e t e n in der Regel die gleichen Fälschungssymptome auf wie hei Pausfälschungen. Zusätzlich k a n n es zu Verzerrungen der Raumproportionen, der Buchstabenformen u n d sonstigen Entgleisungen der Bewegungsführung kommen. Bei mehr oder minder rasch geschriebenen Fälschungen t r e t e n die f ü r langsame Paus- u n d Freihandfälschungen charakteristischen Symptome k a u m oder gar nicht auf. Wenn es dem Fälscher dabei gelingt, seine individuellen Schreibgewohnheiten völlig zu unterdrücken u n d sich ganz in den Bewegungsablauf der zu fälschenden Unterschrift einzuschreiben, so d a ß er bei der Fälschung selbst nicht mehr auf Details des Originals zu achten braucht, können Unterschriftsfälschungen entstehen, die nur sehr schwer u n d u. U. gar nicht als solche e r k a n n t werden können. Hierzu gehört allerdings sowohl ein außergewöhnliches Maß an Beobachtungsfähigkeit als auch ein ebenso ungewöhnliches graphisches Können. Andererseits gibt es jedoch auch Unterschriften, die von einem weniger begabten Fälscher relativ gut nachgeahmt werden können. Zu solchen Unterschriften gehören vor allem sehr schulförmige, wenig eigengeprägte Unterschriften auf der einen u n d stark vereinfachte u n d unleserliche auf der anderen Seite. Die Urheberschaftsbestimmung k a n n weiterhin schwierig oder gar unmöglich sein bei sehr kurzen Unterschriften u n d solchen, die eine sehr große intraindividuelle Variationsbreite aufweisen. Als dritte Fälschungsart k o m m t schließlich noch die Unterschriftsfälschung ohne Vorlage in Betracht, auf die der Fälscher zurückgreifen muß, wenn ihm nur der Name einer Person, nicht aber deren Unterschrift b e k a n n t ist. In diese Gruppe gehören weiterhin die fingierten Unterschriften von nicht existenten Personen. Relativ selten vollzieht dabei ein Fälscher eine solche Unterschrift in seiner normalen Schrift, meist versucht er vielmehr, seine Schrift zu verstellen. Ein Sonderfall liegt vor, wenn dem Fälscher die zu fälschende Unterschrift zwar b e k a n n t ist, er aber beim Fälschen keine Vorlage verwenden k a n n , entweder weil sie ihm nicht zur Verfügung steht oder weil er die Unterschrift in Gegenwart einer anderen Person leisten m u ß . In solchen Fällen gelingen dem Fälscher fast durchweg nur mehr oder minder plumpe Nachahmungen, deren Unechtheit in der Regel relativ leicht nachzuweisen ist. Bei einer fraglichen Unterschrift, die außerhalb der natürlichen Variationsbreite der Unterschriften des Namensträgers zu liegen scheint, m u ß stets in Betracht gezogen werden, daß sie trotzdem echt sein kann, aber vom Namensträger unter besonderen inneren oder äußeren Schreibbedingungen geleistet oder von i h m vorsätzlich verstellt geschrieben wurde. Dem Schriftsachverständigen müssen deshalb die angeblichen oder tatsächlichen Entstehungsbedingungen einer fraglichen UnterT

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schrift b e k a n n t sein. Sind sie i h m u n b e k a n n t ) k a n n die Gefahr bestehen, daß er — wie eigene empirische Untersuchungen mit E x p e r t e n gezeigt h a b e n — solche Unterschriften irrtümlicherweise als Fälschungen bezeichnet. H ä u f i g k ö n n e n jedoch Unterschriften, die unter außergewöhnlichen Bedingungen entstanden sind, d a r a n als echt e r k a n n t werden, daß sie ganz b e s t i m m t e Störungen oder Abweichungen aufweisen, die einem möglichen Fälscher in der Regel nicht u n t e r l a u f e n wären, w ä h r e n d sie andererseits in Merkmalsbesonderheiten, die vom Fälscher meist nicht b e a c h t e t werden, Ubereinstimmung mit den Vergleichsunterschriften aufweisen. Bei Verstellung der eigenen Unterschrift, in der Absicht, deren Echtheit später zu bestreiten (Mentalreservation), wird meist — wie bei sonstiger Schriftverstellung — eine mehr oder minder grobe Veränderung vorgenommen. W ä h r e n d bei Unterschriftsfälschungen möglichst große F o r m ähnlichkeit mit der Vorlage angestrebt wird, bem ü h t sich ein Namensträger bei Verstellung der eigenen Unterschrift im allgemeinen gerade u m Formwnähnlichkeit. Bei der Schriftvergleichung ist daher eine Unterscheidung zwischen Nachahmungsfälschung u n d Verstellung im allgemeinen relativ leicht möglich. Schwieriger k a n n die E n t scheidung der Frage sein, ob es sich u m eine Fälschung ohne Vorlage oder eine Verstellung der eigenen Unterschrift handelt. Meist gelingt jedoch die Verstellung nicht vollständig, so d a ß insbesondere an Eigentümlichkeiten des Strichbildes u n d der Bewegungsführung die tatsächliche Urheberschaft mit mehr oder minder großer W a h r scheinlichkeit nachgewiesen werden k a n n . Der Nachweis einer Verstellung der eigenen Unterschrift ist jedoch durch Sch. d a n n unmöglich, wenn der Namenseigner wie ein Fälscher vorgegangen ist u n d seine Unterschrift n a c h dem V e r f a h r e n einer Pausfälschung hergestellt oder sie abgemalt h a t . Mit dieser Möglichkeit m u ß bei jeder n a c h gewiesenen Fälschung dieser Art theoretisch gerechnet werden. 2. Prüfung von eigenhändigen Testamenten sonstigen handschriftlichen Urkunden

und

Ein P r i v a t t e s t a m e n t ist n u r gültig, w e n n es eigenhändig geschrieben u n d unterschrieben ist (§ 2247 BGB). Bei einem strittigen eigenhändigen Testament (im folgenden einfach T e s t a m e n t gen a n n t ) m u ß sich also die E r m i t t l u n g der E c h t h e i t oder Unechtheit auf Text u n d U n t e r s c h r i f t erstrecken (es sei denn, nur die E c h t h e i t einer der beiden Teile werde angezweifelt). Bei der vollständigen Fälschung s t e h t der Fälscher offenbar vor einer besonders schwierigen Aufgabe. F ü r die Unterschrift wird er zwar meist über eine Vorlage zur N a c h a h m u n g verfügen, nicht jedoch in der Regel über eine entsprechende Text-

100

Schriftvergleichung

vorläge. Er wird also gezwungen sein, aufgrund sonstiger Schriftstücke — oder gar aus dem Gedächtnis — die Schrift des Erblassers nachzuahmen. Eine fremde Schrift aber während eines längeren Textes konsequent ohne direkte Vorlage nachzuahmen, ist meist außerordentlich schwierig, wenn nicht völlig unmöglich. In der Tat werden Testamente von Personen, die zum Zeitpunkt der angeblichen Testamentserrichtung uneingeschränkt schreibfähig waren und eine mindestens einigermaßen individuell geprägte Handschrift schrieben, nur sehr selten gefälscht. Solche Fälschungen lassen sich meist relativ leicht nachweisen. Umgekehrt werden echte Testamente von voll schreibfähigen und schreibgewandten Erblassern auch selten in Frage gestellt. Trotzdem mangelt es nicht an strittigen Testamenten. Es handelt sich dabei vor allem um Testamente, die — sofern sie echt sind — von Personen mit altersbedingten oder pathologischen Störungen in der Handschrift geschrieben worden sind. Weiterhin werden solche Testamente häufig unter ungünstigen äußeren und inneren Schreibbedingungen geschrieben (ζ. B. im Bett, in Erregung und Todesfurcht). Andererseits bemüht sich der Testator meist trotzdem um eine möglichst deutliche Schrift, wobei er sich häufig wieder stärker der Schulvorlage annähert. Zuweilen wird auch eine andere Person ihm Schreibhilfe geben. Endlich ist damit zu rechnen, daß das Testament in mehreren zeitlich getrennten und/oder durch die Schreibbedingungen unterschiedenen Etappen geschrieben wird. Alle diese und viele weitere Umstände können bewirken, daß sich eine Testamentsschrift mehr oder minder beträchtlich von Schriftproben des Testators unterscheiden kann, die unter normalen oder anderen Bedingungen entstanden sind. Hinzu kommt aber, daß für die Sch. häufig kein befriedigendes Vergleichsmaterial zur Verfügung steht, insbesondere keine Schriftproben, die in der gleichen psychophysischen Verfassung und unter vergleichbaren sonstigen Bedingungen geschrieben wurden. Gerade diese besonderen Umstände aber kann sich ein Fälscher zunutze machen. Er kann nämlich in solchen Fällen immer hoffen, daß Abweichungen von der authentischen Schrift — zumindest vom Laien — auf die vermuteten besonderen Schreibumstände zurückgeführt werden oder als solche gar nicht erkannt werden können, weil keine geeigneten Vergleichsschriften mehr zur Verfügung stehen. Gar nicht so selten allerdings überschätzt ein Fälscher — der gerade bei Testamentsfälschungen ein Gelegenheitstäter ist — seine Chancen, und es kommt so zu ausgesprochen plumpen Fälschungen, bei denen nur einige äußerliche Merkmale wie Schriftsystem, Lage oder Größe nachzuahmen versucht werden. Auch die

Imitation von Bewegungsstörungen kann — vor allem durch Widersprüche mit zügig und gespannt geschriebenen Passagen — in derartigen Fällen leicht als solche erkannt werden. Aber auch in solchen Fällen sollte der Sachverständige zunächst versuchen, aufgrund von Zeugenaussagen (Familienangehörige, Ärzte usw.) die vermutlichen oder angeblichen Entstehungsbedingungen des fraglichen Testaments so genau wie möglich gedanklich zu rekonstruieren, wobei zuweilen zwei oder gar mehrere Versionen zu berücksichtigen sind. Sodann wird er das fragliche Testament eingehend zu analysieren und mit authentischen Schriftproben des Erblassers zu vergleichen haben. Bei allen Diskrepanzen zwischen Testaments- und Vergleichsschrift ist dann zu entscheiden, ob diese durch besondere Schreibumstände erklärt werden können oder ob sie Fälschungsmerkmale darstellen. Für diesen im Einzelfall oft sehr schwierigen Entscheidungsprozeß lassen sich kaum allgemeinere Regeln aufstellen, da sowohl echte Störungsmerkmale als auch Fälschungssymptome außerordentlich vielgestaltig sein können. Es sind daher sehr gründliche Kenntnisse vor allem der durch Altersabbau und Krankheiten bedingten Schriftveränderungen und-Störungen notwendig. Darüber hinaus werden zuweilen auch ad hoc-Experimente erforderlich sein, wenn Fragestellungen auftreten, die wissenschaftlich bislang noch nicht oder nicht ausreichend geklärt sind. Häufig kann es endlich zweckmäßig sein, beim Verdacht einer Fälschung schon relativ frühzeitig auch Schriftproben von tatverdächtigen Personen in die Sch. einzubeziehen, deren Kreis bei Testamentsuntersuchungen meist recht klein ist. Lassen sich nämlich beweiserhebliche Merkmalsentsprechungen zwischen der Testamentsschrift und der Schrift einer dieser Personen nachweisen, kann damit ein wichtiges Indiz für das Vorliegen einer Fälschung gegeben sein. Fehlen solche Übereinstimmungen, ist damit jedoch die Echtheit noch nicht bewiesen. Bei allen Fällen von tatsächlicher oder angeblicher Schreibhilfe durch eine zweite Person müssen mit dieser entsprechende Schreibversuche durchgeführt werden. Nur dann ist es nämlich in der Regel möglich, zu entscheiden, ob die vom Zeugen oder Tatverdächtigten behauptete Schreibhilfe überhaupt bzw. in der angegebenen Weise geleistet wurde. Bei derartigen Fällen muß also auch immer mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß in Wahrheit ein ohne Schreibhilfe entstandenes echtes oder rein gefälschtes Testament vorliegt. Bei Schreibhilfe werden zwei Verfahrensweisen unterschieden. a) Handstützung: Bei dieser kann der Testator seine Schriftzüge noch ausreichend selbst bestimmen. Diese Schreibhilfe wird Gebrechlichen nur gewährt, um ihnen das Schreiben zu erleichtern. Nach den Erfahrungen und Untersuchungen von

101

S chrif tvergleichung Buhtz, R. M. Mayer u. a. k a n n dabei ein Teil der Individualität der Handschrift verloren gehen. Meist kommt es zu einer Verdeutlichung der Handschrift, Ataxien (ausfahrende Schleuderbewegungen) erscheinen meist nicht mehr, Tremor (Zitterbewegungen) bleibt jedoch erhalten. b) Handführung: Hier kann der Testator die Schriftgestaltung nicht selbst bestimmen, er steht vielmehr völlig unter fremder Leitung. Es verschwinden damit die Schrifteigenheiten des Testators einschl. Tremor. Dafür treten aber Schriftmerlcmale des Handführers hervor. Durch die besonderen Schreibumstände erscheint aber die Schrift des Handführers nur in mehr oder minder verzerrter F o r m : Es k o m m t zu abrupten, ungelenk wirkenden Bewegungsumbrüchen, unorganischen Strichunterbrechungen, Schwankungen in Lage, Druck usw. Solche Störungen können natürlich besonders stark bei Testamenten sein, bei denen die Hand des Testators gegen seinen Willen geführt wurde. Selbstverständlich ist die Unterscheidung zwischen Stützung und Führung der Hand graduell und nicht prinzipiell. Die Entscheidung, ob eine noch zulässige Schreibhilfe vorliegt, ist nicht nur ein Problem der Sch., sondern auch eine juristische Frage, deren Beantwortung auch dadurch erschwert werden kann, daß innerhalb eines Testamentes Schreibhilfe unterschiedlicher Intensität geleistet wurde. Bei anderen handschriftlichen Urkunden steht meist nur die Echtheit oder Unechtheit der Unterschrift in Frage. Ausnahmen stellen aber ζ. B. Abschiedsbreife von Selbstmördern (-> Selbstmord) dar, deren Echtheitsprüfung in der Regel vom Sachverständigen vorgenommen werden sollte, um festzustellen, ob der Brief möglicherweise von einem Täter fingiert wurde, um seine Tat (ζ. B. Mord) zu verschleiern (-> Tötungsverbrechen). Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß echte Abschiedsbriefe häufig von der normalen Schrift des Selbstmörders deutlich abweichende Schriftzüge aufweisen können, weil auch sie meist unter außergewöhnlichen Begleitumständen entstanden sind. (Hierzu Karpisek 1956). Die Identifizierung des Schrifturhebers kann aber auch bei anderen Urkunden zur Aufklärung von Straftaten von Bedeutung sein ( D ) .

allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Sachverständigen zur Aufklärung beitragen. F ü r ihn von Bedeutung sind vor allem vermutlich nachträglich entstandene handschriftliche Zusätze oder Veränderungen, die jedoch einen gewissen Umfang nicht unterschreiten dürfen (einzelne Ziffern oder gar K o m m a t a bieten für die Sch. in der Regel kein brauchbares Ausgangsmaterial).

3. Prüfung

Schriftverstellung wird durch diese Definition aber auch abgesetzt gegen andere willkürliche Schriftveränderungen, die nicht der Verdeckung der Urheberschaft dienen sollen, sondern ζ. B. der Zielsetzung, besonders schön, deutlich, klein, gefällig usw. zu schreiben. Für die Sch. können sich in solchen Fällen aber die gleichen Probleme er-

von handschriftlichen von Urkunden

Verfälschungen

Die Untersuchung von Urkunden auf Verfälschungen ist primär ein Gegenstand der -> Kriminaltechnik, die hierfür geeignete physikalische und -»· chemische Untersuchungsmethoden entwickelt hat. Dies gilt überwiegend auch für handschriftlich durchgeführte Verfälschungen. In einigen Fällen kann allerdings auch der Schriftsachverständige

Sind die Zusätze oder Veränderungen von derselben Hand geschrieben wie der übrige Urkundentext, steht nur die Frage ihrer nachträglichen Fertigung zur Diskussion. Ein solcher Beweis ist auf dem Wege der Sch. allenfalls dann möglich, wenn sich die Schrift dieser Person in der Zwischenzeit (ζ. B. aus Kranklieits- oder Altersgründen) deutlich verändert hat. In allen übrigen Fällen sind bestenfalls Hinweise auf Besonderheiten in den Schriftzügen der Zusätze möglich, die darauf deuten können, daß diese bei anderer Gelegenheit entstanden sind. Günstiger ist die Situation bei Zusätzen oder Veränderungen, die ein Fälscher in einer nachgea h m t e n Schrift schreiben muß. Hier sind prinzipiell die gleichen Möglichkeiten gegeben wie bei der P r ü f u n g von Unterschriften oder ganzen Urkundentexten. D. Identifizierung von Schrifturhebern 1. Identifizierung

bei

SchrifiverStellung

Von Schriftverstellung wird gesprochen, wenn ein Schreiber seine Handschrift willkürlich verändert, in der Absicht, seine Urheberschaft nicht erkennbar werden zu lassen, nicht jedoch mit dem Ziel, die Handschrift einer anderen Person nachzuahmen. Letzteres wird als Schriftnachahmung bezeichnet. (Nicht immer ist allerdings eine klare Trennung zwischen Schriftverstellung und -nachahmung möglich. Zuweilen kann sich nämlich die Verstellung mehr oder minder diffus am Vorbild einer fremden Handschrift orientieren. Andererseits kann bei Fälschungen u. U. nicht eindeutig entschieden werden, ob der Fälscher seine Schrift nur verstellt h a t oder die andere Schrift nachahmen wollte. Für die Praxis der Sch. ergeben sich durch solche Grenzfälle in der Regel keine besonderen Probleme.)

geben wie bei Schrift Verstellung. Als Sonderform der bewußten Schriftveränderung kann mit Pfanne (1954) die willkürliche

102

Schriftvergleichung

Schriftenistellung herausgehoben werden. Diese Art der Veränderung kann von Schreibern vorgenommen werden, die für gewöhnlich eine stark gezügelte und gehaltene Schrift schreiben (Zuchtschrift oder „erworbene Schrift"), aber in Verstellungsabsicht oder aus anderen Gründen den sonst eingeengten Bewegungsimpulsen freien Lauf lassen, wodurch u. U. ein erheblich anderes Schriftbild entstehen kann. (Daneben gibt es weiterhin ungewollte Schriftentstellungen durch besondere Schreibbedingungen, wie ζ. B. Alkoholeinwirkung.) Zu erwähnen ist schließlich noch, daß Schriftverstellung nicht nur durch willkürliche Veränderung des Innervationsmusters versucht werden kann, sondern auch oder zusätzlich durch die willkürliche Schaffung von Schreibbedingungen, die eine Veränderung der Schrift bewirken (ζ. B. ungewöhnliche Schreibhaltung und sonstige physikalische Behinderungen des Schreibvorganges, aber auch vorsätzliche pharmakologische Belastung). Schriftverstellung findet man vor allem bei anonymen oder P s e u d o n y m e n S c h r e i b e r e i e n , sei es

in Form von Postkarten oder Briefen oder in Form von Beschriftungen auf Wänden, Plakaten usw. Meist enthalten sie Beleidigungen, Drohungen, Erpressungen, Falschanschuldigungen, oder sie sollen der Spurenverwischung oder -ablenkung dienen. Zuweilen haben sie aber auch gut gemeinte Ratschläge oder Überzeugungen sowie begründete Strafanzeigen zum Gegenstand. Daneben kann man aber auch, wie bereits erwähnt, bei Urkundenfälschungen verstellte Schriften finden, ζ. B. bei fingierten Unterschriften oder bei der Ausfüllung entwendeter Schecks. Bei einem Schriftstück, dessen Urheber unbekannt ist, läßt sich keineswegs in jedem Falle von vornherein entscheiden, ob es in einer verstellten oder unverstellten Handschrift geschrieben worden ist. Noch weniger ist es in der Regel möglich, gegebenenfalls die gewählte Verstellungstechnik zu bestimmen oder gar allein aus diesem Schriftstück die natürliche Handschrift des Schreibers zu erschließen. Dies muß ausdrücklich gesagt werden, weil in der Literatur immer wieder gegenteilige Behauptungen aufgestellt worden sind. Überdies ist es in der Regel auch völlig müßig, sich allein aufgrund des fraglichen Schriftstücks Gedanken darüber zu machen, ob bzw. wie eine Schrift verstellt wurde. Diese Fragen können erst sinnvoll dann gestellt werden, wenn Vergleichsschriften von Verdächtigen vorliegen. Als wissenschaftlich unvertretbar müssen Versuche bezeichnet werden, aufgrund graphologischer Schriftdeutung die Persönlichkeit des Schreibers zu erschließen, um dadurch angeblich nützliche Hinweise für dessen polizeiliche Ermittlung zu geben. Deitigsmann u. a. glauben sogar bei Schriftnachahmung (!) noch Aussagen über den Charakter des Täters machen zu können. Ein solches Vorgehen

widerspricht den einfachsten Regeln seriöser graphologischer Diagnostik. Erste experimentelle Untersuchungen zum Problem der Schriftverstellung wurden bereits 1900 von G. Meyer vorgelegt. Es folgten weitere ähnliche experimentelle Untersuchungen, die jedoch häufig an relativ kleinen Stichproben und in methodisch anfechtbarer Weise durchgeführt wurden. Ergebnisse dieser Untersuchungen sind meist sog. „Skalen der Herstellungsschwierigkeit", d. h. Tabellen, in denen Schriftmerkmale nach dem Grade ihrer vermeintlichen Verstellbarkeit angeordnet sind. Diese Rangfolgen sind aber aus mehreren Gründen fragwürdig. Einerseits variiert die Schwierigkeit der Herstellung bestimmter Schriftmerkmale interindividuell sehr erheblich, andererseits werden aber vor allem solche Merkmale verstellt, deren Verstellung dem jeweiligen Schreiber nicht nur relativ leicht fällt, sondern ihm auch besonders wirksam zu sein scheint. Endlich aber ist bei solchen Skalen nicht deutlich zwischen gewollten und nicht-gewollten Veränderungen unterschieden worden. Schon G. Meyer hat auf die Tatsache hingewiesen, daß mit beabsichtigten Schriftveränderungen auch unbeabsichtigte Begleitveränderungen einhergehen können. Klages hat diese Beobachtung zwar als ein „Gesetz" formuliert, aber die besondere Bedeutung dieser nicht-gewollten Begleiterscheinungen wurde erst von Pfanne herausgestellt. Pfanne ist es auch, der die bislang umfangreichste und sorgfältigste experimentelle Untersuchung zum Problem der Schrift Verstellung durchgeführt hat. Aufgrund seiner experimentellen Ergebnisse hat er zugleich auch die herkömmliche Methodik der Urheberschaftsermittlung von verstellten Schriften wesentlich ergänzt und teilweise grundlegend modifiziert. Pfannes Ansatz soll deshalb etwas ausführlicher dargestellt werden. Leider liegt allerdings die umfassende Publikation seiner Forschungsergebnisse, die in Buchform erscheinen soll, noch nicht vor. Die wichtigsten Resultate hat er jedoch vor allem in einem Aufsatz von 1963 (b) mitgeteilt. Pfannes Resultate basieren auf Verstellungsexperimenten, die er mit 590 Personen durchgeführt hatte. Die Verstellungstechnik wurde völlig freigestellt; eine ausreichende Motivation zu einer möglichst guten Verstellung ist offenbar erreicht worden. Es ergab sich, daß die Schrift Verstellung meist nicht klar-bewußt erfolgt. Pfanne spricht von „diffuser Komplexverstellung", die aber eine gleichzeitige gezielte Verstellung von Einzelmerkmalen nicht ausschließe. Neben gewollten und ungewollten Veränderungen unterscheidet er noch eine dritte Art, die zwischen beiden liegt und als „gemeinte Änderungen" bezeichnet wird. Die beiden letzteren faßt er zusammen unter dem Begriff „nicht-gewollte Veränderungen". Auf-

103

Schriftvergleichung grund seiner Untersuchungsergebnisse führt Pfanne hierzu aus: „Von den gewollten Veränderungen wird nur der rein äußere Eindruck der verstellten Schrift bestimmt. Die gemeinten und ungewollten Änderungen dagegen wirken in erster Linie auf die innere Struktur der Schrift, also auf dasjenige, an dem sich die Schriftvergleichung vorwiegend zu orientieren hat. Die gemeinten und ungewollten Änderungen sind quantitativ umfangreicher und qualitativ bedeutsamer und tiefergreifend, insgesamt also — was den Verstellungseffekt betrifft — wirkungsvoller als die gewollten Veränderungen" (S. 145). Besonders bedeutsam ist aber nun, daß die nichtgewollten Begleiterscheinungen nicht nur von der Verstellungstechnik abhängen, sondern auch von der Ausgangsschrift. Sie variieren also interindividuell, während sie aber intraindividuell — bei gleicher Verstellungstechnik und unter sonst gleichen Bedingungen — etwa nur im gleichen Maße variieren wie auch sonstige Schriftmerkmale; sie sind also reproduzierbar. Endlich aber hat Pfanne umfangreiche Untersuchungen über die Wechselbeziehungen von Merkmalsänderungen angestellt, d. h. er untersuchte, welche Änderungen bevorzugt gemeinsam auftreten und welche in der Regel nicht gepaart auftreten. (Er unterscheidet dabei verschiedene Grade von positiven und negativen AVechselbeziehungen, ohne allerdings eine an sich naheliegende korrelationsstatistische Auswertung vorzunehmen.) Verständlicherweise ist das gemeinsame Auftreten von Veränderungen, deren Paarung im allgemeinen sehr selten ist, bei einer Sch. wesentlich beweiserheblicher als Veränderungspaare, die allgemein sehr häufig sind. Die Methodik der Sch. bei der Urheberidentifizierung beginnt dementsprechend mit einem Vergleich zwischen der fraglichen Schrift und einer unbefangen entstandenen Schrift eines Verdächtigen mit der Frage: Wie müßte der Verdächtige seine Schrift verstellt haben, wenn er der Schreiber des fraglichen Schriftstücks gewesen wäre? Zuweilen ist schon in diesem Stadium der Ausschluß eines Verdächtigten möglich, aber nur äußerst selten ist auch schon aufgrund einer eingehenden Vergleichung dieses Materials Urheberidentität nachzuweisen. In der Regel müssen vielmehr Vergleichsschriften vom Verdächtigten abgenommen werden. Er ist dabei durch entsprechende Anweisungen zu veranlassen, „diejenigen Verstellungstechniken anzuwenden, die er angewendet haben müßte, wenn er der Urheber der fraglichen Schrift gewesen wäre" (Pfanne 1963b, S. 156). Verständlicherweise ist es oft keineswegs einfach, wenn nicht unmöglich, solche Vergleichsschriftproben zu erhalten. (Im einzelnen und auch zur prozeßrechtlichen Frage im Hinblick auf § 136 a

StPO hierzu Pfanne 1964.) Häufig aber gelingt es, auf diesem Wege wenigstens Schriftproben zu gewinnen, die eine brauchbarere Vergleichsbasis liefern als Proben, die unter völlig normalen Bedingungen entstanden sind. Nur relativ selten also wird der tatsächliche Urheber des fraglichen Schriftstückes Vergleichsproben liefern, die eine Untersuchung durch den Sachverständigen nahezu überflüssig machen. In der Regel ist eine gründliche Sch. auch beim Vorliegen gezielter Schriftproben durch den Sachverständigen unumgänglich. Diese wird auch nach wie vor besonderes Augenmerk auf die sog. Rückfälle in die gewohnten Schreibbewegungen richten (nicht jede Entgleisung ist aber ein Rückfall!) und in allen allgemeinen und speziellen Merkmalen die fragliche Schrift mit den verschiedenen Vergleichsproben zu vergleichen haben. Der Nachweis der Schrifturheberschaft ist ein Indizienbeweis, für den drei Regeln gelten: a) Eine einzelne Übereinstimmung zwischen fraglicher Schrift und Vergleichsschrift beweist noch nichts und sei diese Übereinstimmung auch scheinbar noch so individuell. Es kommt auch nicht allein auf eine möglichst große Anzahl von Übereinstimmungen und Entsprechungen an, sondern auf eine möglichst spezifische K o n f i g u r a t i o n solcher Übereinstimmungen. b) Die Beweisführung muß aber genau so gewissenhaft zur negativen Seite abgesichert sein. Schon die einzige unerklärbare Diskrepanz kann gegen Urheberidentität sprechen, auch wenn sich noch so viele Übereinstimmungen feststellen lassen. c) Darüber hinaus gibt es aber immer eine Anzahl von Befunden, die weder für noch gegen die Annahme einer Urheberidentität sprechen. Ist ihre Anzahl groß, so ist besondere Vorsicht bei einer Bejahung der Urheberidentität geboten, denn oft handelt es sich bei diesen fraglichen Schriften um solche, die von relativ vielen Personen geschrieben sein könnten. Eine Urheberschaftsbestimmung ist also immer dann unmöglich oder unsicher, wenn es entweder dem Schreiber gelungen ist, eine völlig entpersönlichte, ausdrucksarme Schrift zu schreiben, oder wenn seine Ausgangsschrift schon kaum Identifizierungsmerkmale enthält. (Daneben muß freilich ganz selten auch mit „Verstellungsgenies" gerechnet werden, die ausdruckslialtige, aber schlechthin nicht zu identifizierende verstellte Schriften schreiben können.) 2. Identifizierung

bei

Schriftnachahmung

Grundsätzlich gelten für die Identifizierung eines Urhebers nachgeahmter Schriften (oder Unterschriften) die gleichen Regeln wie bei der Urheberschaftsbestimmung verstellter oder sonstwie veränderter Schriften. Jedoch ist hier die

104

S chiift vergleichung

Identifizierung meist schwieriger, wenn nicht völlig unmöglich. Die Gründe sind vor allem in drei Umständen zu suchen. a) Nachgeahmte Schriftzüge haben meist einen geringen Umfang, häufig handelt es sich nur um Unterschriften. b) Es ist wesentlich schwerer, geeignete Vergleichsproben zu beschaffen, da es kaum möglich ist, einen Verdächtigen zur Nachahmung einer fremden Schrift zu veranlassen. Selbst wenn er sich dazu bereit erklärt, ist solches Material nur gelegentlich wirklich brauchbar. c) Endlich aber scheint es bei der konzentrierten Nachahmung einer anderen Schrift leichter möglich zu sein, eigene Schrittgewohnheiten zu unterdrücken, als bei frei gewählter Verstellung. Eine Urheberschaftsbestimmung auf dem Wege der Sch. ist grundsätzlich unmöglich bei Unterschriftsfälschungen, die nach einem Pausverfahren hergestellt wurden. Sie ist weiterhin so gut wie ausgeschlossen bei langsamen Freihandfälschungen. Möglichkeiten zur Ermittlung des Urhebers bestehen allenfalls bei rasch geschriebenen Freihandfälschungen sowie bei Fälschungen ohne Vorlage und fingierten Unterschriften. Günstiger ist die Situation bei Testamentsfälschungen und anderen Fälschungen oder Verfälschungen längeren Umfangs. Hier ist des öfteren eine ausreichend sichere Identifizierung des Urhebers möglich (Urkundendelikte). Bibliographien F. W i n t e r m a n t e l : Bibliographia graphologica. 2. Aufl. 1960. Eine relativ umfangreiche Bibliographie zur Sch. bis 1950 findet sich auch bei Pfanne (1954). I m folgenden werden daher nur diejenigen filteren Arbeiten aufgeführt, die im Text zitiert wurden. I m übrigen werden nur die wichtigsten nach 1950 erschienenen Arbeiten genannt. Monographien K. A d o l f s : Faktorenanalytische Untersuchung der gebräuchlichsten Handschriftvariablen. Phil. Diss. Freiburg i. Br. 1963. Ε. B l u m e n t h a l : Schulschriften der verschiedenen Länder. 1957. O . D e i t i g s m a n n : Grundlagen und Praxis der gerichtlichen Handschriftenvergleichung, 1954. E . D e u t s c h m a n n , G. H a r t m a n n , M. J e n k e v i c s , D. L ü c k u n d it. Z e l l e r : Untersuchungen zur Frage der Erkennbarkeit von Unterschriftsfälschungen. Dipl.Arb. Psychol. Inst. Freiburg i. Br. 1965. J . F a h r e n b e r g : Graphometrie. Phil. Diss. Freiburg i. Br. 1962. G. G r ü n e w a l d : Die Schreibhandlung bei beeinträchtigter Bewußtseinstätigkeit. Habil.-Schr. Düsseldorf 1963. R. H e i ß : Die Deutung der Handschrift. 3. Aufl. von R. Heiß und I. Strauch. 1966. K. K i r c h h o f f (Hg.): Ausdruckspsychologie (Handbuch der Psychologie Bd. 5). 1965. L. K l a g e s : Sämtliche Werke (herausg. v. E. Frauchinger, G. Funke, K . J . Groffmann, It. Heiß und Η . E. Schröder). 1964ff. (bes. Bd. 6—8). G. M e y e r : Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie. 1901. 4. Aufl. bearb. v. H . Schneickert. 1943. L. M i c h e l : Einführung in die gerichtliche Schriftvergleichung, (im D r u c k )

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ΙΟδ

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Schule

106 SCHULE

L DIE KRIMINOLOGISCHE FRAGESTELLUNG Wenn die kriminologische Bedeutung der Institution „Schule" diskutiert werden soll, so geht es vor allem um die Beziehung Schule und Jugendkriminalität. Diese Beziehung eröffnet mannigfaltige Aspekte ätiologischer, prophylaktischer und therapeutischer Art. I m folgenden soll die Kriminogenese der Schule zurücktreten, weil sie noch zu sehr kriminologisch unerforscht ist. Auf sie wird nur im Rahmen der Betrachtung der Ausschaltung kriminogener Einflüsse im schulischen Alltag eingegangen. Das Hauptgewicht der folgenden Erörterungen soll auf den Aufgaben der Schule bei der Vorbeugung gegen Kinderund Jugendkriminalität und bei der Behandlung der Kinder- und Jugendkriminalität liegen. Die Schule wird hierbei einmal als zentrale gesellschaftliche Institution gesehen, die bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität durch Polizei, Jugendgericht, Bewährungshilfe, Jugendstrafvollzug und Entlassenenfürsorge mitwirken muß, die vor allem aber auch innerhalb des Jugendstrafvollzugs eine wichtige kriminalpädagogische Aufgabe zu erfüllen h a t . Zum anderen wird die Aufgabe der Schule nicht nur in einer bloßen Wissensvermittlung (Unterrichtserteilung) erkannt. Der Schule und den Lehrern kommt vielmehr ein jugendkriminologisch bedeutsamer umfassender Erziehungsauftrag zu, der bisher von der Gesellschaft noch nicht in aller Klarheit erfaßt worden ist. Die Schule ist ein internationales Phänomen. Wenn im folgenden sehr stark auf ausländische, insbesondere nordamerikanische, jugendkriminologische Forschungsergebnisse eingegangen wird, so h a t dies zwar den Vorteil, der deutschen in der Frage der Beziehung Schule u n d Jugendkriminalit ä t etwas unterentwickelten Jugendkriminologie Anregungen zu geben, auf denen sie ihre weiteren Forschungen aufbauen kann. Dennoch muß vor einer kritiklosen Übernahme ausländischer jugendkriminologischer Forschungsergebnisse für deutsche Verhältnisse gewarnt werden. Die Grundprobleme mögen zwar im wesentlichen gleich liegen, obgleich auch dies von der -*• Vergleichenden Kriminologie methodisch einwandfrei noch nicht bestätigt werden konnte. Gleichwohl sind mit großer Wahrscheinlichkeit Differenzierungen u n d Modifikationen zwischen den deutschen und ausländischen Schulverhältnissen vorhanden, die nicht übersehen werden dürfen. Mit dieser Einschränkung wird im folgenden über ausländische jugendkriminologische Forschungsergebnisse u n d -methoden berichtet, u m der deutschsprachigen Jugendkriminologie zu dienen und den Artikel gleichzeitig auf eine breitere internationale Grundlage zu stellen.

II. DIE AUFGABE DER SCHULE BEI DER VORBEUGUNG GEGEN KINDER- UND JUGENDKRIMINALITÄT A. Die Haltung der Schule gegenüber der Kinderund Jugendkriminalität 1. Höhe der

Dunkelziffer

Noch nicht alle Schulen haben ihre jugendkriminologische Aufgabe bei der Verhütung und Behandlung der Kinder- und Jugendkriminalität erkannt. Zahlreiche Lehrer aller Schularten verneinen das Vorhandensein eines jugendkriminologischen Problems in ihren Schulen überhaupt (Kvaraceus, 1945). Diese Lehrer sind über die Höhe der Dunkelziffer bei der Kinder- und Jugendkriminalität nicht unterrichtet. Kerstin Elmhorn (1965) h a t 950 Schulkinder im Alter zwischen 9 und 14 Jahren in Stockholm im J a h r e 1959 nach der von ihnen begangenen Kriminalität befragt. Die Kinder sollten sich selbst zu ihren Taten bekennen; Anonymität war ihnen zugesichert. Die Schüler von 48 Klassen in 7 von 55 Schulbezirken Stockholms, und zwar in Schulbezirken der Innenstadt und der südlichen und westlichen Vorstädte, füllten einen standardisierten Fragebogen aus. Nach der Auswertung der beantworteten Fragebogen ergab sich folgendes Bild: 92% der Kinder bekannten, daß sie leichtere Delikte (ζ. B. Einschieichen in Kinos, Sportveranstaltungen, Verkehrsmittel; Zerschlagen von Straßenlaternen und Fenstern) begangen hätten. 5 3 % von ihnen gaben an, schwerere Straftaten (ζ. B. Ladendiebstähle, Diebstähle aus Autos, Automatendiebstähle, widerrechtlichen Gebrauch von Kraftfahrzeugen, Fahrrad-, Moped- und Motorraddiebstähle, Einbruchsdiebstähle) verübt zu haben. Nach Sexualdelikten war nicht gefragt worden, da sie in diesem Alter selten vorzukommen pflegen. Auf diejenigen, die leichtere Verfehlungen begangen hatten, entfielen im Durchschnitt 11 Taten je Person. Auf diejenigen, die schwerere Rechtsbrüche begangen hatten, entfielen noch durchschnittlich 6 Taten je Person. Der Polizei war nur ein geringer Teil der Straftaten von 34 Jungen (3,5%) dieser Stichprobe bekannt geworden. 2. Die Konfrontation der Schule mit KinderJ ugendkriminalität

und

Viele Lehrer erkennen das Vorhandensein eines jugendkriminologischen Problems zwar an, halten die Schulen jedoch zur Lösung dieses Problems f ü r unzuständig oder stehen dem Problem verständnislos gegenüber. Mit der Frage, wie sich die Schulen gegenüber Diebstählen ihrer Schüler zu verhalten pflegen, haben sich C. Somerha.usen- Chr. Debuyst und

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Schule Α. Racine (1962) empirisch auseinandergesetzt. Sie befragten 279 Schulen in Brüssel, in zwei weiteren städtischen und zwei ländlichen Schulbezirken Belgiens. Von diesen befragten Schulen sandten 179 Volksschulen brauchbar beantwortete Fragebogen zurück. Unter diesen Schulen gaben 69 (38,5%) an, daß ihnen in den letzten drei Jahren Diebstähle ihrer Schüler bekannt geworden seien. In 39 Volksschulen waren die Diebstähle von 77 Kindern aufgeklärt worden. Von 34 höheren Schulen, die die Fragebogen richtig beantwortet zurückgesandt hatten, berichteten 21 (63%), daß ihnen Diebstähle bekannt geworden seien, in die 27 Schüler(innen) verwickelt gewesen seien. Somerhausen, Debuyst u n d Racine ermittelten, daß die Schulen auf angemessene Reaktionen gegenüber den Straftaten ihrer Schüler nicht vorbereitet sind. Einige Schulen gingen nämlich völlig über die Diebstähle ihrer Schüler hinweg; sie nahmen davon Kenntnis, damit war die Angelegenheit für sie erledigt. Andere Schulen versuchten wenigstens noch, den oder die Täter ausfindig zu machen. Die meisten Schulen legten ihren Schülern Strafen im Sinne einer moralischen Verurteilung auf, die sich nach der Schwere der begangenen Tat, der Persönlichkeit des Schuldigen, dem Milieu, aus dem er kam, der Persönlichkeit des Lehrers, der Haltung der Klasse und insbesondere der Einstellung des Opfers der S t r a f t a t richteten. Nur wenige Schulen gibt es, die die Gründe f ü r die Diebstähle aufzudecken und den schuldigen Schülern dadurch zu helfen versuchen, daß Lehrer ihres Vertrauens mit ihnen ihr Fehlverhalten durchsprechen. Viele Schulen sind zu unbekümmert u n d zu passiv bei der Verhütung und Behandlung der Kinder- und Jugendkriminalität (Klare-Haxby, 1967, S. 105; President's Commission, 1967, S. 69). Die Lehrer müssen sich darüber im klaren sein, daß die Schulen eine der letzten entscheidenden sozialen Institutionen sind, die die Möglichkeit haben, durch aktive Maßnahmen Kinder- und Jugendkriminalität zu verhüten. Es geht nicht n u r u m die Vermeidung von Erziehungsfehlern; es geht u. a. auch darum, kriminell gefährdete Kinder und Jugendliche frühzeitig zu erkennen (Glueck, 1950, 1953; Kelly, 1964; Khleif, 1964; Kvaraceus, 1961; Stott, 1956). Die Lehrer müssen jugendkriminologisch aus- und fortgebildet werden. Wenn sie sich wegen der Fülle ihrer Aufgaben außerstande sehen, sich eingehender mit kriminell gefährdeten Kindern u n d Jugendlichen zu beschäftigen, dann müßte wenigstens in jeder größeren Schule ein speziell ausgebildeter Lehrer vorhanden sein, der sich u m die Problemfälle kümmert. Die Zusammenarbeit zwischen Schulen u n d Familien müßte gerade auch im Hinblick auf die Verhütung und Behandlung der Kinderu n d Jugendkriminalität noch verstärkt werden.

Entsprechend jugendkriminologisch vorgebildete Sozialwissenschaftler (Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter) müssen den Lehrern mit Rat u n d Hilfe zur Seite stehen (Gore, 1965). Die Eltern müssen auch mehr noch als bisher aufgefordert werden, Erziehungsberatungsstellen in Anspruch zu nehmen. Schließlich müssen Sonderschulen nicht nur für intellektuell unterbegabte, sondern auch für emotionell gestörte Kinder eingerichtet werden (Stullken, 1959). B. Die Ausschaltung kriminogener Einflüsse 1. Schulschäden durch pädagogische

Mißgriffe

a) Ausbildung oder Erziehung und Bildung als Schulziel. Das Erziehungssystem unseres Zeitalters wird von der Gefahr bedroht, daß der Unterricht, die Ausbildung das Übergewicht erlangt, der Problemkreis der Erziehung und Bildung der Persönlichkeit aber in den Hintergrund tritt. Die beiden Tätigkeitsbereiche sind nicht voneinander zu trennen. Bloße Wissensvermittlung genügt zur Verhütung der Kinderu n d Jugendkriminalität nicht. Das zeigt das Beispiel der Entwicklungsländer, die bei weitverbreitetem Analphabetentum nur eine niedrige Kinder- und Jugendkriminalität auizuweisen haben. Hieraus kann m a n den Schluß ziehen, daß mit der übergewichtigen Unterrichtung die Kinder- und Jugendkriminalität steigt, wenn sie nicht mit einer entsprechenden Charakterbildung verbunden wird. Die Schule h a t es heute freilich in den hochzivilisierten Industriestaaten schwer. Denn viele Kinder sind bereits Problemkinder, wenn sie eingeschult werden ( E h e und Familie, I. S. 164—168). Sie erfahren echte Gefühle der Zuneigung oft erst in der Schule. Die übermäßig durch Arbeit belasteten und durch Vergnügungen in Anspruch genommenen Eltern haben keine Zeit mehr, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen, und ein großer Teil von ihnen versteht auch gar nicht, in welcher Weise sie ihre erzieherischen Aufgaben zu lösen haben. Die Schule m u ß heute deswegen weitgehend die Aufgaben der Eltern mit übernehmen u n d das familiäre Versagen auszugleichen suchen. Man empfiehlt einen Speziallehrer, der sich nur mit der Erziehung der Eltern befassen soll, die auf ein psychodynamisch ungestört funktionierendes Familienleben und die rechte Erziehung ihrer Kinder nicht ausreichend vorbereitet sind. Das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG h a t nur dann einen Sinn, wenn die Eltern es recht zu gebrauchen wissen. Um den Kindern bestimmter benachteiligter Gruppen der Bevölkerung gleiche Bildungschancen einzuräumen, schlägt man Ganztagsschulen vor. Sie würden allein in der Lage sein, diesen Kindern eine genügend geschützte Atmosphäre und Geborgenheit für eine ungestörte

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Schule

emotionale und intellektuelle Entwicklung zu gewährleisten. Da ein Mangel an Lehrern besteht und die unterrichtenden Lehrer mithin regelmäßig überlastet sind, sollen ihnen sozialpädagogische Hilfsdienste zur Verfügung stehen, um sie mehr für ihre Unterrichtsaufgabe frei zu machen. Hierzu muß folgendes kritisch bemerkt werden: Wenn auch sozialpädagogische Hilfskräfte (ζ. B. Schulpsychologen, -psychiater, pädagogische Sozialarbeiter) zur Entlastung und Beratung der Lehrer unerläßlich sind, so bleibt der Klassenlehrer nach den Eltern doch die Zentralperson bei der Vorbeugung gegen Kinderund Jugendkriminalität. Denn er hat mit seinen Schülern einen werktäglichen, langdauernden und intensiven Kontakt. Er darf sich nicht damit begnügen, erziehungsschwierige, kriminell gefährdete Kinder und Jugendliche den sozialpädagogischen Hilfskräften zuzuweisen oder den Eltern den Rat zu geben, Erziehungsberatungsstellen zu konsultieren. Er muß zunächst einmal selbst erziehungsschädliche Praktiken vermeiden, die zur Entstehung der Kinder- und Jugendkriminalität mit beitragen könnten. Er muß sich ferner aktiv mit in die Behandlung der Kinderund Jugendkriminalität einschalten. Für gute Eltern, die ihre Erziehungsaufgaben gegenüber ihren Kindern voll erfüllen, kann der Staat nicht ohne weiteres sorgen, dafür muß er alles dazu tun, daß gut ausgebildete, charakterlich einwandfreie Lehrer ihren Erziehungsaufgaben richtig nachkommen. b) Psychische Schulschäden und ihre Entstehung. Zu diesen Erziehungsaufgaben gehört, daß der Lehrer die ersten Symptome krimineller Gefährdung bei seinen Schülern erkennt, daß er weiß, in welchen Fällen er die Hilfe von psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen heranziehen muß, und daß er allen seinen Schülern gegenüber peinlich gerecht ist. Sozial unangepaßte, kontaktgestörte, emotional labile Kinder und Jugendliche sind in der ernsten Gefahr, kriminell abzugleiten. Das delinquente Kind fühlt sich meist unerwünscht, ungeliebt, ungerecht bestraft, gegenüber anderen Schülern herabgesetzt, in seinen Rechten und Bedürfnissen als Individuum mißachtet. Abgesehen vom Vorhandensein krankhafter Persönlichkeitsschädigungen, beantworten Kinder und Jugendliche sehr oft pädagogische Mißgriffe ihrer Eltern und Lehrer mit sozial abweichendem Verhalten. Die menschlichen Beziehungen der delinquenten Kinder und Jugendlichen sind in deren Elternhaus und in ihrer Schule meist ernsthaft gestört. Verantwortungsbewußte Lehrer dürfen es erst gar nicht so weit kommen lassen. Ihre Einstellungen tragen entscheidend mit dazu bei, ob sich Kinder und Jugendliche zu gesunden, eigenverantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln oder ob Persönlichkeitsschäden entstehen, die — je nach

der Persönlichkeit des Kindes oder Jugendlichen — zu psychosomatischen Störungen, neurotischen Symptomen oder delinquentem Verhalten (actingout) fehlverarbeitet werden können (H. J. Schneider, 1965 a). Die Strafe ist immer ein letztes Mittel gegenüber einem sozial zu mißbilligenden Verhalten, das bereits Unheil und Schaden angerichtet hat. Ein wichtiges Ziel der Pädagogik der Strafe muß deshalb darin bestehen, einer Bestrafung vorzubeugen, indem sie es gar nicht erst zu delinquentem Verhalten kommen läßt. Auf die Schule bezogen, bedeutet dies, daß verbrechensbegünstigende Einflüsse ausgeschaltet und verbrechensverhütende oder wenigstens verbrechensmindernde Maßnahmen ergriffen und unterstützt werden. Kinder- und Jugendkriminalität wird sehr selten allein durch pädagogische Mißgriffe in der Schule verursacht (Gegesi Kiss, 1964; Henry, 1948; W. E. Schafer, 1966 und 1967). Der herrschende kriminalätiologische Mehrfaktorenansatz geht von einem fast unauflösbaren, dynamischen Verflochtensein von geschichtlich gewordenen, persönlichen und situativen Teilbedingungen aus. Ein Schulschaden kann allerdings einen Beitrag oder einen letzten Anstoß zur praktischen Entfaltung einer schwerwiegenden Verhaltensstörung (Begehung krimineller Handlungen, Selbstmordversuche, Prostitution) bilden. Schulschäden entstehen oft durch charakterlich ungeeignete, jugendkriminologisch nicht ausgebildete Lehrer und unzureichende Lehrbedingungen. Charaktermängel der Lehrer wirken sich auf die emotionale Klassenatmosphäre unmittelbar aus. Für Lehrer, die in übertriebener Weise nach der Bewunderung durch ihre Schüler, nach Geltung und Popularität streben, sollte in der heutigen Schule kein Raum mehr sein. Die charakterlich und pädagogisch besten Lehrer gehören in die Großstadtschulen, da diese am meisten mit Disziplinarschwierigkeiten zu kämpfen haben. In diesen Schulen dürfen keine Erzieher eingesetzt werden, die an anderer Stelle den Anforderungen nicht gewachsen waren. Die SchulVerwaltung muß ferner dafür sorgen, daß die Lehrer jugendkriminologisch besonders aus- und weitergebildet werden. Überfüllte Klassen verhindern nur zu oft, daß sich der Lehrer um kriminell gefährdete Schüler genügend kümmern kann. Es fehlen Sonderschulen und -klassen für physisch behinderte, geistig zurückgebliebene und emotional gestörte Kinder und Jugendliche. Jedes Kind muß — seinen Fähigkeiten gemäß — in der für es adäquaten Schule eingeschult werden. Man schätzt, daß etwa 10% aller Schulkinder emotional gestört sind, und fordert für 5000 Schulkinder einen Schulpsychiater, für 2000 Schulkinder einen Schulpsychologen und einen pädagogischen Sozialarbeiter. Die Aufgaben des pädagogischen Sozialarbeiters, der in zahlreichen

Schule Großstädten und Einzelstaaten der USA mit großem Erfolg bereits tätig ist, bestehen darin, zwischen den Lehrern, den sozialpädagogischen Hilfsdiensten und den Eltern Kontakt zu halten, mit den Eltern persönlich zu sprechen und sie sachgerecht in Erziehungsfragen zu beraten, die Schüler zu sinnvoller Freizeitgestaltung anzuleiten und sie an Jugendklubs und andere Freizeitzentren heranzuführen. Alle Erziehungskräfte versammeln sich zur Fallkonferenz, um ihre pädagogischen Maßregeln bei erziehungsschwierigen Kindern aufeinander abzustimmen. c) Pädagogische Mißgriffe in der Schule und ihre delinquenten Auswirkungen. Obwohl die Lehrer Hilfe und Beratung von Spezialisten in Anspruch nehmen und den Eltern kriminell gefährdeter Kinder den Rat geben sollen, Erziehungsberatungsstellen aufzusuchen, bleiben sie gleichwohl Schlüsselpersonen bei der Vorbeugung gegen die Kinder- und Jugendkriminalität. Im schulischen Alltag kommen immer wieder pädagogische Mißgriffe vor, die zur Entstehung der Kinder- und Jugendkriminalität erheblich beitragen können und von denen im folgenden einige Beispiele erwähnt werden sollen: Der Lehrer behandelt oft Kinder mit körperlichen Selbstwertkonflikten nicht richtig. Haß- und Trotzreaktionen sind häufig auf Entwicklungsrückstände, körperliche Unterlegenheitserlebnisse, tatsächliche oder vermeintliche Abnormitäten, Krüppeltum, physiognomische Mängel, Deformationen und andere körperliche und geistigseelische Selbstwertminderung zurückzuführen. Darum hat der Lehrer besorgt zu sein. Gleichgültigkeit und Ablehnung gegenüber bestimmten Schülern können zur Erschütterung des Selbstvertrauens und der Selbstachtung dieser Schüler führen. Vom Lehrer geduldete oder sogar unterstützte, manchmal grausame Formen annehmende Zurückweisungen einzelner Schüler durch die Klasse können diese Schüler in eine gefährliche Isolation drängen. Ablehnungsgründe können sich aus verhältnismäßig oberflächlichen Umständen ergeben: zum Beispiel aus einem Schulwechsel oder wegen schlechter schmutziger Kleidung. Auch weltanschauliche, religiöse oder rassische Vorurteile, deren Berücksichtigung in der Schule nach Art. 3 Abs. 3 GG verfassungswidrig ist, können nicht selten Gründe bilden, bestimmte Schüler durch den Lehrer oder die Klasse bewußt oder unbewußt zu begünstigen oder zu benachteiligen. Schüler von Eltern, die zu den wohlhabenden und gebildeten Kreisen gehören, werden vielfach vorgezogen. Insbesondere werden aber die Schulnoten oft von den Lehrern als ethisch-moralische Indikatoren mißverstanden. Ein leistungsmäßiger Vorzugsschüler ist zugleich ein gutes Kind, während ein leistungsschwacher Schüler ein böses, schlechtes Kind ist. Das leistungsschwache

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Kind wird durch ein solches pädagogisches Fehlverhalten nicht nur im Elternhaus und in der Schule, sondern — was noch schwerer wiegt — vor sich selbst in seiner eigenen inneren Wertschätzung schwer betroffen. Das so in die Vereinzelung gedrängte Kind wird verbittert, feindlich und aggressiv seiner Umwelt gegenüber. Seine Delinquenz ist als Kompensation seiner Unterlegenheitsgefühle zu verstehen. Das Urerlebnis schulischen Mißerfolgs fuhrt zur Behinderung, ja zum Stillstand seiner emotionalen und intellektuellen Entwicklung. Es hat weiterhin ein Imponieren im Negativen (ζ. B. in hartnäckigem Schulschwänzen) zur Folge. Ein leistungsmäßig guter Schüler darf deshalb nicht als „ S t a r " oder „Held" behandelt werden, sondern es sollten ihm bei allem verdienten Lob die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit klargemacht werden. Leistungsschwache Schüler dürfen nicht zu „Sündenböcken" herabgewürdigt werden, sondern sie sollten trotz allen verdienten Tadels stetige freundliche Ermutigung erfahren. Daß körperlich und geistig schwache, ja untüchtige Schüler von ihren Mitschülern schwer mißhandelt oder verhöhnt werden, dem sollte die Lehrerschaft entschieden entgegentreten. Die Isolation einzelner Schüler in ihrer Klasse wird manchmal durch pädagogische Fehlgriffe der Lehrer begünstigt. So darf eine Klasse nicht für das bestraft werden, was ein einzelner Schüler, der von der Lehrerschaft nicht zu ermitteln ist und der sich auch nicht freiwillig meldet, begangen hat. Eine solche Kollektivstrafe kann in brutaler „Klassenkeile" enden und den mißhandelten Schüler zum dauernden „Sündenbock" werden lassen. Eine häufige pädagogische Unsitte sind auch die Mannschaftswahlen bei Sport und Spiel, bei denen die beiden sportlich besten oder beliebtesten Schüler oder Schülerinnen einer Klasse als „Mannschaftskapitäne"ihre Mannschaften wählen. Solche Mannschaftswahlen wachsen sich beständig zu einem eindeutigen Votum gegen unbeliebte, schwache oder sportlich untüchtige Schüler aus. Die sich fortwährend wiederholende Demütigung vor der ganzen Klasse, als letzter oder einer der letzten gewählt zu werden, ist nicht geeignet, Schüler mit gesundem Selbstvertrauen heranzuziehen. Deshalb sollte jeder Schüler auch einmal die Gelegenheit haben, „Mannschaftskapitän" zu sein. Soziometrische Verfahren können dem Lehrer Aufschluß über die Klassenstruktur geben, die er dann durch geeignete pädagogische Maßnahmen im günstigen Sinne beeinflussen kann (vgl. Nehnevajsa, 1962). Die soziometrischen Techniken sind leicht zu erlernen. Den Schülern werden ζ. B. zunächst Fragen etwa folgender Art gestellt: „Mit wem möchtest du gerne Schulaufgaben machen?" „Mit wem möchtest du gerne spielen

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Schule

oder einen Ausflug machen ?" Eine 1., 2. oder auch 3. Wahl ist möglich. Ablehnungen werden durch die negative Ausgestaltung der Fragen ermittelt. Nach der statistischen Auswertung der Fragen können in einem Soziogramm die positiven und negativen Beziehungen unter den Schülern einer Klasse graphisch sichtbar gemacht werden; Klassenlieblinge und isolierte Schüler werden erkennbar. Zur Entstehung der Kinder- und Jugendkriminalität können auch harte körperliche Strafen in der Schule beitragen. Zwar handelt es sich bei der körperlichen Züchtigung um die einfachste Art, mit Disziplinarschwierigkeiten fertig zu werden. Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland hat den Lehrern von Kindern im schulpflichtigen Alter unter eng begrenzten Voraussetzungen ein gewisses körperliches Züchtigungsrecht zuerkannt (H. Hartmann, 1965). Für ein solches Züchtigungsrecht muß ein hinreichender Anlaß bestehen. Es muß mit dem Erziehungszweck vereinbar, erforderlich und angemessen sein. Wenn auch einzuräumen ist, daß in außergewöhnlichen Sonderfällen, insbesondere in Notwehrlagen, eine maßvolle körperliche Züchtigung im schulischen Alltag unentbehrlich erscheinen mag, so muß dennoch eindringlich darauf aufmerksam gemacht werden, daß grobe körperliche Mißhandlungen und Prügeleien nicht nur einen schweren Eingriff in die Persönlichkeit des Kindes (Art. 2 GG) und die Menschenwürde (Art. 1 GG) des bestraften Schülers wie des strafenden Lehrers darstellen, sondern auch schwerwiegende kriminogene Auswirkungen haben können. Grausamkeiten gegenüber Tieren und Gewalttätigkeiten gegenüber Mitschülern, insbesondere Mädchen, lassen den demoralisierenden Effekt körperlicher Züchtigung auf die Kinder und Jugendlichen deutlich werden. Ein weiteres Versäumnis der Schule, das eine Vermehrung der Kinder- und Jugendkriminalität herbeizuführen geeignet ist, besteht in dein ungenügenden Vorbereiten des Übergangs von der Schule in das Berufsleben. Diese Übergangszeit stellt im Leben des Jugendlichen eine Belastungssituation dar, in der relativ häufig Jugendkriminalität auftritt. Amerikanische empirisch-jugendkriminologische Untersuchungen (Burke, 1965; Kelly, 1964; B.Schreiber, 1963) haben ergeben, daß auch das vorzeitige Verlassen der Schule durch den Schüler einen maßgebenden Faktor bei der Entstehung der Jugendkriminalität bildet. Die industrielle Wohlstandsgesellschaft begünstigt den verfrühten Schulabgang. Baldiger Verdienst und verlockende Konsummöglichkeiten lassen viele Schüler den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Die übereilt abgebrochene Schul- und Berufsausbildung gibt ihnen den Status ungelernter Hilfs-

arbeiter. Wenn solche voreiligen Schulabgänger dann älter werden, sind sie wegen mangelnder abgeschlossener Schul- und Berufsausbildung zur Arbeitslosigkeit verdammt. Denn die moderne Industriegesellschaft benötigt wegen zunehmender Automatisierung hochspezialisierte und gut ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure. Es kommt nicht selten vor, daß die Schule einen Schüler zum vorzeitigen Verlassen der Schule drängt. Das sollte wegen des eindeutig ermittelten hohen kriminogenen Effektes nur in Ausnahmefällen geschehen. Das Nichterreichen eines gesetzten Zieles bewirkt eine schwere seelische Belastung bei dem betroffenen Schüler, die für delinquentes Verhalten anfällig macht. Deshalb dürfen nur Schüler in eine Schule aufgenommen werden, deren Ziel sie mit größter Wahrscheinlichkeit auch erreichen können. Die Schule sollte ferner alles daransetzen, die einmal aufgenommenen Schüler auch bis zum Abschluß in der Schule zu behalten. Ein Aussperren vom Unterricht oder gar eine Verweisung von der Schule als Strafen stürzen einen kriminell gefährdeten Schüler geradezu in kriminelles Verhalten hinein. Die Schule macht sich hier mitschuldig, indem sie sich ihrer Verantwortung allzu leichtfertig entledigt. Ein Sonderproblem ruft schließlich die Milieuund Strafanfälligkeit des hirngeschädigten Kindes hervor. In empirisch-jugendkriminologischen Studien haben W. Enke, G. Göllnitz (1961 und 1965) und R. Lempp unabhängig voneinander gezeigt (vgl. hierzu auch die Übersicht von H. J . Schneider, 1965 b), daß ein Großteil der von ihnen untersuchten schwererziehbaren und verwahrlosten Kinder und Jugendlichen nachweisbare frühkindliche hirnorganische Schädigungen erlitten hatte. Solche hirngeschädigten Kinder, die auf den ersten Blick nicht als krank, abartig oder besonders umweltlabil wirken, fallen ihrer Umgebung durch häufige Fehlhandlungen, Anpassungsstörungen und Entgleisungen immer wieder zur Last. Wenn ihre Umwelt — Elternhaus und Schule — dann mit Strafen reagiert, wird dies von den betroffenen Kindern und Jugendlichen als Unrecht empfunden. Es besteht dann die Gefahr, daß solche Kinder und Jugendliche mit neuen Fehlhandlungen und kriminellem Verhalten auf die Bestrafungen reagieren. Hirnorganisch geschädigte Kinder können nur in einer Umgebung heilpädagogisch erzogen werden, die das hirnorganisch bedingte Anderssein solcher Kinder kennt und entsprechend zu berücksichtigen vermag. 2. Beziehung

zwischen Schulversagen delinquenz

und

Jugend-

Jugendkriminologische Untersuchungen in den USA legen die Gewißheit nahe, daß Schul versagen und Jugenddelinquenz eng miteinander zu-

Schule sammenhängen (President's Commission, 1967, S. 71·; W. E. Schäfer, 1966, S. 37). Emotionale Störungen führen oft zu Verhaltensstörungen in der Schule, die wiederum häufig für das Schulversagen verantwortlich sind. Eltern der ärmeren, erfolgloseren Bevölkerungsschichten verstärken die Verhaltensstörungen ihrer Kinder nicht selten noch durch ihre negative Einstellung der Schule gegenüber. Weil die zivilisatorische Industriegesellschaft eine Leistungsgesellschaft ist und folglich auch eine extrem auf Leistungen gerichtete Schule besitzt, verlieren die Kinder und Jugendlichen, die zur Mittelklasse gehören und die in der Schule versagen, die Achtung ihrer Lehrer, ihrer Mitschüler, ihrer Eltern und ihrer Geschwister; sie werden in ihrer Selbstachtung und in ihrem Selbstvertrauen schwer betroffen und so für delinquente Verhaltensweisen anfällig. Wenn sich das Geltungsstreben solcher Schüler schon im Positiven nicht auszuwirken vermag, versuchen sie, wenigstens im Negativen zu imponieren. Ein schlechtes Selbstbild drängt den Schüler geradezu in eine kriminelle Rolle hinein (self-fulfilling prophecy). Lehrer, Mitschüler, Eltern und Geschwister unterstützen bewußt oder unbewußt vielfach diesen Prozeß. Ein negativer Progressiveffekt tritt ein: Schlechte Schüler werden zu schlecht beurteilt; sie werden stigmatisiert und zu Sündenböcken ihrer Schulklassen und ihrer Familien gemacht. Die auf diese Weise gestörte Psychodynamik der Gruppen, der Schulklassc und der Familie, läßt solchen Schülern gar keine andere Wahl, als ihre delinquente Rolle mehr oder weniger willig anzunehmen. Hier ist das delinquente Verhalten des Schülers lediglich ein Symptom, nicht nur für individuelle Persönlichkeitsstörungen, sondern auch für die gestörte Psychodynamik der Gruppen, in denen er leben muß. Von 1955 bis 1960 haben Jackson Toby und Marcia L. Toby in einer Stadt von etwa 40000 Einwohnern im Staate New Jersey (USA) 320 Schüler mit einem soziometrischen Fragebogen untersucht. Sie haben die Lehrer, die Klassenkameraden und -kameradinnen dieser Jungen nach dem sozialen Status ihrer Probanden gefragt: nach ihrer Führungseignung, nach ihrer Intelligenz und ihrem Schulerfolg, nach ihrer sportlichen Leistung und ihrer Beliebtheit. Sie haben dabei festgestellt, daß allein ein niedriger intellektueller Status für delinquente Neigungen bestimmend ist, gleichgültig ob Lehrer, Mitschüler oder -Schülerinnen die Bewertungen vornahmen. Die Autoren erklären dieses Ergebnis mit einer „Zukunftserfolgstheorie". Der Lehrer, die Klasse, ja sogar der betroffene Schüler selbst wissen nur zu genau, daß ein Junge mit niedriger Intelligenz und schlechtem Schulerfolg in der modernen Industriegesellschaft sehr schlechte Aussichten hat, für seine Familie und sich selbst

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in angemessener Weise zu sorgen. Die Kinder und Jugendlichen realisieren mit erstaunlicher Klarsichtigkeit, daß Beliebtheit in der Klasse lediglich eine vorübergehende Erscheinung ist und daß ein Junge recht wenig mit sportlichem Ehrgeiz anzufangen vermag, wenn er nicht über außergewöhnliche sportliche Fähigkeiten verfügt. Wenn andere um ihn herum für die Zukunft schöne Pläne machen, erlebt der Junge mit schlechtem Schulerfolg, daß es für ihn eigentlich gar keine Zukunft gibt. Das läßt ihn mutlos werden. Er fühlt sich zurückgesetzt und erniedrigt. Er rebelliert gegen dieses „Schicksal", das er als ungerecht empfindet. Er schließt sich delinquenten Freunden an, von denen er akzeptiert und respektiert wird. Er nimmt deren kriminelle Werte an, weil er in der Befolgung dieser Werte Entlastung und Befriedigung empfindet. Das folgende Schaubild zeigt anschaulich die Ergebnisse der Untersuchung von J . und M. L. Toby. Die Pfeile bedeuten enge statistisch-signifikante Korrelationen, die eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nahelegen: "Niedriger sozioökonomischer Status Ψ Niedriger intellektueller Status 4—Negative Einstellung gegenüber der Schule Φ Annahme quasi-delinquenter Werte (Pb. verhält sich flegelhaft und sucht nach Sensationen) Φ Identifikation mit delinquenten Freunden Zur Vorbeugung gegen Kinder- und Jugendkriminalität darf der Schulversager nicht aus der Schule hinausgetrieben werden. Es muß für ihn die richtige Schulart gefunden werden, in der er seine individuelle Eignung entfalten und erfolgreich sein kann. Schüler mit Verhaltensstörungen und Schulversager dürfen nicht einfach repressiv zurückgewiesen werden. Die Verhaltensstörung kann verurteilt werden; der betreffende Schüler muß aber stets das Gefühl behalten, daß ihm sein Platz in der Klassengemeinschaft nicht streitig gemacht wird. Sowohl Schüler mit Verhaltensstörungen wie auch Schulversager benötigen eine besondere emotionale Zuwendung seitens der Lehrer. Das Schulversagen bedeutet für den betroffenen Schüler ein sehr belastendes Frustrationserlebnis. Die Lehrer müssen ihm die schwere Enttäuschung, das gesetzte Ziel nicht erreichen zu können (blocked goal attainment), ertragbar machen. Das kann u. a. dadurch geschehen, daß in unseren Schulen Leistungen auf intellektuellem Gebiet nicht zu stark betont werden (Klare-Haxby, 1967, S. 107). Auch die Fähigkeiten der intellektuell leistungsschwachen Schüler müssen erkannt und entwickelt werden. Die Schulen

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Schule

dürfen es sich nicht so leicht machen, ihnen wegen Leistungsversagen oder Verhaltensstörungen lästige Schüler loszuwerden. Es ist vielmehr ihre pädagogische Aufgabe, jedes in die richtige Schulart eingeordnete Kind in der Schule zu behalten, seine Fähigkeiten zu entwickeln u n d seine Persönlichkeit so zu bilden, daß delinquentes Verhalten ausgeschlossen bleibt. C. Unmittelbare und mittelbare Erziehungsmaßnahmen zur Verhütung der Kinder- und Jugendkriminalität 1. Unmittelbare

Maßnahmen

der

Schule

a) Lehrerprognose späteren delinquenten Verhaltens. Neben dem Unterlassen pädagogischer Mißgriffe der geschilderten Art kann die Schule auch aktiv dadurch ihren Beitrag zur Verhütung der Kinder- und Jugendkriminalität leisten, daß sie geeignete pädagogische Maßnahmen trifft. Zunächst muß sie versuchen, den potentiellen Rückfalltäter möglichst schon im Stadium der Prädelinquenz zu erkennen. Sheldon u n d Eleanor Glueck haben Kriminalprognosetafeln entwickelt, die das kriminell gefährdete Kind schon bei seinem Eintritt in die Schule mit etwa 6 bis 8 Jahren identifizieren sollen. Obwohl der „New York City Youth Board" seit Jahren eine Prognosetafel mit 3 sozialen Faktoren erfolgreich anwendet, haben zahlreiche Kriminologen die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Glueckschen Prognoseverfahren in Zweifel gezogen (H. J . Schneider, 1967 c). Da Schulkonflikte bereits spätere soziale Einordnungsschwierigkeiten vermuten lassen, wird der Lehrerprognose im Hinblick auf ein zukünftiges Gewohnheitsverbrechertum in Nordamerika große Bedeutung beigemessen (Khleif, 1964). Ein sozial bindungsunfähiges, schwer schulisch integrierbares Kind ist häufig kriminell gefährdet. Wenn die Lehrerprognose auch für die Vorhersage zukünftiger Delinquenz wertvoll sein mag, so ist gleichwohl insofern Vorsicht geboten, als sich der Lehrer hüten muß, das nach seiner Meinung kriminell gefährdete Kind in eine delinquente Rolle hineinzudrängen. Allzu leicht tritt ein Progressiveffekt ein: Das gut schulisch integrierbare, sozial angepaßte Kind wird besser, das kriminell gefährdete Kind schlechter beurteilt, als es objektiv gerechtfertigt ist. Kriminalprognosen im Stadium der Prädelinquenz sind deshalb jugendkriminologisch nicht bedenkenfrei, da sie das kriminell gefährdete Kind stigmatisieren können. Zudem sind entsprechende pädagogische Behandlungsmethoden zur Verbrechensverhütung bei einem solchen Kind bisher noch nicht in zureichendem Maße entwickelt worden. Gleichwohl kann man nicht daran vorbeigehen, daß Kinder, die gelegentlich oder gewohnheitsmäßig die Schule schwänzen, der besonderen Auf-

merksamkeit der Lehrer bedürfen. Schulschwänzen, das Fernbleiben vom Unterricht ohne Wissen und Willen der Eltern, das oft mit ziellosem Herumstreunen einhergeht u n d von der Schulphobie (Sharpe, 1961; Sperling, 1961), einem neurologischen Problem, unterschieden werden muß, ist ein ernstes Warnzeichen. Denn ein hoher Prozentsatz aller Straftäter beginnt seine Laufbahn mit Schulschwänzen. b) Entwicklung der individuellen Fähigkeiten jedes Kindes. Sind spezielle Maßnahmen für Schüler, die vom Lehrer als kriminell gefährdet beurteilt werden, bisher nicht entwickelt worden, so können gleichwohl einige allgemeine schulische Maßregeln im folgenden genannt werden, die einer Verhütung der Kinder- und Jugendkriminalität dienen. Zu diesen Maßregeln gehört, daß sowohl eine Überbeanspruchung als auch eine übermäßige schulische Entlastung vermieden werden. Zu viele und ungleichmäßig verteilte Hausaufgaben wirken sich schädlich aus. Jedes Kind muß seinen eigenen Anlagen und Möglichkeiten gemäß belastet werden. Gerade das mit geringen Fähigkeiten ausgestattete Kind ist dringend darauf angewiesen, wenigstens diese Fähigkeiten voll zu entfalten. Da das Kind mit guter verbaler Intelligenz nach unserem Schulsystem einseitig bevorzugt ist, bedarf das Kind mit mehr praktischen Fähigkeiten, ζ. B. im Werkunterricht, dauernder Ermutigung. Leistungsschwache Kinder benötigen sehr viel Hilfe, Liebe und Zuspruch. Sie dürfen nicht stets an ihr früheres Versagen erinnert werden. Die Lehrer dürfen auch nicht dulden, daß ihre Mitschüler auf solchem Versagen dauernd herumreiten. Heilsam im Sinne einer Verbrechensverhütung wirkt sich auch eine wahrheitsgetreue nüchterne Aufklärung über die Kinderund Jugendkriminalität aus. So sollten Dokumentarfilme hergestellt u n d in den Schulen gezeigt werden. Die unwahrhaftigen, phantasievollen und romantischen Verbrechensdarstellungen in den -*• Massenmedien (Verführung durch das Bild) müssen in der Schule besprochen werden. Auch sollten die Schulen viel mehr Wert darauf legen, ihre Schüler zur sinnvollen Freizeitgestaltung anzuleiten. c) Das emotionale Klassenklima. Ein gutes emotionales Klassenklima bildet weiterhin einen wirksamen Schutz gegen Kinder- und Jugendkriminalität. Die Klasse muß eine pädagogische Gemeinschaft bilden, in der jeder Schüler seine ihm zukommende Rolle spielt. Eine gesunde Klassenatmosphäre befriedigt das Verlangen des Kindes nach Anerkennung, Abenteuer, Erfolg, Zugehörigkeit, Freude u n d Zuneigung. Jedes Kind will Freunde gewinnen. Es will anderen dienen und nützlich sein. Jedes Kind benötigt das Gefühl, daß seine Mitschüler es achten und daß es in der Klassengemeinschaft

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Schule einen festen, sicheren Platz hat. Zwar werden in der Klasse fortwährend Vergleiche angestellt und Wettbewerbe ausgetragen. Dem soll und kann sich kein Kind in unserer leistungsorientierten Gesellschaft entziehen. Denn es soll für das spätere Leben gerüstet sein. Ein Gefühl der Verbitterung und Feindschaft darf aber beim Verlierer eines Wettbewerbs nicht aufkommen. Wenn ihm die Klasse erlaubt, ein guter Verlierer zu sein, wenn sie ihm mit anderen Worten ihre Achtung und Wertschätzung nicht entzieht, dann wird kein Kind in seinem Selbstwertgefühl Schaden erleiden. Es wird vielmehr von dem Bewußtsein getragen sein, daß es trotz seines Unvermögens ein nützliches Glied der Klasse bleibt. Der Lehrer kann viel dazu beitragen, daß in der Klasse ein gesundes emotionales Klima herrscht. Seine Beziehungen müssen zu jedem Kind positiv sein. Er darf nicht Mißtrauen und Furcht aufkommen lassen. Er muß jedes Kind mit Geduld und Takt behandeln und sich gerade um erziehungsschwierige Schüler besonders bemühen. Jedes Kind verdient Beachtung und Eingehen auf seine Probleme. Der Lehrer muß mit pädagogischem Geschick die Fähigkeit jedes Kindes zu entdecken suchen, damit jedes Kind auf dem ihm eigenen Gebiet erfolgreich sein und sich bewähren kann. Hinter seiner Autorität müssen die Überzeugungskraft einer starken Persönlichkeit und das Vorbild stehen. Das, was er von seinen Schülern verlangt, muß er ihnen selbst vorleben. Wenn der Lehrer genügendes pädagogisches Geschick besitzt, gelangen seine Schüler zur Überzeugung, ihren eigenen Willen und nicht den Willen ihres Lehrers auszuführen. Aufkommende Aggressivität der Schüler muß er in sozial anerkannte Bahnen lenken können. Wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, werden gerade die kriminell gefährdeten, schwererziehbaren Kinder die Schule als Zuflucht für ihre Probleme empfinden. d) Pädagogische Strafpraxis. Durch eine angemessene pädagogische Strafpraxis kann die Schule schließlich in erheblichem Maße der Vorbeugung gegen Kinder- und Jugendkriminalität dienen. Die Strafe muß möglichst der Tat auf dem Fuße folgen. Ungerechte Belohnungen durch die Tat dürfen gar nicht erst eingetreten sein. Strafarbeiten und Nachsitzen sind pädagogisch nicht ganz unproblematisch, da sie zu leicht bei den Schülern den Anschein erwecken, als seien Schularbeiten und Schulaufenthalt an sich schon Strafen. Strafarbeiten sollen nach Möglichkeit Einsicht in die Gründe des Fehlverhaltens vermitteln. Die Aufgabe darf also nicht in einem mechanischen, mehrmals wiederholten Schreiben des Verbotes nach dem Muster: „Ich darf mich nicht so verhalten!" bestehen, sondern es erscheint wesentlich zweckmäßiger, das Kind 8 HdK, 2. Aufl., Bd. III

nach einem Fehltritt einen Aufsatz mit dem Thema schreiben zu lassen: „Warum habe ich mich so verhalten, und warum darf ich mich nicht so verhalten?" Nach dem Schreiben dieses Aufsatzes und nach seiner Durchsicht durch den Lehrer ist in einem pädagogischen Gespräch des Lehrers mit dem Schüler die ganze Situation nochmals durchzuarbeiten. Denn Selbstdisziplin und Selbstkontrolle sind nur durch Einblick in die Gründe des Fehlverhaltens und in den Sinn des Verbots zu erlangen. Die empfindlichste Strafe ist der Liebesentzug. Es ist für Lehrer und Klasse deshalb gleichermaßen wesentlich, ein „hohes Strafniveau" aufzubauen. Die Strafe nützt nichts, wenn der Strafende vom Bestraften nicht geliebt oder doch wenigstens geachtet wird. Der Lehrer darf nicht in gedankenloser Weise durch den Gebrauch äußerer Machtmittel, sondern er muß mit Konsequenz und innerer Autorität strafen, die auf Ehrfurcht beruht. Er muß ein System von Belohnungen und Entziehungen solcher Belohnungen schaffen. Solche Belohnungen können ζ. B. in besonderen Vertrauensbeweisen des Lehrers durch die Übertragung von Verantwortung bestehen. Entziehungen von Belohnungen können beispielsweise sein: ein einmaliges Verbot der Teilnahme an einem Spiel, einer Freizeitbeschäftigung oder einem Ausflug. Der Tadel des Lehrers, ein kalter, harter Verweis kann bei einem hohen Strafniveau und bei einem guten emotionalen Klassenklima von den Schülern als einschneidende Bestrafung empfunden werden. Der Lehrer darf niemals durch Sarkasmus oder Ironie den Schüler verletzen. Vielmehr kann ein humorvolles Lächerlichmachen manchmal festgefahrene Situationen heilsam lösen. Immer muß der Lehrer dem Schüler in der Strafe klarmachen, daß die vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrer und Klasse auf der einen Seite und dem Missetäter auf der anderen Seite durch sein Fehlverhalten beeinträchtigt, aber keineswegs zerstört ist. Auch der Übeltäter gehört noch zur Klasse, er behält dort seinen festen Platz. 2. Mittelbare

Maßnahmen

der

Schule

Die Schule kann nicht nur durch ihre unmittelbaren schulischen Maßnahmen, sondern auch durch die Unterstützung der Maßregeln der Jugendbehörden und -gerichte an der Verhütung der Kinder- und Jugendkriminalität mitwirken. Ihre Zusammenarbeit mit den Jugendbehörden und -gerichten ist unerläßlich. Die mannigfaltigen Maßnahmen, die die Jugendbehörden und -gerichte zur Vorbeugung gegen Kinder- und Jugendkriminalität eingeleitet haben, können hier nicht alle Erwähnung finden. Zwei Beispiele von neuartigen Vorkehrungen im Ausland, an denen sich die Schule besonders unterstützend und

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Schule

helfend beteiligen kann, sollen im folgenden genannt werden: a) Sozialpädagogische Betreuung von Problemfamilien. Die sozialpädagogische Betreuung der Mehrproblemfamilien spielt eine hervorragende Rolle bei der Vorbeugung gegen Kinder- und Jugendkriminalität (->· Ehe u n d Familie, I. S. 158—159). Bronislav Skaberne, Marjan Blejec, Vinko Skalar und K a t j a Vodopivec (1965) haben in der Zeit von 1955 bis 1962 jugendkriminologische Untersuchungen zur Verbrechensverhütung an Volksschülern der Stadt Ljubljana (Jugoslawien) durchgeführt. Mit einem soziometrischen Fragebogen wurden 2615 Schüler und Schülerinnen befragt. Sozialarbeiter ermittelten mit der Interviewmethode die Familienatmosphäre dieser Schüler und Schülerinnen. Das Lehrerurteil wurde festgehalten, und die Akten der Fürsorgebehörden wurden durchgesehen. Die Probanden wurden von ihrem 2. Volksschuljahr bis zum Abschluß ihrer 8jährigen Volksschulzeit beobachtet. Im Jahre 1963 wurde die offiziell bekannt gewordene Kriminalität der Probanden festgestellt. Von den 2615 Jungen und Mädchen hatten 137 Straftaten begangen. 104 Kinder waren nur in einem Jahr, 33 Kinder in mehreren Jahren kriminell in Erscheinung getreten. Von den 104 Kindern, die nur in einem J a h r kriminell in Erscheinung getreten waren, wurden 137 Delikte begangen. Von den 33 Kindern, die in mehreren Jahren kriminell in Erscheinung getreten waren, wurden 250 Straftaten verübt. An Delikten wurden hauptsächlich alle Arten von Diebstahl und unbefugter Gebrauch von Kraftfahrzeugen begangen. Von den 2615 Kindern waren 945 Problemkinder aus Problemfamilien. Es wurde festgestellt, daß diese Problemkinder mit Kriminalität statistisch hochsignifikant häufiger belastet waren als die Kinder aus Normalfamilien. Die Problemkinder fielen in der Schule vor allem durch Un Wahrhaftigkeit, Aggressivität und schlechte Lernerfolge auf. Bronislav Skaberne und Mitarbeiter schließen daraus, daß sich die Störungen in der familiären Umgebung der Kinder und die Konflikt-Situationen in ihren Familien hier ungünstig auswirken. Sie bejahen eine jugendkriminologische Aufgabe der Lehrer und kritisieren, daß das jugoslawische Schulsystem so aufgebaut ist, als ob es keine Persönlichkeitsstörungen der Kinder gäbe. b) „Street-Club"-Programme. Weitere Projekte zur Verhütung der Kinder- und Jugendkriminalität durch Jugendbehörden und -gerichte sind die „Street-Club"-Programme in Nordamerika, England, Frankreich, Österreich, Dänemark, Israel, Jugoslawien und Polen (ζ. B. Caplan 1964; Peyre 1964a). Die „Street-Club"-Arbeit richtet sich zwar vor allem, aber keineswegs ausschließlich gegen den erheblichen Anstieg der

Bandenkriminalität Jugendlicher in Nordamerika und Osteuropa. Vorbildlich sind das „StreetClub"-Programm des „New York City Youth Board" (1960) und das „Chicago Youth Development Project" (Mattick, 1964). Mit diesen Projekten versucht man, Banden krimineller Jungen aufzulösen, um ihre Mitglieder und gesellschaftlich isolierte Jugendliche wieder in die Gesellschaft einzuordnen, in der sie eine bestimmte Rolle bei der aktiven Mitgestaltung ihrer Umwelt übernehmen sollen. Der „Street Club Worker", in der Regel ein pädagogischer Sozialarbeiter, der eine Art vorbeugende Kontrolle und Behandlung der Kinder- und Jugendkriminalität ausübt und der mit Schulen, Polizei und Jugendgerichten eng zusammenarbeitet, sucht die kriminell gefährdeten Jugendlichen an den Straßenecken, in Spielhallen, bestimmten verrufenen Lokalen oder sogar während der Zusammenkünfte ihrer kriminellen Banden selbst auf, dort, wo viele Kinder und Jugendliche ihre Freizeit zu verbringen pflegen. Ziel seiner Arbeit ist es, den asozialen Jugendgruppen eine sozial positive Struktur zu geben und vereinzelte delinquente Kinder und Jugendliche aus ihrer sozialen Isolation herauszuführen und in einem Jugendklub zusammen mit nichtstraffälligen Jungen für sozialadäquate Ziele zu gewinnen. Auf diese Weise will er dem ziellosen Herumtreiben der Kinder und Jugendlichen in ihrer Freizeit ein Ende setzen. I m Rahmen des „Chicago Youth Development Project" haben 7 „Street Club Worker" in den letzten Jahren 44 jugendliche Banden mit 554 Jungen im Alter von 10 bis 19 Jahren betreut. Jede Gruppe hatte etwa 8 bis 15 Mitglieder. Auch die Mädchen waren in die Arbeit der Sozialarbeiter mit einbezogen, da sie einen bedeutenden indirekten Einfluß auf die jugendliche Bandenkriminalität ausüben. Die Haltung des „Street Club Workers" gegenüber der jugendlichen Bande läßt sich kurz in folgenden Worten umschreiben: „Ich mag euch, aber ich kann euer Verhalten nicht leiden." Der „Street Club Work e r " trachtet zunächst danach, die Gruppe zu erreichen, mit ihr bekannt zu werden, die Gruppenstruktur zu erkennen und Einfluß auf die Gruppe als Ganzes und ihre Einzelmitglieder zu erlangen. Diejenigen Gruppenmitglieder, die Schule und Lehre vorzeitig verlassen haben, versucht er zu überreden, ihre Schul- und Berufsausbildung zu Ende zu führen. Er bemüht sich darum, geplante Delikte, Alkohol- und Rauschgiftkonsum zu verhindern. Arbeitslosen Jugendlichen vermittelt er eine Arbeitsstelle. Überhaupt gewährt er in Krisenzeiten jedem Jungen Rat und Hilfe. E r geht mit dem Jungen zur Polizei und zum Gericht, wenn der Junge etwas angestellt hat. So gewinnt er das Vertrauen des Jungen, indem er sich für ihn einsetzt und seinen Einfluß bei Polizei und Jugendgericht geltend macht. Weiter-

Schule hin strebt er danach, die kriminelle Bande in eine nichtdelinquente Mehrheit und eine Minderheit von jugendlichen u n d heranwachsenden Gewohnheitsverbrechern aufzuspalten. E r hilft der nichtdelinquenten Gruppe, sozialadäquate Aktivität zu entfalten. Tanzparties, Sportwettkämpfe und Ausflüge werden gemeinsam unternommen. Er diskutiert mit der Gruppe und jedem einzelnen Familien- und Sexualprobleme. Der „Street Club Worker" widmet sich vor allem dem Bandenfiihrer. E r befleißigt sich, die Art der Anführerschaft zu ermitteln u n d — wenn möglich — den Bandenführer zu seinem Assistenten zu machen oder doch wenigstens Assistent des Bandenführers zu werden. Wenn dies nicht glückt, ist er bestrebt, die Gruppe vom ungünstigen Einfluß des Bandenchefs zu befreien, ihn zu isolieren, indem er durch Wettkämpfe die Grenze der Leistungsfähigkeit des Bandenführers sichtbar macht und so den Mythos der Allmacht des Bandenchefs zerstört. Zu jedem einzelnen Mitglied der Bande versucht er sodann, vertrauensvolle Beziehungen aufzunehmen. E r ermutigt die Gruppenmitglieder und zeigt ihnen, welche guten Fähigkeiten sie haben und wie sie diese Fähigkeiten entwickeln können. In einzelnen Fällen des „Chicago Youth Development Project" h a t sich gezeigt, daß selbst ein vergeblicher Versuch, auf den Bandenführer in günstigem Sinne einzuwirken, insofern Erfolg hatte, als sich Mitläufer der Bande von ihr lösten und unter den Einfluß des „Street Club Workers" kamen. Die Schule kann der Kinderund Jugendkriminalität vorbeugen helfen, wenn sie die Arbeit der „Street Club Worker" tatkräftig unterstützt. III. DIE AUFGABE D E R SCHULE BEI DER BEHANDLUNG DER KINDER- UND JUGENDKRIMINALITÄT A. Behandlung der Kinder- und Jugendkriminalität in der Freiheit 1. Erziehungsaufgabe Bewährungshilfe und

des der

Jugendgerichts, der Entlassenenfürsorge

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß die pädagogische Behandlung der Jugendkriminalität nur oder auch nur vorwiegend in der Jugendstrafanstalt geleistet wird. Wenn Kinder- und Jugendkriminalität wirksam bekämpft werden sollen, müssen alle diejenigen an der pädagogischen Behandlungsaufgabe mitarbeiten, die mit den delinquenten Kindern u n d Jugendlichen irgendwie in Kontakt kommen: Polizei, Jugendbehörden, -Staatsanwaltschaften und -gerichte, Schulen, Bewährungshilfe u n d Entlassenenfürsorge. Die Erziehung des jugendlichen und heranwachsenden Rechtsbrechers in der Freiheit 8·

115

vollzieht sich im wesentlichen in drei Funktionskreisen: in der pädagogischen Ausgestaltung der Hauptverhandlung vor den Jugendgerichten, in seiner pädagogischen Behandlung durch die Bewährungshilfe u n d in seiner tatkräftigen Unterstützung durch die Entlassenenfürsorge. Die Hauptverhandlung vor den Jugendgerichten kann f ü r den angeklagten Jugendlichen zum eindringlichen, erschütternden Erlebnis werden, wenn die Jugendgerichte ein pädagogisches Klima zu schaffen imstande sind (Härringer, 1961). Sie müssen den Jugendlichen veranlassen, sich mit seiner bisherigen Lebensführung auseinanderzusetzen. Sie müssen ihn zu einem Schuld- u n d Reuegefühl hinführen. Sie müssen sein Reinigungsbedürfnis, S3ine Sühnsbereitschaft und seinen Besserungswillen zu wecken oder zu stärken suchen. Schuldannahme im Sinne eines Verzichts auf Selbstentschuldigung und Ablehnung der Tat sind wesentliche Voraussetzungen für die weitere pädagogische Behandlung des delinquenten Jugendlichen. So kann die Jugendgerichtsverhandlung eine große pädagogische Chance sein, die allerdings noch nicht von allen Jugendgerichten erkannt ist. Denn aus einem umfangreichen empirischen Material englischer, französischer, holländischer u n d nordamerikanischer Befragungen jugendlicher Strafgefangener ( P s y c h o l o g i e des Verbrechens) ergibt sich folgendes: Die Jugendrichter werden als weltfremd angesehen. Auf Grund von Vorurteilen sind sie angeblich jedem jugendlichen Straftäter gegenüber feindselig gesonnen. Sie kennen nach Ansicht der jugendlichen Strafgefangenen nicht die ganze Tragweite ihres Richterspruches f ü r den Verurteilten u n d wissen ohnehin im voraus, was bei der Gerichtsverhandlung „herauskommt", so daß die Angeklagten die Hauptverhandlung als ein Spiel betrachten, das in festgefügten äußeren Formalitäten abläuft. Die jugendlichen Strafgefangenen haben überwiegend das Gefühl, ihr Schicksal habe in der H a n d von Menschen gelegen, die weder genug Lebenserfahrung noch hinreichend Menschenkenntnis besitzen, u m wirklich urteilen zu können. Sie äußern die Meinung, ihre tatsächlichen Probleme würden ignoriert; niemand sage ihnen, was sie eigentlich falsch gemacht h ä t t e n und warum sie es falsch gemacht hätten (-»• Jugendstrafrecht). Der pädagogische Auftrag der Bewährungshilfe (§§ 24, 25 JGG) besteht darin, den verurteilten Jugendlichen sittliche Wertvorstellungen zu vermitteln und ihre Gewissens- und Willensbildung zu fördern ( K . P e t e r s , 1960, S. 314—330). Die jugendlichen Straftäter, die „Strafaussetzung zur Bewährung" (§§ 20, 21 JGG) oder „Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe" (§ 27 JGG) vom Gericht zuerkannt bekommen, dürfen sich nicht freigesprochen fühlen. Die Hilfe des Jugend-

116

Schule

gerichts und der Bewährungshilfe müssen sie sich durch Mitarbeit an sich selbst verdienen. Die Bewährungshilfe darf sich nicht nur auf die Überwachung der Lebensführung des jugendlichen oder heranwachsenden Verurteilten und der Erfüllung der gerichtlichen Bewährungsauflagen beschränken. Der Bewährungshelfer darf es auch nicht nur bei der Beratung seines Probanden im Hinblick auf einen möglichen Arbeitsstellenwechsel oder die Verwendung seines Arbeitslohnes bewenden lassen. Es ist vielmehr notwendig, zwischen dem Bewährungshelfer und seinem Probanden menschlich zufriedenstellende therapeutische Beziehungen herzustellen. Denn die Bewährungshilfe ist eine pädagogische Behandlung des Straftäters in der Freiheit (Nelson 19G5) (-»• Strafaussetzung zur Bewährung). Die Entlassenenfürsorge erleichtert den Übergang von den Einschränkungen und Abhängigkeiten der Jugendstrafanstalt zur vollen freien Selbstverantwortung. Gerade die ersten beiden Monate nach der Entlassung des jugendlichen Strafgefangenen sind eine Krisenzeit, in der die Rückfallgefährdung sehr hoch ist. Je länger sich der entlassene Jugendliche in der Freiheit straflos hält, desto geringer wird seine Rückfallswahrscheinlichkeit. Zur Überbrückung dieser Übergangszeit sind für die Jugendlichen, deren schlechte familiäre Beziehungen kein Zurückkehren nach Hause erlauben, Übergangsheime (halfway-houses) eingerichtet worden, in denen sie 3 bis 4 Monate wohnen und ihre Freizeit verbringen können. In dem Übergangsheim sind pädagogische Sozialarbeiter beschäftigt, die dem Jugendlichen bei der Bewältigung seiner Probleme helfen und die ihm vor allem eine Arbeitsstelle vermitteln (-»-Straffälligenhilfe).

2. Mitwirkung

der

Schule

Die Frage, wie sich die Schulen bei Straftaten ihrer Schüler verhalten sollen, ist nicht leicht zu beantworten. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß sie die Straftaten weder bagatellisieren noch dramatisieren sollen. Auch eine Schulverweisung ist möglichst zu vermeiden, es sei denn, daß der betreffende Schüler einen gefährlichen kriminogenen Einfluß auf seine Mitschüler ausübt. Die Frage, ob sich der Schulleiter mit Jugendbehörde oder -gericht in Verbindung setzen soll, liegt ganz in seiner Verantwortung. Er wird nicht selten in einen Rollenkonflikt zwischen Staatsbürger und Erzieher kommen. In jedem Fall müssen die Schulen mit den Jugendbehörden und -gerichten eng zusammenarbeiten und die Eltern unterrichten. Die bedingte strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher beginnt erst mit 14 Jahren (§ 1 Abs. 3 JGG). Aber auch ein Jugendlicher über 14 Jahren ist nur dann straf-

rechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 3 JGG). Gegenüber strafrechtlich noch nicht verantwortlichen Kindern oder Jugendlichen können, falls sie Straftaten begangen haben, jugendamtliche oder vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen getroffen werden. So können die Jugendämter die Bestellung eines Erziehungsbeistandes (§§ 55, 56 JWG) oder freiwillige Erziehungshilfe (§§ 62, 63 JWG) unter bestimmten gesetzlich normierten Voraussetzungen anordnen. Das Vormundschaftsgericht kann die Bestellung eines Erziehungsbeistandes (§ 57 JWG) oder Fürsorgeerziehung (§§ 64, 65 JWG) verfügen, wenn die gesetzlichen Tatbestände erfüllt sind (-5- Jugendstrafrecht). Der Schulleiter tut jedenfalls gut daran, sich an die Eltern und, falls diese nicht einsichtig sind, an das Jugendamt zu wenden, wenn er die Straftat für so schwerwiegend hält, daß er sie mit eigenen pädagogischen Mitteln nicht mehr adäquat ahnden zu können glaubt. Im Falle bedingter strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind die Jugendsachbearbeiter der Kriminalpolizei zuständig. Das Verhalten von Mittel-, Berufs- oder höheren Schulen gegenüber Schülern, die vom Jugendgerichtverurteilt worden sind oder die Jugendarrest oder gar Jugendstrafe verbüßt haben, ist wesentlich leichter zu bestimmen. Bei „Strafaussetzung zur Bewährung" oder „Aussetzung der Verhängung von Jugendstrafe" ist eine enge Zusammenarbeit mit der Bewährungshilfe unerläßlich. Der Bewährungshelfer kann nach § 24 Abs. 3 Satz 3 JGG von der Schule Auskunft über die Lebensführung des Jugendlichen verlangen. Die Lehrerschaft sollte zusammen mit der Klasse des Verurteilten diesen nach Kräften unterstützen, damit er die Bewährungsauflagen erfüllt und nicht wieder straffällig wird. Schüler, die Jugendarrest oder -strafe verbüßt haben, sind als vollberechtigte Mitglieder der Schule wieder aufzunehmen, falls sie dies wünschen. Ihnen ist mit Vertrauen zu begegnen, und sie dürfen sich nicht als Ausgeschlossene fühlen. Sie müssen das Gefühl der vollen, gleichberechtigten Zugehörigkeit haben. Denn die Straftat, nicht der Jugendarrest oder die Jugendstrafe, bildet den Makel. Nach der Verbüßung des Jugendarrests oder der Jugendstrafe ist der Makel getilgt. Der aus der Jugendarrest- oder -Strafanstalt entlassene Jugendliche hat dasselbe Recht auf Erziehung gemäß seinen Fähigkeiten wie jeder andere Jugendliche auch. Diese Ansicht sollte die Lehrerschaft gegenüber vereinzelten uneinsichtigen Eltern von Mitschülern entschieden einnehmen, die meinen, allen nach Jugendstrafrecht bestraften Jugendlichen jede weitere Erziehungschance verweigern zu können.

Schule Β . Behandlung in offenen, halboffenen und geschlossenen Jugendstrafanstalten 1. Rolle der schulischen Weiterbildung strafvollzug

im

Jugend-

Was für die öffentlichen Schulen in der freien Gesellschaft gilt, hat in verstärktem Maße Bedeutung für die Schulen im Jugendstrafvollzug. Hier geht es vor allem um die Frage, ob schulische Ausbildung, Sozial- und Gesundheitserziehung im Jugendstrafvollzug als Behandlungsmaßnahmen ausreichend erfolgversprechend sind. Beim Eintritt in den Jugendstrafvollzug sollte mit Hilfe von Schulleistungstests (Ingenkamp, 1962) der jeweilige Ausbildungsstand eines jeden Jugendlichen ermittelt werden, damit er in der Anstaltsschule weder über-noch unterfordert wird. Die Zuteilung in die richtige Klasse ist ein entscheidender Schritt für den schulischen Erfolg. Wo es an Ausbildungsmöglichkeiten im Jugendstrafvollzug mangelt, sollten Fernunterricht (Paarmann, 1963), programmiertes Lernen (Correll, 1965) und Schulfunk und -fernsehen sinnvoll eingesetzt werden. Sozialunterricht kann zur Lösung emotionaler Probleme (Rose, 1967, S. 172) hilfreich sein; die Gesundheitserziehung spielt beispielsweise in den Jugendstrafanstalten Kaliforniens eine große Rolle. George R. Pierson, Virginia Barton und Gordon Hey (1964) haben die Beobachtung gemacht, daß Schulerfolg und Intelligenzquotient bei vielen jugendlichen Strafgefangenen nicht übereinstimmen. Als sie jugendliche Strafgefangene mit schlechtem Schulerfolg, aber hohem Intelligenzquotienten aussonderten und durch strenge akademische Erziehung „behandelten", stellten sie fest, daß diese aggressiven kriminellen Jugendlichen in dem Maß ihr Verhalten änderten, in dem sie erfolgreich waren, und daß aus ihnen sozialangepaßte Schüler mit bestimmten beruflichen Zielsetzungen wurden. Diese verhältnismäßig kleine Gruppe delinquenter Jugendlicher, die in der „Normal"-Schule ihre Fähigkeiten nicht in zureichender Weise zu entwickeln vermochten, kann man also dadurch resozialisieren, daß man sie belastet, von ihnen Leistungen verlangt, daß man alle ihre Energien vom delinquenten „Acting-Out" auf akademische Leistungen lenkt. Das Problem dieser „Behandlungsart" besteht allerdings in der psychodiagnostischen Auswahl (Persönlichkeitsforschung). Es geht nicht an, nach Zufall ausgewählte delinquente Kinder und Jugendliche einer ansprüchigen akademischen Ausbildung auszusetzen und hierin ein Allheilmittel gegen jugendliche Delinquenz zu erblicken. In der „National Training School" in Washington D. C. wird ein solches Ausbildungsprogramm durchgeführt, das auf der behavioristischen Lerntheorie von B. F. Skinner beruht, zunächst als „Pilot"-Studie vorgesehen war und

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jetzt auf die ganze „National Training School" ausgedehnt werden soll. Ein ähnliches Ausbildungsprogramm wird im „Federal Youth Center" in Englewood/Colorado durchgeführt. Das 1. Sonderausbildungsprojekt wurde in der „National Training School" in der Zeit vom 24.2.1965 bis 17.9.1965 verwirklicht. Lernmaschinen und programmiertes Lernmaterial wurden 15 Insassen (mit sehr schlechtem Schulerfolg) zum Selbststudium zur Verfügung gestellt. Sie konnten dreieinhalb Stunden morgens während jeweils fünf Wochentagen lernen. Zum Lernen wurden sie nicht gezwungen. Zur Belohnung für gute Lernergebnisse erhielten sie lediglich Zutritt zu den Freizeiträumen, in denen Fernsehapparate, Musik- und Spielautomaten standen. Nach dem „Stanford Achievement Test" (SAT) soll in 4,15 Monaten ein Lernfortschritt von 1,45 Schuljahren erzielt worden sein (H. Cohen, 1966, S. 3). Über einen ähnlichen ausgezeichneten Lernfortschritt im Lesen wird bei einem Einzelfall eines delinquenten Jugendlichen berichtet (Staats, 1965). Es kann zwar nicht bezweifelt werden, daß ein gewisser „Lernnachholbedarf" gerade bei vielen delinquenten Kindern und Jugendlichen besteht und auch zuweilen kurzfristig befriedigt werden kann: aus dem Wissenserwerb jedoch eine behavioristisch-dogmatische Behandlungsmethode zu entwickeln, ist bedenklich und auf die Dauer zum Scheitern verurteilt. Das 2. Sonderausbildungsprojekt wurde in der Zeit vom 22.11.1965 bis zum 21.11.1966 in der „National Training School" zu Ende geführt. Diesmal wurden Lernmaschinen und programmiertes Lernmaterial (ζ. B. für Mathematik, Physik, Chemie) während 40 Wochenstunden zum Selbstunterricht bereitgestellt. Ein Lehrer war lediglich zur individuellen oder GruppenBeratung zugegen. Die Versuchspersonen wurden nach der Zufallsmethode ausgewählt. Jede Versuchsperson („student research employee") wurde für bestimmte Lernerfolge bezahlt. Ein ganzes System von Geldbelohnungen und -bestrafungen wurde entwickelt: Einzelräume konnten wochenweise gemietet werden; die Freizeiträume waren nur gegen Eintrittsgeld betretbar; in einem besonderen Speisesaal wurden zwei Gerichte gegen Entgelt verabreicht, die in ihrer Qualität wesentlich besser als das Normalessen der „National Training School" waren. Wer Lernerfolge nicht erzielen konnte oder wollte, mußte in den Schlafsälen der „National Training School" schlafen und die Normalspeisen essen. Er konnte sich in einem eigens eingerichteten Laden auch keine Süßigkeiten, Illustrierten, Magazine, Limonade usw. kaufen — wie die anderen erfolgreichen Probanden — und keine Kleidung nach Katalogen von Versandhäusern bestellen. Über dieses 2. Sonderausbildungsprojekt (H. Cohen, 1966) sind bislang keine Zahlen veröffentlicht worden: ζ. B.

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Schule

Samplegröße, Alter und Intelligenzhöhe der Versuchspersonen, Umfang des Lernerfolgs. Selbst wenn bedeutsame Lernerfolge erzielt worden sein sollten, sind ihre Auswirkungen auf die Rückfälligkeit oder Nichtrückfälligkeit der Versuchspersonen erst in einigen Jahren feststellbar. 2. Die Mitwirkung der Lehrer hei Erziehungsaufgaben im Jugendstrafvollzug a) Behandlungs- oder Aufsichtsanstalt. Für den Erfolg der pädagogischen Behandlung in Jugenderziehungs- und -Strafanstalten ist ausschlaggebend, ob es gelingt, eine entspannte emotionale Atmosphäre („homelike atmosphere") und eine therapeutische Gemeinschaft („therapeutic community") zu schaffen, in der Kinder und Jugendliche Geduld, Ausdauer und Zusammenarbeit lernen. Ihre Erzieher müssen im Team Hand in Hand arbeiten und sehr viel von Gruppendynamik verstehen. Denn ihre Zöglinge pflegen in Gruppen zu essen, zu spielen, zu arbeiten, zu lernen, zu schlafen und gegen die Autorität zu rebellieren. Der -*• Jugendstrafvollzug steht in einer ständigen Spannung zwischen bloßer Aufsicht und pädagogischer Behandlung. Sicher ist pädagogische Behandlung ohne ein Mindestmaß von Aufsicht nicht möglich, und ebenso gewiß gibt es gegenwärtig wohl kaum eine Jugenderziehungs- und -Strafanstalt, die sich nur auf die Bewachung ihrer Insassen beschränken würde. Gleichwohl sind die Abstufungen zwischen den extremen Endpunkten „bloßer Gewahrsam" und „pädagogische Behandlung" vielförmig. Zwar scheint sich die Jugendkriminologie für die Behandlungsinstitution (Arnos, 1965, S. 6; Konopka, 1954, S. 9; Simpson, 1963, S. 20) entschieden zu haben, in der die Zöglinge nicht mehr gegen die Autorität zu rebellieren brauchen, weil es in ihr Autorität im Sinne äußerer Gewaltanwendung nicht mehr gibt (Shireman, 1964, S. 390). Dennoch sind die Widerstände in der Praxis unverkennbar. In Behandlungsinstitutionen kommen Konflikte innerhalb des Personals häufiger vor; Behandlungsanstalten sind differenzierter organisiert; in ihnen gibt es wesentlich mehr Störenfriede und Unruhestifter („troublemakers") unter den Insassen. Indessen fällt für die Behandlungsinstitution entscheidend ins Gewicht, daß es in ihr — im Gegensatz zur Gewahrsamsinstitution — fast keine kriminellen Subkulturen, antisoziale Gruppen mit antisozialen Gruppenführern und -werten, mehr gibt und daß die Einstellungen und Wertvorstellungen ihrer Zöglinge wesentlich positiver sind (Zald, 1964). In der Behandlungsanstalt gewinnen Kinder und Jugendliche mit schweren Persönlichkeitsstörungen wieder Vertrauen zu sich selbst und zur Gemeinschaft. Sie werden zu Selbstachtung und -kontrolle erzogen,

um sie zu einem Leben als eigenverantwortliche Staatsbürger zu befähigen. An Entscheidungen werden sie in geeigneter Weise beteiligt. Sie fühlen sich akzeptiert und lernen, die soziale Wirklichkeit zu erkennen und die Rechte anderer zu achten. Zur Erreichung aller dieser Erziehungsziele spielen die verschiedenen mittelbaren und unmittelbaren Gruppenbehandlungsmethoden (Sarri, 1965) eine maßgebende Rolle. Ausschlaggebend ist indessen die Ausübung der Autorität. Auf die Mehrheit der heutigen delinquenten Jugend macht die Androhung oder Anwendung nackter äußerer Gewalt keinen positiven Eindruck mehr; auch wohlgemeinte Ratschläge und gefühlsbetonte, moralische Mahnworte sind durchweg wirkungslos. Allein eine einwandfrei vorgelebte ethische Haltung und eine Autorität der Erzieher überzeugen, die sich durch Vorbild und Leistung ständig bewähren. Nicht nur das akademisch ausgebildete Erziehungs- und Behandlungspersonal kann in diesem Sinne auf die delinquenten Kinder und Jugendlichen pädagogisch einwirken. Die Aufsichtsbeamten haben gleichfalls vielfältige günstige Beeinflussungsmöglichkeiten. Sie sind mit den Insassen während des Tages lang zusammen. Sie entsprechen in ihrem geistigen Niveau und in ihrer Herkunft meist eher den von ihnen betreuten Kindern und Jugendlichen als das akademisch ausgebildete Erziehungs- und Behandlungspersonal. Ihr Verhalten, ihr Auftreten, ihre Umgangsformen und ihr Umgangston sind nicht zu unterschätzende offene und geheime Miterzieher (Zald, 1960). b) Äußere Lebensbedingungen. Unabdingbare Voraussetzungen einer erfolgversprechenden Erziehung sind jugendgemäße, gesunde äußere Lebensbedingungen: eine saubere, ansprechende Umgebung, sportliche, moderne Kleidung und wohlausgewogene Ernährung. Die Anstaltsgebäude sollten landschaftlich schön gelegen, gut geplant und baulich einwandfrei errichtet sein. Der gesamte Gebäudekomplex sollte eine gewisse Flexibilität besitzen; er sollte eine umwandelbare, dynamische Einheit bilden, so daß jedes einzelne Gebäude leicht für einen anderen Zweck verwendbar gemacht werden kann (Arnos, 1965, S. 51—63). Die „Training Schools" in Nordamerika sind meist weiträumig angelegt und nach dem Pavillonsystem („cottage unit system") aufgebaut. Die Bungalows, in denen etwa jeweils 25 Kinder und Jugendliche mit ihrer Hausmutter oder ihren „Cottage"-Eltern leben, sind zumeist familiär behaglich („home-type setting"), ansehnlich, farbig, hell und luftig (Arnos, 1965, S. 107). Die „Training Schools" besitzen oft ein Schwimmbad, eine Turnhalle, Sportplätze und eine Eisbahn (Sinclair, 1965, S. 246). Die älteren Mädchen wohnen sehr oft in individuell ausgestalteten Einzelzimmern. Die „Training Schools" für Jungen bewirtschaften nicht selten riesige

Schule Farmen, oder sie sind als Jugendarbeitslager, oft auch als Waldarbeitslager angelegt. Für Selbstwert und -achtung der Zöglinge erfüllen Kleidung und Essen eine bemerkenswerte Funktion. Die Kleidung sollte nach Farbe und Stil individuell gestaltet sein; sie darf sich in keiner Weise diskriminierend von der Kleidung der Kinder und Jugendlichen außerhalb der Anstalt unterscheiden (Arnos, I960, S. 129—133). Die Kinder und Jugendlichen der nordamerikanischen „Training Schools" verfügen durchweg über eine modische Schul-, Arbeits- und Freizeitkleidung (mit Bade- und Sportanzug). Ausreichende Ernährung symbolisiert für die meisten Menschen Behaglichkeit und Sicherheit. Dieser Umstand trifft in erhöhtem Maße für die Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen zu. Das Essen sollte deshalb nicht nur von guter Qualität sein, sondern auch geschmackvoll zubereitet und in einem ansprechenden Speisesaal serviert werden (Arnos, 1965, S. 133—138). Das Personal sollte auch darauf achten, daß die Zöglinge angemessene Tischsitten entwickeln. Durch dürftige Unterkunft, schlechte Kleidung und unzureichendes Essen wird die Menschenwürde der jugendlichen Delinquenten verletzt. Sie werden immer wieder von neuem frustriert und in ihrer physischen und psychischen Entwicklung gehemmt, so daß keine erfolgreiche Erziehungsarbeit geleistet werden kann. c) Sexual- und Sozialerziehung. An einer Stichprobe von 316 Probanden, 165 männlichen und 151 weiblichen, im Alter zwischen 12 und 17 Jahren wurde mit Hilfe eines Wort-Assoziations-Tests festgestellt, daß Insassen nordamerikanischer „Training Schools" heterosexuellen Beziehungen und Sozialerfolgen größte Bedeutung zumessen (Kass, 1964). Sozialerziehung (staatsbürgerliche Bildung und Sexual- und Familienerziehung) ist deshalb wichtige Erziehungsaufgabe in Jugenderziehungs- und -Strafanstalten (Amos, 1905, S. 75). Staatsbürgerliche Schulung und Diskussion des Zeitgeschehens müssen noch verstärkt pädagogisch eingeplant werden. Bei der Sexual- und Familienerziehung geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um die Erziehung zum selbstverantwortlichen Handeln reifer Persönlichkeiten. Die ideellen und materiellen Voraussetzungen für eine Familiengründung müssen besprochen werden. Die Mädchen sollten insbesondere in Hauswirtschaftslehre, Säuglingspflege und in Erster Hilfe noch mehr als bisher unterwiesen werden. Koedukation wird von der Mehrheit der Erzieher in nordamerikanischen „Training Schools" abgelehnt. Dazu steht nicht in Widerspruch, daß sich weibliche und männliche Insassen der „Training Schools" bei Spiel und Tanz treffen (Arnos, 1965, S. 117). d) Erziehung zur Freizeitgestaltung. Eine ganz wesentliche Grundform des Erziehungs-

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geschehens in Jugenderziehungs- und -Strafanstalten besteht darin, die Insassen zur sinnvollen Ausfüllung ihrer Freizeit anzuleiten. Denn die meisten Delikte von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden werden in deren Freizeit begangen. In vielen deutschen Jugenderziehungs- und -Strafanstalten gibt es abwechslungsreiche Gruppenabende und vielförmige Arbeitsgemeinschaften, die sich ζ. B. mit Werken, Malen, Musizieren, Volkstanz, Laienspiel, Chorsingen, Briefmarkensammeln, Fotografieren beschäftigen. In den kanadischen „Training Schools" sind die Sommerlager in den Wäldern und an den Seen des Nordens besonders beliebt. Erzieher geben den Jugendlichen wertvolle Hinweise für eine sinnvolle Urlaubsgestaltung. Besonders wichtig ist es, die Kinder und Jugendlichen an das gute Buch heranzuführen und literarisch schädliche Tendenzen von ihnen abzuwehren. Es ist nicht nur damit getan, geeignete Bücher für die Anstaltsbücherei auszuwählen. Lehrer und Sozialarbeiter müssen sich auch in Gruppendiskussionen oder im Einzelgespräch zusammen mit ihren Zöglingen mit dem problematischen Buch auseinandersetzen. Durch die Anleitung zur sinnvollen Freizeitbeschäftigung werden neue Interessen beim Jugendlichen geweckt; er h a t keine Angst mehr vorm Alleinsein; die Mußezeit ist ihm nicht mehr lästig. c) Sporterziehung. Der Sport spielt in Jugenderziehungs- und -Strafanstalten eine bedeutsame Rolle. Durch ihn werden körperliche Selbstwertkonflikte als Kriminalitätsfaktoren gerade bei körperlich behinderten oder schwachen Kindern und Jugendlichen aufgelöst. Mitmachendürfen und Erfolgreichsein sind für sie Erlebnisse, die ihre Selbstachtung bemerkenswert stärken. Die Insassen kanadischer „Training Schools" erfreuen sich besonders mit Schwimmen, Segeln und Fischen; denn das Land verfügt über eine Unzahl von größeren und kleineren Seen. Der Sport ist im Erziehungsgeschehen der Jugenderziehungsund -Strafanstalten nicht nur deshalb so wichtig, weil er entscheidend zur physischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen beiträgt, ihrem natürlichen Bewegungsdrang entgegenkommt und eine sozialadäquate Aggressionsabfuhr ermöglicht, sondern er ist auch darum so bedeutungsvoll, weil er zu Körper- und Selbstbeherrschung, zu fairem Zusammenspiel und so zur Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl und -bereitschaft befähigt. Durch die Sportwettkämpfe, die die Jugendlichen in den Jugendstrafanstalten mit Jugendgruppen in der freien Gesellschaft austragen, wird der Kontakt zur Jugend der Außenwelt aufrechterhalten. f) Erziehung zum sinnvollen Gebrauch der Massenkommunikationsmittel. Sinnvoller Gebrauch der Massenkommunikationsmittel und Verarbeitung ihrer kriminogenen Einflüsse sind wich-

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tige Erziehungsaufgaben. Die Kritikfähigkeit des Kindes oder Jugendlichen gegenüber Bildern in Illustrierten, im Fernsehen oder im Film und gegenüber Schlagertexten muß entwickelt werden. Wirklichkeitsgetreue Darstellungen der Verbrechensphänomene wirken in ihrer Öde und abstoßenden Gewalttätigkeit f ü r sich allein vorbeugend. Der kriminogene Effekt der Wiedergaben in den Massenkommunikationsmitteln liegt gerade darin, daß die Verbrechensphänomene, unwirklich verzerrt u n d phantastisch aufgebauscht, zur spannenden Schau gemacht werden (-> Massenmedien, Kriminalroman).. Die Erzieher in den Jugenderziehungs-und-Strafanstalten sind sich genauso wie die Jugendkriminologen über die kriminogene Bedeutung der Massenkommunikationsmittel und über die vorbeugende Abwehr schädlicher Einflüsse uneinig. Durch strenge Zensur versucht man kaum noch, die Jugendlichen gegenüber verderblichen Einflüssen abzuschirmen. Der Zweck dieser Zensur ist klar: Der Jugendliche soll zunächst einmal zur Ruhe kommen und nicht ständig durch aufreizende Sexual- und Gewaltszenen von neuem aufgepeitscht werden. Gegenüber dieser Ansicht ist kritisch eingewandt worden, daß sie allzu leicht zu zwanghafter Verkrampfung führen kann. Bei den Erziehern nordamerikanischer „Training Schools" und schwedischer Jugendstrafanstalten herrscht die Meinung vor, dem Jugendlichen völlige Freiheit in der Benutzung aller Massenkommunikationsmittel zu lassen. So kommt es, daß man Sexualbilder in vielen Zellen schwedischer und nordamerikanischer Jugendstrafanstalten vorfinden kann. Die verantwortlichen Erzieher äußern hierzu die Ansicht, daß der jugendliche Insasse seine Sexualprobleme „ausleben" müsse. Dem kann nicht zugestimmt werden. Daß gerade der schwererziehbare und kriminelle Jugendliche Hilfe und Anleitung braucht, daran sollte eigentlich kein Zweifel herrschen. Deshalb kann auch nur der Auffassung gefolgt werden, die in Jugenderziehungs- und -Strafanstalten den Gebrauch ausgewählter Illustrierten und das Ansehen ausgewählter Filme und Fernsehsendungen erlaubt. Bei der Auswahl sollte m a n allerdings nicht nur erzieherisch wertvolle oder harmlose und unschädliche Produktionen berücksichtigen. Man erzielt auf diese Weise den Effekt, daß sich der Jugendliche nach seiner Entlassung um so mehr allen schädlichen Einwirkungen der Massenkommunikationsmittel aussetzt. Aus diesem Grunde sollte auch eine beschränkte Zahl bedenklicher und sogar minderwertiger Produktionen der Massenkommunikationsmittel für den Jugendlichen im -»• Jugendstrafvollzug freigegeben werden. Es kommt aber entscheidend darauf an, daß die Erzieher mit den Jugendlichen, die diese Produktionen zur Kenntnis genommen haben, entweder in einer Gruppendiskussion oder

im Einzelgespräch die schädlichen Einwirkungen eingehend durchzusprechen u n d so zur Verarbeitung dieser Einwirkungen beim Jugendlichen beizutragen versuchen. g) Psychotherapie, Gruppenerziehung, Gruppendiskussion und Gruppenpsychotherapie. I m Erziehungsgeschehen der Jugenderziehungs- und -Strafanstalten nehmen Psychotherapie, Gruppenerziehung, Gruppendiskussion („group counseling") und Gruppenpsychotherapie (Sarri, 1965) einen immer größer werdenden Raum ein. Howard W. Polsky (1962), der in einer nordamerikanischen „Training School" eine ,,Cottage"-Gruppe von 28 Jungen acht Monate lang beobachtet hat, kommt zu dem Ergebnis, daß bei einer individuellen Psychotherapie Gruppenstruktur und -dynamik unbedingt mitberücksichtigt werden müssen, daß wahrscheinlich nur die Gruppe als solche therapierbar ist und daß die Gruppenmitglieder am wirksamsten durch die Gruppe selbst behandelt werden. Als Behandlungsmethode ist in nordamerikanischen „Training Schools" am weitesten die Gruppendiskussion verbreitet. Bei ihr handelt es sich um regelmäßig stattfindende Gruppensitzungen, bei denen sich die Jugendlichen frei über alle Fragen aussprechen können, die sie bewegen. Diese Gruppendiskussionen haben folgenden Sinn: Wenn das Verhalten'des Jugendlichen nicht mehr an den Leistungen seiner tüchtigeren Geschwister und Klassenkameraden gemessen wird und keine moralische Abwertung mehr erfährt, so bedeutet dies für ihn ein E n t lastungserlebnis, das seine Wertschätzung erhöht. E r wird ferner dadurch ermutigt, daß er die soziale, altersgemäße und schicksalhaft-gleichartige Problematik seiner Kameraden entdeckt („peer group insight"). Durch die freimütige Diskussion erlangt er Einblick in die Gründe seines Fehlverhaltens. Seine Frustrationstoleranz wird erweitert, so daß er seine Aggressionen nicht sofort gegen sich oder andere richtet. Seine Angstgefühle und Spannungen bekommt er unter Kontrolle, indem er seine emotionalen Konflikte abreagiert und sie mit der Gruppe zusammen durcharbeitet. Ratschläge und Lebenshilfen seiner gleichgestellten Kameraden mit derselben Problematik nimmt er eher an als die Ratschläge von Autoritätspersonen (Konopka, 1954, S. 212). Bei dem Vortragen eigener persönlicher Schwierigkeiten werden Emotionen frei, die auf die Gruppenmitglieder heilsam wirken können. Durch die Gruppeninteraktion und die Überzeugungskraft des Selbstbetroffenen t r i t t eine Stärkung des Selbstbewußtseins und der Selbstkritik der Gruppenmitglieder ein. Die Gruppe h a t zwar auch einen Gruppenleiter, der sich aber in der Gruppendiskussion stark zurückhält u n d die Gruppe mehr indirekt zu lenken versucht. Jedem Gruppenmitglied gegenüber nimmt er eine wohlwollende ermutigende Haltung ein. E r enthält sich jeder

Schule Kritik und jeden Urteils u n d legt der Gruppe keine Normen auf. Er sieht von sich selbst völlig ab und „ n i m m t " jedes Gruppenmitglied in seinem So-Sein „ a n " . F ü r die Gruppenmitglieder, die sich schwer verbal auszudrücken vermögen, kann das Zeichnen ihrer persönlichen Problematik einen bedeutsamen psychokathartischen Effekt haben. In Highfields (New Jersey) wurde im Jahre 1950 ein neuartiges Behandlungszentrum für jugendliche Straftäter gegründet (McCorcle, 1958; Weeks, 1963). Es ist durch folgende Merkmale stichwortartig charakterisiert: kurzzeitige Behandlung (3 bis 4 Monate), kleine Behandlungsgruppe (bis zu 20 Jungen), offenes Heim, Arbeitstherapie unter Aufsicht und Anleitung am Tag, Gruppendiskussionen während des Abends und der Freizeit. In Highfields will man durch enge therapeutische Beziehungen zwischen Erziehern und Zöglingen die Einstellungen und Zielsetzungen der Jungen ändern. Zur Frage der kriminalpädagogischen Wirksamkeit der Gruppentherapie in „Training Schools" ist auf zwei empirisch-kriminologische Untersuchungen hinzuweisen: Ernest L. V. Sheliy und Walter F. Johnson (1961) haben eine Gruppe von 50 Jugendlichen einer „Training School" in Michigan sechs Monate lang mit „group counseling" behandelt. Vor u n d nach dieser Behandlung haben sie die Experimentalgruppe und eine gleichgroße, gleichaltrige Kontrollgruppe einer benachbarten „Training School", die keinerlei pädagogische Behandlung durchführte, mit einer Kurzform des „Thematischen Apperzeptionstests" (TAT) nach Henry A. Murray untersucht ( P e r s ö n l i c h k e i t s f o r s c h u n g ) . Auf Grund der Anzahl der gewählten antisozialen Themen stellten sie fest, daß sich beide Gruppen nach der Behandlung der Experimentalgruppe statistisch-signifikant (auf .01 Niveau) in ihrer sozialen Einstellung unterschieden (die soziale Einstellung der Experimentalgruppe war positiver) und daß die Jugendlichen der Experimentalgruppe — falls ihnen bedingte Entlassung („parole") gewährt wurde — in ihrer Bewährungszeit statistisch-signifikant (auf .02 Niveau) weniger rückfällig wurden. J o h n W. McDavid (1964) testete eine Gruppe von 89 Jungen einer „Training School" des Mittel-Westens der USA mit dem „Social Reinforcement Interpretation Test" (SRIT) vor und nach ihrer gruppentherapeutischen Behandlung. Die Jungen befanden sich in einem Durchschnittsalter von 16 Jahren und 11 Monaten. Nach dem Test ergaben sich vor und nach der gruppentherapeutischen Behandlung statistisch-signifikante Unterschiede (auf .025 Niveau). Es zeigte sich also, daß die Gruppentherapie einen sofortigen günstigen pädagogischen Effekt erzielte (-»· Psychologie des Verbrechens).

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h) Verhaltenstherapie. Eine neue, auf der behavioristischen Lerntheorie beruhende Behandlungsmethode, mit der man in den letzten Jahren in nordamerikanischen Jugenderziehungsund -Strafanstalten experimentiert, ist eine bestimmtgeartete Verhaltenstherapie („aversive conditioning behavior therapy"). Bei dieser Behandlungsmethode (H. G. Jones, 1965) geht es darum, beim Straftäter durch die Setzung eines bedingten Reflexes der Abneigung und des Widerwillens eine Barriere, einen „eingeinnerten Versuchungs-Vermeidungs-Konflikt" („internalized approach avoidance conflict") aufzubauen, der ihn befähigt, in Zukunft den Motivationsprozeß zwischen krimineller Erregung durch einen Außenreiz u n d kriminellem Angriff willentlich zu unterbrechen, so daß Hemmungen gegen die kriminelle Endhandlung, die verhältnismäßig starr abzulaufen pflegt, nicht einfach überrannt werden können. Obwohl man dieser Behandlungsmethode nicht bestreitet, daß sie möglicherweise gute Erfolge zeitigen wird, ist sie gleichwohl kriminalpsychologisch umstritten, weil sie die im Persönlichkeitskern wurzelnden Störungen, auf die letztlich die Entstehung kriminellen Verhaltens zurückgeführt werden muß, nicht zu beseitigen vermag (Symptomwechsel!). i) Psychopathenanstalten. Im System der nordamerikanischen „Training Schools" gibt es Spezialanstalten für jugendliche Psychopathen (Reed, 1965). Es handelt sich meist u m kleine Anstalten für 40 bis 100 Insassen. Diese Psychopathenanstalten haben wesentlich mehr Aufsichts- und Behandlungspersonal, das zudem speziell ausgebildet ist. Außer den bereits erwähnten Behandlungsmethoden werden in diesen Anstalten auch Medikationen (Arnos, 1965, S. 150—159) und Heilpädagogik in vermehrtem Umfang eingesetzt. Die Insassen sind einer längeren Behandlungsdauer und verschärften Sicherheitsmaßnahmen unterworfen. Neuerlich werden Versuche zur Erprobung weiterer Behandlungsmaßnahmen unternommen. Man hält es nicht für ausgeschlossen, daß Hypnose, Suggestion, Narkoanalyse, autogenes Training (I. H. Schultz) und Psychodrama (J. L. Moreno) erfolgreich angewandt werden können. j) Strafpraxis. Die „Strafpraxis" in den Jugenderziehungs- und -Strafanstalten m u ß sich völlig der pädagogischen Behandlung unterordnen. In diesen Anstalten sind „ H a u s s t r a f e n " verhältnismäßig leicht zu verhängen. Denn die vielförmigen Vorzüge u n d Erleichterungen, die der Vollzug jedem einzelnen bei Wohlverhalten und persönlichen Fortschritten gewährt, können in mannigfaltiger Weise entzogen und modifiziert werden. Grundsätzlich straft man weder zu streng noch zu lasch. Es ist einhellige Meinung, daß sich widerspruchsvoll-schwankendes, inkonsequentes Strafen am nachteiligsten auswirkt. Die Erzieher

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sollten möglichst ihren Humor und ihre Gelassenheit auch in schwierigen Erziehungssituationen nicht verlieren. Übereinstimmend wird die körperliche Züchtigung mit einer Fülle von Argumenten (Sinclair, 1965, S. 263—270) als Strafe abgelehnt. Auch sogenannte Kameradengerichte werden nicht geduldet, weil Kinder und Jugendliche nicht selten besonders grausam zu sein pflegen und weil Kameradengerichte nur zu oft dahin führen, eine unbeliebte, schwache Minderheit von Kameraden zu Sündenböcken zu machen und sie innerhalb der Anstalt zu isolieren (Konopka, 1954, S. 220). Es ist nicht das Ziel pädagogischer Behandlung in Jugenderziehungs- und -Strafanstalten, durch körperliche Züchtigung und soziale Isolation eingeschüchterte Untertanen zu erziehen, die dann nach ihrer Entlassung gewalttätigen Bandenführern willfährig folgen. Die Jugenderziehungs- und -Strafanstalten der freien demokratischen westlichen Welt bemühen sich vielmehr darum, Jungen und Mädchen mit Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstdisziplin zu befähigen, nach ihrer Entlassung als eigenverantwortliche, mündige Staatsbürger selbständig zu entscheiden und zu handeln. IV. AUSBLICK AUF EINE ZUKÜNFTIGE JUGENDKRIMINOLOGISCHE ERFORSCHUNG DER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN SCHULE UND JUGENDKRIMINALITÄT Schule, Familie, Freizeitgestaltung, die für den Sozialisationsprozeß so entscheidend wichtig sind, stehen in engem Zusammenhang zueinander ( J u g e n d k r i m i n a l i t ä t ) . Die Schulfaktoren, die f ü r die Entstehung der Kinder- und Jugendkriminalität von großer Bedeutung sein können, müssen in der deutschen wie auch ausländischen Jugendkriminologie noch klarer herausgearbeitet und erforscht werden, als dies bisher geschehen ist. Dunkelziffer der Kinder- u n d Jugenddelinquenz, pädagogische Mißgriffe und die dadurch entstandenen Schulschäden, die für die Entstehung der Kinder- u n d Jugenddelinquenz relevant sein können, müssen empirisch-kriminologisch untersucht werden. Hierfür bedarf es eines großen Verständnisses der Schulen, die ihrezentralen Aufgaben bei der Verhütung und Behandlung der Kinder- und Jugenddelinquenz erkennen müssen. Insbesondere besitzen die Lehrer einen ausschlaggebenden Erziehungsauftrag (Sexual- u n d Sozialerziehung, Sport, Erziehung zur sinnvollen Freizeitgestaltung, Gruppenarbeit) im Jugendstrafvollzug, so wie er im letzten Teil dieses Artikels skizziert worden ist. Mag die deutsche Schule den so notwendigen empirisch-jugendkriminologischen Forschungen und ihrem jugendkriminologischen Erziehungsauftrag aufgeschlossen gegenüberstehen!

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SELBSTMORD 1.

Umfang

des

Proilemes

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, welchem es möglich ist, sich selbst den Tod zu geben. Es ist vielleicht das größte Geheimnis seiner Existenz, daß unter den vielen Entscheidungen, die dem Menschen ermöglicht und gleichzeitig auferlegt sind (sehr zu recht spricht Jaspers daher von einem „entscheidenden Sein"), sich auch die schwerwiegendste, nämlich die zwischen Sein und Nichtsein, befindet. Soweit wir bis heute wissen, kennt das Tier den Selbstmord nicht; wohl sind auch bei bestimmten Tiergattungen Verhaltensweisen bekannt, die praktisch zur Selbstvernichtung führen; dennoch kann man dabei nicht von Selbstmord sprechen, weil derselbe eine Vorstellung vom eigenen Ich, also eine Selbstreflexion, insbesondere auch das bewußte Erleben der Begrenztheit der Existenz, zur Voraussetzung hat. Mit Recht hat Stengel betont, daß bis jetzt kein Beweis dafür erbracht wurde, daß selbstzerstörendes \ r erhalten bei einem Tier mit dem Wunsch zu sterben vergesellschaftet ist; nur diese Kombination aber würde es erlauben, von Selbstmord zu sprechen. Es scheint verständlich, daß dieses ungewöhnliche Phänomen, welches geradezu als spezifisch menschliches Charakteristikum bezeichnet werden kann, immer das Interesse forschender Geister erweckt hat. Albert Camus hat sogar gemeint, daß es nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem gebe, nämlich den Selbstmord. So ist der Selbstmord im Laufe der Geschichte immer wieder mit all seinen Einzelheiten registriert, philosophisch diskutiert und ethisch bewertet worden. Erst die moderne Psychiatrie und Psychologie aber haben ihn zum Objekt echter wissenschaftlicher Forschung gemacht. Gerade in einer

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Selbstmord

Zeit, die durch sprunghaftes Ansteigen der Selbstmordzahlen gekennzeichnet erscheint, ist jeder Schritt, der uns der Erkenntnis jener Bedingungen, welche Voraussetzung für die Selbsttötung sind, näherbringt, sehr zu begrüßen. Dabei bleibt es eine Tatsache, daß es sich beim Selbstmord um eines der komplexesten Probleme handelt, das wir uns vorstellen können; ebenso wie es unmöglich ist, ihn auf einen einzigen Faktor zurückzuführen, muß auch seine Beleuchtung von einer bestimmten begrenzten Warte insuffizient bleiben. Die Vielzahl der zu seiner Erforschung nötigen Blickrichtungen deutete Gaupp mit den Worten an: „Der Selbstmord ist ein biologisches, soziales und psychologisches Problem". So wird man hier auf die Zusammenarbeit der verschiedensten Disziplinen angewiesen bleiben, entsprechend der Tatsache, daß der Suicid unter anderem allgemein medizinische, gerichtsmedizinische, psychiatrische, psychopathologische, psychologische, tiefcnpsychologische, philosophische, ethische, religiöse, statistische, soziologische und soziale Probleme aufwirft, um nur die wichtigsten zu erwähnen. Wenn im folgenden die psychiatrisch-psychologischen Gesichtspunkte im Vordergrund stehen werden, so soll dies keineswegs die Beanspruchung eines Primats der Psychiatrie für die Erforschung des Selbstmordphänomens bedeuten, es ist vielmehr ein Resultat des Faktums, daß der Verfasser dieses Beitrages Psychiater ist. Man muß immer wieder darauf hinweisen, daß auch die Psychiatrie — wenngleich sie gerade in den letzten Jahrzehnten in der Erkenntnis der Dynamik, welche zum Selbstmord führt, bedeutende Fortschritte gemacht hat — nur eine begrenzte Beitragsleistung präsentieren kann. Täglich sterben in der Welt mehr als 1000 Menschen durch Selbstmord, die Zahl der Selbstmordversuche ist um ein Vielfaches höher. Es gibt kein Land, welches von diesem Phänomen nicht betroffen ist, keinen Menschen, der sich nicht damit auseinandersetzen müßte, es handelt sich also wirklich um ein ubiquitäres und weltweites Problem. Die folgende Tabelle 1, die sich auf die letzten Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stützt, soll einen Überblick geben über den Stand der Selbstmordzahlen in der ganzen Welt. Die Selbstmordzahlen in den einzelnen Ländern sind also von unterschiedlicher Höhe, damit eindringlich darauf hinweisend, daß der Selbstmord nicht nur als Problem des Einzelindividuums anzusehen, sondern auch abhängig ist von der Gesamtsituation, die in einer Gemeinschaft herrscht. Bedenkt man, daß die Selbstmordzahlen mit der fortschreitenden Zivilisation angestiegen sind, wird es niemanden wundern, daß sie gerade in Europa eine erschreckende Höhe erreicht haben, so daß man mit MenningerLerchenthal geradezu von einem europäischen Selbstmordproblem sprechen könnte. Die hier an-

geführten Zahlen beinhalten unausgesprochen erschütternde Tatsachen: so ζ. B., daß in Gesamtdeutschland jährlich 15000 Menschen durch Selbstmord ums Leben kommen — das sind mehr als durch Verkehrsunfälle oder durch Tuberkulose — und daß jeder 40. Todesfall dort ein Selbstmord ist: Oder aber, daß in vielen Ländern mehr Menschen durch Selbstmord sterben, als durch alle Infektionskrankheiten zusammen. Darüber hinaus zeigt die Tabelle, daß das Selbstmordproblem auch in den außereuropäischen Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten und in Japan, eine immer beunruhigendere Aktualität gewinnt. Allein im Verlauf der letzten 10 Jahre haben sich in den Vereinigten Staaten 170000 Menschen das Leben genommen, jede 24. Minute stirbt dort ein Mensch durch Selbstmord. Selbstverständlich hat sich die statistische Erforschung des Selbstmordes nicht mit der bloßen zahlenmäßigen Erfassung begnügt, sondern sich bemüht, auch andere Gesichtspunkte herauszuarbeiten; so die Beziehungen zwischen Selbstmord und Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf, Bevölkerungsdichte, Lebensstandard, Jahreszeit, Klima, gewähltem Mittel, politischer Situation, Religion. Es ist nicht leicht, die unterschiedlichen Resultate dieser Bezugsysteme in den verschiedenen Ländern auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Vielleicht ist es aber doch möglich, im Durchschnitt festzustellen, daß der Selbstmord beim Mann (immer noch) häufiger vorkommt als bei der Frau (deren Selbstmordziffer in den letzten Jahrzehnten stärker im Ansteigen begriffen ist als die des Mannes), beim alten Menschen öfter als beim jungen (in der Kindheit stellt er eine absolute Seltenheit dar), beim Isolierten (Vereinsamung, Scheidung, Witwenstand, Kinderlosigkeit) öfter als bei demjenigen, der in guten zwischenmenschlichen Beziehungen lebt, in der Stadt häufiger als auf dem Lande (obwohl gerade in den letzten Jahrzehnten der Selbstmord auch in ländlichen Gegenden, in denen er früher eine Seltenheit darstellte, beunruhigend zuzunehmen beginnt) und daß eine starke Bindung an eine Religion den Selbstmord oft verhindert. Heftige Kämpfe um die Auslegung der statistischen Resultate fanden insbesondere auf dem enorm weltanschaulich besetzten Gebiet des sozialen Status statt: Hier blieben die Ergebnisse zwiespältig insofern, als ein steigender Lebensstandard gewöhnlich auch zu einer steigenden Selbstmordrate führt, von der die gehobeneren Schichten der Bevölkerung mehr betroffen sind als die niedrigeren, aber andererseits schwere Wirtschaftskrisen (wie etwa die zwischen den beiden Weltkriegen) die Selbstmordrate ebenfalls steigen lassen. Politische Umstürze, insbesondere Verfolgungen durch Diktaturen, erhöhen die Selbstmordneigung, hingegen pflegt in Kriegen im allgemeinen die Selbstmordrate zu sinken, eine Tatsache, die zu den verschiedenartigsten Erklä-

Selbstmord Tabelle 1: Selbstmordzahlen in der Welt

Land

Jahr

Südafrika (weiße Bevölk.) Südafrika (asiat. Bevölk.) Südafrika (färb. Bevölk.) Vereinigte Arab. Republ. Kanada Chile Kolumbien Costa Rica Dominicanische Republ. El Salvador Guatemala Mexiko Nicaragua Panama Puerto Rico USA Venecuela Formosa Hong Kong Israel Japan Jordanien Philippinen Singapur Thailand Österreich Belgien Bulgarien CSSR Dänemark Finnland Frankreich BRD West-Berlin Griechenland Ungarn Irland Italien Niederlande Norwegen Polen Portugal Spanien Schweden Schweiz England u. Wales Nordirland Schottland Australien Neu Seeland

19G1 1961 1961 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1961 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1961 1962 1962 1962 1962 1962 1962 1962

Auf 100000 der Bevölkerung entfallen Selbstmorde 17,1 9,3 3,8 0,1 7,2 6,5 4,8 2,4 2,1 8,5 3,1 1,8 0,4 6,4 7,7 10,9 5,3 18,ΟΙΟ,6 6,1 17,6 0,2 0,8 8,0 3,5 22,4 13,6 8,0 20,6 19,0 22,1 15,1 17,6 39,5 3,4 24,9 1,8 5,4 6,6 7,9 9,3 8,5 5,2 18,5 18,8 12,0 4,2 9,1 13,7 8,3

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rungsversuchen herausforderte, bis die moderne Tiefenpsychologie die entscheidende Bedeutung des Spannungsfeldes zwischen nach innen und außen gerichteten Aggressionen für das Selbstmordgeschehen aufzeigte (siehe später). Seither wissen wir, daß es vor allem die im Krieg erlaubte, ja verlangte Aggressionsentladung nach außen ist, welche die Selbstaggression in diesen Zeiten zurückgehen läßt. — Als letztes wichtiges statistisches Resultat sei schließlich der in allen Ländern festzustellende Frühsommergipfel der Suicidkurve erwähnt; paradoxerweise steigt also die Selbstmordtendenz in der Zeit des erwachenden Lebens, ein Beweis mehr dafür, daß dieses Problem niemals bloß rational, sondern immer auch emotional determiniert ist: Diese Erkenntnis wird man natürlich auch bei der Methodik zur Erforschung des Suicids berücksichtigen müssen. Zwei Fakten sind es, die die engen Grenzen der statistischen Betrachtung des Selbstmordes markieren: a) Muß an der Verläßlichkeit der Selbstmordzahlen sehr gezweifelt werden? Der Selbstmord gehört auch heute noch zu jenen Gebieten, über denen, wie Freud gezeigt hat, ein besonderes Tabu liegt. Ein erfolgender Selbstmord wird dementsprechend vielfach als Schande, ja als „Bemakelung" der ganzen Familie erlebt, woraus die Bemühung resultiert, ihn, wenn irgendmöglich, zu verheimlichen. Auf diese Weise ist die sogenannte Dunkelziffer sicherlich grundsätzlich hoch. Wie hoch sie sein mag, geht vielleicht am besten aus dem Problem der statistischen Erfassung der Selbstmordversuche hervor. Im Durchschnitt wird in allen Ländern die Zahl der Selbstmordversuche offiziell mit etwa der doppelten Ziffer der erfolgten Selbstmorde angegeben. Wir wissen aber aus Gebieten, in denen echte Kontrolluntersuchungen stattgefunden haben, daß sie mindestens 3 mal so hoch ist, ja manche Autoren zögern nicht, sie als 6—8 mal so hoch wie die Selbstmordziffer anzunehmen. Darüber hinaus bleibt es sehr problematisch, die Selbstmordziffern der einzelnen Länder zu vergleichen; spricht doch vieles dafür, daß die Grundlagen, durch die die Selbstmordziffern ermittelt werden, in den einzelnen Ländern völlig verschieden sind. Wir vergleichen also offenbar Größen miteinander, die infolge verschiedener Untersuchungsgrundlagen und damit unterschiedlicherer Verläßlichkeit gar nicht vergleichbar erscheinen. Charakteristisch für diese Situation bleibt die Antwort eines dänischen Gelehrten auf die Frage, warum denn gerade in seinem Lande die Selbstmordrate so hoch sei? Er sagte: „Weil unsere statistische Erfassung so gut ist." Auch darf nicht vergessen werden, daß von weiten Gebieten der Erde — und gerade den bevölkerungsreichsten — statistische Angaben über den Selbstmord nicht vorliegen, sei es, weil dort keine diesbezüglichen Erhebungen stattfinden, sei es, weil

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Selbstmord

ihre Veröffentlichung aus politischen Gründen verboten wird. b) Wieviel man auch von der Statistik erwarten mag, es gibt einen Punkt, über den sie sicherlich keinen Aufschluß geben kann, und das ist die entscheidende Frage, was eigentlich den Selbstmord im einzelnen Fall verursacht hat. Grundsätzlich muß man mit Gaupp zwischen Ursache (oder besser Ursachen) eines Selbstmordes und dem Anlaß zum Selbstmord unterscheiden und sich darüber im klaren sein, daß der statistischen E r fassung des Motivs bestenfalls der Anlaß zugänglich ist, also jener Zusammenhang, der dem Betreffenden selbst bewußt ist, aber niemals die eigentliche tiefere Determinierung. Selbst bei der Feststellung des Anlasses aber können umfangreiche Irrtümer nicht vermieden werden: Sowohl in den Aussagen der Täter (Abschiedsbriefe, Angaben nach der Rettung) als auch denen der nächsten Umgebung sind — teils absichtlich, teils unabsichtlich — Verzerrungen und Verfälschungen fast an der Tagesordnung. Zusammenfassend kann man daher nur Gruhle zustimmen, wenn er schreibt: „Die Motive der Selbstmorde in Form einer Statistik zu sammeln, begegnet schwersten methodischen Bedenken. Ob man im einzelnen Falle den zufälligen letzten Anlaß nennt oder die schon lange vorliegende Disposition, ob man das gelten läßt, was der gerettete Selbstmörder angibt, oder das, was man von ihm glaubt, ob man in vollendeten Fällen den Angehörigen dieses oder jenes Motiv glaubt, das alles ist von großer Willkür." Schon die Erörterung des statistischen Problemes hat gezeigt, daß man das Phänomen Selbstmord nicht isoliert betrachten kann, sondern es immer im Zusammenhang mit dem gegebenen gesellschaftlichen Hintergrund sehen muß. Dies mündet in die Frage: Wie ist die Einstellung der Welt zum Selbstmord? Grob gesprochen kann man hier 4 Verhaltensweisen unterscheiden. Die gleichgültige Einstellung. Dabei wird der Selbstmord als eine private Angelegenheit angesehen, die andere nichts angeht und in die man sich nicht einmischen darf. Diese Haltung ist einerseits Ausdruck des intensiven Individualismus unserer Zeit, dessen oberstes Idol es ist, alles als „ P r i v a t s a c h e " zu betrachten, andererseits aber wohl auch Ausdruck der gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß unsere Sozietät vielfach krank ist, daß der einzelne Gefahr läuft, isoliert und vereinsamt zu bleiben, manchmal sogar auch dann, wenn er scheinbar in äußerlich intakten Beziehungen steht. Was uns als Menschenfreundlichkeit entgegentritt („Respektierung der Intimsphäre"), ist vielfach in Wirklichkeit Teilnahmslosigkeit, Interesselosigkeit; jeder ist zur Genüge mit seinen eigenen Problemen beschäftigt und nicht bereit, auf die des anderen einzugehen.

Eine den Selbstmord fördernde Einstellung. Sie geht zurück auf eine lange philosophische Tradition, die, etwa mit dem Stoizismus, den Akt des Selbstmordes verherrlicht. Auch heute gibt es bestimmte philosophische Richtungen, die den Selbstmord als die letzte Freiheit, die dem Menschen in einer Zeit der Unfreiheit geblieben ist (über die Irrigkeit dieser Ansicht siehe später), als ein Idol der Tapferkeit und des Mutes glorifizieren. Wie sehr eine solche Haltung die öffentliche Meinung beeinflussen kann, geht erschreckend daraus hervor, daß in bestimmten Situationen (die natürlich von Land zu Land different sind) der Selbstmord des Betroffenen sogar verlangt wird (ζ. B . h a t ein Kapitän mit seinem Schiff unterzugehen). Die Verurteilung des Selbstmordes. Auch hier blicken wir auf eine lange Tradition zurück, die den Selbstmord als Verbrechen, als Sünde sogar unter staatliche und kirchliche Strafen stellte. Heute ist diese Situation weitgehend geändert: Es gibt nur mehr ganz wenige zivilisierte Länder, in denen der Selbstmordversuch zumindest theoretisch strafbar ist (wie z . B . Indien). Auch die Haltung der römisch-katholischen Kirche (diese war bekanntlich besonders rigoros; der Selbstmord wurde als die schlimmste Sünde bezeichnet, weil sie die einzige sei, die nicht mehr bereut werden könne; dementsprechend wurde dem Selbstmörder das kirchliche Begräbnis verweigert) beginnt sich in der letzten Zeit insofern zu ändern, als zwar weiterhin das Phänomen Selbstmord als Eingriff in ein R e c h t , das ausschließlich Gott vorbehalten ist, verurteilt wird, aber im Einzelfall intensive Bemühungen stattfinden, exkulpierenden Gründen Anerkennung zu verschaffen. Zusammenfassend kann man sagen, daß die fortschreitende wissenschaftliche Erforschung des Selbstmordes, die Erkenntnis, daß der Selbstmord die schwerste Form der Selbstbestrafung darstellt, die vorstellbar ist, wobei eine furchtbar intensive Dynamik den Betreffenden so überwältigt, daß er sich über den stärksten dem Menschen innewohnenden Trieb, den Selbsterhaltungstrieb, hinwegsetzt (oder hinwegsetzen muß), jede praktische Verurteilung des Selbstmordes als rückständig und unhaltbar erscheinen läßt. Auch die Vorstellung, daß die Androhung von Vergeltungsmaßnahmen den Selbstmord verhindern helfe, ist falsch; genauso falsch wie die Annahme, daß die Todesstrafe vor Morden zurückschrecken lasse. Wenn ζ. B . in katholischen Ländern, wie Spanien und Irland, eine exzessiv niedrige Selbstmordrate gefunden wird, so ist dieses Result a t sicher nicht auf Strafandrohungen zurückzuführen, sondern auf den erziehungsmäßig erworbenen und akzeptierten Glaubenssatz, daß der Mensch nicht Herr über sein eigenes Leben sei; andererseits h a t aber gerade die Verurteilung des Selbstmordes oft verheerende Folgen insofern, als

Selbstmord Unglaubliches unternommen wird, um Selbstmorde zu verheimlichen: Erst jüngst wurde in Österreich der Fall einer Frau bekannt, die, heimkommend, ihren Mann erhängt vorfand; sie schnitt ihn aus Angst vor der Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses ab, machte bei der Polizei unwahre Angaben und nahm es sogar auf sich, in Mordverdacht zu kommen. Solche Verhaltensweisen mögen es verständlich erscheinen lassen, daß manche Forscher, wie etwa Zilboorg, die bereits erwähnte niedrige Selbstmordrate bestimmter katholischer Länder lediglich als Resultat einer dort besonders hohen Dunkelziffer bewerten. Eine Einstellung, die man vielleicht am besten als sachliche bezeichnen kann: Sie nimmt das Phänomen des Selbstmordes zur Kenntnis, ist realistisch genug, um zu wissen, daß es nicht aus der Welt geschafft werden kann, versucht so gut als möglich die verursachenden Faktoren auf den verschiedensten Gebieten und Ebenen zu analysieren, ihren Stellenwert zu beurteilen und leitet aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen in Übereinstimmung mit einem tiefen Gefühl mitmenschlicher Verbundenheit die Verpflichtung ab, alles nur Erdenkliche zu tun, um zu helfen, Selbstmorde zu verhüten. Diese Haltung hat sich in unserer Zeit zu einer weltweiten Bemühung um die Selbstmordprophylaxe verdichtet, auf deren Intentionen und Möglichkeiten im Schlußkapitel eingegangen werden wird. Es wurde zu zeigen versucht, daß der Selbstmord ein Phänomen ist, welches immer auch die anderen Menschen betrifft. Es gibt spezielle Fälle, in denen diese Betroffenheit einen besonderen Umfang erreicht: so, wenn der Selbstmörder andere Menschen ohne deren Wissen in den Selbstmord mitnimmt (sogenannter erweiterter Selbstmord; über seine im allgemeinen spezifische Psychopathologie siehe den Abschnitt B), oder aber die tragischen Fälle des Doppelselbstmordes, wobei häufig die Frage zurückbleibt, ob es sich nicht doch um einen erweiterten Selbstmord gehandelt hat, bzw. von wem eigentlich der Impuls zum Selbstmord ausging; schließlich auch das Problem der Beihilfe zum Selbstmord, in welches die Umgebung verstrickt werden kann. Hier haben wir wohl beabsichtigte und unbeabsichtigte Beihilfe zu unterscheiden; bei der ersteren wird die Unterstützung gewöhnlich aus „Mitleid" geleistet; ob dieses Motiv auch einer tiefenpsychologischen Analyse standhalten kann, ist allerdings eine andere Frage; viel häufiger ist aber die „unbeabsichtigte" Vorschubleistung: Wenn man sieht, wie leichtsinnig manche Menschen es dem anderen ermöglichen, den Selbstmord durchzuführen, wie bedenkenlos sie seine Selbstmordankündiguiigen übergehen (siehe später), könnte man wohl annehmen, daß sie, zumindest unbewußt, nichts gegen seinen Selbstmord einzuwenden haben; selbst wenn man nicht so weit gehen will, wird 9 HdK, 2. Aufl., Bd. I I I

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man ein solches Verhalten doch zumindest als den Ausdruck schwer gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen interpretieren müssen. Der Selbstmord ist der einzige Mord, bei dem Täter und Opfer identisch sind, es erscheint daher wohl angezeigt, sich in diesem Zusammenhang jener Worte zu erinnern, die Goethe am 3 . 1 2 . 1 8 1 2 an Zelter richtete: „Wenn das Taedium vitae den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten": Verständlicherweise tritt daher Dubitscher immer wieder dafür ein, den Ausdruck „Selbstmord" als einen diffamierenden, den Selbstmord letztlich mit anderen Morden gleichsetzenden, abzuschaffen und an seiner Stelle das Wort Suicid zu verwenden. Zwingmann bezeichnet den Begriff Selbstmord sogar als „terminologische Reliquie", die in einem modernen Beurteilungsschema keinen Platz mehr haben dürfe. Welche Terminologie man aber auch verwendet, der Begriff Selbstmord darf prinzipiell nur auf die bewußt angestrebte Selbsttötung (Selbstmord, Selbstmordversuch; über die Problematik, ob es berechtigt ist, jeden Selbstmordversuch als mißglückten Selbstmord aufzufassen, siehe später) angewandt werden. Κ. A. Menninger hat unser psychologisches Wissen bedeutend bereichert, als er neben dem direkten Suicid auch den indirekten (vor allem in Form des chronischen Alkoholismus), den „focalen" (vor allem unbewußt herbeigeführte Unfälle) und den „organischen" (psychosomatische also seelisch verursachte Erkrankungen) beschrieben hat. Im Sinne unserer obigen Definition aber scheiden alle diese Formen hier aus; nur über die Beziehung zwischen Unfall und Selbstmord muß noch ein kriminologisch wichtiger Gesichtspunkt hinzugefügt werden: Auf der einen Seite gibt es Unfälle, die, tiefer gesehen, als Selbstmord zu bewerten sind, weil sie durch unbewußte Selbstvernichtungswünsche Zustandekommen, auf der anderen Seite wird gelegentlich vom Täter selbst der Versuch unternommen, den Selbstmord als Unfall zu tarnen; dies geschieht, um die Angehörigen in den Genuß der Lebensversicherungsleistung zu bringen (oft zahlen die Versicherungen bei Unfall sogar eine höhere Summe, während bei Suicid ohne nachweisbare Geistesstörung überhaupt keine Zahlung geleistet wird). Auf die interessante Problematik dieser „Versicherungssuicide" ist in letzter Zeit vom psychiatrischen Standpunkt der bereits zitierte Dubitscher näher eingegangen, auch die Gerichtsmediziner (ζ. B. Schwarz) haben sich natürlich damit beschäftigt. Überhaupt stellt der Selbstmord immer wieder vor Probleme, die die praktische Mitarbeit des Kriminologen nötig machen: Selbstmord oder als Selbstmord getarnter Mord, Doppelselbstmord oder Mord und Selbstmord, Selbstmord oder Unfall sind dabei die wichtigsten Fragestellungen. Deswegen darf die in Los Angeles geübte Praxis der Zusammenarbeit des Coroners (Gerichts-

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Selbstmord

mediziners) mit Kriminologen und den Mitgliedern des Suicide-Prevention-Centers zur endgültigen Klärung jedes auf Selbstmord verdächtigen Falles (sogenannte „psychologische Autopsie") als nachahmenswertes Vorbild bezeichnet werden. 2. Psychopathologie

des

Selbstmordes

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß man bei jedem Selbstmord zwischen Ursache und Motiv unterscheiden muß, und betont, daß die Frage nach der eigentlichen Verursachung die entscheidende ist. Soviele „Ursachen" nun auch denkbar sein mögen, eines bleibt doch immer gleich: daß diese Ursache nämlich in jedem Falle letztlich in der betreffenden Persönlichkeit gelegen und damit weitgehend gleichzusetzen ist mit der seelischen Verfassung, in der sich diese Persönlichkeit befindet. Man muß es sich immer wieder vergegenwärtigen, daß es keine Situation, und mag sie noch so entsetzlich sein, gibt, die den Menschen zum Selbstmord zwingen könnte, somit also die Entscheidung immer und ausschließlich in der Persönlichkeit stattfindet. Diese Erkenntnis kann vielleicht auch so zum Ausdruck gebracht werden, daß in jedem Fall Außen- und Innenfaktoren zusammenwirken, um den tragischen Effekt Selbstmord zu bewirken; der Stellenwert dieser beiden Faktoren mag von Fall zu Fall verschieden sein: In diesem Sinne wird es auch Fälle geben, wo die Außenfaktoren überwiegend sind oder zu sein scheinen (ζ. B. Erkrankung an unheilbarem Krebs), jene Fälle also, die der laienhafte Beurteiler als „einfühlbar" und damit fast als „natürlich und selbstverständlich" klassifiziert. Abgesehen davon aber, daß diese Fälle alles in allem nur eine Minderzahl aller Selbstmorde ausmachen, wird man selbst solchen extremen Beispielen ohne Berücksichtigung der Persönlichkeit nicht gerecht werden können; denn es steht fest, daß doch nur ein kleiner Teil der Menschen, die sich in einer eindeutig infausten Situation befinden, tatsächlich Selbstmord begehen. Die Toleranzfähigkeit des seelisch gesunden Menschen ist eben sehr groß, jedenfalls viel größer, als man es sich gemeiniglich vorstellt (das hat nicht zuletzt unsere Zeit, die die Menschheit wiederholt vor an und für sich kaum „zumutbare" Schwierigkeiten stellte, erneut bewiesen). Seelische Störungen — und damit sind wir beim Kernpunkt angelangt — setzen aber diese Toleranzfähigkeit in geringerem oder größerem Maße herab, so daß traumatisierende Außenfaktoren zum Motiv der Selbstmordhandlung werden können, wobei wohl das Gesetz gilt, daß, je intensiver und je.stärker die psychische Fehlentwicklung bzw. Fehlhaltung eines Menschen ist, desto geringere Dinge zum Anlaß des Selbstmordes werden. Man muß also immer an die psychopathologisch bedingte mangelnde Belastbarkeit bestimmter Persönlichkeiten denken sowie an die

ebenfalls auf psychische Störungen zurückgehende Tendenz, bestimmte Situationen völlig verzerrt zu sehen und damit viel negativer zu bewerten, als sie tatsächlich sind. Menninger hat in diesem Zusammenhang von einem (psychopathologisch) prädeterminierten Irrtum gesprochen und als klassisches Modell dafür den Selbstmord des Romeo angeführt, der sich den Tod gibt, weil er (irrtümlich) glaubt, daß Julia gestorben sei. Ist vielleicht somit auch die Formulierung, wonach jeder Selbstmord Ausdruck psychischer Erkrankung sei, etwas zu verallgemeinernd, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß psycliopathologische Faktoren in der überwiegenden Mehrzahl aller Selbstmordfälle eine entscheidende Rolle spielen. Man darf ja nicht vergessen, daß jede Selbstmordhandlung gegen den stärksten Trieb, den der Mensch sein eigen nennt, nämlich den Selbsterhaltungstrieb, durchgeführt wird (wir kommen später noch darauf zurück); schon daraus geht hervor, daß es ebenso mächtige wie pathologische Kräfte sein müssen, die die Ausschaltung dieser normalen menschlichen Elementartendenz bewirken bzw. sogar erzwingen. Jedenfalls ist damit der Psychiatrie eine bedeutsame Position bei der Lösung des angeschnittenen Problemes zugewiesen; diese Position soll, wie schon angedeutet, nicht überschätzt werden, weil das menschlichc Handeln in seinen unendlich komplizierten und verschlungenen Determinierungen sich jetzt und wahrscheinlich für alle Zeit einer vollständigen erklärenden Enthüllung entzieht (Alfred Adler: „Die Formel des Menschen ist noch nicht gefunden"). Hat man also von psychiatrischer Seite auch jede Überheblichkeit strikte zu vermeiden, so darf andererseits die psychiatrische Beitragsleistung zur Lösung des Selbstinordproblemes nicht unterschätzt werden, wie im folgenden hoffentlich bewiesen werden wird. Dabei soll jedes Sich-Verlieren in psychiatrische Spezialfragen, die dem Nichtpsychiater weder verständlich noch interessant erscheinen, vermieden werden; ebenso soll der Streit um bestimmte psychiatrische Terminologien, die ja bekanntlich von Schule zu Schule verschieden sind, ausgeklammert bleiben; nur gesicherte Begriffe bzw. Erkenntnisse werden Verwendung finden, verschwommene Definitionen wie etwa: „Verzweiflung", „Beziehungslosigkeit", „Innere Leere und Langeweile", „Sinnverlust" und dgl. — um nur einige Beispiele aus der Flut neologistisch anmutender neuer Formulierungen zu erwähnen— sind abzulehnen. Wichtig scheint es, daran zu erinnern, daß die Psychiatrie gerade in unserem Jahrhundert eine entscheidende Wandlung mitgemacht hat: Sie beschäftigt sich heute nicht mehr nur mit den Psychosen, also den eigentlichen Geisteskrankheiten, sondern auch mit den seelischen Störungen, vor allem den neurotischen und psychopathischen Entwicklungen; diese Evolu-

Selbstmord tion ist der Tatsache zu verdanken, daß durch Freud psychologische und vor allem tiefenpsychologische Gesichtspunkte in die psychopathologische Forschung eingebaut wurden. Wir werden noch sehen, wie bedeutsam sich dies gerade für das bessere Verständnis der Selbstmordproblematik auswirken sollte. Welche Möglichkeiten hat die Psychiatrie, Erfahrungen über die Psychopathologie des Selbstmordes zu sammeln? Im wesentlichen steht ihr ein Weg zur Verfügung, nämlich die eingehende psychische Untersuchung der geretteten Selbstmörder. Aber liier beginnt schon die Problematik insofern, als es einige Autoren gibt, die Selbstmord und Selbstmordversuch für etwas prinzipiell Andersartiges und es daher nicht für erlaubt halten, Ergebnisse, die vom Selbstmordversuch abgeleitet wurden, auf Selbstmorde zu übertragen. Wäre dies richtig, stünden wir fast vor einer ausweglosen Situation, denn die Toten bleiben stumm und scheinen ihr Geheimnis nicht mehr preiszugeben (siehe später). — Nun ist es klar, daß nicht jeder Selbstmordversuch als mißglückter Selbstmord bewertet werden kann. Man muß vielmehr bei den Selbstmordversuchen hinsichtlich des Todeswunsches zumindest folgende drei Kategorien unterscheiden: a) solche, wo der Tod absolut intendiert wird, aber durch einen glücklichen Zufall oder durch die verbesserten therapeutischen Maßnahmen nicht eintritt; b) solche, wo selbstzerstörende und selbsterhaltende Kräfte miteinander im Kampfe liegen, so daß eine mehr oder minder abgeschwächte Selbstmordhandlung resultiert (Selbstmordversuche als „Gottesurteil über Leben und Tod", als „Hilfeschrei", als „hysterische Demonstration"); c) solche, wo eine Selbstmordabsicht eigentlich nur vorgetäuscht wird. (Todcsabsicht und Result a t der Selbstmordhandlung können krass voneinander abweichen. So gibt es Selbstmordliandlungen, unternommen mit absolutem Todeswunsch, die doch zu keinem den Körper schädigenden Resultat führen — ζ. B . ein Mensch, der sich erhängen will, aber durch Zufall rechtzeitig daran gehindert wird; auf der anderen Seite können rein vorgetäuschte Selbstmordhandlungen einen letalen Ausgang nehmen — ζ. B . jemand dreht den Gashahn auf in der Annahme, der Partner komme in 5 Minuten sicher nach Hause; durch einen Zufall verzögert sich diese Heimkehr aber um Stunden, der Betreffende wird gegen seine Absicht durch das ausströmende Leuchtgas bewußtlos und kann schließlich nicht mehr gerettet werden.) Über die perzentuelle Verteilung der erwähnten drei Gruppen kann man diskutieren, diese Frage ist aber im hier erörterten Zusammenhang ebenso sekundär wie die Schlußfolgerungen, die sich aus dieser Verteilung für die Selbstmordprophylaxe 9·

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ergeben (siehe dritter Abschnitt). Wichtig bleibt, daß man aus Untersuchungsergebnissen der ersten Gruppe sehr gültige Schlüsse auf den Selbstmord wird ziehen können; nimmt man auch die zweite Gruppe dazu (die dritte muß auf alle Fälle ausgeklammert werden), so wird sich gegenüber den vollendeten Selbstmorden wohl eine Verschiebung ergeben, die aber mehr einen quantitativen denn einen ausgesprochen qualitativen Unterschied gegenüber dem Selbstmord aufzeigt: Denn zweifellos tritt in der zweiten Gruppe die Selbstvernichtungstendenz des Menschen, wenn auch in abgeschwächter Form, auch deutlich in Erscheinung. Diese Bemerkungen mußten der folgenden Tabelle 2 vorausgeschickt werden, die nun zur Grundlage einer Analyse der psychischen Ursachen des Selbstmordes gemacht werden soll: Tabelle 2 : Psychiatrische

Diagnosen bei Selbstmord Selbstmordversuch (in % der Gesamtzahl)

Selbstmord Melancholie ( = endogene Depression) 2 8 % Schizophrener Formenkreis 4% Organische Demenz 2% Neurose 26% Neurotische Reaktion 2% Pathologische Altersreaktion 26% Psychopathie 12% Debilität —

und

Selbstmordversuch

15% 4% 3% 30% 30% 5% 11% 2%

Sie stellt Resultate von bei Selbstmorden und bei Selbstmordversuchen durchgeführten Untersuchungen einander gegenüber. Wir sehen daraus, daß bereits der Versuch gemacht wurde, auch vollendete Selbstmorde psychiatrisch aufzuschlüsseln ; der Verfasser dieses Beitrages hat 1959 bzw. 1960 die Lebensgeschichte von 50 in Wien erfolgten Selbstmorden zu rekonstruieren versucht. Wenn auch damals sehr darauf geachtet wurde, eine hinsichtlich Alter und Geschlecht repräsentative Gruppe als Untersuchungsgrundlage zu gewinnen, so bleibt dennoch das Material sehr klein und in mancher Hinsicht problematisch; bisher aber stehen auf diesem Gebiete größere Untersuchungen nicht zur Verfügung, weil einer solchen „psychiatrischen Autopsie", als die man sie auch bezeichnet hat, begreiflicherweise enge Grenzen gesetzt sind.

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Selbstmord

Jedenfalls beziehen sich die diagnostischen Prozentzahlen unserer Tabelle beim Selbstmord auf diese erwähnten rekonstruierten 50 Fälle, während die Zahlen des Selbstmordversuches den Durchschnittswert aller Fälle wiedergeben, die in den letzten Jahren an der Wiener psychiatrischen Klinik wegen eines Selbstmordversuches aufgenommen wurden; selbstverständlich wurden dabei alle Fälle der dritten Gruppe (vorgetäuschte Selbstmordversuche) ausgeschaltet, die zweite Gruppe aber (abgeschwächte Selbstmordhandlungen) aufgenommen: Dadurch mußten Unterschiede gegenüber dem Selbstmord entstehen, so daß die Tabelle 2 Gelegenheit geben wird, das Gemeinsame, aber auch das Unterschiedliche von Selbstmord und Selbstmordversuch anzudeuten. Nochmals sei vor Beginn der Analyse darauf hingewiesen, daß die Prozentzahlen der angeführten Diagnosen natürlich von Land zu Land, ja selbst von Untersuchung zu Untersuchung schwanken werden und daß auch die diagnostische Terminologie von Schule zu Schule verschieden ist. Die hier festgehaltenen Ergebnisse dürfen aber innerhalb gewisser Grenzen und einer bestimmten Variationsbreite nach der Überzeugung des Verfassers insoferne Allgemeingültigkeit beanspruchen, als sie grundlegende Zusammenhänge zwischen bestimmten psychopathologischen Vorgängen und dem Selbstmord aufzeigen. Man kann die Analyse der Tabelle 2 damit beginnen, daß zu unterscheiden ist zwischen Selbstmordhandlungen, die auf Grund einer Geisteskrankheit Zustandekommen, und solchen, die lediglich aus einer seelischen Störung resultieren. Rechnet man die ersten drei Diagnosegruppen der Tabelle 2 zum psychotischen Suicid, so erkennt man, daß der Anteil des psychotischen Geschehens beim Selbstmord wesentlich höher liegt als beim Selbstmordversuch (34% gegenüber 22%); damit wird erneut bestätigt, daß die Selbstmordhandlung des psychotischen Menschen in der Durchführung intensiver ist und häufiger zum Tode führt. Darüber hinaus haben die Gerichtsmedizinischen Institute in der ganzen Welt seit langem die Erfahrung gemacht, daß besonders brutal ausgeführte Selbstmorde gewöhnlich auf eine Psychose zurückgehen. Innerhalb der Gruppe des psychotischen Selbstmordes dominiert eindeutig die Melancholie (bzw. endogene Depression). Die Selbstmordtendenz ist ein Kardinalsymptom jeder endogenen Depression, und sie stempelt diese Erkrankung heute — da es gelungen ist, so viele andere bedrohliche psychische Krankheiten ihres Schreckens zu berauben — zu einer der gefährlichsten, die wir kennen. An dieser Stelle erscheint ausnahmsweise ein psychiatrischer Exkurs notwendig, nämlich über die verschiedenen Formen der Depression, die wir psychiatrisch unterscheiden. Es gibt zumindest

3 verschiedene Arten von Depressionen (Näheres darüber siehe vor allem in den Arbeiten von Kielholz): a) die sogenannte exogene Depression, wohl auch als normale oder physiologische Trauer zu bezeichnen. Sie t r i t t einfühlbarerweise im Anschluß an schwere Schicksalsschläge auf und kennzeichnet sich dadurch, daß sie allmählich schwächer wird und schließlich abklingt. Freud h a t in diesem Zusammenhang von der sogenannten Trauerarbeit gesprochen, durch die wir einen Schicksalsschlag verarbeiten und letztlich überwinden. Zusammenfassend gilt hier der Satz: Die Zeit heilt alle Wunden (im Rahmen dieser physiologischen Trauer kommt es nur selten zum Selbstmord; der relativ gefährlichste Moment ist hier die Zeit unmittelbar nach dem Schieksalsschlag); b) die sogenannte neurotische Depression. Sie entsteht als Reaktion auf einen chronisch sich hinziehenden, ungelösten und als unlösbar empfundenen innerseelischen Konflikt. Oft findet sich eine Diskrepanz zwischen dem Anlaß der Depression und ihrer Intensität; dabei nimmt das Ausmaß der Depression — im krassen Gegensatz zur physiologischen Trauer — mit fortschreitender Dauer immer mehr zu; verständlicherweise wächst dann auch die Selbstmordgefahr, je länger die neurotische Depression anhält (siehe später); c) die endogene Depression oder Melancholie. Hier handelt es sich um eine Manifestation des manisch-depressiven Formenkreises, die typischerweise in Phasen verläuft; das bedeutet, daß sie relativ plötzlich einsetzt, dann einen Höhepunkt erreicht und nach einer gewissen Zeit — es handelt sich u m Wochen, gewöhnlich aber um Monate, unter Umständen sogar um 1—2 Jahre — wieder abklingt; nach Beendigung der Phase ist der Mensch wieder völlig gesund. Diese endogene Depression unterscheidet sich in ihren Symptomen ganz wesentlich von jeder exogenen, aber auch jeder neurotischen Depression. Die melancholischen Symptome sind im wesentlichen: primäre innere Trauer mit Verlust des Interesses an der Umgebung, Hemmung und Verlangsamung, so daß man sich zu jeder Leistung wie gegen einen starken Widerstand zwingen muß, unerklärliche Angst, ständiges Grübeln, wobei man von finsteren, „schwarzen" pessimistischen Gedanken nicht loskommt u n d überhaupt die ganze Zukunft in düsterem Lichte sieht; Selbstvorwürfe, wonach man das u n d jenes falsch gemacht hat, ein schlechter Mensch ist und dergleichen, hypochondrische Ideen (man glaubt sich ζ. B. unheilbar krank) und schließlich die quälenden körperlichen Beschwerden (Schlaflosigkeit — keine Einschlaf störung, aber frühzeitiges Erwachen — Appetitlosigkeit, Verstopfung, Abmagerung, Trockenheit im Mund, bei Frauen Sistieren der Menses). Charakteristisch ist ferner für die endogene Depression gewöhnlich, daß sie in den frühen Morgenstunden

Selbstmord ihren Höhepunkt erreicht (zu dieser Zeit erfolgen auch die meisten Selbstmordhandlungen), während in den Nachmittags- und Abendstunden eine deutliche Erleichterung eintritt. Die endogene Depression nun ist es, auf deren Konto so viele Selbstmordhandlungen gehen; dieser Connex scheint verständlich, wenn man bedenkt, daß eigentlich jedes der aufgezählten Symptome zum Selbstmord drängt, jedes, mit Ausnahme vielleicht der Hemmung, auf die man sich aber diesbezüglich erfahrungsgemäß unter keinen Umständen verlassen kann. Im Jahre 1960 sind wir in Wien katamnestisch jenen Fällen nachgegangen, die 1951 wegen einer endogenen Depression an der psychiatrischen Klinik gelegen \varsn; innerhalb dieser 10 Jahre hatten sich nicht weniger als 1 0 % von ihnen das Leben genommen, ein neuer Beweis für die ungeheuer intensive Beziehung, die zwischen Melancholie und Selbstmord besteht. — Es ist allgemein bekannt, daß das in der Theorie so klar beschriebene Bild der Melancholie sich in der Praxis infolge vielfacher „Maskierungen" recht verwischen kann. Übereinstimmend wurde außerdem in vielen Ländern festgestellt, daß die Zunahme der endogenen Depression in unserer Zeit vor allem auf das Konto jener Fälle geht, die eigentlich nur ein abgeschwächtes endogen-depressives Syndrom bieten und daher als „Melancholia mitis" bezeichnet werden. Auf der einen Seite ist es oft sehr schwer, solche „Formes frustes" als Melancholie zu entlarven, auf der anderen Seite wird oft verhängnisvollerweise fälschlich angenommen, bei solchen „milden" Manifestationen sei auch die Selbstmordgefahr herabgesetzt. Das Gegenteil ist oft richtig, weil bei diesen Fällen gerade die Hemmung und damit der wichtigste Gegenspieler der Selbstmordtendenz fehlt. Gelegentlich kommt es im Rahmen der Melancholie, vor allem bei Frauen, zum sogenannten erweiterten Selbstmord, d. h. Familienangehörige, besonders die Kinder, werden in den Selbstmord mitgenommen. Diese Handlungen, die gewöhnlich unter altruistischer Motivierung erfolgen, dahingehend nämlich, daß die Kinder nach dem Ableben der Mutter allein nicht lebensfähig wären, man ihnen dieses Schicksal daher ersparen müßte, führen gar nicht so selten, besonders wenn Leuchtgas benützt wird, zum Tode der Kinder, während die Mutter überlebt. Die Folge ist dann natürlich, daß die Mutter wegen Mordes vor Gericht gestellt wird. Wenn somit die Melancholie heute zweifellos das entscheidende Problem des psychotischen Selbstmordes darstellt (eigentlich handelt es sich ja bei der Melancholie nicht um eine Geisteskrankheit, sondern um eine bloße Gemütskrankheit; da diese Erkrankung aber schwerwiegende Folgen auf das Verhalten der Persönlichkeit hat, wird sie doch zu Recht den Psychosen zugezählt), darf nicht vergessen werden, daß auch andere Psychosen in diesem Zusammenhang bedeutend

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erscheinen. Hier ist vor allem der schizophrene Formenkreis zu erwähnen. In einer vom Verfasser im Jahre 1949 durchgeführten Untersuchung an Selbstmordversuchen befanden sich unter insgesamt 95 psychotischen Fällen 46 aus dem schizophrenen Formenkreis. Jantz gab 1951 an, daß sich unter 100 Selbstmördern durchschnittlich 12 Schizophrene finden; einiges spricht dafür, daß der tatsächliche Anteil des schizophrenen Formenkreises an Selbstmord in den letzten Jahren etwas zurückging, dennoch mag er zusammenfassend noch immer höher sein, als es in unseren beiden Gruppen zum Ausdruck kommt (was insbesondere für den Selbstmord gilt). Folgende wichtige Gesichtspunkte über den Zusammenhang von Selbstmord und schizophrenem Formenkreis seien schlagwortartig zusammengestellt: a) Bei der Schizophrenie ist die größte Selbstmordgefahr im Anfangsstadium gegeben: Zwei Drittel aller schizophrenen Patienten mit Selbstmordtendenz befinden sich im Beginn der Erkrankung etwa um das 20. Lebensjahr. Es ist jene Periode, in der sich durch die ineipiente Erkrankung eine Veränderung der gesamten Persönlichkeit ergibt, wo die Patienten sozusagen in zwei Welten leben, die ihre eigenen Gesetze haben: in einer neuen Traumwelt, aber auch noch in der Welt der Wirklichkeit. Die Interferenz dieser beiden Welten und das noch mögliche Erlebnis dieser Interferenz wird angstvolle Zustände hervorrufen, wodurch wir das Auftreten von Selbstmordtendenz in dieser Zeit auch psychologisch verstehen können. Außerdem führt hier die zunehmende Isolierung des Patienten, welche eine Folge der Zurücknahme der Libido auf die eigene Person ist (Kontaktverlust), zu großer Verzweiflung. b) Eine Sonderform des schizophrenen Prozesses ist die sogenannte Hebephrenie; sie beginnt bereits in der Pubertät, zeigt einen relativ symptomarmen Verlauf und führt rasch zur Versandung und Verödung der Persönlichkeit. In ihrem Verlauf können ebenfalls Selbstmorde erfolgen, die oft als typische „motivlose Selbstmorde" imponieren (daher ist jede unmotivierte Selbstmordhandlung in der Pubertät immerhin auf eine Hebephrenie verdächtig). c) In den einzelnen schizophrenen Schüben sind die sogenannten „imperativen Stimmen" besonders gefährlich: Die Patienten haben dann akustische Halluzinationen, die ihnen ζ. B . befehlen, sich und andere Personen zu töten. Manchmal kann es dabei zur Ausrottung einer ganzen Familie kommen. d) Besondere Selbstmordgefahr besteht bei jenen Formen des Verfolgungswahnes (Paranoia und Paraphrenie), wo sich der Patient vor den vermeintlichen Verfolgern fürchtet; wir kennen j a beim Verfolgungswahn zwei Persönlichkeitsreaktionen: entweder die Tendenz, den vermeintlichen

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Selbstmord

Verfolger zu aggredieren (Gemeingefährlichkeit), oder aber die Angst vor den eingebildeten Gegnern, die oft zum Selbstmord führt. Die Art der Persönlichkeitsreaktion auf den Wahn ist dabei wesentlich von der praepsychotischen Persönlichkeit abhängig. e) Ähnlich wie bei der Melancholie zeichnen sich die Selbstmordhandlungen der Schizophrenen ebenfalls häufig durch besondere Intensität, mitunter sogar durch ausgesprochene Brutalität, aus. Zum Abschluß der psychotischen Gruppe noch ein Wort über die Beziehung der organischen Demenz (geistiger Abbau) zum Selbstmord. Immer wieder wurde festgestellt, daß sie eigentlich gering ist, und das dürfte kein Zufall sein. Sofern es sich um eine totale Demenz handelt, besteht kein Einblick in den eigenen Abbau (fehlende Krankheitseinsicht), der Patient ist dementsprechend mit seiner Situation zufrieden und entwickelt daher auch kaum Selbstmordabsichten. Gefährlich erscheint lediglich die partielle Demenz des Arteriosklerotikers, besonders in den Anfangsstadien, wo der Betreffende seine Veränderung zum Schlechteren merkt, das Gefühl hat, daß er bei vollem Bewußtsein gleichsam „mit seiner eigenen Leiche geht" (um das Wort Grillparzers zu zitieren). Daß aus einer solchen Situation sehr intensive Selbstmordtendenzen resultieren können, braucht nicht besonders betont zu werden. Hiermit können wir den großen Sprung zum nichtpsychotischen Selbstmord machen und sehen auf den ersten Blick, daß man es dabei besonders mit der Neurose bzw. der neurotischen Reaktion zu tun hat. Hier sind wieder deutliche Unterschiede zwischen Selbstmord und Selbstmordversuch gegeben, insofern, als man die Neurose bei beiden in einem entscheidenden Ausmaß beteiligt findet, während die neurotische Reaktion fast ausschließlich beim Selbstmordversuch zu finden ist. Gerade mit dieser letzteren Gruppe wollen wir uns zuerst beschäftigen. Es handelt sich dabei um Persönlichkeiten, die durch aktuelle Schwierigkeiten relativ rasch das Gefühl gewinnen, in eine ausweglose Situation geraten zu sein. In extremer Einengung — in der die Gegenregulationsmechanismen fehlen — glauben sie dann, keine andere „Lösung" zu sehen als den Selbstmord, oder, vielleicht besser ausgedrückt, eine „Aktion gegen die eigene Person", weil klare Vorstellungen vom „eigentlich" Angestrebten oft fehlen; charakteristischerweise bezeichnen sie später dieses Vorgehen als unerklärliche „Verwirrung", weil ihnen jetzt eine Reihe anderer Lösungsmöglichkeiten plötzlich wieder präsent ist. Nicht zufällig bleibt es in der überwiegenden Mehrzahl dieser Gruppe beim Selbstmordversuch; dafür ist wohl einerseits die Tatsache verantwortlich, daß es sich eher um plötzlich durchbrechende Momentreaktionen, die einer intensiven Vorbereitung entbehren, handelt und andererseits bei

dieser Art der Selbstmordhandlung sich im allgemeinen selbstzerstörende und selbsterhaltende Tendenzen die Waage halten, wodurch oft die Diskussion in Gang gebracht wird, ob diese Handlungen überhaupt „ernst" gemeint waren, das heißt auf den Tod der Betreffenden zielten. Wie immer dies im einzelnen Fall auch sein mag, sicher ist jedenfalls, daß sie ernst genommen werden müssen in dem Sinne, daß es sich um einen „Hilfeschrei" (Farberow und Shneidman) handelt, der die Insuffizienz der Persönlichkeit beweist, ihre Probleme, mögen sie auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen oder des Berufslebens gelegen sein, auf normalem Wege zu meistern. Es mag eine Frage diagnostischer Terminologie sein, wie man diese Gruppe bezeichnet; wenn man aber die aktuelle psychische Traumatisierung, die insuffiziente Anwendung neurotischer, vor allem hysterischer Abwehrmechanismen, und die dem eigenen Sterben gegenüber bestehende Ambivalenz berücksichtigt, die in all diesen Fällen gegeben sind, so dürfte der Ausdruck „neurotische Reaktion" dem hier stattfindenden Geschehen noch am ehesten gerecht werden (siehe auch später bei „Neurose"). Jedenfalls sind Bezeichnungen wie „Theaterselbstmord" und „erpresserischer Selbstmord" entschieden abzulehnen, da sie sich auf eine ganz andere Kategorie von Selbstmordhandlungen beziehen, nämlich auf bevjußt vorgetäuschte Selbstmordversuche (siehe früher): Sogar in diesen ist aber noch etwas Pathologisches enthalten, was der Klärung und Therapie bedarf. Bei der Gruppe der neurotischen Reaktion muß man in einer bestimmten Hinsicht besonders vorsichtig sein: Die „Appellfunktion" (Stengel) solcher Selbstmordhandlungen ist auf den ersten Blick sehr wirksam; immer wieder kommen die Angehörigen versichern, daß es solcher „Dummheiten" nicht bedurft hätte, um sie zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen, geloben Besserung in Richtung einer Willfährigkeit gegenüber den Wünschen des Patienten; so mag man den Eindruck gewinnen, alle Schwierigkeiten lösten sich ganz von selbst und benötigten keine wie immer geartete ärztliche oder sonstige Hilfe mehr. Dieser Eindruck, resultierend aus einer „Momentaufnahme", erweist sich als unhaltbar, sobald man einen Längsschnitt macht und die Fälle weiter beobachtet. Dann sieht man nämlich, wie häufig genug bereits nach wenigen Wochen das gräßliche Wort „Gewohnheit" erneut die zwischenmenschlichen Beziehungen beherrscht; die Angehörigen kehren zu ihren alten Verhaltensweisen zurück, auch der Patient aktiviert seine früheren, oft vielfach bereits eingefahrenen Reaktionsmuster, und gar nicht so selten findet sich dann schon in überraschend geringem zeitlichen Abstand dieselbe Situation, wie sie schon einmal bestanden hatte (über die daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen siehe den 3. Abschnitt dieses Artikels^.

Selbstmord Natürlich t a u c h t bei diesen neurotischen Reaktionen oft die Frage auf, wieweit der aktuelle Konflikt lediglich ein bereits in der Kindheit geprägtes neurotisches Reaktionsmuster aktiviert, es sich also u m eine echte Neurose handelt. (Die „ e c h t e " Neurose ist ausnahmslos durch einen in der Kindheit entstehenden Konflikt zwischen bew u ß t e n u n d u n b e w u ß t e n Tendenzen gekennzeichnet. Werden im Kind in den ersten 6 Lebensjahren durch falsches Verhalten der Eltern — Frustrier u n g — Aggressionen erzeugt, so müssen diese entstehenden Aggressionen — da es f ü r das Kind völlig unmöglich ist, die Eltern, die in dieser Zeit eine beherrschende Position haben, b e w u ß t zu hassen — ins U n b e w u ß t e verdrängt werden; dadurch entsteht jener Zwiespalt in der kindlichen Seele, welcher die Grundlage der Neurose ist. Wer in der Kindheit nicht neurotisiert wurde, k a n n späterhin keine echte Neurose mehr entwickeln, wohl aber k a n n er neurotische Reaktionen zeigen. Unter neurotischen Reaktionen verstehen wir eine m o m e n t a n e neurotische Beantwortung einer a k t u ellen krisenhaften Situation. Neurotische Reaktionen k a n n jeder Mensch zeigen, es handelt sich u m eine allgemeine menschliche Reaktionsmöglichkeit). D a m i t kommen wir zu jener bereits erw ä h n t e n Gruppe der Neurosen, die bei Selbstmorden und Selbstmordversuchen eine bedeutende Rolle spielt. Hier liegt eine seit der Kindheit gegebene chronische neurotische Entwicklung vor. In Übereinstimmung mit Andics, die als erste gezeigt h a t , welche Bedeutung die Kindheit f ü r den späteren Selbstmord h a t , k o n n t e auch der Verfasser in seiner Studie über den Selbstmordversuch feststellen, wie sehr negative Kindheitsbedingungen zu frühzeitiger H e m m u n g sowie E n t mutigung und damit mangelhafter I c h - E n t f a l t u n g f ü h r e n ; dieser Weg, der in der Kindheit beginnt, wird dann später fortgesetzt und f ü h r t mit tragischer Konsequenz zu seinem E n d p u n k t , dem Selbstmord. Vergeblich wird m a n in dieser neurotischen Entwicklung aber nach jenen Symptomen suchen, die normalerweise das Bild u n d den I n h a l t der Neurose prägen (hysterische, phobische, neurasthenische, zwangsneurotische Symptome). S t a t t dessen finden wir eine ausgesprochen neurotische Lebensgestaltung, die die kindliche E n t mutigung und H e m m u n g durch ständige Wiederholung neurotisch fixierter Verhaltensmuster u n d neurotischer Gefühlsübertragungen gleichsam verewigt, so daß m a n auch von einer „Neurose der Lebensgestaltung", besser noch von einer neurotischen Lebensverunstaltung sprechen könnte. Das Resultat dieser Entwicklung ist gewöhnlich ein Aneinanderreihen von E n t t ä u s c h u n g e n und Mißerfolgen u n d schließlich eine nach Art einer Sackgasse als ausweglos empfundene Situation. Bei dieser Gelegenheit sei nochmals darauf hingewiesen, daß die Situation, in der sich ein Mensch befindet, immer nur im Zusammenhang mit der

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betroffenen Persönlichkeit selbst bewertet werden k a n n . Einerseits ist es möglich, daß diese Situation das Ergebnis der eigenen falschen Verhaltensweisen ist, andererseits m u ß zusätzlich berücksichtigt werden, d a ß die Betreffenden infolge einer neurotischen tendenziösen Apperzeption die Situation oft noch viel negativer u n d hoffnungsloser beurteilen, als sie tatsächlich ist. I m Ablauf dieser Entwicklung zum Selbstmord hin gelang es dem Verfasser, eine Trias, bestehend aus zunehmender Einengung, gehemmter Aggression u n d Flucht in die Phantasiewelt, herauszuarbeiten, die immer wieder u n d in solcher Übereinstimmung zu finden war, daß es berechtigt erschien, von einem „praesuicidalen Syndrom" zu sprechen. Die Einengung v e r l ä u f t in 3 charakteristischen Phasen. Die erste ist gekennzeichnet durch den Verlust der expansiven Kräfte, mit Mergen könnte m a n auch sagen durch den Verlust der D y n a m i k , deren Erleben ja nicht zuletzt das subjektive Glücksgefühl des Menschen ausmacht. F ü r den psychisch Normalen ist das Vorwärtsstreben, die „Neugierde", was geschehen wird, was die Tage bringen, wie sich die Dinge gestalten werden, also der A u f b a u u n d die Erweiterung seines Lebensraumes unendlich l u s t b e t o n t . Dieses aktive Prinzip ist gestört, wenn wir e n t m u t i g t sind, wenn wir keine vertrauensvolle Beziehung mehr zur Welt haben. Gerade dies ist aber bei der beschriebenen neurotischen Entwicklung der Fall, die H a u p t gründe d a f ü r sind H e m m u n g (etwa im Sinne des „gehemmten Menschen" n a c h Schultz-Hencke), Minderwertigkeitsgefühl, Angst sowie die Überzeugung, daß die Welt feindlich bzw. übermächtig ist (mit Erikson k ö n n t e m a n auch sagen, daß diesen Menschen das „ U r v e r t r a u e n " verlorengegangen ist). Aus dieser H a l t u n g heraus werden n u n viele Dinge gar nicht erst angestrebt, sondern gleichsam links liegen gelassen; m a n weicht ihnen ängstlich aus, u n d d a m i t wird eine Fülle von Möglichkeiten aprioristisch ausgeschaltet. Das Result a t ist schließlich, d a ß viele Lebensgebiete f ü r den Betreffenden gar nicht mehr existieren u n d sich der Lebensraum deutlich einengt. Sobald die expansiven Fähigkeiten verloren sind, bewegt sich der Mensch immer wieder im gleichen Kreise, mitu n t e r sogar auf derselben Stelle: Mit anderen Worten, das Stadium der Stagnation setzt ein; es ist gekennzeichnet durch das Fehlen der Evolutionsfähigkeit, m a n geht in einförmiger Verhaltensweise a n die Dinge heran, die dementsprechend immer den gleichen Ausgang nehmen. Das Resultat dieser o f t u n b e w u ß t bleibenden E r lebniswiederholung ist eine K e t t e von Niederlagen, eine „Karriere des Mißerfolges", wie m a n es in Amerika bezeichnet h a t . Vom subjektiven Standp u n k t ist dabei oft das Deprimierendste in dem Gefühl gelegen, m a n könne nichts mehr Neues erleben, sondern es geschehe immer wieder dasselbe. Außerdem sind die Betroffenen nicht im-

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Stande, aus dem erlittenen Schaden klug zu werden; sie können nicht jene Veränderung ihrer Verhaltensmuster vornehmen, die es ihnen ermöglichen würde, in der Zukunft erfolgreicher zu sein; dies vor allem auch deswegen, weil sie keinen Moment daran glauben, selbst an dieser Entwicklung schuld zu sein, weil sie von ihrem Arrangement, mit dem sie — um es mit Alfred Adler zu sagen — unbewußt „ihren eigenen Ohrfeigen nachlaufen", keine Ahnung haben; statt dessen suchen sie die Schuld in allen möglichen Außenfaktoren, die mit dieser Entwicklung natürlich in Wirklichkeit nichts zu tun haben, wo dementsprechend auch keine Hilfe bzw. Abänderung zu erreichen ist. In dieser Situation macht sich nun in immer stärkerem Ausmaß die dritte Komponente der einengenden Entwicklung bemerkbar, die Regression. An die Stelle des verlorengegangenen aktiven Prinzipes tritt mehr und mehr die Passivität, die Resignation. Dem Kinde ähnlich, erwarten diese Menschen alles von den anderen; sie lieben nicht mehr, sondern wünschen geliebt zu werden, sie halten nicht mehr andere am Leben und im Leben, sondern wünschen von diesen am Leben gehalten zu werden. So entsteht eine Hypersensibilität gegenüber der Umwelt, damit zugleich eine verstärkte Abhängigkeit und Vulnerabilität und schließlich das Gefühl des Nicht-Verstandenund Alleinseins, welches beim Selbstmordproblem zumindest eine so große Rolle spielt wie tatsächliche Vereinsamung. Den Höhepunkt erreicht die Einengung zweifellos im Moment des Selbstmordes; dabei bricht die Selbstmordtendenz nicht, wie bei der neurotischen Reaktion, plötzlich durch und drängt momenthaft nach Befriedigung, sondern es finden bereits vorher diesbezügliche intensive gedankliche Auseinandersetzungen in der Person statt. Man muß sich aber davor hüten, in den Fehler zu verfallen, den Selbstmord deswegen als ein vorwiegend rationales Geschehen anzusehen. Wir haben gesehen, daß die neurotische Entwicklung in eine immer größere Einengung hineinführt; schließlich türmt sich vor dem Patienten eine Mauer, von der er glaubt, daß sie ihm jedes „Weiter" versperrt. Natürlich bieten sich nun die negativen Lebensumstände, die durch die beschriebene neurotische Entwicklung eingetreten sind, als verstandesmäßige Motivierung und damit Rationalisierung der Selbstmordtendenz an. Solange man aber nüchtern-verständnismäßig sich mit Hamlet die Frage stellt, ob Sein oder Nichtsein vorzuziehen ist, siegt' immer das Leben. Erst unter dem Druck emotionaler Verzerrung (wobei der unbcwußte Bereich eine große Rolle spielt) sieht man keinen Ausweg, fühlt sich, wie es ausgedrückt wird, zum Selbstmord gezwungen. Dieses „Zwanghafte" des Selbstmordes ist nichts anderes als die unerbittliche Konsequenz, mit der der Weg einer falschen Lebenshaltung schließlich zur maximalen Einengung und damit zum erlebten Zwang

führt. Daraus geht hervor, wie irrig jene Bezeichnung ist, die oft als Synonym für den Selbstmord verwendet wird, nämlich „Freitod". Der Selbstmord ist vielmehr fast immer ein Tod in äußerster Unfreiheit, gewissermaßen die „letzte Unfreiheit", als die ihn F. Lorenz definiert hat. Das zweite Symptom des praesuicidalen Syndroms ist die gehemmte Aggression. Es erscheint durchaus verständlich, daß von der bereits beschriebenen allgemeinen Hemmung auch die Aggression betroffen ist. Hier spielt bei weiterer Fortsetzung der praesuicidalen Entwicklung die Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen eine zusätzlich verstärkende Rolle; bieten dieselben uns doch, wie Horney betont hat, unter anderem auch die Möglichkeit an, Aggressionen abzureagieren. Restriktion der zwischenmenschlichen Beziehungen bedeutet somit auch Verminderung der Möglichkeit, sich seiner eigenen Aggressionen zu entledigen (jeder, der sich mit Selbstmordprophylaxe beschäftigt, weiß, welche Entlastung erreicht wird, wenn sich der Selbstmordgefährdete im therapeutischen Gespräch „entladen" kann. Näheres darüber im 3. Abschnitt dieses Artikels.). Die beschriebene Aggressionshemmung („ich fresse alles in mich hinein" sagen die Patienten) und die aus ihr resultierende Umkehr der Aggression gegen die eigene Person stellten vom trieb dynamischen Standpunkt zweifellos das wichtigste Problem im Zusammenhang mit dem Selbstmord dar, weil ohne sie das Zustandekommen jeder Selbstmordhandlung undenkbar ist. Die Aggressionspervertierung erfolgt im gleichen Ausmaß, als im Rahmen der weiteren Lebensgestaltung infolge der Anwendung neurotischer Verhaltensweisen der Lebensraum der Betreffenden sich immer mehr einengt und dementsprechend der Aggressionsdruck, der auf der Persönlichkeit lastet, immer größer wird (hier sehen wir das verhängnisvolle Zusammenspiel der einzelnen Faktoren des praesuicidalen Syndroms). Zur Entlastung der Persönlichkeit muß dann ein neuer Abwehrmechanismus, eben die Aggressionsumkehr gegen die eigene Person, herangezogen werden. Vieles spricht dafür, daß der entscheidende Schritt von der Aggressionshemmung zur Aggressionsumkehr nicht denkbar ist ohne einen gleichzeitig vorhandenen Selbstbestrafungswunsch, der ja in der Neurose immer besteht; überflüssig zu betonen, daß die gegen die eigene Person gerichtete Tat auf diese Weise immer auch schwere Vorwürfe und Aggressionen gegen bestimmte Personen der Umwelt impliziert, also in gewissem Sinne einem verhinderten Mord entspricht, wie es Freud als erster gezeigt hat (die praktische Selbstmordprophylaxe hat daraus u. a. die Erkenntnis abzuleiten, daß die Angehörigen nach einem Selbstmord unter starkem seelischen Druck stehen, der oft genug zu weiteren Selbstmordhandlungen führt; siehe den dritten Abschnitt).

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Selbstmord Die Bedeutung der Frage, ob die Aggression nach außen oder innen gerichtet ist, für das Zustandekommen der Selbstmordhandlung ergibt sich auch daraus, daß in Kriegszeiten die Selbstmordrate bei der männlichen Bevölkerung immer zurückgeht (siehe auch Abschnitt 1). Dies dürfte wohl vor allem so zu erklären sein, daß die durch das Kriegsgesetz erlaubte, ja sogar verlangte und belobte Aggressionsentladung nach außen die Tendenz, die Aggressionen gegen die eigene Person zu richten, herabsetzt. Die Selbstmordgedanken machen den dritten Punkt des praesuicidalen Syndroms aus. Wer hätte nicht schon einmal in seinem Leben mit dieser Möglichkeit gespielt? Es muß also einen Unterschied geben zwischen solchen gelegentlichen Ideen und einer immer intensiveren gedanklichen Beschäftigung mit dem Selbstmord. Wenn man diese Entwicklung studiert, ist zu sehen, daß sie oft relativ scheinbar harmlos anfängt, nämlich nur mit der Vorstellung, wenn einem dies und jenes mißlänge, könnte man ,,es" ja tun. In diesem Sinne meint Nietzsche, daß der Gedanke, Selbstmord begehen zu können, einem über manche schwere Nacht hinweghilft, und Hesse läßt im „Steppenwolf", wo es das „Tagebuch eines Selbstmörders" gibt, seinen Helden Kraft zur Überstehung schwerer Jahre dadurch gewinnen, daß sich dieser immer wieder vorstellt, er könne sich ja immer noch an seinem 50. Geburtstag umbringen. Leider übersieht man dabei, daß es allzu leicht zum Umschlag solcher aktiv intendierter Phantasien in passive Selbstmordvorstellungen kommt, die sich nun dem Betreffenden fast zwanghaft aufdrängen; dann ist aus einer scheinbaren Hilfe eine faktische Bedrohung der Persönlichkeit geworden, ein Vorgang, der mit dem im „Zauberlehrling" geschilderten vergleichbar ist, wo man die Geister, die man rief, dann nicht mehr los wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Selbstmordgedanken genährt werden von den immer intensiver werdenden beiden anderen Faktoren des praesuicidalen Syndroms. Es schließt sich dann, also um es zusammenzufassen, bei den neurotischen Fällen an eine charakteristische Kindheitsentwicklung mit aus ihr resultierenden spezifischen Symptomen eine ebenso charakteristische — eben praesuicidale — Fortsetzung an, die es gestattet, vollinhaltlich den Satz von Menninger zu bestätigen, wonach man „Selbstmörder ist, lange bevor man Selbstmord begeht". Sollte man diese Weiterentwicklung mit ihren charakteristischen Details kennzeichnen, wäre es nicht besser möglich als mit jenem Gedicht, welches ein Selbstmörder vor seiner Tat verfaßte und das dann von Pelmann veröffentlicht wurde (es antizipiert in klassischer Form das „praesuicidale Syndrom"):

Immer enger wird mein Denken, immer blinder wird mein Blick; mehr und mehr erfüllt sich täglich mein entsetzliches Geschick. Kraftlos schlepp ich mich durchs Leben, aller Lebenslust beraubt, habe keinen, der die Größe meines Elends kennt und glaubt. Doch mein Tod wird euch beweisen, daß ich Jahre, jahrelang an des Grabes Rand gewandelt, bis es jählings mich verschlang. Mit der Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen Neurose und Selbstmord dürfte man im Verstehen des Phänomens Selbstmord einen bedeutenden Schritt weitergekommen sein. Die Neurose erweist sich einmal mehr als eine viel ernstere Erkrankung, als man gemeiniglich glaubt. Wenn Zilboorg gesagt hat, daß der Selbstmord der tödliche Ausgang einer Erkrankung ist, für die wir noch keinen Namen haben, so kann dieser Satz dahingehend ergänzt werden, daß in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen der Name dieser Erkrankung sehr wohl bekannt ist, nämlich: Neurose. Es muß als besonders tragisch bezeichnet werden, daß jenen Neurotikern, deren Neurose sich vorwiegend in den beschriebenen lebensverunstaltenden neurotischen Verhaltensweisen äußert, im Gegensatz zu denjenigen, die an klassischen Neuroseformen erkranken (ζ. B. Hysterie, Phobie, Zwangsneurose), fast nie zum Bewußtsein kommt, daß sie an einer Neurose leiden und ihnen durch eine entsprechende Therapie geholfen werden könnte. Was das praesuicidale Syndrom betrifft, so findet es sich nicht nur bei den Neurosen, sondern auch bei allen anderen psychischen Erkrankungen, die Selbstmordgefahr heraufbeschwören; es darf somit als der psychische Nährboden der Suicidtendenz bezeichnet werden und stellt dementsprechend einen wertvollen Hinweis auf gegebene Suicidgefahr, ein ausgesprochenes Alarmsignal dar. Der Weg, auf dem jene psychische Verfassung, die wir als „praesuicidales Syndrom" bezeichnen, zustandekommt, wird natürlich von Krankheit zu Krankheit verschieden sein: Bei einigen wird es sich eher langsam — progredient entwickeln (endogene Depression, vor allem aber Neurose), bei anderen wiederum (neurotische Reaktion, Psychopathie) sich relativ rasch konstituieren (Näheres darüber in dem im Erscheinen begriffenen Buch des Verfassers über „Selbstmordverhütung"). Im Anschluß an die beiden Gruppen der neurotischen Reaktion und der Neurose müßte man eigentlich den Zusammenhang zwischen Psychopathie und Selbstmord abhandeln; denn wie immer man auch den Begriff Psychopathie auffaßt, eines ist sicher, daß sich das Selbstmordkontingent zu einem recht beachtlichen Teil aus

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Psychopathen rekrutiert. Es ist hier nicht der Rahmen, den umstrittenen Psychopathiebegriff als solchen zu definieren; wenn man den Psychopathen aber mit Hoff als einen unreifen, primitiven, nach dem Lustprinzip ausgerichteten asozialen Menschen ansieht, der keine Fähigkeit hat, echte libidinöse Bindungen einzugehen und dessen „Überich" (Gewissen) mangelhaft entwickelt ist, wird man erkennen, daß solche Psychopathen in allen unlustbetonten Situationen selbstmordgefährdet sind. Was sie nicht gelernt haben, ist, sich der Realität anzupassen; werden sie durch dieselbe unlustbetonten Situationen ausgesetzt, entstehen intrapsychische Spannungen, die sie nicht zu ertragen vermögen, weswegen sie sich in aggressiven Handlungen abreagieren, die bald gegen die Umgebung, bald aber auch gegen die eigene Person gerichtet sind. Wichtig ist es, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß sich in unserer Tabelle 2 sowohl unter der Diagnose „Neurose" als auch „Psychopathie" eine Reihe von Trinkern verbergen (nach den Untersuchungen des Verfassers beträgt der Anteil der Trinker am Selbstmord etwa 15%, am Selbstmordversuch etwa 7 % ; Gruhle bringt eine Zusammenstellung der Ergebnisse verschiedener Autoren und zeigt, daß der Anteil der Alkoholiker an Selbstmorden und Selbstmordversuchen zwischen 4 % und 2 4 % liegt; nach Gabriel steht der Selbstmord hinter der Tuberkulose mit 20,6% an zweiter Stelle aller Todesursachen von Trinkern). Die Trunksucht ist ja bekanntlich keine Erkrankung sui generis, sondern sie kommt immer nur auf der Grundlage einer psychischen Störung zustande, wobei Neurose und Psychopathie besonders ins Gewicht fallen. Die Entwicklung des neurotischen Trinkers hat viele Gemeinsamkeiten mit der bereits beschriebenen Neuroseform, die zum Selbstmord führt. Es wird hier lediglich auf Grund bestimmter determinierender Faktoren an Stelle der neurotischen Lebensgestaltung der Alkoholmißbrauch als Lösungsmittel der neurotischen Problematik benützt. Schließlich kann aus der chronischen körperlichen und sozialen Selbstzerstörung — welche der Alkoholmißbrauch in jedem Falle darstellt — die schwerste Form der Selbstvernichtung resultieren: der Selbstmord. Die Trinkakte als solche verstärken die bereits bestehenden Schuldgefühle, woraus ein stärkerer Selbstbestrafungswunsch erwächst, dieser wiederum drängt zum Selbstmord. (Der beschriebene Mechanismus ist besonders dort wirksam, wo im Rausch aggressive Akte gesetzt werden.) Die durch die Trunksucht eingetretene Verschlechterung der äußeren Lebenssituation liefert zusätzlich das rationale Motiv für die Tat. Die Selbstmordhandlungen der psychopathischen Trinker zeigen eine völlig andere Dynamik. Infolge der ungewöhnlich starken Aggressionspotentiale (in der Persönlichkeitsstruktur überwiegt die Trieb-

sphäre, Überich und Ich sind nur schwach ausgebildet) hat hier das Gesetz, wonach Aggressionshemmung Voraussetzung der Aggressionsumkehr ist, keine Gültigkeit. Trotz massiver Aggressionsentladungen gegen die Umgebung kommt es zu ständigen Selbstmorddrohungen, wiederholten Selbstmordversuchen und schließlich auch zum Selbstmord. Daraus leitet ab, daß der psychopathische Trinker wohl denjenigen Typ darstellt, bei dem rasche Wiederholungen der Selbstmordhandlung zu befürchten sind. Während beim neurotischen Trinker, wie oben gezeigt, ziemlich genau vorausgesehen werden kann, wann sich die Selbstmordgefahr „verdichtet" und damit intensiviert, muß beim psychopathischen Trinker gleichsam immer mit ihr gerechnet werden ( - > Alkoholismus, Psychopathologie). Bevor wir auf den letzten Punkt eingehen, den man neben Melancholie, neurotischer Reaktion, neurotischer Entwicklung und Trunksucht als den fünften Schwerpunkt der Selbstmordproblematik in unserer Zeit bezeichnen könnte, sei noch angedeutet, daß die analysierte Tabelle 2 natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (neben dem Schwachsinn mit seiner bekannten Neigung zu Kurzschlußreaktionen haben wir auch andere, hier nicht erwähnte psychopathologische Störungen selbstmordverursachende Wirkungskomponenten. Nähere Einzelheiten darüber lassen sich der umfangreichen Selbstmordliteratur entnehmen). Wesentlich aber bleibt jene Gruppe, die in der Tabelle 2 als pathologische Altersreaktion aufscheint. Man muß zur Kenntnis nehmen, daß fast ein Drittel der Menschen, die Selbstmord begehen, über 60 Jahre alt ist. Die Tatsache, daß diese Gruppe beim Selbstmordversuch kaum in Erscheinung tritt (hier ist wiederum ein signifikanter Unterschied zwischen Selbstmord und Selbstmordversuch im früher erwähnten Sinn gegeben), zeigt, däß es hier in der überwiegenden Mehrzahl zu einem tödlichen Ausgang kommt (nach wiederholten Untersuchungen geht nur etwa 1/7 von Selbstmordhandlungen bei 20jährigen, hingegen 4/5 bei 70 jährigen tödlich aus). Die damit aufgeworfene Frage, warum die Selbstmordhandlung des alten Menschen um so viel gefährlicher erscheint, läßt sich etwa wie folgt beantworten: Hier ist die aufgebende Tendenz besonders groß, die Selbstmordhandlung lang erwogen und gewöhnlich sorgfältig vorbereitet; schließlich muß auch berücksichtigt werden, daß die Widerstandskraft des Organismus beim alten Menschen oft weitgehend erschöpft erscheint. Warum wurde diese Gruppe mit dem Ausdruck pathologischer Altersreaktion klassifiziert? Wichtig ist, zuerst einmal festzustellen, daß der cerebrale Abbau, besonders die senile Demenz, eine geringe Rolle spielt, worauf bereits hingewiesen wurde. Statt dessen findet man beim Selbstmord des alten Men-

Selbstmord sehen immer wieder das Zusammenwirken mehrerer Faktoren, von denen als die wichtigsten zu bezeichnen wären: a) b) c) d)

körperliche Erkrankungen, die Lebenssituation des alten Menschen, neurotische Vorentwicklungen, depressive Verstimmungen.

Gerade bei dieser Altersgruppe erweist sich — um nun ins einzelne zu gehen — die Bedeutung körperlicher Erkrankungen besonders schwerwiegend, weil ja hier der Übergang von der reversiblen Erkrankung in das irreversible chronische Leiden mit daraus resultierenden immer mehr reduzierten Lebensmöglichkeiten sehr nahe liegt. Es darf außerdem nicht übersehen werden, daß auch heute noch, trotz aller Fortschritte, die „existentielle Situation" des alten Menschen keine einfache ist. Die hauptsächlichsten Probleme, vor die er sich gestellt sieht, sind die Sorge um das Erhaltenbleiben seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten, seines persönlichen Ansehens, den Umfang der Betätigungsmöglichkeiten, den Bestand der gegebenen zwischenmenschlichen Beziehungen, die Bewahrung des persönlichen Lebensraumes und schließlich die Auseinandersetzung mit dem Tod. Besonders durch den Verlust nahestehender Menschen ist der alte Mensch traumatisierbar, weil es ihm bekanntlich viel schwerer fällt, neue gefühlsmäßige Beziehungen anzuknüpfen. Die Angst vor der Zukunft und die Verdrossenheit über die Gegenwart führen zu einer einseitigen Vergangenheitsbezogenheit, welche den Kontakt mit der Wirklichkeit immer mehr erschwert. So entsteht das Gefühl der Entfremdung gegenüber der Welt, wie es etwa Hebbel Meister Anton ausdrücken läßt, wenn dieser ausruft: „Ich verstehe die Welt nicht mehr". Auch im Alter spielt im übrigen eine vorangegangene neurotische Persönlichkeitsentwicklung beim Selbstmord noch eine gewisse Rolle. Bei näherer Analyse lassen sich bestimmte für den alten Menschen als charakteristisch angenommene Eigenschaften, wie ζ. B. die Überschätzung der geschwundenen Möglichkeiten und die fehlende psychische Elastizität, mitunter nicht nur als altersbedingt, sondern auch als konsequente Fortsetzung einer neurotischen Vorentwicklung auffassen, worauf Jung als einer der ersten hingewiesen hat. Die depressiven Verstimmungen sind in ihrer Symptomatik weder mit einer Melancholia in senio, noch mit einer depressiven Form einer Demenz identisch; die beste Bezeichnung für die Vielzahl verursachender Faktoren und das psychiatrische Erscheinungsbild solcher Depressionszustände mag „Altersdepression" sein, wie sich auch der Terminus „pathologische Altersreaktion" bemüht, dem multiconditionellen Geschehen, welches hier zum Selbstmord führt, noch am ehesten zu entsprechen.

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Nach der Beschäftigung mit dem Altersselbstmord sei es gestattet, noch einmal auf die Kindheit zurückzukommen. Es wurde bereits gezeigt, daß beim neurotischen Selbstmord die Kindheit eine entscheidende Rolle spielt. Wiederholte Untersuchungen aber haben ergeben, daß die Kindheitsbedingungen auch für den nicht-neurotischen Suicid von großer Bedeutung sind. (Wir haben gerade ihre Wichtigkeit sogar beim Altersselbstmord gesehen.) Unabhängig von der psychiatrischen Diagnose wurde immer wieder festgestellt, daß man bei Personen, die eine Selbstmordhandlung durchgeführt haben, viel häufiger gestörte Kindheits-Familienverhältnisse (das sogenannte „Broken home", gekennzeichnet durch das Fehlen bzw. den Verlust zumindest eines Elternteiles oder ernste elterliche Konflikte, die das Familienleben stören) findet als bei Vergleichsgruppen von Personen, die keine Selbstmordhandlung durchführten. Diese Untersuchungsergebnisse sind von ungeheurer Bedeutung, geben sie uns doch einen neuerlichen Hinweis für den Zusammenhang zwischen den Bedingungen, unter denen die kindliche Entwicklung stattfindet, und der Art der späteren Lebensgestaltung, insbesondere auch hinsichtlich Lebensbejahung und Lebensverneinung. (Mit Recht spricht Zwingmann von der Gefahr des Erstickens der Lebensfreudigkeit.) J e ausgeprägter die kindliche psychische Fehlentwicklung, desto früher kann es zur Selbstmordhandlung kommen. AVir haben weiter oben die praesuicidale neurotische Entwicklung beschrieben. Die durch die kindliche Fehlentwicklung eingetretene Entmutigung kann aber so groß sein, daß es erst gar nicht zur klassischen neurotischen Lebensgestaltung, an deren Ende dann der Selbstmord steht, kommt, sondern der Selbstmord durchgeführt wird, noch bevor das eigentliche Leben beginnt. Auf die Problematik bestimmter junger Menschen, die nach der Pubertät in das „große Leben" eintreten sollen, auf Grund neurotischer Verzweiflung aber sich dieser Aufgabe gegenüber so ohnmächtig vorkommen, daß sie sich schließlich in den Selbstmord flüchten, muß besonders hingewiesen werden, weil diese Fälle bedauerlicherweise in den letzten Jahren beunruhigend zugenommen haben. Berechtigterweise hat Weitbrecht vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß alle diese Jugendselbstmorde im Grunde auch eine Anklage gegen die Eltern-Generation enthalten, die sich dabei als nicht fähig erweist, in den jungen Menschen das Gefühl der Gestaltbarkeit des Lebens und der Weltoffenheit zu erwecken. Den klassischsten Beweis für den Zusammenhang zwischen den gestörten Kindheitsbedingungen und daraus resultierender Selbstmordgefahr erbringen die Kinderselbstmorde, auf deren Seltenheit bereits hingewiesen worden ist. AVenn so frühzeitig Selbstmordtendenzen auftreten, ob-

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wohl d e m K i n d der Begriff Selbstmord eigentlich noch völlig f e r n liegt, ist es i m m e r das R e s u l t a t einer u n g e w ö h n l i c h e n H ä u f u n g p a t h o g e n e r Mom e n t e . H i e r f i n d e n wir auf der einen Seite a u ß e r gewöhnlich gestörte Familienverhältnisse, auf der a n d e r e n Seite a b e r , u n d dies ist besonders i n f o r m a tiv, i m m e r wieder das, w a s m a n als „ S e l b s t m o r d a t m o s p h ä r e " bezeichnen k ö n n t e . I n den Familien haben entweder Selbstmordhandlungen stattgef u n d e n , oder a b e r b e s t i m m t e Familienangehörige sind g e w o h n t , S e l b s t m o r d a n k ü n d i g u n g e n bzw. S e l b s t m o r d d r o h u n g e n h ä u f i g auszusprechen. Es k a n n n u n kein Zweifel d a r ü b e r bestehen, d a ß gerade der Begriff S e l b s t m o r d ein ä u ß e r s t suggestibles P h ä n o m e n darstellt. Aus der Geschichte sind zahlreiche Beispiele b e k a n n t , wo auf diesem Wege S e l b s t m o r d h a n d l u n g e n zu einer A r t E p i d e mie a u s a r t e t e n (ζ. B. „ W e r t h e r " , „ T r a u r i g e r S o n n t a g " usw.). N a t ü r l i c h m u ß b e t o n t werden, d a ß eine solche Suggestion n u r bei Persönlichkeiten w i r k s a m w e r d e n k a n n , die auf G r u n d ihrer k r a n k h a f t e n psychischen E n t w i c k l u n g f ü r den Suicid bereits anfällig sind. Die B e d e u t u n g der suggestiven K o m p o n e n t e ergibt sich w i e d r u m a m deutlichsten b e i m K i n d e r s e l b s t m o r d , weil hier gezeigt werden k a n n , wie auf diesem Wege Begriffe, die a n u n d f ü r sich f ü r das K i n d völlig u n b e k a n n t sind, an die es gleichsam n i c h t einmal „im S c h l a f e " d e n k e n w ü r d e , so i n t e n s i v h e r a n g e t r a g e n werden k ö n n e n , d a ß es sich zur N a c h a h m u n g g e d r ä n g t f ü h l t . I n diesem Z u s a m m e n h a n g m u ß einmal m e h r darauf hingewiesen w e r d e n , d a ß bisher kein Beweis d a f ü r e r b r a c h t w o r d e n ist, wonach es sich beim S e l b s t m o r d u m ein v e r e r b t e s P h ä n o m e n h a n d e l n k ö n n t e . Der Selbstmord ist ein viel zu k o m p l e x e s . Geschehen, als d a ß er wie eine bes t i m m t e E i g e n s c h a f t v e r e r b b a r erschiene. A u c h bei j e n e n F a m i l i e n , wo es zu einer Selbstmordh ä u f u n g k o m m t ( s o g e n a n n t e Selbstmordfamilien), m u ß m e h r als a n die E r b l i c h k e i t a n die suggestive K o m p o n e n t e der „ S e l b s t m o r d v o r b i l d e r " g e d a c h t werden. Die tiefen E r s c h ü t t e r u n g e n , die durch den plötzlichen Verlust eines Elternteils infolge Suicids e n t s t e h e n , der Versuch, in der Familie erfolgte Selbstmorde v o r den K i n d e r n zu verheimlichen, wobei schließlich doch die E n t d e c k u n g d u r c h das K i n d n i c h t v e r h i n d e r t werden k a n n — all das wird auf die P s y c h e des K i n d e s k a t a s t r o p h a l e Folgen h a b e n k ö n n e n . Mit R e c h t weist Zwingmann darauf hin, d a ß in dieser Ü b e r t r a g u n g u n d E n t wicklung einer e r h ö h t e n Suicidbereitschaft die besondere Tragik u n d große Gefährlichkeit der S e l b s t v e r n i c h t u n g v o n E l t e r n liegt, die K i n d e r hinterlassen. Z w i n g m a n n m e i n t auch, in Zus a m m e n f a s s u n g aller hier zuletzt beschriebenen Z u s a m m e n h ä n g e , d a ß dort, wo die G r u n d b e d i n gungen f ü r die E n t w i c k l u n g eines gesunden Lebensgefühles n i c h t gegeben sind, die G e b u r t eines Kindes bereits den S t e m p e l eines potentiellen Suicids in sich t r a g e . E r h ä l t somit — vielleicht

e t w a s e x t r e m f o r m u l i e r t — die F a m i l i e n p l a n u n g f ü r einen wesentlichen B e s t a n d t e i l der Suicidv e r h ü t u n g . Auf j e d e n Fall wird der die f r ü h e s t e u n d w i r k s a m s t e S e l b s t m o r d p r o p h y l a x e betreiben, der d a f ü r sorgt, d a ß seine K i n d e r u n t e r günstigen, den Lebenswillen u n d die Daseinsfreude s t ä r k e n den Bedingungen a u f w a c h s e n . H i e r m i t sind wir a n einem entscheidenden P u n k t a n g e l a n g t : D e n n das verbesserte Wissen u m die psychopathologische S t r u k t u r des s e l b s t m o r d g e f ä h r d e t e n Menschen, das wir in diesem K a p i t e l a n d e u t u n g s w e i s e aufzuzeigen v e r s u c h t h a b e n , w ä r e p r a k t i s c h bedeutungslos, w e n n es n i c h t möglich wäre, d a r a u s w i r k s a m e M a ß n a h m e n f ü r die S e l b s t m o r d p r o p h y laxe abzuleiten. 3. Möglichkeiten

der

Selbstmordprophylaxe

Lassen sich Selbstmorde wirklich v e r h i n d e r n ? Man k a n n k a u m ü b e r s e h e n , d a ß diese F r a g e i m m e r wieder m i t jener A r t v o n Skepsis gestellt wird, die das Nein als A n t w o r t eigentlich bereits v o r w e g n i m m t . Diese Skepsis ist schon f a s t ein weit verbreitetes Vorurteil g e w o r d e n ; es b a u t w i e d e r u m auf a n d e r e n Vorurteilen a u f , deren wissenschaftliche U n h a l t b a r k e i t im folgenden nachgewiesen w e r d e n wird. Zur B e k ä m p f u n g dieses (wie jedes a n d e r e n ) Vorurteiles g i b t es n u r eine Möglichkeit: sachlich u n d n ü c h t e r n zu p r ü f e n , was, dem gegenwärtigen S t a n d der E r k e n n t n i s e n t s p r e c h e n d , p r a k t i s c h t a t s ä c h l i c h g e t a n werden k a n n , u m Selbstmorden v o r z u b e u g e n . Die Chancen der S e l b s t m o r d v e r h ü t u n g bleiben schicksalhaft m i t der F r a g e v e r b u n d e n , ob u n d in welchem U m f a n g es gelingen k a n n , rechtzeitig auf s e l b s t m o r d g e f ä h r d e t e Menschen a u f m e r k s a m zu w e r d e n u n d m i t i h n e n in K o n t a k t zu k o m m e n . Mag m a n auf den ersten Blick vielleicht glauben, d a ß hier n u r geringe Aussichten bestehen, so sieht m a n bei n ä h e r e r P r ü f u n g , d a ß es z u m i n d e s t fünf sehr ernste Einweise auf eine bestehende Selbstmordgefahr gibt, m i t d e n e n wir u n s im folgenden n ä h e r beschäftigen wollen. a) Die Personengruppe, welche infolge Durchführung eines Selbstmordversuches auf gegebene Selbstmordtendemen aufmerksam macht. Schon i m vorigen A b s c h n i t t w u r d e darauf hingewiesen, d a ß es sicherlich falsch wäre, j e d e n S e l b s t m o r d v e r s u c h als m i ß g l ü c k t e n Selbstmord zu b e w e r t e n . E s b l e i b t a b e r die T a t s a c h e bestehen, d a ß in f a s t allen S e l b s t m o r d v e r s u c h e n , w e n n a u c h q u a n t i t a t i v verschieden, eine alarmierende Selbstzerstör u n g s t e n d e n z z u m A u s d r u c k k o m m t . Dies k a n n auf doppelte Weise bewiesen w e r d e n : G e h t m a n der Vorgeschichte v o n solchen Fällen n a c h , die schließlich doch Selbstmord begehen, so sieht m a n , d a ß sie ü b e r r a s c h e n d h ä u f i g schon v o r h e r einen S e l b s t m o r d v e r s u c h u n t e r n o m m e n h a b e n . I n der bereits e r w ä h n t e n , v o m Verfasser v o r g e n o m m e n e n R e k o n s t r u k t i o n der Lebensgeschichte v o n 50 voll-

Selbstmord endeten Selbstmorden ergab sich, daß nicht weniger als 14 von ihnen früher Selbstmordversuche durchgeführt h a t t e n , davon einige sogar mehrere Selbstmordversuche. Dieser Befund s t i m m t mit anderen Untersuchungen überein, wonach sogar etwa 30—35% aller Selbstmörder in der Vorgeschichte einen Selbstmordversuch aufweisen u n d denen zufolge ganz besonders die Tatsache von zwei oder mehreren Selbstmordhandlungen befürchten läßt, d a ß der Betreffende schließlich durch Selbstmord stirbt. Auf der anderen Seite wird immer wieder beobachtet, daß nach einem Selbstmordversuch gerettete Personen späterhin eine starke Tendenz zeigen, neuerlich eine Selbstmordhandlung zu begehen. Innerhalb von 2 bis 3 J a h r e n (diese Zeit ist die gefährlichste) ist mit einer Rückfallquote von 10—20% zu rechnen, davon ungefähr 6 % vollendete Selbstmorde, der Rest Selbstmordversuche. Nachuntersuchungen in Los Angeles haben ergeben, daß darüber hinaus weitere 4 0 % der geretteten Selbstmörder wieder k n a p p in die Nähe eines „suicidalen S t a t u s " kommen (depressive Stimmung, Verzweiflung, Selbstmordabsichten). Aus all dem ergibt sich, daß eine wirksame Selbstmordprophylaxe sich unbedingt mit allen Personen, die einen Selbstmordversuch unternehmen, intensiv beschäftigen m u ß . Hier h a t man einen ersten wesentlichen Hinweis auf eine gefährdete Personengruppe und auch die Möglichkeit, mit dieser Gruppe in K o n t a k t zu treten, vorausgesetzt natürlich, daß der Selbstmordversuch nicht verheimlicht wird. Wie schon erwähnt, gibt es leider gerade bei den Selbstmordversuchen in der ganzen Welt eine hohe Dunkelziffer; diejenigen, welche es f ü r eine „ E h r e n p f l i c h t " halten, einen stattgehabten Selbstmordversuch zu „vertuschen", erweisen dem Betreffenden damit oft genug einen „tödlichen Gefallen", weil durch Ausbleiben suffizienter B e t r e u u n g s m a ß n a h m e n unter Umständen erst recht die Möglichkeit gegeben wird, die Selbstmordhandlung, diesmal mit „besserem" Resultat, zu wiederholen. Sicher s t i m m t es, daß die meisten P a t i e n t e n nach einem Selbstmordversuch nicht mehr jene Einengung zeigen, die im R a h m e n des jsraesuicidalen Status so charakteristisch ist, sondern d a n k b a r dafür, am Leben geblieben zu sein, gewöhnlich mit neuem Mut zur Bewältigung ihrer weiteren Lebensaufgaben bereit sind. Ebenso wahr ist (siehe Abschnitt 2), daß sich oft die Angehörigen durch die Selbstmordhandlung so beeindruckt zeigen, daß sie im Moment allen Wünschen des Suicidanten gegenüber willfährig sind. Häufig aber — dies k a n n nicht oft genug wiederholt werden — hält weder die Wandlung der Angehörigen noch die der P a t i e n t e n lange an, und schon in überraschend kurzer Zeit entstehen neue Krisen, die wiederum zur bereits früher angewandten „ A t t i t ü d e " der Selbstvernichtung drän-

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gen, wie aus den bereits erwähnten relativ hohen Rückfallquoten eindeutig hervorgeht. Aus dem Gesagten leitet sich ab, d a ß eine suffiziente Behandlung u n d Betreuung von Selbstmordversuchen u n t e r der Devise: „Jeder Selbstmordversuch, wie harmlos auch immer, ist Teil eines suicidalen Verhaltens, anzeigend, d a ß der Betreffende zu einem solchen neigt", u n b e d i n g t notwendig erscheint u n d daß sie folgende Stadien beinhalten m u ß : 1. die Beseitigung eventueller Intoxikationsfolgen, 2. eine exakte psychische Diagnosestellung, 3. eine aus der Diagnose resultierende wirksame Therapie, 4. eine intensive Nachbetreuung. Hier ist nun der Moment, einen ersten Hinweis darauf zu geben, welche Einrichtungen f ü r eine wirksame Selbstmordverhütung unbedingt n o t wendig sind. Die richtige Betreuung von Selbstmordversuchen erfordert drei Institutionen. Die körperlichen Folgen des Selbstmordversuches (vor allem Vergiftungen) bedürfen oft genug ärztlicher Hilfeleistung in spezieller Form. In diesem Zus a m m e n h a n g m u ß die Errichtung von zentralen Entgiftungsstationen als absolut notwendig bezeichnet werden. H e u t e kann keine Diskussion mehr darüber bestehen, daß nur auf solchen zentralen Entgiftungsstationen die Technik der Vergiftungsbehandlung auf jenen Stand gebracht werden k a n n , der den modernsten Erkenntnissen entspricht. Vergessen wir nicht, daß ein b e t r ä c h t licher Teil der Selbstmordhandlungen, besonders in E u r o p a , aber auch in Amerika mit Schlafmitteln u n d Leuchtgas durchgeführt wird, u n d daß gerade in der Therapie der Schlafmittelvergiftung in den letzten J a h r e n derartige Fortschritte erzielt worden sind, daß ihre Mortalität sogar auf etwa 1 % gesenkt werden konnte. Solche Erfolge sind aber natürlich nur bei einer Spezialisierung möglich, wie sie eben in Entgiftungsstationen s t a t t f i n d e t . Spitäler, die sich mit den verschiedenartigsten medizinischen Problemen beschäftigen und n u r u n t e r anderem auch Vergiftungen behandeln, werden beim besten Willen nicht imstande sein, ähnliche Resultate zu erreichen. Der zweite große Vorteil, den zentrale Entgiftungsstationen bieten, ist die Konzentration vieler Fälle von Selbstmordversuchen auf einen P u n k t (in Wien kommen ζ. B. etwa 6 5 % aller offiziell gemeldeten Selbstmordversuche in das E n t giftungszentrum), eine Konzentration, die n a t ü r lich die weitere psychische Betreuung wesentlich erleichtert. Zusammenfassend k a n n m a n also zu dem Schluß k o m m e n : Zentrale E n t g i f t u n g s s t a tionen werden als Bestandteil eines wirksamen suicidprophylaktischen Dienstes immer mehr zu einer Conditio sine qua non. Gelegentlich sind solche Entgiftnngsstationen im R a h m e n einer

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psychiatrischen Klinik etabliert worden (wie etwa in Wien), oft stellen sie hingegen eigene, separierte Einheiten dar. Wie auch die Lösung aussehen mag, auf alle Fälle hat man die Entgiftungsstationen als Bestandteil der speziellen Selbstmordverhütung zu betrachten, und in Erfüllung dieser ihrer Aufgabe haben sie für eine Beurteilung der psychischen Verfassung jedes Selbstmordversuches zu sorgen. Es muß nämlich als eine absolute Notwendigkeit bezeichnet werden, daß jeder Patient, der eine Selbstmordhandlung durchgeführt hat, psychiatrisch untersucht wird. Es wäre widersinnig, die größten Anstrengungen zu unternehmen, einen Menschen wieder ins Leben zurückzurufen, um ihn dann, ohne auf die durch seinen Selbstmordversuch aufgeworfene Problematik einzugehen, einfach seinem Schicksal zu überlassen. Dieser Fehler, der immer wieder noch begangen wird und gegen den der Altmeister der amerikanischen Suicidprophylaxe Dublin mit Recht einen so erbitterten Kampf führt, kann nur durch eine sich an den Selbstmordversuch unmittelbar anschließende psychiatrische Exploration vermieden werden. Es mag der Vorteil von Intoxikationszentren, die sich im Rahmen einer psychiatrischen Klinik etablieren, sein, daß sich dann an die Entgiftung automatisch die psychiatrische Untersuchung und Behandlung anschließen kann. Handelt es sich bei den Entgiftungsstationen dagegen um selbständige Institutionen, so müßten einige Psychiater dort als Staff-Mitglieder ständig zur Verfügung stehen. Die Betreuung von geretteten Selbstmördern weist aber ebenso eindringlich darauf hin, daß Selbstmordprophylaxe nur möglich ist, wenn sie intensiv durch psychiatrische Kliniken und Krankenhäuser unterstützt wird. Der Verfasser hat auf vielen Reisen durch die ganze Welt immer wieder festgestellt, daß die Wirksamkeit suicidprophylaktischer Maßnahmen ganz wesentlich davon abhängt, welche Unterstützung denselben durch psychiatrische Kliniken zuteil wird. In bestimmten Situationen wird es zu riskant, selbstmordgefährdete Personen ambulant zu behandeln, und dann bleibt als einzige Möglichkeit die psychiatrische Klinik bzw. das psychiatrische Spital. Natürlich wird man dabei alles tun, dem betroffenen Patienten die Notwendigkeit eines solchen Aufenthaltes verständlich zu machen und ihn somit zu einer freiwilligen Aufnahme zu bewegen. Die Zwangseinweisung — in vielen Ländern berechtigt Selbstgefährlichkeit zu einer solchen — sollte, wenn möglich, vermieden werden, wird aber mitunter die letzte Rettungsmöglichkeit darstellen, und dann sollte man nicht vor ihr zurückschrecken: Es ist besser, ein Mensch kommt auf die psychiatrische Klinik und bleibt am Leben, als man erspart ihm diese Einweisung und er stirbt daran, eben durch Selbstmord (siehe später unter e).

Noch etwas lehrt die Problematik der Selbstmordversuche: Ohne Nachbetreuung kommt man, wie schon früher gezeigt, nicht aus. Psychiatrische Institutionen mögen eine Untersuchung vornehmen und die sich aus der Untersuchung ergebenden therapeutischen Maßnahmen durchführen. Was aber geschieht mit den Patienten nach Abschluß der klinischen Behandlung? Hier muß die Nachbetreuung einsetzen, und für diese Nachbetreuung genügt es nicht, die allgemeinen fürsorgerischen Einrichtungen zu mobilisieren, hier sind Institutionen nötig, die sich speziell und ausschließlich in den Dienst der Selbstmordverhütung stellen. Erfreulicherweise nimmt ihre Zahl heute in der ganzen Welt von Jahr zu Jahr zu, wobei sie natürlich die verschiedensten Namen tragen (ζ. B. die sogenannte „Lebensmüdenfürsorge" in Wien). Immer mehr beginnt sich in letzter Zeit die Bezeichnung „Suicide-Prevention-Center" für solche Einrichtungen durchzusetzen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Selbstmord eines der komplexesten Probleme darstellt; dementsprechend erscheint es angezeigt, die Arbeit der Selbstmordverliütung auch von den verschiedensten Seiten her einsetzen zu lassen. Als beste Lösung dafür läßt sich das Teamwork bezeichnen, und in fast allen Selbstmordverhütungszentren der Welt findet man heute ein solches Team, bestehend aus Psychiatern, Psychotherapeuten, Psychologen, Fürsorgern, Juristen und Seelsorgern, um nur die wichtigsten zu nennen, an der Arbeit. Wichtig ist es, immer wieder zu betonen, daß Organisationen, die für die Selbstmordprophylaxe spezialisiert sind, nicht nur von gutem Willen, sondern natürlich auch von entsprechendem fachlichem Wissen und sachlicher Einstellung getragen sein müssen. Wenn sie solche Voraussetzungen erfüllen, dürfte man aber auch verlangen, daß diese Organisationen von staatlicher Seite entsprechend unterstützt werden — ohne deswegen offiziellen Charakter zu bekommen — , weil sie j a ein unentbehrlicher Bestandteil jener psychohygienischen Maßnahmen sind, die im Dienste der Selbstmordverhütung stehen. Ohne zu sehr in fachliche Details zu gehen, muß doch einiges gesagt werden über die Aufgaben der einzelnen Mitglieder eines solchen Teams, wobei sich diese Aufgaben natürlich im gleichen Sinne auf jene Personen beziehen, die bereits einen Selbstmordversuch durchgeführt haben wie auf jene, die in unmittelbarer Gefahr stehen, einen Selbstmord zu begehen (präsuicidaler Status, „potentielle Selbstmörder"). Bei der Tätigkeit des Psychiaters hat man diagnostische und therapeutische Aufgaben zu unterscheiden. Die Diagnose jener Erkrankung, auf deren Boden es beim Patienten zur Selbstmordneigung gekommen ist, ist Voraussetzung einer erfolgreichen Selbstmordprophylaxe. Man muß in diesem Zusammenhang möglichst klare dia-

Selbstmord gnostische Feststellungen fordern (wie wir es im zweiten Abschnitt dieses Beitrages versucht haben). Nach dem dort Gesagten wird man es diagnostisch vor allem mit Melancholie, schizophrenem Formenkreis, Altersdepression, Neurose, neurotischen Reaktionen und der Psychopathie zu tun haben. Die therapeutischen Maßnahmen sind natürlich von der Diagnose abhängig, wobei man in jedem einzelnen Fall vor dem Problem steht, ob man es wird wagen können, ambulant zu therapieren. Besonders heikel ist diese Frage hinsichtlich der Melancholie (endogenen Depression). Noch vor gar nicht langer Zeit gab es nur eine λvirksame Therapie dieser Erkrankung, nämlich die Elektroschockbehandlung; sie konnte praktisch nur stationär durchgeführt werden. Das letzte Jahrzehnt hat aber durch die Entdeckung der sogenannten „Antidepressiva" eine neue Möglichkeit gebracht, melancholische Phasen binnen weniger Wochen mittels Tabletten zu beseitigen; diese Therapie kann natürlich ambulant durchgeführt werden, sie ist aber mit einem hohen Risiko (eben dem des Selbstmordes) verbunden. Es gilt alles in allem der Satz von Hoff, wonach die modernen Antidepressiva die Therapie der Melancholie zwar erleichtert, die Verantwortung des behandelnden Arztes aber erschwert haben. Gerade bei der ambulanten Behandlung der Melancholie muß man sorgfältig alle Alarmsignale beachten, die auf eine erhöhte Selbstmordgefahr hinweisen (siehe später unter Punkt e dieses Abschnittes). Im Vordergrund der therapeutischen Bemühungen um selbstmordgefährdete Patienten wird neben der Melancholie immer die Behandlung der Neurose und der neurotischen Reaktion stehen. Hier gibt es praktisch nur eine wirksame therapeutische Methode: die Psychotherapie. Bei echten Neurosen, die auf eine seit der Kindheit wirksame Fehlentwicklung zurückgehen, wird man um eine analytisch orientierte, d. h. unbewußte Störfaktoren aufdeckende Therapie nicht herumkommen. Die Analyse jener Mechanismen, die zum bisherigen Versagen, zur zunehmenden Einengung und zum Gefühl der Ausweglosigkeit führten, ist hier unumgänglich notwendig. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die Psychotherapie bei selbstmordgefährdeten Patienten besondere Charakteristika aufweist. In gewissem Sinne ist diese Frage zu bejahen: Zuerst einmal kommt es hier, mehr noch als in jeder anderen Psychotherapie, auf eine intensive und wirklich tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung an. Die Erfahrung lehrt, daß man einen selbstmordgefährdeten neurotischen Patienten in jenem Momente nicht mehr verliert, in dem eine solche Beziehung errichtet ist, welche man auch als den ersten Schritt zur Beseitigung der gegebenen praesuicidalen Einengung bezeichnen könnte. Eine weitere Besonderheit der Psychotherapie selbstmordge-

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fährdeter Personen ist die Notwendigkeit, alles zu tun, um den Patienten zu einer „Aggressionsentladung" zubringen. Wir haben bei Besprechung des praesuicidalen Syndroms auf die verhängnisvolle Rolle der Aggressionshemmung und der Umkehr der gehemmten Aggression gegen die eigene Person hingewiesen. Daraus folgert, daß die Selbstmordgefahr im selben Maße abnimmt, als es gelingt, den Patienten in den psychotherapeutischen Sitzungen zu einer Verbalisierung und damit zu einer sprachlichen Entladung seiner angestauten Aggressionen zu bringen. Schließlich muß gerade die psychotherapeutische Behandlung selbstmordgefährdeter Personen münden in eine Stärkung bzw. Ermutigung der Persönlichkeit und in die Vermittlung von Erfolgserlebnissen durch Trainieren neuer Verhaltensweisen. — Einfacher und leichter wird die Situation bei den bloßen neurotischen Reaktionen sein, also bei jener Patientengruppe, die sich, laienhaft ausgedrückt, nur in aktuellen psychischen Schwierigkeiten befindet. Bei diesen Fällen hat sich in letzter Zeit gruppenpsychotherapeutische Arbeit sehr bewährt. Bei Zusammenstellung von Patienten, die durch eine ähnliche Problematik miteinander verbunden sind zu einer Gruppe (Ehcschwierigkeiten, junge bzw. alternde und alte Menschen), ergibt sich eine rasche Kontaktfindung, wobei jeder Patient zuerst die Schwierigkeiten der anderen verstehen lernt, bis sich dann, gleichsam spiegelbildlichreflektorisch, in ihm ein Muster bildet, das zur Lösung der eigenen Problematik geeignet erscheint. Um realistisch der derzeit in weiten Gebieten der Welt gegebenen Situation gerecht zu werden, muß man ferner darauf hinweisen, daß fast überall ein krasses zahlenmäßiges Mißverhältnis zwischen Personen besteht, die eine Psychotherapie benötigen, und der viel zu geringen Zahl von Psychotherapeuten, die für eine solche zur Verfügung sind. In dieser Situation kann die Gruppentherapie besonders wertvoll werden, ohne daß man deswegen berechtigt wäre, von einer Notlösung zu sprechen. In einer Zeit, die durch Entdeckung immer wieder neuer sogenannter „Psychopharmaka" gekennzeichnet ist, ergibt sich die Verpflichtung, auch auf die Bedeutung dieser neuen Therapiemethode für die Behandlung der Selbstmordgefahr aufmerksam zu werden. Alle diese Medikamente können beruhigend, entspannend und entängstigend wirken und auf diese Weise zur Herabsetzung der Selbstmordgefahr beitragen. Man möchte daher diese Medikamente nicht mehr missen — sie dürfen allerdings nie zu einem Ersatz der unbedingt notwendigen Psychotherapie werden, sondern müssen bleiben, was sie wesensmäßig sind, eine zusätzliche Hilfe, eine Ergänzung ( P s y c h o l o g i e des Verbrechens). Die therapeutische Tätigkeit des Psychiaters und Psychotherapeuten zeigt im übrigen, daß es im Rahmen der Behandlung selbstmordgefähr-

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deter Menschen viele Probleme gibt, die ohne Unterstützung anderer Institutionen nicht lösbar erscheinen. Daher muß man unterscheiden zwischen solchen Einrichtungen, die direkt und ausschließlich der Behandlung von Selbstmordgefährdeten dienen, und solchen, die es indirekt bzw. partiell tun. Es geht ζ. B. die Behandlung der selbstmordgefährdeten Alkoholiker (siehe später) und der Altersdepressionen weit über den Rahmen eines „Suicide-Prevention-Center" und des dort arbeitenden Teams hinaus und verlangt spezialisierte Institutionen bzw. psychohygienisch orientierte Maßnahmen, die sicli diesem Aufgabenkreis widmen. Ein Wort über die Tätigkeit von Psychologen in der Selbstmordprophylaxe. Genauso wie wir bei der psychiatrischen Untersuchung heute nicht mehr nur auf die subjektive Beurteilung der Selbstmordgefahr, entsprechend den Äußerungen der Patienten, angewiesen sind, sondern in der Intensität des „praesuicidalen Syndroms" objektive Kriterien dafür besitzen, haben wir auch in den psychologischen Testmethoden eine zusätzliche Möglichkeit, das Ausmaß suicidaler Potentiale objektiv festzustellen (vor allem im Rorschach· und Szonditest, besonders in ersterem erscheint das praesuicidale Syndrom deutlich nachweisbar). Eine Hauptaufgabe im Rahmen der Selbstmordverhütung fällt den Fürsorgern, den sogenannten „Social-workern", zu. Es muß klar zum Ausdruck gebracht werden, daß es in der Regel die Fürsorger sind, die den Kontakt mit dem selbstmordgefährdeten Patienten aufnehmen und ihn weiterhin pflegen. Dabei muß ein sehr aktives fürsorgerisches Prinzip herrschen, d. h. man muß von sich aus die Initiative ergreifen, nicht warten, bis der Patient kommt, sondern ihm nachgehen. Hausbesuche erweisen sich in diesem Sinne oft als notwendig; bei einer Nachbetreuung geretteter Selbstmörder erscheint es richtig, den fürsorgerischen Kontakt noch vor ihrer Entlassung aus dem Spital aufzunehmen. Es versteht sich von selbst, daß bei bestimmten Patienten auch direkte soziale Maßnahmen, auf Verbesserung der beruflichen, der finanziellen und der Wohnungssituation abzielend, nötig erscheinen. Bei Berücksichtigung der Tätigkeit von Rechtsanwälten im Rahmen der Selbstmordverliütung darf nicht vergessen werden, daß innerhalb der potentiellen Selbstmörder die Zahl von ausgestoßenen, „verfemten", „gezeichneten" Menschen, die mit ihrer Umgebung oder mit den Gesetzen in Konflikt gekommen sind (siehe später), relativ hoch ist; sie alle bedürfen eines auf diesem Gebiete fachkundigen Beraters. Ein letztes Wort über die Tätigkeit des Seelsorgers. Es wäre falsch zu glauben, man könnte Selbstmordverhütung allein auf religiöser Basis betreiben. Ohne fachliche Orientierung, d.h. ohne

die Arbeit des erwähnten Teams, aufbauend auf den wissenschaftlichen psychiatrischen und psychologischen Erkenntnissen, wird suffiziente Selbstmordprophylaxe nicht möglich sein. Andererseits aber sollte im Rahmen eines solchen Teams der Seelsorger nicht fehlen. Immer wieder werden j a von den selbstmordgefährdeten Personen verschiedene, ins Religiöse weisende Fragen aufgeworfen, und es ist wohl nur eine Selbstverständlichkeit, den Fragenden, sofern sie es wünschen, die Möglichkeit zu geben, eine Antwort zu erhalten durch den, der einzig dafür kompetent ist: den Seelsorger. — Die Beziehung zwischen Religion und Selbstmordverhütung ist durch viele Mißverständnisse belastet, die beseitigt werden sollten. Zweifelsfrei kann eine Religion ganz allgemein in doppelter Weise selbstmordhemmend wirken: 1. dadurch, daß sie beiträgt zur Sinnfindung des Daseins und 2. wenn sie lehrt (wie es ganz besonders die christlichen Religionen tun), daß nur Gott und nicht der Mensch der Herr über Leben und Tod ist. Auf der anderen Seite erscheint es unstatthaft, deswegen die Religion einfach wie ein Medikament gegen Selbstmordgefahr einzusetzen oder aber aus statistischen Untersuchungen die besondere Wirksamkeit einer bestimmten Religion gegen den Selbstmord nachzuweisen. Statistisch wird man ja immer nur die formelle Zugehörigkeit zu einem Religionsbekenntnis registrieren können (ζ. B. „Taufscheinchrist"), nicht aber den inneren Stellenwert, den diese Religion für den Betreffenden wirklich hat. Im großen und ganzen wird man sagen dürfen, daß ein religiöser Mensch bedrohliche und schwierige Situationen vielleicht eher überstehen wird als ein nichtreligiöser. Gerade die Ausführungen im zweiten Teil dieses Beitrages haben aber gezeigt, daß es nicht so sehr normalpsychologisch verständliche Situationen sind, die zum Selbstmord führen, als psychopathologische Tatbestände. Diese psychopathologischen Tatbestände verändern aber gewöhnlich auch das religiöse Empfinden, so daß dieses dann oft gleichsam nicht mehr „intakt" genug ist, den Selbstmord zu verhindern. In einer Melancholie ζ. B. können auch tief religiöse Menschen Selbstmord begehen. Im Rahmen einer neurotischen Entwicklung hinwiederum kommt es gewöhnlich auch zu einer neurotischen Verzerrung weltanschaulicher und religiöser Vorstellungen, die sich dann natürlich im entscheidenden Moment als ungeeignet erweisen können, den Selbstmord zu verhindern. Aus all dem geht hervor, daß die Tätigkeit des Seelsorgers im Rahmen der Selbstmordprophylaxe einen wertvollen Beitrag darstellt, daß sie aber niemals die alleinige Grundlage einer Selbstmordprophylaxe sein kann. Alle Dinge muß man organisch aufbauen, so auch die Betreuung von Selbstmordgefährdeten, bei der die Ordnung der natürlich-psychologischen Gegeben-

Selbstmord heiten erst die Voraussetzung dafür schafft, philosophisch-metaphysisch-religiöse Probleme aufzurollen. Man kann die Besprechung der Aufgabe der einzelnen Teammitglieder nicht zum Abschluß bringen, ohne darauf hinzuweisen, daß die Qualit ä t der Teamarbeit nicht zuletzt von der Zusammenarbeit und Kompetenzbegrenzung der Mitglieder abhängig ist (-> Psychopathologie, Religion). b) Eine weitere entscheidende Möglichkeit, auf selbstmordgefährdete Personen aufmerksam zu werden, bietet jene Gruppe, die von einem geplanten Selbstmord spricht, also Selbstmordankündigungen oder -äußerungen macht. Zuerst einmal muß man wissen, daß solche Ankündigungen viel häufiger sind, als im allgemeinen angenommen. Bei der bereits mehrfach zitierten, durch den Verfasser vorgenommenen Rekonstruktion von 50 Selbstmorden erwies es sich, daß nicht weniger als 39 von ihnen in direkter oder indirekter, jedenfalls aber deutlich erkennbarer Form ihre Selbstmordabsichten verraten hatten. Dieser Prozentsatz ist noch höher als der von Robins und Mitarbeitern vor einiger Zeit gefundene (69%). Jedenfalls kann man bei der überwiegenden Mehrzahl der Selbstmorde nicht behaupten, sie wären ohne Ankündigung oder Andeutung, also völlig überraschend, gleichsam aus heiterem Himmel, erfolgt. Natürlich sprechen auf der anderen Seite manche Menschen von Selbstmord, ohne es deswegen auch schon zu tun. Alles in allem ist aber auch aus diesem Blickwinkel die Korrelation zwischen Selbstmordankündigung und im Anschluß daran tatsächlich erfolgendem Selbstmord höher als angenommen. Diese Feststellungen lassen zwei weitverbreitete Vorurteile absolut unhaltbar erscheinen: „Wer zum Selbstmord entschlossen ist, verrät sich nicht und gibt niemandem Gelegenheit, helfend einzugreifen" sowie „Wer vom Selbstmord spricht, tut es niemals". Man muß sich zuerst die Frage stellen, welche Gründe für die Äußerung von Selbstmordabsichten maßgeblich sein können. Robins und Mitarbeiter haben darauf eine prägnante Antwort gefunden, wenn sie vier Motivationen, wie folgt, zusammengestellt haben: 1. der Wunsch, die Angehörigen vorzubereiten, damit sie dann durch den Verlust nicht plötzlich überrascht werden; 2. der Wunsch, von den Angehörigen Hilfe zu bekommen, so daß der Selbstmord vermieden werden kann; 3. Überfließen der eigenen Gedanken, Gefühle und Stimmungen, die einfach nicht mehr bei sich behalten werden können und verbalisiert werden müssen, ohne daß damit eine besondere Absicht verbunden ist; 10 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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4. der Wunsch, die Angehörigen dadurch unter Druck zu setzen. Man steht immer wieder vor der erschütternden Tatsache, daß die Selbstmordankündigungen nicht genügend beachtet werden. Was soll man davon halten (um nur ein Beispiel zu erwähnen), daß vor einiger Zeit in einer deutschen Stadt ein Mann mehreren Personen brieflich mitteilte, er werde zu einem bestimmten Zeitpunkte auf einem öffentlichen Platz in einer bestimmten Weise Selbstmord begehen und daß keiner der Empfänger sich veranlaßt sah, einzugreifen und damit den Selbstmord, der dann tatsächlich in der beschriebenen Art erfolgte, zu verhindern? Dieses Beispiel ist leider auch oft genug charakteristisch für das Verhalten der nächsten Angehörigen, denen gegenüber die Selbstmordabsichten am häufigsten geäußert werden (über Selbstmordäußerungen zu Vertretern bestimmter Berufe siehe später): Man muß hier gelegentlich geradezu von einem mit „Blindheit-Geschlagen-Sein", also von einem „blinden Fleck", sprechen. Selbst dort, wo er nicht ausgeprägt vorhanden, bleiben die Reaktionen gewöhnlich so passiv und insuffizient, daß sie in der Regel nicht ausreichen, den Selbstmord zu verhindern. Was also unbedingt notwendig erscheint, ist eine Analyse der Gründe, die ein so eigenartiges Verhalten bedingen. Folgende Faktoren sind anzuführen: 1. Vielfach werden Selbstmordäußerungen einfach mit Selbstmorddrohungen gleichgesetzt, von denen man sich ihres „erpresserischen Charakters" wegen nicht beeindrucken lassen dürfe, weil man sich sonst dem Betreffenden ausliefere und schließlich gezwungen sei, immer weiter nachzugeben. Die Devise lautet daher — um es im Wiener Jargon zu sagen — „Nicht einmal ignorieren". Unberücksichtigt bleibt dabei, daß auch die vorhin erwähnten anderen drei Möglichkeiten (Punkt 1 bis 3) als Ursachen von Sdbstmordankündigungen in Betracht kommen. Natürlich gibt es Selbstmordankündigungen, die nichts anderes darstellen als bloße Drohungen; sie sind aber in der Regel allein schon durch den Ton, in dem sie vorgebracht werden, zu erkennen, wobei ferner noch Persönlichkeit und Situation berücksichtigt werden müssen. Es soll aber an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß selbst eindeutig als bloße Drohungen zu klassifizierende Selbstmordäußerungen gelegentlich von einer schweren Selbstmordhandlung gefolgt sind. Fälle sind bekannt, wo verspottendes Verhalten der Umgebung (Äußerungen wie etwa „Du tust es ja doch nicht, du redest nur davon, zur Ausführung bist Du viel zu feig") zur letzten Veranlassung eines Selbstmordes wurde, mit dem man vielleicht ursprünglich nur gedroht hatte. Wie dem auch immer sei, man sollte nicht vergessen, daß auch derjenige, der mit Selbstmordäußerungen

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nur agiert, psychisch krank ist und als solcher der Beachtung und selbstverständlich auch der Behandlung bedarf. Der seelisch Gesunde wird es nicht nötig haben, sich solcher Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele zu bedienen. In Wirklichkeit ist der hauptsächlichste Grund für Selbstmordäußerungen der vorhin unter Punkt 2 genannte (auch Punkt 3 kommt öfter in Betracht, vor allem bei der Melancholie): nämlich der Wunsch, Hilfe zu erhalten und auf diese Weise doch noch vor dem Selbstmord bewahrt zu werden. Man darf nicht vergessen, daß jede Selbstmordhandlung gegen den intensivsten Trieb durchgeführt wird, den der Mensch sein eigen nennt: den Selbsterhaltungstrieb. In jeder Selbstmordhandlung stehen sich dementsprechend zwei Tendenzen gegenüber: eine destruierende und eine lebenserhaltende. Der prozentuelle Anteil der letzteren mag im einzelnen Fall verschieden sein (ζ. B. bei jungen Menschen erfahrungsgemäß höher, bei alten niedriger). Entscheidend aber ist, daß es sie immer gibt und daß wir daher damit rechnen dürfen, daß sie sich irgendwie ausdrückt. Wir haben gleichsam in jedem Menschen einen Bundesgenossen, der uns bei der selbstmordprophylaktischen Arbeit zu Hilfe kommen will, dem aber auch wir zu Hilfe kommen müssen. Anders wäre es ja auch nicht zu erklären, daß manche Menschen, obwohl mit großer Intensität zum Selbstmord entschlossen, dennoch dann gelegentlich spontan, d. h. aus eigenem Antrieb, eine Institution aufsuchen, die im Dienste der Selbstmordverhütung steht. (Aus einer solchen Handlung kann keinesfalls automatisch geschlossen werden, daß der Betreffende von Haus aus nicht hätte Selbstmord begehen wollen.) Alle diese Tatsachen beweisen, wie wichtig es gerade auf diesem Gebiete ist, weit verbreitete Fehlansichten endlich zu korrigieren. 2. Sehr häufig wird von den Angehörigen angenommen, daß die Selbstmordankündigungen nicht ernst gemeint seien. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß es dem Laien auf keinen Fall zusteht, ein recht dilettantisches Urteil über die „Ernsthaftigkeit" von Selbstmordäußerungen abzugeben. Wenn man schon das problematische Wort „ernst" in diesem Zusammenhang verwendet, so hat es für den Laien — wie schon früher betont — nicht um die Frage zu gehen, ob Selbstmordäußerungen ernst gemeint sind, er muß sie vielmehr unter allen Umständen ernst nehmen. Die Entscheidung über die „wirklich" gegebene Selbstmordgefahr hat immer in den Händen des Arztes zu liegen, und selbst diesem— ja auch sogar noch dem Facharzt für Nervenkrankheiten — wird sie oft sehr schwer gemacht, und es können auch bei größter Vertrautheit mit dem Problem sich verhängnisvoll auswirkende Irrtümer unterlaufen.

Im allgemeinen kann — wie schon früher angedeutet — gesagt werden, daß das Nicht-Ernstnehmen von Selbstmordäußerungen ein Symptom schwer gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen ist. Überall dort, wo sich nahe Angehörige durch die Selbstmordäußerungen nicht betroffen erweisen, ergibt sich, daß dem Ankündiger gegenüber eine so weitgehende Entfremdung eingetreten ist, daß von einer echten Verbundenheit nicht mehr gesprochen werden kann. Es bleibe dahingestellt, ob in bestimmten Fällen sogar unbewußte Todeswünsche der Angehörigen gegen die Betreffenden bestehen. Wenn man sich die zahlreichen Beispiele vergegenwärtigt, wo Angehörige zwar einen Selbstmordversuch verhindern (ζ. B. durch Abdrehen des bereits geöffneten Gashahnes), gleichzeitig aber nichts unternehmen, um weitere Versuche, die dann schließlich einmal doch zum Tode führen, zu unterbinden, so wird man jedenfalls P. Schneider recht geben müssen, der sagt, man könne ein solches Verhalten ohne bewußt oder unbewußt bestehende Todeswünsche nicht leicht erklären. Eindeutig bewußte Todeswünsche liegen dort vor, wo direkte Aufforderungen zum Selbstmord ausgesprochen werden. Zwei Beispiele aus dem Material der Wiener Nervenklinik mögen dies illustrieren: Ein 45jähriger Mann hatte einen Selbstmordversuch mit Leuchtgas unternommen, war aber rechtzeitig entdeckt worden; von einer Spitaleinweisung wurde Abstand genommen, der Suicidversuch verheimlicht. Später sagte die Frau zu ihm: „Ein richtiger Mann müßte das schon so machen können, daß es gelingt und daß keine Möglichkeit auf Rettung besteht". Wenig später ertränkte sich der Mann in einem einsamen Waldteich; die Frau entwickelte dann eine schwere Depression. Eine Patientin, jahrelang an Asthma bronchiale leidend und in den letzten Monaten völlig arbeitsunfähig, kam mit einem äußerst ernsten Selbstmordversuch in die Klinik. Nach ihrer Rettung berichtete sie, daß der Gatte vier Wochen vor der Selbstmordhandlung etwa in folgendem Sinne mit ihr gesprochen habe: „Als ich im Krieg in russische Gefangenschaft kam, da habe ich mir vorgenommen, Selbstmord zu begehen, wenn ich in der Gefangenschaft zum Krüppel werden sollte; denn man kann keinem Menschen zumuten, mit einem Krüppel längere Zeit zu leben." In solchen krassen Fällen dürfte die Formulierung berechtigt sein, daß von den Angehörigen eine Art von Todesurteil ausgesprochen wird. 3. Die Wahrheit gebietet, zu betonen, daß in der Mehrzahl der Fälle die Angehörigen durch eine Selbstmordankündigung doch zuerst einmal in Sorge gesetzt werden. Leider aber ist es so, daß aus dieser erwachenden Sorge nicht die richtigen Handlungen resultieren. Dies mag verschiedene

Selbstmord Gründe haben. Zuerst muß bedacht werden, daß alle Menschen die Tendenz zeigen, aus dem Zustand der Beunruhigung wieder in den der Beruhigung zurückzufinden. Daher tröstet man sich oft mit oberflächlichen Phrasen dahingehend, „daß es schon nicht so arg sein, daß schon nichts passieren werde", oder aber man redet sich ein, es werde gelingen, durch „guten Zuspruch" oder „stete Wachsamkeit" die Gefahr zu überwinden, wobei natürlich die eigenen Möglichkeiten kritiklos überschätzt werden. J e öfter Selbstmordäußerungen wiederholt werden, ohne daß eine Selbstmordhandlung erfolgt, desto mehr wird als erwiesen angenommen, daß nichts passieren könne. Mag sein, daß mangelndes Wissen sowie verständliche menschliche Schwäche und Oberflächlichkeit ein solches Verhalten fördern. Tiefenpsychologisch läßt sich dabei aber oft dem Ankündiger gegenüber ein zwiespältiges Gefühl, eine sogenannte ambivalente Einstellung, feststellen. In diesen Fällen sieht man die Umgebung gegenüber den Gefährdeten zwischen Aggression und Angst hin- und herschwanken und als Folge davon untätig verharren, bis schließlich der Selbstmord stattfindet. Dort, wo in Wirklichkeit die Ambivalenz die Selbstmordverhütung verhindert hat, muß nach erfolgtem Selbstmord mit verstärkten Schuldgefühlen gerechnet werden, die sehr leicht zu weiteren Selbstmordhandlungen führen (siehe c). Gelegentlich besteht auch eine gewisse Hilflosigkeit der Angehörigen hinsichtlich der Frage, an wen man sich denn eigentlich wenden solle, um die gefährliche Situation zu meistern. Es existiert also auch so etwas wie ein Problem der praktischen Handhabung. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß jene Institutionen, die im Dienste der Selbstmordverhütung stehen, heute im allgemeinen noch viel zu wenig bekannt sind. Für eine fachgemäße Beurteilung und Behandlung selbstmordgefährdeter Personen kommen vor allem „Suicide-Prevention-Center", psychiatrische Kliniken und Ambulanzen, in der Praxis tätige Psychiater und andere Ärzte in Betracht. Wenn eine akute, plötzlich einsetzende Gefahr besteht, sollte auch die Rolle der verschiedenen' Telefondienste usw. nicht unterschätzt werden. Ihre Zahl nimmt heute in der ganzen Welt zu, und hier ist sicher eine Möglichkeit gegeben, auf raschestem Wege im Augenblicke der Gefahr Kontakt aufzunehmen. Die Erfahrung der verschiedenen Telefondienste bestätigt auch, daß etwa 20—30% der dort Ratsuchenden selbstmordgefährdet sind, davon einige sogar in einer ausgesprochen bedrohlich zu nennenden Gefahr. Es verlangt eine gute fachliche Ausbildung, um über den indirekten Weg des Drahtes doch so weit an einen Menschen heranzukommen, daß er sich dann bereiterklärt, schließlich auch den direkten persönlichen Kontakt aufzunehmen. Ein Vorteil der Telefondienste mag es auch sein, daß sie in der 10'

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Regel Tag und Nacht zu erreichen sind — sicherlich beschwören gelegentlich gerade die Nachtstunden Situationen und Stimmungen herauf, die geeignet sind, eine akute Selbstmordgefahr zu provozieren (in Wien hat es sich ζ. B. die „Lebensmüdenfürsorge" zur Regel gemacht, am 24. 12. und in der Sylvesternacht einen speziellen Bereitschaftsdienst durchzuführen). Nach allem Gesagten scheint es nicht schwer zu sein, den Stellenwert von Telefondiensten (und auch von anderen „Beratungsstellen") im Rahmen der Selbstmordverhütung zu bestimmen: Sie spielen die Rolle von wertvollen Auffangzentren; zur näheren Behandlung der also erfaßten Selbstmordgefährdeten werden sie allerdings nur dann befähigt sein, wenn sie entweder über ein eigenes Team im Sinne unserer früheren Ausführungen verfügen oder direkt mit „Suicide-Prevention-Centers" zusammenarbeiten. In naher Zukunft müßten jedenfalls alle Institutionen, die im Dienst der Selbstmordverhütung stehen, so bekannt sein, daß niemand die Ausrede haben kann, er hätte im kritischen Moment nicht gewußt, an wen er sich wenden sollte. c) Epidemiologische Untersuchungen haben ergeben, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung in erhöhter Gefahr stehen, Selbstmord zu begehen. Wir lernen hier zum ersten und einzigen Male Hinweise auf gegebene Selbstmordgefahr kennen, die sich nicht direkt auf eine bestimmte Person beziehen. Wenn jemand einen Selbstmordversuch unternommen hat oder Selbstmordäußerungen macht (wie wir es unter a) und b) beschrieben haben), so ist dies ein höchst persönlicher Selbstmordhinweis. Die epidemiologischen Untersuchungen können hingegen lediglich aufzeigen, daß bestimmte Gruppen einer besonderen Selbstmordgefahr ausgesetzt sind, um den ausgezeichneten Ausdruck von Gordon, Ipsen und Mitarbeitern zu verwenden, die zwischen Menschen unterscheiden, die der Selbstmordgefahr ausgesetzt sind, und solchen, die für den Selbstmord anfällig erscheinen. Immerhin ist es wertvoll genug, durch die epidemiologischen Untersuchungen die gefährdeten Gruppen besser zu erkennen; ob natürlich der einzelne diesen Gruppen Angehörige tatsächlich selbstmordgefährdet ist, muß erst gesondert geprüft werden, ist es doch letztlich abhängig von seiner individuellen Struktur, in der — wie wir im zweiten Kapitel dieses Beitrages aufgezeigt haben — die letzte Entscheidung über Sein oder Nichtsein fällt. Im folgenden seien einige der bedrohten Gruppen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, angeführt. 1. Menschen, die eine kriminelle Handlung begangen haben. In einem Handwörterbuch der Kriminologie erscheint es wohl gestattet, diese

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an die Spitze zu stellen und auf die damit verbundene Problematik näher einzugehen. Schon unmittelbar nach dem Begehen eines kriminellen Deliktes kann es zum Selbstmord kommen. Gerade vom psychopathologischen Standpunkt läßt sich dies erklären: Erzeugen doch in einem solchen Falle Außen- und Innenfaktoren zusammenwirkend jene Einengung, die ein wesentlicher Bestandteil des praesuicidalen Syndroms ist. Die Durchführung der kriminellen Handlung ruft Reaktionen der Umwelt hervor, die darauf gerichtet sind, den Täter zu eruieren, ihn gleichsam immer mehr einzukreisen und schließlich festzunehmen, um ihn der Strafe zuzuführen. Auf der anderen Seite entstehen in vielen Menschen nach der Tat Schuldgefühle, welche oft — ganz unabhängig von der Reaktion der Umwelt — auf Selbstbestrafung und manchmal auch auf die schwerste Form der Selbstbestrafung, eben den Selbstmord, hinzielen. So wissen wir von zahlreichen Fällen, in denen ein Mord von Selbstmord gefolgt ist, noch bevor irgendeine Maßnahme der Umwelt erfolgt, andere wieder begehen Selbstmord, wenn sie sehen, daß sie sich der Inhaftierung nicht mehr entziehen können. Alles in allem kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß Personen, die ein kriminelles Delikt verübt haben, schon unmittelbar nach der Tat unter einer erhöhten Selbstmordgefahr stehen. Dieser Tatbestand bleibt auch später erhalten, wenn es zur Inhaftierung gekommen ist. Der Selbstmord kommt in der Haft, verglichen mit der Selbstmordziffer der gesamten Bevölkerung, überall häufiger vor. Andererseits aber zeigen die Zahlen, daß die in Laienkreisen anzutreffenden Vorstellungen von einer exorbitant hohen Selbstmordrate im Gefängnis falsch sind. Sicherlich hat die Zahl der Selbstmorde im Gefängnis gegenüber früheren Zeiten in unserem Jahrhundert abgenommen. Auch im Gefängnis findet man hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Selbstmord und Selbstmordversuch eine ähnliche Situation wie in der Allgemeinbevölkerung, nämlich etwa 3—6 mal so viel Selbstmordversuche wie Selbstmorde. Es fällt gerade in der Haft nicht immer leicht, den Selbstmordversuch gegenüber Selbstbeschädigungsakten abzugrenzen, mit denen man bei Gefängnisinsassen immer rechnen muß. Hier zeigt sich erneut, wie wichtig eine exakte Definition des Begriffes „Selbstmord" ist, mit anderen Worten, daß man nur dann von Selbstmord oder Selbstmordversuch sprechen darf, wenn der Tod — und sei es in auch noch so abgeschwächtem Maße — tatsächlich direkt angestrebt wird. Hinsichtlich der Problematik des Selbstmordes bei Häftlingen muß man zwischen Untersuchungshäftlingen und jenen Gefängnisinsassen unterscheiden, die bereits die Verurteilung hinter sich haben und ihre Strafe abbüßen. Übereinstimmend wird aus vielen Untersuchungen gemeldet, daß der Untersuchungshäft-

ling am meisten selbstgefährdet ist und die Gefahr beim langjährigen Strafgefangenen etwas abnimmt. Bevor wir auf die Problematik dieser beiden Gruppen eingehen, wobei wir uns besonders auf die diesbezügliche Publikation von Hoff stützen, an deren Grundlagenerarbeitung der Verfasser beteiligt war, ein Wort über die Situation des Häftlings im allgemeinen. Auch die Selbstmordgefahr bei Inhaftierten ist das Resultat des Zusammentreffens äußerst schwerwiegender Außen- und Innenfaktoren. Das Inhaftiertwerden und -sein stellt in mehrfacher Hinsicht eine Traumatisierung dar: Hier sei nur an den auf die Persönlichkeit ausgeübten Zwang, das Erlebnis der Übermacht der Umwelt und der eigenen Ohnmacht, die Isolierung und den Ausschluß aus der gewohnten sozialen Gemeinschaft und nicht zuletzt auch an die gegebene Diskriminierung erinnert. Was nun die innerpsychische Struktur betrifft, so handelt es sich bei der überwiegenden Mehrzahl der Häftlinge doch um psychisch abnorme Persönlichkeiten, die vor allem in die Richtung der (asozialen) Psychopathie und auch in die der Neurose tendieren, wenn wir hier den eigentlich geisteskranken Verbrecher, der aus dem normalen Strafvollzug auszuschließen ist, vernachlässigen. Schon im zweiten Abschnitt dieses Beitrages wurde auf die psychopathische Struktur hingewiesen. Der (asoziale) Psychopath stellt eine unreife Persönlichkeit mit mangelhaft entwickeltem Gewissen dar; unfähig zu echten zwischenmenschlichen Beziehungen, lebt er nur dem eigenen Lustprinzip, ohne Bereitschaft zu zeigen, sich der sozialen Realität anzupassen. Diese Persönlichkeiten sind nicht nur prädestiniert, straffällig zu werden, sondern sie stellen dann natürlich auch im Strafvollzug ein besonderes Problem dar. Die Haft ist ein klassisches Modell einer unlustbetonten Situation, u n d gerade die unlustbetonten Situationen sind es — wie schon früher betont —, die der Psychopath nicht ertragen kann. Es ist daher mit Aggressionsausbrüchen zu rechnen, die sich in gleichem Maße gegen die Umwelt wie auch gegen die eigene Person richten können. — Was die neurotischen Kriminellen betrifft, so ist bekannt, daß hier oft ein unbewußtes Schuldgefühl zur Triebfeder der Tat wird. Mag dieses Schuldgefühl auch zuerst einmal durch die Tatsache der Inhaftierung halbwegs abgesättigt erscheinen, so wächst doch gerade beim Neurotiker in der eingeengten Situation der Haft die negative Bewertung seiner Tat immer mehr, so daß bei gleichzeitigem Fehlen anderer Entlastungsmöglichkeiten die Bestrafung durch Freiheitsentzug allein das steigende Schuldgefühl nicht mehr zu kompensieren vermag: Daraus resultiert die Zunahme der Selbstmordgefahr. Selbst beim unschuldig Inhaftierten kann gelegentlich die von außen her gegebene Einengung zum Gefühl einer unbeein-

Selbstmord flußbaren und damit hoffnungslosen Situation führen, der er sich nur durch Selbstmord zu entziehen können glaubt. Einige Faktoren sind es, die den Untersuchungsgefangenen besonders selbstmordgefährdet erscheinen lassen. Auf der einen Seite hat er das Recht auf eine eigene Zelle und auf seine eigene Kleidung, auf der anderen Seite besteht keine Arbeitspflicht; das bedeutet also, daß sich eine erschwerte Überwachungsmöglichkeit mit einem als unendlich langsam erlebten Dahinschleichen der Zeit (keine Ablenkung durch Tätigkeit) verbindet, alles natürlich Faktoren, die die Selbstmordgefahr erhöhen. Ohm hat in ausgezeichneter Weise innerhalb der Untersuchungshaft drei Phasen unterschieden: Die erste umfaßt die Zeit unmittelbar nach der Inhaftierung, die zweite ist gekennzeichnet durch eine gewisse, wenn auch nur äußerst oberflächliche Stabilisierung und den Versuch, sich mit der gegebenen Situation abzufinden, die dritte Phase bezieht sich auf die Zeit des Ablaufes der Gerichtsverhandlung. In jeder dieser drei Phasen gibt es charakteristische Höhepunkte der Selbstmordgefahr, wobei aber betont werden muß, daß zweifellos die größte Relation zum Selbstmord in der ersten — und in einem gewissen Abstand — in der dritten Phase gegeben ist. Der Sprung von der Freiheit in die Untersuchungshaft wurde von Sieverts mit Recht mit der elementaren Wucht einer Naturkatastrophe verglichen. Jeder mitmenschlichen Verbundenheit beraubt, steht man einem ungewissen Schicksal gegenüber, welches gleichsam den Sturz vom Himmel in die Hölle repräsentiert. Ferner muß bedacht werden, daß die Bedrohung dabei nur die Gestalt einer dunklen Ahnung hat, aber keineswegs bereits einer Gewißheit, die verarbeitet werden kann. Immer wieder sehen wir, daß eine umschriebene Strafe, selbst wenn sie einen längeren Zeitabschnitt umfaßt, wenn er nur bereits klar bestimmt ist, leichter ertragen wird als die Ungewißheit und die Unabsehbarkeit. In dieser Situation besteht die Neigung zu Verzweiflungsreaktionen, zu denen natürlich vor allem Suicide gehören. Dabei können Selbstmordhandlungen ebenso unmittelbar nach der Inhaftierung stattfinden wie auch erst einige Tage später, wenn der anfängliche Schockzustand, in dem noch eine Art von lähmender Passivität überwiegt, langsam abklingt. In der zweiten Phase kommt es parallel zu der einsetzenden Pseudostabilisierung bedeutend seltener zu Selbstmordhandlungen. Auch hier gibt es aber einen besonders gefährlichen Zeitpunkt, nämlich den nach Zustellung der Anklageschrift. Der Häftling hat bis dahin versucht, das vor ihm liegende Unangenehme zu verdrängen; nun wird er plötzlich mit dem Faktum konfrontiert, daß dieser Verdrängungsversuch Illusion war und er

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sich den Folgen seines strafbaren Verhaltens nicht entziehen kann. Was die dritte Phase, nämlich den Verhandlungsablauf, betrifft, so ist in dieser die Selbstmordgefahr natürlich ganz wesentlich abhängig vom Ausgang des Prozesses. Ungeheuer vorsichtig muß man sein nach dem Schuldspruch, besonders wenn eine lange Strafe ausgesprochen worden ist. Man kann die Beleuchtung der Problematik der Suicidgefahr des Untersuchungshäftlings nicht abschließen, ohne darauf hinzuweisen, daß er sich in jeder Richtung in einer Sondersituation befindet, welche eine wirksame Selbstmordprophvlaxe erschwert. Da es sich bei ihm noch nicht um einen rechtskräftig Verurteilten handelt, ist er noch nicht „Gegenstand" einer bestimmten Administration, in deren Rahmen erfreulicherweise gerade in den letzten Jahren die psychiatrischpsychologische Betreuung in immer größerem Maße eingesetzt wird. Der Untersuchungshäftling befindet sich noch außerhalb jedes Systems und ist daher auch fern von der Anwendung bestimmter psychohygienischer Maßnahmen. Umsomehrmüßten hier neue Möglichkeiten einer psychologisch orientierten Kontaktaufnahme eröffnet werden, natürlich unter dem obersten Grundsatz, daß dadurch der juridische Zweck der Untersuchungshaft, nämlich die Wahrheitsfindung, nicht gefährdet werden darf. Die Selbstmordgefahr beim Strafgefangenen ist entscheidend abhängig von der Art, in der die Tatsache der Bestrafung verarbeitet wird. Mit Ohm können wir im wesentlichen drei solche Verarbeitungsarten unterscheiden: die aktiv-positive, bei der die Bestrafung zum Anstoß für Einkehr und Selbstbestimmung wird, die aktiv-negative, wobei die Bestrafung abgelehnt und den Institutionen, die damit zu tun haben, als Ausdruck der aggressiven Auflehnung gleichsam der Krieg erklärt wird, und schließlich die passive, wobei es zu einer Abkapselung in sich selbst kommt, man alles leidend erduldet und, ohne aufzufallen, über sich ergehen läßt. Selbstmordgefahr besteht nun vor allem bei der aktiv-negativen und bei der passiven Gruppe. Bei der ersteren muß bedacht werden, daß es eines Tages unvermeidlicherweise zur Erschöpfung des aggressiv-aufbegehrenden Verhaltens kommen muß, wenn die Vergeblichkeit des Sich-Auflehnens erkannt wird. In diesem Moment kann zwar ein Übergang in ein einsichtiges Verhalten oder zumindest in eine Scheinanpassung erfolgen, ebenso aber besteht die Gefahr, daß das Aufgeben des Kampfes mit einem Aufgeben der eigenen Person und damit dem Selbstmord gleichgesetzt wird. Daher erscheint es ganz wesentlich, diese Entwicklung sorgfältig im Auge zu behalten. Bei der passiven Verarbeitung kann sich allmählich ein ernster Depressionszustand entwickeln, der umso schwerer zu erkennen ist, als ja das Verhalten

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dieser Häftlinge chronisch passiv-depressiv erscheint. In diesem Rahmen kann nicht näher auf die bei der Betreuung von Häftlingen unbedingt notwendigen psychohygienischen Maßnahmen — wie etwa diagnostische Qualifikation des einzelnen Gefangenen, Möglichkeiten zu kathartischen Aussprachen, Gruppenbehandlung, gründliche Information aller Personen, die mit Häftlingen zu tun haben, über das von Psychiatrie und Psychologie erarbeitete Wissen hinsichtlich der Charakteristika der Auseinandersetzung der Persönlichkeit mit der Inhaftierung eingegangen werden ( G e f ä n g nispsychologie und -Soziologie). Eine grundsätzliche Bemerkung aber sei gestattet: Wenn die Einstellung zum Häftling durch Verachtung bestimmt ist, erzeugt dies ein „suicidales Klima" und erhöht damit die Selbstmordgefahr. Gerade die Selbstmordprophylaxe gibt wesentliche Hinweise darauf, wie wichtig es ist, jedem Menschen, und sei es auch dem zutiefst Gestrauchelten, seine Menschenrechte und in gewissem Sinne auch seine Menschenwürde zu wahren. Selbstmordverhütung basiert darauf, daß jedes Leben wert ist, erhalten zu werden. Es steht dem Menschen nicht zu, zwischen „lebenswerten" und „nichtlebenswerten" Existenzen zu unterscheiden. (Farberow und Simon haben jüngst mit Recht darauf hingewiesen, daß eine Häufung der Tendenz, stattgehabte Selbstmorde einfach leichtfertig damit abzutun, diejenigen hätten sowieso vom Leben nichts mehr zu erwarten gehabt, ein alarmierendes Symptom erkrankter Sozietät sei.) Die geringste Abweichung von diesem Prinzip stellt die gesamte Selbstmordprophylaxe in Frage und ist zugleich — um es in der Grillparzerschen Terminologie zu sagen — der erste Schritt von der Humanität zur Bestialität, wie gerade die Geschichte dieses Jahrhunderts auf das erschütterndste bewiesen hat. Eine Untergruppe der Kriminellen stellen die Homosexuellen dar. Auf der einen Seite erscheint ihr „Delikt" (bei dem es sich eindeutig um eine Krankheit handelt) vielfach noch unter Strafe gestellt, auf der anderen Seite sind sie, mit gewissen Ausnahmen (Verführung Minderjähriger, gewerbsmäßige Ausübung), nicht eigentlich kriminell. Der Anteil der Homosexuellen an Suicidhandlungen ist zweifellos recht hoch, was wohl zuerst dadurch seine Erklärung finden dürfte, daß die psychische Struktur, auf deren Basis es zur Homosexualität kommt, gewöhnlich eine neurotische oder psychopathische ist, somit also für den Suicid anfällig macht. Ein Teil der Homosexuellen kommt durch seine Perversion in Konflikt mit dem eigenen Gewissen, was Schuldgefühl und Selbstbestrafungstendenz heraufbeschwört; andere neigen zu Suicidhandlungen, wenn sie ertappt oder verurteilt werden bzw. reagieren so auf Erpressungen, die gar nicht so selten vorkommen ( S e x u a l d e l i k t e ) .

2. Aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen Verfolgte. Es zeigt sich immer wieder, daß jene Gruppen, die ihrer Rasse oder Gesinnung wegen intensiv verfolgt werden, damit gleichzeitig einer besonderen Selbstmordgefahr ausgesetzt sind. Die politische Verfolgung ist vielleicht das charakteristischste Beispiel dafür, daß unter außergewöhnlichen Umständen Außenfaktoren so übermächtig werden können, daß auch Menschen, die an und für sich nicht zum Suicid tendieren, schließlich doch Selbstmord begehen. Typisch dafür ist ζ. B. die Zunahme der jüdischen Selbstmordquote zwischen 1933 und 1945 unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgungsund Ausrottungsmaßnahmen, obwohl gerade beim jüdischen Volke unter normalen Umständen Selbstmorde eher selten sind. Im übrigen scheint es äußerst bemerkenswert, daß sogar in den Konzentrationslagern, in der vollständigen Isolierung, umgeben von einer extrem feindlichen Welt, welche jede psychische und physische Hilfeleistung von außen verunmöglichte, Eigenbemühungen zur Selbstmordverhütung stattgefunden haben, von denen wir manches lernen können. J . F. Steiner beschreibt in seinem Buch über den Aufstand im KZ Treblinka, wie die anfänglich bestehende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der anderen Häftlinge gerade durch die allmählich erkannte Verpflichtung, deren Selbstmord zu verhindern, überwunden wurde. Über ähnliche Bemühungen berichtet Frankl in seinem Buche: „Ein Psychologe erlebt das KZ". Paul Valery hat einmal gesagt, der Selbstmord sei die Abwesenheit aller anderen. Solange diese „Abwesenheit" gegeben ist, kann man eigentlich kaum von einer menschlichen Gemeinschaft, sondern nur von einem Nebeneinander, von „Menschenserien" im Sinne Sartres sprechen. Erst das Gefühl des für das Schicksal des anderen Verantwortlichseins läßt die Serie zur Gruppe werden, wie Simone de Beauvoir mit Recht betont. Ein Weg, dieses Verpflichtungsgefühl auszudrücken, ist die Selbstmordprophylaxe, und wir sehen hier erneut, wie allgemein-menschliche und selbstmordverhütende Gesichtspunkte parallel laufen. Die Verfolgung der Juden ist vielleicht das krasseste, sicherlich aber nur eines von vielen anderen Beispielen. Die Geschichte der Menschheit ist von Anbeginn auch eine Geschichte der verschiedenartigsten Unterdrückungen, und man muß den daraus resultierenden Situationen vom Standpunkt der Selbstmordprophylaxe umsomehr Beachtung schenken, als ja die jeweiligen Machthaber in der Regel dann auch Hilfsmaßnahmen jeglicher Art für die Bedrohten unterbinden. Hier ist der Moment, wo sich mutige Humanität in Eigeninitiative zu bewähren hat. 3. Auch die Flüchtlinge stellen eine selbstmordgefährdete Gruppe dar, ein Problem, welches sehr eng mit politischer v erfolgung zusammenhängt;

Selbstmord die Welt ist, wie Dubitscher mit Recht betont, heute überschwemmt von Flüchtlingsströmen der verschiedensten Art. Ihrer psychohygienischen Problematik ist vor allem Pfister nachgegangen, wobei sie immer wieder die verstärkte Neigung des Flüchtlings zum Selbstmord feststellen mußte. Folgende Faktoren sind dafür vor allem maßgebend: der Verlust der Heimat und daraus resultierendes Heimweh; verständlicherweise ist hier entscheidend, ob der Flüchtling aus eigenem Entschluß das Vaterland verließ oder ob er vertrieben wurde; die Schwierigkeiten, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden; es droht das Gefühl der Isolierung (welches wir schon zu wiederholten Malen als eine Hauptursache der Selbstmordgefahr kennengelernt haben), besonders dann, wenn eine Trennung von den Angehörigen erfolgte, sprachliche Schwierigkeiten bestehen und die Einstellung der neuen Umwelt nicht wohlwollend genug ist. Ein klassisches Beispiel für die letztere Problematik konnte in Österreich 1956 beobachtet werden. Die ersten Flüchtlinge nach der ungarischen Revolution in diesem Jahre wurden mit warmer Sympathie, ja mit Enthusiasmus empfangen. Als aber ein regelrechter Flüchtlingsstrom einsetzte, kühlte die Begeisterung rasch ab und machte einer Gleichgültigkeit, manchmal sogar einer Ablehnung Platz. Unausgesprochen konnte man den Satz erraten: Warum müssen es so viele werden? Dies beweist, daß große selbstmordgefährdete Gruppen es immer schwerer haben, entsprechende Hilfe zu erhalten, weil dann die Problematik des einzelnen in der Menge unterzugehen droht (eine ähnliche Situation ist auch bei den alten Menschen gegeben — siehe später Punkt 6). 4. Alkoholiker und andere Süchtige: Auf die Selbstmordgefahr bei Alkoholikern wurde bereits im zweiten Abschnitt dieser Arbeit hingewiesen. Vom prophylaktischen Standpunkt ist jene Phase entscheidend, in der der Übergang vom chronischen Suicid (nach der Menningerschen Terminologie), den jede Form der Sucht darstellt, zum faktischen Suicid erfolgt. Die Hoffnung der Selbstmordprophylaxe wird dabei vor allem von den Organisationen getragen, die sich speziell mit dem Süchtigen, insbesondere mit dem Alkoholiker, beschäftigen und bemüht sind, ihn aus der Abkehr von der Welt, die in jeder Sucht gelegen ist, herauszuführen. Hier sei besonders an eigene Entziehungsanstalten für Trinker und an eine fachgemäße ärztliche, fürsorgerische und soziodynamische (Gruppenbildung etwa in der Art des „Alcoholics Anonymous") Betreuung erinnert. Sie beinhaltet eine sorgfältige, unbedingt stationär durchzuführende Entziehung, eine exakte Diagnosestellung jener Erkrankung, auf Grund derer es zum Alkoholmißbrauch gekommen ist (wobei vor allem Neurose, Psychopathie, endogene Psychosen und unterdurchschnittlicher Intellekt in Frage kommen), die Einleitung einer entsprechen-

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den Therapie und eine intensive, anhaltende Nachbetreuung nach der Entlassung. Es wäre nämlich verhängnisvoll, zu glauben, daß allein durch die Tatsache der Entziehung die Selbstmordgefahr beseitigt ist: Im Gegenteil, es muß bei Verzicht auf das Selbstzerstörungsmittel oft mit erhöhter Selbstmordgefahr gerechnet werden. — Die krisenhaften Momente bezüglich der Selbstmordgefahr bei Süchtigen sind vor allem dann gegeben, wenn das Schuldgefühl ins Unerträgliche wächst, alle sozialen Positionen vernichtet, die zwischenmenschlichen Beziehungen weitgehend abgebrochen sind. Bei Süchtigen aller Art finden wir oft eine Aneinanderreihung von Selbstmordversuchen, bis schließlich der Selbstmord den tragischen Endpunkt der Selbstzerstörung fixiert. — Aus diesen Hinweisen ergibt sich, daß therapeutische ebenso wie suicidprophylaktische Maßnahmen bei Süchtigen erfolglos bleiben müssen, wenn nicht auch die Familie in die Betreuungsmaßnahmen einbezogen wird (-»· Ehe und Familie). Gerade am Verhalten der Angehörigen läßt sich aber die zwiespältige Haltung der Allgemeinheit gegenüber dem Alkoholiker erkennen. Auf der einen Seite wird der Alkoholismus heute weitgehend verharmlost, in Sprüchen und Liedern fast als ein notwendiger Bestandteil des Lebens dargestellt und auf diese Weise ein Beitrag zu einer „alkoholischen Atmosphäre" geleistet, die sicherlich eine gewisse Rolle beim Zustandekommen so manchen Alkoholmißbrauches spielt. Dies geht manchmal so weit, daß man den Eindruck hat, bestimmte Familienangehörige seien an der Beendigung der Sucht gar nicht interessiert. Auf der anderen Seite wird der Trinker dann verachtet und als Individuum bewertet, auf dessen Existenz kein großer Wert zu legen ist. Daraus resultiert jene tragische, heute immer wieder anzutreffende Situation, daß nämlich die Trinker zwar ihren Selbstmord wiederholt ankündigen, ja auch Selbstmordversuche durchführen, die Angehörigen jedoch „wie gelähmt", ahnungsvoll, aber untätig warten, bis das Verhängnis eintritt. Eine besonders gefährliche Situation ist dann gegeben, wenn der Alkoholiker im Stadium des ausklingenden Rausches, in der berüchtigten, sehr gefährlichen „Katzenjammerstimmung" allein gelassen wird, was oft aus Angst vor seinen Gewalttätigkeiten, aber auch aus Gleichgültigkeit geschieht. Besonders alarmierend ist in unserer Zeit die Zunahme des Alkoholmißbrauches bei Frauen in Europa und Nordamerika. Die Gesellschaft hat, wie bereits gesagt, den trinkenden Mann weitgehend akzeptiert, die trinkende Frau jedoch wird auch heute noch abgelehnt. Daraus kann man schließen, wie stark das psychopathologische Agens sein muß, welches eine Frau dazu bringt, sich über ein in der Gesellschaft herrschendes Tabu hinwegzusetzen. Mit anderen Worten: Dem weiblichen Alkoholismus liegt ein besonders intensiver psy-

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chopathologischer Tatbestand zugrunde. Bedenken wir, daß das Trinken der Frau den Kern und das Zentrum der Familie bedroht, so wird klar, daß therapeutische Maßnahmen zur Bekämpfung der weiblichen Trunksucht heute eine absolute Notwendigkeit darstellen; sie sind natürlich zugleich ein Beitrag zur Selbstmordverhütung. Zwischen einer Zunahme des Alkoholmißbrauches und der Selbstmordquote bei der Frau in unserer Zeit bestehen aber auch noch andere Zusammenhänge: gehen sie doch beide vielfach auf die gleiche Wurzel zurück, nämlich auf immer häufiger auftretende neurotische Entgleisungen weiblicher Persönlichkeitsentwicklungen. Während die Frauenemanzipation — durchaus verständlich — gleiche Rechte für die Frau anstrebt, bemüht sich die erwähnte neurotische Persönlichkeitsentwicklung aus Ablehnung der weiblichen Rolle darum, in der psychischen Struktur dem Mann gleich zu sein, ein Verhalten, welches Alfred Adler mit Recht als „neurotischen männlichen Protest" bezeichnet hat. Wir entnehmen diesen Fakten, wie folgerichtig eine Angleichung der psychischen Struktur von vielen Frauen an die des Mannes auch zu einer Angleichung der weiblichen Selbstmordquote an die männliche führt. Vom Standpunkt der Selbstmordprophylaxe scheint es jedenfalls sehr wichtig, solche neurotischen weiblichen Fehlentwicklungen rechtzeitig zu entdecken. 5. Eine weitere Gruppe ernstlich selbstmordgefährdeter Personen stellen die chronisch unheilbar Kranken dar. Liest man aufmerksam die Zeitungsmeldungen, so müßte man sogar glauben, daß damit eines der Hauptmotive von Selbstmorden gegeben ist, heißt es doch immer wieder: „Beging Selbstmord wegen unheilbarer Krankheit". Solchen Behauptungen gegenüber muß man jedoch sehr vorsichtig sein. Oft genug handelt es sich nämlich gar nicht um tatsächlich gegebene unheilbare Krankheiten, sondern um phobische Syndrome (Angst vor bestimmten Krankheiten), die schließlich zu einer intensiven, unkorrigierbaren Überzeugung führen, an einer solchen Krankheit tatsächlich zu leiden. So ist ζ. B. immer wieder festgestellt worden, daß Selbstmordhandlungen bei einem eingebildeten Carcinom (Carcinophobie) fast so häufig sind wie bei einer tatsächlichen Krebserkrankung. Solche phobische Bilder kommen vor allem bei zwei psychischen Erkrankungen zustande, bei der Neurose und der Melancholie. Ein Kardinalsymptom jeder Neurose ist die aus dem Unbewußten aufsteigende Angst; der Mensch aber strebt danach, für diese Angst eine Erklärung zu finden, weil ihn jede Erklärung in gewissem Sinne entlastet; oft wird auf diese Weise in der Angst vor einer bestimmten Erkrankung die (Schein)-Begründung der Angst gesucht. Bei der Melancholie hingegen findet sich, wie wir früher gezeigt haben, der typische „absolute

Pessimismus": Dieses Gefühl, unterstützt von den ebenfalls früher beschriebenen quälenden körperlichen Symptomen, wird oft in die Überzeugung verwandelt, an einer unheilbaren Erkrankung, vor allem an Krebs, zu leiden. Vom Standpunkt der Selbstmordprophylaxe ist bei tatsächlich gegebenen schwerwiegenden Erkrankungen zuerst einmal jener Moment sehr bedeutungsvoll, in dem die Konfrontation mit der Diagnose stattfindet. Der plötzliche Einbruch der Erkrankung bzw. des Wissens um die Diagnose in ein bisher gesundes Leben ist sehr gefährlich. Erfahrungsgemäß besteht auch dann große Selbstmordgefahr, wenn die Diagnose zwar verheimlicht wird, gleichzeitig aber Maßnahmen angeordnet werden (wie ζ. B. bei Krebs, Operation oder Bestrahlung), die ziemlich deutlich auf die Art der Erkrankung hinweisen. Auch das lange Warten auf eine Spitalsaufnahme bei ungeklärter Diagnose ist oft problematisch; die Patienten werden dadurch in zwiespältige Auseinandersetzungen gestürzt, aus denen gelegentlich Selbstmord resultiert. Wenn einmal der primäre Schock überstanden ist und gewisse Abwehrmechanismen anlaufen, um sich mit der Tatsache der Erkrankung auseinanderzusetzen, ist die Selbstmordgefahr in der Regel fürs erste vermindert. Natürlich hängt alles davon ab, in welche Richtung diese Auseinandersetzung geht. An der Wiener psychiatrischen Klinik haben gerade in letzter Zeit intensive Untersuchungen über das Krankheitserlebnis stattgefunden; dabei konnte der Verfasser zusammen mit Cermak folgende grundsätzlichen Reaktionsformen im Krankheitserleben unterscheiden, die sich natürlich nicht nur auf unheilbare Erkrankungen beziehen: a) Angst vor der Krankheit. Hier handelt es sich um die bekannte hypochondrische Haltung, hinter der tiefenpsychologisch, unabhängig vom Lebensalter, eine unbewußte Todesangst verborgen ist. Die Angst vor der Krankheit wird natürlich oft auch das Erleben einer tatsächlichen Krankheit in die hypochondrische, übertreibende Richtung beeinflussen. Im übrigen hat Kauders mit Recht seinerzeit darauf hingewiesen, daß sich eine solche hypochondrische Einstellung gewöhnlich nur gegenüber leichteren Erkrankungen bemerkbar macht, während gerade der Hypochonder, wenn einmal lebensgefährliche Erkrankungen auftreten, eine eigenartige Blindheit, ein Nicht-ZurKenntnis-Nehmen-Wollen der Gefahr an den Tag legt, welches oft durch Unterlassung rechtzeitiger therapeutischer Maßnahmen wesentlichen Anteil am letalen Ausgang der Krankheit haben kann. b) Zerbrechen an der Krankheit. Wenn Menschen in einer Atmosphäre oder Situation innerer Hoffnungslosigkeit leben, kann es geschehen, daß sie sogar an relativ geringfügigen Erkrankungen innerlich scheitern.

Selbstmord c) Flucht in die Krankheit. Es gibt Menschen, die die Krankheit geradezu magnetisch anziehen, weil sie sie als ein Alibi in ihrem Lebensplan unbedingt benötigen. Sie brauchen die Krankheit als Ausrede, um ihr persönliches Versagen zu motivieren und zu entschuldigen; auch regressive Tendenzen (Rückschritt in kindliches Verhalten) werden dabei ausgelebt. d) Die „Ausgliederung" der Erkrankung. Sie bedeutet den Versuch, eine Krankheit nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen und so zu leben, als wäre man nicht krank. Schon bei oberflächlicher Betrachtung ist zu erkennen, daß es sich dabei um einen Verdrängungsversuch handelt, weil man den tatsächlichen Charakter der Krankheit nicht aushalten würde. e) Die „Eingliederung" der Krankheit. Darunter haben wir ein Verhalten zu verstehen, welches die Krankheit in ihrem gesamten Umfang und in allen ihren Konsequenzen wissend zur Kenntnis nimmt und bemüht ist, aus den Gegebenheiten das Bestmögliche zu machen. Es handelt sich dabei sicherlich um die reifste Form der Auseinandersetzung mit der Krankheit, und es ist klar, daß sie daher auch die seltenste ist. Was bedeuten nun diese verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit der Krankheit für die Selbstmordgefahr ? Drei von ihnen haben eine besondere Affinität zum Selbstmord: die Angst, das innere Zerbrechen und auch die Ausgliederung. Die Angst kann leicht zu einer Überwertung einzelner Krankheitssymptome (etwa von Schmerzen) und damit zum Gefühl der Verzweiflung führen. Besonders kritische Situationen können dabei entstehen, wenn eine Behandlung nicht den erhofften Erfolg bringt. Dies gilt besonders auch für die Spitalsentlassung: Untersuchungen haben ergeben, daß Selbstmorde unmittelbar nach Spitalsentlassung häufiger sind als allgemein angenommen. Oft hat die stationäre Therapie in der Vorstellungswelt des Patienten den Stellenwert einer besonderen Chance, mitunter auch den einer letzten Hoffnung; wird diese enttäuscht, kann Hoffnungslosigkeit und Selbstmord resultieren. Eine fürsorgerische Nachbetreuung der Spitalsentlassenen wird daher auch vom Standpunkt der Selbstmordprophylaxe zu einer Notwendigkeit. Das seelische Zerbrechen an der Krankheit führt entweder zum tödlichen Ausgang derselben infolge zusammenbrechender Widerstandskraft des Körpers oder aber zum Selbstmord—letzteres gewöhnlich über die Zwischenstation schwerer Depressionen. Die Gefahr des Zerbrechens ist besonders beim älteren Menschen gegeben, dem in der Regel die aktiven Abwehrmaßnahmen gegen die Erkrankung nicht mehr im gleichen Ausmaß zur Verfügung stehen wie dem jüngeren. So kommen denn bei den Erkrankungen des alten Menschen mehrere Faktoren zusammen, die den Selbstmord fördern: In diesem Lebensabschnitt

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neigen sehr viele Krankheiten dazu, in chronische Leiden überzugehen. Oft genug wird der alte Mensch von mehreren Leiden heimgesucht; hier ist leider häufig das Shakespearesche Zitat zutreffend, wonach die Leiden, wenn sie einmal auftreten, in Scharen kommen. Der alte Mensch hat aus seiner hypochondrischen Grundeinstellung die Tendenz, die Symptome noch hypochondrisch zu überwerten. Die positiv-aktiven Abwehrmaßnahmen werden sich im Alter rascher erschöpfen. Andererseits ist das Erhaltenbleiben eines Minimums an Aktivität Voraussetzung für die Durchführung jedes Selbstmordes. Es ist interessant, zu beobachten, daß in weit fortgeschrittenen Stadien unheilbarer Erkrankungen (ζ. B. Krebs) überraschend wenige Selbstmorde erfolgen. Man muß annehmen, daß zu diesem Zeitpunkt häufig bereits eine solche Destruktion der Persönlichkeit stattgefunden hat, daß von einer Auseinandersetzung mit der Erkrankung und einer aus ihr resultierenden Reaktion — wie sie die Durchführung eines Selbstmordes darstellt — nicht mehr die Rede ist. Auch der Versuch, die Krankheit „auszugliedern", ist schließlich in vielfacher Hinsicht gefährlicher als allgemein angenommen; dies gilt auch für die Gefahr des Selbstmordes. Wie schon betont, handelt es sich ja dabei im Grunde um einen Verdrängungsmechanismus. Kommt es dann zum plötzlichen Erkennen der wahren Lage — und dies kann auf den verschiedensten Wegen erfolgen—, steht man völlig unvorbereitet der Katastrophe gegenüber: Eine Reihe von Selbstmorden resultieren aus einer solchen Situation. Logisch ergibt sich die Feststellung, daß die früher beschriebene Eingliederung der Krankheit alles in allem die beste Gewähr gegen eine Selbstmordgefahr geben wird. An dieser Stelle ist es notwendig, auf jene Faktoren hinzuweisen, von denen die Art der Auseinandersetzung mit der Krankheit wesentlich abhängig erscheint. Es sind dies: a) die Art der Erkrankung: Vor allem ist hier die Frage wichtig, welche Funktionen durch die Störung bedroht sind und welchen Stellenwert dieselben für den Betroffenen haben; oder ob gar das Leben als solches in Gefahr gebracht ist; b) die psychische Struktur des Patienten: Es wirken Erbanlage, Familienmilieu und psychodynamische Entwicklung zusammen, um typische persönliche Verhaltensweisen (auch gegenüber Krankheiten) zu prägen; c) das Lebensalter: Wie oben betont, werden ζ. B. beim jüngeren Menschen aktive Formen der Auseinandersetzung mit der Krankheit überwiegen, während später passive bevorzugt erscheinen; d) die Lebenssituation, in der man von der Erkrankung überfallen wird; e) das Verhalten der Umgebung: Es ist ganz wesentlich, wie sich die Öffentlichkeit zu einer

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bestimmten Erkrankung einstellt, wie sie sie bewertet bzw. welche „Chancen" eine Erkrankung in der öffentlichen Meinung hat. Früher waren ζ. B. Selbstmorde, nachdem man die Diagnose „Lues" erfahren hatte, gar nicht so selten, was nicht nur mit den damaligen mangelhaften Behandlungsmöglichkeiten, sondern auch mit der Bemakelung verbunden war, die in dieser Krankheit lag. Heute hat sich die diesbezügliche Situation in beiden Punkten wesentlich gebessert. Gerade aus suicidprophylaktischen Gründen müßte in weiten Kreisen bekannt werden, daß zwei Fälle derselben Erkrankung nicht identisch sind, daß die Krankheitsbezeichnung ja nur ein diagnostischer zusammenfassender Begriff, daß aber der Verlauf von Person zu Person auch bei den sogenannten unheilbaren Erkrankungen ein sehr unterschiedlicher ist. In einer Zeit, die zu kollektivistischem Denken neigt, muß gezeigt werden, daß nicht zuletzt die Persönlichkeitsreaktion auf die Krankheit den Krankheitsverlauf wesentlich positiv oder negativ beeinflussen kann. Dies führt hinüber zu der Funktion des Arztes. Die „Eingliederung" der Krankheit durch den Patienten wird ganz wesentlich vom richtigen Verhalten des Arztes abhängig sein. Dazu gehört eine sachgemäße Information über das Wesen der Erkrankung und ihre Prognose, wobei Übertreibungen sowohl in der Richtung eines kritiklosen Optimismus als auch eines jede Hoffnung raubenden Pessimismus zu vermeiden sind; ferner, gestützt auf eine gute Arzt-Patienten-Beziehung, eine intensive Betreuung mit dem Ziele der Stärkung der Persönlichkeit, wobei Körper und Seele in gleicher Weise Berücksichtigung finden sollen. 6. Aus dem zweiten Abschnitt dieses Beitrages ist bereits bekannt, daß Selbstmordhandlungen beim alten Menschen relativ oft vorkommen und daß ein hoher Prozentsatz davon tödlich ausgeht. Spürt man jenen Faktoren nach, welche die Selbstmordgefahr im Alter bedingen, und die daher vom Standpunkt der Selbstmordprophylaxe vor allem zu bekämpfen sind, so stoßen wir auf das Zusammenwirken von Tatbeständen, die wir alle bereits kennengelernt haben. a) Die zunehmende Isolierung. Die Verarmung zwischenmenschlicher Kontakte beim alten Menschen ist hinreichend bekannt. Oft ist es nur mehr eine Beziehung, gewöhnlich die zum langjährigen Lebenskameraden, die den Betreffenden im wahrsten Sinn des Wortes am Leben erhält; geht auch diese verloren, scheint das Dasein jedes Wertes beraubt. Schließlich soll nicht vergessen werden, daß der alte Mensch (im Gegensatz zum jüngeren) kaum imstande ist, neue libidinöse Beziehungen anzuknüpfen, wodurch ihm natürlich auch der Ersatz einer verlorengegangenen Bindung durch eine andere sehr erschwert wird. Erschütternde Beispiele, wie weit die Isolierung des alten Men-

schen reichen kann, sind immer wieder den Polizeiberichten und Zeitungsmeldungen zu entnehmen: Gelegentlich werden, wenn, aus welchem Grunde auch immer, ihr Tod eintritt, die Leichen erst viele Tage später in der Wohnung entdeckt; ein Beweis dafür, daß sie von niemandem vermißt wurden. Will man den alten Menschen aus seiner Isoliertheit befreien, was vom Standpunkt der Selbstmordprophylaxe unbedingt notwendig ist, darf man angesichts seiner oben beschriebenen Eigenschaften nicht auf rasche Erfolge rechnen und muß viel Geduld haben, bis die dargebotene Hilfe auch wirklich akzeptiert wird. b) Verlust der sozialen Lebensposition und daraus resultierend erschüttertes Selbstwertgefühl. Der alte Mensch ist umsomehr selbstmordgefährdet, als er sich ausgestoßen, unnötig und überflüssig vorkommt. Wenn man das Verhalten vieler Menschen und oft auch der Allgemeinheit gegenüber Alten, ja sogar schon gegenüber Alternden beobachtet, muß man sich fragen, wie ernst eigentlich von der Gemeinschaft gewünscht wird, daß die alten Menschen wirklich am Leben bleiben. Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß in Gebieten, wo ihre Stellung viel anerkannter ist als etwa in Europa, nämlich ζ. B. in bestimmten Ländern des fernen Ostens, der Selbstmord alter Menschen eine ausgesprochene Seltenheit darstellt. Jedenfalls weisen diese Zusammenhänge erneut darauf hin, daß der soziologische und ethische Hintergrund einer Gemeinschaft die Frage des Selbstmordes und damit der Selbstmordprophylaxe ganz wesentlich beeinflußt. c) Körperliche Krankheiten. Schon früher wurde aufgezeigt, daß es vor allem das hypochondrische und depressive Verarbeiten von Erkrankungen, gewöhnlich von chronischen Leiden, ist, welches mit zum Selbstmord beiträgt. Daher geht es hier ganz besonders um eine gute ärztliche Betreuung. Wenn Menninger-Lerchenthal einmal geäußert hat, daß die Ordinationszimmer der praktischen Ärzte als Vorposten der Selbstmordprophylaxe aufzufassen seien, so gilt dies nicht zuletzt auch hinsichtlich der Selbstmordverhütung beim alternden und alten Menschen. Der Arzt muß einerseits versuchen, die bestehenden körperlichen Beschwerden zu mildern und dadurch eine Entlastung herbeizuführen; andererseits soll er die Chance des Kontaktes so weit als möglich nützen. Trotz der Reserviertheit, ja Verschlossenheit, die den alten Menschen in der Regel kennzeichnet, bleibt der Arzt als „Vaterfigur" auch in diesem Zeitabschnitt eine Vertrauensperson, der gegenüber man am ehesten aus sich herausgeht. Mitunter gewinnt man den Eindruck, daß der Arzt nicht so sehr wegen der Behandlung einer bestimmten Krankheit aufgesucht wird, sondern vor allem, um sich aussprechen zu können; in diesem Rahmen wird dann gerade ihm gegenüber auch die Selbstmordabsicht angedeutet. Will der Arzt

Selbstmord seiner selbstmordprophylaktischen Aufgabe beim alten Menschen (und auch sonst) gerecht werden, benötigt er daher auf alle Fälle Zeit, und gerade diese ist gegenwärtig bei der allgemeinen Überlastung der Ärzteschaft sehr schwer in genügendem Maße aufzubringen. Wegen der besonderen Wichtigkeit dieser Gruppe seien zusammenfassend noch einmal die Brennpunkte ihrer suicidprophylaktischen Problematik betont: Erhöhte Selbstmordgefahr ist beim alten Menschen gegeben: nach dem Verluste der nächsten Angehörigen — manchmal entsteht dadurch eine so intensive Tendenz, zu sterben, daß man mit Moss und Hamilton von einem regelrechten „Todestrend" sprechen kann; nach Verlust der geliebten Tätigkeit (Pensionierung), besonders bei Intellektuellen,ist diese Situation sehr gefährlich; nach Verlust der langjährigen Wohnung (auch bei drohendem Verlust — dort ist alles vertraut, die Wohnung wird mit dem Lebensraum gleichgesetzt, aus der Wohnung vertrieben, bedeutet aus der Welt gewiesen werden); bei zunehmenden Gefühl der Unerträglichkeit bestimmter körperlicher Leiden, besonders wenn sie wichtige Funktionen immer mehr behindern oder wenn sie mit starken Schmerzen verbunden sind; hier ist auch an hypochondrische und depressive Verarbeitungen zu denken; bei intensivem Gefühl des Nachlassens der geistigen Kräfte (vor allem in der arteriosklerotischen Demenz), bei Angst vor der Einweisung in die „Versorgungsheime" für alte Menschen. Diese haben oft den Stellenwert eines „Schreckgespenstes" und werden mit einem Status des Dahinvegetierens gleichgesetzt; hier sind Verbesserungsmaßnahmen, wie etwa die in den Vereinigten Staaten und auch in anderen Ländern errichteten „Alterssiedlungen", eine dringende Notwendigkeit. Man darf sich nicht damit begnügen, mehr Menschen als früher ein hohes Alter erreichen zu lassen, es muß vielmehr alles geschehen, um ihnen auch in diesem Lebensabschnitt ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen. So weist auch diese Gruppe, wie früher schon die Kriminellen, politisch Verfolgten, Flüchtlinge, Süchtigen und Kranken erneut auf die Wichtigkeit einer humanen Grundhaltung und auf die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzipes (Bereitschaft zur Beitragsleistung zum Wohle der Allgemeinheit) hin. Hört man nicht mitunter das Argument, daß „Menschen, die im Alter Selbstmord begehen, ohnehin nicht mehr lang zu leben gehabt hätten ?" Wenn man sich mit dem Altersselbstmord beschäftigt, so erkennt man, daß auch viele Fälle dieser Gruppe durchaus noch ein lebenswertes Leben, einen schönen Lebensabend vor sich hätten haben können. 7. Auch die nächste Gruppe ist sehr umfangreich — die Zahl derjenigen, die sich in einer Ehekrise befinden, ist ja leider in unserer Zeit Legion.

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Dabei darf die echte Ehekrise oder gar das Scheitern der Ehe nicht verwechselt werden mit Eheschwierigkeiten, wie sie wohl kaum einer Ehe erspart bleiben. Entscheidend ist immer, ob die Partner noch jenes Vertrauen zueinander haben, welches die Sicherheit gibt, daß die Ehe verschiedene Gefährdungen doch überstehen wird, oder ob Unsicherheit die Beziehung beherrscht; das ist natürlich nicht zuletzt auch abhängig von der persönlichen Struktur der Beteiligten. Durch Ehekrisen ist sicherlich die Frau mehr traumatisierbar als der Mann. Adler h a t zu Recht darauf hingewiesen, daß sich unsere Lebensgestaltung auf die beiden Säulen Liebe und Beruf stützt. Der Beruf spielt wohl für den Mann die entscheidende Rolle, die „Bühne" der Frau wird, trotz ihrer Emanzipation und der daraus resultierenden stärkeren Beteiligung am Arbeitsprozeß, dennoch vor allem der große Bereich des Gefühlslebens bleiben; dementsprechend wird sie auch von hier aus wesentlich leichter verwundbar sein. Das soll aber keineswegs bedeuten, daß nicht auch Männer das Scheitern ihrer Ehe als tiefes Trauma erleben und mit Selbstmord beantworten können. Von allen Aufnahmen wegen eines Selbstmordversuches in der psychiatrischen Klinik in Wien innerhalb eines Jahres stand nicht weniger als die Hälfte im Zusammenhang mit Eheschwierigkeiten, wobei das weibliche Geschlecht deutlich überwog. Die Eheproblematik spielt eine größere Rolle bei der Selbstmordhandlung der Frau als bei der des Mannes und eine größere Rolle beim Selbstmordversuch als beim Selbstmord. Auf Grund der zahlreichen berichteten Erfahrungen erscheint es berechtigt, bei Selbstmordhandlungen in Zusammenhang mit Ehekonflikten zwei Gruppen zu unterscheiden: solche, die mit der Intention unternommen werden, eine gefährdete Ehebeziehung wieder zu bessern, solche, die in einem Zeitpunkt gesetzt werden, wo jede Hoffnung auf das Behaltenkönnen, den weiteren Besitz des Partners verloren gegangen ist (etwa nach Scheidung). Diese zwei Gruppen haben viel Ähnlichkeit mit jener Unterscheidung, die Hendin prinzipiell bei Suicidanten vornimmt, wenn er zwischen solchen, die Liebe erzwingen wollen, und anderen, die um Verlust des Liebesobjektes trauern, differenziert. Es entspricht weitgehend dieser unterschiedlichen Grundsituation, wenn es bei der ersten Gruppe gewöhnlich beim Selbstmordversuch bleibt (hier überwiegt die aktive, auf Änderung der Lage bedachte Komponente), während die Selbstmordhandlungen der zweiten überwiegend tödlich enden (weil die aufgebende, resignierende Komponente dominiert). Die vorhin erwähnte Tatsache des häufigeren Vorkommens von Selbstmordversuchen im Zusammenhang mit Ehekonflikten weist darauf hin, daß die erste Gruppe stärker ist; deswegen sollte aber die zweite Gruppe auch rein zahlenmäßig nicht unterschätzt werden; immer

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wieder resultieren aus dem Scheitern von E h e n (auch bei Männern) verhängnisvolle Selbstmordhandlungen, und gerade hier gewinnt m a n oft den Eindruck, d a ß durch rechtzeitiges fachgerechtes Eingreifen das Ärgste durchaus zu verhindern gewesen wäre. Die Selbstmordversuche der ersten Gruppe weisen die typischen Kriterien des „Hilfeschreies" im Sinne von Shneidman u n d Farberow auf. Es wurde bereits mehrfach betont, daß dieser Hilfeschrei im ersten Moment gewöhnlich erfolgreich zu sein scheint, später aber der Rückfall in die alte Situation droht, weswegen intensive Nachbet r e u u n g notwendig ist. Nicht u n e r w ä h n t darf in diesem Zusammenhang bleiben, daß bei Bestehen der hinlänglich b e k a n n t e n Dreiecksituation oft auch von der dritten Person solche Selbstmordversuche unternommen werden, u m einen der E h e p a r t n e r endlich zur Liquidierung seiner Ehe zu bewegen; mitunter entstehen dann trauriggroteske Verhaltensweisen in dem Sinne, daß ζ. B. Gattin u n d Geliebte sich im K a m p f e u m den Mann gleichsam in Suicidtendenz überbieten. Was die zweite Gruppe betrifft, haben wir schon f r ü h e r auf die Verhaltensweise des alten Menschen hingewiesen, der oft nicht imstande zu sein scheint, den Tod des Lebensgefährten zu überstehen. Es ist interessant, zu sehen, daß jüngere Menschen oft die B e h a u p t u n g aufstellen, sie k ö n n t e n den Partner eher an den Tod als an das Leben verlieren. Allein diese Argumentation beweist die Fragwürdigkeit jener Gefühle, die einem solchen Verhalten zugrundeliegen. Wie auch bei anderen Gelegenheiten ist es hier erneut die undankbare Pflicht des Tiefenpsychologen, neurotische „Lebenslügen" zu entlarven. Zuerst einmal m u ß berücksichtigt werden, d a ß oft gerade in jenem Moment, wo ein P a r t n e r verlorenzugehen droht, das vorgenommen wird, was de Greef sehr zu Recht einen „Revalorisationsprozeß" genannt h a t . J a h r e l a n g wurde dem P a r t n e r nicht die gebührende Beachtung geschenkt u n d in keiner Weise das Maß an Zuwendung u n d Verständigungsbereitschaft aufgebracht, welches zu jener äußerst schwierigen Form des menschlichen Zusammenlebens, die wir Ehe nennen, unbedingt notwendig erscheint. Bemühungen schienen unnötig, weil m a n den Partner ja „sowieso besaß", seiner sicher w a r ; in jenem Moment aber, wo sein Verlust droht, erfolgt nun, wohl in einer Überkompensation des bis dahin Versäumten, seine Überwertung, und damit zugleich entsteht das Gefühl des Nichtaushaltenkönnens seines Verlustes; so entwickelt sich eine neurotische „Conditio sine qua n o n " , wie es F r a n k l zu Recht gen a n n t h a t , die sich in der H a l t u n g a u s d r ü c k t : Wenn ich nicht mit diesem Menschen leben darf, dann k a n n u n d will ich ü b e r h a u p t nicht leben. In vielen Fällen h a t dabei die bereits erwähnte psychoanalytische Theorie, wonach jeder Selbst-

mord im Grunde ein verhinderter Mord sei, ihre Berechtigung. Es läßt sich unschwer erkennen, daß dem verlorenen E h e p a r t n e r oder auch dem Konkurrenten oder der Konkurrentin „im G r u n d e " der Tod gewünscht wird, d a ß diese aggressive Tendenz aber wiederum b e w u ß t in den pseudoaltruistischen Akt verwandelt wird, sich selbst aus dem Wege zu räumen, „ u m dem Glücke des Partners nicht im Wege zu stehen". Unbewußt steht hinter einer solchen Verhaltensweise n a t ü r lich der Wunsch, das Leben des „treulosen" Partners f ü r alle Zeiten durch die Erinnerung an den seinetwegen erfolgten Selbstmord zu verdüstern, ja zu zerstören. Daneben spielen bei den neurotisch reagierenden Patienten natürlich auch späte Schuldgefühle, zum Selbstmord als Selbstbestrafung drängend, eine bedeutsame Rolle. Alle diese Fälle weisen mit Nachdruck darauf hin, wie nötig es erscheint, zwischen echter Liebe, die so weit als möglich egozentrische Tendenzen überwindet, u n d neurotischer oder psychopathischer „Liebe" zu unterscheiden, deren Affinität zur Zerstörung u n d damit auch Selbstzerstörung eine auffällig große ist. Besonders deutlich t r i t t diese in den Doppelselbstmorden zutage, deren Problematik Ghysbrecht eine ausgezeichnete Studie gewidmet hat, damit gleichzeitig wertvolle Hinweise gebend auf die Bedeutung des Problems der Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern f ü r den Suicid. Es liegt dem Verfasser ferne, die Fülle menschlicher E m p f i n d u n g e n beim Scheitern einer Ehe und die daraus resultierenden möglichen Verhaltensarten mit diesen Hinweisen einzuengen oder in ein starres Schema zu pressen. Wer in seiner Ehe Schiffbruch erleidet, ist in der Regel auf alle Fälle psychisch schwer traumatisiert, mag er es n u n als Verlust, als „ S c h a n d e " oder selbst als scheinbare Erleichterung empfinden (-»• Ehe und Familie). Echte andauernde Partnerschaft zwischen Mann u n d F r a u (diese Ausführungen gelten ja auch f ü r alle eheähnlichen Beziehungen) ist ein Grundpfeiler seelisch gesunder Entwicklung, ihr Scheitern wird daher eine Fülle von „ E n t gleisungen" heraufbeschwören, von denen tiefe Depression und Suicid als die a m meisten ins Auge springenden natürlich auf den verschiedensten Wegen Zustandekommen können. D a m i t ist erneut der Beweis d a f ü r erbracht, daß Eheberatung, Hilfe in schweren Ehekrisen, wie sie ζ. B. von vielen Eheberatungsstellen durchgeführt wird, zugleich auch Selbstmordprophylaxe beininhaltet. Thomas, einer der hervorragendsten Pioniere der Selbstmordverhütung, h a t diesem Zusammenhang in Theorie u n d Praxis besondere Beachtung geschenkt. 8. Die nächste Gruppe u m f a ß t diejenigen, welche u n t e r schwerem sozialen Druck stehen. Hier finden wir merkwürdige Verhältnisse: Prinzipiell m u ß man jeden Menschen, der in einer solchen

Selbstmord Situation ist, für selbstmordgefährdet halten — wird doch durch Armut eine hochgradige Einengung der persönlichen Möglichkeiten erzeugt; andererseits aber begehen in Relation zu der Vielzahl derjenigen, die auch heute noch in der ganzen Welt unter menschenunwürdigen Umständen leben müssen (es wäre naiv, zu glauben, die sozialen Probleme seien bereits überall gelöst, wie dies manche,.Fortschrittsgläubige" tun),verhältnismäßig wenige Selbstmord. Indien ζ. B. hat, soweit man es überblicken kann, eine hohe Selbstmordrate. Wer aber glaubt, daß sich diese Selbstmorde aus jenen unübersehbaren Massen rekrutieren, die dort Tag für Tag ihrem Hungertod entgegengehen, der würde sich täuschen. Auch in diesem Lande sind es mehr innerseelische Probleme, die den Menschen zum Selbstmord bringen, und damit ist wieder einmal der Primat der Persönlichkeit im Zusammenhang mit dem Selbstmordproblem aufgezeigt. Was die soziale Not betrifft, so gilt für sie dasselbe wie für jede andere Notsituation: Es muß immer geprüft werden, wieso ein Mensch in diese Lage gekommen ist; wirksame Hilfsmaßnahmen werden ohne Berücksichtigung der Persönlichkeit und ihrer Verhaltensweisen nicht möglich sein. Immerhin kann aber über das Individuelle hinaus jede Maßnahme zur sozialen Besserstellung auch der Beseitigung eines gewissen „suicidalen Klimas" dienen. Daß die materielle Besserstellung allein aber nicht ausreicht, wurde bereits im ersten Abschnitt (Zunahme der Selbstmorde im Wohlstand) betont. Was Europa und die Vereinigten Staaten betrifft, sei besonders auf jene Gruppe von Menschen hingewiesen, die plötzlich einen finanziellen Zusammenbruch erleben und damit aus der Sicherheit in die Unsicherheit gestoßen werden, eine Umstellung, auf die sie öfters mit einer momenthaften Panik und Suiciden reagieren. 9. Drei kleinere, aber nicht weniger wichtige Gruppen sollen den Abschluß dieser Liste bilden, die ja keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und in mancher Richtung ergänzt werden kann. Es sei hier zuerst einmal an jene Menschen erinnert, die vom Land in die Stadt ziehen und dort nicht richtig Fuß zu fassen vermögen. Heute läßt sich in weiten Bereichen der Welt eine Tendenz zur Landflucht feststellen; viele von denen aber, die ihr Glück in der Stadt suchen, finden es nicht und kommen über ein isoliertes, in der Menschenmenge anonym bleibendes Dasein nicht hinaus; es summieren sich also wieder einmal eine Reihe von Faktoren, die wir als zum Selbstmord treibend kennengelemt haben; eine deutliche Parallele zur bereits beschriebenen Flüchtlingsproblematik ist gegeben. Untersuchungen zeigen immer wieder den relativ hohen Anteil von Landflüchtigen bei Selbstmorden in großen Städten. In den Vereinigten Staaten, die sich durch eine große Unter-

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schiedlichkeit der Selbstmordquote von Region zu Region auszeichnen, haben jene Städte die höchste Selbstmordrate, in denen sich am meisten Einwanderer finden (ζ. B. San Francisco). 10. Überall dort, wo ein Selbstmord erfolgt ist, muß bedacht werden, daß dieser von weiteren Selbstmordhandlungen gefolgt sein kann. Dafür ist das Zusammenwirken zweier Faktoren maßgeblich: An erster Stelle muß das Schuldgefühl erwähnt werden, welches viele Angehörige nach dem erfolgten Selbstmord infolge ungenügender Wachsamkeit überfällt; daraus resultieren Selbstbestrafungstendenzen, wobei die Art der Selbstbestrafung nicht zuletzt dadurch bestimmt wird, daß man ja das Selbstmordbeispiel eindringlich vor Augen hat. Damit kommen wir zum zweiten Faktor: Es wurde schon im zweiten Abschnitt dieses Beitrages erwähnt, daß der Selbstmord auf dafür anfällige Personen suggestiv, zur Nachahmung drängend, wirken kann. Ist aber der Selbstmord eines nahen Angehörigen erfolgt, so besteht Gefahr, daß eine solche Anfälligkeit (eben infolge der Schuldgefühle) gegeben ist. Ebenfalls gefährlich ist die Situation überall dort, wo eine Konzentration psychisch abnormer Persönlichkeiten besteht, wie ζ. B. in Gefängnissen, Heimen für Schwererziehbare und dgl.: Hier wird man, wenn einmal eine Selbstmordhandlung erfolgt ist, sogar mit kleinen „Selbstmordepidemien" rechnen müssen. Aus all dem ergibt sich jedenfalls für die Selbstmordprophylaxe die Verpflichtung, überall dort betreuend einzugreifen, wo ein Selbstmord stattgefunden hat. Künftige Untersuchungen werden vielleicht aufdecken, welch eigenartige Wege das Phänomen der Selbstmordübertragung von Mensch zu Mensch zu nehmen vermag; es ereignet sich jedenfalls kaum ein Fall von Selbstmord, bei dessen Zustandekommen nicht auf irgendeine Weise ein „Selbstmordvorbild" eine gewisse Rolle spielt. Wenn das Pathologische auf diese Weise in der Sozietät Einfluß hat, muß man fragen, ob sich auch die gesunden Kräfte der Selbstbehauptung in größerem Rahmen durchsetzen könnten ? Dies ist vor allem abhängig von der richtigen Information weiter Kreise der Bevölkerung über das Problem des Selbstmordes und der Selbstmordverhütung: Diese Information müßte in die Richtung jener Einstellung gehen, die wir im ersten Abschnitt dieses Beitrages als „sachliche" bezeichnet haben. Dabei kommt der Presse eine entscheidende Bedeutung zu; die sensationelle Aufmachung von Selbstmorden ist jedenfalls genauso falsch (Gefahr der Nachahmung) wie das völlige Schweigen über das Selbstmordproblem (durch welches das bereits erwähnte über dem Selbstmord vielfach noch lastende „Tabu" nur intensiviert werden kann). 11. Als eine Gruppe, die sich erst in letzter Zeit konstitutiert hat, seien jene Menschen erwähnt,

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Selbstmord

die in einen Autounfall verwickeil werden (-> Verkehrsdelikte). Relativ häufig entnimmt man den Polizeiberichten, daß, vor allem knapp nach einem solchen Unfall, offenbar in einer Art Panikreaktion, Selbstmordhandlungen, gewöhnlich schwerwiegender Art, begangen werden. Hohe Gefahr ist vor allem gegeben, wenn sich jemand nach dem Unfall absondert und damit die Bedingungen isolierter Einengung (keine Möglichkeit, das Vorgefallene zu diskutieren und eine eventuelle Fehleinschätzung zu korrigieren) heraufbeschwört. Es ist sehr interessant, zu sehen, daß solche Handlungen durchaus auch vorkommen, wenn nur geringer Schaden entstanden ist (ζ. B. nur Blechschaden und keine Personenverletzung), und selbst auch dann, wenn den Betreffenden an dem Unfall keine Schuld trifft. Hier ist wiederum eine Gruppe angeführt, bei deren Betreuung der Polizei — wie schon bei manchen anderen vorher erwähnten — eine besondere Rolle zufällt. Diese Gruppe' wurde im übrigen mit Absicht an den Schluß gesetzt; ist sie doch das klassische Beispiel einer sich jetzt neu eröffnenden Selbstmordgefahr. Mit der Kristallisation vieler anderer Gruppen in der Zukunft muß gerechnet werden, und es erscheint im Sinne der Selbstmordprophylaxe sehr wesentlich, daß epidemiologische Untersuchungen und wachsame Beobachtungen ihre Entstehung rechtzeitig bemerken. d) Es gibt Menschen, die sich hinsichtlich einer bestehenden Selbstmordgefahr durch die schwierige Situation verraten, in der sie sich befinden. Diese Gruppe ist gleichsam die Übersetzung von Punkt c. ins Privat-Individuelle. Dort wurden die Resultate epidemiologischer Untersuchungen berichtet, freilich zusätzlich darauf aufmerksam gemacht, daß damit noch nichts über eine tatsächliche Selbstmordgefährdung eines bestimmten Einzelindividuums ausgesagt ist. Auf weite Strecken dürften sich aber selbstmordgefährliche persönliche Situationen mit jenen Gruppen decken, die durch die Epidemiologie als besonders selbstmordgefährdet ausgewiesen wurden. Überflüssig zu betonen, daß sich natürlich darüber hinaus im Leben jedes einzelnen Menschen Außergewöhnliches, Nicht-Vorhersehbares, eine Kumulierung schwerwiegender traumatisierender Faktoren ereignen kann, die sich jeder vorherigen Berechenbarkeit entzieht. Es ergibt sich, daß diese Gruppe weitgehend der Wachsamkeit der Mitmenschen, besonders der nächsten Angehörigen, anvertraut erscheint; wir wissen aber, wie schon im ersten Abschnitt dieses Beitrages betont, daß wir in einer Zeit leben, die durch Erkrankung bzw. Schädigung der mitmenschlichen Beziehungen, ja durch Fehlen der Bereitschaft, sich um den anderen wirklich zu kümmern, gekennzeichnet ist. Längst ist das Wissen darum, „daß der Tod jedes Mitmenschen unsere eigene Existenz vermindert, weil wir ja einbezogen sind in die Menschheit"

(um ein bekanntes englisches Dichterwort zu zitieren), verlorengegangen. Bei dieser Lage ist man umsomehr angewiesen auf die Beitragsleistung jener Berufsgruppen, die infolge ihrer spezifischen Berufsaufgaben besonders angehalten sind, mit Menschen in Kontakt zu treten, ihre Situation zu beobachten, ihre Äußerungen zu registrieren und sich um ihr persönliches Wohl zu kümmern. Wiederholt wurde in letzter Zeit festgestellt, daß es insbesondere vier Berufsgruppen sind, welche in obigem Sinne Gelegenheit haben, auf situativ selbstmordgefährdete Personen aufmerksam zu werden, nämlich: Ärzte, Lehrer, Angehörige der Polizei und Seelsorger. Wenn man noch einmal die unter c. als gefährdet herausgearbeiteten Gruppen durchgeht, wird man immer wieder auf Vertreter dieser Berufe als sich besonders anbietende Kontaktpersonen stoßen. Die spezifischen Verpflichtungen der Polizei wurden bereits mehrfach erwähnt. Auch die Möglichkeit des Seelsorgers im Rahmen einer „Personalen Seelsorge", d. h. eines besonderen Eingehens auf den einzelnen Menschen, sind bereits erörtert worden, unter gleichzeitigem Hinweis auf seine Grenzen bei der Bekämpfung der Selbstmordgefahr: Diese sind dort gegeben, wo der Boden normalpsychologischen Geschehens verlassenwird und psychopathologische Verhaltensweisen die Selbstmordtendenz bestimmen. Deren erfolgreiche Behandlung ist ausschließlich ärztliche Angelegenheit, insbesondere fachpsychiatrische bzw. psychotherapeutische. Jedem Arzt (nicht nur dem Psychiater) kommen aber im Zusammenhang mit der Selbstmordverhütung entscheidende Verpflichtungen zu, so daß der in Amerika geprägte Ausspruch, „die Ordination jedes Doktors müsse ein Selbstmordverhütungszentrum sein", volle Berechtigung besitzt. Unter den zahlreichen ärztlichen Aufgaben in diesem Zusammenhang seien noch einmal die folgenden 6 besonders betont: rechtzeitige Erkennung der Melancholie, Beachtung jener Neuroseform, die zum Suicid hinführt (siehe den zweiten Abschnitt), besondere Beobachtung der psychischen Begleiterscheinungen körperlicher Erkrankungen (im Zeitalter der „Ganzheitsmedizin" sollte immer die Gesamtpersönlichkeit, also Soma und Psyche, Berücksichtigung finden), Unterstützung der rechtzeitigen fachgerechten Behandlung von Trunksüchtigen, Verbesserung der ärztlichen und psychohygienischen Betreuung alter Menschen, Erschwerung des Zuganges zu Mitteln, welche für den Selbstmord benützt werden können. Niemand wird sich einbilden, es könnten alle Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, jemals eliminiert werden; aber andererseits ist es vielleicht gerade dann, wenn die Selbstmordtendenz plötzlich zum Durchbruch kommt, nicht gleichgültig, ob bestimmte („bequeme") Selbstmord-

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Selbstmord mittel leicht zu erhalten sind oder nicht. Viele Menschen scheuen ζ. B. davor zurück, von einem hohen Haus zu springen (und dergleichen), während sie nicht zögern, bereitgestellte Pillen zu nehmen bzw. den Gashahn zu öffnen. Daher ist es sicher auch eine Unterstützung suicidprophylaktischer Maßnahmen, wenn — wie es bereits in einigen Städten geschehen ist — das Leuchtgas entgiftet wird und der Zugang, insbesondere zu Schlafmitteln und zu Psychopharmaka (letztere werden immer häufiger für Selbstmordhandlungen mißbraucht) erschwert wird. Diese Medikamente dürften nur mit ausdrücklicher ärztlicher Verschreibung in Apotheken abgegeben werden, und die Ärzte selbst müßten bei der Indikationsstellung für eine solche Medikation viel rigoroser vorgehen als bisher. Vielleicht noch nicht genügend erwähnt wurde bisher die große Bedeutung auch des Lehrers für die Selbstmordverhütung. Man muß immer wieder daran erinnern, daß es neben der Vermittlung des entsprechenden Wissensgutes die vornehmlichste Aufgabe des Lehrers ist, an einer gesunden psychischen Entwicklung der heranreifenden Menschen mitzuwirken. Der ist ein guter Lehrer, der nicht nur weiß, was sein Schüler kann, sondern in etwa auch ahnt, was (ζ. B. bei Erhalt eines schlechten Zeugnisses) in seiner Seele vorgeht. Besonders die bekannte Pubertätskrise kann sich in einem solchen Maße verdichten, daß für den Betroffenen der Sinn des Lebens und der weiteren Persönlichkeitsentwicklung in Frage gestellt erscheint. Bestimmte Zeitumstände, wie etwa die gelegentliche offizielle Repräsentation einer intoleranten, die Schwierigkeiten des Jugendlichen nicht verstehenwollenden Moral durch die Generation der Erwachsenen, oder auf der anderen Seite die Reizüberflutung vor allem mit sexuellen Inhalten aus eindeutig gewinnsüchtigen Motiven, tragen leider dazu bei, diese Krise zu verschärfen, was umsomehr ins Gewicht fällt, als das Phänomen der Dissoziation, d. h. der frühzeitige Eintritt der körperlichen Reife bei gleichzeitig verzögerter psychischer Entwicklung, den Jugendlichen besonders anfällig macht. Neben diesen an und für sich normalen Pubertätskrisen spielen schwere neurotische Entwicklungen gerade um diese Zeit eine beachtliche Rolle hinsichtlich auftretender Selbstmordgefahr; es wurde bereits im zweiten Abschnitt betont, daß, je stärker die Traumatisierung in der Kindheit ist, desto früher die Selbstmordtendenz sich bemerkbar machen kann. Außer Zweifel ist hier dem Lehrer, der sich um echte Einfühlung in seinen Schüler bemüht, eine entscheidende Rolle im Dienste der Selbstmordprophylaxe zugewiesen. Seine Chancen sind umso größer, als es wohl kaum einen solchen Fall gibt, der sich nicht durch irgendwelche eigenartige Nuancen seines Verhaltens in gewissem Sinne auffällig macht.

Wenn hier vor allem die Berufe erwähnt worden sind, die besondere Gelegenheit haben, auf selbstmordgefährdete Menschen aufmerksam zu werden, so soll dies natürlich keineswegs bedeuten, daß andere Professionen nicht ebenfalls entscheidende suicidprophylaktische Möglichkeiten besitzen. Jeder, dem andere Menschen in irgendeiner Weise anvertraut sind, hat hier seine Aufgabe und trägt Verantwortung, der er sich im moralischen Sinne nicht entziehen kann. e) Wir kommen schließlich abschließend zu jener Gruppe, die auf Grund ihrer seelischen Struktur für den Selbstmord besonders anfällig ist. Ihre Entdeckung wird vor allem ärztliche, insbesondere psychiatrische Aufgabe sein (und damit wesentlich abhängig davon bleiben, ob ein Kontakt mit dem Arzt bzw. dem Psychiater stattfindet); wie schon mehrmals betont, steht es dem Laien nicht zu, ein diesbezügliches Urteil zu fällen. Leider ist es ja — dies muß immer wieder einem weit verbreiteten Vorurteil entgegengehalten werden —• keineswegs so, daß bei jedem selbstmordgefährdeten Menschen ein depressives Verhalten so dominiert, daß es nach außen hin auf alle Fälle leicht zu erkennen ist. Natürlich geht ein hoher Prozentsatz von Selbstmordhandlungen aus einer depressiven Stimmung hervor, bei anderen aber wieder ist weder verhaltensmäßig noch psychiatrisch-diagnostisch eine Depression gegeben, ihre Einengung manifestiert sich in anderen Symptomen, die sicherlich vom Nicht-Fachmann noch schwerer zu entdecken sind. Umsomehr müssen alle Hilfsmaßnahmen ausgeschöpft werden, um die psychische Struktur des selbstmordgefährdeten Menschen noch besser als bisher zu ergründen und damit objektive Hinweise auf das Ausmaß bestehender Selbstmordgefahr herauszuarbeiten. Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrages, auf die damit aufgeworfene fachpsychiatrische Problematik näher einzugehen. Es darf aber vielleicht gesagt werden, daß wir heute zumindest drei wesentliche Hinweise für die Bestimmung der Intensität bestehender Selbstmordgefahr besitzen. Fürs erste handelt es sich dabei um das bereits im zweiten Abschnitt eingehend beschriebene, vom Verfasser erarbeitete, praesuicidale Syndrom,·, fürs zweite sei eine Tabelle rekapituliert, die Kielholz in Zusammenarbeit mit Stengel, Im Obersteg und dem Verfasser zur besseren Beurteilung der Suicidalität verfertigt hat. I. Besondere Selbstmordhinweise: 1. Vorkommen von Suiciden in der Familie oder näheren Umgebung, 2. frühere Suicidversuche, direkte oder i n direkte Suiciddrohungen, 3. Äußerung konkreter Vorstellungen über die Art der Durchführung und Vorbereitungshandlungen zu einem Suicid oder aber auch „unheimliche Ruhe",

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Selbstmord 4. Selbstvernichtungs-, Sturz- und Katastrophenträume.

II. Besondere Selbstmordgefahr vom Krankheitsgepräge her: 1. Beginn oder Abklingen depressiver Phasen, 2. ängstlich agitiertes Gepräge, Affekt- und Aggressionsstauungen, 3. schwere Schuld- und Insuffizienzgefühle (Selbstvorwürfe), 4. biologische Krisenzeiten (Pubertät, Gravidität, Puerperium, Klimakterium, Involution), 5. langdauernde Schlafstörungen, 6. unheilbare Krankheiten oder Einbildung, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden (Krankheitswahn), 7. Alkoholismus und andere Formen der Süchtigkeit. III. Besondere Selbstmordhinweise durch gestörte Umweltbeziehungen: 1. Zerrüttete Familienverhältnisse während der Kindheit, 2. Verlust oder primäres Fehlen mitmenschlicher Kontakte (Liebesenttäuschung, Vereinsamung, Ausgestoßensein), 3. Verlust der Arbeit, Fehlen eines Aufgabenkreises, schwere finanzielle Sorgen, 4. Fehlen religiöser Bindungen. Fürs dritte hat Pöldinger in letzter Zeit eine Risikoliste, bei welcher die gegenseitige Beeinflussung von 35 zum Suicid disponierenden Einzelmerkmalen berücksichtigt wird, zusammengestellt. Dadurch hat jeder Arzt eine weitere Möglichkeit, das gegebene Suicidrisiko, natürlich im Rahmen der Gesamtsituation, rasch abzuschätzen. Wir wollen uns hier mit diesen Hinweisen begnügen; in Zukunft wird man sicher die psychopathologischen Zusammenhänge noch besser kennen. Zweifelsfrei wird aber dem forschenden menschlichen Geist diesbezüglich immer eine Grenze gesetzt bleiben, das Phänomen des Selbstmordes wird sich immer wieder ereignen und neue Rätsel aufgeben. — Ein Punkt aber darf selbst in dieser Situation nicht verschwiegen werden. Wenn der Psychiater ernste Selbstmordgefahr diagnostiziert hat und nach gewissenhafter Prüfung zu dem Schluß kommt, daß eine ambulante Behandlung ein zu großes Risiko mit sich bringt und nur unter den Bedingungen einer stationären Aufnahme in geschlossener Anstalt die Selbstmordgefahr gebannt werden kann, dann müßte ihm auch die Möglichkeit gegeben sein, eine solche Einweisung zur stationären Behandlung zu realisieren. Selbstverständlich ist es (wie schon früher erwähnt) das beste, ein solches Vorgehen in Übereinstimmung mit dem Patienten durchzuführen. Manchen suicidalen Kranken fehlt aber infolge

ihrer psychischen Störung die Krankheitseinsicht, und sie setzen daher einer stationären Behandlung größten Widerstand entgegen. In dieser Situation besteht in bestimmten Ländern die Möglichkeit, wegen gegebener Selbstgefährlichkeit eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt durch einen offiziellen Vertreter der Gesundheitsbehörde (Amtsarzt) zwangsweise durchzuführen. In diesen Ländern hat sich der Gedanke durchgesetzt, daß man den Menschen, wenn es absolut nötig ist, auch vor sich selber beschützen muß und die vorübergehende Einschränkung seiner Rechte hier nur dem Ziele dient, ihn über eine lebensbedrohliche Krise hinwegzubringen, ein Vorgehen, für das er in der Regel nach Abklingen der psychischen Erkrankungen durchaus Verständnis aufbringt. In anderen Ländern hinwiederum sind die Ärzte und insbesondere die Psychiater gezwungen, ohnmächtig einer drohenden Selbstvernichtung zuzusehen, weil ihnen das Gesetz diesbezüglich keine Möglichkeiten eröffnet. Es versteht sich von selbst, daß es eine wesentliche Aufgabe verbesserter Selbstmordprophylaxe in der Zukunft sein muß, eine solche Situation zu ändern. 4.

Schlußbetraehlung

Wir sind am Schluß angelangt und hoffen, gezeigt zu haben, daß erfolgreiche Selbstmordverhütung möglich ist, weil die Gefährdeten rechtzeitig entdeckt werden könnten und weil ihnen auch wirksam geholfen werden kann, vorausgesetzt, daß eine intensive antisuicidale Aktivität aufgebaut wird. Der diesbezügliche Weg führt vom Zentralpunkt, also jenen Institutionen, die ausschließlich im Dienste der Selbstmordverhütung stehen (Suicid-Prevention-Center, Entgiftungsstationen), über jene, die partiell damit zu tun haben (Psychiatrische Kliniken, Telefondienste, Beratungsstellen, Fürsorgeeinrichtungen), in immer weiteren Kreisen zu bestimmten besonders zur Selbstmordprophylaxe prädestinierten Berufsgruppen und erfaßt schließlich über die Beitragsleistung jedes einzelnen Menschen, der sich für seine Mitmenschen verantwortlich fühlt, die Allgemeinheit, welche aufgerufen ist, die Vorurteile, die hinsichtlich des Selbstmordes und der Selbstmordverhütung bestehen, zu beseitigen und damit einen Beitrag zu leisten zur Errichtung eines antisuicidalen Klimas. Viele Veröffentlichungen aus der ganzen Welt beweisen, daß durch Zusammenarbeit aller Beteiligten die Selbstmordquote entscheidend gesenkt werden kann (siehe z.B. die Veröffentlichung des Verfassers „Der gegenwärtige Stand der Selbstmordprophylaxe in Wien" im „Nervenarzt"; dort sind auch insbesondere die Erfolge der Nachbetreuung der Fälle von Selbstmordversuchen erwähnt). Besonders ermutigend ist in letzter Zeit die Gründung (1961) und der überraschend erfolgreiche Ausbau

Sexualdelikte der „Internationalen Vereinigung für Selbstmordverhütung" gewesen; durch sie ist nicht nur der Erfahrungsaustausch von Land zu Land garantiert, sondern damit ist nun endlich auch die gemeinsame Plattform gefunden, um dem weltweiten Problem des Selbstmordes auf weltweiter Basis zu begegnen und überall die Impulse der Suicidverhütung mit Unterstützung offizieller Stellen entsprechend zu stimulieren. Für die nächste Zeit werden die Schlagworte der Selbstmordprophylaxe bleiben: verbesserte Forschung, verbessertes Wissen, verstärkte praktische Arbeit, Verantwortungsbereitschaft, mitmenschliche Verbundenheit und Ermutigung. Die Selbstmordprophylaxe muß als wesentlicher Bestandteil der psychohygienischen Bemühungen bezeichnet werden. Mit Recht wurde gesagt, daß die Höhe der Selbstmordquote einen wesentlichen Hinweis auf die in einem Land bestehende psychohygienische Situation gebe. Wenn dieser Satz richtig ist, darf noch eine Schlußfolgerung von ihm abgeleitet werden, nämlich, daß dann auch der Grad psychohygienischer Bemühungen in einem Land danach bestimmt werden kann, in welchem Ausmaß dort etwas zur Verhütung des Selbstmordes geschieht. Monographien A. A d l e r : Praxis und Theorie der Indivldualpsychologle. 1920. M. A n d i c s : Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens. 1938. F. D u b i t s c h e r : Suicid. 1957. 1 . J . D u b l i n : Suicide, a sociological and statistical study. 1963. Ε. H. E r i k s o n : Identität und Lebenszyklus. 1966. Ν. F a r b e r o w und Β. S h n e i d m a n : The cry for help. 1961. V. E. F r a n k l : Ein Psychologe erlebt das KZ. 1946. S. F r e u d : Gesammelte Schriften. 1924/25. R. G a u p p : Über den Selbstmord. Amsterdam 1929. P. G h y s b r e c h t : Betrachtungen über den Doppelselbstmord. Psychologische Beiträge. 1957. J . G o r d o n , J . I p s e n , E. L i n d e m a n n und W. V a u g h a n : An epidemiologic analysis of suicide. New York 1950. E . d e G r e e f : Liefde en liefdesdelicten. 1921. H . G r u h l e : Selbstmord. 1940. Η. H o f f : Lehrbuch der Psychiatrie. 1956. K. J a s p e r s : Allgemeine Psychopathologie. 1948. C. G. J u n g : Wirklichkeit der Seele. 1947. P. K i e l h o l z : Diagnose und Therapie der Depressionen für den Praktiker. 1967. K . M e n n i n g e r : Man against himself. 1938. Ε. M e n n i n g e r - L e r c h e n t h a l : Das europäische Selbstmordproblem. 1947. A. O h m : Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug. 1964. \V. P ö l d i n g e r : Abschätzung der Suicidalität. 1968. E. R i n g e l : Der Selbstmord. 1953. D e r s . : Neue Untersuchungen zum Selbstmordproblem 1961. D e r s . : Selbstmordverhiltung (im Erscheinen). P. S c h n e i d e r : La tentative de suicide. 1954. Η. S c h u l t z - H e n k e : Der gehemmte Mensch. 1940. F. S c h w a r z : Problem des Selbstmordes. 1946. R. S i e v e r t s : Die Wirkungen der Freiheitsstrafe und Untersuchungshaft auf die Psyche der Gefangenen. 1929. J . F. S t e i n e r : Treblinka. 1966. E. S t e n g e l : Suicide and attempted suicide. 1964. Κ. T h o m a s : Handbuch der Selbstmordverhütung. 1964. Ch. Z w i n g m a n n : Selbstvernichtung. 1965. 11

HdK, 2. Aufl., Bd. I I I

161

Zeitschriften- und

Sammelwerkautsätze

E. G a b r i e l : Über die Todesursache bei Alkoholikern. Zeitschrift f ü r Neurologie und Psychiatrie. 1935. H . H e n d i n : Suicide. Psych. Quart. 1956. H . H o f f : Selbstmordprophylaxe bei Häftlingen. Zeitschrift f ü r Präventivmedizin. 1965. H . J a n t z : Schizophrenie u n d Selbstmord. Nervenarzt. 1951. O. K a u d e r s : Der Todesgedanke in der Neurose u n d in der Psychose. Nervenarzt. 1934. P. K i e l h o l z : Suicidprophylaxe durch Depressionsbehandlung. „Das ärztliche Gesprich". 1967. M. M o s s und D. H a m i l t o n : Psychotherapy of the suicidal patient. I n : „Clues to suicide" von Shneidman und Farberow. 1957. M. P f i s t e r : Psychohygiene und Psychotherapie bei der Flüchtlingsbetreuung. I n : Federn-Meng, Die Psychohygiene. 1949. W . P ö l d l n g e r : Z u r Pharmakotherapie der Angstsyndrome. I n : Psychische und somatische Aspekte der Angst. 1967. E . R i n g e l : Der Wiener Weg zur Selbetmordprophylaxe. Euromed. 1968. 1. Heft. E. R o b i n s , S. G a s s n e r , J . K a y e s , R. W i l k i n s o n und G. M u r p h y : The communication of suicidal intent. Am. Journ. Psychiatr. 1959. H. J . W e i t b r e c h t : Selbstmordprophylaxe bei Jugendlichen. Zeitschrift für Präventivmedizin. 1965. G. Z l l b o o r g : The study of suicide. Med.Rec. 1938. Arbeitsmaterial N. F a r b e r o w und M. S i m o n : Selbstmord In zwei Großstädten. Institut für höhere Studien und wissenschaftliche Forschung. Wien. Bericht Nr. 22, 1968. Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) : Prevention of suicide. Public health papers 35. ERWIN RINGEL

Sexualdelikte -> Ergänzungsband

SEXUALDELIKTE Spurenknndlicher und gerichtsmedizinischer Beitrag. Die allgemeinen Grundlagen der kriminalpolizeilichen und gerichtsmedizinischen Spurensicherung sind im Beitrag über ->· Tötungsdelikte dieses Bandes ausführlich besprochen. Sexualdelikte nehmen insofern eine Sonderstellung ein, als hier nicht nur über Tötungen, d. h. mit dem Tode eines Menschen endende Kriminaldelikte, zu ermitteln ist, sondern möglicherweise das überlebende Opfer zu untersuchen und Darstellungen zum Tathergang von Opfer und Täter zu berücksichtigen sind. Von Bedeutung sind hier sowohl die Fragen an die Beteiligten als auch die Spurensicherung, die spezielle Spurenerkennung und -Verteilung. Die Exploration sollte durch Kriminalbeamte und Gerichtsmediziner gemeinsam erfolgen, damit optimale Befunderhebung gewährleistet ist. A. Erhebungen über den „Status ante" des Opfers Hier sind zu ermitteln: Erste Regel, Menstruationszyklus, letzte Regelblutungen (Stärke, Dauer), der Zeitpunkt des ersten Geschlechtsver-

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Sexualdelikte

kehrs bzw. Zeitpunkt einer digitalen oder instrumentellen Defloration. Von Interesse sind weiterhin auch die Häufigkeit eines GV, die Partnerwahl, die geübten Sexualpraktiken, gynäkologische Erkrankungen, Zustand nach Operation sowie behandelte oder unbehandelte Geschlechtskrankheiten und deren Zeitpunkt, die Zahl der ausgetragenen Schwangerschaften und die Zahl der Fehlgeburten mit den entsprechenden Daten. Auf jeden Fall muß ermittelt werden, ob eine Schwangerschaft besteht, wann zum letzten Mal die Anti-Baby-Pille eingenommen wurde, wann zuletzt vor dem behaupteten Delikt GV stattfand, wieviel Stunden oder Tage vor dem zur Ermittlung stehenden Delikt. B. Aktuelle Kontaktauinahme Von Interesse sind körperliche und geistige Verfassung, Bewußtseinslage von Opfer und Täter sowie Orts- und Zeitangaben. 1. Exogene Noxen Einnahme von Alkohol, Medikamenten, Suchtmitteln, speziell Art, Menge, Verteilung in den letzten 48 Stunden vor dem behaupteten Delikt sind zu ermitteln. Für eine Beurteilung interessiert auch die Gewöhnung an derartige Mittel. Die vom Täter bzw. dem überlebenden Opfer angegebenen Behauptungen sollten durch Augenschein bzw. anhand von Zeugenaussagen kontrolliert werden. 2. Krankheitszustände Die Frage ist aufzuwerfen, ob die Bewußtseinslage durch Krankheiten beeinträchtigt werden konnte. Sind körperliche Gebrechen vorhanden? Waren sie dem Täter bekannt, zu erkennen oder unbekannt ? 3. Bewußtseinsstörungen Sowohl für Opfer als auch für Täter ist zu ermitteln, ob Bewußtseinsstörungen, speziell nach mechanischer Traumatisierung, vorhanden sein konnten.

C. Ausführungen des Opfers über die Tat 1. Auslösung der Tathandlung Durch welche Vorfälle, bei welcher Gelegenheit kam es zum behaupteten Delikt? Welche Haltung, Stellung nahmen Opfer und Täter im Verlauf des Geschehens ein ? 2. Gewaltanwendungen des Täters Ermittelt werden soll der Zweck der Gewaltanwendung: Brechen des allgemeinen Widerstandes, Brechung des Femoralschlusses, Zufügen von willkürlichen Schmerzen als Ausdruck sadomasochistischer Befriedigung (Lutsch-, Bißverletzungen, Geißelung usw.), Entkleidungsversuche. Die Art der Mittel ist zu registrieren: verbale oder instrumentelle Drohungen, Einsatz von Händen, Fäusten, Knie, Körpergewicht, Einsatz von Lippen, Zunge, Zähne, Knebelung, Fesselung, Kneifen, Drücken, Stechen, sonstige Leidenszufügungen. Hierbei ist auch die Reihenfolge des Vorgehens zu erkunden. Neben dem Zweck ist das Ziel der Gewaltanwendung festzuhalten: Oberschenkel, Genitale, Damm, After, Nates, Mammae, sonstige Körperregionen. 3. Art des Widerstandes des Opfers Leistete das Opfer Widerstand und in welcher Art erfolgte dieser Widerstand: Beißen, Kratzen, Schlagen, Treten, Zeitpunkt innerhalb der Reihenfolge der Handlungen ? 4. Folgen der Gewaltanwendung Art, Lokalisation der Verletzungen, Kleiderbeschädigungen und -beschmutzungen, Schmerzhaftigkeit der Verletzungen von Opfer und Täter sind zu registrieren. Speziell beim Opfer muß festgehalten werden, ob eine Beeinträchtigung der Notwehrfähigkeit und Signalisierung der Notsituation erfolgte; beim Täter kann eine Beeinträchtigung der Angriffsfähigkeit oder der Reflexhandlungen durch Widerstandsverletzungen vorgelegen haben.

4. Umstände der Kontaktaufnahme

5. Behauptetes Delikt: Erfolgsnachweis

Orts- und Zeitangaben sind von Bedeutung, weil hierdurch Hinweise zur Person des angeblichen Täters zu erhalten sind. Bei welcher Gelegenheit lernten sich Täter und Opfer kennen, waren sie verwandt oder bekannt, wie groß war der Alters- bzw. Kräfteunterschied? Beim O r t der Kontaktaufnahme ist zu differenzieren nach eigener oder fremder Wohnung, freies Gelände, Auto; bei der Z e i t sind Beginn der Kontaktaufnahme, der in Frage gestellten Handlungen, ihre Dauer, ihr Ende von Bedeutung, ferner auch Mitteilungen des überlebenden Opfers über den Vorfall an Dritte.

Hinsichtlich des Erfolgsnachweises sind Angaben notwendig über vollzogenen oder nicht erreichten Verkehr, immissio des vollständig bzw. unvollständig erigierten Gliedes in Vagina, Rektum, Mundhöhle, interfemoral, ad nates, inter mamma, in axillam. Die Ejakulation kann in natürliche Körperöffnungen erfolgt sein (Vagina, Rektum, Mundhöhle), auf die Körperoberfläche, auf Kleidung, Wäsche, Ober-, Unterbekleidung von Opfer bzw. Täter, auf bzw. in der Umgebung (Bettzeug, Wäsche, Ober-, Unterwäsche), auf Autopolster oder den Autoboden. Gebrauch und Verbleib von Schutzmitteln sind abzuklären.

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Sexualdelikte 6. Handlungen des überlebenden Opfers nach der Tat Es muß registriert werden, wie sich das Opfer nach der Tat verhalten hat (Vervollständigung Änderung, Säuberung der Kleidung, Vorweisung blutiger, beschmutzter, zerrissener Wäschegegenstände, nachträglicher Alkoholgenuß). D. Subjektive Darstellung des Täters zum behaupteten Delikt An den Täter ist ein dem Opfer analoger Fragenkatalog zu richten, wobei speziell die Herausforderung durch das Opfer, Auslösung des Tatgeschehens und Reihenfolge des Vorgehens zu berücksichtigen sind. E. Objektive Feststellungen der Kriminalpolizei in bezug aul das behauptete Delikt 1.

Zeugemussagen

Zeugen können zur Kontaktaufnahme zwischen Täter und Opfer befragt werden; durch ihre Aussagen kann eine Überprüfung der Darstellung von Opfer und Täter erfolgen. 2. Spurenfeststellung am Tatort Kleidungsstücke, persönliches Besitztum von Täter bzw. Opfer müssen sichergestellt werden. Etwaige Flucht- bzw. Kampfspuren, wie umgestürzte Möbel, frische Sachschäden, auch an Kleidung, Erdspuren, abgebrochene Äste usw. sind zu berücksichtigen. Aus fehlenden Kampfspuren könnte man schließen: Widerstandsunfähigkeit des Opfers, Opfer kennt den Täter, keine Widerstandsleistungen beabsichtigt. Schleif spuren lassen eine Differenzierung zwischen Tat- und Auffindungsort zu. Hierbei sind Hindernisse zu berücksichtigen, an denen Verletzungen entstanden sein können. 3. Spuren am Opfer Blut-, Spermaspuren, sonstige Sekrete, Hautfetzen, Haare (Kopf, Genital), Erde, Pflanzenpartikel an Kleidungsstücken in/auf der Haut, Beschädigungen der Kleidung und Verletzungen müssen registriert werden. (Weitere Ermittlungspunkte -»• Tötungsdelikte.) 4. Spuren am Täter Analoge Spurenermittlung wie beim Opfer ist auch beim Täter angezeigt. Spezielle Untersuchungsmöglichkeiten bieten dabei Fluchtweg, Wohnung oder Versteck, abgelegte Kleidung und Gebrauchsgegenstände. Art und Erfolg der Reinigung bzw. der Beseitigung von Kleidung und Tatinstrumenten sind zu eruieren. Hinsichtlich der Asservierung und Weiterleitung von Spuren gelten die im Beitrag -*• Tötungsdelikte dargestellten Grundlagen. 11·

F. Objektive Befunderhebungen des Gerichtsmediziners in bezug auf das behauptete Delikt 1. Allgemeiner Körper- wie Kräftesustand Selbstverständlich sind zunächst einmal allgemeine Merkmale zu überprüfen, wie Größe, Gewicht, Konstitution, körperliche und geistige Behinderung der Beteiligten sowie die Folgen des Vorfalls. Die verstrichene Zeit zwischen Vorfall und Untersuchung ist zu beachten. 2. Nachweis einer Präparierung des Opfers Der Bewußtseinszustand des Opfers kann durch Alkohol, Suchtmittel, Medikamente, Narkotika, Traumatisation verändert sein. Es stellt sich die Frage, ob das Opfer präpariert gewesen sein könnte. Zu prüfen sind Geruch der Atemluft und des Schweißes des überlebenden Opfers. Blutentnahme (15 ml) und Urinprobe sind erforderlich, auf Verfärbung der Finger (Klebebandsicherung der Spuren) ist zu achten. Frische und ältere Injektionsstichstellen müssen registriert werden. Reflexe, Gleichgewichtssinn, Herz-Kreislauf sind zu kontrollieren; Schriftprobe und psychotechnische Untersuchungsmethoden sind weiterhin notwendig. — Chemisch-toxikologische Untersuchungen von Organen des verstorbenen Opfers sind eine Selbstverständlichkeit. — 3. Untersuchung der Kleidung des Opfers Zu eruieren ist Bekleidungsart und -zustand vor, während, nach dem inkriminierten Tatbestand, Vollständigkeit der Kleidung, zerrissene Kleidung, Lokalisation von Schmutz, Sperma-, sonstige Sekret-, Haar- bzw. Hautauflagerungen. In der Kleidung sind flüssige Materialien dann schwer zu erkennen, wenn Körpersekrete, speziell Sperma bzw. Blut und Fremdkörper sich von der Farbe der Kleidung wenig unterscheiden, durch Glanzlichter nicht abheben, in die Tiefe des Textilstoffes haben einziehen können. Bei sehr saugfähigen oder durchlässigen Stoffen wird man zudem nicht nur die Außenflächen, sondern nach Abtrennung des Futters evtl. die Innenflächen bzw. die Futterlagen betrachten müssen. Einbluten, Einnässen oder ein Durchfeuchten der Kleidung (Regen, Sturz in Wasser) werden biologische Spuren überdecken, gar beseitigen. Spurenmaterial ist selbst an Prädilektionsstellen nur bei bester Ausleuchtung zu entdecken (Lupenbetrachtung und/oder Ableuchtung mit einer Analysenlampe). Geruchsproben sind zu entnehmen, Duftstoffe teilen sich ζ. B. über ein Ejakulat mit. Die Steifheit eines umschriebenen Stoffbezirkes könnte auf eingetrocknetes Spurengut hinweisen. Mit allen fünf Sinnen ist an eine Befunderhebung heranzutreten. Aus Verteilung, Art, Muster sowie Menge biologischen Spurenmaterials werden Rückschlüsse

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Sexualdelikte

auf vermeintliche Tathergänge gezogen. Biologische und andere Spuren an weiblicher Kleidung können bereits vor einer konkreten Situation bestanden haben, während oder nach einer Entkleidung, beim Herabstreifen, Zerreißen, Wiederanziehen entstanden sein oder nach Reinigungsversuchen, während einer Leichenliegezeit, anläßlich der Bergung einer Leiche, während des Transportes verändert, sogar vernichtet werden. Das Ergebnis einer Kleidungsuntersuchung braucht demnach nicht mit dem Zustand während eines Vorfalles identisch zu sein. Beim Kontakt zwischen einzelnen Kleidungsstücken des Opfers, aber auch mit denen des Täters, klatscht Material ab, wird übertragen. Sich verflüssigendes Sperma oder abrinnendes Blut verändern das Spurenmuster genauso wie spätere Ereignisse bis zu Transport oder Wendesituation. Ausdehnung, Größe und Zuordnung von Flecken unterliegen einer Vielzahl von Einflüssen. Diese Erörterungen zeigen die Schwierigkeit auf, Entstehungszeit, Entstehungsort und Herkunft zu bestimmen, sowie Erklärungen für die Entstehung von Beschädigungen und Beschmutzungen zu geben.

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Aafllefe NtMl Gerichtsverfassung. Der Grundsatz, der freilich nur die Hauptverhandlung erfaßt, gilt als besonders wichtige Maxime. Obwohl das StPÄG mittlerweile öffentliche Ton-, Fernseh- und Rundfunkaufnahmen in der Hauptverhandlung für unzulässig erklärt (§169 S. 2 GVG), bedarf der Grundsatz der weiteren kriminalpolitischen Überprüfung, zumal Art. 6 der Menschenrechtskonvention Lockerungen gestattet und fast nahelegt: Mißlich ist nicht nur, daß das Gesetz praktisch keine Rücksicht darauf zu nehmen gestattet, ob ein Angeklagter oder Zeuge in öffentlicher Verhandlung mit der Wahrheit zurückhält (BGHSt 3, 344; 9, 280). Mißlich ist vor allem, daß das Gesetz auch im Zeichen der modernen Massenmedien keinen ausreichenden Schutz dagegen bietet, daß Angeklagte oder Zeugen durch die Anwesenheit sensationslüsterner Nachbarn, durch Bildreporter vor Sitzungsbeginn (vgl. Eb. Schmidt, Justiz und Publizistik, 1968) oder durch Presseberichte Schäden erleiden, die u. U. schwerer wiegen als die Strafe selbst oder die gar das bürgerliche Leben des Angeklagten auch dann zerstören, wenn er freigesprochen wird. Das alles gilt gerade in einem modernen Strafprozeß, in dem durch eine Persönlichkeitsbegutachtung oft die ganze Intimsphäre eines Menschen in einer Weise ausgebreitet werden muß, die ebensowenig in die Öffentlichkeit gehört wie die ärztliche Tätigkeit. Hier ist aus dem politischen Anliegen des Liberalismus heute eine kriminalpolitisch schwer erträgliche Situation entstanden. e) G r u n d s ä t z e der M ü n d l i c h k e i t u n d U n m i t t e l b a r k e i t : Sie gelten nur für die Hauptverhandlung. Diese ist, auch wegen der Mitwirkung von Laienrichtern, grundsätzlich mündlich, schon damit der Richter nicht aus dem Akteninhalt des Ermittlungsverfahrens das Urteil gewinnt, die Trennung zwischen Ermittlungs- und Urteilstätigkeit also gewahrt bleibt. Daß der im Kampf gegen das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren entwickelte Grundsatz der Mündlichkeit Gefahrenquellen mit sich bringt (Mißverständnisse, Hörfehler, Aufmerksamkeits- und Erinnerungsmängel), ist schon damals nicht bestritten worden. Damals wie heute aber erscheinen solche Mängel als das kleinere Übel im Verhältnis zum schriftlichen Prozeß, wo sie in ähnlicher Form ebenso bestehen und durch zusätzliche Gefahren verstärkt werden. Daß der verhandlungsleitende Richter beim Mündlichkeitsprinzip möglicherweise besonders überfordert ist, nötigt nicht dazu, von dem Prinzip abzugehen, sondern müßte nötigenfalls auf andere Weise ausgeglichen werden (unten D 2). Das gilt auch für Monsterprozesse, wo das

Strafverfahrensrecht

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Verfahren durch abschnittsweise Beratung und Entscheidung aufgelockert werden sollte, weil sonst die gedächtnismäßige Belastung u. U. übergroß wird und nur durch schriftliche Aufzeichnungen in der Verhandlung abzufangen ist, die überdies leicht auch den Grundsatz der Unmittelbarkeit gefährden. Dieser Grundsatz der Unmittelbarkeit verlangt, daß dem Gericht eine eigene sinnliche Wahrnehmung des Originalbeweismittels möglich ist; Beweisaufnahmen müssen mithin grundsätzlich vor dem Gericht selbst erfolgen und so gestaltet werden, daß das Gericht die Originalbeweismittel „unmittelbar" ausnutzt, sich die notwendige Tatsachenkenntnis also nicht durch andere (mittelbare) Beweismittel oder durch ein Mitglied des Gerichts vermitteln Jäßt. Grundsätzlich kann daher ein Urteil beispielsweise nicht auf Bekundungen des Α darüber gestützt werden, was Β gesagt hat („Zeugnis vom Hörensagen"), wenn Β selbst erreichbar ist; wohl aber sind Bekundungen des Α zusätzlich verwertbar, etwa um die Glaubwürdigkeit und Richtigkeit der Aussage von Β zu würdigen, weil insoweit die Bekundungen des A wieder unmittelbares Beweismittel sind. Nach umstrittener Rechtsprechung (BGHSt 17, 382; dazu die Vhdgen des 46. Dt. Juristentages 1966) kann jedoch eine Vernehmung von Polizeibeamten über Wahrnehmungen eines unbekannten „V-Mannes" erfolgen (einschränkend mittlerweile BGH, J R 1969, 305). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit schaltet Fehlerquellen aus, die sich durch „Zwischenglieder" bei der Beweisaufnahme leicht ergeben können. Obwohl er an sich nur für den Beweis durch das erkennende Gericht gilt, wird er weitgehend auch im Ermittlungsverfahren beachtet, weil dieses Verfahren unter anderem im Hinblick auf die Möglichkeit des Beweises in einer eventuellen späteren Hauptverhandlung erfolgt (unten Β 2). Zu fordern ist, daß ihn die Strafverfolgungsorgane — als allgemeines Prinzip für sorgfältigen Beweis — auch im übrigen beachten, soweit das ohne Beeinträchtigung anderer Zwecke (schnelles Zufassen, etwa bei Anordnung von Untersuchungshaft) möglich ist. f) M i t w i r k u n g v o n L a i e n r i c h t e r n : -»• Gerichtsverfassung. B. Das Ermittlungsverfahren bis zur Anklageschrift 1.

Allgemeines

Sobald die Staatsanwaltschaft — durch Anzeige oder von Amts wegen — vom Verdacht einer strafbaren Handlung Kenntnis erlangt, hat sie „zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen" (§ 160 StPO).

Sie kann sich zu diesem Zweck der Hilfe der Polizei bedienen (§§161 StPO, 162 GVG), die auch ihrerseits zur Erforschung strafbarer Handlungen verpflichtet ist (§ 163 StPO, Kriminalpolizei). Sie kann weiter besondere richterliche Untersuchungshandlungen beantragen, wenn ihr dies erforderlich erscheint (§ 162 StPO). Für besonders gravierende Maßnahmen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ist die Einschaltung des Richters zwingend erforderlich (unten 3). Immer aber bleibt der Staatsanwalt „Herr des (Ermittlungs-)Verfahrens", soweit nicht die Ermittlungen durch eine richterliche Voruntersuchung (unten 6) ergänzt werden. In der Praxis ist allerdings zu beobachten, daß der wohl überwiegende Teil der Ermittlungsverfahren seit langem weitgehend allein von der Polizei bearbeitet wird, sei es, daß diese bei ihr eingegangene Anzeigen (§158 StPO) von sich aus aufklärt und dann erst der Staatsanwaltschaft vorlegt, sei es, daß die Staatsanwaltschaft der Polizei die Ermittlungen mehr oder weniger pauschal überträgt. Diese Handhabung erklärt sich nicht nur aus der Überlastung der Staatsanwaltschaften, sondern ist sachlich sinnvoll, weil die entscheidenden technischen Einrichtungen zur Verbrechensbekämpfung bei der Polizei bestehen (-> Kriminalpolizei), deren Spezialisten dem meist nur juristisch vorgebildeten Staatsanwalt überdies an kriminalistischen Kenntnissen regelmäßig überlegen sind und oft auch schneller eingreifen können. Der Konzeption der StPO entspricht diese ζ. T. schon für Gewohnheitsrecht gehaltene Situation, die den Staatsanwalt in weitem Maße auf die Entscheidung über die Anklage beschränkt, allerdings nicht. Daher sind mehrfach Forderungen erhoben worden, die Polizei zum eigentlichen Herrn des Ermittlungsverfahrens zu machen und den Staatsanwalt auf die Funktion des Anklägers zu beschränken. Eine solche Trennung erscheint jedoch unerwünscht, weil sie die Stellung der Staatsanwaltschaft und ihre Verantwortung im Prozeß verringern sowie eine Zäsur zwischen Ermittlungsund „Justiz"-Verfahren bedingen würde, an der niemandem gelegen sein kann. Ebensowenig empfiehlt es sich aber auch, Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft zu einer eigenen Gesamtbehörde zu vereinigen (-> Kriminalpolizei).

2. Die

Ermittlungstätigkeit

Sie hat, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, zu erfolgen, wenn „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" (§152 StPO) für eine strafbare und verfolgbare Handlung vorliegen. Dafür reicht jeder nicht offensichtlich völlig haltlose Verdacht. Zweifel an der Richtigkeit des Verdachts dürfen noch überwiegen. Eine kleinliche Handhabung ist nicht angezeigt, weil es ja darum geht, Verdachtsmomenten nachzuspüren.

Strafverfahrensrecht Bedenklich ist darum die wiederholt geäußerte Auffassung, „bloße Vermutungen" genügten nicht. Die Ermittlungen müssen grundsätzlich die zur Belastung wie die zur Entlastung dienenden Umstände erfassen und sich auch auf solche Umstände erstrecken, welche für die Strafzumessung, die Strafaussetzung zur Bewährung und die Anordnung von Maßregeln der Sicherung und Besserung von Belang sind (§§ 160 Abs. 2 u. 3, 136 Abs. 3 StPO). In der Art und Weise ihrer Ermittlungen sind Staatsanwaltschaft und Polizei grundsätzlich frei. Insbesondere dürfen Ermittlungen durchgeführt werden, ohne daß der Beschuldigte zunächst davon erfährt (vgl. § 163 a StPO). Auch sind Staatsanwaltschaft und Polizei nicht an den Katalog der für den erkennenden Richter geltenden Beweisvorschriften (unten D 3) und an die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (oben A 2) gebunden. Da ihre Ermittlungstätigkeit jedoch auch im Hinblick auf die Beweismöglichkeiten in einer eventuellen Hauptverhandlung erfolgt, ist es schon aus diesem Grunde zweckmäßig, gerade die dem Richter zur Verfügung stehenden Beweismittel auszunutzen; sie werden darum üblicherweise jedenfalls dann herangezogen, wenn sich Verdachtsmomente so konkretisiert haben, daß die Wahrscheinlichkeit einer Anklageerhebung naheliegt. — Eine Beeidigung von Zeugen oder Sachverständigen ist Staatsanwaltschaft und Polizei untersagt (§161 StPO); sie kann, soweit für Ermittlungszwecke erforderlich (§65 StPO), nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch den Richter erfolgen (§162 StPO). Das gleiche gilt für die Pflicht zur Aussage überhaupt. Auch ist die falsche Aussage als solche nur strafbar, wenn sie vor dem Richter abgegeben wird (§ 163 StGB). Im übrigen ist die Ermittlungstätigkeit beschränkt durch rechtsstaatliche Grundsätze. Es besteht eine große Zahl oft wenig klarer oder umstrittener Beweis- und Beweisverwertungsverbote (dazu grundsätzlich die Vhdgen des 46. Dt. Juristentages 1966 mit Gutachten, Referaten und Diskussion, sowie Grünwald, JZ 1966, 489). Praktisch wichtig ist, daß Zeugen auf ihr Recht hingewiesen werden müssen, die Aussage zu verweigern (§§52ff. StPO). Dem Beschuldigten ist bei Beginn der ersten Vernehmung zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen; er ist seit dem StPÄG auch darauf hinzuweisen, daß er sich zunächst mit einem von ihm zu wählenden Verteidiger besprechen kann und daß es ihm nach dem Gesetz freisteht, sich zur Sache zu äußern (§§ 136,163a), weil niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten. Ob der Verstoß gegen diese Belehrungspflichten ein Beweisverwertungsverbot begründet, ist umstritten (vgl. Eb. Schmidt, NJW 1968,1209).

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Grundsätzlich dürfen Beschuldigte, Zeugen und Sachverständige nicht in unlauterer Weise in der Freiheit ihrer Willensentschließung und Willensbetätigung beeinflußt werden, vgl. §136a StPO (§§69 Abs. 3, 72). Diese im Jahre 1950 eingefügte Bestimmung, die auch auf Aussagen gegenüber Sachverständigen anzuwenden ist (BGHSt 11, 211), wurde geschaffen in Erinnerung an die „schmerzlichen Erfahrungen einer Zeit, die diese Achtung vor der freien Entschließung eines Menschen, auf dem der Verdacht einer strafbaren Handlung ruht, vielfach verletzte" (BGHSt 1, 387). Daß sie ihr Gutes hat, ist nicht zu bestreiten, wenn man sich auch bewußt bleiben muß, daß die Achtung vor der Menschenwürde weniger durch Gesetze als durch Menschen garantiert wird. Um so bedauerlicher ist die große Unscharfe des § 136 a, der teils zu viel, teils zu wenig sagt, jedenfalls aber die verbotenen Vernehmungsmethoden nur unscharf umschreibt und in einem Umfang der Interpretation bedarf, die seinen Wert erheblich mindert. Die Rechtsprechung ist in den entschiedenen Fällen selten zu eng verfahren, hingegen wohl einige Male zu großzügig gewesen (Hanack, JZ 1971, 136). Abzulehnen ist eine in der Lehre bisweilen vorhandene Tendenz, wegen des in § 136 a zu weit gefaßten Begriffs der „Täuschung", „Kniffe" in zu großem Umfang als unerlaubt anzusehen: Wo Vernehmungsmethoden nicht ,auf eine psychische oder physische Folter hinauslaufen oder den Vernommenen anders zum „Objekt" degradieren, müssen sie grundsätzlich gestattet sein und werden auch durch § 136 a nicht gehindert. Denn der schuldige Verbrecher setzt sich oft mit aller Raffinesse zur Wehr, und dem Unschuldigen kann nur daran gelegen sein, daß ein gegen ihn bestehender Verdacht entkräftet wird, und sei es mit Tricks. Wenig einzusehen in Argumentation und Ergebnis ist auch die Auffassung der herrschenden Meinung, daß die (freiwillige) Anwendung des Lügendetektors unzulässig sei (BGHSt 5, 332), weil er „als Verrat am rechtsstaatlichen Denken" erscheine und wir es „nicht nötig" hätten, „unter dem Einfluß amerikanischer Bräuche und Mißbräuche" „das rechtsstaatliche Ethos unseres Strafprozesses" in Gefahr bringen zu lassen (Radbruch, zust. zit. bei Eb. Schmidt).

3. Zwingende Einschaltung des Ermittlungsrichters Eine Reihe von Ermittlungshandlungen ist in der StPO wegen ihrer besonderen Bedeutung hervorgehoben und speziellen Regelungen unterworfen. Durchweg gilt dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, d. h. die Maßnahmen können nur angewendet werden, wenn es anders nicht geht und mildere Mittel zur Aufklärung nicht zur Verfügung stehen. Im übrigen dürfen sie regelmäßig nur vom Richter, bei Gefahr im Verzug

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ζ. Τ. auch durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten (§ 152 GVG), angeordnet bzw. vorgenommen werden. Es handelt sich im einzelnen um folgende Maßnahmen: die vorübergehende Einweisung des Beschuldigten in eine Heil- oder Pflegeanstalt zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand ( § 8 1 mit Einzelheiten); körperliche Untersuchungen und Eingriffe beim Beschuldigten oder bei Zeugen ( § § 8 1 a—d — über Blutentnahmen beim Verdacht der Trunkenheit vgl. im einzelnen Geerds, GA 1965, 321, über Enzephalographieen BVerfG N J W 1963, 1597); Leichenschau (§§87ff.); Beschlagnahme von Gegenständen und Durchsuchung (§§94ff., 102ff.); Überwachung des Fernmeldeverkehrs (§§ 100a f.); vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ( § l l l a ) . Eine in ihrer Ausgestaltung rechtspolitisch immer wieder besonders umstrittene Maßnahme stellt weiter die ebenfalls dem Richter vorbehaltene Anordnung der -> Untersuchungshaft dar (§§ 112ff. StPO), an deren Stelle bei mutmaßlich Unzurechnungsfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen die einstweilige Unterbringung tritt, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert (§ 126 a). Darüber hinaus haben Staatsanwalt und Polizei sowie, unter engeren Voraussetzungen, auch jeder Bürger das Recht zur vorläufigen Festnahme von Verdächtigen (§ 127 ff.). 4. Schlußgehör, Anklage und Einstellung, Klageerzwingungsverfahren Erwägt der Staatsanwalt die Anklageerhebung (außer durch Voruntersuchung, dazu unten 5), muß er seit dem StPÄG den Abschluß der Ermittlungen in den Akten vermerken und dem Beschuldigten sowie seinem Verteidiger eine schriftliche Schlußanhörung oder — auf Antrag — regelmäßig ein mündliches Schlußgehör gewähren, soweit es sich nicht um Bagatellstrafsachen handelt (§§ 169a—c StPO). Diese Regelungen dienen ebenso der frühzeitigen Verteidigung des Beschuldigten wie als erwünschtes Sieb gegenüber unbegründeten Anklagen. Sie sind daher grundsätzlich zu begrüßen, obwohl sie eine gewisse Verfahrensverzögerung bedeuten können und die Verteidigung u. U. vor schwierige „taktische" Fragen stellen (Dahs, N J W 1965, 716), die ihre praktische Bedeutung herabmindern. Bieten die Ermittlungen „genügenden Anlaß", erhebt der Staatsanwalt die „öffentliche Klage", sei es durch Antrag auf Voruntersuchung, sei es durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht oder (unten Η 2) durch Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls; andernfalls stellt er das Verfahren ein (§170 StPO). Gegen die Erhebung der öffentlichen Klage selbst gibt es keinen Rechtsbehelf (vgl. aber unten 5 und C). Gegen die Einstellung des Verfahrens ist Dienst-

aufsichtsbeschwerde möglich. Derjenige Anzeigende, der zugleich Verletzter ist, hat weiterhin das Recht, beim vorgesetzten Beamten des Staatsanwalts (-»• Gerichtsverfassung) förmliche Beschwerde einzulegen; gegen einen ablehnenden Bescheid kann er gerichtliche Entscheidung beantragen, für die regelmäßig das Oberlandesgericht zuständig ist (Klageerzwingungsverfahren, § 172 StPO). Grund für die Einschaltung eines Gerichts zur Klageerzwingung war der Wunsch, das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft der Kontrolle durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht zu unterwerfen, also Mißtrauen. Die herrschende Meinung sieht in der Einschaltung des Gerichts, die der nationalsozialistische Gesetzgeber 1942 beseitigt hatte und die das Gesetz vom 4. 8.1953 u. a. auf die Fälle reduziert, in denen die Anklage nicht vom Ermessen des Staatsanwalts abhängt (§ 172 Abs. 2 S. 3), keine Durchbrechung des Anklagegrundsatzes; sie bejaht bislang überwiegend diese Vorschrift aus rechtsstaatlichen Gründen, obwohl sie sich darüber im klaren ist, daß sie geringe praktische Bedeutung hat: Sofern Verfahren überhaupt stattfinden, enden sie meist mit der Zurückweisung des Antrags bzw. dem Freispruch durch das spätere Urteil. Die geringe praktische Bedeutung des Instituts spricht für die Güte der staatsanwaltschaftlichen Arbeit, nötigt aber nicht dazu, das Institut abzuschaffen, mag es im Einzelfall auch unnötige Mühen kosten und mancherlei Ungereimtheiten enthalten, ζ. B. weil die typisch politischen Delikte und die Delikte zum Nachteil des Staates dem Verfahren praktisch nicht unterliegen. Der Staatsanwaltschaft selbst sollte es willkommen sein, daß vorhandenes Mißtrauen in den übrigen Fällen durch die Möglichkeit des Richterspruchs entkräftet werden kann. 5. Die

Voruntersuchung

In besonders schweren oder komplizierten Strafsachen schiebt sich teils obligatorisch, teils fakultativ zwischen das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren und das Verfahren vor dem erkennenden Gericht ein richterliches Untersuchungsverfahren (§§ 178ff. StPO). Es ist der Sache nach vor allem ein Ermittlungsverfahren, d. h. es dient nicht unmittelbar der Urteilsfindung, sondern soll Beweise zur Beurteilung der Frage sammeln, ob ein Verfahren vor dem erkennenden Gericht nötig ist, und ferner den Prozeßstoff für das Gericht schon genauer aussortieren. Es tritt nicht an die Stelle des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens, sondern zu diesem hinzu. Es kann (von der Staatsanwaltschaft) frühestens beantragt werden, wenn schon ein genügender Tatverdacht besteht

Strafverfahrensrecht (§ 170 Abs. 1), ist im übrigen aber auch als Anordnung des erkennenden Gerichts oder auf Antrag des Angeschuldigten möglich. Die Voruntersuchung ermöglicht eine genauere und sicherere Aufklärung unter verstärkten Garantien für den Angeschuldigten: Sie geschieht durch einen unabhängigen Richter, der eidliche und uneidliche Zeugenvernehmungen durchführen kann; der Angeschuldigte hat einen zwingenden Anspruch auf Vernehmung; er, sein Verteidiger sowie die Staatsanwaltschaft haben ferner Anspruch auf Anwesenheit auch bei wesentlichen anderen Beweiserhebungen (§§192f.), der Verteidiger überdies Anspruch auf Akteneinsicht. Die Untersuchung führt vor allem notwendigerweise zu einem gerichtlichen Beschluß über die Außerverfolgungsetzung, wenn sich kein hinreichender Verdacht gegen den Angeschuldigten ergibt ( § 2 0 3 f.). Ein solcher Beschluß wiegt in seinen Folgen stärker als die Einstellung des Verfahrens durch den Staatsanwalt, weil das Verfahren gemäß § 211 nur wiederaufgenommen werden darf, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen. Das Institut der Voruntersuchung war bereits bei seiner Einführung umstritten und ist es bis heute geblieben, insbesondere weil es zu einem komplizierten Neben- und Nacheinander der Ermittlungen führen kann. Doch wird man es — bei elastischer Ausgestaltung der Voraussetzungen für seine Einleitung — wegen seiner besonderen Garantien und Aufklärungsmöglichkeiten mindestens für schwerwiegendere politische Strafsachen schon im Interesse des Staates, einen bösen Schein zu vermeiden, wohl grundsätzlich bejahen können.

C. Zwischenverfahren und Vorbereitung der Hauptverhandlung Reicht die Staatsanwaltschaft — ohne oder nach Voruntersuchung — die Anklageschrift ein, wird diese von dem für die Hauptverhandlung zuständigen Gericht (-*• Gerichtsverfassung) bzw. von seinem Vorsitzenden dem Angeschuldigten mit der Aufforderung übersandt, innerhalb einer Frist zu erklären, ob er vor der Entscheidung einzelne Beweiserhebungen wünscht oder Einwendungen geltend macht bzw. eine Voruntersuchung beantragt (§ 201 StPO). Nach Ablauf der Frist entscheidet das Gericht (ohne Laienrichter) durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 198ff. StPO). Eine bei den Beratungen zum StPÄG vorgeschlagene parteiöffentliche mündliche Verhandlung mit begrenzter Beweisaufnahme ist, wohl aus gutem Grund, nicht vorgesehen. Das Gericht kann einen Eröffnungsbeschluß erlassen, dabei ζ. T. auch vor einem

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anderen Gericht eröffnen ( § 2 0 9 ) oder die Eröffnung ganz, teilweise, vorläufig oder endgültig ablehnen bzw. eine Voruntersuchung oder ergänzende Beweiserhebungen anordnen. Der Eröffnungsbeschluß ist die Regel. E r ergeht, wenn der Angeschuldigte nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens einer Straftat „hinreichend verdächtig erscheint" (§203). Der Verdacht wird seit dem StPÄG in dem Beschluß nicht mehr ausgesprochen; vielmehr läßt das Gericht lediglich „die Anklage zur Hauptverhandlung zu" ( § 2 0 7 ) — eine begrüßenswerte Änderung gegenüber dem früheren Recht, weil das Aussprechen der Verdächtigung im Beschluß beim Angeklagten und den nur in der Hauptverhandlung beteiligten Laienrichtern leicht den Eindruck erweckt, das Gericht halte den Angeklagten schon für schuldig. Zur Vermeidung dieses Eindrucks wird im übrigen seit dem StPÄG der Eröffnungsbeschluß in der Hauptverhandlung auch nicht mehr vom Vorsitzenden verlesen, sondern es wird nur vom Staatsanwalt die Anklage durch Verlesung des Anklagesatzes (§ 200 Abs. 1) vorgetragen (§ 243 Abs. 3 StPO). Inhaltlich kann der Eröffnungsbeschluß von der Anklage abweichen (§ 207 Abs. 2), was bei der Verlesung des Anklagesatzes berücksichtigt wird ( § 2 4 3 Abs. 3). — Weitergehende Bestrebungen, das oft recht schematisch gehandhabte Eröffnungsverfahren zu beseitigen oder durch eine regelmäßig vom Vorsitzenden bewirkte Anordnung der Hauptverhandlung zu ersetzen (so eine vorübergehende Regelung zwischen 1942 und 1945), haben sich bislang nicht durchgesetzt. Der Eröffnungsbeschluß ist durch den Angeklagten nicht anfechtbar; gegen einen ablehnenden oder von der Anklageschrift abweichenden Beschluß steht der Staatsanwaltschaft die sofortige Beschwerde zu (§ 210). Nach der Eröffnung erfolgt die Vorbereitung der Hauptverhandlung (§§ 213ff. StPO), die überwiegend in der Hand des Vorsitzenden liegt. Hier werden namentlich die Ladungen des Angeklagten, des Verteidigers sowie der Zeugen und Sachverständigen angeordnet, die regelmäßig von der Staatsanwaltschaft auszuführen sind (§ 214). Der Angeklagte hat das Recht, Beweisanträge zu stellen. Auch kann er Zeugen und Sachverständige unmittelbar laden (§§219, 220). Dieses Ladungsrecht ist im Zusammenhang mit § 245 StPO, wonach in der Hauptverhandlung grundsätzlich alle geladenen und erschienenen Zeugen und Sachverständige zu vernehmen sind, als zusätzliche Sicherung neben der Wahrheitsermittlungspflicht des Gerichts für die Verteidigung des Angeklagten von erheblicher Wichtigkeit. In seltenen Fällen erfolgt während der Vorbereitung aus besonderem Grund eine beschränkte Beweisaufnahme, namentlich wenn der Verlust von Beweismitteln droht (§§ 223ff.).

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Strafverfahrensrecht D. Die Hanptverhandlnng in 1. Instanz 1.

Allgemeines

a) Die Hauptverhandlung erfolgt in u n u n t e r b r o c h e n e r G e g e n w a r t der Richter, eines Staatsanwalts, eines Urkundsbeamten, des notwendigen Verteidigers (BGHSt 9, 243) und des Angeklagten; das entspricht dem Grundsatz der Mündlichkeit (oben A 2). Nur ausnahmsweise und unter bestimmten Sicherungen kann der Angeklagte entfernt oder gegen den ausgebliebenen Angeklagten verhandelt werden (§§247, 230ff. StPO). Auch eine Entbindung des Angeklagten vom Erscheinen in der Hauptverhandlung ist nur in engen Grenzen vorgesehen (§ § 233 ff. StPO). b) Dem Gesetz ist daran gelegen, daß die Verhandlung ohne größere z e i t l i c h e Z e r r e i ß u n gen durchgeführt wird, weil die psychologischen Vorteile der Mündlichkeit nur dann gewährleistet sind. Dieser sog. Grundsatz der Konzentration hat im Gesetz jedoch nur unvollkommenen Ausdruck gefunden. § 229 StPO, der vorsieht, daß die unterbrochene Hauptverhandlung spätestens am 11. Tage fortgesetzt werden muß (die Vorschrift ist wiederholt geändert worden), gibt zwar einen vertretbaren Zeitraum für Unterbrechungen, berücksichtigt jedoch nicht, daß durch wiederholte Unterbrechungen die Verhandlung so aufgestükkelt werden kann, daß den Beteiligten die gedächtnismäßige Überschau nicht mehr möglich ist. Sicher läßt sich das in gewissen Fällen nicht vermeiden (RGSt 60,163; 62, 263); in anderen Fällen erscheint es jedoch besser, die Verhandlung abzubrechen und neu aufzunehmen, wenn die Hindernisse beseitigt sind (Eb. Schmidt). Im geltenden Recht kann das jedoch ebensowenig erzwungen werden wie sich allzu häufige Unterbrechungen verbieten lassen. Abzufangen sind nur die Fälle, in denen die Fortsetzung allein den Zweck verfolgt, ihren völligen Neubeginn zu vermeiden, also unecht ist. c) Für den Ablauf der H a u p t v e r h a n d l u n g schreibt die StPO eine bestimmte Ordnung vor (§ 243): Nach der Anwesenheitsfeststellung sowie dem Aufruf der Zeugen und Sachverständigen erfolgen zunächst — in Abwesenheit der Zeugen — die Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, die Verlesung des Anklagesatzes (oben C) und danach die Vernehmung des Angeklagten zur Sache. An sie schließt sich die Beweisaufnahme an, nach deren Abschluß erst der Staatsanwalt und dann der Verteidiger bzw. der Angeklagte das Wort zu ihren Schlußvorträgen erhalten; dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu. Dem Angeklagten gebührt in jedem Falle das letzte Wort (§ 258). Diese Reihenfolge kann das Gericht bei mehreren Angeklagten oder verschiedenen trennbaren Sachkomplexen

(„Punktesachen") durch punktuelle Aufgliederung modifizieren. Im übrigen aber kann die gesetzlich vorgesehene Reihenfolge im Ablauf des Verfahrens grundsätzlich auch mit Einverständnis nicht umgangen werden, weil sie ein sachliches Prinzip für die Urteilsgewinnung enthält: Das Gericht soll zunächst über die Person des Angeklagten orientiert werden, dann seine Sachdarstellung hören und mit ihr im Ohr an die Aufnahme der Beweise herantreten, deren Würdigung durch Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagten dann ebenfalls wieder in der genannten Reihenfolge zu geschehen hat, weil diese Reihenfolge psychologisch in die Beratung hineinwirkt. 2. Die

Verhandlungsleitung

a) Die Leitung der Hauptverhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme der Beweise erfolgt beim Kollegialgericht grundsätzlich durch den V o r s i t z e n d e n (§ 238 Abs. 1 StPO); er kann diese Befugnisse nicht einem anderen Richter übertragen; wenige, allerdings wichtige Maßnahmen fallen von vornherein in die Kompetenz des Kollegiums (z.B. §§27 Abs. 1; 51; 228 Abs. 1 S . l ; 237; 242; 244 Abs. 6; 247; 265 Abs. 4; 226; 270). Auf übereinstimmenden Antrag des Staatsanwalts und des Verteidigers ist die Vernehmung der von der Staatsanwaltschaft und von dem Angeklagten benannten Zeugen und Sachverständigen ersteren dergestalt zu überlassen, daß jeder bei den von ihm benannten Zeugen und Sachverständigen in erster Linie das Recht zur Vernehmung hat („Kreuzverhör", § 239 StPO). Diese auch rechtspolitisch seit jeher stark umstrittene Möglichkeit gilt im geltenden Recht als Fremdkörper. Sie stimmt mit der Struktur des deutschen Strafprozesses, der kein Parteiprozeß ist, wenig überein. In der Praxis hat sie nie eine Rolle gespielt; ihre erneute Wiedereinführung nach einer Streichung vom Jahre 1942 durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz „hat nichts als erneute papierene Existenz geschaffen" (Eb. Schmidt). b) Für alle Kollegialgerichtsbarkeit von entscheidender Bedeutung ist das V e r h ä l t n i s zwischen den M i t g l i e d e r n des Kollegiums, insbesondere das Verhältnis zum Vorsitzenden, den das Kollegialgericht braucht, um sinnvoll amtieren zu können. Die StPO hat dem Vorsitzenden in der Hauptverhandlung eine sehr starke, bedauerlicherweise aber auch sehr unklare Stellung eingeräumt. Denn der Formulierung des § 238 Abs. 1 StPO, daß er die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme der Beweise vornimmt, folgt die Formulierung des Abs. 2, daß eine „auf die Sachleitung bezügliche Anordnung" des Vorsitzenden von einer an der Verhandlung beteiligten Person (also auch einem Beisitzer) „als unzulässig" beanstandet werden

Strafverfahrensrecht kann, worüber dann das Gericht entscheidet. Schon die Frage, was „unzulässig" ist, macht mancherlei Schwierigkeiten. Im übrigen wird ζ. T. die Ansicht vertreten, die „Sachleitung" beziehe sich auf diejenigen Anordnungen, die objektiv auf sachliche Förderung der Hauptverhandlung gerichtet seien und müsse unterschieden werden von den die formelle oder äußere Verhandlungsleitung betreffenden Anordnungen; ζ. T. wird — ganz oder zusätzlich — die Sachleitung von der Frage der Zulässigkeit her gesehen oder unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte angenommen, die Begriffe „Sachleitung" und „Leitung der Verhandlung" seien identisch, was im Ergebnis dazu führt, alle angeblich unzulässigen Maßnahmen des Vorsitzenden der Nachprüfung des Kollegiums zu unterwerfen (zum ganzen Schmid, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 543). — Die bestehenden Unklarheiten haben sicher nicht dazu beigetragen, das Verhältnis Vorsitzender— Kollegium in klare und dem Zusammenwirken dienliche Bahnen zu lenken, selbst wenn man berücksichtigt, daß die Harmonie dieses Verhältnisses in starkem Maße immer Frage der Richterpersönlichkeiten ist. Für Überlegungen zur Reform sind Tendenzen interessant, einen möglichst großen Bereich der mehr formellen Verhandlungsleitung der Nachprüfung durch das Kollegium zu unterwerfen. c) Die starke aktive Beteiligung des Gerichts, insbesondere des Vorsitzenden, hat von jeher Reformwünsche über die Stellung des Gerichts hervorgerufen oder verstärkt. Die Befürworter solcher Reformen behaupten — in den verschiedensten Variationen —, das Gericht und namentlich der Vorsitzende seien überfordert, wenn ihnen nicht nur die urteilende Tätigkeit zufalle, sondern auch die Leitung der Verhandlung und die ganze Sachverhaltsaufklärung. Ζ. T. sind diese Reformwünsche getragen von dem Bestreben, das angelsächsische Strafverfahrensrecht mehr oder weniger zu übernehmen (dazu grundsätzlich: Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, 1971). Die Gründe dafür sind ihrerseits unterschiedlich und haben zu fruchtlosen und nicht immer taktvollen Diskussionen darüber geführt, ob dem deutschen oder dem angelsächsischen System der Vorzug zu geben sei. In der Tat ist aber nicht zu bestreiten, daß ein starkes Bedürfnis besteht, den (Vorsitzenden) Richter aus seiner in der Hauptverhandlung stark inquisitorischen Stellung zurückzudrängen. Wenn man dafür nicht Elemente des anglo-amerikanischen Systems verwenden will, was — namentlich bei Aufrechterhaltung von Aktenkenntnis und Wahrheitsermittlungspflicht des Gerichts — schwierig, aber vielleicht nicht unmöglich ist (Dahs, Aktuelle Rechtsprobleme, Festschrift f. Schorn, 1966 S. 14), bietet sich der von Alsberg (Gutachten zum 35.

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Dt. Juristentag, 1928) und Drucker (MittlKV n. F. 4,141,153) entwickelte und später namentlich von Eb. Schmidt (DRiZ 1959,16 u. ö.) weitergeführte Gedanke an, die Figur eines besonderen Verhandlungsleiters oder Vernehmungsrichters einzuführen: Er soll, ohne an Beratung und Urteisfindung teilzunehmen, in Kenntnis der Ermittlungsakten die Sachaufklärung vornehmen und außerdem die Vorbereitungs- und Leitungstätigkeit des heutigen Vorsitzenden übernehmen, so daß das erkennende Gericht höchstens gelegentlich, ergänzend, einzugreifen brauchte. Der Vorschlag ist umstritten. Daß ein solcher Verhandlungsführer es dem erkennenden Gericht ermöglichen würde, sich stärker auf die eigentlich urteilende Tätigkeit zu konzentrieren, ist sicher; es würden auch die ganzen Probleme entfallen, die sich daraus ergeben, daß die Berufsrichter des erkennenden Gerichts unter der Vorbelastung der Ermittlungs-Akten stehen, was beim schlechten Richter sicherlich eine Voreingenommenheit in der Verhandlüngsführung zu erzeugen vermag und bei manchem Angeklagten den psychologischen Verdacht hervorrufen dürfte, der Zug der Hauptverhandlung gehe „fast unvermeidlich zur Überführung eines Schuldigen, ohne daß ein gleichstarker Zug zur Freisprechung eines Unschuldigen" entgegenwirke (Roesen, NJW1958, 977). Die Lösung würde allerdings auch Nachteile haben: Daß beim Angeklagten, der schon heute die Prozeßbeteiligten nicht immer gut auseinanderhalten kann, eine weitere Verwirrung entstehen könnte, ließe sich zwar durch seine Aufklärung und durch sachgerechte Gestaltung des Verfahrens im wesentlichen verhindern. Nicht zu verkennen ist jedoch, daß ein Essentiale der heutigen Strafjustiz gestört würde: die „spannungsreiche, aber unerhört fruchtbare persönliche Wechselbeziehung zwischen dem Angeklagten und seinem Richter" (Amelunxen, Strafrechtspflege und Strafrechtsreform, Bundeskriminalamt, 1961, S. 247), die in vielen Fällen erhebliche Bedeutung für die Einsicht des Angeklagten und die Wirkung des Richterspruchs hat; auch dürfte eine Beschränkung des Gerichts auf die distanzierte Rolle des Urteilers wenn nicht die Güte der Sachaufklärung, so doch die Einheitlichkeit und Koordinierung der Hauptverhandlung, die die zentrale Figur des Vorsitzenden heute gewährleistet, insbesondere dann gefährden, wenn das urteilende Gericht es für nötig hält, in die Verhandlungsführung allzu sehr ergänzend einzugreifen. Es müßten zudem besonders erfahrene Richter zu Verhandlungsleitern bestellt werden, die dann als Vorsitzende ausfallen. Wie immer man die Probleme löst: Von entscheidender Bedeutung bleibt im übrigen stets die Richterpersönlichkeit, so daß alle Versuche und Forderungen nachhaltig zu unterstützen sind, das Richteramt gerade für die besten Juristen

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anziehend zu machen. Leider steht es mit diesen Bemühungen in der Bundesrepublik erkennbar nicht zum Besten. Auch wird aus mancherlei Gründen die Zahl der begabten Juristen, die nicht als Strafrichter arbeiten möchten, ersichtlich immer größer. d) Eine weitere Frage ist, ob das deutsche Recht nicht mindestens in schwerer wiegenden Strafsachen das sog. S c h u l d i n t e r l o k u t einführen sollte; d. h. eine Trennung der Hauptverhandlung in zwei Verfahrensabschnitte, die Schuldfeststellung und die Strafzumessung, um die vielbeklagte Situation abzumildern, daß die für eine Strafzumessung relevanten Faktoren, namentlich im Vortrag von Angeklagtem und Verteidiger, zu wenig betont oder gar aufgeklärt werden, weil es in der Verhandlung in erster Linie um die Schuldfrage geht. Wie schon bemerkt, ist eine solche Trennung gerade im Zeichen eines mehr und mehr auf sachgerechte Einwirkung gegenüber dem einzelnen Rechtsbrecher ausgerichteten materiellen Strafrechts jedenfalls fakultativ dringend zu befürworten und wohl unabweisbar. Sie wird in der Reformdiskussion immer stärker befürwortet, wirft freilich auch eine Reihe schwieriger und ζ. T. noch wenig geklärter Probleme auf (vgl. zum ganzen Dahs, NJW 1970, 1705 m. w. Nachw. sowie ferner Dahs jun., Anwaltsblatt 1971, S. 240).

3. Beweis und

Beweisaufnahme

a) A l l g e m e i n e s . Die StPO zählt an Beweismitteln auf: Zeugen, Sachverständige, Augenschein, Urkunden. Obwohl nicht ausdrücklich ausgesprochen, ist die Aufzählung als erschöpfend anzusehen. Das Gericht darf also andere Beweismittel jedenfalls für die materielle Wahrheitsfindung nicht benutzen. Tonbandaufnahmen (Schmitt, Jur. Schulung 1967, 19) sind, sofern sie nicht wegen heimlicher Aufnahme einem Verwertungsverbot unterliegen (BGHSt 14, 358), als Augenscheinsobjekte anzusehen, müssen jedoch, soweit es sich um die Aufnahme von Vernehmungen aus dem Ermittlungsverfahren handelt, den gleichen Regeln unterliegen wie die Verwertung von Protokollen (dazu im folgenden) und sind im übrigen stets nur zusammen mit einer Zeugenaussage des Aufnehmenden verwertbar, damit sich Beschneidungen usw. erkennen lassen (BGHSt 14, 339). Beweismittel im weiteren Sinne ist schließlich auch die Einlassung des Angeklagten, der freilich nicht förmlich als „Zeuge in eigener Sache" herangezogen wird und überdies zur Aussage nicht verpflichtet ist, worüber er belehrt werden muß (§ 243 Abs. 4 StPO). Verweigert er die Einlassung, ist eine Würdigung seines Schweigens als Belastungsindiz nach herrschender Lehre unzulässig,

während lückenhafte oder widersprüchliche Äußerungen verwertet werden dürfen (Eb. Schmidt, NJW 1968, 1209). Eine Rangfolge für die Verwendung der verschiedenen Beweismittel enthält die StPO nicht. Lediglich der Urkundenbeweis ist insoweit zurückgestellt, als — entsprechend dem Grundsatz der Unmittelbarkeit — Wahrnehmungen einer Person durch deren Vernehmung in den Prozeß eingeführt werden müssen und nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung erstellten Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden können (§ 250 StPO mit Ausnahmen und Gegenausnahmen in §§ 250ff., die Überspannungen vermeiden). Im übrigen bestehen auch für den Beweis in der Hauptverhandlung zahlreiche und oft umstrittene Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote (dazu die Verhandlungen des 46. Dt. Juristentages 1966). In einem Strafverfahren, das den Beweis der Wahrheit nicht mehr aus dem Angeklagten herauszupressen sucht, sind neben seiner Einlassung vor allem Zeugen und Sachverständige die wichtigsten Beweismittel. b) Die Z e u g e n a u s s a g e i n s b e s o n d e r e . Die StPO kennt keine von vornherein untauglichen Zeugen. Freilich schließt die Zeugenstellung nach der Struktur des Gesetzes die Stellung als Prozeßbeteiligter weitgehend aus. Grundsätzlich kann jede Person Zeuge sein, selbst Geisteskranke, Kinder sowie Tatverdächtige, solange sie nicht in der Beschuldigtenrolle stehen (BGHSt 10, 8). Es ist Sache des Gerichts, im Wege der freien Beweiswürdigung Glaubwürdigkeit und Wert der Aussage zu beurteilen. Mag die freie Beweiswürdigung auch sachgerechter sein als die frühere Bindung an gesetzliche Regeln über taugliche und untaugliche, glaubwürdige und unglaubwürdige Zeugen: Die dem Gericht damit abverlangte Aufgabe ist schwer. Sie verlangt vom Richter Kenntnis der Aussagepsychologie und eine Vorstellung von der Vielfalt möglicher Fehlerquellen (-> Forensische Psychologie). Es gehört zu den schwersten Mängeln der deutschen Juristenausbildung, daß die — nicht nur für den Strafprozeß wichtigen — Probleme im Universitätsunterricht im allgemeinen nicht oder nicht eingehend genug behandelt werden: „Es zeigt sich darin eine Überbetonung des Rechtlichen gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten. Die verhängnisvolle Folge ist die abstrakte und formale Denkweise vieler unserer jungen Juristen, wenn sie die Universität verlassen" (K. Peters). Da auch die Justizverwaltungen nur beschränkte Möglichkeiten haben, Referendare und Richter in diesen Fragen fortbilden und schulen zu lassen, sind unsere Juristen, sofern sie nicht Kraft, Zeit und Lust zum Selbststudium haben, auf die viel zu vage Quelle eigener Erfahrungen angewiesen.

Strafverfahrensrecht Eine Reihe von Personen hat aus unterschiedlichen Gründen ein Zeugnisverweigerungsrecht (§§52ff. StPO), das bei Ausübung auch frühere Aussagen im Ermittlungsverfahren umfaßt (§ 252 StPO, in Einzelheiten streitig). Als besonderes Mittel, Zeugen zu wahrheitsgemäßer Aussage zu veranlassen, kennt die StPO den Eid (§§59ff.), seinem Ursprung nach eine feierliche Form der Selbstverfluchung, falls die Aussage unwahr sei. Heute ist der Eid eine feierliche Beteuerung der Wahrheit, meist unter Anrufung Gottes (§ 66 c StPO), deren Verletzung seit BGHSt 8, 301 materiell-rechtlich (§ 154 StGB) nur als qualifizierte Form der uneidlich falschen Aussage gilt. Das Eidesproblem „gehört seit langem zu den umstrittensten Fragen der Strafprozeßreform" (Eb. Schmidt): Die StPO sah zunächst Ausnahmen von der Eidespflicht kaum vor. Unter dem Einfluß des Reformschrifttums stellte dann ein Gesetz von 1933 die Pflicht in einer Reihe von Fällen in das Ermessen des Gerichts, um überflüssige oder wertlose Eide zu vermeiden. Gleichzeitig wurde der Eid, der zunächst „Voreid" war, d. h. grundsätzlich vor der Aussage geleistet werden mußte, in Erfüllung alter Reformwünsche „Nacheid", weil die Ermessensentscheidung des Gerichts meist die Kenntnis der Aussage voraussetzt und weil man der Auffassung war, daß es dem Zeugen leichter falle, eine noch nicht beschworene Aussage zu berichtigen. Gegen diese Ansicht spricht freilich, daß nicht sicher ist, ob die Mehrzahl der meineidsbereiten oder leichtfertig aussagenden Zeugen unter dem Einfluß der feierlichen Beteuerung von vornherein eher bei der Wahrheit bleibt oder zu ihr findet, als sich nachträglich zu einer Berichtigung zu bequemen. Eine VO von 1943 ermächtigte den Richter schließlich grundsätzlich, nach freiem Ermessen über die Beeidigung zu entscheiden, was dazu führte, daß der Eid „fast ganz außer Gebrauch" kam (Henkel). Die bei den Beratungen zum Rechtsvereinheitlichungsgesetz sehr umstrittene Regelung des heutigen Rechts ist im wesentlichen zu dem Rechtszustand von 1933 zurückgekehrt. Weitere Reformüberlegungen sind nur fruchtbar, wenn vorab exakte empirische Untersuchungen über die heutigen Gegebenheiten durchgeführt werden, an denen es derzeit fast gänzlich fehlt. Reformbedürftig ist allerdings die jetzige Regelung des StGB, die bei „rechtzeitiger" Berichtigung einer vollendeten eidlichen (oder uneidlichen) Falschaussage lediglich vorsieht, daß der Richter die Strafe „nach seinem Ermessen mildern oder von Strafe absehen . . . kann" (§ 158 StGB). Denn obwohl der BGH eine „gewisse großzügige Betrachtungsweise" (NJW 1962, 2164) empfiehlt, ist diese Formulierung zu eng, um Berichtigungen zu fördern, und darum für die Wahrheitsfindung eher schädlich. Auch sollte die nach geltendem

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Recht wohl bestehende Pflicht des Richters beseitigt werden, einen Zeugen selbst dann zu vereidigen, wenn er von dessen Meineid überzeugt ist (vgl. Eckert, NJW 1963, 846). Denn so berechtigt das Bestreben sein mag, zu verhindern, daß sich Zeugen der Eidespflicht als Mittel der Wahrheitsforschung entziehen, so unerträglich ist es doch, wenn die Rechtspflege selbst Meineide zuläßt. c) Der S a c h v e r s t ä n d i g e i n s b e s o n d e r e . Wegen seiner Rechtsstellung verweist § 72 StPO auf die Vorschriften über den Zeugen, die nur insoweit nicht gelten sollen, als in den §§ 73—93 StPO etwas anderes gesagt wird. Diese Regelung ist sehr unglücklich, zumal sie auch noch durch die unklare Figur des „sachverständigen Zeugen" (§ 85) verwischt wird. Es hat von jeher Schwierigkeiten gemacht, den Unterschied zwischen Zeugen und Sachverständigen zu bestimmen (Zusammenstellung der Ansichten bei Geerds, ArchKrim 137, 61, 155). Richtigerweise wird man den entscheidenden Unterschied darin zu sehen haben, daß der Zeuge über von ihm beobachtete Tatsachen als solche berichtet, der Sachverständige hingegen nur Erfahrungssätze übermittelt oder Schlüsse zieht. Der Zeuge ist, als meist zufälliger Beobachter, darum regelmäßig unersetzbar; der durchweg in besonderem Auftrag tätige Sachverständige hingegen ist durch eine Person mit dem gleichen Sachwissen austauschbar. In der Praxis sind nun die Fälle häufig, in denen der Sachverständige zugleich über Tatsachen berichtet. Hier gilt nach der Rechtsprechung die komplizierte Unterscheidung zwischen Befund- und Zusatztatsachen (BGHSt 18,107): Nach dieser Differenzierung ist bei Tatsachen, auf denen ein Sachverständiger sein Gutachten aufbaut („Anknüpfungstatsachen"), zu unterscheiden zwischen solchen, die nur eT aufgrund seiner Sachkunde erkennen kann („Befundtatsachen"), und solchen, die auch das Gericht mit den ihm sonst zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Beweismitteln festzustellen vermag („Zusatztatsachen"). Die Befundtatsachen können durch gutachtliche Äußerung des Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt werden; bei den Zusatztatsachen hingegen muß das in anderer Weise, „etwa durch Vernehmung des Gutachters und (oder) des von ihm Begutachteten als Zeugen" geschehen (BGH aaO.). Erfolgt die Sachverständigenäußerung ohne Auftrag, liegt regelmäßig der Fall des „sachverständigen Zeugen" vor, der rechtlich dem Zeugen gleichgestellt ist. — Abgrenzungsschwierigkeiten und Überschneidungen zwischen der Eigenschaft als Zeuge und Sachverständiger sind oft kaum lösbar. Zu Sachverständigen sollen in erster Linie Personen gewählt werden, die dazu öffentlich bestellt sind (§73 Abs. 2). Sie müssen die Be-

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Stellung annehmen, ebenso diejenigen Personen, die „die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausüben, oder . . . zu ihrer Ausübung öffentlich bestellt oder ermächtigt" sind (§75 Abs. 1). Die Pflicht zur Erstattung des Gutachtens ist eine persönliche, doch kann der Gutachter in bestimmtem Umfang Hilfskräfte heranziehen (Hanack, NJW 1961, 2041; BGHSt 22, 268). Das Gesetz kennt auch die Begutachtung durch Fachbehörden, die besonderer Behandlung unterliegt (§ 256). Ob Sachverständige heranzuziehen sind, hat im allgemeinen der Richter gemäß § 244 Abs. 2 StPO zu entscheiden. Nur in wenigen Fällen schreibt das Gesetz vor, daß eine Zuziehung erfolgen muß (§§87, 91f., 246a, 429c) oder soll (§80a). In bestimmtem Umfang ist der Richter auch an das Beweisantragsrecht der Beteiligten gebunden Die Auswahl des Sachverständigen erfolgt — abgesehen von den Fällen des § 245 — immer durch das Gericht. Jedoch trägt die herrschende Meinung keine Bedenken, den von Polizei oder Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren bestellten Gutachter regelmäßig (vgl. aber BGHSt 18, 214 für Beamte des Bundeskriminalamts) auch in der Hauptverhandlung zu verwenden (BGH GA 1956, 294). Bei der Bestellung hat das Gericht nicht nur zu prüfen, ob der einzelne Sachverständige geeignet ist, sondern auch zu entscheiden, aus welchem Fachgebiet er stammen muß. Das kann sehr schwierig sein und verlangt u. U. besondere Studien. Der Sachverständige hat ein Recht zur Verweigerung des Gutachtens, wenn ein Zeugnisverweigerungsrecht i. S. der §§ 52ff. StPO besteht. Er kann auch aus anderen Gründen von der Gutachtenerstattung entbunden (§ 76) und wegen Befangenheit (§ 74) abgelehnt werden. Ob er nach Ablehnung noch als Zeuge vernommen werden darf, ist streitig (BGH J R 1966, 424 mit Anm. Hanack). Im übrigen unterliegt er bei seiner Tätigkeit der Leistung des Gerichts (§78; dazu Sarstedt, NJW 1968, 177) und kann weitere Aufklärung verlangen (§ 80). d) Die B e w e i s a u f n a h m e . Sie ist „von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind", § 244 Abs. 2 (sog. Aufklärungspflicht). Danach muß das Gericht von jedem zulässigen Beweismittel Gebrauch machen, wenn die bereits bekannten Tatsachen, zu denen auch der Akteninhalt des Ermittlungsverfahrens gehören soll, dazu drängen. Nach geltendem Recht wohl unanfechtbar ist die umstrittene Auffassung der Rechtsprechung, daß die Nachforschungspflicht aufhört, sobald sicher ist, daß der Angeklagte freigesprochen werden muß, selbst wenn der Freispruch noch nicht seine völlige Unschuld beweist. Ausnahmen gelten u. U., wenn die Unzurechnungs-

fähigkeit feststeht, aber unklar ist, ob überhaupt eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung vorliegt. Die in den übrigen Fällen durch einen den Angeklagten nicht befriedigenden Freispruch nicht selten entstehenden Härten werden in der Praxis ζ. T. dadurch abgefangen, daß leicht erreichbare Beweismittel aus dem Bestreben, eine Fürsorgepflicht zu erfüllen, doch noch zu seiner völligen Rehabilitierung ausgenutzt werden. Die Verletzung der Aufklärungspflicht begründet die Revision. Das Gericht ist, wie schon angedeutet, in erheblichem Umfang über § 244 Abs. 2 hinaus zur weitergehenden Erhebung von Beweisen verpflichtet: Nach § 245 ist die Beweisaufnahme regelmäßig auf sämtliche vorgeladenen und auch erschienenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf andere herbeigeschaffte Beweismittel zu erstrecken, so daß es die Beteiligten in erheblichem Umfang in der Hand haben, dem Gericht Beweismittel aufzuzwingen (vgl. schon oben C). Daß von diesen Möglichkeiten in der Praxis offenbar nicht allzu häufig Gebrauch gemacht wird, dürfte weitgehend auch ein Zeichen für die Sorgfalt der Gerichte sein. Ferner ist das Gericht stark an Beweisanträge der Beteiligten gebunden. Beweisanträge sind das ernstgemeinte Verlangen, über eine rechtlich erhebliche Beweistatsache mit einem hinreichend bestimmt bezeichneten Beweismittel Beweis zu erheben. Da Beweisanträge nur durch besonderen Gerichtsbeschluß abgelehnt und nicht erst in den Urteilsgründen beschieden werden dürfen (§ 244 Abs. 6), zwingen sie das Gericht in jedem Fall schon während des Prozesses zu einer Beratung. Auch muß eine Ablehnung so eingehend begründet werden, daß der Antragsteller unterrichtet und in die Lage versetzt wird, sein weiteres Prozeßverhalten entsprechend einzurichten. Die Ablehnung ist überhaupt nur aus den in § 244 Abs. 3—5 genannten Gründen zulässig. Diese Gründe, die ursprünglich in der StPO nicht enthalten waren, gehen im wesentlichen auf Grundsätze zurück, die das Reichsgericht erarbeitet hat und die später in das Gesetz eingebaut wurden. Danach gilt heute folgendes: Nach der allgemeinen Regelung des § 244 Abs. 3 darf, abgesehen von den Fällen unzulässiger Anträge, „ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozeßverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr". Die Zahl der Ausnahmen kann nicht darüber hinwegtäu-

Strafverfahrensrecht sehen, daß es sich tatsächlich um Ausnahmen handelt, mögen manche von ihnen auch erhebliche Auslegungsschwierigkeiten bergen und ohne Kenntnis der reichsgerichtlichen Rechtsprechung in ihrem Kern kaum zu erfassen sein. Anträge auf Vernehmung eines Sachverständigen dürfen nach § 244 Abs. 4 S. 1 auch abgelehnt werden, „wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt". Die Rechtsprechung stellt hier ζ. T. recht strenge Anforderungen, vor allem bei Glaubwürdigkeitsbegutachtungen auffälliger Kinder (BGHSt 2,163; 13,297; vgl. auch 23,8 zur Zuständigkeitsverteilung zwischen Psychiater und Psychologen). Sie nimmt jedoch eine genügende Sachkunde schon an, wenn ein Mitglied des Kollegiums sie besitzt (BGHSt 12,18). Das ist in dieser Verallgemeinerung bedenklich, weil die dem sachkundigen Richter damit eingeräumte dominierende Stellung mit dem Wesen der Kollegialgerichtsbarkeit unvereinbar sein kann. Anträge auf weiteren Sachverständigenbeweis können abgelehnt werden, wenn durch das erste Gutachten „das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist" (§ 244 Abs. 4 S. 2). Da die Gerichte das oft schwer beurteilen können, ist Vorsicht am Platze, wie das Gesetz selbst zeigt: Die Zuziehung eines weiteren Sachverständigen darf danach nicht unterbleiben, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren überlegen sind. Namentlich die Frage, wann ein neuer Sachverständiger überlegene Forschungsmittel besitzt, hat die Rechtsprechung oft beschäftigt. Sie erfährt meist eine enge Auslegung (vgl. aber BGHSt 23,176 zur Begutachtung im Fall Bartsch), offenbar um Bestrebungen entgegenzutreten, einen Sachverständigen einzuschleusen, den der Antragsteller für „günstiger" hält. So gelten als überlegene Forschungsmittel nicht größere persönliche Kenntnisse und Erfahrungen oder die Kenntnis eines besonders reichen Anschauungsmaterials (BGH GA 1962, 371). Das mag hart sein, hindert aber, daß sich die Begutachtungen auf wenige Spitzenkräfte zusammendrängen. Im übrigen gehört es zu den Pflichten des Sachverständigen, dem Richter in den wirklich kritischen Fällen zu empfehlen, die Begutachtung einem besonderen Sachkenner zu übertragen; diesen Hinweis hat das Gericht schon aufgrund des § 244 Abs. 2 von Amts wegen zu beachten. Besonderheiten gelten für Anträge auf Augenscheinseinnahme. Sie können „nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts" abgelehnt werden (§244 Abs. 5). Das bedeutet praktisch eine Beschränkung auf § 244 Abs. 2. Freilich stellt die Rechtsprechung hier strenge Anforderungen.

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Von den Beweisanträgen sind sog. Beweisermittlungsanträge zu unterscheiden. Diese bezwecken lediglich, Umstände auszunutzen, aus denen sich vielleicht sachdienliche und dann noch zu benutzende Beweismittel ergeben können. Diese „Anträge" enthalten Anregungen an das Gericht, im Rahmen seiner Pflicht nach § 244 Abs. 2 in bestimmter Weise tätig zu werden. Sie müssen daher geprüft werden, unterliegen jedoch nicht den strengen Regeln über Beweisanträge. Die Unterscheidung zwischen Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag kann Schwierigkeiten machen, weil Beweisanträge in der Praxis vielfach in mangelhafter Form eingereicht werden. Nötigenfalls ist durch Auslegung und Befragung klarzustellen, worum es sich handelt. e) D e r sog. F r e i b e w e i s . Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre gelten die zu a)—d) dargelegten Regeln sowie die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit nur für die Feststellung materiell erheblicher Tatsachen, d. h. die „Schuld- und Straffrage" („Strengbeweis"), nicht hingegen für die Feststellung prozessual erheblicher Tatsachen. Diese sollen vielmehr im Wege des „Freibeweises" ohne die genannten Einschränkungen ermittelt werden dürfen, also praktisch — und abgesehen von allgemeinen Beweisverboten — in jeder Weise, die zur richterlichen Überzeugungsbildung geeignet ist. Diese Auffassung ist von der Rechtsprechung eigentlich niemals und von der Lehre nur mit jeweils bestrittenen Argumenten begründet worden (Eg. Peters, Der sog. Freibeweis im Zivilprozeß, 1962). Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage gibt es nicht. Sie folgt auch nicht aus bestimmten Einzelvorschriften (ζ. B. §§ 26 Abs. 2, 30, 45, 66, 251 Abs. 3), die Erleichterungen vom Strengbeweis schaffen. Man mag darüber streiten, ob diese Erleichterungen zu eng sind. Jedenfalls ist es nicht angängig, alle prozessual erheblichen Tatsachen, von denen u. U. die Bestrafung genau so abhängen kann wie von der Feststellung der materiell-rechtlichen, dem legeren „Freibeweis" anzuvertrauen, wenn das Gesetz aus gutem Grund für Schuld- und Straffrage Strengbeweis kennt. Es kommt hier jene verhängnisvolle Geringschätzung zum Ausdruck, „das Prozessuale" als etwas Formales und nicht so Wichtiges anzusehen. Eg. Peters hat in einer Analyse der in der Strafrechtspraxis gewöhnlich auftretenden Fälle nachgewiesen, „welche Unterschiede die einzelnen Fälle in ihrer Bedeutung für die Gestaltung des Verfahrens und vor allem für den Inhalt des Urteils aufweisen". Es zeigt sich dabei namentlich, daß viele Anwendungsfälle des Freibeweises so eng mit materiell-rechtlichen Fragen gekoppelt sind, daß die Unterscheidung vielfach geradezu willkürlich wirkt. Da sich die Rechtsprechung überdies nicht selten mit großzügigen Anforderungen an die Intensität des Freibeweises begnügt,

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ergibt sich für den Gesamtkomplex eine außerordentlich unbefriedigende Situation. Sie bedarf dringend einer gründlichen wissenschaftlichen Durchdringung und genauer legislatorischer Prüfung im Rahmen der Bemühungen zur Strafprozeßreform. 4. Schlußvorträge

und letztes Wort

Über den Inhalt der Schlußvorträge von Staatsanwalt und Verteidiger sind in § 258 StPO keine näheren Angaben enthalten. a) Da der S t a a t s a n w a l t der objektiven Wahrheit verpflichtet ist (oben A), ist selbstverständlich, daß er vom Ergebnis der Hauptverhandlung auszugehen hat. Die bisweilen zu beobachtende Unsitte, daß er nur den Inhalt der Anklageschrift wiederholt, ist ebenso unzulässig wie eine einseitige Überführungstendenz oder ein Vortrag nur der belastenden Momente. Im übrigen hat der Schlußvortrag eine doppelte Funktion: Er soll dem Gericht bei der Urteilsfindung helfen und dem Angeklagten zeigen, wie der Vertreter des Staates Sachverhalt und rechtliche Folgerungen ansieht. Daraus folgt, daß der Staatsanwalt das Gesamtergebnis der Verhandlung tatsächlich und rechtlich zu würdigen hat, also auch zu einer bestimmten Stellungnahme finden muß; hält er die Schuld für erwiesen, hat er die Strafzumessungsgründe zu erörtern und sich gegebenenfalls darüber zu äußern, ob und welche Maßregeln der Sicherung und Besserung oder Nebenstrafen und Nebenfolgen zu verhängen sind und ob Strafaussetzung zur Bewährung in Betracht kommt. Insbesondere wegen seiner Wirkung auf den Angeklagten kommt dem Schlußvortrag hohe Bedeutung zu. Zugleich prägt er das Bild der Öffentlichkeit vom Amt des Staatsanwalts. Daher ist die unverkennbar zu beobachtende Tendenz, an der einmal erhobenen Anklage festzuhalten (Dahs, DRiZ 1960,108), lebhaft zu bedauern. Der Staatsanwalt setzt dadurch seine Objektivität herab und verletzt seinen gesetzlichen Auftrag; er verschärft auch den schon durch die äußerliche Situation der Hauptverhandlung naheliegenden Eindruck, er sei nur „Partei" — ein Nachteil, der möglicherweise gefördert wird durch Fehlvorstellungen auch von vorgesetzten Staatsanwälten, die Freisprechung bedeute einen Prestigeverlust der Staatsanwaltschaft. Ebenso ist zu bedauern, daß in einer wahrscheinlich nicht gering zu veranschlagenden Zahl von Fällen die staatsanwaltschaftlichen Strafvorschläge höher sind als es der gerichtlichen Praxis entspricht (Dahs); es mag zwar im Einzelfall einmal geboten sein, daß der Staatsanwalt aus Abschreckungsgründen eine höhere Strafe vorschlägt (streitig), und selbstverständlich ist er nicht verpflichtet, sich einer gerichtlichen Praxis unbedingt anzuschließen; aber die Divergenz zwischen seinem Antrag und

den gerichtlichen Verurteilungen scheint mehr auf dem fehlerhaften Gesichtspunkt zu beruhen, der Staatsanwalt müsse stets eine Nuance schärfer sein als das Gericht. Unerfreulich ist auch die verbreitete Vorstellung, er solle nach Einspruch gegen einen Strafbefehl (unten H) in der Hauptverhandlung im Zweifel dieselbe Strafhöhe beantragen, die der Strafbefehl vorsah, weil damit beim Angeklagten der Eindruck entsteht, der Strafbefehl präjudiziere jedenfalls in der Strafhöhe die gerechte Entscheidung. Die geschilderten unerfreulichen Aspekte wiegen insbesondere deswegen schwer, weil Güte und Sachlichkeit des Plädoyers psychologisch eine oft außerordentliche Wirkung auf den Angeklagten und die Frage haben, ob er eine Verurteilung innerlich hinnimmt, zumal er im Staatsanwalt nicht nur seinen natürlichen „Gegner", sondern auch das den richterlichen Spruch beeinflussende Staatsorgan sieht. Auf die Bedeutung dieser psychologischen Komponente hat vor allem Dahs (aaO.) aus der Sicht des Verteidigers eindrucksvoll hingewiesen. Er stellt dem deutschen Staatsanwalt an sich ein gutes Zeugnis aus, erklärt namentlich, daß „Ehrgeiz und Eitelkeit, Geltungsbedürfnis und Machtbewußtsein . . . , die gefährlich wie Rauschmittel wirken können", selten seien und daß „der Typus des Staatsanwalts als eines schneidigen, forschen, scharfen oder gar blutrünstigen Staatsanwalts in den Gerichtssälen nicht zu Hause" sei, auch der „überhebliche, zynische oder ironische Ton . . . zu den Seltenheiten" gehöre. Aber er macht deutlich, wie sehr der Angeklagte von Mängeln des Plädoyers getroffen werden kann. Das gilt vor allem für Ungeschicklichkeiten bei der vielfach notwendigen Persönlichkeitswertung oder bei der Begründung eines Strafzumessungsvorschlags, die nicht zur „Charakterwäsche und öffentlichen Durchleuchtung" werden dürfen; es gilt ferner etwa für Strafvorschläge bei Delikten mit größerer Dunkelziffer, denn „kaum etwas anderes deprimiert den Angeklagten so sehr, als das Wissen darum, einer der verschwindend wenigen Zufallsfälle zu sein, die von der Strafverfolgung erfaßt werden, während die große Menge ungeschoren bleibt" (Dahs). Es gilt aber auch für unangebrachtes „Moralisieren", für unpassende Bemerkungen über das „Niveau" des Angeklagten oder für Bemerkungen über die Stärke des stehengebliebenen Tatverdachts, wenn auf Freispruch mangels Beweises plädiert wird. b) Entsprechend der Funktion des V e r t e i d i g e r s (oben A) bezweckt dessen Schlußvortrag, die zugunsten des Angeklagten sprechenden Umstände besonders hervorzuheben. Da der Verteidiger Rechtspflegeorgan ist, hat er unqualifizierte Angriffe und Äußerungen ebenfalls zu unterlassen. Er darf auch nicht wider besseres Wissen Freispruch wegen erwiesener Unschuld verlangen.

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Strafverfahrensrecht Wohl aber darf er das Ergebnis der Hauptverhandlung objektiv würdigen und daraus gegebenenfalls den Antrag auf Freispruch mangels Beweisen selbst dann herleiten, wenn er aus anderen Gründen von der Schuld des Mandanten überzeugt ist oder (streitig) gar von ihr weiß. So sehr dem Verteidiger u. U. daran gelegen sein mag, mit einem Gericht in gutem Einvernehmen zu bleiben, vor dem er immer wieder auftritt, so wenig darf er sich doch dadurch verleiten lassen — etwa mit Rücksicht auf ein ermüdetes oder unwirsches Gericht — Dinge nicht zu sagen, die wesentlich sind. Daher ist der Verteidiger wohl verpflichtet, sein Plädoyer nötigenfalls zu unterbrechen, wenn er feststellen muß, daß sich Richter dabei unterhalten, mit anderen Akten beschäftigen oder der Einzelrichter gar schon die Urteilsformel niederschreibt. Genauso wenig aber darf er mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit oder den Mandanten Dinge vortragen, an deren Wert oder Richtigkeit er selbst nicht glaubt. Im übrigen liegt das Schwergewicht einer Verteidigung durchaus nicht immer im Plädoyer. Nach einer gutgeführten Verhandlung und einem sorgfältig abwägenden Schlußvortrag des Staatsanwalts bietet sich dem korrekten Verteidiger oft ein nicht mehr allzu großes Feld. Den Wert seiner Wächterfunktion mindert das nicht. Macht er den Mandanten rechtzeitig und in geeigneter Form auf Sinn und Grenzen dieser Funktion aufmerksam, wird er sinnlose Ausführungen und damit auch eine Situation vermeiden, die für jede sachgerechte Verteidigung höchst schädlich ist: daß nämlich seine Argumente vom Gericht bei der Urteilsbegründung übergangen oder pauschal abgetan werden (müssen) und dadurch beim Angeklagten der fatale Verdacht entsteht, das Gericht habe die Einwendungen der Verteidigung nicht sehen wollen oder können. Auch wenn der Verteidiger auf Freispruch plädiert, sollte er zu einem Strafvorschlag des Staatsanwalts stets Stellung nehmen, weil sonst für den Fall der Verurteilung an seinem Plädoyer das wichtigste fehlt: die Darlegung mildernder Umstände. Forensisch ist das oft schwer, da der Verteidiger dann mit seinem in erster Linie auf Freispruch gerichteten Antrag unglaubwürdig werden kann. Auch das spricht für die Einführung eines Schuldinterlokuts (oben D 2). Schon nach geltendem Recht kann der Verteidiger die Schwierigkeiten aber dadurch mildern, daß er erst die Rechtsauffassung des Staatsanwalts unterstellt und sich mit ihr kritisch auseinandersetzt, um dann darzulegen, daß er dessen Prämissen für unrichtig hält und darum Freispruch verlangt. c) Das l e t z t e W o r t des Angeklagten (§ 258), insbesondere für ihn selbst u. U. psychologisch bedeutsam, muß ihm ausdrücklich und in einer Weise gegeben werden, die dem Angeklagten den 16 HdK, 2. Aufl., Bd. III

Eindruck vermittelt, daß man ihn ernst nimmt und für ihn Zeit hat. 5. Beratung,

Urteil, Urteilsgewinnung -begründung

und

a) Nach dem letzten Wort des Angeklagten führt das Kollegialgericht die geheime B e r a t u n g durch, die stets mit einem Urteil endet, falls das Gericht nicht noch einmal in die Hauptverhandlung eintritt, um weitere Beweise zu erheben oder eine andere Prozeßhandlung vorzunehmen. Für Beratung und Abstimmung gelten die allgemeinen Vorschriften der §§ 192ff. GVG, modifiziert durch § 263 StPO, wonach für die dem Angeklagten nachteiligen Entscheidungen zur Schuld- und Straffrage Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Der Einzelrichter muß sich zur Beratung nicht zurückziehen. Nach BGHSt 11, 74 soll er nicht einmal gegen das Gesetz verstoßen, wenn er die schriftliche Urteilsformel schon während der Schlußvorträge anfertigt, falls er diesen noch innerliche Aufmerksamkeit schenkt. Doch beeinträchtigt ein solches Verfahren jedenfalls so kraß das „letzte Wort", daß es wohl doch als Verfahrensverstoß zu qualifizieren ist, im übrigen aber die Vermutung begründen muß, das auf so fragwürdige Weise zustande gekommene Urteil beruhe auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (OLG Köln, NJW 1955,1291; vgl. auch Sarstedt, J R 1956, 274). b) Das U r t e i l lautet auf Freispruch, Verurteilung, Anordnung einer Maßregel der Sicherung und Besserung oder — als „Prozeßurteil" bei Bestehen eines die Verurteilung ausschließenden Verfahrenshindernisses (ζ. B. Verjährung) — auf Einstellung, § 260 StPO. Das freisprechende Urteil muß erkennen lassen, „ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat nicht für strafbar erachtet worden ist" (§267 Abs. 5). Es darf den Angeklagten nicht unnötig oder gar unsachlich belasten, also ζ. B. nicht die Bemerkung enthalten, daß der Angeklagte vermutlich doch der Täter sei und nur nicht habe überführt werden können. Durch Änderungen der Kostenregelungen beim Freispruch (unter F 3) sind seit 1964 bzw. 1968 auch die unerfreulichen Konsequenzen entscheidend abgemildert worden, die sich bisher daraus ergaben, daß wegen der Kostenentscheidung, oft sehr zum Schaden des Freigesprochenen, zwischen verschiedenen Arten des Freispruchs regelmäßig näher unterschieden werden mußte. c) G e g e n s t a n d der U r t e i l s f i n d u n g ist „die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der (Haupt-Verhandlung darstellt" (§264 StPO). Diese Beschränkung dient dem Zweck, den Anklagegrundsatz zu wahren. Der Begriff „Tat", wichtig

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für die Grenzen der gerichtlichen Kompetenz und für die Rechtskraft, umfaßt den einheitlichen geschichtlichen Vorgang, den die Anklage ansprechen wollte. Was im einzelnen darunter fällt, wird von der Rechtsprechung nach der „natürlichen Auffassung des Lebens" insbesondere mit Hilfe des Gesichtspunkts bestimmt, ob die getrennte Aburteilung einen einheitlichen Lebensvorgang unnötig aufspalten würde (BGHSt 13,21). An die rechtliche Beurteilung der Tat im Eröffnungsbeschluß ist das Gericht nicht gebunden, §264 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte darf aber nicht aufgrund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage (oben C) genannten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen worden ist und Gelegenheit erhalten hat, sich entsprechend zu verteidigen (§ 265 StPO mit Einzelheiten). Diese Regelung bezweckt den Schutz des Angeklagten vor Überraschungen im Interesse seiner sachgerechten Verteidigung; sie ist darum ernst zu nehmen. Der Hinweis ist mindestens überall da erforderlich, wo die neu in Betracht kommende Strafvorschrift einen anderen als den zuerst genannten Tatbestand enthält, und sei es auch nur einen milderen, oder wo eine im Wesen verschiedene Begehungsform derselben Strafbestimmung vorliegt. d) Das Gericht hat die Entscheidung über das Ergebnis der Beweisaufnahme „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung" zu gewinnen, § 261 StPO: G r u n d satz der f r e i e n Beweiswürdigung. Verboten ist es daher, Akte der Beweisaufnahme in das Beratungszimmer zu legen (BGH MDR 1952, 532). Verwehrt ist dem Richter auch, privates eigenes Wissen über die zu beweisenden Tatsachen zu verwenden. Zum eigenen Wissen in diesem Sinne gehören jedoch nicht die sog. offenkundigen Tatsachen (§ 291 ZPO, vgl. auch § 244 Abs. 3 S. 2 StPO), d. h. allgemeinkundige und gerichtsbekannte Tatsachen, die des Beweises nicht bedürfen. Die Grenze der Offenkundigkeit ist nicht zu weit zu ziehen, weil sonst leicht die Pflicht zur Beweisaufnahme überspielt wird. Im übrigen müssen offenkundige Tatsachen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden, damit sich die Beteiligten mit ihnen auseinandersetzen können (BVerfGE 10,177). Wenn das BVerfG (aaO.) meint, soweit es sich um Erfahrungstatsachen handele, sei der Gegenbeweis im Einzelfall nicht ausgeschlossen, so bedeutet das eine gefährliche Verwirrung: Wo ein Gegenbeweis, und sei es auch nur „im Einzelfall", möglich ist, liegt keine offenkundige Tatsache vor, sondern höchstens eine widerlegbare Vermutung, die im Strafprozeß die Pflicht zum Beweis nicht ausschließt, soweit nicht in einigen Vorschriften des StGB gesetzlich etwas anderes bestimmt wird.

Die Entscheidung aus dem „Inbegriff der Verhandlung" bedeutet nicht, daß dem Urteil nur solche Tatsachen oder Schlüsse zugrundegelegt werden dürften, die in der Hauptverhandlung ausdrücklich erörtert oder konstatiert worden sind. Vielmehr ist es möglich und geradezu ein charakteristisches Zeichen richterlicher Sachverhaltsfeststellung, daß aus erwiesenen Tatsachen weitere Folgerungen abgeleitet werden. Aus dieser Möglichkeit ergibt sich die bisweilen bestrittene Zulässigkeit des Indizienbeweises (Drucker, HdK 1936, 1. Aufl. I. 714ff.), d. h. der Schluß von mittelbar relevanten feststehenden Tatsachen auf andere, unmittelbar entscheidungserhebliche. Der Indizienbeweis ist unentbehrlich für eine Rechtsordnung, die auf Erforschung der Wahrheit aus ist, aber dennoch den Angeklagten als Prozeßsubjekt behandelt und ihm ein Geständnis nicht abpreßt. Er nötigt freilich zu besonderer Vorsicht, vor allem wenn mehrere Indizien oder Schlußfolgerungen nötig sind, um eine entscheidungserhebliche Tatsache festzustellen. Denn eine Indizienkette ist stets so schwach wie ihr schwächstes Glied. Der Indizienbeweis erfordert darum „Kombinationsgabe, Weitblick und vor allem eine unbestechliche Objektivität" (K. Peters). Die freie Beweiswürdigung besagt gerade beim Indizienbeweis nicht, daß sich die Beweiswürdigung willkürlich vollziehen dürfte, sondern sie ist nur die Konsequenz aus der Einsicht, daß sich die Beweiswürdigung in gesetzlichen Beweisregeln nicht ausreichend einfangen läßt und daher zur bestmöglichen Wahrheitsfindung dem Richter überlassen bleiben muß. Das Gericht hat, soweit nicht Be weis verwertungsverbote entgegenstehen, die Beweiswürdigung nach der Lebenserfahrung und insbesondere nach den Gesetzen der Logik und den Erkenntnissen der Wissenschaft zu vollziehen. Verstöße dagegen gelten heute zu Recht weitgehend als revisibel (unten D 3). Diese Pflicht zu einer mit unserem gesamten Wissen in Einklang stehenden Prüfung stellt an den Richter höchste Anforderungen. Sie verlangt vor allem Lebenserfahrung, Kenntnis zeugenpsychologischer Vorgänge und Verständnis für die eigentlich kriminalistische Arbeit. Es ist darum zu bedauern, daß in der BRD diesen Problemen in der akademischen Lehre nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird und daß Juristen oft viel zu jung ins Richteramt kommen oder doch zu schnell als Einzelrichter amtieren. e) Das W e s e n d e r r i c h t e r l i c h e n Ü b e r z e u g u n g , das beim Prinzip der freien Beweiswürdigung ausschlaggebende Bedeutung erlangt, ist viel untersucht worden. Anerkannt ist, daß vom Richter die Findung der absoluten Wahrheit nicht verlangt wird (BGH N J W 1951, 83, 122), weil dann menschliches Richten nicht möglich wäre. Umstritten, wenn auch vielleicht mehr in der Terminologie, ist jedoch, welches Maß an

Strafverfahrensrecht subjektiver Gewißheit gegeben sein muß, damit man von einer „Überzeugung" des Richters sprechen kann. Formulierungen des Reichsgerichts, nach denen es auf einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit ankommt, wie er bei bestmöglicher Ausschöpfung der vorhandenen Erkenntnismittel entstehe, sind mit Recht beanstandet worden; ob Kritik auch an den häufig gebrauchten Formeln von der „an Sicherheit/Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" berechtigt ist, kann zweifelhafter sein, weil diese Formeln immerhin das Erfordernis der „Sicherheit" bzw. „Gewißheit" zum Ausdruck bringen. Das Entscheidende der Überzeugung ist jedenfalls, daß der Richter unter Berücksichtigung des Umfangs, aber auch der Grenzen menschlichen Wissens keine Zweifel mehr hat; daß er eben „voll überzeugt" ist und andere, wenn auch ferner liegende Möglichkeiten mit objektiver Sicherheit als ausgeschlossen ansieht. Der Vorgang der Überzeugungsbildung ist also bis zu einem gewissen Grad notwendig ein subjektiver. Denn bei menschlichem Wissen spielt nicht nur das Maß der individuellen Lebenserfahrung eine Rolle, sondern auch die Struktur der einzelnen Persönlichkeit, die den Richter, je nach seinen Veranlagungen, leichter oder schwerer zur Überzeugung kommen läßt. So gesehen, kann man durchaus von einem irrationalen Element der Überzeugungsbildung sprechen. Bedenklich ist aber eine ζ. T. vorhandene Tendenz, diese irrationalen Elemente überzubetonen oder gar neben dem Verstand das „Gefühl" als „wesentlichen Bestandteil" der Entscheidungsgrundlage anzusehen. Gewiß ist das, was man ζ. B. als „persönlichen Eindruck" des Richters von einem Angeklagten oder Zeugen versteht, rational oft schwer zu analysieren. Aber wo die rationale Fundierung unmöglich ist, spricht alles für ein instinktives Empfinden, das als richterliche Überzeugung zu vage ist und entweder die Überwindung unpassender Zweifel verhindert oder gar keine fundierte und kontrollierte Überzeugungsbildung darstellt. f) Da der Richter nur von Tatsachen ausgehen kann, von denen er in dem geschilderten Sinne „überzeugt" ist, folgt aus § 261 StPO auch, daß er sie andernfalls einer Verurteilung eben nicht zugrunde legen kann, also — falls das Gesetz selbst in Einzelfällen nichts anderes bestimmt (ζ. B. § 259 StGB) — Zweifel zugunsten des Angeklagten wirken: „ i n d u b i o pro r e o " . Dieser Satz, der nur für Tatsachenfeststellungen, nicht aber für zweifelhafte Rechtsfragen gilt und eine lange Geschichte hat, gehört zu den wichtigsten Grundsätzen des rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er ist in seinen Konsequenzen immer wieder verdunkelt worden, weil man ihn in Lehre und Praxis zwar anerkennt, aber über seine Rechtsnatur streitet. So ist er häufig nur als Kehrseite des materiell-rechtlichen Schuldgrundsatzes oder doch als allein für die Straf- und Schuldfrage ie*

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geltende Regel verstanden worden. Einzelheiten sind noch heute umstritten. Die herrschende Meinung wendet den Grundsatz auch für Ausnahmen von der Strafbarkeit (ζ. B. §§ 51—54 StGB) oder für Strafmilderungsgründe an, wenn trotz vorhandener Anhaltspunkte keine eindeutige Feststellung möglich ist. Auch für prozessual erhebliche Tatsachen muß er gelten, soweit dem Gesetz nicht zu entnehmen ist, daß hier Zweifel zu Lasten der Beteiligten gehen sollen; daher hat ihn BGHSt 18, 274 zu Recht bei Unklarheit über den Eintritt der Verjährung herangezogen. g) Das U r t e i l ist im Entscheidungssatz (Urteilsformel, „Tenor") öffentlich zu verkünden (§§ 268 StPO, 173 GVG), in seinem „wesentlichen Inhalt" mündlich zu begründen oder zu verlesen und außerdem binnen einer Woche schriftlich abzusetzen (§§267 f., 275, 338 Nr. 7 StPO). Ein Verstoß gegen die Wochenfrist ergibt nach sehr umstrittener und bedenklicher Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen einen Anfechtungsgrund (BGHSt 21, 4). Die schriftliche Urteilsbegründung ist aus einer Reihe von Gründen wichtig: für das Revisionsverfahren, wo sie die Grundlage zur sachlichrechtlichen Überprüfung des Spruchs abgibt (unten Ε 3); für die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft (unten F 1) und für ein eventuelles Wiederaufnahmeverfahren (unten G); für die Frage eines -»• Gnadenerweises; für den -»• Strafvollzug, weil sie den Vollzugsbehörden Anhaltspunkte über die Person des Täters liefert, die für Art und Weise des Strafvollzugs, insbesondere das Resozialisierungsbemühen, von Bedeutung sind. Die schriftliche Begründung muß daher einer Reihe von Anforderungen genügen (§ 267 StPO). Die mündliche Begründung, die bei Divergenz zu den schriftlichen Gründen rechtlich nicht wesentlich ist (Bayr. ObLG MDR 1953, 248), bezweckt, die Beteiligten vorläufig darüber zu unterrichten, welche Gründe das Gericht zu seiner Entscheidung bestimmt haben. Sie ist daneben aber auch eine „jener schmalen Brücken, die Justiz und Öffentlichkeit verbinden", und darum von Wichtigkeit als „Chance, die . . . Vereinsamung des Richters von heute zu durchbrechen" (Werner JZ 1951, 781 mit treffender Charakterisierung der „pädagogischen Aufgabe"). Mehr noch als die schriftliche Begründung ist es gerade die mündliche, die Angeklagten und Öffentlichkeit „ein Urteil darüber gewinnen (läßt), ob Richter mit Mut und Verantwortungsbewußtsein, mit Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, aber auch mit Mitgefühl und Herz bemüht gewesen sind, . . . das richtige und gerechte Urteil zu finden" (Löwe-Rosenberg). Daß diese Kunst in der Bundesrepublik nicht eigentlich gelehrt und literarisch zu wenig beachtet wird, ist zu bedauern. Jeder Verteidiger kennt Fälle — auch bei schriftlichen Begründungen —, in denen unüberlegte Bemerkungen beim Ange-

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klagten Verwirrung, unnötigen Widerspruch oder gar Schaden hervorgerufen haben — so etwa die bei der Strafzumessung formelhaft benutzte Wendung, die verhängte Strafe sei erforderlich, um den Angeklagten „von der Begehung weiterer Straftaten abzuschrecken". In diesen Zusammenhang gehören auch die immer wieder vorkommenden, aber offenbar nicht auszurottenden Fälle unangemessenen „Moralisierens". Sie sind prozeßordnungswidrig, weil der Richter nicht bestellt und nicht kompetent ist, moralisch zu verdammen, daher Wertungen nur aussprechen darf, soweit sie bei Strafzumessungserwägungen einen legitimen rechtlichen Platz haben (eine sachlichrechtlich übrigens insgesamt viel zu wenig geklärte Frage); durch diese Zurückhaltung allein muß das richterliche Urteil auf die Beteiligten wirken und verhindern, daß der Angeklagte, für den es oft schwer genug ist, sich der Autorität des individuellen Richters zu unterwerfen, in diesem nicht den Pharisäer oder den Vertreter einer „herrschenden Klasse" sieht. E. Rechtsmittel 1.

Allgemeines

Das deutsche Recht kennt je nach Art und Schwere der Delikte verschiedene erstinstanzliche Spruchkörper: Einzelrichter, Schöffengericht, Große Strafkammer, Schwurgericht sowie — bei bestimmten politischen Strafsachen — Strafsenate der Oberlandesgerichte (-»· Gerichtsverfassung; für politische Sachen vgl. dazu jetzt das Gesetz vom 8.9.1969, BGBl. 1 1582). Die Urteile dieser Gerichte können in bestimmter Form und Frist von den Prozeßbeteiligten durchweg mit sog. Rechtsmitteln angefochten werden, die zur Überprüfung des Spruchs durch eine höhere Instanz, das Rechtsmittelgericht, führen, dessen Entscheidung zum Teil der Nachprüfung durch eine zweite Rechtsmittelinstanz unterliegt (-> Gerichtsverfassung). Dem Angeklagten stehen Rechtsmittel grundsätzlich nur zu, wenn eine „Beschwer" vorliegt. Neben diesen Rechtsmitteln besteht die Möglichkeit einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe des GG und des BVerfGG. Die Urteilsüberprüfung durch Strafgerichte geschieht teils in Form der Berufung, teils in Form der Revision. Die StPO kennt als Rechtsmittel daneben noch die Beschwerde (§§304ff. StPO), die gegen jene Entscheidungen statthaft ist, die keine Urteile sind und/oder nicht in angemessener Form zusammen mit einem Urteil überprüft werden können. So sind ζ. B. Zwangseingriffe im Ermittlungsverfahren grundsätzlich mit der Beschwerde, ζ. Z. sogar einer weiteren Beschwerde (§310 StPO) gegen die Beschwerdeentscheidung, anfechtbar.

2. Die Berufung

insbesondere

Sie erlaubt eine völlige Neuverhandlung der Strafsache (§§312ff. StPO): Sofern die Prozeßbeteiligten das Rechtsmittel nicht in zulässiger Weise auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränken (§§ 318, 327), findet auf der Grundlage der zugelassenen Anklage eine erneute Sachverhaltsfeststellung mit erneuter rechtlicher Beurteilung der Tat statt. Dem entspricht es, daß die Vorschriften über die Hauptverhandlung in erster Instanz im wesentlichen auch hier gelten (§ 332). Abweichungen ergeben sich vor allem dadurch, daß statt der Verlesung des Anklagesatzes (oben C) ein berichterstattender Richter in Abwesenheit der Zeugen über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens einen Vortrag hält und das Urteil des ersten Rechtszuges, regelmäßig mit Gründen, zu verlesen ist (§324). Diese Maßnahme bezweckt, vor allem bei beschränkter Berufung, den Gegenstand der Verhandlung und das Ziel des Beschwerdeführers klarzustellen. Die Verlesung kann namentlich bei Laienrichtern eine starke Voreingenommenheit auslösen, die wohl nur ζ. T. dadurch abgeschwächt wird, daß der Berichterstatter grundsätzlich auch Anträge und Vorbringen des Rechtsmittelführers mitzuteilen hat. Bei den SchlußvortTägen wird diesem im übrigen zuerst das Wort erteilt (§ 326). Auch knüpft das Berufungsurteil an die angefochtene Entscheidung an — sei es, daß die gegen das Urteil eingelegte Berufung verworfen wird, sei es, daß das Berufungsgericht das Urteil aufhebt und durch das eigene ersetzt oder abändert, sei es, daß es in Ausnahmefällen die Sache zur erneuten Verhandlung an die untere Instanz zurückverweist (§328). Eine Wirkung des ersten Urteils besteht ferner insofern, als die Strafe nach Art und Höhe nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden kann, wenn das Rechtsmittel von ihm selbst oder von der Staatsanwaltschaft allein zu seinen Gunsten eingelegt worden ist, § 331: Verbot der „reformatio in peius". Dieses dem gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren entstammende Verschlechterungsverbot, das für die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt nicht gilt (§ 331 Abs. 2), wirft zahlreiche Zweifelsfragen auf und war in nationalsozialistischer Zeit durch Gesetz vom 28. 6.1935 beseitigt worden. Es bezweckt namentlich, den Angeklagten nicht vom Gebrauch der ihm zustehenden Rechtsmittel abzuschrecken. Rechtspolitisch ist es, insbesondere als Widerspruch zum Prinzip der materiellen Wahrheit, von jeher und nicht ohne Grund umstritten gewesen. Viel Mühe macht immer wieder die Berufungsbeschränkung. Sie ist nur zulässig, wenn sich die angefochtenen Teile des Urteils von den anderen so lösen lassen, daß eine getrennte und selbstän-

Strafverfahrensrecht dige Prüfung und Beurteilung möglich ist, ohne daß auf die nichtangefochtenen Teile zurückgegriffen werden müßte. Das zu beurteilen ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich Sache des Einzelfalles. Die umfangreiche Judikatur ist schwankend, widersprüchlich und für viele Fallgruppen umstritten (Grünwald, Die Teilrechtskraft im Strafverfahren, 1964). Soweit die Beschränkung unzulässig ist, äußert sie keine Wirkungen, d. h. das Urteil wird ganz oder doch bis zur Grenze statthafter Beschränkung nachgeprüft. Die Frage der Beschränkung ist wichtig, weil für die nichtangefochtenen Teile des Urteils Rechtskraft („Teilxechtskraft") eintritt, § 316 Abs. 1, vgl. auch § 327. Die Teilrechtskraft aber gehört zu den schwierigsten und problematischsten Institutionen des Strafverfahrensrechts; sie kann zu mancherlei Schwierigkeiten und Härten führen, ζ. B. wenn das Berufungsgericht im nichtangefochtenen Teil des Urteils einen krassen Fehler entdeckt, sich etwa bei einer auf den Strafausspruch beschränkten Berufung herausstellt, daß überhaupt keine strafbare Handlung vorliegt. Hier wird ζ. T. — offen oder versteckt — mit der Annahme einer fehlenden Trennbarkeit argumentiert, um zu kriminalpolitisch akzeptablen Lösungen zu kommen. 3. Die Revision insbesondere Sie ist, im Gegensatz zur Berufung, ein von vornherein gegenständlich beschränktes Rechtsmittel: Sie „kann nur darauf gestützt werden, daß das (angefochtene) Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe" (§337 StPO). Grundlage der Nachprüfung ist also das angefochtene Urteil selbst, und zwar lediglich hinsichtlich etwaiger Gesetzesverletzungen („Rechtsfragen"), nicht aber hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen an sich („Tatfragen"). Entsprechend ist das Revisionsverfahren ausgestaltet (§§333ff.). Eine Beweisaufnahme über die Tat findet nicht statt, eventuell jedoch eine tatsächliche Prüfung von Verfahrens verstoßen (dazu im folgenden); die Hauptverhandlung, die nicht notwendig die Anwesenheit des Angeklagten oder eines Verteidigers erfordert (§350), beschränkt sich typischerweise auf Rechtsausführungen über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Urteils im Rahmen der gestellten Anträge (§ 352), ist also wesentlich ein juristisches Streitgespräch. Soweit die Revision begründet ist, wird das angefochtene Urteil samt den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben (§ 353). Die Sache wird dann regelmäßig an die untere Instanz zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, sofern nicht ausnahmsweise das Revisionsgericht selbst abschließend entscheiden kann (§ 354). Die Zurückverweisung jnuß seit dem StPÄG an eine andere Abteilung oder Kammer des betreffenden Gerichts

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oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung erfolgen (§354 Abs. 2). Damit ist, freilich in höchst unvollkommener Form (Hanack, NJW 1967,580), den langjährigen, insbesondere von der Anwaltschaft erhobenen Forderungen Rechnung getragen, im Interesse des Angeklagten und einer unvoreingenommenen Neuverhandlung die Richter, die an dem aufgehobenen Urteil mitgewirkt haben, von dieser Neuverhandlung auszuschließen (Dahs, NJW 1966, 1691). Historisch entstanden ist die Revision aus dem Bestreben, obersten Gerichten die Wahrung einheitlicher Rechtsprechung zu ermöglichen (Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960). Ob dieser Zweck allein die Auslegung der Vorschriften des Revisionsrechts beherrscht oder ob — daneben bzw. überwiegend — nicht das Interesse der Beteiligten oder der Allgemeinheit am gerechten Urteil im Einzelfall entscheidet, ist umstritten. Verbreitete Versuche, den Gegensatz zwischen „Rechtseinheit" und „Fallgerechtigkeit" überhaupt zu leugnen, sind nicht haltbar, da sich der Gegensatz im beschränkten Rechtsmittel der Revision, einem Zweckgebilde, nicht auflösen läßt und die Entscheidung wichtiger Probleme über den nachprüfbaren Bereich davon abhängt, ob man den Vorrang des einen oder des anderen Zwecks betont. Richtigerweise ist anzuerkennen, daß die Revision als Institut in erster Linie der Wahrung einheitlicher Rechtsprechung dient; in ihrer Ausgestaltung ist sie jedoch ein komplexes Gebilde, das auch Vorschriften allein im Parteiinteresse enthält, so daß eine pauschale Interpretation ihrer Einzelbestimmungen nach dem einen oder anderen Ziel unangebracht ist; vielmehr muß jeweils geprüft werden, welchen Zweck die Regelungen verfolgen. Dabei zeigt sich, daß die „Gesetzesverletzung", die nach § 337 allein der Nachprüfung unterliegt, vom Rechtseinheitszweck her verstanden werden muß. Der Gesetzesbegriff des Revisionsrechts umfaßt daher alle im sozialen Raum rechtsverbinlich wirkenden Normen, deren einheitliche Auslegung im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Revisionsgerichts notwendig ist. Der Rechtseinheitszweck gibt auch das entscheidende Kriterium für den Umfang der Prüfung hinsichtlich der Abgrenzung von „Rechts"- und „Tatfragen", die oft kaum trennbar ineinander verschlungen sind: Die Gesetzesanwendung unterliegt unter dem Aspekt der Gesetzesverletzung der Nachprüfung, soweit sie von grundsätzlicher Bedeutung ist und irgendwie „Richtliniencharakter" für künftige Fälle haben könnte (Schwinge); die häufig empfohlenen Gesichtspunkte, alles der Nachprüfung zu unterziehen, was das Gericht ohne Tatsachenverhandlung erkennen kann oder was „allgemein erkennbar, wägbar, wertbar ist" (Eb. Schmidt, K. Peters), führen meist zum gleichen Ergebnis. Jedenfalls läßt sich der schwierige und

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verschwimmende Unterschied zwischen Tat- und Rechtsfragen im Revisionsrecht nicht formal, sondern allein teleologisch bestimmen. Unbestimmte Gesetzesbegriffe enthalten hinsichtlich der Revisibilität teils Tat-, teils Rechtsfragen; die Rechtsprechung, die diesen Standpunkt im Prinzip teilt, ist hier oft recht widersprüchlich im Umfang der Nachprüfung. Besonderheiten gelten für die Prüfung verfahrensrechtlicher Verstöße: Hier steht nach der historischen Entwicklung und der klaren Gesetzesausgestaltung (§§ 344 Abs. 2, 352 Abs. 1) nicht der Rechtseinheitszweck im Vordergrund, sondern die Überprüfung des einzelnen Verfahrens. Darum ist dem Revisionsgericht hier auch die Nachprüfung von Tatsachen vorgeschrieben, wenn das zur Prüfung eines sonst oft nicht beweisbaren Verfahrensfehlers notwendig ist und der Revisionsführer solche Tatsachen angegeben hat. Diese Prüfung erfolgt in der Praxis grundsätzlich auf dem Wege des Freibeweises. Bestimmte Verfahrensverstöße werden als sog. absolute Revisionsgründe hervorgehoben: Während sonst das Urteil auf der Verletzung „beruhen" muß, wird in diesen Fällen ein solches Beruhen unwiderleglich vermutet (§ 338). Im ganzen haben sich die Revisionsgerichte durch die Anerkennung von Denkgesetzen und Erfahrungssätzen als Rechtsnormen sowie durch großzügige Regeln zur Revisibilität des § 244 Abs. 2 StPO in starkem Maße Kontrollmöglichkeiten geschaffen, um in die richterliche Tatsachenfeststellung und -Würdigung des angefochtenen Urteils einzugreifen. Freilich hat sich auf diese Weise praktisch auch ein gewisser nicht unproblematischer Spielraum für den Umfang der Überprüfung ergeben. Die Revision gilt als kompliziertes und unpopuläres Rechtsmittel. Sie gibt dem obsiegenden Angeklagten häufig „Steine statt Brot", weil es in der überwiegenden Zahl der Fälle nach Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Urteils in der Neuverhandlung zu einem gleichen oder doch kaum anderen Ergebnis kommt. Reformüberlegungen sind verbreitet (oben III). Sie bezwecken überwiegend eine Steigerung der Effektivität und der revisionsgerichtlichen Möglichkeiten zur Korrektur des angefochtenen Urteils, etwa durch beschränkte eigene Beweiserhebung zur Überprüfung materiell-rechtlich erheblicher Tatsachen (sog. erweiterte Revision). Das Rechtsmittel selbst läßt sich schon zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit kaum entbehren und insbesondere nicht durch die Berufung ersetzen. 4. Die Problematik

des Rechtsmittelzuges

a) R e c h t s m i t t e l tragen zur Verbesserung der Rechtspflege bei: In den Rechtsmittelinstanzen

können die besten Richter eingesetzt werden und sich — eventuell unter besonders günstigen Arbeitsbedingungen (Zeit und Hilfsmittel) sowie in mehr oder minder großem Umfang freigestellt vom Ballast vieler schon in der unteren Instanz geklärter Einzelumstände — vor allem auf wichtigere und schwierigere Fragen eines Rechtsfalles konzentrieren. Rechtsmittel ermöglichen gerade in größeren Staaten ferner, die Wahrung einheitlicher Rechtsprechung zu garantieren oder doch zu fördern. Schließlich sind Rechtsmittel ein bedeutsamer prozeßökonomischer Faktor: Sie gestatten in gewissem Maße, die Prozeßvorbereitung, das Verfahren und die Besetzung der ersten Instanz so auf die „Nonnalfalle" zuzuschneiden, daß diese schnell, billig und sachgerecht entschieden werden, für kritische Fälle aber als „Sicherungsventil" (K. Peters) ein Rechtsmittelgericht zur Verfügung steht, das bei großzügiger Ausgestaltung der Anrufungsbefugnis überdies geeignet ist, Fehlgriffen der unteren Instanz auch sonst entgegenzutreten. Rechtsmittel bergen aber auch Nachteile. Sie mögen nicht nur eine Autoritätsminderung des unteren Gerichts bedeuten, sondern führen immer auch zu einer Verzögerung im Verfahrensabschluß. Der größere Zeitabstand zur Tat aber verschlechtert die Beweismittel (Augenscheinobjekte, Zeugenerinnerung) oder vernichtet sie gar; er begünstigt ferner die Gefahr der Einführung unwahrer Zeugen oder gefälschter Beweismittel. Schließlich kann die Wiederholung der Verhandlung für Angeklagte oder Zeugen eine erhebliche Belastung oder — etwa für Kinder in Sittlichkeitsprozessen — sogar Gefährdung darstellen. Wird das Rechtsmittel in seinen Zulässigkeitsvoraussetzungen oder im Prüfungsumfang irgendwie beschränkt, vermag die Auswahl der einer Überprüfung zugänglichen Fälle oder Fragen weiter zu Ungerechtigkeiten führen und Ungereimtheiten bedingen, wie sie vor allem bei der Revision und ähnlichen Rechtsmitteln auch zu beobachten sind. b) Die Probleme des R e c h t s m i t t e l z u g e s und die damit zusammenhängenden Probleme einer sachgerechten Ausgestaltung der erstinstanzlichen Zuständigkeit haben den Erlaß der StPO fast verhindert. Auch in der Folgezeit sind die Fragen umstritten geblieben; immer wieder sind die Regelungen geändert worden, mehrfache Versuche einer Gesamtreform des Strafverfahrens kreisten vornehmlich um sie. Sieht man von den Problemen der Verhandlungsleitung und des Schuldinterlokuts (oben C 2 c, d) ab, kann der heutige Zustand wohl als ausgewogen gelten, soweit es sich um die Ausgestaltung der erstinstanzlichen Gerichte selbst handelt. Bedenklich ist nur, daß ihre Zuständigkeit in einer Reihe von Fällen davon abhängt, vor welchem Gericht der Staatsanwalt Anklage

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Strafverfahrensrecht erhebt (§§ 24ff., 74ff„ 120f. GVG). Diese Regelung, die sicher praktischen Bedürfnissen Rechnung trägt, gefährdet namentlich den Grundsatz vom gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG); sie wird von der Rechtsprechung (BGHSt 9, 367; BVerfGE 9, 223; 22, 254) für zulässig gehalten, im Schrifttum hingegen stark bekämpft (Grünwald, Jur. Schulung 1968, 452). Weitgehende Zustimmung verdient auch die ζ. T. sogar sehr großzügige Ausgestaltung des Rechtsmittelzuges, die durchweg mit der Ausgestaltung der ersten Instanz sachdienlich korrespondiert. Insbesondere dürfte die Entwicklung gezeigt haben, daß das Rechtsmittel der Berufung dort, wo es verwendet wird, kriminalpolitisch tragbar ist und entgegen früher gehegten Befürchtungen durchweg nicht zu Verschlechterungen in der Wahrheitsfindung führt, zumal von der Möglichkeit einer Berufungsbeschränkung reger Gebrauch gemacht wird. Problematisch und von jeher besonders umstritten ist jedoch, ob das gegen erstinstanzliche Strafkammer- und Schwurgerichtsurteile allein zulässige Rechtsmittel der Revision ausreicht. Nach Meinung des historischen Gesetzgebers würde eine (zusätzliche) Eröffnung der Berufung nicht zu einer Verbesserung der Wahrheitsfeststellung, sondern gerade bei größeren Prozessen nur zu einer erheblichen Verzögerung und Verteuerung führen. Aber sein Gedanke, statt dessen eine besonders breit besetzte Richterbank in der ersten Instanz zur Verfügung zu stellen, ist mittlerweile verwässert und steht in keinem rechten Verhältnis mehr zur Zahl der Richter, die in der leichten und mittleren Kriminalität (in der ersten und der Berufungsinstanz) bei der Tatsachenfeststellung mitwirken: Die ursprüngliche Besetzung der Strafkammern mit fünf Berufsrichtern ist auf drei reduziert worden und im Schwurgericht wirken jetzt — wenn auch nicht mehr getrennt nach Richter- und Geschworenenbank — statt sechs Berufs- und zwölf Laienrichtern drei Berufsrichter und sechs Geschworene; die Schwierigkeiten der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung aber sind, nicht zuletzt durch die verfeinerten Methoden der Strafgesetzgebung, der Kriminalistik und der forensischen Psychiatrie, erheblich gestiegen und lassen vor allem den Beitrag der Laienrichter zur Wahrheitsfindung oft als nicht mehr so groß erscheinen wie früher. Da auch dem Nachprüfungsbereich der Revisionsgerichte erhebliche Schranken gesetzt sind, erhebt sich ernsthaft die Frage, ob man den vielen Vorschlägen, durch erweiterte Prüfungszuständigkeit der Revisionsgerichte oder durch Verbesserung des erstinstanzlichen Verfahrens einen ausgewogeneren Zustand zu erreichen, auf die Dauer nicht in irgendeiner Weise Rechnung tragen muß. Die Frage wird, nicht nur im Zusammenhang mit einer allgemeinen Justizreform, derzeit lebhaft erörtert.

F. Rechtskraft, Strafvollstreckung und Kosten 1.

Rechtskraft

Kann ein Urteil mit Berufung oder Revision nicht oder nicht mehr angegriffen werden, erwächst es in sog. formeller Rechtskraft: Das Verfahren ist abgeschlossen und läßt sich in demselben Prozeß nicht mehr abändern. Die formelle Rechtskraft bewirkt die sog. materielle Rechtskraft, deren Konsequenzen ζ. T. schon der formellen zugerechnet werden: Das Urteil kann, soweit es Vollstreckbares anordnet, vollstreckt werden (Vollstreckungswirkung). Sein Ausspruch über Schuld oder Nichtschuld sowie über die strafrechtliche Reaktion auf eine festgestellte Tat wird unabänderlich (Gestaltungswirkung). Diese Wirkung erstreckt sich jedoch grundsätzlich nicht auf die in den Urteilsgründen getroffenen tatsächlichen Feststellungen, so daß diese, soweit es das Gesetz nicht im Einzelfall ausdrücklich anders bestimmt, in einem anderen Verfahren abweichend beurteilt werden können; das vermag zu widerspruchsvollen Entscheidungen zu führen. Weiterhin und vor allem macht die materielle Rechtskraft eine erneute Strafverfolgung gegen denselben Täter unzulässig („negative Sperrwirkung", „ne bis in idem", Art. 103 Abs. 3 GG); die Rechtskraft schafft also ein Verfahrenshindernis und gibt gleichzeitig den verfassungsrechtlichen Anspruch, wegen derselben Tat nicht noch einmal angeklagt oder verurteilt zu werden. Diese Wirkungen gelten für ein Prozeßurteil (oben D 5) aber nur, soweit die fehlende Prozeßvoraussetzung oder das bestehende Prozeßhindernis die materielle Entscheidung auf Dauer hindert, nicht jedoch, soweit der Mangel behebbar ist. Wie der Umfang der Sperrwirkung, der für den Angeklagten erhebliche Bedeutung hat, zu bestimmen ist, ist sehr streitig und macht bisweilen große Schwierigkeiten. Nach herrschender Rechtsprechung wird alles erfaßt, was nach der Auffassung des Lebens zu dem im Eröffnungsbeschluß bezeichneten historischen Vorgang zu rechnen ist, wobei auch darauf abgestellt wird, wieweit eine Sachentscheidung durch den ersten Richter unter Berücksichtigung der §§244 Abs. 2, 264 StPO geboten war. Auch Beschlüsse können formell rechtskräftig werden, sofern sie mit der sofortigen Beschwerde (§ 311 StPO) oder gar nicht anfechtbar sind. Ob sie in materieller Rechtskraft erwachsen, ist umstritten; richtigerweise wird man die Möglichkeit dazu grundsätzlich anerkennen, aber für die verschiedenen Arten von Beschlüssen jeweils besonders, auch hinsichtlich der Tragweite, prüfen müssen.

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Strafverfahrensrecht 2.

Strafvollstreckung

Sie wird, als zwar verfahrensrechtliche, teils aber mehr verwaltende Tätigkeit, von der StPO (§§ 449ff.) nur in Grundzügen geregelt. Ergänzend hinzu t r i t t — als zwischen Bund und Ländern vereinbarte Verwaltungsverordnung — die Strafvollstreckungsordnung. Die Strafvollstreckung ist grundsätzlich Sache der Staatsanwaltschaft (als sog. Vollstreckungsbehörde). Sie kann jedoch in den zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehörenden Strafsachen von den Landesjustizverwaltungen dem Amtsrichter übertragen werden ( § 4 5 1 Abs. 3; dazu §§ 4, 5 VollstreckungsO). In bestimmten Fällen sind im Rahmen der Vollstreckung gerichtliche Entscheidungen nötig (§§453, 454, 458—462). Da Art. 19 Abs. 4 GG auch f ü r nichtrichterliche Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde den Rechtsweg öffnet, h a t der Gesetzgeber durch § 179 VwGO, in Abweichung von § 40 VwGO, die sog. Justizverwaltungsakte in den heutigen §§23 ff. EGGVG einer nachträglichen Rechtskontrolle durch die Strafgerichte unterworfen. Die Strafvollstreckung ist zu unterscheiden vom ->- Strafvollzug, was auch in der Terminologie der StPO nicht immer deutlich genug geschieht: Die Vollstreckung dient dazu, den Strafvollzug in Gang zu bringen und in gewissem Umfang zur Sicherung des Urteils; sie steht als Bindeglied zwischen Strafverfahren und Strafvollzug. Der Vollzug selbst hingegen ist keine spezifisch prozessuale Angelegenheit, sondern in erster Linie Arbeit am Gefangenen, entsprechend dem sachlich-rechtlichen Zweck der zu vollziehenden Strafe oder Maßregel.

3. Kosten Die Einrichtung der Justiz ist teuer. Auch das einzelne Strafverfahren kann erhebliche Kosten verursachen. Darum ist es, entgegen mancherlei Einwendungen, an sich nicht unbillig, diejenigen Personen in angemessenem Maß zur Kostentragung mit heranzuziehen, die solche Kosten schuldh a f t verursachen, also namentlich die Verurteilten, u. U. aber auch Dritte, die unnötige Aufwendungen hervorgerufen haben (böswillige unbegründete Strafanzeigen, Ausbleiben des Zeugen im Termin usw., vgl. §§469f., 51 StPO). Der Gesetzgeber muß nur trachten, eine Kostenbelastung so zu gestalten, daß dadurch nicht soziales Unheil angerichtet und insbesondere die Resozialisierung des Verurteilten nicht gefährdet wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist die viel zu sehr von fiskalischen Interessen beherrschte Kostenregelung der StPO (§§ 464ff., ergänzt insbesondere durch das Gerichtskostengesetz von 1957) in mehrfacher Hinsicht zu beanstanden: Zwar ist die frühere Regelung, wonach bei Freispruch wegen

„Mangel an Beweisen" ein Ersatz der notwendigen Auslagen nur nach dem Ermessen des Gerichts zugebilligt werden konnte, mittlerweile dahin modifiziert worden, daß ein Ersatz der notwendigen Auslagen im allgemeinen nur aus Gründen vorwerfbar-fehlerhaften Verhaltens im Verfahren versagt wird, nicht aber wegen der Art des Freispruchs selbst (§467); so ist heute wegen der Kostenentscheidung ein Ausspruch über fortbestehenden Tatverdacht mit all seinen möglichen Belastungen für den Betroffenen regelmäßig nicht mehr erforderlich. Nicht abgemildert worden ist aber die problematische Regelung, wonach der Angeklagte die Kosten eines erfolgreichen Rechtsmittels im wesentlichen selbst zu tragen hat, wenn es im Ergebnis schließlich doch nur zu einer annähernd gleichen Strafe f ü h r t (§473). Ferner h a t der Verurteilte grundsätzlich auch heute für das Strafverfahren nicht nur „Gebühren" zu zahlen, die sich nach der Höhe der Strafe berechnen; er h a t weiter seine eigenen Auslagen sowie die Auslagen, die aus Anlaß des Verfahrens entstanden sind, zu tragen. Diese Kosten können sehr hoch sein und darum die Resozialisierung oder den sozialen Status des Kostenschuldners in erheblicher Weise erschweren oder beeinträchtigen, oft ganz und gar im Gegensatz zu den Grundsätzen, nach denen aus kriminalpolitischen Gründen Geldstrafen zugemessen werden. Zudem werden diese Kostenschulden durchweg nach recht harten Grundsätzen eingetrieben. Ob sich bei der häufigen Mittellosigkeit der Verurteilten der Aufwand lohnt, ist oft zweifelhaft; vielfach müssen die Verfahren schließlich doch niedergeschlagen werden. Einen Lichtblick enthält seit 1957 § 10 der JustizverwaltungskostenO, wonach wenigstens die Kosten für den Vollzug freiheitsentziehender Strafen oder Maßregeln nicht zu erheben sind, wenn der Gefangene die ihm zugewiesene Arbeit verrichtet h a t oder sie ohne Verschulden nicht verrichten konnte.

G. Wiederaufnahme des Verfahrens Justizirrtümer sind als „bedauerliche Begleiterscheinung auch der besten Rechtspflege" (Eb. Schmidt) in gewissem Umfang unvermeidlich, wie immer man das Strafverfahren ausgestaltet. So ist ζ. B. nicht zu bestreiten, daß das an sich vorteilhafte Mündlichkeitsprinzip (oben A 2) insbesondere wegen der straffen Konzentration des Verfahrens solche Irrtümer auch begünstigt und daß das beschränkte Rechtsmittel der Revision wenig geeignet ist, unrichtigen Tatsachenfeststellungen entgegenzutreten. Der Gesetzgeber wird dadurch vor das schwierige Sachproblem gestellt, ob oder in welchem Umfang er nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens einen Angriff auf das möglicherweise falsche Urteil noch zulassen soll: Das unrichtige

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Strafverfahrensrecht Urteil schadet Strafrechtspflege und Gerechtigkeit, insbesondere bei einem Irrtum zuungunsten des Verurteilten. Eine Überprüfungsmöglichkeit andererseits gefährdet die von der Rechtskraft geschützten Werte der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, denen entgegen verbreiteter Meinung nicht nur „formaler" Wert zukommt. Sie führt weiter zu schweren kriminalpolitischen Gefahren, denn der mögliche Irrtum liegt meist nicht offen zutage, sondern bedarf des oft schwierigen Beweises. Durch die zeitliche Distanz zur Tat aber verschlechtert sich die Beweissituation insgesamt regelmäßig immer mehr, so daß die erneute Prüfung vielfach eine schlechtere Prüfung bleiben muß, zumal insbesondere von Verurteilten Justizirrtümer oft zu Unrecht behauptet werden. Die StPO hat, in hoher Einschätzung der Rechtskraft und in beträchtlichem Vertrauen auf die Qualität des Gesetzes und der Richter, Angriffe gegen rechtskräftige Urteile als „Wiederaufnahme des Verfahrens" nur in sehr engem Rahmen zugelassen. Reformwünsche sind daher verbreitet und nicht ohne Berechtigung. Auch die praktische Handhabung des Wiederaufnahmeverfahrens ist wiederholt kritisiert worden. Die hier entscheidend wichtigen Fragen der Richterpsychologie sind wissenschaftlich noch längst nicht ausgeschöpft. Eine Forschungsstelle an der Universität Tübingen hat seit einiger Zeit Akten über erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren ausgewertet, um den typischen Fehlern der aufgehobenen Urteile nachzugehen (vgl. K. Peters, Untersuchungen zum Fehlurteil im Strafprozeß, 1967; Fehlerquellen im Strafprozeß, 2 Bde., 1970,1972). 1. Die

Wiederaufnahmegründe

Vorgesehen ist eine Wiederaufnahme nur bei fehlerhafter Beweisgrundlage, also als Angriff auf die Sachverhaltsfeststellung. Das deutsche Recht kennt keine Wiederaufnahme wegen Gesetzesverletzung, vom Sonderfall der strafbaren Rechtsbeugung (§§ 359 Nr. 3, 362 Nr. 3 StPO) abgesehen. Eine Nichtigkeitsbeschwerde „wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils", eingeführt durch VO vom 16.9.1939 und stark für politische Zwecke mißbraucht, ist nach dem Zusammenbruch wieder in Wegfall gekommen. Es gibt insoweit, ebenso wie im Fall der Gesetzesänderung nach Rechtskraft, nur durch -»• Gnadenerweis eine gewisse Abhilfe. Eine Ausnahme gilt nach § 79 BVerfGG, wenn die dem Urteil zugrundeliegende Strafrechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird. Da das nicht die inhaltlich schwersten Fälle rechtlicher Irrtümer zu sein brauchen, ist die jetzige Regelung unbefriedigend, mag auch immer wieder betont werden, daß die unrichtige Gesetzesanwendung und die Anwendung verfassungswidriger Normen auf verschiedener Ebene liegen.

Die Voraussetzungen der Wiederaufnahme sind leichter, wenn sie zugunsten, schwerer, wenn sie zuungunsten des Verurteilten erfolgt (§§359, 362 StPO). Diese angefochtene Differenzierung erscheint insbesondere deswegen legitim, weil der Freispruch eines Schuldigen leichter zu tragen ist als die fehlerhafte Verurteilung eines Unschuldigen. Als Wiederaufnahmegründe sieht das Gesetz für beide Fallgruppen — bei kleinen Unterschieden — vor: Gebrauch verfälschter oder gefälschter Urkunden, strafbare Verletzung der Aussagepflicht durch Zeugen oder Sachverständige, strafbare Verletzung der Richterpflichten. Da es insoweit auf die Strafbarkeit ankommt (vgl. auch § 364 StPO), scheidet namentlich der unverschuldete Irrtum des Zeugen oder Sachverständigen als Wiederaufnahmegrund insoweit aus. Zuungunsten ist die Wiederaufnahme weiter möglich, wenn der Freigesprochene vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der strafbaren Handlung ablegt (§ 362 Nr. 4); der Gesetzgeber hat dabei an die der Justiz u. U. schädlichen Wirkungen eines solchen Geständnisses oder gar eines „Berühmens" der Straftat in der Öffentlichkeit gedacht; daß andere Umstände die Schuld nachträglich ebenso sicher oder gar noch sicherer erweisen können, aber unberücksichtigt bleiben müssen, wird ihm vielfach vorgeworfen. Zugunsten des Verurteilten ist die Wiederaufnahme weiter vor allem zulässig, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Sicherung und Besserung zu begründen geeignet sind" (§ 359 Nr. 5). Dieser Wiederaufnahmegrund, eine Art Generalklausel, wird hinsichtlich der Merkmale „neue Tatsachen oder Beweismittel" von der Rechtsprechung heute zwar relativ großzügig interpretiert; seine praktische Bedeutung leidet aber darunter, daß die „Nova" vom Standpunkt des früher urteilenden Gerichts aus beurteilt werden (BGHSt 18, 225) und daß der Verurteilte auch die „Geeignetheit" zu beweisen hat, so daß ihn praktisch eine Beweislast trifft, also auch für den Grundsatz in dubio pro reo kein Raum ist.

2. Das

Wiederaufnahmeverfahren

Es zerfällt in drei Etappen: In einer Zulässigkeitsprüfung wird festgestellt, ob überhaupt ein gesetzlich anerkannter Wiederaufnahmegrund behauptet wird — was namentlich bei § 359 Nr. 5 oft bereits eine gewisse Sachprüfung bedeutet — und ob der Antrag der Form des § 366 entspricht. Darüber entscheidet das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, und zwar durch Beschluß ohne

Strafverfahrensrecht

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mündliche Verhandlung (§367). Da diese Regelung sehr bekämpft und für die immer wieder behauptete Tendenz der Gerichte verantwortlich gemacht wird, Wiederaufnahmeanträge möglichst nicht zuzulassen, sind seit dem StPÄG die Richter, die an der angefochtenen Entscheidung selbst mitgewirkt haben, von allen Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren gesetzlich ausgeschlossen (§23 Abs. 2 StPO) — eine sicherlich begrüßenswerte Neuregelung, die freilich auch Nachteile birgt, zumal die Zurückhaltung augenscheinlich nicht so sehr „eine Bindung kraft Person, sondern kraft Funktion" ist (K. Peters). — Ist die Zulassung, deren Ablehnung mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden kann (§ 372), ausgesprochen, erfolgt die Prüfung, ob der Antrag begründet ist, d. h. ob die behaupteten Tatsachen und Beweismittel auch vorliegen. Für die Prüfung wird, soweit erforderlich, ein beauftragter Richter bestellt, während das Gericht über die Beeidigung von Zeugen und Sachverständigen entscheidet; ein Anwesenheitsrecht der Beteiligten besteht, beim Verurteilten freilich in etwas beschränktem Umfang (§369 Abs. 3). Diese Regelungen sind mitunter der Bedeutung des Verfahrens sicherlich nicht angemessen. Das gilt auch für die Entscheidung über das Ergebnis der Prüfung, die das Gericht wieder ohne mündliche Verhandlung, durch Beschluß, trifft (vgl. § 370). — Hält das Gericht den Antrag für begründet, ordnet es die Wiederaufnahme und die Erneuerung der Hauptverhandlung an (§ 370), die zu einer völligen Wiederholung der früheren Verhandlung führt. Ausnahmsweise kann Freispruch auch ohne Hauptverhandlung erfolgen (§371). H. Besondere Verfahrensarten 1.

Allgemeines

Der Gesetzgeber kann nicht nur durch unterschiedliche Besetzung der erstinstanzlichen Gerichte und unterschiedliche Ausgestaltung des Rechtsmittelzuges zweckmäßige Differenzierungen vornehmen; er kann die vielfältigen prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten auch ausnutzen, um verschiedene Arten von Verfahren zu schaffen. Die StPO tut das, indem sie das Normalverfahren, auf das die Masse ihrer Bestimmungen zugeschnitten ist, durch eine Reihe besonderer Verfahren ergänzt oder modifiziert. Einzelnen Abweichungen vom Normalverfahren kommt in der Praxis erhebliche Bedeutung zu. Das gilt insbesondere für das -> Jugendstraf recht (JGG) sowie für die Ahndung der vom Kriminalstrafrecht abgesplitterten Ordnungswidrigkeiten, die jetzt aufgrund des Gesetzes vom 24. 5. 1968 (OWiG) erfolgt. Abweichungen vom Normalverfahren erweisen sich insbesondere auch als

wichtige Möglichkeit, Ausweitungen des Nebenstrafrechts prozessual abzufangen und die schwierigen Fragen zu lösen, die sich aus den Massenproblemen etwa des modernen Straßenverkehrs für die Rechtspflege ergeben.

2. Die wichtigsten Sonderverfahren (außer JGO und OWiG)

a) Beim P r i v a t k l a g e v e r f a h r e n (§§374ff. StPO) wird dem Verletzten selbst das Recht zur Strafklage eingeräumt; der Staatsanwalt wirkt nicht mit, er behält aber freilich ein Anklageund Übernahmerecht, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt (§§ 376f.). Privatklagedelikte (§ 374) sind typischerweise Delikte mit geringem kriminellen Gehalt, „meist Fälle von Reibereien des Alltags, in denen sich menschliche Unzulänglichkeit und Nervosität offenbaren" (K. Peters), so daß der Gesetzgeber ein Verfolgungsbedürfnis regelmäßig nur sieht, wenn der Verletzte die Initiative ergreift. Entsprechend der Situation ist das Verfahren ausgestaltet: Ermittlungen durchzuführen ist meist Sache allein des Privatklägers. Die Stellung des Richters ist freier als sonst; er kann nach der umstrittenen Regelung des § 383 Abs. 2 das Verfahren bei geringer Schuld einstellen; für die Hauptverhandlung wird durch § 384 Abs. 3 die Bindung an die §§ 244 Abs. 3—5, 245 StPO aufgehoben. Die Stellung des Privatklägers weist gewisse Züge des Parteiprozesses auf. Insbesondere kann der Beschuldigte Widerklage erheben (§ 388), und es kann zwischen den Beteiligten ein Vergleich (arg. § 391 Abs. 1) geschlossen werden. Sehr einleuchtende Bestrebungen, das kriminalpolitisch ζ. T. nicht unbedenkliche Verfahren durch ein friedensrichterliches Verfahren mit schlichtendem Friedensspruch zu ersetzen, sind bisher nicht von Erfolg gewesen, wenn man von einer Kriegsregelung durch VO vom 13. 8.1942 absieht, die durchaus geeignet war, auch für Friedenszeiten übernommen zu werden. Der in der früheren amerikanischen Zone geltende § 13 a GVG, der Friedensgerichte vorsah, ist 1950 wieder gestrichen worden. Die aufgrund des §13a geschaffenen württemberg-badischen Friedensgerichte (dazu Weiß, NJW 1951, 698) hat das BVerfG wegen ihrer Bindung an die Gemeindeverwaltungen für verfassungswidrig erklärt (NJW 1960,187). Doch zeigt die insgesamt segensreiche Tätigkeit der „Schiedsmänner", die nach § 380 StPO in einer Reihe von Privatklagedelikten vor dem Prozeß als Vergleichsinstanz einen Sühnetermin abzuhalten haben, wie groß das Bedürfnis nach einer mehr friedensrichterlichen Tätigkeit ist. Es sollte daher versucht werden, sie in „lebensfähiger Weise" (K. Peters) wieder zu errichten.

Strafverfahrensrecht b) Die N e b e n k l a g e (§§ 395ff. StPO) führt dazu, daß dem Staatsanwalt eine andere Person als „Streitgenosse" zur Seite tritt. Berechtigt dazu sind Personen, die als Privatkläger auftreten könnten, ferner insbesondere nahe Angehörige des durch eine Straftat Getöteten sowie diejenigen Verletzten, die eine Anklage durch Klageerzwingungsverfahren (oben Β 4) herbeigeführt haben (§395). Der Nebenkläger hat grundsätzlich die Rechte des Privatklägers. Eine Sonderstellung nehmen behördliche Nebenkläger ein, die in einer Reihe kriminalpolitisch bedenklicher Bestimmungen vorgesehen sind, um als amtliche Organe am Strafverfahren teilzunehmen. Die ganze Institution der Nebenklage ist aus gutem Grund umstritten. c) Im A d h ä s i o n s v e r f a h r e n (§§ 403ff. StPO) können der Verletzte oder sein Erbe unter bestimmten Voraussetzungen die aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Ansprüche im Strafverfahren geltendmachen. Die durch VO vom 29.5.1943 geschaffene Regelung, die auf alte Reformvorschläge zurückgeht, soll namentlich Doppelarbeit, widerstreitende straf- und zivilgerichtliche Urteile sowie unnötige Verzögerungen bei Schadensersatzansprüchen (§149 ZPO) vermeiden. Sie hat sich jedoch in der Praxis nicht eingebürgert, teils wohl aus psychologischen Gründen, vor allem aber, weil das Verfahren dem Verletzten eine viel zu schwache und unsichere Position (vgl. insbes. § 405 StPO) gibt. d) Das S i c h e r u n g s v e r f a h r e n (§ § 429 a ff. StPO), geschaffen durch Gesetz vom 24.11.1933 im Zusammenhang mit Einführung von Maßregeln der Sicherung und Besserung, ist ein Sonderverfahren gegen mutmaßlich unzurechnungsfähige Täter, deren Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt in Frage steht. Es handelt sich der Sache nach um ein sicherheitspolizeiliches Verfahren, das, zugeschnitten auf die Situation des Täters, im Hinblick auf den Anlaß (Straftat) und die Schwere des Eingriffs dem Strafrichter übertragen worden ist. Mit den aufgrund von Art. 104 Abs. 2 GG geschaffenen „Unterbringungsgesetzen" der Länder überschneidet es sich heute in einer Weise, die bisweilen nicht nötig ist und die bereinigt werden könnte (zum ganzen Baumann, Unterbringungsrecht, 1966). e) Im E i n z i e h u n g s v e r f a h r e n (§§430ff. i. d. F. des EGOWiG vom 24. 5.1968) werden Sachen, die nach strafgesetzlichen Vorschriften der Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung unterliegen (vgl. §§40 ff. StGB) strafgerichtlich eingezogen. Das kann in Verbindung mit dem wegen der Straftat eingeleiteten Verfahren, aber auch selbständig, d. h. ohne solche Verbindung, geschehen. Die durch die Maßnahme Betroffenen genießen als Einziehungsbeteiligte besondere Rechte; es kann sogar ein

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besonderes Nachverfahren (§ 339) u. U. noch nach Rechtskraft der Einziehung erfolgen. f) Das V e r f a h r e n gegen Abwesende (§§ 276ff. StPO), zu unterscheiden vom bloßen Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung (ζ. B. §§ 232ff. StPO), ist in erster Linie ein Beweissicherungsverfahren für den Fall der „künftigen Gestellung" (§§ 285ff.), wobei zur Erzwingung der Gestellung unter den Voraussetzungen des § 290 auch das in der Bundesrepublik befindliche Vermögen des Abwesenden vorübergehend beschlagnahmt werden darf. Ist der Gegenstand der Untersuchung eine Tat, die mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, mit Geldstrafe oder mit Einziehung bedroht ist, kann gegen Abwesende auf Antrag der Staatsanwaltschaft auch eine Hauptverhandlung stattfinden. Führt sie nicht zur Klärung von Schuld oder Nichtschuld, stellt das Gericht das Verfahren vorläufig ein. Im Falle der Verurteilung muß das zunächst nur öffentlich zugestellte Urteil („Abwesenheitsurteil") noch einmal zugestellt werden, wenn man des Verurteilten habhaft geworden ist. Er kann dann Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, auch wenn die Voraussetzungen des § 359 StPO nicht vorliegen, falls er „sein Ausbleiben durch triftige Gründe rechtfertigt oder wenn sonstige Umstände vorliegen, die eine Erneuerung der Hauptverhandlung als notwendig erscheinen lassen" (§ 282 c Abs. 2). Zur Sicherstellung einer eventuellen Geldstrafe und der Verfahrenskosten können im übrigen gemäß §§283f. Vermögensteile oder das ganze Vermögen beschlagnahmt werden. Eine Hauptverhandlung auch wegen schwerer Straftaten gestattete in nationalsozialistischer Zeit das Verfahren „gegen Flüchtige" (Gesetz vom 28. 6.1935), das stark gegen politische Gegner ausgenutzt wurde. Die heutige Zurückhaltung des Gesetzgebers erklärt sich aus dem Gedanken, daß ohne den Angeklagten eine gerechte Urteilsfindung nicht möglich ist; bezeichnenderweise war das Verfahren „gegen Flüchtige" davon abhängig, ob „das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Aburteilung der Tat verlangt". Die Möglichkeit einer Hauptverhandlung gegen Abwesende ist von der StPO überhaupt nur eingeführt worden, weil man die Vermögensbeschlagnahme dort für ein ungeeignetes Gestellungsmittel hielt, wo nur Geldstrafe oder Einziehung in Frage stehen. g) Das b e s c h l e u n i g t e V e r f a h r e n (§§212ff. StPO) erlaubt, die Hauptverhandlung ohne schriftliche Anklage und ohne Eröffnungsverfahren sowie unter Wegfall oder Verkürzung der Ladungsfristen durchzuführen. Dieses Verfahren, dessen Anwendungsbereich seit Erlaß der StPO mehrfach ausgedehnt worden ist, ist heute vor dem Einzelrichter und dem Schöffengericht statthaft, „wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige Ab-

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Strafverfahrensrecht

urteilung möglich ist" (§ 212). Fehlen diese Voraussetzungen oder ist eine höhere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten, hat das Gericht das Verfahren abzulehnen. Die Verfahrensbeschleunigung soll die Wahrheitsfindung erleichtern, Arbeitskraft und Kosten sparen, sowie durch sofortige Reaktion die Wirkungen des Urteils auf Täter und Allgemeinheit erhöhen. Seine Verwendung in unruhigen Zeiten gegenüber politisch motivierten Taten ist höchst problematisch. Im übrigen ist das Verfahren überall dort wenig geeignet, wo im Hinblick auf Strafmaß und Strafaussetzung zur Bewährung Person und Vorleben des Beschuldigten genauere Aufklärung erfordern. Bedeutung vermag es hingegen vor allem in Verkehrsstrafsachen zu erlangen, wo es dem schriftlichen Verfahren ohne Hauptverhandlung (unten h, i) nicht selten vorzuziehen ist (Salzmann, Die beschleunigte Ahndung von Verkehrsdelikten im Straßenverkehr, 1962). Vorhandene Erfahrungen zeigen, daß mit dem beschleunigten Verfahren eine erhebliche Zeitersparnis erreicht und so die oft unerträglich lange Diskrepanz zwischen Tat und Urteil verringert werden kann, wenn eine zweckentsprechende Organisation stattfindet (Lueken, DAR 1960, 250; Bohnenberger, DAR 1960, 197; Cordier, N J W 1961, 393). h) Das S t r a f b e f e h l s v e r f a h r e n (§§407ff. StPO), eine Zweckschöpfung des 19. Jahrhunderts, dient dazu, einfach gelagerte Strafsachen aus dem Bereich der leichten Kriminalität in einem vereinfachten Verfahren ohne Hauptverhandlung zu ahnden: An die Stelle der Anklageschrift tritt der schriftliche Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls; das Eröffnungsverfahren fällt weg und der Richter entscheidet aufgrund der Akten durch Beschluß. Die eingebürgerte Bezeichnung als „summarisches Verfahren", die viel dogmatische Verwirrung angerichtet hat, paßt im Grunde nicht. Denn der Richter, der zur erhöhten Garantie für die Richtigkeit der Entscheidung den Strafbefehl nur in genauer Übereinstimmung mit dem Antrag des Staatsanwalts erlassen darf und vom Erlaß absehen muß, „wenn er Bedenken hat, ohne Hauptverhandlung zu entscheiden" (§ 408 Abs. 2), hat sich im Rahmen der bestehenden Erkenntnismöglichkeiten durchaus „Überzeugung" (oben D 5) von der Strafbarkeit des Beschuldigten zu verschaffen. Er nimmt insbesondere nicht etwa eine Wahrunterstellung vor, wie das Bundesverfassungsgericht NJW 1954, 69 meint. Gegenteilige Auffassungen verkennen in begrifflicher Überspannung des Mündlichkeitsprinzips, daß richterliche Überzeugung nicht nur durch Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung gewonnen werden kann. Der Beschuldigte kann die Sache durch Einspruch in das normale Verfahren überleiten, den Strafbefehl also ablehnen. Auch damit ist, im Gegensatz zu ver-

breiteten Auffassungen, nicht gesagt, daß der Strafbefehl Wahrunterstellung, Schuldfeststellung ohne Beweis oder gar vertragsähnliche Abmachung der Angelegenheit bzw. der Versuch ist, einen Vollstreckungstitel außerhalb des Prozesses zu schaffen. Vielmehr enthält die Einspruchsmöglichkeit eine weitere Garantie für die Richtigkeit des Strafbefehls: Wird Einspruch nicht eingelegt, kann meist vermutet werden, daß der Angeschuldigte den Strafbefehl als richtig und gerecht anerkennt. Ob es wegen der beschränkteren Kognitionsmöglichkeiten gerechtfertigt ist, dem rechtskräftig gewordenen Strafbefehl eine geringere Rechtskraftwirkung als dem Urteil zuzusprechen, kann zweifelhaft sein. Die Rechtsprechung (BGHSt 17, 101; 18, 141) meint es, in klarem Widerspruch zu § 410, und die Lehre ist dem weitgehend gefolgt. Der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens ist im Laufe der Zeit immer größer geworden: Während die StPO das Verfahren ursprünglich nur für Geldstrafen bis 150 Mark, Freiheitsstrafen bis sechs Wochen sowie für Einziehungen vorsah und bestimmte Delikte (ζ. B. die §§ 242, 246, 263 StGB) ganz ausnahm, können heute Geldstrafen in unbeschränkter Höhe und Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten für alle Vergehen verhängt, ferner Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung, Verfallserklärung sowie Entziehung der Fahrerlaubnis bis zu einem Jahr ausgesprochen werden. 1966 betrug die Zahl der Strafbefehle 741 055 gegenüber 349 335 Anklagen wegen Vergehen und Übertretungen (1962: 641474 und 362 496). Gegen die Tendenz, das rasche, kräfte- und kostensparende Verfahren in allzu umfangreichem Maße anzuwenden, werden immer wieder kriminalpolitische Bedenken erhoben. Tatsächlich eignet es sich im Grunde nur für Fälle, in denen der persönliche Eindruck des Gerichts vom Angeklagten für die Strafzumessung (vgl. ζ. B. § 14 StGB) keine überragende Rolle spielt, also vor allem für Straftaten des modernen Straßenverkehrs, wo sich mehr summarische Straftaxen immer weniger vermeiden lassen. i) Das S t r a f v e r f ü g u n g s v e r f a h r e n (§413 StPO) ersetzt die frühere polizeiliche Strafverfügung (Art. 6 EGStPO a. F.), die nach dem Kriege in theoretischer Überspitzung (K. Peters) entgegen den Wünschen der Strafrechtspraxis beseitigt wurde, im Grunde aber heute bei den -> Ordnungswidrigkeiten unter anderer Etikette und Zuständigkeit wieder aufgelebt ist. Nach § 413 können die Polizeibehörden durch Landesrecht ermächtigt werden, bei Übertretungen ihre Ermittlungsakten nach Anhörung des Beschuldigten direkt dem Amtsrichter zu übersenden; dieser setzt im schriftlichen Verfahren ohne Anhörung der Staatsanwaltschaft die Strafe fest, falls er nicht Bedenken hat, ohne Hauptverhand-

Strafvollzug lung zu entscheiden oder weitere Ermittlungen für nötig hält. Gegen die Entscheidung kann wie beim Strafbefehl Einspruch eingelegt werden. Das Verfahren ähnelt also dem Strafbefehlsverfahren, von dem es sich vornehmlich durch die Nichteinschaltung der Staatsanwaltschaft unterscheidet. Das Verfahren hatte namentlich in Verkehrssachen außerordentliche Verbreitung gefunden. Es ist stark kritisiert worden, weil es den überlasteten Richter zur „Unterschriftsmaschine degradiere". Mit der Umstellung der Verkehrsübertretungen auf Vergehen und Ordnungswidrigkeiten im EGOWiG vom 24. 5.1968 hat es für die Verkehrsverstöße seine Bedeutung verloren. Die gleiche Entwicklung wird sich im Zuge der Strafrechtsreform ergeben, wo mit dem 2. StrRG die Übertretungen überhaupt entfallen. (Stand: Frühjahr 1972) K o m m e n t a r e und L e h r b ü c h e r (mit weiteren Hinweisen) H. H e n k e l : Strafverfahrensrecht. 2. Aull. 1968. E. Kern-C. R o x i n : Strafverfahrensrecht. 11. Aufl. 1972. Th. K l e i n k n e c h t : Strafprozeßordnung (Kommentar) 30. Aufl. 1971. L ö w e - R o s e n b e r g : Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz (Großkommentar). Hrsg. von H. Dtinnebier, F. W. Geier, H. Jagusch, M. Kohlhaas, W. Sarstedt, K. Schäfer. 21. Aufl. mit Ergänzungsband. 1962/1967. 22. Aufl. seit 1971 im Erscheinen. H. Müller-W. S a x : Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverf assungs- und Ordnungswidrigkeitengesetz (KMR). 6. Aufl. 1986. K. P e t e r s : Strafprozeß. 2. Aufl. 1966. Eb. S c h m i d t : Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz. Teil I, 2. Aufl. 1964, Teil II 1957 mit Nachtr&gern und Ergänzungen 1967 und 1970. Teil III I960. —: Deutsches Strafprozeßrecht. Ein Kolleg. 1967 mit Nachtrag 1968. G. S c h u l z / B . B e r k e - M ü l l e r : Strafprozeßordnung mit Erläuterungen für Polizei- und Kriminalbeamte. 4. Aufl. 1971.. ERNST-WALTER HANACK

Strafvollzug, Erwachsenenbildung band

Ergänzungs-

STRAFVOLLZUG Geschichte 1. Gefängnisstrafen

in der

Antike

a) Die Geschichte des Gefängnisses geht soweit zurück, wie unsere Kenntnis frühgeschichtlicher Städte und Staaten reicht. Mit dem Übergange von patriarchalischen Gesellschaftsformen zur Bildung organisierter Obrigkeiten verstärkt sich das Bedürfnis, Menschen, die sich in Gegensatz zur Rechtsordnung oder in politischen Gegensatz zur Herrschaftsgewalt gestellt hatten, aus der

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freien Gemeinschaft auszusondern und in sicherem Gewahrsam gefangenzusetzen. Man kann die Gefängnisse zu den ältesten Kultureinrichtungen rechnen. Sie sind eine Art Urphänomen des Gemeinschaftslebens. Wir finden sie überall in der uns bekannten Frühgeschichte des Orients. Während die Gerichtsbarkeit in keinem besonderen Gebäude, sondern etwa im Königspalast oder im Tempel ausgeübt wurde, erforderte die Verwahrung der Gefangenen bodenständige Einrichtungen, mochten diese auch mehr oder weniger behelfsmäßig in Kellern, Türmen oder Stadttoren untergebracht sein oder dazu leere Zisternen verwendet werden. Aus dem alten Ägypten wird uns in 1. Mos. 40 erste nähere Kunde von einem Gefängnis. Es befand sich „in des Hauptmanns Haus". In ihm lagen „des Königs Gefangene", darunter verschiedene Oberbeamte, die der Pharao hatte gefangen setzen lassen, weil sie sich „gegen ihn versündigt hatten" und er deshalb „über sie zornig geworden war". Zwei von ihnen ließ er schon nach drei Tagen, aus Anlaß seines Jahrestages, wieder frei, den dritten aber hinrichten. Die Verhältnisse in diesem Gefängnis scheinen ganz human gewesen zu sein. Joseph hatte darin offenbar so etwas wie die noch heute beliebte Vertrauensstellung eines Kalfaktors inne. Aus einem Gefängnis in Jerusalem erfahren wir Übleres. Der Prophet Jeremia (um 650 v. Chr.) wurde, da der König ihn nicht, wie vorgeschlagen, töten lassen wollte, im Keller unter dem Obertor Benjamin eingeschlossen (Jer. 20,2), später in einer Grube „unterm Haus des Schreibers", in die er an einem Seil herabgelassen wurde. „Jeremia sank in den Schlamm" (Jer. 38, 6). Auf Bitten von Gönnern wurde er „ehe er denn sterbe" wieder heraufgeseilt und durfte nun „im Vorhof des Gefängnisses bleiben". Diese beiden gefängnishistorischen Miniaturen des alten Testaments aus Ägypten und Jerusalem illustrieren den damaligen Zweck der Gefängnisse deutlich. Sie dienten nicht zur Verbüßung einer normierten Freiheitsstrafe im heutigen. Sinne; eine solche gab es noch auf zweitausend Jahre hin nicht. Wenn auch hier und da einmal Ansätze zu einer solchen Strafe erkennbar sind — ζ. B. bezeugen das Keilschriftfunde aus Babylon — dann handelt es sich doch um nichts anderes als eine harte Leibesstrafe, die nur eine länger dauernde Art der Beförderung vom Leben zum Tode darstellte, wenn nicht, wie im Falle Jeremias, der Herrscher nach einiger Zeit genug hatte des grausamen Spiels. Einen weiteren Zweck haben die Gefängnisse auch im alten Orient schon gehabt, nämlich den, darin vermögenslose und säumige Schuldner festzusetzen („Schuldturm"). Unsere ZPO hat davon noch immer einen Überrest beibehalten, in der Haft zur Erzwingung des Offenbarungseides (§901) und im persönlichen Arrest (§ 918).

Strafvollzug

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b) Auch in der griechischen Antike dienten die — in Athen offenbar gut organisierten — Gefängnisse vornehmlich der Untersuchungs- und der Bxekutionshaft, daneben als Zwangmittel gegen säumige Schuldner. Zur Strafhaft wurden sie kaum verwendet. Wir finden auch im griechischen Strafrecht nur geringe Spuren der Freiheitsstrafe. Dabei hat Piaton im Anschluß an Protagoras schon ganz rein die Idee der Besserungsstrafe vertreten und die kriminalpolitische Bedeutung ihres Vollzugs erkannt. Während er in der Gorgias als Ziel der Strafe die sühnende Reinigung der durch das Verbrechen befleckten Seele und die Herstellung der durch die Übeltat gestörten Harmonie betrachtet, sieht er später in seinen „Gesetzen" den Strafzweck außer in Abschreckung auch in der Besserung und unterscheidet drei Arten von Gefängnissen: Zur Verwahrung, zur Bestrafung und zur Besserung. Doch ist das Theorie geblieben. c) Das römische Strafrecht wurde ebenfalls von Leibes- und Lebensstrafen beherrscht, die teils religiösem Sühnebedürfnis entsprangen, teils — trotz des von Seneca nach einem Ausspruch des Protagoras geprägten Wortes: „Nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur" — bloße Abschreckung bezweckten. Die in der Kaiserzeit häufige Verurteilung zur Beschäftigung in Bergwerken, beim Straßenbau, bei der Kloakenreinigung oder in Bädern, war, auch wenn sie notwendig mit Freiheitsentziehung verbunden war, keine eigentliche Freiheitsstrafe, sondern eine als peinigende Leibesstrafe gedachte Zwangsarbeit. Die römischen Staatsgefängnisse, die unter dem Brdboden lagen, dienten vornehmlich der Untersuchungs- und Exekutionshaft. Die dem römischen Recht eigentümlichen Privatkerker hatten den Zweck, daß der Gläubiger darin den zahlungsunfähigen Schuldner, den trotz Ausrufs an drei Markttagen niemand auslösen und der Gläubiger nicht in die Sklaverei verkaufen wollte, selbst als Arbeitssklaven gefangen hielt. Vielfach war die Haft in diesen „ergastula", wo die Peitsche regierte, nur darauf abgestellt, vom Schuldner doch noch eine Zahlung herauszupressen („Zahle oder leide"). Auch Justinian hat in die Digesten (48. 19, 8) den Satz Ulpians aufgenommen: „Career enim ad continendos homines non ad puniendos haberi debet". Wollte sich dieses Wort wohl auch nur dagegen wenden, daß Untersuchungsgefangene in den Gefängnissen wie Bergwerkssträflinge in Ketten gelegt und gepeinigt wurden, so hat man daraus doch später, wenn auch zu Unrecht, eine Art Verbot der Freiheitsstrafe herausgelesen. 2. Gefängnisstrafen

im

Mittelalter

a) Das germanische Recht kannte anfangs als Folge kriminellen Unrechts vornehmlich Wergeid

und Friedlosigkeit; später hielten immer mehr Todes- und Leibesstrafen ihren Einzug. Von Gefängnissen hören wir nichts. Ein freier Mann konnte auch gar nicht eingesperrt werden. Wohl konnte er der Acht verfallen und damit für vogelfrei erklärt werden; dann hatte jedermann das Recht, ihn zu töten. Erst als Folge zunehmender städtischer Kultur mit ihrer Zusammenballung größerer Menschenmengen machten sich Gefängnisse für die Festhaltung der Delinquenten von selbst notwendig. Ein Edikt des Langobardenkönigs Luitprand (712—744) schrieb vor, daß jeder Richter in seiner Stadt ein Gefängnis herstellen und hier Diebe 1—2 Jahre einsperren und sie dann unversehrt entlassen solle. Ein Kapitular Karls des Großen aus dem Jahre 813 bestimmt, daß Leute „boni generis", also Adlige, die etwas verbrochen haben, vom König mit Gefängnis bestraft werden sollen, bis sie sich gebessert haben. Karl der Große hat auch schon an Gefangenenfürsorge gedacht und die Geistlichen aufgefordert, mit den Laien zu wetteifern in Werken der Barmherzigkeit, die Gefängnisse aufzusuchen und mitleidig gegen deren Insassen zu sein. b) Es handelt sich hierbei freilich nur um vorübergehende Erscheinungen, die in nachkarolingischer Zeit keine Nachfolge fanden. Der Freiheitsentzug als zweckgerichtete kriminelle Strafe ist in den Quellen des 11. und 12. Jahrhunderts nicht mehr anzutreffen. Erst vom 13. Jahrhundert an mehren sich die Nachweise, daß man Rechtsbrecher zu Gefängnis begnadigte, wo man sie dann freilich manchmal einfach vergaß. Solche Gefängnisstrafen blieben aber immer noch Leibesstrafen. Anders konnte es beim Zustand der Gefängnisse auch nicht sein. Wiederum dienten dazu Keller und Türme. Die waren ja fest und sicher und es bedurfte nicht vieler Bewachung. Vornehmlich waren es die Stadttürme, in denen man, wie einst schon in Jerusalem, die Gefangenen einkerkerte (daher „eintürmen" für „verhaften" und „gefangensetzen"; als Gegensatz dazu für „entweichen" und „fliehen" wohl der noch heute in der Soldatensprache beliebte Ausdruck „türmen"). Die Türme (auch auf den Burgen, wo die Raubritter die von ihnen „geworfenen" reisenden Kaufleute einzusperren beliebten) hatten nicht nur dicke Mauern, sondern auch, da der Einstieg im ersten Stockwerk zu sein pflegte, ein fensterloses Untergeschoß, in das von oben nur ein Loch im Fußboden führte und in das die Gefangenen, wie einst schon der jüdische Prophet, mit Seilen hinabgelassen wurden. Es waren wirklich „Verliese" und die Gefangenen darin „verlassen". Oft konnten sie weder liegen noch stehen, sondern nur (die Beine in Holzblöcken) „sitzen". In den größeren Städten dienten vielfach die auch nicht viel besseren und ebenso dunklen Keller der Rathäuser als Gefängnis, mancherorts bezeichnenderweise „Lochgefängnis" genannt (daher heute noch

Strafvollzug „einlochen"). Selbst in der reichen Stadt Nürnberg waren die unter dem im 14. Jahrhundert erbauten Rathaus eingerichteten 12 „Prisauns" modrige dunkle Löcher, in die kein anderes Licht als des Schließers Laterne drang. Haftlokale über der Erde waren die mancherorts, ζ. B. in Erfurt, eingerichteten „Konduitstübchen", in die man die „halbstarken" Söhne eingesessener Bürger für ein paar Tage einsperrte, wenn sie allzusehr randaliert und Unfug getrieben hatten. In ihnen mag es — Pendelschlag nach der anderen Seite — recht gemütlich und nicht gerade erzieherisch zugegangen sein. c) Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532 stellt den großen Markstein der Entwicklung des deutschen Strafrechts am Ausgang des Mittelalters dar. Die Freiheitsstrafe spielte aber in dem reichen Arsenal ihrer Strafandrohungen keine Rolle. Leib- und Lebensstrafen herrschten vollkommen. Wenn ausnahmsweise „ewiges Gefängnis" angedroht wird, so soll es ewige Gefangenschaft bedeuten und auch nichts anderes als eine Strafe am Leib sein. Dieses erste allgemeine deutsche Strafgesetzbuch hat also dem Strafgefängnis keine neue Wurzel gegeben. Den Zweck der Gefängnisse sieht es in der „Behaltung" und schreibt — wohl in Erinnerung an die Digestenstelle des Ulpian — vor, „daß sie nit zu schwerer geverlicher peinigung der Gefangenen gemacht und zugerichtet" sein sollen. Aber das blieb auf dem Papier stehen. War auch die Praxis in der folgenden Periode des gemeinen Strafrechts nicht so hart und grausam, wie es den Strafandrohungen entsprach, und wurden die Strafen allmählich milder, so gewann doch die Freiheitsstrafe nur langsam an Boden. In ihrem Vollzuge machten sich die Anschauungen des den Wert des Individuums betonenden Humanismus und die Anschauungen der neben dem Vergeltungs- und Abschreckungsgedanken den Besserungszweck der Strafen hervorhebenden Reformation (Melanchthon) kaum spürbar. Auch aus dem ausgedehnten Gefängniswesen der katholischen Kirche wurde der weltliche Strafvollzug nicht nachhaltig in der Richtung beeinflußt, daß man dem Besserungsgedanken mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Beruhte auch die alte kirchliche Kerkerhaft gegen Kleriker (später auch gegen Laien) auf dem Büß- und Besserungsgedanken, so waren doch auch die kirchlichen Anstalten späterhin meist so übel, daß sie in keiner Weise als Vorbild dienen konnten. Die italienischen Stadtrechte aus dem 12. bis 16. Jahrhundert haben ebenfalls keine neue Epoche für die Freiheitsstrafe und das Gefängniswesen gebracht. Wir finden dort um diese Zeit kein anderes Bild als in Deutschland. Eine Ausnahme macht nur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Mailand, wo der heiliggesprochene Erzbischof Borromäus (gestorben 1584)

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vorbildliche Verordnungen über die Verwaltung der Gefängnisse und die Behandlung der Gefangenen erlassen hat. Es ist aber nicht festzustellen, daß Mailand anderwärts Schule gemacht habe. 3. Der neue Freiheitsstrafvollzug

im 16. Jh.

a) Die neue Zeit des weltlichen Freiheitsstrafvollzugs ist in England um die Mitte des 16. Jahrhunderts angebrochen. 1555 wurde auf Betreiben des Bischofs Ridley in dem vom König zur Verfügung gestellten Schloß Bridewell ein Zuchthaus eingerichtet, um darin die zu einer Landplage gewordenen Bettler und Vagabunden, aus denen sich das Heer der Diebe, Räuber und Mörder bildete, einzusperren und an Arbeit und Ordnung zu gewöhnen. Sollte so die Anstalt in erster Reihe den aus dem Bettler- und Landstreichertum erwachsenen Gefahren vorbeugend begegnen, so wurden doch auch Diebe auf Grund gerichtlicher Strafurteile eingeliefert. Der Vollzug war aber bald alles andere als human. b) Von größerer historischer Bedeutung für das Strafrecht und den Strafvollzug ist die 1595 gegründete Anstalt in Holland geworden: das Amsterdamer Zuchthaus. Die Gründung geht auf die Anregung eines Gerichts zurück. Die Schöffen konnten sich im Jahre 1587 nicht entschließen, einen 16jährigen Dieb nach der bisherigen, unter der eben beendeten spanischen Zwingherrschaft besonders grausamen Strafrechtspraxis hängen zu lassen, und schlugen dem Rat vor, „ein geeignetes Mittel zu finden, derartige Bürgerskinder in dauernder Arbeit zu halten und womöglich dadurch zu einem besseren Lebenswandel zu erziehen". Der Rat erkannte die grundsätzliche Bedeutung des Falles und beschloß die Gründung einer Anstalt, wo man alle — nicht nur jugendliche — Vagabunden einsperren lassen konnte, und zwar solange es die Schöffen nach ihren Delikten für angemessen befinden würden. Mit diesem Beschluß beginnt auf dem Festlande die Periode der zweckgerichteten Freiheitsstrafe und mit seiner Ausführung der erste Versuch eines resozialisierenden Strafvollzugs. Die zuerst von v. Hippel erkannte historische Bedeutung des Amsterdamer Zuchthauses, dem zwar nicht der zeitliche, wohl aber der sachliche Primat vor Bridewell zukommt, beruht vornehmlich auf folgenden Tatsachen: 1. Das Amsterdamer Zuchthaus hat seinen Ausgangspunkt in der Strafrechtspflege genommen und hat von Anfang an in erheblichem Maße — wenn auch nicht nur — als Strafanstalt gedient. 2. Es war für seine Zeit besonders zweckmäßig eingerichtet und verwaltet. 3. Es verfolgte — bei aller Anwendung von abschreckenden und primitiven Methoden — eindeutig den Gedanken der Erziehung des Rechtsbrechers.

Strafvollzug

256

4. Es ist das bald und oft nachgeahmte Vorbild für andere Länder des Kontinents, insbesondere für Deutschland, geworden. Charakteristisch für dieses erste Zuchthaus sind seine Arbeitsbetriebe, in denen die Gefangenen durch Arbeit — Raspeln von Farbholz (daher „Raspelhaus"), Band- und Samtweben — an das Arbeiten gewöhnt werden sollten. Auch für Seelsorge und Unterricht der jüngeren Insassen war gesorgt. Die Verpflegung war gut. Das Zuchtbaus war freilich noch keine reine Strafanstalt. Nicht nur wurden Bettler im Verwaltungswege eingeliefert, sondern es konnten auch Eltern ihre ungeratenen Kinder, mit denen sie nicht mehr fertig wurden, gegen Zahlung der Unterhaltskosten einliefern. c) Das Amsterdamer Zuchthaus war eine Sehenswürdigkeit, die kein Reisender von Stand zu besuchen versäumte. So wurde es schnell bekannt und nachgeahmt. Zuerst geschah das in den großen deutschen Hansestädten an Nord- und Ostsee, und zwar in Bremen 1609, in Lübeck, das unter der Bettlerplage besonders zu leiden hatte, 1613, in Hamburg 1622 und in Danzig 1629. Alle diese Anstalten dienten, wie die Amsterdamer, hauptsächlich der Aufnahme der drei verschiedenen Arten von asozialen Menschen: polizeilich aufgegriffenen Bettlern und Müßiggängern, ungeratenen Kindern (auf Antrag ihrer Angehörigen) und gerichtlich (meist nur zu kurzen Strafen) verurteilten Rechtsbrechern. Überall wurde deutlich nach dem Amsterdamer Vorbild der Zweck verfolgt, den Züchtling zur Arbeitsamkeit zu erziehen. d) Die wirtschaftliche und kulturelle Katastrophe des 30jährigen Krieges erklärt genügend, weshalb im übrigen Deutschland die Amsterdamer Erfahrungen nicht alsbald der aufdämmernden Kriminalpolitik nutzbar gemacht wurden. Die Absicht dazu hatte verschiedentlich bestanden, so schon um 1608 in Brandenburg, ein Jahrzehnt später in Osnabrück und Regensburg. Nur in einem Orte wurde der Plan noch vor dem großen Kriege verwirklicht, nämlich in Cassel (1617). Langes Leben war diesem ersten mitteldeutschen Zuchthaus nicht beschieden. 1674 ist es abgerissen worden. Wir wissen davon nur, daß es auf Amsterdamer Vorbild beruhte, da die Insassen „auf niederländisch" gekleidet waren. 4. Die Ausdehnung der Freiheitsstrafe nach dem 30jährigen Krieg Mehrere Umstände kamen zusammen, die nach dem unseligen Krieg nicht nur im allgemeinen die Ausdehnung der Freiheitsstrafe förderten, sondern auch der Gründung von Zuchthäusern nach Amsterdamer Vorbild günstig waren. a) Das schon durch den Humanismus und die Reformation vorbereitete Zeitalter der Aufklä-

rung, die mit ihrer Betonung von Zweckmäßigkeit und auch mit der Ehrlichkeit ihrer Humanität das mittelalterliche Denken ablöste, macht sich seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts immer mehr geltend. Zur Ausdehnung der zunächst von der Gerichtspraxis als poena extraordinaria eingeschmuggelten Freiheitsstrafe trug seit Grotius das naturrechtliche Schrifttum nicht so sehr unmittelbar durch Empfehlung der Freiheitsstrafe, sondern mehr mittelbar durch den Kampf gegen die nicht mehr in ihrer Symbolhaftigkeit verstandenen Leibes- und Lebensstrafen der Carolina bei. So setzte sich die schon gleich nach Erlaß der Carolina zu beobachtende Entwicklung einer Milderung der Strafrechtspflege folgerichtig fort. b) Zeitgeist, Doktrin und Gerichtspraxis waren es aber nicht allein, die zur Ausbreitung der Freiheitsstrafe und zu Zuchthausgründungen hindrängten. In entscheidendem Maße waren dabei vor allem auch soziale Mißstände, die nach Abhilfe schrieen, mitbestimmend. Wie schon das englische Zuchthaus zu Bridewell und dann besonders die Zuchthäuser in den Hansestädten der unerträglichen und durch Edikte und Mandate nicht einzudämmenden Bettler- und Landstreicherplage begegnen wollten, war diese nach dem 30jährigen Kriege, der Menschenmassen sozial entwurzelt hatte, bis über das Ende des 18. Jahrhunderts allenthalben Anlaß zur Gründung von Zuchthäusern. Die Landstreicher waren nicht barmlose Erscheinungen wie heute zumeist die Tippelbrüder, sondern verwegene Burschen, die zu jedem Verbrechen jederzeit bereit waren. Sie rekrutierten sich nicht nur aus dem streunenden Proletariat, sondern auch, wie noch 1747 die baden-durlachsche Regierung klagt, aus „bettelnden Edelleuten, deren Weibern, Wittwen und Waisen, Offiziers und deren Angehörigen, Pfarrern, Bekehrten, reisenden Sängern und Studenten, Jägern und anderen abgedankten Domestiken und Unteroffizieren". Zahlreiche Zigeunerbanden vervollständigten die Landplage. Sie war besonders schlimm in den reichsritterschaftlichen Territorien in Schwaben und Franken, wo die zu förmlichen Räuberbanden zusammengeschlossenen „Jauner" rasch über die Grenze in ein Nachbarland den Polizeistreifen ausweichen konnten. Noch 1810 wurde in Karlsruhe eine Jaunerliste veröffentlicht, die nicht weniger als 3611 Namen aufzählte. Der äußeren Erscheinungsform dieser Landplage, der Bettelei, suchte die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts nachdrücklich einsetzende Organisation der Armenpflege zu begegnen, zeitigte aber auch hier bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts wenig Erfolge. Der auf dem Lande von der Polizei und dem Militär auf groß angelegten Razzien aufgegriffenen heimatlosen Landstreicher suchte man dadurch Herr zu werden, daß man sie in Zuchthäuser einsperrte und dort durch Arbeit zur Arbeitsamkeit zu erziehen

Strafvollzug versuchte. So verdanken sehr viele Zuchthausgründungen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts ihre Entstehung der teils rein polizeilichen, teils mehr strafrechtlichen Bekämpfung des Bettler- und Landstreicherunwesens. Besonders deutlich wird das aus dem Edikt Friedrichs des Großen über die Einrichtung der Armen- und Arbeitszuchthäuser in Brieg und Jauer vom 25. III. 1747. In ihnen sollte „der unverschämte und halsstarrige Bettler zu Abstellung vieler in Schwange straffbaren Laster und Verbrechen zur Arbeit angehalten, mithin derselben Besserung durch nachdrückliche Zucht und Zwangsmittel gehörig befördert werden". c) Eine weitere Ursache für Zuchthausgründungen waren die merkantilistischen Pläne von Landesfürsten. Die seit dem 17. Jahrhundert zunehmende Verurteilung von Schwerverbrechern ad operas publicas („in die Karre") lieferte vornehmlich Zwangsarbeiter für den Festungsbau, allenfalls noch zu Wegearbeiten. Es kam aber den Fürsten immer mehr darauf an, Gewerbebetriebe zu schaffen, die das Land von der Einfuhr teurer Manufakturerzeugnisse, insbesondere Webwaren, unabhängig machten. Die deutsche Handelsbilanz ζ. B. gegenüber England und Frankreich war im 18. Jahrhundert stark passiv, jährlich im Durchschnitt um 6 Millionen Taler. Immer mehr kamen die Fürsten auf den Gedanken, die billige Arbeitskraft der kriminell-asozialen Elemente in Zuchthäusern auszunutzen. So heißt es bezeichnend in dem Gründungsedikt des Kurfürsten von Brandenburg für das Zuchthaus zu Spandau aus dem Jahre 1687 mit besonderer Betonung, daß die Anstalt bezwecke: „Beförderung der Wollen und Seyden-Manufakture auch zugleich zur Verbeßerung der bishero ermangelnden Spinnerey in unseren Churlanden". Vielleicht war es der Gedanke an den durch Zuchthausarbeit erhofften wirtschaftlichen Nutzen, der schon im 17. Jahrhundert zu dem Grundsatz führte, daß nicht jeder Gerichtsherr, sondern nur derjenige, der die Reichsstandschaft besaß, ein Zuchthaus einrichten und unterhalten dürfe. Wer den Reichsständen nicht zugehörte, konnte selbst dann keine solche Anstalt gründen und keine Zuchthausstrafe vollziehen, wenn ihm die hohe Gerichtsbarkeit über Hals und Hand zustand. d) Das Zuchthaus ist noch während des 18. Jahrhunderts keine reine Strafanstalt gewesen. Es diente in erheblichem Umfange auch der Aufnahme von polizeilichen Gefangenen, und es war damit häufig Armenhaus, Waisen- und Irrenhaus verbunden. Seine Entwicklung zur reinen Strafanstalt schritt aber immer weiter vorwärts. Soweit das Zuchthaus zur Strafverbüßung diente, war es die nicht entehrende mildere Form der Freiheitsstrafe. Wer schon unter Henkershand gestanden, kam nicht hinein oder wurde hier zumindest in 17 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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einer besonderen Abteilung untergebracht. Dieser Zuchthausstrafe stand eine schwere, ehrlos machende gegenüber, die bald als Festungs- oder Festungsbaustrafe, bald als Karrenstrafe bezeichnet wurde. Auch der Ausdruck Spinnhaus wurde für Strafanstalten verwendet, in der Schwerverbrecher, die schon unter der Hand des Scharfrichters gestanden, aufgenommen wurden. Gefängnis bedeutete bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im allgemeinen keine besondere Strafart, sondern war Sammelbegriff. Bei der Wahl der verschiedenen Strafarten durch die Gerichte herrschte vollkommene Willkür, welche die Praxis des gemeinen deutschen Strafrechts überhaupt charakterisiert. Schon Carpzow (1635) stellte als Grundsatz fest: „omnia judicia hodie extraordinaria sunt". Im 18. Jahrhundert war es üblich, daß der Richter die Zuchthausstrafe durch den Willkommen und den Abschied — durch 1—2 Dutzend Peitschenhiebe — verschärfte. Die Strafdauer wurde ebenfalls willkürlich bemessen. Zuchthaus- wie Festungsstrafe waren manchmal nur kurz und dauerten Monate. Sie kamen aber auch lebenswierig und unbestimmt „bis zur Besserung", „bis zum Nachweis eines ehrlichen Erwerbs" oder — noch unbestimmter — „auf Gnaden" vor. Selbst bei lebenswieriger Verurteilung dauerte aber praktisch die Strafe oft nur einige Jahre. Die Überfüllung und der ständige Geldmangel der Zuchthäuser waren oft für den Entlassungstermin entscheidend. 5. Die Gestaltung

des Strafvollzugs

im 18.

Jh.

a) Der Ausbreitung der Freiheitsstrafe in der Aufklärungszeit entsprach keineswegs die Sorge um die Gestaltung ihres Vollzugs. Die zeitgenössischen Beschreibungen bieten im allgemeinen ein erschütterndes Bild. Am schlimmsten stand es um die kleinen Gefängnisse, die in erster Reihe als Untersuchungsgefängnisse („Bewahrgefängnisse", „Inquisitoriate") bestimmt waren, aber auch zum Vollzug von Freiheitsstrafen benutzt wurden. Sie unterschieden sich in der Regel nicht von den mittelalterlichen Turmgefängnissen und Stockhäusern, die vielerorts bis in das 19. Jahrhundert hinein benutzt wurden, wie ζ. B. das berüchtigte Nürnberger Lochgefängnis. Der preußische Justizminister von Arnim gibt in seinem 1803 anonym erschienenen dreibändigen Werke „Bruchstücke der Verbrechen und Strafen" Berichte über die Besichtigung von Gefängnislöchern wieder, die an das sprichwörtlich „finstere Mittelalter" erinnern. Auch in den Festungsanstalten, die meist in feuchten und dunklen Kasematten untergebracht waren, aber selbst in den kleinen Zuchthäusern sah es übel aus. Die meisten der gegen das Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland gezählten 60 Zuchthäuser ließen das

Strafvollzug

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Amsterdamer Vorbild kaum mehr erkennen. Schon in ihrer Bauart boten sie keine genügende Sicherheit gegen Entweichungen, zumal es oft an Aufsehern fehlte. Die wenigen Wärter waren roh und meist dem Trünke ergeben und jeder Bestechung zugänglich. Arbeitsbetriebe fehlten vielfach. Schwerverbrecher waren mit harmlosen Rechtsbrechern in einem Raum zusammengelegt und verdarben sie vollends. Die hygienischen Verhältnisse ließen sehr zu wünschen übrig. Die Unreinlichkeit spottete oft jeder Beschreibung. Die Sterblichkeit war daher groß. Die Anstalten hatten dauernd unter Finanznöten zu leiden. Ein einfaches, aber dem Strafvollzuge nicht gerade förderliches Mittel, ζ. B. in Spandau, war die Vergebung der ganzen Anstalt — nicht nur der Arbeitsbetriebe — in „Generalentreprise" an Privatunternehmer. Einige mittlere Zuchthäuser, so die in Halle, Kassel und Ludwigsburg, boten ein günstigeres Bild, besonders aber zwei große Anstalten, nämlich die in Waldheim i. Sa. und Celle. Diese beiden Zuchthäuser, für die eingehende und verständnisvolle Reglements bestanden, waren nicht nur gut eingerichtet und verwaltet, sondern ihr ganzer Betrieb war so angelegt, daß die angestrebte „sittliche Hebung der Gefangenen" nicht ganz auf dem Papier stehen blieb und auf sie die Charakterisierung der damaligen Zuchthäuser durch v. Arnim als „Verbrechenspepiniere" nicht bezogen zu werden braucht. Auch hier spielten aber bei der „Erziehung" Abschreckungsmethoden eine große Rolle. Nicht nur waren Prügel als „Willkommen" und „Abschied" üblich, sondern es wurden alle möglichen Arten schmerzhafter Körperstrafen (Peitsche, Fiedel, Weife, Brezel, Tollstein, Kette und Dunkelarrest) in ausgiebiger Weise verhängt. Fürsorge für die Entlassenen war noch unbekannt, wohl aber suchte man sich vor den Entlassenen zu schützen, indem man sie Urfehde schwören ließ. b) Eine systematische Entlassenenfürsorge wurde in Preußen durch die denkwürdige Instruktion vom 27. III. 1797 eingeführt, die ein umfangreiches Werk voll tiefer kriminalpsychologischer Einsicht, kluger kriminalpolitiscber Erkenntnis und starkem sozialen Verantwortungsgefühl war. Sie wollte ausgesprochenermaßen „den oft noch nicht ganz verderbten Menschen Mittel und Wege an die Hand geben, auf den sie ihren wenigsten notdürftigen Unterhalt auf eine rechtliche Art erwerben, und so wiederum nützliche Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft werden können". 6. Die Reformer John Howard und Heinrich Balthasar Wagnitz

Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts setzte ein umfangreiches kritisches Reformschrifttum ein. Es bekam seine ersten Anregungen aus Eng-

land, wo John Howard, dessen Name nie vergessen werden wird (1726—1790), nicht nur durch sein persönliches Auftreten, sondern auch durch sein erstmals 1777 erschienenes Buch „The state of the prisons in England and Wales with preliminary observations and an account of some foreign prisons and hospitals" das Gewissen der Menschen wachgerufen hatte. In England waren die Gefängnisverhältnisse ganz besonders übel gewesen. Die Ziele, die 200 Jahre früher mit der Gründung des Zuchthauses von Bridewell verfolgt worden waren, waren vergessen. „Die Gefangenen in unserem Lande leben schlimmer als Hunde oder Schweine, sie werden unsauberer gehalten als diese Tiere in ihren Hütten und Koben", schrieb 1767 eine englische Zeitschrift. Die moralischen Zustände spotteten überall jeder Beschreibung. Howard, Sohn eines reichen Kaufmanns, war bereits 47 Jahre alt und lebte das sorglose Leben eines reichen Grundbesitzers, als er in seiner Eigenschaft als Sheriff zufällig die unglaublichen Zustände der Gefängnisse kennenlernte. Um weitere Erfahrungen zur Lösung der Gefängnisfrage zu sammeln, hat er den Rest seines Lebens dazu verbracht, nicht nur alle Gefängnisse seines Landes, sondern auch die des Kontinents kennenzulemen. Unter Opferung großer Mittel besuchte er die Gefängnisse in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Später unternahm er weitere große Reisen, die ihn bis zur afrikanischen Küste und in die entlegensten Winkel Rußlands führten. Nur zwei Gefängnisse traf er an, die ihm wirklich vorbildlich erschienen, das 1703 vom Papst Clemens XI. in Rom errichtete „BöseBuben-Haus" zu St. Michele und das 1772 von dem Bürgermeister Vicomte Vilain XIV. nach einem neuartigen, sternförmigen Plane gebaute Maison de force in Gent, das damals zu der österreichischen Provinz Flandern gehörte. Jene Anstalt war ein Jugendgefängnis, in welchem die jungen Gefangenen nachts in Einzelzellen verwahrt wurden und tags in Gemeinschaft arbeiteten. Auch die Genter Anstalt beruhte auf diesem System und zeichnete sich durch ihre vorzüglich eingerichteten Arbeitsbetriebe aus. Auf diese führte Howard zurück, daß es dort kaum Bettler und Landstreicher gab. Hier prägte Howard das berühmt gewordene Wort: „Make the criminals diligent und they will be honest". Der Ruhm Gents verblaßte freilich bald nach Howards Besuch, als es der Konkurrenzfurcht der Zünfte gelungen war, durchzusetzen, daß die Arbeitsbetriebe wieder beseitigt wurden. Den letzten Teil seines Lebens füllte Howard damit aus, auf ausgedehnten Reisen das Elend in den Pesthäusern kennenzulernen. Auf einer solchen Reise ist Howard 1790 gestorben, vermutlich infolge einer Ansteckung. Auf dem Kontinent ist die geistige, wenn auch nicht die praktische Wirkung seiner Persönlichkeit

Strafvollzug und seiner Ideen schon zu seinen Lebzeiten tief gewesen. „Dem Geiste Howards und denen, die er umschwebt" hat der Hallenser Theologe Heinrich Balthasar Wagnitz (1755—1838) sein zweibändiges Werk „Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland", dessen erster Band ein Jahr nach Howards Tod erschien, gewidmet. Es enthält, ähnlich wie Howards berühmtes Werk, Berichte über seine Besichtigungen zahlreicher, vornehmlich deutscher Zuchthäuser, dann aber auch auf Grund eingehender sachkundiger Kritik des Geschauten systematische Vorschläge zur Verbesserung der Einrichtungen und der erzieherischen Behandlung der Gefangenen, so daß es für jene Zeit ein förmliches Kompendium der Gefängniswissenschaft darstellt. Seine Grundidee ist, daß der Verbrecher durch den Strafvollzug „moralisch außer Stand gesetzt werden soll, dem Staate schädlich zu werden". Das heißt für ihn nichts anderes, als ihn „veredeln und für die Zukunft brauchbarer zu machen". Und an anderer Stelle im gleichen Sinne: „Mag doch immerhin die Sicherheit des Staates Strafzweck bleiben, man vergesse nur nicht, daß, indem der Verbrecher gebessert wird, dadurch zugleich die Sicherheit des Staates befördert wird und andere nicht nur gewarnt, sondern auch erbaut werden". Er macht sich weder über die Unerziehbarkeit mancher Verbrecher — besonders rückfälliger Diebe — Illusionen, noch verwirft er für solche Fälle Abschreckungsmethoden in Gestalt von schmaler Kost und harter eintöniger Arbeit (Steinsägen und Raspeln). Aber er betont, daß auch in solchen Fällen nicht unversucht bleiben dürfe, moralisch auf den Gefangenen einzuwirken. Für die Behandlung der Gefangenen ist ihm oberste Maxime, daß „auch im Verbrecher die Menschheit respektiert werden muß". Die Notwendigkeit der Personalfrage erkennt er in ihrer ganzen Bedeutung. Wenn die Beamten moralisch indifferent, ungerecht, brutal, schmutzig, eigennützig und trunksüchtig seien, wie er sie so oft angetroffen habe, dann sei keine Besserung der ihnen überantworteten Gefangenen möglich. Er stellt die ganz moderne, noch immer nicht voll erfüllte Forderung auf, für die Ausbildung der Gefängnisbeamten Schulen, „Seminarien", einzurichten. Seine Forderungen gipfeln in einer sorgsamen Entlassenenfürsorge, da die immer noch übliche Urfehde nicht viel erhoffen lasse. Das zweite bedeutende Werk der bald in die Breite, aber nicht immer in die Tiefe wachsenden deutschen Gefängnisreformliteratur führt uns schon über die Jahrhundertgrenze hinüber. Es ist das bereits genannte Werk des Preußischen Justizministers v. Arnim, eine Fundgrube für die Gefängnisgeschichte des 18. Jahrhunderts. Bei seinen positiven Reformvorschlägen geht er davon aus, daß die Idee der Besserung Selbstver17*

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ständlichkeit geworden sei und daß zu ihrer Verwirklichung die Hoffnung, die „allein die moralische Tätigkeit des Menschen in Bewegung setzen kann", als Erziehungsmittel bewertet werden müsse. Dabei versteht er aber — im Gegensatz zu Wagnitz — unter Besserung nur eine solche in bürgerlichem Sinne.

7. Der Preußische Generalplan zur Reform Strafvollzuges (1804)

des

Alle Wünsche auf Reform des Gefängniswesens schienen in Preußen in Erfüllung zu gehen, als nach langen und sorgfältigen Vorbereitungen unterm 16. I X . 1804 ein „Generalplan zur Einführung besserer Kriminalgerichtsverfassung und zur Verbesserung der Gefängnis- und Strafanstalten" veröffentlicht wurde. Er enthält ganz moderne Ideen. So sollen die Gefangenen nach besserungsfähigen und unerziehbaren getrennt werden. Um „den Besserungszweck der Strafe zur Durchführung zu bringen", sollen drei Klassen gebildet werden, eine Straf-, eine Probe- und eine Besserungsklasse, die sich durch Kleidung, Lebensweise und Behandlung unterscheiden. Dadurch, daß Versetzungen zwischen den einzelnen Klassen vorgesehen werden, wird schon ein Progressivsystem angestrebt. Die Arbeit der Gefangenen soll in erster Reihe dem Zwecke dienen, daß sie sich durch Gewöhnung an nutzbringende Arbeit nach der Entlassung in die bürgerliche Gesellschaft wieder einordnen können. Mit diesem wohldurchdachten, großzügigen „Generalplan" würde, wenn er verwirklicht worden wäre, Preußen Epoche gemacht haben. Aber leider blieb er nur Plan und Papier. Manche Gründe kamen zusammen. Die Aufklärungsphilosophie und das Naturrecht, das utilitaristischen Gedankengängen besonders zugeneigt gewesen war, waren abgeklungen. Die Strafrechtsphilosophie Kants, die auf Vergeltung abgestellt war, auch die in der Strafrechtsdogmatik und Strafgesetzgebung (Bayr. Strafgesetzbuch von 1813!) zum entscheidenden Einfluß gelangenden Lehren Anselm v. Feuerbachs und dessen von Kant beeinflußte, ganz auf Generalprävention abgestellte Theorie vom psychologischen Zwang und seine auf Trennung von Strafrechtsnorm und sittlichem Werturteil zielende Ansicht der Idee der Spezialprävention mußten dem Besserungszweck des Strafvollzugs abträglich sein. Aber nicht nur solcher Ideenwandel im Strafrecht, sondern auch äußere Umstände, nämlich die durch die napoleonischen Kriege in Erschütterung gebrachte Lage von Staat und Wirtschaft erklären letztlich, daß der schöne Generalplan unausgeführt blieb und kein Vorbild für andere Staaten bieten konnte.

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Strafvollzug

8. Die Reformbestrebungen des 19. Jhs. und die ersten deutschen Gefängnisgesellsehaften

9. Englische und amerikanische

Vorbilder

Schon in den unglücklichen Jahren nach dem Tilsiter Friedensschluß setzte zwar in vielen deutschen Staaten eine Neugestaltung der Behördenorganisation ein, welche die Staatsverwaltung in moderne Bahnen lenkte. Aber auf dem Gebiete des Gefängniswesens geschah zunächst nichts Wesentliches. Die Zunahme der Kriminalität gab nur Anlaß, neue Anstalten einzurichten. Der Kostenersparnis halber brachte man sie, wie früher schon, in alten Schlössern und Klöstern unter (Preußen: Rawicz 1810, Naugard und Brandenburg 1820, Görlitz 1826; Bayern: Plassenburg 1817). Auch erweiterte man alte Zuchthäuser, das Spandauer 1820 für 87 000 Thaler. Im Vollzug sah man jetzt vornehmlich auf äußere Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Von den großzügigen Ideen des preußischen Generalplans war aber nichts mehr zu spüren. Die organisatorisch bedeutsame Aufteilung der Gefängnisverwaltung unter das Innenministerium, dem die Zuchthäuser und großen Gefängnisse unterstellt wurden, und das Justizministerium, das nur die Aufsicht über die Gerichtsgefängnisse behielt, wirkte sich als ein genau 100 Jahre dauernder „Dualismus" ungünstig und reformhemmend aus.

a) Die Gründung der beiden ersten deutschen Gefängnisgesellschaften, denen bald im übrigen Deutschland andere nachfolgten, geht auf englische und amerikanische Vorbilder zurück. Fliedner hatte in England die 1817 gegründete „Society for the Improvement of Prison Discipline" kennengelernt. Der Hamburger Arzt Dr. Nicolaus Heinrich Julius hatte in seinen im Frühling 1827 in Berlin auf Veranlassung des Majors v. Rudioff gehaltenen „Vorlesungen über die Gefängniskunde oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen und entlassenen Sträflinge" ebenfalls auf das Wirken der englischen Gesellschaft hingewiesen. Darüber hinaus hatte er Kenntnis von den in England durch Howard angeregten, zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Elisabeth Frey besonders in den noch immer schlimmen Frauenanstalten (Newgate) fortgesetzten Bestrebungen zur Reform des Gefängniswesens vermittelt, ganz besonders aber auch von den gleichgerichteten Bestrebungen, die zur Zeit Howards in Nordamerika in Fluß gekommen und um die Mitte der 20er Jahre in ein neues Stadium getreten waren. Die amerikanischen Reformen sind auch für Deutschland von großer Bedeutung geworden.

b) Den ersten Antrieb von praktischer Bedeutung erhielten die Reformbestrebungen in den 20er Jahren durch die Gründung von Gefängnisgesellsehaften. Die bedeutendsten waren die von Theodor Fliedner (1800—1864), dem Vater des evangelischen Diakonissenwesens, die im Jahre 1826 gegründete Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft und der im folgenden Jahre von einem Offizier, dem Major und vortragenden Rat im Preußischen Justizministerium v. Rudioff in Berlin ins Leben gerufene Verein zur Besserung der Strafgefangenen. Beide Gesellschaften bezweckten, wie schon der Name des Berliner Vereins andeutet, in den Strafanstalten zu wirken und hier auf die Besserung der Insassen hinzuarbeiten. Dieser Aufgabe suchten die Gesellschaften vor allem durch die Einstellung von Anstaltsgeistlichen und Lehrern auf Vereinskosten gerecht zu werden. Darüber hinaus wollten sie überhaupt Einfluß auf Verbesserung der Gefängniseinrichtungen gewinnen. Schließlich wollten sie sich auch der Entlassenenfürsorge widmen. In dem Maße, wie sich der Staat unterm Einfluß des Wirkens der Gesellschaften seiner eigenen Aufgaben im Gefängniswesen besann und selber die Anstellung von Geistlichen und Lehrern übernahm, wurde die praktische Tätigkeit der Gesellschaften immer mein- auf die Entlassenenfürsorge, für die zahlreiche Untervereine gebildet wurden, beschränkt. Das beeinträchtigt nicht ihr historisches Verdienst für die Wiederaufnahme der praktischen Gefängnisreform nach den Freiheitskriegen.

b) Im Quäkerstaate Pennsylvanien, dessen Strafrecht schon immer durch den christlichen Büß- und Besserungsgedanken beeinflußt worden war, hatte sich bereits während des Unabhängigkeitskrieges 1776 zu Philadelphia eine Gefängnisgesellschaft gebildet, die sich vor allem der Besserung der „verhärteten schrecklichen Verbrecher" annehmen wollte. Unter ihrem Einfluß wurde 1790 ein Zellengefängnis in der Walnußstraße errichtet. Seine Bezeichnung als „Penitentiary House" deutet schon an, daß es der inneren Besserung der Insassen dienen sollte. Es enthielt nur Einzelzellen, in denen die Gefangenen in ihrer Einsamkeit zu innerer Einkehr und dadurch zur Buße und Versöhnung mit Gott kommen sollten. Auch Arbeit sollte sie nicht davon ablenken. Darum blieben sie — mindestens während der ersten Zeit — ohne jede Beschäftigung. Die Anstalt entartete freilich nach kurzer Zeit dadurch, daß sie unter politischen Einfluß geriet, der zu übler Günstlingswirtschaft führte. Die Philadelphische Gesellschaft bezeichnete es 1817 geradezu als Schule des Lasters. Der Quäkergeist rührte sich nun von neuem. In den 20er Jahren wurden zwei große Gefängnisse gebaut, in Pittsburg das Western State Penitentiary und bei Philadelphia das Eastern State Penitentiary. Besondere Bedeutung hat das zweitgenannte, von Haviland strahlenförmig nach dem Vorbilde des englischen Gefängnisses zu Ipswich gebaute, erlangt. In ihm ist das pennsylvanische System, die in Deutschland später meist „Pönitentiarsystem" genannte

Strafvollzug Methode der Einzelhaft, ausgebildet worden. Sie besteht, wie in der Walnußstraße, darin, daß der Gefangene, um von jeder schlechten Beeinflussung durch Mitgefangene bewahrt zu sein, sich unausgesetzt in einer Einzelzelle befindet. Der Bewegung im Freien dient ein kleines Höfchen, das sich unmittelbar hinter jeder Zelle befindet und das der Gefangene durch eine Tür in der Rückwand der Zelle betritt. Beamte und Geistliche besuchen ihn in der Zelle. Ungefähr um die gleiche Zeit hatte der Staat New York in Auburn eine Anstalt eingerichtet. Man hatte sich dafür eine ganz andere Methode ausgedacht. Auch hier sind die Gefangenen nachts in Einzelzellen untergebracht, und zwar in sogenannten „Inside-Cells", die hier zum erstenmal eingerichtet wurden und seitdem eine amerikanische Spezialität geblieben sind. Die Zellen liegen nicht an den Außenmauern des Gebäudes, sondern stoßen mit der Rückwand aneinander derart, daß sich der Korridor an der Außenmauer befindet und Luft und Licht nur durch kleine vergitterte Türfenster in die Zelle dringt. Tagsüber arbeiten die Gefangenen gemeinsam in großen Sälen. Sie werden aber dadurch voneinander isoliert, daß strengstes Schweigegebot herrscht. Wer es übertritt, auf den saust unnachsichtlich die Peitsche des Aufsehers hernieder. Das ist das „Auburnsche Schweigesystem", das trotz seiner Sinnlosigkeit auch in deutschen Strafanstalten nachzuahmen versucht worden ist. 10. Reformmodelle

in

Preußen

a) Von Dr. Julius propagiert, wurde in Preußen die erste Anstalt mit Einzelzellen nach pennsylvanischem System 1832 in Insterburg eingerichtet. Im folgenden Jahre wurde in Sonneburg eine Strafanstalt mit 130 Zellen nach dem Einzelhaftsystem gebaut. Solche Bauten waren kostspielig. Bis ihre Errichtung in den 40er Jahren von England her neuen Anstoß erhielt, lief nebenher eine mehr äußerliche Reorganisation der Zuchthäuser. Sie waren zumeist immer noch in alten Schlössern und Klöstern untergebracht. Die Gefangenen schliefen in großen Schlafsälen und arbeiteten gemeinschaftlich in großen Arbeitsräumen. Während der Arbeit und nachts war jede Unterhaltung verboten. Einzelzellen gab es nur für besonders unbotmäßige Gefangene. Blieb das Schweigegebot schon des Tags, während Aufseher dabei waren, eine „offizielle Lüge" (Krohne), so läßt sich denken, daß es erst recht nicht nachts, wenn die Gefangenen sich allein überlassen waren, gehalten wurde. Was aber immerhin den Betrieb dieser Zuchthäuser gegenüber dem vorhergegangenen Jahrhundert auszeichnete, das war die durch ins einzelne gehende Hausordnungen und Instruktionen für sämtliche Beamten, vom Direktor bis zum Nachtaufseher und zum Tor-

261

wärter, geregelte äußere Ordnung. Die Disziplin wurde militärisch und im Geiste straffen Drills durchgeführt. Die Beamten wurden mit Vorliebe aus dem Militärstande genommen und gewährleisteten, daß wenigstens äußere Zucht und Ordnung in die verlotterten Anstalten einzogen. Besondere Bedeutung hat das Reglement zu Rawicz in Posen bekommen. 1835 ist es in allen preußischen Zuchthäusern eingeführt worden. Mit geringen Änderungen hat es bis 1902 gegolten. Als Erziehungsmethode sah es nach dem Muster der zwei Klassen des Soldatenstandes zwei Sträflingsklassen vor. Die erste Klasse ist die der „besseren" Sträflinge; als solche galten diejenigen, die zum ersten Mal in die Anstalt kamen, wenn sie sich nicht im Untersuchungsverfahren als besonders gefährlich oder verwahrlost herausgestellt hatten. In die zweite Klasse kamen die Vorbestraften. Rückfällige, die schon in der letzten Klasse gewesen waren, mußten anstatt der Tuchmütze eine Papiermütze tragen, auf der die Zahl ihrer Vorstrafen weithin sichtbar war und die auch bei der Arbeit nicht abgesetzt werden durfte. Versetzung von der zweiten Klasse in die erste war bei fortgesetzter guter Führung möglich, umgekehrt bei schlechtem Betragen Versetzung in die zweite. b) Feiner durchgebildet war das Klassifizierungssystem in den Zuchthäusern zweier thüringischer Kleinstaaten. Auf der Leuchtenburg (Sachsen-Altenburg) wurde durch die sehr sorgsam abgefaßte und den Betrieb ins einzelne regelnde Hausordnung vom 2. II. 1832 (fortgebildet durch die Statuten vom 1. II. 1838 und 14. VII. 1842) die Gliederung der Züchtlinge in 3 Klassen vorgeschrieben. Für die Zuteilung sollten nicht nur die Art der verhängten Strafe und die Vorstrafe, sondern auch die den Gefangenen mitgegebene „Charakteristik" maßgebend sein. Die Behandlung war in den einzelnen Klassen verschieden streng. Noch bedeutsamer war der in Untermaßfeld (Sachsen-Meiningen) geübte Vollzug, der schon förmlich ein Progressivsystem darstellte. Die unterm 20. III. 1834 von dem Freiherrn von Speßhardt erlassene Hausordnung führte eine „Probeklasse", wie sie der preußische Generalplan vorgesehen hatte, und fünf weitere Klassen ein. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse ist aber hier nicht mehr etwas Dauerndes und es gibt nicht, wie auf der Leuchtenburg, nur Strafversetzung in eine niedrigere Klasse, sondern es wird „vierteljährlich von dem Inspektor unter Zuziehung des Hausgeistlichen, des Schullehrers und Unteraufsehers auf Grund des Sitten- und Strafbuchs neu classificirt, um einerseits die Gebesserten in bevorzugte Classen versetzen zu können und andern Theils die weniger Guten in die niederen Classen zu versetzen". Wir haben hier den ersten beachtenswerten praktischen Versuch

Strafvollzug

262

eines Stufenstrafvollzugs, wie er in Deutschland dann erst wieder fast 100 Jahre später — zuerst gerade wieder mit in Untermaßfeld — eingeführt worden ist. c) Auch mit dem Auburnschen System, von dem das Rawiczer Reglement nur das — fiktive — Schweigegebot übernommen hatte, wurden Versuche angestellt, so in Halle und vor allem in Lüneburg. Die Voraussetzung dafür schaffte man in Lüneburg in einem 1837/41 fertiggestellten Neubau, der das amerikanische Vorbild sogar durch Anlage eines „Schachtelbaues" mit Insidezellen für die nächtliche Trennung und mit großen Arbeitssälen nachahmte, es in seinem wohldurchdachten, symmetrischen Grundriß sogar übertraf. Freilich wurde mit zunehmender Überfüllung, welche zur Verwendung der Arbeitssäle zu gemeinschaftlichen Schlafräumen und der schmalen Korridore zu Arbeitszwecken führte, die Eigenart der Auburnschen Methode schon äußerlich bald verwischt. d) Ein Strafvollzug von besonderer, freilich nur durch die Person des Anstaltsleiters bedingter Prägung knüpft sich an den nach dem ersten Weltkrieg wieder zu Ehren gekommenen Namen Obermaier. Er hat als Inspektor am bayerischen Gefängnis zu Kaiserslautern (1830—42) und später als Direktor des Münchner Gefängnisses (1842—62) einen ganz auf den Besserungsgedanken abgestellten Strafvollzug eingeführt, dessen Erfolge sich freilich nicht so sehr durch seine besondere Methode, sondern durch den „Einfluß seines moralischen Magnetismus" — ursprünglich war er Offizier — erklärt. „Das System des Herrn Obermaier ist Herr Obermaier selbst", hat auf dem ersten Internationalen Gefängniskongreß in Frankfurt a. M. der Strafrechtslehrer Mittermaier gesagt, was den damals herrschenden Vertretern des starren Einzelhaftgedankens wohl mehr Tadel als Lob erschien. Ein von Obermaier 1835 veröffentlichtes Büchlein mit dem etwas überschwenglichen und überheblichen Titel „Anleitung zur vollkommenen Verbesserung der Gefangenen in den Strafanstalten" enthält bei vielen schönen Gedanken doch nicht so viel an neuen Ideen, daß man daraus die offenbar von Obermaier in seinen Anstalten erzielten Erfolge herleiten könnte. 11. Die Idee der Einzelhaft Besserungsvollzug

und der

a) Ein förmlicher Kampf entbrannte in Deutschland um die Jahrhundertmitte um die Einzelhaft. Ihre Einführung als beherrschendes Strafvollzugssystem bekam neuen Auftrieb aus England durch das große Mustergefängnis von Pentonville, das 1842 gebaut worden war. Der pennsylvanische Gedanke war hier insofern gewandelt, als die Gefangenen beim Gottesdienst, Unterricht und beim Bewegen in den sternförmig

angelegten Einzelspazierhöfen zusammenkamen. Der für das Gefängniswesen innerlich interessierte König Friedrich IV. von Preußen besuchte kurz nach seiner Thronbesteigung die eben fertiggestellte Anstalt und wurde von ihr so beeindruckt, daß er sofort eine gleiche Anstalt in Moabit zu bauen anordnete. Sie wurde 1848 fertig. Gleichzeitig wurde nach demselben Vorbilde von Baden, das die Einzelhaft durch Gesetz eingeführt hatte, ein Zellengefängnis in Bruchsal gebaut. „Ein steingewordener Riesenirrtum ging damit in die Geschichte der Strafrechtspflege ein" (Eberhard Schmidt). Beide Anstalten haben dann ihrerseits das Muster für zahlreiche andere Zellengefängnisse in Deutschland abgegeben. b) Eine besonders bedeutsame Episode knüpft sich an den Namen von Johann Heinrich Wichern, dem Gründer des Rauhen Hauses und dem Vater der Inneren Mission. Von Julius schon 1830 für die Fragen der Gefängnisreform gewonnen, hat er ihr einen großen Teil seiner Lebensarbeit gewidmet, besonders als er 1867 in das Ministerium des Innern als Referent für das Gefängnis- und Armenwesen berufen worden war. Er hat die Idee der so problematischen Einzelhaft tief und ganz folgerichtig durchdacht. Wenn der Gefangene in der Einsamkeit der Zelle gebessert werden solle, so müsse ihm dabei intensiv geholfen werden, sonntägliche Predigt und etwas Schulunterricht genügten nicht. Die physische Isolierung sei zunächst nur ein negatives Hilfsmittel. Dem Gefangenen müsse in einer „gereinigten Atmosphäre" durch Menschen bei der Sammlung neuer sittlicher Kräfte geholfen werden. Die üblichen, aus dem Unteroffizierstande entnommenen Aufseher seien zu solcher seelischen Hilfe gänzlich ungeeignet. So hat Wichern in richtiger Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung der Personalfrage für die Gefängnisreform seine Hauptbemühung dafür eingesetzt, daß eine neue Beamtenschaft gebildet wurde. Da es sich für ihn bei der „Besserung" der Gefangenen um religiöse Erweckung handelte, gewann er den romantischfrommen König Friedrich Wilhelm IV. dafür, daß auf Staatskosten besonders vorgebildete Brüder des Rauhen Hauses zum Aufsichts- und Inspektionsdienst eingestellt wurden. Durch eine Kabinettsorder vom 5. VII. 1856 wurde die Bruderschaft vom Rauhen Hause als solche zur „Gefangenenpflege", die den Aufsichtsdienst mit umfaßte, herangezogen. Es handelt sich hierbei zweifellos um einen großzügigen und kühnen Versuch, dem Strafvollzug durch einen neuen, besonders für seinen schwierigen Dienst vorgebildeten Beamtentyp seinen militärisch-repressiven Charakter zu nehmen. Der Versuch scheiterte. Wicherns und der von ihm geforderten Reformbewegung Tragik war, daß er „Erziehung" als etwas Weltliches ablehnte, dabei aber Erziehungsarbeit in einer weltlichen Anstalt leisten wollte.

Strafvollzug Und die weitere Tragik war, daß bald gegen die Tätigkeit der Brüder des Rauhen Hauses heftige politische Angriffe von liberalen Kreisen einsetzten, die an sich gerade für den Besserungsstrafvollzug eintraten. Der Hauptkämpfer gegen Wichern wurde der Strafrechtslehrer v. Holtzendorff, der literarisch und im Parlament die Brüder vom Rauhen Hause als einen protestantischen Orden, dem kein Einfluß in staatlichen Behörden und Anstalten eingeräumt werden dürfe, befehdete. Dabei boten ihm auch einige Übergriffe, die sich Brüder hatten im Dienste zu Schulden kommen lassen, bequeme Angriffsflächen. Der Kampf ging für Wichern verloren. Der Landtag erklärte sich gegen das Weiterbeschäftigen von Brüdern in den Gefängnissen. Ende 1863 lief der Vertrag der Regierung mit dem Rauhen Hause ab und wurde nicht wieder erneuert. Damit Schloß in Preußen eine interessante Episode ernsthafter, aber mit der allgemeinen Zeitrichtung nicht in Einklang stehender Gefängnisreform. In dem schon erwähnten Zellengefängnis in Bruchsal ist, trotz seiner verfehlten Bauart, vorübergehend Anerkennenswertes geleistet worden. Hier hat als Direktor der Arzt Dr. Julius Fueßlin (1815—1866), verständnisvoll unterstützt durch den Ministerialrat im Badischen Justizministerium Jagemann, das „Pönitentiarsystem" zu einem sinnvollen Besserungsstrafvollzuge zu gestalten versucht. Als Jagemann tragischerweise schon 1853 starb, verlor Fueßlin den gerade für einen Gefängnisreformer notwendigen Rückhalt im Ministerium. Der neue Ministerialreferent hatte keinen Sinn für den Besserungsstrafvollzug. Nur noch möglichste Ergiebigkeit der Anstaltsarbeit ohne Rücksicht auf ihre erziehliche Bedeutung und dabei abschreckende Gestaltung des Strafvollzugs erschienen dem Ministerium genehm. Durch kleinliche Bürokratie des Ministeriums wurde Fueßlin vollends in seiner Tatkraft gelähmt, so daß er 1858 verbittert seinen Abschied nahm. c) Auch als äußerliches Haftsystem hat sich die Einzelhaft — im Gegensatz vor allem zu Belgien und den Niederlanden — im deutschen Strafvollzug nicht durchgesetzt. Hatte in Preußen unter Wicherns Einfluß eine Kabinettsorder von 1856 verfügt, daß künftig Gefängnisse nur noch nach dem pennsylvanischen System gebaut werden sollten, so standen schon finanzielle Gründe, weil Zellengefängnisse kostspielig sind, ihrer Erbauung entgegen. Deshalb wurden viele Gefängnisse nach dem sogenannten „gemischten System" gebaut, das aber für den Vollzug kein System, sondern eher Systemlosigkeit mit sich brachte. Ein Teil der Gefangenen wurde isoliert, ein Teil aber auch nachts in moralisch so verheerenden Schlafsälen untergebracht. Die mancherorts beliebte Einrichtung von eisernen Käfigen in den Schlafsälen („Schlafkojen") versuchte körperliches Zusam-

263

menkommen zu verhindern, gewährleistete aber keine wirksame Isolierung und glich mehr der Einsperrung von Tieren in Käfigen. In Gefängnissen, die als Zellenanstalten erbaut waren, wurden, als nach Erlaß des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 die Zahl der Verurteilten stark anschwoll, um Platz zu gewinnen, Zellenwände herausgerissen und so Schlaf- und Arbeitssäle geschaffen. Aber auch in der Theorie blieb der Wert der Einzelhaft für den Besserungsstrafvollzug heftig umkämpft. Sprach sich auch auf den seit 1847 stattfindenden Internationalen Gefängniskongressen die Mehrheit für die Einzelhaft aus und trat der wohl größere Teil der in den 50er und 60er Jahren in die Breite geschwollenen Gefängnisliteratur dafür ein, so ist es doch verfehlt, wie noch immer geschieht, von einem „Sieg der Einzelhaft" zu sprechen. Weder praktisch noch in der Gefängnisliteratur (in dieser besonders beachtlich C. W. Haenell, Pastor in Göttingen: System der Gefängniskunde, 1866) hat sie sich durchgesetzt, auch nicht gesetzgeberisch.

12. Das irische Progressiv- und das Disziplinarsystem

sächsische

a) Wicherns Gegner v. Holtzendorff hat nicht nur negative Kritik geübt. Er empfahl, das in Irland seit 1856 eingeführte Progressivsystem zu übernehmen. Es bestand in folgender Methode: Der Gefangene befand sich auf der ersten Stufe 8—9 Monate in Einzelhaft. Sie wurde im Zuchthaus zu Mountjoy bei Dublin verbüßt. Auf der zweiten Stufe wurden die Gefangenen nur nachts isoliert, tags verrichteten sie 11 Stunden lang gemeinsam schwere öffentliche Arbeiten bei Hafenbauten oder in Steinbrüchen oder wurden in gewerblichen Anstaltswerkstätten beschäftigt. Diese Stufe befand sich auf der Insel Spike im Hafen von Queenstown. Der Aufenthalt hier dauerte den größten Teil der Strafzeit. Der Gefangene hatte mehrere Klassen zu durchlaufen; er wurde aus einer niederen in eine höhere versetzt, wenn er sich eine gewisse Zahl von Zufriedenheitsmarken verdient hatte. Er sollte dadurch in dauernder Spannung erhalten werden. (Dieses „Markensystem" ist aus dem westaustralischen Strafvollzug übernommen, wo es zuerst Maconochie eingeführt hat.) Während diese beiden Stufen, auf denen auch Schulunterricht erteilt wurde, von manchen englischen Einrichtungen nicht abwichen, war dem irischen System eigentümlich die dritte Stufe, die Zwischenanstalt. Sie sollte den Übergang vom Zuchthaus zur Freiheit vorbereiten und darstellen. Die Gefangenen wohnten in transportablen eisernen Baracken und verrichteten in bürgerlicher Kleidung unter nichtuniformierten und nichtbewaffneten Werkmeistern Kultivierungsarbeiten, für die sie Lohn

264

Strafvollzug

erhielten. Die vierte Stufe stellte die Beurlaubung dar, während der die Entlassenen noch unter Beobachtung der Anstalt — Gefängnisgesellschaften gab es in Irland nicht — standen. Der Zeitpunkt der Beurlaubung richtete sich nach der Länge der Strafe. Dieses System, mit dem man beste Erfahrungen machte (in 6 Jahren nur 7% Widerrufe der Beurlaubung), ist von Sir Walter Crofton, dem Leiter des irischen Gefängniswesens, eingeführt und von ihm als eigene Erfindung in Anspruch genommen worden, ist aber schon 1844 von dem deutschen Juristen Dr. Louis Tellkampf, der als Professor an dem Columbia-College in New York wirkte, angeregt und dann auch in Preußen von Dr. Julius, der vom starren Einzelhaftsystem abgekommen war, empfohlen worden. Die 1854 erlassene Lex Wentzel schuf, um eine progressive Gestaltung der Zuchthausstrafe vorzubereiten, die bis dahin bestrittene Möglichkeit, Zuchthausgefangene mit Außenarbeiten zu beschäftigen. Ein neues Vollzugssystem wurde dadurch nicht erreicht. Praktische Versuche geringen Ausmaßes hat mit einem Progressivsystem nach irländischem Muster in Deutschland Hoyer in der Oldenburgischen Strafanstalt zu Vechta unternommen, denen aber keine lange Dauer beschieden war. b) Progressive Züge zeigte auch das sehr beachtliche sächsische Disziplinaisystem, das 1855 eingeführt worden war und langen Bestand — bis 1924 — gehabt hat. Es kannte 3 Disziplinarklassen, in welche die Gefangenen bei der Aufnahme und während der Strafzeit nach ihrem sittlichen Zustand und ihrem Verhalten eingereiht wurden: Unterklasse (III), Mittelklasse (II) und Oberklasse (I). Die Gefangenen unterschieden sich in der Bekleidung und wurden verschieden behandelt bei der Freiheitsbeschränkung, der Gewährung statthafter Vergünstigungen, der Arbeitsbelohnung, der Erlaubnis zu Verwendungen aus dem Spargeld und der Anwendung von Hausstrafen. Jeder Eingelieferte trat in der Regel in die Mittelklasse ein. In die 3. Klasse wurden eingestellt gewisse Vorbestrafte, weiter solche Verurteilte, die schon bei der Aufnahme Böswilligkeit oder leichtfertige Auffassung ihrer Bestrafung erkennen ließen oder die die Tat begangen hatten, um in die Strafanstalt zu kommen und schließlich die Zuchthausgefangenen mit Ehrenrechtsverlust. Progressiv war das System insofern, als ein Gefangener von der II. zur obersten Klasse ohne Fristeinhaltung versetzt werden konnte, wenn er ernstlich bestrebt war, sich zu bessern, sich gut zu betragen und fleißig zu arbeiten. Hebungen von der III. (untersten) Stufe waren freilich nicht möglich. Die Behandlung war hier besonders streng, wie überhaupt (besonders auch in den harten Hausstrafen, ζ. B. dem barbarischen Lattenarrest) der Vergeltungsgedanke deutlich spürbar blieb und der Besse-

rungsgedanke hinter dem Bestreben nach guter Gefängnisdisziplin zurücktrat. 13.

Die

Gestaltung

des Strafvollzuges

nach

1870

a) Das mit einigen Änderungen noch immer geltende Strafgesetzbuch von 1871 hat nach seinem preußischen Vorbild über den Strafvollzug nur wenige Bestimmungen getroffen. Sie lassen keine große Linie erkennen. Die Einzelhaft wird nur negativ geregelt —· sie darf ohne Zustimmung des Gefangenen nicht über 3 Jahre dauern — und nicht vorgeschrieben. Der Unterschied zwischen der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe wird in subtiler Fassung verschiedenartiger Bestimmungen über Arbeitszwang und -pflicht versucht. Seit der Verabschiedung des Strafgesetzbuchs drängte der Reichstag unter Führung Tellkampfs öfters darauf, daß auch der Strafvollzug gesetzlich geregelt werde. Die Reichsregierung legte daraufhin 1879 dem Bundesrat den für seine Zeit ausgezeichneten, bei aller Knappheit inhaltvollen Entwurf eines „Gesetzes über die Vollstreckung der Freiheitsstrafe" vor (Bundesratsdrucksache 1878/79 Nr. 56). Er sah zwar kein förmliches Progressivsystem vor, aber wollte immerhin eine Stufenfolge in der Haftart. Bemerkenswert ist, daß den Gefangenen gewisse Rechtsansprüche zugesprochen werden sollten (Beschwerderecht, Anspruch auf Arbeitsbelohnung und Bewegung im Freien). Der Entwurf blieb auf ein Machtwort Bismarcks im Bundesrat stecken. Er befürchtete, daß Preußen durch die notwendig werdende Einrichtung von Zellen- und besonderen Jugendgefängnissen finanziell zu sehr belastet würde. Als der Reichstag immer neue Vorstöße machte, konnte sich das Reichsjustizamt zwar nicht zu einer neuen Gesetzesvorlage entschließen, aber es veranlaßte eine Vereinbarung der einzelstaatlichen Regierungen über „Grundsätze, die bei dem Vollzug gerichtlich erkannter Freiheitsstrafen bis zu weiterer gemeinsamer Regelung zur Anwendung kommen sollen", die endlich 1897 zustande kam (Zbl. f. d. D. R. 1897, S. 308). Das Ergebnis war äußerst mager. Es fehlte jeder große, einheitliche Zug. Sie beschränken sich in der Hauptsache auf einige verwaltungstechnische Grundsätze. Der alte Besserungsgedanke war in keiner Weise festgelegt oder auch nur angedeutet. Die Bestimmungen über die Baulichkeiten — Stein des Anstoßes im GEntw. von 1879 — waren jetzt so dehnbar gefaßt, daß, wer nichts bessern wollte, alles beim alten lassen konnte. Nach diesen Grundsätzen sind in den Bundesstaaten um die Jahrhundertwende die Dienstund Hausordnungen für die Strafanstalten und Gerichtsgefängnisse erlassen worden (Zusammenstellung nach dem Stande von 1907 in den

Strafvollzug Reichst.-Drucks. 1907 Nr. 89). In Preußen wurde für die Gefängnisse der Justizverwaltung die Gefängnisordnung vom 21. XII. 1898 eingeführt, während die dem Ministerium des Innern unterstehenden großen Anstalten, für die bis dahin zumeist noch das alte Rawiczer Reglement mit einigen Änderungen gegolten hatte, unterm 14. XI. 1902 eine neue Dienstordnung erhielten. Mit Ausnahme Sachsens mit seinem DisziplinarKlassensystem blieb nach wie vor das „gemischte System" bestehen, bei dem aus der Not eine Tugend gemacht wurde. In den vielen alten Anstalten, in denen es zur Hauptsache nur Schlafsäle gab, mußte weiter mit der Fiktion des Schweigegebots gearbeitet werden. Den entehrenden Charakter der Zuchthausstrafe suchte man durch das im Verwaltungswege (nicht in Thüringen!) eingeführte Kahlscheren und Duzen der Gefangenen deutlich zu machen. Die Wochentage waren mit 10—12 Stunden meist mehr oder weniger stumpfsinniger Arbeit ausgefüllt, die von Essenspausen, Spaziergang und für die jüngeren Gefangenen von etwas Elementarunterricht unterbrochen wurden. Sonntags wurde dem Besserungsgedanken durch Gottesdienst, der Zwang war, und Lesen „nützlicher" Bücher bescheiden Rechnung getragen. Doch fanden auch hie und da Vortrage und Musik als Erziehungsmittel zögernd Eingang. Verwaltungstechnisch war der Strafvollzug so aufgezogen, daß er reibungslos verlief und wie ein Uhrwerk ging. Über die Wirkung des Strafvollzugs auf den Gefangenen machte man sich nicht viel Gedanken. Er war willenloses Objekt des Strafvollzugs. Wenn einmal literarische Selbstzeugnisse von Gefangenen über die Haftwirkung bekannt wurden (1903: Leuß, Aus dem Zuchthaus; 1905: Auer, Zur Psychologie der Gefangenschaft), so hatte das keine praktische Wirkung. Man sprach gern von individualisierender Behandlung der Gefangenen, die aber reine Redensart blieb. Denn bei der großen Zahl von Gefangenen konnten weder der Direktor noch der Geistliche bei ihren vielleicht jeden Monat einmal stattfindenden kurzen Zellenbesuchen auf die Gefangenen nachhaltig „individuell" einwirken. Die Aufsichtsbeamten aber waren bei allem Pflichteifer — ihre tägliche Dienstzeit dauerte oft zwölf Stunden — in keiner Weise für die schwierige Aufgabe vorgebildet, kriminelle Menschen erzieherisch zu behandeln. b) Die Strafrechtswissenschaft, die um die Jahrhundertmitte die Ideenwelt der Gefängnisreform stark, wenn auch mit verschiedener Frontrichtung, befruchtet hatte (Mittermaier, Holtzendorff, Röder), ist, je mehr sie sich an Hegel orientierte und je mehr sie positivistisch wurde, dem Strafvollzug entrückt worden. Dieser gelangte erst mit dem Aufkommen der soziologischen Schule Franz v. Liszts in den Vordergrund wissen-

265

schaftlichen und kriminalpolitischen Interesses, wozu viel die seit 1882 veröffentlichte Reichskriminalstatistik mit ihren erschreckenden Rückfallziffern beitrug. Der Gedanke der Resozialisierung der Rechtsbrecher bekam in gleicher Weise neuen Auftrieb wie die Erkenntnis von der Notwendigkeit, daß das moderne Berufsverbrechertum erfolgreicher bekämpft werden müsse. Die Erforschung der Geschichte des Gefängniswesens fand in R. v. Hippel ihren Führer. Berthold Freudenthal wies 1910 als erster darauf hin, daß es sich in einem Rechtstaate auch beim Strafvollzug um ein Rechtsverhältnis handelt und begründete die schon von Röder („Der Strafvollzug im Geiste des Rechts" 1863) vorgeahnte Dogmatik eines Gefängnisrechts. Zögernd wendeten sich naturwissenschaftliche Disziplinen dem kriminellen Menschen zu, die Psychiatrie zunächst nur auf dem Gebiete der geistigen Erkrankungen der Gefangenen, ohne sozial-therapeutische Ziele zu fördern. Aschaffenburgs grundlegendes Werk „Das Verbrechen und seine Bekämpfung" (1902), seinem Lehrer Rraepelin gewidmet, der schon 1884 die Abschaffung des bestimmten Strafmaßes gefordert hatte, bedeutete das Hinwenden zu einer Synthese von psychischbiologischer Persönlichkeitsforschung, Kriminalpolitik und Strafvollzugsreform. In ihren Dienst stellte sich auch die von ihm mit v. Liszt gegründete „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform", ebenso wie die Lisztsche „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft". Gegenüber diesen Forschungen und Bestrebungen wirken die 1911/13 von dem seit 1865 bestehenden Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten gemachten Vorschläge für ein Reichsstrafvollzugsgesetz (Sonderheft A u. B. zu Bd. 47 der Blätter für Gefängniskunde) recht dürr und ideenlos. c) Das wichtigste Ereignis auf gefängnisreformerischem Gebiete in Deutschland vor dem Weltkrieg war die Einrichtung des Jugendgefängnisses in Wittlich a. d. Mosel. Es war die letzte Tat Krohnes, der seit 1892 Referent für das Gefängniswesen im Preußischen Ministerium des Innern war. In seinem 1889 erschienenen, noch heute höchst lesenswerten „Lehrbuch der Gefängniskunde" hatte er bei aller Befürwortung des Besserungsgedankens das Progressivsystem entschieden abgelehnt. In Wittlich aber führte es der 75jährige kurz vor seinem am 13. II. 1913 erfolgten Tode doch ein. Er war dafür von Prof. Berthold Freudenthal gewonnen worden, der es in einem Gutachten auf Grund seiner in nordamerikanischen „Reformatories" (bes. Elmira) gemachten Studien dringend empfohlen hatte. 14.

Die

Reformbewegung

nach

dem

1.

Weltkrieg

Eine neue Reformbewegung erfaßte das deutsche Gefängniswesen nach dem ersten Weltkrieg.

266

Strafvollzug

Äußerlichkeiten wurden gleich nach der Staatsumwälzung geändert: Das Kahlscheren, Duzen und körperliche Züchtigen der Zuchthausgefangenen, das Fesseln zur Strafe und der Dunkelund Lattenarrest wurden, wo dergleichen noch immer bestand, abgeschafft. Rauchen und Zeitungslesen wurden in gewissem Umfange gestattet. Man mußte freilich bald bemerken, daß durch Vergünstigungen solcher Art nur die Begehrlichkeit nach mehr solchen Errungenschaften unter den Gefangenen geweckt wurde. Die Disziplin besserte sich nicht nur nicht, sondern nahm immer mehr ab. Die ihre Wellen auch in die Gefängnismauern werfende Unruhe der Zeit und die Verpflegungsschwierigkeiten taten das Ihre dazu. In den Justizministerien zweier Länder tauchte fast gleichzeitig und ganz unabhängig voneinander der Gedanke auf, einen ernsthaften Versuch mit dem Progressivsystem zu machen. Es sollte die Gefangenen mehr als bloß äußerlich anspornen, sich von Stufe zu Stufe selbst die zulässigen Vergünstigungen zu verdienen. Bayern führte das System mit verschiedenen Ministerialentschließungen seit dem 3. XI. 1921, das neugebildete Land Thüringen durch die Vollzugs- und Hausordnungen für die Landesstrafanstalten vom 28. X. 1922 ein. Ähnliches geschah in einzelnen Gefängnisabteilungen der großen hamburgischen Strafanstaltsverwaltung, besonders in dem von den Sozialpädagogen Bondy und Herrmann getragenen Versuch eines Erziehungsstrafvollzuges im Jugendgefängnis auf der Elbinsel Hahnöfersand. Als 1923 auf Anregung des Reichsjustizministers Radbruch an Stelle der unzulänglichen Grundsätze von 1897 die Länder neue umfangreiche und inhaltsvolle, auch im Ausland viel beachtete „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen" (RGBl. II, 263) vereinbarten, wurde in deren § 130 das Stufensystem als allgemeine Programmforderung festgelegt. Mehr war zunächst nicht möglich, da vor allem das preußische Justizministerium, das bereits 1917 — als Folge kriegsnotwendiger Verwaltungsvereinfachung — die gesamte Gefängnisverwaltung in Preußen übernommen hatte, Widerstand leistete. Dieser gab sich aber schon im folgenden Jahre, so daß sich am 24. XI. 1924 die Justizverwaltungen aller Länder verpflichteten, den Stufenstrafvollzug einzuführen („Würzburger Beschlüsse" — nicht veröffentlicht). Das geschah freilich in manchen Ländern immer noch zögernd, vorsichtig und ohne rechte Überzeugung. Neueren äußeren Formen entsprach nicht überall ein sozialerzieherischer Impetus. Führend blieben Bayern, Thüringen und Hamburg, von Preußen schließlich zögernd gefolgt. Alles war zwar noch ein Anfang, aber ein hoffnungsvoller, der neue Ufer in greifbarer Nähe erblicken ließ. Man hatte erkannt, worauf es im Grunde ankam, wenn man dem Ziele der Resozialisierung der gefangengesetzten

Rechtsbrecher näherkommen wollte. Als entscheidend wurde dabei die Rolle erkannt, die der Aufgabe zufiel, wirklich geeignete, sozialpädagogisch begabte und vorgebildete Beamte — vom Direktor bis zum letzten Aufseher — zu gewinnen und heranzubilden. Ihren geistigen Sammelpunkt fanden Gleichgesinnte in der von Thüringen aus ins Leben gerufenen „Arbeitsgemeinschaft für Reform des Strafvollzuges". Auch diese hoffnungsvolle Reformperiode fand wieder einmal bald und recht jäh ihr Ende, diesmal durch den Nationalsozialismus. Als erstes fiel ihm der neue Strafvollzug in Thüringen bereits Ende 1932 zum Opfer, wo im Jugendgefängnis in Eisenach ein Mann wie Prof. Curt Bondy und im Zuchthaus in Untermaßfeld Dr. Albert Krebs vorbildlich wirkten und nun sofort entlassen wurden. Nach 1933 wurde dann allenthalben in Deutschland zerschlagen, was mühsam seit zehn Jahren an Reformen aufgebaut worden war. Ein rein repressiver Strafvollzug, wie er nun glücklich überwunden schien, erlebte seine Wiederkehr, geregelt reichseinheitlich in der Strafvollzugsordnung des Reichsministers der Justiz vom 22. 7.1940, der seit 1935 allein zuständig war. (Einen anderen Geist zeigte jedoch die Jugendstrafvollzugsordnung, v. 10. 7.1944, die sich zum Erziehungsgedanken grundsätzlich bekannte.) Als neues wurden, neben den Strafanstalten, die Konzentrationslager schlimmsten Angedenkens eingerichtet, zwar keine deutsche Erfindung, aber hier etwas neues und vom Nationalsozialismus zu grauenvoller Perfektion gebracht. Vorüber ist nun in der Bundesrepublik der Spuk. Der Strafvollzug wurde wieder Sache der Länder. Der Bund erhielt die Gesetzgebungszuständigkeit über den Strafvollzug (Art. 74 GG). Was wird hier jetzt werden? An gutem Willen fehlt es auch beim Wiederaufbau des Gefängniswesens nicht. Die Probleme, die es zu lösen gibt, sind im Grunde die alten. Die Frage, wie Gefangene sinnvoll, produktiv und erzieherisch beschäftigt werden können, die Ende der Zwanzigerjahre bei der damals herrschenden fürchterlichen Arbeitslosigkeit am schwersten zu lösen war, macht zwar im Augenblick des Mangels an Arbeitskräften keine große Schwierigkeit, wenn auch die Sonderfrage nach angemessener Entlohnung der Gefangenenarbeit noch nicht befriedigend geklärt ist. Aber jetzt bestehen andere praktische Schwierigkeiten, die einer sinnvollen Gestaltung des Gefängniswesens im Sinne der Resozialisierung der Gefangenen entgegenstehen. Sie folgen aus äußeren Umständen, besonders aus zweien: der durch das Steigen der schweren Kriminalität bedingten und geradezu grauenvollen Überfüllung der Gefängnisse und dann dem Mangel an Aufsichtsbeamten, und zwar qualifizierten. Schon sprechen Fachleute bei den Massenansammlungen in den Gefängnissen wieder von „Verbrecherpepinieren". Das ist leider

Strafvollzug nur zu verständlich, wenn man hört, daß in engen Zellen wahllos 6 oder 7 Gefangene verschiedensten Types zusammengepfercht und daß — besonders schlecht — schon in den Untersuchungsgefängnissen Jugendliche der verschiedensten Art zu mehreren eingeschlossen werden. Auch der Strafvollzug an dem neuen großen Heer der ja im allgemeinen nicht als kriminell anzusehenden Verkehrssünder wirft neue Probleme auf, mit denen man noch nicht fertig zu werden weiß. Milliarden müssen aufgewendet werden, um zeitgemäße Gefängnisse und Zuchthäuser zu errichten, in denen die erziehbaren Gefangenen so untergebracht und behandelt werden könnten, daß sie nicht wenigstens schlechter aus der Strafanstalt herauskommen, als sie eingeliefert worden sind. Mancherorts fängt man endlich mit Neubauten an. Nur muß dann achtgegeben werden, daß die Gefängnisreform nicht, wie man Mitte des vorigen Jahrhunderts gesagt hat, zur „bloßen Architekturfrage" wird. Nicht verkannt soll werden, daß jetzt verschiedentlich ernsthaft angestrebt wird, alten Forderungen einigermaßen gerecht zu werden. Die Verbüßung kurzer Freiheitsstrafen, diese Crux der Gefängnisse, ist erfreulicherweise weitgehend durch Strafaussetzung zur Bewährung verdrängt worden. Auch sonst wird neues schon versucht. Erwähnt sei nur das nach schwedischem Vorbild eingerichtete offene Gefängnis in Frankfurt, das den Namen des unvergeßlichen Gustav Radbruch trägt. Möchten die Erfahrungen mit diesem ersten deutschen Gefängnis seiner Art recht günstig ausfallen. Es hat schon Nachfolge in Norddeutschland gefunden, wo eine „offene" Sonderanstalt für die neue und so stark angeschwollene Kategorie der noch nicht vorbestraften „Verkehrssünder" errichtet worden ist. Die Praxis des Strafvollzuges, nicht die dafür geltenden gesetzes- und verwaltungsmäßigen Vorschriften, ist ja entscheidend für seine kriminalpolitische Wirksamkeit. So wird das zu erwartende neue Strafgesetzbuch ebenso wie das Strafvollzugsgesetz, das ihm endlich folgen soll und deren Entwürfe dem Bundestag und dem Bundesrat bereits vorliegen, mit noch so guten Paragraphen allenfalls nur neue Impulse und Hinweise geben können, aber noch keine wirklich neue Reformperiode gewährleisten. Die Zukunft des Gefängniswesens entscheidet sich — bei uns wie anderwärts — in den Gefängnissen, nicht in den Parlamenten und Ministerien. Schrifttum Es gibt noch immer keine umfassende Darstellung der gesamten Geschichte des Gefängniswesens. Zusammenhängende Schilderungen, die aber durch neuere Einzelforschungen vielfach

267

überholt sind, enthalten das Handb. d. Gefängniswesens, hrsg. von F. v. H o l t z e n d o r f f und L. v. J a g e m a n n (Hamburg 1888), das Lehrbuch der Gefängniskunde von C. K r o h n e (Stuttgart 1889) und die Einführung in die Gefängniskunde von dem 1914 gefallenen H. K r i e g s m a n n (Heidelberg 1912). Unter den neueren Werken der Strafrechtswissenschaft, die der geschichtlichen Entwicklung der Strafe, des Strafvollzugs und des Strafgefängnisses besondere Beachtung schenken, sind hervorzuheben das Lehrbuch des Deutschen Strafrechts von v. L i s z t - S c h m i d t , 26. Aufl., Bd. 1 (Berlin und Leipzig 1932) und die Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege von E. S c h m i d t , 2. Aufl. 1951. Zu nennen ferner W. Mittermaer, Gefängniskunde (Berlin 1954, S. 13ff.). Eine sehr aufschlußreiche und grundlegende Darstellung der Gefängnisgeschichte des Orients, der Antike und des kirchlichen Gefängniswesens gibt K. K r a u ß : Im Kerker vor und nach Christus (Freiburg und Leipzig 1895. Über den Verfasser unterrichtet ein Nekrolog in dem Bl. z. Gefängniskunde 1917 Bd. 51, S. 86ff.). Eine weit über den Titel hinausgreifende Behandlung des Stoffes mit reichen Quellennachweisen findet sich bei G. B o h n e : Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.—16. Jahrh. (Leipzig, Bd. 1, 1922, Bd. 2, 1925). Die darin aufgestellte These, die moderne Freiheitsstrafe und der Erziehungsstrafvollzug hätten ihren Ausgangspunkt im italienischen Statutarrecht, widerlegt allerdings die Diss, des Hippel-Schülers G. S e g g e l k e : Die Entstehung der Freiheitsstrafe (Breslau 1928). Die grundlegende Arbeit über die mit der Errichtung des Amsterdamer Zuchthauses angebrochene neue Epoche der Freiheitsstrafe und des Strafgefängnisses sind R. v. Hippels Beiträge zur Geschichte der Freiheitsstrafe (Z. 18, 419—494, 608—666), als Monographie (ohne die auf Hamburg und Lübeck bezüglichen Abschnitte) als Heft 2 der von L . F r e d e und R . S i e v e r t s hrsg. Schriften der Thüringischen Gefängnisgesellschaft veröffentlicht unter dem Titel: Die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe und des Erziehungsstrafvollzugs (Jena 1931). Eine wichtige Ergänzung zu dieser Arbeit v. Hippels bildet die Diss, seines Schülers F. Doleisch v. Dolsperg: Die Entstehung der Freiheitsstrafe unter Berücksichtigung des Auftretens moderner Freiheitsstrafe in England (Breslau 1928). Besonders wichtige neuere Arbeiten über das deutsche Gefängniswesen im 17. und 18. Jahrhundert: E. S c h m i d t : Entwicklung und Vollzug der Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preußen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Berlin 1915). — D e r s e l b e : Preußische Gefängnisreformversuche bis 1806, ein Beitrag zur Geschichte der Kriminalpolitik. GA. Bd. 67 (1919) S. 152. Derselbe: Zuchthäuser und Gefängnisse, zwei Vor-

Strafvollzug

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träge (Güttingen o. J. 1960). E. R o s e n f e l d : Die staatliche Fürsorge für die entlassenen Strafgefangenen in Preußen (Z. 25, 162—190, 1905). Sehr aufschlußreich und durch Rechtsvergleichung wichtig. M. G r ü n h u t : Penal Reform. A comparative Study (Oxford 1948). Die zeitgenössische Literatur bis 1840 ist sorgfältig zusammengestellt in der zu wenig beachteten Bibliographie von J. R i s t e l h u e b e r : Wegweiser zur Literatur der Waisenpflege, des Volkserziehungswesens, der Armenfürsorge, des Bettlerwesens und der Gefängniskunde (Cöln, Bd. 1,1831, Bd. 2, 1840). — Von den ersten Gefängnisgesellschaften handeln: G. v. R o h d e n : Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft (Düsseldorf 1901) sowie E. R o s e n f e l d : Die Geschichte des Berliner Vereins zur Besserung der Strafgefangenen 1827—1900 (Berlin 1901). — Gesammelte Schriften D. J o h a n n H i n r i c h W i c h e r n s , Bd. IV: Zur Gefängnisreform (Hamburg 1905); J. H. Wiehern, Schriften zu Gefängnisreform, herausg. v. K. Janssen und R. Sieverts (Gütersloh 1961). — Im übrigen orientieren über das Gefängniswesen seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die von dem 1864 gegründeten Verein der d e u t s c h e n G e f ä n g n i s b e a m t e n hrsg. Blätter für Gefängniskunde, von denen 75 Bände bis 1945 erschienen sind. — Über die praktische Reformarbeit in den zwanziger Jahren: Die Entwicklung des Strafvollzugs in B a y e r n nach 1921 ist zu ersehen aus Bd. 1 und 2 der vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz hrsg. Schriftenreihe: Der Stufenstrafvollzug und die kriminalbiologische Untersuchung der Gefangenen in den Bayerischen Strafanstalten (München 1926 und 1928). Die Reform des Strafvollzugs in T h ü r i n gen in den zwanziger Jahren stellt in ihrem Werdegang dar der Aufsatz von L. Frede in SchwZStr. (1930) S.209ff. und 305ff. Ferner: Gefängnisse in Thüringen; Berichte über die Reform des Strafvollzugs von thüringischen Strafanstaltsdirektoren und Fürsorgern (Weimar 1930). — Über die internationale Bewegung auf dem Gebiete der Gefängnisreform bis 1930 unterrichten die als Heft 1 der Schriften der Thüringischen Gefängnisgesellschaft von L. F r e d e und R. S i e v e r t s hrsg. Beschlüsse der Internationalen Gefängniskongresse (Jena 1931). Dazu das oben genannte Werk von M. G r ü n h u t : Penal Reform. LOTHAR F R E D E f

zeichnete und in einer Anstalt der Justizverwaltung zu vollziehende Maßregel der Sicherung und Besserung. Im Rechtsgebiet der Bundesrepublik sind Strafvollzug und Strafvollstreckung zu unterscheiden. Die Strafvollstreckung (in der Strafprozeßordnung gesetzlieh und in der Strafvollstreckungsordnung verwaltungsmäßig von den Ländern bundeseinheitlich geregelt) liegt den Staatsanwaltschaften und bei kleinerer Kriminalität den Amtsgerichten als Vollstreckungsbehörden ob. Sie besteht bei Freiheitsstrafen neben der Erledigung von Formalitäten in der Hauptsache darin, daß die Vollstreckungsbehörden den Vollzugsbehörden den Auftrag erteilen, die Freiheitsstrafen zu vollziehen, daß sie deren Strafzeitberechnung verantwortlich prüfen und die rechtzeitige Entlassung überwachen. Strafvollzug hingegen ist die Tätigkeit der Exekutive, die darin besteht, den Bestraften für die Strafdauer die Freiheit zu entziehen und sie vom Augenblick ihres Eintritts in die Anstalt bis zu ihrem ordnungsmäßigen Wiedereintritt in die Freiheit so zu behandeln, daß sie möglichst nicht wieder rückfällig werden. Dies muß in einer dem Grundgesetz, der Menschenrechtskonvention und den einschlägigen Gesetzen entsprechenden Weise geschehen. So soll innerhalb des Freiheitsentzuges nicht nur das der Strafrechtspflege gesetzte allgemeine Ziel der Verbrechensbekämpfung und -Verhütung, sondern auch der bei jedem Verurteilten mit der Strafe angestrebte Zweck des Schutzes, der Warnung oder der Besserung möglichst erreicht werden. Alle freiheitentziehenden Strafen und Maßregeln sind an Anstalten gebunden. Als Institution (Strafvollzugswesen) ist der Strafvollzug Sache der Länder der Bundesrepublik (Art. 30 GG). Die Vollzugsanstalten sind demgemäß Einrichtungen der Länder. Die Anstalten werden von Aufsichtsbehörden des Justizressorts überwacht. Auf dem Gebiet des Strafvollzugs steht dem Bund das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung zu. Er hat davon bisher nur auf Nebengebieten (Jugendgerichtsgesetz und Einführungsgesetz zum Wehrstrafgesetz) Gebrauch gemacht, befaßt sich aber zur Zeit mit einem Strafvollzugsgesetz. Außerdem gebührt dem Bund die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten und zu supra- oder internationalen Organisationen; er ist in Strafvollzugsfragen deren zuständiger Partner. 2.

STRAFVOLLZUG Grundlagen 1.

Einleitung

Gegenstand des Strafvollzugs sind die Freiheitsstrafen; ferner die als Sicherungsverwahrung be-

Vollzugsanstalten

Die Vollzugsanstalten werden je nach Größe und Bedeutung entweder als selbständige Anstalten hauptamtlich von Beamten des Vollzugsund Verwaltungsdienstes oder nebenamtlich von Amtsrichtern oder Staatsanwälten geleitet. Sie trugen bislang in gesetzlichen Vorschriften noch

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Strafvollzug Bezeichnungen wie Strafanstalt, Zuchthaus, Gefängnis, Gefangenenanstalt, Gerichtsgefängnis, Haftanstalt. Die Ersetzung der speziellen Anstaltsbezeichnungen durch den Begriff der Justizvollzugsanstalt soll auch die erfolgte Ersetzung der Zuchthaus-, Gefängnisstrafe und der Haft durch eine Freiheitsstrafe zum Ausdruck bringen. Die Auffassung, daß Freiheitsentziehungen in der Art ihres Vollzuges kaum ins Gewicht fallende Unterschiede aufweisen, ist nicht neu. Ein wesentlicher Unterschied bestand bisher darin, daß der Arbeitszwang bei Gefängnis und Strafarrest wesentlich milder war als bei Zuchthaus. Bei Haft und Einschließung bestand er überhaupt nicht. Auch bei der neu eingeführten Freiheitsstrafe muß der Vollzug differenziert werden; denn man wird auch da die verschiedenen Grade des Verbrechertums und der Kriminalität anstaltsmäßig trennen. Nur geschieht das dann nicht oder nicht nur wie bisher in einem Vollstreckungsplan an Hand von objektiven Merkmalen, ζ. B. nach der vom Gericht verhängten Straf art, dem Vorbestraftsein u. ä., sondern vor allem mittels subjektiv-psychologisch-kriminologischer Bewertung des Rechtsbrechers durch Organe des Strafvollzugs, also der Exekutive, in Auswahlanstalten. Die Zuweisung zu einem bestimmten Anstaltstyp, ζ. B. einer Anstalt für Schwerkriminelle, müßte übrigens dann, wie jeder Verwaltungsakt, nach dem Rechtssystem der Bundesrepublik von dem Betroffenen im Rechtsweg angefochten werden können. Es gibt verschiedene Sorten von Vollzugsanstalten. Viele nehmen nur Strafgefangene bis zu einer bestimmten Strafdauer auf, bis einem, bis drei, bis sechs Monaten; das sind die Anstalten geringeren Sicherheitsgrades, also die kleineren. Im allgemeinen wird auch dafür gesorgt, daß jede Anstalt entweder nur Erstbestrafte oder nur Vorbestrafte aufnimmt, wobei als Vorstrafen nur Freiheitsstrafen von einer gewissen Höhe zählen. Auch die Zuchthausstrafe wurde in besonderen Anstalten, und zwar möglichst ebenfalls getrennt nach Erstbestraften und Vorbestraften vollzogen. In wachsendem Maße werden auch weitgehend

offene Anstalten (vgl. Nr. 18) verwendet, und zwar entweder für erstbestrafte Fahrlässigkeitstäter, dann bereits von Beginn ihrer Strafe an, oder bei Vorsatztätern für einen Strafrest, nachdem sie den größeren Teil der Strafe in einer geschlossenen Anstalt verbüßt haben und erwarten lassen, daß für ihre Wiedereingliederung Aussicht auf Erfolg besteht. Das Gegenteil zur weitgehend offenen Anstalt müßte eine Anstalt des größten Sicherheitsgrades sein, in der Gefangene von großer Gefährlichkeit oder mit besonders langen Strafen, beide Arten mit hohem Ausbruchsrisiko, untergebracht werden. Die bei dem Stande der heutigen Technik erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen sind sehr kostspielig, wenn sie erfahrenen Kriminellen und ihren zur Befreiung ansetzenden Komplizen wirklich gewachsen sein sollen. Es ist also unwirtschaftlich, mehrere Anstalten in dieser Weise auszustatten. Deshalb wäre wohl zu überlegen, für die 200—300 dieser Schwerstkriminellen im Bundesgebiet eine einzige Anstalt zu bauen, die diesen höchsten Sicherheitsgrad besitzt. Für viele Jahre werden die Anstalten für Vorbestrafte noch die Mehrzahl bilden. Die Umgebung formt die Persönlichkeit in erheblichem Maß. Als Vorbestrafter mit Vorbestraften lange Zeit in einer Anstalt gemeinsam zu leben, kann aufs Ganze gesehen unmöglich ein Lernvorgang für künftiges soziales Verhalten sein. Es bedeutet eine anerkennenswerte Leistung, wenn das Personal dieser Anstalten es fertigbringt, daß die Insassen die Anstalt nicht dis- oder asozialer verlassen, als sie hineingekommen sind (vgl. Nr. 16). Ausweislich der Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden — Fachserie A, Bevölkerung und Kultur, Reihe 9 Rechtspflege III. Strafvollzug 1967, Kohlhammer, Mainz, der alle statistischen Zahlen dieser Arbeit entnommen sind, betrug die von Jahr zu Jahr einem gewissen Wechsel unterworfene Zahl der justizeigenen Vollzugsanstalten im Jahr 1967 im Bundesgebiet ohne Berlin 295. Davon sind 189 Gerichtsgefängnisse. Am 31.12.1967 bestand folgende Kapazität der Anstalten:

Tabelle 1: Belegungsfähigkeit justizeigener Vollzugsanstalten Belegungsfähigkeit Einzel-

Gemeinsch.-

Anstalten

insgesamt

Selbständige Anstalten Gerichtsgefängnisse davon mit einer Belegungsfähigkeit für mehr als 50 Personen weniger als 50 Personen

106 189

53 506

29 920

19 392

4194

105

7 305

3 456

3 801

40

84

1286

735

551

Anstalten zus.

295

62 097

34 111

23 744

Gruppe

Unterbringung

auf Außenstellen

4 242

Strafvollzug

270

Die Haftplätze auf Außenstellen betragen also etwa 8 % der Gesamthaftplätze. In den einzelnen Ländern schwankt dieses Verhältnis zwischen 0 % in Hessen und Rheinland-Pfalz und 25% in Niedersachsen. Die Gründe hierfür liegen darin, daß einige Länder den Außenstellen keine Bedeutung für einen bessernden Strafvollzug zuerkennen, andere, besonders landwirtschaftlich bestimmte Gebiete, auf diese Weise Arbeitsmöglichkeiten für eine erhebliche Zahl von Gefangenen finden. Die 5 Anstalten Berlins (West) haben rd. 4000 Plätze, davon etwa 2100 Einzelhaftplätze. Die 62 097 Plätze, welche die Belegungsfähigkeit ausmachen, waren am 3 1 . 1 2 . 1 9 6 7 tatsächlich belegt mit 56 875 Gefangenen, davon in Einzelhaft 29 411, in gemeinsamer Haft 24 142 und auf den Außenstellen 3322. Da die Zahl der einsitzenden Gefangenen kleiner ist als die Gesamtzahl der vorhandenen Plätze, könnte es auf den ersten Blick so scheinen, als ob kein Haftraummangel bestehe. Der Schein trügt. Der letzte Tag des Kalenderjahres hat die geringste Tagesbelegung im ganzen Jahr, weil wegen des Weihnachtsfestes viele Entlassungen erfolgen und Strafantrittsladungen zurückgehalten werden. Außerdem ist es unmöglich, die Plätze der Gerichtsgefängnisse ständig auch nur annähernd voll auszunutzen. Die großen Anstalten sind hingegen meist überbelegt. Das ergibt sich aus dem Vergleich zwischen Einzel- und Gemeinschaftshaftplätzen einerseits und den Zahlen der Gefangenen andererseits, die in Einzelhaft oder Gemeinschaftshaft untergebracht waren. Von den 3 4 1 1 1 Einzelzellen dienten 29 411 zur Unterbringung je eines Gefangenen. In einer großen Zahl von Einzel-

zellen mußten also immer noch drei Mann untergebracht werden. Nur so war es möglich, 24 142 Gefangene in Gemeinschaftshaft unterzubringen, obwohl nur 23 744 Plätze offiziell für Gemeinschaftshaft vorgesehen waren. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß in Ballungszentren der Bevölkerung der durch die rasche Zunahme der Bevölkerung schnell gestiegene Bedarf an Haftraum nicht rasch genug durch Neubauten befriedigt worden ist. Die Situation hat sich aber gegenüber früheren Jahren bereits erheblich gebessert (-»- Gefängnisbau). In der Gesamtbelegung befanden sich am 3 1 . 1 2 . 1 9 6 7 u. a. 13 579 Untersuchungsgefangene, 8760 Zuchthausgefangene und 26 818 Gefängnisgefangene, 840 Sicherungsverwahrte, 8 Einschließungs- und Strafarrestgefangene, 6262 Jugendstrafgefangene und 336 Haftgefangene. Zusätzlich waren aufgrund strafgerichtlicher Urteile am 3 1 . 1 2 . 1 9 6 7 in Anstalten außerhalb der Justizverwaltung etwa 4700 Personen in einer Heiloder Pflegeanstalt, etwa 260 in einer Trinkerheilanstalt und etwa 640 in einem Arbeitshaus untergebracht. In einigen Ländern der Bundesrepublik gibt es kleine sozialtherapeutische Modellanstalten. Das Arbeitshaus ist inzwischen abgeschafft. Die vorgenannten Zahlen bedürfen noch der Ergänzung durch eine zweite Tabelle, in der die Zu- und Abgänge des Jahres 1967 vermerkt sind. Die Zahlen dieser Tabelle über die Fluktuation der Gefangenen lassen etwas von dem Umfang des Geschäftsanfalls ahnen, den die Vollzugsanstalten zur Bewältigung des Durchlaufs dieser Menge von Zu- und Abgängen zu bewältigen haben.

Tabelle 2: Zu- und Abgänge der Gefangenen 1967 Bundesgebiet Zugänge

Abgänge darunter in die Freiheit

Geschlecht

insgesamt

darunter zum Strafantritt

insgesamt

uneingeschränkt

nur bedingt

Männer

406 901

134 701

405 006

122 181

18 373

Frauen

21 437

6 210

21 340

6 301

703

428 338

140 911

426 346

128 482

19 076

Zus.

3. Personal Da das Strafvollzugswesen Ländersache ist, sind die bei den Vollzugsbehörden tätigen Bediensteten solche der Länder. Ihre Rechtsstellung richtet sich, soweit es sich um Beamte handelt, nach dem Landesbeamtenrecht; soweit es sich um Angestellte handelt, nach dem Bundesangestelltentarif (BAT). Daneben gibt es noch durch Privatdienstvertrag Verpflichtete, die meist nebenamtlich tätig sind. Sie alle müssen körper-

lich und geistig den Anforderungen ihrer Aufgabe voll gewachsen sein. Das ist während des Einstellungsverfahrens durch ein amtliches Gesundheitszeugnis und oft auch mittels eines psychologischen Testverfahrens nachzuweisen. Im höheren Dienst sind Beamte des Vollzugsund Verwaltungsdienstes als Anstaltsleiter oder deren Stellvertreter, aber auch als Dezernenten der Aufsichtsbehörden tätig; die ersten sollen, die letzten müssen die Befähigung zum Richteramt besitzen. Höhere Beamte sind ferner die plan-

Strafvollzug mäßigen hauptamtlichen Anstaltsärzte, Anstaltsgeistlichen und -psychologen. Die Geistlichen unterstehen in geistlichen Dingen weiterhin der Aufsicht ihrer Kirchen; in einigen Ländern bleiben sie, auch wenn sie an Vollzugsanstalten hauptamtlich tätig sind, personalrechtlich ihrer Kirche zugehörig und werden von ihr besoldet; meist erstattet allerdings der Staat der Kirche die Personalkosten. I m gehobenen Dienst arbeiten Oberamtmänner, Amtmänner, Oberinspektoren, Inspektoren, Oberlehrer und zum Teil auch Fürsorger als Sozialinspektoren und -Oberinspektoren. Zuweilen leiten Oberamtmänner und Amtmänner eine selbständige Vollzugsanstalt. Der mittlere Dienst teilt sich in Verwaltungsdienst und Aufsichts- bzw. Werkdienst. Die Dienstbezeichnungen wechseln nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Zeit zu Zeit. Es macht sich der Zug bemerkbar, eine erkennbare Beziehung der Dienstbezeichnung auf den Gefängnisdienst zu vermeiden (ζ. B . : statt Strafanstaltsdirektor Oberregierungsrat; statt Wachtmeister: Vollzugsassistent). Angestellte sind ausnahmsweise im höheren Dienst als Ärzte, Geistliche oder Psychologen tätig; ferner normalerweise in Stellungen, die dem gehobenen Dienst der Beamten entsprechen, als Fürsorger und sonstige Sozialarbeiter; auch in Stellungen, die dem mittleren Verwaltungsdienst der Beamten entsprechen, gibt es Verwaltungsangestellte, ferner im Kanzleidienst. Schließlich arbeiten, an sich nur zur Aushilfe gedacht, auch im mittleren Aufsichts- oder Werkdienst Angestellte. Diese Art von Angestellten ist fast zu einer Dauereinrichtung geworden, obwohl sie durch ihren Aufsichtsdienst mit der Ausübung öffentlicher Gewalt befaßt sind, wozu nur Beamte bestellt werden sollten. Durch VerwaltungsVorschriften ist für die Beamten des gehobenen und mittleren Dienstes klargestellt, welche Voraussetzung die Nachwuchskräfte bei ihrer Einstellung als Anwärter, die in manchen Ländern erst nach einer psychodiagnostischen Eignungsuntersuchung durch einen Psychologen erfolgt, mitbringen müssen. Dort ist auch gesagt, in welcher Weise sie für die Vollzugsaufgaben auszubilden sind und welcher Prüfung sie unterzogen werden, ehe sie Beamte zur Anstellung im Beamten Verhältnis auf Probe und schließlich Beamte auf Lebenszeit werden. Bei der Zulassung zum Vorbereitungsdienst für die Laufbahn des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes wird neben den üblichen allgemeinen Voraussetzungen für die Ernennung zum Beamten gefordert, daß der Anwärter nicht unter 18 und nicht über 30 (ausnahmsweise nicht über 40) Jahre alt ist, daß er das Reifezeugnis einer höheren Lehranstalt oder ein überdurchschnittliches Zeugnis der mittleren Reife besitzt.

271

Auch können in den meisten Ländern bewährte Beamte des mittleren Dienstes zum Vorbereitungsdienst für den gehobenen Dienst zugelassen werden, wenn sie noch nicht älter als 40 J a h r e sind. Der dreijährige Vorbereitungsdienst, der bei einer kleineren Vollzugsanstalt, bei der Kriminalpolizei, beim Amtsgericht, bei einer Staatsanwaltschaft, bei einer großen Vollzugsanstalt, bei einem Sozialund Jugendamt und bei einer Aufsichtsbehörde (Vollzugsamt) abgeleistet wird, enthält auch zwei mehrmonatige theoretische Lehrgänge und wird durch eine schriftliche und mündliche Prüfung abgeschlossen. Die Ausbildung, die möglichst wirklichkeitsnah geschehen soll, erstreckt sich u. a. auf Rechts- und Gefängniskunde, Pädagogik, Kriminalkunde, Kriminologie und Grundzüge der Psychologie, ferner auf die gesamte Anstaltsverwaltung einschl. Haushalts-, Rechnungs-, Besoldungs-, Tarif- und Bauwesen. Auch Sport wird getrieben. Die Einstellung in den mittleren Verwaltungsdienst bei den Vollzugsanstalten setzt ähnliche Altersgrenzen, den glatten Durchlauf einer Volksschule, Beherrschung von Kurzschrift und Maschinenschreiben und eine angemessene Allgemeinbildung voraus. Der Vorbereitungsdienst dauert 18 Monate; er gliedert sich in die praktische Ausbildung, die bei einer größeren und mittleren Vollzugsanstalt, bei einer Staatsanwaltschaft und einem Amtsgericht stattfindet, sowie in eine theoretische Ausbildung in einem dreimonatigen Lehrgang. E r dient der Vertiefung des Allgemeinwissens, dem Unterricht über Vollzugsund Verwaltungskunde, über Grundbegriffe der Rechtskunde, der Strafvollstreckung und des Gnadenwesens. An den Lehrgang schließt sich eine schriftliche und mündliche Prüfung an. I m allgemeinen wird gefordert, daß die Anwärter für den Aufsichts- und Werkdienst nicht jünger als 23 und nicht älter als 30 J a h r e sind (geringe Abweichungen nach unten und nach oben bis 40 J a h r e werden unter Umständen zugelassen). Die Anwärter müssen die allgemeinen Voraussetzungen für die Ernennung zum Beamten erfüllen, die Volksschule glatt durchlaufen haben, gesund, für den Dienst tauglich und mindestens 1,68 m (bei Frauen 1,63 m) groß sein. Die Zulassung zum Vorbereitungsdienst, der in den meisten Ländern ein J a h r dauert, kann von dem Ergebnis einer Vorprüfung abhängig gemacht werden. Der Vorbereitungsdienst zerfällt in eine praktische Ausbildung bei einer kleineren, einer größeren und einer Jugendstrafanstalt und in zwei mehrmonatige theoretische Lehrgänge, deren Dauer in den einzelnen Ländern wechselt. Die praktische Ausbildung bei den Anstalten soll durch Unterricht und Übungen ergänzt werden. Bei den Lehrgängen stehen Vollzugs- und Gefängniskunde und Vertiefung des Allgemeinwissens im Vordergrund. Daneben sollen Grundbegriffe des

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Strafvollzug

Straf- und Strafprozeßrechts, des Beamtenrechts, der Erziehungslehre, der Wohlfahrts- und Gesundheitspflege und der Staatsbürgerkunde vermittelt werden. Auch in Erster Hilfe wird Unterricht erteilt. Während der ganzen Ausbildungszeit wird waffenlose Kampfesweise geübt und Sport getrieben. Derartige Übungen werden auch während der späteren Dienstzeit von den Kräften des Aufsichtsdienstes fortgesetzt. Der letzte der beiden Lehrgänge pflegt durch eine schriftliche und mündliche Prüfung abgeschlossen zu werden. Die Ausbildung der Werkbeamten ist die gleiche; jedoch werden die Anwärter zusätzlich über die Grundbegriffe des bürgerlichen Rechts, das Arbeitsbetriebswesen sowie über Buchführung und Kalkulation unterrichtet. Die Ausbildung aller Angestellten, vor allem der großen Zahl der Hilfskräfte im Aufsichtsdienst, geschieht innerhalb des praktischen Dienstes. Der Dienstanfänger wird einem älteren, erfahrenen Aufsichtsbeamten einige Zeit beigegeben, der ihn einführt und anleitet; daneben werden im allgemeinen bei größeren Anstalten für Dienstanfänger einführende Unterrichtsstunden gegeben. Die Verwaltungsangestellten werden nur am Arbeitsplatz angelernt. Fürsorger, Sozialarbeiter und Oberlehrer, die ihre Berufsausbildung mitbringen, sind im wesentlichen für die Besonderheiten des Strafvollzugsdienstes auf Hinweise ihrer an derselben Anstalt tätigen Kollegen und des Anstaltsleiters angewiesen. Ärzte, Psychologen und Geistliche werden im allgemeinen einige Zeit einem Kollegen oder Amtsbruder einer Nachbaranstalt beigegeben, der sie in die Besonderheiten des Anstaltsbetriebes einführt. In Bayern und Hamburg gibt es seit langem Psychologen innerhalb des Strafvollzugs. Die anderen Länder haben seit etwa einem Jahrzehnt an einigen Anstalten, vor allem an Jugendstrafanstalten, Psychologen eingestellt. Das Arbeitsgebiet der Psychologen ist erst in einigen Ländern (ζ. B. Hamburg) in Dienstanweisungen so hinreichend bestimmt, daß sie selbst und die Anstaltsleiter wissen, was von ihnen verlangt werden darf. Ein gewisses Maß von Übereinstimmung besteht darin, daß der Psychologe bei der Persönlichkeitserforschung der Gefangenen mitzuwirken hat, ihre Ergebnisse auswertet und zusammenfaßt und sich vornehmlich um die zugehenden Gefangenen kümmert (Vorschläge für Haftform, Arbeitseinsatz, Unterricht, Gruppenzuteilung nebst dem zugehörigen Schriftwerk — Behandlungsblatt —), bei der Einstellung, Ausund Fortbildung des Personals und bei Beamtenbesprechungen mitwirkt und sich schließlich der Zusammensetzung von Freizeitgruppen sowie der Einzel- und Gruppentherapie widmet. Bei der geringen Zahl der vorhandenen Psychologen können diese Aufgaben kaum umfassend und intensiv

erfüllt werden. Ein klares Bild darüber, ob sich der Einsatz von Psychologen im Strafvollzug für die Zurückdrängung der Kriminalität aufs Ganze gesehen lohnt, läßt sich wohl nur gewinnen, wenn eine geeignete Anstalt so reichlich mit ihnen ausgestattet wird, daß sie den oben erwähnten Aufgabenkatalog mehrere Jahre hindurch gründlich bearbeiten können. Wenn, wie es jetzt im allgemeinen der Fall ist, nur ein Psychologe auf mehrere hundert Gefangene mit diesem Aufgabengebiet angesetzt wird, kann wohl kaum ein bemerkenswerter Erfolg erzielt werden. Ferner mangelt es an der Abgrenzung von den Aufgabengebieten benachbarter Dienste, wie der Anstaltsärzte, Geistlichen und Pädagogen. Für alle diese Spezialdienste fehlt bei den meisten Aufsichtsbehörden eine übergeordnete Fachkraft, die in der Lage wäre, das fachliche Können, das zumutbare Arbeitsmaß und die Arbeitsmethoden der Ärzte, Geistlichen, Psychologen, Lehrer und Fürsorger an den Anstalten zu beurteilen und zu bestimmen. Damit fällt auch die fachliche Beratung dieser Dienste durch übergeordnete Fachkollegen aus. Schließlich ist es deshalb auch nur in beschränktem Maße möglich, die Dienstaufsicht über sie in Angelegenheiten, bei denen es auf Fachkenntnisse ankommt, gehörig auszuüben. Sicherlich wäre es durch fachliche Beratung und Aufsicht möglich, die Leistungen dieser Spezialkräfte vielseitiger und intensiver zu gestalten und besser aufeinander abzustimmen, als es bisher möglich ist. Die Leiter der größeren, selbständigen Vollzugsanstalten sollen, von Ausnahmefällen besonderer Begabung und Erfahrung abgesehen, Akademiker sein. Unter den Akademikern überwiegen die Juristen mit der Befähigung zum Richteramt. Das Ausmaß der Verwaltung, die durch das Anstaltswesen mit dem Strafvollzug verbunden ist, läßt eine juristische Ausbildung erwünscht erscheinen. Vor allem hat der Jurist gelernt, Verhandlungen zu führen, Konferenzen zu leiten, subjektive Meinungen der Konferenzteilnehmer zu versachlichen und zu verbinden. Deshalb bringt er in der Regel bessere Voraussetzungen für den Anstaltsleiterposten mit, als ζ. B. Geistliche, Sozialpädagogen, Fürsorger, Ärzte. Sicher ist es erwünscht, für den höheren Dienst Bewerber mit überdurchschnittlichen Prüfungserfolgen zu gewinnen. Ausschlaggebend sind jedoch andere Bewertungsgrundsätze bei der Auswahl. Es kommt bei dem Bewerber nicht so sehr auf tiefe Rechtskenntnisse und die Fähigkeit an, komplizierte Rechtsbeziehungen zu entwirren und zu beurteilen als ζ. B. auf gute Allgemeinbildung, auf die Gabe, rasch und zuverlässig zu reagieren, Menschen sicher zu beurteilen sowie fest, gerecht und verständig zu behandeln, aber auch ihre verborgenen Absichten zu durchschauen; ferner auf die Fähigkeit, mit einem großen, differenzierten

Strafvollzug Personalkörper als untadeliger Vorgesetzter harmonisch umzugehen und schließlich bei der Verwaltung eines umfangreichen staatlichen Unternehmens mit vielseitigen Arbeitsbetrieben Initiative und Umsicht zu entfalten. Diese Anlagen sollten schon bei der Auswahl erkennbar sein; denn die zusätzliche Ausbildung für den höheren Vollzugs- und Verwaltungsdienst vermag sie nur zu entwickeln, nicht aber zu erzeugen. Gleichwohl soll hier nicht einem Juristenmonopol das Wort geredet werden; denn die Geschichte des Strafvollzugs beweist, daß hervorragende Anstaltsleiter aus anderen Berufszweigen stammen. Nachfolgern dieser Art soll der Weg weit offen stehen, da ihnen als Vertreter ein in Rechtsangelegenheiten versierter Beamter beigegeben werden kann. Daß die heutige Auslese und Ausbildung der Anwärter des höheren Dienstes derartigen Erfordernissen allenthalben gerecht würde, kann schwerlich behauptet werden. Das liegt u. a. an dem Mangel an Bewerbern, an dem geringen Sozialprestige dieses Berufszweiges und an dem Fehlen einer einheitlichen intensiven Ausbildung. Zur Zeit verläuft die Ausbildung eines Anwärters des höheren Dienstes — übrigens bei durchaus auskömmlicher Besoldung während der Ausbildungszeit — etwa folgendermaßen: Der von der obersten Landesbehörde ausgewählte Anwärter, meist ein Assessor, wird für jeweils einige Monate verschiedenen Vollzugsanstalten zugewiesen. In einigen Ländern werden dabei die einzelnen Abschnitte festgelegt, die der Anwärter bei der praktischen Ausbildung in der Anstalt zu durchlaufen hat, also bei der ersten Anstalt, in der eine meist sechsmonatige Grundausbildung erfolgt, ζ. B. je einen Monat Aufsichtsdienst und Vollzugsgeschäftsstelle, je 2 Wochen Polizeiinspektion, Oberlehrer, Fürsorger, Wirtschaftsverwaltung, 2 Monate Arbeitsbetrieb. Zuweilen werden auch Hinweise gegeben, mit welchen Gesetzen, Vorschriften und Wissenschaftsgebieten sich der Anwärter bei den einzelnen Abschnitten vertraut machen soll. Die Oberaufsicht führt immer der Anstaltsleiter, der den Anwärter auch während der einzelnen Abschnitte zu besonderen Dienstverrichtungen hinzuziehen soll. Nach der Grundausbildung bleibt die weitere Ausbildung mehr oder weniger dem Leiter der Anstalt überlassen, welcher der Anwärter zugeteilt wird. Wie dieser seiner Aufgabe gerecht wird, dem Anwärter eine theoretische und praktische Strafvollzugsausbildung zuteil werden zu lassen, wie sie in § 9 der Vollzugsgrundsätze von 1923 bzw. 1934 und auch in Abschnitt X I I I und XVIII der vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen gutgeheißenen Empfehlung des Ersten Kongresses der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger von 1955 vorgesehen ist, bleibt im wesentlichen seinem Ermessen überlassen. Die praktische Ausbildung geschieht beim Durchlaul s HdX, 2. Aufl., Bd. I I I

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fen der vorerwähnten Ausbildungsstationen in der Anstalt. Dieser Ausbildungsgang galt schon früher als unzureichend. Nachdem sich der Strafvollzug weitgehend zu einem sozialen Dienst mit dem Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft entwickelt hat, der eine Reihe von Spezialkenntnissen erfordert, ist diese Art der Ausbildung nicht mehr zeitgemäß. Selbst wenn der Anwärter einer Anstalt zugewiesen wird, an der ein besonders erfahrener Anstaltsleiter amtiert, ergeben sich auch hier nicht selten aus dessen Überlastung Unzulänglichkeiten. Die Verteilung der verschiedenen Anwärter auf verschiedene Anstalten beeinträchtigt auch die Einheitlichkeit der Ausbildung. Es erscheint deshalb zweckmäßig, als Gegengewicht und Ergänzung ein Seminar in den Ausbildungsgang einzufügen. Dort sollten die Anwärter mindestens 3 Monate von bewährten Lehrkräften ihr wissenschaftliches Rüstzeug in allen mit der Strafvollzugskunde zusammenhängenden Sparten erhalten und auch gemeinsame Reisen zum Studium ausländischer Vollzugseinrichtungen unter sach- und sprachkundiger kritischer Führung unternehmen können. Denn weder die nur von wenigen Studierenden besuchten Vorlesungen über Strafvollzug, die hier und da an einigen Universitäten gehalten werden, noch die meist auf wenige Tage beschränkten Informationsstunden, welche die Gerichtsreferendare innerhalb ihrer Ausbildung wahrzunehmen pflegen, können mehr als einen oberflächlichen Einblick in den Strafvollzug vermitteln. Über die Gestaltung eines solchen schon vor Jahrzehnten geforderten Seminars bestehen durchaus konkrete Vorstellungen. Die Zahl der zu schulenden Nachwuchskräfte für den Anstaltsleiterdienst ist freilich gering. Daraus können sich Einwände gegen die praktische Durchführung einer solchen Institution ergeben. Für den naheliegenden Gedanken, daß in diesem Seminar, für das es in den letzten Jahren zaghafte Ansätze in den Kölner Fortbildungslehrgängen gab, auch die Anwärter der speziell erzieherischen Zweige des Vollzugsdienstes für ihre Aufgaben als Anstaltsärzte, -geistliche, -Psychologen, -lehrer und -fürsorger mit den angehenden Anstaltsleitern gemeinsam theoretisch vorbereitet werden können, waren die maßgeblichen Stellen bisher noch nicht aufzuschließen. Für ein gemeinsames Seminar spricht vor allem der Umstand, daß die sozial- und kriminalpädagogische Aufgabe des Strafvollzugs nur in der Form der Arbeitsgemeinschaft (team-work) zu lösen ist. Gerade das kollegiale System dieser Arbeitsgemeinschaft und ihre Arbeitsweise wäre dem Nachwuchs am leichtesten nahezubringen, wenn sie in dem gemeinsamen Seminar geübt würden, in dem sich die Nachwuchskräfte schon in einem frühen Stadium ihres berufliehen Wirkens auch menschlich näherkommen. Viele Schwierigkeiten im Anstaltsbetrieb würden vermieden, wenn die Ver-

Strafvollzug

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treter der Sonderzweige des Vollzugsdienstes nicht darauf angewiesen wären, sich im wesentlichen auf sich allein gestellt im Anstaltsbetrieb zurechtzufinden und erst durch begangene Fehler und durchlittene Reibungen eine Anschauung von den vielfältigen Verzahnungen des Anstaltsbetriebs zu bilden. Unser Strafvollzug, der überscharf vom bürokratischen System der Alleinverantwortlichkeit und damit der letzten Endes alleinigen Entscheidungsbefugnis des Anstaltsleiters geprägt ist, kann international so lange nicht in vorderer Reihe stehen und auch unsere eigene öffentliche Meinung nicht befriedigen, als bei der Ausbildung der leitenden Beamten und der kriminalpädagogischen Spezialkräfte weiter so wenig eindringlich wie bisher verfahren wird. Die Situation wird dadurch verschärft, daß die Zahl der Stellen dieser Spezialkräfte in den Vollzugsanstalten zu knapp ist und infolge des allgemeinen Mangels an diesen Kräften oft nicht einmal alle diese Stellen besetzt werden können, sowie daß schließlich die Abneigung gegen eine Tätigkeit in einem Gefängnis und die größeren materiellen Vorteile, die sich für solche Berufe, wie besonders Ärzte, Psychologen, Lehrer, Sozialarbeiter anderwärts bieten, qualifizierte Kräfte meist fernhalten. Die Altersgrenze der etwa 13 000 Bediensteten des Strafvollzuges ist für den Aufsichtsdienst auf 60, im übrigen auf 65 Jahre festgesetzt. In arbeite- und beamtenrechtlicher Hinsicht darf nicht unerwähnt bleiben, daß das Koalitionsrecht der Bediensteten des Strafvollzuges uneingeschränkt gewährleistet ist, aber wie bei Polizei und Feuerwehr ein Streikrecht nicht gegeben ist. Das Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrecht der Bediensteten regelt sich nach den Personalvertretungsgesetzen der betreffenden Länder. Die Bediensteten des Strafvollzuges sind überwiegend in dem Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, der dem Deutschen Beamtenbund angeschlossen ist, teilweise auch in der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) oder in der Deutschen AngestelltenGewerkschaft (DAG) organisiert. 4. Organisationsschema einer zugsanstalt

selbständigen

Voll-

Die Art des Einsatzes des Anstaltspersonals behandelt das nachstehende knappe Organisationsschema einer hauptamtlich geleiteten Vollzugsanstalt. Gewisse Abweichungen, wie sie sich aus der föderalistischen Staatsverfassung erklären, sind unwesentlich. Der Anstaltsleiter trägt die Verantwortung für den gesetzmäßigen, dem Grundgesetz und der Menschenrechtskonvention entsprechenden Vollzug der Freiheitsentziehungen, für Ordnung und Sicherheit in der Anstalt und für die vorschrifts-

mäßige Erledigung der Verwaltungsgeschäfte. Darin eingeschlossen sind die Hauspolizei- und die Hausstrafgewalt gegenüber den Gefangenen, die Aufsicht über die Anstaltsbediensteten, ihre Ausund Fortbildung, die Verteilung der nicht an eine bestimmte Person gebundenen Dienstgeschäfte auf das Personal, dessen Dienstvorgesetzter oder Vorgesetzter der Anstaltsleiter auch dann ist, wenn einzelne Dienstangelegenheiten, wie ζ. B. die des Arztes, des Geistlichen, des Psychologen sich wegen ihrer rein fachlichen Art seiner Weisungsbefugnis weitgehend entziehen. Ihm ist nicht nur das geistige und seelische, sondern auch das leibliche Wohl und Wehe oft vieler Hunderter von Gefangenen (Verpflegung, Bekleidung, Unterbringung, Gesundheit, Erwachsenenbildung) neben der Fürsorge für das zahlreiche Personal verschiedenster Berufssparten und neben der Verwaltung eines umfangreichen staatlichen Anlage- und Betriebsvermögens anvertraut. Er vertritt die Anstalt nach außen und erstattet die Jahresberichte über die Vollzugs- und Verwaltungssituation seiner Anstalt. Der Anstaltsleiter muß große Berufs- und Lebenserfahrung, Entschlußkraft, Gewissenhaftigkeit und Charakterstärke, gepaart mit Güte und der Fähigkeit, ausgleichend zu wirken, besitzen. Sichere Kenntnis des Straf-, Staats- und Verwaltungsrechts, der kriminologischen und pädagogischen Grundregeln sowie der Verwaltungsvorschriften ist ebenso unabdingbare Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirken, wie weise Mäßigung und peinliche Sorgfalt. Nicht zuletzt erfordert dieser Beruf eine feste Gesundheit und Nervenkraft. Wer kränklich, leidend oder nicht nur unwesentlich körperbehindert ist, kann der Aufgabe nicht gewachsen sein, weil dadurch auch die geistig- seelische Verfassung beeinträchtigt zu werden pflegt, deren Ausgeglichenheit und sichere Reaktionsfähigkeit Voraussetzung für einen wirkungsvollen Umgang mit Menschen, vor allem mit Gefangenen, ist. Als Leiter des Vollzuges soll er jeden Gefangenen kennen, der nicht nur vorübergehend in der Anstalt ist. Nur so kann er die Beamtenbesprechungen, die sich mit der Behandlung der einzelnen Gefangenen befassen, erfolgreich leiten und die Richtlinien für die Behandlung der einzelnen Gefangenen als Ergebnis dieser Besprechungen festlegen. Auch seine Einwirkungsmöglichkeit auf die Gefangenen und ihre Achtung vor ihm beruhen darauf, daß die Gefangenen wissen, daß er sie kennt und, wo es möglich und angebracht ist, für sie nicht nur in der Anstalt, sondern auch für ihre Familien während der Haft und später für den Entlassenen eintritt; daß er aber ebenso den böswilligen oder gar bösartigen Insassen fest und streng in seine Schranken weist. Es gibt nur wenige Posten in der Staatsverwaltung, die von ihrem Inhaber eine solche Vielseitigkeit und die jederzeit präsente Gabe erfordern, auf gestörte

Strafvollzug

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Menschen ordnend einzuwirken. Es gibt aber auch kaum ein Amt, das seinem Inhaber, obwohl er keineswegs eine Spitzenfunktion in der Staatsverwaltung innehat, soviel Macht über Menschen gewährt, wie das des Leiters einer Strafanstalt. Die Versuchung der Macht ist groß. Sie verantwortungsbewußt, gerecht, mit Bedacht und in Achtung der Ansicht erfahrener und erprobter Mitarbeiter zu handhaben und mit ihr nicht im Zorn oder im Drang der Geschäfte leichtfertig oder routinemäßig umzugehen, ist eine Last, so daß der Anstaltsleiter nur froh sein kann, wenn er sie, wie in vielen ausländischen Staaten, mit einer Aufsichtskommission oder einem Beirat (vgl. Nr. 20) teilen könnte oder sich, wie bei uns, durch einen dem Gefangenen eingeräumten Rechtsweg in ihrer Ausübung bestätigt oder belehrt sehen darf.

die Ordnung in der Anstalt von großer Bedeutung. Ein tüchtiger Küchenleiter ist viel wert. Die Arbeitsverwaltung beschafft, ohne der freien Wirtschaft unzulässige Konkurrenz zu machen, die Arbeitsmöglichkeiten für die Gefangenen, führt die eigenen Arbeitsbetriebe der Anstalt, überwacht die in der Anstalt arbeitenden Unternehmerbetriebe und verwaltet in sorgfältiger Buchführung die Ausgaben und Einnahmen. Sie hat maßgeblichen Einfluß auf die Zuweisung des einzelnen Gefangenen zu den in der Anstalt eingeführten Arbeitszweigen und muß dafür sorgen, daß die Gefangenen ihr vorgeschriebenes Maß an möglichst sinnvoller und nutzbringender Arbeit leisten. Von der Initiative und dem Einfallsreichtum des Arbeitsinspektors hängt es ab, ob in der Anstalt die Gefangenenarbeit einen Vergleich mit der in der freien Wirtschaft aushält.

Der Vollzugsgeschäftsstelle liegt es ob, den in allen Kulturstaaten vorgeschriebenen Nachweis der Anstaltsinsassen, das Gefangenenbuch, zu führen, die Strafzeit zu berechnen, die Personalakten und die in Hessen zweckmäßigerweise eingeführten zusätzlichen Fürsorgeakten der Gefangenen zu führen und die Gefangenen in Fragen der Sozialversicherung zu betreuen. Die Zahlstelle bearbeitet die finanziellen Angelegenheiten der Gefangenen, verwaltet ihre Gelder und Arbeitsbelohnungen und erledigt den Geldverkehr der Anstalt. Für die Ordnung und Sicherheit in der Anstalt, also für den polizeimäßigen Zustand der Baulichkeiten und das hausordnungsmäßige Verhalten der Insassen sorgt als sogenannter Polizeiinspektor in vielen Anstalten ein besonderer Inspektionsbeamter; er hat bei Verstößen gegen die Hausordnung die erforderlichen Ermittlungen anzustellen; er erledigt Routineanliegen der Gefangenen oder bereitet bei wichtigen Anträgen die Entscheidung des Anstaltsleiters vor. Er hat auch die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, daß sich der Besuchs- und Briefverkehr der Gefangenen möglichst reibungslos abwickelt. Die Wirtschaftsabteilung sorgt für Verpflegung, Bekleidung und alle sonstigen Bedürfnisse der Gefangenen, für die Beheizung der Räume, die Beschaffung und Pflege des Inventars und regelt den Einkauf der Gefangenen. Sie betreibt Küche, Wäscherei und Bäder und überwacht die Hausvaterei, in der u. a. die eigenen Sachen der Gefangenen aufbewahrt werden. Die tägliche Normalverpflegung eines Gefangenen soll einen Nährwert von etwa 3300 kal. haben. Daß sie abwechslungsreich und schmackhaft zubereitet werde, reichlich Vitamine durch Frischgemüse und Obst und statt zu vieler Hülsenfrüchte auch Milchprodukte enthalte, muß die ständige Sorge des Wirtschaftsinspektors sein, der unter ärztlicher Aufsicht die Verpflegung besorgt. Eine ordentliche Verpflegung ist für das Wohlbefinden der Insassen und für

Der Geschältsablauf in diesen verschiedenen Abteilungen wird verwaltungsmäßig verbunden und überwacht durch die Hauptgeschäftsstelle. Sie sichtet und verteilt die Posteingänge und kontrolliert die bedeutsameren Postausgänge und die Berichtspflichten an die Aufsichtsbehörden. Sie bearbeitet die Personalangelegenheiten der Bediensteten, verwaltet die Generalakten, bereitet die Konferenzen vor und ist meistens auch für die Bearbeitung der Bauangelegenheiten zuständig. Ihr Leiter, vielfach als Verwaltungsdienstleiter mit selbständigen Überwachungsfunktionen betraut, ist die rechte Hand des Anstaltsleiters und oft sein ständiger Vertreter. Er hat dafür zu sorgen, daß kein wichtiger Verwaltungsvorgang dem Anstaltsleiter verborgen bleibt.

18·

Die nicht nur zahlenmäßig bedeutendste, sondern auch für den einzelnen Gefangenen sehr wichtige Gruppe des Anstaltspersonals bilden die Bediensteten des Aufsichts- und Werkdienstes. Sie sind ständig in Berührung mit den Gefangenen; die Aufsichtsbeamten begleiten den Tagesablauf der Gefangenen vom Wecken bis zur Nachtruhe. Als Abteilungsbeamter bestimmt der Aufsichtsbeamte das Klima seiner Abteilung; er ist der erste, an den sich der Gefangene mit Anliegen wenden muß; er muß auch den Unbotmäßigen zur Ordnung bringen und Ausbrüche oder Entweichungen zu verhindern suchen. Er muß den Gefangenen zur Sauberkeit und zum Fleiß anhalten, ihm Anleitung für die zu leistende Arbeit geben, ihm Nahrung, Kleidung, Wäsche, Lesestoff usw. darreichen und vor allen Dingen ein Ohr für seine Sorgen haben; er muß spüren, wo ein Gefangener von Depressionen heimgesucht wird. Alles in allem ein schweres und verantwortungsvolles Amt, wenn es recht geübt wird, aber auch ein Amt, in dem, wenn es lässig oder widerwillig oder nur als Gelegenheit zum Lebensunterhalt oder in kalter Routine ohne Menschenfreundlichkeit geübt wird, beträchtlicher Schaden an der Gesinnung der Gefangenen, am

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allgemeinen Rechtsbewußtsein, ja am Leben und an der Gesundheit des Amtsträgers selbst oder seiner Kollegen angerichtet werden kann. Die Beamten des Werkdienstes sollen zunächst arbeitsscheue Gefangene zu einer besseren Arbeitsgesinnung führen, sollen ferner möglichst viele Gefangene an den strengen Rhythmus neuzeitlicher Fließbandarbeit gewöhnen oder sie lehren, handwerklich oder industriell so zu arbeiten, daß sie über den Status des Hilfsarbeiters hinauswachsen und bei der Entlassung für den künftigen Arbeitgeber attraktiv sind. Von der treuen, schlichten Pflichterfüllung in Güte oder Strenge, die von den Aufsichts- und Werkbediensteten gerecht geübt wird, geht unaufdringlich und unauffällig das Achtung erweckende Beispiel und Vorbild aus, das auf die Gesinnung der Gefangenen nachhaltigen, vielleicht erst nach Jahren wirkenden Einfluß ausübt. Ein wichtiges Organ ist schließlich die Beamtenkonferenz, die der Anstaltsleiter mit den Beamten des höheren und gehobenen Dienstes und den ersten Beamten des Aufsichts- und Werkdienstes als ständigen Mitgliedern mindestens einmal im Monat abhält und zu der er auch von Fall zu Fall andere Bedienstete hinzuziehen kann. Zu besonderer Bedeutung gelangt sie in Anstalten, in denen sich Gefangene mit längeren Strafen befinden, deren Resozialisierung durch den Meinungsaustausch in der Konferenz geplant und gefördert werden kann. Die Konferenz dient der Zusammenarbeit, die als intensive sittliche Leistung von ihren Mitgliedern gefordert ist. In der Aussprache über die Fragen des Anstaltsbetriebes und des Vollzuges sollen sich die Ansichten klären, und die Auffassungen über einzelne Gefangene, ihre Behandlung und die Stellungnahme zu Gnadengesuchen harmonisch abgestimmt werden. Hier liegt die Möglichkeit einer wohltuenden Abschwächung des strengen bürokratischen Prinzips. In vielen Fragen, sogar für die zivilrechtliche Haftung, kann es sehr nützlich sein, sich auf einen kollegialen Konferenzbeschluß berufen zu können. 5. Strafvollzug

als Endphase

des

Strafverfahrens

Dieses große Maß von Organisation und Verwaltung, das zwangsläufig mit dem Strafvollzug verbunden ist, trübt nicht selten den Blick dafür, daß der Strafvollzug als solcher keine Verwaltung, sondern der letzte und meist für den Verurteilten eindrucksvollste Akt des Strafverfahrens ist. Erst mit der vollzogenen Strafe endet die Tätigkeit der Strafrechtspflege. Der Strafvollzug ist daher ebenso wenig Verwaltung, wie die staatsanwaltliche, richterliche Tätigkeit oder die ärztliche Behandlung in einem Krankenhaus oder die pädagogische in einer Bildungsanstalt. Diese Tätigkeiten stehen zwar in einem Zusammenhang

mit einer Verwaltung (Justiz-, Krankenhaus- oder Schul Verwaltung), aber nur deshalb, weil die Verwaltungen dazu dienen, diese wesentliche Aufgabe zu ermöglichen. Der Strafvollzug teilt mit den übrigen Abschnitten des Strafverfahrens (Ermittlungsverfahren, Anklageverfahren, Urteilsverfahren) das einheitliche Ziel der gesamten Strafrechtspflege, das Verbrechen zu bekämpfen. Mag in den ersten Abschnitten des Strafverfahrens, das ja von einer Straftat seinen Ausgang nimmt, die repressive Verbrechensbekämpfung im Vordergrund stehen, so werden spätestens im Strafvollzug Tendenzen der präventiven Verbrechensbekämpfung, der individuellen Rückfallverhütung, vorrangig. Wer freilich annimmt, Resozialisierung sei der alleinige Zweck des Strafvollzuges, sie werde auch denjenigen Gefangenen zuteil, die einer Resozialisierung nicht bedürfen, der setzt Strafvollzug mit Resozialisierung gleich und entfernt damit den Strafvollzug aus der Strafrechtspflege so vollständig, daß er nicht mehr deren Endphase, sondern reine Sozialhilfe ist und besser in das Ressort der Sozialverwaltung gehört. Gegenwärtig ist man allerdings noch der Meinung, daß der Strafvollzug nicht nur mittels Resozialisierung den Zwecken des strafrechtlichen Richterspruchs dient. Das schließt nicht aus, daß ihn die soziale Aufgabe der Verbrechensbekämpfung zu intensiven Kontakt zu allen Stellen und Verbänden zwingt, die soziale Hilfe gewähren. Diese Tendenz teilt der Strafvollzug mit dem jüngsten Zweig der sich ihrer sozialen Aufgabe bewußt gewordenen Strafrechtspflege, der Bewährungshilfe, mit der eng zusammenzuarbeiten seine besondere Pflicht ist.

6. Aufsichtsbehörden

des Strafvollzuges

Solange der Strafvollzug letzte Phase der Strafrechtspflege ist, kann es nur folgerichtig sein, den Strafvollzug der Justiz zuzuordnen und als oberste Aufsichtsbehörde die oberste Justizbehörde in den Ländern (Justizminister, Justizsenator) zu bestimmen. Einige Länder des Bundesgebietes haben noch Mittelbehörden des Strafvollzuges (Strafvollzugsämter), die als obere Aufsichtsbehörde fungieren, s. ζ. B. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein. Andere haben den Strafvollzug unmittelbar ohne Zwischeninstanz dem Ministerium unterstellt, so ζ. B. Bayern, BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz. 7.

Strafvollzugsrecht

Die seit Jahrzehnten geforderte gesetzliche Regelung des Strafvollzuges als eines Rechtsverhältnisses des öffentlichen Rechts ist im sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes unerläßlich geworden. Sie muß sich vor allem darauf erstrecken,

Strafvollzug daß der Gefangene (Verwählte) nicht mehr in seinen Rechten beschränkt wird, als rechtlich zulässig und sachnotwendig. Als wesentliche Voraussetzung für die Feststellbarkeit von Rechtsverletzungen muß der Inhalt der Freiheitsstrafen und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Sicherung und Besserung, also die Art und Weise ihres Vollzuges, durch Gesetz bestimmt sein. Die erhoffte gesetzliche Regelung muß beschreiben, welche Rechte des freien Bürgers bei den Strafgefangenen suspendiert oder gemindert sind. Wenn man davon ausgeht, daß nur die Freiheitsentziehung als solche als Strafe anzusehen ist, ergeben sich eben daraus die Einschränkungen, denen Gefangene im Gegensatz zu Freien unterworfen sind. Der Freiheitsentzug muß in Zwangsanstalten verwirklicht werden. Deshalb gehören Ordnung, Sicherung, Zwang, ja notfalls sogar Gewalt wesensnotwendig zum Freiheitsentzug. Nur über die Berechtigung des anzuwendenden Grades ist Streit möglich. Er richtet sich im Prinzip nach der Persönlichkeit des Gefangenen und reicht je nachdem vom höchsten Sicherheitsgrad bis zum offenen Vollzug. Wenn diese Typen der Gefängnisbevölkerung in einer Anstalt vermischt werden, müßte die Anstalt nach Bau und Regime nach dem höchsten Gefährlichkeitsgrad eingerichtet sein, den Gefangene, die sie aufnehmen muß, besitzen können. Daraus folgt, daß die Gefängnisbevölkerung nach dem Grad zu entmischen ist, der bei jedem einzelnen nötig erscheint, um Freiheitsentzug zu gewährleisten. Die dann entstehenden vier oder fünf Gruppen gehören in entsprechend verschiedene Anstaltstypen mit abgestufter Sicherung, Ordnung und Zwang. Für diese Anstaltstypen gilt es, in einem Strafvollzugsgesetz zunächst Rechtsgrundsätze, die für alle Anstalten gemeinsam gelten, und sodann rechtlich verbindliche Leitbilder für das Maß der Rechtsbeschränkung bei den einzelnen Anstaltstypen zu entwickeln. An diese Leitbilder muß sich dann freilich auch ein Gefangener anpassen, der an sich in eine Anstalt geringeren Sicherheitsgrades gehört, aber ζ. B. zum Zwecke seiner beruflichen Fortbildung in eine Anstalt höheren Sicherheitsgrades, die einen solchen Arbeitsbetrieb besitzt, eingewiesen wird. Soviel zur künftigen Rechtsentwicklung. Für den Schutz der Rechtsstellung besteht gegenwärtig der weiter unten dargestellte Rechtsweg aufgrund des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes. Außerdem gibt es noch weitere Möglichkeiten des Rechtsschutzes: a) Der Gefangene kann Ersatz des Schadens verlangen, der daraus entsteht, daß ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die Amtspflicht verletzt, die ihm gegenüber dem Gefangenen obliegt — § 839 BGB, Art. 34 GG. Daneben kommt eine sinngemäße Anwendung schuldrechtlicher Vorschriften für Pflichtverletzungen, etwa aus dem

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Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht, im allgemeinen nicht in Betracht. Die meisten derartigen Ansprüche, die gestellt wurden, betreffen gesundheitliche Schäden, die während der Strafzeit entstanden sein sollen. Zwar muß der Staat für die Gesundheit der Gefangenen sorgen. Das ist aber eine Nebenverpflichtung. Sie ist nur die zwangsläufige Folge der Freiheitsentziehung, weil diese den Gefangenen im allgemeinen hindert, selbst für sich und seine Gesundheit zu sorgen. Wenn diese Nebenpflicht des Staates zur Gesundheitsbetreuung gegenüber dem Strafgefangenen verletzt wird, steht lediglich eine Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB in Frage. Die Verwaltungsvorschriften, die sich mit der gesundheitlichen Betreuung der Gefangenen befassen, sind konkretisierte Amtspflichten, deren Nichtbeachtung oder Verletzung keinen schuldrechtlichen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer besonderen Fürsorgepflicht, sondern nur einen deliktischen wegen Amtspflichtverletzung begründen kann (BGH in NJW 1956 S. 1399). b) Unter allerdings seltenen Umständen kann ein Gefangener einen Aufopferungsanspruch aufgrund des Rechtsgedankens, der im Preußischen Allgem. Landrecht, Einleitung §75, zum Ausdruck gelangt ist, geltend machen; wenn er nämlich ohne Verschulden eines Staatsbediensteten durch Vollzugsmaßnahmen unmittelbar einen hohen inadäquaten Schaden erleidet (BGH in NJW 55 S. 1109 und 62 S. 845). c) Die Gefangenen und Verwahrten sind aufgrund des Unfallversicherungs- und Neuregelungsgesetzes vom 30.4.1963 BGBl. I S. 241 (vgl. insbesondere die durch Art. 1 aaO. eingeführten oder geänderten Vorschriften der §§ 540, 547, 550, 553, 566, 576 Abs. 6 der Reichsversicherungsordnung sowie Art. 4 §§2 u. 16) gegen Arbeitsunfälle ebenso versichert wie freie Personen. Sie erhalten u. a. Heilbehandlung, Verletztengeld, Körperersatzstücke, Berufshilfe, Verletztenrente. Im Todesfalle wird Sterbegeld und Rente an Hinterbliebene gewährt. Das Verletztengeld berechnet sich während fortdauernder Freiheitsentziehung nach der Höhe der bisher dem betreffenden Gefangenen gezahlten Arbeits- und Leistungsbelohnung; nach der Entlassung beträgt es ebenso viel wie bei freien Personen. Die Berufshilfe umfaßt Maßnahmen zur Wiedergewinnung der Fähigkeit, den bisherigen oder einen möglichst gleichartigen Beruf oder eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben. Notfalls sind Umschulungsmaßnahmen zu treffen. Die Hinterbliebenenrente (Witwen- und Waisenrente) besteht in Bruchteilen des Jahresarbeitsverdienstes des durch einen Unfall zu Tode gekommenen Ehegatten oder Elternteils. Anträge auf Leistungen aus der Unfallversicherung bearbeitet die Ausführungsbehörde für Unfallversicherung, die für das Land, in dem der Unfall sich ereignet hat,

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Strafvollzug

zuständig ist. Gegen ihre Entscheidungen steht dem Betroffenen gemäß § 205 des Sozialgerichtsgesetzes der Rechtsweg an das Sozialgericht offen. d) Weiterhin hat der Strafgefangene in bestimmten Fällen Rechtsschutz durch die Bestimmung des § 458 StPO. Hiernach kann er eine in der Regel beschwerdefähige Entscheidung des Gerichts, das in der betreffenden Strafsache im ersten Rechtszug geurteilt hatte, herbeiführen, wenn über die Auslegung des Strafurteils oder über die Berechnung der erkannten Strafe Zweifel entstehen, oder wenn er Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung geltend macht. e) Für die Mehrzahl aller Einwendungen, die ein Gefangener im einzelnen gegen die Art und Weise des Strafvollzuges erhebt, gilt aber der durch die Vorschriften der §§ 23 ff. des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) — vgl. § 179 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21.1.1960 — BGBl. I S. 17 — eröffnete Rechtsweg. Die Grundnorm des Art. 19 Abs. 4 GG, wonach demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ist, der Rechtsweg offensteht, ist durch diese Vorschriften näher geregelt worden. Hiernach entscheidet, soweit die ordentlichen Gerichte nicht bereits, wie ζ. B. in den vorerwähnten Fällen, aufgrund anderer Vorschriften angerufen werden können, über die Rechtmäßigkeit der Anordnungen, Verfügungen oder sonstigen Maßnahmen, die von den Vollzugsbehörden zur Regelung einzelner Angelegenheiten im Vollzug der Freiheitsstrafen, der freiheitsentziehenden Maßregeln der Sicherung und Besserung und des Jugendarrestes getroffen worden sind, auf Antrag des Betroffenen ein Strafsenat des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk die Vollzugsanstalt liegt, in der sich der Betroffene aufhält. Der Antrag ist, wie sich bereits aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt, nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder ihre Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Wenn solche Maßnahmen der Vollzugsbehörden der Beschwerde oder einem anderen förmlichen Rechtsbehelf im Verwaltungsverfahren unterliegen, kann der Antrag auf gerichtliche Entscheidung erst nach vorausgegangenem Beschwerdeverfahren (Vorschaltverfahren) gestellt werden. Ob ein solches Vorschaltverfahren, das bis zum 1. 7.1962 allgemein in der Judikatur als bestehend bejaht wurde, weiter besteht, richtet sich nach Landesrecht; so jedenfalls die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9. 4.1963 — 5 AR (Vs) 3/63 —, die im Nachschlagewerk des BGH unter folgendem Leitsatz vermerkt ist: „Ob in Strafvollzugsangelegenheiten dem Antrage auf gerichtliche Entscheidung ein förmliches Beschwerdeverfahren vorauszugehen hat, entscheiden die Oberlandesgerichte ohne gegenseitige Bin-

dung". Diese Entscheidung ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben — vgl. Altenhain NJW 63, 1463 —. In der Tat besteht in einigen Ländern der Bundesrepublik im Gegensatz zur Mehrzahl anderer Länder ein solches Vorschaltverfahren nicht. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die unmittelbare Anrufung des Oberlandesgerichts durch einen Gefangenen mittels eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung bei den meist schriftlich überhaupt nicht nach Zeit, Art und Umfang konkretisierten Maßnahmen der Vollzugsbehörden zu Mißverständnissen und Unklarheiten ständig Anlaß gibt. Auch würde sich die Zahl der Anträge vermindern, wenn ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung erst zulässig ist, nachdem das Vorbringen des Gefangenen von der Aufsichtsbehörde in einem vorgeschalteten Beschwerde- oder Widerspruchsverfahren gefiltert, festgestellt und beurteilt worden ist. Das Vorschaltverfahren liegt deshalb auch im Interesse des beschwerdeführenden Gefangenen, zumal die Erfahrung gezeigt hat, daß sonst viele Anträge auf gerichtliche Entscheidung infolge Verletzung von Formvorschriften als unzulässig verworfen werden müssen. Zum Teil mag es an den strengen Formvorschriften liegen, daß die ergehenden Entscheidungen der Oberlandesgerichte zuweilen formalistisch wirken und zu wenig in der Sache befriedigen. Im großen Ganzen ist aber die als Vorwurf gedachte Kennzeichnung dieser Rechtsprechung als konservativ wohl kaum begründet. Der Richter muß sich an das bestehende Recht halten. Die Rechtsgrundlage für den Strafvollzug ist nicht eindeutig formuliert und entspricht vielfach nicht den oft wechselnden und zum Teil umstrittenen Auffassungen neuerer Richtungen. Das kann man aber den Richtern nicht anlasten. Wo es rechtlich möglich war, sind auch fortschrittliche Entscheidungen ergangen. f) Schließlich steht dem Gefangenen, wie jedermann, noch der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde zur Verfügung. Er kann sie beim Bundesverfassungsgericht mit der Behauptung erheben, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem der in Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Allerdings kann die Verfassungsbeschwerde im allgemeinen erst nach Erschöpfung des gegen die Verletzung zulässigen Rechtsweges erhoben werden. Damit wäre dann der Rechtsweg bis zum äußersten erschöpft. Die außerdem bestehenden Möglichkeiten der immer und überall gegebenen nichtförmlichen Dienstaufsichtsbeschwerde sowie einer Petition an die Volksvertretung (Bundestag oder Landtag) oder eines Individualgesuchs an die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg stellen keinen Rechtsweg im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG und des § 90 Abs. 2 BVerfGG dar.

Strafvollzug Nach Art. 25—29 der Konvention zum Schutze der Menscheniechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, die mittels des Art. II des Gesetzes über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7.8.1952 — BGBl. II S. 685, 953 — in der Bundesrepublik mit Gesetzeskraft veröffentlicht ist, kann sich jede natürliche Person der Staaten, die sich der Konvention angeschlossen haben, mit einem Gesuch an die Kommission wenden, wenn sie sich durch eine Verletzung der in der Konvention anerkannten Rechte beschwert fühlt. Voraussetzung ist die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges, der auch die Verfassungsbeschwerde umfaßt, soweit die Verletzung eines verfassungsbeschwerdefähigen Rechts, das sich mit einem durch die Menschenrechtskonvention geschützten Recht deckt, behauptet wird. Die Prüfung dieser Voraussetzung ist aber Aufgabe der Kommission, nicht einer innerstaatlichen Stelle. Es kann also keine innerstaatliche Stelle die Weiterleitung des Gesuchs an die Kommission mit der Begründung ablehnen, der innerstaatliche Rechtsweg sei noch nicht erschöpft. Vielmehr hat die Vollzugsbehörde jedes an die Kommission gerichtete Gesuch eines Gefangenen oder Verwahrten unverzüglich an die Kommission weiterzuleiten, es sei denn, daß der Gefangene nach Belehrung ausdrücklich und schriftlich auf Absendung verzichtet. Diesen zahlreichen Möglichkeiten zur Wahrnehmung oder Durchsetzung von Rechten, von denen Strafgefangene in der Bundesrepublik nicht nur wahlweise, sondern manchmal gleichzeitig oder nacheinander Gebrauch machen und die sie noch durch Strafanzeigen gegen die beteiligten Bediensteten nicht selten ergänzen, übersteigen das erforderliche und erträgliche Maß. Es ist schon immer die Frage gewesen, wie sich überhaupt ein Rechtsweg, auf dem die Vollzugsbehörde und der Gefangene bei einem Gericht über die Berechtigung einer den Gefangenen betreffenden Vollzugsmaßnahme miteinander streiten, mit der sozial- und kriminalpädagogischen Aufgabe vereinbaren läßt, die dem Strafvollzug bei einer größeren Zahl von Gefangenen obliegt. Die Notwendigkeit, einen gesetzmäßigen Strafvollzug zu betreiben, zwingt aber in unserem Rechtsgebiet dazu, einen Rechtsweg zu eröffnen, und das ist gut. Die zugleich bestehende Notwendigkeit einen auf Resozialisierung abgestellten Strafvollzug durchzuführen, läßt es dann aber auch als ratsam erscheinen, diesen Rechtsweg eindeutig, klar und knapp zu gestalten. Die weitere wichtige Frage, wie sich die Rechtsstellung eines Strafgefangenen von der des freien Bürgers unterscheidet, ist zur Zeit gesetzlich nur zu einem kleinen Teil beantwortet. Solche gesetzlichen Bestimmungen finden sich im Strafgesetzbuch (§§21, 42g u. i), Jugendgerichtsgesetz (§115, daneben §§82—92, 110) sowie im Ein-

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führungsgesetz zum Wehrstrafgesetz (Art. 7) in Verbindung mit der Rechtsverordnung über den Vollzug des Strafarrestes vom 25. 8.1958 — BGBl. I S. 647 —. Beim Wahlrecht (Art. 38 Abs. 2 GG und den entsprechenden Bestimmungen der Länder) hat sich seit 1949, als zunächst die Behinderung der Untersuchungsgefangenen bei der Ausübung des Wahlrechts beseitigt worden war, die Rechtslage in den neueren Wahlgesetzen dahin geklärt, daß jetzt auch die Strafgefangenen in der Ausübung des Wahlrechts nicht mehr durch die Gefangenschaft behindert sind. Sie haben die Möglichkeit, durch Briefwahl oder Wahlschein ihr Wahlrecht auszuüben. Meist wird eine Wahlurne im Gefängnis aufgestellt. Einen Anspruch darauf, zu einem öffentlichen Wahllokal geführt zu werden, um dort zu wählen, haben die Gefangenen nicht. Dem Wahlrecht entspricht auch ein Informationsrecht (Art. 5 GG). Es kann zwar nicht hemmungslos gewährt werden, aber es muß die Möglichkeit eingeräumt werden, daß sich die Gefangenen, vor allem solche, die sich seit längerer Zeit in Haft befinden oder Erstwähler sind, über die Ziele und Bestrebungen der politischen Parteien und Wählergruppen unterrichten können. Im übrigen hat der Bund auf dem Gebiet des Strafvollzuges, soweit ihm erwachsene Zivilpersonen unterworfen sind, von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht. Die einzige Rechtsvorschrift, welche die Rechtsbeschränkungen, die der Strafvollzug mit sich bringt, zur Zeit ihres Erlasses deckte, ist die Verordnung des Reichsjustizministers über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, vom 14. 5.1934 — RGBl. I S. 383 —. Sie ist auch nach Erlaß des Grundgesetzes wiederholt in gerichtlichen Entscheidungen und in der Praxis der Strafvollzugsverwaltung angewendet worden. Gegen ihre fortdauernde Rechtsgültigkeit als Ganzes und für die Gesamtheit des Bundesgebietes sind indes Bedenken geltend gemacht worden, die für einige ihrer Vorschriften auch begründet sind. Das hat das Bundesjustizministerium nicht gehindert, sich in der Fragestunde des Bundestages vom 2. 3.1966 auf die Rechtsgültigkeit der Verordnung vom 14. 5.1934 zu berufen, was für den größten Teil ihres Inhaltes auch zutrifft. Trotzdem besteht kein Zweifel, daß die Verordnung möglichst bald durch ein Bundesstrafvollzugsgesetz ersetzt werden sollte. Auch heute ist das, wie schon die Begründung zu dem Entwurf eines Reichsstrafvollzugsgesetzes von 1927 ausführte, ein dringendes Anliegen. Denn, so sagte die Begründung: „von allen Eingriffen des Staates in die Rechtssphäre des Einzelnen wiegen die Eingriffe aufgrund eines strafgerichtlichen Urteils am schwersten.... Die Rechte und Pflichten des Staates gegenüber dem Verurteilten, dem er die

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Freiheit entzieht, bedürfen ebensowohl einer genauen Umschreibung, wie die Rechte und Pflichten des Verurteilten gegenüber dem Staat." Eine umfassende gesetzliche Regelung der Rechtsstellung des Gefangenen bleibt darüber hinaus auch deshalb gefordert, weil grundgesetzlich Einschränkungen von einschränkbaren Grundrechten nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig sind. Und zwar sollte dies durch ein Bundesgesetz geschehen, weil der Gefahr verschiedenartiger Handhabung des Strafvollzuges in den einzelnen Ländern nur durch ein Bundesstrafvollzugsgesetz, das innerhalb eines festen Rahmens Möglichkeiten einer einheitlichen Fortentwicklung bietet, vorgebeugt werden kann. Erst dann ist die Rechtseinheit auf dem Gebiete der Strafrechtspflege in der Bundesrepublik ganz gesichert. Jedes weitere Hinausschieben deT bundesgesetzlichen Regelung wird zur Folge haben, daß einzelne Länder ihre Reformgedanken im Verwaltungswege verwirklichen. Das führt zwangsläufig dazu, daß der Strafvollzug von Land zu Land wieder ein unterschiedliches Gewicht erhält. Das ist das Gegenteil von Rechtseinheit und gleichmäßig gerechter Behandlung der Gefangenen in allen Ländern unseres Rechtsgebietes. Durch die Gefangenschaft werden aber nicht nur Rechte eingeschränkt, sondern auch Rechte begründet. Der zur Arbeit verpflichtete Gefangene hat ζ. B. ein Recht darauf, daß der Staat für ihn sinnvolle und nützliche Arbeit besorgt, soweit nicht unabwendbare Umstände der Verwaltung die Erfüllung dieser Aufgabe unmöglich machen. Er hat ferner ein Recht auf Gesundheits- und Unfallfürsorge. Die gesamte sachnotwendige Ordnung des Anstaltslebens hat sich in Erfahrungssätzen niedergeschlagen, welche die Verwaltung im Laufe vieler Jahre bei dem Betrieb von Strafanstalten gewonnen und in Form von Vorschriften und Anweisungen an ihre Bediensteten niedergelegt hat. Dabei muß aber immer bedacht werden, daß die Strafvollzugs- oder Dienst- und Vollzugsordnungen Verwaltungsvorschriften, also keine Rechtsvorschriften, geschweige denn Gesetze sind, und daß deshalb nicht ohne weiteres alle Maßnahmen, die sich im Rahmen dieser Ordnungen halten, notwendig rechtmäßig sind. Bis zu einer gesetzlichen Regelung kann die Rechtmäßigkeit von Vollzugsmaßnahmen nur von Fall zu Fall durch gerichtliche Entscheidungen an Hand der Vorschriften des Grundgesetzes, der Menschenrechtskonvention und der früher bereits genannten wenigen gesetzlichen Vorschriften, der Selbstbindung der Verwaltung in Verwaltungsvorschriften und nach Maßgabe der Sachnotwendigkeit geklärt werden. Bei der Prüfung, ob eine Anordnung, Verfügung oder sonstige Maßnahme, die von einer Vollzugsbehörde in einem Einzelfall bezüglich eines Gefangenen getroffen worden ist, dessen Rechte ver-

letzt, sind also die oben genannten fünf Kategorien vom Grundgesetz bis zur Sachnotwendigkeit in Betracht zu ziehen. Auf dem Boden dieser Prüfungspflicht haben die Strafsenate der Oberlandesgerichte, denen die Entscheidung über die Anträge auf gerichtliche Entscheidung in Strafvollzugsangelegenheiten gemäß §§23ff. EGGVG seit dem 1. 4.1960 obliegt, die derzeitige Rechtsstellung der Gefangenen in der mannigfachsten Hinsicht geklärt. Dem Gesetz entsprechend befaßt sich diese verhältnismäßig junge, aber schon recht umfangreiche Rechtsprechung nur mit Rechtsverletzungen, nicht mit einfachen Interessenverletzungen, welche Gefangene im Strafvollzug erlitten zu haben behaupten. Es genügt auch nicht die Behauptung des Gefangenen, daß er in seinen Rechten verletzt sei, vielmehr muß er Tatsachen vorbringen, aus denen sich schlüssig ergibt, daß die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung seine Rechtsstellung beeinträchtigt. Es kann auch nur Vergangenes gerügt, nicht aber können künftige Maßnahmen der Vollzugsbehörden verlangt werden. Die wichtigsten Rechtsverletzungen sind solche von Grundrechten. Die Menschenwürde (Art. 1 GG) darf nie verletzt werden. So wurde entschieden, daß es gegen die Menschenwürde verstößt, drei Gefangene in einer Einmannzelle unterzubringen. Dieser Rechtssatz bedarf der Erweiterung, daß dies auch nicht geschehen darf, wenn, wie es unzählige Male vorkommt, alle drei Gefangene eine solche gemeinsame Unterbringung in einer Einmannzelle wünschen, weil es trotzdem unwürdig bleibt und außerdem den Zweck des Vollzuges, die Rückfallgefahr zu vermindern, zuwiderläuft. — Der Zwang, Anstaltskleidung zu tragen, sofern diese ordentlich und nicht entstellend ist, verstößt nicht gegen die Menschenwürde. — Der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) wird nicht verletzt, wenn der Gefangene für die Arbeit nicht wie ein freier Arbeiter entlohnt und sozialversichert wird. Das Rechtsverhältnis des aufgrund eines freien Arbeitsverhältnisses tätigen freien Arbeiters und des aufgrund seiner Freiheitsstrafe öffentlich-rechtlich zur Arbeit verpflichteten Gefangenen ist wesentlich ungleich. Dadurch rechtfertigt es sich, daß der Gefangene seine Arbeitskraft nicht zu seinem Nutzen verwerten und auch nicht verlangen kann, daß die Anstalt für ihn Beiträge zur Sozialversicherung leistet. Das Grundrecht der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 GG) ist zwar unbeschränkbar; es ist aber keine Religionsausübung, wenn der Gefangene den Gottesdienst wiederholt oder gröblich stört. In einem solchen Fall kann er von gemeinschaftlichen religiösen Veranstaltungen zeitweilig ausgeschlossen werden. Die Grenzen des Informationsrechtes im Strafvollzug (ζ. B. Zeitungs- und Zeitschriftenbezug, Rundfunkempfang mittels eigener Geräte) sind neuerdings stark erweitert, so daß allenfalls klar

Strafvollzug verfassungsfeindliche, grob pornographische, bzw. homosexuelle Informationen (und Darstellungen) sowie solche, die eindeutig zu strafbaren Handlungen auffordern, ausgeschlossen werden können. Das Recht auf Eheschließung (Art. 6 GG) ist während des Strafvollzuges nicht beschränkt. In Einschränkung von Art. 10 GG (Brief-, Postu. Fernmeldegeheimnis) und des Art. 2 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) kann der Briefund Telegrammverkehr der Strafgefangenen zeitlich und mengenmäßig beschränkt werden. Die Besuchsfristen sollen vier Wochen nicht überschreiten; Sonderbesuche können zugelassen werden. Die Besuche pflegen überwacht zu werden. Die Überwachung des Briefverkehrs kann dazu führen, daß der Anstaltsleiter Schreiben anhält, wenn ihr Inhalt befürchten läßt, daß er die Ziele des Strafvollzuges, die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt beeinträchtigt oder die öffentliche Sicherheit stört. Auch können Schreiben angehalten werden, die offensichtlich unwahre Angaben über Anstaltsverhältnisse enthalten. Eingaben an Gerichte, Justizbehörden und Volksvertretungen in der Bundesrepublik sowie an die Europäische Menschenrechtskommission dürfen jedoch nicht angehalten werden. Geistig erkrankte Gefangene können unter Umständen vom Schriftverkehr ausgeschlossen werden, wenn dem Gefangenen zugleich gestattet wird, seine Anliegen zur Niederschrift eines Urkundsbeamten des Gerichts oder eines Anstaltsbediensteten vorzubringen. Das Petitionsrecht (Art. 17 GG) bleibt dem Gefangenen uneingeschränkt. Zwangsarbeit ist nach Art. 12 GG nur bei gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehung zulässig mit der Maßgabe, daß die Gefangenen möglichst in einer ihrem Beruf oder ihren Fähigkeiten entsprechenden Weise beschäftigt werden. Die Durchführung des Freiheitsentzugs erfordert unter Umständen Zwangsmaßnahmen, um ein hausordnungsgemäßes Verhalten durchzusetzen. Dazu gibt es die Hausstrafbefugnis des Anstaltsleiters. Verstößt ein Gefangener schuldhaft gegen die Pflichten, die ihm die Vollzugsordnung oder sonstige hierzu erlassene Vorschriften auferlegen, so kann der Anstaltsleiter gegen ihn eine Hausstrafe verhängen. Gleiches gilt bei Verfehlungen gegen Sitte und Anstand einschließlich der Verfehlungen strafgesetzlicher Art, soweit diese nicht wegen ihrer Schwere den Anstaltsleiter zu einer Anzeige bei der Strafverfolgungsbehörde veranlassen. Der Anstaltsleiter kann natürlich nur über solche Verstöße entscheiden, die ihm bekannt werden. Die Bediensteten sind verpflichtet, ihm alle wichtigen Vorgänge und bedeutsamen Beobachtungen zu melden. In dieser Einschränkung kann eine gute Portion Willkür

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liegen. Was der eine Aufsichtsbeamte als wichtig und bedeutsam ansieht, hält der andere für nebensächlich und nicht der Rede wert. So ist ein beträchtlicher Teil der Disziplinargewalt in die Hände unerfahrener Hilfsaufseher oder indolenter Beamter, scharfer oder milder Bediensteter gelegt. Hieraus erwächst eine Menge Unzufriedenheit der Gefangenen und Beliebtheit oder Verhaßtheit gewisser Angehöriger des Personals. Die Hausstrafen reichen von einem Verweis, über Beschränkung oder Entziehung von Erlaubnissen, Beschränkung des Verkehrs mit der Außenwelt, Beschränkung oder Entziehung der Verfügung über das Hausgeld, hartem Bettlager, Kostschmälerung bis zu Arrest. Die Zulässigkeit von Hausstrafen überhaupt kann am einfachsten dadurch dargetan werden, daß nach einhelliger Rechtsprechung aufgrund des § 119 StPO durch richterliche Verfügung gegen Untersuchungsgefangene derartige Hausstrafen verhängt werden dürfen, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnis notwendig ist. Erst recht muß dies daher auch gegenüber Strafgefangenen zulässig sein. So sind auch in den Entscheidungen der Strafsenate gemäß §§ 23ff. EGGVG Bedenken dagegen, daß Hausstrafen gegen Strafgefangene überhaupt zulässig seien, nicht laut geworden. Die Fragen, über die zu befinden war, beziehen sich auf das Verfahren bei der Verhängung einer Hausstrafe, insbesondere auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs, auf die Art und Höhe der Strafe und die Beweiswürdigung. Die gerichtliche Nachprüfung von Hausstrafen beschränkt sich nicht auf die rechtliche Seite, sondern bezieht auch die Tatsachenfeststellung ein. Die Hausstrafen sind Disziplinarstrafen. Im Disziplinarverfahren kann der Disziplinarberechtigte strafen, er muß es aber nicht. Der Anstaltsleiter kann daher aus guten Gründen wegen der gleichen disziplinwidrigen Handlung den einen Gefangenen bestrafen, den anderen nur verwarnen. Wenn eine zu Unrecht verhängte Hausstrafe bereits vollzogen ist, so hat der Gefangene ein Recht darauf, daß die Hausstrafverfügung förmlich aufgehoben und dies in seinen Personalakten vermerkt wird. Gewisse besondere Sicherungsmaßnahmen sind zuweilen geboten, um die Freiheitsentziehung auch tatsächlich zu gewährleisten. Die im folgenden erörterten Maßnahmen dienen nur dazu, dem Bruch der Freiheitsentziehung oder einer Störung ihres Ablaufs vorzubeugen, wenn dafür ein begründeter Anhaltspunkt vorliegt. Solche Sicherungsmaßnahmen, die, zu Unrecht angewandt, eine Rechtsverletzung bedeuten können, kann der Anstaltsvorstand gegen einen Gefangenen anordnen, bei dem nach seinem früheren Verhalten, nach seiner Persönlichkeit oder aufgrund eines seelischen Zustandes in erhöhtem Maße Fluchtverdacht oder

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die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstbeschädigung besteht, oder der sonst die Sicherheit oder Ordnung gefährdet. Sie können ζ. B. in häufigerer Durchsuchung des Gefangenen selbst, seiner Sachen und seines Haftraumes, wiederholter Beobachtung auch bei Nacht, Unterbringung in einer Beruhigungszelle unter täglicher ärztlicher Kontrolle oder in Fesselung bestehen. Von jeder derartigen Maßnahme ist der Anstaltsleiter, wenn er sie entgegen der Regel nicht selbst angeordnet hatte, unverzüglich zu unterrichten. Auf Beruhigungszellen kann nicht verzichtet werden, weil unruhige Gefangene mindestens so lange, bis der Arzt kommt und etwas anderes anordnet, insbesondere den Gefangenen medikamentös ruhigstellt, dort sich und anderen am wenigsten Schaden zufügen können. Auf die bauliche Beschaffenheit der Beruhigungszelle ist höchste Sorgfalt zu verwenden. Bei allen besonderen Sicherungsmaßnahmen ist darauf zu achten, daß die von den Gefangenen ausgehende Gefährdung zu der angeordneten Maßnahme in angemessenem Verhältnis steht und sie unverzüglich aufgehoben oder gemildert wird, wenn die Gefährdung wegfällt oder sich mindert. Andere Sondermaßnahmen, die, wenn sie nicht durch die Bedürfnisse von Sicherheit und Ordnung gedeckt sind, unter Umständen Rechtsverletzungen bedeuten, können darin bestehen, daß der Gefangene nicht gemeinsam mit anderen Gefangenen, sondern allein zur täglichen Freistunde gehen muß oder daß der Gefangene nicht in einer Einzelzelle mit Zellenarbeit bleibt. In beiden Fällen ist entschieden worden, daß der Gefangene keinen Anspruch auf gemeinschaftliche Freistunden oder auf Unterbringung in einer Einzelzelle mit Zellenarbeit hat. Auch das Verlangen, einen Elektrokocher auf der Zelle benutzen zu dürfen, widerstrebt im allgemeinen der Anstaltsordnung. Ebensowenig hat ein Strafgefangener einen Rechtsanspruch auf Benutzung einer Schreibmaschine. Sondererlaubnisse dieser Art sind zulässig. Die vielen Wünsche von Strafgefangenen auf eine bestimmte ärztliche oder fachärztliche Behandlung sind als Rechtsansprüche nur durchsetzbar, wenn die vom Anstaltsarzt gewählte Behandlungsmethode unter keinem sachlichen ärztlichen Gesichtspunkt zu vertreten ist. Zu den nicht ganz seltenen Wünschen von Gefangenen, sich während der Strafzeit schriftstellerisch zu betätigen, ist entschieden worden, daß Gefangene die Erlaubnis hierzu nur als Vertrauensbeweis, also nicht als Rechtsanspruch, bei guter Führung und nur dann erhalten können, wenn diese Betätigung den Gefangenen geistig fördert. Der Vollzug der Sicherungsverwahrung kann sich aus Gründen der Ordnung und Sicherheit nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts

(NJW 1953, 577) und des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg (VAs 24/63 v. 20. 9.1963) nicht erheblich von dem Vollzug einer Freiheitsstrafe unterscheiden. Die Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet dürfte aber noch nicht abgeschlossen sein. Die vorstehend geschilderte Rechtsstellung der Gefangenen ist durch die Rechtsprechung der Strafsenate belegt. Sie konnte hier nur skizziert werden. Sie ist nicht unabänderlich, weil die Methoden der Gefangenenbehandlung allgemein oder in den einzelnen Ländern zu weiteren Erleichterungen führen können, die sich auch als Änderungen der Verwaltungsvorschriften niederschlagen und mittels der Selbstbindung der Verwaltung Reflexrechte der Gefangenen auslösen, deren Beachtung dann im Rechtsweg erzwingbar ist. S. Internationale

Empfehlungen

Nicht ohne Einfluß auf die Rechtsstellung der Strafgefangenen und Verwahrten sind noch interund supranationale Empfehlungen für die Behandlung der Gefangenen. Auf diesem Gebiet war die Zusammenarbeit der Nationen seit jeher recht eng; vor allem hatten sich seit 1872 die internationalen Strafrechts- und Gefängniskongresse und ihr Organ, die Internationale Kommission für Strafrecht und Gefängniskunde, darum bemüht, Erfahrungen auszutauschen und Grundsätze für den Strafvollzug zu erarbeiten. Die Tätigkeit dieser Institution ist sei 1950 von den Vereinten Nationen übernommen worden, deren Wirtschaftsund Sozialrat alle fünf Jahre ähnliche, auf die Basis der Vereinten Nationen ausgeweitete Kongresse für Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger veranstaltet (1955 in Genf, 1960 in London, 1965 in Stockholm). Die Bundesrepublik nimmt daran teil und fühlt sich ihren Ergebnissen als Anregungen für die innerstaatliche Behandlung der Materie weitgehend verpflichtet. Der Genfer Kongreß von 1955 hatte „Einheitliche Mindestgrundsätze für die Behandlung Gefangener" angenommen. Sie erfuhren 1957 die Billigung des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen, dem die Bundesrepublik angehört und sind seitdem auch in der Bundesrepublik Gegenstand des Studiums und der Überlegungen aller derjenigen, die für den deutschen Strafvollzug verantwortlich sind. In zwei Teilen von insgesamt 94 Paragraphen sind die Grundsätze und die praktischen Gesichtspunkte für die Behandlung der Gefangenen und die Leitung von Anstalten aufgestellt worden, die nach den herrschenden Auffassungen und den wesentlichen Elementen der derzeit angemessensten Systeme allgemein als gut anerkannt sind. Teil I der Grundsätze befaßt sich mit der allgemeinen Leitung von Anstalten und ist auf alle Arten von gerichtlich angeordneter

Strafvollzug Freiheitsentziehung anwendbar; in Teil II sind zusätzliche Vorschriften für Strafgefangene, für Geisteskranke oder geistig abnorme Gefangene, für vorläufig Festgenommene und Untersuchungsgefangene sowie schließlich für Zivilgefangene zusammengefaßt. Der innerstaatliche Wert der Mindestgrundsätze liegt in erster Linie darin, daß sie die innerstaatlichen Vollzugs- und Verwaltungsvorschriften bei Neufassungen oder Ergänzungen oder Abänderungen beeinflussen. Darüber hinaus sind sie aber auch innerhalb des Vollzugsrechts nicht wirkungslos; denn sie liefern den Gerichten, welche die Auswirkung einer Vollzugsmaßnahme auf die Rechtsstellung eines Gefangenen zu beurteilen haben, nicht selten dann Anhaltspunkte, wenn die nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften schweigen. Sie können ferner von Wichtigkeit werden, wenn das Gericht prüfen will, ob und wieweit eine innerstaatliche Verwaltungsvorschrift die Rechte eines Gefangenen über Gebühr oder unnötig einschränkt. In derselben Richtung ist ein weiterer Vorgang auf supranationaler Ebene zu bewerten. Die Konferenz der Justizminister der Länder des Europarates hat im Jahre 1961 eine Empfehlung des Europarates über das Wahlrecht und die zivilen und sozialen Rechte der Strafgefangenen, Angeschuldigten und Verurteilen angenommen. Es handelt sich dabei um Rechte, für welche die Gesichtspunkte der Sicherheit oder Ordnung in der Anstalt eine Beschränkung nur ausnahmsweise nötig machen. Für das Vollzugsrecht der Bundesrepublik bietet die Entschließung allerdings kaum etwas Neues, weil die behandelten Rechte (Wahlrecht, Eheschließung, Aufrechterhaltung oder Übernahme von Vormundschaften, Rechtsverfolgung und

-Verteidigung

in

bürgerlichen

Rechtsstreitigkeiten, Aufrechterhaltung von Sozialversicherungen während der Inhaftierung) in der Bundesrepublik in dem in der Empfehlung vorgesehenen Umfang bereits gewährleistet sind. Immerhin sind solche Resolutionen des Europarates, auch wenn sie nicht innerstaatliches Recht werden, als förderliche und in gewissem Maße moralisch verpflichtende Vorarbeiten für eine Vereinheitlichung des Strafvollzuges dieser europäischen Länder zu werten. 9. Die Trennung der Gefangenenarten

Der Strafvollzug beginnt, sobald sich das Tor der Anstalt hinter dem Verurteilten zum Strafantritt geschlossen hat; er endet, wenn es sich ihm wieder zur ordnungsmäßigen Entlassung öffnet. In dieser Zeit prägen ihn, ob er will oder nicht, Eindrücke von zum Teil sehr starker Wirkungskraft. Es ist die ernste Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, daß sie ihn während der Strafzeit nicht gesellschaftsfeindlicher werden lassen als zuvor, oder ihn gar innerlich zerbrechen. Vor allem darf

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er nicht unter den Einfluß von Mitgefangenen geraten, die ihm Lehrmeister des Verbrechens sein können. Deshalb müssen die Aufsichtsbehörden des Strafvollzuges vor allem diejenigen, die erstmals in ein Gefängnis kommen, in eine Anstalt einweisen, die nur für Erstbestrafte bestimmt ist. Es muß also getrennte Anstalten für Erstbestrafte und Vorbestrafte, das sind solche, die bereits einmal eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verbüßt haben, geben. Grenzfälle, in denen es zweifelhaft ist, ob ein Vorbestrafter noch einmal besser in eine Erstbestraftenanstalt gehört oder umgekehrt ein Erstbestrafter bereits in eine Vorbestraftenanstalt, können durch Einzelentscheidungen in Form der Herausnahme aus der betreffenden Anstalt und Überführung in eine für ihn geeignetere Anstalt berücksichtigt werden. Hier taucht die Frage auf, ob es nicht richtig sei, Ausleseanstalten einzurichten, in die alle Gefangenen mit einer bestimmten Strafhöhe — etwa von 9 Monaten aufwärts — eingewiesen werden, damit dort geprüft und entschieden werde, für welche der verschiedenen Verbüßungsanstalten sich der einzelne Gefangene am besten eignet. Solche Ausleseanstalten sind hierzulande zur Zeit im Aufbau begriffen.

10. Die Aufnahme in die Anstalt

Wenn der Verurteilte die für ihn bestimmte Anstalt betritt, muß ihm gleich zu Anfang der Eindruck eines wohlgeordneten, sauberen, humanen, aber auch eines sich gegen Störer ruhig, fest und mühelos durchsetzenden Betriebes vermittelt werden. Das ist für den sozialpädagogischen Erfolg sehr wesentlich. An die Pforte der Anstalt, in die für die Aufnahme zuständige Vollzugsgeschäftsstelle und in die sogenannte Hausvaterei, in der sich die Verurteilten zur Durchsuchung umkleiden und meistens auch ihre Zivilkleider abgeben müssen, um Anstaltskleidung anzulegen, gehört also erstklassiges Personal, dem peinlich korrekte Behandlung des stets mit „Sie" anzuredenden Strafgefangenen eine selbstverständliche Pflicht ist. Anschließend soll der Gefangene dem Anstaltsarzt vorgestellt werden, der die Zugangsuntersuchung vornimmt. Das kann nur bei denjenigen Anstalten unverzüglich geschehen, in denen ein hauptamtlicher Arzt tätig ist, was nicht einmal bei allen selbständigen Vollzugsanstalten der Fall ist. Bei den Gerichtsgefängnissen erscheint der vertraglich aus der Ärzteschaft des Ortes angenommene Arzt außer in Notfällen nur ein- bis zweimal wöchentlich. Die hauptamtlichen Ärzte sollen in der inneren Medizin, der kleinen Chirurgie, der Psychiatrie und der Psychologie erfahren sein und die amtsärztliche Prüfung abgelegt haben oder ablegen. Wenn ein Psychiater bestellt wird, soll er auch

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Strafvollzug

in der Psychotherapie ausgebildet sein, damit er eine psychotherapeutische Behandlung an Gefangenen, wenn er sie nicht selbst durchführt, wenigstens überwachen kann. Bei dem heutigen Ärztemangel und den vergleichsweise nicht üppigen Bezügen, die der Staat den Anstaltsärzten bieten kann, ist es schwierig, Ärzte zu finden, die annähernd alle diese Voraussetzungen erfüllen. Die ärztliche Aufnahmeuntersuchung des Gefangenen erstreckt sich in erster Linie auf den allerdings seltenen Fall, daß der Aufenthalt in der Anstalt eine nahe Gefahr für sein Leben besorgen lassen könnte (Vollzugsuntauglichkeit). Wenn ja, so muß die Anstalt unverzüglich die Vollstrekkungsbehörde um Unterbrechung der Vollstrekkung ersuchen und bis dahin den Verurteilten im Lazarett der Anstalt, in einem Spezialkrankenhaus für Gefangene oder in einer öffentlichen Krankenanstalt unterbringen. Die meisten Länder haben bei größeren Anstalten solche Spezialkrankenhäuser für Gefangene eingerichtet, so ζ. B. für innere Krankheiten, für chirurgische Fälle, für Lungentuberkulose, für psychiatrische Erkrankungen und für Pflegefälle. Den Ärzten liegt außer der Aufnahmeuntersuchung, bei der auch — ebenso wie bei der Entlassung und zwischendurch — das Körpergewicht des Gefangenen festgestellt wird, die gesamte ärztliche Versorgung der Gefangenen, die Überwachung der Gesundheitsverhältnisse der Anstalt, der Verpflegung, der allgemeinen und der Gewerbehygiene ob. Für zahnärztliche Versorgung wird ein Zahnarzt vertraglich angenommen. Die Anstaltsärzte sollen an der Persönlichkeitserforschung mitarbeiten und sind bei der Verhängung und dem Vollzug von Hausstrafen und besonderen Sicherungsmaßnahmen zu beteiligen. Außerdem können sie zur Beurteilung des Gesundheitszustandes von Bediensteten oder Bewerbern und zu deren Ausbildung herangezogen werden. Wenn nun der Anstaltsarzt festgestellt hat, daß der Ankömmling nach seiner körperlichen Verfassung und Geistesbeschaffenheit vollzugstauglich ist, muß er noch besonders entscheiden, ob er etwa wegen des Verdachts einer ansteckenden Krankheit von anderen Gefangenen — wenigstens zunächst ·— getrennt gehalten werden muß. Die Frage der Arbeitsfähigkeit und ihres Grades, von der die Art des Arbeitseinsatzes des Gefangenen in der Anstalt abhängig ist, hat der Arzt ebenfalls zu beurteilen. Auch bei der Wahl der Haftform hat er entscheidend mitzusprechen, weil für Gefangene, die unter Depressionen leiden oder körperlich behindert oder sonst beeinträchtigt sind, ζ. B. Epileptiker, gemeinsame Haft angezeigt sein kann. Nach alledem ist es wichtig, daß der Ankömmling möglichst bald dem Arzt vorgestellt wird, weil er vorher nur provisorisch untergebracht und zur Arbeit eingeteilt werden

kann. Die Zugangsuntersuchung wird leider nicht nach einem einheitlichen Maßstab vorgenommen. Manche Anstaltsärzte verfahren dabei mit der Gründlichkeit eines Internisten, andere nach Art eines überlasteten praktischen Arztes. Schließlich ist die Entlassungsuntersuchung noch eine wichtige Aufgabe des Anstaltsarztes. Ihr sind wenigstens die Gefangenen, die drei Monate und mehr im Vollzug waren, zu unterziehen. Im übrigen muß bei jedem zur Entlassung Kommenden festgestellt werden, ob er reise- oder beförderungsfähig ist. Es liegt gleichermaßen im Interesse des zu Entlassenden und des Anstaltsarztes, daß die Entlassungsuntersuchung sorgfältig durchgeführt und ihr Ergebnis einschließlich des Entlassungsgewichts schriftlich genau festgehalten wird. Besonders in den großen Anstalten mit erfahrener Vorbestraftenbevölkerung melden sich viele Gefangene zur Sprechstunde des Arztes. Sie wissen, daß der Arzt aus gesundheitlichen Gründen vieles gewähren oder durchsetzen kann, was die Lage des Gefangenen im Vollzug zu erleichtern geeignet ist. Die Gefangenen haben viel Zeit, sich selbst zu beobachten. Geringfügige Unpäßlichkeiten werten manche als Anzeichen einer Krankheit. Sie fordern die modernsten Heilmittel, täuschen oft Leiden oder Gebrechen vor, um über den Arzt Wünsche, ζ. B. einen Arbeitsplatzwechsel, durchzusetzen, oder melden sich nicht selten auch nur deshalb zur Sprechstunde, um bei dieser Gelegenheit andere Gefangene zu treffen, Tauschgeschäfte zu machen oder auch nur der Abwechslung halber. Es ist oft nicht leicht, wirklich Kranke von den Simulanten zu unterscheiden. Der Arzt könnte die Fülle seiner Aufgaben nicht bewältigen, wenn ihm nicht aus dem Kreis der Aufsichtsbeamten ausgebildete Sanitäter, die die Krankenpflegerprüfung abgelegt haben, in angemessener Zahl zur Verfügung ständen. Die Gefängniskrankenhäuser sind außerdem mit Spezialkräften, ζ. B. Laborantinnen, Röntgenassistentinnen, ausgestattet. Auch versteht es sich von selbst, daß die Räumlichkeiten des Lazaretts oder des Krankenhauses vorschriftsmäßig beschaffen, eingerichtet und mit den erforderlichen Instrumenten und Geräten versehen sind. Dem Anstaltsleiter soll jeder Ankömmling vorgestellt werden. Zweckmäßig geschieht das nach der Untersuchung durch den Arzt und unter Beteiligung eines Beamten des Arbeitsbetriebes, der sich zuvor bereits über das Ergebnis der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung und über den Ankömmling selbst informiert hat und demgemäß dem Anstaltsleiter Vorschläge über den Arbeitseinsatz machen kann. Das Zugangsgespräch des Anstaltsleiters ist besonders wichtig, nicht nur, damit der Anstaltsleiter den Ankömmling sieht, sondern damit der Gefangene auch den Anstaltsleiter kennenlernt. Für die Führung des Gesprächs lassen

Strafvollzug sich kaum Richtlinien aufstellen. Wie es der Anstaltsleiter eröffnet, ergibt sich erst, wenn er den Ankömmling sieht. Es darf keine Ironie aufkommen und nicht das mindeste von gezielter Behandlung erkennbar werden. Jedes Moralisieren ist von Übel. Auch empfiehlt es sich nicht, bei diesem ersten Gespräch die Straftat zu erörtern, auf keinen Fall ausführlich. Dagegen muß dem Gefangenen klar werden, daß er den Weisungen der Bediensteten sich fügen muß und sich gegenüber den Mitgefangenen Zurückhaltung auferlegen soll, vor allem, was seine häuslichen Verhältnisse betrifft, wenn er die Familie nicht in Ungelegenheiten bringen will. An dieser Stelle des Gesprächs ergibt sich meist zwanglos eine Erörterung der familiären Verhältnisse des Gefangenen. Als Wichtigstes muß der Gefangene aus dem Gespräch die Gewißheit mitnehmen, daß ihm, wenn ihm kein anderer in der Anstalt helfen kann, der Weg zu einer Aussprache mit dem Anstaltsleiter offensteht, zwar nicht derart, daß dieser, sofort, wenn es dem Gefangenen beliebt, zur Stelle ist, aber daß er ihn in Kürze und in wirklich dringenden Fällen unverzüglich sprechen kann. Im Zugangsgespräch lassen sich die beruflichen Fähigkeiten des Ankömmlings erörtern, die manchmal bereits bei der Frage des ersten Arbeitseinsatzes berücksichtigt werden können. Wenn irgend möglich, sollte der Anstaltsleiter den Arbeitseinsatz selbst bestimmen und nicht dem Arbeitsbetrieb allein überlassen, weil dieser nicht selten mehr nach der größtmöglichen Nützlichkeit des Gefangenen, weniger aber danach entscheidet, wie dieser Ankömmling am wirksamsten im Sinne des Zweckes des Strafvollzugs eingesetzt wird. In manchen Anstalten wird das Zugangsgespräch vor einem Gremium von Anstaltsbeamten unter dem Vorsitz des Anstaltsleiters (Zugangskonferenz) geführt. Das hat den Vorteil, daß alle Mitglieder den Zugang auf einmal kennenlernen, aber auch den m. E. größeren Nachteil, daß es den Ankömmling verwirrt, verschüchtert oder abweisend macht, jedenfalls eine vertrauenerweckende Atmosphäre nicht recht aufkommen läßt. Meist wird bei diesem Zugangsgespräch auch über die Haftform (Einzelhaft, Gemeinschaftshaft, Sicherheitszelle) entschieden. Dann müssen aber noch andere Anstaltsbeamte mit dem Neuankömmling ihr erstes Gespräch führen. Wo nicht besondere Zugangsabteilungen bestehen, wird der erste Aufsichtsbeamte (Aufsichtsdienstleiter) die Abteilung des Verwahrhauses und den Haftraum auswählen, wo der Zugang untergebracht wird. Das hängt in der Hauptsache von der Arbeitszuteilung ab, weil Gefangene, die mit gleichartiger Arbeit beschäftigt werden, zweckmäßig benachbart untergebracht werden. Von Bedeutung sind aber auch die Art der Straftat und die persönlichen Eigenschaften des Ankömmlings und der in demselben Haftraum oder den benachbarten

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Hafträumen befindlichen Gefangenen. Es ist sehr wichtig, daß hier kein Mißgriff geschieht. Der Aufsichtsbeamte, in dessen Abteilung der Gefangene untergebracht wird, ist ihm von allen Beamten am nächsten. Er ist verpflichtet, dem Zugang die Zelle und ihr Inventar sauber, aufgeräumt, heil und vollständig zu übergeben. Dadurch wird die Verantwortlichkeit für spätere Mängel festgelegt. Er erläutert ihm die Einrichtung des Haftraums und die in jeder Zelle befindlichen Verhaltensvorschriften. Er muß ihm den Tagesablauf und die Hausordnung erklären, ihn zur Reinigung und Sauberhaltung und zur pfleglichen Behandlung des Inventars anhalten. 11. Die Wirkung der

Haftformen

Und dann ist der Gefangene, wenn er in Einzelhaft untergebracht ist, allein in der Zelle. Er sieht die Fenstergitter, die eisenbeschlagene, verschlossene Tür, den Abort in der Zelle (heutzutage fast immer Spülklosett anstelle des früheren, hier und da heute noch vorhandenen „Leibstuhlgefäßes"), sieht an sich herunter, wie er in der seltsamen, oft geflickten Anstaltskleidung dasteht, sieht im Zellenspiegel sein Gesicht mit dem Kragen der Gefängnisjacke und dem gewürfelten Halstuch. Die Gefühle, die ihn dann beschleichen oder bestürzen, die Gedanken, die er abweist oder in die er sich verspinnt, sind so verschieden, wie die Menschen selbst mit ihren verschiedenen Temperamenten und Lebensaltern, Berufen und Bildungsgraden. Der Abschluß vom pulsierenden Leben der Außenwelt, der Zwang und die täglich gleichgestellte Uhr der Hausordnung bewirken schon einen starken, wenn auch sich im Laufe der Strafzeit durch Gewöhnung abflachenden Eindruck auf den, der erstmalig in ein solches Haus gelangt ist. Von diesem Eindruck gehen nicht nur positive, sondern auch negative Wirkungen aus. Sie können nur durch sorgfältige, die Individualität beachtende Behandlung während der Strafzeit ausgeglichen werden. Die Einzelhaft bei Tag und Nacht ist eine vorsichtig zu dosierende Haftform, weil ihre Unnatürlichkeit die meist ohnehin schwache Willenskraft vieler Gefangener sehr bald weiter herabsetzt; sie muß rechtzeitig abgebrochen werden. Nicht wenige kommen, vor allem bei Überfüllung der Anstalten, gleich in Gemeinschaftshaft. Die nicht selbst gewählte Gemeinschaft belastet den Ankömmling oft schwerer, als die Einsamkeit der Einzelhaft. Jedoch hat sich hier in den letzten Jahrzehnten ein Wandel vollzogen. Während früher die Zahl der Gefangenen, die lieber still in Einzelhaft ihre Strafe abmachen wollten, etwa die Hälfte aller Insassen ausmachte, wollen jetzt weitaus die meisten in Gemeinschaftshaft untergebracht werden; ja, sie beschweren sich sogar über eine Haftform, die nur während der Nacht- und Ruhezeit in einer

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Strafvollzug

Einzelzelle durchgeführt wird und noch als Gemeinschaftshaft gilt. Die ansteckend verderbliche Wirkung einer Tages- und Nachtgemeinschaft, die zudem von fast allen üblen Elementen gesucht wird, kann kaum überschätzt werden. Die Einzelhaft (bei Tag und Nacht) wird deswegen so schwer ertragen, weil der Mensch unserer Zeit in Europa nicht nur ein geselliges, sondern ein nervöses, unruhiges, hastiges, von Reizen überflutetes, redseliges Wesen ist, dem Stille und Ruhe mehr auf die Nerven fallen als Betrieb, Lärm, Geschwätz und Zoten. Der Zwangssituation des Gefängnisses haftet viel Unnatürliches an. Man denke nur an die Unmöglichkeit der normalen Befriedigung des Geschlechtstriebes und den Zwang, sich ständig einer Hausordnung fügen zu müssen, die fast jede selbständige Handlung ausschließt. Diese Zwangssituation teilt der Strafvollzug mehr oder minder mit manchen anderen Anstalten, wie ζ. B. Fürsorgeheime, Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, die alle unentbehrlich sind und ebenfalls soziale Wirkungen zu erzielen bestimmt sind. Bei diesem kurzen Hinweis auf die Wirkung der Haftsituation muß es hier sein Bewenden behalten. Der Betrieb jeder Zwangsanstalt bringt Erscheinungen mit sich, die schlagwortartig als Subkultur bezeichnet worden sind. So spielen ζ. B. eine für den Gefangenen wichtige Rolle die Hausreiniger, die sogenannten Kalfaktoren, Gefangene, welche die Flure sauber zu halten haben und bei der Abwicklung des täglichen Anstaltsbetriebes, ζ. B. bei der Essen- und Wäscheausgabe, ihren Abteilungsbeamten behilflich sind. Die Hausreiniger neigen dazu, sich für kleine Dienste und Gefälligkeiten von ihren Mitgefangenen Vorteile, ζ. B. Tabak, zu verschaffen. Der Gefangene, der dem Kalfaktor seiner Abteilung, wenn er solcherart korrupt ist, nicht die geforderte Abgabe entrichtet, bekommt ζ. B. schlechte Wäsche, zu kleine Socken, zu wenig Seife oder wird sonstwie manchmal üblen Schikanen ausgesetzt. Gute Abteilungsbeamte merken das und stellen es ab, bequeme überlassen ihre eigenen Aufgaben zum oft großen Nachteil von Ordnung und Sicherheit dem Hausreiniger. Ihrer Auswahl kommt deshalb große Bedeutung zu; außerdem sollten sie von ihrem mit einer niedrigen Arbeitsbelohnung ausgestatteten und deshalb zu derartigen üblen Nebenverdiensten besonders anreizenden Posten nach wenigen Monaten abgelöst werden. Leider können sie nicht ganz entbehrt werden, obwohl die Abschaffung des Kübelsystems sie etwa zur Hälfte überflüssig macht. Ähnlich verhalten sich Gefangene, die als Vorarbeiter, vor allem bei Zellenarbeiten, zur Anlernung von Neuangekommenen und zur Abnahme der geleisteten Arbeiten verwendet werden. Es besteht oft die Gepflogenheit, sie zum Anlernen in die Zelle des Neuen miteinzuschließen. Sie mißbrauchen diese Gelegen-

heit nicht selten, um die Neuen auszuhorchen, sie mit den Usancen des Gefängnisdaseins (Knast genannt) bekannt und sie bereit zu machen, auch ihnen, da sie zumeist bei der Beurteilung der Qualität und Quantität der geleisteten Arbeit mitzuwirken haben, demnächst eine Abgabe zu entrichten; auch sexuelle Anbiederungen sollen dabei gelegentlich vorkommen, sind allerdings fast nie nachweisbar. So gerät der Ankömmling in eine Atmosphäre voll heimlicher Verstöße gegen die Hausordnung, in einen Zwiespalt zwischen ihr und einer seltsamen, erpresserischen Art von Kameradschaft mit Mitgefangenen hinein, die ihm ihre Erfahrungen über den Anstaltsbetrieb, ihre Bewertung der Bediensteten, ihre Art, sich das Gefängnisdasein möglichst wenig unangenehm zu gestalten, zuflüstern. Von manchen Mitgefangenen strahlt Haß, Verachtung und Hohn gegen Gesellschaft, Staat und Religion aus; andere vibrieren in Worten und Taten von ungestillter Sexualität; noch andere verharren maskenhaft verschlossen in Melancholie und Depressionen oder sind graue, vom Leben ausgebrannte Krater der Gefühle. Wieder andere, höchst aktive und entsprechend seltene Naturen sind unerschöpflich im Ersinnen von Möglichkeiten, auszubrechen, und voll unglaublicher Beharrlichkeit in der Durchführung ihrer meistens zum Scheitern verurteilten Pläne. Weitaus zahlreicher als diese letzten, sind diejenigen, die durch unaufhörliches Querulieren, Petitionieren, durch Strafanzeigen, Verleumdungen und ähnliches den Anstaltsbeamten das Leben schwer zu machen versuchen. Die Mehrzahl der Gefangenen fügt sich dem äußeren Anschein nach ruhig und willig der Hausordnung, ordnet sich den Beamten ohne offenen Widerspruch unter in dem Wissen, so am gelindesten über die Strafzeit hinwegzukommen; und das alles nicht einmal immer aus Berechnung, sondern weil es ihrer Bequemlichkeit entspricht, den Weg der geringsten Anstrengung zu gehen, wie sie auch in der Freiheit in der Hauptsache aus Schwäche der Gelegenheit oder der Versuchung zur Straftat anheimfallen. Daneben aber gibt es auch Gefangene, die sich dieser seltsamen, bedrückenden Umgebung zwar beugen, aber nicht von ihr formen lassen, die klar und gefaßt ihre Strafzeit abmachen und sich der Beeinflussung durch ihre Mitgefangenen entziehen. Die Sache liegt wesentlich anders, wenn es sich nicht um einen Neuling, sondern um einen Repetenten handelt. Ihm ist das alles nicht mehr fremd; er vergleicht das Regime der derzeitigen mit dem einer früheren Verbüßungsanstalt, stellt nüchtern fest, was hier angenehmer oder unangenehmer ist als dort. Solche Gefangene können zur „Kundschaft" werden. Sicherlich gibt es auch unter den „Kunden" Ausnahmen, die jedesmal den seelischen Stoß der Einlieferung in das

Strafvollzug Gefängnis von neuem erleiden; aber ihre große Mehrzahl ist durch wiederholte Strafverbüßung abgehärtet und kaum noch zu beeindrucken. 12. Arbeit und Freizeit Die verordnete regelmäßige Arbeit dient dazu, alle arbeitsfähigen Gefangenen gesund und fern von Müßiggang zu halten, die ungeordneten Gefangenen wieder an geregelte, gleichmäßige, konzentrierte Arbeit zu gewöhnen und die arbeitsamen Gefangenen aus- oder fortzubilden. Die Vollzugsbehörden rücken verständlicherweise diese sozialen Gesichtspunkte in den Vordergrund. Es ist aber die Gesamtheit der mit der Gefangenenarbeit verfolgten Zwecke, die das Arbeitsverhältnis zwischen dem Staat und den Gefangenen aus der privatrechtlichen in die öffentlichkeitsrechtliche Sphäre verlagert. Staat und Gefangener stehen sich nicht als gleichberechtigte Kontrahenten gegenüber, sondern sind in einem Zwangsarbeitsverhältnis über- bzw. untergeordnet. So ist die derzeitige (1969) Rechtslage. Ohne Zweifel muß die Arbeitsvergütung der Gefangenen künftig zeitgemäß aufgebessert werden. Es ist eine von der Anstalt zu lehrende und von den Gefangenen, besonders von den arbeitsscheuen, zu lernende Aufgabe, daß sie leisten, was sie nach Fähigkeit und Körperkraft bei Fleiß und Sorgfalt schaffen können. Produktive Arbeit in dem scharfen, gleichmäßigem Arbeitstempo der heutigen industriellen Fertigungen in entsprechend neuzeitlich eingerichteten und den Anforderungen des Unfallschutzes entsprechenden Arbeitsstätten und die Notwendigkeit, am Fließband oder in einer Arbeitsgruppe bestimmte festgelegte Leistungen zu erbringen, fordern neben einer sauberen und einwandfreien Arbeitsleistung Willenanstrengung und Rücksichtnahme auf die übrigen Teilnehmer des Fließbandes oder der Akkordgruppe. Es ist deshalb auch im Prinzip richtig, daß die Arbeitszeit der Gefangenen die Arbeitszeit freier Arbeiter nicht wesentlich unterschreitet; sie muß auch noch in ein Verhältnis zu der Arbeitszeit der Bediensteten gebracht werden. Im Tagesablauf des Gefängnisbetriebes ist aber noch vieles zu erledigen, was den Bestrebungen der Verwaltung, die reguläre Arbeitszeit der Gefangenen einzuhalten, hinderlich ist. Da ist ζ. B. die den in den Betrieben und in Zellen arbeitenden Gefangenen vorgeschriebene tägliche Bewegung im Freien auf den Gefängnishöfen. Sie soll möglichst eine Stunde, mindestens eine halbe Stunde täglich dauern. Das Minimum der halben Stunde ist vielerorts die Regel geworden, und zwar hauptsächlich aus Gründen des Arbeitsbetriebes, ein Mißstand, der möglichst bald beseitigt werden sollte, zumal die internationalen Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen (Nr. 21) eine Stunde Bewegung im Freien

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vorschreiben. Wenn der Gefangene, wie man es im Durchschnitt bei größeren Anstalten bemerken kann, an fünf Werktagen täglich von 7.30—12.00 und von 13.30—17.00 Uhr arbeitet und innerhalb dieser Zeit eine Stunde Bewegung im Freien hat, so arbeitet er nur 35 Stunden in der Woche. Der Aufenthalt im Freien sollte deshalb möglichst vor oder nach der Arbeitszeit gewährt werden. Die Freizeit dauert abends von etwa 18—21 Uhr, ferner den größten Teil des Sonnabends und den ganzen Sonntag. Diese Zeit steht zunächst für den Unterricht, der nur ausnahmsweise in der Arbeitszeit, dann aber auf diese anrechenbar stattfindet, zur Verfügung. Ihn erteilen in den größeren Anstalten eine oder mehrere an der Anstalt angestellte Lehrkräfte oder stundenweise beschäftigte auswärtige Lehrkräfte möglichst in Formen, wie sie die Erwachsenenbildung vorsieht. Auch Fernkurse werden zugelassen. Oft muß auch an Gefangene Unterricht in den Elementarfächern erteilt werden. Die Anstaltswirklichkeit entspricht wegen des Lehrermangels diesen Vorstellungen über die Wirksamkeit der Bildungsmöglichkeiten keineswegs immer. Da die Strafvollzugsbehörden weder in der Mittel- noch in der Ministerialinstanz über Fachkräfte verfügen, welche die Arbeit der Anstaltslehrer fachlich steuern und überwachen können, da ferner die Strafanstaltslehrer der allgemeinen Schulaufsicht durch den Schulrat in den meisten Ländern nicht mehr unterliegen, ist es mehr oder weniger dem pflichtbewußten Ermessen der einzelnen Lehrer überlassen, welche der vielen Gefangenen sie in ihrer Klasse unterrichten, worüber sie Unterricht geben und wie sie ihn gestalten. Die ständige Fluktuation der Insassen einer Anstalt und damit der ständige Wechsel der Mitglieder der Unterrichtsklassen erschweren die Aufstellung und die Innehaltung eines Lehrplans außerordentlich. Ein eindringlicher Unterricht ist, obwohl auch er durch Zu- und Abgänge beeinträchtigt wird, nur bei Gefangenen mit längerer Verweildauer möglich. Zur Aufgabe der Lehrer gehört die Verwaltung der Gefangenenbücherei, die Vorbereitung der Beschaffung neuer, der Aussonderung alter Bücher und vor allem die Ausgabe der Bücher an die Gefangenen. In vielen Anstalten werden große Teile dieses Aufgabengebietes einem Gefangenen überlassen. Das kann ausnahmsweise richtig sein, wenn gerade ein zuverlässiger, ordentlicher Gefangener mit langer Strafe und höherem Bildungsgrad einsitzt und der Gesichtspunkt, diesen Mann angemessen zu beschäftigen, eine Rolle spielt. Keinesfalls sollte ihm aber die gezielte Auswahl der Lektüre für den einzelnen Gefangenen anvertraut werden. Aber von solcher Art der erzieherischen Beeinflussung ist im Erwachsenenvollzug hierzulande als Aufgabe der Lehrkräfte kaum die Rede. Weder verfügt der für die Bücherei zuständige Lehrer über hinreichende Kenntnis der

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charakterlichen, intellektuellen und sozialen Situation der einzelnen Gefangenen, noch ist er zeitlich in der Lage, für Hunderte von Gefangenen wöchentlich das jeweils für den einzelnen am besten geeignete Schrifttum zu bestimmen. Die Lehrkräfte sind auch zuständig für die Auswahl der Rundfunkdarbietungen und Fernsehsendungen; sie arrangieren Filmvorführungen, Anstaltskonzerte und sonstige Darbietungen. Außerhalb der Arbeitszeit, also in den Abendstunden, den werktäglichen Mittagspausen und am Wochenende sollen Vormeldungen der Gefangenen zu Verwaltungsstellen der Anstalt, Rücksprachen und sonstige Tätigkeiten, wie Baden, Wäsche- und Büchertausch und ähnliches vor sich gehen. Seelsorger, Lehrkräfte, Fürsorger und Verwaltungskräfte sind zur Betreuung der Gefangenen und Abhaltung von Besprechungen und Besuchen in der Hauptsache auf diese Zeit verwiesen. Sie sind also weithin Freizeitkräfte, ein Umstand, der es ebenfalls erschwert, solche Erziehungskräfte für den Strafvollzugsdienst zu gewinnen. Es gibt zwar in einigen Ländern Vorschriften, die es den für die Ausfüllung der Freizeit verantwortlichen Kräften zur Pflicht machen, ihre Arbeit auf die Abendstunden und das Wochenende zu konzentrieren. Es ist aber etwas illusionär, zu glauben, daß unter den obwaltenden Umständen in den Erwachsenenanstalten diesen Vorschriften in vollem Umfang genügt werde. Solange der Aufsichtsdienst in den Abendstunden und zu den Wochenendzeiten schwächer besetzt wird, verbieten sich die Bewegungen einer größeren Anzahl von Gefangenen zu gemeinsamen oder Gruppenveranstaltungen wenigstens in Anstalten mit nicht ungefährlicher Belegung. Ein Strafvollzug, der neben einer angemessenen Arbeitszeit der Gefangenen auch eine wirksame Ausnutzung der Freizeit erreichen will, erfordert neben den Freizeiterziehungskräften auch zusätzliche Aufsichtskräfte. Die Vollzugsverwaltungen der Länder der Bundesrepublik nehmen jährlich etwa 80 Millionen DM aus der Gefangenenarbeit ein. Sie sind also auch aus fiskalischen Erwägungen darauf bedacht, daß die Gefangenen tüchtig und ausreichend lange arbeiten, damit dieses Ergebnis nicht geschmälert wird. Sie müßten aber ebenso lebhaft daran interessiert sein, die Freizeit der Gefangenen vernünftig auszufüllen. Denn in der Freizeit ist der Gefangene sich selbst überlassen, wenn sie nicht durch Veranstaltungen, welche Werte vermitteln, zu einem größeren Teil ausgefüllt wird. Den restlichen Teil benötigt der Gefangene für sich selbst. Nur Langeweile sollte vermieden werden, denn sie ist alles andere als ein fördernder Faktor. Die Gefangenen werden also angehalten, sich der einen oder anderen Freizeitgruppe anzuschließen. Die Leitung dieser Gruppen sollte nur ausnahmsweise einem Gefangenen völlig überlassen werden. Jedoch gibt

es zwischen der alleinigen Leitung der Gruppe durch einen Erziehungsbeamten und der durch einen Gefangenen auch Abstufungen, die dem Erziehungsbeamten eine mehr oder weniger lockere Oberleitung, seinem Assistenten, einem geeigneten Gefangenen, aber eine entsprechende Unterleitung gestatten. Die inzwischen reichlich zugelassenen Zeitungen und Zeitschriften sowie der Radio-Empfang mittels eigenen Transistors haben das Interesse der Gefangenen an sonstiger Ausfüllung der Freizeit zurückgedrängt. Die Frage, wie man die in der Freizeit abzuwickelnden Tätigkeiten mit der Arbeitszeit der Gefangenen im täglichen Ablauf des Anstaltsbetriebes einigermaßen in Einklang bringen kann, ist — abgesehen von Jugendstrafanstalten — bei solchen Anstalten für Erstbestrafte besonders bedeutungsvoll, in denen ein planmäßiger, auf die Einzelperson abgestellter Strafvollzug mit dem Ziel der möglichst reibungslosen Wiedereingliederung betrieben wird. Hier vor allem muß es durch verstärktes Erziehungs- und Aufsichtspersonal möglich gemacht werden, daß nach der regulären Arbeitszeit Freizeittätigkeiten mannigfacher Art in nicht zu großen Gruppen nicht nur spielerisch, sondern eindringlich abgehalten werden können. Es ist eine deutsche Eigenart, daß hier fast ausschließlich geistige, nur wenig musische Beschädigungen und so gut wie überhaupt keine Leibesübungen durchgeführt werden. Es gibt kaum eine deutsche Erwachsenenanstalt, die über einen ordnungsmäßigen Sportplatz, geschweige denn eine Turnhalle und ein Schwimmbad verfügt. Dabei haben die auf engem Raum eingesperrten Gefangenen solche Möglichkeiten weit nötiger als der freie Bürger. Die Schulung der Körperkräfte und die zunehmende körperliche Gewandtheit und Leistungsfähigkeit, die von solchen planmäßig unter sachkundiger Leitung stattfindenden Leibesübungen (die keineswegs nur Spiele sein dürfen) ausgehen, heben das Selbstbewußtsein und stärken durch Leistungsstreben den Willen, der sich durch erreichte Leistungen belohnt sieht. Die Willensschulung ist aber bei dem ganzen Strafvollzug das Wichtigste. Wie weit es bereits jetzt sinnvoll ist, in Vorbestraften- oder gar Sicherungsanstalten solche auf die Einzelperson abgestellten Freizeitbeschäftigungen unter Einsatz sachkundiger Lehr- und Erziehungskräfte durchzuführen, kann recht zweifelhaft sein. Der deutsche Strafvollzug muß bedenken, daß er kaum die personellen und materiellen Kräfte hat, um bei den Erstbestraftenanstalten ein solches Vorhaben wirksam durchzuführen. Es wäre ein Fehler, die knappen Erziehungskräfte noch dadurch zu schwächen, daß man die Erstbestraftenanstalten mit ihnen zu knapp ausstattet, um die Vorbestraftenanstalten ebenfalls unzureichend mit ihnen zu versehen. Solange der Mangel besteht, haben die Erstbestraftenanstalten

Strafvollzug bei der Ausstattung mit Erziehungskräften unbedingten Vorrang, um dort den Anfängen der Kriminalität, soweit wie möglich, zu wehren, selbst wenn die Vorbestraften wegen ihrer durchschnittlich längeren Verweildauer oft attraktivere Arbeitskräfte für die Betriebe sind. Das Problem der Freizeitbeschäftigung wird brennender, wenn die Verwaltung nicht genug Arbeit für die Gefangenen beschaffen kann. In Zeiten der Vollbeschäftigung vergessen wir zu leicht die großen Schwierigkeiten, die sofort entstehen, wenn eine nur mäßige Arbeitslosigkeit, geschweige denn, wenn Massenarbeitslosigkeit eine Nation befällt. Dann nämlich sind die Gefangenen die ersten, denen Arbeit fehlt, und die letzten, für die wieder Arbeit da ist. Zwar ist es Aufgabe des Staates, Arbeit für die Gefangenen zu beschaffen, sinnvolle und nützliche sogar. Der Eigenbedarf der Anstalten in Haus-, Garten-, Landwirtschaftsund Bauwesen darf durch Gefangenenarbeit gedeckt werden. Wohlfahrtseinrichtungen und Behörden dürfen Gefangene, vor allem für gemeinnützige Arbeiten im öffentlichen Interesse, ζ. B. bei Katastrophen, bei forst- und wasserwirtschaftlichen Arbeiten, Straßenbau und Ödlanderschließung einsetzen. Was aber auf diese Weise an Arbeit anfallen könnte, reicht nicht entfernt aus, um etwa 50 000 Gefangene zu beschäftigen. Nur solange der Privatunternehmer Zugang zur Gefangenenarbeit hat — und den behält er hierzulande praktisch nur solange, wie seine freien Arbeiter nicht arbeitslos werden — kann mit ausreichender Beschäftigung der Gefangenen gerechnet werden. Nur solange haben auch die Unternehmer, die Gefangene beschäftigen, nicht zu befürchten, daß ihre Wirtschaftsverbände ihnen wegen der Beschäftigung von Gefangenen Schwierigkeiten machen. Bei einer auch nur mäßigen Arbeitslosigkeit wird sich das Problem (wie z. Zt. in einigen von Arbeitslosigkeit heimgesuchten ausländischen Staaten) auch hier bemerkbar machen, und zwar mehr als früher, weil der ziemlich hohe Nutzen, den jetzt die Unternehmerbetriebe abwerfen, dazu geführt hat, die in Deutschland ohnehin bescheidenen staatlichen, meist wenig zeitgemäßen Gefangenenarbeitsbetriebe wegen ihrer verhältnismäßig geringen Erträge zu vermindern. Die in einigen ausländischen Staaten verwirklichte Erkenntnis, daß den Gefängnissen für ihre Regiebetriebe in ausreichendem Maß staatliche Aufträge ohne Rücksicht auf die Arbeitsmarktlage zufließen müssen, wird sich bei uns wohl kaum durchsetzen lassen; die Rücksicht auf die freie Wirtschaft beschränkt sich dann nicht nur auf die Vermeidung eines Wettbewerbs mittels billiger Gefangenenarbeit, sondern wird der Forderung Geltung zu verschaffen suchen, daß jeder Marktanteil, der von der freien Wirtschaft bewältigt werden kann, ihr auch verbleibt. Darin werden sich bei der heutigen 19 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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Gesellschaftsform in der Bundesrepublik Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände einig sein. Es gibt im Ausland Formen, dieses Problem zu bewältigen. Entweder wird ζ. B. der Staat verpflichtet, jeden Auftrag zunächst der Gefängnisverwaltung anzubieten und erst, wenn diese ablehnt, der freien Wirtschaft. Oder ein anderes Beispiel: Die Arbeitsbetriebe der Vollzugsanstalten werden als volkseigene Betriebe in die staatliche Planwirtschaft eingegliedert. Nur wenn ausreichende Arbeitsaufträge auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten (mit ihrer meist erhöhten Kriminalität) gesichert sind, können die für den Strafvollzug Verantwortlichen daran gehen, Arbeitsbetriebe einzurichten, die wie moderne industrielle Betriebe ausgestattet sind und die darin Tätigen nach der Entlassung für entsprechende Betriebe der freien Wirtschaft attraktiv erscheinen lassen. Die Gefangenen leisten ihre Arbeit in Tagewerken oder in bestimmten Arbeitsmaßen. Wer schuldhaft nicht arbeitet, muß sich Haftkosten in Rechnung stellen lassen und setzt sich überdies Hausstrafen aus. Die Gefangenen haben keinen Anspruch auf Lohn, sondern bekommen ohne Rechtsanspruch eine mäßige Arbeitsbelohnung, die um 1 DM pro Arbeitstag oder Arbeitsmaß schwankt. Wenn sie besonders gute Arbeit verrichten oder ihr Soll übererfüllen, erhalten sie eine zusätzliche Leistungsbelohnung. Im Durchschnitt wird ein einigermaßen fleißiger Gefangener z. Zt. (1969) 40 DM pro Monat verdienen. Dieser Betrag wird zur Hälfte auf Hausgeld- und Rücklagekonto gutgeschrieben. Bei Sicherungsverwahrten ist das Verhältnis zwei Drittel und ein Drittel. Bei Strafarrestanten ist der ganze Arbeitsverdienst als Hausgeld benutzbar. Über das Hausgeld kann der Gefangene zum Ankauf von Zusatznahrungs- und Genußmitteln oder zur Unterstützung Angehöriger verfügen; die Rücklage erhält er grundsätzlich erst bei der Entlassung zur Überbrückung finanzieller Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung. Ausnahmsweise kann er über sie auch schon früher mit besonderer Genehmigung verfügen, aber nur so, daß immer noch genügend Entlassungsgeld übrig bleibt. Auf internationaler Ebene (vgl. Londoner Kongreß von 1960) und auch in der Bundesrepublik (vgl. stellvertretend für andere Befürworter § 39 des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuchs von 1966) gibt es Bestrebungen, den Gefangenen annähernd den Tariflohn freier Arbeiter zu gewähren. Dafür soll ihnen aber ein angemessener Pauschalsatz für Unterbringung, Verpflegung, Steuern, Sozialversicherung abgezogen werden. Pfändungen für Schadensersatzansprüche Verletzter und für Familiensozialhilfe könnten nicht ausgeschlossen werden. In letzter Konsequenz müßte bei einer solchen Regelung ein Gefangener, dem keine Arbeit zugewiesen werden kann, Arbeitslosenunterstützung bekommen. Bisher

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haben sich die Vollzugsverwaltungen der Länder noch nicht entschließen können, von dem Prinzip der Arbeitsbelohnung zu dem des Arbeitslohnes überzugehen. Es ist durchaus zweifelhaft, ob bei dem letzten der Gefangene während seiner Strafzeit für seine persönlichen Zwecke mehr ausgeben kann, als bei dem der Arbeitsbelohnung. Die Vollzugsordnung sieht als Vergünstigung auch vor, daß ein Gefängnisgefangener sich selbst beschäftigt, eine Möglichkeit, die praktisch ziemlich bedeutungslos ist, weil sie damit verbunden wird, daß der Gefangene die Staatskasse für den Ausfall seiner Arbeitskraft — jeweils einen Monat im voraus — entschädigt. Ferner muß noch die Sonderform der Außenarbeit, d. h. die Arbeit außerhalb des befriedeten Bereichs der Anstalt, erwähnt werden, für die der Anstaltsleiter nichtfluchtverdächtige und auch sonst nicht gefährliche Gefangene — nur mit ihrem Einverständnis — auswählen darf, soweit von ihnen ein Mißbrauch der zwangsläufig mit der Außenarbeit verbundenen Lockerung der Aufsicht nicht zu befürchten ist. Schließlich findet man — anscheinend vom Jugendstraf Vollzug beeinflußt — auch im Erwachsenenvollzug hier und da den sogenannten Freigang, eine Maßnahme, die der Freiheit stark angenähert ist. Die davon begünstigten Gefangenen heißen Freigänger und, wenn sie auch davon befreit sind, Anstaltskleidung zu tragen, Zivilfreigänger. (Man darf sie nicht verwechseln mit den Vertrauensgefangenen (trusted prisoners), die innerhalb der Umwehrungsmauer der Anstalt von der Vorschrift der Platzgebundenheit befreit sind und zuweilen ebenfalls — fälschlich — als Freigänger bezeichnet werden). Der Freigänger geht morgens zu seiner Arbeits- oder Lehrstelle in der Umgebung der Anstalt und kehrt nach Arbeitsschluß abends wieder in die Anstalt zurück. Diese Form eines freiheitlichen Vollzuges ist an die Voraussetzung geknüpft, daß der zum Freigang Ausersehene nach seiner Persönlichkeit und seinem bisherigen Verhalten für eine solche Maßnahme geeignet erscheint; an Gefangene, die wegen SittlichkeitsVerbrechens bestraft sind, soll ein besonders strenger Maßstab angelegt werden. Das Wagnis des Freigangs muß in angemessenem Verhältnis zu dem bei einem Versagen zu besorgenden Schaden Dritter stehen. 13. Besuchs-

und Brief verkehr

Eine nicht geringe Gefahr für die Eingliederung nach der Entlassung geht von der Entfremdung aus, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden sein kann. Gerade bei den Erstbestraften kommt nur ein Teil der Gefangenen aus einer sozial bedenklichen, asozialen oder gar antisozialen Umgebung. Bei den mehrfach Vorbestraften wird diese Minderheit zur Mehrheit. Durch die Ab-

sperrung von einer sozial intakten Umwelt kann eine Entfremdung in den Beziehungen zu Angehörigen und Freunden entstehen und dadurch wertvolle Bindungen verlorengehen, die neuen Halt oder eine Zuflucht nach der Strafverbüßung bieten könnten. Das Gefühl der Vereinsamung und der Verlassenheit nimmt von dem Gefangenen Besitz, der nicht besucht wird, dessen Briefe von draußen immer seltener und schließlich gar nicht mehr beantwortet werden. Es ist also wichtig, daß Besuchs- und Briefverkehi stattfindet. Dem wird nicht so sehr dadurch Rechnung getragen, daß dem Gefangenen gestattet wird, unbeschränkt Briefe zu schreiben. Wichtig ist es, daß er auch Antwort bekommt und besucht wird. Deshalb ist es eine wesentliche Aufgabe der Seelsorger und Fürsorger, dafür zu sorgen, daß erwünschte Kontakte mit der Außenwelt, vor allem mit Angehörigen, auch von den letzteren gepflegt werden. In besonders wichtigen Fällen sollte sich der Anstaltsleiter die Pflege und Überwachung des Briefund Besuchsverkehrs selbst vorbehalten. Oft wird es auch angezeigt sein, die Besuche durch den Geistlichen oder einen Anstaltsfürsorger abzuhalten. Es entspricht guter Tradition, dem Geistlichen bei den Gefangenen seines Bekenntnisses, bei denen er es für angezeigt hält, von dem Briefwechsel Kenntnis zu geben, ihn aber nicht als Überwachungsbeamten fungieren zu lassen, weil das Seelsorgeamt sich nicht mit der Funktion eines Zensors verträgt. Der Besuchs- und Briefverkehr soll, was allerdings viel zu wenig beachtet wird, in erster Linie überwacht werden, um Ansatzpunkte für die Beurteilung und Behandlung des Gefangenen zu gewinnen. Das setzt entsprechende Schulung der Überwachungsbeamten voraus, damit sie bei der Gesprächs- oder Briefkontrolle Bedeutungsvolles von Nebensächlichkeiten unterscheiden lernen und wichtige Wahrnehmungen dem Anstaltsleiter persönlich mitteilen. Die Überwachung ist allerdings auch dazu da, Störungen des Ziels des Strafvollzugs, sowie der Ordnung und Sicherheit der Anstalt oder der öffentlichen Ordnung zu verhüten. Briefe, die diese Gefahr heraufbeschwören, dürfen angehalten werden; ja, es kann sogar der Briefverkehr unterbunden werden, wenn davon ein schädlicher Einfluß auf den Gefangenen zu befürchten ist. Ein Mißbrauch des Besuchsverkehrs führt zum Abbruch des Besuchs. Neuerdings ist eine Tendenz festzustellen, den Briefverkehr nicht mehr zu überwachen. Man möchte die Intimsphäre des Gefangenen so wenig wie nötig stören. Mindestens teilweise hängt diese Tendenz aber damit zusammen, daß die Beschränkung der Zahl der Briefe (mit dem Richtsatz: alle zwei Wochen ein Brief) als eine übertriebene Rechtsbeschränkung gilt und überwiegend nicht mehr praktiziert wird. Dadurch schwillt die Zahl der Briefe erheblich an, besonders in den Ländern, die

Strafvollzug das Porto aus der Staatskasse bezahlen. Die weitere Folge ist, daß das Lesen dieser vielen Briefe, wenn es sorgfältig und immer im Blick auf den betreffenden Gefangenen und seine Umweltverhältnisse geschieht, ermüdend und anstrengend ist. Die meisten Briefe sind zudem, namentlich wenn sie in rascher Folge geschrieben werden, gleichförmig, inhaltlos und langweilig. So kommt es dahin, daß sie routinemäßig und oberflächlich gelesen werden. Damit verfehlt die Überwachung ihren Zweck. Wenn aber der Überwachungsbeamte seine Aufgabe ernst nehmen kann und wirklich in den Briefwechselbeziehungen des Gefangenen mitlebt, ist er in der Lage, manches nützliche Gespräch mit dem Gefangenen zu führen, das an den Inhalt des Briefwechsels anknüpft. Vom Resozialisierungsbestreben her gesehen, ist daher eine sorgfältige Überwachung des Briefverkehrs und auch des Besuchsverkehrs geradezu eine Notwendigkeit, der das Personal bei einem übertriebenen Briefverkehr nicht gerecht werden kann. Der Besuchsverkehr eines Gefangenen mit einem Rechtsanwalt, der — ohne sein Verteidiger zu sein — in einer Rechtssache für ihn tätig ist, wird in der Regel nicht überwacht. Der Briefund Besuchsverkehr mit dem Verteidiger unterliegt keiner irgendwie gearteten Überwachung; die Post muß als Verteidigerpost gekennzeichnet sein.

14. Seel- und Fürsorge (Entlassung) Die Vollzugsverwaltungen in der Bundesrepublik sind gehalten, eine regelmäßige Seelsorge an den Gefangenen (-»· Strafvollzug/Seelsorge) zu ermöglichen. Das geschieht durch hauptamtliche oder vertraglich verpflichtete Geistliche des evangelischen und katholischen Bekenntnisses; nur in ganz kleinen Gerichtsgefängnissen beschränkt sich die Seelsorge darauf, daß von Fall zu Fall auf Wunsch eines Gefangenen der zuständige Ortsgeistliche herbeigerufen wird. Der Gefangene hat das Recht, den Zuspruch des bestellten Geistlichen seines Bekenntnisses zu empfangen und an gottesdienstlichen oder sonstigen religiösen Veranstaltungen teilzunehmen, solange er diese nicht stört. Im Benehmen mit den bestellten Geistlichen können auch andere Geistliche, ζ. B. Prediger von Freikirchen oder öffentlichrechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften, Rabbiner, zur Einzelseelsorge an Mitgliedern ihrer Gemeinschaft zugelassen werden. Andere religiöse Gemeinschaften können inhaftierte Mitglieder nur im Rahmen des normalen Besuchsverkehrs, also grundsätzlich unter Überwachung, besuchen lassen. Nicht in allen Ländern in der Bundesrepublik werden an den Vollzugsanstalten in annähernd gleicher Zahl hauptamtliche Fürsorger beschäftigt. Ein Maximum an Fürsorgern gibt es in den 19«

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hessischen Anstalten. Dabei geht es nicht allein um Stellen für Fürsorger, sondern auch um geeignete Kräfte für diese Stellen. Von der Arbeit des Fürsorgers können heilende Wirkungen auf die sozialen Nöte des Gefangenen ausgehen. Es ist sehr verschieden, wie sich eine Freiheitsstrafe auf die soziale Stellung des Strafentlassenen auswirkt. Ein Landwirt ζ. B. und manche Angehörigen anderer selbständiger Berufe kehren nach verbüßter Strafe auf den Hof, in das Geschäft, in die Praxis, die inzwischen vernachlässigt sein mögen, zurück und beginnen von neuem ihre Arbeit. Der unselbständige Arbeitnehmer hingegen hat oft seine Stellung verloren; am schwierigsten ist es bei höheren Angestellten oder Bediensteten der öffentlichen Hand: Was ihnen die Freiheitsstrafe an zusätzlichen Belastungen nach der Verbttßung einträgt, kann kaum überschätzt werden. Dem Anstaltsfürsorger macht es meist keine unüberwindlichen Schwierigkeiten, das Hab und Gut eines dieser Hilfe bedürftigen Gefangenen aus möblierten Zimmern, Pfandhäusern und Gepäckabfertigungen einzulösen und herauszuholen. Schwerer ist es schon, abhandengekommene Papiere, Ausweise, Beitragskarten zurückzuschaffen oder zu ersetzen, ferner Beziehungen zu einwandfreien Angehörigen oder zu Heimen zu knüpfen, damit sie den Entlassenen aufnehmen, so daß er wenigstens ein Dach über dem Kopf und eine Schlafstelle hat oder berufliche Umschulungskurse, die mit tatkräftiger Unterstützung der Arbeitsämter in gewissem Umfang möglich sind, zu organisieren. Es liegt nahe, daß die Fürsorge in materiellen Dingen, wozu auch die Hilfeleistung dafür zu rechnen ist, daß die Familien des Gefangenen die Leistungen erhalten, die ihnen nach dem Sozialhilferecht zustehen (Sozialhilfe, Krankenschutz und gewisse Beihilfen aus besonderen Anlässen), ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Gefangenen und dem Fürsorger schaffen kann. Das hat zur Folge, daß der Fürsorger von dem Gefangenen auch auf andere Dinge, wie ζ. B. ein Scheidungsbegehren des Ehegatten, auf Unterhaltsforderungen, auf Ausgleich mit erzürnten Eltern, auf berufserzieherische Maßnahmen während der Strafzeit und dgl. angesprochen wird, alles Dinge, die sich mit den Aufgabengebieten anderer Anstaltsbeamter, des Anstaltsleiters, des Seelsorgers, des Lehrers und des Arbeitsbetriebes berühren. Von da her kann es zu einer Ausweitung des Arbeitsgebietes des Fürsorgers und zu Eingriffen in die Kompetenz eher zuständiger Beamter kommen. Umgekehrt besteht auch die Besorgnis, daß dem Fürsorger Aufgaben angelastet werden, die nicht ohne weiteres in sein Berufsbild passen. Um der guten kollegialen Zusammenarbeit willen müssen solche Grenzfälle in der Konferenz besprochen und dort die Zuständigkeiten abgeklärt und notfalls vom Anstaltsleiter entschieden werden.

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Strafvollzug

Die schwierigste fürsorgerische Aufgabe bleibt aber die Beschaffung eines Arbeitsplatzes und einer geeigneten Unterkunft für den Entlassenen. Sie setzt voraus, daß der Gefangene den festen Willen hat, sich selbst zu einem geordneten Leben zu helfen. An der Verwirklichung dieser Absicht scheitern nicht wenige Entlassene. Daher kommt es, daß sich solche Entlassenen, abgestoßen durch die ablehnende Haltung der Gesellschaft, wieder der Begehung neuer Straftaten zuwenden in der Gewißheit, sich schlimmstenfalls in die sorgenlose Geborgenheit des Gefängnisses zurückfallen lassen zu können. Dem gilt es vorzubeugen. Hier ist die Zusammenarbeit des Anstaltsfürsorgers mit einem etwaigen Bewährungshelfer oder mit ehrenamtlichen Kräften der freien Wohlfahrtsorganisationen besonders dringlich. Sie soll schon einsetzen, wenn der zu Betreuende noch in der Anstalt seine Strafe verbüßt. Am besten ist es, wenn hier schon die Verbindung zwischen ihm und dem Helfer hergestellt wird, damit sich das Fachwissen des Anstaltsfürsorgers mit der unbefangenen nichtamtlichen Hilfsbereitschaft der ehrenamtlichen Kräfte verbinden kann. Vor allem gilt es, die berüchtigte Doppelbelastung zu vermeiden, die darin besteht, daß mancher Entlassene es sowohl schwer hat, einen Arbeitsplatz zu finden und zu behalten, als auch mit einem Entlassungsschein der Strafanstalt eine Unterkunft (er muß sich polizeilich anmelden) in einem Milieu zu finden, das nicht von asozialen Elementen geprägt ist. Wenn der Makel des Bestraftseins mit dem Slumcharakter der Unterkunft zusammentrifft, ist eine Wiedereingliederung kaum zu erwarten. Deshalb ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Anstaltsfürsorger (und Anstaltsseelsorger) und den staatlichen und freien Wohlfahrtsorganisationen, deren Mitglieder den Entlassenen an seinem Wohnort durch Besuch, R a t und Tat stützen und notfalls Spannungen am Arbeitsplatz ausgleichen können, so wichtig. Der Anstaltsleiter gewinnt eine Vorstellung von dem Einsatz und der Leistungsfähigkeit seiner Fürsorger u. a. dadurch, daß er ebenso regelmäßig wie die Zugangsgespräche auch die Entlassungsgespräche (im Anschluß an die ärztliche Entlassungsuntersuchung) führt. Diese selbstverständliche Pflicht sollte nicht leicht genommen werden. Der Anstaltsleiter (oder wenn er nicht im Hause ist, sein Vertreter) sollte den Gefangenen so sehen, wie er entlassen werden soll; sollte mit einem Blick prüfen, ob Kleidung, Schuhzeug und Wäsche sauber, ordentlich, der Jahreszeit angemessen sind, sollte den Entlassungsschein sehen, um festzustellen, wie es mit den Barmitteln, mit Unterkunft und Arbeit bestellt ist, sollte fragen, ob der Gefangene sich gesund fühlt, ob er sich über etwas zu beklagen hat, sollte darüber selbst den vorgeschriebenen Personalaktenvermerk machen und schließlich, nachdem etwaige Mängel

behoben sind, den Gefangenen mit voller bürgerlicher Anrede in die Freiheit verabschieden. Das Entlassungsgespräch kann eine Fundgrube für Unzulänglichkeiten des Anstaltsbetriebes sein, da dort nicht selten etwas offenbart wird, was bisher verschwiegen wurde. Zwar ist — nach dieser Ausführung über das Entlassungsgespräch des Anstaltsleiters — die Tätigkeit des Gefängnisfürsorgers auf die Entlassung und den Übergang in die Freiheit ausgerichtet, aber es wäre verfehlt, darüber zu vergessen, daß er auch in die Vollzugsaufgaben aller kriminalpädagogischen Kräfte der Anstalt eingeschaltet ist, daß er eine eigene Betreuungsgruppe hat, bei der Aufstellung des Vollzugsplanes beteiligt und bei der Freizeitgruppenarbeit mitzuwirken berufen ist. 15. Die

Gefängnisbevölkerung

Um ein Bild von der Struktur der Gefängnisbevölkerung zu gewinnen, muß anhand der Strafvollzugsstatistik von 1967 kurz dargestellt werden, wieviel Täter der einzelnen Straftatbestände unter den rd. 50 000 Strafgefangenen und Verwahrten (dieses Mal einschließlich der jungen und der weiblichen Gefangenen) am Stichtag des 31. 3. 1967 vertreten waren. Die Zahl der einsitzenden Staatsschutzdelinquenten lag bei 50, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt saßen etwa 250, wegen Fahrerflucht etwa 480, wegen anderer Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung etwa 490, wegen Münzverbrechen 4, wegen falscher Aussage — einschließlich Meineid — etwa 230, wegen falscher Anschuldigung etwa 50, wegen Straftaten gegen den Personenstand, Ehe und Familie (besonders Verletzung der Unterhaltspflicht) etwa 2600, wegen homosexueller Betätigung etwa 510, wegen sonstiger Verbrechen oder Vergehen gegen die Sittlichkeit etwa 3300 ein. Die Zahlen der Verbrechen gegen das Leben (Mord und Totschlag) bedürfen genauer Angabe. Es saßen ein 972 Männer und 109 Frauen, die einen Mord als Einzeltäter, sowie 149 Männer und 38 Frauen, die ihn als Mittäter begangen hatten. 250 Männer und 14 Frauen verbüßten Strafen wegen Mordversuchs. Auf 387 Männer, die wegen Totschlags einsitzen, kamen 37 Frauen, davon 15 wegen Kindestötung. Während bei Verbrechen gegen das Leben auf etwa 9 Männer eine Frau kommt, ist das Verhältnis der Gesamtzahl der einsitzenden männlichen und weiblichen Strafgefangenen 22 : 1 . Wegen Selbstabtreibung saßen nur 4 Frauen ein, während wegen Fremdabtreibung 33 Männer und 26 Frauen am Stichtag Freiheitsstrafen verbüßten. Wegen fahrlässiger Tötung in Verbindung mit einem Verkehrsunfall saßen 603 Männer, aber nur 2 Frauen ein; ohne diese Verbindung 36 und 4. Die Zahl der wegen Körperverletzung einsitzenden Verurteilten belief sich auf etwa 1800, dar-

Strafvollzug unter etwa 600 wegen fahrlässiger Körperverletzung bei einem Verkehrsunfall. Die Zahl der einsitzenden Brandstifter liegt bei 140. Wegen sonstiger gemeingefährlicher Verbrechen und Vergehen (wozu auch Trunkenheit im Straßenverkehr mit etwa 2560 Insassen zählt) saßen fast 4450 Gefangene ein. Die Zahl der sonstigen Verkehrssünder betrug am Stichtag 90. Die Verkehrsdelinquenten, zwar meist Fahrlässigkeitstäter, verdienen aber nicht nur wegen ihrer erheblichen Zahl, sondern auch deshalb, weil sie keineswegs immer zu den unbedenklichen Gefangenen zählen, im Strafvollzug sorgfältiger Beachtung. In vielen Fällen reiht sie nämlich nicht das von ihnen begangene Verkehrsdelikt, wohl aber ihr Vorleben bei den kriminell Gefährdeten und Gefährdenden ein. Immer noch zu leicht vergißt man, daß die Benutzung von Kraftfahrzeugen Allgemeingut der gesamten Bevölkerung und damit auch des kriminellen Teils geworden ist. Der mit der Kriminalität oft verbundene Hang zu Rücksichtslosigkeit und Leichtsinn läßt solche Elemente auch in erhöhtem Maße in Verkehrsstrafsachen straffällig werden. Die vielfach befürworteten offenen oder halboffenen Sonderanstalten für Verkehrssünder sind daher, wenn überhaupt, richtigerweise nur für erstmalig einem Freiheitsentzug unterworfene Verkehrssünder in Betracht zu ziehen. Wegen Verbrechen und Vergehen im Amte verbüßten 50, wegen Verbrechen und Vergehen nach dem Wehrstrafgesetz etwa 320 Personen Freiheitsstrafen. Die Hauptkontingente stellten, wie immer, die Diebe, Einbrecher und Hehler mit etwa 20 200, die Räuber und Erpresser mit etwa 2930 und die Betrüger und Fälscher mit etwa 5200. Es sind also die Diebe, Einbrecher, Räuber, Betrüger, Sittlichkeitsdelinquenten und — zwar nicht zahlen-, aber gewichtsmäßig — die Mörder und Totschläger, welche die Züge der Gefängnisbevölkerung in den deutschen Strafanstalten prägen. Demgemäß rekrutieren sich auch die Sicherungsverwahrten fast ausschließlich aus Eigentumsdelinquenten (Dieben, Einbrechern, Räubern), Betrügern und Sittlichkeitsverbrechern. Unter den Sittlichkeitsdelinquenten, die in Erwachsenenanstalten einsitzen, befinden sich außer den offenbar anlagemäßig, schon in jüngeren Jahren beginnend, immer wieder wegen Sittlichkeitsverbrechen straffällig werdenden Männern, die von ihren Mitgefangenen anderer Kriminalität vielfach als „Sittenstrolche" bezeichnet werden, überdurchschnittlich viele ältere und alte Männer, die, bis dahin unbestraft, aufgrund biologischer Ursachen nicht mehr in ausreichendem Maße Hemmungen entwickeln können und sich an Kindern, meist Mädchen, oder an ihren eigenen Töchtern oder Stieftöchtern vergriffen haben, wobei nicht selten ein provozierendes Verhalten der

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Opfer eine gewisse Rolle spielt. Bei den Sittlichkeitsdelinquenten in mittlerem Lebensalter handelt es sich zum Teil um Homosexuelle, die mit Knaben Unzucht getrieben haben. Bei diesen letzten beiden Gruppen hat der Strafvollzugsbeamte ein ungutes Gefühl. Die in höherem Alter erstmalig straffällig gewordenen Sittlichkeitsdelinquenten, wie übrigens überhaupt diejenigen, die erstmalig in höherem Lebensalter in Abweichung von ihrer bisherigen rechtschaffenen Lebensführung auch in nichtsexueller Hinsicht kriminell werden, bedürfen sorgsamer psychiatrischer Begutachtung. Die Freiheitsstrafe und ihr normaler Vollzug erscheinen vielfach nicht als ein adäquates Mittel zur Bekämpfung dieser Art von strafrechtlichen Verfehlungen. Bei Sexualtätern, aber auch bei Kleptomanen und Brandstiftern, kann in sorgfältig ausgesuchten Fällen eine psychotherapeutische Behandlung auch während des Strafvollzuges erfolgreich scheinen. Allein die Untersuchung, ob sich ein Fall dazu eignet, ist zeitraubend, schwierig und kostspielig. Das Unternehmen, solche Untersuchungen allgemein oder im größeren Umfang durchzuführen, scheitert aber daran, daß Psychotherapeuten in der benötigten Zahl und Eignung nicht zur Verfügung stehen. Es kann sich also nur um wenige Ausnahmen handeln, die für eine Untersuchung in Frage kommen. Ob die dann an ihnen vorgenommene Behandlung erfolgreich sein wird, ist zweifelhaft. Hält der Psychotherapeut die Behandlung für gescheitert, darf er es der Anstalt nicht verschweigen. Denn wenn an diese Behandlung seitens der Anstalt ungerechtfertigterweise Erwartungen geknüpft werden, Lockerungen bewilligt, Freigang genehmigt oder vorzeitige Entlassungen vorgenommen werden, können böse Rückfälle vorkommen, die der Behörde angelastet werden. Aufs Ganze gesehen ist der praktische Nutzeffekt der Psychotherapie im Strafvollzug sehr gering. Die Mörder mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe werden zwar in denselben Anstalten verwahrt, wie Gefangene mit längerer zeitiger Strafe. Gleichwohl pflegt zwischen ihnen und den anderen eine spürbare Scheidewand zu bestehen. Auch heute schafft die Tatsache, ein Mörder zu sein, selbst in der Strafanstalt einen Abstand zu den anderen Gefangenen. Selbst gewohnheitsmäßige Kriminelle empfinden so etwas wie eine Zumutung, wenn sie mit einem Mörder, einem Lebenslänglichen, zusammenarbeiten oder gar den Haftraum teilen müssen. Die anscheinende Hoffnungslosigkeit der Situation der Lebenslänglichen veranlaßt auch die Beamten unwillkürlich zu einer gewissen Distanz. In Verkennung der vielschichtigen psychologischen Situation galt hierzulande im Strafvollzug der Lebenslängliche als ein im allgemeinen leicht zu behandelnder Gefangener; wird er doch gleichsam zum Inventar der Anstalt,

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Strafvollzug

überlebt zahlreiche Beamte und ist für die Arbeitsbetriebe der Anstalt von großem Wert, weil er gut eingearbeitet ist, nicht mehr weggeht oder doch wenigstens sehr viele Jahre bleibt. Früher, als es für Mord die Todesstrafe gab, waren die Lebenslänglichen meist diejenigen, die von der Todesstrafe zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt waren; sie wurden in der Mehrzahl dann nach langjähriger Strafzeit endgültig begnadigt, wenn sie sich gut geführt hatten. Das war ein Lichtblick und Anreiz für sie, sich nicht durch schlechte Führung diese Möglichkeit zu verschütten, zumal viele Mörder Brstbestrafte und Konflikttäter sind. Nach Wegfall der Todesstrafe wird vielfach die Meinung vertreten, lebenslänglich müsse als deren Ersatz wirklich das ganze Leben dauern. In der Tat stehen die Inhaber des Gnadenrechts in einigen Ländern hin und wieder auf einem ähnlichen Standpunkt. Eine einigermaßen konsequente Durchführung dieser Ansicht bewirkt in den betreffenden Ländern, daß die Lebenslänglichen sich zu fragen beginnen, ob sie denn überhaupt noch die Aussicht haben, zu Lebzeiten in Freiheit zu kommen. Damit ist plötzlich das Zuchthausklima für sie mit Spannung geladen worden. Sie registrieren aufmerksam jede der ablehnenden Gnadenentscheidungen und kommen unter Umständen zu dem Ergebnis, daß lebenslänglich wirklich lebenslänglich bedeuten kann. Wenn dieser Überzeugung nicht durch gelegentliche Begnadigungen ein Stoß versetzt wird, könnten sich die Lebenslänglichen in Hoffnungslosigkeit als bedenklicher Sprengstoff erweisen, weil sie nichts zu riskieren hätten. In den Anstalten der Bundesrepublik (ohne Berlin) saßen am 31. 3. 1967 mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe 904 Männer und 124 Frauen ein. Ihre Zahl muß ständig wachsen, wenn Begnadigungen nur selten vorgenommen werden; denn es werden jährlich mehr Mörder verurteilt, als Lebenslängliche sterben. Eine uneinheitliche Gnadenpraxis bringt eine Unsicherheit in die Anstalten, nicht nur was die äußere Ordnung betrifft, sondern auch wie sich die maßgeblichen Anstaltsbeamten innerlich zu den Lebenslänglichen einstellen müssen. Ob die Betrüger wirklich im Durchschnitt intelligenter sind, als die Masse der übrigen Straftäter, mag unentschieden bleiben; jedenfalls sind sie gewandter in Wort, Schrift und Benehmen. Sie sind geschmeidig, anpassungsfähig und wohl in der Lage, zu blenden. Aus berechnender Gefälligkeit nehmen sie nach und nach, wo sie nur können, besonders solchen Aufsichtskräften, die zur Bequemlichkeit neigen, Tätigkeiten ab, machen sich beliebt und schließlich unentbehrlich. Immer wieder verstehen sie es so, sich in bevorzugte Hilfsstellungen innerhalb des Geschäftsbetriebes des Aufsichts- und Werkdienstes als Hausarbeiter, Beifahrer, Kammerarbeiter, Betriebsschreiber u. ä. hochzuspielen, um dann aus

diesen Vorzugsstellungen auch gegenüber ihren Mitgefangenen Kapital zu schlagen. Stoßen sie dabei auf den entschiedenen Widerstand klarsehender Beamter, so entwickeln sie sich leicht zu bösartigen Beschwerdeschreibern und hetzerischen Beratern anderer mißgelaunter Gefangener. Die uncharakteristische Masse der Gefängnisbevölkerung stellen Diebe, Einbrecher und zumeist auch noch Räuber dar, obwohl bei den letzten auch manche sind, die sich durch einen gefährlichen Zug, brutal rücksichtslos aufs Ganze zu gehen und Menschenleben zu riskieren, negativ auszeichnen. Diebe und die ihnen charakterlich nahestehenden Unterhaltsentzieher sowie Einbrecher sind mindestens bei wiederholter Rückfälligkeit wohlwollend als lebensuntüchtig oder haltlos, in der Regel aber einfach als faul, arbeitsscheu und schmarotzerhaft selbstsüchtig zu charakterisieren; so wenigstens erscheint ihr größerer Teil. Ein kleinerer erweist sich als sorgfältig planend, in der Tatausführung zielsicher, zäh und voll Energie; das sind oder werden die berufsmäßigen Diebe und Einbrecher. Dabei gibt es natürlich auch Menschen, die aus wirklicher schwerer Not sich an fremdem Eigentum vergreifen; sie kann man nicht zu den wahren Kriminellen rechnen; sie kommen auch nur ausnahmsweise ins Gefängnis. Auf die echten Eigentumsdelinquenten ist die anstaltsmäßige Behandlung im deutschen Strafvollzug zugeschnitten. Nach deutscher Vorstellung kann ein rechtschaffenes, gesetzmäßiges und geordnetes Leben nur ein Mensch führen, der etwas gelernt hat, in seinem Beruf etwas leistet, der fleißig, ordentlich, sparsam und vorsorglich ist. Also, so meint der deutsche Strafvollzug, muß diesen teils lebensuntüchtigen, teils haltlosen, teils arbeitsscheuen Elementen im Gefängnis ein anderer Lebensstil vor Augen geführt und, wenn möglich, beigebracht werden. Deshalb eine schlichte Daseinsform in der Zelle und eine einfache Kost, deshalb der Ansporn zu fleißiger, stetiger Arbeit, wenn er mittels des Hausgeldes seinen Lebensstandard in der Anstalt verbessern will, und die Zwangssparkasse der Rücklage vom Arbeitsverdienst; deshalb schließlich die Hinweise auf höherwertige Freizeitbeschäftigungen, als den bei ihnen üblichen Hang, das Verdiente mit Essen, Trinken und anderen Genüssen durchzubringen. Eine Erkenntnisquelle für den Charakter eines Gefangenen kann der Arbeitsplatz sein, auf dem er steht. Nur ausnahmsweise übt ein Eigentumsdelinquent im Gefängnis eine anspruchsvolle oder mit Verantwortung oder Initiative verbundene Arbeit aus. Die bequemsten, einfachsten Beschäftigungen sind ihnen am liebsten, wenn sie nur hinreichend viel Lohn einbringen. Bei ihnen entwickeln sie sogar nicht selten staunenswerten

Strafvollzug Eifer. Er ist aber erzieherisch wenig wertvoll, weil seine sich in Überpensen niederschlagenden Ergebnisse fast ausschließlich deshalb erstrebt werden, um sich mit Hilfe der Leistungsbelohnung möglichst viel weitere Genuß- und Lebensmittel zu verschaffen, und zwar zum eigenen Konsum oder zum Tauschhandel mittels der in den Anstalten üblichen Tabakwährung, für die man, vom Krimi oder Sex-Magazin angefangen, bis zum goldenen Trauring alles mögliche von den vielen von Raucherleidenschaft besessenen Gefangenen eintauschen kann. Die meisten Eigentums delinquenten verhalten sich wie primitive Schulabgänger, die es ablehnen, eine höherwertige Tätigkeit zu erlernen, um als Hilfsarbeiter möglichst viel Geld zu verdienen und es schnell wieder auszugeben. Aus dieser Kategorie rekrutieren sich denn auch die meisten Diebe und Einbrecher. Für sie ist auch der häufige Wechsel des Arbeitsplatzes in der Anstalt charakteristisch. Das entspricht ihrer unsteten Haltlosigkeit. Der Gedanke, an anderer Stelle bequemer zu verdienen, läßt sie nach und nach bei der simpelsten Arbeit landen. Für ihre Taten, die sie, nachdem sie verurteilt sind, selten mehr leugnen, finden sie viele Entschuldigungsgründe. Die Strafen halten sie fast immer für zu hoch bemessen. Es ist nach alledem besonders schwierig, Diebe und Einbrecher aus ihrer persönlichen und sozialen Unordnung herauszulösen und wirksam mit den Mitteln des Strafvollzuges zu festigen. Dafür sind die hohen Rückfallziffern, die nur von den Betrügern übertroffen werden, kennzeichnend; fast die Hälfte aller einsitzenden Diebe und Einbrecher verbüßt eine Strafe wegen mindestens zweimal wiederholten Rückfalles. Diese immer wieder rückfälligen Rechtsbrecher (Diebe, Einbrecher, Räuber, Betrüger, Sittlichkeitsdelinquenten) bilden die sog. Kernkriminalität. Sie sind nach de Boor gekennzeichnet durch ein Vierfaches (Tetrade): einen niedrigen Intelligenzquotienten, durch irreparable psychische Schäden (ohne Krankheitswert), durch Triebhaftigkeit und Willensschwäche. Dieser Gefängnisbevölkerung steht im Anstaltsleben eine andere Gemeinschaft gegenüber: der Beamtenkörper der Anstalt, vor allem die Bediensteten des Aufsichts- und Werkdienstes, mit denen die Gefangenen in ständiger Berührung sind. Hier findet der in die Anstalt neuaufgenommene Verurteilte gute und tüchtige und solche, die es weniger sind; für ihren Beruf geeignete, aber auch solche, die sich mit allem andern befassen sollten, nur nicht mit Menschenbehandlung; und schließlich solche, die ihren Beruf nur als Job ansehen, neben denen, für die er die Lebensaufgabe ist. Die Auswahl bei der Einstellung wird zu stark von dem Mangel an Angebot in diesem Beruf beeinflußt. Da der Strafvollzug Ländersache ist, bestimmen die einzelnen

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Länder die Personalpolitik. Sie ist deshalb von Land zu Land unterschiedlich. Konsequente Personalpolitik machen aber die sich über alle Länder einheitlich erstreckenden Organisationen der Bediensteten, die sich die Förderung ihrer Mitglieder angelegen sein lassen. Zur Zeit steht im Aufsichtsdienst der Zahl der Eingangsstellen eine mehrfache Zahl von Beförderungsstellen gegenüber. Sie werden zum großen Teil automatisch erreicht. Das führt nicht selten dazu, daß die hohe Anforderungen stellende Arbeit, ζ. B. der Abteilungsdienst, den Beamten der Eingangsstellen, also den jüngsten, überlassen wird. Im allgemeinen ist es wünschenswert, wenn eine Aufsichtskraft, die Abteilungsdienst macht, ständig ihre Abteilung behält. Aber die in gewissen Zeitabständen sich wiederholende Verminderung der Arbeitszeit des Personals, die hohe Zahl der Krankmeldungen, das geringe Sozialprestige des Berufs bewirken, daß das Aufsichts- und Werkdienstpersonal seit Jahren zahlenmäßig nicht ausreicht. Täglich müssen Lücken gestopft werden. Oft hat eine Anstalt tausende von Tagen, die durch Überstunden entstanden sind, durch Freizeit abzugelten. Deshalb wird es für lange Zeit nur selten möglich sein, daß ein Aufsichtsbeamter auch nur einige Monate seine Abteilung behält und wirklich Gelegenheit hat, die dort untergebrachten — übrigens auch dem Wechsel unterworfenen — Gefangenen richtig kennenzulernen, geschweige daß er Zeit fände, ihre Personalakten zu studieren. Vielleicht gibt es solche Arbeit der Abteilungsbeamten am einzelnen Gefangenen in Jugendstraianstalten; im derzeitigen Erwachsenenstrafvollzug kann davon nur ausnahmsweise die Rede sein. Im allgemeinen kennen die Gefangenen ihre Abteilungsbeamten besser als diese jene. 16.

Resozialisierung

In eine so aus Gefangenen und Personal gemischte Anstaltsgemeinschaft wird nun der Verurteilte, der sich vom Gericht nur selten gerecht behandelt fühlt und sich, namentlich wenn er erstmalig ins Gefängnis muß, meist in beklommener Abwehrstellung befindet, eingereiht. Hier soll ihm zu der Einsicht verholfen werden, daß er für begangenes Unrecht einzustehen hat; er soll wieder in die Gemeinschaft eingegliedert und sein Wille und die Fähigkeit sollen geweckt und gestärkt werden, künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen. In solcher Atmosphäre und in dem beschränkten Bewegungsraum einer Zwangsanstalt müssen die Bediensteten sich bemühen, diese meist als Resozialisierung bezeichnete Aufgabe zu lösen. Die Aussichten hierfür können nicht nüchtern genug gesehen werden, weil jede Gesellschaft ihr

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Strafvollzug

gewisses, ziemlich konstantes Maß an Verbrechen und Rechtsbrechern besitzt und behält. Der Begriff „Resozialisierung" (manche sagen: „Sozialisation") wird verschieden definiert. Um nur einige Erklärungen zu nennen: Ζ. B. Hilfe für den Gefangenen, ein der Rechtsordnung angepaßtes Leben in der Freiheit zu führen, oder: die Aufgabe, das nach den Maßstäben der sozialen Rechtsordnung verfehlte Verhalten des Gefangenen zu korrigieren, verbunden mit einem Anspruch des Gefangenen auf ein solches Bemühen, oder: der Vollzug soll durch seine Art und Weise dem Gefangenen eine Hilfe sein, sich sozial-verantwortlich zu verhalten, oder darüber hinaus: die Schaffung eines entsprechenden Zustandes im Anstaltsbetrieb (Anstaltsatmosphäre, Anstaltsklima), oder: Abwehr von Haftschäden. Bei den beiden letzten Definitionen werden die allgemeinen Pflichten des guten Anstaltsklimas und der Schadenabwehr, die für alle Vollzugsbehörden, ζ. B. auch für reine Untersuchungshaftanstalten bestehen, in die Resozialisierungsaufgabe einbezogen. Diese ist aber nur eine solche des Strafvollzugs, nämlich die Bemühung der Strafvollzugsbediensteten, eine erneute Straffälligkeit des Gefangenen durch eine auf Persönlichkeitserforschung gegründete, planmäßige, individuelle Behandlung möglichst zu verhüten. In diesem Sinn wird der Ausdruck „Resozialisierung" in diesem Beitrag verstanden. Nur bei einem Teil der Gefangenen stellt sich diese Aufgabe. Zunächst ist anerkannt, daß bei einer Strafzeit unter 9 Monaten ein methodisches, individuelles Bemühen um Resozialisierung unfruchtbar ist. Deshalb scheiden von den etwa 42 000 erwachsenen männlichen Gefangenen etwa 17 000 aus, die kürzere Strafen verbüßen. (Über Frauen und junge Gefangene wird hier nicht berichtet: -»• Weibl. Kriminalität und Frauenstrafvollzug; -»· Jugendkriminalität.) Von den restlichen 25 000 mit Strafen von 9 Monaten aufwärts sind etwa 13 000 fünfmal und öfter vorbestraft. Sie sind, von Ausnahmen abgesehen, für eine längere Lebensepoche kriminell verwurzelt und in dieser Zeit sehr schwer beeinflußbar. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß insgesamt diejenigen, die vielfach vorbestraft sind, noch häufiger rückfällig waren, weil sie im Durchschnitt mehr Straftaten begangen haben, als die, für die sie bestraft sind, nämlich ihre unentdeckt, unaufgeklärt oder unangezeigt gebliebenen Taten. Dem einzelnen kann man das nicht vorrechnen, aber für die Beurteilung der Aussichten einer Resozialisierung der vielfach Vorbestraften im Ganzen ist es zu berücksichtigen. Es kommt hinzu, daß sich die wirklich bedeutsamen Rückfallziffern nur bei Dieben, Einbrechern, Betrügern und Sittlichkeitsdelinquenten finden, also bei Deliktsgruppen, deren Täter von vornherein die größten Resozialisierungsschwierigkeiten bieten. In optimistischer

Weise scheinen nicht wenige zu glauben, daß auch der häufig Vorbestrafte durch methodische, individuelle Behandlung resozialisiert werden könne. Die Aussichten hierfür sind gering. Ihre Überschätzung kann leicht dazu führen, den richtigen Kern des Resozialisierungsgedankens durch Mißerfolge zu schädigen. Es mag sich hin und wieder ereignen, daß auch ein vielfach Vorbestrafter nicht mehr rückfällig wird. Aber es gehört viel Selbstgefälligkeit dazu, dies etwa dem Resozialisierungsbemühen der letzten Anstalt und ihrer Entlassungsfürsorge zuzuschreiben, anstatt die wahren Gründe anderswo zu suchen. Nicht wenige der vielfach Vorbestraften, vor allem die Berufsverbrecher, wollen zudem gar kein gesetzmäßiges und geordnetes Leben nach der Entlassung führen. Man muß sich deshalb bei den mit Mitteln des Strafvollzugs nicht zu beeinflussenden, vielfach Vorbestraften darauf beschränken, sie während des Strafvollzuges in gerechter und wohlwollender Ordnung und größtenteils als geistig, charakterlich und willensmäßig flach beschaffene Menschen zu behandeln, ihre Beziehungen zur Familie, wenn sie intakt ist, möglichst wieder herzustellen, für sie eine einwandfreie Unterkunft und einen Arbeitsplatz zu beschaffen, ohne sie mit dem Anspruch auf künftiges Wohlverhalten zu belasten. Es bleiben noch etwa 12 000 erwachsene Strafgefangene mit Strafen von 9 Monaten aufwärts, von denen etwa 4000—5000 Erstbestrafte und 7000—8000 solche Vorbestrafte sind, die weniger als fünf Vorstrafen erhalten hatten. Die Zahl 12 000 vermindert sich, namentlich bei den Erstbestraften, um etwa 1000 nicht resozialisierungsbedürftige Fahrlässigkeits-, Konflikt- und Überzeugungstäter. Für eine methodische, individuelle Resozialisierung bleiben also in der Bundesrepublik höchstens 11 000 anstaltsmäßig nach Erstund Vorbestraften zu trennende erwachsene Gefangene übrig. Auf sie müssen sich die Resozialisierungsbemühungen konzentrieren. Hier sind auch die meisten Resozialisierungswilligen; eine Rechtspflicht, sich (re)sozialisieren zu lassen, kann ernsthaft ebensowenig angenommen werden, wie ein Rechtsanspruch darauf. Bei diesen 11000 Gefangenen sollte das Resozialisierungsbemühen damit beginnen, daß sich die Anstalt ein Bild von der Persönlichkeit des Gefangenen macht und hierzu die körperlichen, seelischen und sozialen Gegebenheiten in seiner gesamten Entwicklung erforscht und dies während des Vollzuges fortsetzt. Die Bemühungen des deutschen Strafvollzuges um die Erforschung der Persönlichkeit eines Gefangenen sind noch uneinheitlich und meistens ungeordnet. Deshalb liegt die Gefahr eines Dilettantismus nahe. Bestenfalls handelt es sich um mehr oder weniger sorgfältige Biographien mit kriminologischem Akzent; es fehlt aber fast immer der Zusammenhang mit allgemeinen Fehlentwick-

Strafvollzug hingen der Gesellschaft, die den Einzelnen stark beeinflussen können, aber pädagogisch kaum abstellbar sind. Das Strafvollzugspersonal läßt sich wahrscheinlich so weit ausbilden, daß es tatsächliches Verhalten eines Gefangenen richtig wahrnehmen und schriftlich oder mündlich darstellen kann, aber wohl nicht dazu bringen, sich aus solchen naturgemäß beschränkten Wahrnehmungen ein definitives Urteil über die Persönlichkeit eines Gefangenen zu bilden. Der Aufsichtsdienst nimmt durch seine Organisation in Anspruch, gezielte erzieherische Gespräche mit den Gefangenen zu führen. Mindestens in den größeren Anstalten, in denen die Aufsichtseinheit, also die Zahl der von einer Aufsichtskraft innerhalb des Hafthauses zu betreuenden Gefangenen auf 50 angenommen zu werden pflegt, haben aber die Aufsichtskräfte genug zu tun, wenn sie die herkömmlichen Aufgaben der Beaufsichtigung, Anweisung und Versorgung der ihnen zugeteilten Gefangenen erledigen und für Ordnung und Sauberkeit der Hafträume und gehörige Körperpflege der Gefangenen sorgen und deren Anliegen, soweit sie sie nicht selbst erledigen können, an die zuständige Spezialkraft weiterleiten. Die eigentliche sozialpädagogische Arbeit muß daher von Spezialkräften (Ärzten, Psychologen, Seelsorgern, Lehrern, Fürsorgern) als Gemeinschaftsarbeit (team-work) unter dem Vorsitz des Anstaltsleiters geleistet werden; ihnen werden die Wahrnehmungen und Ansichten von solchen zu ihren Beratungen hinzuzuziehenden Aufsichts- und Werkdienstkräften, die längere Zeit mit dem betreffenden Gefangenen täglich zu tun haben, wertvoll sein. Die Möglichkeiten des Psychologen werden bei der Psychologiefreudigkeit unserer Zeit nicht selten überschätzt. Die psychologische Diagnose, die noch keine Therapie bedeutet, richtet je nach der Schule, aus der der Psychologe stammt, den Blick manchmal zu stark auf bestimmte Aspekte der Persönlichkeit, was der Gesamtschau nicht förderlich ist. Im übrigen gibt es noch so wenig Psychologen und Psychiater im deutschen Strafvollzug, daß von ihnen nur wenige Gefangene begutachtet werden können. Das werden ζ. B. diejenigen sein müssen, deren Tat völlig aus dem Rahmen ihrer bisherigen Lebensführung fällt oder deren Abartigkeit oder Gestörtheit die Unterbringung in einer Sonderanstalt fordert. Sicher ist aber häufige Rückfälligkeit für sich allein kein Grund für eine Einweisung in die Sonderanstalt. Die meisten hartnäckigen Rückfalltäter verhalten sich im Strafvollzug angepaßt, aber unbeeinflußbar, was das Leben in der Freiheit betrifft. Bei der Sammlung des Materials für eine Persönlichkeitsbeurteilung fällt eine gewisse Unterschätzung der körperlichen Komponente des LeibGeist-Seele-Wesens Mensch auf. Von der biologischen Konstitution und der gesundheitlichen

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Verfassung eines Menschen her wird manches menschliche Verhalten verständlich. Deshalb wäre es gut, wenn die ärztlichen Aufnahmeuntersuchungen gründlich durchgeführt würden, bedeutend gründlicher, als dies bisher in vielen Anstalten geschieht. Sie könnten dann wirklich objektive Befunde liefern, was man von Charakterdiagnosen nicht in diesem Maße sagen kann. Die psychosomatische Darstellung eines Gefangenen ist ein wesentlicher Teil der Persönlichkeitserforschung. Es sollte möglich sein, bundeseinheitlich ein Verfahren der Persönlichkeitserforschung zum Zwecke eines individuellen, methodischen Resozialisierungsversuchs herauszuarbeiten. Es ist seit langem vorgeschrieben, daß jeder Zugang seinen Lebenslauf schreibt dazu einen Ermittlungsfragebogen ausfüllt, der sich auf seine persönlichen und Umweltverhältnisse bezieht. Aber an der Durcharbeitung dieser subjektiv gefärbten Aussagen, an dem Versuch einer Feststellung der wirklichen Sachverhalte als Antwort auf die gestellten Fragen, an der Klärung der Ursachen für die Widersprüche zwischen der subjektiven Schilderung und der objektiven Feststellung fehlt es in den meisten Fällen. Meist beschränkt man sich darauf, die ausgefüllten Bogen zu den Personalakten zu nehmen. Erst wenn durch eindringliche Bearbeitung methodisch das Menschenmögliche getan wird, um die Persönlichkeit des Gefangenen mit ihren Umweltbeziehungen darzustellen, können in der geschilderten Gemeinschaftsarbeit Einsichten gewonnen werden, wie man die für die bisherige Straffälligkeit kritischen Punkte der körperlichen, der geistig-seelischen Verfassung und der Umweltbedingungen in Zukunft ausschalten oder wenigstens mildern kann (Vollzugsplan). Dazu gehört nicht nur eine materielle Vorsorge für die Zeit nach der Entlassung, sondern von Anfang der Strafzeit an vor allem die Überlegung, wie man die geistig-seelischen Kräfte des Gefangenen wecken oder erneuern kann; denn das ganze Resozialisierungsbemühen kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Dies setzt voraus, daß man im Strafvollzug von dem Bild eines Menschen ausgeht, der trotz eines möglicherweise von Natur aus konstanten Charakters aufgrund intellektuell erworbener Erkenntnisse und gemachter Erfahrungen sich im Sinne der gesellschaftlichen Ordnung entscheiden kann. Besäße er nicht innerhalb des Spielraumes, den ihm die zahllosen Möglichkeiten seiner weit differenzierten Erbanlagen und der Umwelteinflüsse lassen, eine eigene Entscheidungsfreiheit, so schiene es sinnlos, im Strafvollzug auf ihn dahin einzuwirken, daß er den Entschluß faßt, von seinem gesetzwidrigen Verhalten abzustehen und dieser Einsicht gemäß zu handeln. Das Unvermögen, diese Einsicht zu gewinnen und in sich wirksam werden zu lassen, kann bei dem einen oder anderen Gefangenen auf krankhaften geistigen Störungen oder Süchten

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Strafvollzug

oder sonstigen Einengungen der Fälligkeit, sich im Sinne der gesellschaftlichen Ordnung zu entscheiden, beruhen. Auch innerhalb der Lebensalter gibt es Entwicklungen dieser Fähigkeit vom Kind über den ausgereiften Mann zum schwachen Greis. Psychopathien und Neurosen können sie empfindlich stören. So müssen die gefangenen Menschen im resozialisierenden Strafvollzug mit Geduld und Verständnis, mit Anerkennung und Hebung des Selbstbewußtseins zur Einsicht gebracht werden, daß sie künftig zur Vermeidung eigenen schweren Schadens ihre Entschlüsse und Zielsetzungen innerhalb der gesetzlichen Ordnung halten müssen. Hier liegen die tiefen seelsorgerischen humanen und sozialen Aufgaben der Erziehungskräfte der Anstalten. Die Frage schließlich, wie ein Gefangener im Strafvollzug dazu gebracht werden kann, seinen Willen so zu festigen, daß er es in Zukunft durchsetzt, das Gesetzwidrige nicht nur innerlich abzulehnen, sondern sich auch demgemäß zu verhalten, ist eine der schwierigsten des Strafvollzugs überhaupt. Der Wille ist kein körperliches Organ, wie etwa die Hand, die zum Klavierspielen geübt werden kann. Er ist das Ergebnis eines geistig-seelischen Prozesses, in dem sich Werte und Unwerte streiten und Entschlüsse gefaßt werden, die ein Tun und Unterlassen zur Folge haben. Dabei spielen die Fähigkeit und das Unvermögen, verzichten zu können, eine wesentliche Rolle. Das Verzichtenkönnen ist lehrbar und lernbar, und zwar sicherlich, wenn es von Jugend an geübt wird. Im späteren Alter lernt es sich allerdings, wie alles, viel schwerer. Wahrscheinlich ist dabei die Macht der Umstände ein weit wirksamerer Faktor, als mitmenschliche Einwirkungen. Trotzdem müssen sich die Strafvollzugsbeamten bemühen, den Gefangenen durch Aussprachen, Belehrung und Vorbild zu einer Sinnesänderung zu bringen. Hand in Hand damit muß eine Stärkung des Selbstgefühls gehen. Man muß dem Gefangenen Aufgaben übertragen, an deren Lösung sich sein Selbstgefühl kräftigt. Das kann ζ. B . gerade bei Jüngeren auch durch Leibesübungen geschehen, mit deren Hilfe der Gefangene innewird, was er in gesundem Wettstreit mit anderen leisten kann, daß er seine Leistungsfähigkeit durch Mäßigkeit in Essen und Trinken, durch Enthaltsamkeit, ζ. B. von Nikotin, also durch Verzichte steigern und erhalten kann. In der Praxis muß aber hierbei ein Umstand bedacht werden, der die Wirksamkeit ζ. B. eindringlicher, gezielter Gespräche mit dem Gefangenen selbst dann einschränkt, wenn die besten äußeren Bedingungen (ζ. B. zweckmäßige, nicht überfüllte Baulichkeiten, fördernde Arbeitsstätten, reiche geistige und körperliche Bildungsmöglichkeiten) erfüllt sind. Das ist das hohe Maß an vorsichtiger Zurückhaltung, das dem Personal, und besonders dem erzieherisch tätigen Personal, gegenüber den Gefangenen auferlegt ist, damit

sich der Erzieher nicht Mißdeutungen übler Art ausgesetzt sieht, die seine Erziehungsfähigkeit für die Zukunft gefährden. Jede körperliche Berührung, und sei es auch nur ein aufmunternder Schlag auf die Schulter, und jede Vertraulichkeit im Umgangston müssen unterbleiben. Im Strafvollzug muß deshalb die Kunst geübt werden, bei den Gefangenen Vertrauen zu erzeugen, ohne es ihm merkbar zu erzeigen. Der Kontakt zum Gefangenen darf der Distanz nicht entbehren. Es ist ein erprobter Grundsatz der Gefangenenbehandlung, daß kein Gefangener ohne sachlichen Grund bevorzugt oder benachteiligt werden darf. Im Betrieb der Anstalt sind die Gefangenen der gleichen Strafart möglichst gleichmäßig zu behandeln. Der individuellen äußeren Behandlung sind Grenzen gesetzt, da sonst Sachlichkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu leicht zugunsten eines unsachlichen Günstlingswesens oder wenigstens einer Behandlung, die vielen Insassen als Günstlingswesen erscheint, abdanken müssen. Das wäre das Ende jedes Besserungsbemühens. 17. Lockerungen des Strafvollzugs Zur Stärkung des Selbstgefühls dienen auch die nach gewissen Grundsätzen zu gewährenden Lockerungen des Strafvollzuges. Sie sind im Rahmen des Vollzugsplanes nötig, um die Willenskräfte des Gefangenen zu mobilisieren. Sie sind wertvoll als Anerkennung, ja, wenn man will, als eine vorsichtig zu dosierende Versuchung. Eine Lockerung tritt bereits ein, wenn der Gefangene aus der Einzelhaft, in der er Tag und Nacht allein gehalten wird, tagsüber zur Arbeit in einen solchen Arbeitsbetrieb gebracht wird, in dem er mit anderen Gefangenen zusammen arbeitet. Das frühere System der sog. Vergünstigungen wird neuerdings als ein Widerspruch zu der Forderung angesehen, daß die Rechtsstellung des Gefangenen nicht mehr als nötig eingeschränkt werden soll. Was früher im allgemeinen nach und nach als den Vollzug lockernde und erleichternde Vergünstigung gewährt wurde (ζ. B . die Erlaubnis, den Haftraum mit Bildern, Blumen usw. wohnlicher zu gestalten, Schreibgerät und Papier, eigene Bücher, Musikinstrumente zu besitzen, sich Zeitung und Zeitschrift zu halten, an Sport, Chor, Orchester, Kino, Fernsehen, Sprachund sonstigen Kursen teilzunehmen, zu zeichnen, zu malen, zu basteln) gehört jetzt von Beginn der Strafzeit an bereits allgemein zum Regime der Anstalt, ist also nicht erst durch Genehmigung zulässig. Ähnliches gilt auch von der Einrichtung und Ausstattung der Hafträume, deren Komfort begrenzt ist. Eine sehr starke Lockerung des Vollzuges stellt der Freigang dar, dessen Voraussetzungen und Konsequenzen sorgfältig durchdacht werden müs-

Strafvollzug sen. Er ist für die Arbeit des Gefangenen, seinen Übergang in die Freiheit und die Entlassungsfürsorge eine gute Sache; aber auch, und das ist die Kehrseite, ein Wagnis, das leicht mißlingt und dann für den Gefangenen selbst, für die Institution des Freiganges und die durch Versagen des Freigängers Verletzten ein schwerer Schaden ist. Gelockert wird der Strafvollzug ferner durch gemeinschaftliche Freizeitbeschäftigung der Gefangenen in Gruppen. Hier können sich auch Ansätze zu einem Gruppengespräch entwickeln. In einer solchen Gruppe, die nicht zu groß sein darf (etwa 10), lassen sich unter erfahrener, zurückhaltender Leitung Aussprachen gestalten, in denen Sorgen, Hemmungen, Ärger, Disziplinwidrigkeiten usw. abreagiert werden können. Im deutschen Strafvollzug sind bisher insoweit nur unsystematische Versuche gemacht worden. Die Nützlichkeit solcher Gruppengespräche hängt von der Zusammensetzung der Gruppe und ihrer behutsamen, aber sicheren Leitung ab. In solchen Gruppen Iäßt sich voraussichtlich auch eine Art Mitverwaltung der Teilnehmer, aus deren Kreis die Gesprächsthemen hervorgebracht werden, entwickeln. Für die Leitung dieser Gruppen werden unter den Bediensteten oder auch unter freiwilligen Helfern geeignete Persönlichkeiten benötigt. Auch an Räumlichkeiten für die Gruppenarbeit mangelt es, wenn man sie nicht auf wenige Gruppen beschränken will. Unsere übergroßen Anstalten, besonders älterer Bauart, mit ihrem Massenbetrieb sind für die Bildung vieler kleiner Gruppen wenig geeignet. Als Gruppenarbeit läßt sich die Redaktion und Herstellung einer Anstaltszeitung erfolgreich organisieren, wie dies in etlichen Anstalten geschieht. Der Urlaub, der Gefangenen aus wichtigen persönlichen Gründen, aus besonderen Anlässen oder zur Wiedereingliederung bei Ausschluß von Mißbrauchsgefahr in Abständen gewährt werden kann, ist nach dem bisherigen Rechtszustand eine aus dem Gnadenrecht abzuleitende Maßnahme der Vollstreckungsbehörde. In Wirklichkeit ergibt sich daraus für den Gefangenen eine Lockerung des Vollzuges. Das ist besonders der Fall, wenn die Zeit des Urlaubs auf die Strafzeit nachträglich angerechnet wird. Für die Einrechnung des Urlaubs in die Strafzeit ist die pünktliche Rückkehr vom Urlaub ein wesentlicher Gesichtspunkt. Das wird dem Urlauber vor Antritt des Urlaubs auch ausdrücklich zugesagt. Die gegenüber früher großzügigere Urlaubsgewährung ist eine echte fortschrittliche Lockerung des Vollzuges. 18.

Offene

Anstalten

Zu einer weitgehenden Lockerung des Strafvollzuges gelangt man über die wenig gesicherten halboffenen und schließlich über die ungesicherten

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offenen Anstalten. In den weitgehend offenen Anstalten fehlen ernstzunehmende Sicherheitsvorkehrungen gegen Entweichungen. Es wird erwartet, daß sich jeder Insasse der Hausordnung willig fügt und gewährte Freiheiten nicht mißbraucht. Es ist sozusagen Ehrensache, sich reibungslos einzuordnen. Die Organisation der weitgehend offenen Anstalten ist von Land zu Land, ja von Anstalt zu Anstalt verschieden. Das Regime ist vielfach noch primitiv, weil für geistige Betreuung oft nur Massenmedien und die üblichen Brettund Kartenspiele verfügbar sind, zumal die Verweildauer meistens nur einige Wochen oder Monate zu dauern pflegt. Zu wirksamer Erwachsenenbildung genügt das nicht. Es kommt hinzu, daß in manchen Ländern die arbeitsfreien Wochenenden in diesen Anstalten zu reichlicher Urlaubsgewährung benutzt werden. Die gemeinschaftliche Unterbringung bei Tag und Nacht ist die Regel. Die Unterkünfte sind nur selten speziell für diesen Zweck gebaut. Es sind zum Teil ehemalige Barackenlager von freien Arbeitern, zum Teil ehemalige Gutshöfe, in der Regel schnell erworben, um den Überhang an rückständigen Strafvollstreckungen namentlich bei Verkehrssündern aufzuarbeiten oder die überfüllten festen Anstalten zu entlasten. In dieser Art Anstalten (englisch: open prisons) besteht große Bewegungsfreiheit innerhalb des Anstaltsgeländes, das grundsätzlich weder bei der Arbeit noch bei der Freizeit überschritten werden soll. Ob in den weitgehend offenen Anstalten, die für erstbestrafte Fahrlässigkeitstäter bestimmt sind, durch diese Art des Vollzuges irgendein Strafzweck erreicht wird, ist nicht sicher, zumal wenn ihre Belegfähigkeit mehrere hundert Köpfe beträgt. Weit mehr Sinn steckt darin, längerstrafige Vorsatztäter individualisierend und wegen der dabei von ihnen übernommenen Belastung nur mit ihrem schriftlichen Einverständnis gegen Ende der Strafzeit in eine weitgehend offene Anstalt (englisch: hostel) zu überführen. Von dort sollen sie bei Eignung eine Arbeitsstelle des freien Lebens gegen regelrechte Entlohnung wahrnehmen (prerelease treatment) und dann mit einem neutralen Zeugnis dieses Arbeitgebers in die völlige Freiheit oder in eine bedingte Freiheit unter Aufsicht eines Bewährungshelfers entlassen werden. Der Schlüssel zum Erfolg dieses Experimentes heißt „richtige Auswahl". Die Gesamtstrafzeit des Insassen einer solchen Anstalt muß mindestens 9 Monate betragen. Der Anwärter muß für eine spätere bedingte Entlassung in Betracht kommen. Die Vorschläge für die Überführung in eine solche weitgehend offene Anstalt sollten zentral überprüft werden, um eine einheitliche Auswahlentscheidung zu gewährleisten. Die Überstellung in die Anstalt und das freie Regime daselbst müssen nach Art, Schwere und Hintergrund der begangenen Taten verantwortet werden kön-

300

Strafvollzug

nen. Auswahlmängel führen sonst zu Mißerfolgen, die der an sich guten Sache schaden. Die Frage, ob man die weitgehend offene Anstalt einer großen festen Anstalt — natürlich in gehöriger Entfernung — angliedern soll, wird bei erwachsenen Gefangenen (im Gegensatz zu jungen) im allgemeinen verneint, weil sich die Eigenschaft, ein Anhängsel zu sein, weder für die Haltung der Gefangenen noch für die Auswahl des in der weitgehend offenen Anstalt tätigen Personals vorteilhaft auswirkt. Halboffene Anstalten für Erwachsene gibt es in der Bundesrepublik schon eine ganze Reihe. Hier seien als Beispiele die hamburgischen Anstalten Glasmoor und Neuengamme und die westfälischen Gefangenenlager Oberems mit Sitz in Bielefeld erwähnt. Was schließlich die offenen Anstalten angeht, so gibt es sie im Ausland bereits in größerer Zahl, u. a. in Frankreich, der Schweiz, Belgien, England, Schweden und in den Niederlanden. Auch im Erwachsenenvollzug der Bundesrepublik gibt es Anstalten, die eher zu den offenen, als zu den halboffenen zu rechnen sind. Beispiele seien erwähnt: Hamburg: Alt-Erfrade; BadenWürttemberg: Heilbronn; Bayern: Bernau-Rottau; Niedersachsen: Lingen; NRW: Neu-Iisternohl, Castrop-Rauxel und am fortschrittlichsten wohl Hessen: Gustav-Radbruch-Haus in Frankfurt/Main. 19.

Sicherungsverwahrung

Wenn sowohl die materiellen als auch in den dafür geeigneten Fällen durch die individuellmethodische Resozialisierung die geistig-seelischen Vorbereitungen für die Entlassung mit aller Sorgfalt getroffen worden sind, und zwar auch auf die Gefahr hin, daß die Hoffnung auf Erfolg gering sein sollte, hat der Strafvollzug das Seine getan. Schlägt dann die Hoffnung fehl, so wird bei erneuter Straffälligkeit das Gericht zu prüfen haben, in welchem Zeitpunkt wiederholter Straffälligkeit der Schluß gerechtfertigt ist, daß der Täter dem Rückfall immer wieder von neuem ausgesetzt ist und nach der Art und Begehungsform seiner Straftaten eine Gefahr für seine Rechtsgenossen darstellt. Dann wird bei der Zumessung der neuen Sanktion der Gesichtspunkt des Gesellschaftsschutzes in den Vordergrund treten und Sicherungsverwahrung angezeigt sein. Mittels einer langen, wenn auch das Verhältnis zur Tat nicht außer acht lassenden Freiheitsentziehung soll dafür gesorgt werden, daß der gefährliche Hangtäter keinen weiteren Schaden anrichtet. Die Zahl der Sicherungsverwahrten betrug hierzulande am 31. 3.1967 815 Männer und 39 Frauen, wovon sich etwa 700 bzw. 34 noch im Alter von 30—60 Jahren befanden. Ihre Zahl ist gegenüber vergleichbaren anderen Staaten, die eine ähnliche Maßregel kennen, niedrig und erklärt sich aus der

starken Zurückhaltung der Gerichte, sie frühzeitig zu verhängen, sowie aus ihrer Praxis, durchschnittlich nach drei- bis vierjähriger Dauer Entlassungsgesuchen zu entsprechen, wobei sich beachtliche Prozentsätze erneuter Rückfälligkeit ergeben. Es ist das ernste Bestreben des deutschen Strafvollzuges, die mit der Maßregel der Sicherungsverwahrung verbundene Freiheitsentziehung, die keine Strafe sein soll, aber natürlich als solche empfunden wird, dadurch von der Strafe zu unterscheiden, daß den Verwahrten bei allerdings völlig sicherer Verwahrung und unter der Voraussetzung angemessener Führung reichlich Erleichterungen gewährt und sie auch merklich komfortabler als Strafgefangene untergebracht werden. Das Verlangen von Sicherungsverwahrten, weiblichen Besuch zum Zwecke des Geschlechtsverkehrs empfangen zu dürfen, ist von der Rechtsprechung bisher allerdings einhellig abgelehnt worden. 20.

Gefängnisbeiräte

Schon im vorigen Jahrhundert war Krohne, der damalige Leiter des preußischen Gefängniswesens dafür eingetreten, daß einige Bürger des Bezirks, in dem ein größeres Gefängnis lag, einen Gefängnisbeirat bildeten. Sie sollten Einblick in den Betrieb nehmen, die Gefangenen besuchen und unüberwacht sprechen, Aufklärung verlangen und Mißstände bei der Anstaltsverwaltung zur Sprache bringen dürfen. Es sollte sich um Personen handeln, von denen Verständnis für die Aufgaben und Wirkungen des Strafvollzuges, Anteilnahme an den persönlichen Sorgen der Gefangenen und Mitarbeit bei der Entlassenenfürsorge zu erwarten war. In diesem Sinne sahen die Vorschriften der §§ 17—23 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. 6. 1923 — RGBl. II S. 263ff. — den Strafanstaltsbeirat vor. Er erwies sich jedoch als nicht recht lebensfähig. Der Entwurf zu einem Reichsstrafvollzugsgesetz von 1927/28 sah ihn deshalb schon nicht mehr vor und die Verordnung vom 14. 5.1934 — RGBl. I S. 383 — strich ihn aus den Grundsätzen von 1923. Nach 1945 wurde er zunächst in Bayern und Hamburg wiederbelebt und blühte in beiden Ländern — obwohl durchaus verschieden organisiert — wieder auf. In anderen Ländern folgt man z. Zt. diesen Beispielen. Im Ausland ist die Einrichtung der Beiräte weit verbreitet. Ob man nun die Wurzel der Gefängnisbeiräte in einem Kontrollorgan der Öffentlichkeit zur Wahrung der Menschenrechte in den Strafanstalten sieht oder ob man den Beirat als eine Möglichkeit wertet, dem Gefangenen zu beweisen, daß die Öffentlichkeit an ihm im Gefängnis Anteil nimmt und ihm bei und nach der Entlassung helfen will, ist ziemlich belanglos, da diese Aufgaben sich verbinden lassen. Einige

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Strafvollzug angesehene, unabhängige, einsichtige und interessierte Persönlichkeiten werden für einige Jahre eingesetzt, um die vorgenannten Aufgaben zu erfüllen. 21. Strafregister

und

Strafvollzug

Für die Wiederherstellung des sozialen Ansehens eines Strafentlassenen innerhalb der Rechtsgemeinschaft und für seine ungefährdete Wiedereingliederung sind die Fragen, welchen Stellen Auskunft aus dem Strafregister erteilt wird und unter welchen Voraussetzungen ein polizeiliches Führungszeugnis ohne Strafvermerk erteilt werden darf, von erheblicher Bedeutung. Diese Materie ist zum großen Teil in Verwaltungsvorschriften geregelt, obwohl mit der weit ausgedehnten Befugnis zahlreicher Stellen, Auskunft aus dem Strafregister zu verlangen, beträchtlich in den Rechtskreis eines Bestraften eingegriffen wird. Bei gerechter Abwägung des Schutzinteresses der Allgemeinheit und des Interesses des Bestraften an seiner Wiedereingliederung könnten diese Auskunftspflichten eingeschränkt werden, besonders, was erstbestrafte Gefangene angeht. Es sollte überlegt werden, ob es nicht vertretbar wäre, dem erkennenden Gericht oder dem Vollstreckungsgericht auch bei Strafen über 9 Monate die Möglichkeit zu geben, bei Erstbestraften in geeigneten Fällen, gegebenenfalls kurz vor der Strafentlassung, beschränkte Auskunft aus dem Strafregister anzuordnen und dem Bestraften damit das Recht einzuräumen, sich gegenüber Dritten als unbestraft zu bezeichnen. 22. Strafzumessungspraxis

und

Strafvollzug

Für den Strafvollzug ist die Strafzumessungspraxis der Gerichte von großer Bedeutung (-»• Strafzumessung). Sie wird, soweit vollstreckte Freiheitsstrafen oder Sicherungsverwahrung in Frage kommen, durch folgende Zahlen beleuchtet: Am 31.3.1967 verbüßten von den etwa 42 000 erwachsenen männlichen Insassen der Anstalten in der Bundesrepublik rd. 9000 Strafen von einem Tag bis drei Monaten, rd. 5000 solche von 3 bis 6 Monaten und etwa 3000 solche von 6 bis 9 Monaten. Es blieben also rd. 25 000 Gefangene mit Strafen über 9 Monaten übrig. Die weitaus größte Zahl, nämlich etwa 34 000 war mit Freiheitsstrafe vorbestraft. Rd. 15 000 waren fünfmal und mehr vorbestraft. Für die Kunst, eine Strafe richtig zuzumessen, findet sich in der Ausbildung unserer Strafjuristen fast kein Raum. Mängel der Strafzumessung erschweren die Resozialisierungsaufgabe des Strafvollzugs beträchtlich, sowohl bei zu milder, als auch bei zu hoher Strafe. Auch die großen Unterschiede, mit denen die einzelnen Gerichte Straftaten und Straftäter bei der Strafzumessung be-

werten, lösen bei den Gefangenen, die in den Anstalten zusammentreffen und ihre Taten und Strafen vergleichen, oft tiefes Befremden aus. Es ist hier nicht der Ort, zu überlegen, ob und wie solchen krassen Unterschieden in der Bewertung etwa gleichliegender Sachverhalte abgeholfen werden kann. Die Gefangenen jedenfalls würde eine gleichmäßigere Strafzumessung mit ihrer Strafe mehr versöhnen. Krasse Unterschiede, für die man als Erklärung nur vage Hinweise auf die andersartige Individualität eines anderen Täters einer gleichartigen Tat anführen kann, finden bei ihnen kein Verständnis. Einer besseren Wirkung des Strafvollzuges könnte man wohl gewiß sein, wenn der Gesetzgeber den Richter ermächtigen würde, eine relativ unbestimmte Strafe festzusetzen, sobald eine resozialisierende Behandlung während des Strafvollzuges in Betracht kommt. Dem Vollstreckungsgericht müßte es dann im Benehmen mit der Vollzugsbehörde überlassen bleiben, das endgültige Strafende zu bestimmen. Damit wäre es möglich, den Strafvollzug zwischen Mindest- und Höchststrafe im Höhepunkt seiner Wirkung abzubrechen und die Reststrafe mit Bewährungsaufsicht auszusetzen. Das erfordert aber eine Neuordnung des Vollstreckungsgerichts. Heute pflegt es mit dem Gericht identisch zu sein, welches das Urteil gefällt hat. Eine Vollzugsanstalt hat es deshalb jetzt mit einer Vielzahl von Vollstreckungsgerichten zu tun. Das ist, vom Standpunkt einer gleichmäßigen, durch Vollzugsund Personenkenntnis fundierten Handhabung der Entlassungspraxis aus betrachtet, unzweckmäßig. Vielmehr darf es für die Gefangenen einer Anstalt nur ein Vollstreckungsgericht, und zwar am Sitz oder in der Nähe der Anstalt geben. Die Meinung, das könne ein Amtsrichter des nächstgelegenen Amtsgerichts sein, wird der Sache nicht gerecht. Nur ein kriminologisch erfahrener Richter mit langjähriger Strafpraxis, die sich nicht nur auf die kleine und mittlere Kriminalität beschränkt, ist hierzu in der Lage. Er muß diese besondere Funktion lange genug ausüben, um Erfahrungen zu sammeln und die Kontinuität der Entscheidungen zu gewährleisten. Auf diesen Richter müßte die gesamte Vollstreckung übergehen. Die besonders wichtige Entscheidung über eine Entlassung in die Freiheit oder in eine überwachte Freiheit vor Ablauf der Strafzeit des Urteils sollte das Vollstreckungsgericht als Vollstreckungskammer treffen, vielleicht mit den Leitern des zuständigen Sozialamtes und des Arbeitsamtes als Beisitzern, da deren Sachkunde mithelfen kann, die Entscheidung lebensnah und erfolgreich zu gestalten. 23.

Schlußbetraehtung

Niemand kommt bei einer Reform daran vorbei, daß es die erste Aufgabe des Strafvollzuges

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Strafvollzug

ist, während der Strafzeit die Freiheit zu entziehen. Zwar gibt es A b s t u f u n g e n des Freiheitsentzuges. Wie die absolute Gefangenschaft aussehen könnte, schildert H o r s t B i e n e k in seinem preisgekrönten R o m a n „ D i e Zelle". Eine so bis z u m äußersten getriebene Freiheitsentziehung ist allerdings hierzulande u n d h e u t z u t a g e nicht vorstellbar. Aber in einer Anstalt höchsten Sicherheitsgrades m u ß der Freiheitsentzug anders aussehen, als i n einer w e i t g e h e n d offenen Anstalt. Zwischen diesen E x t r e m e n liegen Zwischenstufen. W e n n m a n als Strafvollzugsbeamter verpflichtet ist, den Freiheitsentzug zu gewährleisten, k a n n m a n die Bewegungsmöglichkeit, die eine offene Anstalt bietet, nur verhältnismäßig wenigen Ausgewählten einräumen. Sehr vielen Bestraften läßt sich die Freiheit nur m i t t e l s Mauern, Gittern, Zäunen und verschlossenen Türen entziehen. Diese N o t w e n d i g k e i t begrenzt die Aussichten einer sozialisierenden Behandlung, der zweiten Aufgabe des Vollzuges. W e n n hier v o n erster u n d zweiter Aufgabe gesprochen wird, so soll damit keineswegs ein Hang bezeichnet werden. Für denjenigen, der i m Strafvollzug seine Lebensaufgabe sieht, ist rangmäßig die zweite Aufgabe, die der Sozialisierung, die erste. N u r m u ß eT einsehen, daß er sie nur i m R a h m e n der ersten Aufgabe, der Pflicht, Freiheit zu entziehen, erfüllen darf, einer Pflicht, die keine Freude bereitet, aber unabweisbar ist (Stand: 1969).

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Strafvollzug, Jagendstrafvollzug ->- Ergänzungsband Strafvollzug, Psychologie und Soziologie ->- Ergänzungsband Strafvollzug, Beform ->- Ergänzungsband Strafvollzug, Untersuchungshaft band

Ergänzungs-

STRAFVOLLZUG Seelsorge 1.

Geschichtliches

Die Aufgaben der Kirchen bei der Sorge für Gefangene ergeben sich aus Matth. 25, 36 und 18,15—20 als ein Werk der Barmherzigkeit. Schon in der alten Kirche umfaßte diese Sorge nicht nur die um des Glaubens willen Verfolgten, sondern auch die Schuld- und Kriegsgefangenen. Seit Ignatius von Antiochien wird immer wieder die Humanisierung der Behandlung jeder Art von Gefangenen gefordert. Ansätze einer seelsorgerischen und fürsorgerischen Betreuung der Gefangenen gehen jedoch wieder unter in den stürmischen Jahrhunderten der Völkerwanderungszeit. Im Mittelalter stehen in Kriegsgefangenschaft geratene Pilger und Kreuzfahrer im Blickpunkt des Interesses, und erst spät kennt man eine Seelsorge für die Gefangenen in den eigentlichen Gefängnissen. Orden und Bruderschaften nahmen sich solcher Gefangenen an. Im späten Mittelalter sind auch Ansätze der Gefangenenseelsorge seitens der Stadtverwaltungen festzustellen (Amsterdam). Seit der Reformationszeit finden sich in den Kirchenordnungen mehr und mehr Grundsätze für regelmäßige Seelsorge durch Besuche im Gefängnis und durch Sakramentsverwaltung. Auch in der katholischen Kirche sind besondere Bemühungen etwa bei Karl Borromäus, Vincen-

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Strafvollzug

tius a Paulo (1581—1660) und Don Bosco (1815 bis 1888) festzustellen. Intensivere Beachtung fand die Gefangenenseelsorge, als die Freiheitsstrafe in die Rechtssysteme der Staaten eingebaut wurde. Die Bezeichnung „Erziehungshäuser" brachte zum Ausdruck, daß zur Erziehung auch die Aufgabe der Seelsorge gehöre. In Deutschland wurden die Anregungen anderer Länder relativ spät aufgenommen. Erst John Howard (1726 bis 1790) und Elisabeth Fry in Newgate (1780—1845) wirkten maßgeblich auf diesem Sektor. Ihre Bemühungen um Reformen hatten ein weltweites Echo. Ν. H. Julius befaßte sich intensiv in Vorlesungen mit Gefängniskunde. Im Anschluß an amerikanische Erfahrungen (Pennsylvanien) forderte er 1830 wirksame Gefangenenseelsorge. Maßgebenden Einfluß auf die Neugestaltung und Intensivierung dieser Arbeit hatte aber in Deutschland vor allem Fliedner (1800—1864), der in England mit Ideen der Gefängnisreform bekannt wurde und 1826 die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft gründete, sowie J . H. Wichern (1808—1881), der sich ganz besonders dieser Fragen mit Nachdruck und Erfolg annahm. Er gilt als der intensivste Gefängnisreformer der Neuzeit. So versuchte er, die Gefangenenseelsorge zu einem festen Bestandteil jeder Gefängnisordnung zu machen. Entsprechend den kirchlichen Grundsätzen wurde niemals die Gefangenenfürsorge von der Seelsorge getrennt, und die Seelsorge an Gefangenen wurde im weitesten Sinne als ein Mittel der Erziehung des Rechtsbrechers betrachtet. Der Versuch, unternommen von Wichern, das Aufsichtspersonal auf diakonischer Grundlage gleichsam zu Laienhelfern auf diesem Gebiet zu machen, schlug allerdings fehl, aber seine Gedanken zur Gefangenenseelsorge und -fürsorge unter Betonung des Laienelements wurden auf diesem Gebiet bahnbrechend. Sie wurden Grundlage entsprechender Vereinbarungen aus den Jahren 1897 und 1924 zwischen Kirchen und kirchlichen Verbänden auf der einen und für den Strafvollzug verantwortlichen deutschen Staats- und Landesregierungen auf der anderen Seite. Noch sprach man nicht von kriminologischen Notwendigkeiten bei dieser Arbeit, aber doch stellte ζ. B. schon Fliedner fest, daß „Religion, Gerechtigkeit und Menschenliebe in den Anstalten heimisch zu machen" seien. Damit war auch der erzieherische Auftrag der Gefangenenseelsorge festgelegt, der, wie auch die Erfüllung dieses Auftrags, entsprechend der kirchengeschichtlichen Entwicklung, verschiedene Nuancen erhielt und bald mehr von einer „Erweckung zu einer Schuldeinsicht", dann wieder von einem Interesse an der Behandlung des Täters im Kampf gegen die Kriminalität sprach. Die Gefangenenseelsorge sollte zur Weckung des Gewissens führen, indem als Mittel der Seelsorge die den Kirchen zur Verfügung stehenden Mög-

lichkeiten in Gottesdienst, Unterricht und Einzelbetreuung eingesetzt wurden. 2.

Grundsätzliches

In letzter Zeit sind infolge verfassungsrechtlicher Aspekte mit der Besinnung auf die Grundrechte der Glaubensfreiheit (Art. 4 , 1 u. 2 GG) Fragen der Seelsorge wieder in Bewegung geraten. Das Bundesverfassungsgericht hat zum Ausdruck gebracht, daß der Gefangene ein Anrecht auf Seelsorge habe ( 1 2 , 1 (3f)). Auch die Strafsenate der OLG haben festgestellt, daß sogar während des Arrestvollzuges Teilnahme am Gottesdienst zulässig sei, wenn keine Störungen zu erwarten seien (OLG Bremen, s. Vollzugsdienst 1963, Nr. 6, S. 22). Demnach ist es fraglich, ob der Anstaltsleiter gemäß der heute noch gültigen DVO Nr. 135, Abs. 2 aus Gründen der Sicherheit und Ordnung einen Gefangenen von der Teilnahme ausschließen darf. Somit muß es auch grundsätzlich möglich sein, daß sich Gefangene einem anderen Bekenntnis zuwenden, wenn auch die Aufnahme in die neue Religionsgemeinschaft nach den kirchlichen Ordnungen erst in der Heimatgemeinde in Gegenwart von Zeugen (Ältesten) erfolgen wird, weil Gefängnisaufenthalt keinen Wohnsitz begründet. Eine Folge dieser grundsätzlich zugestandenen freien Religionsausübung sind die Aushändigung von Schriften oder Gegenständen in angemessenem Umfang, sowie je nach dem Glaubensbekenntnis, eine Rücksichtnahme auf Speisegebote. Ein Ermessen des Anstaltsleiters bei Überlassung religiöser Schriften gemäß DVO Nr. 128, Abs. 5, Satz 2 widerspricht daher eigentlich dem GG Art. 4. Es besteht Anspruch auf Austausch mit dem Pfarrer des jeweiligen Bekenntnisses und keine Überwachung des Besuch- und Briefverkehrs. Die Grundsätze der Strafvollzugskommission für ein Strafvollzugsgesetz stellen diese Rechtslage klar. So ist der Pfarrer auch gemäß Nr. 25, Abs. 1 DVO an Vollzugsmaßnahmen beteiligt, und es kann auch nach Ausdehnung der Sozialarbeit oder psychischer Behandlung durch Fachkräfte in neuerer Zeit von einer Beschränkung auf die bloße Seelsorge keine Rede sein. Die Geschichte ergibt auch, daß infolge einer solchen Auffassung gerade von den Vertretern der Kirchen die meisten und besten Anstöße zu neuen Formen der „Behandlung", wie sie auch das kommende Strafvollzugsgesetz vorsieht, ausgegangen sind. Die Bemühungen um Schuldeinsicht (Nr. 57 DVO) haben daher immer einen sozialpädagogischen und fürsorgerischen Akzent gehabt, lange bevor es Spezialisten für Einzelaspekte des Vollzuges gab. Die Verteilung der Aufgabenlasten auf breitere Schultern macht den Pfarrer gleichzeitig frei für seine eigentliche Aufgabe. Die Strafvollzugskommission hat für die gesetzliche Regelung auch verlangt, daß kein

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Strafvollzug mittel- oder unmittelbarer Zwang zu religiöser Betätigung oder Nichtbetätigung etwa durch Arbeitspflichten zu Gottesdienstzeiten ausgeübt werden darf. Ebenso sollen wie auch draußen während der Zeit des Gottesdienstes keine Veranstaltungen stattfinden, an denen teilzunehmen die Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft ein berechtigtes Interesse haben. Leider sind solche Bestimmungen in den §§ B0 u. 51 StVG-Entwurf nicht paragraphiert worden. 3.

Mittel

Im wesentlichen geht es bei dieser Seelsorge darum, dem im Freiheitsentzug Straffälligen und deshalb in Bedrängnis und Nöte geratenen Menschen in mitmenschlicher Weise zu begegnen, indem ihm die Heilmittel der Kirche in Wort und Sakrament angeboten werden. Die Kirchen halten daran fest, daß zur Seelsorge auch die Leibsorge gehört und daß eine scharfe Trennung zwischen Gefangenenseelsorge und -fürsorge abzulehnen ist. In den mehr oder weniger amtlichen kirchlichen Instruktionen für die Gefangenenseelsorge (1859, 1924, 1962 i. d. Evgl. Kirche im Rheinland) werden als Hauptgebiete dieser Seelsorge regelmäßige Gottesdienste mit Predigt, Sakramentspendung, Zellenbesuche, Sprechstunden für Angehörige und Besuche bei ihnen oder mit dem Gefangenen in der Anstalt, sowie sozialkaritative Seelsorge, Religionsunterricht in Jugend- und Erwachsenenanstalten genannt. Einschränkungen sind bei Strafgefangenen kaum, bei Untersuchungsgefangenen nur mit Genehmigung des Richters oder Staatsanwaltes im Interesse der Ermittlungen möglich. Konfirmation oder Firmung ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden möglich. Die Ausübung der Seelsorge befleißigt sich bei den aus der Kirche Ausgetretenen in der Regel und nur auf Wunsch der geforderten Zurückhaltung. Gefangene, die keiner der großen christlichen Kirchen angehören, haben grundsätzlich ein Recht auf Betreuung durch Beauftragte der entsprechenden Gemeinschaften, Sekten oder Denominationen, die meist der geringen Zahl wegen keine haupt- oder nebenamtlichen Beauftragten durch Vertrag mit der Vollzugsbehörde beschäftigt haben. Bei den sehr verschiedenartigen Menschentypen unter den Gefangenen ist der Einsatz der möglichen Mittel stets eine Aufgabe der Klugheit, des Geschicks und des hohen Verantwortungsbewußtseins und erfordert vom Träger der Seelsorge große Nüchternheit, so daß besonders qualifizierte Pfarrer erwünscht sind. Eine Gruppe von Gefangenen hat die Religion auch vor dem Freiheitsentzug praktisch ausgeübt und wünscht sie in dieser Situation aufrichtig. Eine andere umfaßt solche, die bisher infolge ihrer Erziehung oder des Milieus der Religionsausübung sehr indifferent gegenüberstanden, aber infolge der Nöte und Bedrängnisse 20 HdK, 2. Aufl., Bd. III

die kirchlichen Mittel in Anspruch zu nehmen wünschen. Eine letzte, aber sehr kleine Gruppe setzt sich aus glaubenslosen oder innerlich abgestorbenen Menschen zusammen, zwar äußerlich tolerant, aber aus äußerlichen Gründen, etwa im Interesse eines Gnadenerweises nicht offen ablehnend, aber oft doch sehr schwierig. Ein Zielkonflikt ergibt sich immer zwischen der Beteiligung an der Persönlichkeitserforschung und dem Beicht- und Amtsgeheimnis, so daß durchweg eine schriftliche Stellungnahme zu Gnaden- oder Urlaubsgesuchen abgelehnt wird. Umstritten ist aber die Beteiligung der Gefangenenseelsorger bei reinen Verwaltungsaufgaben wie der Briefzensur oder der Teilnahme an den regelmäßig stattfindenden Anstaltskonferenzen. Eine Zusammenarbeit aller Kräfte im Strafvollzug, wie sie auch das kommende Gesetz vorsieht, stellt den Pfarrer immer wieder vor schwierige Entscheidungen. 4.

Organisation

Die haupt- und nebenamtlichen Seelsorger beider Konfessionen haben sich im Interesse der Aus- und Fortbildung, aber auch zu ihrer Standesvertretung zu je einer Konferenz evgl. und kathol. Pfarrer an den Justizvollzugsanstalten der BRD und Westberlin zusammengeschlossen. Auf den alljährlich stattfindenden Konferenzen auf Bundes- und Landesebene werden sowohl theologische wie auch praktische Fragen dieses Fachgebietes behandelt, zumal auf den Universitäten innerhalb der praktischen Theologie fast gar nicht, allenfalls erst in den Priester- und Predigerseminaren, diesem Dienst Aufmerksamkeit zuteil wird. Beide Konferenzen sind gleichzeitig eine Brücke zu den Trägern des Strafvollzuges, d. h. den Ländern der BRD einerseits, aber auch zu dem weiteren Kreis der Kirchen auf gesamtkatholischer und ökumenischer Grundlage. Maßgebend für diesen genuin kirchlichen Dienst ist das Selbstverständnis der Kirchen mit ihrem geweiligen theologischen Standort, der nicht durch staatliche Verfügung festgelegt werden kann. Abhängig davon sind allerdings dann auch organisatorische Regelungen des Dienstes ζ. B. im Verhältnis zur Vollzugsbehörde und zum Anstaltsleiter, die immer wieder Verhandlungen zwischen Staat und Kirche für die Rechte und Pflichten des Anstaltspfarrers erforderlich machen. Aber auch dann kann die Einordnung des Anstaltspfarrers in den Anstaltsbereich selbst bei einer vermeintlich fertigen Lösung noch immer zur Problematik führen. So ist bis heute noch nicht die Frage entschieden, ob der hauptamtliche Anstaltspfarrer Staats- oder Kirchenbeamter (wie in Hessen-Nassau, Berlin und Hamburg) sein oder eine Tätigkeit nur auf Zeit (wie bei der Bundeswehr auf 8 Jahre oder wie in England) erfolgen soll. Schon früh hat die Konferenz evgl. Pfarrer

Strafvollzug

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eine Dienstanweisung für die Gefangenenseelsorge in den Anstalten der Justizverwaltung Preußens ausgearbeitet, die am 24. 5.1924 im Einvernehmen mit dem Staat durch den Oberkirchenrat in Kraft gesetzt wurde. Nach dem Kriege hat die Evgl. Kirche in Hessen und Nassau einen Rahmenvertrag mit dem Hessischen Justizminister am 1. 4.1951 mit anschließender Dienstanweisung abgeschlossen. Anstaltspfarrer beider Konfessionen erarbeiteten „Grundsätze und Richtlinien für die Gefangenenseelsorge an den Justizvollzugsanstalten in der BRD" (veröffentlicht leider nur die §§ 1—4 und 43 über Seelsorge und Fürsorge in der Zeitschr. f. Strafv. 1954, Nr. 1, S. 43). Auf internationaler bzw. ökumenischer Ebene haben etwa 40 Pfarrer aus 10—12 Kirchen im ökumenischen Institut des Weltrats der Kirchen in Genf im Institut Bossey Mai 1954 Fachfragen beraten und in 3 Studiengruppen wichtige Beschlüsse gefaßt, die in den „Materialien zur Reform des Strafvollzugsrechts" bei der rechtsvergleichenden Arbeit von Kühler über Gefangenen- und Entlassenenfürsorge Bd. VIII, Teil 2, S. 648—654 im Jahre 1959 veröffentlicht wurden. Teilweise werden sie behandelt bei Würtenberger, Kriminologie und Vollzug der Freiheitsstrafe, 1961, S. 254/255. Einzelne Landeskirchen wie die Evgl. Kirche im Rheinland, haben eine kirchliche Dienstordnung für die Anstaltspfarrer im Amtsblatt vom 31. 8. 1962, Nr. 22172 erlassen. Aus jüngster Zeit sind zu erwähnen „Allgemeine Richtlinien für den Dienst kathol. und evgl. Pfarrer in den Anstalten Baden-Württembergs". Sie wurden vereinbart zwischen dem Land, dem Erzbischöflichen Ordinariat in Freiburg und den beiden Evang. Landeskirchen in Baden und Württemberg und durch die Α. V. des Justizministeriums vom 2. 5.1967 (2412 — VI/69 in „Die Justiz" S. 112) in Kraft gesetzt. Die fast vorbildliche, instruktive Regelung dieser Frage der Seelsorge hat der Strafvollzugskommission mancherlei Anregung für den Entwurf des Strafvollzugsgesetzes gegeben. Im Interesse der Anleitung, Aus- und Fortbildung aller Pfarrer in diesem kirchlichen Sonderdienst ist man z. Zt. damit beschäftigt, ein Vademecum nach niederländischem Vorbild auszuarbeiten. Monographien und Kommentare E. B e r g g r a v : Die Seele des Gefangenen, Erfahrungen und Beobachtungen aus der Strafanstalt. 1929.

E. B u m k e : Deutsches Gefängniswesen. Berlin 1928, darin Seelsorge an evgl. und kathol. Gefangenen von D. Klatt bzw. C. Meyer, S. 256ff. u. 270ff. H. F i c h t n e r : Grundprobleme der Gefangenendiakonle. 1948. B. G u t f l e i s c h : Strafvollzug und Erziehung. 1926. K. H e i n e r s d o r f : E r g a b — ich nahm. 1927. L o t h a r H e r r wich: Menschen ohne Schlüssel. 1955. Κ. Η e a s: Die Kirche im Strafvollzug. Blätter für Gefängniskunde. Sonderheft 1932. J. H o w a r d : The state of the prisons in England and Wales. 1777. D. K l a t t : Treffpunkt Berlin-Moabit. 1930. K. K r a u s s : Im Kerker vor und nach Christus. 1895. H. K r i m m : Das diakonische Amt der Kirche im ökomenischen Bereich. I960. K. K r o h n e : Lehrbuch der Gefängniskunde. 1889. H. K ü h l e r : Die Gefangenen- und Entlassenenfilreorge. I n : Materialien zur Strafvollzugsreform, 8. Bd. 2. Teil. Bonn, Bundesjustizministerium 1959, S. 211 ff. und S. 513ff. H. L i l j e : Im finsteren Tal. 1947. P. L i m b e r g : Die Gefangenenseelsorge und caritative Fürsorge für Gefangene und Entlassene 1903 (Kathol.) und Fastoralinstruktion für die kathol. Geistlichen an Gefangenenanstalten (kathol.). G. v o n R h o d e n : Probleme der Gefangenenfilrsorge. 1908. B. V a l l o t o n : Wunderbare Dinge geschehen. 1950. J. H. W i e h e r n : Gesammelte Schriften IV. 1905. Zeitschriften- und Sammelwerkaufsätze K a r l B a r t h : Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge. ZStrafvollz. (1969) 8. 5ff. und dessen zwei Predigtbände aus der Strafanstalt Basel: „Der Gefangenen Befreiung" und „Bufe mich an". 1954—59. G u n d e r m a n n u. H. K ü h l e r : Strafvollzugskommission Tagungeberichte, Bd. IV. B. K r a m e r : Wieviel gilt der Pastor Im Strafvollzug? ZStrafvollz. (1967) S. 316. W. M i d d e n d o r f : Bellglon und Strafvollzug. MschrKrim. (1963) W. 74ff. M i n i m u m R u l e s der V e r e i n t e n N a t i o n e n : Nr. 41 u. 42. ZStrvollz. Nr. 3/4 (1958) S. 23ff. M. B e c k e r t : Die diagnostische und therapeutische Mithilfe des Seelsorgers bei der Besozialisierung. Bewhilfe (1964) S. 261 ff. M. S k a m b r a k s : Strafvollzug aus der Sicht eines tiefenpsychologisch orientierten Gefängnispfarrers. In: „Verbrechen — Schule oder Schicksal?". Hrsg. von von W. Bitter. 1969. S. 122. M. S k a m b r a k s : Seelsorge und Psychotherapie. I n : „Der Wanderer" 1968, S. 10. E. S t r o m b e r g : Beiträge zur Geschichte der Seelsorge 1. d. Strafrechtspflege. Diss. iur. Hamburg. 1954. Z e d e r - K t t h l e r : Kirchliche Seelsorge für Gefangene. In: „Kriminologie und Vollzug der Freiheitsstrafe. Hrsg. von Th. Würtenberger, 1961, S. 229ff. u. 256ff. HANS KÜHLER

Strafzumessung -> Ergänzungsband

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Τ Theoretische Kriminologie Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung

THEORIEN DES VERBRECHENS UND DER SOZIALEN ABWEICHUNG I. GRUNDLAGEN Einerseits sind die Grundlagen für diesen Artikel bewußt eng gelegt. Er soll vor allem einen Uberblick geben über die wichtigsten neueren soziologischen Theorien kriminellen und abweichenden Verhaltens. Zu den Theorien biologischer, psychiatrischer und psychologischer Orientierung: Kriminalbiologie, -> Psychologie des Verbrechens. Für einen Überblick über einige ältere soziologische Theorien: Kriminologie (Grundlagen). Im folgenden werden wir das dort Aufgeführte nur gelegentlich berühren, vor allem im Lichte späterer Entwicklung. Andererseits stellt der Artikel insofern eine Erweiterung dar, als er auch kurz in einige Lehren der Abweichung einführt, da heutzutage Erklärungen des Verbrechens dazu neigen, dieses Phänomen mehr und mehr im weiteren Kähmen des abweichenden Verhaltens zu betrachten. Zunächst einige Bemerkungen über Theorie und Theoriebildung und über kriminelles und abweichendes Verhalten. Weiteres hierüber vor allem bei Opp (1970). A. Die Kriminologische Theorie Der Begriff der Theorie ist vielfach diskutiert worden; hier kann nur kurz darauf eingegangen werden. Im allgemeinen versteht man darunter eine Erklärung, die Urteile, Konzepte oder Vorschläge in bezug auf Natur, Herkunft und Verhaltensweisen von gewissen Phänomen (ζ. B. Straftaten) enthält. Diese Erklärungen basieren entweder auf Spekulation, Deduktion, Abstraktion oder Generalisation. Gewisse Behauptungen über Straftaten oder Abweichungen werden logisch aufeinander bezogen und systematisch zusammengefaßt. Die logische Natur der Beziehungen bedeutet jedoch nicht notwendigerweise Kausalität; probalistische, funktionelle und entwicklungsmäßige Beziehungen ersetzen heutzutage häufig die traditionellen kausalen Beziehungen. Zum Überblick über dieses Problem sei verwiesen auf McDonald (1968), Wilkins (1968) und andere Artikel in derselben Nummer der Issues in Criminology. Nicht immer klar getrennt von dem Begriff der „Theorie" ist der der Hypothese. Zuweilen werden 20'

die beiden als Synonyme behandelt. Nur selten faßt man heute noch den letzteren Begriff so auf, daß er im Gegensatz zu dem ersteren anzeigt, daß er durch Tests bewiesen werden kann, denn man verlangt heutzutage sowohl von einer Theorie wie auch von einer Hypothese, daß sie sich wissenschaftlich nachprüfen lassen. Meist bezieht sich „Hypothese" nur auf Erklärungen ganz bestimmter, beschränkter Vorgänge, während eine Theorie „Breite" haben soll. Eine gute Theorie soll kurz und bündig formuliert, begrifflich klar und folgerichtig sein. Sie muß außerdem der Wirklichkeit und den bekannten Tatsachen genügend gerecht werden, obwohl nicht alle Tatsachen, mit denen sich eine Theorie beschäftigt, bekannt sein müssen, wenn man sie formuliert. In der Tat werden oft Theorien ex cognito ad i n c o g n i t u m formuliert. In gewisser Weise ist ihr Wert um so höher, je mehr sie sich verallgemeinern läßt. Einige Forscher bewerten Theorien nach ihrer praktischen Ergiebigkeit, ihrer Brauchbarkeit als Direktiven für Forschungsarbeiten (insbesondere Sammlung von Daten, Planung der Forschungsstrategie und Ausarbeitung von Arbeitshypothesen) und für die Formulierung und Verwirklichung der Kriminalpolitik. Weiterhin verlangt man, daß sich die Richtigkeit einer Theorie nachprüfen lassen müsse. Eine Theorie soll so beschaffen sein, daß sie sich quantitativ auf beobachtbare Tatsachen beziehen läßt; Theorien aller Art sind kritisiert worden, weil sie sich angeblich nicht testen lassen, ζ. B. sowohl psychoanalytische, als auch sozialistische Theorien, die das Verbrechen als Ergebnis der Produktionsweise des kapitalistischen Systems ansehen. Mangel an Nachprüfbarkeit kann viele Gründe haben, ζ. B. können Begriffe zu allgemein formuliert sein oder es können zu viele Variablen intervenieren. Manchmal läßt sich die Rolle der einzelnen Variablen nicht trennen. Auch sind gewisse Konzeptionen, wie etwa das „Ich" so beschaffen, daß es unmöglich ist, sie rational völlig zu erfassen oder sie sind schwer zu messen, wie ζ. B. die der „Rechtsverletzung günstigen und widerstrebenden Kontakte" (ein Begriff der differentiellen Assoziationstheorie von Sutherland). Gelegentlich werden jedoch nach der Formulierung einer Theorie Methoden entwickelt, die es erlauben, Behauptungen nachzuprüfen, die man vorher als unprüfbar angesehen hat, wie es in der Tat mit gewissen Teilen der Sutherlandschen Theorie geschehen ist. Von der Theorie muß die Methodik unterschieden werden. Die erstere ist materieller Natur und besteht aus Angaben über menschliches Verhalten (in einer soziologisch orientierten Theorie über

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menschliche „Interaktionen"), während die letztere nach Merton die „Logik des -wissenschaftlichen Verfahrens" ist; sie beschäftigt sich mit der Planung und Strategie der Forschung und ihren technischen Problemen, mit der Natur der Schlußfolgerungen, usw. Da die Methodik sich nicht mit dem Gegenstand der Untersuchung beschäftigt, ist sie nicht notwendigerweise an ein bestimmtes Forschungsgebiet gebunden. Dies ist beim Studium von Verbrechen und Abweichungen besonders dadurch erkennbar, daß die gegenwärtige Methodik zu einem großen Teil aus den Naturwissenschaften stammt und sich auf die Verhaltenswissenschaften allgemein anwenden läßt. Eine der bekanntesten Einteilungen ist die in biologische, psychologische bzw. psychiatrische und soziologische Theorien. Die erste beschäftigt sich vor allem mit konstitutionellen Faktoren, die zweiten mit persönlichen, geistigen und emotionellen Eigenschaften des Täters und die soziologischen mit der den Täter umgebenden Kultur. Eine andere, häufig vorgenommene Einteilung, die mit der zwischen soziologisch und psychologisch orientierten Theorien verwandt, jedoch nicht identisch ist, ist die zwischen makroskopischen und mikroskopischen Theorien. Die ersteren behandeln das Verbrechen als breit angelegtes soziales Phänomen, während die letzteren es auf das Individuum beziehen. Insbesondere können individuelle Theorien sowohl psychologisch als auch soziologisch und sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch sein. Ζ. B. beschäftigt sich die schon genannte Theorie der differentiellen Assoziation mit dem Lernprozeß, also einem psychologischen Vorgang, durch den ein bestimmtes Individuum dazu kommt, Verbrechen zu begehen. Jedoch wird diese Theorie wegen der Art ihrer Argumentation als eine soziologische Theorie betrachtet. Wie Cressey (1960) betont, behandelt die Theorie ebenfalls sowohl die mikroskopische als auch die makroskopische („epidemiologische") Seite des Verbrechens. Weiterhin sind die Begriffe „Mehrfaktorenansatz" und „Einzelursachenansatz" von Bedeutung. Sie werden leicht mißverstanden. Der erstgenannte Begriff darf nicht mit den sog. „Mehrfaktorentheorien" (Kaiser, 1971, 59) verwechselt werden, die auf von Liszt zurückgehen und auf die Anlage-Umwelt-Formel rekurrieren. Die Mehrfaktorenansätze wenden sich häufig gegen die älteren Einzelursachenansätze, die Abweichung und Verbrechen als Ergebnis eines einzigen Faktors verstehen, sei es „Entartung", der „geborene Verbrecher", das unbewußte Bedürfnis, bestraft zu werden, Mangel an Intelligenz, schlechte Anpassungsfähigkeit, gestörte Familienverhältnisse u. ä.. Forscher, die dem Mehrfaktorenansatz zuneigten, erkannten, daß keine einzige „Ursache" ausreicht, Kriminalität zu erklären und schlossen daraus, daß die empirischen Ergebnisse (meist statistischer Natur)

den theoretischen Erklärungen vorausgehen müßten, entweder in der Erwartung, daß die Theorie den Resultaten folgen werde oder indem sie die Notwendigkeit einheitlicher Theorie verneinten. Diejenigen, die den Mehrfaktorenansatz ablehnen, erkennen zwar seine Brauchbarkeit für die Diagnose einzelner Fälle und für „pilot studies" u. ä. an, halten ihn jedoch nicht für „Theorie" im oben beschriebenen Sinne und bezweifeln, daß er in der Lage sei, die Bildung forschungsfördernder Hypothesen zu erlauben. Außerdem wird eingewandt, daß er häufig zu einer übermäßig hohen Zahl von Variablen führe. Im Rahmen des Mehrfaktorenansatzes erscheinen diese Variablen dann gleich wichtig. Wenn man sie dennoch nach ihrem Wert klassifiziert, sind die Einteilungen oft willkürlich. Diese beiden Begriffe, die sich auf Ansätze beziehen, dürfen nicht mit denen der „Einzeltheorie" (d. h. einer einheitlichen Theorie) verwechselt werden. Eine Einzeltheorie kann sehr gut eine Anzahl von Variablen untereinander verbinden und sie in eine integrierte, alles umfassende Theorie einschließen. Man hat in der Tat am Mehrfaktorenansatz beanstandet, daß er die Tendenz zeige, Faktoren und Ursache zu verwechseln. Häufig sei er nicht in der Lage, die Beobachtung zu erklären, daß nicht besondere Faktoren als solche, sondern eine Kombination von oft an sich harmlosen Faktoren zum Verbrechen führe (Walker, 1967). Die Anhänger der Einzeltheorie betrachten Theorie als wichtig, wenn nicht sogar unentbehrlich für die Forschung. Nur mit Hilfe einer Theorie kann man Hypothesen, die für die Forschung sinnvoll sind, formulieren und die Strategie einer Untersuchung planen. Daher muß die theoretische Erörterung den Erhebungen vorausgehen. Bloßes Sammeln von Tatsachen, ohne daß eine Theorie dahintersteht, beseitigt nicht die großen Schwierigkeiten und Konflikte, die entstehen, wenn Wissenschaftler mit unterschiedlichem theoretischen Hintergrund Forschungsergebnisse über dasselbe Problem interpretieren und kommentieren. Anhänger des multifaktoriellen Ansatzes fühlen sich jedoch manchmal zu Unrecht kritisiert und meinen, daß eine Forschung, die sich a priori auf die Theorie stützt, dazu inkliniere, die stützende Theorie zu bestätigen. Wenn eine bestimmte Theorie die Untersuchung leite, würden die gesammelten Daten, selbst wenn sie gelegentlich einige der auf die Theorie gestützten Hypothesen ausscheiden, meist nur bestehen lassen, was die Theorie unterstütze. Theorien brauchen nicht allumfassend zu sein. Merton (1959) hat „Theories of the middle range" vorgeschlagen, also Theorien, die zwischen den engen Arbeitshypothesen und den allumfassenden „globalen" und oft sehr abstrakt formulierten Lehren stehen.

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung Diese Theorien mittlerer Reichweite sollen Spezialtheorien sein, die von vornherein den Rahmen der Datensammlung einschränken und eine Überprüfung der Daten innerhalb dieses selbstgesteckten Rahmens vornehmen. Theorien mittlerer Reichweite sollen jedoch auch in der Lage sein, Gruppen von Spezialtheorien zu vereinigen. Dieser Bereich ist für viele Wissenschaftler durchaus akzeptabel (kritisch dazu: Kaiser, 1971). B. Definitionen Begriffsbestimmungen sind menschliche Produkte, die nachträglich auf den Gegenstand der Begriffsbestimmung angewandt werden. Dabei können Definitionen verschiedenen Zwecken dienen. Einer dieser Zwecke besteht darin, die Aufmerksamkeit auf einen neuen, problematisierenden Ansatz zu lenken und auf diese Weise die Forschung und möglicherweise bestimmte Aktionen zu stimulieren. Die unten aufgeführte „soziologische" Verbrechensdefinition gehört zu diesen sensitivierenden Definitionen. Die meisten Definitionen sind jedoch „operationell", d. h. sie sind auf einen bestimmten Zweck, ζ. B. den einer wissenschaftlichen Untersuchung abgestellt. So mag sich für gewisse Forschungsunternehmen die Legaldefinition eignen, während ζ. B. die interaktionistische Definition anderen besser entspricht. Man braucht keineswegs stets auf einer einzigen Begriffsbestimmung zu bestehen. Eine Pluralität von Definitionen und die Anwendung von verschiedenen, je nach Aufgabenstellung, ist durchaus angebracht. Was die Wahl von Definitionen betrifft, schlägt Johnson (1968, 13) vor, jeweils die folgenden Kriterien anzuwenden: (a) Wissenschaftliche Angemessenheit (scientific adequancy); (b) Präzision der Begriffsbestimmung; (c) Universalität der Anwendbarkeit; und (d) Theoretische Brauchbarkeit. 1. Die Norm Normen können definiert werden als etwas, was i s t oder als etwas, was s e i n soll. Die erstere Auffassung sieht in der Norm vor allem einen statistischen Begriff. Regelmäßig wird jedoch heutzutage die soziale Norm im zweiten Sinne verstanden. Alle Verbrechens- und Abweichungsdefinitionen setzen voraus — oder nehmen zumindest Bezug auf — Verletzungen von Verhaltensnormen. Nach Blake-Davis (1964, 456) sind Normen „alle Standards oder Regeln, die besagen, was menschliche Wesen unter gegebenen Umständen denken, sagen oder tun sollen oder nicht sollen". Der Zweck von Gesellschaftsnormen ist es, die Ordnung aufrecht zu erhalten und den Mitgliedern der Gruppe die Grenzen geduldeten Verhaltens und die Erwartungen der Gruppe in bezug auf ihr Verhalten aufzuzeigen.

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Von der Norm muß man den ihr zwar verwandten, aber nicht identischen Begriff des Wertes unterscheiden. Soziale Werte sind diejenigen Dinge, mit denen eine Gesellschaft oder kulturelle Gruppe Wert, Würde oder Bedeutung verknüpft (Clinard, 1968, 11). Es handelt sich bei den Werten um meist abstrakt formulierte Ideale, wobei die Mitglieder der Gruppe sich darüber bewußt sein können, daß vielleicht nur wenige oder niemand unter ihnen diesen Idealen gerecht werden. Dagegen sind Normen einfach ausgeführte Verhaltensvorschriften, die für alle Gruppenmitglieder verständlich sein sollen, die aber in der Regel auf bestimmte Werte bezogen sind. Während die ältere Kriminologie ihr Augenmerk nur auf strafrechtliche Normen richtet, sehen bestimmte Anhänger der Abweichungstheorie diese Normen nur als einen verhältnismäßig kleinen Teil des gesamten Normensystems an, das u. a. auch die konventionellen, ethischen und religiösen Normen und sozialen Werte mit einschließt. Die Normen sind relativ und wechseln von Kultur zu Kultur und innerhalb derselben Kultur im Laufe der Zeiten. Der Wechsel der Normen erzeugt auch einen Wechsel in dem, was jeweils als kriminell und abweichend angesehen wird. In einheitlichen Gruppen besteht weitgehende Anerkennung der Gültigkeit der bestehenden Normen, doch ist dies vielfach nicht für die aus vielen Gruppen zusammengesetzten, heterogenen Gesellschaften der Fall. Die Imposition einer Norm durch eine Minderheit oder sogar nur durch einen Einzelnen, wie etwa Beckers „moral entrepreneur" (1963), auf die ganze Gruppe mag häufig vorkommen. Oder eine Norm kann im Laufe der Zeit durch eintretenden sozialen Wechsel die Anerkennung vieler oder aller Gruppenmitglieder verlieren, aber trotzdem legal weiterbestehen. Gewisse Normen haben überdauernde Geltung, während andere nur vorübergehend existieren. Manche sind weitverbreitet, andere nicht. Bestimmte Normen werden sehr ernst genommen, während andere leicht übertreten werden. In komplexen Gesellschaften haben oft gewisse Gruppen ihre eigenen Normen und Werte („Subkultur"). Subkulturelle Normen können sich mit denen der dominierenden Kultur durchaus vertragen, wie etwa die Ablehnung alkoholischer Getränke durch eine islamische, in einem Lande des Westens lebende Gruppe. Oder sie können sich denen der Hauptkultur zumindest teilweise entgegensetzen, wie ζ. B. in Cohens delinquenter Subkultur formuliert wurde. Streng genommen handelt es sich im letzteren Fall um eine „Kontrakultur", doch gebraucht die Literatur auch hier oft den allgemeineren Ausdruck der Subkultur. Klassenunterschiede können zu verschiedenen Normen in den einzelnen Klassen führen (Miller, 1958). Nach Clinard (1968) kann der Normunterschied häufig zwischen Angehörigen verschiedener Klas-

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Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung

sen innerhalb derselben Gesellschaft größer sein als der zwischen denen, die derselben Klasse in verschiedenen Gesellschaften angehören. Normen werden erlernt und von einer Generation auf die andere übermittelt. Gewisse Normen sind proskriptiv, d. h. sie verbieten ein bestimmtes Verhalten (wie ζ. B. die zehn Gebote in der Bibel), während andere preskriptiv sind, indem sie dem einzelnen positiv sagen, was er zu tun hat. Es hat sich herausgestellt, daß proskriptive Normen größere Gefühlsreaktionen erzeugen als die preskriptiven, wenn man sie verletzt (Mizruchi und Perucci, 1962, 391). Weiteres über Normen bei Sack (1969). 2. Das Verbrechen

Christiansen (-»• Kriminologie (Grundlagen)) gibt einen guten Überblick über verschiedene Definitionsversuche und vor allem über die Kontroversen über den „formellen" und „materiellen" Verbrechenbegriff (unter der Bezeichnung „Kriminalität"). Wir können uns daher hier auf einige Bemerkungen beschränken. Der „juristische Formalbegriff" umfaßt alle Handlungen, die die Strafgesetze verletzen, d. h. die „legal als kriminell definiert worden sind" (Christiansen -*• Kriminologie (Grundlagen)). Zu seiner Unterstützung wird angeführt, daß dieser Begriff größtmöglichste Präzision erlaube, und daß nun mal die Kriminologie ihr Stoffgebiet aus den Händen des Strafrechts empfinge (Mezger, 1951). Dagegen hat man unter anderem eingewandt, daß der Verbrechensbegriff von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit weitgehendst wechsele; selbst in bezug auf die sogenannten „ m a l per se", über die noch am meisten Übereinstimmung besteht, finden sich große Unterschiede. Daher sei es unmöglich, die legale Definition als Unterlage für die wissenschaftliche Forschung zu verwenden, die ja stets weitmöglichste Generalisierung anstreben müsse. Weiterhin hat Sellin (1938) ausgeführt, daß der Begriff zu eng gefaßt sei, um den Forschungsbereich der Kriminologie zu umschreiben. Mit Strafe bedrohte und nicht bedrohte Akte seien sich oft sehr ähnlich; die Kategorien der Strafgesetze unterlägen oft dem Zufall. Andere Soziologen haben demgemäß den materiellen (oder „soziologischen") Begriff des Verbrechens erweitert als „alle Handlungen, die gegen Verhaltensnormen verstoßen", gleichgültig, ob sie vom Gesetzgeber als strafbar erklärt worden sind oder nicht. Trotz seiner Bedenken hat Sellin selbst jedoch den oben definierten legalen Verbrechensbegriff im engen Sinne für operationelle Zwecke beibehalten wollen. Daneben schlug er den erweiterten des „abnormalen Verhaltens" vor als Sammelbegriff für alle Verhaltensnormverletzungen, gleichgültig ob strafbar oder nicht. Andere Autoren haben dagegen auf einem weiteren Verbrechensbegriffbestanden.

Die etwa 40 Jahre alte Diskussion über die beiden Begriffe ist heute keineswegs zu Ende. Dabei behauptet sich der legale Begriff wohl vor allem wegen seiner Präzision recht gut, trotz der bestehenden Trends zur soziologischen Kriminologie einerseits und zur Erweiterung des Forschungsgebietes der Kriminologie andererseits. Auch nach Kaiser (1971, 88ff.) spricht zugunsten des erweiterten Begriffs seine sensitivierende Funktion; er lenke die Aufmerksamkeit auf die Gefahr, daß „die Kriminologie... zur unkritischen Verteidigung des jeweiligen Status quo" werden könne und zwinge zur dauernden Überprüfung des Verbrechensbegriffs. Beiden Definitionen ist gemeinsam, daß sie täterorientiert sind, indem sie allein das „Verhalten" einer bestimmten Person einschließlich eines kriminellen „Aktes" oder einer strafbaren „Handlung" zu erklären versuchen. Dies hat dazu geführt, daß die Forschung während langer Jahre beinahe ausschließlich Fragen über den Täter und seine Konstitution, Persönlichkeit und Umgebung in den Vordergrund gestellt hat: Was für eine Person ist er? Wie wuchs er auf? Wie lebt er? Wieso wurde er zum Straftäter? Mit welcher Wahrscheinlichkeit muß man erwarten, daß er in Zukunft weitere Straftaten begeht ? 3.

Abweichung

Der Begriff der „Abweichung" stammt aus den Naturwissenschaften. Zum Beispiel bezeichnet man als die Abweichung eines Kompasses gewisse Differenzen zwischen dem, was er anzeigen soll und dem, was er wirklich anzeigt. In der Statistik wird der terminus gebraucht, um die Distanz zwischen Durchschnitt und Ungewöhnlichem anzuzeigen. In der Verhaltenswissenschaft sind die Ausdrücke der „Abweichung" bzw. des „abweichenden Verhaltens" im wesentlichen erst nach dem zweiten Weltkrieg stärker in Gebrauch gekommen. U. a. sollte dieser Begriff den der Medizin entlehnten Begriff der „sozialen Pathologie" ersetzen, ein Terminus, der mit der Vorstellung von Krankheit verbunden und negativ wertbeladen ist. Die schnelle Verbreitung des Ausdruckes „Abweichung" dürfte indikativ sein für gewisse Tendenzen, die sich vielleicht wie folgt beschreiben lassen: (a) Zunächst reflektiert die Ersetzung eines naturwissenschaftlichen Begriffs durch einen anderen, ebenfalls naturwissenschaftlichen Begriff in den Verhaltenswissenschaften die bedeutende Rolle, die naturwissenschaftliche Ansätze als Modelle für die Verhaltenswissenschaften heutzutage spielen, insbesondere was Theoriebildung und Forschungsmethodik anlangt. (b) Auch wenn der Begriff der Abweichung von Nichtsoziologen in kriminologischem Zusammenhang gebracht wird, so wird er doch heutzutage

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung regelmäßig auf Verhalten i n n e r h a l b von Gruppen bezogen, also soziologisch aufgefaßt, wohl eine Reflektion des allgemeinen soziologischen Trends der heutigen Kriminologie. (c) Da der Begriff weiter gefaßt ist als der des kriminellen Verhaltens, weist sein Gebrauch auch auf das Bestehen einer Tendenz hin, generalisierende Erklärungen zu finden, die sich nicht nur auf eine der Alten des abweichenden Verhaltens, wie ζ. B. das Verbrechen, sondern auch auf andere abweichende Verhaltensarten anwenden lassen. Hier stehen wir allerdings noch sehr am Anfang; allgemeine Theorien abweichenden Verhaltens sind noch verhältnismäßig selten. (d) Obwohl sich dieser erweiterte Begriff der Abweichung bei den verschiedensten Ansätzen gebrauchen läßt, geht seine Verbreitung Hand in Hand mit der interaktionistischen Tendenz in der soziologisch orientierten Kriminologie, die nicht nur einseitig den Blick auf das Verhalten des Täters richtet (wenn auch innerhalb der Gruppe), sondern vor allem auf die Interaktionen zwischen Täter und anderen individuellen Personen oder Gruppen. (e) Der Abweichungsbegriff sensitiviert auch — weit über den bereits beschriebenen „soziologischen" Verbrechensbegriff hinaus — den Kriminologen, dessen Blickfeld weit über die traditionelle, ausschließliche Betrachtung der durch das Straf-, Strafprozeß- und Strafvollzugsrecht vorgesehenen Sanktionen hinaus auf andere Mittel der Kontrolle unerwünschten Verhaltens ausgedehnt wird. Die Einbeziehung von Alkoholismus, Geisteskrankheit, körperlicher Behinderung, Senilität, schlechter Schulleistungen und dgl. in den Begriff der Abweichung deutet auf den vorhandenen, viel weiteren Rahmen sozialer Kontrollen hin, zu denen selbst Klatsch, Sichlustigmachen, gesellschaftliches „Schneiden", formloser Ausschluß von Berufschancen u. ä. gehören. In Anbetracht der Resultate der Dunkelfeldforschung Statistik und Kriminalität), die aufzeigen, daß die meisten Mitglieder der Gesellschaft Normen verletzen, aber nur wenige für die Anwendung der Sanktionen ausgewählt werden, wird von vielen nur das als abweichend angesehen, was tatsächlich mit Strafe oder anderen Sanktionen von der Gesellschaft geahndet wird. Nach Becker (1964, 9) ist Abweichung „eine Folge der Anwendung von Regeln und Sanktionen durch andere gegenüber dem Täter". Es gehören also zu einer abweichenden Handlung mehr Personen als nur der Täter, nämlich auch alle diejenigen, die Normen einführen und Sanktionen zur Anwendung bringen; was unter Beckers „Anwendung" zu verstehen ist, ist im nächsten Abschnitt (Abstempelung) ausgeführt.

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Die oben erwähnte Dunkelfeldforschung mag den Unterschied zwischen den Definitionen illustrieren; nach den älteren Verbrechensbegriffen, die auf die Begehung eines strafbaren (oder normwidrigen) Aktes rekurrieren, ist die Frage nach den unbekannten Straftaten notwendig, um den Umfang der Kriminalität zu erfassen. Nach der interaktionistischen Lehre jedoch fallen die unbekannten Straftaten nicht unter die Abweichungs- (oder, für gewisse Autoren, unter die Verbrechens-) definition. Die Frage nach dem Dunkelfeld bleibt zwar auch für diesen Ansatz interessant, doch liegt sie auf einer anderen Ebene: Welche Faktoren spielen eine Rolle in den Entscheidungen und Prozessen, die zur Abstempelung von gewissen Personen als „abweichend", bzw. „kriminell" führen? Lemert (1951 und 1967) unterschied zwischen primärer und sekundärer Abweichung. Primäre Abweichung bezieht sich auf Verhalten, das zwar von der Gesellschaft nicht gebilligt wird, das aber immerhin noch innerhalb der Grenzen ihrer Toleranz liegt. Hierunter fällt in den meisten okzidentalen Gesellschaften ζ. B. exzessiver Alkoholismus, Ehebruch oder der sexuelle Verkehr mit Prostituierten. Aufgrund primärer Abweichungen wird der Abweichende nicht mit extremen Sanktionen belegt und insbesondere nicht aus der Gruppe ausgeschlossen; die sich aus dem Verhalten ergebenden Probleme werden vielmehr von ihr ebenso wie vom „Täter" innerhalb der bestehenden Statusbeziehungen behandelt. Ganz anders bei der sekundären Abweichung, die der Gruppe nicht mehr tolerierbar erscheint. Das Verhalten wird von der Gruppe mit moralischer Indignation, Stigmatisierung, Bestrafung und Ausschluß beantwortet, wobei der Ausgeschlossene mehr und mehr aufhört, sich mit der Gruppe zu identifizieren. Die mit dem Abweichungsbegriff operierende Literatur weist eine Reihe von Definitionen der Abweichung auf. So beschränken gewisse Forscher den Begriff der Abweichung auf sekundäre Abweichungen (ζ. B. Becker, WilMns). Die meisten stimmen wohl mit der Ansicht überein, daß gelegentlich überhaupt keine abweichende „Handlung" nötig ist, sondern bloßer Status (ζ. B. als Blinder, Zigeuner, Jude, Landstreicher, Geisteskranker) genügt; es ist jedoch streitig, ob die Anwendung von Sanktionen auf fälschlich Verurteilte und andere abgestempelte Personen, die aber keine abweichenden Akte begangen haben, einbezogen werden soll. Über das Problem des Definierens der Abweichung s. Schur, 1971, 23, über verschiedene theoretische Fragen in bezug auf Abweichung s. Sack, 1969. Interessant ist vielleicht, daß verschiedene Bevölkerungskreise äußerst verschiedenartige Formen von Verhaltensweisen als abweichend ansehen. Bei einer Umfrage in den Vereinigten Staaten wurden zusammen nicht weniger als 252

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Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung

verschiedene Verhaltensweisen als abweichend angesehen, darunter waren solch triviales Verhalten wie Lügen, Berufsausübung durch Frauen, Sympathisieren mit der opponierenden politischen Partei, rücksichtsloses Autofahren, Atheismus, im Ruhestand leben, jung sein, Karten spielen, einen B a r t tragen, sich künstlerisch betätigen, Pazifismus, ein Priester sein, Prüderie, sich schminken, ein „Manager" sein, als Student Dinge „besser zu wissen" usw. (Simmons, 1969, 3). Für einen weiteren Überblick verschiedener Formen der Abweichung s. Glaser (1971). 4. Abstempelung

(Labeling)

Eng verbunden mit dem Begriff der Abweichung ist im interaktionistischen Ansatz der der Abstempelung (Labeling). Darunter versteht man die „askriptive Aussage" (Sack, 1968, 466), d. h. die offizielle Feststellung (ζ. B . eines Strafurteils), daß eine Person sich gesellschaftswidrig verhalten hat. Abweichung liegt also grundsätzlich nur dort vor, wo jemand abgestempelt worden ist. Kein Verhalten ist abweichend per se, nur wenn Regeln und Sanktionen „angewendet" werden, wird es zur Abweichung. In bezug auf die kriminelle Abweichung findet das Labeling durchaus nicht immer erst durch das Strafurteil statt. Bloße Festnahme (HessLePoole, 1967), Pressenotizen, Gerüchte und dgl. können genügen. Neuerdings versuchen verschiedene Autoren, eine Differenzierung und Verfeinerung der Labelingtheorien zu leisten. Thorsell-Klemke (1972) weisen einerseits darauf hin, daß es nicht nur negative, herabsetzende Abstempelungen, sondern auch positive gibt, die eine günstige Aussage über eine Person enthalten. Während die bestehenden Theorien die Wirkung der Abstempelung auf den Abweichenden als Verstärkung der Abweichung und ihrer Kristillisation zum Lebensstil betonen, weisen andererseits diese Autoren darauf hin, daß das Abstempeln auch durchaus eine die Abweichung beendende, abschreckende Wirkung haben könne, ohne jedoch dabei die Möglichkeit der oben erwähnten negativen Wirkungen zu verneinen. Nach Ansicht der Autoren besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, daß der LabelingProzeß aufhört und daß vor zukünftiger Abweichung abgeschreckt wird: 1. wenn die abgestempelte Person sich im Stadium der primären und nicht der sekundären Abweichung befindet; 2. wenn die Abstempelung im Geheimen („in a confidential setting") stattfindet, und der Abweichende weiß, daß zukünftige Abweichung ihn in der Öffentlichkeit bloßstellen würde, 3. wenn die Abstempelung durch ein Mitglied der eigenen Gruppe (in-group) vorgenommen wird, oder durch jemanden, auf dessen Urteil der Abweichende großen Wert legt (significant other); 4. je leichter

das negative label wieder von ihm entfernt werden kann nach Beendigung des abweichenden Verhaltens, 6. je stärker die Abstempelung zu Bemühungen führt, den Abgestempelten wieder in die Gemeinschaft einzugliedern; 6. wenn die Abstempelung nicht erniedrigend wirkt, sondern positive Aspekte hervorhebt.

Π. AUSGEWÄHLTE THEORIEN DES VERBBECHENS UND DER ABWEICHUNG Nach der Überwindung des multifaktoriellen Ansatzes, der Untersuchungen ohne zugrundeliegende Theorie gestattete, folgen die meisten Forscher heutzutage der Auffassung, daß das Sammeln von Ergebnissen ohne theoretische Fundierung wenig Sinn hat und daß mindestens eine Theoriestruktur mittlerer Reichweite die Forschungsstrategie bestimmen solle. Mit dieser Tendenz geht eine andere einher, die verlangt, daß Forschungsergebnisse nicht nur auf größtmögliche Generalisierung angelegt sein sollten, sondern auch einen Beitrag zur Bildung neuer Theorien leisten können müßten. Unter dem Einfluß dieser beiden Tendenzen hat sich die Theoriebildung unendlich verstärkt, so daß in einem großen Teil der neuen Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Kriminologie auch neue Theorien formuliert werden. Dieser überaus umfangreichen Literatur gerecht zu werden, ist im Rahmen dieses Artikels unmöglich; nur einige der wichtigsten und markantesten neueren Theorien werden im folgenden beschrieben. Dabei ist es nicht ganz einfach, eine Klassifizierung für diese Theorien vorzuschlagen. Vielleicht ist die folgende Einteilung für unsere Zwecke von Nutzen: A. Täter-orientierte Theorien: Verbrechen ist Verhalten bestimmter Personen (Täter). Die Erklärungen dienen dazu, die diesem Handeln vorausgehenden Attitüden, Motivationen, Entscheidungen und andere Umstände in bezug auf diese Personen zu beleuchten. Unterteilen läßt sich diese Gruppe in 1. Theorien der differentiellen Reaktion (differential response): Das Hauptproblem dieser Theorie lautet: „Warum verhält sich Α kriminell, aber nicht B , der unter den gleichen sozialen Umständen wie er l e b t ? Für Überblicke über Verbrechenstheorien s. Schafer (1969) und Void (1958). 2. Lehren der Sozialstruktur: Diese Lehren richten das Augenmerk auf gewisse Konstellationen von Umständen innerhalb der Gesellschaftsstruktur insgesamt, ζ. B . Konflikte zwischen den Generationen, Klassen, Referenzgruppen, Subkulturen und Gelegenheiten und betrachten diese Konstellationen als wichtige Faktoren für die Erklärung des Verhaltens des Täters.

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung B. Interaktionistische Theorien: Verbrechen (und ebenso Abweichung) bezeichnet nicht ein Verhalten, sondern den Status des als Verbrecher oder Abweichenden Abgestempelten. An Verbrechen und Abweichung ist nicht nur der „Täter" beteiligt, sondern auch alle diejenigen, die bei dem „labeling" eine Rolle spielen. Die obige Einteilung beschreibt wohlgemerkt Ideale von Theorien. In Wirklichkeit lassen sich die verschiedenen Theorien nicht immer völlig befriedigend einordnen, da sie zuweilen gemischte Elemente enthalten. So beschäftigen sich ζ. B. Cloward und Ohlin und auch andere mit dem Problem der differentiellen Reaktion. Immerhin kann man sagen, daß vielfach die Lehren unter A2 miteinander konkurrieren, während die unter Al und Β oft neben anderen Lehren koexistieren können.

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9. A. Täter-orientierte Theorien 1. Theorien der differentiellen

Reaktion

a) D i f f e r e n t i e l l e A s s o z i a t i o n . Die Tradition, Verbrechen als erlerntes Verhalten anzusehen, beginnt mit Tardes Imitationstheorie und setzt sich durch die Chicagoer Schule fort. Shaw und McKay (1931) stellten fest, daß die Kulturen der Jugendkriminalität, die eng an die SlumBezirke in den Zentren der Großstädte gebunden waren, sich von einer Generation auf die andere übertrugen; mit dieser Übertragung wurden die kriminellen Haltungen und Methoden von Generation zu Generation fortgesetzt. Die wichtigste der lerntheoretischen Verbrechenstheorien war Sutherland's Theorie der „differentiellen Assoziation" (oder der „differentiellen Kontakte", gemäß der Sack-König'schen Übersetzung, 1968), die zunächst im Jahre 1939 nur auf „systematisches" kriminelles Verhalten bezogen war, die aber dann der Autor im Jahre 1947 erweiterte, so daß sie sich auf verbrecherisches Verhalten im allgemeinen erstreckte. Sutherlands Schüler und enger Mitarbeiter Cressey schrieb vor nicht langer Zeit (Sutherland-Cressey, 1970): „Die Theorie befindet sich z. Zt. im Stadium ihrer größten Popularität, nach der Anzahl der Zeitschriften-Artikel zu urteilen, die berichten, wie die Theorie nachgeprüft, analysiert und erweitert wird." Die Sutherland'sche Theorie wird gewöhnlich in Form von neun Thesen wiedergegeben, die hier in verkürzter Form, frei übersetzt dargestellt werden: 1. Kriminelles Verhalten ist erlernbar. 2. Es wird erlernt durch Interaktion mit anderen Personen im Wege gegenseitiger Kommunikation. 3. Das Erlernen geschieht hauptsächlich in intimen persönlichen Gruppen. 4. Es schließt ein:

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a) Methoden der Verbrechensbegehung, die manchmal einfach, manchmal kompliziert sind, und b) eine spezifische Richtung von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Attitüden. Die spezifische Richtung der Motive und Antriebe wird durch positive oder negative Definitionen der Gesetze erlernt. Ein Mensch wird zum Kriminellen, wenn Definitionen, die Rechtsbrüche begünstigen, über solche, die sie negativ beurteilen, überwiegen. Differentielle Assoziationen können nach Häufigkeit, Dauer, Vorrangigkeit und Intensität variieren. Der Prozeß des Erlernens durch Assoziation mit kriminellen und antikriminellen Verhaltensmustern umfaßt alle Mechanismen, die auch bei jedem anderen Lernprozeß beteiligt sind. Da sowohl kriminelles wie nichtkriminelles Verhalten Ausdruck allgemeiner Bedürfnisse und Werte ist, reichen diese Bedürfnisse und Wertvorstellungen nicht aus, um kriminelles Verhalten zu erklären.

Am wichtigsten ist die These Nr. 6: Ein Mensch wird dann kriminell, wenn die Kontakte zu kriminellen Wertvorstellungen überwiegen gegenüber denen zu antikriminellen. Normalerweise hat neutrales Verhalten weder negative, noch positive Auswirkungen auf kriminelles Verhalten. Sutherland-Cressey weisen darauf hin, daß These Nr. 1 impliciter auch besagt, daß kriminelles Verhalten, da es erlernt wird, weder ererbt ist, noch von selbst entsteht. Es ist nötig, daß der Rechtsverletzer diesem kriminellen Verhalten und seinen Definitionen vorher ausgesetzt war. Gemäß These Nr. 3 spielen enge persönliche Kontakte eine größere Rolle als die Nachrichtenmedien oder das Kino. Obgleich Nachahmung für wichtig gehalten wird, betont These Nr. 8, daß auch andere Mechanismen in Frage kommen und Nr. 9, daß allgemeine Bedürfnisse, wie „Glück und Zufriedenheit", „sozialer Status" oder „Besitz von Geld" nicht genügen, um kriminelles Verhalten zu erklären, da alle diese Bedürfnisse genausogut zu rechtmäßigem Verhalten führen können. Gegen Sutherland's Theorie sind Einwände erhoben worden. Unter anderem wurde gesagt, daß sie eine Über-Vereinfachung des kriminellen Prozesses darstelle, da sie auf gewisse Typen von Verbrechern nicht anwendbar sei, daß sie individuelle Unterschiede in bezug auf Lernfähigkeit und andere Persönlichkeitszüge nicht in Betracht ziehe und sich das Ausmaß der Definitionen zu Gunsten und zu Ungunsten von Rechtsbrüchen, denen ein Mensch ausgesetzt sei, nicht quantitativ nachprüfen lasse. Überblicke über Einwände geben Cressey (1960) und Sutherland-Cressey (1970). Short (1960) gelang eine quantitative Nachprüfung der Sutherland'schen Hypothese, daß die

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Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung

differentielle Assoziation in bezug auf Häufigkeit, Dauer, Vorrangigkeit und Intensität der Kontakte variiere, indem er die Assoziation von männlichen und weiblichen delinquenten Jugendlichen, die sich in einer Erziehungsanstalt befanden, untersuchte. Obwohl die Korrelation der differentiellen Assoziation für die Jungen größer als für die Mädchen war, scheinen im allgemeinen Shorts Resultate, soweit seine Untersuchungen reichen, die differentielle Assoziationstheorie zu bestätigen. Auch Reiss und Rhode (1964) prüften gewisse Aspekte der Theorie nach, indem sie Freundschaftsmuster von kriminellen Jungen durch eine Untersuchung der „Triaden von besten Freunden" erforschten. Die Assoziationen unter Jungen mit gleichen kriminellen Verhaltensweisen sind zwar etwas größer, wenn die Jungen eng befreundet sind, als wenn der Zufall sie zusammenführt, jedoch liegt sie weit unter dem, was man aufgrund der Lerntheorie in der differentiellen Assoziationstheorie erwarten würde. Die gesellschaftliche Schicht spielt eine gewisse Rolle: Unter jungen Leuten der Arbeiterklasse (blue-collar-boys) hängt die Wahrscheinlichkeit, daß ein Junge bestimmte Straftaten schwerer Natur begeht, mehr mit seinen Beziehungen zu engen Freunden zusammen, als bei den Jungen der mittleren Schicht. Wie die Autoren behaupten, „steht die Wahl naher Freunde in engerer Beziehung zur Jugenddelinquenz als solcher, als zu besonderen Formen kriminellen Verhaltens, die vermutlich von anderen erlernt worden sind." DeFleur und Quinney (1966) wandten die symbolische Ausdrucksweise der „Set theory", einem System von logischen Berechnungen, auf die differentielle Assoziationstheorie an. Dies machte es den Autoren möglich, die allgemeinen Postulate, welche den Sutherland'schen Thesen zugrundeliegen, nachzuweisen; auch konnten auf diese Weise bisher verborgene Beziehungen zwischen den einzelnen Behauptungen aufgezeigt und „logisch", wenn auch nicht empirisch, gewertet werden. DeFleur und Quinney entwickelten auch zusätzliche Annahmen als logische Konsequenzen der ursprünglichen, die die empirische Verifikation der differentiellen Assoziationstheorie erleichtern sollen (s. auch Cressey, 1966 über diese Arbeit). b) D i f f e r e n t i e l l e I d e n t i f i k a t i o n . Eine Derivation der Sutherland'schen Theorie bildet Glasers „Differentielle Identifikationstheorie": „Ein Mensch zeigt kriminelles Verhalten in dem Maße, in dem er sich selbst mit wirklichen oder imaginären Personen, aus deren Perspektive sein kriminelles Verhalten annehmbar erscheint, identifiziert" (Glaser, 1956). Glasers Theorie sieht kriminelles Verhalten als Identifikation und Spielen von Rollen an. Es wird angenommen, daß sich die meisten Menschen zeitlebens sowohl mit kriminellen, als auch mit nichtkriminellen Menschen identifizieren, wobei die

Identifizierungen im Laufe der sozialen Interaktion schnell wechseln können. Kriminelle Identifikation ist nicht nur durch nahen persönlichen Kontakt und direkte Erfahrungen innerhalb krimineller Gruppen möglich, sondern auch durch positiven Bezug zu wirklichen oder imaginären Kriminellen, die ζ. B. durch die Massenmedien bekannt sind, durch negative Reaktion auf Polizei usw. Wie Glaser ausdrücklich zugibt, lassen sich Zufalls- und bestimmte andere unübliche Verbrechen nicht völlig durch seine Theorie erklären. c) H a l t - T h e o r i e . Der Zweck der Recklessschen Halt-Theorie (Containment theory) ist, darauf hinzuweisen, wie unterschiedlich Menschen auf verschiedene Situationen, auf Zustände der Disorganisation, auf subkulturelle und andere Pressionen und Anspannungen reagieren. Reckless (1961, 1962, 1973) unterscheidet zwischen „äußerem" und „innerem" Halt. Äußerer Halt ist die Fähigkeit einer Gruppe (einschließlich der Gesellschaft insgesamt), eine Einzelperson im Rahmen der akzeptierten Normen, Erwartungen und Werte mit Hilfe von Gewohnheiten, Regeln und Gesetzen zu halten oder dadurch, daß sie die „richtigen" Verhaltensvorbilder zur Verfügung stellt. Der äußere Halt wird auch dadurch gegeben, daß der Einzelperson sinnvolle Rollen zugewiesen werden, obgleich diese Zumessung natürlich nur das Ausmaß und die Grenzen des erwarteten und tolerierten Verhaltens angibt. Wenn die Rollen nicht genau definiert sind (was in der Tat heute ζ. B. bei sehr jungen und sehr alten Menschen leicht der Fall sein kann), verringert sich der äußere Halt. Weitere Elemente des äußeren Halts sind Verstärkungen durch die Gruppe, entscheidende, unterstützende Beziehungen und Anerkennungen. Ebenso ist das Gefühl des „Dazugehörens" ein Mittel, den äußeren Halt zu stärken; diese Möglichkeit ist jedoch eher in kleineren Gruppen gegeben, als in der Gesellschaft im ganzen. Der Ausdruck „innerer Halt" bezieht sich auf die Selbstkontrolle, durch die ein Mensch den Normen der Gruppe entsprechen kann. Diese Selbstkontrolle dehnt sich von starker zu schwacher Kontrolle aus. Je unpersönlicher die gesellschaftlichen Beziehungen werden, um so wichtiger wird die Selbstkontrolle. Einer ihrer Bestandteile ist das Selbst-Bild eines Menschen. Jemand, der sich selbst als eine „verantwortliche" Person ansieht, wird wahrscheinlich verantwortungsbewußt handeln; ein vorteilhaftes Selbstbild begünstigt starke Selbstkontrolle. Darüber hinaus gibt es noch mehrere andere Komponenten der Selbstkontrolle. Eine von ihnen ist die Einstellung zu Gunsten sozial gebilligter Ziele und insbesondere zu Gunsten von Zielsetzungen auf lange Sicht, die Opfer, Anstrengung und Hingebung erfordern. Ein Mensch, der solche Ziele vor Augen hat, paßt sich leicht an. Eine zweite Komponente ist die realistische Natur der per-

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung sönlichen Bestrebung, und eine dritte ist die Fähigkeit, widrige Umstände, Drucksituationen, Fehlschläge und Enttäuschungen zu ertragen; ein hohes Maß an Frustrationstoleranz erleichtert ebenfalls die Selbstkontrolle. Ein viertes Element ist schließlich die Identifikation mit legitimen Werten und Normen, nachdem diese Werte und Normen internalisiert worden sind. Die Halt-Theorie beansprucht nur Anwendbarkeit auf die mittlere Reichweite kriminellen Verhaltens, dagegen nicht auf seine Grenzgebiete, wie einerseits psychotisches Verhalten und Charakterstörungen und andererseits auch nicht auf traditionelle Lebensformen, in denen kriminelles Verhalten „normal" ist, wie ζ. B. bei Zigeunern, Bewohnern von Schmuggeldörfern, Bettlerfamilien, kriminellen „Stämmen", wie sie für Indien beschrieben worden sind. Mitglieder von Gruppen mit starker äußerer Kontrolle, die gleichzeitig eine starke innere Selbstkontrolle besitzen, werden kaum wegen einer Straftat im Bereich der Jugend- oder Erwachsenenkriminalität angezeigt. Wenn der äußere Halt schwach, der innere jedoch stark ist, besteht ebenfalls nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, kriminell zu werden. Wenn dagegen die äußere Kontrolle stark und die innere relativ schwach ist, wird diese Wahrscheinlichkeit größer. Die Aussichten für kriminelle Betätigung sind am größten, wenn sowohl der äußere, als auch der innere Halt schwach sind, zumindest in der modernen, mobilen, städtischen und demokratischen Gesellschaft. In einem von der gegenwärtigen Kultur wenig berührten Dorf kann die äußere Kontrolle stark sein, die innere ist es jedoch selten. In Entwicklungsländern besteht häufig eine Kombination von schwacher äußerer und schwacher innerer Kontrolle, wodurch eine besonders gefährliche Situation entsteht. Nach Reckless kann die Halt-Theorie sowohl als Grundlage für die Forschung, wie auch für die Behandlung dienen. Sie bietet die Möglichkeit, Menschen mit geringer Selbstkontrolle und geringem äußeren Halt herauszufinden und ist deshalb auch für die Verbrechensverhütung anwendbar. Insbesondere ermöglicht die Theorie auf dieser Basis Lehrern die Früherkennung bereits gefährdeter Kinder. Durch allmählichen Aufbau von innerer und äußerer Kontrolle kann verhindert werden, daß die Kinder am Ende vor Gericht kommen. d) D i f f e r e n t i e l l e K o n t r o l l e n . Man kann wohl bezweifeln, ob Cliffords Theorie der differentiellen Kontrollen (1966) hier einzuordnen sei. Da sie speziell die Sozialkontrollen näher erläutert, etwa das, was Reckless „äußerer Halt" nennt, soll sie an dieser Stelle erwähnt werden. Wie Clifford betont, ist sie vor allem als eine Ergänzung anderer Theorien gedacht, bestätigt also die „Verträglichkeit" der Theorien differentieller Reaktion mit anderen Lehren. Clifford weist dar-

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auf hin, daß die gegenwärtige kriminologische Lehre vielfach nur den kriminogenen Rollen der Kultur und der Umgebung einerseits und der Persönlichkeit und dem Charakter andererseits Rechnung trage, jedoch nicht — oder nur unzureichend — der „Durchsetzung oder Wirksamkeit der Normenerfüllung" in der Gesellschaft. Das normgemäße Verhalten des Einzelnen in der Gesellschaft schwanke gemäß der Durchsetzung dieser Normen. Das Verbrechen sei „eine Funktion der Mittel, die angewandt werden, um — bewußt oder unbewußt, formell oder formlos — soziale Kontrollen einzurichten und aufrechtzuerhalten". Verbrechen werden nicht nur aufgrund von Persönlichkeitsstörungen, schlechter Anpassungsfähigkeit, sozialen Wechsels und kulturellem Druck begangen, sondern korrespondieren auch mit der Wirksamkeit der bestehenden Kontrollmaßnahmen. Obwohl das Verbrechen seiner legalen Definition (s. oben, I Β 2) nach nur eine Verletzung des Gesetzes sein kann, sind die Maßnahmen gegen solche Verletzungen nicht auf gesetzliche Maßnahmen und insbesondere auf Strafen beschränkt. Soziale Kontrollen können auch Kontrollen der Sitten, der Gewohnheiten und andere informelle Kontrollen sein. Auch sind soziale Kontrollen durchaus nicht nur negativer Natur. Sie sind in der Tat um so stärker, wenn sie die Bedeutung der Normen in positiver Weise vermitteln, anstatt auf Unterdrückung oder Strafsanktionen abzuzielen. Soziale Kontrollen beruhen zu einem großen Teil auf ihrer präventiven Stärke, d. h. auf ihrem Vermögen, Versuchungen und Gelegenheiten für abweichendes Verhalten auf ein Minimum zu beschränken. Dabei gibt es wichtige Unterschiede in den Kontrollen, je nach der Größe einer Gesellschaft und dem Grad ihrer inneren Einheitlichkeit. Diejenigen Gesellschaften, in denen sich die wenigsten Verbrechen ereignen, sind kleine Stämme mit integrierten sozialen Kontrollen, die einen starken Druck auf das Verhalten des einzelnen ausüben. Auch in komplexeren Gesellschaften sind die kriminalitätsfreiesten Gruppen, die eng miteinander verbundenen, innerlich zusammenhaltenden „ingroups", wie ζ. B. die chinesische Minderheit in Amerika. In beiden Fällen werden die Normen strikt eingehalten und informell unterstützt, wobei die Erwartungen der kleinen Gemeinschaft konsistent bleiben. In einer großen Gruppe, ζ. B. in der Massengesellschaft der modernen Großstädte, besteht Unsicherheit in bezug auf die Erwartungen und die persönliche und informelle Unterstützung der auf die Gesamtbevölkerung anwendbaren Normen im Bereich des Gesetzes, der Sittenordnung und der Gepflogenheiten. Daher wendet sich die Normendurchsetzung mehr und mehr von den positiven Ansätzen ab und den unpersönlichen und negativen Sanktionen zu, die

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jedoch viel weniger wirksam sind, als die Erwartungen kleiner Gruppen oder Gesellschaften. In großen Gesellschaften entwickelt sich weiterhin ein Wettstreit zwischen den allgemeinen Normen der Gesamtgesellschaft und den beschränkt anwendbaren, örtlich begrenzten Normen von Gruppen (d. h. den oben erwähnten Subkulturen). Da die Normen der letzteren sich direkt durchsetzen und durch persönliche Kontakte aufrechterhalten lassen, ist ihre Wirkung stärker als die der allgemeinen Normen.

2. Theorien der Sozialstruktur a) K u l t u r k o n f l i k t . Kulturkonfliktvorstellungen tauchen wohl schon bei Beccaria (1966) auf. Taft (1966) beschäftigte sich bereits mit Konflikten innerhalb der Kultur im Großen, die u. U. kriminogen sein können. Ogburn (Ogburn-Nimkoff, 1958) untersuchte die Problematik des c u l t u r a l l a g , d. h. der — in Amerika vielleicht besonders prägnanten — Differenz zwischen technologischer und geistiger Entwicklung. Nach Sellin (1938) hat sich die Menschheit von primitiven, selbstgenügsamen, kleinen und isolierten Dorfgemeinschaften zu einer modernen industriellen und merkantilen Gesellschaft mit großstädtischen Zusammenballungen entwickelt. In ihrem primitiven, jedoch homogenen Zustand hatte die Menschheit „harmonische, gut integrierte, konsistente Kulturnormen". Im Gegensatz hierzu hat die moderne Gesellschaft „eine große Anzahl von sozialen Gruppen aufzuweisen, mit Konkurrenzinteressen, schlecht definierten interpersonellen Beziehungen, sozialer Anonymität, einer Konfusion von Normen und einer riesigen Ausdehnung von persönlichen Kontrollstellen, die der Durchsetzung von Vorschriften dienen sollen, denen es mehr oder weniger an moralischer Kraft fehlt, Kraft, die solchen Vorschriften nur dann zugeschrieben wird, wenn sie aus gefühlsmäßig empfundenen Gemeinschaftsbedürfnissen erwachsen". Normen, welche in einer solchen Gesellschaft bestehen, sind sowohl gesetzlicher, als außergesetzlicher Natur. Unter den ersteren ist insbesondere das Strafrecht von Bedeutung. Art der sanktionierten Verhaltensweisen, Vorschriften und Sanktionen werden im Strafrecht vor allem durch die Gruppen bestimmt, „welche die Gesetzgebung beeinflussen". Die moderne Gesellschaft weist jedoch außer den Gruppen an der Macht auch viele andere Gruppen auf, wobei „jede mit ihrer eigenen Definition der Lebenssituationen, ihren eigenen Auslegungen sozialer Beziehungen, ihrer eigenen Unwissenheit und ihren eigenen Mißverständnissen bezüglich der sozialen Werte anderer Gruppen" ausgestattet ist. Diese anderen Gruppen stellen gleichfalls Verhaltensnormen auf, und zuweilen stehen ihre Normen im Widerspruch zu denen der Machtgruppe und

insbesondere zum Strafrecht, was zu Straftaten führen kann. Einerseits können Kulturkonflikte innerhalb einer Kultur entstehen, ζ. B. wenn Dorfbewohner in die Städte ihres eigenen Landes ziehen. Andererseits können, weil Kulturen im ständigen Austausch miteinander stehen, Konflikte von außen eindringen. Insbesondere geschieht dies an den Grenzen von Nachbarkulturen, oder wenn das Recht einer Kultur auf eine andere ausgedehnt wird, oder — und dies war in der Vergangenheit besonders wichtig für Amerikas Kriminalität — wenn Mitglieder einer Kultur in den Kaum einer fremden Kultur einwandern. Kulturkonflikte können interne, psychologische Konflikte sein, und wenn sie es sind, so interessiert dies vor allem den Psychologen. Innerer geistiger Konflikt kann aber bei der Begehung von Straftaten auch völlig fehlen. Für den Soziologen ist es ergiebiger, Kulturkonflikt als Konflikt von Verhaltensnormen anzusehen, anstatt als psychologischen Konflikt. Wie aus der Beschreibung vieler der folgenden Theorien zu ersehen ist, war Sellins Theorie von großer Bedeutung für die neuere Theoriebildung. Als der Autor seine Theorie formulierte, spielte die Immigration noch eine wichtige Rolle als kriminogener Faktor, und dies mag viel zu Sellins Formulierung beigetragen haben. Seither sind die im Inneren einer Kultur entstehenden Normkonflikte mehr in das Blickfeld getreten. Konflikte zwischen den Normen verschiedener Klassen, Generationen oder zwischen der herrschenden Kultur sind wichtige Aspekte neuerer Theorie. b) A n o m i e . Wir begegneten bereits Tarde als Vorgänger Sutherlands. Ein Franzose, der heute noch Verbrechens- und Abweichungstheorien weit stärker beeinflußt, war Tardes Zeitgenosse Emile Dürkheim. Seine Betrachtung des Verbrechens vollzieht sich innerhalb des weiteren Rahmens der Problematik des sozialen Verhaltens. Dürkheim sieht Verbrechen als eine normale und notwendige „soziale Tatsache" an, die man in jeder gesunden Gesellschaft finden könne. Es habe die positive Funktion, durch Entwicklung eines Kollektivgefühls einer gemeinsamen Moralität und gemeinsamer Abneigung gegen Abweichung, Solidarität zu entwickeln. Auf Vorstellungen dieser Solidarität baut Dürkheims Begriff der Anomie, der „Abwesenheit von Normen" auf. In einer stabilen Gesellschaft setzt das Gemeinschaftsgewissen Grenzen für das Streben der Einzelpersonen. Infolge der Disziplin, der alle durch das Gemeinschaftsgewissen unterworfen werden, gibt es in einer solchen stabilen Gesellschaft nur wenig Verbrechen. In Zeiten sozialer Umwälzungen dagegen erschlafft das Gemeinschaftsgewissen, und seine Normen und Kontrollen werden unwirksam. Dieser Zustand ist es, auf den sich Dürkheims Formulierung des Begriffes der Anomie bezieht.

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung Wenn Anomie vorherrscht, so verliert der Mensch die Beschränkungen, die die Gesellschaft ihm auferlegt und tendiert zu unbegrenztem Streben, einem Streben, das nicht mehr durch das Wertsystem einer stabilen Gesellschaft eingeschränkt wird. Mit dem Wegfall dieser Beschränkungen stellt er unerfüllbare Ansprüche: das Ergebnis ist der Zustand einer fortwährenden Erregung, die ein wichtiger Faktor in bezug auf Verbrechensbegehung werden kann (Dürkheim, 1893). Viele Jahre lang wurde Dürkheims Gedankengängen von den Kriminologen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, bis etwa 60 Jahre später sein Begriff der Anomie von Robert K. Merton aufgegriffen und modifiziert wurde (1957 — zuerst formuliert 1938). Nach Merton ist Anomie der Zusammenbruch des „organisierten Systems normativer Werte, welches das Verhalten bestimmt", das allen Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam ist, ein Zusammenbruch, der sich insbesondere ereignet, „wenn ein akutes Auseinanderfallen zwischen den kulturellen Normen und Zielen und den sozial strukturierten Fälligkeiten der Mitglieder einer Gruppe vorliegt, diesen Zielen und Werten gemäß zu handeln". Mertens Auffassung sieht Anomie nicht so sehr als ein Zusammenbrechen von Normen an, sondern vielmehr als „das Resultat der Schwierigkeiten, die entstehen, wenn aus in der sozialen Struktur Kegenden Gründen die Ziele der Gesellschaft und ein mit diesen Zielen übereinstimmendes Handeln nur für diejenigen, die einen gewissen Status innerhalb der Gesellschaft besitzen, leicht erreichbar sind, aber schwer oder unmöglich für andere". Wenn die Normen der Gesellschaft gewisse Verhaltensweisen und Haltungen erfordern, aber ihre Struktur sie ausschließt, so zeigen die Betroffenen fünf verschiedene Anpassungsweisen: Konformität, Innovation, Ritualismus, Apathie und Rebellion. Diese Anpassungstypen unterscheiden sich je nach den Kombinationen zustimmender oder ablehnender Einstellung gegenüber den kulturellen Zielen einerseits und den von der Gesellschaft zur Erreichung dieser Ziele institutionalisierten Mitteln andererseits. Insbesondere die Innovation kann zu Verbrechen und abweichendem Verhalten führen. Bei der Innovation werden zwar die kulturellen Ziele anerkannt, aber die offiziell erlaubten Mittel abgelehnt und durch andere, nicht anerkannte, ersetzt. Insbesondere kann die Innovation zu white-collar Straftaten führen und außerdem zu Straftaten der untersten sozialen Schichten, die zwar die kulturellen Werte der Gesellschaft anerkennen, denen jedoch reale Möglichkeiten fehlen, die Erfolgsziele zu verwirklichen. Kritisch gegenüber der Anomielehre äußert sich Cohen (1965). Im Mertonschen Sinne wird der Anomiebegriff von vielen Theoretikern verwandt. Srole (1956) formulierte einen psychologischen Gegenbegriff zu dem soziologischen der Anomie;

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er bezeichnet den in der Anomie bestehenden psychologischen Zustand als „Anomia". c) D e l i n q u e n t e S u b k u l t u r . Sowohl die Anomietheorie als auch die Lehren der Chicagoer Schule über Banden und die ökologische Verteilung von Verbrechen und Delinquenz in den Großstädten übten starken Einfluß auf die Theorie der delinquenten Subkultur aus (Cohen, 1955). Wir leben in einer demokratischen, von der Mittelschicht beherrschten Gesellschaft, die ihre Mitglieder dazu anleitet, hohe Lebensansprüche für sich selbst zu haben, ihnen aber nicht immer die Möglichkeit gibt, diese Ziele zu erreichen. In unserer Gesellschaft sind dabei die Jungen der Arbeiterklasse im Nachteil. Sie können auf dreierlei Weise auf ihre Situation — den Zustand der Anomie im Mertonschen Sinne (s. oben) — reagieren. Einige wenige der jungen Leute versuchen, trotz aller Schwierigkeiten und mit großen Anstrengungen im Sinne der Wertvorstellungen der Mittelklasse vorwärtszukommen. Diese kleine Minderheit sind die „college boys", wie Whyte sie nannte (1955; ursprünglich etwa 1943). Die meisten jungen Leute der Arbeiterklasse nehmen indessen die Situation hin, wie sie ist, und entwickeln sich zu „corner boys" (Eckensteher), so genannt, weil sie die Straßenecken als ihren sozialen Mittelpunkt betrachten und hier Gruppen bilden. Sie haben die Werte der Mittelklasse, wie intellektuelles und berufliches Vorankommen und ehrgeiziges Streben nach weit entfernten Zielen genügend internalisiert, so daß sie diese Werte nicht geringschätzen, aber sie betonen vor allem ihre eigenen Werte, darunter Treue zu ihren Freunden und das Verlangen nach hedonistischer, sofortiger Befriedigung ihrer Wünsche und Begierden. Die Kultur der Eckensteher ist als solche nicht kriminell, aber manchmal, wenn die Normen der Mittelklasse mit ihren eigenen sich im Widerstreit befinden, kann dies zu kriminellem Verhalten führen. Fernerhin fiel Cohen die „nichtutilitäre, bösartige und negativistische" Natur eines großen Teils der jugendlichen Delinquenz auf. So werden ζ. B. viele Bandendiebstähle nicht in erster Linie aus Nützlichkeitsgründen begangen, sondern als „hochgeschätzte Tätigkeit, durch die man Ruhm, Überlegenheit und tiefe Befriedigung erreichen kann". Aus der gleichen Einstellung heraus werden auch viele vandalistische Straftaten begangen. Die Täter dieser Akte unterscheiden sich stark sowohl von den college boys als auch von den Eckenstehern; sie sind die Mitglieder der delinquenten Subkultur. Die delinquente Subkultur — in ihrem Streben, sich an die Diskrepanz zwischen Erfolgsaussichten und -möglichkeiten anzupassen — lehnt ausdrücklich die Werte der Mittelschicht ab und ersetzt sie durch antithetische eigene Werte. Während die college boys den Wertvorstellungen der Mittelschicht folgen und die Eckensteher sie

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nicht ablehnen, obwohl sie sie zeitweise durch Hervorhebung ihrer eigenen Werte in den Hintergrund schieben, erlaubt die delinquente Subkultur keine Zweideutigkeit. Dadurch, daß sie die Nichtkonformität mit den Normen der Mittelklasse zu ihrem eigenen Maßstab erhebt, stellt sie ihre Mitglieder sogar über die vorbildlichsten college boys. Ganz besonders sieht sie Aggression als legitim an. Ein Junge aus der unteren Schicht, der häufig durch hochmütiges, geringschätziges und herablassendes Verhalten der Angehörigen der Mittelklasse irritiert wird, reagiert zwar darauf nicht notwendigerweise mit eigener Aggression, jedoch erlauben ihm die Werte der Subkultur, sich aggressiv zu verhalten. Die „delinquente Antwort" als Gruppenlösung wird tatsächlich mit dem Problem in sehr wirksamer Weise fertig. „Jugendkriminalität" käme wohl für die meisten delinquenten Jugendlichen als Antwort nicht in Betracht, wäre sie nicht auf diese Weise legitimiert und ihr ein gewisses Ansehen gegeben. Allerdings besteht diese Legitimierung nur innerhalb der eng begrenzten Gemeinschaft der abenteuersuchenden Kameraden. Sie gibt ihren Mitgliedern Status nur innerhalb der Subkultur, so daß ihre Mitglieder von ihr stärker abhängig werden. Weitere Erörterung und Entwicklung der Lehre in Cohen-Short (1959). d) E r h a l t u n g der d e l i n q u e n t e n S u b k u l t u r . Gegner der Theorie Cohens haben Zweifel geäußert, daß die jugendlichen Delinquenten ein System eigener Normen entwickelt haben oder daß sie ihre Werte wirklich in solch einer dramatischen Weise denen der Mittelklasse gegenüberstellen. Kitsuse und Dietrick (1959) argumentieren, daß Cohen, obwohl er in der Beschreibung seiner Theorie das Tempus des Indikativs der Gegenwart benutzt, „eine historische Konstruktion" formuliert, um das Entstehen einer gegenwärtigen Subkultur und ihrer Konzentration in der Bevölkerung der Arbeiterklasse zu erklären, und daß diese das Vorhandensein „psychologischer Charakteristika früherer Populationen" voraussetzt, die sich nicht nachprüfen lassen. Sie geben jedoch zu, daß die empirische Forschung die Gültigkeit der Hauptthese der Theorie beweist und glauben, was den heuristischen Wert der Theorie anlangt, daß ihre Bedeutung für Theorie und Forschung sich nicht auf das Gebiet der Jugendkriminalität beschränke, sondern sich auf das allgemeine Problem der Dynamik der Erhaltung von Subkulturen ausdehne. Sie formulieren eine Theorie der Erhaltung der delinquenten Subkultur durch die nachstehenden Leitsätze: „1. Das Individuum erlernt die Werte der delinquenten Subkultur durch seine Teilnahme in Banden, die die Subkultur verkörpern. 2. Die Gründe, aus denen Individuen zu Mitgliedern solcher Banden werden, sind unterschiedlich.

3. Dem bösartigen, nicht-utilitären und negativistischen Verhalten, das durch Teilnahme an der Subkultur erlernt wird, wird durch formelle, negative Sanktionen, durch Ablehnung und Beschränkung des Zugangs zu einem einflußreichen Status innerhalb des Wertsystems der Mittelklasse begegnet. 4. Daher ergeben sich für alle Teilnehmer aus der Beteiligung an der delinquenten Subkultur ähnliche Probleme. 5. Die Reaktion der Teilnehmer auf die Schranken, die errichtet werden, um sie von Prestige im System der Mittelklasse auszuschließen, ist eine feindselige Ablehnung des Standards der „respektablen" Gesellschaft und eine Betonung des Status innerhalb der kriminellen Bande. 6. Diese Reaktion der feindseligen Ablehnung verstärkt die bösartigen, nicht-utilitären und negativistischen Normen der Subkultur." e) Die K u l t u r der U n t e r s c h i c h t . Miller (1958) erkannte Cohens Theorie der delinquenten Subkultur, deren Werte denen der MittelklasseKultur entgegengesetzt seien, nicht an. Nach Miller ist das kulturelle System, das den größten Einfluß auf die Bandendelinquenz ausübt, das der Gemeinschaft der unteren Klasse. Es handele sich hier um eine seit langem bestehende, deutlich vorgezeichnete Tradition, die ihre eigene Integrität besitze und klar unterscheidbare Modelle aufweise und nicht um eine delinquente Subkultur, die in Ländern mit einer Mittelklassen-Kultur entstanden und auf vorsätzliche Verletzung der Normen der Mittelklasse eingestellt sei; die Unterschicht ist nach Miller durch eine Reihe von zentralen Belangen gekennzeichnet, die unter ihren Mitgliedern viele Emotionen verursachen, nämlich: (a) „Schwierigkeiten"; „in Schwierigkeiten geraten" und „sich aus Schwierigkeiten heraushalten" wird als ein wesentliches Problem angesehen; (b) „Härte", die zu Demonstrationen körperlicher Stärke, Ausdauer, athletischer Geschicklichkeit und Maskulinität führt; (c) „Geistige Wendigkeit", wobei Schlauheit und die Fähigkeit, andere auszustechen, selbst jedoch nicht hereingelegt zu werden, im Vordergrund stehen; (d) „Erregung", die Suche nach Aufregung und Spannung durch Alkoholgenuß, Spielen, sexuelle Abenteuer oder Prügeleien; (e) „Schicksal", Beunruhigung darüber, ob man „Glück" oder „Pech" haben wird; (f) „Autonomie", das Streben, frei von äußeren Einengungen und unabhängig zu sein und „nicht herumgestoßen zu werden". Die Eckensteher-Gruppe der Jugendlichen ist nur eine Variation der eingeschlechtlichen Gleichaltrigengruppe, einer typischen Form sozialer Gruppierung in der Gemeinschaft der Unter-

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung Schicht, welche bestimmte, wichtige Funktionen erfüllt: Sie bietet ζ. B. einem Jungen die erste wirkliche Gelegenheit, die wichtigsten Aspekte der männlichen Rolle zu erlernen. Diese Gruppen nehmen nur junge Leute auf, die sie als „normal" betrachten, d. h. sie müssen vor allem die Fähigkeit und Motivation haben, sich anzupassen. Deshalb hat die Beschaffenheit der Gruppennormen einen besonders großen Einfluß auf die Motivation. Jugendliche Gruppen dieser Art beinhalten zwei wichtige zusätzliche Interessen: (g) „Zugehörigkeit", die durch Handeln in Übereinstimmung mit den Werten der Untergruppe erreicht wird. „In denjenigen Fällen, in denen die Übereinstimmung mit den Normen der Bezugsgruppe gleichzeitig die Normen anderer Bezugsgruppen (ζ. B. die Erwachsenen der Mittelschicht, offizielle Amtspersonen) verletzt, sind die Normen der unmittelbaren Bezugsgruppe zwingender, da Nichtbeachtung die Gefahr der wirkungsvollsten Sanktion der Gruppe, nämlich Ausschluß, heraufbeschwört", und (h) „Status", der erreicht wird, indem man Überlegenheit hinsichtlich hochgeschätzter Qualitäten, wie Härte, Schlauheit, Erwachsensein, zeigt, was dadurch demonstriert wird, daß man ein Auto besitzt und genügend Geld hat oder daß man trinkt, raucht, spielt usw. Die Sorge um den Status ist keineswegs auf delinquente Jugendliche beschränkt, sondern ist auch in anderen Gruppen anzutreffen. Status kann man sowohl durch rechtmäßiges, als auch durch rechtswidriges Verhalten erreichen. Ob der kriminelle Weg gewählt wird, hängt zum großen Teil davon ab, ob es in dem Gemeinwesen Berufsverbrecher, Geistliche, Möglichkeiten der Erholung, Sozialarbeit und Erziehungsprogramme gibt. Manchmal verletzen die Gewohnheiten der unteren Klasse automatisch die gesetzlichen Normen oder verlangen rechtswidrige Aktionen als Reaktion auf gewisse Situationen, wie sie innerhalb der Kultur der unteren Klasse vorkommen. Häufig beruht die Wahl zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Verhalten auf dem Verhältnis zwischen dem größeren oder kleineren unmittelbaren Gewinn und der aufzuwendenden Energie. Von den Normen der Mittelklasse her gesehen, kann das Verhalten der unteren Klasse manchmal als bewußt nicht-konform oder bösartig erscheinen; jedoch ist die Ablehnung der Normen nicht der Hauptbestandteil der Motivation, sondern nur das Nebenprodukt einer Handlungsweise, die vor allem darauf gerichtet ist, dem Wertsystem der Unterschicht zu entsprechen. f) P u b e r t ä t s s p a n n u n g e n . Bloch und Niederhoffer definieren die Pubertät als ungefähr diejenige Periode des Lebens, die zwischen die bio-

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logische und die soziologische Reife fällt. Sie sehen diese Periode als eine Phase im Streben, Erwachsenenstatus zu erreichen, an, und auch als eine Periode akuter Spannungen und Schwierigkeiten: Spannungen, die um so stärker sind, je größer der Unterschied zwischen den zwei Typen der Reife ist. Zu einem großen Teil sind diese Spannungen auch von dem Grad abhängig, zu dem eine Gesellschaft einem jungen Menschen den normalen Erwachsenenstatus zugesteht. Die verschiedenen Gesellschaftssysteme gewähren diese Privilegien in verschiedenen Stadien der Reife. Dadurch, daß in der westlichen Kultur die Pubertätsperiode durch die Anforderungen an die Erziehung und die Unmöglichkeit, ohne ausreichende Mittel eine Familie zu unterhalten, beträchtlich verlängert wird, entstehen Spannungen, die für die meisten Jugendlichen gleichartig sind. Sie zeigen als Reaktion auf diese Erfahrungen auch gewisse gemeinsame Ausdrucksformen. Im Gegensatz zu primitiven Gesellschaften, in denen es oft „rites de passage" (Übergangsriten) gibt, bereitet die gegenwärtige westliche Gesellschaft die jungen Leute nicht genügend auf den Erwachsenenstatus vor. Bandenverhalten vermittelt anscheinend psychologisch gleichen Inhalt und Funktion wie die „rites de passage". Bloch und Niederhoffer (1958) betonen, daß individuelle jugendkriminelle Taten selten sind; sie werden fast alle von Gruppen begangen. Diese Kriminalität entsteht spontan. Das Erlernen durch Nachahmung früherer Banden spielt nur eine geringe Rolle. Einmal begonnen, wird das kriminelle Verhalten durch die Gruppe verstärkt, und die Bande unterstützt den jungen Menschen in seinem Streben nach dem Erwachsenenstatus. Die Autoren sind der Meinung, daß „was die Art der Organisationsstruktur anlangt, in gewissem Sinne geringe Unterschiede zwischen den Gruppen der Jugendlichen der unteren und der mittleren Klasse bestehen". Aber die Jungen der unteren Schicht neigen infolge des Drucks, der durch die Umgebung auf sie ausgeübt wird, und vor allem infolge des Drucks des subkulturellen Milieus dazu, eine delinquente Subkultur eigener Art zu entwickeln, und kriminelle Handlungen erhalten hier starke Unterstützung und Zustimmung. Es ist daher die untere Klasse, die das ernstere Delinquenzproblem aufwirft. Kritiker haben eingewendet, daß die Theorie nicht eindeutig die abweichenden Verhaltensweisen, die sie zu erklären versuche, identifiziere, daß es nicht korrekt sei, „jugendliche Banden" mit „jugendkriminellen Banden" gleichzusetzen, daß man die Hypothese nicht nachprüfen könne, nach der unsere Gesellschaft, wenn sie „Pubertätsriten" besäße, weniger Jugendkriminalität haben würde und daß der Vergleich zwischen primitiven Riten und Bandentätigkeit fragwürdig sei.

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Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung

g) S t r u k t u r der Z u g a n g s c h a n c e n ( O p p o r t u n i t y S t r u c t u r e ) . Die Theorie, die vielleicht den größten Einfluß unter den kriminologischen Theorien auf die Praxis im letzten Jahrzehnt gehabt hat, ist die „Opportunity Structure" Theorie von Cloward und Ohlin (1968, zuerst erschienen 1960), die die Begründung für viele Programme der Verhütung der Jugendkriminalität und der Bekämpfung der Armut in den Vereinigten Staaten geliefert hat. Unter Berufung auf viele der oben beschriebenen Theorien und vor allem auf die Theorie der Anomie (s. oben I I Aef) stellen auch Cloward und Ohlin den beschränkten Zugang zu den legitimen Zielen der Mittelschicht für die jungen Leute aus den Slums fest und meinen, daß dies insbesondere für ethnische Minderheiten (in Amerika vor allem Neger und Puertoricaner) zutrifft. Menschen, die glauben, daß ihr Versagen auf einer Verweigerung der Zugangschancen beruht, auf die sie ein Recht zu haben meinen, fühlen sich ungerecht behandelt und suchen gemeinschaftlich Unterstützung, um die Spannungen bis zu einem gewissen Grade zu verringern. Wenn ein Junge beginnt, aus einem Gefühl des Ungerechtbehandeltseins abweichende Handlungen zu begehen, hält er nach der Unterstützung Ausschau, die er braucht, und findet sie, „indem er andere ausfindig macht, die gleichartige Erfahrungen gemacht haben, und die einander in der gemeinsamen Haltung der Entfremdung vom offiziellen System unterstützen". Banden sind das Produkt dieses Zusammenschlusses. Der Prozeß der Entfremdung wird dabei durch einen Definitionsprozeß beschleunigt, der den Rechtsbrecher außerhalb der Gesellschaft stellt: „Seine Handlungen und seine Person werden als „schlecht" bezeichnet, und er befindet sich in einem circulus vitiosus, der durch Normenverletzung, Repression, Ressentiment und neue und immer schwerwiegendere Rechtsverletzungen charakterisiert ist." Die Theorie unterscheidet verschiedene Arten von Subkulturen und versucht, die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen ein Junge aus den Slums in die eine oder andere Subkultur gelange. Aufgrund einer Einteilung von Cohen und Short (1958) werden dreierlei Subkulturen beschrieben, wobei betont wird, daß es sich dabei um Ideal-Vorstellungen handele, wie man sie in Wirklichkeit nur selten in reiner Form finde: es gibt Banden, die um des Profits und Gewinns willen unter dem Nützlichkeitsgesichtspunkt arbeiten, ferner Konflikt-Banden, die, ohne utilitäre Ziele zu verfolgen, sich vor allem durch Gewalttätigkeit auszeichnen, um ihren Status zu verbessern und die „zurückgezogenen" (retreatist) Banden, die hauptsächlich auf Konsum von Rauschgiften und Alkohol eingestellt sind. Was die Slums anbelangt, so stellen sich die Autoren ein Continuum vor und beschreiben die beiden Randtypen, wobei sie Kobrin folgen: Am

einen Ende des Continuums findet man den „stabilen Slum", der gut organisiert ist. Konventionelle und illegale Formen bestehen nebeneinander und sind miteinander verbunden. So können einerseits ζ. B. Gangster Mitglieder der Kirchengemeinden, verschiedener Clubs und Organisationen sein, andererseits können die Beamten und politischen Führer korrupt und mit Verbrecherorganisationen verbunden sein. Kindern wird hier eine gute Gelegenheit geboten, kriminelle Aktivitäten von Erwachsenen zu beobachten; die Gangster des Ortes, die ihren Reichtum zur Schau tragen, werden bewundert und respektiert. Der Slum, der das andere Ende des Continuums darstellt, besitzt die integrierenden Beziehungen zwischen konventionellen und illegalen Strukturen nicht. Sie sind durch das Eindringen von Geschäftsinteresse auseinandergebrochen, was Zerstörungen und radikale Umschichtungen in der Bevölkerung und ihren Klassen, Rassen und ethnischen Eigenheiten bewirkt hat. In diesen desorganisierten Gegenden sind die Kriminalitätsraten oft sehr hoch, aber das Verbrechen ist nicht so organisiert und systematisch wie bei dem erstgenannten Typ. Welche Jugendlichen gelangen in welche Art von Subkultur? Die Autoren betonen, daß die Gelegenheit, sich Banden anzuschließen, die des Profits wegen Straftaten begehen, in der Regel nur auf die stabilen Slums beschränkt ist. In den stabilen Slums neigen die kriminellen Banden dazu, verschiedene Altersstufen zu vereinigen: Die jugendlichen Banden bieten Möglichkeiten, in der kriminellen Subkultur Karriere zu machen. Sie sind Ausbildungssätten und Lieferanten von Personal für Erwachsenenverbrecherbanden, die aus Gewinnstreben arbeiten. Ein junger Mann, dem sich eine solche Gelegenheit bietet, „kann danach streben, in der organisierten kriminellen Struktur aufzusteigen und eine Dauerstellung in einem erfolgreichen „racket" zu finden; nachdem er Sicherheit in einer solchen Position erreicht hat, ist er relativ immun dagegen, verfolgt und ins Gefängnis gesteckt zu werden; er kann ein mehr oder weniger festes Einkommen erwarten und damit rechnen, daß er von der lokalen Gesellschaft akzeptiert wird, gleichgültig, ob sie kriminell oder konventionell ist." Diese Möglichkeit, in der gewinnbringenden Verbrecherwelt aufzusteigen, existiert nicht in den desorganisierten Slums oder doch nur in geringem Maße. In desorganisierten Slums besteht weder ein Zugang zu legitimen, noch zu profitablen Verbrechensgelegenheiten. Der unstabile Übergangscharakter der Nachbarschaft trägt sehr dazu bei, die Spannungen, Enttäuschungen und Unzufriedenheiten zu unterstützen: die sozialen Kontrollen sind nur sehr schwach. Auf diese Weise entsteht ein starker Druck zum gewalttätigen Verhalten. Junge Leute in desorganisierten Bezirken, die

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung nach Erreichung höherer Ziele streben, die aber von jeglichem Zugang zu diesen Möglichkeiten abgeschnitten sind — legitimen, wie kriminellen — sind gezwungen, selbst mit dem Problem fertigzuwerden. Sie tun dies, indem sie sich zu Banden zusammenschließen, und gemeinsam Gewalttaten begehen, um einen Status zu erreichen, der nicht von ihrer sozio-ökonomischen Situation, ihrer Rasse, ihrem Alter oder von „Beziehungen" oder Talenten abhängt, sondern nur auf Mut und Ausdauer beruht. Die subkulturelle Natur des Rauschgiftgebrauchs, wie er unter Slum-Bewohnern besteht, ist nicht immer erkannt worden. Rauschgifte sind normalerweise in Amerika den Bürgern nicht zugänglich, deshalb ist es nötig, daß Rauschgiftkonsumenten sich mit anderen zusammentun, um Zugang zu den Drogen zu bekommen. Die Autoren führen aus, daß sich ein „,reatrist l Verhalten unter einigen Jugendlichen der unteren Klasse dadurch herausbildet, daß es ihnen weder gelungen ist, für sich selbst einen Platz in der kriminellen noch in der Konflikt-Subkultur zu finden". Bin anderer Weg in die „retreatist"-Subkultur kann sich am Ende der Pubertätszeit ergeben, wenn gewalttätige Bandenaktivitäten für die jungen Leute ihren Reiz verlieren, ohne daß sich Möglichkeiten in anderer Richtung eröffnen. Der Druck zum „retreatist"-Verhalten wird dann verstärkt. h) N e u t r a l i s i e r u n g u n d S i c h t r e i b e n l a s sen. Im Jahre 1957 entwickelten Sykes und Matza die Theorie der Neutralisierung, und im Jahre 1964 verband Matza sie mit der Idee des Sichtreibenlassens (drift). Die Autoren bezweifeln, daß man die Werte und Normen der delinquenten Jugendlichen summarisch als Opposition zu den konventionellen Normen verstehen kann. Die Angehörigen der Subkultur sind Kinder, und Kinder können nicht völlig die Wertvorstellungen der Erwachsenen ignorieren. Man dürfe die überaus komplexe konventionelle Kultur nicht über-vereinfachen. Anstelle des Begriffs der „delinquenten Subkultur" schlägt Matza den der „Subkultur der Delinquenz" vor, d. h. „eine Umgebung, in der die Begehung von delinquenten Handlungen innerhalb einer Gruppe allgemein bekannt ist". Die Größe der Gruppe ist unterschiedlich: „Man kann vielleicht als Faustregel sagen, zweimal die Zahl derjenigen, die für das kollektive Unternehmen einer delinquenten Tat nötig sind." Die genaue Anzahl wird nicht als wichtig angesehen. Was wichtig ist, ist nur die Tatsache, daß das delinquente Verhalten allgemein in der Gruppe bekannt ist. „Die Werte und Normen, die in der Subkultur enthalten sind, haben natürlich Bezug zu delinquenten Handlungen, und offensichtlich weichen diese Werte und Normen in gewisser Weise von den konventionellen ab", aber sie 21 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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stehen nicht einfach im Gegensatz zu ihnen. Dies zeigt sich u. a. dadurch, daß es eine ganze Reihe von entschuldigenden Umständen gibt, die häufig ganz geringfügig sind, mit deren Hilfe sich die Mitglieder der Gruppe jedoch wegen einer kriminellen Handlung entschuldigen können. Die Existenz und der Charakter dieser Entschuldigungen verrät Glauben an überkommene Werte und „insofern den eher sich anpassenden als opponierenden Charakter der Subkultur". Die Subkultur der Delinquenz erlaubt delinquentes Verhalten, aber es wird weder verlangt, noch als zu bevorzugendes Verhalten betrachtet. Wenn man dieser Subkultur gerecht werden will, ist es besser, die weitgehende Integration in die Gesellschaft zu betonen und nicht ihre geringfügigen Unterschiede. Eine wichtige Methode, durch die man Gesetzesverletzungen gestatten kann, ohne die überkommenen Normen radikal abzulehnen, stellt die „Neutralisierung" dar. Das Strafrecht im besonderen kann man leicht neutralisieren, weil seine Bestimmungen im allgemeinen klar seine Anwendbarkeit und Nichtanwendbaxkeit zum Ausdruck bringen. Wo das Strafrecht die Grundsätze legt, unter denen Ausnahmen gemacht werden können, enthält das Gesetz schon den Samen seiner eigenen Neutralisierung. Auch das Bestreiten oder Verneinen, daß es sich um ein Verbrechen handele, ist eine Form der Neutralisierung. Durch die Neutralisierung werden die Bedingungen der Nichtanwendbarkeit bedeutend über das hinaus erweitert, was das Gesetz vorsieht, aber die Neutralisierung folgt dabei den allgemeinen Gedankengängen, die durch die bestehenden gesetzlichen Prinzipien ausgedrückt werden. Insbesondere beschreibt Matza fünf Neutralisationstypen. Erstens kann ein Jugendlicher seine Verantwortung abstreifen, indem er behauptet, daß gewisse Kräfte außerhalb seiner Macht am Werke gewesen seien, ζ. B. die Eltern, die ihn nicht liebten oder die Slum-Umgebung. Er kann zweitens sagen, daß kein Schaden angerichtet worden sei, wenn er ζ. B. einen Autodiebstahl als „Borgen" bezeichnet oder drittens, daß es kein Opfer gibt, weil seine Tat nur eine gerechte Vergeltung gegenüber einem schlechten Menschen war. Viertens kann er diejenigen anklagen, die ihn anklagen, etwa die Polizei wegen Korruption oder den Lehrer dafür, daß er andere vorzieht. Und fünftens kann er sich schließlich mit höheren Pflichten herausreden, ζ. B. indem er behauptet, es handele sich um einen Konflikt zwischen den Pflichten der Freundschaft und allgemeinen gesetzlichen Verpflichtungen. Techniken der Neutralisierung können nicht nur nach der kriminellen Tat angewendet werden, sondern auch vorher. Zum Begriff der Neutralisierung s. CohenShort (1959). Die mildernden Umstände und Ausnahmen, die das Strafrecht vorsieht, führen nicht nur zur

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Neutralisierung: die gleichen Entschuldigungen und Ausnahmen rufen auch „drift" hervor, d. h. das Sichtreibenlassen zwischen konventionellen und kriminellen Verhaltensweisen. Das Gleiche gilt für die vielen Widersprüche und Unzulänglichkeiten des Gesetzes und der Rechtsprechung und vor allem auch für die der Jugendgerichtspraxis, die ja in Amerika besonders informell ist und dem Gesetz relativ wenig Beachtung schenkt. Aufgrund dieser Rationalisierungen entwickelt sich oft in dem jugendlichen Delinquenten das Empfinden, ungerecht behandelt zu werden, selbst, wenn er weiß, daß er ein Verbrechen begangen hat; ζ. B. kann jemand auf der Behauptung bestehen, daß ihm das Verbrechen im strengen gesetzlichen Sinne nicht hinreichend nachgewiesen worden sei. „Drift" steht in der Mitte zwischen Freiheit und Kontrolle. Der delinquente Jugendliche lebt ohne festen Stützpunkt in einer Welt, in der sich die soziale Kontrolle gelockert hat, ein Niemandsland zwischen Konvention und Verbrechen, und durch die Neutralisierungsmethode bedient er sich dieser Lockerung, um seine Subkultur und damit eine unabhängige Quelle der sozialen Kontrolle in bezug auf illegale Akte zu organisieren. „Drift" beseitigt vorübergehend die Schranken, die normalerweise einen Menschen davon abhalten, illegale Handlungen zu begehen, ohne diese Handlungen jedoch unvermeidbar zu machen. Im Gegensatz zu dem weitverbreiteten, streng deterministischen Gesichtspunkt empfiehlt Matza, was er „soft determinism" (milden Determinismus) nennt. Der Begriff des Willens wird von ihm innerhalb eines weiteren deterministischen Rahmens verwendet, als etwas, das dem jungen Menschen erlaubt, Entschuldigungen in der einen oder andern Richtung zu treffen, jedoch nur innerhalb von durch einen deterministischen Rahmen gesetzten Grenzen.

B. Interaktionistische Theorien Abweichungstheorie, als physiologische, psychologische oder Täter-orientierte soziologische Theorie für bestimmte Abweichungen existiert schon lange und wird hier nicht behandelt. Lediglich interaktionistisch orientierte Lehren interessieren uns hier. Auch hier gibt es bereits so viele Materialien, daß wir uns beschränken müssen auf einige der für das Verbrechen allgemein belangreichen Lehren. Wir lassen diejenigen Theorien aus, die sich mit speziellem kriminellem Verhalten, ζ. B. organisiertes oder white-collar Verbrechen beschäftigen, oder am Rande des Verbrechensfeldes oder außerhalb davon liegen. Es gibt eine ganze interaktionistisch orientierte Literatur über viele nicht unbedingt überall kriminelle Formen der Abweichung, wie ζ. B.

Marihuanagebrauch, Prostitution u. ä., auf die der Leser hingewiesen sei. a) A b w e i c h u n g s t h e o r i e . Die interaktionistischen Abstempelungstheorien der Abweichung gehen im Wesentlichen auf Tannenbaum (1938) und Lemert (1951) zurück. Wie oben aufgeführt, ziehen diese Theorien nicht nur das Handeln der abweichenden Person in Betracht, sondern auch vor allem seine Interaktion mit Angehörigen der Polizei, der Rechtspflege und des Strafvollzuges. Nach Becker (1963) ist, wie schon erwähnt, Verhalten niemals als solches abweichend. Nur wenn „moralische Entrepreneurs" mit Erfolg die Einführung von neuen Normen (und insbesondere neuen Gesetzen), welche gewisse Verhaltensweisen als normwidrig definieren, erzwingen, werden diese Verhaltensweisen zu Abweichungen „gemacht". Diese moralischen Entrepreneurs sind Reformierer und oft Personen hohen Status mit einem gewissen Fanatismus, die nur das ihrer Überzeugung entsprechende Verhalten als tolerierbar ansehen, und erreichen, daß das dieser Überzeugung entgegenstehende Verhalten allgemein als abweichend definiert und mit Sanktionen belegt wird. (Dabei beschäftigt sich Becker, wie schon früher erwähnt, nur mit sekundären Abweichungen.) ' Mit dem Abstempelungsprozeß tritt ein Wechsel insofern ein, als die Abweichung nicht mehr als eine Eigenschaft einer Handlung, sondern vielmehr einer Person angesehen wird mit oft weitreichenden Folgen für diese Person. Der Abweichende ist also derjenige, auf den die Abstempelung erfolgreich angewandt worden ist. Da eine Abweichung zum großen Teil nicht nur von dem Verhalten einer Person abhängt, sondern von den Reaktionen anderer auf dieses Verhalten, ist es falsch, anzunehmen, daß diejenigen, die abgestempelt worden sind, einheitliche Persönlichkeitszüge aufweisen. Auch solche, die nicht gegen Normen verstoßen, werden gelegentlich als abweichend definiert, während vielen, die Normen brechen, die Abstempelung erspart bleibt. Das Einzige, was man über die gemeinsamen Eigenschaften der Abweichenden aussagen kann, ist, daß sie alle als Außenseiter abgestempelt worden sind. Alles beruht also darauf, wie andere Leute in einem bestimmten Fall auf Normverletzungen reagieren. Abweichung wird, wie wir gesehen haben, von den „moralischen Entrepreneurs" durch Einfluß von Normen erschaffen. Wie Becker besonders betont, entstehen Normen auch dann nicht automatisch, wenn gewisse gefährdende Handlungsweisen praktiziert werden; stets muß immer erst der moralische Entrepreneur erscheinen, der es den Gesetzgebern oder denjenigen, die für die Aufstellung einer Norm verantwortlich sind, klar macht, wie gefährlich solches Verhalten ist und daß etwas geschehen müsse. b) A b w e i c h e n d e s V e r h a l t e n u n d I n f o r m a t i o n s r ü c k k o p p e l u n g . Wilkins (1965, 91)

Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung selbst bezeichnet seine Theorie des abweichenden Verhaltens als „komplex". Sie behandelt in komplizierter, integrierender Weise die ineinander verflochtene Dynamik sowohl des verbrecherischen Verhaltens als auch der Kriminalpolitik und erstreckt sich bewußt auf alle Arten abweichenden Verhaltens. Das Hauptaugenmerk hegt auf der Rolle der sog. Rückkoppelung (feedback): „Systeme, in denen Informationen über das Funktionieren des Systems in das System zuriickgekoppelt wird, haben andere Kennzeichen als Systeme, bei denen solche Feedback-Informationen fehlen oder gering sind." Die Rückkoppelung kann zu einer gewissen, oft unvorhergesehenen Labilität und insbesondere zu „Abweichungsverstärkung" führen. Für diese Abweichungsverstärkung entwickelt Wilkins ein Modell, das sich in einem circulus vitiosus wie folgt abspielt: „(a) Gewisse Arten von Informationen führen in bezug auf gewisse Systeme zu mehr Handlungen, die als abweichend definiert werden... (b) Die Individuen, die in die so definierten Handlungen einbezogen werden (to be involved), werden von den Werten des Ausgangs- (parent) Systems abgeschnitten, und zwar durch den Definitionsprozeß selbst. (c) Der Definitionsakt liefert für die beteiligten Personen ein Informationsbündel (information set), so daß sie anfangen, sich selbst als abweichend zu betrachten. (Vielleicht erfahren die Menschen am häufigsten durch .feedback' von anderen Personen, was für eine Art Mensch jeder ist.) (d) Die Handlungsweise der Gesellschaft und die daraus resultierende Selbstwahrnehmung derjenigen, die als abweichend definiert worden sind, führt zu ihrer Isolierung und Entfremdung. (e) Dies ist der erste Teil des Systems der Abweichungsvergrößerung. Die Definition der Gesellschaft führt zur Entwicklung der Selbstwahrnehmung, .abweichend zu sein', auf Seiten der .outliers' (d. h. Außenseiter; ein von Wilkins in Anlehnung an den englischen .outlaw' geprägter Ausdruck — Anm. des Übersetzers). Dabei kann man kaum erwarten, daß Menschen, die von einem System ausgeschlossen sind, sich weiter als Teile dieses Systems ansehen. (f) Die abweichenden Gruppen neigen dazu, ihre eigenen Werte zu entwickeln: Werte, die denjenigen des Ausgangssystems entgegenstehen können. (g) Die vermehrte Abweichung, die Gruppen mit abweichendem Verhalten zeigen (als Ergebnis des Abweichungsverstärkungs-Effekts der Selbstwahrnehmung, die wiederum von den definierenden Akten der Gesellschaft herrühren kann), führt zu verstärkter Aktion der 21»

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konformistischen Gruppen gegen die Nichtkonformisten. (h) Auf diese Weise führt die Information über das Verhalten der Nichtkonformisten, die die konformistischen Gruppen empfangen (ζ. B. wie oben unter f), dazu, daß noch mehr Handlungen als abweichend definiert oder daß noch heftiger gegen die ,outliers' vorgegangen wird, und so kann sich das ganze System (a—g) unentwegt in einem sich ständig verstärkenden Kreislauf weiterbewegen." Durch die Rückkoppelung können die unstabilen Elemente auch eine große Wirkung auf jedes Detail des unstabilen Systems haben. Soziale Aktion, darauf ausgerichtet, ein „Übel", das von der Gesellschaft wahrgenommen und mißbilligt wird, zu korrigieren, „könnte an vielerlei Stellen einsetzen, jedoch wahrscheinlich vergeblich sein und schließlich die gegenteilige Wirkung von dem, was mit der Aktion beabsichtigt war, haben". Die Theorie ist unter anderem auch als eine Revision des einfachen, in eine Richtung weisenden Ursache-Wirkung-Modells im Sinne Maruyamas (1962) gedacht: „Ein anfangs geringfügig abweichendes Verhalten, das innerhalb des Rahmens hoher Wahrscheinlichkeit liegt, kann sich in eine Abweichung von sehr geringer Wahrscheinlichkeit entwickeln, oder, genauer gesagt, in eine Abweichung, die sehr unwahrscheinlich ist innerhalb des Rahmens probalistischer, in eine Richtung weisender Kausalität." (Zitiert in Wilkins, 1967, 91.) Wie Wilkins feststellt, „ist es jetzt möglich, aufzuzeigen, daß in gewissen Fällen gleiche Bedingungen zu ungleichen Resultaten führen". c) S o z i a l e W i r k l i c h k e i t (Quinney). Quinney (1970) versucht nicht, eine allgemeine Abweichungstheorie zu formulieren. Seine Lehre der sozialen Wirklichkeit behandelt ausschließlich das Verbrechen. Vielfach sehen kriminologische Theorien die Gesellschaft als statisch an und betonen ihre Stabilität und die Übereinstimmung der Überzeugungen in bezug auf ihre Werte. Mehr noch als Becker und Wilkins basiert dagegen Quinneys Lehre auf einer dynamischen Auffassung der Gesellschaft. Die Gesellschaft verändert sich unablässig, wobei Konflikte eine wichtige Kraft — und nicht notwendigerweise eine „schlechte" Kraft — darstellen, die immer wieder zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und insbesondere zwischen Gruppen mit verschiedenen Interessen auftreten. Wie in jeder sozialen Organisation wird bestimmten Stellen die Macht anvertraut, andere zu kontrollieren. Da die Verteilung der Macht ungleich ist, konkurrieren die verschiedenen Gruppen einer politisch organisierten Gesellschaft miteinander. Macht und die Zumessung von Werten spielen politisch eine wichtige Rolle. Die verschiedenen Gruppen versuchen, die Politik, die ja jeden in der Gesellschaft angeht, dadurch zu beeinflussen, daß sie mehr Macht

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zu erlangen suchen, denn Gruppen, die die Möglichkeit haben, die Politik zu gestalten, können das Leben aller in der Gesellschaft kontrollieren. Diese Dynamik umgibt die „soziale Wirklichkeit des Verbrechens", d. h. „Menge und Charakter der Kriminalität einer Gesellschaft zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt". Unter Einbeziehung verschiedener Elemente der oben beschriebenen soziologischen Theorie formuliert Quinney sechs Propositionen und eine Reihe von beigeordneten Feststellungen, die die Propositionen beleuchten: „ P r o p o s i t i o n 1 (Definition des Verbrechens): Verbrechen ist eine Definition menschlichen Verhaltens, die von autorisierten Agenten in einer politisch organisierten Gesellschaft erstellt wird." — „Je häufiger Definitionen des Verbrechens formuliert und angewandt werden, um so mehr Verbrechen gibt es." „ P r o p o s i t i o n 2 (Formulierung von Verbrechensdefinitionen): Verbrechensdefinitionen beschreiben Verhaltensweisen, die sich mit den Interessen derjenigen Segmente der Gesellschaft im Konflikt befinden, die die Macht haben, die öffentliche Politik (public policy) zu gestalten." — „Je größer der Interessenkonflikt zwischen Gruppen einer Gesellschaft ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Gruppen, die die Macht haben, Verbrechensdefinitionen formulieren." — „Die Wahrscheinlichkeit der Formulierung von Verbrechensdefinitionen erhöht sich durch Faktoren wie (1) wechselnde soziale Bedingungen, (2) neu auftretende Interessen, (3) wachsende Sorge um den Schutz politischer, wirtschaftlicher und religiöser Interessen und (4) wechselnde Vorstellungen über das Interesse der Allgemeinheit." „ P r o p o s i t i o n 3 (Anwendung der Verbrechensdefinitionen): Verbrechensdefinitionen werden von denjenigen Gruppen der Bevölkerung angewandt, die die Macht haben, die Durchsetzung und Pflege des Strafrechts zu gestalten." — „Die Wahrscheinlichkeit der Anwendung von Verbrechensdefinitionen schwankt gemäß dem Ausmaß, in dem sich die Verhaltensweisen derjenigen, die keine Macht besitzen, mit den Interessen der Machtgruppen in einem Konflikt befinden." — „Die Wahrscheinlichkeit der Anwendung der Verbrechensdefinitionen wird durch Gesellschafts- und organisatorische Faktoren beeinflußt wie (1) Erwartungen der Gesellschaft in bezug auf Gesetzesdurchsetzung und -pflege, (2) Sichtbarkeit des Verbrechens und Berichte an die Öffentlichkeit über Verbrechen, (3) berufliche Organisation, Ideologie und Handlungen der gesetzlichen Agenten, denen die Macht übertragen worden ist, Strafrecht durchzusetzen und anzuwenden."

— „Je mehr gesetzliche Agenten Verhaltensweisen und Personen einer kriminellen Definition wert erachten, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Verbrechensdefinitionen angewendet werden." „ P r o p o s i t i o n 4 (Die Entwicklung von Verhaltensmodellen in bezug auf Verbrechensdefinitionen): In einer Gesellschaft, deren Organisation auf Segmentierung beruht, sind die Verhaltensweisen gemäß den Verbrechensdefinitionen strukturiert und in diesem Zusammenhang begehen Menschen Handlungen, für die relative Wahrscheinlichkeiten bestehen, daß sie als kriminell definiert werden." — „Personen derjenigen Gesellschaftssegmente, deren Verhaltensweisen bei der Formulierung und Anwendung von Verbrechensdefinitionen keine Berücksichtigung finden, betragen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit so, daß ihr Verhalten als kriminell definiert wird, als Personen aus den Segmenten, die die Verbrechensdefinitionen formulieren und anwenden." — „Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mensch Verhaltensweisen entwickelt, die mit großer Wahrscheinlichkeit als kriminell definiert werden, ist abhängig von der relativen Substanz an (1) den für sie innerhalb der Gesellschaftsstruktur vorgesehenen Zugangschancen (frei übersetzt; Quinney spricht nur von „their structured opportunities" — Anm. d. Verf.), (2) Lernerfahrungen, (3) interpersonellen Assoziationen und Identifikationen, und (4) Selbstbildern." — „Vermehrte Erfahrung mit Verbrechensdefinitionen erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß sich Handlungen entwickeln, die dann als kriminell definiert werden." „ P r o p o s i t i o n s (Konstruktion von Vorstellungen über Verbrechen): Vorstellungen über Verbrechen (ζ. B. seine Bedeutung innerhalb der Gesellschaft, Eigenschaften des Verbrechers — Anm. des Übersetzers) verbreiten sich innerhalb von Gesellschaftssegmenten durch verschiedene Arten der Kommunikation." — „Die Konstruktion von Vorstellungen über Verbrechen beruht auf der Darstellung des Verbrechens in allen persönlichen Kommunikationen und Massen-Kommunikationen." — „Je größer die Besorgnis der Mächtigen über Verbrechen, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Verbrechensdefinitionen geschaffen werden und daß sich Verhaltensweisen entwickeln, die den Verbrechensdefinitionen entgegengesetzt sind." „ P r o p o s i t i o n 6 (Soziale Wirklichkeit des Verbrechens): Die soziale Wirklichkeit des Verbrechens wird gebildet durch Formulierung und Anwendung von Verbrechensdefinitionen, durch die Entwicklung von auf Verbrechensdefinitionen be-

Theorien des Verbrechens u n d der sozialen A b w e i c h u n g zogenen Verhaltensweisen u n d durch die Konstruktion v o n K o n z e p t i o n e n des Verbrechens." — „ D a s Ausmaß, in d e m sich allgemeine Auffassungen über das Verbrechen entwickeln, h ä n g t z u s a m m e n m i t der B e h a n d l u n g des Verbrechens i n Massenmedien u n d zwischenmenschlichen Beziehungen. N a t u r u n d Grad der Besorgnis über Verbrechen variiert v o n einem Teil der Gesellschaft z u m anderen." — „Je mehr sich die Allgemeinheit über das Verbrechensphänomen beunruhigt, u m so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Verbrechensdefinitionen geschaffen werden." Quinneys Theorie i s t b e w u ß t k u m u l a t i v , i n d e m sie Elemente anderer Lehren umschließt, ζ. B . E l e m e n t e aus den oben angeführten Theorien v o n Sutherland, Glaser u n d Reckless. Jedes der vier E l e m e n t e der sozialen Wirklichkeit, wie sie i n den Propositionen 2 — 5 erscheinen, s t e h t in Beziehung zu j e d e m anderen. Die soziale Wirklichkeit des Verbrechens selbst i s t etwas, das nie stehenbleibt, sondern fortlaufend weiterkonstruiert wird.

Monographien Ein Stern * bedeutet, daß die Veröffentlichung oder eine ähnliche Gedankengänge ausdrückende andere Veröffnetlichung desselben Autors (oder eines der Autoren) zumindest auBZUgpweise in deutscher Ubersetzung in Sack u. König (1868) erschienen ist. C. B e c c a r i a : Über Verbrechen und Strafen. Vbers. u. hrsg. v. W. Alff. 196«. H. S. B e c k e r (Hrsg.): The other side. 1964. —: Outsiders. Studies in the sociology of deviance. 1963. H. B l o c h u. A. N i e d e r h o f f e r : The gang. A study in adolescent behavior. 1958. Μ. B. CUnar d: Sociology of deviant behavior. 3. Aufl. 1968. * Β,. A. Gloward u. L. E. O h l i n : Verbrechen u. Gelegenheit. 1968. Α. Ε . Cohen: Delinquent boys. The culture of the gang. 1955. —: Deviance and control. 1966. * E. D ü r k h e i m : Les regies de la m£thode. 1893. Deutsche Ausg. 1956. D. G l a s e r : Social deviance. 1971. Ε. H. J o h n s o n : Crime, correction and society. Neue Aufl. 1968. G. K a i s e r : Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen. 1971. Ε. Μ. L e m e r t : Human deviance, social problems and social control. 1967. —: Human pathology. 1951. D. M a t z a : Delinquency and drift. 1961. * R. K. M e r t o n : Social theory and social structure. 2. Aufl. 1957. Ε. Mezger: Kriminologie. 1951. W. F. O g b u r n u. M. F. N i m k o f f : Sociology. 3. Aufl. 1958. K. O. Opp: Kriminalität u. Gesellschaftsstruktur. 1968. R. Q u i n n e y : The social reality of crime. 1970. W. C. B e c k l e s s : The crime problem. 5. Aufl. 1973. F. Sack u. R. K ö n i g (Hrsg.): Kriminalsoziologie. 1968. S. S c h a f e r : Theories in criminology. 1969. Η. J. S c h n e i d e r : Kriminologie. Berlin, New York 1974. Ε. M. S c h u r : Deviant behavior: Its sociological implications. 1971. Τ. Sellin: Culture conflict and crime. 1938 (Neudruck 1972).

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326

Todesstrafe

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TODESSTRAFE Α. Geschichte 1. Die Todesstrafe

bei den

Germanen

Den Ursprung der Todesstrafe bei den Germanen haben Bechtshistoriker schon seit Dreyer (1792) im Menschenopfer erblickt. Nach dieser insbesondere durch K. v. Amira (1922) entwickelten Theorie soll der Missetäter erzürnten Göttern zur Besänftigung dargebracht worden sein. Dabei sei durch den Vollstreckungsritus zugleich die Zielrichtung des Opfers angedeutet worden. Der Gehängte sei Wotan, dem Gott des Windes, dargeboten worden, Ertränkte seien ein Opfer an FluBgötter, Enthauptete dem Axt- und Blitzgott T^r bestimmt gewesen usw. Diese sogenannte Sakraltheorie ist wiederholt mit beachtlichen Argumenten in Frage gestellt worden. E. Mogk (1909) hat die Berichte über das Menschenopfer bei den Germanen durchmustert und keinerlei Hinweise darauf gefunden, daß es ein Strafakt gewesen sei. In neuerer Zeit hat B. Rehfeldt (1942) darauf hingewiesen, daß in den Berichten über das Martyrium christlicher Missionare zur Zeit der Christianisierung germanischer Stämme kaum jemals von sakralen Handlungen die Bede ist, obwohl doch ein etwa vorhandenes sakrales Strafrecht gerade die Zerstörer der heidnischen Götterwelt mit Gewißheit hätte treffen müssen. Gleich ernstzunehmende Kritik richtete sich gegen Amiras vom Entwicklungsdenken des vorigen Jahrhunderts beeinflußte Methode, den Nachweis des sakralen Ursprungs der germanischen Todesstrafen durch Bückschlüsse aus mittelalterlichen Quellen zu führen. Die Annahme, daß sich Beste vorchristlich-germanischen Strafrechts noch in soviel späterer Zeit erkennen ließen, ist historisch nicht gesichert (Ström, 1942) und insbesondere deshalb fragwürdig, weil dem reichen Katalog mittelalterlicher Todesstrafen nur spärliche Zeugnisse für die Anwendung vergleichbarer Exekutionsmodi gegenüberstehen. Die von Amira zur Stützung seiner Theorie herangezogenen Hinrichtungsriten und -Varianten dürften nach heutiger Ansicht eher magischen Gehalts als religiösen Ursprungs sein und für die Herleitung germanischer Todesstrafen aus dem Menschenopfer nichts besagen. In seiner ,Germania' (Kap. 12) gedenkt Tacitus nur weniger Vergehen, welche die Tötung

des Missetäters nach sich zogen, wobei es sich vermutlich nicht um Menschenopfer, sondern um Fälle des Kriegsstrafrechts handelte: Landesverrat, Überlaufen zum Feinde, Feigheit im Felde und Kriegsdienstverweigerung. Vielleicht bezieht sich auch das umstrittene Versenken der .corpore infames' im Sumpf auf ein Kriegsverbrechen: Päderastie im Heereslager. Daneben wurde auf einzelne Kulturverbrechen wie die Störung des Thing-Friedens (Germania, Kap. 11) gleichfalls mit Tötung reagiert, die von Priesters Hand erfolgte. Weitergehende Vermutungen, wonach u. a. Mord, qualifizierter Diebstahl und Notzucht schon in germanischer Urzeit todeswürdige Delikte gewesen seien, stehen auf schwachen Füßen. Das gleiche gilt für manche scharfsinnigen Bemühungen, den Ursprung qualifizierter Todesstrafen, die im 14. oder 15. Jahrhundert erstmals bezeugt sind, in vorchristliche Zeit zurückzuverlegen und auf diese Weise etwa das Ertränken im Faß mit keltischen Opferbräuchen in Verbindung zu bringen. Wenn solche Strafformen in verläßlich überlieferten vorchristlichen Bechtseinrichtungen keine Stütze finden, ist stets Vorsicht geboten. Aus demselben Grunde ist von der verschiedentlich behaupteten Altertümlichkeit mäichen- und sagenhafter Todesstrafen durchweg nicht viel zu halten. Hier gilt noch immer E. v. Künßbergs Bat, historisch nicht beglaubigte rechtliche Erscheinungen, die in der Volksdichtung auftreten, zunächst als erfunden anzusehen und zu bezweifeln. Die Spärlichkeit gesicherter Nachrichten über Todes- und Leibesstrafen deutet darauf hin, daß ein der modernen Bedeutung dieses Instituts sich näherndes Strafrecht bei den Germanen erst in Ansätzen vorhanden gewesen ist. Wohl konnte ein Missetäter auf handhafter Tat vom Angegriffenen erschlagen werden oder der Blutrache zum Opfer fallen. Ihn durch obrigkeitlichen Spruch zum Tode zu verurteilen, scheint indes dem Bechtsgefühl des freien Germanen widersprochen zu haben. So wurde Totschlag mit dem Wergeid abgegolten und findet sich auch bei anderen nach heutigem Empfinden schwerwiegenden Delikten ganz allgemein der Ausgleich durch geldwerte Vermögenseinbußen. J. Ο. Ξ . D r e y e r : Antiquarische Anmerkungen über einige Lebens-, Leibes- und Ehrenstrafen. 1792. E. Mogk: Die Menschenopfer bei den Germanen. Abh. d. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. Phil.-hist. El. Bd. 27. 1909. K. y. A m i r a : Die germanischen Todesstrafen. Abh. d. Bayer. Akad. d. Wissensch. Phil.-hist. El. Bd. 31. 1922. B. R e h f e l d t : Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte. Zur Rechts- und Religionsgeschichte der germanischen Hinrichtungsbr&uche. 1942. F. S t r ö m : On the sacral origin of the Germanic death penalties. 1942. Η. v. Hen t i g : Die Strafe. Bd. 1: Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. 1954. F. S t u r m : Symbolische Todesstrafen. 1962. L. B a r r i n g : Götterspruch und Henkerhand. Die Todes, strafen in der Geschichte der Menschheit. 1967.

Todesstrafe 2. Die Todesstrafe im Mittelalter Erst etwa seit dem 11. Jahrhundert macht sich ein allmähliches Zurücktreten des in frühchristlicher Zeit auch von der Kirche gestützten, zur halbprivaten Reaktion auf zahlreiche Verfehlungen weithin benutzten Bußenstrafrechts bemerkbar zugunsten zunehmender Anwendung von Leibes- und Lebensstrafen, die das Strafrecht des deutschen Mittelalters charakterisieren. Anlaß zu dieser Entwicklung ist einerseits die als Folge sozialer Umschichtungen ansteigende Kriminalität ,landschädlicher Leute' gewesen, deren Bekämpfung den Städten und Landesherren nur durch wachsende Härte der Strafdrohung möglich erschien. Andererseits bewirkte seit dem frühen Mittelalter die Übernahme der aus dem mosaischen Recht entlehnten Talionsmaxime eine Verschärfung der obrigkeitlichen Sanktion sozialgefährlichen Verhaltens. Die Vergeltungsstrafe, in welcher R. His (1920) mit Recht zugleich ein Zugeständnis an den Rachegedanken und ein Mittel zu dessen Bekämpfung gesehen hat, erlangt namentlich in Süddeutschland weite Verbreitung, während sie im Norden seltener belegt, dem Sachsenspiegel im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts noch fremd geblieben ist. Der Talionsgrundsatz, welcher vorwiegend bei Tötung und schwerer Körperverletzung zur Anwendung gebracht wurde, ist in Stadtrechten des 11.—14. Jahrhunderts öfter mit deutlicher Anlehnung an die biblische Fassung formuliert, so im Stadtrecht von Enns (1212): secundum legem oculum pro oculo, manum pro manu. In oberdeutschen Weistümem erscheint das mosaische Prinzip öfter in Wendungen wie: da sol man bare gen bare stoßen (Kirchzarten, 1395), d. h. die Bahre des Totschlägers soll zu der seines Opfers gestellt werden. Die auffällige Empfänglichkeit des mittelalterlichen Menschen für Talionsvorstellungen schlug sich zumal in bäuerlichen Rechtsaufzeichnungen in einer Vielzahl von Strafandrohungen auf dieser Grundlage nieder, zum Teil sollte auch bei bloßer Sachverletzung die Wiedervergeltung in direkter oder uneigentlicher Form Platz greifen. Solche Bestimmungen, wie das Abpflügen des Kopfes bei Grenzverrückung und das Ausdärmen des Baumfrevlers sind in der Regel als nicht ernstgemeinte Territion zu beargwöhnen, sofern es an eindeutigen Belegen tatsächlichen Vorkommens fehlt. Dergleichen Auswüchse einer dem Grausamen zugeneigten Volksphantasie, aus welchen Amira und seine Nachfolger ζ. T. verfehlte Schlüsse auf die Strafpraxis jener Zeit gezogen haben, zeigen allenfalls, daß neben dem Vergeltungsgedanken die Abschreckungsabsicht bereits eine maßgebliche Rolle gespielt haben muß, die aus den Quellen seit dem 13. Jahrhundert immer deutlicher hervortritt. Sie wurde sowohl durch übersteigerte Strafdrohungen als auch durch die

327

Art des Vollzuges angestrebt und hat wesentlich zum Formenreichtum des wegen zahlreicher lokaler Varianten nicht im Sinne eines Strafensystems einheitlich in Geltung und Anwendung gewesenen mittelalterlichen Strafenkataloges beigetragen. Mit dem öffentlichen Vollzug vielfältig abgestufter und durch Vor- und Nachstrafen qualifizierter Todesstrafen suchten die Gerichtsherrn generalpräventive Wirkungen zu erreichen, ohne damit freilich die einer wirksamen Verbrechensbekämpfung entgegenstehenden Schwächen des Verfolgungsstabes und Mängel des Rechtsganges ausgleichen zu können. Mit Hilfe des im 13.—16. Jahrhundert sich entwickelnden, höchst unzulänglichen InquisitionspTozesses, der den ausgedehnten Gebrauch der Folter an die Stelle rationaler Wahrheitserforschung und mühsamer Ermittlung des Tatbestandes setzte, artete die Strafgerichtsbarkeit jener Zeit in einigen Territorien zu willkürlicher Blutjustiz aus, die von der Todesstrafe rücksichtslos Gebrauch machte, um mit der gefährlichen Kriminalität sozial entwurzelter Landfahrer und Strauchritter fertig zu werden. Allerdings zeigt die Kriminalpolitik in verschiedenen Herrschaftsbereichen im einzelnen ein uneinheitliches Bild; abgesehen von einem merklichen Nord-Süd-Gegensatz mit stärkerem Gebrauch der Todesstrafe in Süddeutschland variiert die Strafintensität erheblich. Aus lückenhaften statistischen Angaben, die aus örtlichen Malefizbüchern und Aufzeichnungen von Scharfrichtern gewonnen werden können, läßt sich immerhin eine Zunahme der Vollstreckungshäufigkeit in zahlreichen Städten zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert ersehen. Als hauptsächliche Vollzugsaxten werden in diesem Zeitraum Hängen, Enthaupten, Rädern, Verbrennen und Lebendigbegraben genannt; in wassernahen Orten tritt Ertränken als Frauen-, seltener auch als Männerstrafe an die Stelle anderer Exekutionsformen. Die Regelmäßigkeit der Anwendung bestimmter Todesstrafen bei bestimmten Delikten war sowohl durch lokale Traditionen und mehr oder minder zufällige Gegebenheiten, als auch durch Rücksichten auf Alter, Geschlecht und soziale Stellung des Delinquenten vielfältig durchbrochen. Grundsätzlich beobachtet wird der — in Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit erhaltene — Unterschied zwischen dem Hängen als entehrender Strafe, die vor allem der Diebstahl nach sich zieht, und der ehrlichen Strafe des Schwertes, die auf Mord und Gewalttat angedroht ist, Standespersonen zusteht und auch im Gnadenwege als mildeste Strafe zugebilligt wird. Ein kennzeichnendes Bild für die Art der Strafzuteilung und für den Umfang der todeswürdigen Kriminalität im 14./15. Jahrhundert vermittelt die Aufzeichnung über die Aburteilung von 120 Verbrechern in Berlin 1399—1448. Nach H. v. Hentig (1962) wurden während dieser 50 Jahre:

328 a) aufs Rad geflochten wegen Kirchenraubs Mordes und Brandes Brandstiftung b) enthauptet wegen Straßenraubes Brandstiftung Friedebruchs Mordes Verkaufs von Kindern an Juden Kirchenraubs Schlägerei mit blutigem Ausgang c) verbrannt wegen Kuppelei Zauberei und Vergiftung Falschmünzerei Kirchendiebstahls Betruges Spielen mit falschen Würfeln d) gehängt wegen Raubes Diebstahls Pferdediebstahls Hehlerei e) lebendig begraben (Frauen) wegen Diebstahls Gewalttat

Todesstrafe Personen 6 2 3 24 2 2 2 2 1 1 1 5 1 2

3 2

6 35 9 1 9 1

Demnach waren etwa 80% wegen Raubes oder Diebstahls verurteilt, 42% aller Verurteilten sind gehängt und 28% enthauptet worden. Verbrennung und Lebendigbegraben sind verhältnismäßig häufig genannte Strafen, deren Härte schon zu jener Zeit vielfach durch diskrete Strangulation bzw. durch Pfählung (Feucht, 1967) gemildert worden ist. Der Vollzug der Todesstrafe, welcher in fränkischer Zeit dem Gesinde des Richters, später dem örtlichen Fronboten oder Büttel, vereinzelt auch dem jüngsten Schöffen oder hie und da auch dem Geschädigten selbst bzw. dessen Angehörigen obgelegen hatte, gelangt seit dem 13. Jahrhundert allmählich in die Hände berufsmäßiger Vollstreckungspersonen. Zunächst in den Städten wird das Amt des Nachrichters meist zugleich mit der Wasenmeisterei und anderen Nebengewerben ausgeübt. Der erste Hinweis auf die Existenz eines Henkers stammt aus Augsburg (1276), gefolgt von Nachrichten aus Lübeck und Braunschweig, während Frankfurt a. M. noch 1373 keinen eigenen Scharfrichter beschäftigte. Der Henker galt als unehrlich, war nach kirchlichem Recht irregulär und sozial in vielfacher Weise zurückgesetzt aus Gründen, die bisher nicht eindeutig geklärt worden sind. Neuerlich hat Gernhuber (1957) in dieser Makelhaftigkeit den unbewußten Ausdruck einer im Volke vorhandenen Abneigung gegen den Vollzug peinlicher Strafen erblicken wollen. Demgegenüber leuchtet die schon von J. Grimm (1899)

geäußerte Vermutung eher ein, daß der Übergang zur entgeltlichen Ausübung der in früherer Zeit offenbar nicht als entehrend angesehenen Tätigkeit die Hauptursache der Diskriminierung gewesen ist, weil es natürlichem Gefühl widerstrebte, daß sich ein Mensch dazu hergab und gleichsam sein Geschäft daraus machte, andere ums Leben zu bringen'. Für überholt kann die auf Amiras Sakraltheorie fußende Annahme gelten, daß auf dem Henker seit der Zeit des Menschenopfers ein Tabu gelastet habe; dafür fehlt jeder Nachweis der historischen Kontinuität. Allerdings waren dem Scharfrichter gewisse magische Potenzen zugeschrieben, allerhand Volksglauben rankte sich um seine Tätigkeit an der schicksalhaften Grenze zwischen Leben und Tod. Die Berührung durch den Henker galt ambivalent als unheilbringend oder segensreich. Er stand im Rufe besonderer Heilkünste, war ein gesuchter Tierarzt und Chirurg, wofür ihm neben dem Glauben des Volkes an seine Heilkraft auch gewisse ihm durch seine Berufstätigkeit verfügbaren anatomischen und physiologischen Kenntnisse zustatten kamen. In späteren Jahrhunderten bildete sich ein spezifischer Berufsstolz des Scharfrichters heraus, der einmal in der technischen Schwierigkeit der ihm übertragenen Aufgaben, zum anderen in der sozial isolierten Sonderstellung am unteren Rande der Gesellschaft begründet war. Da dem Nachrichter und seinen Nachkommen von den Zünften der Übergang in ehrbare Handwerke und das Konnubium verwehrt wurde, kam es zu engen, an soziologisch ähnlich gelagerte Verhältnisse des Adels erinnernde Versippungen und zur Ausbildung langer Berufstraditionen, die erst im 18./19. Jahrhundert zugleich mit dem starken Rückgang der Todesstrafen verfielen. Im selben Zeitraum wird die soziale Schlechterstellung, welche zuvor nur im Einzelfall durch förmliche Ehrlichmachung nach Berufsaufgabe beseitigt worden war, durch gesetzliche Regelungen gegen den zähen Widerstand der Zünfte allgemein aufgehoben. In Preußen ist die bürgerliche Ehre der Scharfrichtersöhne und -gehilfen erst 1819 mit ihrer Heranziehung zur Leistung der Militärpflicht endgültig hergestellt worden. Das soziale Vorurteil gegen den berufsmäßigen Vollstrecker von Todesstrafen wirkt indes bis in die Gegenwart fort. J. G r i m m : Deutsche Rechtsaltertümer. Bd. 2. Aufl. -1. 1899. R. Η i s: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Τ. 1 u. 2. 1920/1935. A. K e l l e r : Der Scharfrichter in der deutschen Kulturgeschichte. 1921. R. H i s : Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina. 1928. H. C o n r a d : Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. 1954. J. G e r n h u b e r : Strafvollzug und Unehrlichkeit. Zeitschr. d. Savigny-Stiftg. f. Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 74 (1957). H. v. H e n t i g : Studien zur Kriminalgeschichte. 1962.

Todesstrafe Chr. Helfer: Henkerstudien. Arch. f. Kulturgeschichte 46—47 (1964/65) H. S c h u h m a n n : Der Scharfrichter. Seine Gestalt — Beine Funktion. 1964. D. F e u c h t : Grube und Pfahl. 1967. 3. Die Todesstrafe

unter der Herrschaft

der

Carolina

Gegen Ende des Mittelalters führten die verbreiteten Klagen über eine willkürliche und grausame Strafrechtspflege zu Reformbestrebungen, die 1532 ihren Niederschlag in der nach dem Vorbild der Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 gestalteten Constitutio Criminalis Carolina fanden. Sie brachte in strafprozessualer Hinsicht wichtige Verbesserungen; am Katalog der eingeführten Lebens- und Leibesstrafen hat sie indes wenig geändert. Die Anwendung der Todesstrafe in sieben Vollzugsalten (Hängen, Rädern, Vierteilen, Enthaupten mit dem Schwert, Ertränken und Lebendigbegraben) blieb ultima ratio der Verbrechensbekämpfung. Ohne im modernen Sinne geltendes Recht gewesen zu sein, hat die Carolina jahrhundertelang vorbildhaft auf die Strafrechtspflege in den deutschen Territorialstaaten eingewirkt und spätere Kodifikationen nachhaltig beeinflußt. Unter ihrer Herrschaft erreichte die Häufigkeitskurve vollstreckter Todesurteile im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt, wenngleich erhaltene Statistiken ein ganz ungleiches Bild ergeben: Im kleinen Fürstentum Ansbach brachte es der Scharfrichter allein in den Jahren 1575—1603 auf 404 Exekutionen (Keller, 1921), während die von H. Schuhmann (1964) durchmusterten Strafbücher Augsburgs für dieselbe Zeit viel kleinere Zahlen ausweisen: Hinrichtungen in Augsburg 1576—1605 Rad

Wasser

1576—1580 1581—1587 1588—1596 1596—1605

17 24 17 13

7 5 13 8

1 3 2 1

3 1 1

1576—1605

71

33

7

Strang Schwert



5

Für die Strafstatistik des 16. und 17. Jahrhunderts fällt namentlich in west- und süddeutschen Gebieten die insgesamt beträchtliche Zahl von Hinrichtungen wegen Hexerei regional unterschiedlich stark ins Gewicht. Art. 109 der Carolina hatte zwar den Feuertod nur für den Fall angedroht, ,so jemandt den leuten durch zauberey schaden oder nachtheyl zufügt'; doch fand solche Einschränkung zumeist dort wenig Beachtung, wo die geistliche Gerichtsbarkeit — wie ζ. B. im Kurfürstentum Köln — die Kompetenz in Hexensachen an sich zog. Nicht Schadenszufügung, sondern der durch den angeblichen Teufelspakt bekundete Abfall von Gott wurde von der kirch-

329

lichen Inquisition als todeswürdiges Verbrechen behandelt, eine Ansicht, die sich auf die Autorität Benedict Carpzovs stützen konnte, der die CCC in dieser Weise ausgelegt hatte. Daß Carpzov selbst als Mitglied des Leipziger Schöppenstuhls zahlreiche Hexen auf den Scheiterhaufen gebracht habe, ist freilich ebenso böswillige Erfindung wie die oft kolportierte Angabe über die extreme Härte seiner Urteilssprüche. Tatsächlich kann er während seiner jahrzehntelangen Schöppentätigkeit nicht mehr als 250—300 Todesurteile gefällt haben (Boehm, 1941), eine angesichts der durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stark angeschwollenen Gewalt- und Eigentumskriminalität nicht übermäßig hohe Zahl. Im übrigen müssen Berichte über die Zahl der Opfer von Hexenverfolgungen grundsätzlich mit Vorsicht aufgenommen werden, da allzu eifrige Hexenrichter ebenso wie die Kritiker des Hexenwahns zu starker Übertreibung neigten. Trotzdem stehen die für manche Gegenden verheerenden Folgen der kirchlichen Inquisition außer Zweifel, wenn auch fragwürdige Statistiken und die vielerorts absichtsvolle Vernichtung der Akten die Auswirkung einer der größten Verirrungen des menschlichen Geistes nicht mehr zuverlässig abzuschätzen erlauben. Nach glaubwürdigen Nachrichten soll ζ. B. eine etwa fünfjährige Hexenverfolgung im Stift Bamberg ungefähr 600 und im Bistum Würzburg 900 Opfer gefordert haben. In protestantischen Ländern ist mit nicht geringerer Härte gegen angebliche Hexen vorgegangen worden; über den koburgischen Herzog Johann Kasimir meldet ein Bericht von 1628, er habe sich entschlossen, soviel Hexen wie möglich ,exterminieren' und ,ausrotten' zu lassen. Noch im 18. Jahrhundert wurden im Bayerischen Kriminalkodex von 1751 und in der Constitutio Criminalis Theresiane (C C Th) von 1768 Hexerei und Zauberei als Verbrechenstatbestände aufgeführt. Der Leipziger Jurist Christian Jakob Heil gab 1738 eine genaue Beschreibung der zu seiner Zeit üblichen Vollstreckungsarten, die auch die Verbrennung mit mehreren Varianten einschließt und ein abstoßendes Bild vom Vollzug der Todesstrafe unter der Carolina vermittelt. Chr. J . H e i l : Judex et defensor in processu inquisitionis seu tractatus criminalis theoretico-practicus. 1738. A. K e l l e r : Der Scharfrichter in der deutschen Kulturgeschichte. 1921. E. B o e h m : Der Schöppenstuhl zu Leipzig und der sächsische Inquisitionsprozeß. ZStrW 59—61 (1941/42) S. 300. H. S c h u h m a n n : Der Scharfrichter. Seine Gestalt — seine Funktion. 1964. Eb. S c h m i d t : Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Aufl. 3. 1965 (Ausführliche Bibliographie auch zur Geschichte der Todesstrafe). 4. Die Todesstrafe

in der

Aufklärungszeit

Obschon sich zumal in der Blütezeit der Hexenverfolgung hier und dort Juristen, Ärzte und

330

Todesstrafe

Theologen zu Wort gemeldet hatten, welche die willkürliche und skrupellose Strafpraxis der Inquisitionsgerichte leidenschaftlich kritisierten (Weyer, Spee), ist die Todesstrafe selbst bis ins 17. Jahrhundert, von ganz vereinzelten Stimmen (Th. Morus) abgesehen, nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Daß der Staat berechtigt sei, das Leben von Bürgern zu fordern, die sich gegen seine Gesetze schwer vergangen hatten, war selbstverständliche Maxime, die in Deutschland wie im ganzen christlichen Abendland ihre Grundlage in der engen Verbindung zwischen weltlichem Strafrecht und kirchlichem Gebot hatte und für die religiös gebundene Masse der Bevölkerung ebenso wie für die Rechtsgelehrten außer Zweifel stand. Wie in der Carolina und noch in späteren Kodifikationen der Dekalog das Vorbild für die Verbrechenssystematik abgab, so war auch das mosaische Talionsgebot fester Bestandteil jener Strafgesetze, d. h. die Todesstrafe war so sicher auf die Autorität der Bibel gestützt, daß sie einer weiteren Begründung nicht bedurfte. Dieser Zustand fragloser Anerkennung und Fortgeltung des alten Instituts begann sich erst zu wandeln, als die Philosophie der Aufklärungszeit sich gegen die theokratische Strafauffassung stellte. Im Rahmen dieser alle Lebensgebiete durchdringenden geistigen Neuorientierung, welche die Fesseln religiöser Dogmen auch im Rechtswesen abzustreifen suchte, mußte theoretisch eine im Willen Gottes wurzelnde Todesstrafe als mit dem Prinzip einer nur auf die Vernunft gerichteten empirischen Interpretation der Welt ganz unvereinbar erkannt und folgerichtig verworfen werden (Lewandowski, 1961). Tatsächlich ist freilich die Argumentation der Philosophen und Rechtsgelehrten des 17. Jahrhunderts bezüglich der Todesstrafe nicht in Richtung auf strikte Abolition, sondern allgemein mit eingeschränkter Zielsetzung geführt worden. Der Angriff richtete sich gegen die Talionsmaxime, die ausgedehnte Anwendung der Strafe und gegen die Grausamkeiten des Vollzugs. Schon die Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts hatte sich aus diesem begrenzten Blickwinkel mit der Todesstrafe befaßt, ohne sie gänzlich wegzudenken. So verzichtete H. Grotius (1683—1645) in seinem Hauptwerk ,De bello ac pacis' (II, 20) zwar auf die Begründung dieser Strafe aus der biblischen Talion, versuchte aber als gläubiger Christ, sie mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen. Eine Einschränkung ihrer Anwendung forderte er für Häresie, während er sie zur Bekämpfung anderer Religionsdelikte (Gottlosigkeit) noch für zulässig hielt. Einen ähnlichen Standpunkt nahmen nach ihm Thomas Hobbes (1588—1679) und Samuel von Pufendorf (1632—1694) ein. Die heftigste Kritik an der Strafpraxis seiner Zeit kam jedoch von Christian Thomasius (1665—1728), welcher der Naturrechtsschule entstammte, aber nach seiner geistigen Orientierung schon zur Auf-

klärungsphilosophie gerechnet werden kann. In seiner Schrift ,An haeresis sit crimen' (1697) hatte er sich gegen die Verfolgung von Ketzern in protestantischen Landen gewandt und der weltlichen Obrigkeit das Recht abgesprochen, über Ketzerei zu richten. In einer späteren Schrift ,De crimine magiae' (1701) setzte er sich für die Einstellung der Hexenprozesse ein, da die Richter nicht gezwungen werden könnten, ein nicht bestehendes Delikt zu strafen. Auch diese Stellungnahme wollte nur dem Mißbrauch der Todesstrafe steuern, ohne sie selbst in Frage zu stellen. Allerdings mußte an die Stelle der mosaischen Talion, welche durch die Verwerfung der alleinigen Autorität der Bibel für die Gestaltung der Strafrechtspflege als Grundlage der Todesstrafe diskreditiert worden war, ein neues ideologisches Fundament treten, auf dem das im Prinzip nicht angefochtene Institut fortan bestehen konnte. Diese neue Begründung der Todesstrafe ist von der Naturrechtslehre vorbereitet und in der Aufklärungsphilosophie ausgebaut worden. Sie erfolgte unter den im einzelnen unterschiedlich entwickelten Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Als gerecht sah Grotius die Todesstrafe an, sofem sie in vernünftiger Relation zum Verbrechen stehe. Unter Rückgriff auf pythagoreische Lehren suchte er die Proportionalität von Tat und Strafe zahlenmäßig zu erfassen; die Todesstrafe erschien in dieser Sicht als ein Entgelt, das zu schwerwiegendem Fehlverhalten in ähnlichem Verhältnisse steht, wie der Preis zur Ware. Im wesentlichen lief diese Argumentation auf eine Verweltlichung des Prinzips der Wiedervergeltung hinaus, die biblische wurde durch die philosophische Talion ersetzt. Der Grundsatz, daß dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan habe, wurde von der Basis einer äußerlichen, sinnlich faßbaren Anähnelung von Tat und Strafe, wie sie das mosaische Gesetz gefordert hatte, auf die Ebene der rational kalkulierten inneren Gleichwertigkeit gehoben. Konsequenz dieses quasi-mathematischen Relationsdenkens war für Grotius die Ablehnung der Todesstrafe bei gewissen, nach seiner Berechnung nicht gleichwertigen Delikten, so beim Diebstahl. Der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit — bei Grotius hinter der Gerechtigkeitsabwägung zurücktretend — wurde erst in der Todesstrafendiskussion der Hochaufklärung stärker herausgestellt: „An die Stelle eines theokratisch begründeten und interpretierten Strafzwecks universalistischer Prägung wurde ein Strafzweck gesetzt, der den Interessen eines weltlichen Staates diente" (Lewandowski, 1961). Diese Straftheorie, welche den Nutzen der Todesstrafe für den säkularisierten Staat in den Vordergrund rückte, entsprach in der Epoche des aufgeklärten Absolutismus den staatspolitischen Vorstellungen der Landesherren aufs beste. In die Praxis umgesetzt, führte sie zu schar-

Todesstrafe fer Sanktionierung aller gegen die Sicherheit des Staates gerichteten Handlungen, die an die Spitze des Verbrechenskatalogs rücken, wo sie sich über alle Wandlungen der Staatsverfassung hinweg u. a. in den deutschen Strafgesetzbüchern bis heute gehalten haben. Im gleichen Sinne haben in Frankreich die Enzyklopädisten der Todesstrafe vornehmlich für Verbrechen des Hochverrats und für gegen die öffentliche Ordnung gerichtete Delikte das Wort geredet. Dabei schreckten sie nicht vor der empfehlenden Rechtfertigung der grausamsten Vollzugsformen des mittelalterlichen Strafenkatalogs zurück, Mord sollte mit dem Bad, Giftmischerei mit Feuer, der Hochverrat mit Vierteilung geahndet werden. Die Strafpraxis der Zeit entsprach insoweit durchaus den Vorstellungen dieser aufgeklärten Geister. Die Hinrichtung des ,Königsmörders' Damiens, der ein mißglücktes Attentat auf Ludwig XV. verübt hatte, ist als krasses Beispiel für die Anwendung qualifizierter Todesstrafen in einem absolutistischen Staate in die Kriminalgeschichte eingegangen. Das in allen abstoßenden Einzelheiten 1767 in Paris vollstreckte Urteil mag hier Platz finden, da es über Prinzipien und geistige Hintergründe einer gerade 200 Jahre zurückliegenden Bechtspflege mehr aussagt als viele Berichte: ,Der Gerichtshof erklärt Robert Francois Damiens schuldig und überführt des Verbrechens der Majestätsbeleidigung für den schändlichen und verabscheuungswürdigen an der Person des Königs verübten Vatermord und verurteilt dafür genannten Damiens, Buße zu tun vor der Hauptpforte der Kirche von Paris, wohin er geführt werden soll in einem Karren, nackt bis auf das Hemde, eine brennende Wachskerze von zwei Pfund Schwere in der Hand; und dort soll er auf den Knien sagen und erklären, daß er schändlichen und verabscheuungswürdigen Vatermord begangen und den König durch einen Messerstich in die rechte Seite verwundet hat, was er bereut und wofür er Gott, den König und die Gerechtigkeit um Verzeihung bittet; wenn dies geschehen, soll er in besagtem Karren auf den Greveplatz geführt und auf einem Schafott, das dort aufgerichtet sein wird, an Brust, Armen, Schenkeln und Waden mit glühenden Zangen gerissen werden; seine rechte Hand, das Messer, mit dem er den besagten Mord begangen hat, haltend, soll an Schwefelfeuer verbrannt werden; und in die Stellen, an denen er mit Zangen gerissen, soll geschmolzenes Blei, siedendes Ol und brennendes Pechharz, Wachs und geschmolzener Schwefel zusammengegossen und darauf sein Körper von vier Pferden auseinandergerissen, Glieder und Rumpf dem Feuer übergeben, zu Asche verbrannt und letztere in alle Winde geworfen werden. Wir erklären seine Güter, bewegliche und unbewegliche, wo sie auch immer seien, zu Nutzen des Königs konfisziert, befehlen, daß vor besagter

331

Hinrichtung besagter Damiens auf die gewöhnliche und außergewöhnliche Folter gebracht werde, damit er seine Mitschuldigen bekenne. Befehlen, daß das Haus, in dem er geboren, niedergerissen werde, ohne daß jemals in Zukunft auf demselben Grunde ein anderes Gebäude errichtet werden dürfe... So geschehen im Parlament vor versammelter großer Kammer am 26. März 1767.' Wenige Jahre nach der vor einem riesigen schaulüsternen Publikum vollzogenen Exekution dieses Urteils erschien in Livorno zunächst anonym Cesare Beccarias berühmte Schrift ,Dei delitti e delle pene' (1764), die auf wenigen Seiten den Beweis der Unrechtmäßigkeit der Todesstrafe zu erbringen unternahm und den Übergang zum letzten Kapitel in der Geschichte der Todesstrafe bezeichnet: zur Geschichte ihrer Abschaffung. Beccaria stellte Rousseaus weithin anerkannter Theorie des ,Contrat Social', mit welcher dieser dem weltlichen Staat die Todesstrafe uneingeschränkt zugebilligt hatte, die Auffassung eines partiellen Gesellschaftsvertrages gegenüber, durch den der Mensch gerade nur auf soviel von seiner privaten Freiheit verzichtet habe, wie um des Zusammenlebens willen unerläßlich sei. Kann aber, so fragte er, in diesem ,kleinsten Opfer der Freiheit' das Leben als höchstes Gut enthalten sein ? (Kap. 28). Niemand gestehe einem anderen Menschen die Befugnis zu, ihn zu töten. Eine solche Einwilligung stehe überdies im Widerspruch zum Verbot des Selbstmords: wer sich nicht selbst töten darf, kann das Recht zur Tötung auch nicht übertragen. Demnach habe der Staat kein originäres Recht, das Leben des Verbrechers zu fordern. Beccaria sah jedoch in der Todesstrafe ein gerechtfertigtes Kampfmittel des Staates, soweit er von ihm Gebrauch mache, weil es notwendig oder nützlich sei. An eine Notwendigkeit zum Einsatz dieses Mittels sei erstens bei einer gefährlichen Umwälzung der bestehenden staatlichen Ordnung oder in Zeiten der Anarchie zu denken, zweitens in dem Falle, daß auf eine andere Weise der Verbrecher nicht von seiner Tat abgehalten werden könnte. Für den ersten Fall der Verschwörung gegen den Staat hat Beccaria sich für die Todesstrafe ausgesprochen und an dieser Ansicht festgehalten, als er später selbst im Dienste Kaiser Leopolds II. mit dem Entwurf eines Strafgesetzbuchs für die Lombardei befaßt war (1792). Die Notwendigkeit dieser Strafe aus Gründen der Abschreckung hat er dagegen mit Entschiedenheit verneint, da die Erfahrung der Jahrhunderte gezeigt habe, daß zur Tat entschlossene Menschen durch sie niemals von Angriffen auf die Gesellschaft abgehalten worden seien. Der öffentliche Vollzug der Todesstrafe sei nicht geeignet, nachhaltige Furcht vor dem Gesetz einzuflößen, sei vielmehr für die meisten bloßes Schauspiel und für einige ein .Gegenstand des mit Verachtung

332

Todesstrafe

gemischten Mitleids'. Stattdessen hielt Beccaria die Aussicht auf lebenslängliche Zwangsarbeit für weitaus abschreckender, sofern sie den Schwerverbrecher mit Sicherheit erwarte. Die zuverlässige und regelmäßige Reaktion der Verfolgungsorgane auf jede Gesetzesverletzung erschien ihm wichtiger als die extreme Härte der Strafandrohung, ein auch für die moderne Kriminalpolitik noch sehr beachtlicher Gedankengang. Außerdem sei die Todesstrafe durch das Beispiel der Grausamkeit, das sie den Bürgern bietet, nicht nützlich, sondern eher schädlich, sie verhärte die Gemüter und könnte den moralisch nicht gefestigten Zuschauer zu verderblichen Trugschlüssen führen: „Der Mord, der als eine furchtbare Missetat gepredigt wird, ihn sehen wir nun ohne Widerwillen und ohne Aufregung vollzogen; machen wir uns dieses Beispiel zunutze" (Kap. 28). Mit der Erwägung, daß der Staat hier kein Vorbild geben dürfe, hat Beccaria noch ohne jede Kenntnis moderner Psychologie ein ernstes Argument gegen die Todesstrafe vorgebracht, das auch nach Einführung der Intramuranhinrichtung an Bedeutung nicht verloren hat. Die Wirkung des Buches war außerordentlich. Es wurde binnen weniger Jahre in alle europäischen Sprachen übersetzt (deutsch zuerst 1765 durch J. I. Butschek) und erfuhr zumal im Kreise der französischen Aufklärer begeisterte Aufnahme. Voltaire widmete ihm 1766 einen anerkennenden Kommentar, die Enzyklopädisten revidierten unter seinem Einfluß ihre Ansicht über die Todesstrafe, die Gerichte sollen nach einem zeitgenössischen Zeugnis bis zur Revolution mehr nach ihm als nach den Gesetzen geurteilt haben (Engisch, 1967). In mehreren Ländern gab Beccarias Buch den unmittelbaren Anstoß zu Reformen der Kriminalgesetzgebung. Ein Jahr nach seinem Erscheinen wurde 1765 in Toscana die Todesstrafe faktisch aufgehoben, 1786 dann durch den Codice Leopoldino für das ordentliche Verfahren abgeschafft. In Österreich, wo noch 1768 die im mittelalterlichen Strafrechtsdenken verhaftete Theresiana in 32 Fällen die Todesstrafe angedroht hatte, ordnete Maria Theresia 1776 an, daß sie nur bei schweren Verbrechen verhängt werden sollte. Ihr Nachfolger Joseph II. schränkte ihre Anwendung so weit ein, daß 1781—1787 nur ein Verbrecher hingerichtet worden ist; 1787 schaffte er in der Josefina die Strafe im ordentlichen Verfahren ab. In Rußland war die Todesstrafe schon seit 1741 faktisch und seit 1754 gesetzlich aufgehoben worden. Bemerkenswert ist jedoch, daß Katharina II. im Jahre 1769 eine Instruktion für eine mit dem Entwurf eines neuen Strafgesetzbuchs beauftragte Kommission erließ, in der die Hauptargumente Beccarias beinahe wörtlich aufgeführt waren. Auch mündlich hat sie sich in seinem Sinne wiederholt geäußert: „Man muß das Verbrechen strafen, ohne es nach-

zuahmen; die Todesstrafe ist fast immer nur eine unnütze Barbarei" (Hetzel, 1870). In einigen deutschen Ländern kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immerhin zur Beschränkung der Todesstrafe, so in BadenDurlach 1767 durch Markgraf Karl-Friedrich, der unter direktem Einfluß von Beccarias berühmter Schrift stand. Preußen hatte schon seit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen (1740) durchgreifende Reformen des Kriminalrechts begonnen, die ganz im Geiste der Aufklärung zu einer Humanisierung des Strafvollzuges führten. Einige Todesstrafen wurden gemildert, Strafschärfungen beseitigt, grausame Exekutionsformen wie Rädern und Verbrennen im Vollzuge abgeschwächt (-> Geschichte der Strafrechtspflege). Die Anwendung der Todesstrafe wurde faktisch auf Mord, Giftmischerei, Straßenraub, Kindstötung und Verleitung zur Desertion eingeschränkt. Für ihre völlige Abschaffung hat sich indes Friedrich der Große niemals ausgesprochen, aus Gründen der Abschreckung wollte er sie für die genannten Delikte in sparsamer Anwendung beibehalten wissen. Zahlreiche Todesurteile wandelte der König in Zuchthausstrafe oder Festungshaft um und bewirkte damit einen starken Rückgang der Exekutionen. In Sachsen hatte der Leipziger Jurist K. F. Hommel (1722—1781), schon ehe das Buch Beccarias in Deutschland bekannt geworden war, sich für eine Einschränkung der Todesstrafe ausgesprochen, ohne ihrer Beseitigung das Wort zu reden. 1778 übersetzte er Beccarias Buch mit überwiegend zustimmendem Kommentar (Oppermann 1921/22). In der von Hetzel (1870) registrierten Fülle rechtsphilosophischer Schriften, die Beccarias kleines Buch nach sich zog, tauchten alsbald auch zahlreiche kritische Stimmen auf, welche zumal die Ansichten über die Todesstrafe polemisch behandelten. In Italien hatte Tommaso Natale (1733—1819) gleichzeitig mit Beccaria .Riflessioni' über Verbrechen und Strafen geschrieben, die 1772 in Palermo gedruckt worden sind. Darin wird Beccaria zu große Milde und Nachsicht gegenüber dem Verbrecher vorgeworfen und die Beibehaltung der Todesstrafe für gewisse schwere Delikte empfohlen. In anderen Fällen sah Natale an ihrer Stelle die Galeere oder gar abstoßende Verstümmelungsstrafen vor, die jedoch nur für den Pöbel gedacht waren, während für die Bürger Geld- und für den Adel Ehrenstrafen genügen sollten. Zu Mailand erschien 1777 eine Schrift ,Deila pena di morte' von Paolo Vergani, die vom konservativen Standpunkt gegen die Abschaffung der Todesstrafe gerichtet war und scharfe Angriffe auf Beccaria enthielt. Bei Vergani findet sich bereits jener Vorwurf der .übertriebenen Humanität', der im Vokabular späterer Anhänger der Todesstrafe zum beliebten Schlagwort werden sollte. Gegen Beccaria gerich-

Todesstrafe tet war auch die kleine Abhandlung ,La necessitä della pena di morte' (Verona 1770) des Grafen Antonio Montanari. Für eingeschränkte Anwendung der Todesstrafe gegen Mörder, rückfällige Diebe und Räuber setzte sich Reichsgraf Johann d'Arco (1739—1791) in einer 1775 veröffentlichten Schrift über das Recht zu straien ein. Als bedeutendster Gegner Beccarias in seinem Heimatlande trat schließlich Gaetano Filangieri (1752—1788) hervor, der im dritten Teil seines Hauptwerks ,La scienza della legislatione' (Neapel 1783) die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe mit sophistischer Begründung nachzuweisen suchte: „Das Recht, welches dem Angegriffenen auf das Leben des Angreifenden zustand, geht mit seinem Tode auf die übrig bleibenden Menschen über", der Staat könne demnach von der Todesstrafe wenigstens bei Mord und Hochverrat als von einem ihm übertragenen Notwehrrecht Gebrauch machen. Unter den deutschen Philosophen, die gegen Ende des Jahrhunderts in die mit vielfältiger Argumentation geführte Diskussion um die Todesstrafe eingriffen, ragt Kant hervor, der in seiner ,Metaphysik der Sitten' (1797) sich entschieden gegen die von Beccaria und vieler seiner Anhänger vertretene Auffassung der Strafe als eines Mittels zur Förderung des Gemeinwohls gewendet hat. Für ihn ist das Recht kein vom Menschen willkürlich konstruierbares Instrument zur Erreichung bestimmter Zwecke, sondern ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft, das Strafgesetz ein kategorischer Imperativ, die Strafe zu keinem anderen Zwecke da, als die Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen. „Richterliche Strafe", so befand er, „kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gutes zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat". Dem Mörder gebührt die Todesstrafe nicht, weil sie zweckmäßig, sondern weil sie gerecht ist. Als Sophisterei und Rechtsverdrehung diskreditiert er Beccarias auf dessen Theorie vom Gesellschaftsvertrage gestütztes Argument, daß niemand das Recht, ihn zu töten, an die Gesamtheit abtreten könne, da er auch nicht sich selbst das Leben nehmen darf. Der Mörder erleide vielmehr den Tod nicht, weil er seinen eigenen, sondern weil er den Tod eines anderen gewollt habe: „Hat er gemordet, so muß er sterben". Als Strafmaß greift Kant auf das uralte, nunmehr philosophisch begründete und überhöhte Talionsprinzip zurück, der Täter soll erhalten, was seine Taten wert sind: „Nur das Wiedervergeltungsrecht vor den Schranken des Gerichts kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben". Zwar ist ihm klar, daß nirgends in exakter Weise Gleiches mit Gleichem vergolten werden kann, doch meint er für den Fall des Mordes an der mosaischen Maxime .Leben um Leben' wörtlich festhalten zu müssen, da es

333

hier kein „Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit" geben könne. Geistesgeschichtlich bedeutete Kants Apologie der Todesstrafe die Überwindung der Aufklärung durch den Idealismus, die Rückwendung der Philosophie zur metaphysischen Weltbetrachtung (Lewandowski, 1961). G. B e c c a r i a : Dei delitti e delle pene. 1764. —: Über Verbrechen und Straten. Übers, u. hrsg. y. W. Alff. 1966. H. H e t z e l : Die Todesstrafe in ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung. 1870. Eb. S c h m i d t : Ooethe und das Problem der Todesstrafe. SchwZStrR 63 (1β48). G. B r u n n e r : Die Todesstrafe in der Zeit der Aufklärung. Diss. jur. Balle 1956. H.-H. L e w a n d o w s k i : Die Todesstrafe in der Aufklärung. Diss. jur. Bonn I960. J. Sewing: Studien zur Todesstrafe im Naturrecht. 1966. Kriminologische Untersuchungen, H. 22. K. E n g i s c h : Todesstrafe — ja oder nein? SchopenhauerJahrb. 48 (1967).

5. Die Todesstrafe

im 19.

Jahrhundert

Die von Beccaria und seinen Anhängern bewirkte abolitionsfreundliche Stimmung in mehreren europäischen Staaten wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts gedämpft durch den Ausbruch der französischen Revolution, deren befürchtetes Übergreifen mehrere Herrscher veranlaßte, die Abschaffung der Todesstrafe teilweise wieder rückgängig zu machen. So wurde 1790 die Strafe in Toscana für Hochverrat, 1795 auch für Mord und gegen das Ansehen des Fürsten oder die katholische Religion gerichtete Handlungen wieder eingeführt. In Österreich wurde zunächst Hochverrat seit 1795, dann Mord, räuberischer Totschlag, schwere Brandstiftung und Kreditpapierfälschung seit 1803 und schließlich seit 1816 sogar gewaltsamer Diebstahl mit dem Tode bedroht. In Rußland führte Nikolaus I. die Todesstrafe 1826 für schwere politische Vergehen wieder ein. In Frankreich wurde die Todesstrafe im Code pönal von 1791 beibehalten und in den folgenden Jahren der jakobinischen Schreckensherrschaft gegen tausende von politisch Verurteilten angewendet. Die Massenhinrichtungen wurden aufgrund eines Gesetzes vom 20. 3.1792 mit dem Fallbeil vollzogen, für das sich die Bezeichnung Guillotine (nach J.-I. Guillotin 1738—1814) einbürgerte, nachdem die Nationalversammlung u. a. einen Vorschlag abgelehnt hatte, sie Mirabeau zu Ehren Mirabelle zu nennen. Nach dem Ende der Revolution kam unter direkter Einflußnahme Napoleons ein neues Strafgesetz zustande (Code p6nal v. 1810), das ganz vom Gedanken terroristischer Abschreckung und Unschädlichmachung beherrscht war (Eb. Schmidt, 1965) und für crimes und delits in 39 Artikeln die Todesstrafe vorsah.

334

Todesstrafe

Es kam infolge der französischen Besetzung rechtsrheinischer Gebiete auch in erheblichen Teilen Westdeutschlands zur Geltung. Im Rheinland, in Rheinhessen und in der Bayerischen Pfalz wurde der code pinal eingeführt, dessen ζ. T. schwere Strafbestimmungen von der Notwendigkeit der Bekämpfung gefährlicher Räuberbanden diktiert waren, die um die Jahrhundertwende sich unter Ausnutzung der politischen Wirren zu einer Landplage entwickelt hatten. Im Gegensatz dazu hatte Preußen nach dem Tode Friedrichs des Großen im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 ein aus dem Geist des aufgeklärten Absolutismus geborenes Gesetzbuch erhalten, dessen Straibestimmungen den Anwendungsbereich der Todesstrafe entschieden einschränkten. Allerdings wurde auf verschärfte Strafen in ihm nicht ganz verzichtet, erst 1811 schaffte Preußen die Strafe des Räderns für Hochund Landesverrat ab, auf Brandstiftung stand weiterhin nach dem alten Talionsmuster die Feuerstrafe, 1813 wurde sie zum letztenmal vollzogen. Im selben Jahr trat in Bayern das erste in seinen Grundlagen neuzeitliche Strafgesetzbuch in Kraft, das die Strafgesetzgebung in den deutschen Ländern ein Jahrhundert lang maßgeblich beeinflussen sollte. Es beruhte auf einem Entwurf Anselm von Feuerbachs, dessen ausschließlich auf Generalprävention gerichtete Straftheorie für Art und Grad der angedrohten Sanktionen bestimmend wurde. Alle martervollen Todesstrafen wurden abgeschafft, doch glaubte Feuerbach auf die im Gesetz vorgesehene Todesstrafe nicht verzichten zu können, da er einen plötzlichen Übergang von der extremen Härte des vorher in Bayern gültigen Strafgesetzes zu besonders milden Strafbestimmungen mit Blick auf die erstrebte Abschreckungswirkung für gefährlich hielt. Auch hinsichtlich des Vollstreckungsmodus bedachte er möglicherweise ungünstige Reaktionen der Bevölkerung: er empfahl das Fallbeil nicht nur aus technischen Gründen, sondern auch weil die Strafe des Stranges des mangelnden Blutvergießens wegen das .moralische Gefühl' des Volkes beleidige, da buchstäbliche Anwendung des mosaischen Gesetzes tief in die bayerischen Gemüter eingewurzelt sei. Die Beibehaltung der Todesstrafe war offenbar für Feuerbach weniger Grundsatz- als Zweckmäßigkeitserwägung. Im Alter ist er zur Überzeugung gekommen, daß die Todesstrafe als unrechtmäßiges Strafmittel abzuschaffen sei (Erich, 1914). In anderen deutschen Staaten sind Grundlage des Strafrechts bis ins 19. Jahrhundert hinein noch die CCC oder ihr nachgebildete Landesgesetze gewesen. Sie sahen durchweg die Todesstrafe vor, doch trat ihre Bedeutung für die Strafpraxis hinter der verhängter Freiheitsstrafen erheblich zurück. Die Zahl der Hinrichtungen ist

in ganz Europa im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich heruntergegangen, sogar in England, wo die Todesstrafe noch unter Georg II. (1760—1811) mit der größten Rücksichtslosigkeit angewendet worden war und unter insgesamt 160 todeswürdigen Delikten sich bis 1808 der Hausdiebstahl im Werte eines Schillings und bis 1811 der Wäschediebstahl von der Bleiche befand: Todesurteile und Hinrichtungen in England 1805—1831 Jahr 1805 1815 1825 1831 1835 1839

Todesurteile 350 553 1036 1601 523 64

Hinrichtungen 68 67 60 62 24 11

Die nach v. Hentig (1962) wiedergegebenen Urteilszahlen sind bis 1816 relativ niedrig, da ein erheblicher Teil der erwachsenen männlichen Bevölkerung sich auf den europäischen und amerikanischen Kriegsschauplätzen befand. Die anschließend stark rückläufige Vollstreckungsquote deutet an, daß die offenkundig einseitig zum Schutze der besitzenden Klasse eingeführten und aufrechterhaltenen barbarisch harten Strafdrohungen von den Gnadeninstanzen als nicht mehr zeitgemäß betrachtet worden sind. In zahllosen anderen Fällen haben englische Gerichte in jener Zeit den Ausspruch von Todesurteilen zumal bei Vermögensdelikten dadurch vermieden, daß sie den Wert des gestohlenen Gutes wissentlich falsch festsetzten oder auf andere Weise sich einer von der Härte der Gesetze erzwungenen Rechtsbeugung schuldig machten. So rühmte sich Lord Suffield 1833 im Oberhaus einer Sammlung von nicht weniger als 555 falschen Jurysprüchen, mit denen die Geschworenen der Verhängung von Todesurteilen ausgewichen waren. Als Argument gegen die Todesstrafe ist diese aus der englischen Rechtsgeschichte vielfach belegte Verleitung in Gewissensnot gedrängter Richter zum Rechtsbruch von bleibender Aktualität. Aus mehreren deutschen Ländern liegen für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts verläßliche statistische Angaben über die Vollstreckungshäufigkeit vor, aus welchen sich ergibt, daß bei absolut im Vergleich etwa zu England viel niedrigeren Verurteilungszahlen von der Strafumwandlung im Gnadenwege so häufig Gebrauch gemacht worden ist, daß in manchen Jahren der Zustand faktischer Abolition erreicht wurde. Für Preußen hat B. Düsing (1952) die Zahlen der 1818—1848 dem Könige zur Bestätigung vorgelegten und die der vollstreckten Todesurteile aufgeführt:

335

Todesstrafe Jahr

Vorgelegt

vollstreckt

Jahr

Vorgelegt

vollstreckt

1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833

17 24 21 15 20 27 22 15 16 24 29 17 18 22 28 30

9 8 13 14 5 10 12 4 5 7 12 5 4 9 2 2

1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848

21 36 22 34 17 24 23 14 39 29 25 27 23 28 26

2 7 4 4 7 8 5 2 8 5 10 7 6 7 1

In den genannten Jahren sind demnach in Preußen 743 Todesurteile verhängt und davon 204 (27%) vollstreckt worden, die jährliche Durchschnittsziffer für Verurteilungen betrug 24 und für Hinrichtungen 6,6. Bezogen auf die Bevölkerungszahl entfiel nach einer Berechnung von Moreau de Jonnfcs (1838) in Preußen während der Jahre 1818—1827 ein Todesurteil auf 600 000 und eine Hinrichtung auf 1,2 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu kam in England 1831—1835 bei einer jährlichen Durchschnittszahl von 775 Todesurteilen ein Urteil auf 18 600 Einwohner und bei durchschnittlich 35 Hinrichtungen eine Hinrichtung auf 400 000 Einwohner. Für das Königreich Sachsen ergab sich 1815 bis 1838 aus der Gesamtzahl von 158 Todesurteilen ein Jahresdurchschnitt von 6,5. In Württemberg fanden 1816—1848 nur 69 Verurteilungen statt. Hannover weist in den Jahren 1841—1848 insgesamt 36 Todesurteile auf, wovon 10 vollstreckt wurden. Im Herzogtum Braunschweig wurden im Zeitraum von 1817—1848 nur 2 Todesurteile gesprochen und vollzogen. Während die Strafpraxis der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch zurückhaltende Anwendung der Todesstrafe charakterisiert ist, wurde die Diskussion über deren Zulässigkeit oder Nützlichkeit in zahlreichen Streitschriften und Traktaten fortgeführt. Einen Höhepunkt erreichte die vornehmlich von Juristen geführte Auseinandersetzung durch die Erörterung des Für und Wider der Todesstrafe in der Frankfurter Nationalversammlung, welche sich in der zweiten Lesung der Grundrechte am 8.12.1848 mit 256 gegen 176 Stimmen gegen die Todesstrafe entschied und sie nur im Kriegsrecht und bei Meuterei auf See für weiterhin zulässig erklärte. In der von Düsing (1952) eingehend geschilderten Debatte wurden namentlich Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit und Zweifel an der Wirksamkeit der

Strafe vorgebracht. „Das Abschreckungssystem", bemerkte Ε. M. Arndt, „ist mir unwürdig, weil man damit nicht einmal seine Kinder erziehen kann; das Besserungssystem ist ein gewaltiges, könnten wir nur mehr bessern!" Bei der Abstimmung ist Arndt dennoch für Beibehaltung der Todesstrafe eingetreten, so daß er — entgegen Kohlrausch (1936) — nicht zu deren grundsätzlichen Gegnern gerechnet werden kann. Die 1849 von der Nationalversammlung beschlossene Verfassung des Deutschen Reiches bestimmte, daß die darin vorgesehenen Grundrechte den Einzelstaaten zur Norm dienen sollten. Dementsprechend wurde in zahlreichen deutschen Staaten die Todesstrafe beseitigt. Da indes die drei größten Staaten Österreich, Preußen und Bayern die Grundrechte nicht anerkannten und die Todesstrafe beibehielten, kehrten in den folgenden Jahren zuerst Sachsen (1850—1868) und danach die meisten kleineren Staaten — mit Ausnahme von Oldenburg, Nassau, Anhalt und Bremen — wieder zu ihr zurück. In Preußen sah das nach der Revolution in kraft gesetzte neue Strafgesetzbuch von 1851 die Todesstrafe in 14 Fällen vor. Zugleich kam es zu einem Anstieg der Urteilsund Vollstreckungsziffern. Jahr Todes- Hinrichurteile tungen

Jahr Todes- Hinrichurteile tungen

1849 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856 1857

1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865

26 42 60 40 40 37 45 36 42

7 15 20 25 30 28 28 26 14

38 25 24 37 32 30 37 39

4 4 2 5 3 12 5 8

Die daraus sich ergebende durchschnittliche Verurteilungsziffer von 37 und Hinrichtungsziffer von 13,8 steht in deutlichem Kontrast zu den zuvor für 1818—1848 genannten Durchschnittswerten (Düsing, 1952). Erneut in lebhafte Diskussion geriet die Todesstrafe in Deutschland während der Vorbereitung des Reichsstrafgesetzbuches. Der dem Reichstag vorgelegte Entwurf von 1869 sah die Strafe für Mord und schwerste Fälle des Hochverrats vor, er wurde erst in der dritten Lesung mit knapper Mehrheit angenommen. In die Debatte hat Bismarck wiederholt eingegriffen. Am 1. März 1870 bejahte er als glänzender Apologet der Todesstrafe die Strafe sowohl aus christlicher Sicht (mors janua vitae) als auch der nach seiner Meinung in vergangenen Jahrhunderten erwiesenen Wirksamkeit wegen; wenn nur ,um eines Haares Breite mehr Schutz für den friedlichen Bürger1 darin liege, dann dürfe auf dieses Schutzmittel nicht

336

Todesstrafe

verzichtet werden. Den überwiegend abschaffungsgewillten Richtern warf er Verantwortungsscheu und eine schwächliche Abneigung vor, ihr Amt ,bis in die höchste Potenz' zu üben. Scharf wandte er sich gegen eine krankhafte Neigung seiner Gegner, den Verbrecher mit mehr Sorgfalt zu schonen und vor Unrecht zu schützen als seine Opfer, und dies in einer Zeit, die sonst in bezug auf Menschenleben nicht weichlich sei: „Wie viele Todesfälle kommen auf das Explodieren von Dampfkesseln, wie viele kommen in Bergwerken, auf Eisenbahnen um, wie viele kommen um in Fabriken, wo giftige Dünste ihre Gesundheit zerstören — und nichtsdestoweniger kommt man nicht auf den Gedanken, zur Schonung des Menschenlebens die Förderung der menschlichen Bequemlichkeit und Wohlfahrt . . . zu untersagen." Gegenüber der Eloquenz Bismarcks und seiner konservativen Gesinnungsgenossen drangen die vor allem gegen die Abschreckungswirkung gerichteten Einwände der Abolitionisten nicht durch, auch nicht das Jahrzehnte später in der Diskussion des Parlamentarischen Rates (1949) fast wörtlich wieder aufgenommene Argument des katholischen Kanonikus Künzer: „Wer das ewige Leben nicht zu geben vermag, der hat auch nicht das Recht, jemandem das zeitliche Leben zu nehmen." Exakte Zahlen über die Anwendung der Todesstrafe liegen erst seit Einrichtung der Reichskriminalstatistik im Jahre 1882 vor. Sie zeigen (nach Roesner, 1936) bis zur Jahrhundertwende einen kontinuierlichen Rückgang der fast ausschließlich wegen Mordes verhängten Todesurteile: Jahr 1882—1886 1887—1891 1892—1896 1897—1901 1902—1906 1907—1911 1912—1916 1917—1918

Todesurteile Hinrichtungen im Jahresdurchschnitt 76 52 55 42 37 37 34 29

15

? ?

25 23 21 20 20

Nach der Reichsgründung wurde die Uterarische Auseinandersetzung um die Todesstrafe durch eine Fülle von Veröffentlichungen fortgesetzt. Die Argumente der Gegner wurden namentlich durch F . v. Holtzendorff (1875) eingehend vorgetragen, während bedeutende Rechtslehrer wie Binding, Wach, Brunner, Laband und Gierke sich auf die Seite des geltenden Rechts stellten. Franz v. Liszt äußerte sich nicht als prinzipieller Gegner der Todesstrafe, hielt jedoch dafür, daß sie sich ,in einem zweckentsprechenden Strafensystem, bei vernünftig geregeltem Strafvollzug' sehr bald als überflüssig und unzweckmäßig erweisen werde.

Auf dem 31. Deutschen Juristentag 1912 in Wien wurde der Standpunkt der Abolitionisten durch ein Gutachten M. Liepmanns wirkungsvoll vertreten; gleichwohl sprach sich eine knappe Mehrheit des Plenums für die Beibehaltung der Strafe aus, da sie einer volkstümlichen Rechtsüberzeugung entspreche, die vom Gesetzgeber zu achten sei. A. Moreau de J o n n & s : Statistique de la GrandeBretagne et de l'Irlande, Bd. 2. 1838. F. v. H o l t z e n d o r f f : Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe. 1875. M. L i e p m a n n : Die Todesstrafe. Ein Gutachten. 1912. G. E r i c h : Aue Anselm Ritter v. Feuerbachs Leben und Wirken. MschrKrim. 10 (1914) S. 385. W. O p p e r m a n n : Der Kampf um die Todesstrafe in Sachsen. MschrKrim. 12 (1921/22) S. 261—281. Ed. K o h l r a u s c h : Todesstrafe (Geschichte und Gesetzgebung). Hdwb. d. Kriminologie, hrsg. v. Elster u. Lingemann, Aufl. 1. Bd. 2. 1936. E. K o e s n e r : Todesstrafe (Statistik). Hdwb. d. Kriminologie, hrsg. y. Elster u. Lingemann. 1. Aufl. u. Bd. 2. 1936. B . Düsing: Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland. 1952. A. K e r s h a w : Die Guillotine. 1959. Η. τ. H e n t i g : Studien zur Kriminalgeschichte. 1962. E b . S c h m i d t : Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl. 1965.

6. Die Todesstrafe in der Weimarer Republik In der Weimarer Nationalversammlung beantragte die sozialdemokratische Fraktion 1919 aufgrund eines kurz zuvor auf einem Parteitag einstimmig gefaßten Beschlusses die Aufnahme eines Artikels ,Die Todesstrafe ist abgeschafft' in die Reichsverfassung. Der Antrag wurde von den Rechtsparteien niedergestimmt, doch nahm die Nationalversammlung eine Entschließung an, in welcher die Regierung ersucht wurde, dem Reichstag alsbald einen Entwurf über die Strafrechtsreform mit dem Ziel einer Beseitigung der Todesstrafe vorzulegen. Dem entsprach der Strafgesetzentwurf von 1922, welcher die Todesstrafe nicht mehr vorsah. Er war das Werk Gustav Radbruchs, der schon seit dem Anfang des Jahrhunderts neben Hans v. Hentig als aktivster Gegner der Todesstrafe hervorgetreten war (Düsing, 1952) und nun als sozialdemokratischer Justizminister versuchen wollte, seine Vorstellungen von einer rationalen Kriminalpolitik zu verwirklichen. In der Begründung des Entwurfes wies er auf günstige Erfahrungen in abolitionistischen Staaten hin und charakterisierte die Todesstrafe als Fremdkörper in einem auf Geldstrafe und Freiheitsentzug aufgebauten Strafensystem. Gleichwohl nahm Radbruch keinen Anstoß, die unter dem Eindruck der Ermordung Rathenaus erlassene Verordnung zum Schutze der Republik vom 29. 6 . 1 9 2 2 zu unterzeichnen, welche die Todesstrafe u. a. für die bloße finanzielle Unterstützung eines auf Tötung von Angehörigen der Reichs- oder einer Landesregierung gerichteten Komplotts vorsah.

Todesstrafe Aufgrund des etwas abgemilderten Republikschutzgesetzes vom gleichen Jahre sind 1925 drei rechtskräftige Todesurteile gefällt worden; es blieb bis 1930 in Geltung. Das Eintreten linksgerichteter Politiker für dieses Gesetz schwächte die Wirkung ihrer weiterhin abschaffungsfreundlichen Agitation erheblich ab. Radbruchs Strafgesetzentwurf wurde durch den Entwurf von 1925 ersetzt, welcher die Todesstrafe für Mord wieder vorsah. 1928 wurden von der sozialdemokratischen Regierung Müller die Abolitionsbemühungen erneut aufgenommen, resultierten jedoch lediglich in einer Empfehlung an die Länderregierungen, bis zur Entscheidung über die Abschaffungsfrage alle zum Tode Verurteilten zu begnadigen. Ihr zufolge wurde mehr als zwei Jahre lang kein Urteil mehr vollstreckt. Seit 1930 kam es jedoch unter dem Eindruck schwerer Mordtaten wieder zu vereinzelten Hinrichtungen, während zugleich im Reichstag der Einfluß der Abolitionisten durch den Einzug von NS-Abgeordneten merklich geschwächt wurde. Die Statistik zeigt für die Jahre der Weimarer Republik folgendes Bild: Jahr Todes- Hinrichurteile tungen 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925

89 113 149 124 77 112 95

10 36 28 26 15 23 16

Jahr Todes- Hinrichurteile tungen 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932

89 64 46 39 43 49 52

14 6 2 0 1 4 3

Im Jahre 1932 forderte auf einer Tagung der deutschen Landesgruppe der IKV eine Gruppe jüngerer NS-Kriminalisten, im Interesse einer Stärkung der Staatsautorität den Gedanken der Vergeltung und Abschreckung im Strafrecht endlich wieder Raum zu geben. H. v. H e n t i g : Die Strafe. Ursprung, Zweck, Psychologie. 1932. Ed. K o h l r a u s c h : Todesstrafe. In: Hdwb. d. Kriminologie, hrsg. v. Elster u. Lingemann. 1. Aufl. Bd. 2. 1936. G. R a d b r u c h : Rechtsphilosophie. 6. Aufl. 1963.

7. Die Todesstrafe in der

NS-Zeit

Die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft führten in Deutschland einen schroffen Wandel der Krimmalpolitik herbei, der gegenüber dem nun als weichlichen Humanitätsstreben verhöhnten Besserungsvollzug und der ,laxen Gnadenpraxis' der Weimarer Zeit den Abschreckungszweck der Strafe wieder in den Vordergrund rückte. „Der Staat muß in einem fortgesetzten Ausrottungsfeldzug ohne Gnade und Schonung mit unbeugsamer Härte einen völlig unerbittlichen Kampf gegen verbrecherische Elemente führen", 22 Hd K, 2. Aufl., Bd. III

337

äußerte Reichsrechtsführer Walter Frank, der mit der Devise .Recht ist, was dem Volke nützt' den Schlachtruf für die schändlichste Perversion der Strafrechtspflege in der deutschen Geschichte ausgegeben hatte. Die grundsätzliche Diskussion um die Todesstrafe wurde 1934 von Staatssekretär R. Freisler als ein- für allemal entschieden abgetan; für die Gesetzgeber stand nur noch zur Debatte, in welchem Umfange das Machtmittel des Staates einzusetzen sei. Die 1933 beginnende Ausdehnung des Anwendungsgebietes der zuvor lediglich für Mord und verbrecherischen Sprengstoffgebrauch mit Todesfolge verhängten Todesstrafe kann in Anlehnung an die verdienstvolle Darstellung von Düsing (1952) nur in groben Zügen umrissen werden. Die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28.2.1933 führte die Todesstrafe als ausschließliches Strafmittel ein für Hochverrat, Giftbeibringung, Brandstiftung, Explosion, Überschwemmung, Beschädigung von Eisenbahnanlagen und gemeingefährliche Vergiftung, als wahlweises Strafmittel für das Unternehmen der Tötung eines Regierungsmitglieds, für schweren Aufruhr, schweren Landfriedensbruch und bestimmte Fälle von Freiheitsberaubung. Am selben Tage erging eine Verordnung gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe, die Landesverrat sowie Verrat und Ausspähung militärischer Geheimnisse zu todeswürdigen Delikten erhob. Wenig später führten das Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten für bestimmte gemeingefährliche Verbrechen und das Gesetz zur Gewährleistung des Rechtsfriedens für das Unternehmen der Tötung eines SA-Mannes und für die Herstellung oder Verbreitung hochverräterischer Druckschriften die Todesstrafe ein. 1934 wurden durch ein Strafrechtsänderungsgesetz die Verbrechen des Hochund Landesverrats mit dem Tode bedroht. 1935 wurde durch Aufhebung des Analogieverbots mit dem neuen § 2 StGB der Anwendungsbereich der Todesstrafe ausgedehnt. Im folgenden Jahre wurde erpresserischer Kindesraub rückwirkend mit dem Tode bedroht. Weiterhin wurde die Todesstrafe für die Nichtanzeige eines geplanten, mit dem Tode bedrohten Verbrechens sowie für mehrere Fälle von Wirtschaftssabotage eingeführt. 1938 sah ein Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen rückwirkend die Todesstrafe vor. Am Tage des Kriegsausbruchs wurde 1939 für besonders schwere Fälle der Verbreitung ausländischer Rundfunknachrichten, kurz darauf für bestimmte Kriegswirtschaftsverbrechen, für Plünderei, bestimmte Straftaten unter Ausnutzung der Verdunklung und für Brandstiftung die Todesstrafe angedroht. Im gleichen Jahr erklärte die Verordnung zum Schutze gegen jugendliche Schwerverbrecher die Verhängung der Strafe schon bei 16jährigen Tätern für zulässig. 1940 gingen zahlreiche todeswürdige Delikte ins neugefaßte Mili-

Todesstrafe

338

tärstrafgesetzbuch ein. 1941 wurde in Abänderung des Strafgesetzbuchs die Todesstrafe für gefährliche Gewohnheitsverbrecher und Sittlichkeitsverbrecher eingeführt. Das Jahr 1942 brachte Gesetze mit Androhung der Todesstrafe bei Gefährdung der Bedarfsdeckung der Rüstungswirtschaft und für Amtsanmaßung bei Begehung eines Verbrechens. Im folgenden Jahr wurde die Todesstrafe für Abtreibung unter Beeinträchtigung der .Lebenskraft des deutschen Volkes1 eingeführt, § 20 des neuen Reichsjugendgerichtsgesetzes sah sie unter bestimmten Voraussetzungen auch für jugendliche Schwerverbrecher unter 16 Jahren vor. 1944 wurde der Anwendungsbereich der Todesstrafe weiter ausgedehnt auf fahrlässige Verschuldung eines besonders schweren Nachteils oder einer besonders ernsten Gefahr für die Kriegsführung, sowie auf besonders schwere Fälle der Volksverleumdung. Im letzten Kriegsjahr erging eine Verordnung zum Schutze der Sammlung von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für Wehrmacht und Volkssturm, welche ebenso wie die vorangegangenen Verordnungen zum Schutze der Metallsammlung (1940) und der Wintersachensammlung für die Front (1941) ausschließlich die Todesstrafe vorsah. Schließlich erreichte das völlig vom Abschreckungsgedanken beherrschte Kriegsstrafrecht seinen Höhepunkt in der Verordnung vom 15. 2.1945 über die Errichtung von Standgerichten, welche von den Gauleitern für die ganze Bevölkerung einzurichten waren und die Todesstrafe gegen jeden verhängen konnten, der versuchte, sich ,seinen Pflichten gegenüber der Allgemeinheit' zu entziehen. Uber die Anwendung der Todesstrafe, welche durch Enthauptung und bei gegen die öffentliche Sicherheit gerichteten Verbrechen durch Erhängen vollstreckt wurde (VO v. 29. 3.1933), Hegen für die Jahre 1933—1945 nur bis zum Kriegsausbruch eingeschränkt brauchbare Zahlen vor:

Jahr

Todesurteile

1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939

78 102 98 76 86 85 139

davon Volksgerichtshof (Dohna, 1939) —

4 9 10 32 17

?

Hinrichtungen 64 79 94 68 106 117 219

Die Opfer des Röhm-Putsches (lt.Kriminalstatistik für 1934: 77) sind nicht aufgeführt. Die Vollstreckungshäufigkeit erreichte — im krassen Gegensatz zur Praxis der Weimarer Zeit — einen extrem hohen Stand. Ab 1937 werden Verurteilungs- von den Hinrichtungszahlen zunehmend übertroffen, ein Zeichen dafür, daß ein erheblicher

Teil der Urteile — vermutlich bei politischen Delikten — nicht mehr veröffentlicht worden ist. Nach 1939 steigt vornehmlich aufgrund der Kriegsgesetzgebung die Zahl der Todesurteile sprunghaft an, für 1940—1943 sind aus vertraulichen Unterlagen (Düsing, 1952) noch folgende Zahlen bekanntgeworden: Jahr 1940 1941 1943

Todesurteile 250 1292 5336

Es ist anzunehmen, daß ein hoher Prozentsatz der Verurteilten hingerichtet worden ist. Über die Zahl der in den Jahren 1940—1945 vollzogenen Todesurteile sind 1950 bei den Generalstaatsanwälten im Gebiet der BRD Erkundigungen eingezogen worden, die folgendes ergaben: Hinrichtungen in 17 westdeutschen OLG-Bezirken 1940—1945 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Gesamt 70 138 578 995 921 128 3069 Diese Zahlen sind für den Bereich der Bundesrepublik mit Sicherheit sehr unvollständig, da viele Akten vernichtet worden sind. Über die Tätigkeit des Volksgerichtshofes während des Krieges liegen keine verläßlichen Daten vor. Nach dem Attentat auf Hitler 1944 sollen 700 Todesurteile verhängt worden sein. Zur wenigstens groben Schätzung der Vollzugszahlen können einige Unterlagen von Scharfrichtern hinzugezogen werden. Danach ist der Scharfrichtergehilfe Kleine allein in der Zeit von April 1944 bis März 1945 an 931 Hinrichtungen beteiligt gewesen. Der Scharfrichter Reichhart, der in seiner Amtszeit 1924—1945 insgesamt 3010 Hinrichtungen vollzogen hat, gab für die Kriegsjahre folgende Zahlen an: Jahr Hinrichtungen

Jahr Hinrichtungen

1939 1940 1941 1942

1943 1944 1945

71 163 221 764

876 730 51

Reichhart war einer von drei als Hilfspersonen der Staatsanwaltschaft fungierenden Scharfrichtern, neben welchen während des Krieges mehrere .Parteihenker' tätig gewesen sind. Aus dem Vergleich seiner Angaben mit den statistischen Daten für 1933—1943 hat Düsing (1952) geschlossen, daß 1940—1945 ungefähr 16 000 Todesurteile gefällt worden sind. Dazu kommen die während des Krieges nach Militärstrafrecht wegen Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feinde usw. verhängten Todesurteile, deren Zahl nach einer sachverstän-

Todesstrafe digen Schätzung mehr als 10 000 betrug, wovon über die Hälfte vollstreckt worden sein sollen. Wieviele Exekutionen außerdem ohne jedes Gerichtsverfahren von Organen der Geheimen Staatspolizei, von der Geheimen Feldpolizei in den besetzten Gebieten und von der Leitung der Konzentrationslager angeordnet und ausgeführt worden sind, ist nicht bekannt. F. Gtlrtner, R. F r e i e i e r : Das neue Strafrecht. 1936. A. Graf z u D o h n a : Die Verwendung der Todesstrafe in Deutschland seit 1933. MschrKrim. 30 (1939) S. 479. J. R. K o c h : Die Todesstrafe unter nationalsozialistischer Strafrechtsherrschaft. Diss. jur. Heidelberg 1949. B. D(Ising: Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland. 1952. F. B a u e r : Das Verbrechen und die Gesellschaft. 1057. Zur Perversion der Strafjustiz im Dritten Kelch. Vjh. f. Zeitgeschichte, H. 4 (1958). Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation, hrsg. v. I. Staff. 1964.

Β. Die Todesstrafe in der Gegenwart 1. Die Todesstrafe

nach geltendem deutschen

Recht

Nach Kriegsende wurde durch Gesetz Nr. 1 der alliierten Militärregierung die Todesstrafe für alle nicht schon vor dem 30.1.1933 mit dem Tode bedrohten Delikte aufgehoben. In den Folgejahren legten mehrere Landesregierungen den grundsätzlichen Fortbestand der Todesstrafe verfassungsmäßig fest, so Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden und Bremen. In Sachsen wurde 1945 die Todesstrafe in einer Verordnung zum Schutz der Ernte und 1947 in einem Gesetz gegen Schieber und Schwaizhändler vorgesehen. Über die Verhängung von Todesurteilen in Westdeutschland und Groß-Berlin durch deutsche Gerichte bis zum Erlaß des Grundgesetzes gibt Düsing (1952) folgende Zahlen an: Jahr 1946 1947 1948 1949

Todesurteile 1 8 20 5

Hinrichtungen aufgrund von Urteilen deutscher Gerichte haben im gleichen Zeitraum nur in drei Ländern und in Berlin stattgefunden: Land Nordrhein-Westfalen Hamburg WürttembergHohenzollern Groß-Berlin

1946

1947

8

4 1

1948

1

4

1 Dafür Dagegen Unentschieden

2

1960

1961

1963

1964

1967

% 54

% 51

% 52

% 57

% 50

26 20

28 21

30 18

25 18

31 19

2

Im Parlamentarischen Rat wurde 1949 der Antrag diskutiert, die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz zu verankern. Die Befür22·

worter bestritten dem Staat grundsätzlich das Recht, das Leben des Bürgers anzutasten und wiesen auf die Fragwürdigkeit der Abschreckungswirkung sowie auf den schweren Mißbrauch hin, der in der NS-Zeit mit diesem Strafmittel getrieben worden sei. Der Antrag ging mit starker Mehrheit durch; in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 als Artikel 102 aufgenommen: „Die Todesstrafe ist abgeschafft". Die Diskussion um das Für und Wider der Todesstrafe war damit nicht beendet. 1950 ging der Bundestag über einen Antrag der Bayernpartei auf Aufhebung des Art. 102 GG zur Tagesordnung über. 1952 unternahmen Anhänger der Todesstrafe aus den Reihen der CDU und Deutschen Partei einen erneuten Vorstoß zur Wiedereinführung der Todesstrafe, dessen aktueller Anlaß die besonders abscheuerregenden Verbrechen des Verdener Mörders Halacz gewesen ist, der 1951 Pakete mit Sprengstoff verschickt und damit zwei Menschen getötet hatte. In der Bundestagsdebatte am 2.10.1952 über den Antrag auf Abänderung des Art. 102 GG gab Justizminister Dehler eine glänzende Darstellung der nach seiner Ansicht gegen die Todesstrafe sprechenden Argumente. Im wesentlichen lehnte er die Wiedereinführung der Strafe ab, da sie aus dem Sicherheitsgedanken nicht gerechtfertigt, ihre Abschrekkungswirkung überaus zweifelhaft und die Gefahr von Justizirrtümern nicht auszuschließen sei. Bei der Abstimmung blieben die Befürworter der Todesstrafe nur knapp in der Minderheit (146:151), doch wurde die zur Gesetzesänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht. Spätere Anläufe politischer Gruppierungen, die Änderung des Grundgesetzes in diesem Punkt erneut zur Diskussion zu stellen, gelangten nicht bis in den Bundestag. Im Jahre 1958 sprach sich die Große Strafrechtskommission mit 19:4 Stimmen entschieden gegen eine Änderung des derzeitigen Rechtszustandes aus. Die öffentliche Meinung über die Todesstrafe ist in Repräsentativumfragen wiederholt erforscht worden. Das Institut für Demoskopie in Allensbach erhielt 1960—1967 auf die Frage nach der grundsätzlichen Einstellung zur Todesstrafe von Personen über 16 Jahren im Bundesgebiet folgende Antworten:

1949

1

339

Die im Mai 1967 ermittelten Einstellungen variierten u. a. charakteristisch nach Geschlecht und Bildungsstand der Befragten, während die Konfession keine erhebliche Rolle spielte:

Todesstrafe

340

Gesamtergebnis Männer Frauen Schulabschluß: Volksschule Höhere Schule Konfession: Protestanten Katholiken Andere und ohne Konfession

Dafür %

Dagegen %

Unentschieden %

50 57 45

31 29 32

19 14 23

54 38

27 44

12 18

50 51

33 28

17 21

51

33

16

(Quelle: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1966 bis 1967, S. 170ff.) Temporäre Meinungsverschiebungen zugunsten der Todesstrafe haben sich gelegentlich ergeben, wenn sensationelle Pressemeldungen über Serien von Schwerverbrechen oder besonders abscheuliche Delikte die Öffentlichkeit erregten. In der D e u t s c h e n D e m o k r a t i s c h e n R e p u blik ist die Todesstrafe auf Mord, Transportgefährdung und schwere Fälle von Staatsverbrechen angedroht. In den Jahren 1949—1960 sollen 160 Todesurteile gefällt worden sein, davon 102 in politischen Prozessen. Zahlen über die Vollstreckung von Urteilen, welche durch die Guillotine oder durch Erschießen erfolgt, sind nicht bekannt (Jescheck, 1965). 2. Die Todesstrafe in außerdeutschen

Staaten

Ein Überblick über die gegenwärtige Stellung der Todesstrafe im Rechtswesen außerdeutscher Staaten wird durch den Wandel der Gesetzgebung und die nicht immer statistisch hinreichend ausgewiesene Handhabung der Strafpraxis erschwert. Eine klare Gegenüberstellung von Ländern mit und ohne Todesstrafe ist kaum sinnvoll vorzunehmen. Zwar läßt sich feststellen, daß zur Zeit über 30 Staaten die Todesstrafe gesetzlich abgeschafft haben, doch ist die Abolition regelmäßig auf Friedenszeiten bzw. auf das allgemeine Strafrecht beschränkt. Außer der BRD hat nur Uruguay die Todesstrafe auch für Kriegs- und Notzeiten und im politischen Strafrecht beseitigt. In anderen Ländern ist sie temporär aufgehoben, so in Großbritannien aufgrund der Murder Act von 1965 bis zum 31. 7.1970. Eine Reihe weiterer Staaten hat die Strafe nur für ganz wenige ungewöhnliche Verbrechen beibehalten, andere schließlich haben sie insofern de facto aufgehoben, als sie seit Jahren nicht mehr vollstreckt wird, ζ. B. in Liechtenstein seit 1798. Die unterschiedliche Beurteilung der rechtlichen und faktischen Aufhebung hat in der Literatur zu divergierenden

Angaben über die Zahl der Abolitionsstaaten geführt. Nützliche Daten über den Gebrauch der Todesstrafe hat C. H. Patrick (1965) von insgesamt 128 Staaten erhalten und ausgewertet. Sie sind mit dem zweiten Report der Vereinten Nationen über Capital Punishment (1968) verglichen worden und ergeben für eine Auswahl von 100 Staaten folgende Übersicht. Land

Afghanistan Argentinien Australien Belgien Bolivien Brasilien Burma Chile China Costa Rica Dänemark

Todesstrafe Vollstreckungen (Abschaffung) im Jahresschnitt [de facto] (1958—1962) ja 2 beschr.1 0 ja, außer 0.4 Queensland (1922) j a [1863]

0

nein beschr.2 (1889)

0

ja



ja ja nein (1882) beschr.3 [1893]

0 —

0 0

(1930)

Dominikanische Republik Ekuador Elfenbeinküste Fidschi-Inseln Finnland Frankreich Gabon Ghana Griechenland Grönland Großbritannien Guatemala Haiti Honduras Hongkong Indien Indonesien Iran Irak Irland Island Israel Italien Jamaika Japan Jordanien Jugoslawien 1

nein (1924) nein (1897) ja ja beschr.4 1826 (1949) ja

ja ja

ja nein (1954) beschr.6 ja

ja nein (1957) ja ja

0 1 0 2 0 6 4.6 5 0 —

5 —

beschr.2 ja ja ja

nein (1940) beschr." nein (1944) ja ja ja ja

0 —

10 0 0.2 5 20 1 —

Nur Militärjustiz. • Hui iiir Spionage und Hochverrat. 3 Nur in Besatzung»- und Kriegszeiten. 4 Nur Militärjustiz in Kriegszeiten. * 1965 für Hini Jahre probeweise beseitigt. • Nur Spionage, Hochverrat, NS-Verbrechen und Genozid.

341

Todesstrafe Land

Todesstrafe Vollstreckungen (Abschaffung) im Jahresschnitt [de facto] (1958—1962)

Kambodscha Kamerun Kanada Kenya Kolumbien Laos Libanon Liberia Libyen Liechtenstein Luxemburg Malaysia Malaya Marokko Mauritius Mexiko Monako Mongolische Volksrepublik Mozambique Nepal Neuseeland Niederlande

ja ja ja ja nein (1910) ja ja ja ja ja [1798] ja ja ja ja ja beschr.7 nein (1962)

Nigeria Nordkorea Nordrhodesien Norwegen Österreich Pakistan Panama Paraguay Peru Philippinen Polen Portugal Puerto Rico Rumänien El Salvador San Marino Saudi-Arabien Schweden Schweiz Senegal Somaliland Spanien

ja nein (1867) beschr.8 beschr.® beschr.1» [1859] (1870) ja ja ja beschr.10 [1875] (1905) beschr.1 (1945) ja nein (nie gehabt) ja ja ja ja nein (1867) nein (1929) ja ja nein 1848 (1865) ja beschr.10 1910 (1921) beschr.11 (1937) ja ja ja

0 5 2.4 22 0 16 0 0 0 0 6 5 0.4 —





Land

Südafrikanische Republik Sowjetunion Südkorea Swasiland Thailand Togo Trinidad u. Tobago Tschad Tschechoslowakei Türkei Tunesien Uganda Uruguay Venezuela Ver. Arab. Rep. Vereinigte Staaten von Amerika Zypern

Todesstrafe Vollstreckungen (Abschaffung) im Jahresschnitt [de facto] (1958—1962) ja ja ja ja ja ja

100 —

68 0.2 5 0 4.8 0.2

ja ja ja ja ja ja nein (1905) nein (1868) ja



z. T . u ja

48.6 0.6

11 2.2 29

23

0 51 —

6.5



0 0.2 2 —



0 2 0 0 0 2 4.5

7 Nur in 5 von 29 Staaten: Morelos, Nuevo Leön, Oaxaca, San Luis Potosi und Sonora. " Nur für Verletzung oder Ermordung des Königs und von Mitgliedern seiner Familie. • Nur für Hochverrat. 10 Nur in Kriegszeiten. 11 Nur Militärjustiz für milit. Delikte in Kriegszeiten. ls Beseitigt in 9 von 50 Staaten: Alaska, Hawaii, Iowa, Maine, Michigan, Minnesota, Oregon, West Virginia und •Wisconsin.

Die E x e k u t i o n im ordentlichen Strafverfahren gefällter Todesurteile erfolgt in der Mehrzahl der Staaten durch Hängen. Mehrere Staaten haben aus dem Militärstrafrecht die Hinrichtung durch Erschießen übernommen, dazu gehören Algerien, Chile, Griechenland, Guatemala, Indonesien, Jugoslawien, Kambodscha, Kamerun, Marokko und die Sowjetunion. Der Vollzug zeigt einige Varianten. In Somaliland steht der Delinquent mit dem Gesicht zum Exekutor oder kniet mit dem Rücken zu ihm, je nach Art seines Verbrechens. In Thailand wird zwischen Delinquenten und Vollstrecker ein Tuch mit Zielkreuz gehängt. In Utah ist Hängen oder Erschießen nach Wahl des Delinquenten vorgesehen. In Spanien wird mit der Garotte hingerichtet. Saudi-Arabien kennt noch die Strafe der Steinigung für Frauen wegen Ehebruchs. Die Enthauptung durch das Fallbeil ist traditionell in Frankreich, ferner u. a. eingeführt in Dahomey und Laos. Elektrokution ist Vollstreckungsmodus in 24 Staaten der USA, auf den Philippinen und auf Formosa. 11 Staaten der USA kennen die Gashinrichtung. In der Sowjetunion steht die seit 1917 wiederholt abgeschaffte und wiedereingeführte Todesstrafe im Gegensatz sowohl zur stark auf Resozialisierung gerichteten Kriminalpolitik wie auch zu der von Marx geäußerten Ansicht, es sei „schwer, wenn nicht unmöglich, ein Prinzip zu nennen, das die Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der Todesstrafe in einer Gesellschaft, die sich ihrer Zivilisation rühmt, begründen könnte". Gleichwohl wird von ihr als ,vorübergehender' Maßnahme Gebrauch gemacht, solange es die innere

Todesstrafe

342

bild beeinflussen, nicht erkannt oder nicht hinreichend gewürdigt werden. Für England und Wales hat Roesner (1936) relativ konstante Zahlen der Verurteilungen und Hinrichtungen in den Jahren aufgeführt und zutreffend darauf hingewiesen, daß sie nur im Zusammenhang mit einem in diesen 80 Jahren erfolgten Bevölkerungsanstieg von 16 auf 40 Millionen gesehen werden dürfen, also tatsächlich einen stark rückläufigen Trend verraten. Viele Statistiken nehmen aber weder auf die Bevölkerungsbewegung noch auf Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung Rücksicht. Zudem ist mit exakten Zahlen der oft von Verdunklungsversuchen der Behörden betroffenen Todesstrafenstatistik in vielen Staaten erst seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zu rechnen und noch gegenwärtig wird die Kriminalstatistik mit ganz unterschiedlicher Sorgfalt geführt (-> Statistik und Kriminalität). Zeiten politischer Umwälzungen, der Diktatur, des Krieges und der Not reißen jahrzehntelange Lücken in das verfügbare Zahlenmaterial und behindern die Erkenntnis. Für Spanien hat Devesa (1967) Zahlen der Todesurteile in den Jahren 1870—1966 vorgelegt und eine Unterteilung nach den mit dem Tode bedrohten Delikten gegeben (s. Tabelle unten). Parrizid umfaßt nach spanischem Recht die Ermordung von Verwandten ersten Grades in aufund absteigender Linie und den Gattenmord. Die Zahlen sind nach den vom Tribunal Supremo veröffentlichten Strafurteilen ermittelt und aus mindestens drei Gründen unvollständig. Erstens wird im Falle, daß die Kassation eines nicht auf Todesstrafe lautenden Urteils Erfolg hat und der Oberste Gerichtshof ein Todesurteil fällt, dies zweite Urteil nicht veröffentlicht. Zweitens fallen Mord, Raubmord und Bandenverbrechen in Spanien schon seit dem vorigen Jahrhundert gleichzeitig in die Zuständigkeit von Militärgerichten, deren Urteile ganz lückenhaft oder gar nicht publiziert werden. Drittens fehlen für volle 17 Jahre (1930—1946) jegliche Angaben über die Verhängung und Vollstreckung von Urteilen.

und äußere Lage der Sowjetunion erfordert. Das Anwendungsgebiet der 1950 für politische Delikte wiederhergestellten Todesstrafe ist 1954 auf schwere Fälle vorsätzlicher Tötung und 1961 auf schwere Fälle von Diebstahl staatlichen oder gesellschaftlichen Vermögens, Falschmünzerei sowie rückwirkend auf Devisenvergehen und Spekulation erweitert worden (Jescheck 1955). 1963 wurde die Todesstrafe weiterhin angedroht für Anschläge auf das Leben von Polizisten und Hilfspolizisten, für unter erschwerten Umständen verübte Notzucht und für schwere Fälle passiver Bestechung (Maurach 1963). Solche Ausdehnungen des Anwendungsbereichs stehen in deutlichem Kontrast zur Kriminalpolitik zahlreicher anderer Länder, welche den Kreis der todeswürdigen Delikte zunehmend verengt haben. Patrick hat 1965 zwar insgesamt 109 verschiedene Delikte gezählt, die in irgendeinem Lande als todeswürdig angesehen wurden, doch beschränkt sich die Androhung der Strafe in den meisten Ländern auf Mord und Hochverrat. Folgende Tabelle gibt über die Häufigkeit der Strafdrohung in 107 Ländern Auskunft: Staaten mit Todesstrafe

Verbrechen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Mord (ζ. T. qualifizierte Fälle) Hochverrat Spionage Brandstiftung Totschlag in Verbindung mit anderen Schwerverbrechen Notzucht (Bewaffneter) Raub Aufstand oder Rebellion Parrizid Sabotage

97 97 59 28 25 20 19 15 13 13

Die in älteren Darstellungen beliebte Untersuchung der Häufigkeit von Todesurteilen und Hinrichtungen ist von recht begrenztem Wert, da gewöhnlich mehrere Faktoren, die das Gesamt-

Jahre

Parrizid

Mord

Raubmord

Regizid

1870—79 1880-89 1890—99 1900—09 1910—19 1920—29 1930... 1947—56 1957-66

31 44 82 52 38 29

95 101 153 132 75 41

89 195 184 177 96 41

2 1

14

21 4

54 15

622

851



296

— —

1 —

Sprengstoffverbrechen — — —

3 —

1 1









4

5

insgesamt 217 341 419 370 210 112 1 89 19 1778

343

Todesstrafe Unter solchen hier nur an einem Beispiel aufgezeigten Umständen läßt sich von der Strafpraxis eines Staates kein lichtvolles Bild gewinnen. Immerhin deutet der auffällige Rückgang der Urteilszahlen seit dem Anfang des Jahrhunderts an, daß die ordentliche Gerichtsbarkeit sich einem

Parrizid Jahre

insgesamt

1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966

1

1 4

Mord

hingerichtet

insgesamt

2

2 1 1 4 2 1



Raubmord

hingerichtet

1 1 1 1



in zahlreichen anderen Ländern beobachtbaren Trend von der Todesstrafe fortbewegt. Zumal in den letzten 20 Jahren ist diese Tendenz unverkennbar, wie folgende Aufstellung von Todesurteilen und Vollstreckungen in den Jahren 1951 bis 1966 ergibt:



1 1 1 1 1 1

insgesamt

insgesamt

hingerichtet

hingerichtet

begnadigt

9 6 7 6 5 2 6 5 1

4 2 2 5 3

4 3 3 7 4 3 1 3 2

8 4 5 3 4 4 5 3



1 2 1









2

2 —









1 1



Insgesamt sind vom 1. November 1951 bis zum 31. Dezember 1966 von den ordentlichen Gerichten 70 Todesstrafen verhängt worden, von denen 30 vollstreckt wurden. Unter den Hingerichteten befanden sich zwei Frauen. Die restlichen vierzig Verurteilten sind begnadigt worden. Bei Beobachtung solcher auf faktische Abolition hinstrebenden Entwicklungen, wie sie ähnlich anhand der Kriminalstatistiken ζ. B . Großbritanniens und mehrerer amerikanischer Bundesstaaten aufgezeigt werden können, ist jedoch im Auge zu behalten, daß das Institut der Todesstrafe in der Strafjustiz der sozialistischen Länder und zahlreicher, ζ. T. erst in jüngster Zeit gegründeter Staaten der Dritten Welt unangefochten seinen Platz behauptet. J . W e l k e r : Die Todesstrafe Im deutschen und außerdeutschen Strafrecht. Dlee. jur. Erlangen 1933. E. R o e s n e r : Todesstrafe (Statistik). Hdwb. d. Kriminologie, hrsg. v. Elster u. Llngemann. 1. Aufl. Bd. 2. 1936. R. M a u r a c h : Todesstrafe in der Sowjetunion. Osteuropa 13 (1963) S. 745—753. C. Ξ . P a t r i c k : The status of capital punishment. A world perspective. JournCrim. 56 (1965). Η. H. J e a c h e c k : Die Todesstrafe in ausländischem Recht. I n : Die Frage der Todesstrafe. Zwölf Antworten. 1965. J . M. R o d r i g u e z D e v e s a : Das Zahlenbild der Todesstrafe In Spanien 1870—1966. MschrKrlm. 50 (1967) S. 122—130. Capital Punishment. Part I : Report I960. Part I I : Developments 1961—65. United Nations. Dept. of Economic and Social Affairs. 1968.

C. Die Kontroverse um die Todesstrafe 1. Die

Abschreckungsmrkung

Die Darstellung der Hauptargumente für und wider die Todesstrafe hat sich im Rahmen dieser Abhandlung auf die Analyse der kriminologisch relevanten Tatsachen zu beschränken. Damit bleiben religiöse, ethische und moralische Gesichtspunkte außer Betracht, insbesondere auch die grundsätzliche Frage, ob der Staat ein Recht hat, das Leben des Verbrechers zu fordern. Die Entscheidung des Einzelnen für oder gegen die Todesstrafe wird zweifellos stark von solchen rational nicht zugänglichen Erwägungen bestimmt; für die erfahrungswissenschaftliche Behandlung des Problems geben sie jedoch nichts her. Die kriminologische Beurteilung konzentriert sich auf die Frage: Ist die Todesstrafe ein zur Bekämpfung schwerer Formen der Kriminalität geeignetes und notwendiges Strafmittel ? Im Hinblick darauf kommt dem Abschreckungseffekt besondere Bedeutung zu. Wiederholt unternommene Versuche, die abschreckende Wirkung der Todesstrafe mit stati-

344

Todesstrafe

stischen Hilfsmitteln zu beweisen oder zu widerlegen, haben regelmäßig an der Schwierigkeit gelitten, exakte Daten zu finden, die über einen längeren Zeitraum vergleichbar sind. Wie bei jedem Kriminalitätsvergleich ist zunächst die weitgehende Ähnlichkeit der gesetzlichen Tatbestände, der wichtigsten kriminalitätsbedingenden Faktoren, der Effizienz des Verfolgungsstabes und der Arbeit der Gerichte Voraussetzung einer sinnvollen statistischen Analyse. Die Vergleichbarkeit des Delikts ist am ehesten gegeben, wenn ζ. B. die in diesem Zusammenhang besonders wichtigen Mordtaten desselben Landes in Perioden mit und ohne Todesstrafe gegenübergestellt werden. In diesem Falle reicht möglicherweise auch die Ähnlichkeit der ethnischen und altersmäßigen Bevölkerungszusammensetzung und mehrerer soziokultureller Bedingungen aus. Dagegen ist im selben Land die Beständigkeit der Wirtschaftslage und der auf die Verfolgungsintensität der Polizei und der Tätigkeit der Gerichte einflußreichen politischen Verhältnisse in einem längeren Zeitraum viel seltener anzutreffen. In Deutschland hat es seit der Einführung der Reichskriminalstatistik 1882 allenfalls bis zum Beginn des ersten Weltkrieges einen relativ ruhigen Zeitraum gegeben, in dem jedoch mit der Todesstrafe nicht experimentiert worden ist. Die Kriminalitätsentwicklung in der zur faktischen Abolition tendierenden Weimarer Republik kann mit jenen Jahren ebenso wenig verglichen werden, wie die Mordstatistik in der Bundesrepublik seit 1949. Es läßt sich deshalb die Entwicklung der schwersten Kriminalität in der Bundesrepublik seit dem Jahre 1949 mit der Beseitigung der Todesstrafe in keine gesicherte Relation setzen. Die Behauptung, daß ein Anstieg der Mordkriminalität direkte Folge des Abschaffungsbeschlusses sei, ist nicht zu belegen. Andererseits findet auch die öfter vertretene Ansicht, daß sich die Abolition regelmäßig günstig auf die Kurve der schwersten Verbrechen ausgewirkt habe, in der deutschen Kriminalstatistik keine Stütze: Verurteilte wegen Mordes BRD 1950—1963 Jahr insges. 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956

128 106 133 132 107 134 95

weibl. 26 16 15 13 12 11 16

Jahr insges. 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963

97 114 124 125 136 145 156

weibl. 10 9 17 13 9 16 15

Die polizeiliche Kriminalstatistik des bevölkerungsieichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen bietet ein noch ungünstigeres Bild:

Mord und Totschlag NRW 1959—1966 Jahr

vollendet

versucht

1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966

94 97 109 120 129 119 140 159

180 198 168 216 218 228 295 332

Ob der hier erkennbare nicht unerhebliche Anstieg der Mordkriminalität sich bei Fortbestand der Todesstrafe ebenfalls ergeben hätte oder durch ihre Wiedereinführung gebremst würde, kann nur Gegenstand müßiger Spekulation sein, da die Möglichkeit empirischer Prüfung hier wie bei vielen anderen kriminalpolitisch wichtigen Fragen praktisch verwehrt ist. Ein wissenschaftlich sorgfältig vorbereitetes Experiment mit versuchsweiser Abschaffung der Todesstrafe wird seit 1965 in England unternommen, die Auswertung der Ergebnisse bleibt abzuwarten. Die polizeiliche Kriminalstatistik für England und Wales zeigte 1967 gegenüber dem Vorjahre einen Anstieg der bekanntgewordenen Mordtaten um 20%, während sich die Gesamtzahl der Verbrechen im gleichen Zeitraum nur um 0,6% erhöht hat. In den Jahren 1965—1967 sind insgesamt 116 früher todeswürdige Delikte begangen worden, gegenüber 53 in den drei Jahren vor Abschaffung der Todesstrafe. Erst eine genauere Untersuchung der Ursachen dieser Entwicklung wird zeigen, ob sie der nach einem Bericht der UNO (1962) begründeten Erfahrung zuwiderläuft: „The suspension of the death penalty does not have the immediate effect of appreciably increasing the incidence of crime." Neben der langfristigen Beobachtung der Kriminalitätsentwicklung in einem Lande wird auch die Gegenüberstellung gleichzeitig erhobener Daten aus verschiedenen Ländern mit und ohne Todesstrafe versucht, wobei sich methodische Schwierigkeiten anderer Art ergeben. Es kann zwar ζ. B. in benachbarten Ländern eine Reihe von sozio-kulturellen Faktoren relativ gleichmäßig wirksam sein, man denke etwa an die politische ,Großwetterlage' in und nach den beiden Weltkriegen, welche in der Kriminalstatistik vieler Länder zu ähnlichen Tendenzen geführt hat. Andererseits ist mit erheblichen Unterschieden in der Organisation des Rechtswesens zu rechnen, u. U. auch in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung, weshalb ζ. B. der naheliegende Vergleich der Kriminalitätsentwicklung in verschiedenen Kantonen der Schweiz zu fragwürdigen Ergebnissen führen muß. In der Bundestagsdebatte 1952 hat Dehler als .wichtiges Indiz' angeführt, daß sich 1949 in den amerikanischen Bundesstaaten mit Todesstrafe eine Kriminalitäts-

Todesstrafe ziffer für Mord auf 1,49 belaufen, während die gleiche Ziffer in den Staaten ohne Todesstrafe mit 0,51 um ein Drittel niedriger gelegen habe. Solche Zahlen sind geeignet, ein unkritisches Publikum zu beeindrucken, ihr Aussagewert ist jedoch sehr gering. Mit wenigen Ausnahmen (Delaware, Rhode Island) liegen nämlich die amerikanischen Abolitionsstaaten im Norden des Landes an der Grenze zu Kanada. Diese Staaten haben jedoch seit langem relativ niedrige Mordraten im Gegensatz zu den im Süden gelegenen Ländern, die durchweg die Todesstrafe beibehalten haben. Angesichts der großen sozialökonomischen, ethnischen und klimatischen Unterschiede zwi-

345

schen beiden Ländergruppen ist ein Kriminalitätsvergleich zwischen ihnen wenig sinnvoll. Zu brauchbaren Ergebnissen kann hier nur die Gegenüberstellung statistischer Daten aus solchen Bundesstaaten führen, welche räumlich eng zusammenliegen und deren Bevölkerungsstruktur und soziale Verhältnisse hinreichend ähnlich sind. Eine in dieser Richtung von Th. Sellin (1961) unternommene Studie hat zu interessanten Resultaten geführt. Sellin hat die Verhältniszahlen der Tötungsdelikte (homicide) seit 1920 aus neun Staaten erhoben und sie für jeweils drei benachbarte Staaten mit bzw. ohne Todesstrafe zusammengestellt:

Homizid-Raten, per 100 000 Einwohner, in Maine, New Hampshire und Vermont: 1920—1958

—ι—1

1 1— —ι—ι—1

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19

DIAGRAMM 2 Homizid-Raten, per 100 000 Einwohner, in Massachusetts, Connecticut und Rhode Island: 1920—1958

Homizid-Raten, per 100 000 Einwohner, in Minnesota, Iowa und Wisconsin: 1920—1955

Todesstrafe

346

Auffällig ist die ζ. T. weitgehende Gleichläufigkeit der Kriminalitätskurven besonders in den Diagrammen 2 und 3, die einen deutlichen Rückgang der Homizidraten seit 1920 zeigen, der ebenso wie ein Teil der jährlichen Schwankungen gleichmäßig in den Staaten mit und ohne Todesstrafe zu beobachten ist. Es läßt sich daraus schließen, daß auf die Zu- oder Abnahme der Tötungsdelikte in einem Staate die Bevölkerungsstruktur und allgemeine kulturelle Faktoren wie Bildung, Urbanisierung, industrielle Entwicklung usw. anscheinend einen stärkeren Einfluß ausüben als die Androhung der Todesstrafe. Das wirkt sich dahin aus, daß die Kriminalitätskurven in Staaten ähnlich verlaufen, deren demographische, soziale, ökonomische und politische Bedingungen nicht allzu unterschiedlich sind. Sellin nimmt an, daß die von ihm an den Homizidraten aufgezeigte Gleichförmigkeit sich auch bei den im Untersuchungsgebiet nicht getrennt auswertbaren Mordraten findet. Diese Vermutung wird durch Erfahrungen aus anderen Ländern gestützt. So ist die Mordkriminalität in Norwegen und Schweden, also in Abolitionsstaaten mit vergleichbarer Struktur und Entwicklung, in den letzten Jahrzehnten ständig zurückgegangen, wozu 1949 sowohl vom schwedischen wie vom norwegischen Justizministerium bemerkt wurde, daß dazu der Erfolg allgemeiner sozialpolitischer Bestrebungen deutlicher beigetragen hätte als die Abolition (Düsing, 1952). Eine sichere Aussage darüber läßt sich freilich nicht machen. Wenn eine der Kriminalität günstige oder ungünstige Entwicklung zufällig mit einer Änderung der Strafgesetze koinzidiert, ist die Frage der Kausalität schwer zu beantworten. Gelegentlich hilft ein Blick auf die Gesamtentwicklung der Kriminalität; so nahmen in Österreich 1961, ein Jahr nach Abschaffung der Todesstrafe, die Verurteilungen wegen Mordes und Totschlags erheblich zu, dieselbe Entwicklung war aber auch bei nicht todeswürdigen Delikten zu beobachten: Jahr

Mord

1948 1949 1960 1951 1952 1953 1954 1965 1956

77 93 48 64 38 41 51 58 46

Totschlag schwere körp. Beschädigung 23 32 14 25 21 18 24 25 23

870 895 952 1207 1406 1464 1366 1435 1436

Raub 176 138 86 125 118 98 72 96 92

F. Nowakoski (1960) hat gefolgert, daß die Zahlen der Tötungsdelikte hier durch die Beseitigung der Todesstrafe nicht ungünstig beeinflußt worden sind.

Wie leicht Fehlschlüsse zur unbegründeten Annahme eines Abschreckungseffekts führen können, zeigt eindringlich ein älteres Beispiel. In Belgien trieben nach dem ersten Weltkrieg Banden sogenannter Chauffeurs ihr Unwesen, die vermögende Bauern zur Preisgabe des Verstecks ihrer Wertsachen veranlaßten, indem sie unter ihre Füße Feuer legten. Nachdem ein Bandenchef zum Tode verurteilt worden war, beantragte der Generalstaatsanwalt in Brüssel, dieses Urteil entgegen jahrzehntelanger Übung nicht in Freiheitsstrafe umzuwandeln. Der Justizminister lehnte ab; kurz darauf hörte die Aktivität der Räuber plötzlich auf (Cornil, 1967). Wie wäre im Falle einer Exekution der Abschreckungseffekt beurteilt worden ? Die anscheinend unüberwindliche Schwierigkeit, Kriminalitätskurven in dieser Hinsicht verläßlich zu interpretieren (->- Statistik und Kriminalität), haben H. v. Hentig (1965) zum Resum£ veranlaßt, daß alle Versuche, der Abschreckung mit statistischen Mitteln beizukommen, gescheitert seien. Dieser skeptischen Beurteilung kann wenigstens im Hinblick auf Tötungsdelikte bislang nicht widersprochen werden. Anders als die Gesamtsummen der Statistik, die auch bei hoher Aufklärungsquote im besten Falle aussagen, was geschehen, nicht was unterlassen worden ist, kann die Untersuchung des Einzelfalles und der Täterpersönlichkeit Aufschlüsse darüber geben, ob und unter welchen Umständen die Todesstrafe abzuschrecken vermag. Hierüber liegen für den in diesem Zusammenhang vor allem interessierenden Tatbestand des Mordes eine Reihe von Erfahrungen vor. In einigen amerikanischen Fällen haben Mörder mit Rücksicht auf die in ihrem Lande angedrohte Todesstrafe ihr Opfer auf das Territorium eines Abolitionsstaates gelockt (Hentig, 1965). Ein solches Indiz für abschreckende Wirkung der Strafe ist indes mit Vorsicht zu bewerten, da es nichts darüber sagt, ob der Täter beim Fehlen einer derartigen Ausweichmöglichkeit das höhere Risiko wirklich gescheut hätte. Auch bei gelegentlichen Geständnissen von Tätern, wonach sie bei bestehender Todesstrafe nicht gemordet haben würden, ist Mißtrauen angebracht, da eine gegenteilige, dem Angeklagten erkennbar ungünstige Äußerung nicht erwartet werden kann. Bei sorgfältig vorgeplanten Delikten spielt die Hoffnung, nicht entdeckt zu werden, regelmäßig für den Tatentschluß eine größere Rolle als die Höhe der angedrohten Strafe, die gar nicht ernsthaft in die Überlegung einbezogen wird. Damit ist das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen mit begrenztem Risiko nicht in Abrede gestellt; die hinreichend sichere Aussicht, bei Ermordung eines Polizisten nicht nur zum Tode verurteilt, sondern auch hingerichtet zu werden, hat ζ. B. Bankräuber in England öfters veranlaßt, von der Schußwaffe keinen

Todesstrafe Gebrauch zu machen. Ein großer Teil der wegen Mordes Verurteilten gehört aber nicht zur Kategorie der Überlegungstäter, auf welche die Todesstrafe in EinzelfäJlen Eindruck macht. Mit noch immer beachtlichen Ausführungen hat bereits M. Liepmann (1912) dargelegt, daß die abschreckende Kraft der Strafdrohung bei allen Delikten problematisch ist, die .sinnlichen Affekten und Triebkräften' entspringen. Bei Leidenschaftstätern tritt die Hemmungswirkung des Gesetzes zurück hinter den unwiderstehlichen Antrieben zur Tat. In solchen Fällen ist meist die strafrechtliche Verantwortlichkeit zweifelhaft, so namentlich bei Sittlichkeitsverbrechern, die ohne jede Rücksicht auf schwere Sanktionen zu Handlungen getrieben werden, welchen sie anschließend entsetzt oder verständnislos gegenüberstehen. Hier erweist sich die Todesstrafe nicht nur hinsichtlich der von ihr erhofften Abschrekkung als wirkungslos, sondern zugleich ihrer Unwiderruflichkeit wegen als bedenklich, da krankhafte Zustände öfters mangelhaft beurteilt werden. Auch im Falle des Konfliktmordes, der einen erheblichen Teil der Tötungskriminalität ausmacht, ist der Abschreckungseffekt der Todesstrafe als sehr gering anzuschlagen. Wenn Ausnahmesituationen wie Nahrungsmangel, Zerrüttung der Familienbeziehungen oder auf Dauer unerträgliche Konkurrenzverhältnisse zu einer gewaltsamen Notlösung drängen, wird die Strafdrohung zwar u. U. sehr deutlich vergegenwärtigt, ihrer hemmenden Wirkung aber dadurch beraubt, daß der Täter keinen anderen Ausweg sieht. Mord oder Totschlag als der .explosive Abschluß einer Seelentragödie' (Liepmann, 1912) können in solchen Lagen durch noch so scharfe Sanktionen schwerlich verhindert werden. Sehr zweifelhaft ist weiterhin die abschreckende Wirkung der Todesstrafe auf religiöse und politische Fanatiker, generell auf Überzeugungstäter aller Art. Sie sehen den Folgen ihrer Tat mit zuweilen betonter Furchtlosigkeit entgegen, werden nicht selten im Tatentschluß von ihnen mitbestimmt, so daß die Todesstrafe hier den gegenteiligen Effekt des Mordanreizes haben kann. Im Hinblick auf solche Reaktionen ist in England um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nach mehreren Anschlägen auf die junge Königin Viktoria der Attentatsversuch vom todeswürdigen Verbrechen zum bloßen Vergehen abqualifiziert worden, eine angeblich wirksame Maßnahme (Hentig, 1955), die jedenfalls in der Intention der Einstellung politischer Fanatiker besser entsprach als die Todesstrafe. Von mehreren politischen Attentätern ist bekannt, daß sie ihre Tat geradezu als Mittel indirekten Selbstmordes geplant hatten, eine ihrem ,schmerzsüchtigen Grundcharakter' (Hentig, 1955) entsprechende Denkart, die jeden Strafeffekt illu-

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sorisch macht. Unter zahlreichen älteren Fällen erwähnt Liepmann (1912) den lebensmüden Hadfield, der 1800 im Theater auf den König von England schoß und hingerichtet werden wollte, um nicht die Sünde des Selbstmordes auf sich zu laden. Diese auf religiösen Vorstellungen beruhende Ansicht hat in vergangenen Jahrhunderten eine eigentümliche, auf dem Institut der Todesstrafe basierende Mordkriminalität hervorgebracht, die eher für die anziehende als abschreckende Wirkung dieser Strafe zu sprechen scheint. Eine lange Reihe von Morden speziell an kleinen, nach kirchlicher Lehre in Unschuld sterbenden Kindern ist im 17. bis 19. Jahrhundert von Tätern begangen worden, die vor dem Selbstmord als der einzigen nicht zu bereuenden Sünde zurückschreckten und mit Hilfe des Scharfrichters ein seliges Ende zu nehmen hofften (Hentig, 1919; Weber, 1937). Abgesehen von solchen mehr kriminalhistorisch interessanten Verirrungen wird die abschreckende Kraft der Todesstrafe andererseits auch durch die bedeutende Zahl von Selbstmorden in Frage gestellt, die von Kapitalverbrechern nach der Tat verübt werden. Aus Berliner Statistiken ist ermittelt worden, daß in den Jahren 1926 bis 1932 von 287 Mördern 153 Selbstmord begangen haben, während von 32 Totschlägern nur einer freiwillig aus dem Leben schied (Gennat, 1936). Gewiß lassen diese Zahlen nicht ersehen, wie viele Delinquenten schon vor der Verhaftung bereit waren, ihr Leben wegzuwerfen. Doch dürfte die relativ hohe Selbstmordquote gleichwohl geeignet sein, das Abschreckungsargument erheblich zu entwerten. Aus den erwähnten Umständen ergibt sich, daß die Androhung der Todesstrafe gegenüber dem Mörder den Zweck der Abschreckung weitgehend nicht erfüllt. Damit versagt ein Hauptargument zugunsten der Todesstrafe gerade hinsichtlich derjenigen Kapitaldelikte, die in vielen Staaten als einzige noch mit dem Tode bedroht sind. Dennoch ist es eine unzulässige Verallgemeinerung, wenn vielfach die abschreckende Wirkung dieser Strafe überhaupt bestritten wird. In Einzelfällen kann diese Behauptung mit der glaubwürdigen Einlassung von des Mordes Angeklagten widerlegt werden. In anderen Fällen hat sich gezeigt, daß bestimmte Kriminalitätsformen sehr wohl mit der Todesstrafe wirkungsvoll bekämpft werden können. In der Weimarer Republik fiel die Androhung schwerster Strafen durch die Terrornotverordnung von 1932 zumindest zeitlich auffällig mit dem schlagartigen Rückgang politischer Terrorakte zusammen. Wenige Jahre später hat das aufgrund des Bonner Falles Griese (1936) erlassene Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub sehr wahrscheinlich dazu beigetragen, eine Ausbreitung dieses erfahrungsgemäß zur Nachahmung anrei-

348

Todesstrafe

zenden Delikts zu verhindern. Ein ähnlich günstiger Erfolg des Gesetzes gegen Straßenraub mittels Autofallen von 1938 kann schwerlich in Abrede gestellt werden. Diese Beispiele stützen die Annahme, daß schon die Androhung der Todesstrafe genügen kann, die Entwicklung gewisser Deliktsarten zu hemmen, vorausgesetzt, daß die Androhung im rechten Zeitpunkt erfolgt und der Strafverfolgungsapparat an ihrer Ernsthaftigkeit keinen Zweifel läßt. Ähnliche Erfahrungen sind in Kriegs- und Notzeiten gemacht worden und rechtfertigen eine gesonderte Beurteilung des Abschreckungsmoments der Todesstrafe in der Militärgerichtsbarkeit. Nach Hoffmann (1967) sind in Prag 1897 und in Triest 1902 schwere politische Unruhen und Ausschreitungen, gegen welche sich die für Aufruhr angedrohte Kerkerstrafe als wirkungslos erwiesen hatte, nach Verhängung des Ausnahmezustandes allein durch die Androhung sofortiger Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe alsbald zum Erliegen gekommen. Im letzten Kriege waren in Deutschland Eigentumsdelikte, Körperverletzungen und Tötungsverbrechen unter Ausnutzung der Verdunklung und während des Aufenthalts der Bevölkerung in den Luftschutzkellern mit dem Tode bedroht. In mehreren Fällen wurden Diebe und Plünderer verurteilt und die Vollstreckung der Urteile in auffälliger Weise publiziert. Nach Ansicht erfahrener Beobachter sind diese Maßnahmen wirksam gewesen; entsprechende Delikte waren selten, obgleich die Versuchung dazu groß und die Gefahr, ertappt zu werden, gerade in den vom Bombenkrieg verwüsteten Städten relativ gering gewesen ist (Hoffmann, 1967). In der Militärgerichtsbarkeit hat während der Weltkriege die Androhung der Todesstrafe auf Fahnenflucht, Meuterei und Gehorsamsverweigerung ihre Wirkung nicht verfehlt. Bei der großen Meuterei französischer Truppen am Chemin des Dames im Frühjahr 1917 gelang es dem Befehlshaber, durch Beschüß meuternder Brigaden mit der eigenen Artillerie sowie durch die Verhängung von 150 und Vollstreckung von 23 Todesurteilen die Ordnung in kurzer Zeit wiederherzustellen (Düsing, 1952). Im deutschen Heer soll während des letzten Krieges die rigorose Anwendung der Todesstrafe bei Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feinde eindeutig abschreckend gewirkt und bis zum Zusammenbruch eine höhere Kampfmoral der Truppe zur Folge gehabt haben als im ersten Weltkriege, in dem die deutsche Militärgerichtsbarkeit von diesem Strafmittel nur sehr selten Gebrauch gemacht hatte. Als nach Beginn des Rußlandfeldzuges mehrere Angehörige eines im Westen eingesetzten Truppenteils sich der bevorstehenden Verlegung an die Ostfront zu entziehen suchten, wurde ein Deserteur erschossen. Das Urteil wurde sofort in der Armee bekanntgegeben; danach kam lange Zeit in dieser Einheit kein Fall

von Fahnenflucht mehr vor (Hoffmann, 1957). Solche Erfahrungen lassen die unter anderem Blickwinkel inkonsequente Beibehaltung der Todesstrafe im Kriegsstrafrecht, wie sie in vielen Abolitionsstaaten vorgesehen ist, als mit dem Abschreckungseffekt hinreichend begründet erscheinen. Μ. L i e p m a n n : Die Todesstrafe. Έϊη Gutachten. 1912. H. v. H e n t i g : Gerichtliche Verurteilung als Mittel des Selbstmords. ArchKrim. 71 (1919) 8. 325—332. A. H o p p l e r : Der Abschreckungsgedanke im Strafrecht. Diss. jur. Zürich 1932. H. v. W e b e r : Selbstmord als Mordmotiy. MschrKrim. 28 (1937) S. 161. L. P. K a n z : Untersuchungen tlber die Wirkung des Vollzuges oder NichtVollzuges der Todesstrafe sowie über die Wirkung der Strafzumessungspraxis auf die Kriminalitätsbewegung. Diss. jur. München 1950. W. B . H u i e : The execution of private Slovik. 1954. B. v. H e n t i g : Die Strafe. Bd. 2. Die modernen Erscheinungsformen. 1955. F. N o w a k o w s k i : Die Todesstrafe in Österreich. Die Zukunft (I960) S. 37. Th. S e l l i n : Capital punishment. FedProb. (1961). Capital punishment. United Nations Publication. 1962. Ed. Hoff m a n n : Der Ruf nach dem Scharfrichter. Kriminologische Argumente für und gegen die Todesstrafe. 1967. Η. E . G ö p p i n g e r : Strafe und Verbrechen. 1965. P. C o r n i l : La peine de mort en Belgique. I n : Centen&rio da abolicäo da pena de morte em Portugal. 1967. R . L a n g e : Die Todesstrafe im deutschen Straf recht. In: Centen&rio da aboli^äo da pena de morte em Portugal. 1967. Ε. A. F a t t a h : Α study of the Deterrent Effect of Capital Punishment with Special Reference to the Canadian Situation. 1972.

2. Die Sicherungswirkung Aus dem Gesichtspunkt der Sicherung der Gesellschaft vor dem Verbrecher ist die Todesstrafe von optimaler Wirksamkeit: Die Gefahr des Rückfalls wird ausgeschlossen, der Täter endgültig unschädlich gemacht. Das Argument ist nicht zu widerlegen, empfiehlt allerdings die Todesstrafe ganz allgemein zur Bekämpfung sozialschädlichen Verhaltens jeder Art und fördert die ζ. B. in der NS-Zeit deutlich gewordene Tendenz zu ihrer ausgedehnten Anwendung. Entsprechend dem in modernen Demokratien weithin anerkannten Grundsatz, daß der Staat in die Rechte des Einzelnen nur in dem im Interesse der Gesamtheit unerläßlichen Maße eingreifen dürfe, bleibt zu fragen, ob der Sicherungszweck auf weniger einschneidende Weise nicht ebensogut erreicht werden könnte. Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung bieten diese Möglichkeit; der ζ. T. noch gegenwärtig mangelhafte Zustand von Strafanstalten kann einen Zweifel an der Sicherungswirkung nicht begründen, da die Aufgabe völlig ausbruchssicherer Unterbringung von Häftlingen technisch längst gelöst ist. Allerdings ist gegen die Gleichwertigkeit des Freiheitsentzuges nicht ohne Grund eingewandt worden, daß der Sicherungseffekt durch die an Lebenslänglichen

Todesstrafe geübte Gnadenpraxis beeinträchtigt werden könnte. Daß durch Fehlbeurteilung oder auch bei sorgfältig ausgeübtem Ermessen der Gnadeninstanz ein potentiell Rückfälliger die Freiheit wiedererlangen kann, ist nicht auszuschließen. Die sich daraus ergebende Gefahr für die Allgemeinheit ist indes nicht allzu hoch einzuschätzen, da die hier in erster Linie interessierenden Mörder erfahrungsgemäß nur selten rückfällig werden. Von 129 in England in den Jahren 1934—1938 entlassenen Lebenslänglichen beging nur einer wieder einen Mord. Auch die durch Hentig (1962) gesammelten Einzelfälle vermögen — entgegen Lange (1967) — die allgemeine Ansicht nicht zu widerlegen, daß der Rückfallmörder eine Ausnahmeerscheinung ist, die kein nennenswertes Sicherheitsrisiko für die Öffentlichkeit darstellt. Desgleichen ist die intramurane Kriminalität verurteilter Mörder nach Erfahrung von Vollzugsbehörden nicht besorgniserregend. In Zuchthäusern zählen die Lebenslänglichen zu den im Betragen unauffälligen Gefangenen (Liepmann 1912; Sellin 1961). Für Zeiten politischer Umwälzungen erfordert neben dem Abschreckungs- auch der Sicherungseffekt eine gesonderte Beurteilung. Wenn durch Revolutionen oder schwere politische Unruhen die geordnete Tätigkeit der Vollzugsbehörden gestört oder lahmgelegt wird, besteht die Gefahr, daß Schwerkriminelle freigesetzt werden und eine akute Bedrohung der Allgemeinheit bilden. In Deutschland haben Erfahrungen nach dem letzten Kriege gezeigt, daß die Sicherungsfunktion der Strafanstalten unter solchen Umständen nicht ausreicht. Das gleiche gilt in Kriegs- und Notzeiten bei politischen Delikten, die unmittelbar gegen den Bestand des Staates gerichtet sind. M. L i e p m a n n : Die Todesstrafe. Bin Gutachten. 1912. H. v. H e n t i g : Der Riickfallmörder. ZStrW 74 (1962) S. 562—572. — : Die Strafe. Bd. 2 : Die modernen Ulrschelnungaformen. 1955.

3. Die Möglichkeit des Justizirrtums Dem unbestreitbaren Vorzug der Sicherheit, welche die Todesstrafe gewährt, steht als gravierender Nachteil die Unwiderruflichkeit des vollzogenen Urteils entgegen: eine Fehlentscheidung kann nicht korrigiert werden. Die Gefahr eines Fehlurteils ist notwendig mit jeder richterlichen Tätigkeit verbunden und kann auch durch die klügsten Vorkehrungen nicht ausgeschlossen werden. Insbesondere bietet die gelegentlich vorgeschlagene Stützung des Urteils auf vermeintlich besonders zuverlässige Beweismittel keine Sicherheit vor unrichtigen Sprüchen, da selbst das volle Geständnis des Angeklagten angesichts der gerade bei Mordprozessen bekannten Häufigkeit falscher Selbstbezichtigungen keine große Beweiskraft hat.

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Allerdings wird angenommen, daß in solchen Prozessen die Gefahr des gerichtlichen Irrtums — der Ausdruck Justizmord' sollte allenfalls bei vorsätzlicher Rechtsbeugung gebraucht werden — in Kulturstaaten mit geordneter Rechtspflege selten ist, da bei der Behandlung von Kapitalverbrechen besondere Sorgfalt beobachtet wird. Exakterweise darf zur Abschätzung des Prozeßrisikos nur auf die Erfahrungen jeweils des Landes Bezug genommen werden, in dem die Todesstrafe zur Diskussion steht; denn die Gefahr des Fehlurteils in Ländern mit abweichender Gerichtsverfassung und Organisation des Strafverfahrens sagt zur Beurteilung der Verhältnisse ζ. B . in der B R D nichts aus. Über die Strafpraxis im Deutschen Reich hat als einer der besten Sachkenner der Berliner Kriminalist W. Kahl geäußert, ihm sei nicht ein einziger Fall eines Justizirrtums bekanntgeworden, der zur Hinrichtung eines Unschuldigen geführt habe. Ähnlich hat der frühere Justizminister Emminger berichtet, daß sich in den während der 20er Jahre geführten Ausschußverhandlungen des Reichstages seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kein Todesurteil habe nachweisen lassen, das an einem Unschuldigen vollstreckt worden wäre. Diese Angaben sind insofern zutreffend, als aus den Jahren 1848 bis 1932 keine verläßlichen Nachrichten darüber vorliegen, daß in Deutschland jemand wegen eines Verbrechens hingerichtet worden ist, das er nicht begangen hatte. Unklarheiten sind nur im bekannten Fall des 1926 wegen Mordes hingerichteten Jakubowski bestehengeblieben, bei dem das Gericht im Wiederaufnahmeverfahren wenigstens zur Annahme einer Mitschuld gekommen war. Allerdings ist zu bedenken, daß mit vollstreckten! Todesurteil abgeschlossene Strafverfahren nur selten wieder aufgenommen werden, da der Hauptbetroffene weggefallen ist. Auch werden die Gerichte, wenn es zu erneuter Verhandlung kommt, womöglich einer ,Kompromißlösung' (Hentig, 1955) zuneigen, um das Versagen der Justiz nicht in vollem Umfang bestätigen zu müssen. Ungeachtet dessen ist die Chance, als Unbeteiligter eines todeswürdigen Verbrechens wegen verurteilt und hingerichtet zu werden, wahrscheinlich in Deutschland bis zur NS-Zeit überaus klein gewesen. Außer dem Hinweis auf das geringe Betriebsrisiko der Strafjustiz unter rechtsstaatlichen Verhältnissen lassen sich gegen das Fehlurteil-Argument zwei grundsätzliche Einwände vorbringen. Erstens müßte der Staat auf jede Strafrechtspflege überhaupt verzichten, wenn er Nachteile von Fehlentscheidungen ausschließen wollte, die ζ. B. auch bei einer Verurteilung zu lebenslänglichem Zuchthaus für den Betroffenen sehr schwerwiegend sind. Zweitens ist zu fragen, ob der Bürger, der in vielfacher Hinsicht den Schutz des Staates genießt, nicht gewisse entfernte Risiken auf sich

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nehmen muß, die ihm der Staat um des Gemeinwohls willen zumutet. Eine solche Erwägung, deren Stichhaltigkeit ζ. B. im Gesundheitswesen (Impfzwang) unbestritten ist, kann auch im Hinblick auf die Strafrechtspflege nicht von der Hand gewiesen werden. Das Problem des Justizirrtums ist jedoch noch von einer anderen Seite zu betrachten. Es ist, wie gesagt, höchst unwahrscheinlich, daß ein Unbeteiligter in die Justizmaschinerie gerät und dabei ums Leben kommt. Dagegen ist die Gefahr ungleich größer, daß ein Angeklagter, dessen Täterschaft außer Zweifel steht, eines Kapitalverbrechens schuldig gesprochen und hingerichtet wird, obgleich er wegen mangelnder Schuldfähigkeit nicht hätte verurteilt werden dürfen. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Täters spielt in vielen Mordprozessen eine Rolle, nicht zu Unrecht ist gefragt worden, ob das abnorm qualifizierte Delikt des Mordes nach §211 StGB von .normalen' Tätern überhaupt begangen werden könnte. Das in dieser Frage dem Votum medizinischer Sachverständiger in unerwünschter Weise ausgesetzte Gericht wird dem Angeklagten zwar jeden erkennbaren Zweifel an der vollen Zurechnungsfähigkeit zugute halten, kann aber bei insoweit beschränkter Kompetenz doch leichter als durch die Verkennung der Tatbestandsmäßigkeit zu einem Fehlurteil gebracht werden, das nach vollstreckter Todesstrafe irreparabel wäre. Ein höchstens zu lebenslanger Zuchthausstrafe führendes Fehlurteil läßt dagegen die Möglichkeit der Überprüfung offen und gibt überdies dem Verurteilten die Chance, hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit eines vielleicht fernen Tages zutreffender eingeschätzt zu werden, sofern die Wissenschaft inzwischen bessere Diagnosemöglichkeiten entwickeln oder gar die Begriffe der Schuld- und Zurechnungsfähigkeit als .Aberglauben und wissenschaftlichen Irrtum' (K. Jaspers) über Bord werfen sollte. So hat bei Sexualverbrechern gerade in jüngster Zeit die Feststellung von Chromosomenanomalien, durch welche das alte Konzept des delinquente nato aktualisiert worden ist, der medizinischen Beurteilung neue Möglichkeiten eröffnet und die Hinrichtung multipler Mörder in vergangenen Jahrzehnten (Haarmann, Kürten) in ein bedenkliches Zwielicht gerückt. Unter dem Aspekt des Justizirrtums ist die Gleichstellung schuldunfähiger Täter mit Verurteilten, die mit der Tat überhaupt nichts zu tun hatten, gelegentlich als unzulässig gerügt worden, da ζ. B. die zu Unrecht erfolgte Hinrichtung eines gemeingefährlichen Geisteskranken geringer wiege als die ungerechte Verurteilung eines .guten Bürgers' (Hellwig, 1914). Dies Argument führt indes zu deutlich in die Nähe der inhumanen Vorstellung ,lebensunwerten Lebens', um ernsthaft diskutiert werden zu können.

E. S e l l o : Die Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen. 1911. A. H e l l w i g : Justizirrtümer. 1914. H. O l d e n , J . B o r n s t e i n : Der Justizmord an Jakubowski. 1928. H. M o s t a r : Unschuldig verurteilt. Aus der Chronik der Justizmorde. 1956. M. H i r s c h b e r g : Das Fehlurteil im StrafprozeB. I960. L. H a l e : Hanged in error. 1961. W. K i w i t t : Fehlurteile im Strafrecht — Entstehung, Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten zur Vermeidung, untersucht an Wiederaufnahmeverfahren im OLG-Bezirk Hamm aus der Zeit von 1950—1958. Diss. jur. Münster 1965. E d . H o f f m a n n : Der Ruf nach dem Scharfrichter. Kriminologische Argumente für und gegen die Todesstrafe. 1967. 4. Weitere

kriminologische und Argumente

rechtspolitische

a) Die K o s t e n f r a g e . Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß in der Diskussion um die Todesstrafe die Frage der Kosten des Strafvollzuges gänzlich außer Betracht bleiben muß. Die Achtung vor dem Menschenleben bringen alle Kulturstaaten durch die Unterhaltung einer großen Zahl sozial unbrauchbarer Existenzen zum Ausdruck. Sie darf auch dem Verbrecher nicht versagt werden, selbst wenn feststünde, daß er unfähig ist, sich je zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu entwickeln. b) Die S y s t e m f r e m d h e i t . Die Todesstrafe ist öfters als irrational fundiertes Überbleibsel aus dem mittelalterlichen System der Lebens- und Leibesstrafen charakterisiert worden, das unserer stark auf Resozialisierung ausgerichteten Kriminalpolitik prinzipiell unverträglich sei. Darin liegt kein durchgreifender Einwand gegen das alte Institut; viele Staaten haben auch auf anderen Gebieten mit gutem Erfolg systemfremde Mittel beibehalten, so den Eid im Strafprozeß und im weitgehend säkularisierten öffentlichen Dienst. Die extreme Rationalisierung aller Lebensbereiche mag generell erstrebenswert sein, führt aber nicht notwendig ein Optimum an Effizienz sozialer Ordnungen herbei. Zudem ist zu bedenken, daß der Resozialisierungsgedanke letztlich auf nicht viel rationaleren Füßen steht als das Talionsprinzip. Gleichwohl können Erfahrungen ζ. B. aus amerikanischen Strafanstalten nicht ganz beiseite gelassen werden, wonach die Exekution von Todesurteilen auf das Aufsichtspersonal jedesmal einen niederschmetternden Eindruck macht, da sie weithin verinnerlichten Vorstellungen von der Besserungsfähigkeit des Menschen so eklatant zu widersprechen scheint. Dies um so mehr, als ein hoher Prozentsatz der Mörder nicht vorbestraft ist und der Resozialisierung weniger Schwierigkeiten bereitet, als etwa die Masse der kleinen Berufsdiebe und Betrüger. Insofern dürfte die Entmutigung des Vollzugsstabes als unerwünschte Folge der Systemfremdheit der Todesstrafe immerhin beachtlich sein.

Todesstrafe c) Die Gefahr der R e c h t s b e u g u n g . Der Zwang, bei gegebenem Tatbestand ein Todesurteil fällen zu müssen, hat Berufs- und Laienrichter wiederholt in Gewissensnot gestürzt, der sie sich durch dogmatisch fragwürdige Auslegungstricks oder gar durch Rechtsbeugung zu entziehen suchten. Seit dem 18. Jahrhundert ist dieser mit Fällen aus der englischen Kriminalgeschichte bereits belegte Ausweg bis zur Gegenwart vielfach beschritten worden. In Deutschland mag aus der NS-Zeit der bekannte ,Badewanneniall' (JZ 1954, S. 430) als Beispiel einer unter dem Zwang der Todesstrafe entwickelten Rechtsprechung dienen. In der amerikanischen Strafjustiz haben die häufigen Freisprüche in Kapitalsachen durch Laiengerichte, die den Ausspruch von Todesurteilen scheuten, zu einem oft beklagten Mißstand geführt, da auf diese Weise wiederholt gefährliche Kriminelle, an deren Täterschaft kein Zweifel sein konnte, ungestraft davongekommen sind. Mögen solche Vorkommnisse auch im Binzelfall als Pflichtverletzung der am falschen Urteilsspruch Beteiligten vorwerfbar und strafwürdig sein, so ist doch das Ärgernis einer vom Gesetzgeber indirekt angereizten Versuchung zum Rechtsbruch nicht zu übersehen und angesichts der kriminalpolitisch unerwünschten Konsequenzen als Argument gegen die Todesstrafe zu berücksichtigen.

5. Menschenwürde und Todesstrafe Für die Diskussion der Todesstrafe in der Bundesrepublik kann schließlich eine dogmatische Erwägung nicht unbeachtet bleiben. In der Bundestagsdebatte von 1952 wurde stillschweigend davon ausgegangen, daß es nur einer Abänderung des Art. 102 GG mit verfassungsändernder Mehrheit bedürfe, um die Wiedereinführung der Todesstrafe zu erreichen. Dagegen wäre zu fragen gewesen, ob unsere derzeitige Verfassung die Rückkehr zu dieser Strafe überhaupt gestattet, da möglicherweise die in Art. 1 GG geschützte Menschenwürde ihr zwingend und unumstößlich entgegensteht. Verhängung und Vollzug der Todesstrafe sind nämlich für die Beteiligten mit so gravierenden körperlichen und seelischen Belastungen verbunden, daß die Frage, ob und inwiefern ihre Menschenwürde davon tangiert wird, wohlberechtigt ist. Zur Begründung dessen sei die Situation der Hauptbetroffenen ausschließlich im Hinblick auf Art. 1 GG der Reihe nach betrachtet. Auf den ersten Blick scheint die Ansicht des Psychiaters Hoche (1914) nicht ganz abwegig, wonach der Delinquent nicht stark berührt ist: bei exaktem Vollzug kommt er mit dem Schrecken davon, weil er den Schmerz nicht spürt. Das gilt für die wichtigsten modernen Hinrichtungsarten, für die französische Guillotine ebenso wie für die

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amerikanische Elektrokution und den englischen long drop. Aber ist auch bei kunstgerecht vollzogener Hinrichtung sofortiger Verlust des Bewußtseins anzunehmen, so bleibt der Tatbestand übrig, daß der Staat einen Bürger willentlich in Todesangst versetzt und ihn in diesem Zustand, zu dem er ihn eigentlich nicht verurteilt hat, bis zur völligen Erschöpfung des ihm gebotenen Rechtswegs erhält. Ob diese Behandlung ein Jahr dauert oder über zwölf Jahre — nach C. Chessmans traurigem Rekord —, macht keinen qualitativen Unterschied. Art. 1 GG verbietet die Folter, welche sicherlich auch in nichtkörperlichen Einwirkungen bestehen kann. Hierzu mag eingewandt werden, daß der Tatbestand seelischer Quälerei von subjektiven Faktoren abhängt, bei indifferenter oder nekrotroper Gemütslage nicht empfunden oder in abartigen Fällen sogar ausgekostet wird. Darf der Staat aber auch nur die Chance und nach gewöhnlicher Lebenserfahrung naheliegende Aussicht auf menschenunwürdige Behandlung institutionalisieren ? Gelten diese Bedenken schon dem korrekten, gesetzmäßigen Vollzug, so ergeben sich aus etwaigen Abweichungen vom normalen Verlauf der Exekution weitere Möglichkeiten unmenschlicher Mißhandlung. Der jahrhundertealte Greuel mangelhafter Hinrichtung ist auch aus unserer technisch fortgeschrittenen Zeit noch nicht entschwunden. Zumal wenn die Strafe zu selten vollstreckt wird, als daß der Scharfrichter die nötige Erfahrung sammeln und in Übung bleiben könnte, sind Zwischenfälle zu befürchten, die den Delinquenten Torturen unterwerfen, deren Verfassungswidrigkeit außer Frage steht. Verzögerung und etwaige technische Mängel des Strafvollzuges werden sich gering halten, aber nicht vermeiden lassen; sie verdienen deshalb im Hinblick auf Art. 1 GG Beachtung. Darüber hinaus ergibt sich aus der Pflicht zur Wahrung der Menschenwürde ein weiteres, grundsätzliches Problem. Solange Schuld und Sühne in unserem Strafrecht eine Rolle spielen, wird der Ausspruch eines Todesurteils bedeuten, daß der Verbrecher seiner Taten wegen sein Leben verwirkt habe. Durch diese immanente Wertung unterscheidet sich die Tötung des Menschen auf dem Schafott prinzipiell vom tödlichen Schlag, mit dem ein Überfallener Notwehr übt, und vom tödlichen Schuß, mit dem ein Polizist den flüchtigen Räuber erlegt. Art. 1 GG steht aber der Vorstellung schroff entgegen, daß ein Mensch — aus welchen Gründen immer — nicht wert sein könne, am Leben zu bleiben. Die Moralität des Individuums spielt dabei keine Rolle; wenn wir seine Würde erhalten wollen, dürfen wir deren Grundlage und Voraussetzung nicht beseitigen. Es wäre ein absurder Gedanke, vom Mörder während des Prozesses Wahrheitsdrogen, Lügendetektoren, ja selbst heimliche Tonbandaufnahmen als menschenunwürdige Teilein-

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griffe in seine Persönlichkeit fernzuhalten und ihm am Ende um dieselbe gänzlich zu verkürzen. Betrachten wir nun den Personenkreis der am Urteilsspruch und -Vollzug Beteiligten. Die aus dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen sich ergebende Pflicht zur Verhängung eines Todesurteils zwingt Richter und Geschworene, das nach unseren Begriffen höchste Rechtsgut abzusprechen und festzustellen, daß ein Mensch nicht länger lebenswürdig sei. Die seelische Belastung des am Urteil Mitwirkenden, der pflichtgemäß entscheiden will oder, majorisiert, der Mitverantwortung nicht entgehen kann, ist nicht zu unterschätzen. Er gerät in eine Zwangslage, die bei nicht hinreichend robusten Naturen zum lange nachwirkenden nervösen Trauma oder zur akuten Psychose führen kann. Die Empfindlichkeit in dieser Hinsicht hat möglicherweise in den letzten Jahrzehnten zugenommen; doch sind schon aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts Fälle bekannt, in denen Richter unter Depressionen gelitten, Geschworene sich das Leben genommen haben (Hitzigs Ann. 3, 1829). Darf der Staat eine Verantwortung aufbürden, die den Richter zusammenbrechen läßt, und vielleicht, wie wir aus der Weimarer Republik wissen, noch die Gnadeninstanz am grünen Tisch aufs stärkste mitnimmt? Die Frage nach der Würde des Menschen kann hier von .höheren Interessen' nicht zum Schweigen gebracht werden, sie hat nach dem Grundgesetz absoluten Vorrang. Sie stellt sich auch bei dem Tatbeitrag anderer Personen; bei der Witwe etwa, der die Kosten für die Tötung des Ehemannes auferlegt werden, bei Solennitätszeugen und Geistlichen, die der abstoßenden Prozedur beiwohnen müssen. Sie stellt sich schließlich auch beim Henker, der bei Einführung der Todesstrafe wieder zu Unehren käme. Die Exekution selbst ist kein Problem erzwungener Pflichterfüllung. Die Erfahrung zeigt, daß Staaten, die der Todesstrafe anhängen, sich um die Besetzung des Scharfrichterpostens nicht zu sorgen brauchen. Als Mr. Berry sich 1883 in England bewarb, war er einer von etwa 1400 Interessenten; 1949 hören wir, daß wöchentlich ungefähr 5 Leute um eine Assistentenstelle bei Mr. Pierrepoint nachsuchten; auf eine Vakanz in Frankreich meldeten sich 1951 mehr als 400 Kandidaten. Hier hegen also keine personellen Schwierigkeiten. Darf aber ein Staat, der in seiner Rechtsprechung einen durchaus anspruchsvollen Begriff von Menschenwürde entwickelt hat, einen Beruf etablieren, der sich mit der gewerbsmäßigen Tötung von Menschen befaßt? Darf dem dienstwilligen Amtsbewerber Gelegenheit geboten werden, sich selbst zu solcher Arbeit zu erniedrigen ? Auf diese Frage ist ein Einwand möglich, der von Retentionisten gelegentlich gebracht worden ist: Die Legitimation des Henkers ähnelt der des Soldaten, an dessen Würde keiner zweifelt und

dem Töten zum Beruf gehört. Daß Scharfrichter als Hilfsorgane der Staatsanwaltschaft genauso gerechtfertigt Leben auslöschen wie Angehörige der bewaffneten Macht, trifft sicher zu. Daraus aber eine ähnliche Einschätzung der Berufe abzuleiten, hieße Wesentliches übersehen. Die Pflicht zum Töten ist beim modernen Soldaten nicht dominanter Daseinszweck, sondern akzidentiell in andere Aufgaben eingelagert. Wer ein vergleichbares Berufsbild sucht, wird zum Gladiator alten Stils zurückblicken müssen, um ein auch nur entfernt ähnliches Vorwiegen der Tötungsfunktion zu finden. Es ist aber gerade die nur dem Henkeramt eigentümliche Professionalisierung des Tötens, die mit ihren Nebenerscheinungen — man denke an Lehrzeit, handwerkliche Routine, Pro-Kopf-Einkommen und Berufsstolz — dem Art. 1 GG entschieden widerspricht. Wahrscheinlich ging, wie erwähnt, schon die alte Unehrlichkeit des Scharfrichters auf das hier einmal gesunde Empfinden des Volkes zurück, daß ein solcher Beruf des Menschen nicht würdig sei. Daß er mehr als jeder andere auch den Rohling psychisch deformiert und aufreibt, läßt sich aus dem Auftreten geistiger Störungen und aus auffälliger Selbstmordneigung schließen, der H. v. Hentig (1962) nachgegangen ist: „Der deutsche Scharfrichter Schwietz hat sich erschossen. . . . Sein Nachfolger Späthe hat sich ebenfalls selbst entleibt. Der Henker des Staates Victoria in Australien schnitt sich 1924 die Kehle ab. William Billington in England brachte im Jahre 1925 sich und seine Familie um. Unter Alfons XIII. verübte der spanische Henker Selbstmord. In Wien endete 1936 Josef Lang sein L e b e n . . . John Ellis, ein anderer britischer Scharfrichter, erlitt nach der Exekution der Frau Thompson einen nervösen Zusammenbruch und legte 1932 Hand an sich." Hämatophobie wie im Falle A. Deiblers und schwere Depressionen, die Hilbert in Sing-Sing zum Suizid getrieben haben, sind als Berufskrankheiten bekanntgeworden, Folgen einer Tätigkeit, die sich in einem Staat verbietet, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Würde des Menschen notfalls auch gegen dessen Willen zu bewahren. Im Hinblick auf die erwähnten Wirkungen auf die am Urteil und Vollzug Beteiligten ist ernstlich zu erwägen, ob in der Bundesrepublik nicht die Rücksicht auf Art. 1 GG einer Wiedereinführung der Todesstrafe entgegenstehen würde, auch wenn schwerwiegende kriminalpolitische Erwägungen sie nahelegen sollten. Ungeachtet dessen ist die Todesstrafe nach den bisherigen Erfahrungen unter geordneten, rechtsstaatlichen Verhältnissen ein nur wenig wirksames und jedenfalls nicht notwendiges Mittel zur Bekämpfung der schwersten Kriminalität. (Stand: 1970) Neuere Literatur zur Diskussion um die Todesstrafe:

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Tötungsdelikte, fahrlässige

Ergänzungsband

TÖTUNGSDELIKTE, NICHT-FAHRLÄSSIGE FORENSISCH-PSYCHIATRISCHER BEITRAG A. Die gesetzlichen Bestimmungen 1.

Vorbemerkungen

Die rechtliche und moralische Bewertung der Tötung eines anderen Menschen unterliegt extremen Schwankungen. Als Beseitigung eines Tyrannen kann sie als eine Heldentat gelten, im Krieg als eine selbstverständlich übernommene Pflicht, bei der Exekution als eine notwendige aber wenig ehrenhafte Aufgabe, beim Mord als ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Der Modell-

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Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

fall der Tyrannentötung veranschaulicht, daß sie sogar beides sein kann — ehrenvoll und verabscheuungswürdig — je nach ihrem Gelingen. Über die schwankende Bewertung von Tötungshandlungen belehren weiterhin die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung in den einzelnen Rechtskreisen (Seagle) und der Vergleich der gesetzlichen Regelungen, die für die Tötungsdelikte in den verschiedenen Staaten gefunden wurden (König, Mezger-Blei), ferner auch der Verlauf, den manche Schwurgerichtsprozesse nehmen. Geprägt durch die zahllosen literarischen Bearbeitungen dieses Sujets, bilden im Bewußtsein der Öffentlichkeit die Überführung des Täters und die Furcht vor dem Fehlurteil, dem Justizirrtum, die Hauptprobleme des Mordprozesses, die tatsächlich jedoch nicht diese große Bedeutung haben. Für das Gericht verdichtet sich mit der Frage nach dem „gerechten" Urteil im einzelnen Fall die gesamte mit der Bewertung von Tötungsdelikten verbundene Problematik. Hier erweist sich die praktische Brauchbarkeit eines Gesetzes, an das der Richter in seinem Spruch gebunden ist: ob er es auf dem Wege zu dem, was er für gerecht hält, als Stütze empfindet oder als Hindernis. 2. Bundesrepublik

Deutschland

Das in der Bundesrepublik Deutschland gültige Strafgesetzbuch von 1871 enthält die Bestimmungen über die Tötungskriminalität in seinem 16. Abschnitt. Daß es daneben bis 1969 noch detaillierte Bestimmungen über den Zweikampf bereithielt, vermag die erwähnten generellen Wandlungen der Anschauungen auf sozusagen engstem Raum zu demonstrieren. Die Bestimmungen, die den Mord und den Totschlag betreffen, wurden durch das Gesetz vom 4. 9.1941 neugefaßt. In Anlehnung an ältere Vorentwürfe zu einem Schweizer Strafgesetzbuch wurde das Merkmal der Überlegung, das bis dahin einzig die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag bildete, durch eine Bewertung der Tatmotive, Tatumstände und Tatziele ersetzt. Im § 211 wird der Mord-Tatbestand umschrieben, allerdings in einer Form, die nicht die Tat, sondern den Täter mit dem schwersten Makel versieht: „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist eine Bestrafung gemäß § 212 als Totschläger vorgesehen, für den im § 213 bestimmte Strafmilderungsgründe beschrieben sind. Mildernde Sonderregelungen enthalten auch der § 216 für die Tötung auf Verlangen und der § 217 für die Tötung eines neugeborenen unehelichen Kindes

durch die Mutter in oder gleich nach der Geburt. Die §§ 214 und 216, die den Totschlag in Verbindung mit strafbaren Handlungen und den Aszendententotschlag betrafen, sind durch die Novelle von 1941 fortgefallen. Mit dieser Neuregelung war eine Forderung verwirklicht worden, die Holtzendorff schon 1875 erhoben hatte: die größere oder geringere Stralbarkeit der vorsätzlichen Tötung nach der sittlichen Eigenschaft der Motive abzustufen und die Höchststrafe nicht von dem Gegensatz von überlegter und nicht überlegter Tatausführung abhängig zu machen. Das Unterscheidungsmerkmal der Überlegung, das man bei anderen Straftaten nicht berücksichtige, so hatte Holtzendorff angemerkt, bedinge „eine Vervielfältigung in den Mängeln der Rechtspflege". Nach einem Vierteljahrhundert Erfahrung mit dem jetzigen § 211 läßt sich allerdings sagen, daß die Neuformulierung die Schwierigkeiten keineswegs verminderte. Als besonders problemgeladen gaben sich die Merkmale der niedrigen Beweggründe, der Heimtücke und der Grausamkeit zu erkennen. Die korrigierende Auslegung, zu der sich die höchstrichterliche Rechtsprechung veranlaßt sah, stieß auf viel Kritik und Widerspruch. Für die Tatgerichte gewann diese Rechtsprechung mitunter die Bedeutung eines komplizierten Systems von Falltüren. Die Erfahrungen, die man mit den verschiedenen Umschreibungen des Mordtatbestandes gemacht hatte, nahmen in den Diskussionen der Großen Strafrechtskommission bei den Beratungen über die Neugestaltung dieser Bestimmung im künftigen Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland einen breiten Raum ein. Man war bemüht, die vollkommene Lösung gewissermaßen auszusieben, obwohl man sich bald einig war, daß es sie nicht gibt. Das Resultat führt die Probleme gedrängt vor Augen; die Bestimmungen sollen daher — unabhängig davon, ob sie je Gesetzeskraft erlangen — referiert werden. Die Grundfrage war, ob man sich nach dem Vorbild des Schweizer Strafrechts mit einer Generalklausel begnügen sollte. Der Gedanke wurde verworfen, weil man fürchtete, die Urteile der Tatgerichte würden dann zu stark variieren. Der Gesetzgeber müsse es als seine Aufgabe ansehen, heißt es in der amtlichen Begründung, die Bestimmtheit der Tatbestände besonders scharf bei solchen Strafandrohungen auszuprägen, die schwerste Strafen ohne die Möglichkeit der Milderung aus Ermessensgründen vorsehen. Für den Mordtatbestand müsse der Maßstab der besonderen Verwerflichkeit durch einzelne, möglichst bestimmte Tatbestandsmerkmale im Gesetz erschöpfend zum Ausdruck gebracht werden. Zum Grundtatbestand wurde, um die bislang möglichen widersprechenden Auslegungen zu vermeiden, im § 134 Ε 1962 ausdrücklich der Totschlag bestimmt, für den als

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige Regelfall Zuchthaus nicht unter fünf (und bis 20) Jahre vorgesehen ist. Als Milderungstatbestände werden im Abs. 2 des gleichen Paragraphen die heftige Gemütserregung und im Abs. 3 Mitleid, Verzweiflung und — allgemein — wesentlich schuldmindernde Gründe genannt. Für den Mord (§ 135), der grundsätzlich mit lebenslangem Zuchthaus zu bestrafen ist, gelten als absolute Merkmale Mordlust, Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier und die Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen, sowie als relatives Mordmerkmal — die Überlegung. Dies letztgenannte Merkmal soll jedoch nicht berücksichtigt werden, wenn die Voraussetzungen des § 134 Abs. 3 vorliegen. Als weitere privilegierte Formen der vorsätzlichen Tötung kennt der Ε 1962 die Kindstötung (bei Unehelichkeit) und die Tötung auf Verlangen. 3. Andere deutschsprachige

Länder

Das Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 1 2 . 1 . 1 9 6 8 nennt im § 112 als Grundtatbestand den Mord, der mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht ist. Auf Todesstrafe kann erkannt werden, wenn die Tat ein Staats- oder Kriegsverbrechen ist, wenn sie mit gemeingefährlichen Mitteln oder Methoden begangen wird oder Furcht und Schrecken unter der Bevölkerung auslösen soll, wenn sie heimtückisch oder in besonders brutaler Weise begangen wird sowie bei Mehrfach- und Rückfalltätern und nach mehrfacher Bestrafung wegen Gewaltverbrechen. Nach § 113 sind bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe wegen Totschlags vorgesehen, wenn die Tat in einem provozierten Affekt oder als Tötung eines Neugeborenen durch die Mutter begangen wurde oder „wenn besondere Tatumstände vorliegen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit mindern". Unter den übrigen deutschsprachigen Ländern geht Österreich vom Grundtatbestand des „gemeinen Mordes" aus; als schwere Arten gelten Meuchelmord, Raubmord und bestellter Mord, für die bei Versuch und Teilnahme höhere Bestrafungen vorgesehen sind. Weitere Bestimmungen beziehen sich auf den Kindsmord, die Tötung auf Verlangen und die Mitwirkung am Selbstmord. Totschlag ist gegeben, wenn die zum Tode führende Handlung zwar nicht in Tötungsabsicht, „aber doch in anderer feindseliger Absicht ausgeübt" wurde. In der Schweiz heißt der Grundtatbestand „vorsätzliche Tötung". Mord liegt vor, wenn der Täter „unter Umständen oder mit einer Überlegung getötet" hat, „die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder seine Gefährlichkeit offenbaren...". Das Schweizer Recht kennt außerdem den Totschlag in einer entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung, die Tötung auf Ver23*

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langen, die Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord und die Kindstötung. 4. Das übrige Ausland Der bisher gegebene Ausschnitt reflektiert bereits ein ziemlich buntes, von vielen Perspektiven bestimmtes Bild. Die wesentlichen Elemente, die in den anderen Ländern Qualifizierungstatbestände für besondere Formen der vorsätzlichen Tötung bilden, sind darin bereits enthalten. Zum Teil beschränkt man sich mit der Aufzählung einiger weniger besonderer Tatbestände (ζ. B . Frankreich), andere Gesetzbücher — wie die der meisten südamerikanischen Staaten — enthalten eine umfangreiche Kasuistik. Strafverschärfungsgründe sind insbesondere Überlegung oder Vorbedacht, eine besondere Tatausführungsart, ein verwerfliches Tatmotiv, verwandtschaftliche Beziehungen zum Opfer oder Rückfall. Als Strafmilderungsgrund gilt in erster Linie die heftige Gemütserregung. Die Regelungen, die spezielle Tattypen wie die Kindstötung, die Tötung auf Verlangen und die Mitwirkung am Selbstmord betreffen, weisen ebenfalls erhebliche Variabilität auf; erwähnenswert ist, daß die Privilegierung der Kindstötung sich in manchen romanischen Ländern auch auf Angehörige der Kindsmutter erstreckt. Das angelsächsische Recht unterscheidet Mord, Totschlag, Selbstmord, Kindstötung und die Verheimlichung der Geburt eines vor, während oder nach der Geburt gestorbenen Kindes. Mord ist durch „malice aforethought" (bösen Vorbedacht) gekennzeichnet, ein Begriff, der sich auf Heinrich V I I I . und das Jahr 1531 zurückverfolgen läßt und sehr viel Diskussion entfacht hat. „Malice aforethought" kann als tatsächlicher Vorsatz vorhanden sein (express) oder sich durch die Handlungen des Täters kundtun (implied). Im wesentlichen umfaßt der ursprüngliche Mordtatbestand alle Fälle, in denen der Täter weiß, daß die Handlung geeignet ist, den Tod oder eine schwere Verletzung herbeizuführen, bei denen Widerstand gegen die Polizei geleistet wurde oder bei Gewalttaten in Verbindung mit einem Verbrechen. Beim Totschlag (manslaughter) werden zwei Formen unterschieden: gewollter Totschlag, dessen Haupttyp die Affekttat ist, und ungewollter Totschlag, der in einer fahrlässigen Tötung besteht. Durch den Homicide Act wurde 1957 in England der Tatbestand des Mordes praktisch neu definiert. Das Gesetz beseitigte die Lehre des „constructive malice", nach der jede Tötung durch eine Gewalttat bei Begehung eines Verbrechens Mord sein konnte, und schuf die Bestimmung, daß bei Vorliegen verminderter Zurechnungsfähigkeit der Täter nicht wegen Mordes verurteilt werden soll. Das gleiche Gesetz engte auch die Anwendung der Todesstrafe auf ganz bestimmte

356

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

Tattypen ein; inzwischen (1965) wurde in England die Todesstrafe für Mord abgeschafft. Durch Gesetzgebung der meisten Bundesstaaten war in den USA, in denen das gleiche Grundkonzept gilt wie in England, bereits zuvor eine Abstufung des Mordtatbestandes geschaffen. Murder in the Second Degree ist die kriminelle — also nicht rein fahrlässige — Tötung eines Menschen, wenn eine Tötungsabsicht nicht nachgewiesen werden kann. Murder in the First Degree ist die schwerere, durch Vorbedacht oder andere erschwerende Umstände gekennzeichnete Form. Der Begriff des Manslaughter umfaßt die Affekttat und die (nicht entschuldbare) fahrlässige Tötung. Die Definitionen in den einzelnen Bundesstaaten sind unterschiedlich. (Einzelheiten der ausländischen Regelungen vgl. bei D. König.) B. Häufigkeit 1. Internationaler

Vergleich

Die von Land zu Land stark differierenden gesetzlichen Bestimmungen machen es praktisch unmöglich, die Häufigkeit der vorsätzlichen Tötungskriminalität international zu vergleichen. Nur erhebliche Differenzen der gemeldeten Ziffern oder sich abzeichnende Trends verdienen einige Beachtung; Schwankungen können durch Änderungen des statistischen Erfassungsmodus bedingt sein. Zudem geht in die Statistik natürlich nur ein, was zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden kommt und von diesen als Straftat gewertet wird. Dies hängt wieder von der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung ab wie von der Einstellung und Effektivität der mit dem Vorkommnis befaßten Polizei (-»• Statistik und Kriminalität). Die in Tabelle 1 wiedergegebenen Häufigkeitsziffern der International Criminal Statistics können also nur mit vielen Vorbehalten verwertet werden. Die von Interpol herausgegebene Zusammenstellung, für die eine gewisse Einheitlichkeit der Registrierung angestrebt wird, stützt sich auf polizeiliche Unterlagen. Die Tabelle gibt also keinen Aufschluß darüber, wieviele Personen rechtskräftig als Mörder oder Totschläger verurteilt worden sind, sondern enthält die von der Polizei erfaßten Taten. Aus kriminologischer Sicht sind diese Angaben bedeutsamer als die Verurteiltenziffern, weil sie bessere Rückschlüsse auf die für eine Bevölkerung bestehende Gefährdung, Opfer eines Tötungsverbrechens zu werden, erlauben. Zwischen Straftatenziffer, Täterziffer und Verurteiltenziffer bestehen gewisse Relationen, die durch Tattypen, polizeiliche Tätigkeit und Rechtspraxis bestimmt werden (->- Statistik und Kriminalität). Nachteil der polizeilichen Tatermittlungsstatistik ist nach dem Ergebnis eigener Untersuchungen, daß für die Registrierung verhältnismäßig

grobe Kriterien verwendet werden. Es werden alle Fälle erfaßt, bei denen sich aus Tatumständen Verdachtsmomente auf Vorliegen einer vorsätzlichen Tötung oder eines Tötungsversuchs ergeben. Bei den vollendeten Fällen kann nach weiterer Bearbeitung der Verdacht vielfach nicht mehr aufrechterhalten werden, weil durch Sektion Tabelle 1 Internationale Mordstatistik. Häufigkeitsziffern ausgewählter Länder für das Jahr 1964. Nach: International Criminal Statistics (Interpol). (Bezogen auf 100 000 der Bevölkerung) 24,2 Äthiopien Argentinien 8,1 Burma 28,3 Ceylon 7,1 Dänemark 0,9 Deutschland (B.R.) 2,7 Finnland 2,1 Formosa 7,8 Frankreich 2,8 Großbritannien 1,0 Hongkong 1,3 Indien 3,8 Irland 0,6 Israel 3,5 Italien 2,6 Jamaika 3,7 Japan 2,4 Kanada 2,1 Kenia 6,8 Libanon 36,6

Libyen Malaysia Marokko Neuseeland Niederlande Nigeria Österreich Peru Philippinen Saudi Arabien Schweden Singapur Sudan Tansania Thailand Tunesien Türkei Uganda USA Ver. Arab. Rep.

12,1 2,7 1,6 0,8 2,9 1,9 2,0 19,5 18,1 20,8 2,1 4,6 8,2 7,3 29,3 1,4 5,1 20,4 4,8 4,1

ein Ableben aus natürlicher Ursache festgestellt wird oder der Zusammenhang zwischen einer stattgehabten Einwirkung und der Todesursache nicht sicher nachgewiesen werden kann. Die Ermittlungsverfahren werden von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Bei den Versuchshandlungen entscheidet die viele Variationen zulassende Würdigung der inneren Tatseite über den weiteren Verlauf des Verfahrens. Nach der wiedergegebenen Übersicht weisen vornehmlich die wenig entwickelten Länder hohe Quoten auf, während von den Industrienationen niedrige Häufigkeitsziffern gemeldet werden. Eine gleichzeitige Betrachtung der für andere Delikte angegebenen Kriminalitätsziffer ergibt, daß ein reziprokes Verhältnis zur Eigentumskriminalität besteht. Die hochindustrialisierten Länder mit geringer Tötungskriminalität sind am stärksten mit Diebstahl belastet (ζ. B. Dänemark, Deutsch-

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige land, Großbritannien, Japan, Schweden), die Entwicklungsländer weniger. Diese Regel gilt jedoch nicht durchgehend. Die Häufigkeitsziffern können auch beide relativ hoch oder beide relativ niedrig sein. Verbindliche Schlüsse sind wegen der erwähnten Erfassungsungewißheiten allerdings aus diesem Material kaum zu ziehen. Es ist möglich, daß der im Gefolge von Technisierung und Zivilisierung eintretende Wandel des Lebensstils auch eine Änderung der Bereitschaft zur tödlichen Gewaltanwendung nach sich zieht. Die von Seagle referierten Zahlen aus älteren europäischen Statistiken weisen darauf hin, daß bereits in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine rückläufige Tendenz der Tötungskriminalität zu verzeichnen war. Sie könnte auch einer „realen" Verminderung entsprechen. Für den in den letzten Jahrzehnten in den USA registrierten Rückgang hat nämlich Wolfgang zur Diskussion gestellt, daß die schnellere und bessere medizinische Versorgung von Schwerverletzten hierfür entscheidend sein kann, weil die übrige Gewaltkriminalität (Körperverletzung, Notzucht) im gleichen Zeitraum zunahm. Die Frage müßte eingehender bearbeitet werden. Von den 385 Opfern eines eigenen Untersuchungskollektivs starben 81 ( = 21%) erst im Krankenhaus. Unter 101 Personen, die Opfer eines von der Staatsanwaltschaft als Mord- oder Totschlagversuch gewerteten Verbrechens geworden waren, lagen bei 20 eindeutig lebensgefährliche Verletzungen vor, 36 waren dagegen nicht oder nur geringfügig verletzt.

2. Bundesrepublik

Deutschland

a) S t r a f t a t e n z i f f e r n . Die in Tabelle 1 für die Bundesrepublik Deutschland angegebene Häufigkeitsziffer bezieht sich auf die von der Bundeskriminalstatistik erfaßten Fälle vollendeten Mordes und Totschlags und auf die Versuche. Das Risiko, Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat zu werden, ist nicht groß. Selbst unter den gewaltsamen Todesfällen nehmen die vorsätzlichen Tötungen nur einen sehr kleinen Anteil ein. Als Beispiel sei das Jahr 1965 herausgegriffen. Nach Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes starben in diesem Jahr 15 564 Personen durch Kraftfahrzeugunfälle, 19 480 durch andere Unfälle, 11 779 durch Selbstmord und 764 durch Mord und Totschlag. Von allen Personen, die einen gewaltsamen Tod fanden, wurden also nur 1,6% Opfer einer vorsätzlichen Tötung. Das öffentliche Interesse deckt sich nicht mit dieser Verteilung. Vorsätzliche Tötungen finden weite Beachtung, Kraftfahrzeugunfälle und Selbstmorde beanspruchen noch einiges Interesse, von der großen Zahl der übrigen Unfalltoten wird kaum Notiz genommen.

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Die alljährlich bei Veröffentlichung der Kriminalstatistik durch das Bundeskriminalamt auftauchende Frage richtet sich auf die Kriminalitätsbewegung: Haben Mord und Totschlag zuoder abgenommen? Die Frage läßt sich durch Analyse der Tatermittlungsstatistik keineswegs zwanglos beantworten. Die Tatermittlungsstatistik wurde in Deutschland erst 1936 eingeführt, ihre Veröffentlichung wurde 1953 durch das Bundeskriminalamt wieder aufgenommen. Tabelle 2 gibt die seitdem veröffentlichten Häufigkeitsziffern wieder. Neben Mord und Totschlag (nebst Versuchen) wurden in die Tabelle auch die Angaben für die Kindstötung und die Körperverletzung mit Todesfolge aufgenommen, weil nur in dieser Synopsis eine Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse zu erwarten ist. Die Körperverletzung mit Todesfolge parallel zu dem Delikt „Mord und Totschlag" zu sehen, ist nicht nur im Hinblick auf die Gleichbehandlung dieser Delikte in ausländischen Regelungen berechtigt. Daß hier ein sozusagen himmelweiter Unterschied besteht, von dem nach deutschem Recht auszugehen wäre, wird schon dadurch widerlegt, daß Mord- oder Totschlaganklagen nicht selten zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge führen, also auch bei Würdigung aller Tatumstände differierende juristische Auffassungen möglich sind. Es ist nicht anzunehmen, daß für die den Fall am Anfang bearbeitenden Kriminalbeamten mindere Schwierigkeiten bestehen. Einzig sicherer Sachverhalt bei beiden Delikttypen ist, daß die Tötung Resultat einer gezielt gegen das Opfer geführten — d. h. nicht rein fahrlässigen — Handlung ist. Die Bewertung der Intention, die beim Täter bestanden hat, ist weitgehend Frage des Ermessens. Zwischen den idealtypisch ausgeprägten Extremfällen finden sich viele Schattierungen. Klammert man zunächst die für die Versuche angegebenen Ziffern aus, gestattet eine Betrachtung der verschiedenen Kolumnen sowohl den Schluß, daß die Tötungsverbrechen zugenommen haben, wie auch den, daß sie abgenommen haben. Die Abnahme des Delikts der Kindstötung ist eindeutig. Dagegen steht der — bis 1967 — stetigen Zunahme der Mord- und Totschlagsfälle ein Rückgang der Körperverletzung mit Todesfolge gegenüber. Faßt man die beiden Reihen zusammen, ist die Gesamtzahl der Tötungen zurückgegangen. Ob dieser Schluß berechtigt ist, wird allerdings wieder deswegen zweifelhaft, weil für das Delikt der Körperverletzung mit Todesfolge zunächst offenbar Registrierungsunsicherheiten bestanden, die nicht nur die Abgrenzung gegenüber den Mord- und Totschlagsdelikten betreffen. Nach einer eigenen Untersuchung der Tötungskriminalität in Hamburg gilt dies sicher für die Statistik in diesem Bundesland. Die Vermutung wird bereits durch Betrachtung der im Statisti-

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Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

sehen Jahrbuch Hamburgs veröffentlichten Fallzahlen nahegelegt. Zwischen 1952 und 1956 schwanken sie zwischen 40 und 65 pro Jahr, 1957 fallen sie (von 62) auf 29,1959 auf 9; seitdem liegt die Zahl der von der Polizei jährlich registrierten Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge um und unter 10. Ein derartig abrupter Abfall liegt außerhalb der Erwartung. Da er auch nicht durch entsprechende Schwankungen bei den für Mord und Totschlag genannten Zahlen ausgeglichen werden kann, ist zu vermuten, daß in den ersten Jahren in diese Kategorie noch Fälle rein fahrlässiger Tötung aufgenommen wurden. In noch stärkerem Maße als bei den vollendeten Delikten unterliegt es dem Ermessen, zu entscheiden, ob ein auf eine Person gerichteter Angriff als Mord- bzw. Totschlagversuch oder nur als Körperverletzung anzusehen ist. Dies wird anschaulich durch eine von Rangol vorgelegte Analyse des statistischen Materials belegt. Von 100 ermittelten Tätern, die einer vollendeten vorsätzlichen Tötung verdächtig waren, wurden zwischen 1957 und 1962 42% bis 52% auch wegen Mordes oder Totschlags verurteilt. Von den Tätern, die nach Ermittlung der Polizei eine Tötung versucht haben sollen, waren es nur 15% bis 19%. Polizeiliche und gerichtliche Auffassung deckten sich bezüglich des Tötungsvorsatzes also in weniger als Vs der Fälle. b) S t r a f v e r f o l g u n g s s t a t i s t i k . Eine andere Quelle, Überblick über Häufigkeit und Schwankungen der Kriminalität zu erhalten, ist die Strafverfolgungsstatistik. In ihr wird gezählt, wieviele Personen nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen rechtskräftig verurteilt werden. Die Verurteiltenziffer ergibt sich aus der Relation der absoluten Zahlen zur strafmündigen Bevölkerung, wobei es wegen der kleinen Grundzahlen zweckmäßig ist, die Verurteilungen wegen Mordes oder wegen Totschlags auf 1 Million der strafmündigen Bevölkerung zu beziehen. Die Strafverfolgungsstatistik ermöglicht einen Überblick über einen längeren Zeitraum als die Kriminalstatistik, da sie bereits seit 1882 einheitlich für das Reichs- bzw. Bundesgebiet geführt wird. Faßt man, um Zufallsschwankungen einzelner Jahre abzugleichen, jeweils mehrere Jahre zusammen, ergibt sich nach einer Zusammenstellung von Rangol folgender Verlauf: Im Reichsgebiet wurden zwischen 1884 und 1892 im Jahr durchschnittlich 269 Personen wegen Mordes und Totschlags verurteilt, davon 123 wegen Mordes und 146 wegen Totschlags; die entsprechenden Verurteiltenziffern sind 7,9; 3,6; 4,3. Zwischen 1924 und 1932 betrug die durchschnittliche jährliche Gesamtzahl 520, davon für Mord 124 und für Totschlag 396; die Verurteiltenziffern waren 10,6; 2,5; 8,1. Für die Jahre 1954 bis 1962 ergab sich — bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland — als Durchschnitt die

Gesamtzahl von 249, davon 116 für Mord und 132 für Totschlag; hier waren die Verurteiltenziffern 5,1; 2,8; 3,2. Die Zahlen für den Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg liegen also am niedrigsten. Bezüglich der Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag ist zu berücksichtigen, daß die Mordqualifikation 1941 neu gefaßt wurde. Für das erhebliche Überwiegen der Verurteilungen wegen Totschlags in den zwanziger Jahren wird von Rangol die Möglichkeit diskutiert, daß die Schwurgerichte auf diese Weise versuchten, der damals bei Mord vorgeschriebenen Verhängung der Todesstrafe auszuweichen. Man wird darüberhinaus zu berücksichtigen haben, daß die relativ hohe Gesamtzahl durch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen politischen Gruppen beeinflußt wurde, also durch Taten, die ohnehin eine weniger harte Bestrafung nahelegten. Die Angaben der Verurteiltenstatistik beziehen sich auf die vollendeten Delikte und die Versuche; erst seit 1956 werden sie gesondert ausgewiesen. In dem seither überschaubaren Dezennium schwankten die Verurteiltenziffern für vollendeten Mord zwischen 1,7 und 2,4; für vollendeten Totschlag zwischen 1,6 und 2,1; für versuchten Mord zwischen 1,0 und 1,5; für versuchten Totschlag zwischen 1,5 und 1,9. Bei unterschiedlicher Verteilung in den einzelnen Gruppen ist die Gesamttendenz in den letzten Jahren — bis 1966 — leicht ansteigend. Im Hinblick auf die steigende Zahl von Mord- und Totschlagfällen, die die Polizeiliche Kriminalstatistik für die letzten Jahre gemeldet hat, entspricht dieser Trend der Strafverfolgungsstatistik der Erwartung. Andererseits ist zu bedenken, daß die Verurteiltenziffern auch durch die in den letzten Jahren zur Aburteilung gekommenen NS-Verbrechen erhöht worden sein dürften (Rangol). Zwischen der Zahl der von der Polizei für Mord und Totschlag ermittelten Täter und der Zahl der wegen dieser Delikte rechtskräftig verurteilten Personen besteht eine erhebliche Differenz. Wie bereits erwähnt, werden bei den vollendeten Delikten nur knapp die Hälfte verurteilt, bei den Versuchen sind es weniger als ein Fünftel. Diese Reduzierung ist durch mehrere Momente bedingt. Eine wesentliche Einflußgröße ist der Umstand, daß ein großer Teil der von der Polizei festgestellten Täter in Verbindung mit oder nach der Tat oder vor der Hauptverhandlung Selbstmord begeht. In einem nach bestimmten Kriterien ausgelesenen Kollektiv von 359 Tätem, die ein vollendetes nicht-fahrlässiges Tötungsdelikt begangen hatten, betrug ihr Anteil 20% (s. unten). Die weitere Verminderung tritt durch die von der polizeilichen Registrierung abweichende rechtliche Würdigung des Falles durch Gericht oder Staatsanwaltschaft ein. Das Verfahren kann bereits von der Staatsanwaltschaft eingestellt wer-

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

359

Tabelle 2 Nicht-fahrlässige Tötungsdelikte in der Bundesrepublik Deutschland 1953—1972. (Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes)

Jahr 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971*) 1972

Mord und Totschlag

Körperverletzung mit Todesfolge

Kindstötung

Mord und Totschlag Versuche

absolut

HZ

absolut

HZ

absolut

HZ

absolut

HZ

325 390 371 332 326 330 354 355 382 397 442 471 482 534 599 539 662 779 666 779

0,6 0,8 0,7 0,6 0,6 0,6 0,6 0,6 0,7 0,7 0,8 0,8 0,8 0,9 1,0 0,9 1,1 1,3 1,1 1,3

744 820 807 709 654 677 613 592 566 513 295 312 274 236 229 194 225 210 200 221

1,5 1,6 1,6 1,3 1,2 1,1 1,1 1,1 1,0 0,9 0,5 0,5 0,5 0,4 0,4 0,3 0,4 0,3 0,3 0,4

205 153 157 130 139 100 105 99 91 89 83 100 78 78 83 77 87 74 55 65

0,4 0,3 0,3 0,3 0,3 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,1 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1

518 528 556 567 589 618 666 761 708 824 866 977 1074 1252 1309 1294 1366 1624 1798 1950

1,1 1,0 1,0 1,1 1,1 1,1 1,2 1,4 1,3 1,4 1,5 1,7 1,8 2,1 2,2 2,2 2,2 2,6 2,9 3,2

HZ = Häufigkeitsziffer: bekanntgewordene Taten pro 100 000 der Bevölkerung. *) Infolge Änderung der statistischen Erfassungsmodalitäten ab 1971 sind die für die folgenden Jahre angegebenen Ziffern mit den früheren nicht mehr streng vergleichbar. den, weil das objektive Verschulden des polizeilich als Täter Ermittelten nicht sicher nachweisbar ist. Aus subjektiven Gründen kann Einstellung wegen Strafunmündigkeit, Notwehr oder Unzurechnungsfähigkeit erfolgen, im letztgenannten Fall, wenn besondere Voraussetzungen die Einleitung eines Sicherungsverfahrens erübrigen. Bei den zur Anklage und Aburteilung kommenden Fällen besteht die Möglichkeit einer Verurteilung aus anderen gesetzlichen Bestimmungen, in erster Linie wegen erfolgsqualifizierter Delikte (Körperverletzung, Giftbeibringung, Notzucht oder Raub mit Todesfolge), ferner wegen Tötung auf Verlangen oder wegen einer Rauschtat (§ 330 a StGB). c) T ö t u n g s d e l i k t e H a m b u r g . Das bisher Entwickelte läßt erkennen, daß es nur sehr bedingt möglich ist, an Hand der offiziellen Statistiken Einblicke in die „reale Tötungskriminalität" zu bekommen. Legt man den von der Polizei benutzten Registrierungsmodus zugrunde, werden auch Fälle miterfaßt, bei denen kein oder nur fahrlässiges Verschulden vorliegt. Richtet man sich nach den abgeurteilten Fällen, nimmt man in Kauf, daß wesentliche Aspekte der Tötungskriminalität nicht einbegriffen sind.

In einer eigenen Untersuchung in Hamburg wurde versucht, durch Benutzung eines eindeutigen Kriteriums die Tötungskriminalität abgelöst von ihrer letzten rechtlichen Beurteilung und unabhängig von den Unsicherheiten und Schwankungen der statistischen Erfassung in den Blick zu bekommen. Es wurden alle Taten aufgenommen, bei denen durch eine nicht-fahrlässige Handlung der Tod eines Menschen verursacht wurde, sofern zwischen der Einwirkung und dem Todeserfolg ein im naturwissenschaftlichen Sinne sicherer Zusammenhang bestand. Fälle, in denen diese Voraussetzungen nicht gegeben waren, sowie reine Fahrlässigkeitstaten waren im allgemeinen unschwer zu erkennen; sie wurden unabhängig von ihrer primären (polizeilichen) Erfassung ausgeschieden. Somit wurden neben Taten, die die Strafverfolgungsbehörden als Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen und Kindstötung werteten, alle erfolgsqualifizierten Delikte einbezogen (Körperverletzung, Giftbeibringung, Notzucht und Raub mit Todesfolge) sowie alle Taten, die aus subjektiven Gründen (Notwehr, Unzurechnungsfähigkeit, mangelnde Verantwortungsreife, Strafunmündigkeit) oder wegen Ablebens des Täters

360

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

(infolge Selbstmordes, Tötung bei der Festnahme oder natürlichen Tods) eingestellt wurden. Die Untersuchung erstreckte sich auf alle Tötungsdelikte, die zwischen dem 1. Januar 1950 und dem 31. Dezember 1967 auf dem Gebiet der Freien und Hansestadt Hamburg begangen worden waren. Es wurden also keine Fälle aufgenommen, die in Hamburg lediglich zur Aburteilung kamen; umgekehrt wurden jedoch die Fälle aufgenommen, die sich auf dem Stadtgebiet ereignet hatten, jedoch anderenorts — ζ. B. im Ausland — gerichtlich behandelt wurden. Taten, die sich in den ersten zwei Dritteln des Untersuchungszeitraums ereignet hatten, wurden bis zur rechtskräftigen Verurteilung weiterverfolgt. Für besondere Fragestellungen wurden daneben alle Fälle analysiert, in denen wegen einer zwischen 1950 und 1961 begangenen Tat Anklage wegen Mord- oder Totschlagversuchs erhoben wurde, sofern sie sich auf dem Stadtgebiet Hamburgs ereignet hatten. Die ausführliche Darstellung der Ergebnisse, auf die im folgenden verschiedentlich Bezug genommen werden soll, erfolgt in einer Monographie. Die Gesamtzahl der unter den gleichbleibenden Kriterien über den Zeitraum von 18 Jahren erfaßten nicht-fahrlässigen Tötungsdelikte beläuft sich auf 360 Fälle. Die Zahl der bei den Taten ums Leben gekommenen Opfer beträgt 385; von den Tätern wurden 369 ermittelt. Die durchschnittliche Häufigkeitsziffer auf 100 000 der Bevölkerung beträgt für die Opfer 1,2; für die Täter ist die Häufigkeitsziffer ebenfalls 1,2, sowohl wenn man von den ermittelten Tätern ausgeht, als auch wenn man für die 25 nicht-aufgeklärten Fälle mit 26 Opfern noch je einen Täter hinzurechnet, also 384 Täter annimmt. Teilt man den gesamten Untersuchungszeitraum in drei Perioden von je sechs Jahren ein und untersucht sie gesondert, zeigt sich, daß innerhalb dieser Zeit ein Wandel der nicht-fahrlässigen Tötungskriminalität erfolgte, der die quantitative wie auch die qualitative Seite umfaßt. Die Zahl der nicht-fahrlässigen Tötungsdelikte hat zugenommen. In der ersten Periode von 1950 bis 1955 fielen ihnen 107 Personen zum Opfer, die Häufigkeitsziffer ist 1,1. In dem Zeitraum von 1956 bis 1961 war die Zahl der Opfer 117, die Häufigkeitsziffer ist ebenfalls 1,1. Im dritten Abschnitt von 1962 bis 1967 wurden 161 Personen durch nicht-fahrlässige Tötungsdelikte getötet. Dies entspricht einer Häufigkeitsziffer von 1,5. Die Zahl der ermittelten Täter betrug jeweils 105 (HZ 1,0), 103 (HZ 1,0) und 151 (HZ 1,4). Die weitere Analyse des Materials zeigt, daß der während des letzten Zeitraums zu beobachtende Zuwachs sich bereits in einer Veränderung der Tattypen während der sechs vorangegangenen Jahre ankündigte.

Bei der Diskussion dieses Wandels ist es unumgänglich, auf Aspekte der Tötungskriminalität vorzugreifen, die erst in den folgenden Kapiteln eingehender behandelt werden. Ein wesentlicher Indikator für den Typ der Tötungsdelikte innerhalb einer bestimmten Population ist der Anteil der Täter, die bei oder nach der Tat Selbstmord begehen. In den ersten sechs der untersuchten Jahre waren es 34, also 32%; im zweiten Abschnitt waren es 19 = 18%; im dritten waren es 20 = 13%. Selbstmord im Zusammenhang bzw. im Anschluß an eine Fremdtötung folgt am häufigsten dem Muster des sogenannten erweiterten Selbstmords, d. h. der Hineinnahme eines anderen in das eigene Schicksal. Die Tat ist meist Ausdruck eines Verzweifeins angesichts einer unlösbar scheinenden Konfliktsituation. Insgesamt läßt sich gleichzeitig mit einer Steigerung der Tötungsdelinquenz ihre zunehmende „Kriminalisierung" feststellen: angestiegen sind vornehmlich Tötungsdelikte, die Ausfluß von Gewalttätigkeit und Kriminalität sind, während die konfliktbedingten Tötungshandlungen eher abgenommen haben. Dies ist aus einer Übersicht über die verschiedenen Tattypen ablesbar (Tabelle 3). In ihr wurden die Fälle, soweit sie restlos aufgeklärt wurden, nach bestimmten Motivkreisen geordnet. Unter den Taten, denen ein chronischer Konflikt zugrunde lag, haben vor allem jene abgenommen, bei denen der Konflikt die Familie im weiteren Sinne oder die Sozialrolle des Täters betraf. Bei den Gatten- und Geliebtentötungen war im dritten Abschnitt des Untersuchungszeitraumes vornehmlich ein Anstieg von Delikten zu verzeichnen, deren Beteiligte Merkmale sozialer Depravation aufwiesen. Insofern besteht hier eine Parallele zu der Tatsache, daß in den Tattypen, die am meisten zunahmen, ebenfalls eine negative Sozialhaltung zum Ausdruck kommt. Es sind Tötungen, die sich durch Rückgriff auf Gewalt bei relativ banalen Auseinandersetzungen ereigneten, und solche, die im Zusammenhang mit Eigentumsdelikten begangen wurden (Raub und Einbruch). Bei den Taten kranker und abnormer Persönlichkeiten ist kein Trend erkennbar. Die Zahl der Raubmorde ist für die zweite und dritte Periode des untersuchten Zeitraums wahrscheinlich höher zu veranschlagen, da der größte Teil der nicht aufgeklärten Delikte vermutlich als Raubmorde anzusehen sind. Im Einzelfall läßt sich dies jedoch schwer entscheiden, so daß es nicht statthaft scheint, diese Fälle zwanglos den Raubtaten zuzuordnen. Wieweit die referierten Hamburger Daten repräsentativ für die Tötungskriminalität in der Bundesrepublik Deutschland sind, läßt sich nicht sagen, da vergleichbare Untersuchungen anderer Bezirke bislang nicht veröffentlicht wurden. Das Phänomen des Wandels ließe sich auch noch an anderen Merkmalen aufweisen, ζ. B. in bezug auf

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

361

Tabelle 3 Nach Motivkreisen zusammengefaßte Tötungssituationen bei nicht-fahrlässigen Tötungsdelikten in Hamburg 1950—1967 (in Prozent) Ν = 333 1950--1956 Sp.%

1956--1961 Sp.%

z.%

20,8

Z.%

1962--1967 Sp.%

z.%

22,7

20,8

insgesamt Sp.%

z.%

21,6

Sex-Dauerpartner 27,8

44,4

27,8

1,0

8,5

1,0

100,0 4,2

Flüchtiger Sex-Partner 85,7

7,1

7,1 27,1

18,8

19,2

99,9 21,3

Krankheit/Abnormität 25,4

36,6 15,6

38,0 30,5

24,0

100,0 24,3

Streit 28,4

18,5 7,3

10,4

53,1

100,0 9,3

9,9

Kriminalität 22,6

45,2

32,3

28,1

9,2

25,0

100,1 19,2

Familie/Status 42,2 Sp.%

100,0

37,5 100,0

die Täter-Opfer-Beziehung, die Ausführungsart, die Tatorte, die Ermittlungen. Im gegebenen Zusammenhang kommt es jedoch nur darauf an, auf die eingetretene oder sich vollziehende Wandlung überhaupt aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich gibt es nur eine begrenzte Zahl typischer, zu Tötungshandlungen führender Konstellationen, aber ihre Verteilung und Gewichtigkeit ist in den verschiedenen Epochen und Populationen unterschiedlich. Schon deswegen ist es mißlich, sich in kriminologischen Untersuchungen auf in der Literatur verstreute Fälle oder jahrzehntealte Zeitungsmeldungen zu stützen. Weiter ist die Einsicht wichtig, daß gleichbleibende statistische Grundziffern auf ganz verschiedene Sachverhalte hinweisen können. C. Aufklärung und Latenz Der Anteil der von der Polizei als aufgeklärt im Sinne einer Täterfeststellung registrierten Tötungsdelikte ist groß. Die Kriminalstatistik

20,3 100,0

100,0 99,9

der Bundesrepublik Deutschland nennt für die vollendeten Fälle von Mord und Totschlag regelmäßig einen Anteil um 90%, für die Versuche und für die Körperverletzung mit Todesfolge von über 90%, für die Kindstötung von durchschnittlich 70%. In den USA liegt die Aufklärungsquote für Tötungsverbrechen nach einer Zusammenstellung von Wolfgang bei 90%, in England beträgt sie bei Mord über 90% (Gibson und Klein). Im Vergleich zu anderen Deliktarten ist die Aufklärungsquote bei den Tötungsdelikten hoch; sie ist in der Bundesrepublik Deutschland bei den Mord- und Totschlagfällen trotz Zunahme der Delikte nicht abgesunken, sondern eher leicht angestiegen. Die Gründe für den guten Aufklärungserfolg sind vielfältig. Ein großer Teil der Fälle klärt sich dadurch, daß der Täter Selbstmord begeht oder am Tatort von Zeugen festgehalten wird oder sich selbst stellt. Ist der Täter zu ermitteln, wird die Arbeit der Polizei dadurch erleichtert, daß bei den meisten Tötungsdelikten zwischen Täter und

362

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

Opfer vor der Tat irgendwelche Beziehungen bestehen (-> Viktimologie), wodurch sich der als Täter in Frage kommende Personenkreis einengt. Richtet sich der Verdacht auf eine bestimmte Person, ist es in der Regel nur eine Frage der Zeit, daß sie gefaßt und überführt wird. Schwierig ist die Aufklärung bei jenen Fällen, von denen Gennat als „Morde im Sinne der Praxis" gesprochen hat: Taten, in denen sich ein unbekannt gebliebener Täter gegen ein ihm bis zur Tat fremdes Opfer wendet. Wie leicht einzusehen, befindet sich die mit dem Fall befaßte Dienststelle hier in einer nahezu hoffnungslosen Ausgangsposition. Gelingt es dennoch oft genug, auch in derartigen Fällen den Täter zu ermitteln, ist dieser Erfolg einem sehr mühevollen und aufwendigen Einsatz der Polizei zu verdanken, bei dem unter Umständen Hunderte von Spuren und Hinweisen verfolgt werden. Die Mitarbeit der Bevölkerung ist hierbei eine unerläßliche Hilfe; sie ist nach der Art des Falles und der Persönlichkeit des Opfers unterschiedlich groß. Die nicht-fahrlässigen Tötungsdelikte der eigenen Untersuchung wurden zu 93% aufgeklärt. Von den 359 festgestellten Tätern begingen 20% vor der Festnahme Selbstmord, am Tatort gefaßt wurden 24%, es stellten sich selbst 11%, nach Ermittlung festgenommen wurden 45%. Die weitaus meisten Fälle — nahezu 90% — waren für die Polizei innerhalb der ersten Woche nach der Tat mit der Festnahme des Täters abgeschlossen. Einzelne Fälle wurden noch nach Jahren aufgeklärt, teils als Resultat der fortgeführten oder immer wieder aufgenommenen Ermittlungen, teils infolge unvorsichtiger Äußerungen des Täters. In keinem der unaufgeklärten Fälle gibt es einen stark Tatverdächtigen, der sich bislang der Festnahme entziehen konnte. Die Möglichkeit sehr später Aufklärung zeigt, daß sich eine zeitliche Grenze, von der ab ein Fall endgültig als „nicht aufgeklärt" zu gelten hat, nicht ziehen läßt. Umgekehrt läßt sich jedoch auch fragen, ob ein Fall regelmäßig als aufgeklärt gelten kann, wenn die Polizei dieser Auffassung ist. In manchen der von der Polizei als erledigt angesehenen Fälle endet das Verfahren mit einem Freispruch mangels Beweises oder wird mangels dringenden Tatverdachts nicht eröffnet. Theoretisch müßte die Polizei ihre Ermittlungen wieder aufnehmen, um den wahren Täter zu finden. Dies geschieht im allgemeinen nicht, weil die Polizei aus guten Gründen der Überzeugung ist, daß kein anderer Täter existiert. Grenz- und Zweifelsfälle kommen vor; meist wird man jedoch der nahe an der Sache orientierten kriminalpolizeilichen Meinung folgen können, der gegenüber die Gerichtsentscheidung stark prozessual und rechtsdogmatisch beeinflußt wird. Von den Anforderungen, die man an die Aufklärung eines Falles stellt, hängt ab, wo man die

Grenze der Dunkelziffer (Oba) oder des Dunkelfeldes (V. Hentig) der Kriminalität ziehen will. Die kriminologische Literatur (u. a. Exner, K. Meyer, Mezger, Roesner, Sauer) hat dieses Problem nicht einheitlich behandelt, woraus sich einige terminologische Unklarheiten ergeben haben. Wehner hat dies sehr sorgfältig herausgearbeitet. Ihm ist auch darin zu folgen, daß die kriminologisch wichtigste Dunkelzahl jener Teil der Kriminalität ist, der nicht in der Polizeilichen Kriminalstatistik erscheint, weil er nicht entdeckt wurde, latent blieb (-*• Statistik und Kriminalität). Die Latenz der Tötungsdelikte umfaßt also alle jene Fälle, bei denen ein tatsächlich vorhandenes fremdes Verschulden am Todeseintritt nicht erkannt wurde. Im Totenschein ist eine natürliche Todesursache, Selbstmord oder Unfalltod eingetragen. Wehner hat in seiner Studie eine Reihe eindrucksvoller Beispiele für die Verkennung von Tötungsverbrechen aufgeführt, zu denen jeder Kundige noch weitere Fälle beitragen könnte. Es steht außer Zweifel, daß immer wieder Tötungen durch fremde Hand übersehen werden, nicht zuletzt weil die ärztliche Leichenschau zu oberflächlich praktiziert wird. In welchem Ausmaß Tötungsverbrechen verkannt werden und welche Proportion zwischen den erkannten und den latenten Tötungen besteht, läßt sich — per definitionem — nicht sagen. Es scheint wenig sinnvoll, die in der Literatur genannten spekulativen Zahlen zu referieren. Unsere eigenen Untersuchungen haben keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß hinter den polizeilich festgestellten Tötungsdelikten ein sozusagen riesengroßes Heer latent gebliebener steht. Von einigem Umfang dürfte die Zahl der nicht-entdeckten getöteten Neugeburten sein. In den 18 untersuchten Jahren wurden (mit fallender Tendenz) auf dem Hamburger Stadtgebiet, meist in Gewässern, 41 unbekannte Kindsleichen gefunden, die sicher oder wahrscheinlich außerhalb des Mutterleibes gelebt hatten. Man kann vermuten, daß die Zahl der nicht-entdeckten getöteten Neugeborenen um ein Vielfaches größer ist. Bei den Erwachsenen liegen die Verhältnisse jedoch anders. Gerade in den Bereichen, die als wesentliches Reservoir der unentdeckten Tötungsverbrechen gelten, Selbstmord und Unfalltod, erfolgt in Hamburg durch ein Spezialkommissariat in jedem Falle eine eingehende Untersuchung, wodurch die Möglichkeit einer Verkennung zwar nicht ausgeschlossen, aber doch weitgehend vermindert wird. Unter den überschaubaren Verhältnissen eines Stadtstaates mit einer gut organisierten Polizei wäre zu erwarten, daß wenigstens einige der 500—600 Selbstmorde oder der 800 bis 1100 tödlichen Unglücksfälle, die alljährlich anfallen, als getarnte Morde erkannt werden, falls sich unter ihnen viele verbergen sollten. Dies ist jedoch nicht der Fall

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige Ähnlich verhält es sich mit den Vermißtmeldungen. Es liegt nahe, anzunehmen, und es wird vielfach behauptet, daß ein Teil der als vermißt gemeldeten Personen einem Tötungsverbrechen zum Opfer gefallen ist. Auch hierzu einige Zahlen aus Hamburg: Zwischen 1956 und 1966 wurden 26 981 Personen als vermißt gemeldet. Hiervon blieben bis zum Sommer 1968116 Fälle unerledigt. Unter diesen befinden sich jedoch noch 55 Mitglieder von Schiffsbesatzungen, die mit Sicherheit ertrunken sind und nur noch formal als vermißt gelten. In einer Groß- und Hafenstadt wie Hamburg bleiben demnach, wenn man die ertrunkenen Seeleute nicht berücksichtigt, jährlich nur fünf bis sechs Personen unauffindbar vermißt. Tatsächlich dürfte die Zahl noch geringer sein, da sich oft nach vielen Jahren herausstellt, daß die Klärung des Falles lediglich durch organisatorische Mängel verhindert wurde. Gegen die Annahme einer erheblichen latenten Tötungskriminalität sprechen zwei prinzipielle Erwägungen. Sollten sich hinter den als natürlicher Tod, Unglücksfal] oder Selbstmord rubrizierten Todesfällen tatsächlich zahlreiche Tötungen verbergen, müßte — da bei Verzicht auf sichtbare Gewaltanwendung die Tötung eines Menschen nicht einfach ist — auch mit einem entsprechenden Anfall von Versuchshandlungen zu rechnen sein. Hierfür mag es Beispiele geben. In der eigenen Untersuchung des unausgelesenen Materials kam kein Fall vor, der unter diesen Voraussetzungen zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt hätte. Häufig sind demnach derartige Vorfälle nicht. Bei hoher Latenz wäre zum anderen anzunehmen, daß es eine große Anzahl von Tätern gibt, die sich von den ermittelten psychologisch stark unterscheiden. Die meisten der bekannten Täter haben aus der Hitze des Augenblicks gehandelt, kurz zuvor noch nicht ahnend, daß sie zum „Mörder" würden. Sie handeln ohne auf Verheimlichung der Tat zielende Umsicht und Planung. Die unerkannten Täter müßten sich im wesentlichen aus einem Kreis schon als hochabnorm zu bezeichnender Persönlichkeiten rekrutieren, wie sie uns am ehesten in der Gestalt der hysterischen Giftmörderin oder des Serientäters entgegentreten. Bei hoher Schätzung der latenten Tötungskriminalität wäre davon auszugehen, daß der Bevölkerungsanteil dieser Persönlichkeiten über Erwarten hoch ist und daß sie Geschick, Mittel und Gelegenheit sowie schließlich auch das Bedürfnis besitzen, Tötungen zu vollziehen. Das Ausmaß der latenten Tötungskriminalität läßt sich nicht abschätzen. Jeder mit der Aufklärung von Todesfällen beschäftigte Kriminalist ist sich dieser Problematik bewußt, die sich ihm im Einzelfall oft in viel einfacherer Form aufdrängt. Häufig genug muß er sich mit Vorfällen befassen, bei denen er den wohlbegründeten Verdacht auf das Vorliegen einer strafbaren Handlung

363

hat, ohne ihn konkret zu einem Tatbestand verdichten zu können. D. Zeitliche und örtliche Bedingungen 1.

Tatzeit

a) M o n a t u n d J a h r e s z e i t . Die Beziehungen zwischen Kriminalität und Jahreszeit sind vielfach Gegenstand kriminologischer Forschung gewesen (-> Natürliche Umwelt). Für die Mord- und Totschlagkriminalität wurden wiederholt Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit des Ereignisses und bestimmten Monaten und Jahreszeiten behauptet; die bislang vorgelegten Ergebnisse erlauben jedoch keine verallgemeinernden Schlüsse. Die behaupteten Maxima und Minima betreffen in der Kegel Schwankungen, für die bei Benutzung mathematisch-statistischer Prüfverfahren Zufallsabhängigkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Zum anderen weisen die festgestellten Monatskurven nicht selten so starke Abweichungen voneinander auf, daß sie sich gegenseitig aufheben. Die in der Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1953—1968 bei etwa 6600 vollendeten Mord- und Totschlagdelikten für die einzelnen Monate ausgewiesenen Zahlen zeigen keine statistisch signifikanten Schwankungen, die prozentuale Beteiligung der einzelnen Monate ist sogar ziemlich gleichmäßig. Ebenso fanden sich in jüngeren Untersuchungen der Tötungskriminalität bestimmter Gemeinden lediglich Schwankungen, die noch im Zufallsbereich liegen. Das Maximum differierte: in Philadelphia war zwischen 1948 und 1952 der Mai mit 11% aller Tötungen der am meisten belastete Monat (Wolfgang), in Hamburg hielt bei einem Untersuchungszeitraum von 18 Jahren der Januar mit 12% der Fälle die Spitze. In den beiden Untersuchungen ließ sich auch keine statistisch bedeutsame jahreszeitliche Variation der Delikthäufigkeit nachweisen, also bei Zusammenfassung der Monate in Winter, Sommer, Übergangszeit. Eine stärkere, noch insignifikante Abweichung von der erwarteten Gleichmäßigkeit fand sich im Hamburger Material lediglich unter den MordSelbstmord-Fällen als Frühjahrsgipfel (März bis Mai) mit 36% der 73 Fälle (Abb. 1). Demgegenüber stellte West bei 148 Mord-Selbstmord-Fällen in England einen Höhepunkt von 35% in den Sommermonaten (Juni, Juli, August) fest und ein Minimum für das folgende Vierteljahr. Die unterschiedlichen Resultate, zu denen die einzelnen Untersucher gekommen sind, lassen vermuten, daß die zwischen Tötungskriminalität und Jahreszeit möglicherweise existierenden Beziehungen vielfältig determiniert und komplex sind. Neben Klima und Wetter wirken sich Lebensund Arbeitsgewohnheiten aus, gesellschaftliche

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

364

b) Wochentage. Nordamerikanische Untersuchungen zur Tötungskriminalität haben eine sehr ungleiche Verteilung der Vorfälle über die Wochentage aufgewiesen (Harlan, Wolfgang, Bullock, Bensing und Schroeder). Das Wochen-

und politische Ereignisse sowie wirtschaftliche Auf- und Niederschwünge. Größere Zyklen überlagern den Jahresrhythmus. Aussagekräftigere Ergebnisse sind deswegen vielleicht eher zu erwarten, wenn man das Vorhandensein von Zusammen% Ä 20-

1510-

5-

Jan.

1

Feb.

1

März

1

April

1

Mai

1

Juni

1

Juli

1

Aug.

1

Sept.

1

Okt.

1

Nov.

1

Dez.

Abb. 1 Monatsverteilung bei nichtfahrlässigen Tötungsdelikten in Hamburg, 1950—1967 (in Prozent) gestrichelte Linie: Fälle mit Selbstmord des Täters (N = 73) ausgezogene Linie: Übrige Fälle (N = 257) hängen isoliert für bestimmte Tattypen untersucht. Brückner und Fattah haben V. Hentigs Hypothese überprüft, daß sich Kaubmorde vornehmlich im Winter ereignen; beide stützten ihre Erfahrungen auf Taten, bei denen Verurteilung wegen Raubmords erfolgt war. Die von Brückner mitgeteilten Zahlen zeigen ein leichtes, insignifikantes Überwiegen der Gewinnmorde (V. Hentig) im Herbst und im Winter. Fattah, der Strafakten von 50 Tätern, die zwischen 1951 und 1962 in Österreich wegen Raubmords oder Raubmordversuchs verurteilt worden waren, auswertete, stellte fest, daß sich % der Taten im Winterhalbjahr (Oktober bis März) ereignet hatten, auf das Sommer-Quartal fielen nur 6%. Am Hamburger Material ließ sich keine Saisonabhängigkeit der 30 in Verbindung mit Eigentumsdelikten begangenen Tötungsverbrechen sichern, sie kamen jedoch eher häufiger in den Sommermonaten vor. Auch wenn man berücksichtigt, daß diese Differenzen wenigstens teilweise durch die Verwendung unterschiedlicher Definitionen bedingt sein können, legen sie nahe, von generalisierenden Aussagen abzusehen. Im Hamburger Material fanden sich auch keine Hinweise für die Kumulation von Konfliktmorden zu bestimmten Jahreszeiten. Die Gatten- und Geliebtentötungen durch den verlassenen Partner — 17% aller Fälle und besonders eindeutige Repräsentanten von Konflikttaten — ereigneten sich nur unbedeutend häufiger während der Sommermonate.

ende — Freitag, Sonnabend, Sonntag — ist mit 60—80% aller Taten belastet. Die Bedeutsamkeit des Wochenendes tritt noch schärfer hervor, wenn zu erfahren ist, daß sich in Philadelphia von 100 Freitag-Taten die Hälfte in der Zeit von 20 bis 24 Uhr ereigneten (Wolfgang). In Veröffentlichungen über Mord- und Totschlagdelikte in England und Deutschland wird ebenfalls eine größere Delikthäufigkeit am Wochenende berichtet, sie erreicht jedoch nicht die in den amerikanischen Studien beschriebene Ballung (Roesner, v. Hentig, Blühm, Brückner, West). Naheliegend ist auch hier die Annahme, daß diese Unterschiede durch die differierenden gesetzlichen Bestimmungen bedingt oder zumindest mitbedingt sind. Aber auch die Hamburger Untersuchung, deren Materialabgrenzung mit der amerikanischer Studien vergleichbar ist, weist nicht deren starke Häufung von Taten am Wochenende auf; der Anteil der Fälle, für die Freitag, Sonnabend oder Sonntag als Tattag festgestellt wurde, liegt mit 47% nur leicht über dem Erwartungswert. Zieht man von der Gesamtzahl die Mord-Selbstmord-Fälle ab, nimmt der Prozentsatz der Wochenendtaten in der RestGruppe etwas zu, weil sich Tötungen mit gleichzeitigem oder anschließendem Selbstmord im Berichtszeitraum am häufigsten dienstags ereigneten (21%). Bei 148 Mord-Selbstmord-Taten in England gab es eine Montagsspitze mit 25% (West). Danach läßt sich vermuten, daß die unter-

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige schiedliche Verteilung, die in den einzelnen Arbeiten zu dieser Frage mitgeteilt wird, auf einer andersartigen Zusammensetzung des Materials beruht. Die kriminogene Bedeutung des Wochenendes ließ sich durch Aufarbeitung des Hamburger Materials weiter erhellen. Hierzu wurden, einer Anregung von Wolfgang entsprechend, alle Taten zusammengefaßt, die sich zwischen Freitag 20 Uhr und Sonntag 24 Uhr zugetragen hatten. In den drei Abschnitten der untersuchten 18 Jahre nahm die absolute Zahl der Wochenendtaten deutlich zu (33-39-66), während ihr prozentualer Anteil infolge Zunahme der Gesamtzahl nur geringfügig wuchs. Nach den für sie als signifikant festgestellten Korrelationen ergibt sich für die Wochenendtaten folgendes Bild: Sie ereignen sich seltener in einer für den Täter gewohnten Situation, also ζ. B. in seiner Wohnung, und richten sich häufiger gegen Opfer, zu denen keine familiären Beziehungen bestehen, öfter als bei den übrigen Taten stehen Täter und Opfer zur Tatzeit unter Alkohol, der Tat ist eine Feier oder eine Zechtour vorausgegangen. Fast die Hälfte aller Täter, die wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt wurden, haben ihre Tat am Wochenende begangen, von den Totschlägern sind es dagegen 29%, von den Mördern nur 19%. Wochenendtaten gehören demnach im typischen Fall zu den weniger schweren Formen der Tötungskriminalität. Es sind die tätlichen Auseinandersetzungen zwischen befreundeten, bekannten oder einander bislang unbekannten Männern, die anläßlich einer Geselligkeit oder im Lokal aneinandergeraten. Hier findet vornehmlich die Gewohnheit, das Wochenende zum Lokalbesuch bzw. zum Trinkexzess auszunutzen, ihren Niederschlag, wobei von Bedeutung ist, daß die beteiligten Personen Schichten entstammen, bei denen Gewaltanwendung als zugelassenes Mittel gilt, sich und seine Ansichten durchzusetzen oder zu verteidigen. Die aufgewiesenen Differenzen zur amerikanischen Tötungskriminalität mit ihrem deutlicheren Wochenendgipfel dürfte nicht zuletzt in soziologischen Bedingungen zu suchen sein, die sich in diesen Gewohnheiten und Werthaltungen repräsentieren. Am Wochenende geschahen in Hamburg aber auch 41% der Gatten- und Geliebtentötungen; unter Annahme einer gleichmäßigen Verteilung also ein über dem Erwartungswert (31%) liegender Anteil. Das freie Wochenende bietet Gelegenheit zur letzten Aussprache und zur letzten Bereinigung des länger bestehenden Konflikts. c) Tageszeit. Nicht-fahrlässige Tötungsdelikte werden am häufigsten in den Abend- und Nachtstunden begangen. Mit geringen Variationen weisen in den einzelnen Untersuchungen die acht Stunden zwischen 20 und 4 Uhr stets die größte Belastung auf. Als Beispiele seien die Untersuchungen von Blühm und von Wolf gang genannt,

365

Im Landgerichtsbezirk Duisburg ereigneten sich 45% der Mord- und Totschlagdelikte zwischen 20 und 2 Uhr. Von 688 Opfern in Philadelphia wurden knapp 60% in dieser ein Viertel des Tages umfassenden Zeit erschlagen. Wie bezüglich anderer Merkmale stellte Wolfgang hierbei signifikante Differenzen für Neger und Weiße fest. Von den Neger-Opfern wurden 64% zwischen 20 und 2 Uhr getötet, von den weißen Opfern nur 39%. Die letztgenannte Zahl bezeichnet etwa auch den Anteil, der in der Hamburger Untersuchung für die entsprechenden Stunden gefunden wurde. Man kann annehmen, daß stärkere Unterschiede auf Eigenheiten des Tathintergrundes beruhen. Deutlicher machen ließ sich dies am Hamburger Material bereits durch Aussonderung der MordSelbstmord-Fälle. Bei der Gesamtgruppe fielen in die Zeit zwischen 22 und 4 Uhr 42% aller Fälle. Nach Abzug der mit Selbstmord des Täters abgeschlossenen Taten erhöhte sich dieser Anteil auf 45%. Der Anteil der Mord-Selbstmord-Fälle für den betreffenden Tagesabschnitt entsprach mit 25% dem Erwartungswert. Bei ihnen fand sich mit 29% eine leichte Anhebung zwischen 4 und 10 Uhr; von den Taten der Restgruppe wurden nur 17% in dieser Zeitspanne begangen. Bei den von West in England untersuchten Taten waren die Relationen ähnlich, wenngleich weniger ausgeprägt. Zwischen 22 und 4 Uhr wurden 34% der Mord-Selbstmord-Taten und 45% der übrigen Morde verübt; für die Stunden zwischen 4 und 10 Uhr beliefen sich die Prozentsätze auf 18 bzw. 12. Die relativ gleichmäßige Verteilung der MordSelbstmord-Taten über alle Tageszeiten läßt erkennen, daß diese eher unabhängig von den äußeren Bedingungen sozusagen heranreifen. Opfer sind in diesen Fällen meist Familienangehörige, also Personen, deren Zusammentreffen weniger einem durch soziale Gepflogenheiten bestimmten Rhythmus unterliegt. Der abendlich-nächtliche Höhepunkt der anderen Taten weist auf eine spezifische Qualität und Relevanz der sich in diesen Stunden vollziehenden Sozialkontakte, sie bieten in stärkerem Maße Reibungsflächen und beinhalten andere Verhaltensschemata als der Umgang im Laufe des übrigen Tages. Die späten Stunden des Tages setzen eine besondere Gestimmtheit; hinzu kommen psychische Veränderungen, die infolge des in diesen Stunden üblichen Alkoholgenusses eintreten. Der Schwerpunkt der zwischen 20 und 4 Uhr geschehenen Tötungsdelikte liegt nach den Hamburger Untersuchungen in Geschehnissen, die das Gepräge tätlicher Auseinandersetzungen hatten. Wurde gegen den Täter im Urteil auf Körperverletzung mit Todesfolge erkannt, hatte sich der Vorfall zu 71% in diesen acht Stunden zugetragen. Die als Mord oder Totschlag angesehenen Delikte fielen dagegen nur zu

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

366

40% in diesen Zeitraum, überschreiten den Erwartungswert also nur wenig. Allerdings wird man auch unter den deutschen Verhältnissen mit anderen Mustern rechnen müssen. Die von Blühm analysierten Mord- und Totschlagfälle ereigneten sich zur Hälfte zwischen 20 und 4 Uhr; möglicherweise ist dies durch Hmeinnahme der Versuchshandlungen mitbedingt. Bei Anklage wegen versuchten Mords oder Totschlags lag die Tatzeit im Hamburger Material nämlich auch zu 65% zwischen 20 und 4 Uhr. 2.

Tatort

Das Bemühen, durch Analyse der Tatorte Einblick in die zu Tötungshandlungen leitenden Bedingungen zu erlangen, kann nicht — wie bei der Tatzeit — auf ein vorgegebenes unabhängiges System zurückgreifen. Man ist genötigt, eine bestimmte Ordnung aufzustellen oder auszuwählen, womit eine Vorentscheidung über den Stellenwert, den man dem Tatort im Gesamtgeschehen einräumt, verbunden ist. Beispielsweise kann der Tatort als tathemmendes oder tatförderndes Milieu interessieren. Im weiteren Sinn geschieht dies bei der Unterscheidung Stadt/Land usw. oder im Rahmen ökologischer Untersuchungen der Belastung einzelner Distrikte eines bestimmten Gemeinwesens. Die Frage nach dem Milieu kann sich auch enger gefaßt auf soziale Treffpunkte beziehen, die durch besondere Gesetzlichkeiten und Risiken ausgezeichnet sind, wie Gastwirtschaften, Hotels, Geschäftsräume, Wohnlager. Eine andere wichtige Perspektive ist die Beziehung, die Täter, Opfer oder beide zu dem jeweiligen Platz haben, also ζ. B. als Arbeitsplatz oder Wohnung. Man kann weiter prüfen, ob Menschennähe oder Abgelegenheit eines Ortes von Relevanz waren und ob diese Bedingung quasi zufällig bestand oder eigens herbeigeführt wurde. In statistischen Zusammenfassungen erscheinen die Tatortarten nicht selten in einem beziehungslosen Nebeneinander, so daß weiterreichende Schlüsse nicht möglich sind. Die schließlich resultierende Feststellung bestimmter Prozentsätze von im Freien oder in bedeckten Räumen geschehenen Taten besagt in dieser Allgemeinheit wenig und hängt nicht zuletzt von der Art der untersuchten Population ab. Infolge Fehlens einer verbindlichen Systematik erscheinen in Tatortaufstellungen mitunter durch einen Einzelfall belastete ausgefallen erscheinende örtlichkeiten, denen bei Betrachtung unter einem anderen Blickwinkel diese Sonderstellung fehlt. Da sich Menschen unter allen möglichen örtlichen Bedingungen begegnen und aneinander reiben, gibt es für die Gesamtheit der Tötungsverbrechen keine bestimmten Erwartungswerte und keine berechenbare Verteilung. Im Hinblick auf die allgemeinen Lebenssitten müßten jedoch zwei Grundtypen von Tatort vorrangige Bedeutung

haben: die Wohnung und der Arbeitsplatz. Hier verbringen die meisten den größten Teil ihrer Zeit, hier vollziehen sich die wichtigsten sozialen Interaktionen. Bezüglich der Arbeitsstelle gilt dies vornehmlich für die Männer, die bei Tötungsverbrechen stets den größeren Anteil der Täter stellen. Beispiele für Tötungsdelikte am Arbeitsplatz hat v. Hentig erwähnt, eingehendere Bearbeitungen hierzu liegen nicht vor. In Hamburg geschahen von 360 Fällen 11,4% am Arbeitsplatz: 7,6% am Arbeitsplatz des Opfers, jeweils knapp 2% am gemeinsamen Arbeitsplatz oder an dem des Täters. Nicht berücksichtigt wurden hierbei Prostituierte, die bei Ausübung ihrer Tätigkeit einen gewaltsamen Tod erlitten, weil diese Zone von den Gesetzmäßigkeiten der übrigen Arbeitswelt zu weit entrückt ist. Der Arbeitsplatz besitzt nur auf der Opfer-Seite einige Bedeutung, die Getöteten waren meist in ihrer Stellung als Geschäftsinhaber, Beamter, Taxenfahrer, Polizist angegriffen worden. Von den sieben Fällen mit gemeinsamem Arbeitsplatz trugen sich drei auf einem Schiff zu, das gerade im Hafen lag; sie lassen sich mit gleicher Berechtigung als Taten in der gemeinsamen Wohnung auffassen. Zwei von ihnen — ausländische Seeleute — waren im übrigen mit Sicherheit psychotisch. Die restlichen Tötungen am gemeinsamen Arbeitsplatz resultierten aus akut entstandenen Tätlichkeiten. Am eigenen Arbeitsplatz wurde ein Tötungsdelikt nur unter sehr speziellen Voraussetzungen verübt: Die Täter waren Männer, die als Türsteher oder Kellner mit Gästen Streit bekommen hatten, Frauen, die von der in Gang kommenden Geburt überrascht worden waren, sowie ein Schizophrener in einem raptusartigen Zustand. Die Seltenheit von Tötungsverbrechen am Arbeitsplatz des Täters dürfte mehrere Gründe haben. Ein wesentlicher Teil der Delikte erwächst aus Konflikten zwischen Täter und Opfer. Konflikte am Arbeitsplatz sind für den einzelnen weniger bedeutsam, weniger emotional unterlegt; sie drängen nach einer sachangemessenen Lösung. Gelingt dies nicht, läßt sich weiteren Auseinandersetzungen durch Stellungswechsel aus dem Wege gehen. Des weiteren steht die übliche Arbeitsdisziplin der Tendenz entgegen, auf der Arbeitsstelle Meinungsverschiedenheiten gewaltsam auszutragen. Zudem sind während der Arbeitszeit Interessen und Kräfte durch Aufgaben absorbiert. Die Beziehungen zwischen Tötungsdelikten und Arbeit kann zusätzlich die Feststellung erhellen, daß in Hamburg etwa 40% der Täter zur Zeit der Gewalttat vorübergehend durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Urlaub oder Fernbleiben aus einer beruflichen Bindung gelöst waren. Die Wohnung ist als Tatort in den veröffentlichten Übersichten regelmäßig mit einem

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige relativ großen, zwischen 4 0 % und 60% liegenden Anteil vertreten; in der Hamburger Untersuchung waren es sogar 70%. An erster Stelle steht die gemeinsame Wohnung, an zweiter die des Opfers, an dritter die Täterwohnung. Hinweise auf die Kategorie der in der Wohnung begangenen Taten ergeben sich bereits durch Abtrennung der MordSelbstmord-Fälle: bei ihnen sind es 93%, in der Restgruppe 64%. In der Wohnung geschehene Tötungsdelikte wurzeln vorzugsweise in einem Intim- oder Familienkonflikt und richten sich auch gegen ein Opfer aus diesem Kreis. Eine Darstellung aller Merkmale, die den in oder außerhalb einer Wohnung verübten Taten eigen sind, würde einen großen Raum einnehmen. Es seien in diesem Zusammenhang nur noch gewisse Eigentümlichkeiten der verschiedenen Räume innerhalb der Wohnung erwähnt, die Wolfgang in Philadelphia aufgedeckt hat. Der am meisten belastete Raum ist das Schlafzimmer: 19% aller Opfer fanden hier ihren Tod. Der Anteil der Männer und Frauen differierte signifikant. Von den Frauen wurden 34,5% im Schlafzimmer getötet, von den Männern nur 14,3%. Ein Viertel der Täterinnen töteten auch in diesem Raum, der entsprechende Anteil der männlichen Täter ist 16%. Bedenkt man gleichzeitig, daß etwa 85% der weiblichen Opfer von einem Mann erschlagen werden und ein etwa gleich großer Teil der Täterinnen ihre Gewalttat an einem Mann vollbringt, wird die Bedeutsamkeit der durch das Schlafzimmer mitgegebenen Intimität für das Zustandekommen von Tötungen ansichtig (siehe E). In der Küche und im Wohnzimmer wurden je 12% der Opfer umgebracht. Interessant ist die Tatsache, daß 2 9 % der Frauen die Tat in der Küche begingen, aber nur 7 % der männlichen Täter. Im Hinblick auf den erwähnten Umstand, daß bei Tötungen, an denen Frauen beteiligt sind, Opfer und Täter meist von verschiedenem Geschlecht sind, kann dieses Zahlenverhältnis als Hinweis auf die beherrschende Stellung der Frau in diesem Raum gewertet werden, die hier den Mann zur Rede stellt und zur Rechenschaft zieht. Die leichte Erreichbarkeit der Waffe begünstigt die Tatausführung: 2/3 der Tötungen erfolgten durch Erstechen.

E . Die Opfer 1. Stellung und Tatbeitrag Bei den meisten Tötungsverbrechen bestanden zwischen Täter und Opfer bereits vor der Tat Beziehungen oder Bindungen; die statistische Wahrscheinlichkeit, daß jemand von einem Familienmitglied, einem Freund oder einem Bekannten erschlagen wird, ist weitaus größer als die, daß es sich bei dem Täter oder der Täterin um eine dem Opfer völlig unbekannte Person

367

handelt (-> Viktimologie). Dieser Umstand besitzt für die Aufklärung einer Tat wie auch für ihre spätere rechtliche Beurteilung größte Bedeutung. Die Kenntnis, ob zwischen Täter und Opfer Beziehungen bestanden und welcher Qualität sie waren, gehört auch zu den wesentlichen Voraussetzungen der Tatdynamik; kriminologische Untersuchungen, die bei Tötungsverbrechen einseitig alles Interesse dem Täter zuwenden, verfehlen zwangsläufig bedeutsame Gesichtspunkte. Solange bei einem Mordfall der Täter unbekannt ist, konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Ermittlungsbehörden auf das Opfer: man verschafft sich Überblick über seine Lebensgewohnheiten, seinen Bekanntenkreis, seine beruflichen Kontakte, seine Interessen, seine Eigenarten. Automatisch geht in die Untersuchung die Frage nach dem Motiv ein: wo bestanden Konflikte, Reibungen, Interessenkollisionen, die genügend Zündstoff für eine gewaltsame Lösung enthielten. Die Vieldeutigkeit, die menschlichen Beziehungen anhaftet, erlaubt aber nur selten Schlüsse auf die Täterschaft, die als absolut zwingend anzusehen sind; objektive Tatbestandsmerkmale wiegen schwerer. Die Intensität, mit der man sich im Gerichtsverfahren mit der Persönlichkeit des Opfers beschäftigt, ist sehr unterschiedlich. Wie Brückner bei seiner Untersuchung feststellen mußte, fehlen in den Urteilen vielfach die allereinfachsten Angaben über die Opfer. Eingehendere Beschäftigung mit der Opferpersönlichkeit ist dann zu erwarten, wenn der Täter geltend macht, durch das Verhalten des Opfers zu der Tat veranlaßt worden zu sein. Art und Ausmaß des vom Opfer geleisteten Tatbeitrags können im Extremfall bis zum Freispruch wegen Notwehr führen oder zur Anwendung milderer Gesetzesvorschriften, wie sie im § 213 des Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik Deutschland bestehen. In anderen Fällen sind die Erkenntnisse, die man über das Opfer gewinnt, von Einfluß auf das Strafmaß. Das Bemühen, die Mitschuld des Opfers zu erfassen, schließt die Möglichkeit ein, dem Opfer alle Schuld an dem Geschehen anzulasten. Durch die in Schwurgerichtsprozessen durchgeführten Täter- und Tatanalysen wird der Täter überdies gelegentlich in einem Ausmaß entlastet, daß er als das eigentliche Opfer erscheint: seiner Erziehung, seines Charakters, seines Schicksals. Der Getötete kann nichts mehr für sich vorbringen. Als eine besondere Gruppe von Taten hat Wolf gang die ,, victim-precipitated criminal homicides" (opferprovozierte Tötungsverbrechen) beschrieben; die Getöteten dieser Gruppe wiesen einige Merkmale auf, die sich sonst häufiger bei den Tätern fanden. Kritisch ist dazu zu sagen, daß es im Einzelfall oft schwierig ist, festzustellen, wer als erster drohte oder den ersten Schlag führte; es läßt sich auch nicht ohne Willkür

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

368

abgrenzen, welches Verhalten des Opfers man als Provokation ansehen will. Zu berücksichtigen ist auch, daß eine Provokation oder ein Angriff keine regelhaft reproduzierbare Reaktion bedingen, sondern vielfache Formen und Stufen der Erwiderung zulassen. Streng genommen läßt sich nur in einem idealtypischen Sinn von einer opferprovozierten Tat reden. Damit ein Verhalten als hinreichende Provokation für eine schwere Gewalttat empfunden wird, bedarf es auf Seiten des Täters einer gewissen Haltung, Gestimmtheit oder Bereitschaft, einer psychischen Verfassung, die nicht ohne eine vorangegangene Entwicklung zu begreifen ist. Will man den Tatbeitrag eines Opfers erfassen, verdienen jene Fälle besondere Beachtung, in denen ein Einfluß des Opfers auf eben diese Entwicklung des Täters anzunehmen ist, wenn das Opfer, wie v. Hentig es formuliert hat, den Täter in einem gewissen Sinn geformt und gestaltet hat. Die Entwicklung ist ein Stück gemeinsamer Lebensgeschichte von Täter und Opfer, dessen Bedeutsamkeit für das Tatgeschehen um so höher zu veranschlagen ist, desto inniger diese Schicksale vor der Tat miteinander verflochten waren. 2.

Grunddaten

a) Geschlecht. Es war schon wiederholt darauf hinzuweisen, daß die Daten, die sich bei der Analyse von Tötungsverbrechen auffinden lassen, keine unverrückbaren, unwandelbaren Gegebenheiten sind, sondern nach Abgriff, Epoche und Population differieren. Gleichbleibend sind vermutlich gewisse zugrunde liegende Strukturen, die Niederschlag menschlichen Handelns und Erlebens unter bestimmten Bedingungen sind. Über die Geschlechtsverteilung der Opfer finden sich stark auseinandergehende Angaben. In den USA liegt nach übereinstimmender Mitteilung verschiedener Autoren der Anteil der Frauen unter den Opfern von Tötungsverbrechen um 25% (Brearly, Harlan, Wolfgang u. a.). Demgegenüber beträgt in England, wie zuletzt von Gibson und Klein für den Zeitraum von 1955—1966 bestätigt, der Anteil der weiblichen Opfer etwa 60%. Eine ähnliche Verteilung ist für die Jahre 1928—1933 in der Mordstatistik des Deutschen Reiches angegeben: 50% der Getöteten waren Frauen. Unter den deutschen Veröffentlichungen weist lediglich die von Blühm ein in entgegengesetzte Richtung gehendes Zahlenverhältnis auf. In der eigenen Untersuchung der nicht-fahrlässigen Tötungskriminalität in Hamburg waren von 385 Opfern 48,6% weiblich, 51,4% männlich. Der weibliche Anteil an der Gesamtbevölkerung belief sich in der Untersuchungszeit auf 53—54%. Bei Unterteilung des Gesamtzeitraumes 1950 bis 1967 in drei Perioden von je sechs Jahren traten erhebliche Unterschiede hervor. In der

ersten Periode waren 60% der Getöteten Frauen bzw. Mädchen, in der zweiten nur 46%, in der dritten 43%; die auf die weibliche Bevölkerung bezogenen Häufigkeitsziffern blieben mit 1,2 — 0,9 — 1,2 relativ konstant. Die prozentuale Zunahme der Männer ging mit einem absoluten Anstieg einher, der in den Häufigkeitsziffern 0,9 — 1,3 — 1,8 für die drei Perioden deutlich wird. Die oben aufgewiesene Steigerung der Tötungskriminalität ist demnach Ausdruck eines Anwachsens der Zahl der Männer, die einem Tötungsverbrechen zum Opfer fallen. Diese in einem Zeitraum von 18 Jahren in Hamburg zu beobachtende Wandlung bestätigt die von Verkko aufgrund einer Längsschnittuntersuchung der Tötungskriminalität in Finnland und durch internationalen Vergleich aufgestellte Regel, daß die Geschlechtsverteilung der Opfer von der Häufigkeit des Delikts abhängt. Damit ist im einzelnen folgendes gemeint: ist die Tötungskriminalität in einem Land hoch, so ist der Anteil der weiblichen Opfer niedrig; dagegen weisen Länder mit niedriger Tötungskriminalität einen hohen Prozentsatz weiblicher Opfer auf. Wie Verkko weiter geltend macht, betreffen die Häufigkeitsänderungen in erster Linie die Zahl der Männer, die Opfer eines Tötungsverbrechens werden: werden mehr Personen getötet, steigt der Anteil der männlichen Opfer an, fällt die Gesamtzahl, verringert sich der Prozentsatz der getöteten Männer. Die Bestätigung der Regeln Verkkos am Hamburger Material ist deswegen besonders beweiskräftig, weil in dieser Untersuchung über alle Perioden gleiche Kriterien beibehalten wurden. Die eingetretene Verschiebung der Geschlechtsverteilung indiziert jedoch nicht nur die Zunahme des Delikts, sondern auch die damit einhergehenden qualitativen Wandlungen, auf die bereits weiter oben hingewiesen wurde. b) A l t e r . Nach dem bisher Aufgewiesenen versteht sich von selbst, daß man je nach Untersuchungsgut bei den Opfern erhebliche Differenzen des Altersaufbaus zu erwarten hat. Die in Tabelle 4 wiedergegebene Verteilung des Hamburger Materials ist daher nur als beispielhaft anzusehen. Nach Aufbruch des gesamten Untersuchungszeitraums (1950—1967) ist ein Trend erkennbar. Bei Betrachtung der Tabelle ist daran zu erinnern, daß versucht wurde, die „reale" Tötungskriminalität zu erfassen, das heißt ohne Rücksicht auf Strafverfolgung und gesetzliche Subsumierung; dies erschwert einen Vergleich mit anderen Statistiken. Die Aufnahme der Fälle, in denen der Täter Selbstmord bei oder nach der Tat beging, ist ausschlaggebend für den hohen Anteil von Kindern bis 14 Jahren unter den Getöteten, wenngleich nicht alle Opfer dieser Altersgruppe diesem Tattyp zuzurechnen sind. Der Anteil der Opfer unter 15 Jahren fällt im Untersuchungs-

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

369

Tabelle 4 Nicht-fahrlässige Tötungsdelikte in Hamburg 1950—1967. Altersverteilung der Opfer in Prozent und Häufigkeitsziffern.

1950--1955

1966--1961

Alter %

HZ

%

HZ

0—14 15—19 20—24 25—29 30—34 35—39 40—44 45—49 50—54 55—59 60—64 65 u. älter

36,5 5,6 5,6 6,5 2,8 2,8 3,7 8,4 12,2 2,8 3,7 9,4

2,1 0,9 0,9 1,0 0,5 0,5 0,5 1,0 1,6 0,4 0,7 0,8

23,1 6,8 12,8 8,6 6,0 4,3 4,3 6,0 6,8 7,7 1,7 12,0

1,5 1,0 1,8 1,4 1,0 0,8 0,7 0,9 0,9

insgesamt

100,0

1,1

100,1

Zeitraum von 37% im ersten Drittel auf 18% im letzten. Absolut bzw. in Relation zum Bevölkerungsanteil tritt dieser Abfall nur in der Gruppe der null- bis vierjährigen Mädchen in Erscheinung; er geht jedoch nicht entscheidend auf eine Abnahme der Tötungen von Neugeborenen zurück. Die Zunahme der Opfer betrifft vornehmlich die 25- bis 44jährigen. Ihr Anteil stieg von 15,8% über 22,3% auf 36,1%; die Verhältnisziffer wuchs bei den 30- bis 34jährigen am deutlichsten. Bei Aufbruch nach Geschlechterzugehörigkeit ergibt sich, daß bei den weiblichen Opfern der Anstieg erst bei den 30jährigen einsetzt, er ist bei den 40- bis 44jährigen am stärksten. Eine weitere auffällige Steigerung ist bei den 60- bis 69jährigen zu registrieren. Die Verschiebungen im Altersaufbau der Opfer sind in Verbindung mit dem bereits erwähnten qualitativen Wandel der Tötungskriminalität zu sehen. Zieht man Mitteilungen über die Altersverteilung bei Opfern von Tötungsdelikten heran, die frühere Zeiträume in Deutschland betreffen (Kriminalstatistik 1928—1933, Blühm), findet sich die größte prozentuale Belastung in der Gruppe der 20- bis 30jährigen. Bei Zusammenfassung der drei Perioden nimmt diese Altersklasse in der eigenen Untersuchung nach den Kindern bis zu 10 Jahren die zweite Stelle ein; bei den Fällen, in denen wegen eines Versuchs des Mords oder des Totschlags Anklage erhoben wurde, stehen die 20- bis 30jährigen Opfer mit 24 HdK, 2. Aufl., Bd. III

1962--1967 % HZ

insgesamt %

HZ

1,1 0,3 1,0

18,0 5,0 3,1 9,9 10,6 8,1 7,5 5,0 5,6 4,3 9,9 13,0

1,6 1,2 0,6 1,8 2,3 1,8 1,9 1,2 1,2 0,8 2,1 1,3

24,7 5,7 6,6 8,6 7,0 5,5 5,5 6,2 7,8 4,9 5,7 11,7

1,7 1,1 1,1 1,4 1,3 1,0 1,0 1,0 1,3 0,8

1,1

100,0

1,5

99,9

1,2

1,1 1,1

26% an der Spitze. Die Opfer von Tötungsverbrechen entstammen danach zu einem hohen Anteil der gleichen Altersklasse, die den größten Prozentsatz der Täter stellt. Es sind Personen, die den Tätern sowohl in ihrer physischen Verfassung wie auch in ihrer Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt nahestehen, nicht lediglich Individuen, die infolge Wehrlosigkeit oder Gebrechlichkeit ausgeliefert sind. Altersgleichheit impliziert zudem engeren Sozialkontakt, der die Basis sich möglicherweise ergebender Konflikte bildet. Berücksichtigt man auch ausländische Erfahrungen, besteht insgesamt die größte Gefährdung, Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, einerseits zwischen 20 und 40 Jahren, zum anderen — in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt — im Kindesalter bis zu 10 Jahren. c) B e r u f l i c h - s o z i a l e S c h i c h t u n g . Die bekanntwerdende Kriminalität der nicht-fahrlässigen Tötungen ereignet sich vornehmlich in den unteren Sozialschichten. Diese Aussage läßt sich auch dann treffen, wenn man die Schwierigkeiten berücksichtigt, die — in den Sozialwissenschaften hinreichend diskutiert •— einer befriedigenden Erfassung und Zuordnung zu bestimmten Schichten entgegenstehen. Die Bevorzugung der Unterschicht betrifft nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer von Tötungsverbrechen. Aufschlüsse hierüber sind wiederum aus dem Hamburger Material zu gewinnen. Bei der Erfassung der Sozialschicht wurde das von Janowitz

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

370

vorgeschlagene an Berufskategorien orientierte Schema zugrunde gelegt, da der Beruf als relativ zuverlässiger Index für die Klassenzugehörigkeit gelten kann und diese Gruppierung den Vorteil hat, mit weitgehend passenden statistischen Grunddaten verglichen werden zu können. Der danach als Unterschicht zu erfassende Anteil der Opfer (gelernte und ungelernte Arbeiter) beträgt für den gesamten Untersuchungszeitraum 63%. Kinder und Frauen, die keiner Berufstätigkeit nachgingen, wurden nach dem Beruf des Vaters bzw. Ehemanns eingestuft. Der durch wiederholten Mikrozensus ermittelte Bevölkerungsanteil der „Arbeiter" umfaßte während des Untersuchungszeitraums mit gewissen Schwankungen 40—50% der Erwerbstätigen; die Gruppe der Arbeiter war also unter den Opfern überrepräsentiert. Deutlicher werden diese Verhältnisse aber noch dadurch, daß 19% der Opfer überhaupt nicht in dieses Schema einzuordnen waren, da sie als „niedrig oder asozial" außerhalb jeder Ordnung standen. Der zur Mittelschicht (Selbständige, Beamte, Angestellte) zu rechnende Prozentsatz betrug nur 18%. Er blieb in den drei Untersuchungsperioden konstant. Im Längsschnitt war eine Zunahme des aus der „oberen Unterschicht" (gelernte Arbeiter) stammenden Anteils der Opfer auf nahezu das Doppelte zu beobachten, während der Prozentsatz der als „niedrig und asozial" einzustufenden Opfer absank. Man kann vermuten, daß diese Beobachtung auf einer Veränderung der Bevölkerungsschichtung beruht, für die keine in ähnlicher Weise aufgebrochenen Vergleichszahlen zur Verfügung stehen. Das Ergebnis entspricht den vornehmlich an den Tätern ausgerichteten ausländischen Erhebungen, die vergleichend herangezogen werden können, weil Täter und Opfer meist der gleichen Schicht zugehören. Die in älteren Untersuchungen wiedergegebene Kategorisierung der Opfer nach ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Erwerbszweigen soll hier nicht referiert werden, weil sich hieraus nur sehr bedingt weiterreichende Einsichten in die Dynamik der Delikte ableiten lassen. 3. Bevorzugte

Opfer

Bei der Frage, welche Eigenschaften eine Persönlichkeit in erhöhtem Maße geeignet machen, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, gilt es, Mystifikationen zu vermeiden. Mit der mitunter aufgestellten Behauptung, das Opfer habe sein Schicksal gewissermaßen angezogen — durch unbewußten Wunsch nach Selbstbestrafung, aus Masochismus oder aus Lebensüberdruß — begibt man sich im allgemeinen aus dem Bereich des noch am Phänomen Aufweisbaren. Folgende grundsätzliche Gesichtspunkte sind herauszustellen: Es werden Personen Ziel einer Aggression durch ihre Einmaligkeit und ihr schicksalhaftes Verhältnis zum Täter. Diese erste Gruppe

umfaßt vornehmlich Konflikttaten am Intimpartner, an Verwandten, Freunden, Nachbarn, Bekannten. In einer zweiten Kategorie erscheint das Opfer als Repräsentant bestimmter Werte oder Funktionen; hierzu gehören Angriffe und Überfälle auf Wachmänner, Geschäftsleute, Bank- und Postbeamte sowie staatliche Funktionsträger. Schließlich kann das Opfer bei Taten, für die eine bestimmte Haltung oder Gestimmtheit des Täters ausschlaggebend ist, eine beliebige Person sein, jemand, mit dem sich zufällig ein Kontakt ergeben hat: der „Nächste" wird in das eigene Schicksal hineingenommen. Diese Art der Opferwahl findet man mitunter bei Taten, die in Verbindung mit oder an Stelle eines Selbstmords vorgenommen wurden. Daneben ist zu berücksichtigen, daß es eine Hinwendung zum Ersatzopfer gibt. Damit ist gemeint, daß aus einem Tathintergrund gehandelt wird, der für den Angriff auf eine bestimmte, zu den Gesamtbedingungen gehörende Person spezifisch ist, die Aggression jedoch ein anderes Opfer trifft, möglicherweise auch hier ein beliebiges. Als Gruppe, die am stärksten gefährdet ist, treten in Tabelle 4 die Kinder hervor. Dieser Sachverhalt gilt offenbar auch für andere europäische Länder mit relativ niedriger Gesamttötungskriminalität und hohem Anteil suizidaler oder psychotischer Täter; in Dänemark sind sogar fast die Hälfte aller Opfer Kinder (T. Harder, Siciliano). Die an Kindern verübten Tötungsdelikte werden nach dem übereinstimmenden Ergebnis aller einschlägigen Untersuchungen meist von den Eltern begangen (Adelson, Delay et coll., Gatti, Jarosch, Myers). Am häufigsten sind dabei Taten vom Stil des erweiterten Selbstmords, also mit gleichzeitiger oder nachfolgender Selbsttötung, begangen von der Mutter der Kinder (s. auch West). Die Angaben über Geisteskrankheit als motivische Grundlage für diese Taten gehen auseinander, wofür wenigstens teilweise unterschiedliche diagnostische Auffassungen und definitorische Differenzen verantwortlich sein dürften. Fraglos sind derartige Taten zu einem großen Teil nicht durch Psychosen, sondern durch eine nicht bewältigte Konfliktsituation veranlaßt. Der auf das Kind gerichtete aggressive Akt der Mutter wurde in verschiedener Weise psychologisch zu interpretieren versucht; als gesichert kann das Hineinwirken eines Identifikationsmechanismus gelten. Dies gilt offenbar jedoch nicht für die Tötung von Neugeborenen, von dem sich die Mutter eher wie von einem Fremdkörper trennt. Durch Distanz zum Opfer sind auch die Fälle tödlicher Kindsmißhandlung gekennzeichnet, deren Urheber ebenfalls regelmäßig die Eltern oder entsprechende Erziehungspersonen sind. Ermordungen von Kindern durch Fremde — etwa durch einen Sexualtäter — kommen im Vergleich zu Taten durch Familienmitglieder selten vor.

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige Eine besondere Riskierung, Opfer eines Tötungsverbrechens zu werden, schließt jede Form von Intimpartnersehaft ein. Dies wird bereits durch den hohen Anteil von Ehepartnern und Geliebten unter den Opfern belegt. Im Bereich der flüchtigen Partnerschaft sind vornehmlich die Prostituierten gefährdet (Heger, Landmann). Der Tathintergrund differiert: Prostituierte können leicht erreichbare Beute eines Sexualmörders werden oder einem Streit mit dem Freier, den sie selbst herbeigeführt haben, zum Opfer fallen. Durch Persönlichkeit und Lebensstil sind sie auch stark durch Partnerkonflikte gefährdet. Kommt es im Bereich flüchtiger männlich-homosexueller Beziehungen zu einer tödlich endenden Gewalttat, ist meist der Freier der Unterlegene (Bandini, v. Hentig, Schramm und Kaiser). Die Gefährdung des homosexuellen Mannes liegt darin, daß er sich häufig seinen Partner bei der homosexuellen Prostitution sucht; er begibt sich damit in die Kreise niedrigster Asozialität. Wer Strichjunge wird, hat sozusagen nichts mehr zu verlieren, er wird damit aber auch zu einer Haltungsänderung, quasi zu einem Bekenntnis gezwungen. Dieser Schritt kann auch für den Partner zum Verhängnis werden. In einem gewissen Teil der Fälle ist zwar das Tatmotiv Beraubung, vorgeplant oder durch die Situation angeregt. Strichjungen sind meist mittellos und auf Beute aus. Ein anderer Teil der Tötungen von homosexuellen Männern ist jedoch nicht aus dem Bereicherungswunsch zu erklären, sondern aus einer plötzlich aufkommenden Aversion gegen den Partner, der dem Strichjungen zuviel zumutet, ihm widerlich ist oder irgendwie sein Paria-Dasein zum Bewußtsein bringt. Der homosexuelle Mann, der von den Strichjungen gleichsam abhängt, scheint ihnen verachtungswürdig ( J . Schröder). Er hat sich sein Schicksal gewissermaßen selbst zuzuschreiben. Geringschätzung des Opfers kann auch bei andersartigen Tötungsdelikten ein wesentliches Tatelement bilden. Andere Opfergruppen treten in ihrer Bedeutung zurück. Morde an Taxifahrern, Wachmännern, Polizisten, Bankbeamten fallen zahlenmäßig nicht sehr ins Gewicht. Die Zufälligkeit der Wahl sowie das Fehlen eines Bezugs zum Täter und eines Mitverschuldens geben diesen Taten den Akzent von Schwerkriminalität, der ihnen bei Betrachtung der Täterpersönlichkeit vielfach gar nicht zusteht.

F. Die Täter 1. Das Problem der

Persönlichkeit

Die Frage, ob es bestimmte Charaktereigenschaften gibt, die den Mörder gegenüber dem Nicht-Mörder auszeichnen, läßt sich aufgrund der bisher vorliegenden Kenntnisse nicht verbindlich beantworten. Über den Mord und über den Mörder 24*

371

existiert eine unermeßliche Fülle von Publikationen, die laufend durch neue Arbeiten vergrößert wird. Ansatz, Methode, Niveau und Gehalt der einzelnen Veröffentlichungen sind sehr unterschiedlich. Bei den meisten handelt es sich um die Beschreibung von Einzelfällen aus kriminalistischer, gerichtsmedizinischer oder psychiatrischer Sicht, wobei für den Autor Besonderheiten der Tatausführung, der Aufklärung, der Überführung, des sogenannten Tatmotivs oder der psychischen Verfassung des Täters im Vordergrund standen. Derartige Studien können dadurch wertvoll sein, daß der dargestellte Fall als repräsentativ anzusehen ist, als beispielhaft für ein ganz bestimmtes Tat- und Verhaltensmuster, das sich in anderen Fällen wiederentdecken läßt. Oft genug vermitteln die Fallbeschreibungen jedoch keine weiterreichenden Einsichten, sondern erschöpfen sich in einer langatmigen Aufzählung der Tatumstände, die bei einiger Kenntnis der Materie keineswegs mehr so sensationell erscheinen. Auch zusammenfassende Darstellungen kranken vielfach daran, zu sehr am Sensationellen kleben zu bleiben, das Mordtaten im allgemeinen Bewußtsein anhaftet. Bedenken gegen die Möglichkeit, einen Mördertyp zu entdecken, ergeben sich schon aus dem Auseinandergehen der gesetzlichen Formulierungen in den einzelnen Ländern. Aber auch wenn man unabhängig hiervon einzelne Tattypen ins Auge faßt, erscheint es unwahrscheinlich, bei den Tätern gleiche oder ähnliche Charaktereigenarten zu entdecken. Man vergleiche etwa den Gangster, der sich nach einem Banküberfall den Weg freischießt, mit der Mutter, die in einer nichtbewältigten Konfliktsituation zusammen mit ihren Kindern in den Tod geht, oder den sexuell abnormen Serientäter mit einem von Verzweiflung getriebenen Gattenmörder. Weitere Zweifel an der Existenz einer spezifischen Mörderpersönlichkeit lassen sich aus epochenabhängigen Veränderungen der Taten ableiten, auf die im Rahmen dieses Beitrags wiederholt hingewiesen wurde. Auf der gleichen Linie liegt, daß sich bei den Tätern die Bevorzugung bestimmter Altersgruppen, Sozialschichten, Wohngebiete usw. feststellen läßt. Die Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte hat in der psychiatrischen Literatur zu einer Überladung dessen geführt, was man unter „der Persönlichkeit" verstehen wollte. Die Psychiatrie erhielt ihren entscheidenden Anstoß, sich mit der Mörderpersönlichkeit zu beschäftigen, durch ihre Inanspruchnahme bei der Begutachtung von Tätern im Strafverfahren. Dadurch wurde der Sichtwinkel zugleich erheblich eingeengt, denn gefragt wurde nach der Zurechnungsfähigkeit bzw. Zurechnungsunfähigkeit des Täters, was in der Regel gleichbedeutend war mit der Frage nach dem Vorliegen einer geistigen Erkrankung. Lag eine Krankheit nicht vor, so begnügte man sich bei der Persönlichkeitsanalyse

372

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

mit Verhaltensbeschreibungen oder der Nennung einiger schlecht-definierter Termini. Infolge dieses Mangels eignen sich die in den Akten enthaltenen Gutachten nicht als Grundlage von Untersuchungen zur Täterpersönlichkeit. Wenn man dabei sehr häufig auf die Angabe stößt, es handele sich bei dem Täter um eine egozentrische, gemütsarme Persönlichkeit, ist zu bedenken, daß diese Charakterisierung unter Umständen aus der Sicht einer Tat erfolgt, die in ihrem Ergebnis gemütsarm und mitleidlos erscheint. Auch die Kennzeichnung von Tätern als Psychopathen oder Soziopathen ist wissenschaftlich von geringem Wert, da diese Begriffe unscharf sind und nach persönlicher Vorliebe gebraucht werden. Um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen, wäre es notwendig, Personen, die ein Tötungsverbrechen begangen haben, in großer Zahl mit standardisierten und gut validierten Methoden zu untersuchen. Ansätze in dieser Richtung bietet eine Untersuchung von Kahn. Die meisten Arbeiten über psychodiagnostische Untersuchungen von Mördern beziehen sich auf Ergebnisse, die mit dem Rorschach-Test gewonnen wurden. Das sich in ihnen widerspiegelnde Bild des Mörders hat Ferracuti zusammengefaßt: er ist durch Egozentrizität und Mangel an emotionaler Kontrolle gekennzeichnet, er ist explosibel und unreif, hat Kontaktschwierigkeiten, geringe rationale Kontrolle und ein starkes Verlangen nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung. Sieht man von der Problematik ab, die der Rorschach-Diagnostik schlechthin anhaftet, liegt der Mangel der betreffenden Studien, wie auch Ferracuti anmerkt, darin, in Kenntnis der vom Probanden begangenen Tat vorgenommen zu sein. — Verschiedene Veröffentlichungen enthalten Angaben über den Intelligenzquotienten von Tätern, allerdings stets von kleinen und nicht auslesefreien Gruppen. Gesichert scheint zu sein, daß Intelligenzmangel kein entscheidendes Merkmal der Mörderpersönlichkeit ist; Täter mit einem Intelligenzquotienten unterhalb des Durchschnittsbereichs sind allerdings stärker vertreten als überdurchschnittlich intelligente. In der älteren kriminologischen Literatur ist — vornehmlich aufgrund von Erfahrungen an Gefängnispopulationen — mitunter behauptet worden, der Mörder sei an sich keine zu Kriminalität oder Gewaltverbrechen neigende Persönlichkeit; meist habe er vor der Tat gute Sozialanpassung bewiesen und sich nach der Verurteilung als Muster-Gefangener gezeigt. Besondere Aufmerksamkeit erregen erfahrungsgemäß auch diejenigen Mord-Fälle, bei denen die Gewalttat in offenkundigem Bruch mit dem früheren unauffälligen Sozialverhalten des Täters steht. Nach der Verurteiltenstatistik dürfte der Anteil der Vorbestraften unter den Mördern und Totschlägern allerdings eher über dem Satz liegen, der aufgrund von

Schätzungen für die Gesamtbevölkerung angenommen wird. Von den wegen Mordes Verurteilten ist etwa jeder zweite vorbestraft, bei den Totschlägern beträgt der Anteil der Vorbestraften etwa 40%. Zieht man die seltener vorbestraften weiblichen Täter ab, ergeben sich sogar noch höhere Prozentsätze. Von den Tätern in Hamburg (abzüglich der Mord-Selbstmord-Täter) waren 63% vor der Tat in irgendeiner Weise mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, etwa 40% waren bereits zu Freiheitsstrafen verurteilt worden; Vorstrafen wegen Gewaltdelikten gegen Personen hatten etwa 20%. In Tatumständen und im Tatverhalten der vorbestraften Täter einerseits und der nicht-bestraften andererseits ergab sich korrelationsstatistisch eine Vielzahl von Unterschieden. Recht anschaulich treten die Beziehungen zwischen Vorleben und Schwere des Delikts zutage, wenn man sich an dem Merkmal der Neigung zu Gewalttätigkeit schlechthin orientiert: bei den Tätern, die wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt wurden, war von 51% bekannt, daß sie früher gegen andere Personen (nicht gegen das getötete Opfer) gewalttätig gewesen waren; bei den wegen Mordes Verurteilten betrug der Anteil 39%, bei den wegen Totschlags Verurteilten nur 25%. Von der Feststellung ausgehend, daß ein Teil der Gewalttäter nach Vorgeschichte und psychologischen Testergebnissen eher geringe Aggressionsbereitschaft aufweist, hat Megargee zwei Tätertypen unterschieden: die überkontrollierte und die unterkontrollierte Persönlichkeit. Die überkontrollierte Persönlichkeit neigt wegen starker allgemeiner Hemmungen wenig zu Aggression. Kommt es bei ihr nach einer längeren Periode, in der sie entsprechenden Reizen ausgesetzt war, doch zu Gewaltanwendung, geschieht dies in heftigerer Weise als bei dem unterkontrollierten Tätertyp. Blackburn hat diese Hypothese überprüft und bestätigt. Gerade derartige Ergebnisse demonstrieren jedoch den begrenzten Wert von Persönlichkeitsanalysen, die sich auf die Aufdeckung und Beschreibung gewisser Charaktermerkmale beschränken, ohne die einem Menschen stets eigene Wandelbarkeit zu berücksichtigen. Die Bereitschaft, Rückgriff auf Gewalt zu nehmen, setzt eine bestimmte — in einem Fall mehr sozial, im anderen mehr individuell-lebensgeschichtlich determinierte — Entwicklung voraus. Deswegen kann ein Verhalten, das bei dem einen Persönlichkeitsquerschnitt fremd und unverständlich erscheint, bezogen auf einen anderen kongruent und passend sein. Einen wichtigen Ansatz, die Entstehung von Aggressionsbereitschaft zu erklären, der Gegenstand umfangreicher Diskussion war, bietet die Frustration-Aggression-Theorie von Dollard et coli. Die Hypothese wurde von Palmer in einer interessanten Studie an 51 Männern überprüft,

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige die wegen Mord oder Totschlag verurteilt worden waren. Im Vergleich zu einem als Kontrollperson dienenden Bruder ließen sich bei den Tätern statistisch signifikant häufiger physische und psychische Frustration in der Kindheit feststellen. Eine Erweiterung des benutzten Untersuchungsverfahrens und seine Anwendung auf andere und größere Gruppen könnten wahrscheinlich weitere grundlegende Erkenntnisse vermitteln. Methodisch verfeinerte Untersuchungen dürften auch dazu führen, den psychoanalytischen Ansatz für die Kriminologie nutzbar zu machen. Psychoanalytisch orientierte Interpretationen kriminellen Verhaltens — speziell des Mords — gibt es in großer Zahl. Die von einem Außenstehenden nur schwer übernehmbaren theoretischen Voraussetzungen bzw. ihre mangelnde Verifizierung haben dazu geführt, daß der Psychoanalyse in der Kriminologie bislang wenig Anerkennung zuteil wurde. Bei der psychologischen Durchdringung schwieriger Mordfälle drängen sich oft aber auch dem kritisch eingestellten Nicht-Anhänger der Lehre einige von der Psychoanalyse herausgestellte Konstellationen sehr stark als wichtige Bedingungen der Tatentstehung auf. 2. Die Grunddaten a) Geschlecht. Tötungsverbrechen werden mit Ausnahme der Tötung von Neugeborenen überwiegend von Männern begangen. Der Anteil der als Täterinnen festgestellten Frauen wird in den einschlägigen Veröffentlichungen verschieden hoch angegeben. Wie weit es sich hierbei jeweils um tatsächliche Unterschiede handelt, läßt sich schwer abschätzen, da die Zahlen von Differenzen der gesetzlichen Definitionen und des Ausgangsmaterials beeinflußt werden. Außerdem ergeben sich auch hier — wie bei den Opfern — bei der Längsschnittanalyse der gleichen Population Schwankungen in der Zusammensetzung. Einen hohen Anteil von Täterinnen weist nach einer Erhebung, die sich über einen längeren Zeitraum (1933—1961) erstreckt, Dänemark auf: er beläuft sich auf durchschnittlich 34,6% (Siciliano). Als weitere Beispiele seien die Ergebnisse einiger Untersuchungen genannt, die sich alle auf Zeitabschnitte in den 50er Jahren erstrecken: unter den ermittelten Tätern bei Tötungsverbrechen betrug der Anteil der Frauen: in England 22% (Gibson und Klein), in Philadelphia 18% (Wolfgang), in Ceylon 6% (Wood), in Santiago 4% (Fuentes). Ohne daß eine strenge Proportionalität gegeben ist, bestätigt diese Reihe in ihrer Tendenz eine der von Verkko entdeckten Gesetzmäßigkeiten, auf die oben in bezug auf die Opfer hingewiesen wurde: in Ländern mit hoher Tötungskriminalität ist der Anteil der Frauen unter den Tätern gering, in Ländern mit niedriger Tötungskriminalität dagegen groß.

373

Bei den nicht-fahrlässigen Tötungsdelikten, die zwischen 1950 und 1967 in Hamburg begangen wurden, betrug der Anteil der weiblichen Täter 23%; es ist der gleiche durchschnittliche Prozentsatz, der sich aus der Bundeskriminalstatistik für die Jahre 1953—1967 für die vollendeten Mordund Totschlagfälle errechnen läßt. Bei Abgrenzung einzelner Perioden zeigt die Bundeskriminalstatistik den gleichen Trend, der am Hamburger Material festzustellen ist: die relative Beteiligung der Frauen sinkt. Ihr Anteil unter den ermittelten Tätern der in Hamburg begangenen Taten betrug zwischen 1950 und 1955 29%, zwischen 1956 und 1961 23% und zwischen 1962 und 1967 18%; die entsprechenden Häufigkeitsziffern waren 0,6 —· 0,4 — 0,5. In der gleichen Zeit stieg die Gesamtzahl der Vorfälle. Als Täter wurden absolut und relativ mehr Männer ermittelt; die Häufigkeitsziffern der männlichen Täter lauten in den einzelnen Perioden 1,6 — 1,6 — 2,4. Diese Feststellung entspricht einer weiteren von Verkko behaupteten Regel: eine Zunahme der Tötungsverbrechen geht mit einer Steigerung des Anteils der männlichen Täter einher. Frühere in Deutschland durchgeführte Untersuchungen (Blühm, Reichskriminalstatistik) kamen auf 10% weibliche Täter. Da in diesen Untersuchungen nur gerichtlich abgeurteilte Fälle erf aßt wurden, eignen sie sich nicht als Vergleichsgrundlage. Die sich hier auftuende Differenz offenbart ein wesentliches Charakteristikum der von Frauen begangenen Tötungen: sie werden in Verbindung mit Selbsttötungen verübt, wodurch eine Strafverfolgung entfällt. Unter den Mord-SelbstmordFällen von West waren 40,5% der Täter Frauen, in der Vergleichsgruppe der Mörder ohne Selbstmord waren es nur 11,5%. In Hamburg war die Relation ähnlich: unter den Tätern, die in Verbindung mit der Fremdtötung bzw. vor ihrer Ergreifung Selbstmord begingen, fanden sich 37,5% Frauen, in der Restgruppe waren es nur 19%. Allgemeingültigkeit kann allerdings auch dieses Merkmal nicht für sich beanspruchen. In den nordamerikanischen Städten Baltimore und Philadelphia, wo nur ein ganz geringer Prozentsatz aller Täter sich selbst tötete, fanden sich unter ihnen keine oder nur ganz wenige Frauen (Criminal Justice Commission, Wolfgang). Bei dem Versuch, die unterschiedlich große und auch vielfach qualitativ auseinandergehende Beteiligung der beiden Geschlechter an kriminellen Handlungen zu deuten, kompetieren biologischpsychologisch und soziologisch orientierte Interpretationen. In der Bundesrepublik Deutschland liegt die Beteiligung der Frauen an der Tötungskriminalität trotz fallender Tendenz noch etwas über ihrer durchschnittlichen Beteiligung an der Gesamtkriminalität (etwa 15%). Allein die erwähnten Differenzen weiblicher Mord-SelbstmordTäter in den einzelnen Populationen zeigen an,

374

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

daß pauschale Vergleiche kaum verläßliche Generalisationen erlauben, da mit dem Auszählen von Grunddaten möglicherweise ganz andere Verhaltensmuster erfaßt werden. Die Aufarbeitung des Hamburger Materials ergab eine größere Anzahl signifikanter Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Tätern sowohl bezüglich der Persönlichkeit als auch bezüglich der Tat. Als kennzeichnend für die unterschiedlichen Tatmuster läßt sich herausstellen: Bei den Opfern der Männer handelte es sich zu 11% um Kinder unter 14 Jahren, bei den Opfern von Frauen zu 78%. Von den Männern töteten 20% Personen, die ihnen bis zum Tattag völlig unbekannt waren; bei den Frauen geschah dies in keinem einzigen Fall. Nur 22% der männlichen Täter verübten bei oder nach der Tat Selbstmord oder unternahmen einen Selbstmordversuch, aber 45% der Täterinnen. Von den Männern begingen 43% ihre Tat in der Hauptzeit des gesellschaftlichen Kontakts zwischen 20 und 2 Uhr, von den Frauen 21%. Einen Konflikt mit ihrem Opfer hatten 65% der Männer, jedoch nur 22% der Frauen. Die in der Rangfolge häufigsten Tötungssituationen waren bei den Männern: Streit unter Alkohol (25%), Gattentötung durch den verlassenen Partner (15%), Raubmord und Psychose; sie umfaßten insgesamt 56% der von Männern begangenen Taten. Die restlichen verteilten sich auf weitere 23 Tattypen. Die bei den Frauen an der Spitze stehenden Tötungssituationen waren: Tötung einer Neugeburt (28%), Psychose (25%), chronischer Familienkonflikt und Gattentötung durch den verlassenen Partner. Hiermit waren 68% der von Frauen begangenen Taten erfaßt, die übrigen Fälle mit weiblicher Täterschaft waren zwölf weiteren Tötungssituationen zuzuordnen. Die Taten von Frauen zeigen demnach eine weitaus kleinere Variationsbreite. Die festgestellten Unterschiede vermögen die bereits von Dürkheim vertretene These zu stützen, daß die niedrigere Tötungskriminalität der Frau auf ihrer geringeren Beteiligung am Gemeinschaftsleben beruht. Der individuelle Charakter ihrer Taten wird dadurch unterstrichen, daß sie in über der Hälfte der Fälle aus krankhaften oder doch krankheitsähnlichen Bedingungen entstanden sind. Allerdings ereigneten sich in Hamburg auch die Tötungsdelikte der Männer überwiegend im sozialen Nahraum, eine Art Überhang entstand nur auf dem Sektor der Delikte mit echt kriminellem Hintergrund und bei Taten, die aus den vorwiegend Männern vorbehaltenen Zechgelagen erwuchsen. Bei den Familienkonflikten pflegen Männer sich jedoch eher gegen die Person zu wenden, mit der der Konflikt besteht, während Frauen in suizidale Selbstaggression ausweichen und die Kinder mit in ihr Schicksal hineinnehmen.

Die Erfahrung, daß die Täterinnen in den nordamerikanischen Stichproben nicht die gleichen Verhaltensmuster zeigen, macht soziologische Erklärungsversuche der Spezifität der von Frauen begangenen Delikte schlüssiger als biologische. Die als gesichert geltende Erkenntnis, daß die meisten Tötungsverbrechen ungeplant und aus der augenblicklichen Erregung des Täters entstehen, regt zu weiteren Überlegungen an: da Umgang mit Waffen und ihr Führen männliche Gewohnheit ist, ist der Mann kulturell stärker riskiert, durch die Benutzung der Waffe zum Mörder zu werden; unter den gleichen Bedingungen ist er aufgrund seiner überlegenen körperlichen Kräfte aber auch biologisch hierzu in höherem Maße disponiert. Die Frau vermag aggressive Impulse nicht mit der gleichen Unmittelbarkeit zu realisieren und wird auch deswegen seltener ein Gewaltdelikt begehen. Im Kern scheinen biologische und kulturelle Gründe kaum entwirrbar miteinander verflochten. b) Alter. Das Lebensalter des Täters bildet in der Bedingungskonstellation eines Tötungsverbrechens eine einflußreiche Größe. Den größten Anteil an Tätern stellt die Gruppe der 20- bis 30jährigen, also die Altersstufe, in der eine hohe Neigung besteht, auch auf anderen Gebieten straffällig zu werden. Der in den einzelnen Erhebungen gefundene Anteil von 20- bis 30jährigen Tätern liegt zwischen 30% und 50%, je nach Art und Abgrenzung des Ausgangsmaterials. Am stärksten ist diese Altersgruppe in Untersuchungen vertreten, die sich auf verurteilte Mörder und Totschläger stützen; bei Blühm und in der Reichskriminalstatistik 1928—1933 beträgt der Anteil der 20- bis 30jährigen ζ. B. etwa 50%. Eine flacher verlaufende Verteilung ist dort gegeben, wo — wie bei den nordamerikanischen Negern die Bereitschaft zur Begehung von Gewalttaten bis ins höhere Alter andauert sowie in Stichproben mit einem höheren Anteil an Frauen, Selbstmördern oder Geisteskranken. Als Beispiel für eine bei Tätern vorgefundene Altersverteilung ist in Tabelle 5 das Hamburger Material dargestellt. Die Aufteilung in drei Perioden von je sechs Jahren veranschaulicht, daß sich die einzelnen Altersgruppen in verschiedenem Maß an der Gesamtzunahme beteiligten. In der zweiten Periode (1956—1961) ist bei den meisten Altersgruppen eine Abnahme zu registrieren. Eine Ausnahme bilden die 15- bis 24jährigen und die 35bis 39jährigen Männer, die in dieser Zeit häufiger als Täter auftreten. Bei den jüngeren Tätern lag zunächst die Annahme nahe, daß diese Zunahme nur vorgetäuscht würde, da in diesem Zeitraum die geburtsstärkeren Jahrgänge der letzten Vorkriegs- und der ersten Kriegs jähre in das vorrangig disponierende Alter gerückt waren. Die Häufigkeitsziffern lassen jedoch erkennen, daß es sich um eine echte Steigerung handelt. Die Altersklassen

375

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige Tabelle 5 Nicht-fahrlässige Tötungsdelikte in Hamburg 1950—1967. Altersverteilung der Täter in Prozent und Häufigkeitsziffern.

Alter

unter 15 15—19 20—24 25—29 30—34 35—39 40—44 45—49 50—54 55—59 60—64 65 u. älter insgesamt

1950-- 1 9 5 5 % HZ

. 6,7 16,2 21,0 13,3 3,8 9,5 7,6 7,6 7,6

1,0 2,6 3,2 2,3 0,6 1,2 0,9 1,0

1,9 4,8

1,1 0,3 0,4

100,0

1,0

1956-- 1 9 6 1 %

HZ

1,0 10,7 24,3 16,5

0,1 1,4 3,0 2,4

11,7 8,7 5,8 5,8 5,8 8,7

1,7 1,4 0,9 0,7 0,7

1962-- 1 9 6 7 % HZ

1,0

0,1

7,9 16,6 27,2 14,6 6,6 7,3 4,6 5,3 4,6 0,7 4,6

100,0

1,0

100,0

1,1



mit deutlichem Anstieg von der ersten zur zweiten Periode (20—24, 35—39) sind an dem in der dritten Periode einsetzenden Gesamtanstieg nicht beteiligt, bei diagonalem Vergleich muß man aber annehmen, daß die betreffenden Jahrgänge eine hohe Tatbereitschaft beibehielten. Bei den Frauen ist anteilmäßig stets das Dezennium zwischen 25 und 34 Jahren am stärksten vertreten, ein Ergebnis, das auf der Linie der von Pollak aufgewiesenen „Verzögerung" der Kriminalität der Frau gegenüber der des Mannes liegt. Von Einfluß ist hierbei, daß die Delikte der Frauen, wie erwähnt, ihre Schwerpunkte in be-

1,8 2,9 4,7 3,0 1,4 1,7 1,0 1,0 0,8

insgesamt %

HZ

0,3 8,4 18,7 22,3 13,4 6,4 7,5 5,9

0,0 1,5 2,9 3,4 2,4

0,1 0,4

6,1 6,7 0,8 3,6

1,1 1,2 0,9 0,9 1,0 0,2 0,3

1,4

100,1

1,1

sonderen Tattypen haben; in Hamburg sind es die Mord-Selbstmord-Fälle und die psychosebedingten Taten. Unter den Mord-SelbstmordTätern finden sich Männer wie Frauen höherer Altersklassen anteilmäßig häufiger. Ähnlich wie bei der Untersuchung von West waren in Hamburg über 50% der Täter, die bei oder nach der Fremdtötung Selbstmord begingen, über 40 Jahre alt (Abb. 2). Auch unter den psychotischen und wahnkranken Tätern zeigen die älteren Altersklassen eine verhältnismäßig hohe Beteiligung (East, Gibbens, Mowat).

2520-

15-

5-

15-19 1 20-24 1 25-29 1 30-34 1 35-39 1 40-44 1 45-49 1 50-54 1 55-59 1 60-64 1 65-69 1 70-74 1 75-79 1 80-84 1 85-89 1 "

Α

"® Γ

Abb. 2 Alter der Täter bei nicht-fahrlässigen Tötungsdelikten in Hamburg 1950—1967 (in Prozent) gestrichelte Linie: Fälle mit Selbstmord des Täters (N = 73) ausgezogene Linie: Übrige Fälle (N = 284)

376

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

Die Eigenheiten der von Jugendlichen begangenen Tötungsverbrechen waren Anlaß zu verschiedenen Spezialuntersuchungen (u. a. Colin et coll., Easson, Kögler, F. Weber, Witter). Manche Taten sind absolut altersspezifisch und wären ohne hineinwirkende Pubertätseinflüsse nicht begangen worden (Stutte). Raubmörder gehören ganz überwiegend den jüngeren Altersklassen an (Fattah). Die Beobachtung von impulsiv begangenen, unklar motivierten Tötungsdelikten von gut beleumdeten Jugendlichen an weiblichen Opfern hat Stearns veranlaßt, ein besonderes Syndrom herauszustellen. Bei manchen zu Aggressionen neigenden Jugendlichen wurde der elektroenzephalographische Befund der 14 und 6/sec-positiven Spikes beschrieben (u. a. Hughes et coll., S. M. Woods). Fundierend für die Taten Jugendlicher sind neben einer gewissen Kurzschlüssigkeit und Realitätsferne, die einen Mord als praktikable Lösung erscheinen lassen, subkulturelle Einflüsse oder die gruppendynamische Situation der Mittäterschaft. c) B e r u f l i c h - s o z i a l e S c h i c h t u n g . Aus einer Vielzahl von Untersuchungen, die in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen vorgenommen wurden, geht hervor, daß Tötungsverbrechen ganz überwiegend von Angehörigen der unteren sozioökonomischen Schichten verübt werden, und zwar auch meist an Angehörigen dieser Schichten (u. a. Birrell, Bensing und Schroeder, Brearly, Bustamante und Bravo, Morris und Blom-Cooper, Verkko, Wolfgang, Wood). Das Ausmaß der Überrepräsentation der Unterschichten und die stets nach Ahndung verlangende Schwere des Delikts machen es unwahrscheinlich, daß diese Ergebnisse lediglich durch eine geringere Verfolgungsintensität gegenüber den höheren Sozialschichten vorgetäuscht werden. Man könnte vermuten, daß mangelndes Mißtrauen gegenüber dem sozial Bessergestellten auf selten der Behörden, möglicherweise verbunden mit geschickterer Durchführung und Verheimlichung der Tat auf Seiten des Täters die Entdeckung von Tätern aus der Oberschicht verhindern. Verzichtet man auf Mystifikationen und behält die Bedingungen im Auge, die im allgemeinen zur Begehung eines Tötungsverbrechens hinleiten, ist anzunehmen, daß dies allenfalls für eine sehr kleine Anzahl von Taten gilt. Für ein echtes Überwiegen der Unterschichten spricht einerseits, daß der Rückgriff auf körperliche Gewalt innerhalb der Unterschichten eher gebilligt wird, dem Normensystem der oberen Schichten jedoch zuwiderläuft. Angehörige der höheren Klassen lernen von Jugend an, andere, legale Lösungen von Konflikten zu suchen. Unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit veranschaulichen Konflikttäter, die das geschehene Verbrechen als ihrem Wertsystem entgegenstehend ablehnen, daß die sozial gewünschte Anpassung durch bestimmte Persönlichkeitszüge wie

schwache Frustrationstoleranz, mangelnde Durchsetzungsfähigkeit oder geringe Intelligenz erschwert wird. Man stößt hier auf Radikale, die in einer offenen Gesellschaft zudem einen sozialen Aufstieg vereiteln können. In der Hamburger Untersuchung ergaben sich aus Korrelationen der Schichtzugehörigkeit der Täter, die nach dem weiter oben erläuterten Prinzip definiert wurde, mit anderen Tat- und Tätermerkmalen mehrere signifikante Unterschiede zwischen den Angehörigen der Mittelschicht einerseits und den Unterschichtangehörigen andererseits. Die Unterschiede waren entscheidend darin begründet, daß Täter der höheren Schichten stärker in der Gruppe der Mord-Selbstmord-Täter vertreten waren. Die Verteilung im Gesamtmaterial war: gehoben 1,7%, untere Mittelschicht 9,5%, obere Unterschicht 21,1%, untere Unterschicht 45,8%; wegen Asozialität nicht klassifizierbar waren 21,9%. Der Anteil der oberen und unteren Mittelschichttäter betrug unter den MordSelbstmord-Tätern 27%, in der Restgruppe dagegen nur 7%. Allein hieran sind schichtenabhängige Differenzen des Tathintergrundes ablesbar. Bei der Längsschnittanalyse schlug sich die wechselnde Beteiligung der Selbstmordtäter auch in der jeweiligen Schichtverteilung nieder. Ein kontinuierlicher Zuwachs der Täter aus der unteren Unterschicht erfolgte in erster Linie auf Kosten der als „asozial" Eingestuften, eine Erscheinung, die vornehmlich auf eine durch die Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik der 60er Jahre bedingte Umstrukturierung der Gesamtbevölkerung zurückzuführen sein dürfte.

3. Krankheit a) K ö r p e r l i c h e A l l g e m e i n e r k r a n k u n g e n können bei der Entstehung eines Tötungsverbrechens ein entscheidender Faktor sein. Fundierend sind sie bei manchen Taten aus dem Kreis der Mord-Selbstmord-Fälle. Zwischen Täter und Opfer bestehen emotionale Bindungen: meist eine langjährige Ehe oder ein Eltern-Kind-Verhältnis. Die Krankheit, ein chronisches Siechtum, kann beim Täter oder beim Opfer vorliegen; sie wird als gemeinsames Schicksal erlebt, das — eines Tages unerträglich geworden — auch den gemeinsamen Tod begründet. Da die Tat vielfach im gegenseitigen Einverständnis erfolgt, läßt sich in diesen Fällen kaum von Tätern und Opfern im üblichen Sinn reden. Aber auch bei anderen Tattypen kann ein körperliches Leiden wesentlichen Einfluß auf das Verhalten des Täters, insbesondere auf seine Fähigkeit zur Konfliktverarbeitung, genommen haben. Bei 38% der Täter, die in Hamburg zur Aburteilung kamen, wurde eine akute oder chronische Erkrankung oder ein reduzierter körperlicher Allgemeinzustand festgestellt.

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige b) Die E p i l e p s i e besitzt bis heute den Ruf, in besonderem Maß zu Gewalttaten zu disponieren. Ein Umstand, der in der forensischen Praxis hierzu beigetragen hat, mag sein, daß viele Täter im Verfahren eine Erinnerungslosigkeit für das Tatgeschehen geltend machen, was man kurzschlüssig mit der Erscheinung des epileptischen Ausnahmezustands in Verbindung brachte. Eine Erinnerungslücke erlaubt aber keine verbindlichen Rückschlüsse auf den psychischen Zustand des Täters während des Zeitraums, der nicht erinnert wird (Rasch). EEG-Forscher (Hin und Pond, Mundy-Castle) haben unter Mördern einen weit überdurchschnittlichen Prozentsatz von Epileptikern gefunden. Kliniker (Livingston, Lennox) verweisen demgegenüber auf ihre Erfahrung, daß Kriminalität unter ihren Epilepsie-Kranken nicht häufiger zu beobachten ist als bei der übrigen Bevölkerung. In der eigenen Untersuchung fand sich die Diagnose Epilepsie lediglich bei zwei Mord-Selbstmord-Tätern; dies entspricht dem Vorkommen von Epilepsie in der Gesamtbevölkerung (0,5%). Als gesichert kann gelten, daß Tötungsverbrechen von Epileptikern nicht innerhalb von Anfällen oder Anfallsäquivalenten begangen werden. Tatfördernd können Begleiterscheinungen der Erkrankung sein wie Wesensänderung, Alkoholunverträglichkeit, Erregbarkeit, mangelnde Belastbarkeit (Mundy-Castle). c) Die Diagnose S c h i z o p h r e n i e wird nach sehr unterschiedlichen Kriterien gestellt. Es ist daher nicht möglich, allgemeingültig zu belegen, in welchem Umfang Schizophrenie-Kranke an Tötungsverbrechen beteiligt sind (-> Tötung und Psychose). Unter den Hamburger Tätern betrug der Anteil der Schizophrenie- und Wahnkranken etwa 4%. Fraglos ist dies ein Anteil, der jede Morbiditäts-Schätzung der Schizophrenie weit überschreitet. Die sich hier bereits im Einzelfall mitunter ergebenden diagnostischen Schwierigkeiten dürften wesentlich dazu beigetragen haben, das Gesamtproblem „Schizophrenie und Mord", zu dem eine üppige Literatur existiert (s. Tovo), mit einem Schleier von Vergeheimnissung zu umgeben. Die umfangreichste Bearbeitung stammt von Schipkowensky (1938), der es für berechtigt hält, verschiedene Sonderformen von Mordtaten Schizophrener und ihnen zuzuordnende Sinngesetzlichkeiten zu unterscheiden. Andere bekannt gewordene Arbeiten aus dem deutschen Schrifttum haben das Vorkommen von Morden im Prodromalstadium der Schizophrenie (Wilmanns) bzw. als Initialdelikt einer Psychose (Stransky) herausgestellt; vor einigen Jahren hat Gillies noch einmal auf diese Erscheinung hingewiesen. Nach anderen Untersuchern (McDermaid und Winkler, Rasch, Varma und J h a ) besteht die Erkrankung in der Regel bereits vor der Tat, wenngleich sie manchmal noch nicht erkannt worden war. Die

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Beobachtung, daß die Taten von Schizophrenen mitunter motivisch schwer zu durchdringen sind, konnte — zusammen mit der Lehre vom Initialdelikt — dazu verleiten, eine Schizophrenie bereits dort zu diagnostizieren, wo eine Tat lediglich unverständlich war, auch wenn andere Symptome dieser Geisteskrankheit fehlten. Damit eröffnet sich jedoch die Möglichkeit einer ins Beliebige gehenden diagnostischen Aufweichung; die Diagnose und damit die Beurteilung des Delikts hängen dann in erster Linie von den Verstehensmöglichkeiten des zufällig mit dem Fall Befaßten ab. Andererseits können sich die Taten NichtGeisteskranker ebenfalls dem psychologisch-verstehenden Zugriff entziehen, während Morde psychisch Kranker vordergründig „normal" motiviert erscheinen (Gibbens, Lanzkron, Lindinger, Rasch). Auch das Merkmal, daß die begangene Tötung dem Täter selbst unverständlich ist (Ghysbrecht, Schipkowensky), kann die Diagnose „Schizophrenie" nicht tragen, weil es auch bei nicht-kranken Tätern zu beobachten ist. Ebenso sind mangelnde Reue, Fehlen emotionaler Beteiligung, Geständnisdrang oder Sich-Stellen keine Verhaltenseigenarten, die psychotischen Tätern vorbehalten sind. Wie Bürger-Prinz in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schipkowensky und Wilmanns herausgestellt hat, läßt das auf das Tatgeschehen und seine Absonderlichkeiten eingeengte Interesse den Blick verlieren für die prinzipiell möglichen menschlichen Entwicklungen mit ihren Umbrüchen und Haltungsänderungen, ihrer Epochenspezifität und ihrer Prägung durch Ideen. Alles, was merkwürdig und auffallend ist, wird schließlich schizophren genannt. Das Vorliegen einer Schizophrenie ist bei einem Mörder nicht anders zu diagnostizieren als bei einem beliebigen klinischen Fall. Das Fehlen eindeutiger Bezugskriterien legt bei der Diagnose einer „latenten Schizophrenie" äußerste Zurückhaltung nahe (Luthe). Völlig ins Unbeweisbare gerät man mit der von Reichard und Tillmann in diesem Zusammenhang vertretenen Theorie, der Ausbruch der Schizophrenie sei bei bestimmten Fällen durch eben diese Gewalttat verhindert worden. d) P s y c h o s e n vom m a n i s c h - d e p r e s s i v e n T y p stellen ähnliche diagnostische Probleme wie die Schizophrenie. Erscheinungsformen der Erkrankung sind depressive und — seltener — manische Phasen. Manische Zustände disponieren zu verschiedenartigen Rechtsbrüchen, kaum aber zu einem Tötungsdelikt (Schipkowensky). Neben anderem mag ein wichtiger Grund hierfür sein, daß bei Manien der Kranke sehr schnell seiner Umgebung auffällt; es wird eine klinische Behandlung veranlaßt, wodurch weitere soziale Komplikationen vermieden werden. Depressionen werden demgegenüber — selbst von Ärzten —• leicht verkannt oder in ihrer Gewichtigkeit unter-

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Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

bewertet. Die erwähnten diagnostischen Schwierigkeiten liegen einerseits in dieser Verkennung, zum anderen in der differentialdiagnostischen Abgrenzung der endogenen Depressionen von neurotischen und reaktiven. Die diagnostische Zuordnung kann, wenn der Kranke eine Straftat begangen hat, die rechtliche Beurteilung wesentlich beeinflussen. Da die vertretene Auffassung jedoch nicht zuletzt von Schulmeinung und persönlichen Präferenzen abhängt, ist es richtiger, sich in der Rechtsprechung nicht an der Diagnose, sondern an der Schwere der eingetretenen Persönlichkeitsveränderung zu orientieren. Wurde ein Tötungsverbrechen durch einen Konflikt ausgelöst, besteht beim Täter mitunter eine schwere depressive Persönlichkeitsdesorganisation, die von einer echten Gemütserkrankung nur schwer zu unterscheiden ist. Übereinstimmung existiert in der Literatur darin, daß die krimin ogene Bedeutung von Depressionszuständen, gemessen an ihrem Vorkommen, gering ist. Die früher geltende Meinung, man habe bei Depressionen ausschließlich mit Straftaten vom Typ des erweiterten Selbstmords zu rechnen, ist allerdings inzwischen revidiert worden; es kommen recht vielfältige Delikte vor (Schulte, Woddis, Rasch und Petersen, Mende). Diese Erkenntnis wirft auch einiges Licht auf die Tötungsverbrechen Depressiver. Wird von ihnen eine Tötung begangen, bestehen im Regelfall auch Suizid-Tendenzen. Sie können jedoch fehlen; die Tat läßt sich nicht als eine in Mitleid begründete „Mitnahme" verstehen, die Tatdynamik wird vielmehr aus einer inneren emotionalen Spannung gespeist, die sich unmittelbar in Handlung und Aggression umsetzt. Die Verbreitung homizidaler Impulse bei Depressionen veranschaulicht eine Untersuchung von Gittleson. Er fand in einer Gruppe von 398 klinischen Patienten mit einer psychotischen Depression bei 12% Zwangsantriebe, die auf eine Fremdtötung gerichtet waren, zum Teil kombiniert mit suizidalen Inhalten. Dem Bestehen von Zwängen schien eine Schutzfunktion gegenüber der Realisierung von Aggressionshandlungen (in Form von Selbstmord) zuzukommen. Durch Vergleich mit einer Gruppe anderer Täter hat Batt die charakteristischen Merkmale des depressiv-psychotischen Mörders herausgestellt: Meist ist es eine Frau: (19:1), verheiratet, ungefähr 30 Jahre alt, die Selbstmordideen hat. Zum Opfer wird die Person, die sie am meisten liebt. Nach der Tat holt die Täterin Hilfe. Die Erkrankung besteht stets vor der Tat, ist nie das erste Symptom. Im Hamburger Material kam kein Fall einer Tötung durch einen manischen Kranken vor. Unter endogenen Depressionen litten 5% der Täter, auch hier waren es fast nur Frauen. In der Gruppe der Mord-SelbstmordTäter war diese Diagnose bei 12% zu stellen. Die von West getroffene Feststellung, daß endogene

und neurotische Depressionen in gleichem Maß zum erweiterten Selbstmord disponieren, wird durch die Hamburger Untersuchung bestätigt. e) Andere p s y c h i s c h e K r a n k h e i t e n als Grundlage eines Tötungsverbrechens fallen anteilmäßig wenig ins Gewicht. Als Raritäten sind insbesondere solche Fälle anzusprechen, bei denen der Täter unter einer endokrinen Störung oder unter einer vorübergehenden Unterzuckerung litt. Eine Sonderstellung nimmt der Eifersuchtswahn ein; Mowat fand bei 12% der Männer und 3% der Frauen, die zwischen 1936 und 1955 als geisteskranke Mörder in der Anstalt von Broadmoor/ England aufgenommen wurden, wahnhafte Eifersucht als unmittelbaren Antrieb zur Tat. Beim Eifersuchtswahn handelt es sich jedoch nicht um eine nosologische Einheit; er kommt vor bei der Schizophrenie, in der Involution, bei chronischem Alkoholismus und als charakterogene Entwicklung. Ein paranoischer Verarbeitungsmodus ist im übrigen nicht selten bei nicht-kranken Gattenund Geliebtenmördern anzutreffen, die ihren Partner schließlich „aus Eifersucht" umbringen. 4.

Älkoholeinfluß

Den Beziehungen zwischen Alkohol und Kriminalität ist man in zahlreichen Studien nachgegangen (-> Alkoholismus). Die veröffentlichten Ergebnisse zeigen große Varianz. In einer Aufstellung, die MacDonald nach Untersuchungen von zehn amerikanischen Autoren zusammengetragen hat, schwankt der Anteil der Täter, die bei VerÜbung eines Tötungsverbrechens unter Älkoholeinfluß standen, zwischen 19% und 83%. Von den deutschen Autoren fand Lorentz bei Totschlägern 38% Alkoholtäter, Steigleder bei Mördern und Totschlägern 27%. Der vorgefundene Prozentsatz hängt von Abgrenzung und Zusammensetzung des Materials ab; Unterschiede ergeben sich unter anderem aus dem Typ der untersuchten Delikte, dem Anteil der Selbstmordtäter und weiblichen Täter, der Population und der Epoche. Die Wandlungen der nicht-fahrlässigen Tötungskriminalität in Hamburg innerhalb von 18 Jahren schlugen sich auch in der Beteiligung der alkoholisierten Täter nieder: 1950—1955 waren es 33,7%; 1956—1961 50,5%; 1962—1967 62,9%. Unter den Opfern trat die Zunahme in weniger gleichmäßigen Schritten ein; der unter Älkoholeinfluß stehende Anteil betrug in den betreffenden Perioden: 25,7%; 27,7%; 57,8%. Die Art der Delikte, die Zusammensetzung der Täter- und Opfergruppen sowie die Täter-Opfer-Beziehungen veränderten sich in dieser Zeit in vielfacher Hinsicht. Zur Veranschaulichung seien noch zwei einflußreiche Größen genannt: für den Gesamtzeitraum war bei 61% der männlichen Täter, aber nur bei 16% der weiblichen Älkoholeinfluß festzustellen. Von den Mord-Selbstmord-Tätern standen zur Tatzeit

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige 30% unter Alkohol, von der Restgruppe 54%. Unterschiedliche Sätze von Alkoholtätern sind insofern nicht direkt mit dem Umfang des allgemeinen Alkoholkonsums in Verbindung zu bringen. Die Frage, welchen Stellenwert der Alkoholgenuß im Gesamt einer Tatkonstellation hat, hat vornehmlich zwei Punkte zu berücksichtigen: 1. Täglich nehmen sehr viele Menschen Alkohol zu sich, ohne straffällig zu werden. Tötungsdelikte im Sinn von Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge sind ein rares Ereignis. 2. Die Feststellung gewisser Prozentsätze alkoholisierter Personen unter Straftätern — oder deren Opfern — braucht nicht mehr widerzuspiegeln als die Lebensgewohnheiten der Kreise, aus denen sich Täter und Opfer rekrutieren. Das Fehlen einer unmittelbaren Kausalverbindung zwischen Alkoholgenuß und Kriminalität wird durch eine 1966/67 von Wieser in Bremen durchgeführte Untersuchung nahegelegt, die ergab, daß in der männlichen Bevölkerung keine schichtenspezifischen Unterschiede in der Häufigkeit des Alkoholkonsums bestehen. Demgegenüber stammen Männer, die strafrechtlich in Erscheinung treten, auch auf dem Gebiet der Tötungsverbrechen, überwiegend aus den unteren sozialen Schichten. Wegen dieser generellen Überrepräsentation der Unterschichten ist es auch nicht möglich, die zu vermutende Bedeutsamkeit schichtenspezifischer Trinksitten bezüglich bestimmter Tatmuster eindeutig darzustellen. Bei der Tötungssituation Streit unter Alkohol (s. J 2 a ) sind Trinkgelegenheiten und Grundhaltung der Beteiligten zweifellos von großem Einfluß für die Entstehung der Gewalttat; da tödliche Auseinandersetzungen beim Zusammensein ähnlicher Gruppen ohne gleichzeitigen Alkoholkonsum aber außerordentlich seltene Vorkommnisse sind, dürfte der alkoholbedingten Persönlichkeitsveränderung bei Täter oder Opfer doch das Hauptgewicht zukommen. Der Anteil der Täter, die bei Taten dieses Typs unter Alkoholeinfluß standen, betrug im Hamburger Material 90%. Der katalysierende Einfluß des Alkohols wird an den Prozentsätzen alkoholisierter Täter ablesbar, die bei den anderen häufigeren Tötungssituationen festzustellen waren; fundierend für diese Taten waren jeweils vor der Berauschung bestehende psychische Bedingungen. Die Sätze betrugen: bei der Tötungssituation „Abnormität" 45%, bei der „Gattentötung durch den verlassenen Partner" 44%, bei der „Geliebtentötung durch den verlassenen Partner" 36%, beim Raubmord 33%. Gering war der Anteil beim „Chronischen Familienkonflikt" (14%) und bei den psychotischen Tätern (12%). Bei der Tötung von Neugeburten stand keine der Täterinnen unter Alkoholeinwirkung. Die Alkoholbeteiligung bei Konflikttaten kann darin begründet sein, daß gelegentlich der Aus-

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sprache, die den Konflikt bereinigen soll, Getränke auf dem Tisch stehen. In anderen Fällen ist die Bereitschaft zur gewaltsamen Lösung in einem vorangegangenen Alkoholkonsum anläßlich einer Feier oder Zechtour herangereift, die alkoholische Persönlichkeitsauflockerung begünstigt die Entladung innerer Spannungen. Eigentliche Rauschtaten, bei denen die Symptomatik der Intoxikation führend ist, sind jedoch selten. Es gibt keine Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Höhe der Blutalkoholkonzentration und Neigung zur Begehung von Tötungsverbrechen. Bei 78 der Hamburger Täter lag die genaue Höhe der Blutalkoholkonzentration vor; ihre Verteilung entsprach der in zahlreichen Untersuchungen an verschiedenen Tätergruppen erhobenen. Das Vorkommen von c h r o n i s c h e m A l k o h o l i s m u s bzw. habituellem stärkerem Alkoholkonsum beim Täter korreliert nach dem Ergebnis der eigenen Untersuchung hoch mit dem Merkmal der Trunkenheit zur Tatzeit. Bei Längsschnittbetrachtung ergibt sich jedoch keine Parallelität der beiden Erscheinungen. Im Hamburger Material fanden sich bei insgesamt 13% der Täter in der Vorgeschichte Hinweise auf Alkoholismus, bei den Männern (15%) häufiger als bei den Frauen (6%). Im Gegensatz zu dem Merkmal „akuter Alkoholeinfluß" war keine anteilmäßige Zunahme feststellbar; die Prozentsätze der Täter mit chronischem Alkoholismus betrugen in den drei Untersuchungsabschnitten: 15% — 16% — 10%. Bei Berücksichtigung der Gesamtzunahme ist hieran ablesbar, daß diese schon in psychopathologischen Kategorien zu erfassende Gruppe unter den Tätern in ihrer Größe praktisch konstant blieb. Zwei Tattypen, in denen Alkoholismus wesentliches Element ist, die insgesamt jedoch nur selten vorkamen, zeigten besonders in der letzten Untersuchungsperiode eine gewisse Zunahme: Die Tötungssituation „Asoziale Partnerschaft", die dadurch konstituiert wird, daß ein Mann und eine Frau, die fortschreitender alkoholischer Depravation unterliegen, zusammenleben und häufig Tätlichkeiten miteinander austragen. Wer am Schluß Täter und wer Opfer wird, scheint nahezu dem Zufall überlassen zu bleiben. Bei der „Elimination des ehestörenden Partners" wird meist der Mann, der durch Alkoholmißbrauch den Bestand der Ehe gefährdet, zum Opfer, Täterin ist die Ehefrau.

5.

Zurechnungsfähiglceü

Die in den Abschnitten über geisteskranke Täter referierten Prozentsätze haben erkennen lassen, daß die meisten Personen, die ein Tötungsverbrechen begehen, nicht im medizinischen Sinn psychisch krank sind. Um ihre Zurechnungsfähigkeit im juristischen Sinn werden in den Verfahren gleichwohl immer wieder erbitterte Kämpfe ge-

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Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

führt. An erster Stelle ist es die Verteidigung, die vorbringt, daß das Verhalten des Täters „einfach nicht normal" sein kann. Vertritt der hinzugezogene Sachverständige die Meinung, Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit seien nicht zu erheben, wird der Ruf nach einem anderen Gutachter laut. Dabei sind die Bedenken der Verteidigung keineswegs nur als ein Bemühen zu verstehen, auf irgendeine Weise eine Strafmilderung zu erreichen; vielmehr wirkt sich hier aus, daß man von einer Normvorstellung „des Mörders" ausgeht, in die der gerade abzuurteilende Täter und seine Tat nicht hineinpassen. In anderen Fällen, das ist nicht zu übersehen, werden die Bestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit als eine Art Notbremse benutzt. Für ein Schwurgericht, das sich um eine psychologische Durchdringung des Täters bemüht, erscheint dieser manchmal in gewisser Weise als ein Opfer der Situation oder seiner Lebensgeschichte; das Gericht scheut sich, die bei Vorliegen absoluter Mordmerkmale obligatorische Höchststrafe zu verhängen. Aus einer Verkennung der Bezugsnorm ist abzuleiten, wenn Mergen in seinem Lehrbuch apodiktisch erklärt, wer unter den mordqualifizierenden Merkmalen tötet, sei immer abnorm, der § 211 S t G B beinhalte bereits die Voraussetzungen des § 51 StGB. Nach welchen Normen die schwerste Art einer vorsätzlichen Tötung qualifiziert werden soll, ist eine politische Entscheidung. Diskussionswürdig ist, ob mit einer gesetzlichen Festlegung absoluter Mordmerkmale Gerichtsentscheidungen heraufbeschworen werden, die unangebrachte Härten mit sich bringen. Die Anschauung, was als eine schuldmindernd zu berücksichtigende psychische Abnormität anzusehen ist, unterliegt zeitbestimmten Einflüssen, Verständnis wechselt mit Rachebedürfnis. Die forensische Psychiatrie in Deutschland hatte sich in den letzten Jahrzehnten überwiegend auf die Position zurückgezogen, der Gutachter sei nicht in der Lage, zur Frage der Zurechnungsfähigkeit Stellung zu nehmen. Man könne nur Krankheiten diagnostizieren, wobei als krank nur zu gelten habe, was mit Sicherheit oder doch wahrscheinlich durch eine körperliche Störung verursacht werde. Gegen diese Auffassung hat sich die Rechtsprechung wiederholt gewandt, sie benötigt für die Bewältigung ihrer Probleme eigene Modelle. Das starre Festhalten an einem einzig durch körperliche Abweichungen definierten Krankheitsbegriff läßt sich jedoch aus verschiedenen Gründen auch aus medizinischer Sicht nicht rechtfertigen. Um nicht Entscheidungen Vorschub zu leisten, die sich ins Beliebige verlieren, ist gleichwohl zu fordern, daß man die zu beurteilende Persönlichkeitsverfassung an ihrer „Krankhaftigkeit" oder „Krankheitsartigkeit" mißt. Diesem Vorgehen steht die mit dem Zweiten Strafrechts-

reformgesetz verabschiedete Neuregelung nicht entgegen. Die Bestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich gefaßt, interkulturelle Vergleiche sind daher nur bedingt möglich. Die Differenzen, auf die man in den einzelnen Studien rechtlich angenommener Krankhaftigkeit trifft, scheinen aber nicht nur hierdurch bedingt zu sein. Wolfgang hat die von ihm in Philadelphia (USA) erhobenen Daten mit denen aus England verglichen; die Grundlagen der Rechtsprechung waren seinerzeit in beiden Ländern die gleichen. Während in Philadelphia nur 2,7% der Mörder als geisteskrank eingestuft wurden, war dies in England bei einem Drittel der Fall. Wolfgang diskutiert drei Gründe für diesen Unterschied: 1. ein Ausweichen der englischen Geschworenen vor der damals obligatorischen Todesstrafe bei Mord. 2. die zunehmende Erkennung psychischer Störungen bei den Tätern. 3. eine eingehendere psychiatrische Untersuchung als in den USA. — Angesichts der stark auseinandergehenden Häufigkeit von Tötungsverbrechen in England und in den USA könnte als weiterer Grund von Bedeutung sein, daß die Neigung, in einem Verhalten etwas Krankhaftes oder Abnormes zu sehen, mit seiner Häufigkeit abnimmt. Ist in einer Gesellschaft die Bereitschaft zur Anwendung körperlicher Gewalt groß, ist man weniger versucht, bei den Gewalttätern eine normabweichende geistige Verfassung zu vermuten. Die in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten zu verfolgende Entwicklung stützt diese Hypothese jedoch nicht. Trotz stetigen Ansteigens der Verurteilungen wegen Mords und Totschlags nahm der Anteil der Täter, denen eine erhebliche Verminderung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit zuerkannt wurde, laufend zu. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 StGB wurden angenommen: bei den Mördern 1954 zu 5 % , 1959 zu 12% und 1966 zu 1 8 % . Bei den als Totschläger verurteilten Tätern betrugen die entsprechenden Anteile 1 5 % ; 2 2 % ; 3 5 % . In welchem Ausmaß bei der Aburteilung oder bereits im Vorverfahren Zurechnungsunfähigkeit im Sinn des § 51 Abs. 1 StGB angenommen wurde, läßt sich der Statistik nicht entnehmen. Die Vermutung, daß ansteigende Tötungsdelinquenz mit einer einengenden Auslegung der Zurechnungsfähigkeitsbestimmungen gekoppelt ist, läßt sich aber noch nicht völlig abweisen. Das beobachtete Ansteigen der Verurteilungen in der Bundesrepublik Deutschland kann nicht als extrem oder explosiv angesprochen werden. Wahrscheinlich müßte die Zunahme, um Auswirkungen nach sich zu ziehen, erst eine gewisse Toleranzgrenze überschreiten. Für die jetzige Situation mag bezeichnend sein, daß man in der Bundesrepublik Deutschland relativ großzügig eine alko-

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige holbedingte Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit berücksichtigt. Dies ist nicht in allen Ländern der Fall, das Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik von 1968 schließt beispielsweise den schuldhaft herbeigeführten Rauschzustand als Grundlage verminderter oder aufgehobener Zurechnungsfähigkeit ausdrücklich aus. Unter Hinweis auf die steigende Zahl von Verurteilungen wegen einer Rauschtat kommen Schwarz und Wille nach Analyse der Bundesverurteiltenstatistik zu dem Schluß, die zu beobachtende prozentuale Zunahme der Anwendung des § 51 Abs. 2 StGB bei erwachsenen Verurteilten aller Deliktgruppen von 0,4% im Jahre 1954 auf 1,14% im Jahre 1966 sei entscheidend auf den Zuwachs alkoholisierter Täter zurückzuführen. Die erwähnten Prozentsätze lassen erkennen, daß Verminderung der Zurechnungsfähigkeit Mördern und Totschlägern vergleichsweise häufig zugebilligt wird. Man ist in unserer Gesellschaft geneigt, einem Tötungsverbrechen eher den Rang eines abnormen Geschehens einzuräumen, wenngleich wahrscheinlich weitgehend unter Berücksichtigung einer alkoholischen Beeinflussung zur Tatzeit. Wie wichtig es ist, sich mit einer differenzierenden Optik dem Abnormitäts-Problem zu nähern, beweist die zur verminderten Zurechnungsfähigkeit gegenläufige Bewegung des Anteils der Selbstmordtäter unter den Mördern; er hat seit den fünfziger Jahren abgenommen. Selbstmord im Gefolge einer Fremdtötung kann aber auch als Indikator für die Abnormität des dahinterliegenden psychischen Geschehens gelten. Von den Hamburger Fällen wurden nur die bis Ende 1961 begangenen bis zur rechtskräftigen Aburteilung verfolgt. 68% der 208 Täter kamen zur Aburteilung. Bei 28% der abgeurteilten Täter wurden die Voraussetzungen für die Anwendung des § 51 Abs. 2 StGB angenommen, bei 15% Zurechnungsunfähigkeit im Sinne des § 51 Abs. 1 StGB. Mithin wurde bei 43% der Täter für die Tatzeit eine relevante Abweichung von der im Rechtssinn normalen Geistesverfassung unterstellt. Die Sätze sind wegen anderer Zusammensetzung des Materials nicht mit den Zahlen der Bundeskriminalstatistik vergleichbar. Die Zuerkennung erheblich verminderter oder aufgehobener Zurechnungsfähigkeit korreliert signifikant mit einer großen Zahl anderer Merkmale. Als Charakteristika des Täters, bei dem der § 51 StGB angenommen wird, lassen sich aufzählen: Gewaltanwendung gegen andere ist ihm nicht fremd, er hat aber noch kein Strafverfahren gehabt. Er hat früher oder in Verbindung mit der Tat einen Selbstmordversuch gemacht. Er gehört nicht zum Kreis der Personen mit häufig wechselnden Intimbeziehungen, sondern hat eine über fünfjährige Bindung. Zur Tatzeit steht er unter Alkohol, er neigt auch gewohnheitsmäßig zu Alkoholkonsum. Häufiger als in den anderen

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Fällen handelt es sich bei dem Opfer um den Intimpartner und ein Opfer, das selbst unter Alkohol steht. Die Tat erfolgt im Streit. Der Täter macht keine Beute und muß nicht ermittelt werden. Der Anteil der Täter, bei denen der § 51 angenommen wird, differiert mit der Art des Delikts: bei Totschlag sind es 59%, bei Körperverletzung mit Todesfolge 51%, bei Mord nur 14%. G. Die Täter-Opfer-Beziehung Die Qualität der Täter-Opfer-Beziehung ist beim Studium von Tötungsverbrechen ein zentrales Thema, bildet eine Art Drehscheibe für die Richtung der weiteren Forschung. Tötungen völlig fremder Menschen umfassen in allen hierzu vorgelegten Untersuchungen nur einen minderen Teil. In den meisten Fällen bestanden zwischen den Beteiligten vor der Tat irgendwelche persönlichen Beziehungen, vielfach sogar Bindungen. Die vorgegebene Beziehung ist in der Regel auch die motivische Grundlage des Tatgeschehens. Eine Aggressionsbereitschaft, die Resultat eines interpersonalen Konflikts ist, kann sich allerdings auch gegenüber einem Ersatzopfer entladen, einer Person, die an der Entstehung des Konflikts nicht unmittelbar beteiligt ist. Die Feststellung, daß bei Tötungsdelikten Täter und Opfer meist vor der Tat miteinander bekannt waren, korrespondiert mit ihrer Zugehörigkeit zu der gleichen sozialen Gruppe. Am Material europäischer Länder ist das daran ablesbar, daß Täter wie Opfer ganz überwiegend der gleichen sozialen Schicht angehören. Gleichheit der Rasse (Neger oder Weiße) wird durch zahlreiche nordamerikanische Studien ausgewiesen; Überschreiten der Rassengrenzen kommt stets in weniger als 10% der Fälle vor. Nordamerikanische Untersuchungen, in denen man die nicht-farbige lateinamerikanische Bevölkerung gesondert erfaßte, belegten die Gruppengleichheit von Tätern und Opfern auch für diesen Bevölkerungsanteil (Bullock, Pokorny). Bevor erörtert werden kann, welche Arten der Beziehungen als wichtigste und häufigste vorkommen, sind einige Vorüberlegungen notwendig. Für die Erfassung der Täter-Opfer-Beziehungen gibt es kein verbindliches Schema. Die Kategorien, die in den einzelnen Untersuchungen erscheinen, werden durch die Art der Tötungskriminalität in der betreffenden Gesellschaft bestimmt. Sie erlauben damit Rückschlüsse auch auf die sozialen Interaktionen, die gewichtig genug sind, die Tötung eines Menschen zu veranlassen, sie lassen Schwerpunkte relevanter sozialer Kontakte erkennen. Durch die Art der vorgefundenen Konflikte schieben sich spezielle Aspekte in den Vordergrund, der Typ der möglichen Kontakte variiert. Bohannan sah sich bei dem Versuch, die Tötungskriminalität verschiedener afrikanischer

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Tötimgsdelikte, nicht fahrlässige

Stämme mit den Untersuchungen von Wolfgang, USA, und Svalastoga, Dänemark, zu vergleichen, genötigt, die Kategorien der Täter-Opfer-Beziehungen mit jeder neu hinzugenommenen Sozietät neu zu unterteilen. Verwandtschaftliche Bindungen, derer man sich in der einen Gesellschaft kaum bewußt ist, haben in einer anderen hohe Bedeutsamkeit. Ein bezeichnendes Beispiel für die Möglichkeit unterschiedlicher Akzentsetzung ist die Kategorie N a c h b a r . Ein Nachbar kann in dieser Eigenschaft eine wichtige Figur sein, er kann gleichzeitig aber auch Verwandter oder Freund oder Unbekannter oder Sex-Rivale sein und hierdurch in eine bedeutsame Rolle treten. Pokorny fand in Houston, daß nach Abzug der Partnertötungen Täter und Opfer noch in 18% der Fälle die gleichen Adressen hatten. Die Kategorie Nachbar ist — wie in anderen amerikanischen Studien — von ihm gleichwohl nicht gesondert erfaßt. Demgegenüber heben in Ceylon durchgeführte Untersuchungen diese Opfer-Gruppe besonders heraus. Bei Wood wurden 27% der Opfer als Nachbarn tabelliert, bei Jayewardene und Ranasinghe sogar 55,8%, wobei zwischen Verwandten und Nicht-Verwandten unterschieden wird. Der Versuch, die Relevanz der Nachbar-Eigenschaften zu erfassen, ergab im Hamburger Material: 5,5% der Opfer, die nicht Familienangehörige des Täters waren, lebten in der gleichen Wohnung oder im gleichen Haus wie der Täter oder im Nebenhaus. Als Abschluß eines tatbegründenden, meist langhingezogenen Nachbarschaftsstreits wurden jedoch nur 2,4% der Fälle identifiziert. Die T ö t u n g der eigenen K i n d e r gilt wegen ihrer relativen Häufigkeit als charakteristischer Zug der westeuropäischen Tötungskriminalität. Ihr Anteil unter den gesamten Opfern beläuft sich bis auf ein Drittel. Die eigenen Kinder werden meist im Rahmen eines erweiterten Selbstmords zu Opfern. Täter sind die Eltern, vornehmlich die Mutter, Tathintergrund ist ein Konflikt oder eine Geisteskrankheit. Andere Tattypen der Tötung des eigenen Kindes sind die Tötung einer Neugeburt und die tödliche Kindesmißhandlung. In den nordamerikanischen Untersuchungen werden die eigenen Kinder nicht als besondere OpferGruppe genannt. Nach den im Uniform Crime Report veröffentlichten Daten, die sich auf die Ergebnisse der gesamten USA beziehen, hatten 1965 aber 16% der homizidalen Täter ihre Kinder getötet. Diese Opferwahl ist danach auch in den USA nicht als exzeptionell anzusehen. G a t t e n t ö t u n g e n sind in ihrer Motivgestaltung eine heterogene Gruppe. Der motivische Hintergrund ist im allgemeinen identisch mit der Qualität der Bindung selbst, an deren Formung wiederum kulturelle Kräfte erheblich beteiligt sind. Typ und Häufigkeit von Gattentötungen sind daher in den einzelnen Gesellschaften und

Kulturkreisen sehr verschieden. Bei Vergleichstudien können sich schon Zweifel darüber ergeben, was als Ehe zu definieren ist. So beinhaltet die unter amerikanischen Negern verbreitete common-law marriage auch die Rollen des Ehemanns und der Ehefrau und läßt Konflikte, die mit diesen Rollen verbunden sind, erwarten. Eine Partnerschaft dieses Typs ist mit der institutionell stark abgesicherten Ehe europäischer Prägung jedoch nur sehr bedingt vergleichbar. Im Einzelfall ist es, worauf Wolfgang hinweist, schwierig zu entscheiden, ob diese Beziehung dauerhaft genug ist, um als common-law marriage gewertet zu werden. Andere amerikanische Untersucher (Pokorny, Voss et coli.) haben sich auf die Erfassung verheirateter Paare beschränkt. Der Anteil der Ehegatten unter den Opfern von Tötungsverbrechen wird von Untersuchern westlicher Länder zwischen 10% und 20% angegeben, wobei die Differenzen wenigstens teilweise durch auseinandergehende Erfassungskriterien bedingt sind. Erhebungen aus Ceylon weisen 5—6% aus. Bohannan fand bei seinen Untersuchungen mehrerer afrikanischer Stämme, daß zwischen 9% und 37% der Opfer Ehegatten der Täter waren. Als häufigster Typ dieser Gruppe kam in Hamburg die „Gattentötung durch den verlassenen Partner" vor. Täter ist in diesen Fällen meist der Ehemann. Nach Falldarstellungen, die sich in der Literatur verstreut finden, gibt es Gattentötungen dieses Typs vermutlich in den meisten Gesellschaften. Die Häufigkeit des Vorkommens scheint mit dem Grad der weiblichen Emanzipation zu korrelieren. Eine gelockerte Bindung disponiert zur Tötungssituation der „Asozialen Partnerschaft". Diese Taten ereignen sich zwischen Paaren, die an westlichen MittelklasseNormen gemessen am Rande der Sozietät leben. Die häufigen zwischen ihnen vorkommenden tätlichen Auseinandersetzungen enden eines Tages für einen der Partner tödlich. Eigentliche Eliminationstötungen sind selten. Daß sie bewußt vollzogen werden mit dem Ziel, aus einer Ehe freizukommen, ist unter den aufgedeckten Fällen eine Rarität. Taten gegen U n b e k a n n t e umfassen, wie erwähnt, stets nur einen geringen Teil der Fälle. Ihr Anteil ist wahrscheinlich etwas höher zu veranschlagen, da auch die meisten nicht-aufgeklärten Fälle von Tätern begangen sein dürften, die ihr Opfer bis zum Tattag nicht kannten. Diese Vermutung scheint insbesondere deswegen berechtigt, weil sich unter den nicht-aufgeklärten Morden viele befinden, deren Tatumstände auf Raubmord schließen lassen. In der Gruppe der aufgeklärten Raubmorde war in Hamburg im Vergleich zu anderen Tattypen der Anteil der Fälle, bei denen sich Täter und Opfer zuvor nicht kannten, am größten; er betrug fast 50%. Am zweithäufigsten waren diese Bedingungen beim

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige „Streit unter Alkohol" gegeben (40,5%). Als dritte folgten mit großem Abstand die von Geisteskranken begangenen Taten; zwei der psychotischen Täter ( = 5%) griffen ihnen vorher völlig unbekannte Personen an. Eine bei Geisteskranken bestehende Aggressionsbereitschaft richtet sich also auch in erster Linie gegen nahestehende Personen. In einer Gegenüberstellung von East hatten von den geistesgesunden Tätern 17% Fremde getötet, von den geisteskranken nur 7% (Mowat). Eine ähnliche Sonderstellung nehmen die Taten ein, bei denen der Täter gleichzeitig oder anschließend S e l b s t m o r d begeht. Sie ereignen sich auch nach den Ergebnissen ausländischer Studien praktisch nur im sozialen Nahraum, weswegen man von Taten dieses Typs auch als Familienmorden gesprochen hat. Opfer sind die Kinder, die Ehegatten, die Geliebten und manchmal andere Verwandte. Unter den 73 Mord-Selbstmord-Tätern der Hamburger Untersuchung findet sich nur ein Täter, der Selbstmord nach Ermordung eines Unbekannten verübte. Er erschoß sich, als er einige Tage nach der Tat bei einem zweiten Raubmord von der Polizei gestellt wurde. Die Selbsttötung ist hier — anders als im Regelfall — als eine Bilanztat zu verstehen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln lohnt es sich auch bei den Täter-Opfer-Beziehungen, die Längsschnittentwicklung zu betrachten (Tab. 6). Das Hamburger Material wurde hierzu nach wenigen großen Gruppen geordnet. Es zeigt sich, daß während des 18jährigen Untersuchungszeitraums erhebliche Veränderungen der Verteilung eintraten, die fraglos in unmittelbarem Zusammenhang mit den tiefgreifenden Wandlungen des gesellschaftlichen Hintergrunds in dieser Epoche zu sehen sind. Die Fälle von erweitertem Selbstmord kamen in der ersten Untersuchungsperiode am häufigsten vor; darauf ist an erster Stelle Tabelle 6 Täter-Opfer-Beziehungen bei nicht-fahrlässigen Tötungsdelikten in Hamburg 1950—1967. (in Prozent) Ν = 390 1950 bis 1956 bis 1962 bis 1955

1961

1967

7,1

21,7

14,8

Bekannte

27,4

19,2

36,7

Eigene Kinder

36,3

26,1

18,5

Unbekannte

Ehepartner u. Geliebte Andere Verwandte

20,4

20,0

21,4

8,8

13,0

8,7

100,0

100,0

100,1

383

der hohe Anteil der eigenen Kinder unter den Opfern zurückzuführen. Ihre weitere kontinuierliche Abnahme beruht jedoch auf der Zunahme der absoluten Zahl der Fälle in der dritten Periode. Die anderen Verschiebungen erklären sich daraus, daß nunmehr andere Tattypen stärker oder überhaupt erst vorkommen. In der zweiten Periode richten sich die innerhalb der Familie begangenen Aggressionsdelikte etwas vermehrt gegen andere Familienmitglieder, Elternmorde werden in dieser Zeit am häufigsten beobachtet. Mit einem Anstieg der gegen Unbekannte gerichteten Taten kündigt sich im zweiten Abschnitt eine Tendenz an, die im Vergleich zu den Familienkonflikttaten als Kriminalisierung imponiert. Die am Partner und an Verwandten begangenen Taten unterschreiten in der letzten Periode den 50%-Anteil, den größten Anteil stellt jetzt die Gruppe der Bekannten. Relativ am meisten nahmen Taten zu, bei denen sich Täter und Opfer weniger als 24 Stunden kannten; die Sätze betrugen in den einzelnen Abschnitten 4,6%; 8,2%; 14,8%. Berücksichtigt man, daß die absolute Zahl der Vorfälle im letzten Untersuchungsabschnitt etwa um die Hälfte höher liegt als in den beiden vorangegangenen, erscheint in diesen Veränderungen eine weitere grundlegende Tendenz: eine Zunahme von Gewalttätigkeit, eine Brutalisierung der oberflächlichen sozialen Beziehungen. Die Feststellung derartiger Wandlungen erhellt, daß einmal getroffene Bestandsaufnahmen nur begrenzte Einsichten vermitteln können. Die Eigenarten des sozialen Terrains prägen die Charakteristika der jeweiligen Tötungskriminalität. Dies ist um so eher deswegen zu erwarten, weil Tötungsdelikte selbst Resultat inniger sozialer Interaktionen sind. Die Spezifität der Tötungskriminalität einer bestimmten Gesellschaft oder Epoche ist deswegen am klarsten im Typ der vorzufindenden Täter-Opfer-Beziehungen zu erkennen. Andere Tatmerkmale bzw. ihre Veränderungen werden entscheidend durch die Art der Beziehungen der am Tatgeschehen beteiligten Personen beeinflußt. Hieraus resultiert die eingangs erwähnte zentrale Stellung der TäterOpfer-Beziehungen in der Mord-Forschung. Wie noch zu diskutieren ist, bietet sich hier darüber hinaus ein wichtiger Ansatz zur Erfassung der Genese und der Dynamik von Tötungsverbrechen.

H. Mord und Selbstmord 1. Die inneren

Beziehungen

In den vorangegangenen Kapiteln wurde wiederholt auf die Sonderstellung der Fälle hingewiesen, bei denen der Täter in Verbindung mit der Fremdtötung Selbstmord begeht. Zwei stark gegensätzlich scheinende Aktionen treten hier eng miteinander gekoppelt auf. In der Literatur ist

384

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

die Frage der inneren Verwandtschaft dieser beiden Aggressionsformen vielfach aufgegriffen worden. Ihre Fundierung fand die Behauptung einer solchen Verwandtschaft in der Annahme eines beim Menschen vorhandenen Aggressionstriebs, der sich in der einen oder in der anderen Richtung manifestieren kann. Psychoanalytisch orientierte Forscher haben diese Theorie ausgebaut. Unter Berufung auf den „Todestrieb" und die Auffassung Freuds, Selbstmord könne der Ersatz für die Ermordung eines anderen sein, hat Alexander vorgetragen, auch das Umgekehrte könne vorkommen: viele neurotische Morde seien verkappte Selbstmorde. Schließlich fand Bromberg die „paradoxe Formulierung", daß in den Begriffen des Unbewußten Mord Selbstmord ist und Selbstmord Mord. Die in der Mordforschung sehr wichtige Fragestellung der inneren Nähe der beiden Erscheinungen läuft hier Gefahr, zu einem bloßen Wortspiel zu werden. Die Hypothese, daß es sich bei Mord und Selbstmord um verschiedene Manifestationsformen des gleichen Grundgeschehens handelt, schien durch verschiedene statistische Beobachtungen gestützt zu werden: in Gesellschaften mit hoher Tötungskriminalität ist die Belastung mit Selbstmorden niedrig, besteht eine hohe Selbstmordneigung, werden wenig Tötungsverbrechen registriert. Angesichts der Differenzen, die in den Häufigkeitsziffern der beiden Erscheinungen in den verschiedenen Gesellschaften bestehen, fällt es schwer, verbindliche Maßstäbe für die Begriffe „hoch" und „niedrig" anzusetzen. Die von Wood nach bestimmten Gesichtspunkten geordnete Übersicht über das Vorkommen von Mord und Selbstmord in 36 Ländern läßt eine Beziehung zwischen Mord und Selbstmord in der vermuteten Art erkennen. Bei Überprüfung der Rangkorrelation der dort wiedergegebenen Daten zeichnet sich aber lediglich eine Tendenz im Sinne der Hypothese ab, statistische Signifikanz für die negative Korrelation zwischen Mord und Selbstmord ist nicht erweisbar. Eine andere, neuere Untersuchung bestätigt die Hypothese ebenfalls nicht: ,.bei 40 primitiven Gesellschaften fand Palmer, daß Mord und Selbstmord positiv miteinander korrelierten. Die umfassendste statistische Bearbeitung des Themenkreises stammt von Henry und Short. Ausgehend von der Beobachtung, daß Selbstmord stärker bei den Oberschichten vorkommt, Mord dagegen bei den Unterschichten, sahen sie den gemeinsamen Faktor der beiden Erscheinungen in dem Grad, in dem das Verhalten stärker durch äußere Behinderung bestimmt wird als durch individuelle Wahl. Die Unterschichten sind stärker behindert, da sie vom Wertsystem und den Mitgliedern der mittleren bzw. oberen Gesellschaftsklasse beherrscht werden; die Behinderung rechtfertigt, bei Frustration die Aggression nach außen

auszuleben. Die Gruppe, die weniger äußeren Behinderungen unterliegt, ist eher geneigt, selbst die Verantwortung für Rückschläge zu übernehmen, die entstehende Aggression richtet sich gegen die eigene Person. Eine Bestätigung fand dieser Ansatz in der Korrelation von Mord und Selbstmord mit der Wirtschaftslage. Wohlstand bedingt stärkere Frustration der Unterschichten, die Tötungsverbrechen steigen an, während die Selbstmorde — als Verhaltensform der bessergestellten Schichten — sinken. Das Umgekehrte geschieht in Zeiten wirtschaftlicher Depressionen. Die Selbstmordhäufigkeit steigt, weil nunmehr die Oberschichten stärker zu leiden haben, die Mordrate sinkt, weil die Unterschichten weniger frustriert werden. Die Untersuchungen von Henry und Short bilden einen wertvollen Beitrag zum Mord-Selbstmord-Problem, sie vermochten aber nicht die Beziehungen zwischen Sozialstatus und Aggressionsrichtung in allgemeingültiger Weise darzustellen, die Ausgangshypothese wird durch verschiedene der herangezogenen Daten sogar widerlegt. Einen weiteren Hinweis auf die Wechselbeziehungen zwischen Mord und Selbstmord bietet die Beobachtung, daß in Gesellschaften mit relativ häufigem Vorkommen von Fremdtötung Fälle von kombiniertem Mord und Selbstmord nur einen geringen Anteil aller Mordfälle ausmachen, in Ländern mit niedriger Tötungskriminalität jedoch verhältnismäßig häufig sind. In nordamerikanischen Städten mit einer Mord-Rate, die ein Mehrfaches der in Europa vorgefundenen beträgt, begeht nur ein kleiner Teil von Tätern bei oder nach der Tötung eines anderen Selbstmord (Philadelphia 4%, Baltimore 2,2%). In England verübt demgegenüber 1 / 3 der als Mörder identifizierten Personen Selbstmord, in Hamburg war es 1 / i aller Täter. Obschon die Unterschiede zum Teil auf ein Auseinandergehen der Erfassungskriterien zurückzuführen sind, dürften sie eine reale Grundtendenz korrekt sichtbar machen. Bei dem Versuch, diese Differenzen zu interpretieren, sind jedoch weitere Feststellungen zu berücksichtigen: Die absolute Zahl der MordSelbstmord-Fälle in den amerikanischen Städten bzw. ihr Vorkommen in Relation zur Gesamtbevölkerung kommt den in Europa vorgefundenen Zahlen gleich oder übersteigt sie sogar. Die Kombination von Mord und Selbstmord erscheint in den USA nur deshalb als wenig bedeutsames Phänomen, weil ein üppiger Überbau andersartiger Tötungskriminalität existiert. Ferner zeigt sich, wenn man zum Beispiel die von Wolfgang beschriebenen Fälle aus dieser Gruppe analysiert, daß sie sich in qualitativer Hinsicht von den Vorkommnissen in England (West), Dänemark (Siciliano) und Hamburg unterscheiden. Erkennbar ist das schon daran, daß in den europäischen Untersuchungen der Anteil der weiblichen Täter

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige größer ist und daß im Zusammenhang hiermit andere Opfergruppen betroffen sind. Die Beobachtung derartiger qualitativer Besonderheiten legt nahe, die statistischen Grunddaten nur sehr vorsichtig auszudeuten. Die komplexen Beziehungen zwischen Mord und Selbstmord sind mit diesem relativ groben Baster nicht zu fassen. Es werden Zahlen verglichen, denen verschiedene Sachverhalte entsprechen.

2.

Kombinationsformen

Selbstmord und Selbstmordversuch ziehen in den meisten Ländern keine staatlichen Sanktionen nach sich. Forensisch von Belang werden diese Fälle erst dann, wenn in Verbindung mit einem mißlungenen Selbstmord eine Fremdtötung ausgeführt oder versucht wurde. Regelmäßig stellt sich dann eine Reihe von Fragen: Zielten die primären Intentionen des Täters auf Mord oder auf Selbstmord? Ging es um die Hineinnahme des Opfers in den eigenen Todeswunsch oder folgte der Selbstmordversuch — in einem zweiten Entschluß — aus Reue oder aus Angst vor Strafe ? War der Selbstmordversuch überhaupt ernst gemeint ? Fragen dieser Art sind stets nur auf einen bestimmten Fall hin beantwortbar. Bei ihrer Beantwortung sollte man sich jedoch vergegenwärtigen, daß von den Tätern aus diesem Bereich stets nur ein geringer Anteil in das Blickfeld der Rechtsprechung oder der forensischen Psychiatrie gerät, der größere Teil kommt nicht zur Begutachtung und zur Aburteilung, weil der Täter die Tat nicht überlebt hat. Um die Tatform des mißglückten mit Fremdtötung verbundenen Selbstmords plastischer hervortreten zu lassen, lohnt es sich, zunächst die verwandten Tattypen abzugrenzen. Eine Gruppe von Taten, die schon von der inneren Tatseite her nur ins Vorfeld der strafrechtlichen Problematik hineinreicht, ist der Doppelselbstmord (Ghysbrecht, Heuyer, Cohen), also der gemeinschaftlich gewünschte und begangene Selbstmord von zwei Personen. Überlebt in diesen Fällen einer der Beteiligten, hat er sich unter Umständen wegen Tötung auf Verlangen zu verantworten. Das scheint jedoch kaum vorzukommen. Das psychologische Problem, das wegen des Todes der Beteiligten nur selten befriedigend aufzuklären ist, liegt in der Frage, wie weit der eine Täter lediglich unter dem Einfluß des anderen handelte, wie weit der Selbstmord „induziert" war, wobei sich daneben die Frage stellt, ob eine derartige Induktion nicht von versteckten aggressiven Tendenzen getragen ist (Ghysbrecht). Ein wesentliches psychologisches Moment bei dem Zustandekommen dieser Taten dürfte die Situation der Mittäterschaft sein: die wechselseitige, 25 HdK, 2. Aufl., Bd. III

385

den Tatentschluß fördernde Beeinflussung. Motivisch unterliegt diesen Taten, wie Cohen gezeigt hat, nicht in erster Linie der Wunsch unglücklich Liebender, im Tod dauernde Vereinigung zu finden. In den meisten Fällen handelte es sich um den gemeinsam gesuchten Tod verheirateter Paare, die Hauptmotive waren Krankheit, Siechtum, Armut. Die zweite hierher gehörende Gruppe sind die Mord-Selbstmord-Taten, die nach beiden Seiten zum Erfolg führen. Sie interessieren kriminalistisch nur, solange das Verschulden eines noch lebenden Dritten nicht ausgeschlossen ist. Im allgemeinen ist es in diesen Fällen möglich, aus den Tatumständen zu entscheiden, wer als Täter und wer als Opfer anzusehen ist, d. h., wer von den Beteiligten die zum Tode führenden Handlungen ausgeführt hat. Die Einstellung der Opfer ist häufig nicht zu beurteilen, zumal es sich bei ihnen vielfach um Kinder handelt. Fraglos wäre berechtigt, einen Teil der Mord-Selbstmord-Fälle als Doppelselbstmord einzustufen. Um willkürliche Entscheidungen zu vermeiden, wurde in der Hamburger Untersuchung zwischen Tätern und Opfern nach der aktuellen Tatbeteiligung differenziert. Danach waren 73 Personen als Täter einzuordnen; keine eindeutigen Hinweise auf die Täterschaft ergaben sich in sechs Fällen. Schließlich ist hier eine Gruppe zu nennen, die wegen Ablebens des Täters ebenfalls die Strafverfolgungsbehörden nicht interessiert: Selbstmorde, die in Verbindung mit dem offensichtlichen Versuch der Tötung eines anderen geschehen. Fälle dieser Art kamen während des 18jährigen Untersuchungszeitraums in Hamburg 24mal vor. Die Nennung der einzelnen Gruppen aus dem Hamburger Material geschieht, um die Häufigkeit der mit dem Tode des Täters abgeschlossenen Fälle darzutun. Im gleichen Zeitraum wurden nur 25 Täter beobachtet, die bei oder nach einer vollendeten Fremdtötung erfolglos Hand an sich selbst gelegt hatten. Der in Klinik und Rechtsprechung in Erscheinung tretende Täterkreis ist nach diesem Ergebnis wesentlich kleiner als der, der wegen Selbstmords nicht mehr strafrechtlich verfolgt wird. Gerade im Hinblick auf die zahlreichen erfolgreichen Selbsttötungen in Verbindung mit einer Fremdaggression stellt sich die Frage, warum der Suizid in den anderen Fällen mißlingt, um so dringlicher. Wulffen hat hierzu gemeint, daß nach der Tat für den Täter eine neue psychologische Situation entstanden sei, zu der er sich erst wieder anders einstellen müsse. Hieran anknüpfend wies Mohr darauf hin, daß die Täter sich in sehr vielen Fällen schon längere Zeit vor der Tat in einer außerordentlichen Erregung befinden und auch in dieser Zeit den Entschluß zum Suizid fassen; durch die Tat sei die Spannung abreagiert und damit auch das stärkste Motiv für den früher

386

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

gefaßten Entschluß verschwunden. Andere Autoren (Batt, Easson, Podolsky) haben eine Parallele zu den geretteten Selbstmördern gesehen, die kaum einmal unmittelbar nach der Tat den Drang haben, erneut Selbstmord zu versuchen. Allerdings ist dieser Gesichtspunkt wohl nicht zu verallgemeinern: bei der erwähnten Gruppe von Selbstmorden nach Mordversuch begingen 2/s der Täter den Selbstmord in einem neuen Tatansatz. Die zweizeitige Tatausführung von Fremd- und Selbsttötung scheint ein wesentlicher Grund für das Mißlingen von Selbsttötungen zu sein. Von den erwähnten 73 Tätern, die erfolgreich Selbstmord verübten, taten dies 36 gleichzeitig mit der Fremdtötung, bei den 25 Tätern, die nur einen Versuch unternahmen, kam die gleichzeitige Tatausführung nur einmal vor. Simultane Tatausführung, die meist mittels Leuchtgas erfolgt, gewährleistet danach eher gemeinsames Sterben. Dadurch besteht für den Mann als Täter ein größeres Risiko, daß der zweite Teil der Tat, der Suizid mißlingt. Wie an anderer Stelle (1966) nachgewiesen, neigt der Mann bei kombinierter Fremd- und Selbsttötung — wie beim Selbstmord im allgemeinen •— zur Anwendung aktiver Methoden, also zu Ausführungsarten, die einen Neuansatz erfordern. Dieser Umstand dürfte für die rechtliche Beurteilung der von den Männern begangenen Taten von einigem Gewicht sein. Bereits in der älteren Literatur ist wiederholt angemerkt, daß Männer bei ähnlich gelagertem Tathintergrund härter bestraft werden als Frauen, wenn sie sich nach Mord und mißglücktem Selbstmord vor Gericht zu verantworten haben. Die vom Mann bevorzugte aktive, brutal anmutende Art der Tatausführung wird als Anzeichen einer distanzierenden Haltung empfunden, unterlegt von Haß und Rache. Die passive, simultan vollzogene Tat der Frau läßt sich demgegenüber viel eher aus einer Identifikation mit dem Opfer verstehen. Diese Annahme wird durch die Opferwahl unterstützt: Frauen töten vorwiegend ihre Kinder, Männer — neben den Kindern — die Ehefrau. Damit wendet sich der Mann in der Regel gegen die Person, die am Zustandekommen des Konflikts unmittelbar beteiligt ist, während die Frau — bei gleicher Konfliktkonstellation — auf ein Ersatzopfer ausweicht. Die Tatsache, daß die Genese derartiger Taten aus Konfliktbedingungen zu verstehen ist, die nicht mit der Wahl des Opfers korrespondieren, regt zu der Frage an, ob in dem unterschiedlichen Verhalten von Männern und Frauen nicht lediglich geschlechtsspezifische Muster in Erscheinung treten, die jedoch nicht zwanglos auf eine stark verschiedene innere Verfassung hinweisen. Man könnte eher folgern, daß lediglich die Richtung der Identifikation variiert: bei der Frau zielt sie auf das Kind, beim Mann auf die Frau.

3. Der erweiterte Selbstmord Kommt es bei einem mit Selbstmord kombinierten Tötungsverbrechen zu einem Strafverfahren, hängt die rechtliche Beurteilung stark von der Entscheidung ab: ist die Tat als erweiterter Selbstmord anzusprechen oder als Selbstmordversuch im Gefolge eines Mords. Nach der von E . Lange vertretenen Auffassung ist es nur dann berechtigt, einen erweiterten Selbstmord anzunehmen, wenn die Motive altruistischer bzw. pseudoaltruistischer Natur sind, nicht egozentrischer Art wie Rache, Vergeltung, Empörung. Ferner müsse der Wille, das eigene Leben aufzugeben, primär erkennbar sein, nicht etwa nur die feststehende Bereitschaft, nach vollzogener Tötung die Konsequenzen zu ziehen. Ähnlich haben sich unter direktem Bezug auf die Anwendung des § 51 StGB Witter und Luthe geäußert: Vorauszusetzen ist, daß die Selbstmordabsicht ernst war und nur durch das Eintreffen unvorhergesehener Ereignisse nicht realisiert wurde. „Die Aufgabe des eigenen Lebens muß", wie weiter gefordert wird, „eindeutig das Primäre gewesen sein, und die Tötung des anderen darf nur als eine .Mitnahme' erfolgt sein, die durch die Einbeziehung des .Mitgenommenen' in den eigenen Verzweiflungsbereich des Täters verständlich wird. Das altruistische Prinzip muß bei der .Mitnahmetendenz' dominieren." Letzteres sei insbesondere dann anzunehmen, wenn der Mitgenommene ein Kind des Täters ist. Auch wenn es an sich begrüßenswert ist, daß man versucht, Kriterien für die Anwendung des § 51 StGB mit einer gewissen Allgemeingültigkeit herauszuarbeiten, sind gegen die zitierten Formulierungen schon deswegen Bedenken zu erheben, weil es nicht zulässig ist, die Würdigung der Tatumstände mit deT Beurteilung der geistigen Verfassung zu vermengen. Die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit stellt sich auf einer anderen Ebene als die des Vorsatzes und der Verständlichmachung. Zum anderen ist zu bezweifeln, ob sich die innere Verfassung eines Täters ohne Willkür dichotom mit den Begriffen altruistisch — nicht-altruistisch erfassen läßt. Man kann davon ausgehen, daß im Regelfall bei Hineinnahme eines Kindes in den eigenen Suizid keine Feindschaft gegen das Kind besteht. Damit ist jedoch nur eine Extremposition bezeichnet. Bei der anderen wichtigen Gruppe von Mord-Selbstmord-Fällen, die am Intimpartner vollzogen werden, läßt sich aber nicht ohne Willkür festlegen, in welchem Maße „Liebe" und in welchem Maß „Haß" als Fundierung der Tat zu gelten hat. Eine hierauf gerichtete Motivbeurteilung ist eine von außen vollzogene Wertung, die nicht mehr auf der Ebene der psychologischen Beurteilung vorgenommen wird, sie ist willkürlich. Ob eine Mitnahme beabsichtigt war, ist zudem unabhängig vom Motiv zu sehen (Popella).

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige Betrachtet man die Mord-Selbstmord-Fälle als Gruppe, so wird evident, daß sie dem Selbstmord näher stehen als die zur Aburteilung kommenden Mord-Fälle. Dies verdeutlichen bereits die in den voraufgegangenen Kapiteln hervorgehobenen Besonderheiten der betreffenden Gruppe. West legte aufgrund einer Vergleichsuntersuchung in England und Wales in die gleiche Richtung weisende Daten vor. Gegenüber den eigentlichen Mordfällen stachen die Täter aus der Mord-SelbstmordGruppe in verschiedenen Merkmalen ab: Es fanden sich unter ihnen mehr weibliche Täter und mehr ältere Täter, allerdings waren Frauen bei gleichzeitigem Selbstmord jünger als bei Fremdtötung allein. Die Täter gehörten besseren sozialen Schichten an, sie handelten nicht in Mittäterschaft. Ihre Opfer waren zu einem größeren Prozentsatz jünger als beim einfachen Mord. Als weitere wichtige Momente, die diesen Taten eher das Gepräge eines erweiterten Selbstmords geben, führt West an: Ein hoher Anteil der Täter (15%) wies Selbstmordversuche in der Vorgeschichte auf, die Selbst- und Fremdtötung erfolgte in den meisten Fällen simultan und nicht gewalttätiger als Selbstmorde sonst. Eine Großzahl der Täter war kränklich. Kombinierte Mord-Selbstmorde, das zeigte sich auch für England, sind nicht in erster Linie Taten von Geisteskranken, sie stehen motivisch den allgemeinen Selbstmordtaten nahe. Im Hamburger Material verteilten sich die einfachen Tötungsverbrechen auf 26 Tötungssituationen, die Mord-Selbstmord-Fälle nur auf 13. Die bei den mit Selbstmord kombinierten Taten am häufigsten festgestellten motivischen Bedingungen waren die „Gattentötung durch den verlassenen Partner" und das Bestehen einer Psychose; bei der Restgruppe waren diese Tötungssituationen ebenfalls relativ häufig, sie nahmen den zweiten und fünften Platz ein. Ist der Tathintergrund der Gattentötung durch den verlassenen Partner gegeben, wird im typischen Fall vom Mann die Ehefrau getötet, von der Frau werden die Kinder mit in den eigenen Tod genommen. Eine Tötungssituation, die bei den allgemeinen Tötungsverbrechen nicht vorkam, bei den Selbstmord-Fällen jedoch ausmachte, ist das Vorliegen einer chronischen Krankheit beim Täter oder beim Opfer. Den Selbstmordfällen vorbehalten blieb auch das Motiv der Trauer: zwei Frauen begingen mit ihren Kindern Selbstmord, nachdem ihr Ehemann gestorben war. Fünf Täter verübten erweiterten Selbstmord, nachdem gegen sie wegen eines relativ banalen Delikts ein Strafverfahren eingeleitet worden war. Bei der Untersuchung von Einzelfällen stößt man mitunter auf die Angabe des Täters, er habe statt der Fremdtötung „eigentlich" Selbstmord begehen wollen: unter 154 unausgewählten Hamburger Tätern waren es fünf. Verfolgt man retrograd, wie sich diese Täter zu dem am Ende 26*

387

stehenden Ereignis hinentwickelten, findet man eine Zweispurigkeit des Handelns als Ausdruck innerer Ambivalenz. Bis zum Schluß bleibt eigentlich unklar, was der Täter „will", seine Tat gewinnt den Charakter einer „faktischen Lösung", deren spätere Ausdeutung von der angelegten Perspektive abhängt. Das Handeln des Täters vor der Tat deutet sowohl auf Selbstmord- wie auf Mordabsicht, in welche Richtung sich die Aggression entlädt, scheint nahezu dem Zufall überlassen. Je nach dem tatsächlich Geschehenen ist es möglich, die Tat nachher als Ersatz eines Mords oder eines Selbstmords zu interpretieren. Schottky, der bereits 1941 eine interessante Studie zu diesem Themenkreis vorgelegt hat, beschrieb bei dem von ihm beobachteten Täter eine auf Entladung drängende „ganz allgemeine dranghafte und triebhafte Spannung", in einem bestimmten Stadium sei die Möglichkeit für Mord wie Selbstmord gegeben, im Bewußtsein des Täters könne beides abwechselnd vorhanden sein. Ähnliche Überlegungen hat West in seiner dem Mord-Selbstmord-Problem gewidmeten Monographie herausgestellt. Grobe statistische Informationen wie auch die Analyse von Einzelfällen lassen erkennen, daß beide Aggressionsformen auf bestimmten, sich überschneidenden Sektoren aus einer verwandten inneren Verfassung erwachsen. Das gilt insbesondere für Taten, die aus einem bei beiden Formen vorkommenden Konflikthintergrund stammen. Die Parallele läßt sich sogar so weit ziehen, daß nach einer spezifischen individuellen Entwicklung die Fremdtötung mitunter als „schmerzloser Selbstmord" die Bedeutung einer Bilanztat gewinnt. J. Motiv und Tatbereitschaft In der forensischen Situation offenbaren sich, wie Bürger-Prinz es formuliert hat, in Spezialfällen die Möglichkeiten menschlichen Handelns überhaupt. Dies gilt um so mehr deswegen, weil kriminelles Handeln gegenüber sonstigem Verhalten entscheidend dadurch definiert wird, daß es gegen —· in ihrer Gültigkeit breit variierende — gesellschaftliche Normen verstößt. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn es für Motiv-Analysen und Motivordnungen von Tötungsverbrechen bislang kein allgemein verbindliches Modell gibt. Ein für alle Fälle von Mord passendes Motivschema erstellen, würde bedeuten, eine MotivLehre schlechthin zu schreiben, was wiederum dem Versuch gleichkäme, ein allgemein gültiges psychologisches System zu entwickeln. Für die Rechtsprechung ist das Motiv-Problem, auch wo im Gesetzestext nicht ausdrücklich hierauf Bezug genommen wird, eng mit der Frage verknüpft, wie eine Tat zu beurteilen bzw. zu bestrafen ist. Die den Strafrechtsnormen unterliegende Handlungslehre entstammt einer rationa-

388

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

listischen Psychologie, deren Inadäquanz um so fühlbarer geworden ist, desto reichhaltiger das Wissen um den Menschen schlechthin wurde. Die moderne Psychologie hat bislang jedoch kaum die in der Rechtsprechung gültigen Vorstellungen durchbrechen können, in der Praxis ist sie ihnen vielmehr eher erlegen. Das Gerede vom „motivlosen Mord" ist ein Produkt dieser dem Gegenstand nicht angemessenen Betrachtungsweise. Das Persistieren allzu vereinfachender Anschauungen über die Motive von Tötungsverbrechen in der Rechtsprechung regt an, einige Versuche zu sichten, die zur Einordnung der Motive in der kriminologischen Forschung unternommen wurden. Bei der Bearbeitung der Mordstatistik des Deutschen Reichs für die Jahre 1928 bis 1930 hatte Roesner an Motiv-Gruppen unterschieden: Beraubung, Abneigung und Überdruß, Furcht vor Anzeige einer strafbaren Handlung, als gemeinsame Kategorie Streit, Eifersucht, Haß und Rache, ferner die Beseitigung einer geschwängerten Geliebten oder ihrer unehelichen Kinder, Anstiftung, Erlangung einer Erbschaft, geschlechtliche Begierde. Für die Mordstatistik der folgenden Jahre (1931—1933) benutzte Roesner in Anlehnung an die Zentralkartei für Todesermittlungssachen bei der Mordinspektion Berlin sechs Hauptgruppen mit 18 Untergruppen. Die Hauptgruppen hießen: Erlangung geldlicher oder wirtschaftlicher Vorteile, Verhütung wirtschaftlicher Nachteile, Morde auf geschlechtlicher Basis, Abneigung und Eifersucht oder Beseitigung lästiger Personen, Morde an Beamten in Ausübung ihres Berufs sowie eine Sammelgruppe. Häufig in der Literatur wiedergegebene Grundmotive sind die von Jesse aufgestellten: Gewinn, Rache, Beseitigung, Mordlust, Überzeugung. Eine andere, psychiatrischer Erfahrung entstammende Einteilung hat J . Schröder aufgrund von Begutachtungsfällen der Baseler Klinik gegeben: 1. Raubmord, bei dem die Zielvorstellung eines materiellen Gewinns im Vordergrund steht; 2. Eliminationsmord, die Beseitigung einer lästigen Person; 3. Eifersuchtsmord, die Beseitigung einer sexuell begehrten Person, die sich verweigerte, oder des Rivalen; 4. Mord aus Haß, dessen Entstehung komplexer Natur ist, der aber später Hauptmotiv ist; 5. Mord aus Angst, der plötzlich auftretenden überwältigenden Angst mit panikartiger Reaktion; 6. Mord aus Verzweiflung, dem Gefühl einer existentiellen Bedrohung, erwachsen aus einem chronischen Affekt; 7. Mord aus Notwehr, die Verteidigungshandlung eines Verbrechers; 8. Mord aus Solidarität, dem Gefühl, einem Freunde auch im Verbrechen zur Unterstützung verpflichtet zu sein; 9. Lustmord, eine Tötung, die zur Befriedigung des Geschlechtstriebs vorgenommen wird. Schemata ähnlicher Art finden sich in zahlreichen anderen Untersuchungen. Zwei Beispiele aus verschiedenen Kulturkreisen seien abschlie-

ßend mit prozentualer Häufigkeitsverteilung nebeneinandergestellt: Wolfgang fand nach den von der Polizei benutzten Kategorien in Philadelphia die folgende Verteilung (opferbezogen): Streit aus relativ nichtigem Anlaß 35,0%; häuslicher Streit 1 4 , 1 % ; Eifersucht 1 1 , 6 % ; Streit um Geld 1 0 , 5 % ; Raub 6 , 8 % ; Rache 5 , 3 % ; Zufall 3 , 9 % ; Notwehr 1 , 4 % ; Anhalten eines Verbrechers 1 , 2 % ; Flucht vor der Verhaftung 1 , 0 % ; Verheimlichung einer Geburt 1 , 0 % ; andere 3 , 4 % ; unbekannt 4,8%. Aus Sardinien stammt eine Zusammenstellung von Dede; die Motive von Tötungsverbrechen verteilen sich hier in folgender Weise: Rache (Vendetta) 3 8 , 4 % ; Diebstahl 5 , 6 % ; Raub 9 , 7 % ; Leidenschaftsdelikte 8 , 3 % ; Schlägerei 7 , 9 % ; Streit um Eigentum 7 , 4 % ; gefährliche Zeugen 7 , 4 % ; psychische Abnormität 5 , 1 % ; unbekannt 10,2%. Überblickt man die wiedergegebenen Beispiele, fällt als unbefriedigend auf, daß keinem dieser Schemata ein verbindliches Prinzip oder eine Leitidee unterliegt. Zum Motiv wird einmal erklärt, was als Ziel oder Zweck der Tat gelten kann, dann ist wieder von der Gelegenheit oder dem Anstoß die Rede. Teils wird die Motivbenennung auf das Opfer bezogen, teils auf die besondere psychische Verfassung des Täters. Bei den psychischen Zuständen werden wiederum Begriffe verwandt, die sehr komplex und vielfältig definierbar sind, mitunter letztes Ergebnis von Entwicklungen, die aus unvergleichbaren Ausgangspositionen begonnen wurden. Die als Motiv gewählte Bezeichnung stellt vielleicht nicht mehr als ein Glied oder eine Etappe in dieser Entwicklung dar, durch die Heraushebung willkürlich den anderen vorgezogen. Dem in der Rechtsprechung üblichen Verfahren, über Wert oder Unwert des Motivs zu diskutieren, kommt nur vermeintliche Exaktheit zu, da allein die Benennung des Motivs schon eine Frage der Perspektive ist. Zum Beispiel läßt sich behaupten, daß aus verschmähter Liebe Eifersucht entstand, die sich in Haß gegen den Geliebten oder den Nebenbuhler verwandelte, und daß die Tat schließlich aus Rache begangen wurde. Die aus verschmähter Liebe und Eifersucht resultierenden psychischen Zustände können aber auch als depressive Verstimmung oder Verzweiflung definiert werden. Dem Deutenden steht frei, in welche Richtung er den Interpretationsvorgang lenkt und auf welcher Stufe er ihn abbricht. Wiederholt sind in der Literatur MotivSchemata vorgeschlagen worden, die nur einige wenige Oberbegriffe kennen. Exner und einige andere Autoren hatten Raubmorde, Leidenschaftsmorde und Sexualmorde unterschieden. Krämer hatte vier Gruppen aufgestellt: Gewinn-, Leidenschafts-, Konflikts- und Sexualmorde. Ähnliche Kategorien, für die die Bezeichnung „Mordsituationen" vorgeschlagen wurde, finden sich bei

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige v. Hentig: Gewinnmord, Deckungsmord, Konfliktmord, Sexualmord. Als verwandte, wenngleich auf die Täterpersönlichkeit bezogene Einteilung kann die von Steigleder in Affekt-, Triebund rationale Täter getroffene gelten. Hauptnachteil von Ordnungsvorschlägen dieser Art, die eine grobe Vorsortierung erlauben, dürfte sein, zu wenig von der speziellen Dynamik der jeweiligen Tat mitzuerfassen. Ausgehend von dem für Tötungsverbrechen charakteristischen Merkmal, ein interpersonelles Geschehen zu sein, in dem die Täter-OpferBeziehung das wichtigste Element bildet, wurden in anderen Ansätzen zur motivischen Interpretation von Tötungsverbrechen die institutionelle Situation und die Sozialrollen von Täter und Opfer in den Vordergrund gestellt (Bohannan). Der Begriff der Tötungssituation (s. J) entspricht diesem Konzept. Jayewardene und Ranasinghe haben nach den aktuellen Bedingungen, unter denen die Tat initiiert wird, für Ceylon typische „homizidogene Situationen" beschrieben wie unerwarteter Angriff oder eine vom Täter oder vom Opfer begonnene Auseinandersetzung. Die Beschreibung einiger für nordamerikanische Verhältnisse charakteristischer Situationen stammt von Bullock; die wichtigsten von ihnen sind der Streit aus geringer Ursache, der Ehestreit und die auf sexuellen Gründen beruhende Auseinandersetzung. Durchmustert man die zum Mord-Problem erschienene Literatur, wird deutlich, daß für die Motiv-Bildung kulturelle Einflüsse von größter Bedeutung sind. Anschaulich belegt wird dies etwa durch die Art und Häufigkeit der in der oben wiedergegebenen Aufstellung für Philadelphia und Sardinien erfaßten Motive. Es geben sich hier Schwerpunkte der für die betreffende Gesellschaft typischen Konflikte zu erkennen, was wiederum Rückschlüsse auf die geltenden Normen sowie dahinter stehende Haltungen zuläßt: Schon die auseinandergehenden Häufigkeitsziffern in den einzelnen Staaten und Kulturkreisen können als Indikator für ein sehr unterschiedliches Verhältnis zur Anwendung von Gewalt bzw. ihrer Zulässigkeit und Billigung gelten. Bei der Diskussion der Gründe für die hohe Tötungskriminalität in den USA hatte Brearly bereits darauf hingewiesen, daß ein Tötungsdelikt unter Umständen nur begangen wird, um der Erwartungshaltung der dem Täter eigenen Primärgruppe zu genügen. Eine umfassende Ausarbeitung hat dieser Ansatz in der Theorie der „Subkultur der Gewalt" von Wolfgang erfahren. Die Berücksichtigung der kulturellen Determinanten eröffnet auch einen Zugang zu der Tatsache der erheblichen Überrepräsentation der Negerbevölkerung in der Mordkriminalität der USA. Daß hierfür nicht rassische Gründe verantwortlich zu machen sind, wird

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durch die Untersuchung von Bohannan belegt, nach der die afrikanischen Neger nicht besonders hohe, ζ. T. sogar eher niedrige Mordhäufigkeitsziffern aufweisen. Auf das Hineinwirken subkultureller Einflüsse kann auch zurückgeführt werden, wenn sich innerhalb eines Gemeinwesens für bestimmte Bezirke hohe Belastungsziffern feststellen lassen. In der Bundesrepublik Deutschland kommen Tötungsverbrechen in den Großund Mittelstädten relativ häufiger vor als in den Kleinstädten oder auf dem Land. Für das Gros der Tötungskriminalität in Deutschland ist allerdings charakteristisch, nicht Ausfluß einer subkulturell geprägten Haltung zu sein. Die meisten Täter verletzen durch die Tat die von ihnen selbst gebilligten und als verpflichtend erlebten Normen. Hierin dürfte ein wesentlicher Grund liegen, daß sie sich im Regelfall von der geschehenen Tat distanzieren, sie als ungewollt und unverständlich hinstellen. Die schwere Gewalttat ist ein Akt, der von der habituellen Reaktionsform abweicht und die Annahme einer vorangegangenen Haltungsänderung nahelegt. Die retrograde Analyse des Einzelfalls läßt nun erkennen, wie der Täter die psychische Verfassung, aus der die Tat schließlich begangen wurde, schrittweise erreichte, sich Stück für Stück zu ihr hinentwickelte. Die Tat am Ende erfolgt aus einer spezifischen Gestimmtheit, in der der Rückgriff auf die Gewaltanwendung als das Nächstliegende erscheint; die aktuelle Tatsituation schließt sich mosaikartig zusammen, so daß die Tat selbst schließlich wie eine letzte Situationskomplettierung wirkt. Die Motiv-Analyse von Tötungsverbrechen erfolgt stets post hoc und stützt sich auf EvidenzErlebnisse und Konstruktionen, deren Übernahme weitgehend vom Standpunkt des Betrachters abhängt. Es ist nicht zu übersehen, daß die Hypothese vom Erreichen einer spezifischen Gestimmtheit oder Handlungsbereitschaft eigentlich erst Gültigkeit beanspruchen könnte, wenn es gelänge, für die zur Gewalttat disponierende Haltung Kriterien aufzuweisen, die durch das weitere Verhalten bestätigte Vorhersagen erlauben. Sieht man einmal davon ab, daß der besondere Gegenstand diese Art der Überprüfung nicht zuläßt, stehen dem Versuch, die für die Dynamik des Geschehens relevanten Dimensionen verläßlich zu erfassen, erhebliche methodische Schwierigkeiten entgegen. Es wirken zu viele Determinanten hinein, um zu einer Merkmalsverdichtung zu gelangen, die frei von jeder Präjudizierung wäre. Ein Tötungsverbrechen ist meist das Ergebnis einer vielschichtigen schicksalhaften Verstrickung und, wie BürgerPrinz in seiner Motivlehre dargetan hat, in seiner Einmaligkeit eigentlich erst aus dem Lebensganzen des Täters zu begreifen. Motiv-Suche bei Tötungsverbrechen bedeutet psychologische

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Durchdringung der Täterpersönlichkeit und ihrer besonderen Entwicklung. Nur dieses Vorgehen, das sich nicht mit einer vereinfachenden Etikettierung begnügt, eröffnet auch die Möglichkeit zu einer angemessenen rechtlichen Beurteilung. Dem typischen Konflikttäter ist seine innere Verfassung in der zur Tat führenden Phase nicht als eine nach außen gerichtete Aggressivität präsent, sondern als pathisches Erleben, beherrscht von Hilflosigkeit, Verzweiflung, depressiver Verstimmung und dem Gefühl von Ausweglosigkeit. Das bedingt auch das subjektive Unvermögen, die Tat nachher zu erklären. Der die Tat bedingende psychische Zustand wird gelebt, aber nicht reflektierend erlebt. Der Täter fühlt sich als der Erleidende, über den das Geschehen, dessen wesentlicher Träger er selbst ist, gewissermaßen hereinbricht. Die Tat ist — und hierin liegt die Parallele zum Selbstmord — der Versuch, diesen Zustand zu beenden, ohne daß in sie die Intention auf ein hinter ihr liegendes Ziel eingeht; „sinnvoll" ist sie nur in bezug auf die ihr zugrunde liegende psychische Verfassung. Dies gilt im allgemeinen auch dann, wenn sich bei erstem Hinsehen ein rational ableitbares „Motiv" anbietet; lehrreich sind in dieser Beziehung insbesondere Fälle, in denen bei musterhaft strukturierten Konfliktbedingungen eine an sich unbeteiligte Person zum Ziel der aggressiven inneren Spannung wird. Die Bedeutsamkeit bestimmter lebenskonstellativer Muster bei Morden ist von verschiedenen Forschern beschrieben worden. Weiss u. a. fanden bei „plötzlichen Mördern" einen durch eine dominante Mutter und hohen gesellschaftlichen Konformismus bestimmten familiären Hintergrund. Der Lebensgang des Täters war durch Scheitern, Unstetheit, Isolierung gekennzeichnet. Die aggressive Entladung war Resultat seiner allgemeinen Insuffizienz für die er andere verantwortlich machte. Als gemeinsame Elemente in der Vorgeschichte von Tätern, die einen Mord ohne offenkundiges Motiv begangen hatten, erkannten Satten u. a. Gewalttätigkeiten der Eltern und Mangel an emotionaler Zuwendung. Eine IchSchwäche des Täters erlaubte periodische Durchbrüche intensiver aggressiver Impulse. Die Tat ereignete sich am Ende einer Periode wachsender Spannung und Desorganisation beim Täter und wurde von einem Opfer, das sich in den unbewußten Konflikt des Täters einfügte, ungewollt in Gang gesetzt. In vier Fällen, die Duncan u. a. veröffentlicht haben, erwies sich gnadenlose Brutalität der Eltern als gemeinsamer Faktor; das aggressive Verhalten erwuchs aus Nachahmung und Identifikation. Ein beachtenswerter grundlegender Ansatz zur Motivations-Interpretation stammt von Ghysbrecht. Er unterscheidet Mord aus sozialer Fru-

stration, für die der Vatermord und der Kaubmord repräsentativ sind, ferner Mord als Reaktion auf sexuelle Frustration, der das Schema des Muttermords als einer Vernichtung des unerreichbaren sexuellen Ideals in sich trägt, sowie den Mord aus existentieller Frustration, der psychologisch das Äquivalent des Selbstmords darstellt. Es geht Ghysbrecht darum, die von psychoanalytischer Seite wiederholt vorgetragene Auffassung zu überwinden, nach der jeder Mord als Vatermord anzusehen ist, als Ausdruck einer Neigung, den verhaßten Vater zu beseitigen. Das Motiv-Problem bei Tötungsverbrechen zeigt sich noch einmal von einer ganz anderen Seite, sobald eine Tat unter den Bedingungen der Mittäterschaft begangen wird, d. h., sobald an der Tat mehr als ein Täter beteiligt ist. Diese Taten scheinen zunächst viel eher in das rationalistische Schema der Begehung von Verbrechen zu passen als die wie ungewollt herausbrechenden Aktionen der meisten Einzeltäter: der Ausführung gehen Absprachen und Planungen voraus, die auf ein bestimmtes Ziel angelegt sind und Wege suchen, dieses Ziel zu erreichen. Aber nur im seltensten Fall, vielleicht bei den in Deutschland bislang kaum beobachteten Gangster-Taten, wird bewußt ein Konzept entwickelt. Der Plan konkretisiert sich vielmehr quasi unbeabsichtigt. Eine zufällige, halbernst gemeinte Bemerkung des einen Beteiligten wird in der Reflektion des anderen nach erster Ablehnung weitergedacht und präzisiert, wird in Rede und Widerrede in größere Realitätsnähe gebracht. Durch die Verbalisation gerade entstandener Einfälle und Strebungen erhält der Tatplan selbständige Existenz und verpflichtet den einzelnen, ohne daß sich dieser bewußt mit dem Plan identifiziert zu haben braucht. Sind die Bedingungen der Mittäterschaft in der aktuellen Tatsituation gegeben, zeitigt die Gruppendynamik ähnliche Konsequenzen, auch wenn vorherige Absprachen fehlen. Der einzelne Täter tritt in eine Rollenfunktion und erfüllt die tatsächliche oder vermeintliche Erwartung seines Mittäters. Besonders klar tritt dies in Erscheinung, wenn der eine Täter eine einfallsartig vorgebrachte Bemerkung oder Aufforderung seines Partners unmittelbar in Handlung umsetzt. In der nachträglichen Reflektion meint der eine, er habe nur unverbindlich etwas dahergesagt, während der Mittäter, der gehandelt hat, sich lediglich als Werkzeug fühlt. Das bedeutet Entlastung. Beide können sich von dem Geschehenen als etwas Ungewolltem, Nichtbeabsichtigtem distanzieren. Der Außenstehende ist geneigt, zu formulieren, daß in der Gemeinschaftstat etwas entstand, zu dem der einzelne nicht fähig gewesen wäre. Das gilt vornehmlich auch in dem Sinn, daß man bei Tätern, die in Mittäterschaft handelten, die spezifische Persönlichkeitsentwicklung vermißt, die im Einzeltäter die Tatbereitschaft entstehen läßt.

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Tötungsdelikte, nicht fahrlässige J . Tötimgssitnationen 1. Der Begriff Wie im vorangegangenen Kapitel diskutiert, ist es sehr schwierig, bei der motivischen Kategorisierung von Tötungsverbrechen zu einem gegenstandsangemessenen Ordnungsprinzip zu gelangen. Die meisten benutzten Schemata erweisen sich entweder als zu allgemein und zu weit, um Einblicke in die Tatdynamik zu vermitteln, oder beschränken sich auf zufällig und willkürlich gewählte Teilaspekte. Bei der Hamburger Untersuchung wurde versucht, auf einen abstrahierenden Motivbegriff zu verzichten und die Taten aus ihrer besonderen Entstehungsgeschichte zu begreifen. Es zeigte sich, daß bestimmte TatGestalten mit gleichen Elementen der Konfliktgenese, der Tatentwicklung und der Täter-OpferBeziehungen in musterhafter Regelmäßigkeit wiederkehren, daß sich die Vorgeschichten gewisser Tatgruppen in überraschender Weise zur Deckung bringen lassen. Die so identifizierten typologischen Einheiten wurden Tötungssituationen genannt. Der Begriff der Tötungssituation zielt als idealtypischer Entwurf auf die Erfassung der Tatentstehunginihrer gestalthaften Gesamtheit. Tötungsverbrechen sind interpersonelle Handlungen. Die Begegnung von Täter und Opfer erfolgt stets innerhalb einer vorgegebenen Bedingungskonstellation, die mehr oder minder institutionell geprägt ist, verknüpft mit Rollen und Rollenerwartungen. Der interpersonelle Charakter von Tötungsverbrechen bedingt, daß die Spezifität der TäterOpfer-Beziehung das Grundelement der Entstehungsgeschichte bildet, um die sich die weiteren Fakten ordnen. Bei vergleichender Betrachtung der im Hamburger Material enthaltenen Fälle offenbarte sich, daß Anstoß und Ausfaltung des zur Tat führenden Konflikts nicht in sozusagen zufälliger, auf das individuelle Geschick der Beteiligten zugeschnittener Weise erfolgen, sondern innerhalb eines Schemas, das dem einzelnen nur begrenzte Variationsmöglichkeiten zubilligt. Die vom handelnden Subjekt als einzigartig erlebte schicksalhafte Verstrickung weist ein überindividuelles Muster auf, so daß Geschehnisse und Entwicklungsstadien des einen Falls im anderen identisch oder nur leicht abgewandelt wieder anzutreffen sind. Das Gesamtgeschehen entwickelt sich in typischer Weise und läßt die Beteiligten, vornehmlich die Täter, nur noch als Funktionsgrößen erscheinen, als Rollenträger in einem Drama, dessen Sinn und Ausgang sie selbst nicht erahnen. Die Erfahrung derartig musterhaft vorgeprägter Abläufe bestätigt eine von Bürger-Prinz angeregte Betrachtungsweise des Verbrechens als ein „typisch menschliches Verhalten", das seine Geschichte hat „in sich selbst". Aus dieser Sicht wandelt sich die Frage nach dem „Motiv": sie richtet sich auf die Er-

kennung der Strukturen, die diesen Entwicklungen eigen sind, und der Bedingungen, unter denen sie sich verwirklichen. Das Konzept der Tötungssituationen wurde erstmalig am Modell der praktisch bedeutsamen Intimpartnertötungen dargestellt. Diese Gruppe von Tötungsdelikten bot sich deswegen als besonders geeignet an, weil mit einer Partnerschaft stets relativ klar definierte Regeln und Bedingungen gegeben sind, die das Feld der Konfliktmöglichkeiten umreißen. Konflikte ergeben sich, wenn die eine Seite die in der Partnerschaft begründeten Regeln und Verpflichtungen nicht einhält oder die andere Seite ihre Forderungen zu hoch schraubt. Die Situation, in der sich die Tat vollzieht, erscheint in diesen Fällen ganz zum Partner, der zum Opfer wird, geöffnet; das Opfer selbst leistet durch sein Verhalten einen wesentlichen Beitrag zur Realisierung der Tat. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich die Tat bei gleicher Grandkonstellation und Vorgeschichte gegen ein Ersatzopfer richtet, d. h. gegen eine nicht unmittelbar an der Konfliktentstehung beteiligte Person. Die Situation ist hier stärker Attribut des Täters, innere Situation, Hintergrund, aus dem heraus gehandelt wird, das Opfer fügt sich ein. In noch höherem Maß gilt dies, wenn psychische Krankheit oder schwere charakterliche Abnormität den Täter gleichsam gegen seine Umwelt abschirmen bzw. bewirken, daß er sich die ihm gemäße Umwelt sucht oder schafft. In der Gesamtschau ergibt sich eine Reihe mit abgestufter Wirksamkeit der objektiv vorhandenen äußeren Gegebenheiten und Einflüsse. Die Gesamtzahl der im Hamburger Material vorgefundenen Tötungssituationen beträgt 80; einige von ihnen lassen sich lediglich vermuten, da sie nur mit ein oder zwei Fällen vertreten sind. Die häufigsten sechs Tötungssituationen, bei denen auch ein prozentualer Merkmalsvergleich möglich ist, werden im folgenden Abschnitt skizziert. Sie umfassen 62% der aufgeklärten Fälle. 2. Die Haupttypen a) S t r e i t u n t e r A l k o h o l (20,1%). Die Tat geschieht im Laufe eines Streits, der sich in einem Lokal oder bei einer privaten Feier aus meist nichtigem Anlaß entzündet. Täter und Opfer sind fast ausschließlich Männer, vorwiegend zwischen 20 und 35 Jahre alt und Angehörige der unteren Unterschicht. Die Haltung der Beteiligten wird von subkulturellen Einflüssen mitbestimmt: man weicht einer körperlichen Auseinandersetzung nicht aus, will nicht das Gesicht verlieren. Bei diesem Tattyp finden sich die meisten wegen eines Gewaltdelikts vorbestraften Täter. Die Alkoholwirkung katalysiert das Geschehen; mitunter werden als Täter oder Opfer zunächst Un-

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beteiligte einbezogen, die nicht unter Alkoholeinlluß stehen. 41% der Opfer sind dem Täter bis zur Tat unbekannt. Bevorzugte Tatzeit ist das Wochenende, 2 / s der Fälle ereignen sich zwischen 22 und 4 Uhr nachts. Über die Hälfte der Taten geschieht auf der Straße. Als Tötungsart steht Erschlagen an erster Stelle (70%), am zweithäufigsten kommt Erstechen vor. Die Täter werden überwiegend am Tatort gefaßt oder stellen sich selbst der Polizei. Nach deutschem Recht sind diese Taten in der Regel als Körperverletzung mit Todesfolge zu qualifizieren. b) G a t t e n t ö t u n g d u r c h den v e r l a s s e n e n P a r t n e r (12,9%). Taten dieses Typs haben meist eine lange Vorgeschichte, sind Abschluß einer konfliktreichen gescheiterten Ehe. Ihren Ursprung nehmen die Spannungen in Problemen, die in der Ehe als Institution begründet liegen; dazu gehören etwa sozialer Anspruch, Prestige, Haushaltsführung, gemeinsame Zukunftsplanung. Für die Richtung der späteren Gewalttat ist ohne Belang, von welchem der Partner der Bestand der Ehe zunächst gefährdet wurde. Meist ist es die Frau, die schließlich aus der Ehe ausbricht und den Mann verläßt. Der verlassene Partner gerät in Isolierung, Depression und Verzweiflung. Er sucht das Ende in der Katastrophe. Die Nähe zum Selbstmord ist groß: 28% der Täter begehen in Verbindung mit der Fremdtötung Selbstmord, 19% unternehmen einen Versuch. Die Fremdaggression der männlichen Täter richtet sich meist gegen die frühere Partnerin; für die Frau ist der erweiterte Selbstmord unter Mitnahme der Kinder typisch. Mit 19% besitzt die Gruppe den relativ höchsten Anteil von Tätern, die sich nach der Tat der Polizei stellen. 56% der Täter sind zwischen 30 und 45 Jahre alt, 33% gehören der oberen Unterschicht an, 7% der Mittelschicht. Bei 44% der Täter bestand zur Tatzeit Alkoholeinfluß, nach der Vorgeschichte neigten 16% zu chronischem Alkoholmißbrauch. Als Hinweis auf eine für Taten dieser Art eigentümliche Disposition kann gewertet werden, daß ein Drittel der Täter bereits früher einmal einen Selbstmordversuch unternommen hatte. c) P s y c h o s e (9,9%). Die Bedeutung von Geisteskrankheiten für die Entstehung von Tötungsverbrechen wurde weiter oben eingehend erörtert. Die Taten Geisteskranker sind bei über der Hälfte der Täter mit einem Selbstmord (21%) oder einem Selbstmordversuch (36%) verbunden; etwa ein Viertel der Täter weist auch in der Vorgeschichte einen Selbstmordversuch auf. Psychotische Täter sind im Vergleich zu anderen Gruppen älter (30% zwischen 60 und 60 Jahre) und zu fast 60% weiblich. Mit 30% ist in dieser Tätergruppe der relativ höchste Anteil von Angehörigen der sozialen Mittelschicht. Die Taten werden ohne Mittäter und fast immer ohne Zeugen begangen und ereignen sich zu einem Drittel

zwischen 4 und 10 Uhr morgens. Bemerkenswert ist, daß 15% der Täter polizeilich ermittelt werden mußten. d) R a u b m o r d (8,1%). Nicht jedes Tötungsdelikt, bei dem Beute gemacht wird, ist ein Raubmord; die anschließende Beraubung eines Getöteten kann durch einen plötzlichen Einfall veranlaßt sein, die günstige Gelegenheit auszunutzen. Es ist darum nicht angängig, jeden Fall, bei dem sich Hinweise auf eine Beraubung ergeben, als Raubmord aufzufassen. Zu einer Sondergruppe sind auch Morde zu rechnen, die von überraschten Einbrechern begangen werden, sowie die in Deutschland bislang seltenen vorgeplanten Taten von Gangstern. Der für Hamburger Verhältnisse typische Raubmord bot sich eher als eine Art Verzweiflungstat dar. Die Täter sind junge Leute, nicht über 30 Jahre, zum großen Teil unter 20 Jahre alt. Sie sind im allgemeinen bindungslos und ohne Arbeit, fast 90% von ihnen sind schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, meist wegen eines Eigentumsdelikts. Zur Tat kommt es, wenn sie sich durch ihre unstete Lebensentwicklung, in der das Leitthema ihre Mittellosigkeit ist, in eine ihnen aussichtslos erscheinende Situation versetzt fühlen. Auf dem Boden einer Haltung, die wesentlich durch Altersstufe und gesellschaftliche Randstellung geprägt ist, setzt sich ein Einfall zum Tatentschluß um. Tatfördernd kann auch die beschriebene Situation der Mittäterschaft sein, die sich bei einem Viertel der Raubmorde fand. Alkoholeinfluß bestand bei einem Drittel der Täter. In ihrer Lage erinnern sie sich auch an ein geeignetes Opfer: nur knapp die Hälfte der Opfer waren den Tätern bis zur Tat unbekannt, bei einem Viertel war die Bekanntschaft älter als ein Monat. Raubmörder müssen fast immer polizeilich ermittelt werden. e) T ö t u n g einer N e u g e b u r t (6,6%). Die gesetzlichen Bestimmungen über die Kindstötung beschreiben bereits eine Art Tötungssituation, gekennzeichnet durch die Dimensionen der Unehelichkeit des getöteten Kindes und der durch die Entbindung bedingten psychophysischen Verfassung der Täterin. Das Problem der Kindstötung hat durch verschiedene soziale Wandlungen in den letzten Jahrzehnten die Schärfe verloren, mit der es sich früheren Generationen darbot; die Zahl der Kindstötungen hat stetig abgenommen. Die Fragen der Berechtigung der Privilegierung, der Motivation und der Tatbedingungen stellten sich in abgewandelter Form (Hirschmann und Schmitz, Neugebauer, Rasch, G. Schmidt). Den Untersuchungen Gerchows ist die Einsicht zu verdanken, daß als entscheidende Grundlage für die Kindstötung eine reaktive Abnormisierung in Gestalt eines umfassenden psychosomatischen Geschehens anzusehen ist, dessen Hauptmerkmale Passivität und Verdrängung sind. Man läßt die Dinge zum Ende treiben, die aktive Tatausfüh-

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige rung ist oft genug eher verhindertes Passivbleiben. Kindstötung ist nicht ausschließlich eine dem hilflosen, verlassenen jungen Mädchen vorbehaltene Reaktionsform. Mehr als drei Viertel der Täterinnen ist zwischen 20 und 30 Jahre alt, fast 30% sind verheiratet, verwitwet oder geschieden; meist handelt es sich um Angehörige der unteren Unterschicht. Etwa ein Drittel der Täterinnen war wegen eines Eigentumsdelikts vorbestraft. Das Verhältnis zum Opfer und zur Tat ist durch Distanzierung bestimmt Nur eine Täterin unternahm nach der Entbindung einen Suizidversuch. Keine Täterin stellte sich der Polizei. Ein wesentliches Moment in der Tatgenese ist die bewußte oder unbewußte Indifferenz der Personen in der Umgebung der Täterin, die allzuoft ihre Isolierung aber auch aktiv verteidigt. f) G e l i e b t e n t ö t u n g d u r c h den v e r l a s s e nen P a r t n e r (4,2%). Diese Tötungssituation ähnelt der beschriebenen Gattentötung, die Entwicklung zur Tat verläuft jedoch geraffter. Ihre Voraussetzungen liegen im typischen Fall in der Bindung eines kontaktengen jungen Manns an eine Frau, die reifer, vitalstärker und unbekümmerter ist als er. Ziemlich bald stellen sich Spannungen zwischen ihnen ein, Zerwürfnisse und Versöhnungen lösen einander ab. Der Konflikt ist Ausdruck des Zusammentreffens zweier unvereinbarer Charaktere. Der spätere Täter befindet sich in der Position des Unterlegenen und klammert sich an die Geliebte. In einem Zustand spannungsreicher Instabilität denkt er an Tötung, Selbstmord, gemeinsamen Tod. Die Tat ereignet sich schließlich in einer vom Täter gesuchten „letzten Aussprache". Schuß- und Stichwaffen sind die bevorzugten Mittel der Tatausführung. Ein Drittel der Täter steht zur Tatzeit unter Alkoholeinfluß. Die meisten Täter sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, einige etwas älter. In seltenen Fällen ist die Täterin eine Frau. Fast die Hälfte der Täter begeht nach der Fremdtötung Selbstmord. 3. Weitere

Formen

Mit gleicher Häufigkeit wie die Geliebtentötung fand sich während der ersten zwei Drittel des untersuchten Zeitraums die Tötungssituation des Chronischen F a m i l i e n k o n f l i k t s . Ihr Schwinden dürfte mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zusammenhängen. Der Anteil von Flüchtlingen ist in dieser Gruppe doppelt so hoch wie im Gesamtmaterial. Schwierigkeiten, sozial Fuß zu fassen, begründen innerfamiliäre Spannungen, die schließlich ein Familienmitglied — meist mit gleichzeitigem Selbstmord ·— zur Tat veranlassen. Fallende Tendenz zeigte auch das Delikt der T ö d l i c h e n K i n d s m i ß h a n d l u n g , das in der Regel ebenfalls durch eine Art Familienneurose vorbereitet wird. Verhaltensstörungen eines Kindes, das als Fremdkörper in

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der Familie empfunden wird, erzieherisches Unvermögen der Eltern und Asozialität formen den Tathintergrund. Die Entstehungsgeschichte anderer innerfamiliärer Taten ist auch meist sehr komplex. Die M u t t e r - E l i m i n a t i o n , begangen vom Sohn, ist als ein Versuch gewaltsamer verspäteter Abnabelung zu begreifen. Die V a t e r E l i m i n a t i o n ist im typischen Fall eine Art Tyrannenmord. Unter den am Dauerpartner begangenen Taten hatte die Tötungssituation der A s o z i a l e n P a r t n e r s c h a f t zunehmende Bedeutung erhalten. Sie wird durch zwei meist ältere Personen konstituiert, die sozial randständig zusammenleben, dem Alkohol ergeben sind und häufig Tätlichkeiten miteinander austragen. Bei der E l i m i n a t i o n des e h e s t ö r e n d e n P a r t n e r s ist Hang zum Alkohol auf Seiten des einen Partners als ein die Ehe und die Familie gefährdendes Moment ebenfalls von tragender Bedeutung. Die Tat geschieht im Laufe eines akuten Streits. Auf dem Gebiet der flüchtigen sexuellen Partnerschaft wurde der Tattyp der A v e r s i o n s t ö t u n g d u r c h S t r i c h j u n g e n nur während des letzten Drittels des Untersuchungszeitraums beobachtet, dann jedoch gleich siebenmal. Die Täter sind asoziale, umherstreunende junge Männer, die Tat ist im allgemeinen von der Beraubung des getöteten homosexuellen Manns gefolgt. Um zu verstehen, daß die von den Tätern selbst hervorgebrachte Motivation, aus Ekel und Abscheu gehandelt zu haben, nicht einfältige Ausrede ist, muß neben ihrer Lebenssituation die Einstellung der Strichjungen gegenüber ihren Freiern berücksichtigt werden, denen sie sich überlegen fühlen und die sie verachten. Weiter ist zu bedenken, daß es auch bei flüchtigen Partnerverhältnissen Regeln und Formen gibt, deren Bruch Konflikte hervorruft. Im Bereich der flüchtigen heterosexuellen Beziehungen ist die O p f e r p r o v o z i e r t e P r o s t i t u i e r t e n t ö t u n g die am häufigsten zu beobachtende Tötungssituation. Die Prostituierte wird Opfer eines Manns, der sich durch ihr herausforderndes, beleidigendes oder ungebärdiges Verhalten in die Enge getrieben fühlt. Die Entstehungsbedingungen von Taten dieser Art sind nicht einzig in der kurzen Spanne gemeinsamen Erlebens zu suchen, das Täter und Opfer vor der Tat miteinander verband. Das Opfer ist oft genug nur eine gerade in die Situation passende Figur, Auslöser einer Reaktion, die aus einer Konfliktkumulation beim Täter gespeist wird. Am stärksten gilt dies für Taten, deren Grundlage seelische Abnormität des Täters im Sinn einer P s y c h o p a t h i s c h e n E n t w i c k l u n g ist. Täter aus dieser Gruppe haben sich in wiederholtem Scheitern, Resignation und Lebensüberdruß an die Tat gewissermaßen herangelebt. Daß sie schließlich geschieht, ist eine Art Bilanz, in die die gerade nächststehende Person mit einbe-

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Tötungsdelikte, nicht fahrlässige

zogen wird. Dies geschieht entweder in der Form eines erweiterten Selbstmords, oder die Ausführung der Fremdtötung wird zum Ersatz-Selbstmord. Solange man sich darauf beschränkt, nach einem offenkundigen Anlaß oder Zweck zu fahnden, erscheinen derartige Morde „motivlos". Zur Kategorie der psychopathischen Entwicklungen sind teilweise auch Taten zu zählen, die nach Art und Umständen der Ausführung eine sexuelle Motivation vermuten lassen, bei denen aber abnorme sexuelle Tendenzen des Täters lediglich in die Tathandlung mit eingegangen sind. Bei den S e x u a l m o r d e n im engeren Sinn ist die Tötungshandlung selbst Auslösemechanismus der sexuellen Befriedigung. Das setzt eine Einengung auf eine spezielle sexualpathologische Erlebnisausrichtung voraus, die sich regelmäßig bereits in der Vorgeschichte des Täters ankündigt. E. Der politische Mord Die Schwierigkeiten des Kriminologen, seinen Forschungsgegenstand zu definieren, vervielfältigen sich bei der Beschäftigung mit jeder Form von politischen Delikten. Auf keinem anderen Feld hat er mit so schnellen und einschneidenden Wandlungen der gesellschaftlichen Anschauungen darüber zu rechnen, was als Normverstoß zu gelten hat und was nicht. Der politische Mord ist, sofern man sich auf die Betrachtung von Attentaten beschränkt, eine im Verhältnis zur übrigen Tötungskriminalität seltene Erscheinung. Die Zahl der aus politischen Gründen Getöteten ist aber nicht als klein einzuschätzen, wenn man auch die Opfer der in mehreren Staaten aus weltanschaulichen, rassischen oder religiösen Gründen fortdauernden bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen einbezieht. Welche Seite Rechtmäßigkeit beanspruchen darf, ist oft zweifelhaft. Nur durch das Akzeptieren der Fiktion, Gewaltanwendung könne unter gewissen Voraussetzungen — ζ. B. im Krieg — legitimes Mittel zur Erreichung politischer Ziele sein, gelingt es der Kriminologie, einen bestimmten Bereich des politischen Mords für sich herauszupräparieren. In Deutschland hatten politische Gewaltverbrechen in dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg einige Bedeutung. In dieser Zeit ereigneten sich mehrere berühmt-berüchtigte Attentate, und in Straßenkämpfen zwischen Angehörigen halbmilitärischer Verbände radikaler Parteien kamen Polizeibeamte und Parteigänger ums Leben. Während der NS-Zeit fiel eine nicht abzuschätzende Vielzahl von Menschen staatlich gelenkter gesetzwidriger Gewaltanwendung zum Opfer. Die deutsche Rechtsprechung ist bis in die jüngste Zeit mit der Aburteilung von Personen befaßt, die sich hierbei schuldig gemacht haben. Im gemäßigten politischen Klima des Deutsch-

lands in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden politische Meinungsverschiedenheiten nur selten mit Gewalt ausgetragen, radikal eingestellte Parteien fanden kaum Anhängerschaft. Eine gewisse Wandlung zeichnete sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ab mit dem Auftreten meist heterogen und zufällig zusammengesetzter, von Studenten angeführter Gruppen, die sich als außerparlamentarische Opposition verstanden; bei Zusammenstößen mit der Polizei gab es Verletzte auf beiden Seiten, Todesfälle kamen jedoch sehr selten vor. In Verbindung mit diesen Geschehnissen steht das 1968 gegen den Studentenführer Rudi Dutschke verübte Attentat, bei dem Dutschke schwere Verletzungen davontrug; der Täter, ein offensichtlich charakterlich abnormer Einzelgänger, beging nach seiner Verurteilung Selbstmord. Ein Attentatsversuch, der 1952 auf den damaligen Bundeskanzler Adenauer unternommen wurde, blieb in den Anfängen stecken. Ein für Adenauer bestimmtes Postpaket enthielt einen Sprengsatz, der beim Offnen des Pakets durch einen Feuerwerker explodierte; der Feuerwerker verstarb. Andere politische Gewaltverbrechen, die sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ereigneten, gingen auf das Wirken ausländischer Extremistenorganisationen auf deutschem Boden zurück, Opfer waren vornehmlich Ausländer, ζ. T. Angehörige fremder Missionen. In die Reihe dieser Taten gehören auch Anschläge auf Deutsche, die in Waffengeschäfte verstrickt waren. Eine sozusagen ins Alltägliche reichende Form des politischen Mords sind Taten, die das Resultat einer querulatorischen Entwicklung sind. Die Täter sind Personen, die wegen eines tatsächlichen oder vermeintlichen behördlichen Unrechts in einen Kampf mit der Obrigkeit schlechthin geraten sind; Leitsymptome der Entwicklung sind Erlebniseinengung und Wahnbildung. Die Gewalttat richtet sich gegen einen Behördenangestellten, der die Stellung eines Repräsentanten dieser ungerechten Obrigkeit einnimmt, oder gegen ein gerade erreichbares Zufallsopfer. Diese Fälle sind deswegen instruktiv, weil Täter, die politisch stärker exponierte Persönlichkeiten angreifen, mitunter aus einer ähnlichen, bereits als psychopathologisch zu bezeichnenden Verfassung heraus handeln. Die Form des politischen Mords, der im Bewußtsein der Öffentlichkeit die größte Bedeutung zukommt, ist das Attentat. Sein entscheidendes Merkmal ist die exponierte politische Stellung des Opfers, weniger die motivierende Kraft politischer Überzeugungen, denn eine nicht geringe Zahl von Attentaten wird durch Personen begangen, die aufgrund ihres psychischen Zustandes keine politische Überzeugung verantwortlich vertreten können. In der subjektiven Motivbildung lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden, die Langemann

Tötungsdelikte, nicht fahrlässige als Richtungskomplexe beschrieben hat. In der einen Gruppe faßt er die Finalattentate zusammen, mit deren Ausführung auch das die Tat begründende Vorhaben zunächst als endgültig beendet wird. Die Tat wird verstanden als Sühne oder Rache, als Drohung, als Manifestation politischer Gegnerschaft oder als Störversuch. Eine zweite Gruppe bezeichnet er als Initialattentate; sie sollen einem weiteren machtpolitischen Ziel — einer Revolution, einem Staatsstreich — als Auslöser dienen, Straf- und Rachewünsche können dabei hineinspielen. Nach den Ergebnissen neuerer Untersuchungen (Langemann, Middendorff) lassen sich drei Hauptgruppen des Attentats herausstellen; sie besitzen einen engen Bezug zur Dynamik und zur Motivation von Tötungsverbrechen im allgemeinen. Die g e l e n k t e n B e f e h l s a u s f ü h r e r , wie Middendorff sie genannt hat, sind Täter, die den Anschlag nicht aus eigenem Tatentschluß begehen, sondern als Spezialauftrag übernommen bzw. zugewiesen bekommen haben. Auftraggeber ist eine Organisation, deren Befehle die Täter als verpflichtend und ihrem eigenen Wertsystem entsprechend erleben. Die Täter handeln als Soldaten oder wie Soldaten, aus der Sicht der dominierenden Normen also in einem Bereich, der nicht im Radius kriminologischer Forschung liegt. Beispielhaft für Attentate dieses Typs ist der Anschlag auf den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Heydrich, im Jahre 1942. Die beiden Attentäter waren auf Veranlassung der tschechischen Exilregierung in das damalige deutsche Protektorat eingeflogen worden, um Heydrich zu beseitigen. Die Tat war letztlich ein Teil der gegen Deutschland gerichteten Kriegsmaßnahmen. Die zweite Gruppe umfaßt Attentate, die das Ergebnis einer V e r s c h w ö r u n g sind; ihre psychologische Grundlage ist die gruppendynamische Situation der Mittäterschaft. Die Verschwörergruppen können sich aus Mitgliedern zusammensetzen, deren wesentliches einigendes Band die Planung eben dieses Attentats ist, unterlegt von der gemeinsamen Überzeugung seiner Notwendigkeit, ohne daß die politisch-weltanschauliche Gesinnung aller Beteiligten die gleiche ist. Dies trifft zum Beispiel auf die aus recht verschiedenen politischen Lagern stammenden Männer zu, die sich zu dem am 20. Juli 1944 gegen Hitler unternommenen Attentat zusammenfanden. In anderen und wohl häufigeren Fällen sind die Verschwörer in einer mehr oder weniger straffen Geheimorganisation zusammengeschlossen, die die Ausführung von Attentaten für ein legitimes Operationsmittel hält; anzuführen wären hier etwa die Anarchisten- und Nihilisten-Gruppen. Unter Umständen ist aber nicht die Organisation selbst Träger des Attentats, sondern lediglich weltanschaulicher Sammelplatz der sich als

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Sondergruppe fühlenden Verschwörer. Notorische Beispiele aus der deutschen Vergangenheit sind für diesen Tattyp die Ermordung der deutschen Politiker Erzberger (1921) und Rathenau (1922) durch Angehörige der aus ehemaligen Freikorpskämpfern zusammengesetzten Organisation Consul. Einen vergleichbaren Hintergrund hatten die Anfang der sechziger Jahre durch extremistische Offiziere gegen den französischen Staatspräsidenten de Gaulle unternommenen Anschlagsversuche. Die in psychologischer Hinsicht interessanteste Gruppe unter den Attentätern bilden die E i n z e l t ä t e r , und zwar die von Langemann als „echte Einzeltäter" bezeichneten, die selbst den Entschluß zur Tat fassen und dies auch aus einer autonom gebildeten Meinung, allenfalls unter dem Einfluß ideeller Hintermänner. Die Gruppe der Einzeltäter ist psychologisch bzw. psychopathologisch nicht einheitlich, bei den historischen Fällen ist es nur selten möglich, eine sichere Diagnose zu stellen. Oft ist kaum etwas über die Persönlichkeit des Täters überliefert; sofern durch Sachverständige Feststellungen über den Geisteszustand des Täters getroffen wurden, sind die benutzten Begriffe meist schwer mit den diagnostischen Kategorien der modernen Psychiatrie abzustimmen. Zudem ist es bis in unsere Tage hinein einer differenzierten Persönlichkeitserforschung abträglich, daß die Untersuchung in einem Strafverfahren unter der engen Fragestellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorgenommen wird. Bei schweren Straftaten, zu denen die Attentate gehören, werden die Verfahren außerdem immer unter dem Druck der öffentlichen Meinung durchgeführt, die auf Verurteilung des Täters drängt; man unterstellt, die Spitzfindigkeit der medizinischen Sachverständigen könne ihn seiner Strafe entziehen. Es dürfte den ärztlichen Sachverständigen nicht immer möglich gewesen sein, sich ihre Auffassung völlig vorurteilsfrei zu bilden. Andere Täter schieden für eine Untersuchung schon deswegen aus, weil sie durch das Eingreifen von Sicherungskräften oder infolge Selbstmords den Tod fanden. Ob es unter den Einzeltätern psychopathologisch absolut unauffällige Persönlichkeiten gibt, für die die Bezeichnung Idealisten angebracht wäre, ist schwer zu entscheiden. Wen man als „normalen" Idealisten klassifiziert oder als abnorme Persönlichkeit und nach welchen Kriterien, unterliegt erheblichen zeitgeschichtlichen Wandlungen. Man hat zudem den Eindruck, daß Attentäter — unabhängig von ihrer möglichen diagnostischen Einordnung — etwas sehr Typisches, sehr Spezifisches ihrer Epoche repräsentieren, daß sie die geistigen Gehalte und Haltungen ihrer Zeit gleichsam hohlspiegelartig reflektieren, nicht selten übersteigert und karikiert. Auf der gleichen Linie liegt die Beobachtung, daß die Begehung von Attentaten überhaupt und der Stil ihrer

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Tötungsdelikte, n i c h t fahrlässige

Durchführung epochenabhängige aufweist.

Schwankungen

Soweit es möglich ist, sich aus den vorliegenden B e r i c h t e n ein Bild zu m a c h e n , h a n d e l t es sich bei den meisten E i n z e l t ä t e r n u m Persönlichkeiten, die n a c h ihrer charakterlichen A r t u n g als a b n o r m einzustufen sind; ihre T a t ist — analog zu gewissen T ä t e r n bei anderen T ö t u n g s v e r b r e c h e n ·— das R e s u l t a t einer p s y c h o p a t h i s c h e n Persönlichkeitsentwicklung. I h r L e b e n s g a n g ist u n s t e t und e n t h ä l t Hinweise auf charakterliche L a b i l i t ä t , U n v e r m ö g e n , sozial B o d e n u n t e r den F ü ß e n zu finden, und Kontaktschwierigkeiten. I n der L u f t liegende Ideen werden aufgegriffen u n d mit Eifer u n d F a n a t i s m u s v e r t r e t e n , ohne d a ß dahinter eine ausgereifte politische Einstellung stünde. Überh a u p t scheinen Unreife u n d mangelnde Wirklichkeitsnähe charakterliche Voraussetzungen zu sein, die den T a t e n t s c h l u ß begünstigen. Insofern ist aufschlußreich, d a ß n a c h einer Zusammenstellung v o n L a n g e m a n n ein großer Teil der A t t e n t ä t e r e r s t u m 2 0 J a h r e alt ist. I n anderen Fällen lassen d e m T ä t e r zugeschriebene Ä u ß e r u n g e n v e r m u t e n , d a ß die treibende K r a f t in i h m übersteigertes Geltungsbedürfnis w a r , möglicherweise a u s m ü n dend in d e m W u n s c h n a c h einem ruhmvollen A b g a n g oder einer l e t z t e n B e s t ä t i g u n g . Hier wie a u c h in m a n c h e n anderen Fällen, bei denen Geltungsbedürfnis n i c h t beteiligt scheint, ist die N ä h e z u m Selbstmord groß. Die Schuld a m eigen e n Scheitern wird „ d e r Gesellschaft" oder ihren R e p r ä s e n t a n t e n zugeschoben. A b n o r m e charakterliche E n t w i c k l u n g von einiger Schwere sind m a n c h m a l k a u m oder gar n i c h t v o n Geisteskrankheiten i m engeren Sinn zu unterscheiden, v o r allem wenn W a h n b i l d u n g die S y m p t o m a t i k p r ä g t . Wieviel der b e k a n n t gewordenen A t t e n t ä t e r e c h t geisteskrank w a r e n , ist unklar. Differentialdiagnostische Schwierigkeiten, Voreingenommenheit u n d unzureichendes Fachwissen m ö g e n m i t u n t e r der Verurteilung eines strafrechtlich n i c h t v e r a n t w o r t l i c h e n K r a n k e n Vorschub geleistet h a b e n ; die Diskussion ist hinsichtlich m e h r e r e r F ä l l e bis h e u t e n i c h t abgeschlossen ( P o l h e i m ) . E i n e früher gestellte Diagnose stichhaltig zu revidieren, ist wegen der Vieldeutigkeit der a u s w e r t b a r e n F a k t e n j e d o c h n u r selten möglich.

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Tötungsdelikte

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TÖTUNGSDELIKTE Spurenkundlicher nnd gerichtsmedizinischer Beitrag Für Juristen wie Kriminalisten hat H. Gross im Handbuch des Untersuchungsrichters in nahezu Massischer Weise die Reihenfolge der Untersuchungen in den „7 goldenen W " zusammengefaßt: Wo geschah die Tat? (Tatort/Fundort) W a s geschah ? (Tötung/Suizid/Unfall/natürl. Tod/ unterlassene Hilfeleistung, usw.) W o m i t geschah die Tat? (Tatwaffe) W a n n geschah die Tat? (Zeitpunkt) Wie geschah die Tat? (Tatablauf) W a r u m geschah die Tat? (Motiv) W e r war der Täter? (Einzel-/Gruppentäter) Kriminalpolizei und Gerichtsmediziner sollen diese Fragen klären bzw. Ungeklärtes herausstellen, vorgefaßte Ansichten in Frage stellen. S p u r e n geben Hinweise. Ihre optimale Auswertung ist demnach eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Tat- und Täterermittlung. Im einzelnen sind hierfür von Bedeutung: Zuordnung eines mit den Sinnen erfaßbaren Befundes als „Spur", Erkennung der Bedeutung für den „Fall", Sicherung, Abnahmetechnik, Transport des Spurenmaterials und letztlich eingesetzte Untersuchungsverfahren. Eine abschließende gerichtsmedizinische Expertise wird diese Spurenergebnisse unter Berücksichtigung der Ermittlungen der Kriminalpolizei und der eigenen morphologischen wie toxikologischen Befunde werten. I . GERICHTSMEDIZIN UND DELIKT

KRIMINAL-

Der Mensch — Opfer wie Täter — als biologisches und soziologisches Wesen steht im Mittelpunkt der Beurteilung von Tötungsdelikten. Feststellungsmöglichkeiten der aufnehmenden Ermittlungsbeamten berühren die eine Erkenntnisschicht, die der Mediziner weitere. Wer ist geeignet, eine medizinische Expertise abzugeben? Die Erfahrung lehrt, daß es sich um ein hochentwickeltes Spezialgebiet handelt. Praktisch und klinisch tätige Ärzte, Polizeiärzte oder Ärzte des Gesundheitsamtes haben andere Zielsetzungen als der

Tötungsdelikte Rechtsmediziner, verabsäumen daher Spurensicherungen, erkennen wichtige Befunde nicht, verkennen kriminalistische Bedeutung oder fehlinterpretieren sie. Dies gilt besonders für Sexualdelikte (->Sexualdelikte). Beiziehung von zwei gerichtsmedizinischen Sachverständigen, nicht nur bei der Obduktion, wäre sicherlich von größtem Vorteil und würde die Rechtssicherheit erhöhen. A. Abgrenzung der Aufgaben der Gerichtsmedizin Die Zusammenarbeit zwischen Kriminalbeamten und Medizinern ist Voraussetzung für eine optimale Bearbeitung. Nicht in Konkurrenz, sondern koordiniert ist vorzugehen, dann wird man Verständnis für die Aufgaben des anderen entwickeln und der Kriminalbeamte wird den Tätigkeitsbereich des Arztes am Tat- oder Fundort nicht behindern, sondern unterstützen. Andererseits soll der Mediziner bei seinem Vorgehen die Ermittlungsorgane ständig unterrichten. Letztere müssen während der Laufzeit in Angriff genommener Untersuchungen dafür Verständnis haben, daß Zwischenhinweise, vorläufige Gutachten usw. keineswegs als letzte Weisheit in Ermittlungsakten einzugehen haben. Medizinisch-biologische Interpretation der Ergebnisse sollten von der Tatortbefundung bis zum endgültigen abschließenden Gutachten in einer Hand bleiben. B. Zeitpunkt der Beiziehung eines Gerichtsmediziners Die Perspektiven, unter denen ein Gerichtsmediziner einen Tat- oder Fundort betrachtet, unterscheiden sich von jenen des Kriminalbeamten. Würde der Mediziner zu einem späteren Zeitpunkt lediglich eine bereits entkleidete, vielleicht sogar gesäuberte Leiche untersuchen müssen, wird seine Expertise inkomplett oder sogar falsch sein können. Da es schwer abzuschätzen ist, welche Fragestellungen im Laufe der Ermittlungen diskutiert werden, wird der Polizeibeamte beim ersten Zugriff kaum entscheiden können, ob es sich um einen „einfachen" Fall handelt. Deshalb sollte der Gerichtsmediziner unmittelbar verständigt und zugezogen werden. C. Ausrüstung des medizinischen Sachverständigen Der gemeinsam mit dem Erkennungsdienst zum Fund-/Tatort eilende Arzt wird bei der Befundund Sachermittlung die Geräte des Erkennungsdienstes speziell zur photographischen Fixierung biologischer Spuren benutzen. Bei plötzlichem Einsatz wird der Gerichtsmediziner oft nicht über eine allen Untersuchungsproblemen entsprechende Ausrüstung verfügen, die jederzeit einsatzbereit in seinem Wagen eingebaut ist.

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Wenn Polizeibehörden sog. Tatortkoffer zusammengestellt haben, sollte man dem gerichtsmedizinisch tätigen Arzt ebenfalls einen derartigen Koffer — zur besseren Differenzierung als „nur für den Gerichtsarzt" gekennzeichnet — zur Verfügung stellen. Π. AUFGABEN DER KRIMINALBEAMTEN UND GERICHTSMEDIZINER AM TAT-/ FUNDORT A. Absicherung des Fund-/Tatortes Nachdem ein Tat- oder Fundort durch Meldungen von Unbeteiligten, Überlebenden, Tätern, Wachpersonal usw. bekannt geworden, festgestellt wurde, ist seine Absicherung erstes Gebot. Nur zu leicht zerstören Neugierige, Journalisten oder sonstige Personen, zu denen auch Täter oder Mittäter zu rechnen sind, wertvolle Spuren. Gleiches besorgen oft falsch verstandene Aufräumungsoder Reinigungsbestrebungen Angehöriger. Manipulationen an Gegenständen, Tatwerkzeugen, fraglichen Spurenträgern, am Opfer (Kleidung, Stellung) machen es später unmöglich, sich zu einem Tatgeschehen — abschließend auch zur Rekonstruktion — zu äußern bzw. aus gerichtsmedizinischer Sicht einen Fundort als Tatort zu charakterisieren. B. Fixierung der für die allgemeine Erhebung bedeutsamen Fragestellungen 1. Fixierung am Tatort bzw. in der Umgehung des Tatortes

Der vermeintliche Tat- bzw. Fundort ist von der Peripherie her, von außen gewissermaßen, zu betrachten. Desgleichen die nähere oder weitere Umgebung. Erst wenn ein Überblick erreicht, eine Tatortsituation überschaut und erkannt worden ist, sind Fotografien zu fertigen, Protokolle und Skizzierungen herzustellen. Dies stellt hohe Anforderungen an Ausbildung und Können eines Kriminalbeamten und darf keinesfalls einem Anfänger oder gar einem Polizeibeamten überlassen bleiben. Die Aufnahmeerhebung muß Schritt für Schritt erfolgen. Die Tatortsituation wird tunlichst sowohl in F ä r b - als auch S c h w a r z w e i ß a u f n a h m e n in verschiedenen Ebenen unter unterschiedlichen Perspektiven im Foto festgehalten. Sobald Übersichts- und Detailaufnahmen vorgenommen werden, ist ein Verzeichnis der Abbildungen und Beschreibung des Aufnahmeausschnittes anzulegen. Gelegentlich bekommt man später vergrößerte Detailaufnahmen, über deren Zuordnung, besonders wegen der perspektivischen Verzeichnung, nichts Sicheres ausgesagt werden kann. Der Fotograf sollte den Zeitpunkt, zu dem er tätig wird,

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Tötungsdelikte

sowie die Reihenfolge seiner Aufnahmen im Protokoll festhalten lassen. Die B e s c h r e i b u n g anfänglich scheinbar unwichtiger Dinge kann später sehr bedeutsam werden, da zunächst ungewiß ist, ob sich die erste Vorstellung über einen Tatablauf bestätigt. Im folgenden werden die Faktoren genannt, die auf jeden Fall beachtet werden müssen. Hinweise in R ä u m e n (nach Dotzauer, Jarosch, Berghaus ereignen sich 3 von 4 Tötungsdelikten in umschlossenen Räumen 1): Ordnung bzw. Unordnung, offene oder geschlossene Türen und Fenster, Stellung der Schlüssel, zugezogene Fenstervorhänge oder geschlossene Läden, offene Schubladen, Schranktüren, eingeschaltete Lichtschalter bzw. Schalterstellung am Radio, Fernsehen, Plattenspieler, Zustand der Heizquellen (Ofeninhalt, Wärmegrad), Zeitangaben der Uhren (Antrieb, Laufzeit), Bücher, Zeitungen, Illustrierte (Erscheinungsdatum, aufgeschlagene Seite), Briefkasteninhalt, beschädigte Möbel, abgewischter Staub, abgebrochene Gegenstände, Medikamente (Art, Zahl, Behälter, Füllungszustand, Gebrauchszeichen). B e n u t z u n g s z e i c h e n : Betten, Liegestätten; Kleidungsstücke, Schuhe (Zustand, Ablage, Kleidungswechsel); Waschgelegenheiten (Waschwasser, Handtuch, Badewanne), Toilettenbecken, Nachtgeschirr, Abortgrube; Abfalleimer, Papierkorb, Notizen, Briefe, (Absender, Empfänger, Poststempel), Aktenmappe. Kochgeräte, Geschirr, Gläser, Eßbesteck (Reinigungszustand, Zahl, Füllungszustand, Inhalt); Nahrungsmittel: Art und Zustand, Pilzrasen, unterbrochene Mahlzeit (Vergleich zum Mageninhalt). Pfeifentabak, Zigarren, Zigaretten und deren Reste (Marke, Eigenheiten, Zahl, Länge, Lippenstiftspuren). Fußspuren (Größe, Form, Tiefe der Eindrücke), Gangbild, da daraus medizinische Feststellungen wie Lähmungen, Gleichgewichtsstörungen, Verkrüppelungen usw. zu entnehmen sind. Perücke, Glasauge, Haftschale, Brille, Zahnprothesen, Kunstglieder verweisen auf bestimmte Funktionsstörungen wie Identitätsmerkmale der Beteiligten, wobei aber auch an Täuschungsmanöver zu denken ist. K r a f t f a h r z e u g e : Beschädigungen speziell an der Zündung, Türen und Fenster (offen/geschlossen), Wärme des Motors, Tankeinstellung, Pkw-Schlüssel, Beleuchtungs- und Bremszustand, Tankfüllung, Kilometerstand, Aschenbecherinhalt, Fremdeigentum; Zustand der Polster, Geruch ζ. B. nach Parfüm; Stellung des Garagentores. Es sollte nicht nur das Fahrzeuginnere, sondern auch die gesamte Karosserie und der Unterboden betrachtet werden. Nach oder während einer minutiösen Protokollierung sind zur Ergänzung anfänglich durchgeführter Fotografien T a t o r t s k i z z e n zu fertigen. Alle Räumlichkeiten eines Hauses, der näheren Umgebung, anliegende Straßenzüge und Mar-

kierungspunkte sind maßstabsgerecht einzutragen. Bei Sturz auf den Kopf sind ζ. B. unter anderem Art wie Höhe der Absturzmöglichkeit, Behinderungen im Sturz, Entfernung des Aufschlages von der Senkrechten des Absturzortes, sowei Bodenwie Wandbeschaffenheit auszumessen und zu beschreiben. Protokoll und Skizze runden das Bild des Tatortes ab. Während die Flächenmaße meist genau bestimmt werden, fehlen häufig Eintragungen über Beleuchtungsquellen und Sichtweite für die konkrete Tatortsituation, und zwar von verschiedenen Standpunkten aus. Bei Fund-/Tatorten im Freien sollten im ersten Angriff bereits Feststellungen über Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Niederschlagsmengen getroffen, objektive Angaben von einer meteorologischen Anstalt geholt werden. 2. Fixierung wichtiger Erhebungen und Befunde an der Leiche

Was für die Erfassung und Dokumentierung des Tatortes im allgemeinen angeführt wurde, gilt gleichermaßen für die Besichtigung, die Beschreibung und das skizzenhafte Festhalten der Befunde an der Leiche mit der fotografischen Dokumentierung. Die Besonderheiten sind, unter Zeitangabe, zu potokollieren. Falls keine Schreibkraft zur Verfügung steht, ist das Taschendiktiergerät aus dem Tatortkoffer zu benutzen. Erst wenn die Leiche (Lage, Haltung, Kleidung, in ihren Beziehlingen zur Örtlichkeit sowie Gegenständen ζ. B. Projektil, TatweTkzeug usw.) genau erfaßt wurde, darf sie erstmals und nur durch den Arzt berührt werden, doch ist auch hierbei auf die anschließende optimale Asservierungsausbeute des Spurenmaterials Rücksicht zu nehmen.

C. Eiste medizinische Feststellungen zur Tat·, Überlebens-, Todeszeit Der Arzt trägt alle für die Todeszeitbestimmung wichtigen Merkmale zusammen, um sich später — sekundär, auf Grund des Obduktionsbefundes, der inneren Leichenschau — mit der Überlebenszeit und der Einschätzung der Tatzeit zu beschäftigen. Mit Hilfe von Tabellen (Mueller,· Falk-Pfeifer bzw. Dotzauer-Tamaska) könnte die Todeszeit bestimmt werden. Bei Anwendung wird man, falls lediglich eines der interessierenden, im folgenden beschriebenen Merkmale herausgegriffen wird, zu Fehlschlüssen kommen. Letzten Endes handelt es sich stets nur um einzelne Feststellungen, die zusammengesetzt erst einen Schluß erlauben. Deshalb wird auf die zuvor genannten Fundstellen verwiesen, in den folgenden Punkten lediglich Faustregeln einer Todeszeitbestimmung in der frühen Leichenzeit gegeben.

401

Tötungsdelikte 1.

Muskelerregbarkeit

Zunächst müssen mechanische und elektrische Muskelerregbarkeit und Auslösung des idiomuskulären Wulstes geprüft werden. Der Untersucher sollte bereits Erfahrungen über diese Reaktionen erworben haben. Zu protokollieren ist, wo die Testung durchgeführt wurde, ζ. B. am rechten und linken Bizeps. Es muß festgehalten werden, ob auf eine Irritation der gesamte Muskel zur Kontraktion zu bringen ist oder nur der direkt mechanisch betroffene Bezirk. Bildet sich ein rasch wieder verschwindender Wulst oder bleibt er bestehen ? Zur exakten Bestimmung der elektrischen Reizbarkeit der Muskulatur (Augenwie Mundmuskulatur, der Unterarmbeuger usw.) verwenden wir ein verbessertes Meßgerät nach Palm. Auch die Auslösung der Kontraktion der Mm. arrectores pilorum nach Einwirkung einer breitflächigen stumpfen Gewalt ist zu testen. Durch Miotika und Mydriaka sind Pupillenreaktionen zu prüfen. Auf mechanische Irritierung läßt sich der Bizeps in der ersten, zum Teil auch in der zweiten Stunde p. m. in ganzer Länge zur Kontraktion bringen. Eine Phase schließt sich an, in der ein typischer, rasch wieder verschwindender Wulst entsteht — im Durchschnitt 2—5 Stunden p. m. Jenseits der fünf Stunden p. m. bleibt der Wulst evtl. bis zum Eintritt der Starre bestehen. Vereinzelt ist ein Wulst noch nach 10 Stunden und länger auslösbar. 2. Totenstarre Grad, Ausbildung und Brechbarkeit der Totenstarre, nicht nur in einer Muskelgruppe, sondern in den kleinen und großen Muskeln bzw. Gelenken, sowie die Haltung der Gliedmaßen in der Totenstarre selbst sind im Befund festzuhalten. Nach Brechung der Totenstarre ist zu prüfen, ob diese erneut, in welcher Stärke, nach welcher Zeit, eintritt. Bei plötzlichen Todesfällen kann der Rigor etwa eineinhalb Stunden p. m. einsetzen, bis zur 7. und 9. Stunde voll ausgebildet sein. Erhebliche Abweichungen treten auf. Wird die Totenstarre gebrochen, d. h. mit Gewalt ein ζ. B. in Beugestellung erstarrter Arm gestreckt und tritt die Starre nach Stunden nicht mehr ein, sind etwa zehn Stunden oder mehr p. m. vergangen; tritt sie wieder ein, wird man je nach der Intensität graduell einstufen. Meist beginnt sich die Starre nach 48 bis 72 Stunden wieder zu lösen. Außentemperatur sowie Lage des Körpers sind zu berücksichtigen, da die Differenzen erheblich sein können. 3. Leichenkälte Für die Beurteilung der bereits eingetretenen Leichenkälte reicht der Tastbefund nicht aus, es müssen exakte Temperaturmessungen an der Hautoberfläche, und zwar an bedeckten und un26 HdK, 2. Aufl., Bd. III

bedeckten, an aufliegenden und nicht aufliegenden Partien, sowie solche im After durchgeführt werden. Wesentlich exakter dürfte die Messung der Kerntemperaturen ζ. B. in der Leber oder in der Oberschenkelmuskulatur sein. Man punktiert ζ. B. perkutan mit einem Elektrothermometer. Zum Zwecke des Vergleiches wäre es zweckdienlich, Raum- bzw. Außentemperatur zu kennen. Das Gefälle von Beheizung oder Temperaturschwankungen während des Tages oder der Nacht ist zu ermitteln, weiter der Temperaturausgleich zwischen Körper und Auflagefläche. Als Faustregel gilt, daß sich die Temperatur im Mastdarm etwa um 1° C pro Stunde senkt. 4. Livores Der Körper ist von allen Seiten — nicht nur zur Erkennung etwaiger Verletzungen, sondern auch zur Ermittlung der Intensität, Farbe und Lokalisation der Totenflecke — zu untersuchen, will man die Wegdrückbarkeit der Livores auf leichten oder starken Druck, sowie ihre Umlagerungsfähigkeit kontrollieren. Fleckförmig angeordnete Totenflecke sind bei plötzlichen Todesfällen bereits nach 30—45 Minuten zu sehen, heben sich nach 3, 4 bis 5 Stunden p. m. deutlich ab, sind zusammengeflossen, um später intensiver zu werden. Wegdrückbar oder umlagerungsfähig sind Livores etwa bis zur 10. bis 12. Stunde p. m. Das Verschwinden der Totenflecke der Erstlagerung und das Ausmaß neuer Totenflecke nach der Umlagerung geben einen Anhalt für die Todeszeitermittlung. Physiko-chemische Untersuchungen haben leider das Problem der Todeszeit nicht gelöst. 5. Vertrocknungen Vertrocknungen an der Hautoberfläche allgemein, an den Hornhäuten der Augen, im Bereich der natürlichen, von Schweiß oder Urin mazerierten Haut, sowie von Verletzungen sind zu registrieren. 6. Besonderheiten bei speziellen Auffindungsorten Liegen Leichen bis zur Auffindung längere Zeit im Freien oder in geschlossenen R ä u m e n , sind Temperatur, Feuchtigkeitsgehalt bzw. Luftbewegung zu registrieren. Desgl. ist das Aufliegematerial, die Unterlage des Bodens während der in Frage kommenden Zeit zu ermitteln. Bei Lage im Freien ist Ausdehnung und Art des Chlorophyllgehaltes von Pflanzen unter dem Körper, Ausdehnung und Art von Tierfraßzeichen, der Entwicklungszustand verschiedener Insekten, sowie Art und Ausdehnung des Schimmelrasens oder Algenrasens im Befund festzuhalten. Bei v e r s c h a r r t e n L e i c h e n sind Tiefe der Grube, Art der Abdeckung, Beschaffenheit des

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Bodenmaterials und Feuchtigkeitsgehalt, Wetter und Außentemperaturen zu ermitteln. Der Fäulnisgrad, Verteilung und das Übergreifen auf innere Organe, steht in engster Beziehung zu den Gegebenheiten des Fundortes. — Hinsichtlich der Mum i f i z i e r u n g sind Lokalisation, Ausmaß des Wasserentzuges, Grad der Verfärbung und Gewichtsverlust zu registrieren. — Folgende Merkmale sind bei S k e l e t t i e r u n g zu beachten: etwaiger Einwuchs von Pflanzen in die Knochenteile, Weichteilreste, speziell Sehnen und Bänder der Gelenkkapseln, Gewichtsverlust, Entfettung, Brüchigkeit, Größe, Längen- und Breitenmaße, Verfärbungen, Verletzungen. Cave: Bergungsverletzungen. Bei W a s s e r l e i c h e n müssen registriert werden: Gänsehautbildung, Ausmaß der Hypostase, Fäulnisgrad, Waschhautbildung, speziell deren Lokalisation und Ausmaß, sowie Ablösbarkeit der Waschhaut an Fingern, Handflächen, Fußsohlen, der Nägel und Haare, Lokalisation und Ausmaß des Algenrasens bzw. Tierfraßzeichen. Die Ergebnisse können, als Mosaiksteine zusammengefaßt, einer Einschätzung der Todes- oder Wasserzeit zugrunde gelegt werden. Schwere und Ausmaß von Treibverletzungen in bekannten Gewässern geben ebenfalls Auskunft über die Treibzeit und erlauben damit einen indirekten Rückschluß auf die Todeszeit. Ausbildung und Intensität einer Fettwachsbildung können in bestimmten Gewässern, sofern Erfahrungen vorliegen, verwertet werden. Dies gilt ebenfalls für die Zeichen fortgeschrittener Fäulnis und den Grad der Skelettierung bei Lage im Freien oder unter der Erde bzw. im Wasser. D. Fixation und Aeservierung der für die spezielle Fragestellung bedeutsamen Spuren 1. Immaterielle

Spuren

Die Spurensicherung am Tat-/Fundort ist von entscheidender Bedeutung. Einzelne Spuren weisen auf das Opfer hin, andere stammen aber vom Täter oder den Tätern bzw. sind zur Täuschung gelegt. a) Allgemeines Umfeld. Verhalten, Gewohnheiten, Gepflogenheiten, Eigenarten der betreffenden Personen sind zu registrieren. b) Spezielles Umfeld. Von der individuellen Norm abweichendes Verhalten in letzter Zeit oder nur bei letzter Beobachtung ist zu erkunden. Wann sind die Betreffenden zuletzt gesehen worden, in welchem körperlichen und psychischen Zustand haben sie sich befunden und bei welcher Gelegenheit konnten sie beobachtet werden; lagen unklare Krankheitserscheinungen vor oder typische Symptome (Vergiftungshinweise)? Welche Äußerungen machten Täter, Opfer und etwaige Zeugen während der letzten Tage, welche besonderen Beobachtungen (Lichtschein, Besucher, Geräusche, Ansichtigwerden von Fahrzeugen)

wurden registriert. Eine B e f r a g u n g sollte s o f o r t durchgeführt werden, später fehlt oft die Erinnerung, beruhen unzutreffende Aussagen evtl. auch auf Simulation oder Konfabulation, Rekonstruktionen werden unter diesen Bedingungen schwierig oder ganz unmöglich. Ebenfalls sollten Feststellungen über Dauer, Art und Menge des Alkoholkonsums umgehend getroffen werden; nachträgliche Rekonstruktionen, lediglich anhand einer Verwertung von Aussagen, bei fehlender Nachforschung (leere Flaschen, Etiketten, Geruch und Inhalt, Befragung von Gastronomen usw.) haben wenig Wert. Diese immateriellen „Spuren" werden durch Zeugenaussagen gewonnen; den Gerichtsmediziner interessieren insbesondere diejenigen über Art und Zeitpunkt der Nahrungsaufund Medikamenteneinnahme, über Alkoholgenuß von Opfer und vermutlichem Täter. Eine nachgehende Überprüfung jeder dieser Angaben ist unerläßlich. Bei Protokollierung von Zeugenangaben könnte der anwesende Gerichtsmediziner Hinweise über die Verwertbarkeit dieser Aussage geben: über Körper- und Geisteszustand (postkommotionelle Zustände, Rausch, Übermüdung, Medikamentenbeeinflussung, Delirium tremens, epileptische Äquivalente). Eine Erinnerungslücke nach einer Commotio cerebri kann sich später aufhellen; Widersprüche — zu verschiedenen Zeiten gemachte Angaben — sind dann medizinisch aufklärbar, wobei die erste Aussage, die noch im Zustand der Benommenheit oder Schockwirkung gemacht wurde, unverläßlicher ist als die Aussage, die kurze Zeit danach, bei klarem Bewußtsein, abgegeben worden ist. In weiterer Folge kann das Erinnerungsvermögen wieder nachlassen. Widersprüche sind also durchaus nicht immer auf eine Unverläßlichkeit des Zeugen zurückzuführen, sondern bisweilen auf physio-psychologische Vorgänge. c) Schriftliche Aufzeichnungen. Zu den sog. immateriellen Spuren zählen gleichfalls die fixierten Merkmale, wie diverse schriftliche Aufzeichnungen, die vom Opfer oder Täter stammen können: Abschiedsbriefe, Testamente, Drohbriefe, Skizzen, Zeichnungen, Pläne, chiffrierte Bemerkungen und dergl., die Aufschluß über Motiv, Mittel und Tatablauf geben. Mitunter ist die Diagnose einer Geisteskrankheit, eines Schwachsinns oder einer Sexualperversion bereits in den ersten Phasen der Ermittlung am Tatort nach Studium dieser Unterlagen zu stellen. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, wie sehr solche Hinweise die Arbeit des Ermittlungsbeamten erleichtern. Zu achten ist auf Art und Herkunft eines Papiers, Schreibmaterial, Typenbild der Schreibmaschine, Schriftart, Schriftbilddeutung, Inhaltsauswertung, Identifizierung des Verfassers, Zeitpunkt der Abfassung des Schreibens, Poststempel.

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2. Materielle Spuren

Es ist zu fragen, wo materielle Spuren eines Stoffes, einer Substanz, eines Vorganges oder Zustandes zu entdecken sind. Von spezieller Wichtigkeit sind ihre Konsistenz, ihr Aussehen, ihre Form, ihre Farbe, ihr Geruch, ihre Menge bzw. ihre Größe in Beziehung zur Leiche und zu sonstigen räumlichen Orientierungspunkten. Der Zeitpunkt der Feststellung ist von größter Bedeutung. Die Beschreibung dieser einzelnen Fakten erfordert besondere Aufmerksamkeit. Übersehene Befunde und nicht entdecktes bzw. gehörig asserviertes Spurenmaterial implizieren eine unvollständige Expertise. Sämtliches Spurenmaterial sollte erfaßt, beschrieben und registriert werden. Allgemeine Hinweise „vom Kopf" oder „vom Anzug" reichen nicht aus. Die Charakterisierung sollte man im Protokoll in Form fortlaufender Numerierung vornehmen und zweckdienlich die Auffälligkeiten in ein Körperschema eintragen. Dann wird man diese Schemata und Registrierungen nachträglich bestens mit den Tatortaufnahmen und speziell der fotografischen Fixierung der Befunde vergleichen können. Im Anschluß an die exakte Protokollierung sind Spuren sofort zu sichern und unter genauer Beschriftung am besten in Plastikbehälter, Plastikbeutel, Glasröhrchen, Dosen einzufüllen bzw. auf Klebestreifen als Träger aufzuziehen. Grundsätzlich sollte man versuchen, flüssiges Spurenmaterial, gleich ob es sich um organisches oder anorganisches Gut handelt, noch im flüssigen Zustande zu asservieren, nicht erst antrocknen, oder in das Gewebe einziehen zu lassen. Der Vorteil liegt in der größeren Palette von Untersuchungsmöglichkeiten gegenüber getrocknetem Spurenmaterial. Korpuskuläre Elemente, speziell Fremdkörper, wird man nach Frei-Sulzer mit Klebestreifen sichern. So ζ. B. Fasern vom Strangwerkzeug am Halse, von den Fingern, Pulverschmauch usw. Zu den G r u n d f o r d e r u n g e n gehört es, das g e s a m t e M a t e r i a l zu erfassen, um Wiederholungsuntersuchungen zu ermöglichen, um im Zweifelsfalle einen Zweitgutachter einschalten zu können. Die Entnahme von Kontrollmaterial aus der näheren und weiteren Umgebung ist angezeigt, um nicht durch falsch positive Untersuchungsergebnisse zu einem Fehlgutachten zu kommen. Am Beispiel von Pulverschmauchuntersuchungen wurde ζ. B. klar, daß Befunde in dem Augenblick nicht verwertbar sind, wenn nur die vermeintliche Schußhand, nicht auch die andere Hand des Opfers oder eines Täters untersucht wurden. Das Bundeskriminalamt ermittelte, daß in vielen Gewerbebetrieben, die nichts mit der Pulverherstellung zu tun haben, Barium, Antimon, Quecksilber, Blei auf bzw. in der Kleidung und an den Händen der dort Tätigen nachweisbar sind. Die von einigen Untersuchern 26*

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als typische Beweise für Pulverschmauchniederschläge bewerteten Antimon- und Bariumspuren können sich also, wie dieses Beispiel zeigt, auch auf andere Art auf den Händen ablagern. Entscheidend dürfte die Massivität und die Lokalisation der Spuren sein. Orientierende Hinweise ohne Berücksichtigung quantitativer Befunde sind nicht verwertbar; in speziellen Fällen können bei Kontaktaufnahme mit entsprechenden Spurenträgern — also außerhalb einer etwaigen Auseinandersetzung — Spuren in erheblicher Menge auf die Körperoberfläche bzw. die Kleidung gelangen. Die Entnahme kleiner Mengen von Blut-, Sperma- oder anderen Spuren erfordert ein geeignetes Instrumentarium, viel Geschicklichkeit und die Kenntnis der Untersuchungsverfahren. Deshalb ist ein Arzt, der keine Erfahrungen über spurenkundliche Untersuchungen gesammelt hat, meistens nicht in der Lage, Material gehörig zu asservieren. Auch wenn die Kriminalpolizei selbständig tätig wird, wird man mit dem eingeschickten Untersuchungsmaterial vielfach wenig anfangen können. Der Obduzent sollte — falls er nicht selbst die Asservierung vornimmt — zumindest zugegen sein. Nur so ist gesichert, daß das Spurenmaterial bzw. die Fremdkörper unter den nötigen Kautelen asserviert und zu gleicher Zeit Kontrollen der Spurenträger gesichert werden. Eine sachkundige Asservierung, eine gehörige Verpackung, sofortige Versendung an einen geeigneten Untersucher, entscheiden über die Verwertbarkeit von Untersuchungsbefunden. Die optimale R e i h e n f o l g e der Fixierung und Sicherung sieht folgendermaßen aus: a) Spuren in der Umgebung der Leiche bzw. am Tatort und auch in näherer und weiterer Entfernung, b) Spuren an der Leiche und zwar an deren Kleidung, auch der abgelegten, an der Körperoberfläche, den Körperöffnungen, bzw. c) Befunderhebung an Überlebenden, d) Spuren an allen als Tatwerkzeug in Frage kommenden Gegenständen, e) Spuren am Tatverdächtigen. a) S p u r e n in der U m g e b u n g der L e i c h e . Zusätzlich zu den bereits fixierten allgemeinen Merkmalen sind Sperma, Vaginalsekret, Nasenschleim, Sputum, Körperschweiß, Epithelien, Fingernägelsplitter, Haare, Körpergewebszellen, Knochensplitter, Zähne, Prothesenbruchstücke sowie Urin, Kot, Erbrochenes, Hautdrüsensekrete, Ohrenschmalz, Nasensekret, Speichel und sonstige Absonderungen, wozu auch Zigarettenstummeln (Benetzung des Mundstücks mit Speichel) gehören, wichtig. Speziell könnten auch Ausscheidungen nach Schwangerschaftsabbruch, Ausscheidungen bei der Geburt bzw. im Wochenbett, Colostrum, Milch, Amnionflüssigkeit, Käseschmiere usw. von Bedeutung sein. „ B l u t " dürfte jedoch unter den biologischen Spuren das häufigste Material sein.

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Ein Tropfen noch feuchten, ein Schüppchen eingetrockneten Blutes werfen viele Fragen auf, die nur unter Berücksichtigung aller anderen Ermittlungen beantwortet werden können. Voraussetzung ist eine sorgfältige Erhebung des Status. Cave: Vortäuschung durch Bakterien als Farbstoffbildner auf Körper und Kleidung, Fliegenexkremente, Färb- bzw. Rostflecke. Oberflächliche Untersuchungen, kleine Mengen, analoge Farbe des Spurenträgers, vielfarben gefleckter, gescheckter Untergrund bergen Gefahr, eine Blutspur in der Umgebung der Leiche zu übersehen. Blut kann vom Spurenträger aufgesogen, im Untergrund versickert sein, sich als abgeblätterte Trockenschollen darstellen. Es täuschen Farbänderungen durch Alterung, Fäulniszersetzungen, Überdeckung mit Schimmelpilzrasen, Verschmierung mit Fruchtsäften, Farblösungen sowie der Zustand nach Reinigungsbzw. Beseitigungsversuchen. Spezifische und deshalb exakt zu beschreibende Kriterien des Blutes sind Konsistenz, Farbe, Form, Herkunft, Menge und Beimengungen. K o n s i s t e n z : schaumig-flüssig, flüssig, beginnende Blutkuchenbildung, Blutkuchen, Blutkuchenretraktion und Blutflüssigkeit, beginnende Vertrocknung an Rändern der Blutlache und über dem Blutkuchen, Vertrocknung, Blutscholle, gesprungene Blutschollen. F a r b e : rot, schwarz-rot, schwarz,bräunlich,usw. Β e i m e η g u η g e η: dur ch-

letzten Gefäßen. Schaumiges Blut aus Lungenverletzungen ist ζ. B. auf glatten Spurenträgern besser zu erkennen als auf rauhem, saugfähigem Material. Bläschen entstehen bereits beim Aushusten von Blut. Bei Blutwischspuren oder -Spritzern ist deren Zahl, Größe, Gestalt und Anordnung sowie Lokalisation, Abiaufrichtung zu beschreiben, um Rückschlüsse auf Blutungsquelle und Spritzrichtung zu ermöglichen. Arterielle Spritzmuster verlaufen bei bewegtem Körper des Opfers ungeordnet, bei ruhendem Körper des Opfers eher in uniformer Richtung. Davon zu trennen sind Abspritzmuster nach Aufschlagen eines Werkzeuges in eine bereits vorhandene Wunde. Blut spritzt ebenfalls beim Schwingen des Tatwerkzeuges ab. Bei Schlägen auf den behaarten Kopf oder eine Kopfbedeckung sowie gegen den bedeckten Körper können Blutspritzer fehlen (Abb. 1). D i e M e n g e einer Blutlache sollte vorsichtig beurteilt werden: in einem gekachelten Badezimmer ist sie weit eher zu schätzen als eine im Freien mit einem ins Erdreich bereits einsickernden, eingesickerten Anteil. Aus der Größe sind keine Rückschlüsse zu ziehen. Die Blutlache auf einem Kunststoffboden breitet sich flächig aus, wirkt groß; in Polster einsickerndes oder abgeflossenes Blut dagegen nimmt bei gleicher Blutmenge eine relativ kleine Fläche ein.

Spritzmuster ENTSTEHUNG.

FORM

Körper in R u h e , verletzte G l i e d m a ß e n in B e w e g u n g

Verletzter in R u h ·

Verletzter in Bewegung

Art der B l u t u n g s q u e l l e Menge austretenden B l u t e s

blutiqes T a t werk z e u g j n Bewegung

Schlag in Lache

Schwingen

S c h l a g in blutende Verletzung

in w e l c h e r Z e i t G e s c h w i n d i g k e i t des Blutaustrittes L o k a l i s a t i o n der B l u l u n g s q u e l l e A b s t a n d v o n der Auttreffläche

Grösse der Blutung

arterielles Spritzmuster

Art sowie Bewegungsintensität

Sickerblutung

Abschleuderungsrichtung

Abtropfspur G e s e t z der Schwere und der P r i o r i t ä t

Tatwerkzeug in B e w e g u n g

B r e i t e der Auftreffläche

Hochreissen Zuschlagen Bewegungs· intensität-u. Richtung Menge des haftenden Blutes

Auftreffwinkel

beachten!

Abb. 1 mischt und/oder überzogen oder als Unterlage ζ. B. von Erbrochenem, Mageninhalt, Kot, Urin, Erde, Holz, Farbe usw. F o r m : Lache, Tropfen, Spritzmuster, Ablaufspur, Verschmierung, Abklatsch. H e r k u n f t (sofern am Tat-/Fundort bereits feststellbar): Arteriell, venös, Massen-, Sickerblutung. Direkt aus natürlichen Körperöffnungen, aus Gewebsverletzungen, sichtbar ver-

Richtlinien für die A s s e r v i e r u n g v o n auf B l u t verdächtigen Spuren: Feuchtes Spur e n m a t e r i a l ist — unter Voraussetzung einer s o f o r t i g e n Inangriffnahme der Untersuchungen — unbedingt unter Erhaltung des Zustandes zu asservieren; man sollte nicht versuchen, mit Filterpapier oder Tupfern, evtl. auch unter Zuhilfenahme von mit physiologischer Kochsalz-

Tötimgsdelikte lösung befeuchteten saugfähigen Trägern, Blut zu sichern, sondern es mit Saugpipetten in sterile, biologisch reine Venülen überführen. Saugpipetten dürfen nur einmal benutzt werden. Einzelne feuchte Spuren sind getrennt zu asservieren, falls das Problem ansteht, ob Blut nicht nur vom Opfer, sondern auch von einem verletzten Täter stammen könnte. Ist die Blutspur im Begriffe einzutrocknen, so daß flüssiges Blut nicht direkt aufgesogen werden kann, müßte man zumindest versuchen, dieses Material direkt in mit physiologischer Kochsalzlösung gefüllte Venülenröhrchen unter Beschriftung (Hinweis der Entnahmezeit, Entnahmeort) zu übertragen. Dann ist es häufig bei Untersuchungen kurz nach Todeseintritt noch möglich, Erythrozyten zu sichern, sie damit ähnlichen Untersuchungen zu unterziehen, wie es auch an feuchten Spuren üblich ist. Ist eine sofortige Untersuchung nicht möglich, ist das Spurenmaterial zur Vermeidung von Fäulnis in Filterpapier aufzusaugen, eintrocknen zu lassen und dann erst, getrennt, in Plastikbehälter einzuschließen. T r o c k e n e Spuren sind abzuschaben, besser mit dem Skalpell abzuheben oder die Fundstelle ist in weiter Umgebung zu umschneiden und mit der Trockenspur in Plastiktüten zu sichern. Spurenträger sind stets mit zu asservieren, denn deren Eigenschaften, ζ. B. Appretur der Kleidung oder Reinigungsmittel bzw. Waschmittelrückstände, könnten Bluteigenschaften so verändern, daß ein sicheres Ergebnis nicht vorgelegt werden kann. Gleiches gilt für Einwirkungen trockener oder feuchter Hitze (Dämpfen, Bügeln). Das asservierte Blut muß sofort hei + 4 ° C gelagert werden; bei Versendung nach außerhalb müssen Kurier oder Eilpost benutzt werden. Bei speziellen Delikten sind weitere Spuren maßgeblich. Anhaltspunkte f ü r Schußwaffengebrauch: Zahl, Lage und Richtung von Einschüssen in Wände oder Möbel zur Klärung von Stellung und Richtung des Schützen, Ermittlung eines Schußwechsels. Richtung, Form und Ausmaß des Pulverschmauchniederschlages als Hinweise zur Schußentfernungsbestimmung. Pulverteilchen, Projektile in der Umgebung der Leiche bzw. am Tatort; Fundort der Hülse. Beziehungen zwischen Spuren, Leiche und anderen räumlichen Orientierungspunkten sind wiederum genau festzuhalten. Ähnliches gilt auch für Stich-, S c h n i t t - , H i e b b e s c h ä d i g u n g e n an Mauern, Türen, Möbelstücken, Polstern, sowie für Beschädigungen und Zertrümmerungen bei stumpfen Werkzeugen. Gif t v e r d ä c h t i g e S p u r e n : Medikamente (insbesondere Tablettenreste in Gläsern), Verpackun-

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gen (leer, nicht angebrochen usw.), Krankenschein, Atteste, Rezepte, Injektionsbesteck, Ampullen, Geruch in der Umgebung der Leiche. Erbrochenes: Geruch, Zusammensetzung, Beimengungen, Abiaufrichtung. b) S p u r e n am Opfer. Vor dem Transport sind jene Spuren zu sichern, die durch Heben, Wenden oder durch den Transport verlagert, verwischt oder vernichtet werden. Die K l e i d u n g ist Merkmalsträger von Identitäts- und Verletzungsspuren. Zur Identität sind Stoffart, -muster, -färbe, Insignien (Herkunft, Hersteller, Wäschezeichen usw.) zu beschreiben. Erhaltungszustand der Kleidungsstücke (Reparaturen), Berufsmerkmale (Schmutz, Fremdkörperteilchen, Verfärbungen) sind zu notieren. Als spezifische Befunde sind Verfärbung, Geruch, Beschädigungen, Zerreißungen nach Art, Ort, Größe, Reinigungsversuche, Blutspuren und Spuren anderer Organteile sowie Schmutz- und Fremdkörperauflagerungen (Staubspuren, Chlorophyll, Pulverteilchen, Pulverschmauch) festzuhalten. Dringt ein Stichwerkzeug durch die Kleidung in den Körper ein, kann die äußerlich sichtbare Blutung wegen der Saugfähigkeit und Farbe der Kleidungsstücke gering sein. Feuchte Kleider sind zur Vermeidung von Moderung zum Trocknen aufzuhängen. Bei Verdacht auf Pulvereinsprengungen auf bzw. in dunkle Stoffe ist es zweckmäßig, die Kleidungsstücke an ein kriminaltechnisches Speziallaboratorium zu senden. Auch Schmutz- und Staubeinsprengungen bei Straßenverkehrsunfällen sind häufig charakteristisch und sollten unter Aufbereitung der Kleidungsstücke einer Untersuchung mittels einer Stereolupe unterzogen werden, da sich die Korngröße des auf der Karosserie befindlichen Staubes von der Korngröße des Straßenstaubes unterscheidet. Es kann mithin die Kontaktfläche der Kleidung mit einem Fahrzeug bestimmt werden. Daneben sind aber auch Schmutzspuren, die auf Überrollungen zurückzuführen sind, näher zu untersuchen, weil bei diesen ζ. B. Quarzpartikelchen aus der Straßendecke tief in das Gewebe eingedrückt werden. Weiter ist die Suche nach Schleifspuren an Kleidung und Schuhen (bei treibenden Wasserleichen mit Grundberührung entstehen Schleifspuren!) interessant. Sie ermöglichen den Rückschluß auf etwaige Sturz-, Fall-, Schleudervorgänge, auf Transport des Lebenden, Bewußtlosen, des Toten. Sowohl biologische als auch chemischphysikalische Untersuchungen von Straßenschmutz, von Erdteilen in den Fugen der Schuhsohlen und Absätze und den Umschlagfalten der Hose sind durchzuführen; mitunter gelingt der Nachweis, in welcher Gegend sich eine Person kurz vor dem Tod aufgehalten hat (ζ. B. Wald-, Moorboden, Aulandschaft usw.).

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Spezielle U n t e r s u c h u n g e n bei S c h u ß v e r l e t z u n g e n : Zahl und Größe der zuzuordnenden Kleidungsdefekte, Lokalisierung, Höhenmessung, Ein- und Ausschußdifferenzierung, Pulver- und Pulverschmauchniederschlag (Infrarotaufnahmen, ehem. rasterelektronen-mikroskopischer Nachweis), Hitzeeinwirkung und Brandspuren an Textilfasern, Metallsplitter und Metall, spuren, Hülsen und Projektile, Blut- und Organspuren mit den oben beschriebenen speziellen Charakteristika in der Kleidung, zwischen Kleiderfalten. Scharfe und stumpfe Gewalteinwirkungen: Zahl, Art, Größe und Lokalisation der zuzuordnenden Defekte an Kleidung und Kopfbedeckung, Färb- und Faserveränderung nach Einwirkung der stumpfen Gewalt, Blutspuren und Blutabrinnspuren (Richtung, Konsistenz, usw.). Es ist zu eruieren, ob die Kleidung Licht oder Feuchtigkeit ausgesetzt war. S t r a n g u l a t i o n : Schleifspuren und ihre Lokalisation an der Kleidung, und zwar vom Strangwerkzeug oder von der Berührung mit einer Mauer, dem Boden und anderen Gegenständen so auch während des Krampfstadiums, Zustand der Schuhsohlen, Abflußrichtung von Erbrochenem, Blut und Ödemflüssigkeit, sowie von Sperma, Urin und Stuhl. V e r g i f t u n g : Auflagerungen von Erbrochenem (feucht-trocken, Farbe, Geruch, Menge, Zusammensetzung, Abrinnspuren) sowie Tascheninhalt (Medikamente, Abschiedsbriefe, Atteste, usw. und sonstige kleinere Vorbereitungswerkzeuge). Kosmische u n d t e c h n i s c h e E l e k t r i z i t ä t : Feuchte oder trockene Körperoberfläche bzw. Kleidung. Beschreibung der Hitzeeinwirkung auf Stoffteile, von Strommarken, Zerreißungen an der Kleidung, Beschaffenheit der Schuhsohlen (in bezug auf Isolation, Feuchtigkeitsgehalt der Schuhe, Schmelzspuren an der Nagelung). V e r k e h r s u n f a l l : Preßabdrücke, Lack- und Glassplitter, Farbflecke (Farbe, Öl, usw.), Staubund Schmutzabdrücke in der Kleidung, Kleidungsbeschädigungen (Eigenart, Lokalisation), Kratzer an den Schuhsohlen (vor einer Bewertung betrachte man zur Kontrolle einmal die Schuhsohlen der Ermittlungsbeamten); Zustand der Kleidung des Fahrers (Hosenschlitz) oder der Beifahrerin (Unterwäsche). Bei B r a n d e i n w i r k u n g e n (Brandmord und Deckungsbrandlegung) sind Herkunft, Lokalisation wie Ausmaß der Brandspuren, Grad der Verbrennung bzw. Verkohlung der Kleidung zu registrieren. Kleidungsteile sind zur Untersuchung auf brennbare Flüssigkeiten zu asservieren. S p u r e n am K ö r p e r u n d K o p f b e h a a r u n g : Länge, Form, (glatt, gewellt, gelockt usw.) und Beschaffenheit (gefärbt, getönt; Toupetusw.) der Kopfhaare müssen beschrieben werden. Ausmaß,

Art und Lokalisation von Haarverlusten, Form-, Konsistenz- und Farbveränderungen durch Ausreißen, Abquetschen, Abschneiden, ferner Kräuselungen nach Hitzeeinwirkungen und Skalpierungen sind abzuklären und zu differenzieren von krankhaften Veränderungen (Alopezie, Ekzeme, Pilze, Läuse usw. des Haarbodens). Farbänderungen können ζ. B. bei beruflicher Betätigung mit Anilin, Pikrinsäure, Nitrokörpern, Trinitrotoluol und Dinitroorthokresol vorkommen. Generell sollte bei verändertem Status versucht werden, den Originalzustand zu eruieren. Die Ausziehbarkeit der Kopfhaare und des lateralen Anteils der Augenbrauen ist zu prüfen. Lassen sich — später nicht mehr kontrollierbare — D u f t s p u r e n in den Haaren wahrnehmen: Brand-, Zigarettenrauch, Parfüm, Haarwasser, Frisiercreme, Gerüche spezieller Lokale, bestimmter Berufe oder Arbeitsplätze? Welche Fremdkörperpartikel sind den Haaren ein- oder aufgelagert ? Blätter, Gras, Heu, Sand, Mörtel, Ruß, Schießpulver, Tierfedern, Insekten usw. ? In jedem Fall ist eine Asservierung von Haaren in ausreichender Menge vorzunehmen, speziell bei Verdacht auf Thallium- und Arsenvergiftungen! Ebenfalls sollten Größe und Umfang des Kopfes gemessen werden. M u n d - u n d N a s e n ö f f n u n g e n : Durch Druck auf den Oberbauch bzw. Brustkorb entweichen Geruchstoffe aus Nase und Mund. Aromatischer Geruch erinnert an alkoholische Getränke, ein anderer ζ. B. an Ε 605, Cyankali, Anilinderivate, ätherische öle usw. Feststellung eines Schaumpilzes in Nasenöffnungen und vor dem Mund ist Ausdruck eines Lungenödems, dessen Konsistenz grob- oder feinblasig, evtl. bereits verflüssigt sein kann; Farbe: schneeweiß, rosafarben, haemorrhagisch. Bei Wenden oder Transport einer Leiche fließen aus dem Munde nicht nur ein verflüssigtes Lungenödem, Mageninhalt oder Erbrochenes, sondern auch Fäulnisbrühe ab. Die Abflußrichtung einer Blutung, einer blutig verfärbten Flüssigkeit aus Mund und Nase ist festzustellen, Rückschlüsse sind nur bei unberührter Leiche möglich. Handelt es sich um eine helle Lungenblutung, eine dunkle kaffeesatzartige Magenblutung? Ist das abgeflossene Blut noch feucht oder bereits trocken ? Z a h n s t a t u s : Etwaige Zahnverletzungen, Lage und Zustand einer Prothese, individuelle Merkmale, Hinweise auf zahnärztliche Behandlungen, Asservierung von ausgeschlagenen Zähnen und Zahnteilen zum Vergleich mit Zahnabdrücken in leicht formbaren Lebensmitteln und zur Identifizierung. M u n d s c h l e i m h a u t u n d Z a h n f l e i s c h : Blutungen, Zahnabdruckverletzungen, Platzwunden. Ist die Schleimhaut verändert wie nach SäureBasenwirkung ? Farbsäume, Verfärbungen, Tablettenreste zwischen den Zähnen und in der

Tötungsdelikte Mundvorhöhle, Knebel oder Fremdkörper, auch in der Tiefe von Nase-, Mund- und Ohröffnungen müssen gesichert werden. Auf Sperma verdächtige Spuren in der Mundhöhle sind zu asservieren. Bei Neugeborenen sind Abstriche aus der Mundhöhle und dem Gaumen vonnöten (Untersuchung auf Tuch- und Papierspuren bzw. kleine Federn bei Erstickungsversuch). G l i e d m a ß e n : Rechts- oder Linkshänder: Umfang der Arme, Verschwielung der Hände, Größe des Daumennagels. Berufskennzeichnungen: Tätowierungen, Pigmentierungen oder Depigmentierungen, Verschwielungen, Verfärbungen, Schmutzauflagerungen, Nagelschmutz. Individuelle Merkmale der Hand, der Nägel: Handschuhgröße, Nagelschnitt, Form und Länge der Nägel, Abbrüche, abgekaute Nägel, Pflegezustand — auch der Fußnägel —, Lackspuren, Zeichen bestehender Erkrankungen, Intoxikation wie ζ. B. Meessche Bänder. Traumatische Verletzungen bei offensivem oder defensivem Vorgehen: Nagelabbrüche, Nagelbettunterblutungen, Nagelverlust. Die Sicherung der Handflächenauflagerungen geschieht mittels Klebebandstreifen, die, nach rechter und linker Hand getrennt, auf Glasplatten aufgezogen werden. Bei allen tätlichen Auseinandersetzungen, speziell bei Sexualdelikten, sind Schmutzspuren unter den Nägeln zu asservieren, am zweckmäßigsten durch Abschneiden der Nägel und Eingabe in entsprechend beschriftete Behälter. Untersuchung auf Hautteile, Blut, Schmutzpartikel, Textilfasern, Sperma. Asservierung von Fremdkörpern an der Hand wie Stoff, Papier, Haare, Blut, Sperma, welche sich sowohl an der Handoberfläche als auch unter den Nägeln befinden können, ist unbedingt notwendig. S p e z i e l l e U n t e r s u c h u n g e n der G l i e d m a ß e n sind nach S c h u ß a b g a b e vonnöten. Offensive oder defensive Hand- bzw. Unterarmdurchschüsse ? Filterung eines Schußdurchganges durch die Hände vor Einschlagen eines Projektils in den Körper. Untersuchungen auf Kaliber, Schußentfernung. Spezielle Asservierung. Schußhand: Nachweis und Verteilungsmuster von Pulver und Pulverschmauchniederschlag, Blutspritzer und Gewebe bei absolutem Nahschuß, Hautverletzungen in der Daumenfalte bei repetierenden Faustfeuerwaffen. Hitzeeinwirkung an der Führungshand des Laufes, d. h. bei einem Rechtshänder an den Fingern der linken Hand. Bei S t i c h - , S c h n i t t v e r l e t z u n g e n ist zu fragen, ob es sich um offensive bzw. defensive Abwehrverletzungen handeln kann. Liegen Probierschnitte oder Narben (Alter ?) ζ. B. nach Pulsaderschnitten vor? Zustand nach Amputation: Richtung der Gliedmaßenabtrennungen, Länge des Reststumpfes (später Röntgenaufnahmen), Zustand nach Abbindung der Blutzufuhr, frische Injektionseinstiche, Stichnarben.

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S t r a n g u l a t i o n e n : Legt sich ein Mensch einen Strick um den Hals, haften Fasern des Strangwerkzeuges an Fingern und Hohlhandflächen, deren Zahl u. a. in Abhängigkeit zu der Beschaffenheit des Stranges steht. Man sollte Hände und Finger mit einem Tesaband abkleben und könnte mit einem positiven Befund, bei bekanntem Strangwerkzeug, herausstellen, daß der Verstorbene mit dem Strick Kontakt aufgenommen hatte, mehr nicht. Außerdem ist auf Staub und sonstige Schmutzspuren zu achten, die durch Ergreifen eines Dachbalkens oder eines sonstigen Gegenstandes bei Vollziehung des Erhängens auf die Hand gelangen. c) B e f u n d e r h e b u n g e n a n Ü b e r l e b e n d e n . Die rasche Auffindung eines noch lebenden Opfers, Verbesserungen im Krankentransportwesen, Erfolge in Anaesthesie, Chirurgie und Therapie lassen Opfer, die in früheren Jahren verstorben wären, heutzutage überleben. Deshalb wäre von Bedeutung, Chirurgen, speziell Erste-Hilfe-Leistende, Ärzte oder Unfallchirurgen zu unterrichten, Wunden unter gerichtsmedizinischer Sicht genau zu beschreiben, exakt zu lokalisieren, Schmutzspuren zu asservieren. Der operativ Tätige sollte über Kenntnisse verfügen, die früher ausschließlich in den Fachbereich des Gerichtsmediziners gehörten. Leider wird bei der Erstbehandlung das excidierte Wundmaterial meist achtlos fortgeworfen. Nachträglich ist nurmehr eine ausgeschnittene, glatt vernähte Wunde zu begutachten, die ursprüngliche Länge und Form ist nicht zu erkennen. Wundexcisionsteile sollten lokalisiert, sorgsam aufgespannt und exakt bezeichnet, sofort einem gerichtsmedizinischen Institut am Orte weitergegeben oder formalinfixiert werden. Im übrigen sind, was Kleidung und Körperoberfläche betrifft, die gleichen Untersuchungen angezeigt, wie sie in den vorangehenden Abschnitten beschrieben wurden. d) E r m i t t l u n g , C h a r a k t e r i s i e r u n g d e r in F r a g e k o m m e n d e n Tatwaffen und S p u r e n s i c h e r u n g . Spurenuntersuchungen biologischen Materials am Tatwerkzeug, speziell auch Gewebe innerer Organe, sind von größter Wichtigkeit. Wird ein Tatwerkzeug entdeckt, fahndet man zumeist nur nach Blutspuren, ihrer Verteilung und Lokalisation, achtet jedoch nicht auf Gewebe oder Textilfasern. Es wird zwar eine Blutgruppenuntersuchung vorgenommen, aber Auflagerungen von Haut und Geweben, die erst durch das verletzende Werkzeug herangetragen wurden, werden nicht nachgewiesen. Nicht jedes Werkzeug, das sich in der Nähe des Opfers, selbst in dessen Hand, findet, ist Tatinstrument. Selbst darüber ist nichts ausgesagt, ob Verletzungen durch eigene oder fremde Hand gesetzt wurden: stumpfe, schneidende, stechende oder Hiebwerkzeuge liegen, ohne Tatwerkzeug gewesen zu sein, zufällig in der Nähe des Tatortes, wurden erst anläßlich der Ausein-

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andersetzungen mit Blut oder anderen Spuren befleckt. Deshalb kann die Frage nach dem Tatwerkzeug aus gerichtsmedizinischer Perspektive erst dann beantwortet werden, wenn Eigenart wie Schwere der äußeren, speziell aber der inneren Wunden ermittelt und direkte den indirekten Verletzungen gegenübergestellt werden. Das Ergebnis der Leichenöffnung und spurenkundlichen Untersuchung ist abzuwarten, dann kann über Verletzungen durch eigene/fremde Hand geurteilt werden. Eine Erklärung am Tatort könnte voreilig, d. h. falsch sein. A l l g e m e i n s i n d v o n I n t e r e s s e : Zeitpunkt des Erwerbs, Herkunft, Gewicht, Nutzung, Zustand, Zeichen des Gebrauches, Präparation vor der Tat, Aufbewahrungsort des Tatwerkzeuges; Fingerabdrücke, Lage einer verdächtigen Waffe zum Opfer, zur Blutungsquelle, zur Abiaufrichtung usw., Lokalisation der verdächtigen Spuren, Art, Muster, Alter wie Herkunft. Haften Blut, Haare, Gewebe, Textilfasern, Verschmutzungen, Wagenschmiere usw. am Tatwerkzeug? Über die allgemeine Ermittlung hinaus sind bei den verschiedenen Tatwerkzeugen weitere Überlegungen anzustellen. Bei S c h u ß w a f f e n ist die Waffe selbst mittels eines durch den Bügel gezogenen Bindfadens vorsichtig zur Laboruntersuchung zu bringen. Hier schließen sich dann die kriminaltechnische Untersuchung auf Fingerspuren, Entdeckung und Asservierung von Haaren, Blut, Fett, Hirn- und anderen Organsubstanzen im Lauf oder an der Oberfläche des Laufes durch einen Sachkundigen an, ebenso die abschließende kriminaltechnische Untersuchung: Feststellung des Modells (Baujahr), Herkunft (Herstellungsland und Firma), Zeichen eines frischen Beschusses (Patrone in der Kammer oder im Magazin, Zahl verschossener Projektile, gefundener Hülsen), Pflegezustand. Ist die Sicherung funktionstüchtig? Sind Beschädigungen an der Waffe (Fall auf Boden, Einsatz als Hiebwerkzeug) festzustellen ? H ü l s e : Lage, Entfernung zur Leiche bzw. zur Waffe; Kaliber, Hersteller, Material; Fahndung auf individuelle Spuren einer Waffe (Schlagbolzen, Auszieherkralle, Auswerfer). P r o j e k t i l : Fundstelle, Kaliber, Gewicht, Material (Bleigeschoß, Mantelgeschoß usw.), Formveränderungen bzw. Zerlegungszeichen, Spuren von Blut, Organteilchen, Knochenstückchen, Stoffteilchen am Projektil, Spuren von Fledern und Zügen des Laufes. Bei s c h n e i d e n d e n , s t e c h e n d e n W e r k z e u gen ist zu katalogisieren nach Art und Verwendung: Messer (ein- oder zweischneidig, Wellenschliff, Korbschliff), Schere, Feile, Ahle usw. Die allgemeine Beschaffenheit (spitz, abgestumpft, abgerundet oder geschärft) ist zu registrieren. Klingenlänge und -breite, und zwar am Heftansatz und nahe der Spitze, ein- oder mehr-

schneidige Form des Heftansatzes, Form und Profil des Heftes müssen festgestellt werden. Spezielle Beschaffenheit sind festzuhalten: Zustand der Schneide, frische Schärfungszeichen, Beschädigungen (abgebrochen, verbogen und zwar an welcher Stelle, Scharten der Schneide, Verrostungen). H i e b w e r k z e u g e : Gewicht usw. getrennt in eisernen Bestandteil und Stiel, Verkeilung des Stiels (fest, gelockert), Stielbeschädigungen, Breite und Schärfe der Schneide sowie die Breite des Rückens und der Seitenfläche, Höhe des Hiebwerkzeuges. Ist eine frische Schärfung, sind Schartenspuren sowie Spurenmaterial an Schneide, Seitenflächen (rechts/links) oder Rückfläche bzw. Stieleinschaftung zu entdecken? S c h l a g w e r k z e u g e : Profiliert/unprofiliert, Material, Gewicht, Länge, Breite. S t r a n g w e r k z e u g e : Strick, Riemen, Tuch, Draht, Kette, usw.; Material, Reibungswiderstand, Zerreißfestigkeit sowie Profil, Querschnittsmuster, Breite und Länge. Stammt das Strangwerkzeug aus dem Besitz, gehörte es zu den Gebrauchsgegenständen des Opfers, der Täter? Knoten und Schlingen sollen nie vor der Obduktion gelöst werden. Strang-, u. U. auch Fesselwerkzeuge sind durchzuschneiden. Die freien Enden der Trennstellen sind mit einem Bindfaden so zu vereinigen, daß nach Herunterstreifen der Schlinge eine Rekonstruktion der Schlingenführung und deren Weite, wie der Knotenart und -läge jederzeit möglich ist. Zu protokollieren sind Differenz zwischen Aufhängepunkt und höchstem Körperteil (Kopf), Armlänge, der Umfang der Schlinge, des Halses, offene, geschlossene Schlinge, mehrfache Umschlingungen, Strangfurchenverlauf, Knotensitz sowie Knotenart. „Ziehspuren", ζ. B. vom Baumast sowie Schürfspuren, die durch den Zug und das Gleiten über dem Aufhängungsort entstehen, sind zu beschreiben. K n e b e l : Größe, Stoffart, Monogramm, Wäschezeichen und ältere Schmutzspuren sind zu beachten, wie auch Tiefe der Einführung, hierdurch bewirkte Verletzungen ζ. B . des Zungenbändchens, Möglichkeiten einer Tamponade des Nasen- Rachenraumes. V e r g i f t u n g s v e r d a c h t : Notwendig sind Asservierung von Trinkglas, Flasche (Giftreste, Menge, Fingerabdrücke), Inhalt von Trinkglas und Flasche (Menge, ursprüngliche Spiegelhöhe im Gefäß, Durchsichtigkeit, Bodensatz, Farbe, Geruch); üblicher Aufbewahrungsort und Standort bei Auffindung sind zu vermerken. Auf Verschüttung oder Versuch der Beseitigung muß geachtet werden. Etikettierung (falsche, richtige, korrigierte), Tag der Verschreibung, Art des Erwerbs, Medikamentenhüllen und Röhrchen sowie Schachteln, ferner Arzneimittelbeipacktexte, Geschirr mit vorhandenen Rückständen, allenfalls auch Eßbesteck mit Nahrungsresten, Erbroche-

Tötungsdelikte nes, Kot und Urin (Menge, Beschaffenheit) sind zu asservieren. Man durchsuche Abfalleimer und Abwasch, Ofen, Kleiderschränke, Nachtgefäße, Toilette, Koffer auf Giftreste, Verpackungen. Beachte medizinische Bücher und besonders abgegriffene Seiten, berufsmäßige Kontakte mit Giften, spezielles Wissen um deren Gefährlichkeit. V e r k e h r s m i t t e l a l s T a t w e r k z e u g : Zu differenzieren ist zwischen Tötung d u r c h ein Verkehrsmittel, in e i n e m Verkehrsmittel und Tötung m i t t e l s eines Verkehrsmittels sowie V o r t ä u s c h u n g eines Verkehrsunfalles nach vorsätzlicher Tötung oder T r a n s p o r t , B e s e i t i g u n g einer Leiche mit einem Verkehrsmittel. Feststellung von Beschädigungen einschließlich Spurenverteilung muß sofort durchgeführt werden. Nur in Kenntnis dieser Ergebnisse sind Kleiderzerreißungen, Beschmutzungen, nicht zuletzt der morphologische Befund einzuordnen, ist der Versuch einer Rekonstruktion des Tatherganges vorzunehmen. Das Fahrzeug soll zweckmäßig von Gerichtsmedizinern und Kfz.-Sachverständigen gemeinsam besichtigt werden, da das Augenmerk des Kfz.-Sachverständigen anderen Dingen gilt als das des Arztes. Es sind zu ermitteln: Lokalisation, Ausmaß, Sichtung der Beschädigungen. Lackdefekte, Kratzer, Blechschäden, Bodenabstand derselben, etwaiges Profilmuster müssen ermittelt und mit den Körperverletzungen verglichen werden. Ein- wie Abdrücke, Wisch- wie Schleifspuren an der Unterseite des Fahrzeuges, ihre Form und Richtung, Eindellungen an der Stoßstange, Beschädigungen der Scheinwerfer, der Zierleisten, Bruch des Windschutzscheibenglases, Dellen auf Motorhaube, Kotflügel, Dach, sind zu registrieren. Man nehme ferner das Pneumuster auf, achte auf etwaige Schmutzabdrücke des Pneumusters auf der Kleidung oder von Textilmuster auf der verschmutzten Oberfläche des Wagens. Fingerabdrücke (Karosserie und Fahrzeuginneres), Abdrücke von rougierten Lippen an Polsterung, Zigarettenkippen, Blut, Haare, Gehirn-, Gewebsfetzen, Knochenteilchen und Kleiderstoffetzen sind aus dem W a g e n i n n e r e n wie von der Außen- und Unterfläche des Wagens zu sichern. Wo sind an der W a g e n o b e r f l ä c h e vorspringende Teile lädiert, verbogen oder abgebrochen, wo lassen sich durch sie bewirkte Verletzungsspuren nachweisen ? Auf dem S t r a ß e n g r u n d müssen Lack- und andere Farbsplitter, Glasscherben, Brille, Hut, Stock, Schirm, Schuhe, Blut, Urin, Mageninhalt, Haare und andere Organteile beachtet werden. Lage zum Fundort des Verletzten, zu Rad- und Bremsspuren, nicht zuletzt auch zur von Zeugen fixierten Aktionsstelle sind zu vermerken. Die Rekonstruktion eines tödlich endenden Verkehrsunfalles ohne sichere Tatzeugen, besonders nach Fahrerflucht, bereitet meist große Schwierigkeiten. Sie ist nur bei enger Zusammenarbeit zwischen Kfz.-Sach-

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verständigen, Beamten der Polizei und Gerichtsmedizinern erfolgreich. Zur Beurteilung der Materialschäden (Anstoßstelle, Bruchmechanik), sowie typischen Verletzungen sind die Asservierungen von Spuren menschlichen Gewebes am Kfz. besonders wichtig; mit ihrer Hilfe wird vor allem der Auftreffort des Wagens auf den Körper des Fußgängers ermittelt. Ein Blutgruppenvergleich zwischen Spurenmaterial und entnommenem Frischblut klärt die Identität der Spuren. Abdrücke von Körperteilen an der Karosserie sind zwar bedeutsam, Materialschäden können jedoch auch älteren Datums sein. Biologische Aussagen sind überzeugender. Bei Z ü n d - u n d B r a n d b e s c h l e u n i g u n g s m i t t e l bzw. E x p l o s i o n s m i t t e l im k ö r p e r n a h e n B e r e i c h sind in der Nähe des Fundortes handflächengroße Stücke, in denen Rückstände zu vermuten sind, zu entnehmen und getrennt in Gläser zu verpacken. Die Deckelfugen der Gläser müssen mit Leukoplast verklebt werden (Verdunstung). Selbst geringe Mengen von in Holz eingezogenem Petroleum, Benzin und anderen brennbaren Flüssigkeiten sind durch physikalischchemische Untersuchungsmethoden nachzuweisen. Zur Orientierung dient das Absuchen mit Rhodokrit-Pulver, welches sich bei Anwesenheit von Petroleum, Benzin, Spiritus, ö l und ähnlichen Stoffen rot verfärbt. e) S p u r e n a n T a t v e r d ä c h t i g e n . Am Fund-/Tatort bereits gestellte Tatverdächtige sollten sofort ärztlich untersucht werden, spätere Feststellungen sind wenig ergiebig. Der Ersteindruck eines Tatverdächtigen, Beziehungen zwischen ihm und dem Opfer sind für weitere Ermittlungen nicht unwichtig. Folgende Fragen stellen sich bei A l k o h o l - und/ oder M e d i k a m e n t e n e i n w i r k u n g : Welche Zeit konnte zwischen Tat bzw. Todeseintritt und Untersuchung eines Tatverdächtigen verstreichen, welche Möglichkeiten hatte der mutmaßliche Täter, sich zwischenzeitlich etwaige Medikamente, Alkohol, zuzuführen? Für die spätere gerichtsmedizinische, speziell auch für die forensischpsychiatrische Begutachtung sind exakte somatische Feststellungen, erste Einlassungen am Tatort, der psychische Gesamteindruck, Zeichen der Ermüdung eines Tatverdächtigen von Bedeutung. Falls Möglichkeiten gegeben sind, sollte kurzfristig eine orientierende psychiatrische Begutachtung angesetzt werden. Blut (15 ml) und der gesamte Harn sollten sofort, vorrangig, entnommen bzw. gesichert werden (Blutalkohol, Medikamente, Suchtmittel). Zumeist sind die Untersuchungsergebnisse deshalb nicht verwertbar, weil die Kriminalpolizei erst nach Abschluß ihrer Ermittlungen die Asservierung von Blut und Urin veranlaßt. An S p u r e n in der U m g e b u n g des T a t v e r d ä c h t i g e n sind zu berücksichtigen: Flucht-

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weg, Wohnung, Versteck; agbelegte Kleidung, Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände; Toilettenraum: Reinigungsmittel, Reinigungsrückstände; Beseitigung von Tatinstrumenten, von Kleidung durch Vergraben, frische Brandspuren ζ. B. im Ofen; Blut, Fingerabdrücke, Sekret, Erbrochenes, Kotspuren, Haare an Gebrauchsgegenständen und Transportmitteln; Fotografien, Literatur (Hinweise auf Präparation des Opfers!), schriftliche Zeugnisse sind von Bedeutung, sowie etwaige Selbstmordversuche eines Tatverdächtigen im Zusammenhang mit der konkreten Tat. S p u r e n an der K l e i d u n g des T a t v e r d ä c h t i g e n : Originalzustand, Reinigungs versuche, Abgabe in Reinigungsanstalt (Termin, Auftraggeber, sachbezogene Feststellungen der Annahmestelle) müssen ermittelt werden. Untersuchungen der Außenseite, des Futters, auch nach Auftrennung der Taschen, des Tascheninhalts, des Rockkragens, der Umschlagfalten sind notwendig, sowie Beschädigungen an Kleidungsstücken, Alter, Entstehung und Reparatur. Dasselbe gilt für Fremdspuren vom Opfer, vom Tatort bzw. Transportweg oder Fundort, wie ζ. B. Stoffaser, tierische Produkte, Pflanzenteile, öl, Schmier-, Erd-, Wischspuren, Pulverschmauch, Absplitterung von Tatwerkzeugen usw. Bei der k ö r p e r l i c h e n U n t e r s u c h u n g des T a t v e r d ä c h t i g e n sind Konstitution, Größe, Körpergewicht (Relation zum Opfer), Hautfarbe, Haar wie Haartracht, Muskelkraft, Körperbehinderungen (Hinken, Versteifung eines Armes, RechtsLinks-Beidhänder) zu berücksichtigen. Störungen des Seh- und Hörvermögens, Tragen von Brillen, Schielen, Zahnstatus, Verletzungen (Ausmaß, Eigenart, Entstehungsweise, Entstehungszeit, offensiv, defensiv erworben) können von Bedeutung sein. Stammen ausgerissene Haare vom Täter oder Opfer? Wo lassen sie sich nachweisen? Die Beziehungen von Körperverletzungen und Kleidungsschäden sind gegenüberzustellen und mit den angegebenen zu harmonisieren. III. VERÄNDERUNG, BESEITIGUNG VON SPUREN WÄHREND DES LEICHENTRANSPORTES Ein unsachgemäßer Leichentransport impliziert Veränderungen der Körperhaltung, gewaltsame Lösung der Totenstarre, Verlagerung der Totenflecken, Verschiebung von Kleidungsstücken, sekundäre Spurenlegung durch Blut, Fäulnisflüssigkeit usw., Verwischung, Beseitigung von Sekreten, von Blutspuren, Verflüssigung, Abrinnen von Spermaspuren, Übertragung von Fremdmaterialien, Körperflüssigkeiten auf Hände durch Erfassen, Anheben des Körpers über die Kleidung; vorgetäuschte Strangulation über Kragen-, Krawattenzug beim Transport, postmortale Verletzungen beim Einfallenlassen in den Sarg, beim

Entgleiten, beim Abkippen einer Leiche auf Transportwagen. Besprühung der Kleidung bzw. der Körperoberfläche mit Desodorantien, Desinfektionsmittel können zu einer Fehlbeurteilung führen, indem sie primär über das Geruchsorgan aufzunehmende Spuren überdecken bzw. verändern. Weiter setzen Entkleidung und Leichentoilette Veränderungen oder Körperschäden. Sachgemäß ist jener Leichentransport vom Tat-/Fundort zum Leichenschauhaus, wenn ein Gerichtsmediziner bereits alle Erhebungen und Sicherungen am Fundort durchgeführt hatte, die Leiche unter Beibehaltung der vorgefundenen Haltung sorgsam von m e h r e r e n aufgehoben und in einen mit Reißverschluß zu schließenden Transportsack eingelegt wird, nachdem zuvor die Hände gesondert in abgebundene Plastikhüllen gesteckt worden waren und kein Abtransport über zu enge Särge, sondern stets über eine Ablagerung auf Wannen erfolgt.

IV. SPURENSICHERUNG BEI DER LEICHENBESCHAU, DER OBDUKTION Aus medizinischer Sicht werden Veränderungen am Körper und an der Körperoberfläche am Tatbzw. Fundort aus vielerlei Gründen nicht optimal zu erkennen sein. Korrekturen könnten bei der Leichenschau erfolgen oder die am Tat-/Fundort ermittelten Ergebnisse bestätigt bzw. erweitert werden. A. Spurensicherung bei der Leichenschau Auf beste Beleuchtung bzw. Ausleuchtung der gesamten Kleidungsoberfläche oder der freiliegenden Haut muß geachtet werden. Eine Untersuchung der Leiche von allen Seiten mit dem bloßen Auge sowie die Betrachtung auffälliger Partien mittels Lupe ist unbedingt erforderlich. Zweckdienlichst wäre eine Ausleuchtung mittels eines UV-Analysators, um Auffälligkeiten, die mit dem bloßen Auge übersehen werden, deutlich zu machen. Speziell die Erhebungen über Spuren am Körper, aus den Haaren, in der Mund- und Nasenöffnung, an den Gliedmaßen und dem Zahnstatus, die bereits am Tat- bzw. Fundort notiert wurden (Kapitel II), müssen bei der Leichenschau ergänzt werden. Cave: Fremdkörper könnten erst beim Leichentransport an Kleidung, Körper, in Verletzungen gebracht, bzw. Flüssigkeiten aus Körperöffnungen verlaufen sein. Bevor der Obduktionstisch mit Wasser in Berührung kommt, bevor Blut usw. auf diesem Tisch verschmiert wird, muß die um die Hände gebundene Plastikhülle nach Abspreizung der Arme abgenommen, das Material von den Händen, speziell den Fingernägeln, unter genauer Bezeichnung der

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Tötungsdelikte Herkunft getrennt asserviert werden, falls dies nicht bereits am Tat- bzw. Fundort erfolgte. Die Leiche wird schichtweise entkleidet: die Kleidung ist gegebenenfalls aufzuschneiden, um die einzelnen Schichten beiseite legen zu können, um den Körper gewissermaßen zu enthüllen. — Zu fragen ist, ob der Leichnam hätte wieder bekleidet werden können. Liegen die Kleidungsstücke „geordnet" am Körper, geht man zumeist davon aus, ein Sexualdelikt könne nicht vorliegen. Wurde aber die Leiche einer jungen Frau wieder bekleidet, könnte eine unvollkommene Spurenmaterialsicherung am Fund-/Tatort wie bei der Leichenschau zu einem Fehlergebnis führen. — Die Leichenschau bietet die Möglichkeit einer exakten Untersuchung der Haut, der sichtbaren Schleimhäute und der Körperöffnungen. Können verdächtige Spuren auf eine I n t o x i k a t i o n hinweisen? Giftspuren ζ. B. können als K o r p u s k e l n der Haut, den sichtbaren Schleimhäuten aufgelagert sein, in Form eines Niederschlages mit/ohne Verf ä r b u n g anhaften. Die F a r b e der T o t e n f l e c k e weist auf eine ganze Reihe von Intoxikationen hin, so die Rotverfärbung ζ. B. auf CO-Vergiftungen bzw. eine akute Blausäureintoxikation in der ersten Zeit p. m. bzw. die grau-bräunliche Tönung auf eine Großzahl von Met-Haemoglobinbildner; differentialdiagnostische Überlegungen bewahren vor Irrtümern. Gewisse gewerbliche Gifte, nicht nur gasförmige, sondern auch flüssige, haben ihren E i g e n g e r u c h , der der Körperkleidung bzw. den Haaren anhaftet. Diese Duftstoffe sind noch sehr lange wahrzunehmen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn sich ein Mensch in einer Rauchgasatmosphäre befunden hat, sieht man nicht nur die Niederschläge feinster Rußpartikelchen, sondern man kann den Brandgeruch an der Kleidung oder den Haaren noch sehr deutlich wahrnehmen. Wenn dann noch die Totenflecke hellrot sind, dürfte die tödliche Rauchgasvergiftung sehr wahrscheinlich sein. Eine Reihe von Intoxikationen (Alkohol, Aether, Chloroform, Blausäure, Cyankali, Ε 605, Nitrobenzol, Nikotin) sind zu diagnostizieren, sofern man die Körperöffnungen direkt beriecht, sowie durch Druck auf den Oberbauch bzw. den Brustkorb die aus dem Mund ausströmende Luft beschnuppert. Beim Überlebenden geben wertvolle Hinweise die Eng- oder Weitstellung der Pupillen, an der Leiche wird man diese Befunde vorsichtig verwerten, wenn auch die Miosis bei einer Ε 605Vergiftung immer wieder deutlich festgestellt wird. Man muß jedoch damit rechnen, daß Leichenveränderungen die Pupillenweite sekundär beeinflußt haben. Deshalb sind besonders die weiten Pupillen nur dann aussagefähig, wenn die Leichenschau bald nach dem Todeseintritt durchgeführt wird.

K r a n k h e i t s z e i c h e n : Urtikarielle Erytheme, ekzematöse Hautausschläge bzw. eine Akne, Blasenbildungen, eine schmutzige Verfärbung der Haut bzw. ein Ikterus oder Pseudoikterus, die bei einigen Intoxikationen nach einem Überleben eintreten, sind ähnlich wie Blutungen in Haut und Schleimhäuten Mosaiksteine, die mit den anderen, äußerlich zu erhebenden Befunden Fingerzeige geben. Alle genannten Befunde treten aber auch bei natürlichen Erkrankungen ein. Urtikarielle Erytheme sind an der Leiche nui unmittelbar p. m. noch festzustellen. Überdecken etwa Totenflecke Hautveränderungen ? Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Befund an der abgeblaßten, nicht von Livores veränderten Haut. Zu den Hautveränderungen gehören auch Hyperkeratosen oder Verfärbungen der Haut bzw. der Kopfhaare bei häufiger Kontaktaufnahme mit bestimmten Noxen. Sind Reste eingenommener Medikamente oder Gifte in den Ablaufspuren bzw. im Erbrochenen, auf den Lippen, zwischen den Zähnen, in der Mundhöhle, auf der Zunge, in der Mundhöhle, an Händen und Fingern wie: Korpuskuläre Tablettenbestandteile oder aber Flüssigkeiten (Farbe, Geruch), ihre Menge; Koagulation, Kolliquation, Verfärbung der Haut, der sichtbaren Schleimhäute zu sehen ? Eine weitere Explorationsmöglichkeit bietet sich an: hochtoxische Gifte könnten ebenfalls über den After bzw. die Scheide in den Körper eingeführt worden sein. Die Zunahme von Injektionen, nicht nur von Ärzten, sondern von Süchtigen, sich selbst oder gegenseitig verabfolgt, gibt zudem Anlaß, die gesamte Körperoberfläche nach frischen Injektionsstellen oder alten Narbenfeldern bzw. thrombosierten Gefäßen hin genauestens zu inspizieren. B. Spurensicherung bei der Obduktion Mit der Obduktion, der Asservierung von Organteilen, Körperflüssigkeiten zur histologischen, histochemischen, serologischen, physikalisch-chemischen Untersuchung, d. h. der Laboratoriumsarbeit des gesamten biologischen Materials in Verbindung mit dem Obduktionsbefund, setzt die abschließende Arbeit des gerichtsmedizinischen Gutachters ein. Wegen der Verkürzung der Arbeitszeit, dem langen freien Wochenende, einer Zeit also, in der sich nach unseren Erhebungen (Dotzauer/Jarosch/ Berghaus) die Kapitalverbrechen häufen, wird die Obduktion und damit auch die Spurensicherung häufig erst am Montag, werden Laboruntersuchungen folglich erst an diesem Tage in Angriff genommen. Man sollte sich in dubio pro obductione schnellstens entscheiden und nicht das Wochenende, evtl. sogar noch den Montag vergehen lassen, bis eine gerichtliche Leichenöffnung angesetzt wird. Ein Teil der interessierenden, evtl.

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Tötungsdelikte

ausschlaggebenden Untersuchungsergebnisse sind dann unwiederbringlich verloren. Die Obduktion fordert vom Sekanten, daß er bei der Eröffnung schrittweise vorgeht und auf Spurenmaterial achtet und dieses unter exakter Beschriftung und Fundortbeschreibung sichert. Das gilt ζ. B. für aspiriertes Material, das über die Mundhöhle, den Nasen-Rachenraum in die oberen bzw. die tieferen Luftwege befördert wird (biologisches Material, Fremdkörper, Nahrungsmittel) und im Magen oder nach einer gewissen Überlebenszeit auch im oberen oder tieferen Dünndarm, ja sogar im Dickdarm gefunden wird. Ein weiterer Untersuchungsgang betrifft den Nachweis einer möglichen Einführung von Spurenmaterial in den After, den Vaginalschlauch, den Cervicalkanal, die Gebärmutter, die Blase. Nasenund Ohröffnungen sind zu untersuchen, so ζ. B. die Nasenöffnungen bei Verdacht, Cocain könnte geschnupft sein oder die Ohren bei Verdacht auf Einführung von Fremdkörpern bei Kleinkindern. Die Körperoberfläche kann ältere oder frische Fremdeinwirkungen aufweisen, bzw. verdächtige Selbstbeschädigungen. Beschmauchung, Beschmutzung, Imprägnierung bzw. Tätowierung, Fremdkörpereinsprengungen hinterlassen Spuren; verdächtige Injektionsstellen müßte man schichtweise in die Tiefe verfolgen, um nicht nur die Injektionstiefe, sondern u. U. durch Sicherung von Gewebe auch die Injektionsflüssigkeit zu ermitteln. In der Umgebung, aber besonders im Wundbereich selbst, sind Spurenmaterialien von Tatinstrumenten, von Kleidungsstücken, Körperhaaren und von Vorgängen anläßlich einer sekundären Kontaktaufnahme zu entdecken. Die Zusammensetzung des Mageninhalts gibt Auskunft über die Art, der Verdauungszustand — unter Berücksichtigung von Transportzeit und Länge des Transportweges vom Magen in die Dünndarmabschnitte — erlaubt Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Nahrungseinnahme. Bei einer fraglichen Luftembolie — Sektionstechnik — ist die Durchführung einer Gasanalyse grundsätzlich angezeigt, denn Fäulnisblasen sind im Herzblut unter günstigen Bedingungen (Zustand nach Fieber, Bettleiche, warme Außentemperaturen) bereits in Tagesfrist nachzuweisen. Die Sicherung von Spuren, die Hinweise für Vergiftungen geben können, gehört zu den schwierigsten Aufgaben speziell deshalb, weil gewisse Noxen in derartig geringen Mengen bereits tödlich wirken, daß sich diese Gifte im Körper und in den Geweben in Konzentrationen befinden, die unterhalb der Nachweisgrenze auch modernster Verfahren liegen können. Oder: Tödliche Intoxikationen durch Gifte in flüssiger Form ohne Warnfarbe, ohne Warngeruch werden bei einer Obduktion deshalb übersehen, weil es sich um einen älteren

Menschen mit bereits vorhandenen Organveränderungen handelt, die ebenfalls einen Tod erklären könnten. Nichts wird für eine chemisch-toxikologische Untersuchung asserviert. Bei gasförmigen Giften fehlt, sofern es sich um organische Gase handelt, ebenfalls eine Nachweismöglichkeit, bei anderen zeichnet sich die Intoxikation ζ. B. wie bei der CO-Vergiftung, deutlich ab. Unmittelbar bei der Obduktion müßte man, um evtl. gasförmige Noxen noch anreichern bzw. überhaupt untersuchen zu können, sofort nach der Entnahme des Gehirns ζ. B. dieses in ein fest verschlossenes Glasgefäß einlegen. Ähnlich kann man auch mit der Lunge vorgehen, um dann die über dem Organ sich entwickelnde Gasphase einer gaschromatographischen Untersuchung zuzuführen. Unterläßt man diese Sicherung bei der Obduktion, werden bestimmte Vergiftungen durch Gase nicht ermittelt. Z e i t b e z i e h u n g e n können bei Intoxikationen durch Entnahmen unterschiedlicher Gewebe zur qualitativen wie quantitativen Untersuchung, bei der CO-Vergiftung durch die Differenz in den CO-Hb-Konzentrationen im Blut der rechten und linken Herzkammer festgestellt werden, bei einem epiduralen Hämatom ist nicht nur Blut aus den tiefen Oberschenkelvenen, sondern auch das des Hämatoms ζ. B. auf Alkohol zu untersuchen. Bei den I n t o x i k a t i o n e n unterscheiden wir klassischerweise die primären und sekundären Giftwege. Es wird wegen der Vielzahl der Noxen nicht näher darauf eingegangen. Proben aus den einzelnen Verdauungsabschnitten (Magen, Zwölffingerdarm, oberer, mittlerer und unterer Dünndarm, Dickdarm) ferner Organteile und Körperflüssigkeiten sind zu asservieren. Alle Beweisgegenstände müssen von Anfang an getrennt verpackt und ohne Materialverlust transportiert werden. Die Art der Spurensicherung und Verpackung stehen in Anhängigkeit von dem Untersuchungsauftrag, der Fahndung nach bereits erkannten oder unbekannten Spuren. Zuviel kann nie asserviert werden; zumeist wird zu wenig oder sogar falsches Material gesichert. V. WEITERBEHANDLUNG DER ASSERVATE A. Zeit- und materialgerechte Übermittlung der Asservate Nach Abschluß erster ärztlicher Befunderhebungen — Tatort, Leichenbeschau bzw. Obduktion •— sind die biologischen Asservate unmittelbar dem nächsten gerichtsmedizinischen Institut bzw. dem untersuchenden Labor zu überstellen, sowie die krimmaltechnischen Untersuchungen in Auftrag zu geben. Wertvolle Zeit sollte man nicht verstreichen lassen, damit biologisches Material nicht vernichtet wird bzw. das Ergebnis nicht

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Tötungsdelikte mehr verwertbar ist, ζ. B . bei bakteriologischen Befunderhebungen, die bei Komplikationen sehr bedeutsam sind. Auf kürzestem Wege müßte das Untersuchungsmaterial dem Bakteriologen übermittelt werden (-»· Sexualdelikte, gerichtsmedizinischer Beitrag). B . Wahl des Untersuchers Der Kriminalbeamte, der Staatsanwalt, sowie der Untersuchungsrichter werden kaum Entscheidungen über die Wahl des Untersuchers fällen, der Gerichtsmediziner sollte als ehrlicher Makler befragt werden und zugleich kritisch Stellung zu seinen eigenen Kenntnissen und Arbeitsmöglichkeiten beziehen. Günstig wäre es, wenn an den einzelnen Instituten mehrere Sachverständige mit großer Erfahrung auf den einzelnen naturwissenschaftlichen Gebieten arbeiten würden, die zum Abschluß eines Falles zu einer gemeinsamen Begutachtung kommen könnten. Wenn gelegentlich gefordert wird, man sollte Untersuchungsmaterial an bestimmte Wissenschaftler, die vielfach über keine forensische Erfahrung verfügen, einsenden, so kann dies nur eine Ausnahme darstellen und wäre wohl nur angezeigt, wenn der Wissenschaftler mit der speziellen Erfahrung gemeinsam mit dem untersuchenden Gerichtsmediziner ein abschliessendes Gutachten oder eine zusätzliche Beweisfrage beantwortet. C. Untersuchungsmöglichkeiten und Untersuchungsmethoden Während in der Klinik, bei üblichen toxikologischen Befunderhebungen, der Einsatz nur eines gezielten Verfahrens, das Ergebnis einer Einzeluntersuchung zudem, anerkannt wird, ist dies bei forensisch relevanten Untersuchungen nicht möglich. Stets ist mit zwei unterschiedlichen Verfahren vorzugehen, zwei verschiedene Untersucher sollten im Idealfall tätig werden. Durch Vorschriften gebunden werden bei der Blutalkoholbestimmung oder im Vaterschaftsverfahren mehrere Parallelbestimmungen vorgenommen; gleiche Forderungen müßte man bei allen forensischen Nachweisen stellen. Für neue Verfahren gilt dies besonders. Aber gleich, ob es sich um neue oder bereits anerkannte Untersuchungstechniken handelt, stets sind positive wie negative Kontrolluntersuchungen immer wieder mit durchzuführen. Zu falsch positiven Untersuchungsergebnissen kann es dann kommen, wenn mit einem unspezifischen Verfahren gearbeitet wird und ζ. B . durch Fäulnisprodukte oder Abbausubstanzen Ergebnisse vorgetäuscht werden. Andererseits können falsch negative Befunde sich dann ergeben, wenn eine Untersuchung zu spät angesetzt wird und vorhandene Konzentrationen zwischenzeitlich weiter abgebaut wurden.

1. Blut Es wird häufig diskutiert, wie lange man mit welchen Verfahren welche Untersuchungsergebnisse an zu irgendwelchen Zeiten gesicherten Spuren noch für die forensische Begutachtung verwerten kann. I m Experiment sind mit modernen Methoden Ergebnisse zu erzielen; der Untersucher läuft Gefahr, Ergebnisse lediglich aus dem Grunde positiv zu interpretieren, weil er das Ausgangsresultat kennt. Wäre ihm dieses unbekannt, das Spurenmaterial gering, die Liegezeit groß, würde er nie wagen, Resultate vorzulegen. Literaturhinweise über Güte eines Verfahrens bzw. Möglichkeiten, innerhalb einer längeren Frist noch bestimmte Blutmerkmale darzustellen, sind unter diesen Aspekten mit Vorsicht aufzunehmen. Eine weitere Einschränkung: Experimentelle Befundungen werden gelegentlich bis zu einem gewissen Zeitpunkt durchgeführt und man folgert dann, die Eigenschaften X Y seien „bis zu drei Wochen" nachweisbar. Diese Kennzeichnung gibt jedoch nicht die Maximalzeit an. Diese wurde gar nicht ermittelt. Deshalb sind Ergebnisse von experimentell angesetzten Trockenblut-Untersuchungen nicht zwangsläufig auf einen konkreten Fall zu übertragen. War B l u t bei niederer Temperatur zudem einem intensiven Luftzug ausgesetzt, getrocknet, führt diese Spur weit eher zu einem Resultat, als die gleiche Blutmenge, die in feuchtschwülem Sommer vor dem Einsetzen der Trocknung bereits zu faulen begonnen hatte. Wurden diese äußeren Einflüsse anschließend nicht ausgeschaltet, bleibt eine anlaufende Fäulnis zudem unterhalten, dann sind Blutart-, Blutgruppen· bzw. Faktorenuntersuchungen nicht nur erschwert, sondern kaum mehr durchzuführen. Falsch-negative wie falsch-positive Resultate könnten die Folge sein. Eine weitere Störungsquelle ist durch massiven Einsatz nicht optimaler Sprühreagentien (Vorproben zur Spurensuche) gegeben: Serumproteine, Blutkörperchenmerkmale oder Enzyme können so verändert sein, daß verwertbare Ergebnisse nicht mehr zu erzielen sind. Bereits 1910 hatte Leers auf die negativen Auswirkungen gewisser Sprühverfahren hingewiesen. Den Untersucher trifft dann der Vorwurf: „ E s war doch genügend Blut zur Untersuchung eingeschickt, weshalb können Sie uns kein Ergebnis vorlegen". Schuld ist die unwissenschaftliche Vorbehandlung. Die sofortige Sicherung, die schnellste Untersuchung nur kann Erfolge bringen; Nachweisgrenzen sind von Fall zu Fall zu berücksichtigen. Hier sei ζ. B . verwiesen auf: „Blutbeschmutzung und Rostbildung" (Buhtz) oder „Über den Verbleib von Blutfarbstoff auf grünen B l ä t t e r n " (Mayer) oder „Über den Einfluß des Bügeins und Plättens auf den forensischen Nachweis von Blutspuren auf Kleiderstoffen" (Schech) u. v. a. m.

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Tötungsdelikte Oiam. «inipat.Verprabaft: B*ftiie>i»,Ou«J«e-Harx, L«ukemela«tiHg>Qn,Orthaielldift. PltaitdpMalain, Rhadern!*, lamiaal Ml k rak r I «t a Hog ra ph la "l Spakltographla I Paplarcti ram a (agraphia I

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CLOTH

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Tötung und Psychose

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u Unterschlagung -»• Ergänzungsband

Urkundendelikte -> Ergänzungsband

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Verbrechen und Schwachsinn

y Verbrechensbekämpfung, internationale zungsband

1. Die Definition des „Schwachsinns"

Ergän-

VERBRECHEN UND SCHWACHSINN Mit dem Thema Schwachsinn und Kriminalität haben sich in den letzten Jahrzehnten nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen befaßt. Das erscheint deshalb erstaunlich, weil es auf der anderen Seite eine ganze Reihe von Arbeiten gibt, nach denen der Prozentsatz der Schwachsinnigen in den verschiedensten Delinquentengruppen sehr hoch ist. Die entsprechenden Angaben schwanken (soweit festzustellen war) zwischen 3,6 und 70%. Diese — immerhin sehr erheblichen — Differenzen in den ermittelten Kriminalitätsanteilen dürften vor allem auf folgende Ursachen zurückzuführen sein: a) auf verschiedenartig strukturierte Probandengruppen (in bezug auf Geschlecht, Alter, Wohnort und Art der Delikte) und b) auf die unterschiedliche Definition des Schwachsinns in qualitativer und quantitativer Hinsicht.

In der Psychiatrie und Kriminologie werden unter diesem Begriff alle diejenigen Zustände psychischer Unterentwicklung zusammengefaBt, die a) hauptsächlich die Intelligenz betreffen und b) entweder angeboren oder frühzeitig (d. h. in der Fetalzeit, während der Geburt oder in früher Kindheit) traumatisch oder durch Erkrankungen erworben worden sind. Die „ O l i g o p h r e n i e n " , wie die Zustände des so definierten Schwachsinns genannt werden, sind dementsprechend durch ein A u s b l e i b e n d e r n o r m a l e n g e i s t i g e n E n t w i c k l u n g gekennzeichnet (abnorme Minusvarianten der Intelligenz). Insoweit unterscheiden sie sich auch von der Demenz (Verblödung), bei der es sich um solche Intelligenzmängel handelt, die erst im späteren Leben durch organische Gehirnkrankheiten „entstanden" sind: denn mit diesen gehen Fähigkeiten verloren, die früher einmal vorhanden waren (wie ζ. B. das Gedächtnis). Die Demenz entsteht also durch einen Abbauprozeß, der Schwachsinn (die Oligophrenie) durch eine Beeinträchtigung der Entwicklungspotenzen.

Tabelle 1 D e r A n t e i l der S c h w a c h s i n n i g e n u n t e r S t r a f t ä t e r n Jahr d. Veröff.

Untersucher

1923 1925 1926 1929 1931 1931 1933

Aschaffenburg Többen Stahelin Warstadt Snyder Beane Riedl

1935 1935 1934

Stumpfl Schnell Vervaeck

1936 1936 1937 1939 1952 1963 1964 1967

Schmid Bumke Fetscher Rattenhuber Sh. u. E. Glueck Staak Niedermeyer Phillip

Probanden insgesamt

schwachsinnige Prob, in %

200 Sittlichkeits-Verbrecher 30 Inzesttäter 70 Exhibitionisten Rückfalltäter jug. Straftäter 300 weibl. Straftäter 200 „Frühkriminelle" 200 „Spätkriminelle" 166 „einmalige" Straftäter 502 Rückfallverbrecher 1000 Erstbestrafte 1000 Rückfalltäter 502 „Erstverbrecher" Sittlichkeitstäter 818 Sittlichkeitsverbrecher 111 gefährliche Sittlichkeitsverbrecher 500 jug. Straftäter 290 jug. Straftäter 20 Täterinnen der Kindesmißhandlung 87 jug. Gruppenstraftäter: = davon ehem. Hilfsschüler

36,5% 30,0% 21,7% 30,0% 34,0% 18,6% 49,0% 26,0% 8,4% 20,7% 3,6% 17,1% 6,2% 36,5% 14,9% 29,0% 4,2% 31,0% 70,0% 78,2%

446

Verbrechen und Schwachsinn Tabelle 2 A n g a b e n ü b e r die p r o z e n t u a l e V e r b r e i t u n g des S c h w a c h s i n n s Quelle

Beurteilungsgruppe

Sauer (1950) Bremer (1951) Wyrsch (1955) Verschuer (1959) Benda (1960) Seelig (1964) Lückert (1965) Zerbin-Rüdin (1967) Wegener (1967)

Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung

Um die Verständigung zu erleichtern, wird die Oligophrenie herkömmlich in drei Grade eingeteilt und zwar nach ihrer Schwere in I d i o t i e , I m b e z i l l i t ä t und D e b i l i t ä t . Die Idiotie ist die schwerste Form des Schwachsinns, die Debilität die leichteste. Die Übergänge zwischen den einzelnen Schwachsinnsgraden sind jedoch fliessend. Scharfe Trennungslinien gibt es also nicht. Die Angaben über die p r o z e n t u a l e V e r b r e i t u n g des Schwachsinns differieren in der Literatur recht erheblich, nämlich zwischen 1% und 9% der Gesamtvevölkerung (vgl. Tabelle 2). Der Grund für diese Unterschiede ist darin zu suchen, daß die befaßten Autoren die Grenzen zwischen Schwachsinn und normaler Intelligenz nicht einheitlich ziehen. So liegt die Grenze des Schwachsinns nach Lückert schon bei einem IQ

Anteil der Schwachsinnigen (Schätzungen)

(Deutschland) (Norwegen) (Deutschland) (Deutschland) (USA) (Deutschland) (Deutschland) (Deutschland) (Deutschland)

1,0% 5,6% 1-2% 3-4% 4-5% 1,0% 9,0% 3-4% 3,0%

(Intelligenzquotienten) unter 80, nach Wechsler hingegen erst bei einem IQ unter 62. Menschen mit einem IQ von 79 bis runter zu 63 sind also nach Lückert schon schwachsinnig, nach Wechsler hingegen noch nicht. Daraus ergibt sich, daß nach Lückert viel mehr Menschen schwachsinnig sind (nämlich 9 % ) als ζ. B. nach Wechsler (1%). 2. Der Kriminalitätsanteil

der

Schwachsinnigen

Die unterschiedlichen Grenzen des Schwachsinns erklären ζ. T. auch — wie schon oben erwähnt — die Differenzen in den Ergebnissen der Tabelle 1. Die Übersicht zeigt, daß sich nach den vorliegenden Untersuchungen — unter jugendlichen Straftätern zwischen 4,2% und 34,0% und

Tabelle 3: Quantitative Grenzen des Schwachsinns (und Prozentränge für IQ nach Wechsler) Grenzen (Beginn) des Schwachsinns

nach Wechsler

= bei IQ 62

nach Terman

= bei IQ 70

nach Kuhlmann = bei IQ 75 nach Lückert

= bei IQ 79

IQ

Prozentrang

unter 56

1 ( = 99% der Bevölkerung sind intelligenter)

unter 66

3 ( = 97% der Bevölkerung sind intelligenter)

unter 72

5 ( = 95% der Bevölkerung sind intelligenter)

unter unter unter unter unter unter unter

76 79 83 87 90 92 95

7 10 15 20 25 30 35

(= (= (= (= (= (= (=

93% 90% 85% 80% 75% 70% 65%

der der der der der der der

Bevölkerung sind Bevölkerung sind Bevölkerung sind Bevölkerung sind Bevölkerung sind Bevölkerung sind Bevölkerung sind

intelligenter) intelligenter) intelligenter) intelligenter) intelligenter) intelligenter) intelligenter)

447

Verbrechen und Schwachsinn — unter erwachsenen Delinquenten zwischen 3,6% und 49,0% Schwachsinnige befinden. Vergleicht man die Ergebnisse der Tabelle 1 mit denen der Tabelle 2, so wird bei aller Zurückhaltung deutlich, daß Schwachsinnige nach den vorliegenden Resultaten offenbar sehr häufig strafrechtlich in Erscheinung treten. Interessant sind insoweit auch die Untersuchungen über die K r i m i n a l i t ä t s b e l a s t u n g ehemaliger Hilfss c h ü l e r (heute: Sonderschüler). Die Frage lautet in diesem Fall nicht: wieviel Schwachsinnige befinden sich unter einer bestimmten Anzahl (bestimmter) Straftäter, sondern gerade umgekehrt: wieviel Schwachsinnige oder zumindest Grenzdebile ( = ehemalige Hilfsschüler) wurden nach ihrer Schulentlassung bis zu einem bestimmten Stichtag kriminell. Daß nicht alle Hilfsschüler (Sonderschüler) schwachsinnig sind, wird bei dieser Fragestellung in Kauf genommen; allerdings wohl ohne allzu großes Risiko. Denn nach Wegener (1960) darf damit gerechnet werden, daß (auch heute noch) das „Gros" der ehemaligen Hilfsschiiler erheblich unterbegabt ist. Die Resultate der erwähnten Arbeiten vermögen deshalb zumindest Anhaltspunkte zu liefern. So sollte zu denken geben, daß nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen (vgl. Tabelle 4) immerhin 8,6 bis 36,0% der früheren Hilfsschüler in ihrem späteren Leben straffällig wurden. Die Relevanz dieser Zahlen ist allerdings nur dann zu beurteilen, wenn man sie mit dem Anteil der Bestraften an der Gesamtpopulation vergleicht. Wieviel Menschen der Bevölkerung werden also überhaupt kriminell bzw. zumindest einmal in ihrem Leben bei einer Straftat gefaßt? Auch zu dieser Frage liegen einige — wenn auch nur wenige — Angaben vor. Sie schwanken zwischen etwa 2 bis 5% bei Stampfl (1935 für das damalige Deutsche Reich geschätzt) und rund 23% bei Trenaman und

Emmet (1952 für England errechnet). Das heißt: wenn man die Prozentsätze von Stampfl zugrunde legt, werden Schwachsinnige mindestens doppelt so oft straffällig wie andere Menschen; geht man hingegen von den Zahlen der Engländer aus, ergeben sich insoweit keine Auffälligkeiten. Auf wie schlüpfrigem Boden sich alle Vermutungen über den Grad der Delinquenzbelastung von Oligophrenen bewegen, zeigen verschiedene Kontrolluntersuchungen. So ermittelte Heydrich (1961) unter 40 ehemaligen Hilfsschülerinnen 10% Straffällige und unter 913 ehemaligen Volksschülerinnen 3,2% (Verhältnis 1:3). Ferguson (1952) stellte unter 1349 Jungen, die die Schule ohne Schwierigkeiten durchlaufen hatten, 12,2% Delinquenten fest und unter 301 Jugendlichen, die auf Spezialschulen für geistig behinderte Kinder gewesen waren, 23,9% (Verhältnis 1:2). Christiansen und Rasmussen (1946) schließlich fanden unter 912 ehemaligen Hilfsschülern aus einem schlechten Wohnbezirk 28,0% Straftäter, aber unter 697 ehemaligen Volksschülern aus demselben schlechten Wohnbezirk immerhin 20,0% (Verhältnis nur noch 1:1,3). Alle Resultate werden überdies durch einen Unsicherheitsfaktor, der bisher noch nicht erwähnt wurde, überhaupt in Frage gestellt. Denn alle zitierten Untersuchungen (vgl. die Tabellen 1 und 4) können sich naturgemäß nur auf die entdeckte Kriminalität beziehen (vgl. dazu Schwind 1974); die „Häufigkeit der Entdeckung liegt aber nach menschlichem Ermessen bei Oligophrenen wegen der dummen und primitiven Begehungsweise wesentlich höher als bei intelligenten Tätern" (geringere Dunkelziffer). Entsprechend dieser Vermutung Hilde Kaufmanns (1971) gibt auch Göppinger (1971) zu bedenken, „daß gerade für den Schwachsinnigen wegen seiner niedrigen Intelligenz die Chance, unentdeckt zu bleiben, viel geringer ist als für den Normalsinnigen". Ähnlich

Tabelle 4 Der Anteil von Straftätern unter ehemaligen Hilfsschülern Untersucher

Wemmer (1932) Christiansen und Rasmussen Luib (1951) Seifart (1959) Fischer (1960) Gramm (1961)

Zahl der ehem. Hilfsschüler

UntersuchungsZeitraum

Anteil der Straftäter

a) 41 weibl. Probanden b) 62 männl. Probanden 912 Probanden aus schlechten Wohnbezirken 770 Probanden 237 Probanden 76 Probanden a) 105 weibl. Probanden b) 126 männl. Probanden

10—13 Jahre 10—13 Jahre

17,0% 36,0%

39—46 4—50 8—48 16—46 1—10 1—10

28,0% 20,6% 34,7% 16,0% 8,6% 36,5%

Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre

Verbrechen und Schwachsinn

448

heißt es bei Bauer (1957): „In gewissem Sinne ist es richtig, daß vor Gericht und in den Gefängnissen nur die ,Dummen' in Erscheinung treten. Dummheit ist ein Handicap. Die Delikte der Dummen werden in der Regel aufgeklärt, während die intelligenteren Täter imstande sind, die Gefahr einer Entdeckung abzuschätzen und sich durch geeignete Vorkehrungen gegen sie abzuschirmen". Wenn diese Beobachtungen zutreffen, dann würde der Anteil der Oligophrenen an der Kriminalität höher erscheinen als er eigentlich ist. Theroetisch gesehen geben diese Überlegungen sogar für die These Raum, daß der Schwachsinn überhaupt keine besondere kriminogene Bedeutung besitzt. Ein solcher Schluß würde im Ergebnis den Ansichten von Prentice und Kelly (1963), Chasell (1935), Lowrey (1944), Woodward (1955) und Frey (1951) sowie den Resultaten einer früheren Arbeit De Greefs (1939) entsprechen. Dennoch dürfte nach den Ergebnissen der Mehrzahl der bisherigen Arbeiten feststehen, daß sich (zumindest) in unseren Strafvollzugsanstalten ein recht erheblicher Teil von Delinquenten befindet, die schwachsinning sind: nach Lange (1933) sollen es etwa 20 bis 30% sein. Keine kriminalpolitische Konzeption kann es sich jedoch leisten, an einer so großen Gefangenengruppe vorbeizugehen. Auch aus diesem Grunde (ein anderer wurde schon eingangs erwähnt) ist es erstaunlich, daß Kriminalitätsrichtung und Ursachen der Kriminalität der

Oligophrenen in einer Zeit, in der die Verbrechens" bekämpfung wegen der von Jahr zu Jahr steigenden Kriminalitätsziffern zu einer vorrangigen Aufgabe geworden ist, bisher nur wenig erforscht worden sind. 3. Zur

Kriminalitätsrichtung

Die kriminologischen Verhältnisse bei Oligophrenen haben (soweit das der Verfasser zu übersehen vermag) etwas ausführlicher, allerdings schwerpunktmäßig verschieden, lediglich folgende Autoren untersucht: — Vervaeck (1928: 368 Fälle), — Mergen (1942: 42 Fälle), — Werner (1945: 321 Fälle), — De Greeff (1948: 271 Fälle), — Schipkowensky (1962: nur Beispielsfälle), — Jagemann (1966: 202 Fälle), — Andreas Schmidt (1970: 44 Fälle) und — Schwind (1973: 594 Fälle). Alle Fälle betrafen Probanden, die nach einer Straftat psychiatrisch untersucht und ζ. T. auch interniert worden waren. Mit der Kriminalitätsrichtung dieser Schwachsinnigen haben sich (mit Ausnahme von Schipkowensky) alle Untersucher befaßt. Danach stehen an der Spitze der von Oligophrenen verübten Delikte Sexualstraftaten. Diese machen etwa 30 Prozent aus. Das sind rund zehn Mal mehr als auf die übrige Bevölkerung treffen (zum Vergleich: nach der Polizeilichen

Tabelle 5 Die Größe der D e l i k t s g r u p p e n der O l i g o p h r e n e n Untersucher Vervaeck 1928 (368 Fälle) Mergen 1942 (42 Fälle) Werner 1945 (321 Fälle) De Greeff 1948 (271 Fälle) Jagemann 1966 (202 Fälle) Schmidt 1970 (44 Fälle) eig. Prob. Gruppe (594 Fälle)

Delikt gegen SexualBrands traftaten Leib u. Leben stiftungen

Eigentums- u. Vermögensdel.

sonstige Straftaten

47,8%

14,7%

2,2%

34,2%

1,1% = 100%

12,0%

48,0%

17,0%

23,0%

= 100%

26,4%

11,8%

14,4%

36,0%

11,2% = 100%

54,6%

14,8%

2,2%

27,6%

0,8% = 100%

54,2%

8,0%

4,8%

33,0%

2,0% = 100%

7,0%

32,0%

6,0% = 100%

55,0% 35,5%

8,4%

2,0%

40,1%

14,0% = 100%

2,8%

5,2%

0,2%

86,7%

5,1% = 100%

zum Vergleich: in %-Zahlen umger. Angaben d. Polizeil. Kriminalstatistik 1969

Verbrechen und Schwachsinn Kriminalstatistik der letzten Jahre, die das Bundeskriminalamt herausgibt, betrug die entsprechende Prozentzahl unter den Delinquenten des Bundesgebietes noch nicht einmal 3 % ) . Sittlichkeitsdelikte werden von Schwachsinnigen also über zehn Mal häufiger begangen als von geistig normalen Straftätern. An der Spitze dieser Straftaten stehen: die Unzucht mit Kindern (rund die Hälfte aller Fälle), Erregung öffentlichen Ärgernisses durch exhibitionistische Handlungen (etwa ein Viertel aller Fälle) und Notzucht (knapp 1 0 % aller Fälle). Mehr als zehn Mal so viel werden ferner verübt: Brandstiftungen; mehr als doppelt so viel: Straftaten gegen Leib und Leben; öfter Kindesmißhandlung (vgl. Tabelle 5). Die Verteilung der Delikte auf die Geschlechter entspricht dem üblichen (normalen) auch unter anderen Straftätern zu beobachtenden Verhältnis von etwa 7 : 1 .

4. Ursachen der Kriminalität der Oligophrenen Noch um die Jahrhundertwende hat Goddard die Meinung vertreten, daß der Schwachsinnige der „geborene Verbrecher" (im Sinne Lombrosos) sein müsse. Diese Auffassung gilt zu Recht seit langem als überholt. Nach der heute in der Literatur vertretenen Meinung besitzt der Schwachsinn (für s i c h a l lein) eine nur geringe k r i m i n o g e n e B e d e u t u n g . Exner (1949) schreibt insoweit ζ. B., daß „Verstand und Sittlichkeit auf derart verschiedenen Ebenen liegen, daß wir eher glauben möchten, die Intelligenz habe mit dem Verbrechen schlechterdings nichts zu tun". Auch Stumpfls Untersuchungen (1935) brachten nur eine „Bestätigung der heute ziemlich allgemein vertretenen Anschauung, daß Begabungen ebensowenig davor schützen, daß ihr Träger einer kriminellen Neigung verfällt, als umgekehrt Schwachsinn an sich nicht als Ursache echter Kriminalität gelten kann". Stumpfl schränkt diese Aussage jedoch sogleich wieder ein, indem er darauf hinweist, daß zwischen Schwachsinn und Kriminalität a b e r d o c h m i t t e l b a r e B e z i e h u n g e n bestehen und zwar insoweit, als bestimmte C h a r a k t e r a b n o r m i t ä t e n , „die schwere Kriminalität bedingen", bei Schwachsinnigen besonders häufig vorkommen. Diese Erscheinungen stehen in Zusammenhang mit einer oft feststellbaren Gesamtstörung der oligophrenen Persönlichkeit. So weist auch Birnbaum (1931) darauf hin, daß „der Schwachsinnige als Totalität genommen als eine charakterologisch unzulängliche, weil unzureichend entwikkelte Persönlichkeit aufzufassen ist". Diese Struktur wird nicht selten durch eine Erscheinung verstärkt, die ζ. B. von Ewald (1959) beobachtet wurde und darauf hinausläuft, daß „Schwachsinnige verhältnismäßig oft von moralisch minderwertigen Personen mißbraucht, geschwängert, 29 HdX, 2. Aufl., Bd. I I I

449

unter Umständen auch geheiratet werden". Gemeint ist hier offensichtlich, daß sich Schwachsinnige nicht selten mit asozialen Familien verbinden (sie wohnen oft gemeinsam in den billigen Wohnbezirken), deren ungünstige Charaktereigenschaften dadurch auch Einzug in die oligophrene Familie halten. Die kriminalpathologische Bedeutung des Schwachsinns entsteht also (soweit der Schwachsinn vererbt worden ist) aus einer Verbindung von — intellektuellen Mängeln und — emotionell-charakterologischen Unzulänglichkeiten. Bereits die intellektuellen Mängel bedingen eine Reihe von Nachteilen, die eine Sozialisierung erheblich erschweren. Denn meist ist der Schwachsinnige kaum in der Lage, hinreichend Lebenserfahrungen zu sammeln und vernunftgemäß zu verarbeiten. Zu einem von rationalen Leitmotiven getragenen Handeln ist er nur selten befähigt. So sind auch viele seiner Straftaten auf einen Mangel an Überlegung, Überblick und Voraussicht zurückzuführen. So kommt es überdurchschnittlich oft zu F a h r l ä s s i g k e i t s t a t e n u n d K u r z s c h l u ß d e l i k t e n (vor allem zu Straftaten gegen Leib und Leben). Sind mit der mangelhaften Ausbildung der höheren Verstandesfunktionen noch Mängel in der Gefühls-, Willens- und Charaktersphäre verbunden (wie ζ. B. Gemütlosigkeit, Haltlosigkeit, Geltungssucht oder Explosivität), so fällt es dem Oligophrenen natürlich noch schwerer, sich straffrei zu halten. Sein auffälligster charakterologischer Defekt besteht in einer besonderen sozialaffektiven Schwäche, die durch eine ungenügende Herausbildung der höheren ethischen, altruistischsozialen und ästhetischen Gefühlswerte bestimmt wird. Die Folge dieser Anomalie „ist eine vorwiegend e g o z e n t r i s c h e G e d a n k e n - u n d Gef ü h l s e i n s t e l l u n g , die Vorherrschaft von durch kurzsichtigen Egoismus getragenen Handlungsund Haltungsdirektiven (und) das Übergewicht unbeherrschter Antriebe und Triebregungen im Motivleben" (Birnbaum 1931). Diese an sich schon prekäre psychische Situation wird noch durch das Ausbleiben eines sicheren, gefestigten persönlichen Standpunktes erheblich verschärft. Der Schwachsinnige steht deshalb „den Reizen seiner Umwelt und seines eigenen Trieblebens schutzloser, hilfloser, passiver . . . und unselbständiger gegenüber", als das bei anderen Menschen der Fall ist (Wegener 1960). Sein „Triebdruck schiebt sich störend zwischen Ich und Gegenstand" und erschwert damit „das bewußte Einschieben des Intervalls zwischen Reiz und Reaktion beträchtlich" (Wegener 1960). Daß sich diese Schwierigkeiten im sozialen Leben verhängnisvoll auswirken können, muß nicht besonders betont werden. Die deutliche Affinität der Oligophrenen für S e x u a l s t r a f t a t e n wird von Mergen, Werner,

450

Verbrechen und Schwachsinn

Schipkowensky und Schmidt — über die schon erwähnten Mängel hinaus — auf die Schwierigkeit der Schwachsinnigen zurückgeführt, einen Sexualpaitner zu finden, der sich mit ihnen einläßt. Aus dieser g e s c h l e c h t l i c h e n I s o l a t i o n resultieren zwei wichtige Folgeerscheinungen: — bei vielen Schwachsinnigen bilden sich I n s u f f i z i e n z g e f ü h l e (Minderwertigkeitskomplexe), die auf Kompensation drängen und — die Betroffenen geraten in einen verständlichen T r i e b d r u c k , der „gebieterisch einen Ausweg zu erzwingen versucht" (Werner). Dieser Ausweg wird jedoch meist in der Richtung des geringsten Widerstandes gefunden, also in der Onanie, im Bordell, im Exhibitionismus, in sodomistischen Handlungen und in der Unzucht mit Kindern (Pädophilie). Eine Sonderstellung nehmen insoweit die Notzuchtsdelikte ein. Nach den Feststellungen von Schwind (1973) werden diese schweren Sexualstraftaten wahrscheinlich jedoch grundsätzlich nur von den mittel- bis hochgradig Minderbegabten verübt oder (bzw. und) von Oligophrenen, die unter (erheblichem) A l k o h o l e i n f l u ß stehen. Alkoholische Enthemmungen sind auch bei den anderen Gewaltdelikten der Schwachsinnigen (vor allem bei den S t r a f t a t e n g e g e n L e i b u n d L e b e n ) nicht selten im Spiel. Denn diese begünstigen die für Oligophrene typische (bereits oben erwähnte) Neigung zu Kurzschlußhandlungen. Diese Beobachtung haben auch Werner (1945) und Mergen (1942) gemacht. Bei letzterem heißt es dazu u. a. wie folgt: „Die Gewalttaten der Schwachsinnigen zeichnen sich durch ihre Kurzschlüssigkeit und ihre Brutalität aus. Hier spielt der Alkohol . . . eine große Rolle. Er hebt die Hemmungen auf und beseitigt etwa vorhandene Bedenken und schwächt die sowieso unzulängliche Urteilsfähigkeit bedeutend. Der Alkohol ebnet dem großen Affekt den Weg. Der unter seiner Wirkung stehende Schwachsinnige vermag nicht die Geringfügigkeit des Anlasses, der ihn zu einer schweren Tat treibt, zu sehen". Die dritte Gruppe von Straftaten, die von Oligophrenen häufiger als von anderen Menschen verübt werden, sind B r a n d s t i f t u n g e n . Jagemann meint, daß „die hohe Zahl der schwachsinnigen Brandstifter mit einer p r i m i t i v e n F r e u d e an dem G e w a l t i g e n des F e u e r s erklärt werden kann". Eine solche Interpretation übersieht aber wohl die Bedeutung des Opferverhaltens. Die Freude am Feuer spielt bei der Brandstiftung zwar sicherlich mit, sie bildet aber nur selten das Hauptmotiv (vgl. auch Schipkowensky und Schwind). Oft stellt sie sich überdies erst nachträglich ein, also dann, wenn das Feuer schon brennt. Nach den Ermittlungen von Ewald, Werner, Schmidt, Mergen und Schwind sind die primären Gründe der Brandstiftungen, die durch

Oligophrene verübt werden, vielmehr folgende zwei: — allgemein-emotionelle Verstimmungen („Weltschmerz", vor allem Verzweiflung über menschliche Isolation) und — das Bedürfnis, an einer ganz bestimmten Person (durch Zerstörung ihrer Habe) Rache zu nehmen. Ebenso wie die Weltschmerzfälle sind auch die Rachefälle mitunter nicht leicht zu verstehen, weil Ursache (Anlaß) und Reaktionen des Täters oft zueinander in einem kaum noch verstehbaren Verhältnis stehen. Denn nicht selten genügt schon ein zürnendes Wort („Stell Dich nicht so blöd a n l " ) oder eine unfreundliche Geste, um den Täter in einen Erregungszustand zu versetzen, der zur entladenden Tat (zu Brandstiftung, aber auch zu einem Angriff auf Leib oder Leben) führen kann. Alkoholeinflüsse wirken auch hier wieder als konstellative Faktoren des Schwachsinns. Die Eigentums- und Vermögenskriminalität der Oligophrenen konzentriert sich erwartungsgemäß auf diejenigen Straftaten, deren Ausführung im allgemeinen „nur ein Minimum an Überlegung" erfordert (Werner), also primär auf die (einfachen) D i e b s t a h l s d e l i k t e . Affekt, Alkohol oder pathologische Besonderheiten spielen hier kaum eine Rolle. Viel entscheidender sind in solchen Fällen die s o z i a l e n E i n f l ü s s e , wie auch Schipkowensky berichtet: „Von allen Verbrechen der Oligophrenen ist in unserem Material der Diebstahl das am häufigsten sozial bedingte. Obwohl auch ein krankhafter Trieb zum Stehlen besteht, entwenden dennoch die Schwachsinnigen in der Regel aus normalpsychologischen Beweggründen". Gruhle (1956) führt diese Kriminalität auf das Wirksamwerden negativer Gruppenvorbilder zurück (von ihm „Tradition" genannt). So würden in den sog. Verbrecherfamilien „zahlreiche Individuen" zu Kriminellen werden, „wie sie auch sonst die Sitten und Gewohnheiten ihrer Schicht übernehmen". Es gehöre eine außerordentliche intellektuelle und charakterliche Begabung dazu, sich aus schlechter Umgebung heraufzuarbeiten. Daß gerade die Schwachsinnigen diese Voraussetzungen nicht erfüllen, liegt auf der Hand. Oligophrene aus ungünstigen Erziehungsverhältnissen sind daher hinsichtlich krimineller Ansteckung besonders gefährdet. Auf ihren auffälligen N a c h a h m u n g s t r i e b im G u t e n wie im B ö s e n hat 1913 schon Wulffen verwiesen. Es darf daher nicht wundern, daß ein großer Teil der schwachsinnigen Diebe aus eben diesen Verhältnissen stammt. Insoweit liegen Ergebnisse der Untersuchung von Schwind (1973) vor. Unter dessen 594 Probanden befanden sich insgesamt 166 Diebe und Diebinnen. Von diesen wuchsen in Heimerziehung (einschließlich F E ) auf: 32 ( = 19,3%), in ungünstigen familiären Erziehungsverhältnissen

Verbrechen und Schwachsinn (Eltern trunksüchtig, arbeitsscheu, kriminell usw.) immerhin weitere 31 ( = 18,7%). Hinzu kamen noch 29 ( = 17,4%) Oligophrene, die aus strukturell gestörten Familien stammten (unehelich oder Waisen waren), über deren Erziehungsverhältnisse jedoch (aus den Akten) nichts bekannt wurde. 5. Beurteilung der Schuldfähigkeit (§ 51 StGB) Über die Frage der Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit) der Oligophrenen ist im Schrifttum wiederum (relativ) wenig zu finden. Auch der BGH hat hier — soweit ersichtlich — keine festen Grenzen gezogen. Das dürfte vor allem mit daran liegen, daß — wie Mezger (1954) betont hat — „bei der Beurteilung des Schwachsinns alles auf den Einzelfall ankommt" (ebenso ζ. B. Wyrsch 1965). Auch Langelüddeke (1971) schreibt, daß die Frage, „bei welchem Schwachsinnsgrad die erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit beginnt, bei welchem sie in Zurechnungsunfähigkeit übergeht, eindeutig nicht zu beantworten ist". Sie hänge nicht allein vom Grade der Abnormität ab, sondern auch von der Tat selbst: „Ein Schwachsinniger ist etwa für einen von ihm begangenen Diebstahl voll verantwortlich, weil er durchaus die Einsicht in das Unerlaubte der Tat hat; derselbe Schwachsinnige muß aber vielleicht für eine Urkundenfälschung exkulpiert werden, weil er diesem komplizierten Tatbestand nicht gewachsen ist". Darüberhinaus sind nach Mezger für die Beurteilung wichtig: die soziale Lebensführung und Leistungsfähigkeit, die Verbindung mit psychopathischen Elementen, Alkoholschädigungen, Verstimmungszustände und natürlich Affekte. Es ist daher — wie auch Busemann (1959) meint — grundsätzlich „nicht möglich, einen IQ bestimmter Höhe oder ein bestimmtes Intelligenzalter als untere Grenze der Zurechnungsfähigkeit anzusetzen". Einigkeit herrscht lediglich darüber, daß „Idioten den Schutz des § 51 Abs. 1 StGB genießen" (vgl. Seelig-Bellavicl963). Kalpa(1947), ein finnischer Oberarzt, setzt hier die Grenze allerdings wesentlich weiter. Nach Überprüfung von 45 Fällen schwachsinniger Straftäter macht er den Vorschlag, schon Oligophrene mit einem Intelligenzalter unter 9,6 Jahren (also bereits Debile) als zurechnungsunfähig einzustufen (etwa im Sinne der bei den Psychosen bestehenden Konvention). Maßgeblich für diese Grenze soll die Beobachtung sein, daß Delinquenten mit einem niedrigeren Intelligenzalter „nicht begreifen, daß ihre Taten gesetzesfeindlich sind". Und, wenn sie es in „einigen Fällen" immerhin „ahnten", sie jedenfalls nicht in der Lage seien, „entsprechend zu handeln". Eine solche Abgrenzung ist jedoch sicher zu grob; denn sie differenziert nicht nach Taten, Graden des Schwachsinns und begleitenden Psychopathien. Wir erfahren von Kalpa auch nicht, ob und bei welchen Tätern welcher Delikte 29*

451

der Alkohol eine Rolle gespielt hat. Das heißt: der Vorschlag von Kalpa ist unbrauchbar, ganz abgesehen davon, daß seine empirische Basis natürlich zu klein ist. Bessere Anhaltspunkte ergeben insoweit die entsprechenden Resultate der Untersuchung von Schwind (1973). Seine Ergebnisse aus Nordrhein-Westfalen (Beurteilung der Schuldfähigkeit von 594 Probanden) zeigen das folgende Bild: a) eine Konvention (stillschweigende Übereinkunft der psychiatrischen Gutachter) scheint heute dahin zu gehen, daß, außer Idioten, auch schwer Imbezille grundsätzlich für zurechnungsunfähig (schuldunfähig) erklärt werden (ebenso wie Geisteskranke); b) bei den restlichen Imbezillen besteht hingegen über ihre Eingruppierung eine nicht unerhebliche Unsicherheit und zwar unabhängig von der Natur der verübten Delikte; c) Debile erhalten grundsätzlich den Schutz des § 51 Abs. 2 StGB und zwar vor allem dann, wenn auch charakterliche Abarten oder leichte Trunkenheit festgestellt werden; d) hinsichtlich der verübten Delikte sind etwa folgende Unterschiede erkennbar: — bei exhibitionistischen Handlungen führt auch mittlere Imbezillität (b) grundsätzlich zur Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB, — nur leicht debile Diebe werden hingegen durch den § 51 grundsätzlich in keiner Weise geschützt. Also findet auch der Absatz 2 keine Anwendung. (Vgl. im einzelnen dazu ausführlich bei Schwind.) Die Tatsache, daß von 594 Probanden immerhin 522 (88,1%) nach § 51 Abs. 1 oder 2 exkulpiert bzw. milder bestraft wurden, dürfte für den Umfang der strafprozessualen Aufklärungspflicht (vgl. § 160 Abs. 2 und 3 sowie § 244 Abs. 2 StPO) insoweit Bedeutung besitzen, als Richter und Staatsanwalt immer dann, wenn sich Hinweise dafür ergeben, daß ein Beschuldigter schwachsinnig ist, einen Sachverständigen für eine Begutachtung hinzuziehen müßten. Gemeint sind hier vor allem diejenigen Fälle, in denen folgende Anhaltspunkte erscheinen: a) Hilfsschulbesuch (Besuch einer Sonderschule) oder mindestens 2maliges Sitzenbleiben in der • Volksschule und b) eine für Oligophrene typische Straftat (vgl. oben) oder ein Rückfalldelikt. Letzteres deshalb, weil der Anteil der Schwachsinnigen unter Rezidivisten besonders hoch ist; er Hegt hier zwischen 20 und 30% (vgl. dazu Tabelle 1). 6. Möglichkeiten

der präventiven bekämpfung

Verbrechens-

Mögliche Ansätze der Verbrechensbekämpfung bieten sich in zweierlei Richtung, nämlich in bezug auf

452

Verbrechen und Schwachsinn

— die Bekämpfung des Schwachsinns an sich und in Bezug auf — die Bekämpfung der Ursachen der Krimilalität der Oligophrenen. Die zuerst genannte Aufgabe gehört zum Bereich der Sozialpolitik, die zweite ist kriminalpolitischer Art. Die Möglichkeiten einer E i n d ä m m u n g des S c h w a c h s i n n s sind je nach seiner Ursache äußerst verschieden. Wegener hat darauf hingewiesen, daß die Bedeutung der erworbenen Schwachsinnsformen „vermutlich weiter zunehmen wird, da die neuartigen therapeutischen Möglichkeiten gegenüber früher letalen ( = tödlichen) Krankheiten eine Vermehrung von leichten hirnorganischen Defekten mit sich bringen dürften". Die daraus resultierende Hirnleistungsschwäche und Reifungsanomalie führe sodann „zu intellektuellem Versagen und, auf Grund der herabgesetzten Konflikttoleranz, nicht selten auch zu Frühkriminalität" (vgl. auch Lempp, 1958). Nach Benda (1967) leben heute im Bundesgebiet etwa zwei Millionen Zerebralgeschädigte, darunter 300000 mit einem Intelligenzquotienten unter 50. Ewerbeck (1967) hat ergänzend errechnet, „daß wir mit einer jährlichen Zuwachsrate von 6000 Zerebralgeschädigten ( = 0,6% der Lebendgeborenen) . . . rechnen müssen". Es kommt also darauf an, solchen Schäden entgegenzuwirken. Dazu gehört: die materielle U n t e r s t ü t z u n g a l l e r (Erfolg versprechenden) diagnostischen u n d f r ü h t h e r a p e u t i s c h e n M a ß n a h m e n der F e r i n a t a l m e d i z i n , eines neuen Wissenschaftszweiges, der sich mit diesen Fragen beschäftigt (vgl. dazu Saling, Schulte, Kubli und Thalhammer). Die zweite Frage gilt der Bekämpfung des erblichen Schwachsinns. Hier muß es zu denken geben, daß nach Nachtsheim, der sich auf Heise bezieht, die „Vermehrungsrate in den Familien der Hilfsschüler fast doppelt so hoch ist wie in den Familien der Gymnasiasten". Zu entsprechenden Resultaten ist auch Schwind (1973) in NordrheinWestfalen gelangt; von seinen schwachsinnigen Probanden (Straftäter!) besaßen 51,3% fünf und mehr Geschwister. Aufgabe der Sozialpolitik wird es hier sein müssen, durch b e s o n d e r e B e r a tungsstellen für Hilfsschulkinderfamilien gezielte Familienplanung (auch durch freiwillige und kostenlose Sterilisierung) möglich zu machen. Darüberhinaus dürfte erforderlich sein: der N e u b a u und die V e r b e s s e r u n g von R e h a b i l i t a t i o n s e i n r i c h t u n g e n (z. B. von Sonderkindergärten, Sonderschulen, Anlern-Werkstätten usw.), um die soziale Eingliederung der Minderbegabten erleichtern zu helfen und damit k r i m i n e l l e m A b g l e i t e n e n t g e g e n z u w i r k e n (vgl. dazu insbesondere Specht). Hierher gehört auch der Ausb a u der B e h i n d e r t e n f o r s c h u n g . In deren Rahmen sollte ζ. B. geprüft werden, ob die U m s t r u k t u r i e r u n g der h e u t i g e n S o n d e r s c h u -

len (noch halbtags) zu Ganztagsschulen geeignet sein könnte, den schwächer begabten Kindern nicht nur in geistiger Hinsicht weiterzuhelfen, sondern auch ein Gegengewicht gegen ungünstige Umwelteinflüsse (mitunter der eigenen Familie) aufzubauen und fortzuentwickeln. Für den trotz aller Bemühungen dennoch straffällig gewordenen Oligophrenen wäre ein spezieller V e r w a h r u n g s bzw. R e s o z i a l i s i e r u n g s v o l l z u g einzurichten, weil der herkömmliche Strafvollzug eine individuelle Behandlung von Schwachsinnigen nicht zuläßt und eine Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt, wie sie das 2. StrRG (BGBl. 69 I S. 711ff.) in § 65 vorsieht, nicht in Betracht kommt, weil die dort vorgesehene Art der Sozialtherapie, wie ζ. B. Mauch und Mauch ausgeführt haben, Intelligenz vorausgesetzt. — Letztlich kommt im Rahmen der präventiven Verbrechensbekämpfung noch eine Förderung und Straffung der Entlassenenhilfe in Frage, die für Schwachsinnige einer besonderen Ausgestaltung bedarf. Monographien G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 3. Aufl. 1923. H. T ö b b e n : Über den Inzest. 1925. K . B i r n b a u m : Kriminalpsychologie und psychologische Verbrecherkunde. 2. Aufl. 1931. C. W e m m e r : Ursachen und Formen der Asozialität früherer Hilfsschüler. 1932. F . C h a s e l l : The relations between Morality and Intellect. 1935. F . S t u m p f l : Erbanlage und Verbrechen. 1935. Κ . S c h n e l l : Anlage und Umwelt bei 502 Rückfallverbrechern. 1935. A. S c h m i d : Anlage und Umwelt bei 500 Erstverbrechern. 193«. A. B u m k e : Lehrbuch der Geisteskrankheiten. 4. Aufl. 1936. F . R a t t e n h u b e r : Der gefährliche Sittlichkeitsverbrecher. I n : Krim. Abh. 39 (1939). A. M e r g e n : Die Kriminalität der Geisteskranken. 1942. E . de G r e e f f : Introduction ä la Criminologie. 1946. A. E x n e r : Kriminologie. 3. Aufl. 1949. W . S a u e r : Kriminologie als reine und angewandte Wissenschaft. 1950. S h . u n d E . G l u e c k : Unravelling Juvenile Delinquency. 1950. Η. L u i b : Die Bewährung debiler Kinder Im praktischen Leben. 1951 (Diss. Graz). E . R . F r e y : Der frühkriminelle Rückfallverbrecher. 1951. T . F e r g u s o n : The Young Delinquent in His School Setting. 1952. J . W y r s c h : Gerichtliche Psychiatrie. 2. Aufl. 1955. A. B u s e m a n n : Psychologie der Intelligenzdefekte. 1956. F . B a u e r : Das Verbrechen und die Gesellschaft. 1957. G. E w a l d : Neurologie und Psychiatrie. 4. Aufl. 1959. J . F i s c h e r : Uber die Bewährung ehemaliger Hilfsschüler. 1960 (Diss. Erlangen). N. S c h i p k o w e n s k y : Schwachsinn und Verbrechen, Geistesschwäche und Zurechnungsfähigkeit. 1962. S e e l i g - B e l l a v i c : Lehrbuch der Kriminologie. 3. Aufl. 1963. D. W e c h s l e r : Die Messung der Intelligenz Erwachsener. 2. Aufl. 1964. H. R. L ü c k e r t : Die Problematik der Intelligenzdiagnostik. 1965. A. S c h m i d t : Probleme der Kriminalität geisteskranker Täter. 1970.

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VERBRECHEN UNTER TOTALITÄRER HERRSCHAFT D a s totalitäre Verbrechen, d. h. die v o m staatlichen Herrschaftsapparat n i c h t b e k ä m p f t e , sondern i m Gegenteil gerade ausgelöste Kriminalität, i s t als besondere strafrechtlich erfaßbare F o r m kriminellen Verhaltens bisher k a u m ins öffentliche B e w u ß t s e i n getreten u n d kriminologisch n o c h n a h e z u unerforscht. Staatlich befohlene u n d organisierte Einzel- u n d Massentötungen, kollektive Gewalt- u n d Verfolgungsakte bis hin z u m planmäßig betriebenen Völkermord (-> Genocidium) h a t es zwar zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte bis i n die Gegenwart hinein g e g e b e n ; sie stellten jedoch ein v o n den jeweiligen Machthabern sorgfältig gehütetes Dunkelfeld dar, i n das einzudringen der Wissenschaft w e i t g e h e n d verwehrt blieb. Auch waren sie der strafrechtlichen Aburteilung entzogen u n d wurden schon deshalb nicht als m i t rechtlichen Maßstäben zu bewertende Kriminalität, sondern als kollektives, transpersonales Geschehen, als Begleiterscheinung v o n Krieg u n d Politik begriffen. Erst der in der Geschichte einmalige, m i t den Nürnberger Prozessen beginnende Versuch der Nachkriegsjustiz, die Gewaltverbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus z u m Gegenstand v o n Strafprozessen zu machen, h a t eine neue E n t w i c k l u n g in der Beurteilung kollektiven Terrors eingeleitet u n d a u c h der kriminologischen Forschung erste Einblicke i n die Besonderheiten dieses Verbrechenstyps eröffnet. Vor allem sind die Bedingungen, unter denen der Einzeltäter a m Terror mitwirkte, deutlicher erkennbar geworden. D a g e g e n fehlt es an Untersuchungen über die Täterpersönlichkeit bisher n o c h völlig.

A . Kriminalitätsumfang Über die Zahl der an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligten Personen lassen sich keine wirklich zuverlässigen Aussagen machen, einmal w e g e n ihrer großen Dunkelziffer, mehr aber n o c h deshalb, weil der Umkreis der kriminellen Teiln a h m e strafrechtsdogmatisch unzureichend geklärt ist. Unter diesen U m s t ä n d e n i s t die gelegentlich aufgestellte Behauptung, es m ü s s e v o n einem Teilnehmerkreis v o n e t w a 100 000 Personen ausgegangen werden, weder zu bestätigen n o c h zu widerlegen. Einigermaßen präzise A n g a b e n lassen sich dagegen über die Zahl der bisher in Strafverfahren

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Verbrechen unter totalitärer Herrschaft

verwickelten Personen machen. So ergibt sich aus einem Bericht des Bundesministers der Justiz vom 26. 2.1965 (Bundestagsdrucksache IV/3124), daß seit dem Kriegsende bis zum Ende des Jahres 1964 auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten gegen 61 761 Beschuldigte Ermittlungsverfahren durchgeführt worden sind. Bei 41 212 Personen wurden die Verfahren ohne Verurteilung endgültig abgeschlossen, und zwar durch Freispruch, Außerverfolgungsetzung, Nichteröffnung des Hauptverfahrens, Einstellung des Verfahrens oder durch den Tod des Beschuldigten. Anhängig waren am 1.1.1965 noch Verfahren gegen 13 892 Personen. 6115 Personen wurden verurteilt. Diese Zahl hat sich in den darauffolgenden Jahren nur geringfügig vergrößert: Einer 1971 veröffentlichten Statistik zufolge wurden auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit vom 8. 5.1945 bis 31.12.1970 wegen nationalsozialistischer Gewalt- und Kriegsverbrechen 6181 Angeklagte durch deutsche Gerichte rechtskräftig zu einer Strafe verurteilt (Rückerl 1971, S. 197). Außerdem wurden 5025 Angeklagte von alliierten Gerichten verurteilt. Über die Zahl der im Ausland abgeurteilten Deutschen liegt zuverlässiges statistisches Material nicht vor.

B. Typologie der Beteiligung Die folgende Typologie versucht, das Bild der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen kriminalphänomenologisch zu differenzieren, indem sie zeigt, auf welch verschiedenartige Weisen individuelle Taten und Tatbeiträge mit dem Kollektivnetz des Terrors verflochten waren. Dabei müssen von Anfang an drei Erscheinungsformen totalitärer Kriminalität unterschieden werden: 1. befehlslose Verbrechen (Exzeßtaten), 2. relativ selbständige Formen der Befehlsausführung (Initiativtaten) und 3. unselbständige Formen der Ausführung, bei denen ein individueller Einfluß auf das Geschehen nicht bestand (Befehlstaten). 1.

Exzeßtaten

Zunächst gehören zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität Verbrechen, die völlig ohne jeden Befehl begangen wurden. Es sind zwar Taten aus eigenem Antrieb; von „normalen" Individualverbrechen unterscheiden sie sich jedoch dadurch, daß sie kriminologisch an bestimmte Umweltverhältnisse — totalitäre Herrschaft, kollektiven Terror, politisch-ideologische Massenindoktrination, Veränderungen der sozialethischen Wertvorstellungen, Beschränkungen der Strafrechtspflege — gebunden sind. Man könnte sie deshalb als individuelle Taten in kollektiven Ausnahmezuständen kennzeichnen.

a) U n g e d e c k t e T a t e n . Eine Randerscheinung dieser Kriminalität bilden Verbrechen, die vom Staatsapparat nicht in vollem Umfang gedeckt, sondern als unerlaubte Übergriffe betrachtet und teilweise sogar strafrechtlich verfolgt wurden; ihre Zahl ist allerdings, verglichen mit dem Ausmaß des befohlenen und geduldeten Unrechts, verschwindend gering. Vor allem aus der ersten, bis in den Krieg hineinreichende Phase der nationalsozialistischen Herrschaft sind Fälle bekannt, in denen eigenmächtige Terrorakte, ζ. B. Gewaltakte einzelner Fanatiker oder Taten unter Alkoholeinfluß, als Rechts- und Disziplinarverstöße behandelt wurden. Außerdem konnte die Verbindung von Terror und privater Kriminalität zur Strafverfolgung führen. So kam es in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 zu kriminalistischen Untersuchungen in Konzentrationslagern, die an sich der Aufklärung von Korruptionserscheinungen galten, gleichzeitig jedoch Mordtaten ans Licht brachten, deren Überprüfung nicht ohne weiteres unterdrückt werden konnte und die bereits damals in 400 Fällen zur Anklage und in 200 Fällen zur Verurteilung von SS-Angehörigen, und zwar auch zu Todesurteilen, führten. Problematischer ist die Situation dort, wo Taten im Widerspruch zu ausdrücklichen Anordnungen standen, strafrechtlich jedoch folgenlos blieben. Sie waren zwar verboten, im Endeffekt aber doch dem strafrechtlichen Zugriff entzogen. So kam es in einzelnen Lagern zu Mordtaten, obwohl die ausdrückliche Weisung bestand, die Häftlinge zu schonen, um sie wichtigen Rüstungsbetrieben als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Auch verbotswidrige, ohne höhere Anordnung verhängte oder in grausamer Übertreibung vollzogene Lagerstrafen müssen zur ungedeckten Kriminalität gerechnet werden. b) W i l l k ü r a k t e . Vor allem in Konzentrations-, Vernichtungs-, Arbeitslagern und Gettos —• also unter den Extrembedingungen totaler Machtausübung — wurden in kaum beschreibbarem Ausmaß Verbrechen begangen, die entweder stillschweigend geduldet oder ausdrücklich gebilligt wurden. Manche dieser Mordtaten wurden in völlig unkontrollierten Machtpositionen verübt, während in anderen Fällen jedenfalls allgemeine Richtlinien bestanden, die jedoch den Tätern, was Tötungsumfang, Ausführungsart und Häftlingsauswahl betrifft, fast völlige Handlungsfreiheit ließen. Das Erscheinungsbild dieser Verbrechen unterscheidet sich auch darin, daß bei einem Teil von ihnen planmäßige Systematik, ja geradezu Routine erkennbar wird, während andere Gewaltakte momentanen Stimmungen, Launen, Impulsen oder Affektausbrüchen entsprangen oder unter Alkoholeinfluß begangen wurden. Angehörige des Lagerpersonals töteten die ihnen ausgelieferten Häftlinge oft ganz nach Belieben; dabei genügte es, daß ihnen das Gesicht eines Häftlings nicht

Verbrechen unter totalitärer Herrschaft paßte, um ihn zu mißhandeln, zu erschießen oder zur Vergasung zu schicken. Die Zahl der auf diese Weise durch einzelne Täter ermordeten Opfer geht oft in die Hunderte; in manchen Fällen ist sie nicht annähernd zu schätzen. Manche Verbrechen hatten absurde, künstlich provozierte Scheinanlässe, etwa wenn ein Funktionär einen Häftling nach seinem Ergehen oder seiner Herkunft fragte und ihn dann, wenn er ganz harmlos geantwortet hatte, unvermittelt erschoß. Häufig machten sich Angehörige des Lagerpersonals ein Vergnügen daraus, Häftlinge in die Postenkette zu jagen; die beabsichtigte Folge war, daß Wachtposten den „Flüchtling" niederschossen. In anderen Fällen sind Verbrechen als lynchartige Ausbrüche von Rassenhaß zu betrachten. Oft hängen die Kriterien, die bestimmte Häftlinge oder Häftlingsgruppen zu „bevorzugt e n " Opfern von Gewalttaten werden ließen, mit der ungeschriebenen Norm der Konzentrationslager zusammen, daß ein Häftling nicht „auffallen" durfte. Zu den Auffälligkeiten, die tödlich sein konnten, gehörten äußere Eigentümlichkeiten und körperliche Defekte, ζ. B . Korpulenz, Gehbehinderungen, Mißbildungen, Schmächtigkeit und Gebrechlichkeit. Gefährdet waren auch Kranke, die zum Appell getragen werden mußten. Bei manchen Fällen treten Sozialressentiments als Aus Wahlprinzip zutage, etwa wenn sich die Täter gerade Akademiker als Opfer aussuchten. Gezielte Gewalttätigkeiten richteten sich auch gegen Häftlinge, von denen bekannt war, daß es sich um prominente Gegner des Systems handelte. Besonders aufreizend wirkte es auf das Lagerpersonal, wenn ein Häftling unbeugsames Selbstbewußtsein oder Verachtung gegenüber der SS erkennen ließ oder der Lagerverwaltung durch Beschwerden lästig wurde. In anderen Fällen war die Gewaltanwendung vor allem Mittel zum Zweck, auch wenn es oft von irrationalen Antrieben abhing, ob und in welcher Weise die Täter von diesem Mittel Gebrauch machten. Das gilt namentlich für die Folter als Mittel der Aussageerpressung. Einen Teil der Verbrechen wird man als reaktive, strafähnliche Gewaltakte beschreiben können, die in angeblichen Verfehlungen der Häftlinge ihren Anlaß — oder Vorwand — hatten. Jedes noch so kleine Vergehen konnte mit dem Tode geahndet werden. So konnte es beispielsweise für Häftlinge lebensgefährlich sein, die Mütze nicht vorschriftsmäßig abzunehmen oder einen Lagerfunktionär „schlecht zu grüßen". c) A k t i o n s e x z e s s e . Individuelle Willkürakte waren nicht nur mit dem stationären Terror der Lager, sondern auch mit kollektiven, jedoch nicht unmittelbar auf Vernichtung gerichteten Verfolgungsakten — ζ. B. Razzien, „Durchkämmungen" von Judenvierteln, Gettoräumungen und Deportationen — verbunden. Allerdings weicht die

455

Befehlssituation von derjenigen der KZ-Verbrechen insofern ab, als hier jedenfalls die Aktionsbeteiligung als solche im allgemeinen auf Befehle zurückzuführen ist. Dagegen müssen die einzelnen Tötungsverbrechen, die im Verlauf solcher Aktionen begangen wurden, vielfach als Spontantaten angesehen werden. Das gilt ζ. B. für jene Fälle, in denen Funktionäre plötzlich ohne jeden ersichtlichen Anlaß in eine Ansammlung festgenommener, auf den Abtransport wartender Juden hineinschossen oder an der Peripherie der Aktion selbständig Häftlinge töteten. Andere Gewalttaten standen in engerem Zusammenhang mit der Terroraktion selbst. So wurden bei der Festnahme und Verschleppung der Juden oft kranke, hilflose, alte, gebrechliche, schwangere oder verkrüppelte Häftlinge niedergeschossen, bei längeren Fußmärschen auch diejenigen, die hinfielen oder aus Entkräftung hinter der Marschkolonne zurückblieben. Immer wieder wurden auch Häitlinge niedergeschossen oder erschlagen, wenn sie für sich oder Angehörige um Gnade flehten, bittende Bewegungen machten oder sich bemühten, nicht von ihren nächsten Verwandten getrennt zu werden. Die psychologische Situation der Täter ist oft nur schwer zu beurteilen. In einem Teil der FäUe mag eine Rolle gespielt haben, daß Funktionäre durch rigorose Gewaltanwendung den raschen und möglichst komplikationslosen Abtransport der Opfer erzwingen wollten. Zum Teil kann es sich auch um die mechanische Befolgung genereller Weisungen gehandelt haben. Es gibt aber auch Fälle, in denen die kollektive Atmosphäre der Rechtlosigkeit und allgemeinen Grausamkeit triebhafte, irrationale Verbrechensimpulse freisetzte, die zu Mord und Mißhandlung führten. d) W i l l f ä h r i g k e i t s t a t e n . Bei anderen Verbrechen ist zwar eine Anpassung des Täters an den Willen seiner Vorgesetzten erkennbar; es fehlt jedoch an ausdrücklichen Anordnungen. Die Absichten der Vorgesetzten wurden oft nur als beiläufige Anregungen, Wünsche, Hinweise oder allgemeine, manchmal verschlüsselt ausgedrückte Richtlinien geäußert, oder sie konnten von den Untergebenen sogar nur „erfühlt" werden. Das System des Terrors wurde also nicht allein durch Befehle gesteuert, sondern es basierte zum Teil auch auf mittelbaren psychologischen Lenkungsmethoden, bei denen das im Sinne des Regimes „richtige" Verhalten nicht einfach befohlen wurde, sondern von den Funktionären interpretierend ermittelt werden mußte. Dieser Mechanismus von indirekter Beeinflussung und willfähriger Anpassung, der an die Stelle von Befehl und Gehorsam trat, funktionierte im allgemeinen so zuverlässig, daß die Führung, wenn sie bei verbrecherischen Aktionen nicht offiziell in Erscheinung treten wollte, sich ganz im Hintergrund halten und auf ausdrückliche Weisungen verzichten konnte; den-

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noch konnte sie sich darauf verlassen, daß ihrem Willen, wenn sie ihn in irgendeiner Form hatte erkennbar werden lassen, entsprochen wurde, weil sich immer Funktionäre fanden, die auch undeutlich und verklausuliert geäußerten Wünschen ohne weiteres nachkamen. So gab es in den Konzentrationslagern Häftlinge, von denen bekannt war, daß sich in ihren Personalakten der Vermerk „Rückkehr nicht erwünscht" befand. In anderen Fällen genügte der Hinweis des Vorgesetzten, daß es sich bei bestimmten Häftlingen nur um „unnütze Fresser" handele, die er nicht mehr sehen wolle, um den Unterführern und Kapos deutlich zu machen, was von ihnen erwartet wurde. Der Methodik befehlsloser Lenkung bediente sich das Regime auch dort, wo es Anreize zur Begehung von Verbrechen schuf, etwa indem es für die Erschießung von Häftlingen bei sogenannten Fluchtversuchen Prämien aussetzte und Komplikationen für die Täter durch die Anordnung ausschaltete, daß Wachtposten von anschließenden Vernehmungen „möglichst zu verschonen" seien, um sie nicht „unsicher zu machen". Die Situation des willfährigen Täters war also dadurch gekennzeichnet, daß die offizielle Verhaltenserwartung eindeutig war: die Häftlinge waren gewissermaßen „zur Tötung freigegeben"; für den Täter, der sie erschoß, erschlug oder auf andere Weise umbrachte, bestand jedoch kein Befehl, den Willen seiner Vorgesetzten in die Tat umzusetzen. Die Unterlassung des Verbrechens hätte ihm daher auch nicht den Vorwurf des Ungehorsams einbringen können; nur hätte er sich die „Chance" entgehen lassen, sich im Sinne des Systems besonders zu „bewähren". e) P o g r o m b e t e i l i g u n g . Für bestimmte Formen des Massenverbrechens, besonders Pogrome, war typisch, daß sie zwar oft als Gesamtaktion gesteuert, in bezug auf das Einzelverhalten jedoch relativ willkürlich waren. Die Steuerung bestand darin, daß die Machthaber und ihre Rädelsführer der Aggressivität ihrer bereits fanatisierten oder planmäßig aufgehetzten Anhängerschaft eine bestimmte Richtung gaben und sich auf diese Weise einer latenten Verbrechensbereitschaft als Terrorinstrument bedienten; gelenkt war in solchen Fällen jedoch nicht der konkrete Verlauf, sondern nur die Auslösung des Pogroms. Der einzelne Täter sah sich daher oft keinen bestimmten, sein Verhalten genau festlegenden Anordnungen gegenüber, sondern war nur in eine im massenpsychologischen Sinne suggestive Kollektivsituation mit bestimmten akuten Gewalttendenzen einbezogen. Besonders deutlich wird der Mechanismus der „gelenkten Spontaneität" am Beispiel der Novemberpogrome des Jahres 1938 (der sogenannten „Reichskristallnacht"). Obwohl die Aktionen des 9. November zentral dirigiert waren, müssen doch die einzelnen Verbrechen zum Teil als spontane,

befehlslose Gewaltakte angesehen werden, so daß von einem genau fixierten Befehlsverhalten zumeist nicht gesprochen werden kann. Die Methode, Pogrome zu organisieren, hat nicht nur in der Vorkriegszeit eine Rolle gespielt, sondern sie wurde später zum festen Bestandteil der Massenvernichtungstechnik. Bereits die Entfesselung des Terrors in Polen in den Jahren 1939/40 war ein „Gemisch von organisierter Aktion und freier Willkür" (Broszat). Vor allem aber haben sich die Einsatzgruppen des Pogroms bedient, indem sie antisemitische Kräfte in den eroberten Ostgebieten zu judenfeindlichen Gewaltaktionen, zu selbständigen Razzien und Massenerschießungen mobilisierten. Die Absicht, die hinter dieser Taktik steckte, war einmal, die eigenen Einheiten zu entlasten; vor allem aber ging es den Einsatzgruppen um eine psychologisch und propagandistisch wichtige Verlagerung der Verantwortung auf die einheimische Bevölkerung. f) E i g e n m ä c h t i g e B e f e h l e . Auch größere Vernichtungsaktionen waren nicht immer nahtlos in das System der Massenvernichtung eingefügt. Manche Tatkomplexe — ζ. B . Liquidierungen aus situationsgebundener Zweckmäßigkeit, lokalisierte Pogrome, „wilde" Aktionen im Rahmen der Judenvernichtung, eigenmächtige Terrormaßnahmen einzelner SS-Führer — müssen als dezentralisierte, organisatorisch selbständige Kollektivverbrechen betrachtet werden, bei denen die Urheberschaft einzelner Befehlsgeber nachweisbar ist. Die Selbständigkeit solcher Kollektivexzesse war allerdings unterschiedlich groß. In manchen Fällen handelt es sich um Tötungsbefehle innerhalb größerer Aktionszusammenhänge. Das gilt beispielsweise für die massenweise Tötung von Häftlingen als „Maßnahme der Seuchenbekämpfung", für die Selektion arbeitsunfähiger Häftlinge, um in überfüllten KZ-Unterkünften und Krankenrevieren „Platz zu schaffen", für die Ermordung „nutzloser Esser" oder für „vorweggenommene" Vernichtungen, wenn der Transportraum in den Deportationszügen nicht ausreichte. Daneben kam es aber auch zu Pogromen, die von einzelnen Funktionären eigenmächtig ausgelöst wurden. 2.

Initiativtalen

Die meisten Verbrechen oder verbrecherischen Teilakte — vor allem solche, die im Rahmen des Vernichtungssystems begangen wurden — lassen sich auf Befehle zurückführen. Trotzdem konnte der einzelne Täter auf relativ selbständige Weise an ihnen beteiligt sein. Sehr oft zeigt die genauere Verhaltensanalyse, daß die Ausführung auch von persönlichen Antrieben mitbestimmt wurde. a) F r e i w i l l i g e B e t e i l i g u n g . Das gilt in erster Linie für Fälle der Freiwilligkeit, d. h. für die der befehlslosen Beteiligung an befohlenen

Verbrechen unter totalitärer Herrschaft Verbrechen. Die Befehlssituation des Kollektivs ist hier eine völlig andere als die des einzelnen. Im Extremfall konnte eine Einheit, die auf Befehl mordete, ausschließlich aus Freiwilligen bestehen. Allerdings ist die psychologische Situation einer solchen Freiwilligkeit oft nur schwer zu beurteilen. Nicht immer ist eindeutig zu erkennen, ob ein Exekutionsteilnehmer wirklich aus eigenem Antrieb handelte oder dem für totalitäre Verhältnisse so typischen „freiwilligen Zwang" unterlag, bei dem zwar die Entscheidungsfreiheit formal gewahrt war, der einzelne sich jedoch dem Appell an die Freiwilligkeit nur schwer entziehen konnte. Auch ist der Vorgang der Abstumpfung in Betracht zu ziehen: was zunächst auf Befehl geschah, konnte später selbstverständlich werden. Immerhin gibt es manche Anhaltspunkte dafür, daß die Zahl derjenigen, die ohne jeden psychologischen Druck an Massentötungen teilnahmen, sich Exekutionstrupps anschlossen, ihre Mithilfe anboten oder an der Exekutionsstätte von sich aus mitschossen, nicht ganz klein gewesen sein kann. Aussagen und Berichten ist zu entnehmen, daß für freiwillig mitwirkende Angehörige der SS oder der Einheimischenverbände oft ein Anreiz darin bestand, daß bei den Exekutionen Vergünstigungen zu gewinnen waren. Auch aus Konzentrationsund Vernichtungslagern lassen sich Fälle von Freiwilligkeit nachweisen, ζ. B. Meldungen zum Vollzug von Lagerstrafen, aber auch Andrang zu Vergasungsaktionen wegen der dabei abfallenden Sonderverpflegung. b) S e l b s t ä n d i g e E i n z e l t a t e n . Aber selbst dort, wo der Einzelne auf Befehl an Vernichtungsaktionen teilnahm, konnten Verbrechen, die er im Verlauf solcher Aktionen beging, durchaus auch spontan sein. Sie waren zwar im allgemeinen durch generelle Befehle gedeckt, konnten dabei aber persönlichen und ganz momentanen Antrieben entspringen. Oft bestanden Rahmenbefehle, die ζ. B. generell anordneten, daß jeder Jude zu erschießen sei; es fehlte jedoch an konkreten Weisungen in der jeweiligen Tatsituation. Immer wieder finden wir auch Fälle, in denen Einzeltäter, aber auch ganze Einheiten außer befohlenen Tötungen noch zusätzliche Gewalttaten begingen. In anderen Fällen kann insofern von einer Verselbständigung des Verbrechens gesprochen werden, als Tötungen, die zunächst nur auf ausdrücklichen Befehl begangen wurden, später relativ eigenmächtig fortgeführt wurden. Der Befehl hatte in solchen Fällen nur die Bedeutung eines Initialvorgangs, der eine umfangreiche verbrecherische Gesamtaktivität auslöste, ohne jedoch das Einzelverhalten genau zu steuern und eine Eigeninitiative des Befehlsempfängers auszuschließen. c) E i g e n e B e f e h l s g e w a l t . Initiative gab es auch dort, wo Funktionäre eigene Entscheidungen zu treffen hatten. Obwohl die „Endlösung" auf

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einen — allerdings niemals schriftlich fixierten — Grundsatzbefehl Hitlers zurückführbar ist, kann der Verlauf dieser riesenhaften, weitverzweigten Vernichtungsaktion doch nicht einfach als zentralgesteuerter, mechanischer Ausführungsvorgang angesehen werden, der dem individuellen Einfluß völlig entzogen war. Der Befehl bedurfte im Einzelfall immer noch der weiteren Konkretisierung und Anpassung an unvorhersehbare Situationen und wechselnde Interessen; er war auch, ζ. B. was den Umfang der Vernichtung betraf, einer weiteren Interpretation bedürftig. Bereits das Prinzip der Arbeitsausbeutung und Selektion enthielt eine Modifikation des Befehls, der nur eine allgemeine Richtlinie schaffen, nicht aber die zahllosen Funktionäre, die an den Verbrechen mitwirkten, über Jahre hinweg auf ein bestimmtes Verhalten in sämtlichen nur denkbaren Situationen festlegen konnte. Mindestens für viele höhere Funktionäre gab es daher einen Ermessensspielraum für eigene Entscheidungen. Gerichtliche Urteile enthalten daher immer wieder die Feststellung, daß Führer einzelner Einheiten, ζ. B. Leiter von Einsatzkommandos, in ihrem Bereich die einzigen Befehlsgeber waren, die über Umfang und Intensität der Vernichtungsaktionen weitgehend selbständig entscheiden konnten. d) I n i t i a t i v e n a c h oben. Der organisatorische Mechanismus der Massenvernichtung funktionierte aber nicht nur aufgrund einer streng hierarchischen Befehlslenkung „von oben nach unten", sondern es gab auch eine „Initiative nach oben". Untere Dienststellen hatten Vorschläge zu unterbreiten und konnten Anregungen geben, die entweder gebilligt oder abgelehnt wurden. Zwar blieb die Hierarchie der Entscheidungsbefugnisse gewahrt; die untergeordneten Dienststellen erlangten jedoch durch ihren praktischen Einfluß auf die Aktionen eine gewisse Schlüsselstellung in dem Geschehen, während die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten in solchen Situationen mehr den Charakter von Ermächtigungen und Genehmigungen bekamen. Eine solche Initiative hat es einmal bei den Judenreferenten in den besetzten Gebieten gegeben; sie hat im übrigen überall dort eine Rolle gespielt, wo es sich um Verbrechen von Experten — wie ζ. B . bei den medizinischen Menschenversuchen — handelte. e) K o o p e r a t i v e s V e r h a l t e n . Als Initiative innerhalb gelenkter Aktionen müssen auch viele Tatbeiträge betrachtet werden, mit denen einzelne Funktionäre die Massenvernichtung förderten. Schließlich ist nicht jedes menschliche Verhalten befehlbar. Viele intellektuelle Tatbeiträge beispielsweise waren ihrer ganzen Natur nach jeder Befehlslenkung entzogen. Ein Funktionär konnte zwar den Befehl bekommen, an einer Erschießung teilzunehmen, jedoch nicht gezwungen werden, bestimmte Ideen und Einfälle zu haben, wie die Vernichtung technisch am besten durchzuführen

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sei. Bestimmte Formen der Beteiligung waren daher nur kooperativ möglich; sie setzten die Bereitschaft zur Mitwirkung voraus. Gaswagen, Gaskammern, Totbade- und Genickschußanlagen, in denen die Opfer bei vorgetäuschten ärztlichen Untersuchungen vom Nebenraum aus erschossen wurden, mußten schließlich erst erdacht und geschaffen werden; sie waren nicht von Anfang an vorhanden und durch den Befehl bereits vorgegeben. f) P e r s ö n l i c h e A k t i v i t ä t . Immer wieder hingen Umfang und Tempo der Massenvernichtung — und damit das Schicksal vieler Menschen — von der Energie ab, mit der leitende, aber auch untergeordnete Funktionäre die Aktionen vorantrieben. Das Verhalten mancher Einsatzgruppen- und Einsatzkommandoführer bot das Bild extremer persönlicher Aktivität. Sie versuchten Schwierigkeiten, wie sie sich gerade im ersten Stadium der Massenvernichtung notwendig ergaben, mit allen Mitteln zu überwinden, machten Vorschläge, wie ein reibungsloser Ablauf der Exekutionen am besten zu gewährleisten sei, widersprachen Einwänden ihrer Untergebenen, beschwichtigten Bedenken, bemühten sich, das Geschehen zu tarnen und drängten auf schnelle Ausführung der Befehle. Manche Führer beteiligten sich, wie es in einem Urteil heißt, „mit einer geradezu eisernen Konsequenz" an der Vernichtung, so etwa, wenn sie dafür sorgten, daß wirklich alle Juden einer Ortschaft zusammengetrieben wurden und möglichst keiner von ihnen seinem Schicksal entging. Bei Initiativtätern dieses Typs sind Prestige und Ehrgeiz oftmals als Motive des Handelns deutlich zu erkennen. Für viele galt es als „Ehrensache", Tötungsrekorde zu brechen. Sie traten für die restlose Vernichtung der Juden ein und waren, wie etwa der Auschwitzkommandant Höß, von ihrem Auftrag „voll erfüllt, ja besessen", wurden durch alle auftretenden Schwierigkeiten zu vermehrtem Eifer angespornt, wollten sich „nicht unterkriegen lassen", weil ihr Ehrgeiz das nicht zuließ, ja sie fühlten sich mit ihrer „schweren Aufgabe" verwachsen (Höß). Einsatzkommandoführer wollten „Zahlen sehen", bemängelten die zu geringen, im Vergleich zu anderen Einheiten schlechteren Erschießungsziffern oder stritten sich sogar um das Recht, Vernichtungsaktionen durchzuführen. Oft ist die individuelle Wirksamkeit gerade höherer Funktionäre — etwa der Einfluß eines Kommandanten auf das Lagerpersonal •— nur unzureichend aufzuhellen, da es sich hierbei, anders als bei den groben Fakten, um die es bei unmittelbaren Taten und bei Befehlen geht, um komplizierte und oft subtile psychologische Tatbestände handelt. Um so aufschlußreicher ist es, wenn sich einmal unter besonders günstigen Beweisbedingungen Anhaltspunkte für die per-

sönliche Rolle eines solchen Täters finden lassen, etwa indem Vergleiche darüber angestellt werden können, wie sich zwei verschiedene Personen in ein und derselben äußeren Situation verhalten haben. So hatte der Kommandantenwechsel in Auschwitz im November 1943 zur Folge, daß sich das ganze Klima im Lager änderte, weil der neue Kommandant individuelle Grausamkeiten nicht mehr honorierte, ja einige extreme Brutalitäten sogar abstellte (Langbein 1963). Immer wieder kommt zum Vorschein, daß die individuellen Verhaltensunterschiede, sobald das Tatbild nur deutlich genug erkennbar wird, erheblich sind; eine Erkenntnis, die zeigt, wie fragwürdig die Auffassung ist, daß in der Extremsituation totalitärer Herrschaft alles Individuelle eingeebnet und zum Instrument in den Händen der Machthaber werde. g) A u s f ü h r u n g s v e r h a l t e n . Selbst noch im Ausführungsverhalten, also in der Endstufe der Vernichtung, sind individuelle Verhaltensvarianten erkennbar. Bei den Erschießungsaktionen der Einsatzkommandos etwa reicht die Skala von extremen seelischen Belastungssituationen bis hin zu schweren pogromartigen Ausschreitungen, in deren Verlauf zusätzliche Grausamkeiten verübt wurden. Bemerkenswert ist, daß spontane Unmenschlichkeiten der unmittelbar an Exekutionen Beteiligten offenbar immer von denselben Gestapo- und SD-Angehörigen verübt wurden und die Mehrheit an ihnen nicht teilnahm. Man wird sie daher nicht ohne weiteres als typische Folgeerscheinungen verbrecherischer Extremsituationen werten können. Der ganze Komplex des Ausführungsverhaltens bei Einsatzkommandomorden ist jedoch nur unzulänglich aufklärbar, da er bisher fast niemals den unmittelbaren Gegenstand eines Strafverfahrens gebildet hat. 3.

Befehlstaten

Von Befehls- oder Gehorsamstaten sollte nur in Fällen völlig unselbständiger Kriminalität gesprochen werden, in denen das individuelle Verhalten durch Befehle genau festgelegt war und den Tätern kein Raum für eigenes Ermessen blieb. Eine Differenzierung ist hier nur aufgrund der unterschiedlichen Motivlagen der Befehlsempfänger möglich. a) Ü b e r z e u g u n g s t a t e n . Zunächst findet man immer wieder Fälle, in denen sich Befehlsempfänger mit den Vernichtungsplänen der Staatsführung identifizierten, weil sie als Antisemiten der Ausrottung der Juden zustimmten, das Regime unterstützen wollten oder die Massenliquidierungen für „politisch richtig und kriegsnotwendig" hielten. Das schließt nicht unbedingt aus, daß die Beteiligung an Erschießungen in manchen Fällen als „unangenehme" und „schwere" Aufgabe empfunden wurde, besagt jedoch, daß die Täter nicht nur mechanisch gehorchten, sondern als über-

Verbrechen unter totalitärer Herrschaft zeugte Anhänger des Systems handelten. So äußerten Angehörige von Einsatzkommandos, daß sie trotz ihrer Abneigung gegen die Exekutionen entschlossen gewesen seien, Tötungen, soweit sie ihnen befohlen wurden, auszuführen, „um der obersten Führung bei der Verwirklichung ihrer Ziele zu helfen und das nationalsozialistische Regime zu unterstützen". Selbst dort, wo innere Vorbehalte gemacht wurden, was oft nicht genau zu klären, aber auch nicht zu widerlegen ist, überwog doch bei vielen letztlich das Gefühl, daß es sich um „harte, aber notwendige Maßnahmen in einer ideologischen Auseinandersetzung" handelte. Im ganzen ist die Situation ähnlich wie bei vielen Initiativtätern, von denen sich dieser Verhaltenstyp oft nur schwer abgrenzen läßt; der Unterschied liegt allein in der festgelegten, durch Befehle vorbestimmten Ausführungsweise. b) A u t o m a t i s c h e r G e h o r s a m . Bei einer bestimmten Form des Gehorsams kann von einer Zwangslage schon deshalb nicht gesprochen werden, weil es für die Täter ganz selbstverständlich war, die ihnen erteilten Befehle zu befolgen; sie kamen nicht einmal auf die Idee, sich der Ausführung zu entziehen, noch hatten sie das Bewußtsein, unter äußerem Druck zu handeln. Sie „stellten damals keine Überlegungen an", „erlaubten" sich kein Urteil und machten sich keine Gedanken, ob die Massenvernichtung notwendig war oder nicht: sie hatten den Befehl bekommen und ihn daher durchzuführen (ζ. B. Höß). Charakteristisch für den hier gemeinten Gehorsamstyp ist also die Eliminierung des eigenen Urteils; es fehlen nicht nur persönliche Überzeugungen und Eigeninteressen, sondern umgekehrt auch Konfliktsmöglichkeiten. Manche Täter betrachteten sich als „instrumentalisiert und funktionalisiert": selbst wenn sie die Erschießungen „innerlich ablehnten", hatten sie doch zu „funktionieren". Diesen Typ des autoritären Gehorsamstäters verkörpern nach einer Bemerkung von HorstEberhard Richter „an sich geordnete und keineswegs immer undifferenzierte Individuen, bei denen nur in erschreckendem Ausmaß die Rolle der persönlichen Gewissens-Instanz an eine äußere Autorität übergegangen ist". Die Situation des Täters besteht also hier in seiner konfliktfreien Unterwerfung unter die Autorität, von der er abhängig ist. Um diesen konfliktlosen Gehorsam herum kristallisieren sich allerdings gelegentlich Motivlagen, die jedenfalls den Anflug eines ganz oberflächlichen inneren Konflikts erkennbar werden lassen, so etwa, wenn das Bewußtsein, „wehrlose Menschen über den Haufen schießen" zu müssen, durchaus vorhanden war. c) K r i m i n e l l e N e b e n m o t i v e . Bei manchen Verbrechen, die auf Befehl begangen wurden, sind kriminelle Eigenmotive des Befehlsempfängers erkennbar, die es ausschließen, seine Handlungen

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nur unter dem Aspekt des Gehorsams zu sehen. Dazu gehören zunächst jene Fälle, in denen der Befehl den sadistischen Wünschen des Ausführenden entgegenkam. Nicht selten lassen sich bei solchen Tätern außer den befohlenen Verbrechen auch Exzeßtaten nachweisen. Außerdem war die Befolgung von Terrorbefehlen gelegentlich mit materiellen Interessen verbunden. Obwohl persönliche Bereicherung offiziell streng verpönt war, war bei der Judenverfolgung doch unzweifelhaft „etwas zu holen". Es gab Täter, für die Terroraktionen zu Beutezügen wurden und die sich bei der Festnahme oder den Exekutionen die Wertsachen ihrer Opfer aneigneten. Bereits aus Berichten der damaligen Zeit geht hervor, daß ζ. T. „in unerhörter Weise geplündert" wurde. Außerdem gab es in den Konzentrationslagern einen engen Zusammenhang zwischen Terror und Korruption, auf den schon an anderer Stelle (oben Β l a ) hingewiesen wurde. d) O p p o r t u n i s m u s u n d G r u p p e n a n p a s sung. Wesentlich deutlicher noch treten die Zusammenhänge zwischen Karriere und Verbrechen zutage. Mit der aktiven Teilnahme an der Massenvernichtung waren oft Aufstiegs- und Beförderungsaussichten verbunden, und nicht wenige unter den Einsatzkommando-Angehörigen versprachen sich von ihrem „Osteinsatz" Vorteile für ihr weiteres berufliches Fortkommen. Das wird deutlich, wenn — wie im Falle eines SSHauptscharführers — der Antrag gestellt wurde, die Exekutionsbeteiligung im Soldbuch oder in den Personalakten zu vermerken, oder wenn SSFührer, die besonders aktiv an Vernichtungsaktionen mitgewirkt hatten, befördert oder mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet wurden. Mit den Aufstiegsmöglichkeiten, aber auch mit Geltungsbedürfnis, hing das „Bewährungsbedürfnis" zusammen, das bei vielen Befehlstätern zu finden ist, d. h. der Wunsch, die Massenvernichtung wie eine harte Prüfung „durchzustehen", um im Sinne des Systems „vollwertig" zu sein. So wurde die Mitwirkung an Massentötungen von manchen als eine Art „Chance" erlebt, den Beweis ihrer „Härte" zu erbringen. Härte war gewissermaßen die elitäre Qualitätsnorm der SS, der es zu genügen galt; nichts wurde so gefürchtet, als für „weich" gehalten zu werden. Dieses Motiv durchzieht die Selbstdarstellungen von Befehlstätern wie ein roter Faden. Immer wieder geht es darum, daß Funktionäre nicht „das Gesicht verlieren" oder als „schlapp" angesehen werden wollten, weil sie darin eine „Bloßstellung" erblickten oder weil sie fürchteten, daß sie sich schaden könnten oder daß ihnen die „Führungsqualifikation" abgesprochen werden könnte. Es ist also klar zu unterscheiden zwischen Lebensbedrohung und Karriererisiko, zwischen abgenötigtem und opportunistischem Verhalten. Zweifellos gehörte es zu den wichtigsten Druckmitteln

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des Regimes, das individuelle Verhalten mit Vorund Nachteilen zu verknüpfen. Niemand wurde aber vom totalitären System genötigt, sich durch besondere Härte auszuzeichnen oder „Führungsqualitäten" zu beweisen, und niemand gezwungen, Karriere zu machen und Machtpositionen einzunehmen. e) K o n f l i k t s i t u a t i o n e n . Als Konfliktsfälle — und damit potentielle Notstandsfälle — können nur Taten bezeichnet werden, die unter dem Druck des Terrors begangen wurden, bei denen also der Täter zu Handlungen gezwungen wurde, die er weder wollte noch billigte. Befehlstaten dieser Art haben in den Prozessen der vergangenen Jahre durchaus eine Rolle gespielt; ihre Zahl wird jedoch im allgemeinen überschätzt. Graduell konnten solche Konfliktsituationen höchst unterschiedlich sein. In manchen Fällen finden wir flüchtige, schnell der Resignation weichende Versuche, der Mitwirkung an Erschießungen zu entgehen. Es wurden Einwendungen gemacht, nicht selten solche, die praktische Schwierigkeiten vorschoben; es behielt dann aber doch schließlich das Bedürfnis, nicht aufzufallen und sich keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, die Übermacht. Außerdem gab es auch echte Gewissenskonflikte, die im Sinne bestimmter Vorstellungen von soldatischer Haltung, unbedingtem Gehorsam und Gefolgschaftstreue gelöst wurden, obwohl die Massentötungen durchaus als verwerflich betrachtet wurden. Verschiedentlich führte der Konflikt zwischen Befehl und Gewissen zu schwersten seelischen Belastungssituationen. Aus Aussagen wissen wir, daß es zu Nervenzusammenbrüchen, seelischen Erkrankungen, Alkoholismus und Selbstmorden kam. Achtzehn- und neunzehnjährige Luftwaffenangehörige, die zu einer Erschießung abkommandiert worden waren, schössen vor Aufregung ·— zitternd und mit geschlossenen Augen — so schlecht, daß Gestapo- und SDBeamte Nachschüsse auf die Getroffenen abgeben mußten. Auch bei manchen Polizeieinheiten zielten die Exekutionsteilnehmer vor Erregung so ungenau, daß sie die Opfer nur verwundeten. Die Verhaltens- und Reaktionsskala bei der Verbrechensausführung reichte also von den schon erwähnten schweren Ausbrüchen persönlicher Grausamkeit über zynische Gleichgültigkeit und Sensationssucht bis hin zum seelischen und nervlichen Zusammenbruch. In den Verfahren spielten verschiedentlich Tatkonstellationen eine Rolle, in denen Funktionäre zunächst versuchten, sich der Teilnahme an Vernichtungsaktionen zu entziehen, indem sie Einwände vorbrachten oder Bedenken äußerten. Unter dem Druck ihrer Vorgesetzten, die auf die Möglichkeit eines Kriegsgerichtsverfahrens hinwiesen oder sich auf den bedingungslosen Gehorsam, der von der Führung gefordert werde, beriefen, nahmen sie dann aber doch an den Exekutionen teil.

4. Kriminalstatistische

Bemerkungen

Für die Deutung der nationalsozialistischen Gewaltkriminalität wäre es nun interessant, genauere Aufschlüsse über die zahlenmäßige Verteilung der hier skizzierten einzelnen Verbrechenstypen zu gewinnen. Eine solche Aufschlüsselung ist jedoch außerordentlich schwierig, weil bei der Differenzierung der Fälle nicht von Täter-, sondern Tattypen, d. h. einzelnen Tatsituationen ausgegangen wurde, die sich nicht zählen oder überhaupt in irgendeiner Weise quantifizieren lassen; außerdem stellt das Prozeßmaterial bereits eine gewisse Auslese schwererer Fälle dar, so daß es für die Gesamtkriminalität nicht repräsentativ ist. Zu statistischen Aussagen kann man überhaupt nur dann gelangen, wenn man eine grobe Klassifizierung der Täter vornimmt, indem man als Exzeß- und Initiativtäter diejenigen bezeichnet, die a u c h Exzeß- und Initiativtaten begangen haben, als Befehls- und Konflikttäter dagegen diejenigen, bei denen n u r Befehls- oder Konfliktsituationen nachweisbar sind. Außerdem müssen die Angaben auf diejenigen Fälle beschränkt werden, in denen es zu einer Verurteilung gekommen ist. Unter diesen Voraussetzungen läßt sich für einen Verurteilungszeitraum von 5 Jahren (August 1958 bis August 1963) schätzen, daß etwa 20% der Verurteilten Exzeßtäter, 20% Initiativtäter und 60% Befehlstäter waren. Der Anteil der Konflikttäter liegt nur bei etwa 15 bis 20% des untersuchten Materials; nur einige ganz wenige Konfliktsituationen wurden als Befehlsnotstand bzw. Putativnotstand gewertet (Jäger 1967). Dieses Ergebnis schließt jedenfalls in bezug auf die Fälle, die Gegenstand gerichtlicher Verfahren waren, die Möglichkeit aus, die nationalsozialistischen Verbrechen überwiegend als Folge von Zwang und Terror zu betrachten. C. Befehlsnotstand Eine große Rolle hat in den Prozessen gegen nationalsozialistische Funktionäre immer wieder das Problem des Befehlsnotstandes gespielt, die Frage also, ob die von der Staatsführung ausgelösten Verbrechen in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters begangen (§ 54 StGB) oder die Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, die mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben verbunden war, zu ihren verbrecherischen Handlungen genötigt worden sind (§52 StGB). Bereits die typologische Unterscheidung der einzelnen Tatsituationen zeigt nun aber sehr deutlich, daß ein genereller Zusammenhang zwi-

Verbrechen unter totalitärer Herrschaft sehen totalitärer Kriminalität und Befehlsnotstand — etwa im Sinne einer allgemein für die ausführenden Funktionäre bestehenden Notstandslage -— nicht angenommen werden kann. So bestand selbstverständlich kein Zwang, Exzeßoder Initiativtaten zu begehen. Auch bereitwilliger Gehorsam Schloß in seinen verschiedenen Varianten einen Befehlsnotstand aus. Das Notstandsproblem ist daher nur für den Bereich der Konfliktkriminalität von Bedeutung, der für ein bestimmtes Fallmaterial auf 15 bis 20% geschätzt wurde (siehe oben Β 4); es wird außerdem dadurch eingeengt, daß in einer nicht geringen Zahl von Fällen Befehlsempfänger schuldhaft in die Zwangslage gerieten, ihr nicht mit allen Mitteln zu entgehen versuchten oder aber sich schon geringerem Druck als einer Leibes- oder Lebensbedrohung beugten. Es ist schon deshalb nicht möglich, den Befehlsnotstand als strafrechtlichkriminologischen Zentralbegriff anzusehen, von dem aus das Gesamtphänomen der nationalsozialistischen Gewaltkriminalität erklärbar wäre. Außerdem konnte bisher kein Fall nachgewiesen werden, in dem ein Befehlsempfänger wegen der Ablehnung oder Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls Schaden an Leib oder Leben genommen hat. Dagegen sind in den Prozessen Fälle zur Sprache gekommen, in denen Funktionäre die Teilnahme an Vernichtungsaktionen verweigert oder sich ihnen auf andere Weise entzogen haben, ohne daß schwere Schädigungen die Folge waren. Insgesamt sind bisher 103 zumeist durch Zeugenaussagen belegte Fälle bekannt geworden, in denen sich Funktionäre Tötungsbefehlen widersetzt oder entzogen haben. In 14 Fällen wurden Schädigungen an Leib oder Leben behauptet (Todesurteil oder Erschießung in 9 Fällen, KZ-Einweisung in 4 Fällen, Einweisung in eine Bewährungseinheit in einem Fall), in 89 weiteren Fällen andere oder keine Nachteile. Die Schädigungsfälle sind im Verlauf der Ermittlungen überprüft worden. Von den behaupteten 9 Erschießungsfällen konnten 2 eindeutig widerlegt werden; 3 Fälle blieben unbestätigt und 4 Fälle betrafen anders gelagerte Sachverhalte. Von den 4 behaupteten KZ-Einweisungen war ein Fall nachweislich unrichtig; die 3 weiteren Fälle bezogen sich auf andere Sachverhalte. Der eine Fall einer Einweisung in eine Bewährungseinheit kann als widerlegt betrachtet werden. In den Fällen, in denen andere Nachteile behauptet wurden, sind folgende offizielle Reaktionen nachweisbar: Versetzung in die Heimat, an die Front oder zu einer anderen Dienststelle, Degradierung, Rügen, Ermittlungsverfahren, vorläufige Festnahme, Androhung der Verhaftung nach Kriegsende, schikanöse Behandlung. Das untersuchte Material läßt erkennen, daß die Befehlsentziehungen und Befehlsverweigerungen höherer Funktionäre mit Offiziersrang etwa die Hälfte aller be-

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kannt gewordenen Fälle ausmachen. Der dienstlichen Stellung kommt daher offenbar erhebliche Bedeutung zu (Jäger 1967). Die Untersuchung der institutionellen, ideologischen und disziplinaren Situation des Befehlsempfängers bei Massenvernichtungen läßt außerdem erkennen, daß dieses Resultat kein Zufall sein kann, sondern daß eine Leibes- oder Lebensbedrohung des Befehlsempfängers, der dem Regime seine Mitwirkung versagte, wenig wahrscheinlich ist. Einige immer wieder behauptete Gefahren lassen sich sogar so gut wie sicher ausschließen, so insbesondere die SS- und polizeigerichtliche Verurteilung und die von ihr abhängigen Maßnahmen, ζ. B. die Einweisung in eine Bewährungseinheit. Die Analyse der ideologischen Situation läßt den Schluß zu, daß die Weigerung, an Vernichtungsaktionen teilzunehmen, zwar als ein „Versagen", nicht aber unbedingt als ein Verbrechen angesehen wurde, soweit in ihr nicht gleichzeitig eine prinzipielle Gegnerschaft gegenüber dem Regime zum Ausdruck kam oder von ihr eine destruktive Wirkung auf die Disziplin ausging. Es wurde also ein deutlicher Unterschied zwischen Treue und Gehorsamspflicht gemacht: Untreue war Verrat am nationalsozialistischen System und wurde als schwerstes Verbrechen behandelt; Verstöße gegen die Gehorsamspflicht wurden dagegen wesentlich toleranter bewertet, zumal das rassistische Ausrottungsprogramm ohnehin als eine „besonders schwere Aufgabe" betrachtet wurde, die nur von einer kleinen „Elite" bewältigt werden konnte (Seraphim). Die Aussagen ehemaliger Beteiligter aus den Reihen der SS und der Polizei sind uneinheitlich; soweit eine Gefährdung behauptet wird, fehlt es zumeist an konkreten Angaben, die die Behauptung stützen könnten. Zum Teil wird eine Gefahrensituation auch verneint. Auch die zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, die sich mit der Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen befaßt, ist bei ihren Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Schädigung an Leib oder Leben als sichere oder doch höchst wahrscheinliche Folge der Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls mindestens generell auszuschließen ist. Eine größere, kriminalstatistisch allerdings schwer abzuschätzende Bedeutung muß dagegen dem subjektiven Befehlsnotstand (Putativnotstand) eingeräumt werden. Soweit sich feststellen ließ, sind wegen eines solchen vermeintlichen Notstands viele zumeist untergeordnete Befehlsempfänger nicht angeklagt und vor Gericht gestellt worden, weil es sich bei ihnen mindestens nicht ausschließen ließ, daß sie an eine Gefahr für Leib oder Leben geglaubt haben. D. Unrechtsbewußtsein Für die strafrechtliche wie kriminologische Beurteilung der nationalsozialistischen Gewaltver-

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Verbrechen unter totalitärer Herrschaft

brechen ist nun von entscheidender Bedeutung, ob die an ihnen führend oder auch nur ausführend beteiligten Funktionäre „Verbrecher mit gutem Gewissen" (Reiwald) waren, die ihre Taten unter dem Einfluß ideologischer Indoktrination als rechtmäßige Befolgung staatlicher Anordnungen betrachteten, oder ob sie sich des kriminellen Unrechts, an dem sie mitwirkten, bewußt waren. Diese Frage läßt sich nicht klären, ohne daß man drei verschiedenartige Phänomene voneinander unterscheidet: die Kenntnis der rechtlichen Bedeutung der Tat, d. h. das Bewußtsein ihrer Rechtswidrigkeit; die oft von irrationalen Antrieben beeinflußte Überzeugung, daß eine Handlungsweise ideologisch oder politisch richtig oder notwendig sei; schließlich die individuelle Gewissensreaktion. Die fanatische Überzeugung, daß der Terror „notwendig" sei, brauchte weder das Bewußtsein seiner Rechtswidrigkeit noch Schuldgefühle auszuschließen. Es lassen sich ζ. B. Fälle nachweisen, in denen sich Täter, namentlich Angehörige der Führungsspitze, völlig darüber im klaren waren, daß ihre Handlungsweise in krassem Widerspruch zu den geltenden Gesetzen stand. Ebenso konnte die Verfolgungsbesessenheit mancher Funktionäre durchaus mit Gewissensreaktionen verbunden sein, ja die von der nationalsozialistischen Weltanschauung geforderte „Leistung" konnte gerade darin bestehen, mit einem solchen Normenkonflikt fertig zu werden. Schließlich kann das Unrechtsbewußtsein nicht einfach mit dem Gewissen identifiziert werden. Bedenkenlos und ohne Gewissensskrupel konnten auch Täter handeln, die sich bewußt über die Normen des geltenden Rechts hinwegsetzten, während es umgekehrt Täter mit Schuldgefühlen gab, die die rechtliche Situation nicht oder jedenfalls nur ungenügend durchschauten. Diese komplizierte, „sittlich verwirrende" Situation totalitärer Funktionäre, die bei Begehung ihrer Verbrechen nicht den kriminologisch erforschten oder jenen jedenfalls ähnlichen persönlichen Tatantrieben, sondern in hohem Maße den von dem Träger der Staatsmacht ausgehenden Verbrechensantrieben (BGHSt 18, 93) folgen, ist rechtspsychologisch nur unzureichend aufzuhellen; immerhin gibt es Verhaltens-, Denk- und Reaktionsweisen, die der näheren Untersuchung zugänglich sind und für die Bewußtseinslage der Täter symptomatische Bedeutung haben. So hat die Analyse der nationalsozialistischen Vorstellungswelt durch die zeitgeschichtliche und politologische Forschung (Hannah Arendt, Friedrich, Buchheim u. a.) einige auch für die kriminologische Deutung der begangenen Verbrechen interessante Resultate zutage gefördert. Das nationalsozialistische Regime hat den Terror, wie diese Untersuchungen zeigen, nicht juristisch, sondern außerrechtlich mit Hilfe von „Theorien"

zu rechtfertigen gesucht. Die Instanz, auf die es sich dabei berief, war nicht die Rechtsordnung, der „kleinliche Buchstabe des Gesetzes", sondern eine „höhere" Ordnung: die Geschichte, die Natur, die Vorsehung, die kosmische Weltordnung. Auch der Massenmord ist von seinen Urhebern niemals als legal im Sinne menschlicher Gesetze interpretiert worden, sondern als Maßnahme, deren „historische Notwendigkeit" sich aus der vermeintlichen Kenntnis der Naturgesetze und determinierten Geschichtsabläufe herleiten ließ. Auf diese Weise entwickelte sich im Bereich des terroristischen Herrschaftsapparats, insbesondere innerhalb der SS, eine eigenständige Normenwelt, die mit der für die Gesamtheit geltenden staatlichen Ordnung und ihren Gesetzen nicht identisch war. Diese Unterscheidung zwischen staatlichen Rechtspflichten und ideologischen Gruppenpflichten entsprach auch dem Selbstverständnis der SS, für das die Vorstellung typisch war, der eigenen Zeit voraus zu sein und als kleine Elite stellvertretend jene „schweren Aufgaben" übernehmen zu müssen, für die das Volk in seiner Gesamtheit noch nicht „reif" war. Drei Elemente sind es demnach, durch die das Syndrom totalitärer Wertvorstellungen gekennzeichnet ist: der Vorrang der ideologisch-politischen „Notwendigkeit" gegenüber dem positiven Recht, das als „Paragraphenrecht" verächtlich beiseite geschoben wird; die Ableitung dessen, was „Recht" ist, aus ideologischen Gruppenüberzeugungen und Gruppeninteressen; schließlich die Zukunftsoptik, die Orientierung an einer Normenordnung, die es noch nicht gibt. Erkennbar ist also, daß die Überzeugung, in einem ideologischpolitischen Sinne gerechtfertigt zu sein, das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht grundsätzlich ausschloß. Außerdem ließen die führenden Repräsentanten des Regimes oft eindeutig erkennen, daß sie „von juristischen Bedenken nicht angekränkelt" (Goring) waren und daß es ihnen „gänzlich gleichgültig" war, „ob die anderen Leute über die ,Brechung der Gesetze' jammerten" (Himmler). Bei der sog. „Euthanasie" wurde ein Gesetz zunächst erwogen und diskutiert; es kam dann jedoch nicht zustande, eine Situation, die kaum Zweifel daran zuläßt, daß sich mindestens ein Teil der Mitwirkenden der Rechtswidrigkeit der Massentötungen bewußt war. Als besonders wichtige Indizien für das in der Führungsschicht, aber auch im Funktionärsapparat verbreitete Unrechtsbewußtsein sind die Tarnung der Verbrechen sowie die Versuche der Führung anzusehen, ihre Verantwortung zu verschleiern. Die Tatsache, daß die Tarnung nicht nur eine Abschirmung des Terrors gegenüber dem Ausland, sondern auch eine Geheimhaltung gegenüber der deutschen Öffentlichkeit, ja Teilen des eigenen Staatsapparates bezweckte, läßt den Schluß zu,

Verbrechen unter totalitärer Herrschaft daß es sich nicht um eine kriegspolitische Maßnahme handelte, sondern daß diejenigen, die sich einer solchen Tarnung bedienten oder die sie durchschauten, ein Bewußtsein der Rechtswidrigkeit gehabt haben müssen. Die Darstellungen, die die Täter selbst von ihrer damaligen inneren Situation geben, sind uneinheitlich. Es gibt Angeklagte, die ausdrücklich bejahen, die Massenvernichtung auch zur Tatzeit schon als rechtswidrig und verbrecherisch betrachtet zu haben. Eine relativ große Zahl von Angeklagten will die Vernichtung zwar als verwerflich, jedoch legal angesehen haben. Bei einer dritten Kategorie von Tätern tritt eine starke Verunsicherung der Wertvorstellungen zutage. Sie sagen beispielsweise: „Damals haben wir uns Gedanken gemacht, aber im Kriege müssen eben andere Maßstäbe gelten." Von diesen als konflikthaft geschilderten Situationen heben sich jene Fälle ab, in denen der Vernichtungsbefehl als ausreichende Rechtfertigung empfunden oder die Frage der Rechtmäßigkeit überhaupt nicht gestellt wurde. Manche Angeklagte haben sich ausdrücklich darauf berufen, Führerbefehle als Gesetz betrachtet zu haben. Ergänzt werden solche nachträglichen Schilderungen durch nachweisbare Verhaltens- und Reaktionsweisen zur Tatzeit. So ist bekannt, daß sich unter einzelnen Teilnehmergruppen Empörung über die Erschießungen ausbreitete oder Bedenken gegen ihre Rechtmäßigkeit geäußert wurden. Aufschlußreich ist auch die Sprache der Selbstüberwindung, in der bereits zur Tatzeit über die „schwere" und „scheußliche" Aufgabe gesprochen wurde, deren Erfüllung etwas war, was „durchgehalten" und „durchgestanden" werden mußte. Das war oft nur möglich, wenn es den Beteiligten gelang, das immer wieder aufkommende Unrechtsbewußtsein zu verdrängen oder umzudeuten und in ihm beispielsweise Restbestände einer noch nicht völlig überwundenen bürgerlichen Moral, Schwächesymptome oder ästhetischen Ekel zu erblicken. Erkennbar ist also, daß ein Unrechtsbewußtsein der am Massenmord beteiligten Funktionäre jedenfalls nicht in einem epochalen Sinne gefehlt hat und daß jede verallgemeinernde Deutung daher falsch ist (-> Genocidium). Die Abschwächung oder das bei einem Teil der Täter zu vermutende völlige Fehlen eines Unrechtsbewußtseins kann also nicht einfach als Folge der totalitären Verhältnisse, etwa der planmäßig betriebenen ideologischen Indoktrination, erklärt werden, sondern muß mindestens auch situative und individuelle Ursachen gehabt haben. Insbesondere ist die Frage des Unrechtsbewußtseins nicht einfach von der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Täters zu lösen. Die kriminologische Diskussion hierüber steckt allerdings noch ganz in den Anfängen.

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Immerhin sind einige Faktoren erkennbar, die für den Abbau des Rechtsbewußtseins von Bedeutung waren: so etwa die Distanz der Initiatoren und Organisatoren vom Tatort, die nicht mehr vorstellbare Größenordnung der Verbrechen, die Anonymität, d. h. die Beziehungslosigkeit zwischen den Tätern und ihren Opfern, die zu „Bazillen" und „Ungeziefer" verfremdet wurden oder die für die Täter bereits „Sterbende" waren, bevor der Mord an ihnen verübt wurde. Hemmungen wurden auch durch das Bewußtsein der Kollektivkausalität abgebaut, d. h. das Gefühl, nichts ausgelöst zu haben, aber auch nichts verhindern zu können, sondern auswechselbar zu sein. Die Tatsache, daß der Terror eigene Ordnungen entwickelte, durch die selbst die schwersten Verbrechen „normalisiert" und das individuelle Verhalten „geregelt" erschienen, sowie das Bewußtsein der Täter, „vom eigenen Staat, der vielen Menschen bei geschickter Massenpropaganda nun einmal als unangezweifelte Autorität zu erscheinen pflegt", mit der Begehung jener verbrecherischen Handlungen beauftragt worden zu sein (BGHSt 18, 93), haben sich ebenfalls verbrechensfördernd ausgewirkt. Hinzu kommt der Krieg, der die Verwirklichung des Völker- und Massenmordes technisch wie psychologisch erst möglich machte, obwohl die Massenausrottung die letzte Steigerung eines gegen Einzelne und Gruppen gerichteten Verfolgungsterrors, nicht aber Teil des Kriegsgeschehens war, weshalb es verfehlt wäre, die totalitäre Gewaltkriminalität als eine besondere Form des „Kriegsverbrechens" zu betrachten.

Monographien H. A r e n d t : Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 1955. C. J. F r i e d r i c h : Totalitäre Diktatur. 1957. E. H i l b e r g : The Destruction of the European Jews. Chicago 1961. Η. B u c h h e i m : Totalitäre Herrschaft. 1962. H. G. v a n D a m , E. G i o r d a n o (Hrsg.): KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten. 1962. H. L a n g b e i n : Im Namen des deutschen Volkes. 1963. Bundesjustizministerium (Hrsg.): Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland seit 1945. 1964. R. H e n k y s : Die nationalsozialistischen Gewalt verbrechen. 1964. R. M. W. K e m p n e r : SS im Kreuzverhör. 1964. H. L a n g b e i n : Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation. 2 Bände. 1965. H. B u c h h e i m , M. B r o s z a t , H.-A. J a c o b s e n . H . K r a u s n i c k : Anatomie des SS-Staates. 2 Bände. 1965. Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.): Probleme der Verfolgung und Ahndung von national· sozialistischen Gewaltverbrechen. Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Bd. II, Teil C. 1967. E.-W. H a n a c k : Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher. 1967. H. J ä g e r : Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. 1967 (mit weiteren Literaturhinweisen). A. R ü c k e r l (Hrsg.): NS-Prozesse. 1971.

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Verbrechertum, organisiertes Zeitschriften- und

Sammelwerkaufsätze

H . J ä g e r : Betrachtungen zum Eichmann-Prozeß. MschrKrim. 45 (1962) S. 73ff. H.-E. R i c h t e r : Mörder aus Ordnungssinn. I n : „Die Zeit" Nr. 29 (19Θ3) S. 3. G. B l a u : Zur Kriminologie der nationalsozialistischen Ge•waltverbrechen. I n : Mergen-Schäfer: Kriminologische Wegzeichen. Festschrift für Hans v. Hentig. (1967) S. 187ff. A. R ü c k e r l : Statistische Angaben über Verfahren betreffend nationalsozialistische Gewaltverbrechen und Analysen von Strafzumessungsgründen. I n : Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.) a.a.O., S. 33ff. — : Justiz und Ν S-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945—1966. Amsterdam 1968ff. (bearbeitetvon A. RttterEhlermann und C. F. Rüter). HERBERT JÄGER

Verbrechertum, internationales band

Ergänzungs-

VERBRECHERTUM, ORGANISIERTES I. BEGRIFFSERKLÄRUNG Die Bedeutung des Ausdrucks „Organisierte Kriminalität" steht nicht fest. Er wird für sehr unterschiedliche Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens in Zusammenhang mit dem Verbrechen angewandt; sie reichen von dem geplanten Einsatz mehrerer Personen bei einer kriminellen Tat über Kollektivgebilde verschiedener Struktur und mit unterschiedlichem Verhältnis zum Verbrechen bis hin zu den Beziehungen, welche zwischen den Angehörigen jener Schicht bestehen, die geläufig als Unterwelt bezeichnet wird ( O r g a n i s i e r t e s Verbrechertum II, S. 279—284). A. Bestimmungsversuehe Es hat nicht an einzelnen oder gemeinschaftlichen Bemühungen gefehlt, den Begriff festzulegen, ihn gegen andere Erscheinungsformen der Kriminalität klar abzugrenzen. Anläßlich der II. Internationalen Arbeitstagung — Das organisierte Verbrechen — der IKPO (Interpol) stellte der Vertreter des Generalsekretariats fest, daß beim letzten Studienseminar der Interpol über das organisierte Verbrechen mehr von Berufskriminalität und weniger vom „organisierten Verbrechen" gesprochen worden sei. Er führte — auf die Arbeit der Untersuchungskommission für Rechtspflege in Kriminalfällen und Strafsachen Bezug nehmend — aus, daß diese Kommission eine interessante Definition des organisierten Verbrechens gefunden habe: „Eine ständige, geheime Gesellschaft, die sich selbst im allgemeinen durch Gewalt regiert, deren

ständige Absprachen jedoch auf einen beträchtlichen regelmäßigen Gewinn hinzielen und zwar dadurch, daß illegale Produkte und Dienstleistungen lanciert werden, sowie durch Infiltration in legale Unternehmen. In beiden Fällen ist das Ziel die Schaffung von gewinnbringenden Monopolen". Die Skala der Stellungnahmen seitens der Delegierten der beteiligten Staaten zu dieser Begriffsbestimmung reicht von Zustimmung bis zur krassen Ablehnung; Fachleute aus den USA, dem klassischen Land organisierten Verbrechertums, gaben zu, daß es schwierig sei, das organisierte Verbrechen genau zu definieren. In den USA lege man jedoch großen Wert auf die Abgrenzung des — häufigeren — Bandenverbrechens gegenüber dem durch Gruppen organisierten Verbrechen, das einer mächtigen, bleibenden Organisation mit bestimmter Struktur gleichkomme. Aus diesen Gründen blieb es auf der InterpolArbeitstagung bei der Feststellung, daß es nirgend eine gesetzliche oder kriminologisch genaue und spezifische Definition des organisierten Verbrechens gebe. Göppinger kommt im Rahmen seiner Ausführungen zum Kapitel „Einzelne Tätergruppen" zur Unterscheidung in „Formen weitgehend ungegliederter Gemeinschaften" und „gegliederte deliquente Gemeinschaften". Letzteren ordnet er die Ringvereine (Vorbestraften- und Zuhältervereine), die „Bandendelinquenz" (vor allem Jugendlicher) und „berufsmäßig organisierte Delinquenz" zu. Er entwickelt keine Definition und beschränkt sich auf die Beschreibung der verschiedenen Erscheinungsformen. Rupprecht stellt die Erscheinungsformen organisierter Kriminalität in den USA dar, beleuchtet vor allem die im Cosa-Nostra-Jargon „Familien" genannten Großbanden, deren Strukturen und Organisationsformen und setzt die Verbrechensaufklärung in Relation zum verbrecherischen Wirken dieser „Familien". Auch er beschränkt sich dabei auf Beschreibungen und läßt die Begriffsbegrenzung außer Betracht. Bereits 1936 setzten sich Elster und Lingemann in einem Aufsatz „Organisiertes Verbrechertum" mit der Schwierigkeit der Abgrenzung auseinander, ohne ein sicheres Resultat zu erreichen. Exner greift bei den Untersuchungen zum Täter und seinen Lebensgemeinschaften das Problem „Verbrechergemeinschaften" mit der Kenntnis darum auf, daß unter organisierter Kriminalität nicht jeder Zusammenschluß Delinquenter oder Zugehöriger der Unterwelt zu verstehen sei. Es gilt jetzt, sich eine zeit-, räum- und erscheinungsgerechte Formel zu schaffen, mit der Kriminalisten von heute umgehen können. Diese Formel soll all das umfassen, was uns derzeit als organisierte Kriminalität entgegentritt. In diesem Sinne ist in Berlin in Zusammenhang mit der

Verbrechertum, organisiertes Planung einer Spezialdienststelle als vorläufiger Arbeitsbegriff die nachstehende Begriffsbestimmung entwickelt worden: Organisierte Kriminalität ist ein geordnetes Zusammenwirken mehrerer Personen, die auf Dauer direkt oder indirekt geschäftsmäßig — durch Beschaffung und Anbieten von gesetzlich verbotenen oder kontrollierten Produkten oder Leistungen, — durch Besitznahme bzw. Kontrolle legaler Unternehmen, — durch strafbare Handlungen in Bereicherungsabsicht, — durch Anstreben von tatsächlichen Monopolen, — durch illegale Methoden regelmäßig verdeckte Gewinne oder Einfluß in Bereiche des öffentlichen Lebens (Wirtschaft, Verwaltung, Politik) zu erlangen suchen; Methoden sind Ausbeutung, Erpressung, Drohung, Gewalt, Zwangsschutz, Terror und aktive Bestechung. B . Der Begriff im Lichte gesetzlicher Bestimmungen Art. 9 I GG gewährleistet die allgemeine Vereinigungsfreiheit, d. h. er schützt nicht nur das Recht, Vereinigungen frei zu gründen, sondern auch das Recht, frei über den Beitritt und das Verbleiben in der Vereinigung zu entscheiden. Dieser Schutz greift allerdings nur dann ein, wenn es sich um Vereine bzw. Vereinigungen handelt. Begriffsmerkmale der Vereinigung sind dem § 2 Vereinsgesetz zu entnehmen. Im Sinne dieses Gesetzes ist Verein — ohne Rücksicht auf die Rechtsform — jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinschaftlichen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat. Bereits Art. 9 I GG schließt nicht aus, daß das Gesetz beschränkende Vorschriften, soweit diese eine geordnete Gründung und Betätigung sowie den Schutz dritter Personen bezwecken, erläßt. Im Zusammenhang mit dem Problem „Kriminalität" ist die in Art. 9 I I GG enthaltene verfassungsunmittelbare Schranke, nach der Vereinigungen verboten sind, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen, von besonderem Interesse. Die Strafgesetzwidrigkeit muß der Vereinigung als solcher zuzurechnen sein; eine strafgesetzwidrige Tätigkeit einzelner Mitglieder reicht nicht aus. Obgleich die Rechtsfolge des Art. 9 I I GG dahin geht, daß strafgesetzwidrige Vereinigungen schon unmittelbar aufgrund des Verfassungsrechts verboten sind, folgt der § 3 des Vereinsgesetzes in 30 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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der Auslegung des Art. 9 I I GG der nach herrschender Meinung bestehenden Auffassung der Unvereinbarkeit einer Verbotswirkung in diesem Sinne mit den Gedanken der Rechtssicherheit und bestimmt daher: „Ein Verein darf erst dann als verboten behandelt werden, wenn durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, daß seine Zwecke oder seine Tätigkeiten den Strafgesetzen zuwiderlaufen (deklaratorische Auflösungsverfügung)". Neben den überwiegend auf den Einzeltäter zugeschnittenen Strafvorschriften, die dem Schutze der allgemeinen Rechtsgüter schlechthin dienen, haben im Zusammenhang mit dem Problem der organisierten Kriminalität und ihrer Bekämpfung die Regelungen besondere Bedeutung, die den Schutz der öffentlichen Rechtsordnung und des öffentlichen Friedens in spezieller Weise ermöglichen und garantieren sollen, insbesondere die §§ 49b, 127, 129 StGB. Es stellt sich bereits bei oberflächlicher Betrachtung dieser Bestimmungen die Frage, ob sie die Elemente der organisierten Kriminalität enthalten und ausreichende Möglichkeiten für eine angemessene Strafverfolgung bieten; hierbei dürfte außer Zweifel stehen, daß die ihrem Charakter nach phänomenologische Begriffsbestimmung der organisierten Kriminalität (s. Berliner Arbeitsbegriff) sich nicht ohne Schwierigkeit in einen gesetzlichen Tatbestand zusammenfassen und in ihm klar abgegrenzt ausdrücken läßt. § 4 9 b StGB — als selbständiger Tatbestand mit Strafandrohung insofern ein Fremdkörper im allgemeinen Teil des StGB — schützt nicht in erster Linie die Einzelperson, sondern die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Zur Bekämpfung organisierter Kriminalität ist § 4 9 b StGB kaum anzuwenden, weil die Bestimmung nur dann in Betracht kommt, wenn im Einzelfall der Nachweis gelingt, daß innerhalb einer im Sinne des o. a. Arbeitsbegriffs kriminell tätigen Gruppe ein Verbrechen wider das Leben (gem. §§211—213, 220 a I Nr. 1 StGB), bei dem der Vorsatz auf Tötung gerichtet ist, als Zweck oder als Mittel zum Zweck in Aussicht genommen ist. § 127 StGB richtet sich gegen Erscheinungen, wie sie sich in rückliegenden Zeiten durch die ehemalige SA oder das Reichsbanner darstellten und heute auch in Zusammenhang mit der „B-M-Bande" in Anfängen sichtbar werden. Ihrem Charakter nach betrifft diese Bestimmung mehr Gruppierungen politisch-militanter Natur (vgl. paramilitärische Gruppen in der DDR, militante Gruppen in Nordirland, im Vorderen Orient) und berührt damit nur einen relativ kleinen Teilbereich der organisierten Kriminalität. Mit der Überschrift „Kriminelle Vereinigungen" scheint § 129 StGB die der Bekämpfung der organisierten Kriminalität ausdrücklich und speziell zugedachte und geeignete strafgesetzliche

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Norm zu sein. Gründern und Mitgliedern krimineller Vereinigungen sowie denjenigen, die für diese Vereinigungen werben oder diese unterstützen, wird Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren angedroht. Der Versuch ist unter Strafe gestellt. Die Verurteilung nach diesem Gesetz verlangt jedoch den recht schwierigen Nachweis, daß die Vereinigung zur Zeit der Tat nach dem Willen der führenden Funktionäre die Begehung von Straftaten anstrebte oder daß ihre Tätigkeit in der Begehung solcher Taten bestand. Die festgestellten Straftaten krimineller Gruppierungen — und das zeigt die tägliche Praxis eindringlich — sind an sich schon schwer nachweisbar. Zumeist wird überhaupt nur ein Bruchteil der tatsächlich begangenen Verbrechen bekannt bzw. kann nachgewiesen werden. Außerdem werden diese Straftaten in wechselnder Beteiligung (auch in Rollenverteilung) der Gruppenangehörigen verübt, so daß es fast sinnlos erscheint, im Sinne des § 129 StGB gegen solche Gruppen vorzugehen. An der Möglichkeit des objektiven Beweises, wie er sich bei der Bekämpfung der früheren Ringvereine durch deren Erfassung im Vereinsregister und durch bestehende Mitgliederlisten ergab, fehlt es heute völlig. Der schnellen und sicheren Aufklärung von Vergehen i. S. d. § 129 StGB stehen somit erhebliche Beweisschwierigkeiten entgegen. Der strafrechtliche Ansatz beschränkt sich in den meisten Fällen auf den Nachweis verwirklichter Tatbestände i. S. d. §§ 223 a, 227, 244, 250 StGB. § 129 ist damit — zumindest nach Auffassung des überwiegenden Teils der mit der Bekämpfung organisierter Kriminalität Beauftragten — ein wenig effektives Instrument. Im Gegensatz zu §§84, 85, sowie § 2 0 1 Nr. 1—4 Vereinsgesetz ist das Organisationsdelikt die Tat, die auf der Grundlage von Art. 9 II GG schon vor dem Verbot der Vereinigung strafbar ist. Π. RÜCKBLICK Folgt man den Stimmen der heutigen Massenmedien, so muß angenommen werden, daß das organisierte Verbrechen in Deutschland etwas Neues ist, ein für die Gesellschaft und den Staat unvorhergesehenes Phänomen, über das weder Erfahrungen noch relevante Erkenntnisse vorliegen. Ein Blick in die europäische Geschichte zeigt jedoch, daß es organisiertes Verbrechen in allen denkbaren Formen schon seit jeher gegeben hat. Fast jede Stadtchronik weist Berichte über Räuberbanden auf, die ganze Länder unsicher machten. Die Städte sicherten sich durch Mauern und Wächter gegen das „Gesindel" ab. Kaufleute schlossen sich zum Schutz der Handelswege zusammen; diese waren nicht nur Aktionsfeld einzelner Räuber, sondern wohlorganisierter Räuberbanden, die in Einzelfällen auch politisch moti-

viert handelten. Es sei an die berüchtigten Seepiraten erinnert, auch an die Zeiten der Desperados, die — nach von Hentig — Gold und Silber nicht zu waschen brauchten, da es nach dem Krieg 1918 — in Banken sorgsam aufgehäuft — von ihnen allzuleicht geraubt werden konnte. Von Hentig gibt in diesem Zusammenhang auch eine mögliche Ursachenerklärung, die auch heute noch gelten kann. Gangster fänden sich immer dann ein, sobald sich ein Verbot und eine angedrohte Strafe zwischen Bedarf und Kunden stellen, bereit, das Risiko für hohen Preis zu übernehmen. Der Gangster wachse auf und wirke in Grenzgebieten, seien es Landesgrenzen, Grenzbereiche zwischen City und Slum oder die räumlichen und die soziologischen Grenzen zwischen Stadt und Land. Heindl widmet sich in einer Gegenüberstellung des Gelegenheitsverbrechers zum Berufsverbrecher der Verbrechenspraxis der letzteren Gruppe und zeigt an, daß Verbrecher, die berufsmäßig arbeiten, sich häufig geeigneter Kundschafter als Informanten (Kriminaloide) bedienen, denen Tatbeteiligungen nicht oder selten nachzuweisen sind. Nach Heindl arbeitet der Berufsverbrecher, wenn sich Arbeitsteilung empfiehlt oder erst Verbindungen zum Erfolg führen, in „Kompanie". Er kennt die meisten ortsansässigen Berufsverbrecher und unterhält Kontakte auch zu solchen in anderen Städten und Ländern. Er ist organisiert und gehört einer Gruppe an, die tatkräftige Führer und sogar auswärtige Korrespondenten und feste Versammlungsorte hat. „Wie Bankleute täglich zur Börse gehen, frequentieren die berufsmäßigen Gauner ihre Rendezvousplätze, um den Ausgleich von Angebot und Nachfrage zu regeln", beschreibt Heindl, und weiter: „Wer für ein bestimmtes Unternehmen einen Komplizen mit bestimmten Fertigkeiten braucht, wird ihn hier (in der Liga für Unrecht) finden. Wer juristische Belehrung wünscht, wird sie erhalten. Besonders gut organisiert ist der Zusammenschluß zwischen Einbrechern und Hehlern." Heindl deutet dabei auf einen von Lehnhoff im „Hannoverschen Courier" 1925 veröffentlichten Aufsatz über die „Organisation des Verbrechens" hin, in dem dieser ausführt: „Einbrüche großen Stils werden heute fast stets auf Bestellung gemacht." In den Jahren zwischen 1925 und 1932 sorgten die Ringvereine für erhebliche Beunruhigung in der Bevölkerung und bei der Polizei. Sie hatten sich aus Kreisen der Prostitution und der Zuhälter entwickelt, aus Gruppen also, die in der Gesellschaft auf entschiedene Ablehnung stießen. Die Zusammenschlüsse beschränkten sich in ihrer asozialen Tätigkeit durchaus nicht auf das eigentliche eigene Gebiet, sondern begingen Straftaten verschiedenster Art, bzw. ermöglichten oder deckten sie. So gehörten diesen Verbindungen nicht nur Prostituierte und Zuhälter an, sondern Ver-

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brecher aller Sparten. Es entstanden — vor allem in Großstädten und industriellen Ballungszentren — die sogenannten Verbrechervereine, die sich zu Ringen zusammenschlossen. Aus Gründen der Tarnung nannten sie sich „Sparvereine", „Schachclubs" usw., und es wurde streng darauf geachtet, daß kein Unbefugter Eingang fand. Diese Vereine scheuten sich schon nach einiger Zeit erfolgreichen Bestehens nicht mehr, auch offen hervorzutreten. Groß aufgemachte Veranstaltungen (Beerdigungen von Mitgliedern, Stiftungs- oder sonstige Feste) wurden durchaus auch von angesehenen Rechtsanwälten, Geschäftsleuten und anderen Personen besucht, die in Ausübung ihres Berufes mit den Vereinen oder einzelnen Mitgliedern in Verbindung standen. Diese Zeit der Erstarkung der Vereine war allerdings auch von zunehmender Rivalität untereinander geprägt; gegenseitige Überfälle nahmen Formen von regelrechten Gangsterkriegen an. Ein spektakulärer Überfall dieser Art führte schließlich zur Bildung eines Sonderkommandos zur Bekämpfung der Ringvereine bei der Polizei. Der Erfolg dieses Sonderkommandos wird darauf zurückgeführt, daß erstmals in der Geschichte der Deutschen Polizei ein Beamter getarnt in die Unterwelt eingeschleust wurde und seine Erkenntnisse später dazu benutzt werden konnten, die Verbrecher gegeneinander auszuspielen. Der Ring konnte gesprengt werden. Die weitere Folge war, daß durch diesen kriminalpolizeilichen Erfolg die anderen Ringvereine wesentlich zurückhaltender wurden. Im Jahre 1933 wurden die Vereine dann restlos liquidiert. Nach 1945 bildeten sich erneut Ansätze zur Vereinigung von Verbrechern (in Berlin im Jahre 1949 der „Sparverein West", im Jahre 1951 der „Sparverein Südost", in Braunschweig der „Kegelclub Goldene 9", in Düsseldorf der „Kegelclub Rheingold" und der „Kegelclub Tabu"); sie wurden wegen ihrer „Schutzmaßnahmen" gegen Schankwirte und wegen gravierender Roheitsstraftaten in den darauffolgenden Jahren aufgelöst.

bekannt, jedoch Ansätze dazu erkennbar sind. Dies allerdings ist die Aussage eines Kriminologen, der, letztlich auf Statistiken, Erhebungen und Untersuchungen zurückliegender Zeiträume angewiesen, eine aktuelle Antwort kaum geben kann. Anhaltspunkte über Zustand und Bewegung der Kriminalität, Aussagen über aktuelle Erscheinungsformen und Prognosen in sehr begrenztem Maße werden — und darum geht es hier in besonderer Weise — stets nur von Kriminalisten zu erwarten sein. Ein einheitliches, auf diesen Sachverhalt bezogenes Erfassungssystem — es wäre Voraussetzung klarer und valider Aussagen ·—· gibt es in der Bundesrepublik nicht. Dennoch können Daten und Beobachtungen der Polizeien der Länder und des Bundeskriminalamtes als Ausgangsmaterial zur Beurteilung der Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen der Kriminalität deswegen Verwendung finden, weil sich eine Konstante durch den gleichen gemeinsamen Auftrag ergibt. Weiterhin besteht die Möglichkeit, die Kongruenz der Variablen durch Faktenvergleiche zu ermitteln. Geographische und infrastrukturell bedingte Verschiedenheiten der Bundesländer lassen erwarten, daß Erscheinungsformen und -tendenzen jeweils differieren. Die Tatsache, daß in industriellen Ballungszentren und in Großstädten die Begleitkriminalität der Prostitution neben der Rauschgiftkriminalität den Hauptanteil an organisierter oder sich organisierender Kriminalität ausmacht, während in den übrigen Bereichen jeweils verschiedene spezielle Straftaten von sich mehr aus Angehörigen des Handels und des Wirtschaftslebens zusammensetzenden kriminellen Gruppen begangen und organisiert werden, bestätigt diese Annahme. Die folgende Darstellung soll einen Überblick über die organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland geben. Dabei werden bisher erkannte Erscheinungsformen aufgegriffen und nach subjektiven Anschauungen gegliedert.

ΙΠ. DERZEITIGER STAND EN

A. Eigentumskriminalität

DER BUNDESREPUBLIK

Dieser Gruppe werden die verschiedensten Kriminalitätsbereiche zugeordnet; ihre Gemeinsamkeiten ergeben sich teils aus strafrechtlichen Zusammenhängen, teils aus kriminalpolizeilicher Erfahrung.

Die eingangs erhobene Frage, ob sich organisierte Kriminalität — verstanden im Sinne der amerikanischen Begriffsdeutung — in der Bundesrepublik Deutschland bereits etabliert hat oder ob sie, sich erst dazu entwickelnd, im Sinne des in Berlin vorläufig benutzten Arbeitsbegriffes zum gesellschaftlichen und polizeilichen Problem wird, beantwortet Göppinger dahin, daß in Europa syndikatähnliche Verbrecherorganisationen (außer sizilianischen und süditalienischen Organisationen), die mit den Syndikaten in den USA vergleichbar wären, in entsprechendem Maße nicht 30·

1.

Großeinbrüche

In zunehmendem Maße machen sich Banden und Gruppierungen Krimineller bemerkbar, die planvoll (Stehlgut und Tatort, Rollenverteilung bei Tatvorbereitung und Tatausführung) und rationell (Tatablauf, Tatort, Transport und Absatz des Stehlgutes) vorgehend, durch Großein-

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brüche in Pelz-, Textil- und Juweliergeschäfte und Lager erhebliche Schäden anrichten. Diese Tätergruppen stehen mit gleichartig tätigen Gruppen und mit Hehlern im Inland, teilweise auch im Ausland in Verbindung. Sie unterhalten ein gut funktionierendes Nachrichtensystem und üben auf Tatbeteiligte und auf mögliche Zeugen erheblichen Druck durch Drohungen und Tätlichkeiten aus, so daß Aussagen vor Polizei und Gericht selten zu erlangen sind. Das Stehlgut und die Tatorte unterliegen rationeller Planung, d. h. Bedarf und Absatzmöglichkeiten bestimmen die Taten (Regulierung nach Maßgabe des Bedarfs). Der Tatablauf unterliegt einem „Arbeits- und Rollenplan", wobei Angehörige der jeweiligen Gruppen als Einbrecher, als Transporteure und als Hehler oder Abnehmer fungieren. Die Eigensicherung beschränkt sich nicht allein auf die eigentliche Tat, sondern umschließt sowohl die vorherige Prüfung, welcher Gruppenangehörige für welchen Tatbeitrag am besten geeignet ist, als auch die Fragen des unbemerkten Transports und Absatzes. In Verdacht geratene Personen werden sofort aus dem Blickfeld gezogen, verdächtig gewordene Kraftfahrzeuge sofort als gestohlen gemeldet und Mitwisser unter Druck gestellt. Stehlgut wird möglichst schnell an einem möglichst weit entfernten Absatzort umgesetzt, auch verfälscht oder so verändert, daß es kaum mehr als solches identifizierbar ist. 2. Organisierte

Hafenkriminalität

Nach einem Bericht aus Nordrhein-Westfalen, der den Ausführungen des Delegierten der USA während der Arbeitstagung der IKPO (Interpol) zum Thema „Das organisierte Verbrechen" über die Verhältnisse im Hafengelände von Brooklyn fast gleichkommt, hatten sich im Hafenbereich Duisburg-Ruhrort Hafenarbeiter, Schrotthändler und Speditionsfirmen zu einer Gruppe zusammengeschlossen, um organisierte Diebstähle an Lagerbeständen durchzuführen. Das Stehlgut —• hochwertiges Metall Veredlungsmaterial — wurde während des üblichen Arbeitsablaufs mit hafeneigenen Anlagen und Geräten auf für diese Zwecke geliehene oder gemietete Lkw verladen und vorher festgelegten Abnehmern (Schrott- und Metallhändler) zugeführt. Die vorgesehenen Fahrtstrecken dieser Lkw wurden durch vorausfahrende Gruppenangehörige abgesichert. Bei Gefahr einer polizeilichen Kontrolle wurden die Ladungen an Verstecken abgekippt und im Stich gelassen. Auf dem Wege über mehrere Schrotthändler zu den Metallgroßhändlern wurde dabei die Ware stufenweise als Eisenschrott und als Eisenschrott zum Einschmelzen bezeichnet und schließlich wieder mit ihrer tatsächlichen Bezeichnung deklariert. So organisiert, wurde das Stehlgut letztlich dem

Handel wieder zugeführt und in einigen Fällen sogar dem Bestohlenen wieder verkauft. Bei Aufdeckung eines Täterkreises dieser Art wurde ein Gesamtumsatz in einer Größenordnung von etwa 2,3 Mio DM festgestellt. 3. Organisierter Kraftfahrzeugdiebstahl und -Schmuggel Fast in allen Bundesländern wird die Zunahme organisierten Kfz-Diebstahls und Kfz-Schmuggels registriert. Eng verknüpft mit den Diebstählen sind Fälschungshandlungen aller Art, auch Diebstähle von Blanko-Ausweispapieren, Kfz-Scheinen und Führerscheinen. Nach den Beobachtungen in den verschiedenen Ländern handelt es sich bei den Tätern um verschiedene Kreise, die jedoch durch berufliche Verbindungen jeweils einiger Gruppenmitglieder gekennzeichnet sind und zum Teil recht enge Beziehungen untereinander und im Ausland haben. Während einige Gruppen — gleichsam autark — gezielte Diebstähle (Kfz-Marken bestimmter Art, ζ. B. Mercedes 280 und aufwärts) durchführen, die Kfz in eigenen Werkstätten umfrisieren, die entsprechenden falschen Papiere herstellen oder gestohlene Papiere herrichten, den Abtransport ins Ausland oder den Absatz im Inland erledigen, wobei innerhalb der Gruppen strenge Rollenverteilung und rationelle Arbeitsverteilung die Regel sind, befassen sich andere Gruppierungen mit Teilbereichen des Gesamtablaufs. Diese Gruppen sind entweder als Diebesbanden oder als Fälscher, als Transporteure (Zulieferer), als Hehler- und Verteilerbanden tätig, sind also auf den jeweiligen Tatenbereich spezialisiert. In allen Fällen sind Fachleute aus dem KfzHandel, aus dem Kfz-Handwerk und der Kraftfahrzeugverwertung Schlüsselfiguren. Als ausländische Absatzmärkte wurden verschiedene arabische Länder, Griechenland, die Schweiz, Österreich, Luxemburg und Belgien festgestellt. Die gängige Methode aller dieser Gruppen läßt sich dahingehend zusammenfassen: a) Auftrag an Gruppenangehörige, bestimmte Kfz-Typen zu entwenden und einem vereinbarten Ort zuzuführen (Werkstätten, KfzVerwertungsbetrieben, Garagen), b) Umfrisieren der Fahrzeuge (Umschlagen der Motor- und Fahrgestellnummern, evtl. Umspritzen, Anbringen verfälschter, gestohlener oder total gefälschter Kennzeichen, Ausrüstung mit gefälschten oder verfälschten Urkunden bzw. Papieren), c) Überführung der Fahrzeuge an die vorher festgelegten Abnehmer bzw. Besteller (Zollkontrollen werden durch Vorlegen gefälschter

Verbrechertum, organisiertes Kaufverträge und mit Hilfe von entsprechenden Zollausfuhr- bzw. Einfuhrerklärungen unterlaufen). Eng verknüpft mit diesem kriminellen KfzHandel sind betrügerische Manipulationen auch i. S. vorgetäuschter Verkehrsunfälle, wobei die einzelnen Gruppen verschiedene Praktiken entwickelt haben. Als am meisten betriebene Arbeitsmethoden wurden die Vortäuschung von Verkehrsunfällen (Betrug zum Nachteil von Versicherungen) und das Umfrisieren von Unfallwagen (auf deren Fahrgestelle die Aufbauten entwendeter Pkw aufgesetzt werden) bekannt. B. Rauschgiftkriminalität Diese relativ neue, fast alle Bevölkerungsschichten treffende Kriminalität stellt mit ihrer Vielfältigkeit, mit ihren zum Teil ideologischen Hintergründen nicht nur die Kriminalpolizei vor besondere Probleme. Die Rauschgiftkriminalität ist in kriminologisch-kriminalistischem Sinne vielschichtig und damit oft bekämpfungsimmun, weil sich die Linien zwischen Opfer und Täter, zwischen Krankheit und Kriminalität nicht so klar ziehen lassen, wie es bei anderen Deliktsbereichen möglich ist ( - > Rauschmittelmißbrauch). An einer Gesamtübersicht, welcher Ausmaß und Zusammenhänge zu entnehmen wären, mangelt es in der Bundesrepublik, obwohl besondere Meldedienste der Polizei und anderer Behörden inzwischen eingerichtet wurden. Fast alle Bundesländer berichten übereinstimmend, daß überwiegend von Ausländern geführte oder unter deren Einfluß stehende Gruppen oder Ringe bekanntgeworden sind. Diese betreiben den illegalen Rauschgifthandel und -Schmuggel nach dem Prinzip der Arbeitsteilung. Der Aufbau scheint sich in allen Gruppen gleich zu gestalten: angefangen vom Großverteiler über Zwischenhändler, Vermittler, Kleinverteiler bis zum Dealer, der — zumeist selbst drogenabhängig — seinen Stoff grammweise abgibt. Die Organisationen arbeiten konspirativ, schirmen sich streng nach außen und nach innen ab. Die Verantwortlichen verhandeln über Mittelsmänner, benutzen Decknamen, lassen sich Nachrichten nur verschlüsselt zugehen und observieren die Polizei. Zur Tarnung werden von den Hauptverantwortlichen zum Teil legale Import- und Exportgeschäfte abgewickelt. Das Schmuggelgut wird zwischen Waren zu Lande, zu Wasser und auf den Luftwegen, in vielen Fällen in dafür präparierten unverfänglichen Behältnissen transportiert. Abgesehen von einigen von Deutschen geführten Ringen werden zumeist Orientalen als „Bosse", „Drahtzieher" oder „Hauptvermittler" festgestellt. Alle Ringe unterhalten mehr oder weniger feste Beziehungen zu ausländischen Rin-

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gen; einige sind als Filialen ausländischer Ringe zu betrachten. C. Illegaler Waffenhandel und -Schmuggel Abgesehen von politisch-kriminellen Gruppen sind sowohl Einzeltäter als auch Verbrechergruppen bestrebt, sich modern und stark zu bewaffnen. Diese Waffen werden sowohl bei bzw. zur Durchführung von gruppenspezifischen Straftaten als auch in Zusammenhang mit Machtkämpfen innerhalb bzw. zwischen den Gruppen eingesetzt. Am illegalen Waffenhandel und -Schmuggel sind nach den bisherigen Beobachtungen in erster Linie Angehörige des legalen Handels beteiligt, die im Rahmen ihrer üblichen Handelsbeziehungen gute Kontakte zu ausländischen Unternehmern haben. Sie sind als die Hauptträger des Schmuggels und des Großhandels zu betrachten, während der illegale Kleinhandel in den Händen sowohl deutscher und ausländischer Zuhältergruppen als auch verschieden zusammengesetzter Banden und Gruppierungen (Glücksspiel, Einbrecher- und Hehlergruppen) liegt. D. Fälschungskriminalität Fälschungsdelikte werden zumeist in Verbindung mit anderen Delikten verübt, entweder zur Realisierung von Betrügereien oder zur Verschleierung anderer Straftaten. Diese Kriminalität gesondert zu betrachten, scheint deswegen geraten, weil nach kriminalpolizeilichen Feststellungen bzw. Beobachtungen Anzeichen dafür gegeben sind, daß sich relativ kleine Tätergruppen darauf spezialisieren, auf Bestellung gefälschte Papiere (Ausweise, Pässe, Kfz-Papiere, Diplomatenpässe, Urkunden, Diplome usw.) zu beschaffen oder herzustellen. Die für diese Zwecke notwendigen Vordrucke usw. werden entweder durch Einbruchsdiebstähle (Blanko-Ausweise, -Pässe u. ä.) beschafft oder selbst produziert. Delikte der Geldfälschung wie auch der Diebstahlskriminalität in Verbindung mit EuroScheckkarten werden vermehrt durch mehr oder weniger straff organisierte professionelle Täter durchgeführt. Als Geldfälscher arbeiten sie bevorzugt in Gruppen oder Banden (die verschiedenen Arbeitsgänge zur Herstellung des Falschgeldes erfordern mehrere Spezialisten). Die Falschgeldhersteller bedienen sich zur Verbreitung ihrer Erzeugnisse stets einer mehr oder weniger fest strukturierten Verteilerorganisation. Internationale Banden, vorwiegend aus südamerikanischen Ländern, verschaffen sich nach genauen Plänen Blanko-Reiseschecks, die wenige Tage danach schlagartig in europäischen und außereuropäischen Ländern eingelöst werden. Neben diesen Delikten spielen auf internationaler

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Verbrechertum, organisiertes

Ebene Totalfälschungen von Travellerschecks, Banküberweisungen oder Auszahlungs-Orders eine nicht unbeachtliche Rolle. Organisierte Banden mit Mitgliedern in vielen europäischen Städten wirken bei der Fälschung und Einlösung mit. E. Zuhälter-, Gewalt- and sonstige Kriminalität Die Frage der Einstufung des Zuhälters ist umstritten. Wird er allein in seinem Verhältnis zur Dirne beurteilt, wäre sein Verhalten als asozial zu bezeichnen und seine gerichtliche Verurteilung wäre Bestrafung einer in der Gesellschaft verachteten Lebensweise. Eine so orientierte Anschauung ginge jedoch an realen Erscheinungen vorbei, nähme die Tatsachen der mit der Prostitution verbundenen kriminellen Anstöße und Erscheinungen nicht zur Kenntnis. Prostitution hat einen ihr eigenen Lebensbereich und ist zugleich als Kontaktfeld vieler krimineller Kreise in vielfältiger Weise Katalysator zum Verbrechen. Nicht von ungefähr prägte sich die Formulierung „Begleitkriminalität der Prostitution", zu der als „klassische" Delikte der Hausfriedensbruch, die Körperverletzung, die Beleidigung, der Beischlafdiebstahl, die Nötigung, die räuberische Erpressung und der Raub seit jeher zählen. Als eine der Haupteinnahmequellen des organisierten Verbrechens ist neben dem Glücksspiel und dem Rauschgifthandel die Prostitution zu bezeichnen. Der Unzuchterlös der Dirne verschafft dem Zuhälter eine finanzielle Basis, er befähigt ihn, in andere „Geschäfte" einzusteigen. Konkurrenzsituationen und Zweckmäßigkeitsüberlegungen führten dazu, daß sich die Zuhälter — vor allem in Großstadtbereichen — gruppierten und zur Begehung anderer Delikte zusammenschlossen. In allen Großstädten, Hafenstädten und sonstigen Ballungszentren gehen diese Gruppen dazu über, Schankstätteninhabern „Schutz gegen Entgelt" aufzuzwingen, Einfluß in das Nachtleben auch hinsichtlich der Kontrolle des Glücksspiels zu nehmen und in die Geschäfte des illegalen Waffen- und Rauschgifthandels und -schmuggeis einzusteigen. Sie bedienen sich dazu verschiedener Mittel des Terrors und verstärken ihre Positionen durch die oft erzwungene Übernahme von Lokalen bzw. durch Einnahme von Schlüsselpositionen als Geschäftsführer usw. Diese Kreise halten nicht nur Verbindungen von Gruppe zu Gruppe, von Stadt zu Stadt, über Länder- und Staatsgrenzen hinaus aufrecht (Schlupfwinkel, Hehlernester, Kontaktpersonen usw.), sondern unterhalten einen recht gut funktionierenden Nachrichtendienst, der sowohl der planvollen Durchführung von Straftaten, als auch der Absicherung nach außen gegen Konkurrenteil und gegen staatlichen Zugriff) und der Beeinflussung von Randfiguren (Schankwirte, Prostituierte) dient.

F. Wirtschaftskriminalität Gesicherte Erkenntnisse über organisierte Formen dieser Kriminalität liegen mir nicht vor (-»· Wirtschaftskriminalität), wohl aber sind Anzeichen dafür vorhanden, daß Delikte, die für Industrielle, Gewerbeunternehmer und Kaufleute typisch sind (Insolvenzdelikte, Veruntreuungen, Wucher, Investitionsschwindel, Steuerdelikte usw.), mehr und mehr in das Interesse nationaler und internationaler Randgruppen der Privatwirtschaft rücken. Die Anzahl unseriöser Unternehmen (von Unternehmen mit unlauteren, aber noch nicht kriminellen Geschäftsgebaren angefangen über Unternehmen mit wirtschaftskriminellem Geschäftsgebaren und Ausweichgründungen, die mit illegal entstandenen Kapitalien aufgezogen sind bis hin zu Tarnfirmen und Schwindelfirmen) nimmt nach den kriminalpolizeilichen Beobachtungen ständig zu. Entsprechend den allgemeinen privat wirtschaftlichen Beziehungen und Verbindungen pflegen unseriöse Unternehmer Kontakte sowohl zu seriösen Vertretern der Wirtschaft als auch zu kriminellen Gruppen im Inund im Ausland. Nach beim Bundeskriminalamt geführten, auf Schätzungen beruhenden Statistiken, beziffert sich die Zahl der schwerwiegenden Wirtschaftsstraftaten auf jährlich etwa 30 000 Fälle mit einer Schadenssumme bis zu 20 Milliarden DM. Die Betätigungsfelder der Wirtschaftsstraftäter sind naturgemäß weit gefächert. Einige Gruppen befassen sich mit der sog. Verdieselung — Steuerhinterziehung durch Großeinkauf von Heizöl und Weiterverkauf als Dieselkraftstoff (beides chemisch dasselbe; Dieselkraftstoff wird etwa vierzigmal so hoch besteuert wie das begünstigte Heizöl) —, andere arbeiten mit wertlosen Wertpapieren, etwa Zertifikaten, die Mitbesitz an Überseeimmobilien garantieren, mit nutzlosen Fernlehrgängen, mit auf Kredit gekauften, verschobenen Kraftwagen und Subventionserschleichung. Für den Subventionsschwindel bietet das fast unübersichtliche System des EWG-Agrarmarktes ein weites Feld. Die Subventionserschleichung ist zugleich einträglich und unauffällig, weil es keinen direkt Geschädigten gibt, der Regreßansprüche stellt. Als sich neu entwickelnde und wegen des spezifischen Charakters der modernen Datenverarbeitung auf Gruppenbegehung angelegte Kriminalität steht die sog. Computerkriminalität vor der Tür, die sich bisher in den Erscheinungsformen der Programmanipulation, des Datendiebstahls, der Datenspionage, des Zeitdiebstahls und der Sabotage zeigt. G. Politische Kriminalität Im weitesten Sinne umschließt dieser Begriff alle Straftatbestände des StGB und strafrecht-

Verbrechertum, organisiertes licher Nebengesetze, sofern mit ihrer Verwirklichung politische Ziele verfolgt werden. Als spezielle Tatbestände kommen die im zweiten Teil, Abschnitt 1 bis 4 StGB niedergelegten Normen in Betracht, deren Tatbestände zum Teil kriminelle Organisation als besonderes Merkmal enthalten. Politische Delinquenz setzt fast begriffsnotwendig organisierte Planung und Ausführung voraus, und der Fall des politisch-kriminellen Einzeltäters ist — von Einzelerscheinungen abgesehen — äußerst selten. 1. Rechtsextreme kriminelle

Gruppen

Mit dem Abstieg der NPD nach der Bundestagswahl 1969 wurde die Bildung sog. Widerstandsgruppen in fast allen rechtsradikalen Gruppierungen beobachtet, die in erster Linie die neue Deutschlandpolitik zum Anlaß für ihre Demonstrationen, Aktionen und Ausschreitungen nahmen. Schwerpunkt des organisierten Rechtsradikalismus bildeten sich in und um Hamburg, Frankfurt und München. Die Mehrzahl rechtsradikaler Ausschreitungen allerdings wurde in Berlin und im Rhein-Ruhr-Gebiet verübt. Sowohl Terrorakte (Brandstiftungen), Gewaltakte (Körperverletzungen, Sachbeschädigungen), als auch Drohungen (Androhen von Mord, Entführung, Sprengstoffund Brandanschlägen) gehören zum Tätigkeitsbereich dieser Gruppen. Die Anzahl der Ausschreitungen allein dieser Art in der Bundesrepublik Deutschland wird für 1971 mit 123 Fällen angegeben. 2. Linksextreme kriminelle

Gruppen

Schwerpunkte der Aktivität linksradikaler Kräfte, die ständig — und in Teilbereichen mit Erfolg — versuchen, die Abwehrhaltung der Bevölkerung abzubauen, waren und sind die Jugendorganisationen, die Hochschulen, aber auch die Gewerkschaften und der öffentliche Dienst. Obwohl die radikale „Neue Linke" stark zersplittert ist, zeigen sich Ansätze für größere Zusammenschlüsse. Die Tendenz zu einer gemeinsamen revolutionären Strategie, vor allem in dem Bestreben, den Einfluß in den Hochschulen zu vergrößern, ist zu erkennen. Diese linksradikalen Gruppen suchen soziale Konflikte zu verschärfen, um Ansätze für Aktionen zu erlangen, die ihren politischen Zielen nützen können. Schwere Gewalt- und Terroraktionen, denen auch Menschen zum Opfer fielen, nahmen ständig zu. In der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlins bestanden 1971 etwa 390 linksorientierte Vereinigungen mit etwa 89 000 Mitgliedern, wovon 35 Gruppen als maoistisch, 7 als trotzkistisch, 10 als anarchistisch und rund 210 als

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sonstige Gruppen der radikalen „Neuen Linken" bezeichnet werden. Alle Gruppen der „Neuen Linken" folgen der Auffassung, daß die Gesellschaisordnung in der Bundesrepublik nur gewaltsam beseitigt werden könne. Die meisten der politisch motivierten Terrorakte und Fälle gravierender Kriminalität wurden bisher von kleinen Gruppen und Einzeltätern begangen. Als eine der brutalsten Gruppen wurde die Baader-Meinhof-Bande bekannt, deren Mitglieder bei der Ausführung zahlreicher Straftaten wiederholt von der Schußwaffe Gebrauch machten und dabei mehrere Polizeibeamte töteten und verletzten. Nach dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputt macht" propagieren die sogenannten „Schwarzen Zellen" offen Gewalt. In ihnen haben sich Lehrlinge, Schüler und Arbeiter zusammengefunden, die in Berlin Gewalt und Terror ausüben. Sie orientieren sich an der anarchistischen Vorstellung einer staatslosen Gesellschaft und solidarisieren sich mit den „Genossen der RAF (Rote Armee Fraktion)", die gleiche Ziele verfolgen. Eine weitere Gruppe, früher unter Führung des wegen versuchten Mordes und anderer Straftaten zu mehr als neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Kommunarden Kunzelmann tätig, verübte Terrorakte und Gewalttaten überwiegend im Münchener Raum. Es wurde festgestellt, daß diese Gruppe mit der B-M-Bande eng zusammenarbeitete. Im Jahre 1971 wurden insgesamt 555 Gewaltund Terrorakte mit vermutlich linksradikalen Hintergrund bekannt, wovon sich ein erheblicher Teil gegen Hochschulen, die anderen zumeist gegen Justiz-, Polizei- und Verkehrsbetriebe, sowie gegen amerikanische Einrichtungen und gegen Geldinstitute richteten. Obgleich die „Neue Linke" ideologisch und organisatorisch heute noch stark zersplittert ist, zeigen sich doch Ansätze für überregionale Zusammenschlüsse. Ihre politische Agitation wird nach Ansicht vieler Experten bei Schülern und Studenten weiterhin Anklang finden. Es ist daher damit zu rechnen, daß die Bewegung der „Neuen Linken" mit all ihren Begleiterscheinungen nicht nur wirksam bleiben wird, sondern sich durch Unterwanderung von Positionen im Lehrkörper, der studentischen Selbstverwaltung und der Fachbereiche festigen wird. Diese Entwicklung wird durch die sogenannten Erstsemester-Beratungsstellen ebenso gefördert wie durch die Berufung marxistischer Dozenten und die „Sozialistischen Studentenprogramme". Dieser Entwicklung kommt die Gleichgültigkeit der „schweigenden Mehrheit" der Studenten ebenso wie die Resignation mancher Hochschullehrer und Hochschulverwaltungen entgegen.

Verbrechertum, organisiertes

472 3. Ausländische

Extremistengruppen

Über zwei Millionen ausländische Arbeitskräfte sind heute unentbehrliche Stütze des Wirtschaftsund Arbeitslebens der Bundesrepublik Deutschland und Westberlins. Diese unterschiedlich stark vertretenen Ausländergruppen, denen eine nicht unbedeutende Anzahl illegal Eingewanderter noch hinzuzuzählen ist, bringen naturgemäß Anpassungs- und Integrationsprobleme mit sich. Nach Erkenntnissen der Ämter für Verfassungsschutz werden die Gastarbeiter von ausländischen Extremisten umworben, deren Ziele dahin gehen, für politisch-radikale Aktivitäten eine breite Basis zu gewinnen. Diese politischen Gruppen greifen die sozialen Probleme der Gastarbeiter und politische Konfliktstoffe auf und nutzen diese für ihre politischen Ziele aus. Trotz aller Bemühungen dieser Gruppen, die sich nicht scheuen, den von ihnen umworbenen Gastarbeitern „Spenden" für konspirativ arbeitende Extremistengruppen abzunötigen, verhält sich die Mehrzahl der Gastarbeiter politisch neutral und gemäßigt. Die sicherheitsgefährdenden Bestrebungen unter den im Bundesgebiet lebenden Ausländern gehen vorwiegend von politischen Flüchtlingen, von Sozialrevolutionär eingestellten Studenten und von Gruppen aus, die mit Aufträgen ausländischer Organisationen in das Bundesgebiet eingeschleust werden. Auch im akademischen Bereich zeigt sich ein starker Einfluß radikaler Tätigkeiten. Unter den an deutschen Hochschulen und Universitäten studierenden Ausländern finden sowohl ausländische Extremisten als auch die „Neue Linke" zahlreiche Anhängerschaft. Unter den ausländischen Extremistengruppen im Bundesgebiet sind griechische und palästinensische Organisationen sowie Zusammenschlüsse von Ostemigranten (vorwiegend Jugoslawen) zahlenmäßig am stärksten vertreten. Die meisten Fälle der Terror- und Gewaltakte der ausländischen Extremisten richteten sich gegen diplomatische und konsularische Vertretungen der verschiedensten Staaten. Die radikalsten palästinensischen Gruppen traten mit Sprengstoffanschlägen, Flugzeugentführungen, Geiselnahmen und -tötungen israelischer und jordanischer Staatsangehöriger in Erscheinung. IV. BEKÄMPFUNG DER ORGANISIERTEN KRIMINALITÄT Die bisherigen polizeilichen Erfahrungen und Feststellungen fanden teilweise bereits ihren Niederschlag in politischen Entscheidungen. Sie sind und waren auch Gegenstand polizei-interner Reaktionen. Die polizeibezogenen politischen Konsequenzen, hier in erster Linie das „Programm für die Innere Sicherheit in der Bundesrepublik

Deutschland", aber auch die inzwischen in Kraft gesetzten Änderungen des Haftrechtes, finden ihre Ergänzung in der Modernisierung polizeilicher Einrichtungen, der Bildung spezieller Kommissionen, der Neuregelung des Meldedienstes, kurzum in der Entwicklung neuer Kriminalstrategien und -taktiken. Mag der Föderalismus auf den ersten Blick einer gleichartigen und gleichmäßigen polizeilichen Entwicklung entgegenstehen, so zeigt sich letztlich doch, daß bestehende Verbindungen (Staatsverträge der Länder untereinander, die im Grundgesetz verankerten Bindungen des Bundes an die Länder und umgekehrt) geeignet sind, Polizeiaufgaben einheitlich zu regeln. Dies ist allerdings bisher nicht in allen Bereichen geschehen, und so ergibt sich, daß die polizeilichen Reaktionen auf Erscheinungsformen organisierter Kriminalität von Land zu Land verschieden sind. Der überwiegende Teil der Länder beschränkte sich bisher auf ad-hoc-Reaktionen, d. h., Aufgaben der Bekämpfung organisierter Kriminalität werden nach Bekanntwerden der Tätigkeit krimineller Gruppen Sonderkommissionen übertragen (so ζ. B. in Schleswig-Holstein und NordrheinWestfalen). Andere Länder (Hessen, ζ. T. Hamburg und Berlin) versuchen, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität durch Organisationsveränderungen und Einrichtung spezieller Dienststellen zu intensivieren. Wegen fehlender allgemeingültiger Maßstäbe entziehen sich diese Maßnahmen heute noch fast jeglicher Bewertung im Sinne einer bundeseinheitlichen Kriminalstrategie, wenn auch Einzelerfolge für die eine oder die andere Reaktionsform sprechen könnten. Meiner Ansicht nach scheint es zwingend geboten, die Entwicklung der organisierten Kriminalität und ihre Erscheinungsformen in den Bundesländern durch zentrale Spezialdienststellen beobachten und bekämpfen zu lassen. Die im Jahre 1970 in Berlin gebildete Sonderkommission zur Bekämpfung organisierter Kriminalität befaßte sich im wesentlichen mit der Beobachtung und Observation von Unterweltskreisen und mit der Bearbeitung geeigneter Vorgänge gegen Personen dieser Kreise. Die Beobachtung von Unterweltskreisen erfolgte mit Zielrichtung auf: Bandenmäßige Erpressung von Schankwirten im Hinblick auf eine Gebühr für Lokalschutz, Waffenhandel, waffentragende Personen innerhalb der Unterweltskreise, Roheitsdelikte besonders übler Art in Zusammenhang mit Unterweltskre'sen, die zur Bearbeitung herangezogenen Vorgänge, mögliche örtliche und überörtliche Zusammenschlüsse und Organisationen innerhalb der Unterweltskreise. Die Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Kommission führten im September 1971 zum Ausbau als Spezialkommissariat zur Beobachtung und

Verbrechertum, organisiertes Bekämpfung organisierter Kriminalität. Bei rückblickender Betrachtung zeigt sich die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Ein großer Teil der verfolgten Straftaten wäre trotz ihrer Gefährlichkeit und Auswirkungen ohne die systematische Bekämpfung dieser Kriminalität nicht bekanntgemacht und verfolgt worden. Als besonders wirkungsvoll erwies sich, daß eine bestimmte Dienststelle die schwere Kriminalität der kriminellen Gruppen fortgesetzt und initiativ beobachtete und bekämpfte. Das führte spürbar zu Reaktionen in Kreisen der Unterwelt. Trotz dieser Teilerfolge angesichts der Entwicklung überregional gesteuerter krimineller Zusammenschlüsse in bestimmten Deliktsbereichen (illegaler Rauschgifthandel und -Schmuggel, Waffenhandel und -Schmuggel) ist in Berlin geplant, die Bekämpfung aller Erscheinungsformen organisierter Kriminalität im Sinne des bereits dargelegten und zu diesem Zwecke entwickelten Arbeitsbegriffs einer mehrfach gegliederten, zentralen Dienststelle zuzuweisen. Der deliktische Rahmen soll kriminologisch den Zwangsschutz, Erpressung, Nötigung, Bedrohung, Roheitsdelikte, Anmaßungsdelikte (Selbstjustiz), illegales Glücksspiel, Zuhälterei, Prostitution, Kuppelei, Pornografie, Sandelei, Nepp, illegalen Waffenhandel, illegalen Rauschgifthandel, Mädchenhandel, Korruption, fiskalische Delikte und Handel mit wertvollem Stehlgut/Hehlgut umfassen, wobei über Fragen der Zuständigkeitsregelung (absolute und relative) ebenso wie über die der personellen Besetzung, der Ausbildung für spezielle Tätigkeiten und der materiellen Ausstattung noch nicht entschieden worden ist.

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lungen zugeschnitten ist, als auch bundeseinheitliche organisatorische Maßnahmen im Polizeibereich. Es war das Ziel einer Arbeitstagung für Leiter größerer Polizeidienststellen in Großstädten, für Staatsanwälte und Leiter von Ausländerbehörden vom Februar 1973 in der Polizeiführungsakademie Hiltrup, festzustellen, wer bereits über bedeutsame Erkenntnisse verfügt. Diese Erkenntnisse zusammenzutragen und herauszufinden, welche Methoden der Beobachtung, Untersuchung und Sammlung gemeinsam zu entwickeln sind, muß gemeinsames Anliegen aller an der Verbrechensbekämpfung Beteiligter sein. Dieses Vorhaben wird energisch fortgesetzt werden müssen, wenn verhindert werden soll, daß in Deutschland organisierte Kriminalität im Sinne amerikanischer Erscheinungsformen Fuß fassen kann. Monographien G. F. H. R. v.

B a r t s c h : Prostitution, Kuppelei und Zuhälterei. 1956. E x n e r : Kriminologie. Dritte Auflage. 1949. G ö p p i n g e r : Kriminologie. 1971. H e i n d l : Der Berufsverbrecher. Zweite Auflage. 1926. H e n t i g : Der Gangster. 1959.

H. J. S c h n e i d e r : Kriminologie. Berlin, New York 1974. Zeitschriften- und S a m m e l w e r k a u f s ä t z e A. E l s t e r und H. L i n g e m a n n : Organisiertes Verbrechertum. Handwörterbuch der Kriminologie. 1. Aufl. (1936) II, S. 900. R. R u p p r e c h t : Kriminalität in den USA. Pol. Heft 7 (1972) S. 211 ff. Übersetzung des Protokolls zur II. Internationalen Arbeitstagung — Das organisierte Verbrechen — der IPKO in Saint Cloud, 1971/72, S. 1—4. OTTO BOETTCHER

V. ABSCHLIESSENDE FESTSTELLUNGEN Insgesamt zeigt sich, wie die Erfahrungen im Bundesgebiet zu diesem Problem erkennen lassen, ein spürbarer Trend der kriminellen Unterwelt zu Zusammenschlüssen verschiedenster Prägung. Dies sollte Anlaß sein, nicht nur Erfahrungen auszutauschen, sondern eine Strategie zur Bekämpfung der sich entwickelnden oder bereits schon vorhandenen organisierten Kriminalität zu konzipieren. Betroffen davon sind im wesentlichen die Deliktsbereiche des illegalen Rauschgifthandels, des Zwangsschutzes, der Zuhälterei, des illegalen Glücksspiels, des Diebstahls und der Hehlerei, des Waffenhandels, der Fälschungskriminalität, des Betruges (einschließlich Wirtschaftskriminalität) und der politischen Kriminalität. Voraussetzungen dazu wären neben den Mitteln des kriminalpolizeilichen Meldedienstes herkömmlicher Art und den bereits bestehenden Informations- und Arbeitskontakten, sowohl die Erarbeitung eines Beobachtungs-, Erfassungs- und Informationsmodells, das den heutigen Verhältnissen angepaßt und zugleich auf erkennbare zukünftige Entwick-

VERBRECHERTUM, ORGANISIERTES A. Begriff und Ursprung 1.

Begriffsbestimmung

Die kriminelle Organisation ist keine bloße Ansammlung von Kriminellen. Die Struktur und Dynamik der Organisation ist zu berücksichtigen. Das organisierte Verbrechen ist ein soziales System. Es vollzieht sich in einem Sozialprozeß. Es handelt sich immer um kriminelle Aktivitäten, die von strukturierten Organisationen rational, strategisch und taktisch geplant werden. Diese Aktivitäten sind auf Dauer angelegt und werden beharrlich verfolgt. Die einzelnen Mitglieder der kriminellen Organisation haben sich hoch spezialisiert. Eine bestimmte Rollenverteilung herrscht vor. Bedürfnisse innerhalb der Bevölkerung macht man sich systematisch zunutze. Es werden Ver-

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Verbrechertum, organisiertes

brechensarten ausgewählt, die in der jeweiligen Gesellschaft bei möglichst hohen Gewinnen möglichst geringe Risiken versprechen. Die Instanzen der sozialen Kontrolle, ζ. B. Kriminalpolizei und Gerichte, versucht man, systematisch zu neutralisieren. Das geschieht einmal durch die Isolation der Leitung des organisierten Verbrechens von der eigentlichen kriminellen Aktivität. Das wird aber auch durch harte Disziplin mit materiellen, psychischen und symbolischen Bestrafungen und Belohnungen bewirkt. Nicht zuletzt wird versucht, die Behörden zu korrumpieren und regelrechte Öffentlichkeitsarbeit im Dienste des organisierten Verbrechens zu leisten, ohne es allerdings öffentlich als organisiertes Verbrechen zu bezeichnen. Insofern wird die Öffentlichkeit systematisch hinters Licht geführt. Das organisierte Verbrechen versucht, im sozialen Dunkel zu bleiben, also keinesfalls aufzufallen. Deshalb ist es auch so gefährlich. Das organisierte Verbrechen ist nicht vor allem ein Problem der Jugendbanden. Es ist auch keine typische nordamerikanische Erscheinung, die auf die Eigenart der nordamerikanischen Sozial- oder Legalstruktur allein zurückzuführen wäre. Eine solche Betrachtungsweise verschleiert die kriminelle Wirklichkeit und ist in sich ein Abwehrmechanismus (wir haben solche Probleme hier nicht, also brauchen wir nichts zu tun). Freilich ist das organisierte Verbrechen in den USA am besten kriminologisch erforscht. Hier ist seine Verflechtung mit der Wirtschaft und seine Infiltration in Schlüsselstellungen einiger Gewerkschaften besonders gefährlich. Fast legendär ist die sizilianische Mafia, die zwar kriminologisch unzureichend erforscht ist, deren sich aber gerade populärwissenschaftliche und journalistische Darstellungen um so mehr widmen. Das organisierte Verbrechen ist vor allem ein organisationssoziologisches und sozialpsychologisches Problem. Es zu individualisieren, trägt seiner gesellschaftlichen Bedeutung und Gefährlichkeit nicht Rechnung. 2. Geschichte des organisierten

Verbrechens

Über die Entstehung der Mafia in Sizilien gibt es unterschiedliche historische Auffassungen. Nach einer weitverbreiteten Meinung fällt ihre Gründung in die Zeit der Sizilianischen Vesper um das Jahr 1282. In ihrer wechselvollen Geschichte verfolgte die Mafia allerdings verschiedene Zwecke: religiöse, gesellschaftliche, politische. Die Entstehung der Camorra in Neapel soll bis auf das Jahr 1820 zurückgehen; in der offiziellen Amtssprache erschien das Wort aber erst 1865 zum ersten Mal. Über die geschichtlichen Spielarten des deutschen organisierten Verbrechens ist in diesem Handwörterbuch bereits an anderer Stelle (II, S. 279—284) referiert worden. Seit dem Ende

des 19. Jahrhunderts und nicht erst seit der Prohibition besteht das organisierte Verbrechen in den USA. Durch die Prohibition erhielt es allerdings Auftrieb. Chikago wurde zur Gangstermetropole, in der jedes Laster zur Ausbeutung der Bevölkerung organisiert war. Al Capone wurde zur beherrschenden Figur. Von 1924 bis 1931 schössen in den „Bierkriegen" rivalisierende Gangs bei heilichtem Tag aufeinander, ohne daß die Polizei eingreifen konnte und wollte. Allein in vier Jahren wurden 215 Morde bekannt, die die Gangster untereinander begangen hatten. Die Polizei erschoß während dieser vier Jahre 160 organisierte Verbrecher. Bombenwerfen durch spezialisierte, straff organisierte Gangs diente als Methode der Einschüchterung und Erpressung. Mit Backsteinen warf man Schaufensterscheiben ein. Man zerstörte Läden und Vergnügungsstätten. Man schlug Geschäftsinhaber brutal zusammen. Berüchtigt war auch die „black-hand"Methode: Durch anonyme Briefe mit Morddrohungen versuchte man, Geschäftsleute zu erpressen. Diese Methode stammte von der „Camorra" und der „Mafia". Unter Todesfurcht vertrauten sich die Opfer der Polizei nicht an, sondern sie zahlten den Preis für ihr Leben. Die organisierten Verbrecher gründeten „Schutzvereinigungen", die der Geschäftswelt garantierten, nicht belästigt zu werden, und die Geschäftsleute mußten dann regelrechte „Steuern" an das organisierte Verbrechertum zahlen. Auch die Taschendiebe organisierten ihre kriminellen Aktivitäten. Raubüberfälle auf Banken und Eisenbahnzüge wurden von langer Hand vorbereitet und durchgeführt. Auf dem Erie-See wurde der Alkoholschmuggel mit gepanzerten Schiffen betrieben. Irische, jüdische, polnische, italienische und deutsche Banden waren am Werk. Die Öffentlichkeit zeigte sich dem organisierten Verbrechertum gegenüber gleichgültig, und die Stadtverwaltung von Chikago war weitgehend korrumpiert. Durch die mannigfaltigsten Manipulationen und Wahlbetrüge nahm man Einfluß auf die Wahlen der Lokalpolitiker. Man wollte die Stadtverwaltung zum Partner des Verbrechens machen und weitgehend Kontrolle über die gesamte Stadtverwaltung ausüben. Das gelang auch zum Teil. Der Zusammenhang zwischen lokaler Politik und organisiertem Verbrechen wurde bei Begräbnissen von Gangsterbossen offenbar. Der große Pomp bei solchen Beerdigungen sollte Macht und Reichtum des organisierten Verbrechertums zur Schau stellen. Die Anwesenheit der gesellschaftlichen Prominenz, insbesondere auch der Lokal'lolitiker, bei den Beerdigungszeremonien sollte die freundschaftlichen Beziehungen und den politischen Schutz der mächtigen finanziellen Interessen des organisierten Verbrechertums demonstrieren. Der Gangster war seinerzeit noch ein Produkt seiner Slumumgebung. Heute schicken die Gangsterbosse

Verbrechertum, organisiertes ihre Söhne auf die amerikanischen Hochschulen. Denn Formen und Methoden des organisierten Verbrechertums haben sich gewandelt. Geblieben ist die Tatsache, daß organisiertes Verbrechen eng verbunden ist mit der gesamten Sozialstruktur des großstädtischen Lebens. Das Wachstum Chikagos in den 20er Jahren war zu rapide. Eine gesunde, organisch gewachsene Sozialstruktur vermochte sich nicht zu entwickeln. Deshalb versagte die Primärkontrolle über das Verbrechen durch die sozialen Gruppen, durch Familie, Schule, Berufs- und Freizeitgruppe. Soziale Kontrolle über das Verbrechen wird nämlich nicht vor allem durch Polizei, Gerichte und Strafvollzug ausgeübt, sondern durch einfache mitmenschliche nachbarliche Beziehungen. Aber auch die Sekundärkontrolle durch Polizei, Gerichte und Strafvollzug war im Chikago der 20er Jahre zu schwach. Die Polizei war zahlenmäßig zu gering, dazu schlecht ausgebildet und unzureichend bezahlt. 3. Die Mafia Der Ausdruck Mafia ist so bekannt, daß er für die Erscheinungsform des organisierten Verbrechens als Synonym verwandt wird. Das ist nicht unbedenklich, weil es sich bei der sizilianischen Mafia um eine ganz speziell ausgeformte Art des organisierten Verbrechens handelt, die der Sozialstruktur und der Sozialkontrolle auf Sizilien angepaßt ist. Daß es die Mafia nicht gibt, sondern nur mafioses Verhalten, den Nachweis hierfür ist Henner Hess (1970) schuldig geblieben: Er spricht von mafioser Attitüde, von MafiaMentalität, von einer mafiosen Karriere, von einer Mafia-Methode. Als Entstehungsgründe für die Mafia führt er an (1970, S. 16), daß Sizilien fortwährend kolonial beherrschtes Gebiet und einem ständigen Wechsel der Herrschaft unterworfen gewesen sei. Diese Umstände gelten aber in ähnlicher Weise auch für andere Regionen wie den Balkan und Polen, in denen sich keine solchen Formen des organisierten Verbrechens entwickelt haben. Er sieht das Hauptcharakteristikum in der Subkultur der Gewalt (1970, S. 134, 145,179). Ob es eine solche Subkultur der Gewalt überhaupt gibt, haben Marvin Ε. Wolfgang und Franco Ferracuti (1967) nicht nachgewiesen. Beide Autoren haben zusammen mit Renato Lazzari den empirisch-kriminologischen Beleg für eine Subkultur der Gewalt auf Sardinien (1970, S. 87 bis 110) nicht führen können. In diesem Zusammenhang mit Psychopathologie oder überhaupt mit persönlichkeitspsychologischen Variablen zu arbeiten (Mario Fontanesi 1970, S. 69—86), ist verfehlt, da man dem sozialpsychologischen und organisationssoziologischen Problem nicht gerecht wird. Für die erfolgreichen Aktionen der Mafia spielen insbesondere folgende Faktoren eine Rolle: die

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Schwäche des Herrschaftsapparates auf Sizilien, die feindliche Haltung der Bevölkerung allen staatlichen Organen gegenüber, die Handlungsunfähigkeit der Bürokratie und die Langwierigkeit ihrer Maßnahmen, die Ineffektivität der Polizei und der Gerichte, die ihre Entscheidungen nicht zu fällen und durchzusetzen vermögen. Aus dem Zerfall der feudalen Herrschaftsordnung und dem Versagen des bürokratischen Systems etablierte sich in der sizilianischen Agrargesellschaft die Mafia als eine Art pseudofeudaler Selbsthilfeorganisation, die Schutz- und Vermittlerfunktionen ausübt. Diese Probleme der sizilianischen Sozialstruktur und Sozialkontrolle hat Henner Hess (1970) zwar auch gesehen, aber nicht richtig schwerpunktmäßig gewürdigt. Der Mafioso wird als Mafioso anerkannt, wenn es ihm in einem sozialpsychologischen Prozeß (Interaktionsprozeß) gelingt, die Rollen des Schützers, Mittlers, Gewaltausübers erfolgreich zu spielen. Falls er Gewalt angewandt hat und es ihm in einem Strafprozeß möglich ist, die Zeugen zum Schweigen zu bringen, und so einen Freispruch zu erreichen, erhält er das Selbst- und Fremdbild eines Mafioso, der sich eine cosca und eine partito schafft. Unter cosca versteht man die engste von ihm abhängige Klientel, die für ihn Gewalt ausübt. Unter partito meint man ein Netz von informellen, aber wirksamen Beziehungen zu sozial und wirtschaftlich hochstehenden Persönlichkeiten. Der Mafioso strebt darüber hinaus danach, eine offizielle Funktion im staatlichen Machtapparat zu erlangen und so die formellen Instanzen der Sozialkontrolle zu unterwandern. Die Aktivitäten der Mafia richten sich nach der ländlichen Sozialstruktur auf Sizilien. Wucher mit Geld und mit Wasser, Überpreise für alle Arten von Waren, Monopolisierung des Gemüsehandels und die damit verbundene Behinderung des Baus von Staudämmen, die unrechtmäßige Besetzung der günstigsten Plätze auf dem Markt, die Monopolisierung der Aufträge für eine Baufirma oder der Lizenzen für den Benzinverkauf stellen Verhaltensweisen dar, die als Beispiele für mafioses Verhalten gelten können. Den sozialhistorisch bedeutsamsten Einsatz mafioser Macht muß man auf dem Gebiet der Steuerpacht und der Landtransaktionen suchen (hierzu wie zu allem Vorstehenden: Henner Hess 1970, insbes. S. 141).

B. Organisiertes Verbrechen nnd Gesellschaft 1. Die illegalen Aktivitäten in einer Induslriegesellschaft Aufgrund von regierungsamtlichen Unterlagen (President's Commission 1967 b, S. 3) kostet das organisierte Verbrechen die Amerikaner gegenwärtig 9 Milliarden Dollar im Jahr. Das ist mehr als die Schäden, die durch alle anderen Verbrechen

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Verbrechertum, organisiertes

zusammengenommen verursacht werden, und es ist doppelt so viel, wie jährlich für den gesamten Justizapparat, also die Polizei, Gerichte, den Strafvollzug, in den Vereinigten Staaten ausgegeben wird. Das organisierte Verbrechertum befaßt sich heute vor allem mit der Versorgung weiter Teile der Bevölkerung mit illegalen Gütern und Diensten. Typen krimineller Aktivität sind hierbei illegales Spiel, Darlehensgewährung zu Wucherzinsen, Großhandel mit Rauschmitteln, insbesondere Heroin, Schmuggel unverzollten Alkohols und organisierte Prostitution auf gehobener gesellschaftlicher Basis. Besonders gefährlich ist das Eindringen des organisierten Verbrechertums in legale Geschäftsaktivitäten, ζ. B. in die Versicherungsgesellschaften. Dieses Eindringen dient nicht nur der Tarnung. Es hat das Ziel, den Wettbewerb auszuschalten und ganze Geschäftszweige in bestimmten Bezirken unter Kontrolle zu bekommen (ζ. B. die Spielautomatenindustrie), um die Verbraucher auszubeuten. Es ist etwas anderes, die Bevölkerung mit illegalen Diensten und Gütern zu versorgen oder mit der Schußwaffe oder einer Bombe in der Hand einen Anteil am Gewinn eines jeden Nachtclubbesitzers, ja eines jeden Metzgers, eines jeden Bäckers, eines jeden Arztes sogar oder eines jeden Bankiers zu erlangen. Das organisierte Verbrechen treibt die ehrlichen Geschäftsleute aus ihren Geschäften heraus und bedroht durch Ausbeutung des Abnehmers die gesamte Wirtschaftsordnung. Börsenkurse werden manipuliert. Beamte werden bestochen. Versicherungsbetrüge werden durch berufsmäßige Brandleger systematisch begangen; der betrügerische Bankrott wird organisiert. Man versucht, Kontrolle über Einzelgewerkschaften zu erlangen. Eine solche Kontrolle dient nicht nur der systematischen Veruntreuung der Gewerkschaftsgelder in den gewerkschaftlichen Wohlfahrts- und Pensionsfonds. Durch Streikdrohungen versucht man, die Unternehmer zu erpressen. Für die „Sicherung des Arbeitsfriedens" müssen die Unternehmer an das organisierte Verbrechertum regelmäßig Bestechungsgelder zahlen. Über die Kontrolle von Gewerkschaften erlangt das organisierte Verbrechertum auch die Möglichkeit, seine illegalen Aktivitäten, ζ. B. illegales Spiel oder Darlehensgewährung zu Wucherzinsen, auf den Geländen der Unternehmen zu betreiben. 2. Eine Gefahr für die Gesellschaft

Nach blutigen Kriegen der organisierten Banden schlossen sich die mächtigen Bosse der sizilianischitalienischen Gruppen im Jahre 1931 zusammen. Aufgrund von Friedens- und Kooperationsverträgen gründeten sie ein monopolistisches Verbrecherkartell für die USA, die Bahamas und Teile Kanadas. Gegen Ende der Prohibitions-

periode war das organisierte Verbrechen mit der Situation eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs konfrontiert. Um diesen Zusammenbruch zu vermeiden, unterließ man es fortan, sich gegenseitig aufzureiben. Seit dem Jahre 1931 ist das organisierte Verbrechen in der Hand von Amerikanern sizilianisch-italienischer Abstammung. „Amico nostro", unser Freund, ist das Wort, mit dem ein organisierter Verbrecher einem anderen vorgestellt wird. Der Ausdruck „Questa έ una cosa nostra", das ist unsere Angelegenheit, gab dem organisierten Verbrechertum der USA den Namen „Cosa Nostra". Die Bevölkerung hat die Gefährlichkeit des organisierten Verbrechens noch nicht erkannt. Seine soziale Sichtbarkeit ist allerdings auch schlecht, weil der organisierte Verbrecher sich bemüht, möglichst unauffällig zu bleiben und weil die wissenschaftliche Kriminologie und praktische Kriminalistik das Problem bisher nicht deutlich genug erkannt haben. Die Gesellschaft begegnet dem organisierten Verbrechen mit Ambivalenz, Gleichgültigkeit und Skepsis. Das liegt daran, daß selbst Kriminologen das Verbrechen nicht als organisatorisches Problem, sondern als reines individuelles Phänomen ansehen. Das kommt aber auch zum Teil daher, daß die Massenmedien das organisierte Verbrechen so phantasievoll darstellen, daß der Zuschauer solche Zustände für unwirklich hält. Donald R. Cressey bekennt in seinem Buch: „Theft of the Nation", daß er zunächst selbst nicht an die Existenz des organisierten Verbrechens geglaubt habe (1969 a, S. X): „Die Situation ist heute gefährlicher als in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts (Cressey 1967 a, S. 26)." Robert F. Kennedy (1969) sagte vor dem McClellan Senatsausschuß: „Wenn wir das organisierte Verbrechen nicht mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, wird es uns zerstören." 3. Die kriminologische Erforschung des organisierten Verbrechens

Die kriminologische Erforschung des organisierten Verbrechens bietet fast unüberwindbare methodologische Probleme. Das Material, das von kriminalpolizeilichen Spezialeinheiten zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens gesammelt wird, ist streng vertraulich und für praktische Zwecke der Aufklärung von Einzelfällen und der Überführung von Tätern zusammengetragen. Es ist für den Kriminologen nicht ohne weiteres mehr möglich, das für praktische Zwecke erfaßte Material unkritisch zu übernehmen und kriminologisch zu analysieren. Denn die Zweckrichtung der zusammengetragenen Daten ist unwissenschaftlich. Außerdem ist der Blickpunkt der Sozialkontrolle einseitig und auf praktische Ziele eingeengt. Es ist außerordentlich schwierig, „harte Daten" über das organisierte Vdrbrechen

Verbrechertum, organisiertes zu bekommen. Die öffentliche Meinung ist vor allem an Sensationen interessiert. Sie muß erst überzeugt werden, daß das organisierte Verbrechen für sie überhaupt ein „soziales Problem" ist (Henry S. Ruth 1967). Die Kriminologie betrachtet das Verbrechen noch zu sehr als individuelles Problem der Sozialkontrolle. Sie vermag noch zu wenig in organisationssoziologischen Dimensionen zu denken. Informanden über das organisierte Verbrechen stehen für wisenschaftlich-kriminologische Interviews selten zur Verfügung. Da es sich zudem vor allem um ein sozialpsychologisches Phänomen handelt, müßten die Fakten im Rahmen von Interaktionen beobachtet werden, an denen der kriminologische Forscher teilnimmt. Daß dies unmöglich ist, leuchtet ein. Aufgrund des speziellen Forschungsgegenstandes der Kriminologie können traditionelle sozialwissenschaftliche Methoden und deren Güte- und Zuverlässigkeitskriterien nicht unmodifiziert angewandt werden. Der Kriminologe muß vielmehr im Falle des organisierten Verbrechens nach Art eines Archäologen oder Geologen vorgehen, der aus Bruchstücken ihm bekannter Informationen auf Zusammenhänge schließt (Donald R. Cressey 1967 b). Kennt der Kriminologe beispielsweise eine Position in der kriminellen Organisation sehr genau, kann er von daher auf die Struktur der Organisation und die Interaktionsprozesse folgern, die sich innerhalb der Organisation abspielen. Aus fragmentarischen Informationen kann auf diese Weise das Nichtzugängliche angegangen werden, ohne daß man in Spekulationen zu verfallen braucht. Gerade hier sind strenge methodologische Maßstäbe geboten, weil sich auf Sensation abzielende „anekdotische Kriminologie" nur zu gern dieses „lohnenden" Themas bemächtigt.

C. Erscheinungsform des organisierten Verbrechens in den USA 1. Die kriminelle Organisation Zwischen der sizilianischen Mafia und dem nordamerikanischen organisierten Verbrechen besteht in Struktur und Wertsystem große Ähnlichkeit. In den USA existieren gegenwärtig 24 Kartelle oder Syndikate mit etwa 5000 Angehörigen. Die Syndikate oder Familien haben eine wechselnde Größe von 20 bis 700 Mitgliedern. Das Operationsgebiet des organisierten Verbrechens in den USA erstreckt sich vor allem auf die Staaten New York, New Jersey, Florida, Louisiana, Nevada, Michigan und Rhode Island. Das gesamte organisierte Verbrechen in den USA und auch die einzelnen Syndikate sind hierarchisch strukturiert (vgl. das Schaubild; Quelle: President's Commission 1967 b, S. 9). An der Spitze jeder Familie

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steht ein Boss, der die Familie leitet, für Ordnung sorgt und die kriminellen Aktivitäten bestimmt. Er genießt absolute Autorität innerhalb des Syndikats. Unter dem Boss arbeitet ein Underboss, der stellvertretende Direktor des Syndikats. Er sammelt Informationen für den Boss, gibt Befehle und Instruktionen an die Untergebenen weiter. In Abwesenheit des Bosses führt er die kriminelle Gruppe. Auf derselben Ebene wie der Underboss steht der Consigliere, der Berater der kriminellen Gruppe. Es handelt sich um ein älteres Mitglied der Familie, der in seiner kriminellen Karriere die Stellung des Bosses nicht erreicht und sich nun teilweise von der aktiven kriminellen Tätigkeit zurückgezogen hat. Er berät den Boss und den Underboss und hat dadurch einen beträchtlichen Einfluß und erhebliche Macht. Unter dem Underboss arbeiten die Caporegime, die Leutnants. Sie haben eine wichtige Pufferposition zwischen der Leitung des Syndikats und der eigentlichen kriminell-aktiven Gruppe. Diese Gruppe besteht aus Bezirkschefs und einfachen Mitgliedern, den sogenannten Soldaten. Die Funktion der Caporegime, der Leutnants, ist deshalb so wichtig, weil sie die Leitung der Organisation von der eigentlichen kriminellen Aktivität der Untergruppe isoliert. Die Führer des Syndikats, speziell der Boss, vermeiden jeden direkten Kontakt mit den Mitgliedern, die kriminelle Aktivitäten entfalten. Die Kommunikation zwischen der kriminellen Untergruppe und der leitenden Obergruppe findet über die Caporegime, die Leutnants, statt, die keine Befehlsgewalt oder Autorität wie der Boss haben. Oft hat der Caporegime noch einen oder zwei Assistenten, die mit ihm eng zusammenarbeiten, Befehle weitergeben, die Ober- und Untergruppe informieren. Unter den Soldaten arbeiten in der Hierarchie große Mengen von Angestellten und Agenten, die nicht notwendig italienischer Abstammung sind. Die Familie beschäftigt sogenannte Enforcer, Executioner, Corrupter und Money-Mover. Der Enforcer sorgt für eine strenge Disziplin innerhalb des Syndikats. Er trifft auf Anordnung des Bosses Dispositionen zur Tötung und physischen, finanziellen oder psychischen Verletzung von Mitgliedern der Organisation oder gelegentlich von Nichtmitgliedern. Der Executioner führt diese Dispositionen selbst oder durch Agenten aus. Der Corrupter knüpft systematisch Beziehungen mit der Polizei, mit den Behörden, mit jedermann an, der einem Mitglied des Syndikats helfen kann, seine Immunität gegen Verhaftung und Verurteilung zu sichern. Er arbeitet mit den Methoden der Bestechung, der Einschüchterung oder der Verhandlung. Der Money-Mover sorgt dafür, daß die großen illegal erlangten Gelder möglichst sinnvoll und profitbringend angelegt werden. Die gesamte Organisation des Syndikats mit ihrer Pufferfunktion der Caporegime, die strenge Disziplin inner-

Verbrechertum, organisiertes

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Schaubild: Die organisierte Verbrecherfamilie Boss

Underboss

Caporigima (Leutnant)

Caporigima

Caporigima

Caporigima

Caporigima

(Leutnant)

(Leutnant)

(Leutnant)

(Leutnant)

Soldaten halb des Syndikats und die systematische Korruption dienen der Abschirmung der gesamten Organisation gegen kriminalpolizeiliche Verfolgung. Die 24 Syndikate sind zusammengeschlossen in einer sogenannten Kommission, auch „Consiglio d'Amministrazione" genannt. Sie hat die Funktion der Gesetzgebung, des obersten Gerichts und der Leitung der gesamten kriminellen Aktivität des organisierten Verbrechens in den USA und auf internationaler Ebene. Sie setzt sich aus 9 bis 12 Mitgliedern zusammen. Gegenwärtig sind 9 Familien vertreten. Die 5 New Yorker Familien haben in der Kommission das Übergewicht. Stabilität und Ausgewogenheit der Macht innerhalb der Komission werden durch die 5 New Yorker Familien garantiert. Sie sind ständige Mitglieder, und New York wird gegenwärtig als inoffizielles Hauptquartier der gesamten Organisation angesehen. 2. Die kriminellen Leitbilder und die Konfliktregulierung der „Cosa Nostra" Das organisierte Verbrechen besitzt ein ungeschriebenes Gesetzbuch (Omerta), das auf folgen-

den Hauptprinzipien beruht: Von jedem Mitglied wird unbedingte Loyalität untereinander verlangt. In keiner Angelegenheit darf ein Mitglied die Polizei oder sonstige Behörden informieren oder Schutz bei den Behörden suchen. Kein Mitglied darf Aufsehen bei den Behörden oder bei dem Publikum erregen. In jeder Situation wird von dem organisierten Verbrecher verlangt, daß er einen kühlen Kopf behält. E r darf keine Narkotika nehmen und nicht während seiner „Arbeit" betrunken sein. E r darf sich nicht in Streitereien verwickeln lassen. E r darf keine kriminellen Akte begehen, ohne vorher von der Spitze des Syndikats Befehle dazu erhalten zu haben. E r schuldet der Leitung des Syndikats Respekt und absoluten Gehorsam. Jedes Mitglied des Syndikats muß Augen und Ohren offenhalten, aber unbedingt verschwiegen sein. Unter den Mitgliedern des organisierten Verbrechertums herrscht die Einstellung vor, daß Ehrlichsein Opferwerden bedeutet. Ein Mann, der seiner geregelten Arbeit nachgeht und sich der Autorität der Behörden unterwirft, wird als ein „Spießbürger" angesehen. Das ungeschriebene Gesetz gibt der Leitung des

Verbrechertum, organisiertes Syndikats ausbeuterische, autoritäre Macht über jedermann innerhalb der Organisation. Loyalität, Respekt und absoluter Gehorsam wird den Familienmitgliedern durch Initialriten, durch Gewohnheitsrecht innerhalb der Organisation, durch materielle Belohnungen und durch Gewalt eingeschärft. Der Boss, auch „il capo", „don", „capafamiglia" oder „rappresentante" genannt, kann eine Exekution über jedes Familienmitglied für jedweden Grund anordnen. Es wird erwartet, daß inter- und intrafamiliäre Konflikte auf friedlichem Wege bereinigt werden. Wenn zwei Mitglieder derselben Familie einen Konflikt haben, wird von ihnen verlangt, daß sie diesen Konflikt in Verhandlungen ohne Gewalt lösen. Wenn sie selbst nicht zu einer Vereinbarung kommen, wenden sie sich an den Leutnant, der ein Urteil fällt. Wenn der Verurteilte sich nicht an das Urteil des Leutnants hält, wird er auf Befehl des Leutnants, der sich bei der Obergruppe abgesichert hat, bestraft, wenn nötig beseitigt. Wenn Konflikte zwischen Mitgliedern verschiedener Syndikate auftreten, so wendet sich jeder mit seinem Problem an den ihm zugeordneten Leutnant. Die zwei Leutnants setzen sich zu einer Sitzung zusammen, die „sit-down" genannt wird. Wenn sie zu einer Vereinbarung kommen können, fällen sie ein Urteil, dem unter Androhung von Leibes- und Lebensstrafen unbedingt zu folgen ist. Können sich die Leutnants nicht einigen, so geht die Lösung des Konflikts an die beteiligten Bosse, die ihrerseits ein Urteil zu fällen versuchen. Falls das nicht möglich ist, kommt die Sache vor die Kommission. 3. Die Bosse

Über die Persönlichkeit und Erscheinungsweise der Bosse des organisierten Verbrechens herrschte lange Zeit Unklarheit. In Apalachin/New York wurde eine Sitzung der Kommission von der Kriminalpolizei ausgehoben. Leiter dieser allamerikanischen Kommission war Vito Genovese, der Kopf eines der bedeutendsten New Yorker Syndikate. Er wurde von dem gesamten organisierten Verbrechertum gefürchtet und verehrt wie ein Heiliger. Man sagte ihm charismatische Eigenschaften nach. Selbst seinen Namen wagte man im organisierten Verbrechertum nicht auszusprechen. Es handelte sich um einen gewöhnlichen Einwanderer, der in kürzester Frist 25 bis 30 Millionen Dollar angehäuft hatte. Zur Zeit der Konferenz in Apalachin lebte Herr Genovese in einem bescheidenen Haus in Atlantic Highlands/New Jersey, fuhr einen zwei Jahre alten Ford-Mittelklassewagen, besaß nicht mehr als 10 Anzüge, von denen keiner mehr als 100 Dollar gekostet hatte, die also aus der Konfektion stammten. In seinem Schlafzimmer fand man billige Plastikfiguren von Heiligen. Seine Kinder und seine acht Enkel-

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kinder besuchten ihn oft, und er kochte persönlich für die ganze Familie. Auch das folgende Ereignis beleuchtet die Rolle, die die Bosse und Underbosse im organisierten Verbrechen spielen: Die Kriminalpolizei einer amerikanischen Großstadt war sich über die Position eines hochplazierten Underbosses im unklaren, bis sie in der Lage war, seine Beteiligung an einer Sitzung seines Syndikats zu beobachten. Zuerst kam ein Dutzend Männer an, die der Kriminalpolizei als organisierte Verbrecher mit hohem Rang bekannt waren. Sie fuhren in teuren Limousinen mit Klimaanlage und Chauffeuren vor. Sie waren tadellos gekleidet. Nachdem sie sich versammelt hatten, kam ein paar Minuten später ein kleiner unscheinbarer Mann in einem fast schäbigen schwarzen Anzug an, der eine Einkaufstasche seiner Frau bei sich trug. Alle im Raum Anwesenden erhoben sich sofort ehrfürchtig und nahmen ihre Hüte ab. Der kleine unauffällige Mann hielt eine Ansprache auf Italienisch. Nachdem er etwa 15 Minuten lang gesprochen hatte, verließ er abrupt den Raum, ging zur nächsten Haltestelle der Untergrundbahn und fuhr mit ihr nach Hause. Die Sitzung wurde mit seinem Verlassen des Raumes abgebrochen, und die anderen Herren verließen in ihren Luxusautos den Schauplatz. D. Verbreitung und internationale Verflechtung Das organisierte Verbrechen breitet sich heute nicht dadurch aus, daß es große Zahlen von Mitgliedern in seine Syndikate aufnimmt. Es erweitert vielmehr seine Macht, indem es immer mehr in der legalen Geschäftswelt Fuß faßt, ohne seine kriminellen Aktivitäten aufzugeben. Beim Eindringen in die legale Geschäftswelt werden Geschäftsleute systematisch als Strohmänner benutzt. Wenn ein Geschäftsmann ζ. B. im illegalen Spiel große Summen verloren hat und nicht mehr zahlen kann, bekommt er Darlehen zu Wucherzinsen gewährt. Kann er auch diese Darlehen nicht mehr zurückzahlen, wird entweder mit brutalster Gewalt gegen ihn vorgegangen, oder er wird als Strohmann für legale oder illegale Geschäftsaktionen oder als Agent für kriminelle Aktivitäten mißbraucht. Das organisierte Verbrechertum breitet sich allerdings auch durch internationale Verflechtungen immer mehr aus. Die Erscheinungsformen sind hierbei in jeder Gesellschaft verschieden, und zwar jeweils nach dem Stand der Entwicklung des organisierten Verbrechertums in der jeweiligen Gesellschaft, nach der Situation der Verbrechenskontrolle durch Kriminalpolizei und Gerichte und nach den sozialen Bedürfnissen nach illegalen Gütern und Diensten. Das organisierte Verbrechen paßt sich insoweit örtlich und zeitlich flexibel den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen an. So wird aus

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Verbrechertum, organisiertes

Großbritannien eine Vermehrung der organisierten Raubüberfälle, Einbrüche und Erpressungen berichtet (Cressey 1971, 1972, Salerno 1969, S. 385). In Australien hat das organisierte Verbrechen Eingang in den Tomatenanbau gefunden. In Japan überwiegen Erpressungen der Geschäftsleute. Auf internationaler Basis werden Kunstund Museumsdiebstähle organisiert. Ganze Waggons oder Flugzeugladungen mit illegalenGütern verschwinden und werden über die Grenzen verschoben. Teure Autos werden ζ. B. systematisch gestohlen, umfrisiert und über die Grenzen zum Verkauf gebracht. Bomben- und Morddrohungen zu Erpressungszwecken wachsen an. E. Vorbeugung und Bekämpfung Die meisten Verhaftungen konnten bisher über die Steuerfahndungen eingeleitet werden. Im übrigen ist es außerordentlich schwierig, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, wenn es einmal Fuß gefaßt hat. Ein „Soldat" kann eine lebenslange kriminelle Karriere beenden, ohne überhaupt jemals mit dem Boss seines Syndikats gesprochen oder ihn gesehen zu haben. Die Organisation versorgt die Familien von Strafgefangenen mit Geld und Nahrungsmitteln. Das Opfer wird in das organisierte Verbrechen systematisch einbezogen (-> Viktimologie). Es merkt oft gar nicht, daß es Opfer wird. Selbst wirkliche Opfer des organisierten Verbrechens, nämlich ζ. B. Opfer von Erpressungen, haben zu viel Angst, um sich den Justizbehörden anzuvertrauen. Ein Teil der Informanden ist langfristig zu wertvoll, als daß man sie als Zeugen in Gerichtsverfahren benutzen könnte. Selbst wenn Zeugen auszusagen bereit und fähig sind, versucht das organisierte Verbrechen nicht selten erfolgreich, die Polizei und die Gerichte zu bestechen oder zu bedrohen oder aber die unbequemen Zeugen zu beseitigen. Man kann das organisierte Verbrechen am besten dadurch bekämpfen, daß man die illegalen Bedürfnisse innerhalb der Bevölkerung eliminiert. Solche Bedürfnisse nach illegalen Leistungen oder Gütern entstehen insbesondere in Gesellschaften mit Überkriminalisation. Es ist zu viel menschliches Verhalten unter Strafe gestellt. Ein Dekriminalisationsprozeß muß eingeleitet werden. Bestimmte illegale Bedürfnisse dürfen nicht mehr als illegal strafrechtlich definiert werden. Ein solcher Dekriminalisationsprozeß hat seine Grenzen freilich in der Sozialgefährlichkeit des jeweiligen menschlichen Verhaltens. Im übrigen darf die Polizei keine nur reaktive Rolle auf die Begehung von Verbrechen spielen, sondern sie muß eine proaktive, vorbeugende Rolle als Angreifer der potentiellen organisierten Kriminellen einnehmen, bevor sie sich noch fest organisiert haben. Auf jeden Fall ist die Bekämpfung des organisierten Verbrechens nicht nur ein kriminal-

taktisches und -technisches Problem. Organisierte Verbrecher dürfen nicht so behandelt werden, als seien sie nicht organisiert. Es nützt nicht viel, einzelne, wenn auch maßgebliche Mitglieder aus der kriminellen Organisation „herauszubrechen". Sie werden verhältnismäßig schnell wieder ersetzt. Es nutzt ebenfalls nicht viel, die rein technischen Kriminalvorbeugungsmaßnahmen zu verbessern. Bringt man ζ. B. kugelsichere Scheiben und Alarmanlagen zum Schutz gegen Bankraub in den Kassenschalterhallen an, so nehmen sich die Bankräuber Geiseln. Wenn die Kriminalpolizei ihre Vorbeugungs- und Bekämpf ungstechniken verbessert, ändert auch das organisierte Verbrechertum seine kriminellen Techniken. Das Problem ist nur zu lösen, wenn man kriminelle Organisationen als Organisationen bekämpft. Der kriminellen Organisation muß deshalb ihr Profit entzogen und ihr Rückhalt bei den Behörden durch Intoleranz gegenüber Bestechungen beseitigt werden. In enger Zusammenarbeit mit der kriminologischen Wissenschaft, deren moderne Zweige sich mit Organisationssoziologie beschäftigen, muß die Kriminalpolizei Vorbeugungsstrategien entwickeln, die das Entstehen krimineller Organisationen unmöglich machten oder doch wenigstens erschwerten. Auch hier machen wir uns in der Bundesrepublik die nordamerikanischen Erfahrungen nicht zunutze. Dieses Verhalten kann in naher Zukunft für unsere Gesellschaft höchst gefährlich werden, zumal das organisierte Verbrechen in der Bundesrepublik, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität bereits Fuß gefaßt hat (Bluth 1973).

F. Neuentwicklungen 1. Modifikationen

und Wandlungen in den

USA

Es gibt Kriminologen, die das organisierte Verbrechertum ins Reich der Metaphysik verweisen. Sie bezeichnen es als eine Hypothese, die man nicht benötigt, so daß sie auch die Erforschung des organisierten Verbrechertums für überflüssig halten (Norvel Morris, Gordon Hawkins 1970). Demgegenüber haben so bedeutsame Persönlichkeiten wie die Senatoren Estes Kefauver, John L. McClellan und Robert F. Kennedy und der Friedensnobelpreisträger Martin Luther King auf die große Gefahr hingewiesen, die vom organisierten Verbrechertum unserer Gesellschaft droht. Bankeinbrüche, Laden-, Taschen- und Autodiebstähle und Diebstähle von wertvollen Waren wie Fernsehapparaten und Pelzmänteln sind heute in den Vereinigten Staaten weitgehend zu Aktivitäten des organisierten Verbrechertums geworden. Wegen der völligen Überlastung der Kriminalpolizei ist die Strafverfolgungsintensität bei den Ladendiebstählen gering, was dem organisierten Verbrechertum ein niedriges Risiko bei hohem

Verbrechertum, organisiertes Gewinn einbringt. Das organisierte Verbrechen beauftragt Berufskriminelle mit dem Raub von Juwelen und mit Entführungen. Das große Risiko im internationalen Rauschgifthandel kann nur vom organisierten Verbrechen getragen werden. Es kann allein die hohen Geldsummen für Investitionen aufbringen, die im internationalen Rauschgiftgeschäft benötigt werden. Im Jahre 1970 verdiente das organisierte Verbrechen am Geldverleih zu Wucherzinsen 350 Millionen USDollar, am Rauschgifthandel 300 Millionen USDollar, an der Prostitution 225 Millionen USDollar, am illegalen Alkoholschmuggel 150 Millionen US-Dollar, am illegalen Spiel 6 bis 7 Milliarden US-Dollar und am Wertpapierdiebstahl und an der Wertpapierverwertung 227 Millionen USDollar. Das organisierte Verbrechen beschäftigt sich heute des weiteren mit dem Pornographiehandel und dem Diebstahl von Kreditkarten (credit cards) und Reiseschecks. Wertpapiere, Aktien, Pfandbriefe, Schuldverschreibungen werden in großem Stile aus Maklergeschäften, aus Banken oder bei der Post gestohlen. Der Diebstahl eingeschriebener Post geht vor allem auf den großen internationalen Flughäfen, dem KennedyFlughafen in New York und dem O'Hare-Flughafen in Chicago vor sich. Das organisierte Verbrechen versucht, den Luftfrachttransport über die Gewerkschaften und über die Gesellschaften unter seine Kontrolle zu bringen. Die Opfer sind nicht die unmittelbar Bestohlenen. Denn die Luftfracht ist meist versichert. Geschädigt ist die gesamte Gesellschaft wegen der erhöhten Versicherungsprämien, die bezahlt werden müssen. Ganze Postautos werden vom John F. Kennedy-Flughafen entführt. Im Jahre 1971 wurden dort 90 Postsäcke aus der Schweiz gestohlen, um nur einen Fall zu nennen. Angestellte der Luftfahrtgesellschaften stehlen die eingeschriebene Post. Sie wird auf dem Weg vom Flugzeug zum Flughafengebäude oder vom Flughafengebäude zum Flugzeug entwendet. Die Wertsachen werden dann aussortiert und in die internationelen Kanäle des organisierten Verbrechens gebracht. Der Handel mit gestohlenen Wertpapieren bringt dem organisierten Verbrechen bei niedrigem Risiko einen hohen Gewinn. Makler und Banken bemerken die Diebstähle selten. Von 1966 an wird der Diebstahl von Wertpapieren organisiert. Mit dem ungeahnten Wirtschaftsaufschwung waren die Banken und Maklergeschäfte gezwungen, zahlreiche ungelernte Schreibkräfte einzustellen, die sich als unzuverlässig erwiesen. Da die Bestohlenen versichert sind, vermeiden sie jede Anzeige bei der Kriminalpolizei, um ihr Ansehen in der Geschäftswelt zu wahren. Die Angestellten können zwar die Wertpapiere stehlen, sie können aber große Mengen von Wertpapieren nicht verwerten. Das kann nur das organisierte Verbrechen mit seinen internationalen Verflechtungen. Für 31 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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das organisierte Verbrechen ist es möglich, j e d e s Wertpapier zu verwerten. Der Dieb bekommt wenig, da er regelmäßig mit den gestohlenen Wertpapieren nichts anfangen kann. Die Opfer tragen durch Nachlässigkeit zum Diebstahl bei. Die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen wird in der Regel nur unter ökonomisch-finanziellen Gesichtspunkten gesehen. Es ist wirtschaftlich billiger, höhere Versicherungsprämien zu zahlen und Diebstähle in Kauf zu nehmen, als hochbezahlte vertrauenswürdige Sicherheitskräfte einzustellen, die schwer zu bekommen sind und die auch nur wieder einen Teil der Diebstähle verhindern können. Die Diebe werden vom organisierten Verbrechen in die Banken und Maklergeschäfte systematisch infiltriert. Weiterhin werden für die Diebstähle Personen benutzt, die wegen Spiel- und Darlehensschulden und wegen Rauschgiftsucht unter Druck gesetzt werden können, oder die sich durch Drohung mit Gewaltanwendung einschüchtern lassen. Es gibt schließlich allerdings auch Diebe, die selbständig arbeiten, aber das organisierte Verbrechen zur Verwertung der gestohlenen Wertpapiere brauchen. Die entwendeten Wertpapiere werden an das organisierte Verbrechen zur Verwertung weitergegeben. Es verkauft sie durch Makler, gibt sie an Banken zur Sicherheit für Darlehen, händigt sie Versicherungsgesellschaften als Sicherheiten aus oder schafft sie ins Ausland, und zwar nach Kanada, auf die Bahamas, in die Schweiz, nach Liechtenstein, Hongkong, in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Südafrika. Dort werden die Wertpapiere wieder verkauft, in die Banken als Sicherheiten für Darlehen oder Geschäftsgründungen gegeben. Im Jahre 1966 wurden von der Wall Street Wertpapiere im Wert von 37 Millionen US-Dollar gestohlen, im Jahre 1971 waren es bereits Wertpapiere im Wert von 100 Millionen US-Dollar. Das strikte Bankgeheimnis, das in der Schweiz und Liechtenstein gewahrt wird, trägt nicht wenig zur leichten Verwertbarkeit der entwendeten Wertpapiere bei. Die Nachlässigkeit und Unachtsamkeit der Opfer läßt fast den Verdacht der Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen entstehen. So werden die Postsäcke mit eingeschriebener Post in den „Main Lobbies" der Bankgebäude einfach zum Abholen liegengelassen. Dem organisierten Verbrechen ist in den USA der Einbruch in legale Geschäftsaktivitäten gelungen. Die Cosa Nostra kontrolliert eine der größten Hotelketten der USA. Sie betreibt Spielkasinos in Florida und Nevada, Kinos, Nachtbars und Rundfunkanstalten. Sie ist in etwa 50 Gebiete der legalen Geschäftswelt eingedrungen: in die Vergnügungs-, Automobil- und Ölindustrie, in Banken, Versicherungsgesellschaften, in das Taxi-, Textil- und Baugewerbe, in Fisch- und Geflügelgroßhandel, in den Autoverleih, in Beerdigungsinstitute, in Wäschereien, in Müllbeseitigungs- und

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Verbrechertum, organisiertes

Grundstücksmaklerfirmen, in Restaurants und in den Spielautomatenverleih. Das organisierte Verbrechen ruft das unorganisierte Verbrechen hervor und unterstützt es (John L. McClellan). Es bereichert sich an den armen Leuten, an den farbigen Minderheiten (Martin Luther King). Es nistet sich in großstädtische Slumbezirke, also in sozialstrukturell unterentwickelte Gebiete ein. Es befriedigt die Bedürfnisse der im Elend lebenden Menschen, die durch die Einnahme von Rauschmitteln ihre schlechten Lebensbedingungen vergessen und durch illegales Spiel diese Sozialbedingungen verbessern wollen. Die Behörden sind machtlos; sie geben sich allerdings auch keine große Mühe. Der Autor dieses Artikels hat selbst einige Zeit in Harlem mit der Bevölkerung gelebt. Das Geld, das die Bundesund Staatsregierungen und die Großstädte zur Bekämpfung der Armut ausgeben, wird vom organisierten Verbrechen wieder abgeschöpft (Donald R. Cressey 1970, S. 130). Der Nachwuchs für die untersten Positionen des organisierten Verbrechens, also für die Personen, die die Kriminalität tatsächlich ausführen, rekrutiert sich auch heute noch mit Leichtigkeit aus den sozialstrukturell unterentwickelten großstädtischen Ballungszentren. Es handelt sich um die Handlanger des organisierten Verbrechens, um bloß ausführende Organe. Die mittleren und obersten Positionen werden heute vorwiegend von College- oder Universitätsabsolventen besetzt, von eigenen Kindern oder von Kindern von Verwandten und Bekannten der Gangsterbosse. In den Gebieten mit sozioökonomisch niedrigem Status der Bevölkerung sind Armut und Kriminalität am größten. Zwischen Kriminalität und Armut besteht allerdings kein unmittelbarer Zusammenhang. Es gibt viele arme Leute, die ein gesetzestreues Leben führen. In den sozialstrukturell unterentwickelten Großstadtgebieten sind allerdings Werte, Normen und Verhaltensleitbilder stark kriminell geprägt und kriminell konstant. Im schwarzen Ghetto der amerikanischen Großstadt hat das organisierte Verbrechertum weitgehend selbst die Sozialkontrolle übernommen, die von der Kriminalpolizei hier nicht oder nur unzulänglich ausgeübt wird. Das organisierte Verbrechen beutet hauptsächlich die sozial unteren Schichten aus. Ein Dieb bekommt vom organisierten Verbrechen nur 10% des Wertes der gestohlenen Ware. Ein Rauschgiftsüchtiger benötigt zur Befriedigung seiner Sucht wenigstens 20 US-Dollar pro Tag. Er muß also Eigentum im Werte von 200 US-Dollar pro Tag entwenden. Das bedeutet, daß er Eigentum im Werte von 73000 US-Dollar im Jahre stehlen muß. Dabei sind seine eigenen Lebensbedürfnisse (Kleidung, Nahrung, Wohnung) und die Lebensbedürfnisse seiner Familie nicht mitberücksichtigt. Die Armen sind die Opfer-Täter. Sie sind Opfer des organisierten Verbrechens. Die sozialstrukturell

unterentwickelten Gebiete der nordamerikanischen Großstädte werden so sehr vom organisierten Verbrechen ausgebeutet, daß alle öffentlichen Armutsprogramme zusammengenommen zur Verbesserung der Sozialstruktur dieser Gebiete nicht ausreichen. Das organisierte Verbrechen versucht, die Gewerkschaften zu unterwandern oder wenigstens maßgeblichen Einfluß in den Gewerkschaften zu gewinnen. Mit den Gewerkschaften besitzt das organisierte Verbrechen eine strategische Position im industriellen Arbeitsprozeß. Es kann durch Streikdrohungen die Arbeitgeber erpressen. Es kann systematisch Gewerkschaftsgelder veruntreuen. Es kann auf den Gebieten der von ihm gewerkschaftlich beherrschten Unternehmen seine illegalen Aktivitäten (ζ. B. Geldverleih zu Wucherzinsen, Spiel, Wette, Rauschgifthandel) ausüben. Es kann durch die von ihm gewerkschaftlich beherrschten Unternehmen gestohlene Güter und Waren absetzen. Es kann die Arbeitnehmer durch Drohung mit Arbeitsplatzverlust (Arbeitslosigkeit in den USAI) beherrschen und sie zur Abgabe eines Teiles ihres Lohnes veranlassen. Es kann schließlich die legalen Geschäftsleute durch den Versuch der Monopolerlangung aus dem entsprechenden Geschäftszweig heraustreiben. Die Hafenarbeitergewerkschaften werden weitgehend vom organisierten Verbrechen beherrscht. 50% der führenden Polizeibeamten in den großen Seehäfen der Großstädte an der Ostküste der USA werden vom organisierten Verbrechen regelmäßig bestochen. Eine anschauliche Schilderung über die Aktivitäten des organisierten Verbrechens in den großen Häfen der Ostküste der USA vermittelt Budd Schulberg in seinem Roman „On the Waterfront" (übersetzt: Die Faust im Nacken). (Vgl. hierzu den Artikel „Kriminalroman" im 2. Band dieses Handwörterbuchs, besonders Seite 57.) Die Bauarbeitergewerkschaften sind für das organisierte Verbrechen besonders attraktiv. Denn die Baufirmen sind gezwungen, zu bestimmten Zeiten Material einzukaufen und bestimmte zeitgebundene Projekte fristgemäß fertigzustellen. Sie sind also relativ unbeweglich und auf die Kooperation ihrer Arbeiter angewiesen. Die „Motion Picture Operators Union" ist vom organisierten Verbrechen weitgehend unterwandert. In der „United Auto Workers Union" hat das organisierte Verbrechen durch Bestechung, Bedrohung und Beseitigung führender Gewerkschaftsführer maßgeblichen Einfluß erlangt. In Grosse Pointe, einem Vorort von Detroit, in dem die Oberschicht lebt, wohnen auch die organisierten Verbrecher, die die Automobilgewerkschaften weitgehend kontrollieren (Michael D. Whitty 1970, S. 142). In der Zeit von 1919 bis 1934 hat das organisierte Verbrechen 765 Morde durchführen lassen. In der Zeit von 1935 bis 1967 waren es nur noch 229 Morde. Durch die Gewaltanwendung wurde

Verbrechertum, organisiertes das organisierte Verbrechen sozial sichtbar. Es vermochte nicht im Verborgenen zu blühen. Es war der Kritik der Öffentlichkeit und einer intensiven Strafverfolgung ausgesetzt. Im organisierten Verbrechen kam man deshalb überein, die Gewalt sorgfältig begrenzt, rationell und kontrolliert einzusetzen. Die Furcht vor der Gewaltanwendung sollte — ausreichend wirksam — die eigentliche Gewaltanwendung ersetzen. Gleichwohl ist das organisierte Verbrechen gezwungen, diese Furcht dadurch aufrechtzuerhalten und aufzufrischen, daß es ab und an eine Schau abzieht. Es werden also auch heute noch bewußt Tötungen ausgeführt. Eigene Leute werden ermordet, falls sie nicht botsam oder polizeiverdächtig sind, falls sie zu mächtig werden oder falls sie sich im Sinne einer emotionalen und geistigen Labilität entwickeln. Kivalitätskämpfe sollen in neuester Zeit wieder aufgeflammt sein. Das soll einmal für die eigenen jungen Leute des bereits bestehenden organisierten Verbrechens gelten, die gegenüber den älteren Gangsterbossen an Einfluß gewinnen wollen. Das organisierte Verbrechertum hat also auch das Problem der revoltierenden jungen Leute. Das Vorhandensein von Rivalitätskämpfen soll aber auch für neue organisierte Verbrechersyndikate zutreffen, die sich neben der Cosa Nostra neuerdings in zunehmendem Maße bilden. Nach der neuesten Entwicklung im organisierten Verbrechen werden die italienischen Syndikate immer kleiner, älter und schwächer. Die Italiener verdrängten einstmals die Juden, Iren, Polen, Deutschen. Es scheint so, daß sie in der Zukunft für die Puertoricaner und Neger im organisierten Verbrechen Platz machen müssen. Um ein Exempel zu statuieren, werden bisweilen Erpreßte oder Schuldner getötet. Ferner werden Dritte umgebracht, die etwas wissen und verdächtig sind, vor den Gerichten als Zeugen aussagen zu müssen. Polizisten geraten schließlich nur dann in Todesgefahr, wenn sie vom organisierten Verbrechen bestochen sind und ihre Botmäßigkeit gegenüber dem organisierten Verbrechen zugunsten ihres Polizeiberufes aufgeben wollen (vgl. zum Problem der Gewaltanwendung im organisierten Verbrechen: Mark H. Furstenberg 1969, S. 921). Virgil W. Petersen hat (1962) die Karriere eines organisierten Verbrechers anschaulich geschildert. E r hat damit ein konkretes Beispiel gegeben für das arbeitsteilige, aber auch konflikthafte Zusammenwirken der gefährlichen Berufsverbrecher und für die Korruption und Hilflosigkeit der Behörden in den USA. 2. Neue strafgesetzliche Bekämpfung

in den

USA

Die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, die sich gegen einzelne organisierte Verbrecher wendet, aber das kriminelle System selbst unberührt läßt, ist wenig erfolgversprechend. Jeder 31·

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organisierte Verbrecher ist auch Berufsverbrecher. Unter dem Begriff Berufsverbrecher versteht man eine Person, die aus ihrer kriminellen Tätigkeit auf Dauer ihren Lebensunterhalt bestreitet, die kriminelle Techniken, mitunter Spezialtechniken, meisterhaft beherrscht, die eine ausgeprägte kriminelle Karriere hinter sich hat, die ein kriminelles Weltbild und die Fähigkeit besitzt, die E n t deckung ihrer Straftat zu vermeiden und so dem Zugriff der Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B . der Kriminalpolizei) zu entgehen. Gegen solche Berufsverbrecher sind im amerikanischen Musterstrafgesetzbuch aus dem J a h r e 1962 Sondermaßnahmen vorgesehen (Sektion 7.03 Abs. 2). Hiernach kann das Gericht die Feststellung treffen, daß es sich um einen Berufsverbrecher handelt. Mit einer solchen Aussage ist eine verlängerte Freiheitsentziehung zum Schutz der Öffentlichkeit verbunden. Die Feststellung darf das Gericht allerdings nur dann treffen, wenn der Angeklagte älter als 21 J a h r e ist und die Umstände, unter denen die Tat begangen ist, erkennen lassen, daß der Angeklagte sich bewußt verbrecherischer Tätigkeit als einer Hauptquelle seines Lebensunterhalts zugewendet hat oder daß er ein beachtliches Einkommen oder Hilfsquellen besitzt, die nicht anders als durch verbrecherische Tätigkeit erlangt zu erklären sind. Mit dieser auf den Berufsverbrecher als Individuum zielenden strafgesetzlichen Vorschrift kann das organisierte Verbrechen nicht entscheidend getroffen werden. Der „Omnibus Crime Control and Safe Streets A c t " aus dem J a h r e 1968 erlaubt unter bestimmten gesetzlichen Sicherheitsvorkehrungen die elektronische Überwachung von Individuen, die im Verdacht stehen, organisierte Verbrecher zu sein. Nach diesem Gesetz sollen ferner „ S t a t e Organized Crime Prevention Councils", Spezialeinheiten der Kriminalpolizei und spezielle Informationssysteme zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens gebildet werden. Ein „National Organized Crime Intelligence B o a r d " ist schließlich vorgesehen (Dwight C. Smith 1968, S. 492). Eine gebietsmäßig begrenzte Bekämpfung des organisierten Verbrechens ist wenig erfolgversprechend. Denn es nimmt in flexibler Weise seine Aktivitäten in dem Gebiet zurück oder stellt sie ganz ein und verlagert seine Tätigkeit auf andere Gebiete, wenn die Strafverfolgungsintensit ä t in dem Gebiet für das organisierte Verbrechen zu risikoreich wird. Deshalb ist eine Koordination und Kooperation bei Information und kriminalpolizeilicher Aktion auf internationaler Basis notwendig. Hier liegt viel im argen. Der Autor dieses Artikels hat in kriminalpolizeilichen Spezialeinheiten gegen organisierte Verbrechen in New York City, in Florida und in Kalifornien unmittelbar und aktiv mitgearbeitet. E r hat in diesen Spezialeinheiten festgestellt, daß die Beamten allenfalls, wenn überhaupt, über das organisierte

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Verbrechen innerhalb der Vereinigten Staaten orientiert waren. Sie wußten nichts über die Aktivitäten des organisierten Verbrechens im Ausland, etwa in Japan oder Europa, und auf internationaler Basis. Es muß zunächst einmal durch kriminologische Forschung herausgearbeitet werden, auf welch breiter Basis das organisierte Verbrechen arbeitet. Es ist gefährlich, sich auf die kriminalistische Erhellung einzelner Fälle zu beschränken und sich mit kriminalistischem Erfahrungsaustausch zu begnügen. Eine solche kurzsichtige Kriminalpolitik wird scheitern. Seit dem Jahre 1970 gibt es den „Organized Crime Control Act". Er sieht die Einrichtung von „Special Grand Juries" für Gerichtsbezirke mit mehr als 4 Millionen Einwohnern vor. Straflosigkeit kann Zeugen zugesichert werden, die wegen der Gefahr der Selbstbelastung das Recht haben, das Zeugnis zu verweigern. Widerspenstige Zeugen können in Beugehaft bis zu 18 Monaten genommen werden. Die Generalstaatsanwaltschaft der Vereinigten Staaten (Attorney General of the United States) kann Regierungszeugen, potentiellen Regierungszeugen und ihren Familien in Strafsachen gegen organisierte Verbrecher besonderen Schutz gewähren. Für solche Zeugen, die in Lebensgefahr sind, kann die Generalstaatsanwaltschaft der USA besonders geschützte Zufluchtsstätten bauen, kaufen oder mieten. Ein gefährlicher Intensivtäter (a dangerous special offender) kann zu einer Freiheitsstrafe bis zu 25 Jahren verurteilt werden, wenn er keine höhere Strafe (ζ. B. lebenslange Freiheitsstrafe) zu erwarten hat. Für einen solchen Täter ist der Persönlichkeitsschutz eingeschränkt, so daß alle Informationen über seinen sozialen Hintergrund, seinen Charakter und sein bisheriges Vorleben erhoben werden dürfen. Es wird eine „National Commission on Individual Rights" gebildet, die aus 15 Mitgliedern besteht, die zum Teil vom Präsidenten des Senats der USA, zum Teil vom Sprecher des Repräsentantenhauses und zum Teil vom Präsidenten der Vereinigten Staaten aus der Mitte der Mitglieder des Kongresses oder aus dem Kreis sonstiger unabhängiger Persönlichkeiten ernannt werden. Diese Kommission soll den Kreis der gefährlichen Intensivtäter bestimmen und ferner festlegen, in welchem Umfang bei diesem Täterkreis das Abhören von Telefonen, die Installation von sonstigen Abhörgeräten, die Verweigerung der Aussetzung des Vollzugs der Untersuchungshaft gegen Sicherheitsleistung, die vorbeugende Verwahrung, die Berechtigung zur sofortigen Durchsuchung und die Sammlung und der Austausch von Daten durch Bundesbehörden angewandt werden sollen. Die Kommission soll entscheiden, welche Gesetze benötigt werden, und inwiefern die Grundrechte der Bürger der USA durch sie eingeschränkt werden müssen. Der organisierte Verbrecher ist in der Strafanstalt genauso ein großes Problem wie in der

freien Gesellschaft. Zunächst benutzt er alle seine Beziehungen, wenn er vor Gericht steht, um eine Verurteilung zu Freiheitsstrafe zu vermeiden. In den Strafvollzugsanstalten macht er keine Schwierigkeiten. Er ordnet sich vielmehr aus gerissener Überlegung in die Anstalt gut ein, nutzt alle seine Rechte aus und versucht, vorgesetzte Behördenleiter zu bestechen. Er besitzt genügend finanzielle Mittel und die Hilfe seiner Organisation, die in der freien Gesellschaft weiterarbeitet, um alle legalen und illegalen Mittel auszunutzen, damit er so schnell wie möglich aus der Strafanstalt entlassen wird. Die „Parole Boards" sind nicht selten bestochen, oder sie lassen sich sehr oft täuschen und gewähren dem organisierten Verbrecher nach einer sehr kurzen Zeit der Strafverbüßung bedingte Entlassung (parole), weil er sich den Strafvollzugsbeamten gegenüber zuvorkommend verhält. Der organisierte Verbrecher ist in der Lage, seinen Mitgefangenen, die sich für ihn einsetzen, oder den Strafvollzugsbeamten mannigfaltige Vergünstigungen zu verschaffen. Denn er besitzt große Mengen illegalen Geldes und die Unterstützung seiner kriminellen Organisation. Der organisierte Verbrecher ist nicht zu resozialisieren, weil er ein kriminelles Weltbild hat. Er ist ein Überzeugungstäter mit kriminellen Wertvorstellungen. Er ist der Auffassung, daß er über dem Gesetz steht, das für ihn nicht gilt. Er fühlt sich berechtigt, über andere neben dem Gesetz zu regieren. 3. Organisiertes Verbrechen in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland (mit Berlin-West) Die deutsche kriminologische Forschung hat ebenso wie die deutsche Strafrechtspraxis ein gestörtes Verhältnis zum organisierten Verbrechen, das als eine Sonderverbrechenserscheinung Siziliens und hauptsächlich der USA angesehen wird. Kriminologische Forschung wie Strafrechtspraxis sehen die Kriminalität als individuelles Phänomen an. Deshalb darf es organisiertes Verbrechen in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland nicht geben. Wenn das organisierte Verbrechen überhaupt erwähnt wird, so wird es den USA angelastet. Die sizilianische Mafia mit ihrer ländlichen Sozialstruktur wird einfach mit der Cosa Nostra mit ihrer großstädtischen Sozialstruktur vermengt (Armand Mergen 1967, S. 400—405). Das organisierte Verbrechen wird als bloße Bandenkriminalität Erwachsener mißverstanden (Hans Göppinger 1973, S. 406). Der organisierte Diebstahl und die organisierte Verwertung und Abschiebung gestohlener Autos werden ebenso wie der Rauschgifthandel hauptsächlich den zahlreichen Gastarbeitern in der Bundesrepublik Deutschland ohne nähere Beweise angelastet (Göppinger a. a. O.). Lediglich das eventuelle Vorhandensein „örtlicher Klein-

Verbrechertum, organisiertes banden erwachsener Täter" (Göppinger 1973, S. 408) wird eingeräumt. Eine solche kriminologische Behandlung des organisierten Verbrechertums ist völlig unzulänglich. Das organisierte Verbrechen in der Bundesrepublik und in Europa erstreckt sich vor allem auf den Diebstahl von wertvollen Waren, von Pelzen, Schmuck, Autos, Teppichen, Kunstschätzen und Antiquitäten, Lederwaren, optischen und elektrischen Geräten. Ferner ist das organisierte Verbrechen im Handel mit Drogen und Waffen tätig. Schließlich kommt die organisierte Prostitution hinzu. Das Rhein-Main-Gebiet um Frankfurt am Main ist der größte Umschlagplatz für gestohlene Waren. Die entwendeten Güter werden regelmäßig umgearbeitet. So steigen die Pelz- und Juwelendiebstähle ständig an. Die Pelze gehen über Madrid nach Süden in spezialisierte „Fabriken". „Diese trennen die Einzelstücke auseinander und stellen aus den Teilen neue Pelze her, die der Geschädigte selbst nicht mehr identifizieren kann und die nun auf legalem Weg als Rückimport wieder in die BRD gelangen" (Hans Jürgen Kerner 1973, S. 161). Der organisierte Kraftfahrzeugdiebstahl und die organisierte Kraftfahrzeugverwertung und -Verschiebung werden in Zusammenarbeit mit einem illegalen Kraftfahrzeughandwerk betrieben. Die gestohlenen Kraftfahrzeuge werden oft unter Verwendung von Schrottfahrzeugen „umfrisiert". Die Formulare und Stempel für Kraftfahrzeugpapiere werden durch Einbrüche aus den Behörden besorgt. Die Kraftfahrzeugpapiere werden sodann entsprechend gefälscht. Die Kraftfahrzeugverschiebung findet im gesamteuropäischen Raum und zum Teil über die europäischen Grenzen hinaus statt. Der größte Teil der gestohlenen Autos geht nach Südosten und findet seine vorläufigen Endstationen in der Türkei, im Iran und im Libanon. Hauptvermittlungsstellen und Drehscheiben für die organisierte Kraftfahrzeughehlerei sind Sofia, Istanbul und Athen. Im Austausch für die gestohlenen Kraftfahrzeuge werden über den Balkan von Südosten nach Norden aus der Türkei Drogen transportiert und in der Bundesrepublik Deutschland verkauft. Schließlich organisiert sich die Prostitution in der Bundesrepublik immer mehr. Prostituierte werden ausgetauscht und verhandelt. Das Nutzungsrecht an einer Prostituierten beträgt etwa 10000 bis 20000 DM. Das organisierte Verbrechen dringt immer mehr in das Gaststättengewerbe und in die Hotelbranche ein. Es werden Scheinfreizeitfirmen gegründet. Über solche Firmen werden die illegalen Aktivitäten des organisierten Verbrechens abgewickelt. Der strafrechtliche Schutz gegen das organisierte Verbrechen ist in der Bundesrepublik völlig ungenügend. Die Vorschrift über den Rückfall (§ 17 StGB) trifft nicht einmal die Berufsverbrecher, sondern hauptsächlich die gemeinlästigen

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Kleinkriminellen mit labiler Persönlichkeit. Die Bestimmung über die kriminellen Vereinigungen (§ 129 StGB) verlegt zwar den Strafrechtsschutz weit vor. Diese Vorschrift ist aber weitgehend unwirksam, weil sich kriminelle Vereinigungen nur schwer nachweisen lassen. Die politische Kriminalität ist in der Bundesrepublik weitgehend organisiert. Es wäre in Europa noch Zeit, die kriminellen Organisationen zu zerschlagen, wenn man die Systeme selbst wirksam bekämpfen würde. Da das organisierte Verbrechen ·— gerade in seiner Aufbauphase — ängstlich vermeidet, viel Reden von sich zu machen, entgeht es völlig der Aufmerksamkeit der maßgebenden europäischen Kriminalpolitiker. Donald R. Cressey (1971,1972) hat die Europäer gewarnt.

G. Voraussichtliche Entwicklung Das organisierte Verbrechertum, wie es in faszinierend-phantastischen Kriminalromanen und -filmen (ζ. B. Mario Puzo, Der Pate) anschaulich geschildert wird, gehört — jedenfalls in hochkomplexen Industriegesellschaften — der Vergangenheit an. Im Jahre 1972 ist in New York City eine Spezialeinheit der Kriminalpolizei gegen organisiertes Verbrechen gegründet worden, die dem Autor dieses Artikels Gelegenheit gegeben hat, das organisierte Verbrechen, insbesondere von seiner Spitze her, zu studieren. Diese Spezialeinheit ist aus der Organiation der New Yorker Kriminalpolizei völlig herausgenommen und operiert unabhängig. Die Beamten besitzen nicht einmal eine Personalakte, um sie und ihre Familien vor Repressalien zu schützen. Die Öffentlichkeit und die Gangsterbosse wissen durch die Massenmedien, daß eine solche Spezialeinheit vorhanden ist. Durch enge Kooperation mit anderen Spezialeinheiten gegen organisiertes Verbrechertum und mit den Bundesbehörden, insbesondere dem FBI in Washington D. C., ist es möglich, systematisch Informationen über alle Personen zu sammeln, die im organisierten Verbrechen tätig sind. Die Namen und die Verbindungen zur Wirtschaft und Politik sind überwiegend der Spezialeinheit bekannt. Eine kriminalpolizeiliche Überführung ist gleichwohl äußerst schwer möglich. Die Bosse werden systematisch observiert; sie lassen allerdings ihrerseits auch die Beamten der Spezialeinheit beschatten. Die New Yorker Kriminalpolizei will durch ihre Spezialeinheit das organisierte Verbrechen von seiner Spitze her aufrollen. Obgleich bisher durchgreifende positive Ergebnisse nicht erzielt werden konnten, war es dennoch möglich, einzelne Teilerfolge zu verbuchen. Die systematische Beobachtung der Bosse dient nicht nur der Information. Durch den Druck der ständigen Observation soll der Boss nervös gemacht und zu der Begehung eines Fehlers veranlaßt werden. Wenn das Syndi-

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V e r b r e c h e r t u m , organisiertes

k a t m e r k t , d a ß eines seiner Mitglieder durch Informationen u n d Fehler, die es begangen h a t , der kriminalpolizeilichen Verhaftung n a h e s t e h t , wird es rücksichtslos beseitigt. Die Spezialeinheit ist der Ansicht, daß ihre A k t i v i t ä t e n m i t rechtsstaatlichen Prinzipien durchaus vereinbar sind. Die Protokolle der kriminalpolizeilichen B e o b a c h t u n g verzeichnen jede a u c h n o c h so kleine, z u n ä c h s t unwichtig erscheinende Einzelheit. E s handelt sich u m eine langwierige kriminalpolizeiliche Kleinarbeit. Denn jede kleinste Einzelheit k a n n wichtig werden und zur Verhaftung eines Gangsterbosses führen. Die N e w Y o r k e r Spezialeinheit ist d a v o n überzeugt, d a ß das organisierte Verbrechen wirksamer als bisher b e k ä m p f t , daß es n u n m e h r zumindest empfindlicher gestört wird. D a d u r c h k a n n eine Verlagerung der A k t i v i t ä t e n des organisierten Verbrechens n a c h E u r o p a , insbesondere in die Bundesrepublik, und n a c h J a p a n wahrscheinlich werden. E r s t e Anzeichen deuten auf eine solche E n t w i c k l u n g hin. E s ist durchaus möglich, d a ß in den n ä c h s t e n J a h r e n ein A n wachsen des organisierten V e r b r e c h e r t u m s in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen ist. I n einer i m m e r komplizierter werdenden Industriegesellschaft m i t schlechten Möglichkeiten der Instanzen sozialer Kontrolle t r i t t eine solche E n t wicklung zwangsläufig ein. W e n n sich das Verb r e c h e r t u m organisiert, müssen sich a u c h diejenigen s t ä r k e r zusammenschließen, die das V e r brechen bekämpfen. E s g e h t hierbei nicht n u r u m eine bessere K o o p e r a t i o n innerhalb der Kriminalpolizei, sondern a u c h u m eine wirksamere Zus a m m e n a r b e i t der Strafverfolgungspraxis m i t der kriminologischen F o r s c h u n g . F ü r vorbeugende M a ß n a h m e n ist es nie zu früh u n d niemals zu s p ä t (vgl. a u c h die Empfehlungen der President's Commission on L a w E n f o r c e m e n t a n d Administration of J u s t i c e 1 9 6 7 a, S. 1 8 7 — 2 0 9 ) .

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488

Verkehrsdelikte

Vergleichende Kriminologie

Ergänzungsband

VERKEHRSDELIKTE A. Allgemeines 1. Der Begriff des

Verkehrsdeliktes

Unter Verkehrsdelikten werden im folgenden diejenigen Straftaten im Straßenverkehr verstanden, welche Widerhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften, die Bestimmungen über die Zulassung der Fahrzeuge und der Lenker zum Verkehr und die Verkehrsregeln umfassend, darstellen, ferner die Straftaten, welche den gesetzlichen Tatbestand besonderer zum Schutz des Verkehrs aufgestellter Strafbestimmungen, wie StGB §§ 142,315b, 315c, Schweiz. StrGB Art. 237, SVG Art. 90 Zif. 2 Abs. 1, Art. 91—93, verwirklichen, endlich die im Verkehr ausgeführten fahrlässigen Tötungen und Körperverletzungen (-> Körperverletzung, Tötungsdelikte). Nicht berücksichtigt werden die Straftaten, zu deren VerÜbung ein Kraftfahrzeug diente, selbst wenn sich das Delikt im Straßenverkehr abspielte, so wenn eine Gruppe von Räubern mit einem Lastwagen einem Fahrzeug, welches einen Geldtransport ausführt, den Weg versperrt, um einen Überfall auszuführen, StGB §316a (-+ Raub). Ebensowenig werden die Straftaten an Fahrzeugen berücksichtigt, wie die um der Bereicherung willen ausgeführte strafbare Aneignung eines

Fahrzeuges (-> Diebstahl) oder die Brandstiftung (-> Brandstiftung) an einem Fahrzeug. Eine Ausnahme bildet die Entwendung eines Fahrzeuges zum Gebrauch, StGB § 248b, SVG Art. 94, östr. StG § 467 b, die, als Grenzfall, noch als Verkehrsdelikt angesehen wird. Unerörtert bleiben endlich die Straftaten, die aus Anlaß des Straßenverkehrs begangen werden, so wenn zwei Personen sich wegen ihres Verhaltens im Verkehr beschimpfen, verprügeln oder gar ans Leben gehen (->· Beleidigung, Körperverletzung, Tötungsdelikte). 2. Allgemeine

Bedeutung der

Verkehrsdelikte

Es kommt heute einem Gemeinplatz gleich, zu erklären, daß die Verkehrsdelikte die für die Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit kennzeichnende Weise strafbaren Verhaltens ist. „Das Kraftfahrzeug ist das beliebteste, begehrteste Konsumgut der Gegenwart" (Bockelmann). Ein Motorfahrzeug zu besitzen und zu lenken, ist für den Menschen unserer Zeit häufig nicht nur eine berufliche Notwendigkeit, sondern ausgesprochenes Zeichen gesteigerten Sozialprestiges, das zu erringen äußerst erstrebenswert erscheint. Die seit 1945 rasch und stark zunehmende Zahl der Motorfahrzeuge ist Merkmal des soeben angebrochenen technischen Zeitalters, welches sich durch eine hohe, oft die Landesgrenzen überschreitende Mobilität auszeichnet. Damit nehmen die Möglichkeiten, Widerhandlungen im Straßenverkehr zu begehen, entsprechend zu.

Tabelle 1 Motorfahrzeugbestand Ende 1966 (Internationaler Straßenverband Tab. IV) Vierrädrige Motorfahrzeuge Staat

absolute Zahlen

auf 1000 Einwohner

Personenwaauf Straßen- gen auf 1000 kilometer Einwohner

Belgien Deutschland Frankreich Großbritannien Holland Italien

1 804 615 11 746 870 11 636 000 11166 000 1 867 610 7 058 631

188 195 234 210 149,0 132

19,6 29,2 16 34,5 26,2 27

161 177 198 178,6 127 118

Jugoslawien (1965) Norwegen Österreich Polen Portugal Schweden Schweiz USA (1965)

280 467 686 476 1195 309 695 076 370 000 2 076 000 1119 157 91106 318

13,4 174 135,0 16,1 40 259 186 467

3,4 10 10,72 1,9 1-1,6 12,0 19,3 15,2

137 120,6 9,1 30 240 168 389



Zweirädrige Motorfahrzeuge 491 564 2 020 000 5 800 000 1 406 000 1 794 309 3 685 000 (auch Dreiräder) 106 396 182 915 676 730 1540 018 — —

513 803 —

489

Verkehrsdelikte Bestand der Fahrzeuge in der Schweiz 1946—1966 (Straßenverkehrsunfälle in der Schweiz 1966, Tab. 6)

Jahr

Personenwagen

andere Motorwagen

Motorräder

alle Motorfahrzeuge

Motorfahrzeug auf Einwohner

Motorfahrräder

Fahrräder

1946

62 972

29 486

28 815

121 273

37



1 553 827

1950

146 998

41 514

75 975

264 487

18



1 744 055

1955

279 517

48 373

216 441

544 331

9



1 862 812

1960

509 279

65 501

290 326

865 106

6



1 786 092

1961

579 014

69 759

249 575

898 348

6

85 000

1 752 836

1965

919 110

105 698

191 665

1 216 473

5

293 812

1 473 237

1966

1 006 783

112 374

181 364

1 300 521

5

322 439

1 384 713

Diese Zahlen geben einen ungefähren Anhaltspunkt der Entwicklung. Hervorzuheben ist, daß die Verkehrsdichte nicht nur von der Zahl der inländischen Fahrzeuge, sondern auch von den ein Land besuchenden Ausländern abhängt. So dürften in Ländern wie Schweden, Norwegen, Großbritannien, wohl auch den USA, ausländische Fahrzeuge die Verkehrsdichte wenig beeinflussen. Ganz anders steht es in den Ländern, welche intensive Beziehungen des Straßenverkehrs miteinander unterhalten, vor allem wenn es sich um Länder mit ausgesprochenem Fremdenverkehr handelt. Dies trifft zu für die Schweiz, deren Straßennetz 1966 außer von 1 632 960 inländischen Motorfahrzeugen, die Kleinkrafträder Inbegriffen, ebenfalls für kürzere oder längere Zeit von 30 927 000 ausländischen Motorfahrzeugen beansprucht wurde. Mit der Zahl der Motorfahrzeuge stieg die Zahl der Verkehrsunfälle, so die Zahl der polizeilich gemeldeten Unfälle in der Schweiz von 1 4 1 3 3 im Jahre 1946 auf 56 880 im Jahre 1966, und in Deutschland von 473 000 im J a h r 1953 auf 1 1 6 7 000 im Jahr 1966. In derselben Weise stiegen die Zahlen der wegen Widerhandlungen im Straßenverkehr eingeleiteten Strafverfolgungen und der wegen dieser Taten Verurteilten. Die Kriminalitätsziffer der 1965 in Deutschland wegen Vermögensdelikten Verurteilten über 14 Jahren stand auf 326,2, die der gemäß S t G B §§142, 315a, 316 Abs. 2 sowie 222, 230 und 330 a in Verbindung mit einem Verkehrsunfall Verurteilten jedoch auf 604,3. Von allen 1966 in England und Wales ausgesprochenen 1 445 948 Strafurteilen waren 944 326 oder 65,3% wegen im summarischen Verfahren verfolgter Verkehrswiderhandlungen verhängt worden. Verfolgung und Beurteilung der Verkehrswiderhandlungen gehören zu den häufigsten und wichtigsten Aufgaben der Rechtspflege unserer Zeit. Wenn behauptet wird, die Kriminalität eines Landes sei gestiegen, so ist abzuklären, ob von der Kriminalität mit oder ohne Einschluß der Verkehrsdelikte

Tabelle 2 Unfälle im Straßenverkehr 1966 (Internationaler Straßenverband, Tab. V I I ) Land

Belgien Deutschland Frankreich Großbritannien Holland Italien Jugoslawien (1965) Norwegen Österreich Portugal (1965) Schweden (1965) Schweiz USA (1965)

Unfälle mit Todesfolge oder Verletzungen

Zahl der Toten

Verletzten

000 000 725 921 700 301

1290 16 864 12 100 7 985 2 612 8 720 1609

93 456 286 384 65 207 18

446 782 000 472 309 031 611

7139 46 886 16 538 18 144

445 1871 920 1313

8 64 20 24

933 770 053 931

24 367 1 1 9 0 000

1301 49 000



332 207 291 67 162 36

30 607 1800 000

(Mit allerdings sehr verschiedener Bezeichnung des Todes als Unfallfolge; so in Belgien nur die Todesfälle, die sich auf der Unfallstelle oder während des Transportes ins Spital ereigneten, für Frankreich der drei Tage, für Deutschland, Großbritannien, Holland, Norwegen und die Schweiz der 30 Tage nach dem Unfall eingetretene Tod.) gesprochen wird. In Deutschland wie in der Schweiz deckten Einzeluntersuchungen auf, daß die Kriminalitätsziffern seit ungefähr 1950 sanken, wenn die Verkehrsdelikte nicht berücksichtigt werden (Rangol, Schultz 1954, 1965). Die Massenkriminalität der Verkehrsdelikte, deren schwere Folgen jährlich zahllose Menschen treffen, die wirtschaftliche Schäden von außerordentlicher Bedeutung stiften und die sich bis in die äußerst starke Beanspruchung chirurgischer

Verkehrsdelikte

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Kliniken auswirken, sind als die Massenkriminalität unserer Zeit ein äußerst wichtiges Problem für die Gesetzgebung im Strafrecht und Strafprozeß und die Rechtsanwendung, deren kriminologische Erforschung jedoch erst seit wenigen Jahren begonnen wurde und noch in den Anfängen steht. 3. Besonderheiten

der

Verkehrsdelikte

a) K r i m i n a l p o l i t i s c h e B e s o n d e r h e i t e n . Die Straftaten, welche den Kernbereich des gewöhnlichen Strafrechts bilden, sind allgemein verpönte, schwerwiegende Rechtsbrüche, deren strafrechtliche Verfolgung von der überwiegenden Mehrzahl der Rechtsgenossen gebilligt wird. Die sozialethischen Normen, deren Sicherung diese Straftatbestände dienen, sind jedermann bekannt. Sie werden in der Regel auch anerkannt und befolgt. „Für den durchschnittlichen, seelisch nicht abnormen Menschen . . . ist die Verbrechenssituation im allgemeinen eine Ausnahmesituation. Anders in der Verkehrssituation. . . . Infolge der für einen reibungslosen Verkehrsablauf notwendigen Auflagen, die dem Verkehrsteilnehmer gemacht sind und deren Nichtbefolgung mit Strafe bedroht ist, wird die Verkehrssituation für jeden Verkehrsteilnehmer bereits zur potentiellen Deliktssituation" (Göppinger). Außerdem sind weitere Eigentümlichkeiten der Vorschriften im Straßenverkehr hervorzuheben. Es ist einigen von ihnen ein gewisses zufälliges Moment (Cornil) nicht abzusprechen, so der Entscheidung, ob rechts oder links zu fahren, der Vortritt von rechts oder von links zu gewähren ist. Indessen ist nur das Wie der Regelung zufällig: irgendeine Regelung ist um der Verkehrssicherheit willen unbedingt erforderlich. Andere Vorschriften dienen ganz ausgesprochen der Verkehrssicherheit, so die über die gebotene Geschwindigkeit oder das Überholen. Doch alle diese Regeln bezwecken mit dem Schutz der Verkehrssicherheit mittelbar den Schutz der Verkehrsteilnehmer selber. Wer sie verletzt, gefährdet andere Verkehrsteilnehmer abstrakt oder konkret. Offenbar ist es für viele Menschen außerordentlich schwer, diesen mittelbaren Bezug der Verkehrsregeln auf die menschliche Sicherheit, auch auf die des möglichen Urhebers einer Verkehrswiderhandlung selber, einzusehen und sich nach dieser Einsicht zu verhalten (Cornil, Meyer/ Jacobi I S. 183, III S. 22). Es entspricht dieser Einstellung, daß die Mehrzahl der von Willett untersuchten 653 Urheber schwerwiegender Verstöße im Straßenverkehr sich aus ihrer Verfehlung nichts machten (Willett 1964). Ähnlich ist die allgemeine Haltung gegenüber den Verkehrsdelikten, deren krimineller Gehalt kaum gesehen wird und die als ausgesprochene Kavaliersdelikte gelten (Cornil, Stratenwerth). Cornil (1967) bemerkt, daß

die öffentliche Meinung jetzt mehrheitlich durch Automobilisten gebildet werde. Dazu kommt, daß — im Gegensatz zur gewöhnlichen Kriminalität — sich die Verkehrsdelikte in aller Offenheit abspielen, ebenso aber auch die zahllosen ungeahndeten Verstöße gegen die Verkehrsvorschriften. Deshalb weiß der Rechtsgenosse, wie sich der andere auf diesem Gebiet verhält und wie häufig Verkehrswiderhandlungen begangen, jedoch nicht verfolgt werden. Diese Kenntnis schwächt die Geltungskraft der gebotenen Vorschriften und hindert die Bildung eines solches Verhalten verpönenden Rechtsbewußtseins (Brauneck, Popitz), wie es der vom Vorspruch zur StVO geforderten echten Gemeinschaft aller Verkehrsteilnehmer oder einem neuen „Verkehrs-Ethos gegenseitiger solidarischer Mitverantwortung" (Schöllgen) entsprechen würde. Die Bildung einer neuen Verkehrsethik wird überdies dadurch erschwert, daß die im geordneten Verkehrsfluß geforderte Rücksichtnahme und die dort herbeigeführte „Zwangsdemokratisierung" im Gegensatz zu den sonst in einer Konkurrenz-, Leistungs- und Prestige-Gesellschaft herrschenden Ansichten steht (Ciaessens). Diese Erklärung nimmt den in der gegenwärtigen amerikanischen Kriminologie gelegentlich auftauchenden Gedanken auf, daß die der modernen Konkurrenzgesellschaft zugrunde liegende Einstellung an sich kriminalitätsfördernd ist, eine Wirkung, die um so eher eintritt, wenn die allgemeine, die rechtlichen Vorschriften tragende Überzeugung schwach ist. Die Bildung einer allgemeinen Verkehrsgemeinschaft auf sozialethischer Grundlage wird ferner dadurch behindert, daß die Begegnung im Verkehr unpersönlich bleibt. Es fällt dem Menschen offenbar besonders schwer, auch in anonymen Beziehungen ethische Maßstäbe zu beachten. Endlich ist darauf hinzuweisen, daß die Bedrohung des anderen Verkehrsteilnehmers durch die Fahrzeuglenker durch das Fahrzeug vermittelt wird. Die Forschungen von Konrad Lorenz legen die Vermutung nahe, daß der Mensch sich besonders dann ungezügelter Äußerung der ihm innewohnenden Aggressivität nur schwer enthalten kann, wenn sie durch ein mechanisches Mittel auf das Opfer übertragen, nicht unmittelbar an ihm selbst ausgeübt werden muß (Stratenwerth). b) K r i m i n o l o g i s c h e B e s o n d e r h e i t e n . Während die herkömmlichen Straftatbestände ein bestimmtes Verhalten als solches als unerlaubt bezeichnen, ist die Teilnahme am Straßenverkehr, insbesondere das Führen eines Fahrzeuges, an sich ein erlaubtes, möglicherweise nur unter gewissen Voraussetzungen gestattetes Verhalten. Zahlreiche Verkehrsregeln verbieten nur ein bestimmtes Verhalten im Verkehr oder eine bestimmte Art und Weise, ein Fahrzeug zu führen. In dieser Hinsicht gleichen sie den Vorschriften,

Verkehrsdelikte die den Umgang mit gefährlichen Stoffen strafrechtlich sichern oder die mangelhafte Ausübung beruflicher oder gewerblicher Tätigkeiten unter Strafe stellen. Gefährliches Verhalten im Straßenverkehr kann nur vermieden werden, wenn die Verkehrsteilnehmer die Gefahrenquellen kennen. Ob dies allgemein der Fall ist, darf bezweifelt werden (Meyer/Jacobi IS. 183, III S. 22). So wird wenigen Lenkern von Motorfahrzeugen bewußt sein, daß diese Tätigkeit nicht nur eine ständige seelische Belastung, die im dichten Verkehr zum eigentlichen Streß werden kann, bedeutet, sondern auch eine erhebliche körperliche Anstrengung darstellt, die zur Erhöhung des Pulses und des Blutdruckes führt (Hoffmann). Bei einigen Verkehrsvorgängen, ζ. B. beim Überholen, können diese Veränderungen erheblich sein (Hoffmann). Groenewegen (1954) spricht deshalb vom Lenken eines Motorfahrzeuges als Arbeit. Nur vereinzelte Lenker werden die Größe der einem sich bewegenden Fahrzeug innewohnenden kinetischen Energie kennen (Kietzhändler). Hinzu kommt, daß die verkehrsrechtlichen Gebote, deren Einhaltung gefordert wird, oft nur ganz allgemeine Anweisungen vermitteln, ohne dem Fahrzeuglenker durch einige bestimmte Richtlinien anzugeben, wie er die ihm eingeräumte Entscheidungsbefugnis ausüben soll. Ein Beispiel dafür bietet die Weisung, mit angemessener Geschwindigkeit zu fahren, wenn nicht zugleich gesagt wird, daß die Geschwindigkeit nie höher sein darf, als daß nicht noch innerhalb der als frei überblickbaren Strecke angehalten werden kann. Einzelne Verkehrsregelungen sind schwer zu befolgen, weil sie psychologischen Bedingtheiten nicht Rechnung tragen. So wenn der Fahrer auf einer geraden Straße mit starkem Verkehr dem von rechts aus einer Einmündung Einbiegenden den Vortritt belassen sollte (Bockelmann S. 251). Zweifelhaft ist ferner, ob ein Fahrer fähig ist, alle die zahlreichen Signale rechtzeitig wahrzunehmen und aufzufassen (Undeutsch 1963). Oft wird deshalb von einer Überforderung des Fahrzeuglenkers gesprochen (Baumann, Bockelmann S. 10—15, 251/2, Gunzert 1960, Luff 1960, 1967, Mierke, Undeutsch 1962, 1963). Die Rechtsprechung trägt diesem Argument allerdings nur insoweit Rechnung, als sie dem Fahrer gegenüber keinen Vorwurf erhebt, der in einer durch einen anderen Verkehrsteilnehmer in völlig unvorhersehbarer Weise geschaffenen Gefahrensituation nicht die zur Abwehr der Gefahr am besten geeignete Reaktion zeigt oder der nur Bruchteile von Sekunden zu spät reagiert. Der Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, von 1966, § 16 Abs. 2, will jedoch, gerade mit Rücksicht auf die Verkehrsdelikte, bei geringfügig fahrlässigem Verhalten keine Strafe eintreten lassen. Die Geltung der Verkehrsregeln wird außerdem beeinträchtigt durch die Tendenz

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der Rechtsprechung, in gewissen Verkehrssituationen Abweichungen von den unbedingt ausgesprochenen Vorschriften zuzulassen (Bockelmann S. 19). Die Teilnahme am modernen Straßenverkehr ist ein Vorgang, der auf vielfältige Weise bedingt ist. Während die Ausführung einer gewöhnlichen Straftat in der Regel vor allem durch die Vergangenheit, durch die Lebensgeschichte des Täters und zuweilen das frühere Verhalten des Opfers bestimmt ist, wirkt auf den Fahrer während der Fahrt eine Vielzahl von Umständen ein, wie Anlage und Zustand der Straße (Aichhorn, Biermann, Bitzel in Laves/Bitzel/Berger, Bitzl 1963 S. 113, Burkardt, Dörr, Haddon, Kind), das Klima und das Wetter (Baumgärtner u. a., Becker, Bitzl 1961/62, Everling, King, Köhn), die Helligkeit (Bitzl 1963 S. 291, Mach), die Beschaffenheit des Fahrzeuges (Haddon, Kamm, Koessler, McFarland, Schmid), die Verkehrsverhältnisse, insbesondere die Verkehrstrennung (Dörr, R. Hoffmann). Zwar wird für die strafrechtliche Betrachtung des Verhaltens eines Verkehrsteilnehmers maßgebend sein die Forderung, daß er seine Fahrweise nach diesen Einwirkungen, vor allem den Straßen- und Verkehrsverhältnisse, richten muß, soweit sie ihm erkennbar sind. Das gilt unter Umständen schon für den Entschluß eines Vegetativ-Labilen, bei ihn störendem Wetter die Fahrt überhaupt anzutreten. Kriminologisch betrachtet sind diese Umstände notwendige Bedingungen fehlerhaften und möglicherweise strafbaren Verhaltens im Verkehr. Zuweilen läßt sich dies geradezu experimentell feststellen, wenn unfallreiche Strecken und Stellen besser angelegt werden und dann die Verkehrsunfälle dort stark sinken (Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung 1961, 1962). Dazu kommt, daß sich das unrichtige Verhalten im Straßenverkehr je nach den zufällig gegebenen Umständen ganz verschieden auszuwirken vermag. So kann das Schneiden einer unübersichtlichen Linkskurve oder das Vorfahren vor einer Kuppe ohne Folge bleiben, wenn kein Fahrzeug aus der Gegenrichtung kommt. Nähert sich aber ein anderes Fahrzeug, so kann rasches und geschicktes Handeln der beteiligten Lenker möglicherweise einen Zusammenstoß vermeiden. Gelingt dies nicht, so hängt es von den Zufälligkeiten des Zusammenpralles, ob frontal oder seitlich, direkt oder nur Streifung, insbesondere aber von der Art und der Bauart der beteiligten Fahrzeuge, ferner von den bestehenden und benützten SicherheitsVorrichtungen ab, ob der Zusammenstoß einzig Sachschaden verursacht oder zu einer Körperverletzung oder Tötung führt. Aebersolds Untersuchungen (1968) von 129 fahrlässigen Tötungen der Jahre 1952—1956 im Kanton Aargau lassen erkennen, daß die meisten dieser Unfälle durch Fahrzeuge mit eher niedriger Geschwindigkeit hervorgerufen worden waren; daß

492

Verkehrsdelikte Tabelle 3

Ait und Zahl der schweren Unfallfolgen und der Gebrauch von Sicherheitsvorrichtungen (Straßenverkehrsunfälle in der Schweiz 1966, Tab. 42. Verletzungen nicht vollständig wiedergegeben)

Fahrzeug und Benützer

Total

Gehirnerschütterung

Schädelbruch

Personenwagen Lenker angegurtet getötet verletzt

11 114

nicht angegurtet getötet verletzt

262 3690

Mitfahrer angegurtet getötet verletzt

8 77

nicht angegurtet getötet verletzt

245 4162

Mortorrad Lenker mit Sturzhelm getötet verletzt

26 227



41

13 8

ohne Sturzhelm getötet verletzt

40 559

3 115

24 26

Mitfahrer mit Sturzhelm getötet verletzt

5 32

1 8

2 1

ohne Sturzhelm getötet verletzt

6 151

21

2 16

17

2 4

5 787

75 93



11

2 1

11 950

82 122



sie tödliche Folgen auslösten, lag vor allem daran, daß die Opfer als Fußgänger, Radfahrer oder Motorradfahrer dem Anprall schutzlos ausgeliefert waren. Aufschlußreich ist die Überprüfung, wie sich der Gebrauch von Sicherheitsvorrichtungen auf die Unfallfolgen auswirkte, selbst wenn die Zahlen ihre volle Aussagekraft erst dann gewönnen, wenn bekannt wäre, wieviele Prozente der Motorfahrzeugfahrer der betreffenden Kategorie die Sicherheitsvorrichtungen tatsächlich benützen. Die je nach der Verkehrslage und anderen Gegebenheiten ganz verschiedene Auswirkung einer bestimmten Verletzung der Verkehrsregeln besitzt die Folge, daß das Verhalten strafrechtlich völlig verschieden bewertet wird. Der folgenlose Verstoß gegen die Verkehrsregeln wird nur als Übertretung, so nach SVG Art. 90 Zif. 1, oder sogar einzig als Ordnungswidrigkeit (-»• Ordnungswidrigkeit) bestraft. Drohte die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes, so ist eine Bestrafung als konkretes Gefährdungsdelikt und Vergehen im Sinne von StGB § 315 c Abs. 2 oder SVG Art. 90 Zif. 2 möglich, ebenso wenn eine fahrlässige Tötung oder Körperverletzung die Folge gewesen war. Derselbe Verstoß gegen die Verkehrsregeln



Genickbruch

2

Wirbelsäulenbruch

Innere Verletzungen

1

4 7

13 3

7 12

91 142





-



2

4 4

8 4

3 25

56 120

2





— —

1

2 4

9

1 9

1 1

1 1

1

1 3



4 — —

1 —

-



kann mithin in der verschiedensten Weise strafrechtlich in Erscheinung treten. Die unterschiedliche rechtliche Behandlung der Verkehrsverstöße führt ferner dazu, daß der Täter in sehr verschiedener Weise den Behörden der Strafverfolgung begegnet: das Verfahren kann sich im Verhängen einer gebührenpflichtigen Verwarnung, dem Aussprechen einer Buße wegen einer Ordnungswidrigkeit oder einer Geldstrafe in einem abgekürzten Verfahren erschöpfen, es kann sich aber auch, wenn ein konkretes Gefährdungs- oder ein fahrlässiges Verletzungsdelikt verfolgt wird, im Rahmen des gewöhnlichen Strafverfahrens abspielen. Außerdem ist stets mitzuberücksichtigen, daß eine große Anzahl der folgenlosen Mißachtungen von Verkehrsregeln im rollenden Verkehr überhaupt nicht verfolgt wird. Nicht einmal immer, wenn sich ein Unfall ereignete, wird die Polizei benachrichtigt; stiftete ein Zusammenstoß nur Sachschaden und anerkennt ein Beteiligter seine Verantwortlichkeit ohne weiteres, so wird häufig darauf verzichtet, die Polizei herbeizurufen. Meyer/Jacobi (1961) teilen mit, daß in Deutschland jährlich rund 650 000 Unfälle von der Polizei registriert, aber

493

Verkehrsdelikte 1 500 000 Verkehrsunfälle den Versicherungsgesellschaften gemeldet worden waren (Meyer/Jacobi I S. 9). Das häufige Ausbleiben einer Strafverfolgung und die so verschiedenartige strafrechtliche und strafprozessuale Behandlung der Widerhandlungen gegen den Straßenverkehr kann die von Meyer/Jacobi beschriebene Einstellung hervorrufen: „Ein Kraftfahrer kann bei uns praktisch machen, was er will; solange er keinen zur Strecke bringt, bleibt er in der Regel ungeschoren" (Meyer/Jacobi I S. 185). 4. Verkehrsdelikt,

Verkehrsunfall

und

Unfallursache

Die ersten und die umfassendsten Untersuchungen der Verkehrsdelikte gingen von deren auffallendster Erscheinungsweise, vom Verkehrsunfall, aus (Fink, Laves/Bitzel/Berger, Haddon, Meyer/Jacobi). Die Verkehrsunfälle wurden nach typischen Abläufen, wie gleichgerichteter Verkehr, Begegnungsverkehr, Querverkehr, Geradeaus-fahren, Abbiegen, untersucht (Lehmann 1957, 1958,1959,1960,1961), die Urheber und Opfer der Unfälle wurden nach Alter, Geschlecht und Berufen gegliedert, und es wurde die Anteilzahl der beteiligten Fahrzeugarten ermittelt. Zudem wurde geprüft, ob einzelne Personen oder Personengruppen als sogenannte Unfäller eine besondere Neigung, Urheber von Unfällen zu sein, aufwiesen. Endlich wurde nach Unfallursachen geforscht, ähnlich wie die ersten kriminologischen Bemühungen darauf zielten, einige wenige Ursachen der Kriminalität überhaupt zu finden, damit deren Beseitigung die Kriminalität zum Verschwinden bringe. Als solche Ursachen erscheinen in den amtlichen Statistiken und den wissenschaftlichen Untersuchungen einmal Einwirkungen auf den Verkehr, die nicht durch Menschen hervorgerufen worden waren und als echte Ursachen eines Unfalles angesehen werden können, wie ζ. B. das Behindern eines Fahrzeuges durch Tiere, unvorhersehbares technisches Versagen des Fahrzeuges, Steinschlag. Die übrigen sogenannten Unfallursachen umschreiben als Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit, Mißachten der Vorfahrt, vorschriftswidriges Überholen, vorschriftswidriges Beanspruchen der linken Fahrbahnhälfte, zu nahes Aufschließen, nur die Verletzungen der Verkehrsregeln, welche zu einem Unfall geführt hatten. Sogleich stellt sich die Frage, aus welchem Grunde die Vorschrift nicht beachtet worden war. Nur in wenigen Fällen wurde mit der Bezeichnung der fehlerhaften Fahrweise zugleich eine etwas tiefere Ursache aufgedeckt, so wenn der Unfall auf Übermüdung, Angetrunkenheit oder Unaufmerksamkeit zurückgeführt wird. In allen anderen Fällen kann die Verletzung der Verkehrsregeln auf die verschiedensten Ursachen zurückgehen. Dabei sind zuweilen auch außerhalb des fehlbaren Verkehrs-

teilnehmers liegende Umstände zu berücksichtigen; die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit durch einen Berufsfahrer kann auf eine unrichtige Organisation des Betriebes oder die Weisung eines Vorgesetzten zurückgehen. Als Unfallursache kann ferner das Verhalten des Opfers in Betracht kommen, wenn es sich ebenfalls vorschriftswidrig verhalten hatte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß ein beträchtlicher Anteil der motorisierten wie der nicht motorisierten Unfallopfer unter dem Einfluß von Alkohol (-»· Alkohob'smus) stand (Gumbel 1960, Händel 1963, Schweiz. Beratungsstelle für Unfallverhütung 1966, Wagner/Wagner 1963). Die Analyse eines tödlichen Unfalles, Überfahren einer 68 Jahre alten Fußgängerin, die sich am rechten Straßenrand bewegte, durch einen Mopedfahrer nachts, deckte folgende, vermutlich den Unfall bedingende Faktoren auf: ungünstige Straßenbeleuchtung, zu kurze Reichweite des Scheinwerfers des Mopeds, die dunkle Kleidung der Fußgängerin, der schlecht begehbare, als solcher einem Ortsfremden nicht auffallende Bürgersteig neben einer besonders guten Fahrbahn, die beginnende Schwerhörigkeit der Fußgängerin, das mit einem besonders starken Schalldämpfer ausgerüstete und deshalb außergewöhnlich leise Moped, die buchstabengetreue Beachtung des Gebotes, rechts zu fahren, durch den Mopedfahrer (Lehmann 1967). Der Versuch, die Voraussetzungen der Verletzungen von Verkehrsvorschriften durch Kraftfahrer zu systematisieren, führte Meyer/Jacobi, die 145 000 Versicherungsfälle untersuchten, zu einer Dreiteilung: fehlende Bereitschaft zur Einhaltung der Verkehrsregeln, die als abstrakte Gefährdungstatbestände das Rechtsgefühl der Laien nicht ansprechen; Unkenntnis der Gefahren und wie ihnen zu begegnen ist; Charakterschwächen wie falscher Ehrgeiz, Rechthaberei, Gedankenlosigkeit (Meyer/Jacobi I S. 183, I I I S. 22). Undeutsch, der 1960 die Urheber von 200 Verkehrsunfällen in Köln unmittelbar nach dem Unfall befragte, davon die nicht aufklärbaren und die durch Materialfehler bedingten Fälle ausschied, stellte für 179 Unfälle folgende „Bedingungskomplexe" fest (Undeutsch 1962 S. 66): Kategorie Durchbruch natürlicher Verhaltenstendenzen Indirekte Situationsbeurteilung Falsche Erwartung Falsche Abschätzung Abgelenktsein Eingeschliffene Verhaltensweisen Altersbedingte Verkehrsuntüchtigkeit

Total

%

11 44 36 54 41 37

4 18 14,5 22 16,5 15

25

10

248

100

449

Verkehrsdelikte

Als die eigentlichen seelischen Ursachen durchdringende und verstärkende Faktoren fand Undeutsch Stimmungen in 23 Fällen, Eile in 24 Fällen, sehr geringe Fahrpraxis in 12 Fällen, Übermüdung in 2 Fällen, mangelhafte Beherrschung des Kraftfahrzeuges in 9 Fällen, ungenügende Kenntnis der Verkehrsregeln in 9 Fällen, Ortsfremdheit in 8 Fällen, schlechte Reaktion in 10 Fällen und Geltungsbedürfnis in 7 Fällen. Nach den von Undeutsch selber als vorläufig bezeichneten Feststellungen kann der Durchbruch natürlicher Verhaltenstendenzen als typische Ursache für die Nichtbeachtung der Vorfahrt und der ScMuß vom Verhalten eines anderen auf die Verkehrssituation, die indirekte Situationsbeurteilung, als typische Ursache eines Unfalles auf Kreuzungen angesehen werden. Diese beiden Beispiele zeigen die Methoden, die Unfallursachen (kritisch zu diesem Begriff vor allem Lehmann 1961, 1967) zu erforschen, in typischer Weise. Es ist einerseits die auf einer sehr großen Zahl von Fällen beruhende Reihenuntersuchung, die auf eigener Sammlung und Auswertung des Materials beruht und sich von der meist nur vorläufigen und summarischen Bezeichnung der Unfallursachen, wie sie den polizeilichen und gerichtlichen Erhebungen als Verkehrsverstöße zugrunde liegen und in die amtlichen Statistiken eingehen, entfernt. Andererseits werden eher kleine Gruppen mit sehr differenzierten Fragestellungen und Begriffsbildungen bearbeitet. Für die Erforschung der Verkehrsdelikte sind diese Untersuchungen nur von begrenztem Wert. Einmal deshalb, weil eine nicht geringe Zahl der Widerhandlungen im Straßenverkehr keinen Unfall herbeiführt. Dies trifft nicht nur zu für die folgenlosen Verletzungen von Verkehrsvorschrif-

ten, welche als abstrakte oder konkrete Gefährdungsdelikte strafbar sind, sondern ebenfalls für an sich strafbares Verhalten im Straßenverkehr, wie einfache Trunkenheit im Verkehr, Führen eines Fahrzeuges ohne Versicherung oder ohne die erforderlichen Ausweise für Fahrer oder Fahrzeug, Führen eines nicht betriebssicheren oder zu schwer beladenen Fahrzeuges. Zum andern deswegen, weil es in hohem Maße vom Zufall abhängt, ob ein Verstoß gegen eine Verkehrsregel folgenlos bleibt oder einen Unfall herbeiführt. Endlich sind Gegenstand der Unfallkunde auch die nicht auf menschliches Verhalten zurückgehenden Unfälle und die nicht durch den Verkehrsteilnehmer gesetzten Bedingungen eines Unfalles, wie Wetter, Anlage der Straße, Bau und Einrichtung des Fahrzeuges. Die statistische Darstellung und die wissenschaftliche Untersuchung der Verkehrsunfälle vermittelt jedoch möglicherweise Aufschluß über die Folgen einzelner Widerhandlungen im Straßenverkehr und damit deren besonderer Gefährlichkeit. Die Ergebnisse der Untersuchung von Meyer/ Jacobi sprechen dafür, daß die weitaus größte Zahl der Verkehrsunfälle Folge der Mißachtung einfacher und grundlegender Verkehrsvorschriften sind (Meyer/Jacobi 1182), nämlich in der Reihenfolge der Häufigkeit vorschriftswidriges Rückwärtsfahren, Fehler bei Richtungsänderung, Verletzung der Vorfahrt, Auffahren, vorschriftswidriges Überholen, nicht rechts fahren und unangemessene Geschwindigkeit. Allein die wirkliche Bedeutung der Ergebnisse von Meyer/Jacobi zeigt sich erst, wenn außer der Häufigkeit auch die Schwere des Unfalles berücksichtigt wird. Nach dem Anteil der Unfälle mit Personenschaden eingereiht, ergibt sich folgendes Bild:

Tabelle 4

Verkehrswiderhandlungen Unangemessene Geschwindigkeit Überholen Verletzung der Vorfahrt Nicht rechts fahren Fehler bei der Richtungsänderung Auffahren Vorschriftswidriges Rückwärtsfahren

Zahl

Durchschnittsschaden

Personenschaden

3 256 10 208 18 581 7 437 22 814 44 073 38 951

1219 DM 550 DM 610 DM 704 DM 378 DM 241 DM 127 DM

39,9 21,6 19,8 17,0 16,7 3,1 1,2

Die weitaus häufigsten der ermittelten Unfallursachen rufen nach ihren menschlichen und wirtschaftlichen Folgen nur wenig schwerwiegende Unfälle hervor; diese Verstöße können deshalb

&

Sachschaden 60,1 78,4 80,2 83,0 83,3 96,9 98,8

nur als besonders häufig, doch nicht als besonders gefährlich bezeichnet werden. Als gefährlich können einzig die Widerhandlungen gegen die Verkehrsregeln angesehen werden, welche in der Regel

495

Verkehrsdelikte oder häufig auch schwerwiegende Folgen, insbesondere tödliche Verletzungen bewirken, wie vor allem das Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit, das unzulässige Überholen, das Verweigern der Vorfahrt oder das Fahren im Zustande der Angetrunkenheit. Dies zeigen gerade die Untersuchungen von Meyer/Jacobi über den Zusammenhang der auf unangemessene Geschwindigkeit zurückgehende Unfälle mit hohem Schaden und der Höhe der Geschwindigkeit (Meyer/Jacobi I S. 179, Schaubild 178), und der Nachweis, daß auch im allgemeinen nicht schwere Unfälle bewirkenden Fahrfehlern, wie zu nahes Aufschließen, erhöhte Gefährlichkeit innewohnt, wenn sie von einem schnell fahrenden Lenker begangen werden (op. cit. S. 89). Der deutsche Gesetzgeber bewies sicheres Urteil, als er 1952 sieben derartige vorschriftswidrige Verhaltensweisen in § 315 c als Vergehen unter Strafe stellte, wenn sie eine konkrete Gefährdung bewirkten. Die Erforschung der Unfallursachen genügt in anderer Hinsicht strafrechtlichen und damit auch kriminologischen Erfordernissen nicht; denn sie verzichtet in der Regel auf die Untersuchung, ob das vorschriftswidrige Verhalten vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt worden war. Die häufig zu schweren Unfällen führenden Verstöße gegen die Verkehrsregeln, wie Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit, Überholen an dazu ungeeigneter Stelle, werden meistens mit vollem Bewußtsein und willentlich, also vorsätzlich begangen, im Gegensatz zu den oft aus Unachtsamkeit, wegen unrichtiger Schätzungen oder mangelhafter Beherrschung des Fahrzeuges ausgeführten sehr häufigen, jedoch weniger gefährlichen Verstößen. Die vorsätzliche Begehung schwerwiegender Verfehlungen gegen die Verkehrsregeln bietet für die strafrechtliche Behandlung wie für den Strafvollzug deutliche Ansatzpunkte. Es ist deshalb methodisch zu fordern, daß zwischen der Begehung eines Verkehrsdeliktes und der Verursachung eines Verkehrsunfalles streng unterschieden wird. Die neuere Forschung geht von diesem Unterschied aus (Graf Hoyos 1964, 1965, Parry, Willett 1966) und nimmt als Gegenstand der Untersuchung nicht die Verursachung eines Unfalles, sondern das Verhalten im Verkehr (Graf Hoyos 1965, v. Klebeisberg), welches am Modell der Entscheidungssituation mit allgemeinen und besonderen Risiken analysiert wird. Es wird unterschieden (v. Klebelsberg) zwischen folgenlosem Fehlverhalten, der abstrakten Gefährdung entsprechend, Beinahe-Unfall, der konkreten Gefährdung entsprechend, und dem Bewirken eines Verkehrsunfalles. Die Erforschung der Verkehrsunfälle und andere Untersuchungen (Schälchli) führt zur auch kriminologisch bedeutsamen Kenntnis der großen Gesetzmäßigkeiten des Straßenverkehrs.

5. Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Straßenverkehrs Die zeitliche Verteilung der Verkehrsdichte zeigt ausgesprochene Regelmäßigkeiten, welche durch die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung bedingt sind. An allen Wochentagen steigt die Verkehrsdichte und die Unfallhäufigkeit von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends und hält sich in den Stunden von 2 bis 5 Uhr auf einem Mindestmaß. In diesem Verlauf lassen sich, vor allem im städtischen Verkehr, an Werktagen drei immer stärker ausgeprägte Höhepunkte erkennen: zwischen 7 und 8 Uhr, um die Mittagszeit und besonders zwischen 18 und 20 Uhr. An Sonntagen zeigt sich der erste Gipfel der Verkehrsdichte erst um 10 Uhr, dafür tritt in den frühen Nachmittagsstunden ein neuer Höhepunkt auf. Im Durchschnitt ereigneten sich 1966 in der Schweiz 8123 Unfälle täglich, im Durchschnitt der Tage Freitag bis Sonntag jedoch 8860, vom Montag bis Donnerstag nur 7870. 9075 Unfälle ereigeneten sich am Samstag, 8753 am Freitag und 8552 am Sonntag. Die Verteilung auf die Monate läßt erkennen, daß die Verkehrsdichte vom März an stark zunimmt und im Juli und August ihren Höchststand erreicht, dem ein weiterer Höhepunkt im Oktober und ein starker Rückgang im November folgt. Die Regelmäßigkeiten des Straßenverkehrs sind für die Kriminologie der Verkehrsdelikte insofern von Bedeutung, als sie zeigen, zu welchen Zeiten die besonders starke Verkehrsdichte an die Verkehrsteilnehmer erhöhte Anforderungen stellt. Daß die Verkehrsunfälle nicht linear mit der Verkehrsdichte zunehmen, bekundet die Untersuchung von Groeben/Sader (1968) über Verkehrsdichteeindruck und Unfallhäufigkeit, wonach die tatsächliche Unfallhäufigkeit an Kreuzungen unter der erwarteten Unfallzahl blieb, weil erhöhte Aufmerksamkeit bei Verkehr, der als besonders stark empfunden wurde, ausgleichend wirkte. Die Ballung der Verkehrsunfälle in der Zeit um Mittag und ganz ausgesprochen in den späten Nachmittagsstunden, Zeiten des Arbeitsschlusses und der Heimkehr zum Essen, führen zur Annahme, daß in erster Linie der hungrige und müde Mensch geneigt ist, Verkehrsunfälle zu bewirken. 6. Die Urheber der Verkehrsdelikte a) A l l g e m e i n . So wenig es d e n Kriminellen gibt, so wenig gibt es d e n Typus des Verkehrsdelinquenten (Göppinger). Dagegen spricht allein die Vielfalt der Verkehrswiderhandlungen, welche als Fahren ohne die erforderlichen Ausweise vom Ungehorsam gegen Verwaltungsvorschriften über in der Regel ungefährliche Verstöße wie vorschriftswidriges Parkieren bis zu von StGB § 315 c als besonders gefährlich hervorgehobenen Fahr-

496

Verkehrsdelikte

fehlem, zu denen noch das Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit zu zählen ist, reichen und die als fahrlässige Körperverletzung oder Tötung zu Verletzungsdelikten werden. Manche der einzelnen Verkehrsdelikte kennen eine so verschiedene Art der Begehung, daß selbst für sie kein einheitlicher Tätertypus aufgestellt werden kann. Urheber einer fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr kann ebenso gut der sein, der nur für einen Augenblick unaufmerksam gewesen war, wie der aus jugendlicher Freude an rascher Bewegung zu schnell

Fahrende (-> Jugendkriminalität), wie der rücksichtslose Verkehrsrowdy, welcher die Vorfahrt nicht gewährt oder in vorschriftswidriger Weise überholt. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die unter sich verschiedenen Verkehrsdelinquenten, als Gruppe betrachtet, gemeinsame Züge aufweisen, welche sie von den gewöhnlichen Kriminellen unterscheiden. Einen ersten Anhaltspunkt zur Beurteilung der Verkehrsdelinquenten vermittelt der Vergleich mit den Verurteilten überhaupt.

Tabelle 5 In Deutschland 1965 verurteilte Erwachsene

Verurteilte mit früheren Verurteilungen

Verurteilte

Frühere Verurteilungen zu Freiheitsstrafen

Art der Verurteilung Zahl

Verbrechen u. Vergehen insgesamt Wegen Verbrechen u. Vergehen ohne Straßenverkehr Wegen Verbrechen u. Vergehen im Straßenverkehr Wegen Vergehen nach StVG Unbefugter Fahrzeuggebrauch Volltrunkenheit m. Verkehrsunfall Unfallflucht in Trunkenheit Führen eines Kraftfahrzeuges ohne Fahrerlaubnis o. trotz Fahrverbot Übertretung StVG § 21 wenn Entzug der Fahrerlaubnis Gefährdung des Straßenverkehrs in Trunkenheit ohne Unfall Fahrl. Tötung nach Verkehrsunfall in Trunkenheit Fahrl. Körperverletzung nach Verkehrsunfall in Trunkenheit Gefährdung des Straßenverkehrs in Trunkenheit mit Unfall Unfallflucht ohne Trunkenheit Sonstige Gefährdung des Straßenverkehrs Fahrlässige Tötung nach Verkehrsunfall ohne Trunkenheit Fahrl. Körperverletzung nach Verkehrsunfall ohne Trunkenheit Übertretung StVG § 21 nach Fahrverbot

davon weiblich

Zahl

in% der Verurteilungen

Zahl

in % der früheren Verurteilungen

467 385

55185

197 040

42,1

101 764

51,6

229 647

40 960

119 075

51,8

78 690

65,9

237 738 76 598 1806 1581 4 295

14 225 5 225 18 29 44

77 965 29 887 1225 794 1934

32,7 39,0 67,6 50,3 45,0

33 074 13 570 888 428 973

42,4 45,4 72,2 53,9 50,3

30 692

3 502

13 257

43,2

8150

61,4

14 599

176

5 856

40,1

2 712

46,3

25 549

238

10 233

40,0

4 885

47,7

577

3

227

39,3

101

44,5

8 305

66

3 263

39,2

1456

44,7

16 682 14 052

186 885

6 470 4 832

38,8 34,4

3 102 2 122

47,7 43,9

6 052

206

1892

31,5

655

34,7

3101

183

930

30,0

350

37,6

80 946

7 160

17 513

21,6

5 332

30,5

969

38

201

20,7

69

34,3

497

Verkehrsdelikte Tabelle 6 In Deutschland 1965 verurteilte 18 bis 21 Jahre alte Heranwachsende

Verurteilte mit früheren Verurteilungen

Verurteilte

Frühere Verurteilungen zu Freiheitsstrafen

Art der Verurteilung Zahl

davon weiblich

Zahl

in% der Verurteilungen

Zahl

Wegen Verbrechen und Vergehen insgesamt

61161

5 233

16 419

26,8

4 814

Wegen Verbrechen und Vergehen ohne Straßenverkehr

31 415

3109

11 313

36,0

3 855

Wegen Verbrechen und Vergehen im Straßenverkehr

29 746

2124

5106

17.2

969

Wegen Vergehen nach StVG

10 886

1118

2160

19,8

468

Unbefugter Fahrzeuggebrauch

764

8

329

43.0

116

Unfallflucht in Trunkenheit

349

4

100

28,6

23

Volltrunkenheit m. VerkehrsunfaJl

102

2

29

28,4

9

1747

12

445

25,4

88

63

1

16

25,4

6

Gefährdung des Straßenverkehrs in Trunkenheit ohne Unfall Fahrlässige Tötung nach Verkehrsunfall in Trunkenheit Übertretung StVG § 21 wenn Entzug der Fahrerlaubnis

895

7

198

22.1

37

Unfallflucht ohne Trunkenheit

1879

102

408

21,6

83

Führen eines Kraftfahrzeuges ohne Fahrerlaubnis o. trotz Fahrverbot

7 543

1050

1608

21.3

388

Gefährdung des Straßenverkehrs in Trunkenheit mit Unfall

1138

12

242

21,2

43

Fahrlässige Körperverletzung nach Verkehrsunfall in Trunkenheit

968

13

204

21,1

43

Sonstige Gefährdung des Straßenverkehrs

942

19

179

19,0

31

Übertretung StVG § 21 nach Fahrverbot

217

7

31

14,3

1

Fahrlässige Tötung nach Verkehrsunfall ohne Trunkenheit

467

30

64

13,7

9

11195

811

1259

11,2

166

Fahrl. Körperverletzung nach Verkehrsunfall ohne Trunkenheit

Die Tabellen lassen erkennen, daß hinsichtlich der Anteilzahl früherer Verurteilungen wie auch der früherer Verurteilungen zu Freiheitsstrafen zwischen beinahe allen wegen Verkehrsdelikten und den wegen anderen Verbrechen und Vergehen 32 HdK, 2. Aufl., Bd. I I I

Verurteilten Unterschiede, und zum Teil sehr deutliche, bestehen. So liegen beide Anteilzahlen nur für die wegen unbefugten Gebrauches eines Fahrzeuges Verurteilten höher. Besonders auffallend ist, daß die weitaus zahlreichste Gruppe

498

Verkehrsdelikte

der Verkehrsdelinquenten, die der wegen fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr ohne Trunkenheit Verurteilten, die zweitniedrigste Anteilzahl früherer Verurteilungen unter den Erwachsenen und die niedrigste unter den Heranwachsenden aufweist. Dieser Befund ist von Bedeutung für die Stellungnahme zu der Kontroverse, ob der Verkehrsdelinquent im allgemeinen eher dem gewöhnlichen Delinquenten gleicht oder ob als Verkehrsdelinquenten vielmehr die gewöhnlichen Bürger vor Gericht erscheinen. Die erste Ansicht vertrat vor allem Willett (1964), die entgegengesetzte und wohl herrschende Auffassung äußerten insbesondere Meyer/Jacobi (1961) und auch Willett (1967, S. 115/116). Für die durch die Tabellen nahegelegte zweite Ansicht spricht, daß in bezug auf die Verkehrsdelikte wegen der jeden Verkehrsteilnehmer erfassenden Kontrollen und der Immobilisierung durch einen Unfall Personen polizeilich überprüft und möglicherweise in Strafuntersuchung gezogen werden, die als Urheber anderer Delikte vermöge ihres Geschickes oder ihrer sozialen Stellung sich eher einer Strafverfolgung zu entziehen wissen. Dazu kommt, daß zur Begehung einer Verkehrswiderhandlung nicht nur sozialethisch beurteilbare Eigenschaften, wie sie den gewöhnlichen Delikten in der Regel zugrunde hegen, sondern auch sozialethisch neutrale Eigenschaften und Verhaltensweisen, wie Mängel der Wahrnehmung, ungenügende Reaktionsfähigkeit, nicht ausreichendes Vorstellungsvermögen für Gefahren, technische Ungeschicklichkeit, führen können. Andererseits bedeutet die Verkehrssituation selbst für Menschen, die sich sonst sozial angepaßt verhalten, eine starke Belastungs- und Versuchungssituation. Vor allem der Lenker eines Motorfahrzeuges kann leicht der Verlockung erliegen, die technischen Möglichkeiten seines Fahrzeuges voll auszunützen und sonst gezügelten Aggressionen nachzugeben. Parry (1968) übernimmt deshalb die Formulierung von Lynette Shaw, daß manche heute so fahren, wie sie leben möchten. Doch auch entgegengesetzte Strebungen können zu einem Verkehrsunfall führen; Willett (1967) nennt, unter Berufung auf mehrere amerikanische Untersuchungen, versteckte suizidale Tendenzen als Ursachen fahrlässiger Tötungen im Straßenverkehr. Für die herrschende Ansicht spricht ferner die Untersuchung von Lewrenz u. a. (1968), welche unter 6687 wegen Verkehrsdelikten Verurteilten 4489 oder 671%0 nach allgemeinem Strafrecht nicht Vorbestrafte fanden, überdies für 729°/oo keine Strafen wegen Verkehrsübertretungen und für 702%o keine Strafen wegen Verkehrsvergehen feststellten. Die abweichende Ansicht von Willett (1964) erklärt sich dadurch, daß er 653 nur wegen schwerer Verkehrsverstöße Verurteilte untersuchte. Die Richtigkeit der herrschenden Ansicht würde noch viel deutlicher erkennbar

sein, wenn auch die nur mit Übertretungsstrafen belegten oder wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilten oder die gebührenpflichtig verwarnten Verkehrsdelinquenten berücksichtigt würden. Selbst die mehrmals bestraften Verkehrsdelinquenten dürften nicht ohne weiteres den gewöhnlichen Delinquenten gleichgestellt werden, weil ihr unrichtiges Verhalten im Verkehr auf sozialethisch neutrale und dem Täter möglicherweise gar nicht bekannte Mängel zurückgehen kann. Streich macht als Grund mehrfacher Verstöße gegen die Verkehrsregeln auf mangelnde Erfahrungsbildung aufmerksam (1961). Andererseits ist es nicht erstaunlich, daß einzelne Untersuchungen von Fahrern, welche mehrmals Unfälle verursacht hatten, auf Persönlichkeiten stießen, welche nach Lebensgeschichte und Charakter dem Typus des gewöhnlichen Verbrechers und auch des gewöhnlichen Rückfälligen glichen. Tillmann und Hobbs (1949) fanden unter zwanzig Taxiführern in London (Ontario), welche mehrmals an Unfällen beteiligt gewesen waren, im Vergleich mit zwanzig anderen Taxiführern ohne oder mit nur wenig Unfällen die erste Gruppe gekennzeichnet durch eine bewegte Kindheit, mittelmäßige Schulleistungen und ausgesprochen neurotische Züge. Heath (1955) stellte bei einer Gruppe von 763 Urhebern von Verkehrswiderhandlungen und einer Gruppe von nicht vorbestraften Fahrern mit gleicher Fahrleistung fest, daß die Bestraften jünger waren, weniger gute Schulbildung besaßen, häufiger die Stelle wechselten, einen höheren Grad der Impulsivität und der Soziabilität und einen niedrigeren Grad der Überlegtheit nach der Temperament-Skala von Thurstone aufwiesen. McFarland und Moore (1957) ermittelten, daß Urheber von Unfällen und unfallfreie Fahrer sich in projektiven Tests dadurch unterschieden, daß der unfallfreie Fahrer sich eher mit seinem Vater identifiziert und ein positives Bild von sich selbst besitzt, während der Urheber mehrerer Unfälle regressive masochistische Phantasien zeigt und seine soziale Umgebung als ungenügend und für sein starkes Bedürfnis nach Teilnahme und Anerkennung nicht ansprechend ansieht. K. Mayer stellte unter 125 rückfälligen Verkehrsdelinquenten vermehrt unausgeglichene, vorwiegend aktivunbekümmerte, aber auch vitalschwache, ungesteuerte Persönlichkeiten mit vermehrter affektiver Störbarkeit und geringer Selbstkritik fest (1968). Weil Verstöße gegen die Verkehrsvorschriften auf sozialethisch negativ bewertete Verhaltensweisen zurückgehen können, welche den gewöhnlichen Delinquenten, insbesondere den rückfälligen, kennzeichnen, entspricht es der Wahrscheinlichkeit, daß diejenigen Menschen, welche sozial nicht angepaßt sind, auch vermehrt Widerhandlungen im Straßenverkehr, der eine besonders hohe soziale Anpassung und Rücksichtnahme verlangt, begehen. Dies besagt das von

Verkehrsdelikte Tillmann und Hobbs (1949) geprägte dictum, jeder fahre so, wie er lebe. Für eine weitere Erforschung der Verkehrsdelinquenten und ihrer Eigenart erscheint die von Willett (1967 S. 61) vorgeschlagene Gruppierung als Arbeitshypothese zur Zeit am geeignetsten: 1. Gruppe der Urheber von untergeordneten, meist leichten Widerhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften, bei denen der Zufall und die Unaufmerksamkeit eine Rolle spielen; 2. Gruppe der Urheber einer einmaligen, nicht aus Unaufmerksamkeit begangenen Verkehrswiderhandlung mit schweren Folgen für andere, ohne daß die Täter wegen Verkehrs verstoßen, ausgenommen unbedeutenden, bestraft sind; 3. Gruppe der Täter, welche mehrmals eine Tat der Gruppe 2 verüben, ferner diejenigen, welche nur einmal eine Tat der Gruppe 2 begehen, jedoch wegen anderer und nicht nur geringfügiger Delikte vorbestraft sind, endlich die mehrfach Rückfälligen, ζ. B. die während drei Jahren sechs oder mehrmals Bestraften. Diese Typologie könnte verbunden werden mit der von Graf Hoyos (1965) vorgeschlagenen, welche sich nach der Eigenart der Tat richtet und danach unterscheidet, ob der Schwerpunkt des unrichtigen Verhaltens vor dem Beginn der Fahrt liegt, so beim Lenken eines überladenen Fahrzeuges oder beim Fahren im Zustande der Trunkenheit, oder während der Fahrt, wie bei den Verstößen gegen die Verkehrsregeln im rollenden Verkehr, oder nach Ende der Fahrt, wie bei der Unfallflucht. b) Das Geschlecht. Der Anteil der Frauen an den aufgrund des StGB Verurteilten beträgt im allgemeinen in gewöhnlichen Zeiten 1 / s bis Vein Deutschland waren 1965 von 467 385 wegen Verbrechen und Vergehen verurteilten Erwachsenen 55 185 oder 11,8% von den entsprechend verurteilten 61161 Heranwachsenden 5233 oder 8,5% Frauen. Von den wegen Verbrechen und Vergehen ohne die Taten im Straßenverkehr verurteilten 229 647 Erwachsenen waren 40 960 oder 17,8%, von den entsprechend verurteilten 31 415 Heranwachsenden 3109 oder 9,9% Frauen. In England wurden 1966 wegen indictable offences, ungefähr den Verbrechen und Vergehen des kontinentalen Rechts entsprechend, 232 854 Personen, darunter 31 396 oder 13,5% Frauen verurteilt. Auf 19 254 im Jahr 1966 in der Schweiz aufgrund des StrGB Verurteilte entfielen 2821 oder 14,6% Frauen. Von den 1966 in Deutschland wegen Verbrechen und Vergehen im Straßenverkehr verurteilten 237 738 Erwachsenen waren nur 14 225 oder 5,9% Frauen, von den entsprechend verurteilten 29 746 Heranwachsenden waren 2124 oder 7,1% Frauen; von den wegen Vergehen nach StVG verurteilten 76 598 Erwachsenen waren 5225 oder 6,8%, von den entsprechend verurteil32·

499

ten 10 886 Heranwachsenden 1118 oder 10,2% Frauen. Lewrenz u. a. (1968) fanden auf 6686 im Jahr 1966 in Deutschland verurteilte Verkehrsdelinquenten nur 3,2% Frauen. Von den im Jahr 1966 in England und Wales wegen Verkehrswiderhandlungen verurteilten 844 574 Personen waren 53 661 oder 6,3% Frauen. Zu den 24 663 im Jahr 1966 in der Schweiz in das Strafregister eingetragenen, wegen Widerhandlungen gegen das Straßenverkehrsgesetz Verurteilten, die im Falle einer Übertretung mit mindestens 100 Fr Buße oder Haft bestraft worden waren, trugen die Frauen 1075 Verurteilungen, 4,0%, bei. Die Einzeluntersuchungen bestätigen diesen Befund, so Kesselring (1959) und Wilms (1963) allgemein, Borchert (1960) für Alkoholdelikte im Straßenverkehr, Aebersold (1968) für fahrlässige Tötungen im Straßenverkehr, Emmerich (1962), Kaiser (1964) und Bergermann (1966) für die Verkehrsunfallflucht, Weber (1964) für die Mopedfahrer mit einem etwas erhöhten Anteil verunfallter Fahrerinnen von 8,2% und Jansen (1960) für den Autodiebstahl. Die Statistik und die Einzeluntersuchungen lassen erkennen, daß es einige Verkehrsvergehen, so vor allem die unter Einfluß von Alkoholgenuß begangenen, wie Verkehrsübertretungen, so das Führen nicht zugelassener Kraftfahrzeuge und das Gestatten deren Gebrauches (Wilms), das Führen eines Kraftfahrzeuges trotz Erlaubnisentzug, das Führen überladener Kraftfahrzeuge (Wilms), gibt, bei denen der Anteil der Frauen an den Verurteilten außerordentlich gering ist. Andererseits ist er für das Führen eines Kraftfahrzeuges ohne Führerschein und das Führenlassen ohne Führerschein überdurchschnittlich hoch (Wilms). Es liegt nahe, die außergewöhnlich niedrige Anteilzahl der Frauen an den Verurteilten durch besondere weibliche Eigenschaften oder besondere Geschicklichkeit der weiblichen Fahrer zu erklären, doch wäre diese Rückführung zumindest voreilig, weil eine ganze Reihe mitwirkender Faktoren zu berücksichtigen ist. Ob, in welcher Weise und wie häufig jemand Widerhandlungen im Straßenverkehr begeht, hängt von der Art und der Intensität seiner Teilnahme an diesen Bewegungsvorgängen ab. Bestehen darin keine Unterschiede, so gleichen sich die Zahlen für Männer und Frauen an, wie dies die Zahlen der 1966 in der Schweiz als Mitfahrer (3630 Männer und 4487 Frauen) und als Fußgänger (3303 Männer und 2594 Frauen) Verunglückten zeigen, während von den verunglückten Fahrzeuglenkern 14 335 Männer und 2258 Frauen gewesen waren. Ob die Frauen in derselben Weise als Lenker von Fahrzeugen am Straßenverkehr teilnehmen, kann etwas genauer ermittelt werden, wenn untersucht wird, wie sich die Führerscheine auf männliche und weibliche Lenker verteilen, ob die Verteilung für alle Arten von Fahrzeugen dieselbe

500

Verkehrsdelikte

ist und ob Frauen und Männer dieselbe Fahrleistung erbringen. Die von Stegen (1966) durchgeführte Untersuchung der am 6. 6 . 1 9 6 1 in Hamburg Fahrberechtigten ergab, daß von insgesamt 382 540 Fahrberechtigten 69 273 oder 18,1% Frauen waren. Die Verteilung der verschiedenen Fahrberechtigungen auf die beiden Geschlechter wies erhebliche Unterschiede auf: 91,5% der weiblichen, aber nur 61,7% der männlichen Fahrberechtigten besaßen einen Führerschein für Personenwagen. Doch 23,9% der Männer waren berechtigt, einen Lastwagen zu führen, und weitere 2,1% hatten eine Sondererlaubnis erhalten, zusammen 2 6 % gegen 2,7% bei den Frauen. Diese Zahlen spiegeln soziale Sachverhalte wieder: es ist vor allem ein Männerberuf, schwere Kraftwagen zu steuern und berufsmäßiger Kraftfahrzeuglenker zu sein. Daraus erklärt sich die auffallend niedrige Anteilziffer der Frauen an den wegen Führens überladener Kraftfahrzeuge Verurteilten; weil Frauen auch selten Inhaber von Schwertransportbetrieben sind, werden sie ebenfalls weit seltener als Männer wegen Zulassens der Inbetriebnahme solcher Fahrzeuge verurteilt. Die Untersuchung der Fahrleistungen der Hamburger Führerscheininhaber im Jahre 1960 durch Stegen (1966) deckte auf, daß von der gesamten Fahrleistung von 4229700000 km 3944300000 km oder 93,2% von den männlichen Fahrern bestrit ten worden waren. Die durchschnittliche jährliche Fahrleistung aller männlichen Fahrberechtigten betrug 15 200 km, die der Fahrerinnen 6700 km, die der männlichen Lenker von Personenwagen 13 600 km, die der weiblichen 6600 km. Diese Zahlen zeigen deutlich, daß sich weibliche Fahrer weniger oft und weniger lang im Straßenverkehr bewegen, weshalb für die männlichen Fahrer die Wahrscheinlichkeit, einen Verstoß gegen die Verkehrsvorschriften zu begehen, wegen der viel häufigeren möglichen Tatsituation bedeutend höher ist. In derselben Weise ist die Wahrscheinlichkeit, in einen Unfall verwickelt zu werden, für die männlichen Lenker erhöht. Trotzdem zeigten die von Stegen aufgrund der Fahrleistung durchgeführten Berechnungen der Unfallhäufigkeit, daß die Unfallhäufigkeit der Frauen mit nur 8 7 % niedriger ist als dem Verhältnis zu ihrer Fahrleistung (100%) entsprechen würde, doch für Unfälle mit Personenschaden war die Unfallhäufigkeit für Frauen 9 5 % . Stegen macht darauf aufmerksam, daß noch berücksichtigt werden muß, zu welchen Zeiten und auf welchen Strecken die Frauen Fahrzeuge lenken; er vermutet, daß ihre Beteiligung am städtischen Stoßverkehr geringer ist. Die von Aebersold (1968) 1967 an verschiedenen Wochentagen und zu verschiedenen Stunden durchgeführten Zählungen an einer Außerorts- und zwei Innerortsstrecken ergaben einen Anteil der Lenkerinnen von Personenwagen von 13,6% und von Zweirädern (Motorräder jeder Art, Leichtmotorräder,

Fahrräder) von 11,25%, im Durchschnitt von 12,4%. Aebersold weist darauf hin, daß der Anteil der Frauen an den 1966 durch Fahrzeuglenker hervorgerufenen tödlichen Unfälle mit 10,2% der Anteilzahl der Lenkerinnen sehr nahe kommt. Der Grund der niedrigeren Anteilzahlen der Frauen an den wegen Verkehrsdelikten Verurteilten, wie auch den Urhebern von Verkehrsunfällen dürfte mithin nicht auf besondere Eigenschaften der Lenkerinnen, sondern auf die Lebensgewohnheiten, insbesondere die ganz verschiedene Teilnahme der Frauen am motorisierten Straßenverkehr zurückzuführen sein. c) D a s A l t e r . Die ersten Untersuchungen in dieser Richtung gingen von den Verkehrsunfällen aus, deren Urheber und Opfer besonders häufig junge Menschen sind (Langen). Deshalb kam die Meinung auf, daß unrichtiges Verhalten im Verkehr eine ausgesprochene Eigentümlichkeit junger Menschen (-> Jugendkriminalität) sei. Wird als Gegenstand der Untersuchung nicht der Verkehrsunfall, sondern das strafbare Verhalten im Straßenverkehr gewählt, so ändern sich die Untersuchungsergebnisse, insbesondere wenn sie mit denen der gewöhnlichen Kriminalstatistik verglichen werden. Es ist ein seit langem feststehendes Kennzeichen der zu einer Verurteilung führenden Kriminalität, daß sie hauptsächlich von Tätern unter 30 Jahren hervorgerufen wird (für viele Schultz 1965). Diese Zahlen lassen erkennen, daß nicht alle Anteilziffern der wegen Verkehrsdelikten Verurteilten für die jüngeren Jahrgänge an der gewöhnlichen Kriminalität liegen. Zudem machen die deutschen und schweizerischen Verurteilungsziffern deutlich, daß die Verurteilungsanteile aller über 20 Jahre alten Verurteilten über den Anteilziffern dieser Jahrgänge an der gewöhnlichen Kriminalität liegen, so daß auch die älteren Jahrgänge mit diesen Verurteilungen stärker belastet erscheinen (-> Alterskriminalität). Die Untersuchung von Ander (1964, 1965) zeigte, daß überdurchschnittlich stark die Heranwachsenden und die 21- bis 25jährigen an Verurteilungen wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung im Straßenverkehr, Führen ohne Führerschein und Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit, die 25- bis 30jährigen an Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung infolge übersetzter Geschwindigkeit, Führen ohne Führerschein, Fahren unter Alkoholeinfluß und Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit beteiligt sind. Die höhere Belastung der 18 bis 30 Jahre alten mit Verurteilungen wegen Verkehrsdelikten kann nicht ohne weiteres mit altersbedingten Eigentümlichkeiten charakterlicher Art, wie emotionale Unreife, fehlende Selbstkritik, Draufgängertum, Risikofreudigkeit, Imponiergehabe, erklärt werden. Vor allem für die jüngeren Jahrgänge kommt

Verkehrsdelikte

501

502

Verkehrsdelikte

als weitere Erklärungsmöglichkeit senso-motorische Leistungsschwäche (Lewrenz 1964) in Frage. Außerdem ist zu berücksichtigen, in wie hohem Maße diese Verkehrsteilnehmer der Wahrscheinlichkeit, eine Verkehrswiderhandlung zu begehen, ausgesetzt sind. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß „das Verhalten mancher Jugendlicher eine Spiegelbilderscheinung des Erwachsenen" darstellt, „das allenfalls in seinen Dimensionen, nicht jedoch in seiner Charakteristik" davon abweicht (Lewrenz 1964). Gerade der Jugendliche leidet unter dem Fehlen verbindlicher Leitbilder, gerade im Verkehrsverhalten, und erliegt besonders leicht der Versuchung, durch den Gebrauch eines Motorfahrzeuges und die Art, in der er dies tut, sein „soziales Selbstbewußtsein" (Lewrenz 1964) zu heben oder zu bestätigen. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit eröffnet sich, wenn geprüft wird, wie lange ein Fahrer im Besitze eines Führerscheins ist. Die Statistiken zeigen, daß Verkehrsunfälle vor allem von den Fahrern verursacht werden, welche die Fahrerlaubnis noch nicht lange besitzen (Kesselring, Stegen). Von den 67 654 Lenkern eines Personenwagens, die 1966 in der Schweiz an einem Unfall beteiligt gewesen waren, besaßen 28 603, 42,3%, den Führerschein weniger als fünf Jahre. Es versteht sich von selbst, daß sich unter den 18 bis 30 Jahre alten besonders viele Fahrer befinden, welche den Führerschein erst vor kurzer Zeit erworben hatten, weil er erst vom 18. Jahr an erteilt wird. Ungenügende Erfahrung im Bedienen des Fahrzeuges, in der Beurteilung von Verkehrssituationen und wenig ausgebildete Reaktionen der jüngeren Verkehrsteilnehmer sind als Erklärung erhöhter Verurteilungsziffern dieser Jahrgänge wegen Verkehrsdelikten ebenfalls heranzuziehen (McFarland 1966, Stegen). Aebersold (1968) fand, daß auch die Wahrscheinlichkeit, als Fahrzeuglenker Opfer eines tödlichen Verkehrsunfalles zu werden, abnimmt, je länger ein Lenker den Führerschein besitzt. Eine erhöhte Neigung zur Verursachung von Unfällen besitzen älteren Fahrzeuglenkern (-» Alterskriminalität). Langen (1960) und Stegen (1965) stellten sie schon bei mehr als 55 Jahre alten Kraftfahrern, McFarland und Moore (1957) bei mehr als 70 Jahre alten Fahrern fest. Hemer (1966) hält es für möglich, daß altersbedingter Abbau der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit durch erhöhte Vorsicht ausgeglichen wird, unter Bezugnahme auf eine vorläufige Untersuchung von Ysander (1966 S. 161) von Personen, die nach dem 58. Jahr den Führerschein erhielten. Diese Untersuchung hatte hinsichtlich der Beteiligung an Unfällen und der VerÜbung schwerer Verkehrsverstöße in den folgenden zwei Jahren keinen Unterschied gezeigt im Vergleich mit zwei Gruppen von Fahrern, welche im vierten und

fünften Jahrzehnt den Führerschein erlangt hatten und dieselbe Fahrleistung aufwiesen. Die Erforschung der Unfälle deckte hingegen auf, daß es alterstypische Arten häufigerer Verkehrswiderhandlungen gibt. Junge Fahrzeuglenker neigen dazu, zu rasch zu fahren, ältere Fahrer zum Mißachten der Vorfahrt, unrichtigem Rückwärtsfahren, und alternde Lenker zu falscher Benützung des Fahrbahnraumes (Lewrenz 1964). d) Der B e r u f . Die Abklärung, in welcher Weise die verschiedenen Berufsgruppen an den Verkehrsdelikten beteiligt sind, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Einmal deswegen, weil die Angaben über den Beruf in amtlichen Akten häufig ungenau sind, vor allem wegen des heute so häufigen Berufswechsels. Außerdem würden die Angaben über die berufliche Tätigkeit der Urheber von Verkehrsdelikten nur dann volle Aussagekraft besitzen, wenn die Anteilzahl der einzelnen Berufsarten an den Inhabern von Führerscheinen oder anderen Kategorien der Verkehrsteilnehmer sowie die Intensität der Teilnahme der verschiedenen Berufsgruppen am Straßenverkehr bekannt wäre. Nur unter diesem Vorbehalt werden einige Ergebnisse solcher Forschungen mitgeteilt. Wilms (1963) fand unter 72 Lenkern von der Behörde nicht zugelassener Fahrzeuge 70% unselbständige Handwerker, Facharbeiter, Bergleute, ungelernte Arbeiter und Hilfsarbeiter, unter 405 Lenkern von Kraftfahrzeugen ohne Führerschein 63% der genannten Berufsgruppen und unter 187 Lenkern überladener Fahrzeuge 70% Berufsfahrer. Kaiser (1964) ermittelte unter 332 wegen Unfallflucht Verurteilten 60,8% der zuerst erwähnten Berufsgruppen, 23,8% selbständige Handwerksmeister, Landwirte, Gastwirte, selbständige Kaufleute und 9,3% Angestellte. Bergermann (1966) stellte unter 885 wegen Unfallflucht Verurteilten nur 46,2% der zuerst genannten Berufsgruppen fest, 17,5% Berufsfahrer, 20,1% Angestellte, 1,0% Beamte, 8,8% selbständige Geschäftsinhaber und Handwerker, 1,9% Angehörige der freien Berufe. Emmerich (1962) zählte unter 663 wegen Unfallflucht Verurteilten 57,2% der zuerst genannten Berufsgruppen, 24,7% selbständige Kaufleute und Handwerker, 7,5% untere Beamte, Angestellte und Vertreter, 1,8% mittlere Beamte, Angestellte und Vertreter, 6,5% höhere Beamte und Angestellte sowie Angehörige der freien Berufe; der Vergleich mit einer Gruppe von Urhebern von Unfällen, welche keine Unfallflucht begingen, zeigte keine Unterschiede hinsichtlich der Anteile der Berufsarten. Lewrenz u. a. (1968) fanden unter 6687 Verurteilten 156% 0 Berufsfahrer; 9 1 % 0 der Verurteilten hatten ein monatliches Bruttoeinkommen von weniger als 400 DM, 281%o verdienten 400 bis 600 DM, 321°/ 00 600 bis 800 DM, I t e ' / ^ 800 bis 1000 DM, 70°/oo 1000 bis 1500 DM. 21°/ M 1500 bis 2000 DM und 15%,,

Verkehrsdelikte mehr als 2000 DM monatlich. Unter 331 verunfallten Mopedfahrern ergab die Untersuchung von Weber (1964) 0 , 3 % Berufe mit Hochschulbildung, 3,6% Beamte, 7,2% Kaufleute, kaufmännische Angestellte und Lehrlinge, 2,7% Handwerksmeister, 42,6% Gesellen und Facharbeiter, 5,8% gewerbliche Lehrlinge, 18,2% ungelernte und angelernte Arbeiter und Hilfsarbeiter. Willett (1964) untersuchte 559 Urheber schwerer Verkehrsverstöße, zu denen Angehörige der freien Berufe und höhere Beamte 8,4%, höhere Angestellte 11,1%, untere Angestellte 18,4%, gelernte Arbeiter 17,2%, angelernte Arbeiter 28,5% und ungelernte Arbeiter 16,4% beitrugen; verglichen mit den Anteilzahlen an der arbeitenden männlichen Bevölkerung des Jahres 1951 war der Anteil der Berufsgruppen der freien Berufe und höheren Beamten, vor allem aber der der angelernten und der ungelernten Arbeiter an den Urhebern schwerer Verkehrsverstöße höher, woraus Willett folgert, daß die Hypothese, die Mehrzahl der Urheber schwerer Verkehrsverstöße seien keine Handarbeiter, widerlegt ist. e) A n d e r e an V e r k e h r s d e l i k t e n b e s o n ders s t a r k b e t e i l i g t e G r u p p e n . Die von den Verkehrsunfällen ausgehenden Untersuchungen der Verkehrsdelikte ließen erkennen, daß einzelne Urheber von Unfällen mehr als einmal an Verkehrsunfällen beteiligt gewesen waren. So deckte eine 1954 bis 1957 in Frankfurt a. M. geführte Überprüfung der an 44 688 Verkehrsunfällen Beteiligten auf, daß 1929 an mehreren Unfällen, insgesamt an 4216, beteiligt gewesen waren (Schlitt). Die Vermutung kam auf, daß eine eher kleine Gruppe von Menschen, die sogenannten Unfäller, für eine recht große Zahl der Unfälle verantwortlich sei. Indessen trifft diese Annahme nicht zu (Hartmann). Daß eine gewisse Zahl von Verkehrsteilnehmern in eine höhere Zahl Unfälle verwickelt wird, als dem Durchschnitt entspricht, ist, wie besonders Drösler (1965) nachweist, nichts anderes als Ausdruck einer Poissonschen Verteilung. Deshalb besagt die vermehrte Beteiligung an Unfällen an sich noch nichts (Graf Hoyos 1965), insbesondere dann nicht, wenn nicht die Art und die Intensität der Verkehrsbeteiligung berücksichtigt wird. Sie erhält erst dann Bedeutung, wenn die mehrfach an Unfällen Beteiligten bestimmte Eigenschaften aufweisen, welche anderen Urhebern von Unfällen abgehen. Ob dies zutrifft, ist noch ungewiß. Dies einmal deswegen, weil zahlreiche Untersuchungen der Unfäller einfach von Gruppen mit erhöhter Zahl von Beteiligung an Unfällen ausgehen, wie die von Schneider und Schubert (1967) zusammengestellten Untersuchungsergebnisse zeigen. Schneider und Schubert betonen, daß Unfälle wie die bestraften Verkehrsverstöße für den einzelnen Motorfahrzeuglenker zu seltene Ereignisse sind, „als daß sie ohne weitere Verarbeitung als

503

Index der Unfallneigung oder Neigung zu Verkehrsverstößen brauchbar sind". Dazu kommt, daß die als Unfäller angesprochenen Personengruppen nach Kriterien beurteilt werden, welche den verschiedensten psychologischen Lehren verpflichtet sind und nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden können. Zudem lassen die Untersuchungen der Unfäller im Vergleich mit Gruppen weniger stark an Unfällen Beteiligter nicht selten keine oder kaum Unterschiede erkennen (Schneider/Schubert, Strotzka). Keine signifikanten Unterschiede sind vor allem dann zu ermitteln, wenn nur eine Eigenschaft oder Verhaltensweise als Variable gewählt wird (Graf Hoyos 1965, Parry). Mehr Erfolg zu versprechen scheinen Untersuchungen, die eine ganze Reihe von Tests anwenden, die Persönlichkeit zu erfassen suchen und die Lebensgeschichte berücksichtigen. Nach Schneider und Schubert scheint „zumindest wahrscheinlich", daß zur Bestimmung der Fahrereignung die Untersuchungen „einzelner Bereiche anderen überlegen sind, so die Orientierungsversuche den Prüfungen des optischen Funktionskreises; die komplexen, d. h. Entscheidungen und Mehrfachhandlungen fordernden Reaktionsversuche den Prüfungen der Reaktionszeit; die verkehrsspezifischen Persönlichkeitstests den allgemeinen Persönlichkeitsfragebogen; die verkehrsnahen Untersuchungsverfahren generell den allgemein anwendbaren Tests." Die Untersuchungen von Mayer (1959, 1960) und Schubert (1962) legen die Annahme nahe, daß es, wenn überhaupt, mehrere Typen der Unfäller gibt. Unterscheidende Ergebnisse werden vor allem dann erzielt, wenn nicht nur die erhöhte Beteiligung an Unfällen, sondern auch die Verurteilungen wegen folgenloser Widerhandlungen im Straßenverkehr in Betracht gezogen werden. Hase (1966) fand signifikante Unterschiede für medizinische Kriterien, wie vegetative Stabilität und Sehschärfe über 70%, Leistungs- und projektive Tests in bezug auf Emotionalität, Affektivität, rationales Erfassen und rationale Steuerung, im Vergleich einer Gruppe ohne Unfälle und Verurteilungen wegen Verkehrsverstößen mit einer Gruppe von Verursachern von Unfällen, einer Gruppe von Urhebern von Verkehrsdelikten ohne Unfall, einer Gruppe mit relativ geringer Delikts- und Unfallhäufigkeit und einer Gruppe mit größerer Deliktsund Unfallhäufigkeit. Geht die Untersuchung vom Verkehrsverhalten als Entscheidungssituation aus und wird die Persönlichkeit des Fahrers herangezogen, so lassen sich ebenfalls deutlichere Ergebnisse erzielen. Graf Hoyos (1964 S. 284) fand, daß Personen, welche den Vater vor dem 10. Lebensjahr verloren hatten, dazu neigen, hohe Risiken zu wählen, Probanden mit berufstätigen Müttern eher zu Delikten, deren Schwergewicht vor Beginn der Fahrt liegt. Parry (1968) kommt in einer vorläufigen Untersuchung von 229 zu-

Verkehrsdelikte

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fällig ausgesuchten männlichen und weiblichen Motorfahrzeugführem zum Schluß, Personen mit erhöhter Neigung zu Aggression oder Angst seien vermehrt Unfällen ausgesetzt. Die Frage, ob und aus welchen Gründen einzelne Personen vermehrt Verkehrsdelikte begehen und an Unfällen beteiligt sind, bedarf noch intensiver und methodisch — insbesondere in bezug auf die gewählten Variablen und die Intensität der Verkehrsbeteiligung der Probanden — besser gesicherter Untersuchungen (Graf Hoyos 1965). Mit der Frage der Unfäller hängt zusammen das Problem, ob seelisch oder körperlich kranke Fahrzeuglenker mehr als durchschnittlich viele Verkehrsverstöße begehen oder Unfälle verursachen. Peter (1960) fand schlechte Verkehrsbewährung, gemessen an Verurteilungen wegen Verkehrswiderhandlungen, vor allem der Psychopathen und Alkoholsüchtigen, aber auch bei Personen mit charakterlichen Besonderheiten, Schwachsinnigen und reaktiven Störungen. Haddon (1966) stellte eine höhere Unfallrate der Alkoholiker fest, ferner daß Fahrer mit Diabetes, Epilepsie, Herz- und Gefäßkrankheiten oder Geisteskrankheit zweimal mehr Unfälle und 1,3 bis l,8mal mehr Verkehrsverstöße als der Durchschnitt, die wegen Gebrauch von Rauschgift Verurteilten l,8mal mehr Verkehrsverstöße, aber nicht mehr Unfälle aufwiesen. Andere Untersuchungen (Ysander 1966, S. 163) ermittelten keine höhere Belastung chronisch körperlich Kranker mit Verkehrsverstößen oder Unfällen und führen das Ergebnis darauf zurück, daß die Kenntnis der Krankheit zu erhöhter Sorgfalt veranlaßt. B. Einzelne Verkehrsdelikte 1. Das Entwenden eines

Motorfahrzeuges

zum Gebrauch

a ) D i e Rechtslage. Die meisten kontinentalen Strafgesetze bestrafen denjenigen, der nur vorübergehend ein Motorfahrzeug benutzte, um eine mehr oder weniger lange Fahrt auszuführen, der sich das Fahrzeug aber nicht aneignen will. Östr. StGB § 467 b und Schweiz. SVG Art. 94 Zif. 1 Abs. 1 bestrafen dieses Verhalten von Amtes wegen als Vergehen; das österreichische Recht schließt jedoch die Strafbarkeit aus, wenn ein naher Verwandter oder ein in Hausgemeinschaft wohnender Angehöriger über das Fahrzeug zu verfügen berechtigt ist oder wenn der verfügungsberechtigte Arbeitgeber es anvertraute; das schweizerische Recht läßt die Verfolgung nur auf Antrag eintreten, wenn der Halter des Fahrzeuges ein naher Angehöriger oder Familiengenosse des Täters ist. SVG Art. 94 Zif. 2 bedroht mit Übertretungsstrafe als Antragsdelikt das offensichtlich unbefugte Führen eines Motorfahrzeuges, welches

dem Täter anvertraut worden war. StGB § 248b stellt den unbefugten Fahrzeuggebrauch als Vergehen und Antragsdelikt unter Strafe, schließt aber Strafbarkeit aus, wenn die Tat gegen einen Verwandten absteigender Linie oder gegen den Ehegatten begangen wird. In Frankreich wird diese Tat, einem Urteil der Chambre Criminelle des Kassationshofes vom 19. 2.1959 zufolge, als gewöhnlicher Diebstahl bestraft. Trotz der verschiedenen rechtlichen Behandlung sind die kriminologischen Besonderheiten des an einem Motorfahrzeug verübten Gebrauchsdiebstahls derart ausgeprägt, daß sie sich in den verschiedensten Ländern deutlich abzeichnen. b) T a t o b j e k t und T a t b e g e h u n g . Gegenstand der Entwendung zum Gebrauch sind sowohl Personenwagen wie Motorräder, vor allem Mopeds (Algan u. a., Mayerhofer). Die Begehung der Tat ist häufig durch die Nachlässigkeit der Besitzer erleichtert, weil die Fahrzeuge nicht abgeschlossen sind oder deren Fenster offen stehen; Mayerhofer (1961) stellte dies für 39%, Jansen (1960) für 27,6% der Fälle fest. Mußte der Täter das Fahrzeug gewaltsam öffnen, so gelang dies in 56% dieser Fälle durch Öffnen des Lüftungsfensters. Die Häufigkeit der Marken der behändigten Fahrzeuge stimmt mit der Häufigkeit ihres Vorkommens überein, die Wagen mit besonderem Zündschloß ausgenommen (Jansen). Die meisten der entwendeten Fahrzeuge werden wieder aufgefunden (Mayerhofer, L'Abb6-Lund), sind allerdings häufig beschädigt, weil sie aufgebrochen waren, weil der Fahrer das Fahrzeug nicht zu bedienen wußte oder weil sich ein Unfall ereignete (Mayerhofer). Bevorzugte Begehungszeit sind die späten Nachmittags- und die Nachtstunden. Verschiedene Häufigkeit der Tat für die verschiedenen Jahreszeiten ließen sich nicht eindeutig nachweisen, hingegen fielen solche Taten vermehrt auf schulfreie Tage oder Halbtage und auf das Wochenende (Mayerhofer, Jansen). Die Taten sind häufiger in städtischen als in ländlichen Gegenden (Algan u. a., Christie u. a.). Gemeinsame Begehung durch mehrere Täter ist häufig (Jansen). c) Die T ä t e r . Entwenden eines Motorfahrzeuges zum Gebrauch ist ein typisches Delikt jugendlicher, heranwachsender und jungerwachsener männlicher Täter (->• Jugendkriminalität). Der Anteil der deswegen verurteilten Frauen betrug 1965 in Deutschland bei Erwachsenen wie Heranwachsenden knapp 1%. Nach dem 25. Altersjahr nehmen die Verurteilungen auch männlicher Täter wegen dieses Vergehens stark ab, nicht zuletzt, weil mit zunehmendem Alter die Möglichkeit wächst, sich auf zulässige Weise den Besitz eines Motorfahrzeuges zu verschaffen. Die Fahrzeuge werden meistens zu Spazierfahrten verwendet.

Verkehrsdelikte Die Täter zeichnen sich durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil Vorbestrafter und zu Freiheitsstrafen Verurteilter aus. Zuweilen kann von einem geradezu suchtartigen Verfallensein an das Autofahren gesprochen werden. Algan u. a. (1965) fanden, daß unter den von ihnen untersuchten jugendlichen Urhebern solcher Delikte viele in ihrer Persönlichkeit oder in den Familienbeziehungen stark gestört waren (-> Familie, Jugendkriminalität). Mayerhofer (1961) weist nach, daß die Tat in vielen Fällen nicht nur als Jugendstreich angesehen werden kann, sondern für einen großen Teil der Täter eine Äußerung unter anderen eines intensiven kriminellen Verhaltens darstellte. Als einen Hauptgrund solcher Taten hebt er die Unfähigkeit, die Freizeit sinnvoll zu gestalten, hervor. d) Die G e f ä h r l i c h k e i t d e r T a t f ü r den S t r a ß e n v e r k e h r . Es fehlen genaue Angaben darüber, wieviele der jeweils untersuchten Täter, von denen nur wenige, nach Mayerhofer (1961) 20%, den Führerschein besitzen, auf der Fahrt mit dem entwendeten Wagen einen Unfall verursachen. Eine norwegische Untersuchung deutet darauf hin, daß solche Fahrer selten Unfälle verursachen (L'Abb6-Lund 1957 S. XXVII). 2. Das Fuhren eines Motorfahrzeuges Zustande der Angetrunkenheit

im

a) Die R e c h t s l a g e . Die Verkehrsregeln gebieten, daß nur der ein Fahrzeug lenken darf, der fahrtüchtig ist, sei es, daß diese Vorschrift ausdrücklich aufgestellt wird, wie in Schweiz. SVG Art. 31 Abs. 2, sei es, daß diese Regel aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht abzuleiten ist, so gemäß der Genfer Vereinbarung über den Straßenverkehr vom 19. 9.1949, Art. 7 Satz 1. StVO § 1. Während Verstöße gegen diese Regel durch die Fahrer, welche übermüdet oder unter dem Einfluß von Arzneien, Beruhigungsmitteln, Stimulantien stehend ein Fahrzeug lenken, nur als Übertretung oder als Ordnungswidrigkeit (-> Ordnungswidrigkeit) geahndet werden können, sehen besondere gesetzliche Tatbestände für das Lenken eines Motorfahrzeuges durch einen Angetrunkenen Vergehensstrafe vor, StGB § 316, Schweiz. SVG Art. 91 Abs. 1 (-> Alkoholismus). Eine erhöhte Strafdrohung sieht StGB § 315 c Abs. 1 Zif. 1 für den berauschten Fahrzeugführer vor, der Leib und Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. Schweiz. SVG Art. 91 Abs. 3 droht auch dem die in Abs. 1 vorgesehene Strafe von sechs Monaten Gefängnis oder Buße an, der sich vorsätzlich einer amtlich angeordneten Blutprobe oder einer anderen ärztlichen Untersuchung entzieht oder widersetzt oder den Zweck dieser Maßnahmen vereitelt. Angetrunkenheit wird seit dem Urteil des schweizerischen Bundesgerichtes vom 18. 6.1964,

505

BGE 90 IV 159, als bewiesen angenommen, wenn die Blutprobe einen Alkoholgehalt von 0,8 g 0 ^ ergab. Das Urteil stützte sich auf ein eigens eingeholtes ärztliches Gutachten (Läuppi/Bernheim/ Kielholz), welches mitteilte, daß schon bei Werten von 0,2 bis 0,5 g% 0 in der resorptiven Phase Ausfälle in der Aufmerksamkeit und der sensorischen Leistungen auftreten und daß bei mehr als 0,6 g°/00 die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit in der Regel fehlt (Ponsoldt 1967). Wird die Grenze auf 0,8 g°/oo angesetzt, so werde ein Wert gewählt, bei welchem jeder Fahrer nicht mehr fahrtüchtig ist. Mit seinem Urteil vom 9.12.1966, BGHStr 21157, setzte der deutsche Bundesgerichtshof, in Abweichung vom BGHStr 5168, die Grenze absoluter Fahruntüchtigkeit von 1,5 auf l,3°/oo Blutalkoholgehalt herab, ebenfalls aufgrund eines vom Gesundheitsamt erstatteten Gutachtens (1966). Beide Gutachten stellen auf die Berechnungen von Freudenberg ab, der aufgrund von in den Städten Evanston, Toronto und Bratislava durchgeführten Untersuchungen, ob an Verkehrsunfällen beteiligte Personen unter Alkoholeinfluß standen, ermittelte, daß bei einem Blutalkoholgehalt von 0,5%o die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Unfalles 2,53mal höher ist als bei einem ganz nüchternen Fahrer und bei 0,8%o 4,42mal höher. b) T a t b e g e h u n g u n d T a t u m s t ä n d e . Die Statistiken der Verkehrsunfälle und Einzeluntersuchungen (Borchert, Middendorff 1961) lassen darauf schließen, daß das Fahren in angetrunkenem Zustande eine ganz typische zeitliche Verteilung aufweist: es ereignet sich vor allem in den Stunden zwischen 17 und 4 Uhr und vom Freitag bis zum Sonntag. Heifer (1964) fand unter 1000 Tätern eine zeitlich verschiedene Höhe des Blutalkoholgehaltes: diejenigen, welche zwischen 8 und 12 Uhr angetrunken gefahren waren, wiesen einen durchschnittlichen Wert von l,81°/oo auf; die Werte der übrigen Täter sanken von 1,63% 0 zwischen 12 und 16 Uhr bis auf l,50%o zwischen 4 und 8 Uhr. Hallermann und Steigleder (1968) fanden unter 52 325 Verkehrsdelinquenten, an denen eine Blutprobe genommen wurde, bei den Jugendlichen eine durchschnittliche Konzentration von l,23°/oo> bei den Heranwachsenden von l,34°/ 00 und bei den 31- bis 55jährigen eine solche von 1,82%ο· Biechteler u. a. (1965) ermittelten an 500 Fahrern unter Alkoholeinfluß und 553 anderen Fahrern, daß der häufigste Fahrfehler nüchterner Fahrer mit 46% ausgesprochen aggressive Fahrweisen waren, wie die Mißachtung der Vorfahrt und Nichtbeachten von Halte- und Sperrschildern, während die alkoholisierten Fahrer durch häufiges Nichtrechtsfahren und Abkommen von der Fahrbahn mit 57,9% auffielen. Heifer (1964) fand im Vergleich von 271 alkoholisierten und 255 nicht

506

Verkehrsdelikte

alkoholisierten Fahrern, daß folgende Fahrfehler bei den angetrunkenen Fahrern bedeutend häufiger vorkamen: Sturz eines Rad- oder Motorradfahrers, Verlassen der Fahrbahn in einer Kurve und besonders auf gerader Strecke, Zusammenstoß mit Gegenverkehr und mit parkierten Fahrzeugen; bei den nicht alkoholisierten Fahrern Auffahren, Streifkollisionen, Zusammenstöße mit Fußgängern, Mißachten der Vorfahrt, unvorsichtiges Wenden und Eigenunfall bei notwendigem Ausweichen. c) Die T ä t e r . Die Tabellen 5 und 6 machen deutlich, daß die Verurteilung von Frauen wegen alkoholbedingter Verkehrsdelikte eine Ausnahme darstellt und daß der Anteilsatz weiblicher wegen dieser Taten Verurteilter noch viel geringer ist als die im allgemeinen schon stark unterdurchschnittliche Beteiligung der Frau an den Verurteilungen wegen Verkehrsdelikten. Die Einzeluntersuchungen bestätigen diesen Befund (Biechteler u. a., Borchert, Clerc, Middendorf 1961, Müller 1963). Die Erklärung ist in den Trinksitten und den Gewohnheiten gesellschaftlicher Veranstaltungen zu erblicken, welche vor allem Angelegenheiten der Männer sind. Dazu kommt, daß eine betrunkene Frau auf viel stärkere Ablehnung stößt als der betrunkene Mann, und daß Alkoholikerinnen, besonders in gehobenen Schichten, meistens zu Hause sich dem Alkoholgenuß ergeben. Wenn auch der Anteil der nicht 30 Jahre alten Verurteilten am höchsten ist (Middendorff 1961), so erweisen sich die höheren Altersgruppen noch stärker mit solchen Verurteilungen belastet, als sie es mit Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen ohne die Verurteilungen wegen Verkehrsdelikten sind. Dies zeigen die Untersuchungen von Kesselring (1959), Middendorff (1961), Borchert (1960), Spiegel (1964) und Clerc (1967).

Vergleiche der beruflichen Zusammensetzung der Besitzer eines Führerscheins (Legat) mit der der alkoholisierten Verkehrsteilnehmer lassen darauf schließen, daß der Anteil der Täter unterer sozialer Schichten überdurchschnittlich hoch ist (Borchert, Middendorff). Die Tabellen 5 und 6 lassen erkennen, daß der Anteil der Vorbestraften wie der früher zu Freiheitsstrafen Verurteilten bei den alkoholisierten Verkehrsdelinquenten in der Regel höher ist als bei den übrigen Urhebern von Verkehrswiderhandlungen. d) G e f ä h r l i c h k e i t a l k o h o l i s i e r t e r Verk e h r s t e i l n e h m e r . Der heutige dichte und rasche Straßenverkehr verlangt von allen Verkehrsteilnehmern höchste Aufmerksamkeit, rasche, zuverlässige Reaktion und ein hohes Maß an Rücksichtnahme. Die bereits genannten, von Freudenberg zusammengefaßten Untersuchungen zeigen, daß der auch nur wenig alkoholisierte Verkehrsteilnehmer in stark erhöhtem Maße Verkehrsunfälle zu verursachen geneigt ist. Diese Gefährdung tritt deswegen schon bei niedrigen Blutalkoholwerten auf, weil gerade der nur Angetrunkene seiner Enthemmung und Euphorie wegen geneigt ist, zu schnell und sonst unvorsichtig zu fahren und seine Fähigkeiten zu überschätzen. Dafür spricht ferner, daß nach den Statistiken der Verkehrsunfälle Angetrunkenheit zu einer der häufigeren Unfallursachen zählt und daß alkoholisierte Fahrer, selbst bei niedriger Alkoholkonzentration, eine Tendenz, vermehrt tödliche Unfälle zu verursachen, aufweisen (Herbold). Dazu kommt, daß die Dunkelziffer offensichtlich außerordentlich hoch ist (Borchert, Elbel). Ein Verkehrsteilnehmer wird erst dann auf Angetrunkenheit untersucht, wenn seine Fahrweise oder, nach einem Unfall, sein sonstiges Verhalten Anhaltspunkte dafür ergibt, daß er unter Alkoholeinfluß steht.

Tabelle 8 Alkoholbedingte Verkehrsunfälle 1966 Alle Unfälle

Unfälle mit Verletzten

Tödliche Unfälle

Deutschland

Schweiz

Deutschland

Schweiz

Deutschland

Schweiz

8,1%

6,7%

11,9%

14,5%

8,0%

6,4%

Werden größere Gruppen von Verkehrsteilnehmern ausnahmslos auf den vorausgegangenen Genuß alkoholischer Getränke untersucht, so ergeben sich bedeutend höhere Anteilzahlen. Wagner/Wagner (1963) fanden an 257 im Jahr 1962 und 285 im Jahr 1963 in Rheinland-Pfalz im Straßenverkehr getöteten Personen einen Blutalkoholgehalt von über 0,8ο/οο bei 50,4% bzw. 52,5%, und einen von mehr als Ι,Ο0/«, bei 47,7%

bzw. 48,7%. Ähnliche amerikanische Zahlen alkoholisierter Opfer tödlicher Verkehrsunfälle teilt Händel (1963) mit. Eine von der Eidgenössischen Kommission gegen den Alkoholismus veranlaßte Untersuchung (Schweiz. Beratungsstelle für Unfallverhütung 1966) aller durch einen Unfall Verletzten, die in das städtische Krankenhaus einer mittleren Industriestadt und in ein großes Kantonsspital aufgenommen worden waren, ergab:

507

Verkehrsdelikte Tabelle 9 Art der Untersuchten

Alkoholeinfluß bei

106 Motorradfahrer 84 Autofahrer 38 Radfahrer 148 andere Opfer von Verkehrsunfällen 519 andere Verunfallte

43 24 16 35 114

Von den 228 Fahrzeuglenkern waren 69 oder 30,2% und von den 190 Motorfahrzeuglenkern 54 oder 28,4% derart alkoholisiert, daß sie sich nach Schweiz. SVG Art. 91 Abs. 1 oder 2 strafbar gemacht hatten. Gumbel ( 1 9 6 0 ) ermittelte unter 1 2 1 an Unfällen beteiligten Personen 5 2 mit einem 0 , 8 ° / o o erreichenden oder übersteigenden Alkoholgehalt, von denen die Polizei nur 28 als alkoholisiert bezeichnet hatte. Meyer/Jacobi (1961 I, Schaubilder 59 und 62) hingegen stellten bei allen von ihnen aufgrund der Versicherungsakten untersuchten Unfällen einen 1,0% nicht übersteigenden Anteil alkoholisierter Fahrer, ausgenommen nicht rechts Fahren mit 3,5% und Fahren mit unangemessener Geschwindigkeit mit 4,7% (Schaubild 59) fest. Werden aber allein die Großschäden berücksichtigt, so ist der Anteil alkoholisierten Fahrens bei den genannten Fahrfehlern 12,5% bzw. 12,7%, beim Überholen 8,9%, beim Auffahren 8,8%, bei Richtungsänderung 6,4% und bei Verletzung der Vorfahrt 3,9% (Schaubild 62). Es wird geschätzt, daß mindestens an 20% aller Verkehrsunfälle alkoholisierte Personen beteiligt sind (Elbel, Borchert). Fahren in angetrunkenem Zustande und alkoholbedingte Verkehrsunfälle scheinen rascher anzusteigen als die Verkehrsunfälle allgemein (Dotzauer, Hallermann, Steigleder). Alkoholgenuß ist mithin zweifellos ein die Verkehrssicherheit und, nicht zuletzt, die Sicherheit des betreffenden Verkehrsteilnehmers selber, stark gefährdender Faktor. Weil er ein vermeidbares Verhalten darstellt, ist es richtig, Strafsanktionen, und zwar scharfe, dagegen vorzusehen. Anzustreben ist ein Verbots nach Genuß alkoholischer Getränke ein Fahrzeug zu lenken. 3.

Unfallflucht

a) Die R e c h t s l a g e . StGB § 142 Abs. 1 bestraft als Vergehen, wer als Unfallbeteiligter sich den erforderlichen Feststellungen entzieht, wenn sein Verhalten dem Unfall ursächlich gewesen sein kann. Abs. 3 droht in besonders schweren Fällen Freiheitsstrafe nicht unter sechs Monaten an. Schweiz. SVG Art. 92 Abs. 1 stellt als Übertretung

40,5% 28,5% 42,1% 23,5% 21,9%

über 0,8°/oo bei 34 20 15 25

32,0% 23,8% 39,4% 16,9%

unter Strafe, wenn jemand die einem Unfallbeteiligten gesetzlich gebotenen Pflichten nicht erfüllt; Abs. 2 sieht Gefängnis vor, wenn ein Fahrzeugführer, der bei einem Verkehrsunfall einen Menschen tötete oder verletzte, die Flucht ergreift. b) T a t b e g e h u n g u n d T a t u m s t ä n d e . Die Untersuchungen von Emmerich (1962), Kaiser (1964), E. Müller (1964) und Bergermann (1966) lassen erkennen, daß die Unfallflucht in den meisten Fällen einem Unfall geringer Bedeutung folgt. In der Verteilung auf die Tageszeiten und die Wochentage ist eine deutliche Ähnlichkeit mit den Taten alkoholisierter Fahrer festzustellen; die späten Nachmittags- und die Nachtstunden bis kurz nach Mitternacht sowie die Tage des Wochenendes, vor allem der Sonntag, werden bevorzugt. Diese Übereinstimmung dürfte damit zusammenhängen, daß ein nicht geringer Teil der Urheber von Unfallflucht angetrunken ist. c) Die T ä t e r . Die Beteiligung weiblicher Täter steht für die Begehung von Unfallflucht ohne Trunkenheit unter dem Durchschnitt der Verurteilungen für Verbrechen und Vergehen im Straßenverkehr und liegt für Unfallflucht in Trunkenheit mit 1,1% bei den Heranwachsenden und 1,0% bei den Erwachsenen weit unter diesem Durchschnitt. Im Vergleich mit einer Gruppe von Tätern, welche einen Unfall verursachten, ohne Unfallflucht begangen zu haben, fand Emmerich (1962) eine erhöhte Belastung der 42- bis 62- und vor allem der 63- bis 79jährigen mit Verurteilungen wegen Unfallflucht; Kaiser (1964) und weniger deutlich Bergermann (1966) bestätigen diese Feststellung für die mehr als 65 Jahre alten Personen, verglichen mit deren Beteiligung an den Unfällen in Nordrhein-Westfalen überhaupt. Emmerich führt als Erklärung an, daß ältere, in einen Unfall verwickelte Fahrer befürchteten, wegen Beteiligung an einem Unfall ärztlich untersucht zu werden und den Führerschein zu verlieren. A. Müller (1966) hingegen führt an, daß verglichen mit den Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung und der Beteiligung an Unfällen mit Körperverletzung keine Altersklasse als mit Verurteilungen wegen Unfallflucht besonders belastet angesehen werden kann.

508

Verkehrsdelikte

Der Anteil der Fahrer bewilligungspflichtiger Fahrzeuge ohne Führerschein liegt zwischen 15 und 20% (Bergermann, Emmerich). Ob die Lenker bestimmter Fahrzeugarten vermehrt dazu neigen, Unfallflucht zu begehen, ist zweifelhaft. Bergermann fand eine deutlich stärkere Beteiligung an den Unfallfluchten als an den Unfällen überhaupt nur für jugendliche Mopedfahrer (-> Jugendkriminalität). Während Kaiser erklärt, der Anteil der Fahrer, welche den Führerschein schon länger als fünf Jahre besaßen, sei auffallend hoch, und die Unfallflucht sei weder für den unerfahrenen, noch für den erfahrenen Lenker typisch, bemerkt Bergermann, daß die unerfahrenen Fahrer relativ stark beteiligt sind, wenn deren Anteil mit den Anteilzahlen derselben Fahrergruppe an den den Versicherungen gemeldeten Unfällen verglichen wird. Obschon ein erheblicher Teil der Täter eine Feststellung der Angetrunkenheit verhinderte, fanden Emmerich 1 8 , 4 % , Bergermann 2 4 , 5 % und Kaiser 29,2% angetrunkene Täter, die über 0,8%o Blutalkohol zeigten. Bergermann teilt mit, daß 29,6% der Täter als Tatmotiv Angst vor Bestrafung wegen Trunkenheit am Steuer bekanntgaben. E. Müller ( 1 9 6 4 ) ist der Ansicht, das Bestreben, diese und andere Verkehrswiderhandlungen zu verheimlichen, sei der hauptsächliche Beweggrund der Unfallflucht. Die Tabellen 5 und 6 zeigen, daß die Urheber der Unfallflucht in Trunkenheit einen Anteil Vorbestrafter und zu Freiheitsstrafen Verurteilter aufweisen, der deutlich über dem Durchschnitt der Verkehrsdelinquenten liegt und sich dem Anteil der wegen Verbrechen und Vergehen ohne die Taten im Straßenverkehr Verurteilten annähert; die Anteile der Vorbestraften und der früheren Verurteilungen zu Freiheitsstrafen der übrigen wegen Unfallflucht Verurteilten entsprechen dem Durchschnitt der Verkehrsdelikte. Hirschmann (1960) macht darauf aufmerksam, daß die Tatsache, einen Unfall hervorgerufen zu haben, eine starke seelische Belastung darstellt. Indessen vermöchten die meisten Menschen sie auszuhalten und dabei auftauchenden Impulsen zu primitiven Reaktionen, wie einer Flucht, zu widerstehen. Nur ausnahmsweise sei dies nicht möglich und die Unfallflucht dann Ausdruck eines durch den Unfall erlittenen Schocks, so daß sogar Zurechnungsunfähigkeit vorliegen könnte. Dies sei nur der Fall, wenn der Täter schon vor dem Unfall unter einer hohen affektiven Spannung stand. Nass (1966) beschreibt verschiedene Typen des Unfallflüchters: einmal den, der sich um die wirtschaftliche Verantwortlichkeit für den angerichteten Schaden drücken will, dann den egozentrisch-berechnenden, den unter Alkoholeinfluß Enthemmten und Verantwortungslosen, den kriminell Anfälligen, dem aus krankhafter Schwäche

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Verkehrsdelikte Versagenden und dem unter der Wirkung eines Schocks Stehenden; zur Erfassung aller Typen schlägt er die Einführung des Kriteriums der seelischen Belastbarkeit vor. Weil Unfallflucht meistens nach eher geringfügigen Unfällen begangen wird, drängt sich eine solche normalpsychologische Erklärung der Motivierung dieser Taten auf, um so mehr als der Täter sehr oft sich einfach der Strafe wegen anderer Verkehrswiderhandlungen entziehen will. C. Die Behandlung der Verkehrsdelinquenten 1. Durch strafrichterliehes

Urteil

Die Statistiken weisen aus, daß Verkehrswiderhandlungen vor allem mit kurzfristigen Freiheitsstrafen und Geldstrafen geahndet werden. In Deutschland, dessen Recht dem Strafrichter die Befugnis erteilt, die Fahrerlaubnis zu entziehen, StGB §42m, und dies in gewissen Fällen als Regelfall vorschreibt, kommt diese sichernde Maßnahme häufig vor. In der Schweiz wird nur gelegentlich als Bewährungsauflage die Weisung erteilt, während der ganzen Probezeit oder eines Teiles davon, kein Motorfahrzeug zu führen. Tabelle 11 Verurteilung zu Entziehung der Fahrerlaubnis 1966 Total

bis 6 Monate

über 6 Monate bis 2 Jahre

länger oder für immer

Alle Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen Erwachsene 66 409

29 986

31 761

4 662

Heranwachsende 7 279

2 676

4 272

331

Jugendliche 1395

411

896

88

Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen im Straßenverkehr Erwachsene 61 187

28 665

29 099

3 423

Heranwachsende 6 089

2 442

3 492

155

Jugendliche 947

321

594

32

509

Von den 76 598 im Jahr 1966 wegen Vergehen nach StVG Verurteilten wurden 70 063 mit Geldstrafe belegt. Gibt die Rechtsprechung eines ganzen Landes betrachtet ein einheitliches und eindeutiges Bild, so zeigen Einzeluntersuchungen, daß erhebliche regionale Unterschiede bestehen. H. MüMhaus (1965) stellte fest, daß in zwei bayrischen Oberlandesgerichtsbezirken alkoholisierte Verkehrsdelinquenten in 62% bzw. 65% der Fälle die Strafe zur Bewährung ausgesetzt erhielten, in einem dritten jedoch nur 26%, wie dies ungefähr dem deutschen Durchschnitt derartiger Strafen von 27% entspricht. 1966 sprachen in der Schweiz zwei kleinere Kantone wegen Fahrens in angetrunkenem Zustande nur Gefängnisstrafen aus, die Genfer Gerichte aber in 81,2% dieser Fälle Bußen. Den bedingten Strafvollzug gewährten die Thurgauer Gerichte in 15%, die Genfer Gerichte in 3,5% und die Tessiner Gerichte nur in 1,3% aller Verurteilungen zu Gefängnis, während die Gerichte in St. Gallen in 83,2% aller derartigen Verurteilungen den Vollzug der Strafe bedingt aufschoben. Ebenso erhebliche kantonale Unterschiede zeigt die Verteilung der Verurteilung wegen Verletzungen von Verkehrsregeln, indem der Anteil der Verurteilungen zu einer Vergehensstrafe nach SVG Art. 90 Zif. 2 Abs. 1 an allen erfaßten Verurteilungen aufgrund von Art. 90 zwischen 1,2% und 46,3% schwankt, bei einem schweizerischen Durchschnitt von 21,9%. Solche Verschiedenheiten sind wiederum keine Eigentümlichkeit der Verkehrsdelikte, sondern sind als eine allgemeine Erscheinung der Strafjustiz seit langem bekannt. Ebensowenig dürfen Unterschiede in der Beurteilung derselben Straftat gegenüber verschiedenen Tätern durch dasselbe Gericht überraschen. Die Strafzumessung nach der Schuld führt notwendigerweise zu erheblichen Unterschieden in der Strafe für dasselbe Delikt. Dies wird besonders deutlich für die fahrlässigen Verletzungsdelikte im Straßenverkehr (Laum), weil die Schuld vom geringsten Versehen bis zur schwersten, an Eventualvorsatz grenzenden Fahrlässigkeit reichen kann. Die weiten Strafrahmen führen die Gerichte auch bei den Verkehrsdelikten dazu, für gleichartige Fälle Straftarife anzuwenden. Laum (1960) stellte im Landgerichtsbezirk Duisburg für Verurteilungen aus den Jahren 1954 bis 1957 fest, daß bloß fahrlässige Tötung durch Kraftfahrer bei Alleinschuld mit 2 bis 4 Monaten Gefängnis, wenn besonders schwere Folgen eingetreten waren, und mit 3 bis 6 Monaten Gefängnis, wenn Vorstrafen bestanden und keine besonders schweren Folgen bewirkt worden waren; alle Gefängnisstrafen wurden bedingt vollziehbar erklärt. Traf den Verurteilten nur eine Mitschuld, lagen die zur Bewährung ausgesetzten Gefängnisstrafen zwischen 1 und 3 Monaten. Wegen bloßer fahrlässiger

Verkehrsdelikte

510

Tabelle 12 In der Schweiz 1966 wegen Widerhandlungen gegen das Straßenverkehrsgesetz ausgesprochene Strafen (ohne Übertretungsstrafen unter 100 Fr) Verurteilte

zu Gefängnis

24 663

Buße

Haft

total

bedingt

bis und mit 1 Mon.

über 1 Mon.

total

bedingt

5 951

3 649

5 366

585

1543

843

16 792

Tabelle 13 In der Schweiz 1966 wegen Widerhandlungen gegen die Verkehrsregeln ausgesprochene Strafen (ohne Übertretungsstrafen unter 100 Fr) Verurteilte

zu Haft

Gefängnis

11111

total

bedingt

1061

703

bis 14 Tage 560

15 T. bis über 1 bis über 1 Monat 3 Monate 3 Monate 324

160

17

Buße

total

bedingt

389

206

9 657

In der Schweiz 1966wegen Fahren in Angetrunkenheit ausgesprochene Strafen (ohne Übertretungsstrafen unter 100) 6 778

4 497

2 471

2 661

1322

Körperverletzung wurden nur in entsprechender Weise verschieden hoch bemessene Geldstrafen verhängt. Die von E. Müller (1962) untersuchten 250 saarländischen Verurteilungen angetrunkener Fahrer zeigen die Abhängigkeit der Strafhöhe vom Grade der Angetrunkenheit. Aus den Untersuchungen von Blum (1961) und Baum (1963) ergibt sich, daß die Gerichte die Fahrerlaubnis unter der Herrschaft von StGB §42m, alte Fassung, meistens dann entzogen, wenn die Voraussetzungen verwirklicht gewesen waren, unter denen nach §42m, jetzt geltende Fassung, jemand in der Regel als zum Führen eines Kraftfahrzeuges ungeeignet anzusehen ist. Auffallend ist, daß die Rechtsprechung angetrunkene Kraftfahrzeuglenker, selbst rückfällige, beinahe nie in eine Trinkerheilanstalt einweist. Ob und wie die Strafen gegenüber Verkehrsdelinquenten wirken (Middendorff 1967), läßt sich, weil genaue Untersuchungen fehlen, nur vermuten. Es darf angenommen werden, daß ein erheblicher Teil der Verkehrsteilnehmer nur hie und da wegen einer Verkehrswiderhandlung erwischt und bestraft wird, während andere mehrfach ertappt werden oder Unfälle bewirken und deshalb mehrfach bestraft werden, so daß sich

457

57

74

2184

eine wohl nur kleine Gruppe als ständig rückfällig erweist, ähnlich wie unter den wegen gewöhnlichen Delikten Verurteilten sich ebenfalls drei solche Typen Verurteilter erkennen lassen. Daß die Strafdrohungen und die Bestrafung als solche keinen unmittelbaren Einfluß auf die Höhe der Delinquenz ausüben, zeigte, beinahe experimentell, die Verschärfung der angetrunkene Fahrer treffenden Strafen durch das zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11. 1964, welches am 1.1.1965 in Kraft trat. Im ersten Halbjahr gingen 1965 die alkoholbeeinflußten Straftaten erheblich zurück, doch war nach dieser Zeit der Stand des Vorjahres beinahe vollständig erreicht (Ditt/Ducho). Optimistischer hinsichtlich länger andauernder Wirkungen strengerer gesetzlicher Regelungen gegenüber alkoholisierten Verkehrsteilnehmern äußert sich Foregger (1963) für Österreich. Während von allen 1959/60 aus der Strafanstalt Landsberg Entlassenen bis 1966 59% nicht erneut straffällig wurden, waren es von den Verkehrstätern 74,2%. Die Vermutung ist nicht unbegründet, daß die strenge Bestrafung des Fahrens in Angetrunkenheit, oft mit unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafen, in einzelnen Bevölkerungsschichten bewirkte, daß Alkohol-

Verkehrsdelikte genuß überhaupt, oder wenigstens erheblicher, unterlassen wurde, wenn später noch ein Motorfahrzeug geführt wurde (Middendorff 1961). Middendorff (1967) nimmt an, daß vor allem der Entzug der Fahrerlaubnis wirksam sei; demgegenüber weist Willett (1964) darauf hin, daß der Verurteilte, vor allem der jüngere, dann dazu gebracht werde, eine andere Widerhandlung, das Führen ohne Fahrerlaubnis, zu begehen. Besteht über die Wirksamkeit der strafrechtlichen Sanktionen gegenüber den erwischten und verurteilten Verkehrsdelinquenten Ungewißheit, so bedeutet dies keineswegs, daß die strafrechtliche Ahndung fehl am Platze sei, wie dies vor allem von Gunzert (1960, 1966) geltend gemacht wurde. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß der Fahrer, welcher sich bemüht, die Verkehrsregeln einzuhalten, in diesem Bestreben bestärkt wird, wenn er erfährt, daß die Verkehrsdelinquenten bestraft werden. Eine Grenze dieser Wirkung würde erst dann erreicht, wenn das bestrafte Verfahren derart häufig wäre, daß die Bestrafung nicht mehr als Bewahrung der Rechtsordnung, sondern als Zufall erscheinen würde. Außerdem ist mit Bockelmann (1967, S. 223) hervorzuheben, daß die gefährlichen und häufig zu schweren Unfällen führenden Verkehrswiderhandlungen, wie Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit oder Überholen an unstatthafter Stelle, echtes kriminelles Unrecht sind. Endlich ist gerade auf dem Gebiet des Straßenverkehrs die sozialpädagogische Aufgabe des Strafrechts, die für ein geordnetes und friedliches Zusammenleben der Menschen erforderlichen Verhaltensregeln hervorzuheben, immer wieder ins Bewußtsein zu rufen und durchzusetzen, von besonderer Wichtigkeit, weil die Ausbildung verbindlicher, allgemein bekannter und anerkannter Regeln noch völlig ungenügend ist.

2. Im Strafvollzug Weil als Verkehrsdelinquenten häufig Personen Strafen zu verbüßen haben, welche einzig oder vor allem auf dem Gebiet des Straßenverkehrs versagten, suchte der Strafvollzug ihnen gegenüber neue Wege zu gehen. So wurden, wie etwa in Wilhelmshaven, besondere, kleinere Anstalten eingerichtet, welche ausschließlich zur Aufnahme von Verkehrsdelinquenten dienen, welche wegen fahrlässiger Taten verurteilt worden waren. In anderen Anstalten, ζ. B . im Saxerriet in der Schweiz, erhalten die Verkehrsdelinquenten Unterricht in den Verkehrs Vorschriften und werden über die Gefährlichkeit bestimmter Fahrweisen und deren Folgen belehrt. Weitere Möglichkeiten eröffnet die Befugnis, entsprechende Bewährungsauflagen anzuordnen, wie das Verbot, während der Probezeit oder eines Teils von ihr ein Motorfahrzeug zu führen, sich

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des Genusses alkoholischer Getränke zu enthalten, Verkehrsunterricht zu nehmen oder sich einer verkehrspsychologischen oder ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, in Krankenhäusern oder auf Rettungsstationen Hilfsdienste zu leisten. Zudem sei auf die Möglichkeit hingewiesen, auf dem Verwaltungswege auf Verkehrsdelinquenten einzuwirken, wie StVO § 48 es vorsieht. Nach dieser Bestimmung kann, wer Verkehrsvorschriften nicht beachtet, durch die Straßenverkehrsbehörde zu Unterricht über das Verhalten am Straßenverkehr vorgeladen werden. Außerdem besteht die Möglichkeit des administrativen Entzuges der Fahrerlaubnis und des Anordnens einer nochmaligen Führerprüfung, an der allerdings Parry (1968) mit Recht kritisiert, daß sie sich mit einer Überprüfung der technischen Handhabung des Fahrzeuges begnügt. 3. Allgemeine

Bemerkungen

Weil die Verkehrsdelinquenz durch eine Reihe verschiedenster Faktoren bedingt ist, wird deren Bekämpfung sich der verschiedensten Mittel zu bedienen haben. Alle Maßnahmen, welche geeignet sind, die Verkehrssicherheit zu heben, vermindern die Verkehrssituationen, welche den unaufmerksamen Verkehrsteilnehmer zu unrichtigem Verhalten verleiten können. Ausbau der Straßen, Verkehrstrennung, Beseitigen von Unfallstellen, Herstellen sicherer Fahrzeuge und Anbringen von Sicherheitsmaßnahmen für die Insassen, sind ein wichtiger Teil der Bekämpfung der Verkehrdelikte. Außerdem ist eine früh beginnende, auf die Entwicklung einer neuen Verkehrsgesinnung zielende Verkehrserziehung zu fordern (Munsch). Möglicherweise werden von der modernen Technik entwickelte und zu entwickelnde Mittel zu Hilfe kommen, wie eine durch Computer gesteuerte, die jeweils veränderte Verkehrslage berücksichtigende Verkehrsregelung in den Städten oder die elektronisch geleitete automatische Steuerung der Fahrzeuge, wenigstens auf den großen Durchgangsstraßen. Der Verlockung, den so häufigen Verkehrswiderhandlungen einfach mit schärferen Strafen zu Leibe zu rücken (Desamaraz/Lambert, Frey), ist zu widerstehen. Viel wichtiger ist, daß die wirklich gefährlichen Verkehrswiderhandlungen als solche viel häufiger ermittelt und bestraft werden (Bockelmann S. 252, Wimmer). Dies setzt eine viel strengere Überwachung des rollenden Verkehrs durch uniformierte und nicht uniformierte Polizisten (-»Polizei) voraus. Von den von Willett (1964) untersuchten 653 Urhebern schwerer Verkehrswiderhandlungen waren 6 0 % nach einem Unfall der Polizei bekannt geworden, 2 0 % hatten Private angezeigt und 2 0 % die Polizei selber beobachtet. Die Kriminaljustiz kann entlastet werden, wenn leichte und leichteste Wider-

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Verkehrsdelikte

handlungen i m Straßenverkehr in einem abgekürzten Verfahren verfolgt werden. Personen, welche mehrmals a n Unfällen beteiligt gewesen oder w e g e n Verkehrswiderhandlungen verurteilt worden waren, sollten einer genauen ärztlichen u n d psychologischen Untersuchung auf ihre Verkehrstauglichkeit unterworf e n werden, ebenso Personen über 60 Jahre, die in einen Unfall verwickelt werden. Der Kriminologie fällt die Aufgabe zu, sich n o c h b e d e u t e n d intensiver m i t der Verkehrsdelinquenz zu befassen u n d T y p e n der verschiedenen Arten dieser Delinquenz u n d vor allem der gefährlichen Täter zu bilden, w o z u sich bereits Ansätze zeigen (Böcher, Hase, Streich). In Zusammenarbeit m i t Medizin u n d Psychologie m u ß sie so dazu beitragen, die Voraussetzungen zu schaffen, möglichst sichere Grundlagen für die Beurteilung der Verkehrstüchtigkeit u n d für eine wirksamere B e k ä m p f u n g der Verkehrskriminalit ä t zu finden. (Stand: N o v e m b e r 1968).

Allgemeine

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Verwahrlosung

516 VERWAHRLOSUNG I. EINLEITUNG

Verwahrlosung ist ein sozialer, forensischer, psychologischer, charakterologischer und pädagogischer Begriff. Jugend- und Sozialarbeiter umschreiben die Verwahrlosung mit pädagogischen und soziologischen Begriffen. Von psychiatrischer Seite wird er oft unter psychopathologischen, von Seiten der Jugend- und Vormundschaftsrichter unter juristischen Gesichtspunkten mit dem Blick auf die zu treffende Maßnahmewahl interpretiert. Der Psychologe macht einfühlbare psychische Disharmonien verantwortlich. Der Theologe sieht unter seinem ethisch-religiösen Aspekt in der Verwahrlosung möglicherweise eine Abkehr vom Willen Gottes. Der Begriff wird also recht verschieden verwendet und scheint weitgehend von der Vorbildung und Funktion des Betrachters abzuhängen. Aus diesem Grunde liegt die Gefahr der Einengung des Verwahrlosungsbegriffes nahe. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Erfahrungsgemäß wird der Begriff heute allzuoft als Sammelname verwendet und dadurch in seiner Bedeutung abgeschwächt. Deshalb scheint eine Untersuchung hinsichtlich seiner Entstehung und seines Inhalts erforderlich, bevor auf die Ursachen und die sich daraus ergebenden Folgerungen eingegangen werden soll. Da die Verwahrlosung vornehmlich im Kindes- und Jugendalter in Erscheinung tritt, werden Fragen der Symptome, Prognose, Behandlung und Verhütung in erster Linie mit dem Blick auf die Altersgruppe besprochen. Π. ENTSTEHUNG DES BEGRIFFS Forscht man nach, wie der Begriff entstanden ist, dann stößt man im Althochdeutschen auf das Wort „waralos". Dies bedeutet so viel wie achtlos. Im Mittelhochdeutschen findet sich dann das Substantiv„warlose", was soviel wie Achtlosigkeit heißt (H. Paul, Wörterbuch der deutschen Sprache). Das dazugehörige Verb „verwarlosen" wird transistiv gebraucht. Ich verwarlose also etwas, d. h. ich beachte etwas nicht, behandele etwas achtlos. Das Verwarlosen ist im Mittelhochdeutschen demnach nicht etwas Unpersönliches, bedeutet nicht schon sich selbst verwarlosen, sondern kennzeichnet das Tun bzw. Unterlassen einer Person, die etwas verwarlost, die diesem etwas — sagen wir dem Kind — nicht die genügende Aufmerksamkeit schenkt, die erzieherische Aufgabe an ihm entweder nicht in genügendem Maß erfüllt oder die Notwendigkeit einer solchen nicht bemerkt. Im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch findet sich im Gegensatz zu dem „verwarlosen" das Verb „wahrnehmen" mit der Bedeutung von: etwas beachten, auf etwas Rücksicht nehmen,

etwas seine Aufmerksamkeit schenken. In beiden Worten ist der Stamm „wahr" enthalten, der sich auch in „wahrhaft" und „wahrlich" findet, Eigenschaften, die zu den vordergründigen Charakterzügen eines Erziehers gehören. III. GESCHICHTE Verwahrlosung gibt es, solange menschliche Gemeinschaften bestehen. Sie ist abhängig von der wirtschaftlichen Lage und der Höhe der Kultur eines Landes. Auch Wohlergehen und Überfluß an materiellen Gütern können zur Verwahrlosung führen. Roland weist auf die kulturhistorischen Berichte ältester Zeiten hin, in denen „die Verderbnis der Jugend aus Luxus und Völlerei erwuchs. Mischung von religiösem Kult und Geschlechtstrieb, die für die Religionen früherer Zeiten charakteristisch ist, schuf eine ganz eigene Form sittlicher Verwilderung, die sich mit dem Nimbus der Heiligkeit umgab. Es ist bekannt, daß die Ägypter ihren Buhlknaben göttliche Ehren zollten; ebensoviel besprochen ist die Tempelprostitution der Babylonier". In der Antike wurden die Familien durch das Aussetzen kränklichen, nicht erwünschten Nachwuchses, insbesondere der Mädchen, aufs schwerste geschädigt. Diese Kinder waren der Willkür ihrer Eltern ausgeliefert. Die Neugeborenen galten nur dann als angenommen, wenn die Väter sie zu sich emporhoben andernfalls wurden sie ausgesetzt. Die als Stätten der Körperkultur gedachten Gymnasien waren Tummelplätze freier Erotik. Auf Gastmählern wurden Orgien mit Flötenspielerinnen und Tänzerinnen gefeiert, bei denen Kinder bedienten, die Zeugen sexueller Ausschweifungen und oft selbst Opfer der Gastgeber wurden. Dagegen stand bei den Germanen der Grundsatz des Bewahrens (bewaron) der Jugend im Vordergrund. Das Kind wurde mit Sorgfalt erzogen und die Keuschheit des Jünglings lange erhalten (Caesar: De bello Gallico, Tacitus: De Germania). Im Mittelalter wurden diese Erziehungsmethoden nicht weitergeführt. Die Mutter überließ das Stillgeschäft der Amme, die Erziehung Knechten und Mägden. Sie behandelte das Kind mehr und mehr unachtsam („warlos"). Brutale Züchtigungsmethoden lösten Verzärtelungen ab. Die Kindesaussetzungen häuften sich. Nonnenklöster nahmen sich der Findlinge an; für solche Kinder wurden Waisenhäuser oder Bewahranstalten geschaffen. Diese Institutionen waren meist Irrenanstalten und Zuchthäusern angeschlossen; es herrschte in ihnen für die verlassenen Kinder eine gefährliche Atmosphäre. Die ersten Ansätze rettender Verwahrlosungsfürsorge zeigten sich 1528. In Italien nahm sich Hieronymus Ämiliani sittlich erheblich gefährdeter Jugendlicher an. Er brachte elternlose und

Verwahrlosung herumschweifende Kinder in von ihm errichteten Häusern unter, erzog sie, ließ sie ein Handwerk erlernen und machte diese Arbeit zu einer der Aufgaben des von ihm gegründeten Ordens der Somasker. Schlimme Wirkungen hatte der Dreißigjährige Krieg. Nicht nur wirtschaftliche und soziale Notstände, auch eine verbreitete sittliche Verwilderung waren seine unmittelbaren Folgen. Verantwortungslose Elemente benutzten die Gesetzlosigkeit dieser Zeit, um ihr Unwesen mit verlassenen Jugendlichen zu treiben, die dann der sittlichen Verwahrlosung anheimfielen. Es bedurfte mehrerer Jahrzehnte, die schweren Folgen dieser Zeit zu beseitigen. 1703 richtete Papst Klemens ein Jugendgefängnis als Erziehungshaus ein. Im Jahre 1705 nahm Jean Baptiste de la Salle in Rouen fehlentwickelte Jugendliche in einer Heilerziehungsanstalt auf. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts versuchte Pestalozzi auf dem Neuhof und in Stanz die „allerelendste" Jugend in „Aufsichtshäusern" durch Erziehung und Unterricht einem Beruf zuzuführen. Er gelangte jedoch nicht völlig dazu, die „Herrlichkeit und Fülle des Evangeliums als die alleinige Kraft des Heils sich entfalten zu lassen" (Wichern VI, 81). Die Aufgabe, die er gestellt hatte, setzte dann in seinem Namen die sogenannte Rettungshausbewegung fort. Johannes Falk gründete 1813 in Weimar die „Gesellschaft der Freunde in der Not". Die gefährdeten Kinder wurden hier in offener Fürsorge untergebracht und, teils von Falk selbst, in Pflege genommen. Als Institution dieser Gesellschaft entstand der Lutherhof und in Berlin das spätere „Erziehungsheim am Urban". Die Grafen Adalbert und Werner von der Recke errichteten 1819 in Overdyk bei Bochum ein Rettungshaus für verlassene und verwahrloste Kinder, das 1823 nach Düsselthal verlegt wurde und rasch aufblühte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts leistete Don Johannes Bosco Bedeutendes in der Rettung verwahrloster Jugendlicher. Auf ihn gehen zahlreiche Institutionen, die der bedürftigen und gefährdeten Jugend der ärmeren Volksschichten dienen, zurück. Der pädagogische Gedanke Don Boscos kreiste um 2 methodische Grundprobleme, die auch heute noch ihre volle Gültigkeit haben: 1. Wie verhüte ich ohne Zwang Fehltritte und Verwirrungen des Jugendlichen ? 2. Wie erreiche ich seine freiwillige und freudige Mitwirkung in der Werterfassung und Persönlichkeitsbildung ? Drei Hauptmittel dienen der Bewältigung dieser Probleme: 1. Die erzieherische Vernunft: im Verstehen und Berücksichtigen jugendlicher Anlage und Eigenart sucht sie (selbst bei notwendigen Bestrafungen) die Einsicht und Zustimmung des Zöglings. Sie schafft um ihn eine anziehend-frohe und

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jugendtümliche Umwelt. Aus der Lebens-, Spielund Arbeitsgemeinschaft Erzieher-Zögling, ergibt sich von selbst die Möglichkeit einer zwanglosen Überwachung, die mit „Beaufsichtigung" wenig zu tun hat. 2. Spürbare erzieherische Liebe schafft die Atmosphäre familiärer Geborgenheit, gewinnt die Neigung und das Vertrauen und damit die bereitwillige Mitwirkung und Eigenaktivität des Jugendlichen in seiner beruflichen und charakterlichen Bildung. 3. Das Erlebnis froher christlicher Religiosität, getragen von christlicher Haltung und Gesinnung, stärkt und festigt Willen und Gewissen und formt so die wert- und verantwortungsbewußte christliche Persönlichkeit. Die Methode Don Boscos läßt eine klare pädagogische Linie erkennen. Sie ist auf den Jugendlichen und seine Erziehung eingestellt und von psychologischen Gedanken getragen. 1833 rief Johann Heinrich Wiehern in Hamburg zur Stiftung eines Rettungshauses auf. Sein „Rauhes Haus" wurde damals zum Mittelpunkt der rettenden Jugendfürsorge im evangelischen Deutschland. Die ersten von ihm aufgenommenen verwahrlosten und verwilderten Jungen stammten aus den Elendsvierteln Hamburgs. Um sein Erziehungsziel zu erreichen, mußte sich Wichern Helfer heranbilden, die geeignet und bereit waren, in seinem Sinne zu arbeiten und den verwahrlosten Jungen eine gute Berufsausbildung zu vermitteln. Sein aus diesem Grund geschaffenes Bruderhaus gewann als erstes deutsches Diakonenhaus große Bedeutung. Im Jahre 1840 verfügte Preußen über rund 90 Erziehungsanstalten, die verlassene, gefährdete und verwahrloste Jugendliche aufnahmen. Diese Zahl stieg infolge der in Gang gekommenen Industrialisierung und der daraus erwachsenen Gefährdungsmomente bis 1901 um das 6fache an. Zahlreiche verwaiste, verwahrloste und gefährdete Jugendliche wurden in dieser Zeit auch in Familienpflege übernommen. Diese stand aber kaum unter behördlicher Aufsicht. „Was mit diesen Kindern geschah", so schreibt Roland, „wie sie genährt, wie ihre schwachen Kräfte bis zum Zusammenbruch ausgenutzt, wie sie den verbrecherischen Instinkten der rohen Willkür erbarmungslos preisgegeben wurden, das bildet ein wahrhaft trauriges Kapitel der Zivilisation". Durch den Einsatz sozialer Institutionen konnte in der Folgezeit ein grundlegender Fortschritt und eine erfolgreiche Tätigkeit auf dem Gebiet der Verwahrlosungsfürsorge verzeichnet werden. Die beiden Weltkriege brachten allerdings noch einmal einen Rückschritt und ein beträchtliches Anschwellen der Verwahrlosung mit sich. Bereits 1922 gab das Jugendwohlfahrtsgesetz der Fürsorgeerziehung einheitliche Rechts- und Verwaltungsgrundlagen. Unermüdliche Aufbauarbeit wurde schließlich in den letzten Jahrzehn-

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ten auf dem Gebiete der Jugendfürsorge und Jugendgesetzgebung geleistet. Alle diese Bemühungen stehen und fallen mit der Struktur unserer Gesellschaft und deren Lebensformen. Hier ist zu bedenken, daß sich in der deutschen Familie in den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Wandel vollzogen hat. Die Großfamilie, in der drei bis vier Generationen unter einem Dach vereint waren, ist verschwunden. Der Handwerker hat seine Werkstatt, der Kaufmann sein Büro oder seinen Lagerraum nicht mehr wie früher in der eigenen Wohnung. Die großstädtische Kleinfamilie umfaßt heute meist nur noch zwei Generationen — nämlich Eltern und Kinder. Das Familienleben wird in erster Linie von der Seite der Wirtschaftlichkeit her bestimmt. Der Vater arbeitet außerhalb. Sein unmittelbarer erzieherischer Einfluß ist aus dem Hause verschwunden. Das Kind vermag heute aus eigener Anschauung meist nicht mehr die produktiv wirtschaftliche Tätigkeit des Vaters mitzuerleben und in diese hineinzuwachsen, um sie einmal fortsetzen zu können, wie dies früher häufig der Fall gewesen ist. Im Laufe dieser Differenzierung des Wirtschaftslebens sind erzieherische Aufgaben von gesellschaftlichen Institutionen übernommen worden. Erziehungs-, Schul- und Ausbildungseinrichtungen sind an die Stelle der Familie getreten. Ihnen muß sich der junge Mensch heute weitgehend anpassen, wenn er ihren Ansprüchen genügen und den Existenzkampf erfolgreich bestehen will. Bedauerlicherweise ist auch ihm bereits im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung ein materialistisches Denken eigen geworden. So wird von Seiten der Sozialpädagogik — wenn auch vielleicht etwas zu kraß —• das Ziel der jungen Menschen heute darin gesehen, mit möglichst geringem Leistungseinsatz zu einem bestmöglichen Gelderwerb zu gelangen. Geistige Probleme brauchen nicht mehr bewältigt zu werden, zumal auch die Familie ihre Bildungsfunktionen verliert. Sie wird Konsum- und Erwerbsgesellschaft. Nun ändern sich diese an Stelle der Familie wirksamen Erziehungsmächte und -einrichtungen ständig im Laufe der geschichtlichen Entwicklung. Diese Wandlungen, diese Umlagerungen verschiedener Erziehungsfunktionen auf andere Träger führen bei der Jugend zu ambivalenten Einstellungen und bringen zahlreiche Gefährdungsbedingungen mit sich, von denen oft ganze Schichten der Heranwachsenden betroffen werden. Besonders deutlich wird dies, wenn wir die Entwicklung der handwerklichen Berufsausbildung betrachten. Während früher der Lehrling in der Familie des Meisters quasi als Kind aufgenommen wurde, die Pflichten eines jungen Familienmitgliedes zu übernehmen und sich der Autorität des Lehrherrn zu unterwerfen hatte, sind heute die Wahlmöglichkeiten eines jungen Menschen, in den verschiedenen sozialen Bezügen zu wechseln, außerordentlich mannig-

faltig. Allerdings vermag er den an ihn gestellten Anforderungen nicht immer in vollem Umfang zu genügen. Von den neuen Eindrücken — nicht zuletzt auch von denen, die ihm die Massenmedien vermitteln — wird er überschwemmt. Die Struktur der Zweigenerationsfamilie bietet ihm heute keine Möglichkeit, seine individuellen Probleme zu bewältigen. Jugendgruppen, die von freien Gemeinschaftskräften gebildet werden, versuchen diese Lücke zu schließen, vermögen die für den Jugendlichen verloren gegangenen Erziehungskräfte aber nicht in vollem Umfang zu kompensieren. Erfahrungsgemäß werden solche Einrichtungen auch gerade von den Jugendlichen nicht aufgesucht, die sie am nötigsten hätten. So werden die auf sie wirkenden Gefährdungs- und Verwahrlosungsfaktoren vermehrt. In besonderem Maße gilt dies heute für die weibliche Jugend. Die Mädchen sind unabhängiger geworden. Sie geben ihren Lohn in der Konsumgenossenschaft Familie ab und werden als gleichwertige Mitglieder angesehen, denen nicht mehr so viel wie früher verboten werden kann. Die Hausarbeit, die ein Bindungsfaktor zwischen Tochter und Mutter war, wird heute mehr und mehr entwertet. Das Mädchen sucht Ersatz und strebt der frühen Paarbildung zu. Es braucht zur Selbstbestätigung und um aus seiner Einsamkeit herauszukommen, einen Freund, dem es sich aufgrund des in der jungen Generation heute veränderten Stellenwertes der Sexualität leichter hingibt. IV. BEGRIFFSDEFINITIONEN An Versuchen, den Begriff der Verwahrlosung zu definieren, hat es nicht gefehlt. Die Verwahrlosung wird unter verschiedenen Gesichtspunkten gesehen und der Begriff aus diesem Grund auch verschieden interpretiert. Die Begriffsbestimmungen weichen selbst dann erheblich voneinander ab, wenn sie von Vertretern zweier verwandter Disziplinen, wie etwa der psychoanalytisch orientierten Psychologie und der Psychiatrie, gegeben werden. Da beide Definitionen nebeneinander in dem vom Allgemeinen FürsorgeErziehungstag 1951 herausgegebenen Fachwörterverzeichnis für Jugendwohlfahrtspflege und Jugendrecht aufgeführt sind, erscheint es gerechtfertigt, beide Autoren an dieser Stelle zu zitieren. Hapke sieht in der Verwahrlosung „eine seelische Verfassung, deren äußere Kennzeichen mangelhafte soziale Einpassung ist, die aber innerlich charakterisiert ist durch mangelhafte Ansprechbarkeit durch moralische Normen. Die Symptome der Verwahrlosung können denen mancher neurotischer Störungen gleichen; unterscheidend ist die Entstehungsgeschichte. Beim Verwahrlosten sind Übersicht und Gewissen unzulänglich entwickelt, sei es dadurch, daß die Gefühlsbeziehungen des

Verwahrlosung Kindes zu den Erziehern von Anbeginn gestört waren, so daß keine wirksame Identifizierung stattfinden konnte, oder daß es sich mit Personen identifiziert hat, die selbst verwahrlost waren. Der Verwahrloste handelt also gemeinschaftswidrig, weil in ihm keine sittliche Autorität hat entstehen können, die ihn als Gewissen anspräche, im Gegensatz zum Neurotiker, der mit seinen Symptomen unbewußt gegen die Forderungen eines zu strengen und starren Uberichs rebelliert. Selbstverständlich stehen in der Wirklichkeit an der Stelle reiner Fälle die Mischformen". Für Villinger bedeutet die Verwahrlosung „eine abnorme charakterliche Ungebundenheit und Bindungsunfähigkeit, die auf eine geringe (oder geringer gewordene) Tiefe und Nachhaltigkeit der Gemütsbewegungen und der Willensstrebungen zurückgehen und zu einer Lockerung (oder Unterentwicklung) der inneren Beziehung zu sittlichen Werten — Liebe, Rücksicht, Verzicht, Opfer, Recht, Wahrheit, Pflicht, Verantwortung, Ehrfurcht — führt. Daraus ergibt sich eine geringere Widerstandskraft gegen Triebregungen, plötzlich aufsteigende Wünsche und Begierden, gegen Versuchungen von innen und von außen und ein starker Zwang nach oberflächlichem Genuß. Häufige weitere Folgen sind: Frechheit, Widerspenstigkeit, Aufsässigkeit, Ungehorsam, Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit, Unordentlichkeit, Arbeitsscheu, Hang zu Bequemlichkeit und zum Bummelleben, Herumtreiben, häufiger Stellenwechsel, ferner die Neigung zu Unehrlichkeit, zu sexuellen Entgleisungen — bei Mädchen zur Prostitution — in allen Formen und Gradabstufungen und schließlich ein Abgleiten in die Dauerkriminalität. Die Verursachung liegt einerseits in ungünstigen Umweltbedingungen, Vernachlässigung, Lieblosigkeit, Schutzlosigkeit, mangelhafter Pflege und Betreuung, sowie Prägung durch nächste Umgebung und deren Vorbild, ferner in wirtschaftlicher Not, die die wesentlichen Faktoren für das Zustandekommen der Verwahrlosung bilden. Nachkriegszeiten (1918 wie 1945) haben gezeigt, daß eine langdauernde Überschreitung der sittlichen Durchschnittsbelastbarkeitsgrenze die Verwahrlosung bei einer Bevölkerung auch auf solche Kinder und Jugendliche ausdehnt, die unter geordneten sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen nicht verwahrlosen würden. Andererseits spielen in den Verwahrlosenden selbst liegende, persönlich disponierende Momente eine erhebliche Rolle, so daß aus derselben Familie und unter denselben äußeren Bedingungen die disponierten Kinder und Jugendlichen u. U. verwahrlosen, während die nicht disponierten frei von Verwahrlosungserscheinungen bleiben". Többen, der Verfasser des gleichlautenden Artikels im letzten Handwörterbuch der Kriminologie, hat eine körperliche und sittliche Verwahrlosung unterschieden. Unter körperlicher Verwahrlosung

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versteht er „eine Störung der äußeren Erscheinungsformen des Menschen, die uns als lange dauernde Vernachlässigung des Körpers und der Bekleidung, in der Hauptsache in Form der Unsauberkeit mit ihren Folgen, entgegentritt". In der sittlichen Verwahrlosung sieht er „eine Erschütterung des seelischen Gleichgewichtes in dem Sinne, daß das Triebleben aus den verschiedensten Ursachen heraus die Gesamtpersönlichkeit richtunggebend und einseitig beeinflußt und eine Entgleisung von dem geraden Weg der geordneten Lebensführung herbeigeführt hat". Hier hat Többen den Begriff der Verwahrlosung zu eng gefaßt. Die „Störung der äußeren Erscheinungsformen" sowie die „Vernachlässigung des Körpers und der Bekleidung" werden jeweils mit psychischen Verhaltensauffälligkeiten korrelieren, die das Persönlichkeitsgesamt betreffen und dann erst die Anwendung des Verwahrlosungsbegriffes rechtfertigen. Andererseits braucht die sittliche Verwahrlosung nicht unbedingt durch eine „Erschütterung des seelischen Gleichgewichts" verursacht sein, wodurch „das Triebleben die Gesamtpersönlichkeit richtunggebend beeinflußt und eine Entgleisung der geordneten Lebensführung herbeigeführt wird". Viele unserer Probanden sind von vornherein psychisch — bzw. emotional — gar nicht in dem normalen Maß erschütterbar. Gerade dadurch fallen sie der Verwahrlosung anheim. Der Begriff der „geordneten Lebensführung" ist relativ. Zahlreiche junge Menschen wachsen in einem Milieu auf, in dem es eine geordnete Lebensführung überhaupt nicht gibt, aus der heraus sie also zum Entgleisen gebracht werden könnten. Roland formuliert folgendermaßen: „Die Verwahrlosung ist ein Zustand, der zu Störungen in der Entwicklung des Jugendlichen und zum Widerstreite gegen Ordnung, Sittlichkeit und Gesetz führt; seine Ursachen sind in den im Jugendlichen vorhandenen Anlagen zu suchen. Die Verwahrlosung wird hervorgerufen oder gefördert durch die durch Unfähigkeit, Indolenz oder Minderwertigkeit der Umwelt erfolgte Begünstigung der im Kinde wohnenden asozialen, amoralischen oder krankhaften Neigungen". Hierzu ist kritisch zu sagen, daß die Verwahrlosung nicht mit zwingender Konsequenz zum „Widerstreit gegen Ordnung, Sittlichkeit und Gesetz" zu führen braucht. Die Verwahrlosung ist oft der Schrittmacher der Kriminalität. Sie braucht es aber nicht zu sein. Es gibt nichtverwahrloste Kriminelle (Entwicklungskrimmalität), ebenso wie es nicht-kriminelle Verwahrloste gibt. Die in dem Jugendlichen „vorhandenen Anlagen" müssen nicht unbedingt die primären Ursachen sein, die zur Verwahrlosung führen. Auch bei charakterologisch unauffälligen Kindern, die keine „asozialen, amoralischen oder krankhaften Neigungen" aufweisen, kann es zu

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Verwahrlosung

Verwahrlosungssymptomen kommen. Weiterhin ist asoziales Verhalten nicht die Voraussetzung zur Verwahrlosung. Parallel zur Kriminalität gibt es verwahrloste Jugendliche, die keineswegs asozial sind. Asoziales Verhalten braucht nicht mit Verwahrlosung einhergehen oder sich an eine solche anzuschließen. Hier wird auf die Lebensanamnese zahlreicher Wirtschaftsmänner, auch Politiker und Staatsmänner hingewiesen, die gerade wegen ihres geringen sozialen — oder sagen wir hier, wenn auch überspitzt, wegen ihres asozialen — Verhaltens, ohne verwahrlost gewesen zu sein, zu einem erheblichen Machtpotential gelangt sind. Primär liegt die Ursache der Verwahrlosung in einem Versagen der Erziehung bzw. in dem nicht individuell adäquaten Eingehen auf den jungen Menschen. Dieses scheitert aber um so eher, je schwieriger und psychisch abnormer er ist. Deshalb bildet ein abwegiges Verhalten, das unter polyätiologischen Gesichtspunkten gesehen werden muß und nicht von vornherein in negativistisch ablehnender Weise ausschließlich mit „asozial, amoralisch und krankhaft" umschrieben zu werden braucht, wiederum nicht allein die Ursache der Verwahrlosung, wohl aber eine für ihre Entstehung begünstigende Bedingung. Moor setzt sich in seinem Band 2 der heilpädagogischen Psychologie in Anlehnung an Stern mit weiteren Definitionsversuchen auseinander, die hier als Diskussionsgrundlage dienen mögen. So zitiert er Reicher, der in der Verwahrlosung einen „Zustand der Erziehungsbedürftigkeit infolge von vernachlässigter Erziehung durch die Eltern bzw. deren Vertreter" sieht, der sich darin äußert, „daß das verwahrloste Kind es an der in seinem Alter sonst üblichen sittlichen Reife fehlen läßt und damit zu einer Gefahr für weitere Kreise und die Allgemeinheit wird". Hinsichtlich der „Erziehungsbedürftigkeit" ist zu sagen, daß diese bei allen, auch bei den in intakten Familien aufwachsenden normalen Kindern und Jugendlichen gegeben ist. Die zur Behebung der Verwahrlosung erforderlichen pädagogischen Maßnahmen sollten besser als Sondererziehung bezeichnet werden. Gewiß führt „vernachlässigte Erziehung" zu Verwahrlosung. Sie braucht aber nicht die Ursache dafür zu sein. Auch das verwöhnte Kind kann dadurch verwahrlosen, daß zu viel an ihm getan wird, — aber eben nicht genug in bezug auf seine individuellen Belange. „Die Gefahr für weitere Kreise und die Allgemeinheit" braucht — darauf ist bereits hingewiesen worden — nicht Folge der Verwahrlosung zu sein. Gertrud Moses definiert die Verwahrlosung als „Vernachlässigung von Maßnahmen, welche die wirtschaftliche, sittliche und gesundheitliche Existenz der Familie und ihrer Mitglieder sichern". Hier tritt die Bedeutung des ursprünglichen im

Alt- und Mittelhochdeutschen transistiv ange" wendeten Begriffs „verwarlosen" wieder hervor. Mit „Vernachlässigung der Maßnahmen", die zur Existenzsicherung erforderlich sind, ist der Begriff jedoch zu eng gefaßt. Die Definition trifft nicht den individuellen sozialen Notstand, der durch eine Sondererziehung behoben werden muß. Langenberg sieht in der Verwahrlosung einen „Zwiespalt zwischen Individuum und Gemeinschaft in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht, der zum Teil oder als Produkt resultiert aus verderblicher, unzweckmäßiger bzw. fehlender Fremd- oder Selbstausbildung, oder aus krankhafter seelischer Artung, oder der bei ungehemmter Entwicklung besonders den Jugendlichen zu einer Gefahr für die engere oder weitere Gemeinschaft werden läßt". Mit der „verderblichen, fehlenden oder unzweckmäßigen Erziehung" umfaßt Langenberg die zur Verwahrlosung führenden pädagogischen Noxen besser als dies mit dem Wort Vernachlässigung von dem bisherigen Autoren geschehen ist. Beachtenswert ist, daß er auf die „Selbstausbildung" (Selbsterziehung wäre terminologisch besser) hinweist. Es gibt sehr wohl auch eine Selbstverwahrlosung, die auf dem Boden einer nicht genügend festen Willenshaltung entsteht. Von dieser Selbstverwahrlosung soll später noch gesprochen werden. Eine „krankhafte, seelische Artung" kann sehr wohl Ursache der Verwahrlosung sein, sie darf aber nicht in der von Langenberg verwendeten ausschließenden Gegenüberstellung verwendet werden. Krankhafte psychische Prozesse bedürfen ärztlicher Behandlung. Bei psychischen Abnormitäten oder organischen Restschäden des Gehirns (Encephalopathien) kann eine individuell angepaßte Erziehung — und auch Selbsterziehung — noch wirksam werden. Nicht selten ist es in solchen Fällen zu den Erscheinungsformen der Verwahrlosung gekommen, weil entsprechende (heil-) pädagogische Kräfte nicht eingesetzt worden sind. Jedenfalls ist danach die einseitige Verwendung in dieser von Langenberg dargestellten Art nicht gerechtfertigt. Nach Rehm ist Verwahrlosung „die Lockerung des sittlichen Haltes, der sittlichen Gemeinschaft als eines Persönlichkeitsfaktors, unter der Voraussetzung, daß diese Lockerung zu einer Schädigung der Gesellschaftsordnung führt". Auch hier ist einzuwenden, daß von Verwahrlosung nicht erst dann gesprochen werden kann, wenn diese zu einer Schädigung der Gemeinschaft führt. Es gibt sehr wohl Jugendliche, deren Verwahrlosungssymptome nach außen nicht sichtbar werden. Gregor versteht unter Verwahrlosung ein „moralisch abwegiges Verhalten, das aus eigener Kraft des Individuums nicht mehr korrigierbar ist, weil es bereits die Formen des Gewohnheitsmäßigen angenommen hat". Mit dieser Definition beschreibt Gregor lediglich Symptome. Auf die möglichen Ursachen geht er nicht ein. Die dyna-

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Verwahrlosung mischen Faktoren der Fehlentwicklung und die Korrektur kommen zu kurz bzw. werden nicht beachtet. Auch Sterns Definitionsversuch stellt in Anbetracht der bisherigen Erörterungen wenig zufrieden. Nach ihm ist Verwahrlosung „eine auf der Grundlage krankhafter Veranlagung oder unter dem Einfluß ungünstiger Lebensbedingungen oder durch das Zusammenwirken beider Reihen sich ergebende Störung des Verhaltens, welche die Einordnung des Individuums in die Gesellschaft erschwert oder aufhebt. Unter Verwahrlosung in dem eben angedeuteten Sinne zählt dann auch die Kriminalität". Aus tiefenpsychologischer Sicht hat in letzter Zeit Künzel die Entstehungsbedingungen in einer Modelltafel zusammengefaßt. Er unterscheidet: 1. Normalreagierende Strukturen mit sozial angepaßtem Über-Ich, bei denen es nur unter ungewöhnlichen Belastungen zu Konflikten kommt. 2. Normalreagierende Strukturen mit anti-sozialem Über-Ich. 3. Neurosestruktur. 4. Verwahrlosungsstruktur als Folge sehr früher primärer und später sekundärer (stabilisierender) Umweltschäden. 5. Defekte psychische Struktur. Nach Sprecht scheint bei der Entstehung der Verwahrlosung das Mißlingen der Sozialisierung entscheidend auf Einschränkungen der sozialen Interaktionen innerhalb der Primärgruppe zu beruhen. „Es handelt sich dabei um Einbußen an Rollen, deren Eindeutigkeit und Beständigkeit für die Übertragung der Wertsysteme unerläßlich sind, um Beeinträchtigungen der notwendigen Interaktionsfreiheit und um den Wechsel zwischen widersprüchlichen Rollensystemen". Aus den Definitionsversuchen ergibt sich, daß Verwahrlosung auf mehreren Ursachen beruht. Heute muß sie mehr denn je vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes zwischen Individuum und sozialer Umwelt gesehen werden. Aus soziologischer Sicht scheint das Problem zunächst in der Abhängigkeit der Beurteilungskriterien der Verwahrlosung von sich wandelnden sozialen Normierungen und Verhaltensmustern zu liegen. Beispielsweise ist dem Phänomen des Streunens in früheren Zeiten, als der Jugendliche im Regelfall noch nicht über eine ausgeprägte soziale Mobilität verfügte, ein sozialprognostisch negatives Gewicht beigemessen worden. Heute ist es möglich, daß ein 16jähriger Berufs- oder Oberschüler über das Wochenende seine Freundin in einer einige hundert Kilometer entfernten Großstadt per Anhalter besucht. Was heute einem Vormundschaftsrichter in einem Land der BRD bei einem Mädchen als sexuelle Verwahrlosung erscheint und ihn veranlaßt, die FE zu beschließen, entlockt möglicherweise einem in einer anderen Gegend, vielleicht in einer Großstadt, tätigen Kollegen ein verständnisloses Lächeln. M. a. W., die Problematik des Begriffes Verwahrlosung ist

u. a. darin zu sehen, daß deren Diagnostizierung auf der Beurteilung sozialen Verhaltens beruht. Die Gültigkeit verbindlicher Parameter dieser Beurteilung sozialen Verhaltens wird aber in einer Gesellschaft, die in höchstem Maße durch Mobilität und damit durch Verhaltensverunsicherung gekennzeichnet ist, neuerdings immer stärker in Frage gestellt. Dies kann dann dazu führen, daß ζ. B. die jugendrechtliche Definition der Verwahrlosung ein Sanktionierungsinstrument darstellt, mit dessen Hilfe die soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens sowie die Durchsetzung bestimmter Interessenrichtungen ermöglicht wird. Hinsichtlich der Begriffsbestimmung „Verwahrlosung" haben letztlich Landesjugendämter und Vormundschaftsrichter eine Umschreibung dieses im Art. 6 Abs. 3 des Grundgesetzes bezeichneten Tatbestandes gefordert. In der Praxis ist immer wieder die Erfahrung gemacht worden, daß durch den in dem Wort enthaltenen Vorwurf die Zusammenarbeit mit den Eltern erschwert wird. So hat der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag vorgeschlagen, den Begriff der Verwahrlosung durch den der „Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung" zu ersetzen. Das Kammergericht hat damit übereinstimmend „Verwahrlosung" als einen „dem Erziehungsziel des § 1 Abs. 1 JWG (Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit) entgegengesetzten Entwicklungsprozeß" umschrieben (Jahrbuch für Entscheidungen in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Bd. 15 S. 8ff.). Das neue JWG hat den Begriff, ohne ihn näher zu umschreiben, übernommen. Gemäß dem § 64 ordnet das Vormundschaftsgericht Fürsorgeerziehung an, wenn sie erforderlich ist, weil der Minderjährige zu verwahrlosen droht oder verwahrlost ist. Dagegen wird im § 62 für die Gewährung der Freiwilligen Erziehungshilfe lediglich eine Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung vorausgesetzt. Diese unterschiedliche Terminologie birgt die Gefahr in sich, daß zwischen den Voraussetzungen der Freiwilligen Erziehungshilfe und denen der Fürsorgeerziehung eine Lücke steht, die sehr zum Nachteil der Kinder uneinsichtiger Eltern (siehe hierzu auch VIII. Verhütung) wirken kann.

V. URSACHEN Die zur Verwahrlosung führenden Ursachen können exogener und endogener Art sein. In der Literatur werden sie auch außerpersönliche und innerpersönliche, para- und genotypische oder auch objektive und subjektive Ursachen genannt. Gerade die letzten Bezeichnungen haben — worauf Többen in seinem 1936 verfaßten Handbuchbeitrag hinwies —· zu Verwechslungen geführt. Während nach Többen unter objektiver Verwahrlosung

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Verwahrlosung

nach dieser Einteilung eine milieubedingte Gefährdung und Schädigung verstanden werden soll, wird von anderer Seite dieser Begriff mißverständlicherweise nur für solche Fälle gebraucht, in denen eine tatsächliche — objektivierbare — Verwahrlosung festgestellt werden kann. Extremen Milieutheorien, die sich vornehmlich in Zeiten der Not und sozialer Umschichtungen durchzusetzen vermögen, stehen Meinungen gegenüber, die als Ursache der Verwahrlosung anlagemäßig bedingte Faktoren ansehen. Der Boden für solche Entweder-Oder-Erörterungen über den Vorrang der Milieu- oder Anlagefaktoren war von jeher unfruchtbar. Die Bedeutung der Entwicklungsdynamik des Kindes- und Jugendalters wurde zu wenig beachtet. Begriffe wie „Psychopathie" und „moralische Minderwertigkeit", die in der Gruppe der anlagemäßigen Ursachen aufgeführt wurden, trugen mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei. Hiervon macht auch die Arbeit Gregor-Voigtländers, deren Untersuchungsergebnisse für uns heute noch wertvoll sind, keine Ausnahme. Die Autoren führen folgende Ursachengruppen auf: „Psychopathisch, debil, imbezill, geisteskrank, epileptisch und psychisch intakt". Die „psychisch Intakten", bei denen allein nach Auffassung der beiden Autoren offenbar keine anlagemäßige Belastung vorliegt, bilden dabei nur einen geringen Anteil (17% der männlichen, 27% der weiblichen Jugendlichen) in der Gesamtzahl. Als Aichhorn in der Freudschen Ära 1925 die tiefenpsychologischen Betrachtungsweisen der Psychoanalyse in die Fürsorgepädagogik einführte, erhielt die Ursachenforschung eine neue Richtung. Frühstkindliche Erlebnisse und situative Faktoren wurden neben anderen psychischen Traumen, Dauerreizungen und Fixierungen für die Fehlentwicklung verantwortlich gemacht. Aichhorn hatte damit gezeigt, daß auch sozialneurotische Gesichtspunkte als Ursachen für die Verwahrlosung in Betracht zu ziehen seien. Er hatte damit den Weg für eine psychotherapeutische Behandlung gewisser Fälle geebnet. Aber auch damit war die Entweder-Oder-Einstellung noch nicht überwunden. Einseitig wurden jetzt nur psychogene bzw. neurotische Momente in den Vordergrund gestellt. Die Vertreter der ausgleichenden Mitte nahmen als Ursache für die Verwahrlosung einen polyätiologischen Komplex äußerer und innerer Komponenten an, wobei sie versuchten, Akzente zu setzen. Den bereits 1912 von Gruhle an seinen Flehinger Fürsorgezöglingen getroffenen Feststellungen schlossen sich in der Folgezeit Kretschmer, Enke und Villinger an. Im Rahmen einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise wird der Wert konstitutioneller und entwicklungsbiologischer Faktoren hier ebenso wie die belastende Wirkung des Milieus erkannt und beachtet.

Im folgenden seien die exogenen und endogenen Ursachenfaktoren zusammenfassend tabellarisch dargestellt und interpretiert. A. Exogene Ursachen 1. Allgemeiner Art im Hinblick auf gesellschaftliche Gefährdungszustände a) Krisenzeiten in und nach (Kriegs-) Katastrophen. Wirtschaftliche Not und Hunger breiter Schichten. Wohnungsnot. Heimatlosigkeit der Vertriebenen. Beeinträchtigung der öffentlichen Erziehungsmittel (Schule) und der Berufsausbildung. b) Absinken der gesellschaftlichen Moral infolge von Notsituationen oder auch infolge von Überfluß an materiellen Gütern und Wohlergehen (Luxusverwahrlosung). c) Wirkung der Massenmedien wie Kino, Rundfunk, Fernsehen, Schmutz- und Schundliteratur. 2. Individueller Art im engeren Milieu des sozialen Nahraums a) In der vollständigen Familie: Einzelkind in der Verwöhnungssituation. Erziehung der Kinder berufstätiger Eltern durch Haushälterin und Dienstmädchen. Das Aufwachsen der Kinder innerhalb der äußerlich zwar vollständigen, innerlich aber zerrütteten Familie. Aufwachsen der Kinder im asozialen Milieu. b) In der unvollständigen Familie: Durch Tod eines Elternteils oder beider Eltern bzw. durch Ehescheidung zerstörtes bzw. aufgelöstes Familienmilieu. Das Hin- und Hergerissensein des Kindes nach der Ehescheidung im Kampf um die Erteilung des Sorgerechts und die anschließende Verkehrserlaubnis. Stiefmutterund Stiefvatersituation. Aufwachsen bei Pflegeund Adoptiveltern. Die Situation des unehelichen Kindes. Hinsichtlich der exogenen Ursachen allgemeiner Art ist zu sagen, daß in der Literatur, die sich mit dem Verwahrlosungsproblem auseinandergesetzt hat, übereinstimmend auf das Anschwellen der Verwahrlosung in Krisenzeiten — so am Ende des ersten und des zweiten Weltkrieges — hingewiesen wird. Derartige Entwicklungen nach solchen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Katastrophen sind nicht neu. Auf der anderen Seite zeigen aber die Untersuchungsergebnisse der Verwahrlosungsforschung in einigen vom Krieg verschont gebliebenen Ländern, wie in Schweden und in der Schweiz, daß es davon unabhängig auch eine Verwahrlosung gibt, die krisenunabhängig ist und mit dem Wesen der Jugend allgemein zusammenhängt. Nicht immer müs-

Verwahrlosung sen Verwahrlosungssymptome Folgeerscheinungen exogener Ursachenfaktoren sein, die in Notzeiten oder in sozial ungünstig gestellten Kreisen vorzufinden sind. Auch in Zeiten des materiellen Überflusses und in Familien wohlhabender Stände gibt es Fälle extremer Verwahrlosung. Diese gelangen jedoch nicht immer zur Kenntnis der Öffentlichkeit, da in diesen Kreisen das Bestreben besteht, den Familienruf nicht zu gefährden, und dort meist Mittel und Wege gefunden werden, die Tatsachen zu vertuschen. Solche Familien verkörpern nach außen hin das Bild des geordneten und harmonischen Zusammenhaltens; im Innern sind jedoch Mißhelligkeiten vorhanden, die die Entwicklung der Kinder erheblich gefährden. Zuweilen stehen Eltern, die gesellschaftlich einen guten Ruf haben, charakterlich auf tiefer Stufe. Ihnen ist der Erziehungsinstinkt verloren gegangen. Merkantile Gesichtspunkte stehen dem Wohl der Kinder voran. Die Kinder wachsen zwar in materiell denkbar günstigen Verhältnissen auf. Von Seiten der Eltern wird ihnen aber ein Leben vorgelebt, das ihnen nicht Vorbild ist und ihnen keine Werterlebnisse vermitteln kann. Daraus ergibt sich dann leicht eine „Luxusverwahrlosung". Die beschriebenen exogenen Ursachenfaktoren wirken auf den Jugendlichen in seiner konkreten Lebenssituation. Dabei spielen seine sonstigen gesellschaftlichen Beziehungen sowie die in der Schule und im Kameradenkreis zur Geltung kommenden Erziehungsmächte unter Umständen eine wesentliche Rolle. Diese wiederum sind ganz individueller Natur und werden nicht zuletzt durch die Charakterstruktur des Jugendlichen selbst und der Kameraden und Menschen bestimmt, denen er begegnet. So ist es auch zu verstehen, daß die unter den exogenen Ursachenfaktoren individueller Art zuletzt aufgeführte Situation des unehelichen Kindes nicht unbedingt zur Verwahrlosung zu prädestinieren braucht. Hier sei auf eine interessante Arbeit Nährichs verwiesen. Bei einer Untersuchung über die Kriminalität unehelich Geborener stellt Nährich zwar einen höheren Kriminalitätsanteil dieser Probandengruppe im Vergleich mit den ehelich Geborenen fest, bemerkenswert ist aber, daß dieses Ergebnis in erster Linie auf den hohen Kriminalitätsanteil der Legitimierten und Angeheirateten zurückzuführen ist, während die unehelich Gebliebenen und Adoptierten nicht ungünstiger als die ehelich Geborenen abschneiden. Auch spielt entgegen weit verbreiteter Ansicht die Scheidung der Eltern für die Kinder als exogener Ursachenfaktor für die Verwahrlosung keine besondere Rolle. Nach Haffters katamnestischen Erhebungen hat der überaus größte Teil seiner Probenden die Auflösung der elterlichen Ehe als günstige Wendung angesehen. Sind in dieser konkreten individuellen Situation nämlich noch genügende bewahrende Kräfte vorhanden, werden auch ernsthafte durch

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exogene Faktoren entstandene Gefahren und Erziehungsausfälle ausgeglichen und behoben.

B. Endogene Ursachen 1. Allgemeine reifungsphasisch bedingte Störungen im Laufe der Entwicklung a) Trotzperiode. b) Erster Gestaltwandel (6.—7. Lebensjahr). c) Mittlere und späte Kindheit (12.—13. Lebensjahr). d) Pubertät. In der Trotzperiode nimmt infolge des erwachenden Selbstbewußtseins und des Aktivitätseinschusses manche chronische Erziehungsschwierigkeit ihren Anfang und läßt im Zusammenwirken mit anderen Faktoren eine Verwahrlosungssymptomatik deutlich werden. Während des ersten Gestaltwandels vermögen äußere Belastungen (in der Schule) zu Überforderungssituationen und neurotischen Verhaltensweisen zu führen. In der mittleren Kindheit kann es, wenn die phasenmäßige Loslösung vom Elternhaus in ihrer Kontinuität unterbrochen wird, zu Verwahrlosungssymptomen mit konfliktbesetzten aggressiven Reaktionen, wie Weglaufen, Diebstählen und Lügnereien kommen. Infolge der Geschlechtsreifung, die zu Veränderungen der sozialen Situation des Jugendlichen führt, vermag auch die Pubertät mit zahlreichen psychischen Störungen und sozialen Anpassungsschwierigkeiten einherzugehen. Die ersten Symptome eines Fehlverhaltens können dann in Erscheinung treten und die Ursache für eine in Gang kommende Verwahrlosung sein. Hier spielen jedoch bereits individuelle Faktoren mit, die im folgenden Abschnitt aufgeführt werden sollen. 2. Individuelle

Ursachenfaktoren

a) Entwicklungsstörungen. Akzeleration mit Diskrepanz zwischen körperlicher und seelischer Entwicklung. Retardierung. b) Intelligenzmängel; gelegentlich auch erblich oder entwicklungsbiologisch bedingte Schwäche für das Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (Legasthenie). c) Charaktero- und Psychopathien. Schwache Gefühlsansprechbarkeit, Antriebsüberschuß bzw. -lahmheit, Halt- und Willensschwäche. Dysphorische Verstimmtheit. d) Encephalopathien (posttraumatische und postencephalitische Zustandsbilder). e) Körperliche Mängel bzw. Sinnesfehler: Verkrüppelung, Mißbildungen, Sehschwäche bzw. Blindheit, Hörschwäche bzw. Taubheit. f) Vegetative Übererregbarkeit, Neuropathie. g) Anfallsleiden mit Wesensänderungen.

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Verwahrlosung

h) Beginnende Psychosen und deren Defektzustände. i) Neurotische Störungen. Auch hier darf die schematische Aufzählung solcher individueller Verwahrlosungsursachen nicht dazu verleiten, jeweils nur einen Faktor für die sich anbahnende Verwahrlosung verantwortlich zu machen. Man ist heute allzugern geneigt, mit Hilfe der Ein-Wort-Diagnose die Probleme zu vereinfachen. Die hier angeführten Ausfälle, Störungen und Mängel wirken meist auf andere körperliche und seelische Fähigkeiten und Funktionen. Andererseits können sie aber auch völlig ausgeglichen werden, so daß es überhaupt nicht zu einer Verwahrlosungssymptomatik kommt. Ein deterministischer Pessimismus ist demnach unangebracht. Um so wichtiger ist es, die Ursachen frühzeitig diagnostisch zu klären und die etwa erforderlichen ärztlich-therapeutischen oder bzw. und auch sozialpädagogische Maßnahmen einzuleiten und so zu verhüten, daß diese endogenen Gefährdungsmomente noch durch zusätzliche exogene verstärkt werden. Daß Entwicklungsstörungen oft Ursache der Verwahrlosung mit anschließender Dissozialität und Kriminalität sind, hat Illchmann-Christ an 200 jugendlichen Straffälligen im Alter von 18—21 Jahren gezeigt. Er fand in 46% bei den Jungen und in 33% bei den Mädchen deutliche Merkmale körperlicher Reifeverzögerung. Achenbach hat an Hand seiner an Fürsorgezöglingen gewonnenen Untersuchungsergebnisse festgestellt, daß psychophysische Entwicklungsstörungen bei jugendlichen Verwahrlosten gegenüber der Durchschnittsbevölkerung in weit vermehrtem Maße auftreten und daß solche Störungen einen wegbereitenden Einfluß auf Dissozialität und Asozialität haben können. Villinger weist darauf hin, daß die psychologischen Zusammenhänge zwischen Reifungsstörungen und sozialen Versagenszuständen durchaus verständlich seien. „Es ist nicht gleichgültig, ob ein Kind an Länge und Körperkraft wesentlich hinter den Gleichaltrigen zurückbleibt. Das Zurückbleiben führt fast unausweichlich zu dem peinigenden Erlebnis, den Kameraden nicht .gewachsen', nicht gleichwertig zu sein. Das so entstehende Gefühl des Unterlegen-, Minderwertig- und Beeinträchtigtseins geht selbst bei guter Intelligenz — und darauf soll hier nachdrücklich hingewiesen werden — schon nicht ohne starke innere Spannungen und Konflikte ab, besonders wenn ein gewisser sozialer Ehrgeiz vorhanden ist; es kann, auch ohne andere schädigende Momente, zu schweren emotionalen Störungen führen." Daß Intelligenzmängel die soziale Eingliederung erschweren und Ursachenfaktoren der Verwahrlosung sein können, ist einleuchtend. Der Schwachsinnige vermag nicht immer die situati-

ven Gegebenheiten richtig zu erfassen und sich im Zusammensein mit anderen Menschen taktvoll zu benehmen bzw. einzufühlen; er kann sich aufgrund seiner geringen Urteils- und Kritikfähigkeit nicht genügend verständnisvoll verhalten. Wenn verschiedentlich betont wird, daß die Intelligenz für die soziale Anpassung keine Rolle spiele, so ist das nur bedingt richtig. Falsch ist auf jeden Fall, daß die intellektuell Minderbegabten die Sozialsten und Einfügsamsten seien: jeder Pädagoge weiß, daß unter den Verwahrlosten die durchschnittlich oder besser Begabten auf erzieherische Einflüsse eher ansprechen als die Schwachsinnigen. „Sind aber infolge intellektueller Mängel solche Anpassungsschwierigkeiten und Reibungsflächen dauernd vorhanden, so kommt es leicht zu äußeren Zusammenstößen und inneren Konflikten, und von da aus, besonders auch, da diesen Jugendlichen die Zusammenhänge nicht klar bewußt gemacht und von ihnen nicht recht verarbeitet werden können, zu neurotischen Fehlhaltungen" (Villinger). Solche Beobachtungen sind neuerdings in besonderem Maße bei Kindern und Jugendlichen gemacht worden, bei denen — bedauerlicherweise meist zu spät — eine Schwäche für das Lesen und Rechtschreiben festgestellt worden ist. Hier handelt es sich um ein isoliertes — erblich oder entwicklungsbiologisch bedingtes — Leistungsversagen bei sonst normaler Intelligenz, das — selbst von Berufspädagogen — oft nicht erkannt und anfangs als Faulheit, Bösartigkeit oder Nichtwollen mißdeutet wird. Auf die sozialpsychiatrischen Aspekte solcher Verkennungen, die im Grunde genommen dann der eigentliche Anstoß für die bei den Schülern beginnende Verwahrlosungssymptomatik sind, hat in neuer Zeit Weinschenk hingewiesen. Wie neuere, inzwischen als gesichert anzusehende Ergebnisse der Sozialforschung gezeigt haben, können Intelligenzdefekte durchaus vor dem Hintergrund einer defizitären Sozialisation beispielsweise infolge mangelhafter Vermittlung kreativer und kognitiver Fähigkeiten gesehen werden (Gottschalch u. a., 1971). Der Psychopathie- oder Charakteropathiebegriff hat in der Verwahrlosungsforschung als Ursachenfaktor nach wie vor seine Bedeutung. Allerdings gilt er heute nur noch für eine kleine Kerngruppe, die nach Ausschluß der organisch bedingten Anomalien (Pseudopsychopathien), endokrinen Störungen und Neurosen verblieben ist. Durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, die neue Erkenntnisse über die Bedeutung des Stammhirns, über das Verhältnis des Stamms zur Großhirnrinde, das Zwischenhirn und über die Restschäden nach der Encephalitis epidemica gebracht haben, insbesondere auch durch die Ergebnisse der in neuerer Zeit in zunehmendem Maße ausgebauten diagnostischen TJntersuchungs-

Verwahrlosung methoden (Luftencephalogramm, Arteriogramm, Elektroencephalogramm und Zwischenhirnbelastungsprüfungen) konnte der Psychopathiebegriff weitgehend eingeengt werden. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden mehrfache Zusammenhänge zwischen organischen Hirnschädigungen bei Kindern und deren Verhalten festgestellt, das bisher als Psychopathie oder milieubedingte Verwahrlosung angesehen worden war. „Alle diese Beobachtungen und Untersuchungen legen den Schluß nahe, daß ein vermutlich gar nicht geringer Teil der bisher als Psychopathien bzw. psychogene Reaktionen aufgefaßten Anomalien nichts anderes darstellen als Folgezustände nach organischen Hirnschädigungen, daß es sich also nicht um Psychopathien, sondern um Encephalopathien im engeren und weiteren Sinne des Wortes handelt" (Villinger). So ist bei der Erforschung der Ursachenfaktoren heute die Diagnose: Psycho- und Charakteropathie nur nach Ausschluß der übrigen zu Verhaltensschwierigkeiten und Verwahrlosungserscheinungen führenden organischen oder psychischen Störungen zu stellen; dann erst kann sie die Grundlage für die Aufstellung eines individuellen Erziehungsplanes bilden. Seit Adler wissen wir, daß körperliche Mängel und Sinnesfehler den Jugendlichen in seinem Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen vermögen. Um seine Konkurrenzfähigkeit anderen — gesunden — Kameraden gegenüber zu beweisen, kann es bei diesem Jugendlichen kompensatorisch zu gemeinschaftsunangepaßten und verwahrlosungsähnlichen Verhaltensweisen mannigfaltiger Symptomatik kommen. So sind bei körperlich kleinen (auch entwicklungsrückständigen) Jugendlichen oft Haß- und Trotzhaltungen die Antwort auf den Spott der Kameraden. Vor allem vermögen in der Pubertätszeit körperliche Mängel und Mißbildungen das Ichgefühl so erheblich zu erschüttern, daß es zu kompensatorischen Fehlreaktionen mit schweren Aggressionen kommen kann. Stutte hat solche auf dem Boden einer Selbstwertneurose entstandene soziale Entgleisungen Jugendlicher beschrieben und einige Gesichtspunkte dafür gegeben, wie sie sozialpädagogisch zu behandeln sind. Die vegetativen Regulationsstörungen und die Neuropathie sind als mitverursachende Faktoren der Verwahrlosung aufzuzählen. Auch ihnen ist keine allein verursachende Bedeutung zuzumessen. Bei den vegetativen Regulationsstörungen handelt es sich um Dekompensationserscheinungen am vegetativen Funktionssystem. Sie werden überwiegend durch chronische Belastung verursacht (ζ. B. körperliche und psychische Überforderungen, Konfliktsituationen, Infektionskrankheiten, Intoxikationen usw.). Auch Umgebungseinflüsse (Schule, Elternhaus) können hier von entscheidender Bedeutung sein. Unter der Neuropathie verstehen wir eine konstitutionell bedingte Normvariante mit Störungen der Organ-

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leistungen, die im Kleinkindalter zu leichter Erregbarkeit, Bewegungsunruhe, im Schulkindalter zu vasomotorisch bedingten Kopfschmerzen und leichter Ermüdbarkeit führen. Bei der Untersuchung wird die abnorme Persönlichkeit dieser Kinder und Jugendlichen deutlich, für die sich auch verschiedene, gut erkennbare körperliche Stigmata finden (Ströder und Zeisel). Den Alifallsleiden wird im Rahmen der Ursachenfaktoren keine besondere Bedeutung einzuräumen sein. Immerhin ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß Schwererziehbarkeit gelegentlich das Prodromalsymptom eines erst später manifest werdenden Anfallsleidens darstellt. Harbauer hat in einem Zeitraum von 4 Jahren 13 Kinder untersucht, die so erhebliche Erziehungsschwierigkeiten machten, daß Schule und Elternhaus ihnen nicht mehr gewachsen waren. Diese intellektuell durchschnittlich begabten Kinder zeigten sich überaus erregbar, jähzornig und stimmungslabil. Sie ordneten sich nicht in die Gruppe ein. Für das Vorliegen von Encephalopathien fand sich kein Anhaltspunkt. Bei diesen keineswegs epileptisch wesensveränderten Kindern, die ohne manifeste Anfälle zur Untersuchung kamen, konnten in den wiederholt abgeleiteten elektrischen Hirnstrombildern Herdveränderungen einer oder beider Hirnhemisphären mit Rrampfpotentialen über der Schläfen-Scheitellappen-Region festgestellt werden. Lediglich bei 6 dieser Kinder kam es später zu Anfällen. Auch die anfallfrei gebliebenen 7 Kinder rechnete Harbauer diesem Kreis zu und rechtfertigte damit die Durchführung einer spezifischen antiepileptischen Behandlung auch für diese Kinder. Stutte veröffentlichte in diesem Zusammenhang den Fall eines 14jährigen Mädchens, das in seiner Emotionalität gestört war und in seinen Schulleistungen erheblich absank. Aus der Schilderung, die die Mutter gab, war nicht zu ersehen, ob es sich bei dem Mädchen um eine phasentypische Schulaversion, um Tagträumereien oder um anfallartige Abwesenheitszustände handelte. Das E E G zeigte einen Herd im Schläfen-LappenBereich und ließ damit auf Dämmerattacken als Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten des Mädchens schließen. Unter der eingeleiteten medikamentösen Behandlung verschwanden die Symptome in kurzer Zeit. Nicht immer sind solche Fälle so klar zu diagnostizieren. Deshalb ist es in diesem Zusammenhang wesentlich, zu wissen, daß es neben solchen objektivierbaren Gruppen Grenz- und Übergangsfälle zu dem (posttraumatischen und -encephalitischen) Encephalopathien gibt, bei denen das elektrische Hirnstrombild zwar Veränderungen zeigt, diese aber nicht so eindeutig sind, daß sie die Grundlage für eine spezifische und zielgerichtete Therapie geben könnten.

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Verwahrlosung

Der Anteil echter Psychosen an den Verwahrlosungsfällen ist erfahrungsgemäß gering, da sie — wenn sie erkannt worden sind — der ärztlichen Behandlung im Krankenhaus zugängig gemacht werden. Lange vor dem Hervortreten des Krankheitsbildes und lange bevor sie sich diagnostisch feststellen lassen, kann es allerdings zu Erscheinungen kommen, die einer beginnenden Verwahrlosung ähnlich sind und deshalb als solche verkannt werden. Die Kinder und Jugendlichen zeigen sich ängstlich, einerseits ablehnend störrisch, dann auch wieder vorübergehend zugewandt. Ihr Verhalten wechselt erheblich. Einmal sind sie völlig uninteressiert und apathisch, dann wieder voll fanatischer Begeisterung. Episodische depressive Verstimmungen sind hierfür die Ursache. Meist werden die Kinder anfangs still und grübeln. Sie machen sich Sorgen, äußern hypochondrische Gedanken und Suicidtendenzen. Im manischen Stadium scheuen sie sich dagegen vor keinem — auch nicht vor dem für sie und ihre Umgebung oft gefährlichen — Schabernack. Sie wissen alles besser, haben stets eine Widerrede und werden sehr erregt, wenn sie auf Widerstand stoßen. Die seltenen Frühschizophrenien im Kindes- und Jugendalter können phänomenologisch sowohl das Bild eines organischen Hirnprozesses, einer Reifungskrise als auch einer beginnenden Verwahrlosung bieten. Da eine erzieherische Einwirkung bei einem solchen Zustand nicht möglich ist, muß der Psychiater zugezogen werden, der die Diagnose oft auch erst aus dem Verlauf zu stellen vermag. Neurotische Störungen nehmen dagegen bei Jugendlichen, die Verwahrlosungserscheinungen erkennen lassen, einen großen Raum ein. Dies ist bereits aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden. Wir haben gesehen, daß zahlreiche exo- und endogene Verwahrlosungsfaktoren zu seelischen Fehlhaltungen führen. In vielen Fällen ist die neurotische Entwicklung die eigentliche Ursache für die Entstehung von Verwahrlosungserscheinungen. Bereits in den ersten Lebensjahren kann die Kontaktfähigkeit eines Kindes durch sogenannte Hospital- und Heimschäden erheblich gestört werden. Bei diesen Kindern kommt es oft zu einer Verkümmerung des Gemüts und damit zur beginnenden neurotischen Verwahrlosung. In der ersten Lebensphase wird normalerweise der Grund zu Zärtlichkeits- und Geborgenheitserlebnissen sowie allgemein zur Kontaktnahme mit der Umwelt gelegt. Das verwahrloste Kind muß diese Beziehung entbehren. Es bleibt unerfüllt, wird skeptisch und verdrängt allmählich seine Wünsche. In einer späteren Phase bemerkt es dann gar nicht mehr, wenn es etwas begehren möchte. Es hält sich zurück, wird unzufrieden, passiv, gefügig und unselbständig. Da es das Bedürfnis, mit Mund und Hand zuzulangen, bereits in den ersten Lebensjahren nicht hat be-

friedigen können, vermag es auch später nicht, sich besitzergreifend der Welt zu nähern. Solche Kinder werden als still, zurückhaltend, gehemmt beschrieben, die dann — zum Erstaunen des Erziehungspersonals — plötzlich in impulsiver Art heimtückisch, hinterlistig, aggressiv sein können, was normalpsychologisch einfühlbaren neurotisch bedingten Kompensationsmechanismen entspricht. Solche aus der Vorgeschichte eines verwahrlosten Kindes sich ergebende Folgerungen dürfen nicht verallgemeinert werden. Dührssen weist darauf hin, daß sich zwar unter den verwahrlosten Jugendlichen ein hoher Prozentsatz solcher befindet, bei denen affektive Kontaktschwierigkeiten auf dem Boden solcher früheren Frustrationen entstanden sind. Es wäre aber durchaus nicht richtig, zu sagen, daß alle die Kinder, die aus diesem Grunde frühzeitig in ihrer affektiven Kontaktfähigkeit verarmen, später auch verwahrlosen. Es müssen noch weitere Momente hinzukommen, welche die neurotische Verwahrlosung manifest werden lassen. Auf eins dieser „weiteren Momente" hat Fuchs-Kamp hingewiesen. Nach Verboten, Einschränkungen und Versagungen, die zu den entsprechenden Entbehrungserlebnissen führen, erlebt das verwahrloste Kind ganz plötzliche, vorübergehende Verwöhnungssituationen. Diese sind jedoch nicht auf ein Übermaß an warmherziger Zuwendung, sondern mehr auf unbewußte Schuldgefühle oder meist auf eine gleichgültige pädagogische Haltung (das Kind aus einem bestimmten Grund und zu einem bestimmten Zeitpunkt loszusein, um von ihm nicht gestört zu werden), zurückzuführen. Verständlich ist es, daß dieser Zwiespalt, Vernachlässigung der emotionalen Kontaktgewinnung auf der einen und kritiklose Verwöhnung auf der anderen Seite, bei dem verwahrlosten Kinde später zur spontanen und ungezügelten Augenblicksbefriedigung zu führen vermag, die im Stehlen und Weglaufen zum Ausdruck kommen kann. So werden aus diesem Grunde bei dem neurotisch verwahrlosten Kind Symptome der Gehemmtheit solche der Aggressivität mit impulsiven Reaktionen ablösen. Gerade die zuletzt genannten Verhaltensauffälligkeiten machen die soziale Unangepaßtheit bzw. das Verwahrlosungssyndrom evident. Dührssen schlägt vor, daß in psychologischer Hinsicht bei der Beurteilung neurotischer Verwahrlosungsreaktionen die Verwahrlosung als „Durchbruch" und als „gewohnheitsmäßige Ersatzbefriedigung" unterschieden werden sollte. Bei bestimmten seelischen Verfassungen könne der durch die erworbenen neurotischen Gehemmtheiten entstandene Druck so groß werden, daß er die normalerweise vorhandenen Gegenimpulse zu überfluten vermöge. Ein solches sich daraus ergebendes Verhalten trete dann nicht gewohnheitsmäßig auf, sondern sei als Durchbruchsreaktion anzusehen. Eine scharfe

Verwahrlosung Grenze zwischen gewohnheitsmäßigen Ersatzbefriedigungen und solchen Durchbruchsreaktionen können schwer gezogen werden, immerhin sei eine differenzierte Kenntnis des psychologischen Tatbestandes wesentlich, weil ja nach der gegebenen Situation die Sozialprognose verschiedenartig ausfalle. „Es leuchtet ein, daß ein gewohnheitsmäßiges Verhalten, das auf alten vorgebahnten Wegen abläuft, wesentlich schwerer korrigierend beeinflußt werden kann, als die gelegentlich einmal auftretende akute Durchbruchreaktion" (Dührssen). VI. PROGNOSE Bereits im letzten Kapitel ist erwähnt worden, wie wichtig es für das prognostische Urteil ist, die zur Verwahrlosung führenden Faktoren und die Erscheinungsform der Verwahrlosung selbst zu erkennen. Für die Prognosestellung ist es bedeutsam, zu ermessen, inwieweit eine für das Kind günstigere Milieuänderung zu wirken vermag. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da die Eltern ihre Familienverhältnisse und pädagogischen Bemühungen bzw. Unterlassungen erfahrungsgemäß niemals völlig offenbaren. Der in der jugendpsychiatrischen Klinik oder in der Erziehungsberatungsstelle tätige Arzt, Psychologe oder Sozialarbeiter wird demnach besonders auf die Berichte der Jugendämter und Schulen angewiesen sein, um sich ein objektives Urteil für seine Prognose zu verschaffen. Nicht immer entspricht die Verwahrlosungssymptomatik der Schwere der Ursachenfaktoren. Andererseits läßt sich, wenn die Verwahrlosungsursachen ermittelt worden sind, kaum etwas über die Belastbarkeit der Kinder sagen. Dies ist aber gerade für die Prognose relevant. In der Pubertät kann es auch bei bisher unauffälligen jungen Menschen auf dem Boden der Entwicklungskrise zuweilen zu plötzlich auftretenden Verwahrlosungserscheinungen kommen, die sich als prognostisch günstig erweisen und durch Erziehung und Selbsterziehung ausgeglichen werden können. Deshalb wird in solchen Fällen eine unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten durchgeführte Untersuchung in der Regel der Diagnose- und Prognosestellung vorausgehen müssen. Allgemein ist zu sagen, daß gerade der pubertierende junge Mensch leicht mit seiner Umwelt, den Ge- und Verboten in Konflikt gerät. Pädagogischen Fehlleistungen kann auf einem solchen seelischen Untergrund ein erhöhtes Maß an verwahrlosungsfördernden Faktoren zukommen. Speziell zum Prognoseproblem hat Stutte in seiner Arbeit „Die soziale Individualprognose bei verwahrlosten und kriminellen Jugendlichen" 1956, Stellung genommen, die als „beste Zusammenfassung sozialprognostischer Regeln" angesehen wird (Middendorff) und sich auf korrelationsstatistisch gesicherte Untersuchungen stützt. Auszugsweise sei hieraus folgendes aufgeführt:

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Je mehr an dem Zustandekommen jugendlicher Dissozialität Umweltfaktoren, rückbildende Krankheitszustände und Reifungsdisharmonien . . . beteiligt sind, desto günstiger ist die soziale Prognose. Je mehr die soziale Unangepaßtheit auf einer in der geistig-seelischen Eigenart des Jugendlichen begründeten Gefährdungsdisposition b e r u h t . . . desto ungünstiger gestalten sich die Erwartungen an den sozialen Ausgang. Sozialprognostisch besonders ungünstig zu beurteilen ist die Legierung von Gemütsarmut mit geistiger Minderbegabung und gesteigerter Aktivität einerseits, erhöhter aktiver Erregbarkeit andererseits. . . . Die Prognose ist um so ungünstiger, je kontrastgeladener seine Persönlichkeitsstruktur ist. Milieufaktoren . . . haben keine autonome kriminogene Bedeutung. „Hinter jedem Milieueinfluß wirkt die Anlage mit" (Frey). Das angeborene Milieu ist in hohem Maße auch bestimmend für die Wahl des künftigen Milieus . . . Form und Richtung jugendlicher Dissozialität vermittelt keine zuverlässigen prognostischen Fingerzeige. Einen bedingten (und zwar ungünstigen) Prognosewert haben bei dissozialen Jugendlichen: Neigung zu Trunkexzessen, Faulheit in der Schule und Beruf, sowie Lehrflucht, Schulschwänzen, Umhertreiben, Vagieren. Der prognostische Wert der Schwere jugendlicher Dissozialität erhellt sich aus der Tatsache, daß die sozialen Erwartungen getrübt werden bei dem Vorliegen einer Entgleisungstendenz nach mehr als zwei der folgenden Richtungen: Unfug — Frechheit — Verlogenheit; Neigung zu Rohheitsakten; Neigung zu Eigentumsvergehen; Frühe sexuelle Betätigung (sexuelle Verwilderung); Umhertreiben — Schulschwänzen; Lern- und Arbeitsscheu, Lehrflucht, Neigung zu Trunkexzessen. Die Abartigkeit der einzelnen Seiten des Seelischen haben eine unterschiedliche Valenz für das soziale Verhalten ihres Trägers. Die Nichtanpassung an die Forderungen der Gemeinschaft werden begünstigt durch Gemütsarmut, abnorme affektive Erregbarkeit, erhöhte Betriebsamkeit, Haltschwäche und Geltungssucht. Frühkriminalität als solche, das heißt das Merkmal: gerichtliche Bestrafung im Jugendalter ist . . . von begrenzter sozial- und kriminalprognostischer Bedeutung. Nach kriminalstatistischen Untersuchungen (vgl. insbesondere Frey) und den Bewährungsprüfungen an Fürsorgezöglingen ist folgenden Merkmalen jugendlicher Dissozialität ein ungünstiger Prognosewert beizumessen: Früher Beginn aktiver Verwahrlosung und krimineller Betätigung. Zweioder mehrmalige Bestrafung vor der Versorgung . . . ; Betrug als Erstdelikt. Abwesenheit tiefgreifender Reue und Scham bei der Erst-

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bestrafung (Villinger); Große Rückfalldichte...; Kontinuität der Rückfallintervalle; Entweichen, insbesondere mehrmalig . . . ; Schlechte Gesamtführung während der Fürsorgeerziehung oder des Strafvollzugs; Kriminelle Rückfälligkeit in den ersten fünf Jahren nach Entlassung aus Fürsorgeerziehung oder Jugendgefängnis. Hieraus wird ersichtlich, welcher Komplex exogener und endogener Faktoren sowie aus der Sozialanamnese entnommener Daten bei der Prognosestellung berücksichtigt werden muß. Die wesentliche Aufgabe ist noch darin zu sehen, die Motive zu ermitteln, die zur sozialen Unangepaßtheit bzw. zu den Verwahrlosungserscheinungen geführt haben, und diese unter Berücksichtigung entwicklungsbiologischer Kriterien in die Prognosestellung einzubeziehen. — Wie uns die Erfahrung lehrt, läßt sich allgemein sagen, daß akut auftretende Verwahrlosungssymptome — seien sie auf Milieuschädigungen, organische psychopathologische und neurotische Ursachenfaktoren oder auf deren Zusammenwirken zurückzuführen — gegenüber den chronisch verlaufenden Erscheinungsformen prognostisch günstiger zu beurteilen sind. VII. BEHANDLUNG Bei der Behandlung verwahrloster Kinder und Jugendlicher sollte nicht der fatalistischen Einstellung Gregors gefolgt werden, nach der die Verwahrlosung auf der Linie der Verkommenheit liegt, die auch durch fremde Hilfe kaum noch zu beheben ist. Meinungen, die Verwahrlosung als „Psychopathie" schlechthin oder als „Erbminderheit" anzusehen, sind heute nicht mehr haltbar. Von einer anlagemäßigen Verwahrlosung zu sprechen, ist nach unserer Fassung des Verwahrlosungsbegriffes ein Widerspruch in sich selbst. Auf der anderen Seite wissen wir, daß frühkindliche seelische Traumen und Frustrierungen sowie Verwöhnungsperioden, geistige Minderwertigkeiten und Encephalopathien nie für sich allein Ursachen der Verwahrlosung sind. „Die Erfassung aller Seiten der Persönlichkeit eines jugendlichen Verwahrlosten, die genauere Untersuchung des Sozialraumes, dem er entstammt, und die tiefdringende Analyse seiner Biographie wird offenbar machen, daß der Zustand sozialer Unangepaßtheit fast immer durch mehrere, in enger Wechselwirkung zueinander stehende Faktoren determiniert ist" (Stutte). Damit ist gesagt, daß vor der Behandlung die Diagnose zu stellen ist, die nicht nur phänomenologisch an den Verhaltensauffälligkeiten des Kindes und Jugendlichen orientiert, sondern auf mehrdimensionale ärztlichbiologische Untersuchungen und eine differenzierte Persönlichkeitsanalyse gestützt sein sollte. Die anschließende Behandlung darf dann auch nicht rein symptomatisch orientiert sein und

lediglich in einer Beseitigung der Verwahrlosungserscheinungen ihr Ziel sehen, sondern muß auf die verursachenden Momente und das Wesen der Verwahrlosung selbst eingehen. Aichhorn hat die latente von der manifesten Verwahrlosung unterschieden und vorgeschlagen, nicht allein die Ursachen zu behandeln, die die latente Verwahrlosung zur manifesten werden ließen, sondern auch den Faktoren nachzugehen, die der latenten Verwahrlosung zugrunde liegen. Die Behandlung selbst ist ein ganzheitlicher Vorgang, der sich schwer beschreiben läßt und jeweils individuell vom Untersucher und Behandler aus der Situation heraus gestaltet werden muß. Die erste Begegnung mit dem verwahrlosten Kind oder Jugendlichen kann oft schon entscheidend sein. Den Eltern, die in die Behandlung mit eingeschlossen werden müssen, soll die erzieherische Aufgabe nicht abgenommen werden. Von ihrer Mitarbeit darf — ganz gleich in welchen sozialen Verhältnissen sie leben — nicht abgesehen werden. Je besser Eltern, Helfer und das verwahrloste Kind zusammenarbeiten, desto größer ist die Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Sind durch die Untersuchung Organerkrankungen, endokrine Störungen, Entwicklungsverzögerungen oder Reifungsdissoziationen als Teilursachen der Verwahrlosungserscheinungen festgestellt worden, wird eine spezifisch ärztliche, gegebenenfalls medikamentöse, Therapie eingeleitet werden, selbst wenn das weitere Handeln (wie dies häufig der Fall sein wird) vornehmlich pädagogisch orientiert ist. Es gibt aber Fälle, in denen (ζ. B. bei körperlichen Mißbildungen) eine kausale Therapie im Vordergrund stehen kann. So beschreibt J. Ihrig den Fall eines unehelich geborenen 17jährigen Jungen, dem von seiner (wegen Kindesmißhandlung vorbestraften) Mutter als Kind das Nasenbein eingeschlagen worden war. Der Junge fiel später in seiner Arbeitsstelle und im Heim durch seine Streit-, Zerstörungssucht, homosexuelle Betätigung und verschiedene Gelddiebstähle auf. Außerdem war er Bettnässer. Nach operativer Korrektur der entstellenden Nasendeformation besserte sich sein Verhalten schlagartig. Er verlor sein Bettnässen und legte seine auf einem erheblichen Selbstwertkomplex beruhenden Verwahrlosungserscheinungen ab. Im allgemeinen wird die Behandlung mehrdimensional orientiert sein und sowohl unter heilpädagogischem als auch psychotherapeutischem Aspekt durchgeführt werden müssen. Eine Verwahrlosung, die auf eine im Vordergrund stehende Entwicklungshemmung zurückzuführen ist, wird anders zu behandeln sein als eine Regression, eine gegen den Vater gerichtete schwere Aggressionshaltung anders als die beginnende sexuelle Verwahrlosung eines pubertierenden Mädchens. Immerhin ist eine elastische und vermittelnde Haltung des Behandlers sowohl dem verwahrlosten

Verwahrlosung Kinde oder Jugendlichen als auch dessen Eltern gegenüber für den späteren Erfolg Voraussetzung. Es ist keineswegs damit getan, den Probanden mit den auf ihn wirkenden Noxen zu konfrontieren. Nicht selten werden dadurch neue Konflikte mit dem Elternhaus provoziert. Deshalb wird in solchen Fällen der psychotherapeutischen Behandlung entsagt und Verdecktes verdeckt bleiben müssen. Dann sollte lediglich versucht werden, den verwahrlosten Minderjährigen zur Verarbeitung seiner abnormen Erlebnisse zu bringen, ihn zu festigen und seelisch reifer zu machen. Freud selbst hat in seinem Vorwort zu dem Buch Aichhorns „Verwahrloste Jugend" festgestellt, daß beim verwahrlosten Jugendlichen etwas anderes getan werden müsse als Psychoanalyse. Auf das Berufsbild des in der Verwahrlosungspraxis stehenden Behandlers und Erziehers soll hier nicht in extenso eingegangen werden. Voraussetzung ist, daß der Erzieher versucht, den verwahrlosten Jugendlichen in seiner Gesamtheit zu erfassen, sein Sogewordensein zu verstehen, an das Gute in ihm zu glauben und dies mit dem Einsatz seiner Persönlichkeit anzusprechen. Außerdem muß es dem Erzieher gelingen, eine erzieherische Atmosphäre herzustellen, die nach Trost die Zeichen der Offenheit, Echtheit, Gepflegtheit und Heiterkeit tragen und das Ziel verfolgen soll, dem Verwahrlosten zur Selbstfindung, zu einem gemeinschaftsangepaßten aber auch kritischen Verhalten zu verhelfen. Die ersten Behandlungen sollten keineswegs in rational gelenkten pädagogischen Rücksprachen, die an den Willen des Verwahrlosten appellieren, sondern vielmehr in einer gut dosierten Pflege und Erweckung des verkümmerten bzw. verwahrlosten Gemüts bestehen. Nach Moor muß sich der Erzieher in erster Linie aber selbst bewußt sein, „daß er nur dem an der Verwahrlosung des Kindes begegnen kann, was in ihm selber nicht verwahrlost ist. Er wird sich darum beständig fragen müssen, wie es mit seinem eigenen Wollen stehe und wie mit seinem eigenen Können". Ein hoher Intelligenzgrad und das Beherrschen der pädagogischen Methodik macht noch keinen vollendeten Erzieher. Nur wer ständig versucht, sich selbst zu korrigieren und sich zu fragen, ob seine Haltung den individuellen Belangen des Einzelnen angepaßt ist, vermag dem verwahrlosten Kinde und Jugendlichen zu helfen. Aus diesem Grunde werden heute in manchen Heimen für die Erzieher gruppentherapeutisch orientierte Kurse durchgeführt, in denen es zu entsprechenden Lern- und heilsamen und kritischen Selbsterfahrungsprozessen kommt. Fehlt dem Erzieher selbst die innere Sicherheit, so kann er sie nicht bei seinen gefährdeten Jugendlichen erwecken. Versucht er, den Sicheren zu spielen und etwas, an das er selbst nicht glaubt, als wahr hinzustellen, so veranlaßt er damit auch die Jugendlichen zu einer 34 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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unehrlichen Haltung und vermag nicht, ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen zu geben. So ist es wohl zunächst die größte Aufgabe des Erziehers, den Mut zu finden, seine eigenen Schwächen zu erkennen. Aus dem Bemühen, diese eigenen Unzulänglichkeiten zu korrigieren, resultiert eine gewisse Toleranz den Schwächen anderer Menschen gegenüber. Der Erzieher erscheint sicherer sowie glaubwürdiger und vermag auch mehr bei dem ihm anvertrauten jungen Menschen Kräfte zu entwickeln, die zu dessen Eigenständigkeit führen. Aber nicht allein darauf gründet sich der pädagogische Erfolg. Er hängt auch von der Gesellschaft ab, die der Erzieher repräsentiert. Bedauerlicherweise werden ihm durch das Versagen dieser Gesellschaft ständig unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt, die es oft unmöglich machen, den verwahrlosten und oft kritischen Jugendlichen individuell angepaßte Hilfen zu geben. V m . VERHÜTUNG Nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz hat jedes deutsche Kind ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit, also auch ein Recht, wenn es gefährdet ist, vor der Verwahrlosung bewahrt zu werden. Zur Verhütung der Verwahrlosung ist nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz, falls die Eltern ihren Erziehungspflichten nicht genügen, Fürsorgeerziehung anzuordnen. Bei den zu beschließenden Maßnahmen soll den Wünschen der Personensorgeberechtigten entsprochen werden, soweit diese angemessen sind. Die Fürsorgeerziehung oder Erziehungsfürsorge wird in Familien oder Heimen durchgeführt, in denen erziehbare Kinder aufgenommen werden. Geschieht eine solche Heimeinweisung durch das Vormundschaftsgericht aufgrund eines Gerichtsbeschlusses gegen den Willen der Eltern, dann handelt es sich um „Fürsorgeerziehung", vollzieht sie sich im Einvernehmen mit den Eltern, die gewillt sind, mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten, so kann der Gerichtsbeschluß vermieden werden. Man spricht dann von Freiwilliger Erziehungshilfe. Von Seiten des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages ist die „Einheit der öffentlichen Erziehungshilfe" angestrebt worden. Der von einer Fachkommission gemachte Vorschlag geht davon aus, daß sich freiwillige und gerichtlich angeordnete Erziehungshilfe nicht durch die in der Person des Minderjährigen liegenden Voraussetzungen, sondern lediglich durch die Art der Anordnung voneinander unterscheiden. Im neuen JWG sind nun die beiden Formen der öffentlichen Erziehungshilfe nicht nur verschieden benannt („Freiwillige Erziehungshilfe" und „Fürsorgeerziehung"), sondern die in der Person des Minderjährigen liegenden Voraussetzungen auch bewußt

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abgestuft worden (Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung auf der einen und drohende oder bereits bestehende Verwahrlosung auf der anderen Seite). Hiernach besteht die Gefahr, daß die Gerichte die Fürsorgeerziehung nur noch in Fällen sehr fortgeschrittener und kaum noch behebbarer Verwahrlosungsschäden anordnen. Die Heimerziehung ist Ersatzerziehung. Da sie nicht der natürlichen Erziehung entspricht, sind ihr objektive Mängel und Gefahren eigen. Insbesondere sollte der unpersönlichen Vermassung durch Aufteilung in kleine Gruppen vorgebeugt werden. Zur Verhütung körperlicher, seelischer oder geistiger Verwahrlosung kann auch die Errichtung einer Erziehungsbeistandschaft ausreichend sein. Die Funktion des Erziehungsbeistandes gilt sowohl der Hilfe für den Minderjährigen als auch für dessen Eltern. Jener soll vor gefährdenden Einflüssen geschützt, diese sollen in Erziehungsfragen unterstützt werden. Besondere verwahrlosungsverhütende Aufgaben fallen dem Jugendschutzgesetz zu, das die Jugend in der Öffentlichkeit zu schützen und vor Gefahren fernzuhalten versucht, die ihr durch Besuch allgemein zugänglicher Einrichtungen und Veranstaltungen der Erwachsenen sowie durch Erwerb und Konsum schädigender Genußmittel drohen. Prophylaktische Aufgaben erfüllt die von privaten und behördlichen Stellen getragene offene und geschlossene Gefährdetenfürsorge. Sie nimmt sich sozial gefährdeter Menschen an, die ohne fremde Hilfe zu verwahrlosen drohen. Bedauerlicherweise ist die Effizienz dieser Institutionen, bedingt durch ihre unterschiedlichen Motivationen, eingeschränkt. Sogenannte Freizeitheime sind in der Regel als Verstärker und Reproduzenten der spezifischen Mittelschichtsozialisation zu sehen und können aus diesem Grunde für die prophylaktische Arbeit nur in begrenztem Maße gelten. An gut gemeinten Versuchen hat es dennoch nicht gefehlt; so wurde in Freiburg für gefährdete, verwahrloste und straffällig gewordene männliche Minderjährige im Alter von 8—21 Jahren ein Jugendhilfswerk gegründet. Auf freiwilliger Basis können die Jugendlichen an Arbeitsgruppen, Arbeitsgemeinschaften und Clubabenden teilnehmen. In vorbeugendem Sinne begegnet man den gestauten Affekten und Spannungen damit, daß den Jugendlichen weitgehend Abreaktionsmöglichkeiten — ζ. B. beim Spiel und Sport — gegeben werden. Eine Einweisung in sogenannte Arbeits-Erziehungsanstalten, die aus den alten Arbeitshäusern hervorgegangen sind, wird angeordnet, wenn jemand wegen Arbeitsscheu zu verwahrlosen droht. Der Personenkreis umfaßt Menschen beiderlei Geschlechts, die wegen Landstreicherei und Prostitution bestraft und vom Gericht im

Sinne des §42 d. StGB behandelt worden sind. Die Erziehung zur Arbeit vollzieht sich in modern eingerichteten Arbeitsbetrieben durch Werkmeister und Arbeitstherapeuten. Der Erfolg dieser Einrichtungen wird dadurch eingeschränkt, daß nur eine geringe Anzahl gut ausgebildeten Personals zur Verfügung steht. Eine grundlegende Maßnahme zur Verhütung der Verwahrlosung ist die Aufklärung der breiten Bevölkerungsschichten. Hierfür sollten alle modernen Propagandamittel zur Verfügung gestellt werden. Die Aufklärung hat sich mit den Erziehungsproblemen und Schulfragen zu beschäftigen; sie sollte das Ziel haben, gewisse Kenntnisse über normales und abnormales Verhalten des Kindes Allgemeingut werden zu lassen. Um den Eltern, die ihrer pädagogischen Aufgabe nicht gewachsen sind, bessere Erziehungshilfen zu geben, wird heute bereits eine intensivere psychologische und pädagogische Ausbildung der — insbesondere an den Sonderschulen tätigen — Lehrer durchgeführt, die den Erziehungsberechtigten damit bessere und fachkundigere Ratschläge zu geben vermögen. In diesem Sinne wirken auch die Erziehungsberatungsstellen. Da dort Psychologen, Sozialarbeiter bzw. Pädagogen und Ärzte zusammenwirken, also mehrdimensionale Untersuchungsmöglichkeiten gegeben sind, können sie zielgerichtete Vorbeugungsmaßnahmen empfehlen. Daß die Hinzuziehung des Psychiaters heute nicht mehr zu entraten ist, wird aus einer Untersuchung der Kinder deutlich, die über einen bestimmten Zeitraum die Erziehungsberatungsstelle Marburg durchliefen. In 12% der Fälle wurden Erkrankungszustände als Ursache für die Erziehungsschwierigkeiten festgestellt und eine entsprechende ärztliche Behandlung eingeleitet. Bei weiteren 25% konnten zielgerichtetere vorbeugende pädagogische Maßnahmen mit ärztlichtherapeutischer Unterstützung durchgeführt werden, da hier vom Arzt erhobene Befunde Teilursachen für die Verhaltensschwierigkeiten aufgedeckt hatten. Bei der Beratung der Eltern in den Erziehungsberatungsstellen kann oft ein negativer sozialpädagogischer Effekt dadurch entstehen, daß den Eltern mit einer Vorwurfshaltung begegnet wird. Dadurch wird für pädagogisch vorbeugende Maßnahmen eine denkbar ungünstige Ausgangsposition geschaffen. Auch ist eine solche Vorwurfshaltung nicht berechtigt. Durch geduldiges Zuhören, gelegentliche Einwendungen und geschickte Fragestellungen vermag der Berater bei den Eltern oft pädagogischer zu wirken. Er erreicht dadurch viel eher, die Erziehungsberechtigten zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen, als dies durch Erklärungen, Belehrungen und Ermahnungen möglich gewesen wäre. Der Erzieher bzw. Berater sollte nicht versuchen, fixierte — wenn auch teils antiquarische — pädagogisch starre

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Verwahrlosung Einstellungen in der ersten Beratungsstunde zu erschüttern, sondern durch entsprechende Lenkung den Eltern selbst zu einer Korrektur ihrer Anschauungen zu verhelfen. Kaum wird nach der ersten Beratung die pädagogische häusliche Situation schon geordnet, bzw. geändert werden können. Der Berater sollte besser über kleinere und anscheinend periphere Dinge Ansatzpunkte schaffen, die von den Eltern verstanden, akzeptiert und zunächst bewältigt werden können. So hat es wenig Zweck, einer Mutter zu sagen, sie bemuttere ihren Sohn allzusehr und daraus resultiere die bei dem Sohn zum Ausdruck gekommene Herrschsucht. Die Beratungssituation vermag besser gestaltet zu werden, wenn der Erzieher die Mutter dahin berät, wieviel Freiheit sie ihrem Sohn bei der Verwendung seines Taschengeldes geben solle, und wenn die Mutter dann selber beschließt, dem Jungen mehr Raum zur selbständigen Entscheidung zu geben. „Das Ziel der Beratung sollte nicht Elternerziehung, sondern ein Mittragen der Verantwortung sein. Die Eltern fassen Vertrauen, wenn man ihre Verantwortung würdigt und sie als bestimmend und entscheidend bestehen läßt" (Rudert). Selbstverständlich ist zur Erfüllung dieser Aufgaben eine genügend große Anzahl von Erziehungsberatungsstellen zu fordern, denen möglichst, da eine ambulante Untersuchung oft nicht ausreicht, Beobachtungsheime und Horte angeschlossen sein sollten. Außerdem sind hinreichend Möglichkeiten zu schaffen, um gefährdete Jugendliche in Pflegefamilien unterzubringen und spezialisierte, heilpädagogisch geleitete Erziehungsheime die entsprechende Familien- und Gruppensysteme praktizieren, bereitzustellen. Ein besonders schwieriges Problem stellt die Behandlung der schwersterziehbaren Fürsorgezöglinge dar, die das erzieherische Niveau in der Anstalt senken und die Disziplin erheblich gefährden. Bei diesen Jugendlichen spielen vornehmlich die unter den individuellen Verwahrlosungsursachen aufgeführten Psycho- und Encephalopathien eine Rolle. Einerseits sind diese Zöglinge in dem Kollektiv und dem geordnet ablaufenden Betrieb einer Erziehungsanstalt nicht tragbar, andererseits gehören sie auch noch nicht in das depravierende Milieu eines Psychiatrischen Krankenhauses. Praeventiv müßten hier zur diagnostischen und anschließenden (heil-) therapeutischen Maßnahme Unterbringungsmöglichkeiten in psychiatrisch geleiteten Sondererziehungsanstalten geschaffen werden. Auch wäre zu überlegen, ob im Rahmen der Fürsorgeerziehung nicht mehr Aufnahmeheime bzw. Beobachtungsstationen eingerichtet werden sollten, in denen die für eine Heimerziehung in Frage kommenden Jugendlichen psychiatrisch-psychologisch zu untersuchen sind, 34*

bevor sie einer, dann individuellen, Erziehung zugeführt werden. Alle diese Institutionen und obendrein noch zu fordernde Ausbildungsmöglichkeiten für Erzieher sind wirkungslos, wenn sie nicht von vornherein entsprechend strukturierte Menschen finden, die mit ihrem Glauben an der Jugend festhalten, für die heute Wertordnungen in Frage gestellt werden, die das Wachsen neuer Leitbilder für die Lebensführung dieser jungen Menschen erschweren. Das Grundproblem, das bewältigt werden muß und das auch den Grad der bestehenden Verwahrlosung bestimmt, liegt in dem Trend zum rein materiellen Denken. Eine ernstliche Abkehr von dieser materiellen Weltanschauung, der wir mehr oder weniger alle verfallen sind, würde in erster Linie unserer gefährdeten und verwahrlosten Jugend zugute kommen. Für die Verwirklichung dieses Gedankens müßten nicht nur alle der Jugendarbeit dienenden Organisationen, sondern auch die Religionsgemeinschaften, besonders aber die breite Öffentlichkeit gewonnen werden. Es ist so einfach, die Problematik der Verwahrlosung, ihre Entstehung, Diagnostik, Behandlung und Verhütung aufzuzeichnen und daraus Erkenntnisse zur Besserung unserer gefährdeten und verwahrlosten Jugend zu gewinnen, die Gesellschaft müßte nur selbst damit beginnen, ihre Haltung diesen Randständigen gegenüber zu überprüfen, deren schwierige Lage sie letztlich selbst mit verursacht hat. Monographien H. R e i c h e r : Die Theorie der Verwahrlosung und das System der Ersatzerziehung. 1008. H. G r u h l e : Die Ursachen der Jugendlichen-Verwahrlosung und Kriminalität. 1912. G. Moses: Zum Problem der sozialen Familienverwahrlosung unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Erleg. 1920. A. G r e g o r u. E . V o i g t l ä n d e r : Charakterstruktur verwahrloster Kinder und Jugendlicher. 1022. Ξ . T ö b b e n : Die Jugendverwahrlosung und ihre Behandlung. 1022. H. L a n g e n b e r g : Jugendverwahrlosung und Erziehungshilfe. 1923. O. S e h n : Über die Verwahrlosung der Jugendlichen. 1926. C. H a f f t e r : Kinder aus geschiedenen Ehen. 1948. K. A c h e n b a c h : Psychophysische Reifestörung und Jugenddissozialität. 1049. F. S c h n e i d e r : Die Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung. Vorträge des Ersten Internationalen Kongresses über Probleme der Jugendverwahrlosung. 1950. W. N ä h r i c h : Kriminalität der unehelich Geborenen. 1951. A. A i c h h o r n : Verwahrloste Jugendliche. 3. Aufl. 1951. A. D ü h r s s e n : Psychogene Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. 1954. V i l l i n g e r u. H. H a p k e : Fachwörterverzeichnis für J u gendwoliliahrtspflege und Jugendrecht. 1955. O. E n g e l m a y e r : Pädagogik, Entwicklung und Lebenshilfe. 1956. Ξ. S t u t t e : Grenzen der Sozialpädagogik. 1058. A. A i c h h o r n : Erziehungsberatung und Erziehungshilfe. 1959. C. W e i n s c h e n k : Die erbliche Lese-, Rechtschreibschwäche und ihre sozialpsychiatrischen Auswirkungen. 1962.

Viktimologie

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VIKTIMOLOGIE A. Begriffsbestimmung und Ursprung 1. Begriffe

und

Aufgaben

Die Bezeichnung „Viktimologie" kommt von dem lateinischen Wort „victima" das Opfer, das zwei unterschiedliche Bedeutungen hat: Es bezeichnet einerseits das Opfer als lebendiges Wesen, das innerhalb eines religiös-rituellen Verfahrens einer Gottheit geopfert wird. Es bezieht sich andererseits auf eine Person, die durch das Verhalten anderer leidet, verletzt oder zerstört wird.

Der Opferbegriff wird in der Kriminologie unterschiedlich definiert. Nach Heinz Zipf (1970, S. 3) sind alle durch eine Straftat Betroffenen Opfer, unabhängig davon, ob sie Träger des verletzten Rechtsguts oder als strafantragsberechtigt oder als verletzt im Sinne des Prozeßrechts gelten können. Opfer ist nach Fritz R. Paasch (1965, S. 4/5) eine Person, die den Interessen eines anderen geweiht ist: Opfer im Sinne der Kriminalwissenschaft ist diejenige natürliche oder juristische Person, die in einem von der Rechtsordnung geschützten Rechtsgut verletzt wird. Hans von Hentig hatte bereits früher (1962, S. 488) die Person als Opfer charakterisiert, die objektiv in Gestalt eines geschützten Rechtsguts verletzt ist und die subjektiv diese Verletzung mit Unlust oder Schmerz empfindet. Als Opfer kann man schließlich denjenigen benennen, dessen Person und Eigentum ohne seine Zustimmung vorsätzlich verletzt oder ausgebeutet werden. Es ist notwendig, den Opferbegriff konkreter zu fassen. Wer auf das geschützte Rechtsgut abstellt, denkt in der Kriminologie zu legalistisch. Auf die Empfindungen und Willensäußerungen des Opfers, Unlust, Schmerz und fehlende Zustimmung, kann es für die Definition des Opferbegriffs nicht ankommen. Das Opfer darf auf keinen Fall in dem Sinne personalisiert werden, daß man unter Opfer ausschließlich ein individuelles menschliches Wesen versteht (so Leszek Lernell 1973b). Es kann auch kollektive und abstrakte Opfer geben: soziale Gruppen, die Gesellschaft und ihre Ordnung, den Staat, die Rechtspflege und die „schlichte einfache Handhabung des demokratischen Prozesses" (so Hans von Hentig 1948, S. 440). Delikte gegen die öffentliche Ordnung besitzen ein abstraktes Opfer. Betrunkenheit in der Öffentlichkeit, grober Unfug, Exhibitionismus, rücksichtsloses Fahren, Besitz von Diebstahlswerkzeug, Fahren ohne Führerschein und ohne Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung sind Beispiele. Es gibt keine Straftaten ohne Opfer (so aber Edwin M. Schur 1965): Immer muß irgend jemand oder irgend etwas gefährdet, geschädigt oder zerstört sein. Abtreibung, Homosexualität und Rauschmittelkonsum sind in diesem Sinne keine Rechtsbrüche ohne Opfer. Es gibt Serviceund Konsumverbrechen: Verkauf geschmuggelten Alkohols, Rauschgifts und pornographischer Schriften, Gewähren illegaler Dienste gegen Entgelt, ζ. B. Prostitution und illegales Spiel. Auf die Zustimmung des Opfers kommt es nicht an. Es ist auch irrelevant, ob das Opfer sich geschädigt fühlt und ob es das Delikt anzeigt oder nicht. Das Opfer kann sogar wirtschaftlichen Nutzen mit aus der strafbaren Handlung ziehen. Es ist also verfehlt, von einer sich „verflüchtigenden Opfereigenschaft" bei Wirtschaftskrimmalität, bei Ladendiebstahl und Betriebskriminalität zu sprechen (so Günther Kaiser 1974, S. 381, 384).

Viktimologie Kollektives und unentdecktes Opferwerden kommen vor. Beide untersucht die Viktimologie. Opferist eine Person oder Organisation, die durch eine Straftat gefährdet, geschädigt oder zerstört wird. Es gibt eine Viktimologie im engeren und eine im weiteren Sinne. Die Viktimologie im engeren Sinne ist die Wissenschaft vom Opfer der Straftat. Die Viktimologie im weiteren Sinne ist die Wissenschaft vom Opfer. Es kann sich um Opfer von Straftaten, von Unfällen verschiedenster Art und um Opfer der Gesellschaft, ihrer Gruppen und Repräsentanten handeln. Die Viktimologie im weiteren Sinne ist damit ein Forschungsbereich der Psychologie, Psychiatrie und Soziologie (Herbert Maisch 1972, Sp. 720, 721). Geht es der Kriminologie vor allem um die Viktimologie im engeren Sinne, so darf sie die im weiteren Sine nicht völlig außer acht lassen. Viktimologie im engeren und weiteren Sinne verhalten sich so zueinander wie Verbrechen zu sozialabweichendem Verhalten. Aus einem sozialen Opfer kann leicht ein Opfer im kriminologischen Sinne werden. Die Übergänge sind fließend. Viktimologie im engeren Sinne kann nur auf dem Hintergrund der Viktimologie im weiteren Sinne betrieben werden. Sie erzielt sonst keine brauchbaren Ergebnisse. Viktimologie im engeren Sinne ist die Wissenschaft vom Opfer der Straftat. Opfer ist eine Person oder Organisation, die durch eine Straftat gefährdet, geschädigt oder zerstört wird. Das, was Verbrechen ist, bestimmt sich hierbei aus den gesellschaftlichen und individuellen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozessen (vgl. hierzu im einzelnen: Hans Joachim Schneider 1973, S. 571). Damit ist der Opferbegriff an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientiert. Opfer ist diejenige Person oder Organisation, die in den gesellschaftlichen und individuellen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozessen als Opfer definiert wird. Damit ist das Opfer nicht nur Bestandteil einer bestimmten Tatsituation; es ist nicht allein in die sozialen Bezüge des Täters einbezogen (so Hans Göppinger 1973, S. 309). Von einem Subjekt, dem Täter her, wird das Opfer nicht nur als Objekt unter Objekten (sozialen Bezügen) betrachtet. Vielmehr sind Täter und Opfer gleichwertige Subjekte, die sich —· allerdings mit unterschiedlichen, sich gegenseitig ergänzenden und bedingenden Rollen — gegenübertreten und „zusammenwirken". Sie sind Komplementärpartner, das Opfer formt und gestaltet den Täter mit (Hans von Hentig 1948, S. 348). Viktimologie als „ein Modewort" zu bezeichnen, „das im Deutschen unnötig ist, weil es — anders als etwa neue Bezeichnungen für technische Erfindungen — keine neue Erkenntnis liefert und keinen neuen Sachverhalt beschreibt" (so Kurt Weis 1972, S. 175), ist völlig verfehlt. Es geht auch nicht an, dem Paar: Täter—Opfer ein „Gegensatzpaar": Gewinner—Verlierer parallel zuzuordnen

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(so Kurt Weis, Sandra S. Borges 1973, S. 76). Hier werden unterschiedliche Perspektiven der Beurteilung in unzulässiger Weise vermischt, Betrachtungsweisen verkürzt und unerträglich vereinfacht. Die Interaktionsbeziehung zwischen Täter und Opfer ist hoch komplex. Die Viktimologie vermag dann Wertvolles zu leisten, wenn sie nicht einfach vom individuellen Täter zum individuellen Opfer überzugehen versucht. So besteht die Gefahr der Überbetonung solcher Typen kriminellen Verhaltens, bei denen das individuelle Opfer leicht identifizierbar ist (Inkeri Anttila 1973). Die opferbetonende Forschung hat die Kriminologie ins Gleichgewicht gebracht. Die Gesellschaft hat immer versucht, dem Straftäter bestimmte gesellschaftliche Rollen zuzuweisen und ihn in diesen Rollen zu belassen. Die neue Perspektive, die durch die Viktimologie ins Spiel gebracht worden ist, hat diese Stereotype eliminiert. Auch das Verhalten des Opfers soll zum Zwecke der Verbrechensvorbeugung gewandelt werden. Die individuell zentrierte Forschung zieht den Täter und das Opfer unabhängig voneinander in ihre Betrachtung. Das ist verfehlt. Zutreffend allein ist eine sozialpsychologische, dynamische Perspektive, die Wechselwirkungsprozesse zwischen Täter und Opfer berücksichtigt. Die Behauptung ist unzutreffend, das in der Kriminologie herrschende Blid vom Opfer sei das eines passiven Opfers (so Richard Quinney 1972, S. 318). Das Opfer ist eine Realität und keine soziale Konstruktion zum Zwecke des Klassenkampfes: „Handlungen werden als kriminell definiert, weil man sich irgend jemanden oder irgend etwas als Opfer vorstellt. Verbrechen ist irgendein sozialer Schaden, der als Schaden definiert und durch das Gesetz strafbar gemacht worden ist. Sozialer Schaden ist eine Realität, die von denen entschieden wird, die an der Macht sind. Das Gerede vom Opferwerden, ist eine unter den Waffen der herrschenden Klasse, die sie verwendet, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Das Opfer wird als ein Verteidigungsmechanismus der Sozialordnung benutzt" (Richard Quinney 1972, S. 315/316). Opfer werden hier völlig einseitig nur noch als Opfer der Polizei, des Krieges, des Strafvollzugs, der staatlichen Gewalt und der „Unterdrückung" gesehen. Diese Art der Darstellung in Schlagworten verschleiert mehr, als sie analysiert. Es bleibt unklar, wer diejenigen sind, die „an der Macht" sind. Die „herrschende Klasse" hat sich „verschworen", um durch viktimologische Abwehrmechanismen ihre Herrschaft und Macht zu erhalten. Hier ist wieder die gesamte Problematik unerträglich vereinfacht. Die „herrschende Klasse" wird nicht näher bestimmt. Es wird auch nicht konkretisiert, inwiefern das Opfer als Verteidigungsmechanismus der Sozialordnung aufrechterhalten wird.

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Viktimologie

Eine neue Disziplin erfordert zur Verständigung eine neue Terminologie. Es gibt die Erscheinung der Mehrheit von Opfern: das Mitopfer, das mittelbare Opfer und das Nebenopfer. Mitopfer werden durch eine bewußte und gewollte kriminelle Handlung zu Opfern. So können durch den Diebstahl eines Autos alle Familienangehörigen zu Opfern werden. Das mittelbare Opfer steht hinter dem unmittelbaren Opfer. Es wird dadurch gleichfalls zum Opfer, daß das unmittelbare Opfer gefährdet, verletzt oder zerstört wird. Auf das Nebenopfer beziehen sich Vorsatz und Absicht des Täters nicht. Es wird gleichsam nebenbei, fast „zufällig", fahrlässig durch die kriminelle Handlung zum Opfer. Das Selbstopfer ist das Opfer eigener Fehlhandlungen. Die Viktimität bezeichnet als Substantiv nicht die abstrakte Gesamtheit des Opferwerdens, sondern die Opferanfälligkeit (so auch Rudolf Gasser 1965, S. 17); das Adjektiv viktimell bedeutet opferanfällig. Die Viktimität drückt nach Beniamin Mendelsohn (1973) die Summe der soziobio-psychologischen Kennzeichen aus, die allen Opfern im allgemeinen gemeinsam sind. Diese Umschreibung läßt sich mit Opferanfälligkeit am besten in einem Begriff zusammenfassen. Das wichtigste Wort ist die Viktimisierung, die den Prozeß des Zum-OpferMachens und des Zum-Opfer-Werdens beschreibt. Das Verb viktimisieren heißt zum Opfer machen, opfern; viktimisiert werden bedeutet geopfert werden. Die Viktimisierungsquote gibt Umfang und Ausmaß des Opferwerdens an. Die OpferPräzipitation ist eine gemäßigte Form der OpferMitverursachung des Delikts, Opfer-Provokation die stärkste Form der Mitverursachung. Die Viktimologie hat eine Fülle von Aufgaben, von denen im folgenden nur die wichtigsten genannt werden sollen: Als Aufgabe der Viktimologie allein die Erforschung der Beziehungen zwischen dem Rechtsbrecher und dem Verbrechensopfer anzugeben (so Günther Kaiser 1974, S. 380), ist viel zu eng. Die Viktimologie beschäftigt sich nicht nur mit dem entdeckten, sondern auch mit dem unentdeckten Opfer. Bei der Verbrechensverursachung kommt es darauf an, das dynamische Zusammenwirken zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft zu analysieren und die Rolle des Opfers im Rahmen dieses Zusammenwirkens zu lokalisieren. Das Verbrechen entsteht oft in sozialen Gruppen, die ihre gestörte Dynamik an einzelnen Gruppenmitgliedern ausagieren, die sie zu schwarzen Schafen, zu Sündenböcken machen. Bei der Viktimogenese, der Entstehung eines Opfers, ist häufig die Opfer-Täter-Abfolge von wesentlicher Bedeutung. In der viktimologischen Prognoseforschung ist aufgrund der Persönlichkeitsmerkmale, der Einstellungen, der Beziehungen und der Kennzeichen des sozialen Nahraums des Opfers zu erarbeiten, mit wie hoher Wahrscheinlichkeit eine Person dazu neigt,

Opfer zu werden. Das Opfer ist Selektionsfilter bei der Verbrechensbekämpfung. Seine Anzeige entscheidet zunächst einmal darüber, ob es überhaupt zum Ermittlungs- und später zum Strafverfahren kommt. Die Viktimologie befaßt sich mit der Frage, ob und in welcher Weise die Anzeigebereitschaft potentieller Opfer beeinflußt wird und beeinflußt werden kann. Im Ermittlungs- und Strafverfahren hat das Opfer bestimmte prozessuale Mitwirkungsrechte (ζ. B. Strafantragsrecht) und -pflichten (ζ. B. Zeugenrolle). Die Viktimologie arbeitet nicht nur an der Fragestellung der tatsächlichen und rechtlichen Ausgestaltung dieser prozessualen Mitwirkungsrechte und -pflichten, sondern auch an dem Problem des Schutzes des Opfers im Ermittlungsund Strafverfahren, damit entstandene psychische Schäden nicht noch vertieft oder gar neu hervorgerufen werden. Die Beziehung zwischen Furcht vor dem Verbrechen und Opferwerden ist für die Viktimologie von großem Interesse. Die wirtschaftlichen, sozialen, körperlichen und psychischen Früh- und Spätschäden des Opfers werden von der Viktimologie erforscht. Sie entwickelt Behandlungsmethoden für die psychisch geschädigten Verbrechensopfer. Bei der Verbrechensvorbeugung geht es um die Unterrichtung potentieller Opfer über Verbrechenstechniken, um die Verringerung oder Beseitigung von Opferprädispositionen, um den Abbau von Opfersituationen, um die Analyse von Opferzeiten und -räumen und die Auflösung von Opferkonzentrationen. Die viktimologische Verbrechensaufklärung geht vom Opfer und seinen Beziehungen zum Täter aus. Das Problem der Schadenswiedergutmachung muß von der Viktimologie gelöst werden. Viktimologische Erkenntnisse können schließlich bei der Art der strafrechtlichen Reaktion und in der Strafzumessungslehre angewandt werden. 2. Verhältnis zur Kriminologie Das Verhältnis der Viktimologie zur Kriminologie bestimmt sich danach, in welcher Weise man den Gegenstand und die Aufgaben der Kriminologie beurteilt. Das Verbrechen wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozeß. Es entsteht und vergeht im individuellen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozeß (vgl. hierzu näher: Hans Joachim Schneider 1973, S. 571/572). Mit dieser an der Realität orientierten, dynamischen, funktionalen Definition des Verbrechens ist der Gegenstand der Kriminologie noch nicht abschließend beschrieben. Insbesondere gehört die Dunkelfeldforschung als wesentlicher Bestandteil mit zur Kriminologie. Das Opfer ist als unabdingbarer Teil in den gesellschaftlichen und individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß mit einbezogen. Das Verbrechen

Viktimologie ist ein Subsystem innerhalb eines größeren sozialen Systems, der Gesellschaft. Die kriminelle Persönlichkeit wie ihr Opfer sind für die Kriminologie Prozesse, die kriminellen und viktimellen Karrieren eingebettet in größere soziale Zusammenhänge. Es ist deshalb ebenso verfehlt, zu behaupten, die persönliche Opfereignung sei „ein maßgebender Teil der Tatsituation" (so Franz Exner 1949, S. 262), wie festzustellen, das Opfer müsse auch in die sozialen Bezüge des Täters mit einbezogen werden (so Hans Göppinger 1973, S. 309). Das Opfer darf nicht allein vom Täter her — gleichsam als Objekt — beurteilt werden. Das Verbrechen darf nicht nur als Individual-, es muß als Sozialpathologie verstanden werden. Die Sozialprozesse, an denen das Opfer aktiv wie passiv beteiligt ist, verlaufen pathologisch. Gleichzeitig ist die Persönlichkeit des Opfers selbst ein Prozeß. Es ist aus diesen Gründen unrichtig, darauf zu bestehen, die Kriminologie befasse sich mit der Persönlichkeit des Täters, die Viktimologie mit der Persönlichkeit des Opfers (so vor allem Koichi Miyazawa 1970, S. 1; Lola Aniyar de Castro 1969; Kurt Weis, Sandra S. Borges 1973, S. 76). Diese Definitionen sind zu eng, zumal die Persönlichkeiten von Täter und Opfer eher statisch als dynamisch verstanden werden. Das Zählen, Messen, Wägen, Bestimmen und Vergleichen von Opfern, das Sammeln von viktimologischen Determinanten, Faktoren, Assoziationen und Korrelationen werden niemals zum Fortschritt gereichen (Willem Hendrik Nagel 1963, S. 246). Auch die Täter-Opfer-Beziehung (so Hermann Mannheim 1965, S. 670; Günther Kaiser 1974, S. 380) ist als Gegenstandsbestimmung der Viktimologie nicht umfassend genug. Die Viktimologie paßt sich vielmehr ausschließlich in den sozialpsychologischen, interaktionistischen Ansatz der Kriminologie fugenlos ein. An den Sozialprozessen der Kriminalitätsverursachung und -behandlung sind Täter, Opfer und Gesellschaft maßgeblich beteiligt. Die Gesellschaft wie ihre Gruppen können kriminell wie auch viktimell sein. Die Gesellschaft kann Opfer von Straftaten werden; sie kann Personen und Gruppen zu Opfern machen. Wegen ihrer „Struktur" und ihres „Zieles" wird die Viktimologie als unabhängige, selbständige und interdisziplinäre Wissenschaft betrachtet (so Beniamin Mendelsohn 1956, 1959, 1963, 1973; Koichi Miyazawa 1966, 1967; Lola Aniyar de Castro 1969; Walter C. Reckless 1973, S. 92; Rudolf Gasser 1965, S. 18). Opfer von Arbeits- und Verkehrsunfällen, Völkermord, Opfer von Umweltverschmutzung, Naturkatastrophen, Unterernährung und Überbevölkerung sollen von der Viktimologie untersucht werden (Beniamin Mendelsohn 1973). Die Mehrheit der Kriminologen sieht die Viktimologie allerdings als Teildisziplin der Kriminologie (so ζ. B. Hans

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von Hentig 1948, 1962, 1974; Henri Ellenberger 1954a und 1954b, 1955; Pawel Horoszowski 1973; Paul Cornil 1959, 1973; Pietro Nuvolone 1973). Es kann hier unentschieden bleiben, ob die Viktimologie eine unabhängige Wissenschaft oder eine Teildisziplin der Krimonologie ist. Wenn zwischen Viktimologie im engeren und weiteren Sinne unterschieden wird und wenn die kriminologisch bedeutsame Viktimologie im engeren Sinne nur auf der Grundlage der Viktimologie im weiteren Sinne betrieben werden kann, heben sich die Widersprüche als Scheingegensätze weitgehend auf. 3. Geschichte

Am Anfang der Geschichte der Viktimologie stand die Frage der Entschädigung des Verbrechensopfers. In primitiven Kulturen strafte das Opfer des Verbrechens den Täter durch persönliche Vergeltung und Rache. Es legte ihm physische Verletzungen oder Schäden auf und nahm, was es wollte von dem Täter als Ersatz für die Begehung des Verbrechens. Die unregulierte Blutrache wurde graduell ersetzt durch ein System der Verhandlung zwischen Täter und Opfer und der Entschädigung des Opfers durch Bezahlung von Gütern und Geld (Bruce R. Jacob 1974, S. 215—220). Ein Verzeichnis, eine Tabelle von Verletzungstarifen wurde angelegt. Die Wiedergutmachung wurde als ein Mittel der Strafe für Verbrechen und der Erlangung von Entschädigung für das Opfer bei den Babyloniern (unter dem Gesetzbuch des Hammurabi), bei den Hebräern (unter mosaischem Recht), bei den alten Griechen, Römern und den Germanen benutzt. Unter den Inkas wurde für das Opfer durch den Täter selbst oder durch den Inka oder seinen Repräsentanten gesorgt. Wenn ein Indianer einen anderen während eines Streites getötet hatte, mußte zunächst festgestellt werden, wer mit dem Streit begonnen hatte. Wenn es das Opfer war, wurde der Täter nur leicht nach dem Belieben des Inkas oder seines Vertreters bestraft. Abtreibung wurde als schweres Verbrechen sowohl gegen den Staat als auch gegen den Fetus als einem direkten Opfer des illegalen Aktes angesehen. Die Inkas sorgten •— wie viele nicht mehr existierende Kulturen — besser für ihre Verbrechensopfer als die Zivilisationen der Gegenwart (Israel Drapkin 1973). In England forderten der König, seine Lords und Barone, daß der Täter eine Summe an den Lord oder König bezahlte. Dieser Betrag was als Provision für die Hilfe bei der Versöhnung zwischen Täter und Opfer und als Gegenleistung für den Schutz gegen weitere Vergeltung durch das Opfer gedacht. Schließlich nahmen König oder Lord den Gesamtbetrag. Das Recht des Opfers auf Wiedergutmachung wurde ersetzt durch das, was später als Geldstrafe bekannt wurde. Es ist einigermaßen absurd, daß

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es der Staat unternimmt, die Öffentlichkeit gegen Verbrechen zu schützen und dann, wenn sich ein Schaden ereignet, die gesamte Bezahlung zn nehmen und dem individuellen Opfer keine effektive Hilfe zu leisten. So dachten bereits Enrico Fern (1896) und Raffaele Garofalo (1914). Andere Aspekte der Viktimologie traten erst in neuerer Zeit in das Bewußtsein der Wissenschaftler und der Gesellschaft. Auf Männer als Opfer von Kindern wurde durch Max Marcuse (1914, S. 188) hingewiesen: Nicht die Mädchen seien die Opfer, sondern die Männer, die nicht die nötige sittliche Kraft besessen hätten, den Versuchungen zu widerstehen. Auf den Umstand, daß die Unzucht mit Kindern ein Delikt im sozialen Nahraum sei, machte Albert G. Hess (1934, S. 36/37) erstmals aufmerksam. Milovanovic (1935, S. 31) wies auf die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Täter und Opfer, insbesondere bei Tötungsdelikten, hin. 5 4 , 7 % der von ihm untersuchten Opfer von Tötungen hatten Alkohol getrunken. Er erkannte in dem Alkoholkonsum einen relevanten kriminogenen Faktor. Daß auch der Mord vornehmlich ein Delikt im sozialen Nahraum ist, also vor allem von Verwandten an nahen Familienangehörigen oder von Geliebten an ihren Bräuten begangen wird, arbeitete Ernst Roesner (1938, S. 221) heraus. Wer die Viktimologie „erfunden" hat, ist neuerlich zu einem Streitpunkt in der Kriminologie geworden. Beniamin Mendelsohn nimmt (1963, S. 241) für sich in Anspruch, die Viktimologie in einem Vortrag in Bukarest 1947 zuerst erwähnt zu haben. Hans von Hentig soll sie bereits am 4. September 1934 in der Kölner Zeitung genannt haben. Im Jahre 1948 forderte Fredric Wertham die Wissenschaft von der Viktimologie. Im selben Jahr veröffentlichte Hans von Hentig sein grundlegendes Werk über „The criminal and his victim". In den Lehrbüchern zur Kriminologie von Franz Exner (1949) und Ernst Seelig (zuletzt 3. Aufl. 1963) wurden viktimologische Fakten mit wenigen Sätzen abgetan. Neuerlich behauptet Walter C. Reckless (1973, S. 92), sich maßgeblich an der Entwicklung der Viktimologie beteiligt zu haben. Jedenfalls haben Kriminologen wie Henri Ellenberger (1954a), Shufu Yoshimasu, Paul Cornil (1959), Stephen Schafer (1968) und Ezzat A. Fattah (1971) die Viktimologie entscheidend vorangetrieben. Ein Meilenstein in der Geschichte der Viktimologie war das 1. Internationale Symposium für Viktimologie, das vom 2. bis 6. September 1973 in Jerusalem stattfand. 4. Opfer in Religion und Literatur Das kriminologische Fachgebiet Viktimologie hat weder etwas mit dem lateinischen Wort vincire = binden, verpflichten noch mit dem Verb vincere = besiegen, unterwerfen zu tun.

Weder Täter noch Opfer sind Sieger. Auch Schlachtopfer im Sinne religiöser Opferung ist das kriminologische Opfer nicht. Es ist richtig, daß die Götter durch die Opferung unschuldiger Lebewesen für die Sünden der Gemeinschaft oder einzelner versöhnt werden sollten. Das Opfer — Sündenbock und schwarzes Schaf zugleich — wurde stellvertretend für die Sünder geopfert. Den Sinn der Todesstrafe nahm man im Mittelalter u. a. daraus, daß der Verbrecher als Sühneopfer hingerichtet werden sollte, damit Gottes Zorn nicht über das Land und seine Bewohner komme, die gesündigt hätten. Das lateinische Wort victima = Opfer hängt zwar mit dem gotischen Wort weihan und dem althochdeutschen Verb wihan = weihen, heiligen zusammen. Das kriminologische Teilgebiet Viktimologie hat aber mit metaphysischen, irrationalen Opfern, Opfern im Sinne des sacrificium = dem der Gottheit Geweihten, Heiligen nichts zu tun. Das Opfer im kriminologischen Sinne ist eine Person oder Organisation, die durch eine Straftat gefährdet, verletzt oder zerstört worden ist. Opferungsriten im religiösen Sinne sollen der Gottheit danken; die dargebrachte Gabe soll Verehrung, Unterwerfung und Bitte zum Ausdruck bringen. Es gibt zahlreiche Opferdarstellungen in der Literatur, von denen nur wenige als Beispiele erwähnt werden sollen: Der Titel von Franz Werfeis Novelle: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig" geht auf ein albanisches Sprichwort zurück, Das Werk erschien in München 1920. Es hat einen Vatermord zum Gegenstand und mag von Werfel —· rein subjektiv — stark empfunden worden sein. Nicht nur wegen ihres eigenwilligen Titels, sondern auch wegen ihres phantastisch übersteigerten einseitig tendenziösen Inhalts ist die Novelle von der Bevölkerung nicht akzeptiert, sondern eher als Provokation empfunden und abgelehnt worden. Der Roman „Der Abituriententag" von Werfel ist demgegenüber weiter verbreitet und besser bekannt. In ihm wird geschildert, wie ein Unschuldiger Opfer und ein Schuldiger sein Richter wird. Die Schwierigkeiten des einzelnen und der sozialen Gruppen werden auf das Opfer projiziert und an ihm abreagiert. Das Opfer nimmt eine unterwürfig-duldende Opferhaltung ein. Es verteidigt sich nicht, sondern beschuldigt sich zusätzlich, und es hält selbst nicht viel von sich. Mit seinem Roman „Fahrraddiebe" hat Luigi Bartolini ein Bild der italienischen Nachkriegsgesellschaft gezeichnet. Die Polizei ist den Fahrraddieben gegenüber machtlos; das gesteht sie sogar unverhohlen ein. Auch die Selbsthilfe des Bestohlenen hilft nichts; denn die Verbrecher bilden eine verschworene Gemeinschaft und bedrohen offen das Opfer. So hilft dem Bestohlenen nichts weiter als der Rückkauf seines Fahrrades, der durch eine ihm von früher bekannte Prostituierte ver-

Viktimologie mittelt wird, die für den Bestohlenen bei dem Dieb ein gutes Wort einlegt und die von dem Bestohlenen auch noch eine „Provision" erhält. Der Roman „An American tragedy" von Theodore Dreiser ist bereits 1925 erschienen, hat aber bis heute viele Auflagen erlebt und ist als Lektüre und Film lebendig geblieben. Er hat zahlreiche interessante viktimologische Aspekte und kann geradezu als Schilderung einer viktimellen Karriere angesehen werden. Der Täter wird zum Opfer seines sozialen Nahraums. Als Verwandter eines reichen Fabrikbesitzers bekommt er in dessen Unternehmen eine untergeordnete Stelle. Er bleibt — entgegen seiner Erwartungen — von seinen reichen Verwandten zunächst unbeachtet und ungefördert. In dieser Situation der sozialen Isolation befreundet er sich mit einer wenig attraktiven Arbeiterin. Das Opfer trägt zu seiner Viktimisierung bei; es trifft eine Mitverursachungslast. Durch Zufall erlangt der Täter doch noch die Aufmerksamkeit seiner reichen Verwandten. Er wird in deren Haus eingeladen und lernt dort eine intelligente, hübsche, junge Dame aus reicher Familie kennen, die sich in ihn verliebt. Als die Arbeiterin, die von ihm ein Kind erwartet, dies trotz unsinniger Verheimlichungsversuche des Täters erfährt, will sie ihn durch hysterischdramatisch-abschreckende Auftritte und durch Drohungen mit der Enthüllung ihrer Beziehungen zu ihm und ihres Zustandes zwingen, sie sofort zu heiraten. Dieses abstoßende Verhalten einerseits und die ungeahnten Möglichkeiten des Unterschichtsjungen andererseits, durch eine Verbindung mit der jungen Dame, die alles für ihn Erstrebenswerte besitzt, sozial aufzusteigen, lassen in ihm den Gedanken an eine Tötung der Arbeiterin aufkommen, die er auch vorbereitet. Der Täter wird Opfer der Gesellschaft. In der von ihm herbeigeführten Tötungssituation — am späten Abend in einem Boot auf einem einsamen See — verlassen ihn die Kräfte zur Tötung. Durch ein psychisch unglückliches Verhalten (Vorwürfe, Tötungsvermutungen) und durch ungeschickte Bewegungen — das Opfer hält die Balance im Boot nicht — kommt es zum Kentern des Bootes. Die Arbeiterin ertrinkt. In der Gerichtsverhandlung kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob der Täter den Ertrinkungstod der Arbeiterin in Kauf genommen hat oder ob er seiner Hilfeleistungspflicht nicht ausreichend nachgekommen ist. In der für ihn bedrohlichen Situation wollte er sich zuerst selbst retten. Er kann oder will sich wohl auch an die Einzelheiten nicht mehr erinnern. Er wird ein Opfer der latenten, phantasierten Kriminalität der Gesellschaft. Die rücksichtslose Brutalität der einseitig argumentierenden Anklagebehörde, das Vorurteil der kleinbürgerlichen Geschworenen, die dem Unterschichtsjungen einen Aufstieg in die Oberschicht mißgönnen, und sein eigener mangelnder

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Widerstand gegen die Anklage aufgrund eines schlechten Gewissens, das durch eine frömmelnde Mutter noch genährt wird, lassen es zum Schuldspruch und zum Todesurteil kommen. B. Optereinlluß und -gefährdung 1. Das Opfer als

Selektionsfaktor

In vielen Fällen hat es das Opfer allein in der Hand, ob die Straftat zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt oder nicht. Um die Strafverfolgungsintensität zu steigern, geht es darum, die Schranken gegen die Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung zu beseitigen. Die Definition des Opfers ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Delikt, sondern aus der jeweiligen Reaktion seines sozialen Nahraums. Man kann primäre und sekundäre Viktimisierung unterscheiden. Unter primärem Opferwerden versteht man die Verletzung durch die Straftat, unter sekundärem Opferwerden die negativen Reaktionen der Nachbarn und anderer Personen aus dem sozialen Nahraum, ferner die Fehlreaktionen der Polizei und der Gerichte. Drei Bewährungshelfer für Erwachsene aus dem Gebiet von Jerusalem untersuchten 19 Opfer intensiv im Zeitraum von Februar bis April 1973 (Menachem Horovitz, Menachem Amir 1973). Delikte gegen das Eigentum lagen in acht Fällen, Straftaten gegen die Person in fünf Fällen und Rechtsbrüche gegen eine Organisation in sechs Fällen vor: Es ist nicht nur das Gesetz, das das Verhalten und die Situation als kriminell definiert, sondern ebenso das Opfer. Es hat die Macht, die Strafverfolgung in Gang zu setzen und dem Ereignis die formale Definition und das Kennzeichen „kriminell" zu geben. Folgende Gründe werden für die Anzeigeerstattung angegeben: die Verpflichtung und die Verantwortlichkeit als Bürger, weitere kriminelle Handlungen allgemein und den Rückfall auf Seiten des individuellen Straftäters im besonderen zu verhüten, Furcht vor Verbrechen und Verletzungsgefühle durch die Straftat, schließlich das Bestreben, die Versicherungsentschädigungen für die erlittenen Verluste zu erhalten. Durch Befragungen im Frühjahr und Frühsommer des Jahres 1966 in drei Polizeibezirken von Washington D. C. versuchte man, die unmittelbaren Erfahrungen von Personen als Verbrechensopfer zu ermitteln (Albert D. Biderman u. a. 1967). Man interviewte 511 nach Zufall ausgewählte Personen, die über 18 Jahre alt waren. Von den Opfern als weniger schwer empfundene Delikte blieben regelmäßig unangezeigt. Die Polizei wurde nur von einem von acht obszönen oder bedrohenden Telefonanrufen informiert. Allerdings stellte auch die Schwere des Falles keineswegs sicher, daß die Polizei benachrichtigt

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Viktimologie

wurde. Vier von neun Raubüberfällen und 2 von 7 Körperverletzungen wurden nicht angezeigt. Autodiebstahl wurde dagegen wegen der Notwendigkeit der Anzeige zur Erlangung der Versicherungssumme fast immer polizeilich gemeldet. Ungefähr die Hälfte der Befragten gab an, sie habe die Polizei nicht gerufen, weil sie angenommen habe, die Polizei werde sich doch nicht um ihr Anliegen kümmern. Die Polizei könne schon etwas Nützliches tun, sie wolle es nur meist nicht. 10 000 Haushalte wurden im Sommer 1966 in allen Teilen der Vereinigten Staaten untersucht (Philip H. Ennis 1967). Diese für die USA repräsentative Opferbefragung wurde vom „National Opinion Research Center" (NORC) an der Universität Chikago durchgeführt. Erwachsene, Personen über 18 Jahren oder jüngere verheiratete Familienmitglieder, wurden in diesen Haushalten in einem 20-Minuten-Interview befragt, ob irgend jemand in ihrem Haushalt während der letzten 12 Monate Opfer eines Verbrechens geworden sei. Ein Halbstunden-Intensivinterview wurde dann mit allen Opfern geführt, die identifiziert werden konnten. Die Annahme, daß mehrfaches Opferwerden ein Ereignis ist, das — wie etwa Geburten, Todesfälle, Heiraten in der Familie — leicht ins Gedächtnis zurückgerufen werden kann, erwies sich als unbegründet. Viele Ereignisse des Opferwerdens, sogar viele, die rechtlich als „ernst" Tabelle 1: Das Ausmaß des Dunkelfeldes bei ausgewählten Delikten in den USA Delikte

Polizeiliche Kriminalstatistik (FBI): Uniform Crime Reports (Angaben auf 100 000 Einwohner)

Mord, Totschlag Notzucht Raub Schwere Körperverletzung Einbruchsdiebstahl Diebstahl (über 50 US$) Autodiebstahl Insgesamt

Opferbefragung (NORC)

3,0 42,5 94,0

5,1 11,6 61,4

218,3

106,6

949,1 606,5

605,3 393,3

206,2

251,0

2.119,6

1.434,3

Quelle: Philip H. Ennis: Criminal victimization in United States. Washington D. C. 1967, S. 8.

eingestuft werden mußten, stellten keine hoch herausragenden Erfahrungen im Leben der Befragten dar und konnten deshalb nicht leicht im Interview erinnert werden. Ferner wurden Geschehnisse der Viktimisierung in der Erinnerung vorverlegt, so daß sie in den Zeitraum der letzten 12 Monate paßten. Schließlich erhob sich methodologisch und praktisch das Definitionsproblem, welcher Vorgang als Delikt angesehen werden sollte. Es wurden nur Delikte gezählt, die ein Individuum zum Opfer hatten. Notzucht ist fast viermal so häufig, als die Kriminalstatistiken ausweisen. Raub ist nur 5 0 % häufiger (vgl. Tabelle 1). Insgesamt kommen die schweren Delikte doppelt so oft vor, als sie der Polizei bekannt wurden. Die Großstädte haben eine Quote von Gewaltdelikten, die fünfmal so hoch ist wie in kleineren Städten und ländlichen Gebieten. Dagegen ist die Quote an Vermögensdelikten in Großstädten nur doppelt so groß. Ungefähr 4 0 % der Körperverletzungen und Notzuchtsfälle geschehen in Tabelle 2 Das Ausmaß des mehrfachen Opferwerdens Prozent Haushalte mit keiner Viktimisierung einer Viktimisierung zwei Viktimisierungen vier und mehr Viktimisierungen Insgesamt

72 19 2 1 100%

Ν = 3296 Quelle: Philip H. Ennis: Criminal victimization in the United States. Washington D. C. 1967, S. 40. der Wohnung des Opfers. Etwa 4 5 % aller schweren Delikte gegen die Person wurden durch irgend jemanden begangen, der dem Opfer bekannt war. Niemals Opfer wurden 7 2 % der Befragten; vier und mehr Viktimisierungen erlebte 1 % der Probanden (vgl. Tabelle 2). Die Hälfte der Fälle des Opferwerdens wurde der Polizei nicht berichtet. Mehr als die Hälfte der Opfer (55%) hat ein negatives Bild von der Effektivität der Polizei. Ein Drittel der Opfer war der Meinung, das Ereignis gehöre nicht vor die Polizei, und nur kleine Prozentsätze von Opfern fühlten sich zu furchtsam ( 2 % ) oder zu apathisch (9%), um die Polizei zu rufen (vgl. Tabelle 3). Die Entscheidung des Opfers, das Delikt der Polizei anzuzeigen, wird auf eine Berechnung der Vorteile, die die Anzeige bietet, und der Nachteile gegründet, die sie verursacht. Die Vor- und

Viktimologie Tabelle 3 Die bedeutsamsten Gründe für die Nichtanzeige bei der Polizei Prozent Art des Grundes 1. Es ist keine Angelegenheit für die Polizei 2. Furcht vor Bestrafung 3. Weigerung aus persönlichen Gründen 4. Die Polizei würde nicht effektiv sein

34 2 9 55 100%

N = 906 Quelle: Philip H. Ennis: Criminal victimization in the United States. Washington D. C. 1967, S. 45. Nachteile können nach den jeweiligen Typen der Verbrechen, der Opfer und der Situationen unterschiedlich sein. Von 190 Körperverletzungen, die Richard Block (1974) untersuchte, wurden der Polizei 56% angezeigt. 45% aller Opfer von Körperverletzungen, die die Delikte der Polizei nicht meldeten, gaben als wichtigsten Grund für ihre Nichtanzeige an, daß das Ereignis eine private Angelegenheit sei. Ein sehr viel kleinerer Prozentsatz erwähnte die Ineffektivität der Polizei als wichtigsten Grund für ihre Nichtanzeigeentscheidung. 44% der Fälle, in denen Beziehungen zwischen Opfer und Täter bestanden, wurden der Polizei nicht angezeigt. Dagegen wurde die Polizei in 66% der Fälle benachrichtigt, in denen Opfer und Täter einander fremd waren. Je enger die Beziehung zwischen Täter und Opfer ist, desto weniger ist das Opfer geneigt, die Straf-

539

tat anzuzeigen. Je mehr das Opfer in den Rechtsbruch verwickelt ist, desto weniger ist es bereit, die Polizei zu informieren. Je höher die soziale Schicht des Opfers ist, desto weniger ist es geneigt, die Polizei von dem Rechtsbruch zu benachrichtigen, durch den es verletzt worden ist. Eine Befragung nach Erfahrungen von Opfern von Sexualdelikten führte Berl Kutschinsky (1972) in Dänemark durch. Es wurden 198 Männer und 200 Frauen mit Erfolg zu Hause aufgesucht. Sie wurden sowohl in einem Gespräch befragt als auch gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. 94 % dieser Befragungen wurden am 8. Dezember 1969 zwischen 6 und 21 Uhr von etwa 100 vorbereiteten Studenten durchgeführt. Die Interviews dauerten zwischen 25 Minuten und einer Stunde. Zweiundfünfzig Männer (26%) und 121 Frauen (61%) berichteten von mindestens einer Erfahrung „dieser Art". Vierzehn Männer (7%) und 35 Frauen (18%) erwähnten zwei Fälle. Die Männer nannten insgesamt 66 Fälle. Davon wurden vier (6%) der Polizei berichtet. Die Frauen gaben insgesamt 156 Fälle an. Von diesen wurden 29 (19%) angezeigt. Was eine Person als kriminell betrachtet, wird von einer anderen nicht einmal für erwähnenswert gehalten. Außerdem ist das Gedächtnis nicht immer zuverlässig. Was eine Person behält, wird von einer anderen vergessen. Je weiter man zeitlich zurückgeht, um so größer wird dieses Gedächtnisproblem. Schließlich wurde eine Reihe von Fällen ausgelassen, weil die Befragten es zu peinlich empfanden, darüber zu sprechen. Das Dunkelfeld für geringfügige Sexualdelikte ist äußerst hoch. Kutschinsky versuchte in seiner Umfrage, ein ungefähres Bild des „Schwellen- und Grenzgebietes" in der gegenwärtigen öffentlichen Meinung über Sexualdelikte zu erhalten. Zu diesem Zweck wurden den Befragten acht verschiedene Arten sexueller Belästi-

Tabelle 4 Definition sexueller Vergehen Beschreibung

Männer

Frauen

Insgesamt

Unzüchtige Berührung 4j ähriger Mädchen Zärtlichkeit mit 16jähriger Tochter Durch den Briefkastenschlitz gucken Exhibitionismus im Park Obszöner Anruf bei Frau Brust einer Frau in der Straßenbahn berühren Koitus (mit Zustimmung) mit 16jährigem Mädchen Vergewaltigung nach erlaubten Zärtlichkeiten

92% 68% 60% 57% 49% 46% 33% 17%

93% 68% 47% 48% 30% 32% 31% 9%

93% 68% 53% 52% 40% 39% 32% 12%

Anzahl der Befragten

198

200

398

Quelle: Berl Kutschinsky: Pornographie und Sexualverbrechen. Köln 1972, S. 97.

Viktimologie

540

gung beschrieben. In jedem Fall wurden die Befragten gebeten, zu sagen, ob nach ihrer persönlichen Meinung die Handlung als kriminell anzusehen sei oder nicht. Zwischen ein Drittel und zwei Drittel der Befragten betrachteten diese Vergehen als „kriminelle Handlung". Eine Tat liegt unter der Grenze, nämlich: „Ein Mann vergewaltigt eine Frau, die kurz vorher zudringliche Zärtlichkeiten erlaubt hat." Nur eine kleine Minderheit, 12% der Befragten, sahen darin eine kriminelle Handlung. Am anderen Ende der Skala findet sich: „Ein Fremder nimmt ein vierjähriges Mädchen mit in den Keller und berührt es zwischen den Beinen." Es herrscht beinahe völlige Übereinstimmung, daß dies eine kriminelle Handlung darstellt. Sie liegt über der „Schwelle" (vgl. zu den Einzelheiten Tabelle 4). Ein Vergleich zwischen Männern und Frauen ergibt im großen und ganzen eine stärkere Tendenz zur Duldsamkeit bei den Frauen. Sie waren nachsichtiger als die Männer, wenn es

angegeben. 40% der Frauen und 33% der Männer erklärten, eine tolerantere Einstellung gegenüber Sexualverbrechen zu haben als früher. Der von der dänischen Polizei registrierte Rückgang des Exhibitionismus in den letzten zehn Jahren kann ganz durch die Veränderung der öffentlichen Einstellung diesem Delikt gegenüber erklärt werden. Auch die Unzucht mit Kindern (Mädchen) ist in Kopenhagen seit 1965 stark zurückgegangen (vgl. Schaubild 1). Dieser Rückgang wird ebenso wie der des Exhibitionismus und des Voyeurismus von Kutschinsky mit der allgemeinen Verfügbarkeit pornographischer Schriften in Dänemark seit 1965 erklärt: Der heterosexuelle Täter von Delikten an Kindern ist sehr verschieden von dem Täter, der sich gegen Frauen vergeht. Der letztere ist dreist und oft erfolgreich bei Frauen, kurz ein Draufgänger, der erstere schüchtern und erfolglos. Der „Kindertäter" ist oft „moralistisch und konservativ". Er ist zumeist älter, sehr oft ohne

Schaubild 1 Entwicklung des Delikts der Unzucht mit Mädchen in Kopenhagen von 1959 bis 1969 100 90.. 80.. 70.. 60.. 50.. 40.. 30.. 20. .

10__ 0

_ 1959 60

61

Η 62

1 63

64l·

65

I 66

J_ 67

1 68 69

Quelle: Berl Kutschinsky: Pornographie und Sexualverbrechen. Köln 1971, S. 125. sich bei den Opfern um erwachsene Frauen handelte, d. h. wenn sie selbst Opfer hätten sein können. Dieser Umstand deutet darauf hin, daß die Anzeigebereitschaft der Frauen geringer ist, was sich deshalb stark auswirkt, weil Frauen vor allem Opfer von Sexualstraftaten werden. Als Grund für die Nichtanzeige wurde hauptsächlich bei Sexualstraftaten Nebensächlichkeit und Ungefährlichkeit (61% der Männer, 56% der Frauen)

Vorstrafen und regelmäßig sozial und sexuell verarmt. Nur zu einem kleinen Teil (einem Viertel bis einem Drittel) sind die „Kindertäter" echte Pädophile. Für die Mehrheit der Täter ist das sexuelle Vergehen an Kindern kein begehrenswertes Ziel, sondern ein armseliger und schwer bedauerter und bereuter Ersatz für ein bevorzugtes, aber unerreichbares normales heterosexuelles Erlebnis. Mit der allgemeinen Zugänglichkeit zu

Viktimologie pornographischen Schriften tauschen die potentiellen Täter einen armseligen Notbehelf (Unzucht mit Kindern) gegen einen anderen armseligen Ersatz (Anschauen pornographischer Bilder und Masturbation), der allerdings nicht kriminell und der harmlos ist. Pornographie kann also bestimmte Typen von Sexualverbrechen, vor allem an Kindern, vermindern. Das kriminelle Opferwerden in einer Kleinstadt (Lincoln) im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten haben Nancy J. Beran und Harry E. Allen (1973) untersucht. Sie wandten die Methode der teilnehmenden Beobachtung an und führten fünf Jahre lang Interviews durch. Die Bevölkerung von Lincoln betrug 11 250 in einem County (Kreis) von etwa 30 000 Einwohnern. Die Bürger von Lincoln beschreiben ihre Stadt als netten ruhigen nachbarschaftlichen Ort, in dem jeder jeden kennt und fast jeder mit jedem spricht. Der Fremde, der die Stadt besucht, ist beeindruckt durch die ruhige Gangart des Lebens und die entspannte Lebensqualität, durch die Frische der klaren Luft, durch die große Zahl der stattlichen Bäume und die tiefe Stille. Der Protestantismus ist in der Bevölkerung vorherrschend. Der Hauptteil des Kriminalitätsproblems in Lincoln besteht aus Vandalismus, kleinen Diebstählen und Delikten, die mit Alkoholkonsum in Zusammenhang stehen. Das Hauptproblem ist Jugendkriminalität. Im Jahre 1970 wurden 47% der Delikte in Privathaushalten und 36% der Straftaten in Geschäften, die Beran und Allen berichtet wurden, auch der Polizei angezeigt. Die Anzeigerate betrug insgesamt 44%. Im Jahre 1971 wurden 53% der Delikte in Privathaushalten und 27% der Delikte in Geschäften der Polizei ebenfalls berichtet. Die Anzeigerate betrug 42%. In beiden Jahren standen in den Privathaushalten folgende Straftaten an der Spitze: grober Unfug, Brandstiftung und kleine Diebstähle. Ferner waren Verkehrsdelikte und Konsumentenbetrug in Lincoln sehr verbreitet. Die Gründe für die Nichtanzeige der Delikte waren: Das Problem konnte in anderer Weise gelöst werden. Die Polizei konnte und wollte nicht eingreifen. Es handelte sich um ein einfaches geringfügiges Delikt, dem die Leute keine Bedeutung beimaßen. Sowohl im Jahre 1970 wie auch im Jahre 1971 fühlten sich die Einwohner von Lincoln im allgemeinen sehr sicher in ihrer Stadt zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Rauschgiftproblem war dort in den Jahren 1970 und 1971 sehr unbedeutend. Die bisher referierten empirischen Opferstudien bezogen sich nur auf natürliche Personen und Erwachsene. Den ökonomischen Verlust in der Wirtschaft hat das „US Department of Commerce" für die Vereinigten Staaten sachgemäß zu schätzen versucht (US Senate 1972, S. 361—394). Die Einbußen, die der Wirtschaft im Jahre 1971 durch Delikte wie Einbruch, Raub, Vandalismus,

541

Laden- und Angestelltendiebstahl und Brandstiftung entstanden sind, beliefen sich auf rund 16 Milliarden US-Dollar. Es entfielen hierbei auf Einzelhandelsgeschäfte 4,8 Milliarden, auf Herstellerfirmen 1,8 Milliarden, auf den Großhandel 1.4 Milliarden, auf Dienstleistungsbetriebe wie Hotels 2,7 Milliarden, auf Transportunternehmen 1.5 Milliarden, auf Brandstiftungen in allen Bereichen der gewerblichen Wirtschaft 0,2 Milliarden und auf Kosten für Vorbeugemaßnahmen gegen Kriminalität 3,3 Milliarden. Die Verluste wegen Betrugs mittels Kreditkarten werden vorsichtig mit 140 Millionen US-Dollar angegeben. Zwischen 1960 und 1970 nahm im Bereich der gewerblichen Wirtschaft die Zahl der Einbrüche um 142%, der Raubüberfälle um 224% und der Diebstähle um 245% zu. Die Raubüberfälle auf Banken stiegen sogar um 409%, auf Filialen von Lebensmitteleinzelhandelsketten um 389%, auf Tankstellen um 230% und auf Handelsunternehmen um 144%. Die Ladendiebstähle wuchsen zwischen 1960 und 1970 um 221%. Sie ereigneten sich in Vorstädten und ländlichen Gebieten in etwa derselben Häufigkeit wie in großen Städten. Dasselbe galt für den Scheckbetrug. Die Fluggesellschaften verloren jährlich etwa 28 000 Flugscheine, die ihnen entwendet oder unterschlagen wurden. An Vorbeugungsmaßnahmen wurden im Bereich der gewerblichen Wirtschaft ergriffen: das Anbringen von Schlössern, Eisengittern, Spiegeln, Beleuchtungs-, Alarm- und Fernsehsystemen, das Einstellen von privaten Wachleuten und Detektiven und das Mieten oder Kaufen von gepanzerten Fahrzeugen. Die privaten Wachleute und Detektive besitzen zu zwei Dritteln keine Fachausbildung und zu 60% keinerlei Schußwaffentraining. Die Repräsentanten der Versicherungsgesellschaften beschweren sich darüber, daß Geschäftsleute nicht einmal die geringsten Vorkehrungen gegen Raub und Einbruch treffen, wenn sie erst einmal versichert sind. Mit der Viktimisierung von Jugendlichen beschäftigen sich William H. Feyerherm und Michael J. Hindelang (1974). Sie untersuchten eine Stichprobe in einer „High School" einer städtischen Gemeinschaft mit einer Bevölkerung von 85 000 in einem Staat der Ostküste der USA. Sie erhielten 1143 ausgefüllte Fragebogen zurück. Die männlichen Befragten hatten einen Altersdurchschnitt von 16,3, die weiblichen einen von 16,1 Jahren. 89% der männlichen und 99% der weiblichen Probanden waren weiße Jugendliche. 3% der Väter oder der Haushaltungsvorstände der Befragten waren arbeitslos, 31% waren ungelernte oder angelernte Arbeiter, 47% Facharbeiter oder Angestellte, und 19% hatten einen Prestigeberuf. Die Probanden wurden bezüglich ihrer Viktimisierung in 5 Gebieten befragt: ob ihnen Eigentum gestohlen, ob ihnen Eigentum zerstört, ob ihnen Eigentum durch Gewalt weg-

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Viktimologie

genommen worden sei, ob sie bedroht und ob sie geschlagen worden seien. Es zeigte sich, daß im Vergleich zu den weiblichen Probanden ein etwas größerer Anteil der männlichen Befragten über Opferwerden berichtete. Während 51% der männlichen Versuchspersonen angaben, daß ihnen persönliche Artikel gestohlen worden seien, meldeten 44% der weiblichen Befragten dasselbe Delikt. 26% der männlichen Probanden, aber nur 11% der weiblichen antworteten, daß sie geschlagen worden seien. Unter den männlichen und weiblichen Befragten gab der größte Prozentsatz an, daß er durch Diebstahl mehr noch als durch Bedrohung, Sachbeschädigung, Körperverletzung oder Raub viktimisiert worden sei. Während ungefähr die Hälfte der männlichen und weiblichen Befragten anzeigten, daß ihnen Eigentum entwendet worden sei, berichteten nur 12% der männlichen und 5% der weiblichen Befragten, daß ihnen Eigentum durch Gewalt weggenommen worden sei. Die Viktimisierung jeder der 5 Typen wies keinerlei Beziehung zum Beruf des Vaters der Befragten auf. Diebstahl von persönlichen Artikeln wie Fahrrad, Radio, Bücher gaben 52% der männlichen Befragten und 43% der weiblichen an. Über Zerstörung persönlicher Artikel (nicht durch einen Unfall) berichteten 28% der männlichen Versuchspersonen und 19% der weiblichen. Etwas mit Gewalt genommen worden war 12% der männlichen Befragten und 5% der weiblichen. Bedroht worden durch ein Individuum oder durch eine Bande waren 34% der männlichen Versuchspersonen und 25% der weiblichen. Geschlagen worden waren durch ein Individuum oder eine Bande (nicht unter Einschluß der Streitigkeiten zwischen Brüdern und Schwestern) 26% der männlichen Befragten und 11% der weiblichen. Im Vergleich hierzu ermittelte Philip H. Ennis (1967 a) im Hinblick auf eine repräsentative Stichprobe von Erwachsenen für die USA folgendes: Diebstahl von Artikeln, die weniger als 50 US-Dollar wert waren, wurde am meisten berichtet: 1458 Angaben auf 100 000 Einwohner. An zweiter Stelle stand grober Unfug mit 1061 Meldungen auf 100 000 Einwohner und an dritter Stelle einfache Körperverletzung mit 394 Delikten auf 100 000 Einwohner. Nur eine Minderheit von männlichen (29%) und weiblichen (40%) Jugendlichen ist nach der Studie von Feyerherm und Hindelang kein Opfer einer der 5 Delikte geworden. Für männliche Befragte gilt folgendes: keine Viktimisierung 29%, eine Viktimisierung 34%, 2 Viktimisierungen 24%, 3 Viktimisierungen 12% und Viktimisierungen 2%. Weibliche Befragte erlitten keine Viktimisierung zu 12%, eine Viktimisierung zu 35%, 2 Viktimisierungen zu 18%, 3 Viktimisierungen zu 5% und 4 Viktimisierungen zu 1%. Es zeigte sich ferner, daß für kein Delikt mehr als eines von dreien zur Kenntnis der Polizei

kam. Die Prozentsätze der Viktimisierungen, die der Polizei gemeldet worden sind, waren nach Delikt und Geschlecht bei Diebstahl persönlichen Eigentums: männliche Befragte 34%, weibliche 21%, bei Zerstörung persönlichen Eigentums: männliche Versuchspersonen 28%, weibliche 30%, bei Raub: männliche Befragte 17%, weibliche 12%, bei Bedrohung durch einen einzelnen oder eine Bande: männliche Befragte 11%, weibliche 15%, bei Körperverletzungen durch einen einzelnen oder eine Bande: männliche Probanden 17%, weibüche 27%. Unter den männlichen Befragten wurde der Polizei am häufigsten Diebstahl von persönlichem Eigentum (34%) und am wenigsten Bedrohung (11%) berichtet. Unter den weiblichen Versuchspersonen wurde am meisten der Polizei die Zerstörung von Eigentum (30%) und am wenigsten das Wegnehmen von Dingen durch Gewalt (12%) angezeigt. Die Daten, die Feyerherm und Hindelang ermittelt haben, legen nahe, daß die Viktimisierungen der Jugendlichen ziemlich verbreitet sind. Weniger als drei von 10 männlichen Befragten und 4 von 10 weiblichen Probanden berichteten, daß ihnen niemals persönliche Dinge gestohlen, zerstört oder gewaltsam genommen und daß sie weder bedroht noch geschlagen worden seien. Die übergroße Mehrzahl dieser Delikte wird nicht der Polizei gemeldet. Das Delikt, das für männliche und weibliche Befragte zusammen am häufigsten der Polizei angezeigt wird, nämlich die Zerstörung persönlicher Dinge, wird weniger als dreimal bei 10 Delikten der Polizei gemeldet. Im Interesse der kriminologischen Theorie und Praxis der sozialen Kontrolle sollten Opferbefragungen nicht die Polizeistatistiken über den Umfang und die Art der Kriminalität ersetzen. Sie sind vielmehr ständig notwendig als eine Ergänzung der Polizeizahlen. Wenn sowohl die Polizeidaten als auch die Daten aus den Opferbefragungen tabellarisch geordnet werden, kann die Information über den Unterschied zwischen den Daten genauso wertvoll sein wie die Orientierung über beide Datengruppen getrennt. Für ein Höchstmaß an wissenschaftlicher und praktischer Nützlichkeit sollten Opferbefragungen regelmäßig wiederholt werden, und zwar durch ein ständiges Personal und in standardisierter Form. Die laufenden Uniform Crime Reports des FBI in den USA und die Polizeilichen Kriminalstatistiken des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden sollten ebenfalls fortgesetzt werden. Auf diese Weise kann man durch Vergleiche der Ergebnisse Umfang und Struktur kriminalpolizeilicher Effektivität bestimmen. Hinsichtlich des Diebstahls fand Mary Owen Cameron (1964), daß die Geschäftsleute nur einen kleinen Teil der Ladendiebe anzeigen, die sie fassen. Es ist wahrscheinlich, daß sie niemals die große Zahl der Ladendiebstähle gewahr werden, die in ihren Geschäften verübt

Viktimologie werden. Die NORC-Zahlen zeigen an, daß ein Notzuchtsfall auf 1250 Frauen im Jahr entfällt. Die FBI-Zahlen machen deutlich, daß ungefähr ein Notzuchtsfall auf 4300 Frauen kommt. Eine vertrauliche Befragung bei 291 Studentinnen einer Universität im Mittleren Westen der USA zeigte, daß nicht weniger als 15 Studentinnen aggressiven Versuchen der Ausübung des Geschlechtsverkehrs ausgesetzt waren, in deren Verlauf Drohung, Zwang und Schmerzzufügung eingesetzt wurden (Daniel Glaser 1974). Das Verhältnis der Verbrechen, die der Polizei angezeigt werden, ändert sich mit dem Verhältnis der angezeigten Verbrechen, die die Kriminalpolizei aufklärt: J e weniger Delikte die Polizei aufklärt, die ihr angezeigt werden, desto kleiner wird der Anteil der Delikte, der ihr gemeldet wird. Verbrechensaufklärung und Anzeigebereitschaft stehen also in einem Wechselwirkungsverhältnis. Mit erhöhter Anzeigebereitschaft und Verbrechensaufklärung wächst im Sozialprozeß die Strafverfolgungsintensität. J e kleiner die Anzeigebereitschaft und die Verbrechensaufklärung sind, desto geringer wird im Sozialprozeß die Strafverfolgungsintensität. J e erfolgreicher die Polizei mit dem Verbrechen fertig wird, desto größer wird der Anteil der Delikte, die ihr gemeldet werden. 2.

Opfertypologien

Typologien werden von den verschiedenen Wissenschaften nach ihren jeweils verschiedenen Bedürfnissen aufgestellt. Im wesentlichen gibt es phänomenologische, Deutungs- und Behandlungs-Typen. Die Aufstellung einer Typologie kann auf Intuition, auf klinischer Fallerfahrung und auf empirisch-faktorenanalytischer Untersuchung beruhen. Jede Typologie sollte Kategorien anbieten, die die Variablen erschöpfen, die zu berücksichtigen sind. Es sollte also kein Typ ausgespart bleiben. Die Kategorien sollten sich gegenseitig ausschließen, also sich nicht überschneiden. Die Typologie sollte entweder für die Praxis (Persönlichkeitserforschung zum Zwecke der Verbrechensverhütung oder der Behandlung des Rechtsbrechers) oder für die kriminologische Forschung nützlich sein. Typologien, die auf Intuition oder klinischer Fallerfahrung aufbauen, sind vorübergehende Hilfsmittel von höchst zweifelhaftem Wert. Sie können für gewöhnlich bis ins Unermeßliche variiert werden. Es sind unterschiedliche viktimologische Typologien entwickelt worden. Die Typologie von Hans von Hentig (1948) ist rein phänomenologisch. Er unterscheidet elf Kategorien: die Jungen (aufgrund ihrer Unerfahrenheit), die Frauen (aufgrund ihrer „Schwäche"), die Alten (aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Behinderung und ihres Altersabbaus), die geistig Kranken und Behinderten (Schwachsinn, Alkoholismus, Rausch-

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giftsucht, Drogenmißbrauch), die Immigranten, die Minderheiten und die dummen Normalen, die Depressiven (wegen einer Störung im Instinkt ihrer Selbsterhaltung), die Gewinnsüchtigen, die Wollüstigen, die Einsamen und diejenigen, deren Herz gebrochen ist (Verletzbarkeit, weil sie nach Gesellschaft suchen), die Quäler und die Blockierten. Die Immigranten sind meist mittellos und unerfahren in den Gewohnheiten des Landes. Den Quäler findet man oft in Familientragödien: Er tyrannisiert seine Familie, schlägt seine Familienmitglieder brutal zusammen, wenn er betrunken ist. Das blockierte Opfer ist so sehr in eine Verlustsituation verstrickt, daß ihm Verteidigungsmaßnahmen unmöglich geworden sind. Der zahlungsunfähige Bankier betrügt ζ. B. lieber, um seine Zahlungsunfähigkeit zu verbergen, als sie zuzugeben und sich helfen zu lassen. Die Typologie von Benjamin Mendelsohn (1956) richtet sich nach dem Ausmaß der Schuld. Es handelt sich also um eine Interpretationstypologie, weil das Kriterium „Schuld" ein metaphysisches, irrationales Merkmal ist, das der höchstpersönlichen Wertung unterliegt. Das vollständig unschuldige Opfer ist nach Mendelsohn ein „ideales" Opfer. Es handelt sich meist um Kinder und um Personen, die Verbrechen erleiden, während sie bewußtlos sind. Das Opfer mit geringer Schuld und das Opfer aufgrund von Unwissenheit stehen in Mendelsohns Rangordnung an zweiter Stelle. Als Beispiel wird die Frau erwähnt, die eine Fehlgeburt absichtlich herbeiführt und die ihre Handlung mit ihrem Leben bezahlt. Das Opfer, das so schuldig ist wie der Täter und das freiwillige Opfer stehen genau in der Mitte der Rangskala. Als Beispiel werden genannt: Eine Person wird auf eigenen Wunsch wegen eines unheilbaren und schmerzhaften Leidens getötet. Unglücklich Liebende begehen „Doppelselbstmord". Der Typ des Opfers, das schuldiger ist als der Täter, besitzt zwei Untertypen: das provozierende Opfer und das unkluge Opfer, das jedermann veranlaßt, ein Verbrechen an ihm zu begehen. Das am meisten schuldige Opfer und das Opfer, das allein schuldig ist, sind aggressive Persönlichkeiten. Hier wird als Beispiel der Angreifer angeführt, der von dem Angegriffenen in Selbstverteidigung getötet wird. Das heuchelnde, vortäuschende Opfer und das eingebildete Opfer sind Personen, die die Strafrechtspflege irreführen, um eine Verurteilung gegen eine angeklagte Person zu erreichen. Dieser Typ umfaßt paranoide, hysterische und senile Personen und Kinder. Die Typologie von Ezzat A. Fattah (1967) besitzt fünf Kategorien. Es handelt sich ebenfalls um eine Deutungstypologie, da eine persönliche Beurteilung zur Einstufung im Einzelfall notwendig ist. Das nichtteilnehmende Opfer hat zwei unterschiedliche Merkmale: die Einstellung der Verneinung oder des Widerwillens gegen Tat und

544

Viktimologie

Täter und einen mangelnden Tatbeitrag an der Verursachung der Straftat. Das latente oder prädisponierte Opfer neigt wegen besonderer Empfänglichkeit und bestimmter Charakterzüge mehr als andere dazu, Opfer bestimmter Typen von Straftaten zu werden. Es tendiert ebenfalls danach, mehrmals wegen derselben Tat geopfert zu werden. Das provozierende Opfer spielt eine bestimmte Rolle in der Entstehung des Verbrechens, und zwar entweder dadurch, daß es den Straftäter anregt, den Rechtsbruch zu begehen, oder dadurch, daß es eine Situation erzeugt oder begünstigt, die zu einem Delikt führt. Dieser Opfertyp provoziert das Verbrechen durch seine eigenen Handlungen. Das teilnehmende Opfer macht bei der Verbrechensbegehung dadurch mit, daß es eine positive Einstellung zum Verbrechen einnimmt oder daß es das Delikt möglich macht oder erleichtert oder daß es dem Kriminellen in anderer Weise behilflich ist. Das falsche Opfer ist eine Person, die nicht wirklich das Opfer eines Verbrechens wird, das durch eine andere Person begangen worden ist. Es ist überhaupt kein Opfer, oder es ist ein Opfer aufgrund seiner eigenen Handlungen. Fünf Kategorien hat auch die Opfertypologie von Thorsten Sellin und Marvin Ε. Wolfgang (1964 vgl. auch Marvin Ε. Wolfgang 1967), die im Schwerpunkt gleichfalls eine Deutungstypologie ist. Dem primären Opferwerden unterliegt ein personalisiertes oder individuelles Opfer, das unmittelbar angegriffen oder in einer Angesichtzu-Angesicht-Situation durch eine Straftat verletzt oder bedroht worden oder dessen Eigentum gestohlen oder beschädigt worden ist. Sekundäres Opferwerden bezieht sich auf Einrichtungen wie Geschäfte, Eisenbahnen, Theater und Kirchen. Das Opfer ist unpersönlich, hat oft einen kommerziellen Zweck und ist kollektiv. Tertiäres Opferwerden umfaßt Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, gegen die soziale Harmonie und gegen Staat und Regierung. Die Kategorie des gegenseitigen Opferwerdens enthält die Fälle, in denen die Teilnehmer bei gegenseitigen übereinstimmenden Handlungen mitmachen, ζ. B. Ehebruch, Verführung Minderjähriger. Kein Opferwerden wird für eine Kategorie benutzt, die von Erwachsenen nicht begangen werden kann (Weglaufen von Zuhause, Schuleschwänzen). Die Kategorien, die in von Hentigs Typologie erscheinen, sind weder erschöpfend noch schließen sie sich gegenseitig aus. Man kann sich leicht Fälle vorstellen, in denen sich die Kategorien überschneiden, ζ. B. alte, depressive und gewinnsüchtige Opfer. Zu Mendelsohns Typologie ist kritisch zu bemerken, daß Schuld niemals so definiert werden kann, daß Praktikern oder Forschern Richtlinien für die Bewertung gegeben werden können. Diese Typologie behandelt im übrigen nur persönliche individuelle Opfer. Fattahs Typo-

logie ist nicht erschöpfend. Sie kann nur bei Delikten gegen Personen verwandt werden. Nach Ansicht von Robert A. Silverman (1974) ist allein die Typologie von Sellin—Wolfgang geeignet, weiterentwickelt zu werden. Gegenseitiges Opferwerden ist die klarste aller Kategorien. Sie bezieht sich auf übereinstimmende Handlungen, die kaum entdeckt und fast nie angezeigt werden. Das einzige Problem ist, zu bestimmen, wer bei diesen übereinstimmenden Handlungen das Opfer ist. Denn alle Täter sind gleichzeitig Opfer (TäterOpfer). Die tertiäre Kategorie wird von einer amorphen Gruppe von Delikten gegen die öffentliche Ordnung gebildet. Das Gesetz gegen Rauschgiftkonsum soll davor schützen, sich selbst zum Opfer zu machen. Es zielt ferner darauf ab, daß die Gesellschaft nicht durch die Rauschgiftsüchtigen belästigt wird oder daß sie die Gesellschaft nicht finanziell belasten und ihr so zur Last fallen. Es stigmatisiert freilich auch eine Minderheitsgruppe. Die Gesetze, die den Besitz von Waffen betreffen, sollen die Öffentlichkeit vor dem möglichen Gebrauch solcher Waffen schützen. Ähnliches gilt für den Besitz von Diebeswerkzeug und das Fahren unter Alkoholeinfluß. Sekundäres Opferwerden schließt ein gemeinschaftliches organisatorisches Opfer (ζ. B. die Kirche) oder ein Unternehmensopfer ein, das in privatem oder öffentlichem Eigentum steht. Die Delikte beziehen sich meist auf den Entzug oder die Beschädigung von Eigentum oder auf die Kombination beider. Es gibt im wesentlichen zwei Möglichkeiten, zwischen den verschiedenen Typen des sekundären Opferwerdens zu differenzieren. Eine Art ist nach der Größe des Unternehmens. Ein anderer Weg ist die Unterscheidung nach der Täter-OpferBeziehung. Der Täter kann die Straftat begangen haben, weil er den Eigentümer nicht mag oder weil die Organisation etwas repräsentiert, was er anzugreifen wünscht. Ein großes Geschäft kann vom Täter einfach deshalb ausgewählt worden sein, weil es ein unverhältnismäßig leichtes Ziel darstellt. Kleine Geschäfte können Opfer werden, weil sie sich in der Nachbarschaft befinden, weil man leicht in sie einbrechen kann und weil der Täter weiß, wo der Eigentümer sein Geld aufbewahrt (Gesichtspunkt der sozialen Sichtbarkeit). Man muß also zunächst bestimmen, ob der Angriff auf ein Individuum in einer Organisation abzielt, ob er auf die Organisation selbst oder einfach auf das Eigentum an sich gerichtet ist. Das Wissen über die Täter-Opfer-Beziehungen gibt auf diese Weise Aufschluß über und Einsicht in die Motivationen der Täter. Primäres Opferwerden kann man in zwei Kategorien unterteilen. Bei einer Viktimisierung Angesicht-zu-Angesicht hat das Opfer mindestens visuellen Kontakt mit dem Täter während der Tat. Der Gesicht-zuGesicht-Kontakt fehlt bei der zweiten Unterkategorie. Angesicht-zu-Angesicht Viktimisierun-

Viktimologie gen verursachen der Öffentlichkeit am meisten Furcht vor dem Opferwerden. Das Individuum, das eine Straße hinuntergeht, trägt gleichsam sein „höchstpersönliches Territorium" mit sich. Ein Kassierer in einer Bank kann von Angesichtzu-Angesicht beraubt werden, aber er verliert kein persönliches Eigentum. Wenn der Kassierer verletzt wird, ist die Angelegenheit schwieriger. Denn die Verletzung richtet sich gegen ihn als Individuum, der Raub gegen die Bank, deren Kassierer er ist. Es ist für die Verbrechensvorbeugung wichtig, zu wissen, warum der Täter eine bestimmte Bank und warum er einen bestimmten Kassierer auswählt (vgl. zu dieser Modifikation der Opfertypologie von Sellin—Wolfgang: Robert A. Silverman 1974). Die Hauptmängel aller bisher entwickelten Opfertypologien liegen darin, daß sie nicht auf empirisch-faktorenanalytischer Grundlage ruhen. Außerdem ist ihr Nutzen für die Persönlichkeitserforschung zum Zwecke der Verbrechensverhütung und der Behandlung des Rechtsbrechers nicht ohne weiteres zu erkennen. Für die kriminologische Forschung sind die bisher ausgedachten Opfertypologien nicht verwendbar. Ein Persönlichkeitstypus ist ohnehin ein recht fragwürdiger Begriff. Denn er ist für die praktische wie die wissenschaftliche Anwendung zu abstrakt und zu statisch. Dynamische Typologien könnten unterschiedliche „typische" Verlaufsformen von Opferkarrieren und Grundgestalten von Opferpersönlichkeiten herausarbeiten. 3. Opfereignung

und

-neigung

„Unter den biologischen Gründen, die die Opferanfälligkeit bedingen, steht unter anderem

545

die lenkende Kraft der latenten und dominierenden Erbfaktoren" (Rudolf Gasser 1965, S. 56; ähnlich bereits Hans von Hentig 1948, S. 385, der von einem „geborenen Opfer" spricht). Diese Behauptung ist empirisch-viktimologisch unbegründbar. Es gibt keine Erbfaktoren, die für Opfereignung und -neigung empfänglich machen. Ebenso empirisch-viktimologisch unbewiesen sind Feststellungen, Männer oder Frauen bestimmter Altersgruppen oder bestimmter Konstitutionstypen seien besonders opferanfällig für ein bestimmtes Delikt (so Edgar Lenz 1961, S. 131). Schließlich kann man nicht davon ausgehen, Frauen seien schon wegen ihrer biologischen Eigenart opferanfälliger. Es trifft nicht zu, „daß allein das von der Natur gegebene Geschlecht eine Opferfähigkeit für bestimmte Delikte verleihen oder verhindern kann" (so aber Heinz Schülert 1965, S. 152). Diese Aussage kann durch die viktimologisch-empirische Forschung nicht belegt werden. Individuelle, näher zu beschreibende Sozialprozesse führen zur Viktimisierung. Zunächst sind in der Regel die niedrigsten Einkommensschichten vom Opferwerden am meisten betroffen (President's Commission 1967, S. 38/39). Zwei Drittel aller Opfer von Gewaltdelikten in London waren ungelernte und nicht ständig beschäftigte Arbeiter oder deren Frauen (F. H. McClintock 1963, S. 45). Opfer von Notzucht, Raub, schwerer Körperverletzung und Einbruch sind vor allem Angehörige der Unterschichten (vgl. Tabelle 5). Bei Diebstahl über 50 US-Dollar werden allerdings die besser Verdienenden häufiger zu Opfern (vgl. Tabelle 5). Daß Personen mit bestimmten Berufen (ζ. B. Kellnerinnen, Bardamen, Taxifahrer, Geld-

Tabelle 5 Opfer nach Einkommensschichten in den USA (Zahlen auf 100 000 Einwohner) Einkommen Delikte 0 bis 2999 US S

3000 nis 5999 US $

6000 bis 9999 US $

über 10 000 US $

Delikte insgesamt

2369

2331

1820

2237

Notzucht Raub Schwere Körperverletzung Einbruchsdiebstahl Diebstahl (über 50 US J) Autodiebstahl

76 172 229 1319 420 152

49 121 316 1020 619 206

10 48 144 867 549 202

17 34 252 790 925 219

Anzahl der Befragten

5232

8238

10 382

5946

Quelle: President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice (Hrsg.): The challenge of crime in a free society. Washington D. C. 1967, S. 38.

36 HdK, 2. Aull., Bd. III

546

Viktimologie

briefträger, Polizeibeamte) oder in bestimmten körperlichen und seelischen Zuständen (ζ. B. Konditionsschwäche, mangelnde physische und psychische Widerstandskraft gegen Verbrechen) oder in bestimmten Lebensaltern (ζ. B. kindliche Unerfahrenheit, jugendlicher Wagemut, physische und psychische Schwäche aufgrund von Altersabbau) außerordentlich opferanfällig für bestimmte Delikte sind, liegt weniger an den Berufen, den körperlichen und seelischen Zuständen und den Lebensaltern für sich als vielmehr am bedeutsamen Stellenwert dieser Faktoren in bestimmten Sozialprozessen. Auch einsame Depressive, alleinstehende Einzelgänger, sozial isolierte, realitätsferne Sonderlinge, zugezogene Neulinge und sozial Engagierte sind nur wegen ihrer Rollen, die sie in Sozialprozessen spielen, als Verbrechensopfer geneigter. Das Verlangen nach sexuellem Vergnügen und darüber hinaus die sexuellen Abweichungen wie Homosexualität erhöhen das Risiko des Opferwerdens. Charakterfehler wie Bestechlichkeit und Geldgier und Persönlichkeitszüge wie Leichtsinnigkeit, Vertrauensseligkeit und übertriebenes Mißtrauen sind Elemente, die die Wahl der Opfer durch Gewalttäter mitbestimmen. Alkoholkonsum hat gleichfalls eine wesentliche Bedeutung im Sozialprozeß des Opferwerdens. E r mindert die physischen und psychischen Hemmungen. Er führt zum Verlust der Übersicht über das eigene Verhalten, zur Verkennung der Umgebung, zu Streitereien und Prahlereien, zu sexueller Erregbarkeit und zur Verminderung der Kritikfähigkeit des Opfers. Schließlich ist die Prostituierte eine opfergeneigte Person. Denn sie lebt in gefährlichen sozialen Lagen. Der normale Bürger meidet in der Nacht dunkle, abseitige Stadtgebiete und den Kontakt mit Fremden in diesen Bezirken zu dieser Zeit. Prostituierte sind nicht nur bösartigen Angriffen von Mitbewerberinnen und deren Zuhältern ausgesetzt, sondern sie nehmen auch in abgelegenen Stadtgebieten Fremde während des Abends und der Nacht mit nach Hause, um Geschlechtsverkehr mit ihnen zu haben. Hier kann für die Prostituierte eine außerordentlich leicht verletzbare soziale Situation entstehen (so schon Hans von Hentig 1948, S. 430). Die neuzeitliche Mode, das raffiniert Verhüllend-Enthüllende der Kleidung der Frauen und Mädchen, kurzer Rock und kurze Hose, mögen weiblicher Eitelkeit und weiblichem Selbstbestätigungsdrang dienen und für den „Normalmann" einen durchaus erfreulichen Anblick bieten. Sie sind für potentielle Sexualstraftäter aber gleichzeitig oft provozierend und nicht selten auslösend für eine Sexualstraftat. Kindliche Opfer von Sexualdelikten sind ungewöhnlich an Sexualität interessiert. Sie kommen meist aus niedrigen sozioökonomischen Schichten und aus Familien, die funktional desorganisiert sind

(Seymour L. Halleck 1965). Das Kind wird vernachlässigt, und die angemessene Aufsicht fehlt. Opfer sind oft Kinder, die in der Vergangenheit Verhaltensschwierigkeiten gezeigt haben. Es ist die Zerstörung des Familienlebens, ζ. B. ehelicher Streit und Zerfall der Eltern-Kind-Beziehungen, die das Kind am meisten als Opfer von Sexualdelikten anfällig macht. Die Mädchen haben im allgemeinen eine schlechte Triebkontrolle, die zurückzuführen sein mag auf Liebesentzug, Zurückweisung und Unbeständigkeit der MutterTochter-Beziehung. Die Hauptfaktoren, die das Ergebnis des Opferwerdens bestimmen, liegen in der vorhergehenden Persönlichkeitsentwicklung und in der Familiensituation zur Zeit des Ereignisses der Viktimisierung. Die meisten Mädchen kommen aus ernsthaft gestörten Elternhäusern. Familienuneinigkeit, Trennung und emotionale Entbehrung sind beständig vorhanden. Die Mädchen lernen auf ihrer Suche nach Liebe, Wärme, Anhänglichkeit und Unabhängigkeit, daß sie solche Befriedigungen nur durch sexuelle Beziehungen erreichen können. Die Familienhintergründe aller kindlichen Opfer sind insofern defekt, als ihre Eltern ihnen nicht genügend Liebe, Wärme und Sorge angedeihen ließen, elterliche emotionale Zuwendungen, die Kinder für ihre normale emotionale Entwicklung benötigen (Lauretta Bender 1965). Die kindlichen Opfer von Sexualdelikten sind sehr oft charmant, attraktiv, unterwürfig und verführerisch. Sie gewinnen schnell Kontakt zu Erwachsenen. Sie verwenden die Sexualhandlung, um ihre Eltern herauszufordern, um ein Gefühl der Unabhängigkeit entstehen zu lassen und um ihren Drang nach Zustimmung und Aufmerksamkeit zu befriedigen (LeRoy G. Schultz 1968). Die Bereitwilligkeit, mit der zehn- bis zwölfjährige Mädchen sich auf ein „sexuelles Abenteuer" einlassen, hat erheblich zugenommen. Die „unschuldige Naivität" eines pubertären Mädchens ist eine Seltenheit. 2 2 % der Kinder erkannten bereits bei der Kontaktaufnahme die Absicht des Täters und waren mit dem „Vorhaben" einverstanden (Polizeipräsident Düsseldorf 1974, S. 112). Nach Beobachtungen von Elisabeth Nau (1962, 1965) sind Einzelkinder und nicht sinnvoll in eine Gemeinschaft eingeordnete, kontaktgestörte Kinder aus disharmonischen Familienverhältnissen mit inkonsistenten Erziehungsmethoden und überlasteten oder charakterlich infantilen Müttern am gefährdetsten. Das tatsächliche sexuelle Verhalten, das bei Sexualstraftaten gegen Kinder oder Jugendliche stattfindet, variiert von leichten physischen Kontakten bis zu jeder Art von vaginalem Koitus. Zwischen diesen beiden Extremen liegt ein weites Gebiet möglichen Verhaltens. Die große Mehrheit der Sexualakte besteht aus derselben Art von Sexualspiel, das man unter präpubertären Kindern und Jugendlichen findet. Es ist nicht so, wie man in

Viktimologie populärer Weise annimmt, daß der Erwachsene seine Erwachsenenformen des Sexualverhaltens dem Kind aufzwingt. Geschlechtsverkehr und geschlechtsverkehrsähnliche Akte sind selten unter Sexualhandlungen mit Kindern. Solche Handlungen sind nicht nur in der Mehrheit der Fälle nicht ausführbar, sondern sie liegen auch oft nicht in der Absicht des Täters (Francine Watman 1974). Von März 1966 bis Februar 1970 hat Koichi Miyazawa (1973) im Bezirk des Polizeipräsidiums Tokio 46 Fälle von Heiratsschwindel untersucht. Fast zwei Drittel aller Opfer waren unter 30 Jahre alt. Geschlechtsverkehr wurde in den meisten Fällen (90%) am selben Tag, an dem sich Täter und Opfer kennenlernten, oder nach zwei bis drei Tagen aufgenommen. In 70% aller Fälle hat der Täter sein Opfer schon innerhalb von zwei bis drei Tagen nach dem Geschlechtsverkehr um ihr Geld betrogen. Die meisten Opfer waren Ladenoder Firmenangestellte, Krankenschwestern, Masseusen, Kabarett- oder Klubhostessen, also Mädchen und Frauen, die die Gefahren des modernen Großstadtlebens kennen sollten. Viele Täter waren arbeitslos oder beruflich nur unregelmäßig tätig. Sie stellten sich den Opfern jedoch als Fabrikinhaber, Ärzte oder Berufssportler vor, und die Opfer waren leicht zu überzeugen. In ihrem Wunsch nach intimen Kontakt mit einem zuverlässigen Partner ließen sich die jungen Mädchen und Frauen in Tokio mühelos täuschen. Sie gingen leicht ein sexuelles Verhältnis mit einem unbekannten Mann ein, der sie unter dem Druck der sexuellen Beziehung und unter einem Vorwand, ζ. B. eine Wohnung für ein gemeinsames Leben beschaffen zu wollen, nach kürzester Frist arglistig um ihr Geld brachte. Die Opfer wußten nicht einmal, welchen Beruf ihr Partner hatte, an welchem Arbeitsplatz er tätig war, wo er wohnte, und sie kannten meist auch seinen wirklichen Namen nicht. Moderne junge Mädchen und Frauen besitzen in Japan ein erstaunliches Maß an naiver Vertrauensseligkeit. 10% der Opfer von Gruppennotzucht, die Wilfried Rasch (1968) untersuchte, entstammten ungünstigem häuslichem Milieu. Meist handelte es sich darum, daß man den Eltern oder der alleinstehenden Mutter einen unmoralischen Lebenswandel nachsagen konnte. 10% der Opfer waren als sexuell zugänglich bekannt, bei 12% wurden von Seiten der Eltern über erhebliche Erziehungsschwierigkeiten geklagt. Gruppennotzucht ist in Sydney (Australien) durch zwei Typen gekennzeichnet (G. D. Woods 1969): ein emotional gestörtes, verhaltensschwieriges, oft unattraktives Mädchen mit regelmäßig niedriger Intelligenz sucht bei einer Jungengruppe Zuneigung und Beachtung. Oft willigt sie in sexuelle Akte frei ein; sie definiert diese Akte aus Furcht vor elterlichem Zorn aber dann nachträglich als durch die 35»

547

Jungen erzwungen und schaltet die Polizei ein. Der zweite Typ entspricht ganz dem Stereotyp der Massenmedien über Gruppennotzucht in Australien, kommt aber gegenüber dem ersten Typ in Wirklichkeit sehr selten vor: Eine Bande von Jungen in einem Auto zieht ein völlig schuldloses Mädchen von der Straße weg. Sie wehrt sich und hat in keiner Weise provokativ gehandelt. Ihre einzige „Provokation" bestand darin, daß sie in natürlicher Weise attraktiv war. Die sozialen Druckphänomene der gegenwärtigen Gesellschaft lasten auf der Familie und bestimmen die Qualität des Familienlebens. Opfer solcher Druckphänomene sind nicht selten Kinder, die körperlich und seelisch mißhandelt werden. Abgesehen vom hohen Dunkelfeld wird erst gegen Täter, die schon drei- bis viermal angezeigt worden sind, Anklage erhoben (Gustav Nass 1969). Die Täter sind im Beruf wenig erfolgreich. 50,0% der Väter und 28,3% der Mütter hatten Vorstrafen. Nur etwa 35% der wegen Kindesmißhandlung Angeklagten werden verurteilt. Die absolute Verurteilungszahl beträgt in der Bundesrepublik jährlich ungefähr 300. In den USA sollen 40 Fälle auf eine Million Einwohner kommen. Daten aus vier Großstädten der USA legen eine Schätzung zwischen 40 und 140 Fällen pro eine Million Einwohner nahe. Demgegenüber entfallen in Israel nur etwa 20 Fälle auf eine Million der Bevölkerung. Während die Gesellschaft gegenüber Unzucht mit Kindern auffallend intolerant ist, zeigt sie gegenüber Kindesmißhandlung eine erstaunliche Langmut, Gelassenheit, ja Indifferenz. Diesen Umstand mit eingängigen Schlagworten wie: „Streicheln ist gefährlicher als Schlagenl" zu kommentieren (Günther Kaiser 1970, S. 65), erhellt nicht viel. Es gilt vielmehr, herauszufinden, warum das System der sozialen Kontrolle so ist, wie es ist, warum die Bevölkerung unterschiedlich empfindlich gegenüber verschiedenen Normverstößen reagiert. Unsere Gesellschaft ist — aus ihrer Geschichte heraus — sexualfeindlich, aber aggressionsfreundlich. Dieser Mechanismus bedingt sich sogar gegenseitig. Der fast schrankenlose sexuelle Liberalismus der Gegenwart spricht nicht gegen eine Sexualfeindlichkeit unserer Gesellschaft. Sexualfreundlich ist eine Gesellschaft, in der Sexualhandlungen sozial integriert und innerhalb bestimmter sozialer Formen akzeptiert sind. Der fast schrankenlose sexuelle Liberalismus macht aber gerade eine nicht sozial integrierte Sexualität deutlich. Es ist ebenso falsch, eine bestimmte Deliktsform zu dramatisieren wie sie zu bagatellisieren. Günther Kaiser (1970, 1973) erklärt die Kindesmißhandlung mit dem, was er „AschenputtelSyndrom" nennt: Schwierige Kinder mit negativen Eigenarten, die ihren Eltern Veranlassung zu Mißhandlungen geben, sind unerfahrenen, über-

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Viktimologie

forderten Eltern ausgesetzt, die schwierigen Erziehungs- und Konfliktsituationen einfach nicht gewachsen sind (so 1970, S. 122; 1973, S. 300, 303/304). Das schwierige Kind befindet sich im „Trotzalter"; es will sich zur Sauberkeit nicht erziehen lassen. Es ist oft minderbegabt, debil. Bettnässen und Einkoten kommen vor. Das mißhandelte Kind ist trotzig und eigensinnig. Esverweigert die Nahrung, lügt, stiehlt, bringt schlechte Schulleistungen nach Hause, spielt an Geschlechtsteilen, ist unfolgsam, frech und streunt umher (Kaiser 1973, S. 300, 304). Die Erscheinung der „Rabenmutter" (Kaiser 1973, S. 300/301) ist verhältnismäßig selten. Nicht oft werden auch Kindesmißhandlungen aus „reiner Böswilligkeit" oder aus tief verwurzelter „Kinderfeindlichkeit" begangen, die als eine Erfindung massiver Gesellschaftskritik abgetan wird (Kaiser 1973, S. 296, 301). Günther Kaiser (1970, 1973) stellt hier zahlreiche Behauptungen auf, die empirischviktimologisch nicht nachgewiesen sind. Die Tendenz seiner Darstellungen der Kindesmißhandlung geht dahin, eher die Eltern zu rechtfertigen und die Kinder zu belasten, um das Delikt der Kindesmißhandlung ganz allgemein zu bagatellisieren. Dies liegt völlig im Sinne deutscher Tradition und steht in Übereinstimmung mit dem gegenwärtig ablaufenden Sozialprozeß. Günther Kaiser (1970, 1973) übersieht, daß Kinder überhaupt nicht belastbar sind. Die viktimologische Analyse der Kindesmißhandlung muß bei der Opferanfälligkeit bestimmter Kinder einsetzen. Es ist gerade das sozial schwache Kind, das besonders verletzbar und vermehrt Kindesmißhandlungen ausgesetzt ist: das frühgeborene, geistig und körperlich behinderte oder mißgebildete, das nichtgewollte, nichtgeliebte und oft auch das uneheliche Kind. Wenn die Ehe finanzielle Lasten mit sich bringt, die der Vater zu übernehmen unvorbereitet ist, wenn die Ehe vorzeitig seine Jugend beendet und mit seinen Erziehungs- und Karriereplänen in Konflikt gerät, ist er geneigt, dies seinem Kind anzulasten. Auch die Mutter steht bisweilen im Konflikt zwischen Mutterschaft und anderen Karrieremöglichkeiten. Mutterschaft ist für sie eine 24-Stunden-Falle, in der sie gefangen ist und die ihre ganze Persönlichkeit beansprucht. Das schreiende Kind oder das Kind, das nicht essen will, wird von ihr als ein Schlag gegen ihre Persönlichkeit empfunden. Sie meint, das Kind wolle ihr sagen, sie sei keine gute Mutter. Junge Väter bringen oft Spannungen und Frustrationen, die sie in ihrem Beruf erleben mußten, mit nach Hause und verwandeln sie dort in aggressives Verhalten. Das Kind, das ζ. B. an Verdauungsstörungen oder nervösen Krämpfen leiden mag, hört nicht auf zu schreien und reizt seine Eltern ständig neu (Craig Taylor 1973). Ein breites Spektrum von haßerfüllten Verhaltensweisen

gegenüber dem eigenen Kind entwickeln häufig uneheliche oder geschiedene Mütter, die ihre Lebensenttäuschungen und die daran gekoppelten Selbstbeschuldigungen und die Vorwürfe gegen die Person des treulosen und für sie entwerteten Vaters auf das Kind übertragen und sich über Ablehnung und Abneigung in Mißhandlungen hineinsteigern (Reinhard Redhardt 1965). Schließlich ist das Kind, dessen Vaterschaft zweifelhaft ist, besonders mißhandlungsanfällig. In den USA hat man während eines Jahres 302 Fälle von Kindesmißhandlung in 71 Krankenhäusern untersucht. 33 Kinder starben, 55 erlitten dauernde Hirnschäden. Die überwiegende Mehrheit der mißhandelten Kinder war weniger als drei Jahre alt. Die Familien, aus denen sie kamen, waren schlecht sozial integriert. 50% hatten keine formellen Gruppenbeziehungen. Die Familien waren sozial isoliert. Die Annahme der Familie durch die Gemeinschaft war mittelmäßig für 36% und minimal für 47%. Die Familien hatten zu 90% Probleme, die in vier Hauptkategorien fielen: Eheprobleme 40%, finanzielle Probleme 22%, andere Familienkonflikte 15% und schwere fehlerhafte Gemeinschaftsbeziehungen 14%. Die Eltern konnten in folgender Weise charakterisiert werden: beständige und unkontrollierte Feindschaft und Aggressivität, Härte, Starrheit, Zwanghaftigkeit und Mangel an Wärme, Abhängigkeit, Passivität, Unselbständigkeit und Depression (Henri Christian Raffalli 1970). Zwischen dem 1.1.1966 und dem 30. 9.1969 wurden alle Krankenhauseinweisungen von Kindern im westlichen Teil Jerusalems erfaßt. 290 Kinder wurden in die Krankenhäuser wegen Verletzungen eingewiesen. 90 litten unter Verbrennungen, 35 waren Opfer von Verkehrsunfällen, und 165 hatten andere Verletzungen (Kopfverletzungen, Schädelbrüche und Gehirnerschütterungen, Arm- und Beinbrüche). Alle Arten von Verletzungen waren häufiger vertreten unter Jungen, unter Kindern aus großen Familien, unter Kindern, deren Vater einen Beruf mit niedrigem sozialen Status ausübte und deren Mutter weniger als neun Jahre zur Schule gegangen war (S. Loria, S. Harlap, L. Drapkin 1973). Brand F. Steele und Carl B. Pollock (1969) erforschten 60 Familien, in denen sich eine bedeutsame Kindesmißhandlung ereignet hatte. Die Eltern erwarteten und verlangten sehr viel von ihren Kindern und Kleinkindern. Sie sahen ihre Kinder, als ob sie Erwachsene wären, die in der Lage wären, ihnen Beistand und Liebe zukommen zu lassen. Dieses Phänomen nennen Steele und Pollock Rollenumkehr. Sie fanden hohe Erwartungen und Anforderungen der Eltern an die Leistungen ihrer Kinder und entsprechende Mißachtung der Bedürfnisse, der begrenzten Fähigkeiten und der Hilflosigkeit der Kinder durch ihre Eltern. Das Kind wird nicht als Kind

Viktimologie verstanden, sondern als irgendeine symbolische Wahnfigur. Die Eltern projizieren viele ihrer Schwierigkeiten in das Kind hinein, und sie sind der Auffassung, daß das Kind Ursache ihrer Nöte sei. Sie versuchen, ihre Angst dadurch loszuwerden, daß sie ihre Kinder angreifen, anstatt ihren eigenen Problemen mutig ins Gesicht zu sehen. Die Eltern erwarten unterwürfiges Verhalten, sofortigen bedingungslosen Gehorsam, das unbedingte Vermeiden von Fehlern und Trost und Hilfe in ihren persönlichen Bedrängnissen. Die elterlichen Forderungen werden begleitet von ständiger Kritik. Ganz gleich, was das Kind auch immer tat, es war nicht genug, es war nicht richtig, was war zur Unrechten Zeit, es quälte die Eltern, es entehrte die Eltern in ihrem sozialen Nahraum, es stärkte das Ansehen der Eltern in der Gesellschaft nicht. Die Eltern zeigten eine schwere soziale Unreife; sie vermochten nicht, wirklich auf der Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen zu handeln ( J . de Groote 1971, S. 71). Opferanfällig sind Menschen, die gelegentlich oder ständig sorglos sind. Gelegentliche Sorglosigkeit kommt vor, wenn das Opfer einmal und unter besonderen Umständen eine Situation hervorruft, die für sein Leben gefährlich ist. Ständige Sorglosigkeit besteht darin, daß man sich durch andauernde Kontakte mit gefährlichen Umgebungen ernsten Lebensgefährdungen aussetzt (Lynn A. Curtis 1974). Nicht selten wird derjenige Opfer, der sich sozial exponiert, der sich für öffentliche Interessen einsetzt und der soziale Ziele verteidigt (Leszek Lerneil 1973, S. 326). Soziale Sichtbarkeit, die Möglichkeit, in der Gemeinschaft von anderen gesehen und gekannt zu werden, ist ein Umstand, der zum Opferwerden führt (Paula H. Kleinman, Deborah S. David 1973a und 1973b). Während der 325 Massenkrawalle in den USA in den Jahren 1964 bis 1969 konzentrierten sich die Schäden auf kleine Einzelhandelsgeschäfte. Die Hauptorganisationsopfer bei Krawallen waren Einzelhandelsgeschäfte und das Symbol der Autorität, die örtliche Polizei. Die bisweilen eingesetzte Nationalgarde oder die US-Arme wurde völlig ingoriert. Wohnhäuser, Wohnungen und Ein- und Zweifamilienhäuser bildeten nur 2 , 5 % der Gebäude, die beschädigt oder zerstört worden sind, öffentliche Gebäude wie Schulen und Kirchen machten weniger als 0 , 2 5 % der zerstörten Häuser aus. Die Auswahl der Objekte wird meist als Vergeltung für ökonomische Ausbeutung oder mit dem Begriff: „Die Armen zahlen mehr" erklärt. Während des Rassenkrawalls in Watts (Los Angeles) wurde allerdings beobachtet, daß ein sehr großer Supermarkt einer über die gesamten USA verbreiteten Handelskette mit riesigen, ungeschützten Schaufenstern völlig unversehrt dastand, während eine große Anzahl von umliegenden mit Eisenbarrika-

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den versehenen kleinen Geschäften angegriffen, geplündert und ausgebrannt waren. Die kleinen Einzelhandelsgeschäfte stellen im Sinne der sozialen Sichtbarkeit für die Ghettobewohner die Schaltstellen dar, wo ökonomische Realitäten offenbar werden. Während die Einzelhandelsgeschäfte Bilder der wirtschaftlichen Ausbeutung erweckten, symbolisierten die örtlichen Polizisten Bilder der politischen Unterdrückung. Die Angriffsziele der Massenkrawalle können am besten dadurch erklärt werden, daß man berücksichtigt, daß sie die Schlüsselpunkte des Kontakts zwischen dem schwarzen Ghetto und der größeren weißen Gesellschaft bildeten (Russell R. Dynes, Ε . L. Quarantelli 1970, 1973). 4. Furcht vor dem

Verbrechen

Der Zusammenhang zwischen Furcht vor dem Verbrechen und dem Opferwerden ist von großer Bedeutung. Es fragt sich einerseits, ob das Opferwerden die Furcht vor dem Verbrechen steigert und das Vertrauen in die Fähigkeit der Gesellschaft und ihrer Repräsentanten (Polizei, Gerichte, Strafvollzug) zerstört, den Bürger vor dem Verbrechen zu schützen. Problematisch ist andererseits, ob die Kriminalitätsfurcht über eine entsprechende Erwartungshaltung oder eine Verminderung des Widerstandes gegen das Verbrechen (Mutlosigkeit, Moralzersetzung) die Viktimisierung verstärkt oder sogar erzeugt. Schließlich ist bedeutsam, in welcher Weise die Furcht vor Verbrechen die kriminalpolitischen Vorstellungen der Bevölkerung beeinflußt. Die Furcht hat einen kognitiven und einen affektiv-emotionalen Aspekt, die schwer voneinander zu trennen sind. Es ist deshalb zweifelhaft, zu behaupten, in Gebieten mit niedriger Kriminalitätsbelastung herrsche der kognitive Aspekt, die Sorge wegen der Kriminalitätsentwicklung, vor, während in Bezirken mit hoher Kriminalitätsbelastung der affektiv-emotionale Aspekt, die Angst vor Verbrechen, überwiege. Paula H. Kleinman und Deborah S. David (1973 a und 1973b) wollen aufgrund ihrer empirisch-viktimologischen Untersuchungen herausgefunden haben, daß Personen, die Opfer von Delikten geworden sind, mehr als andere dazu neigen, die Kriminalität als hoch einzuschätzen (kognitive Einstellung). J e höheT der Grad ihrer Erziehung ist, desto eher soll eine Person geneigt sein, einen Anstieg der Kriminalität zu bemerken. Die kognitive Einstellung soll von der Realität des Opferwerdens abhängen. Bei einer Befragung von 1319 Personen, Männern mit High-School-Ausbildung im Alter zwischen 20 und 29 Jahren und Frauen mit College-Erziehung im Alter zwischen 30 und 39 Jahren, wurden „schwache Durchsetzung der Gesetze", „Familiendesorganisation" und eine „zu geringe Zahl an Polizeibeamten" als Haupt-

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Viktimologie

Ursachen für das Opferwerden angesehen (Cyril S. T. Cho 1973b). Die Einwohner einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA hielten folgende Probleme für ungelöste Aufgaben der Großstädte, allerdings nicht ihrer Stadt: Mißachtung von Gesetz und Ordnung, politische Demonstrationen, Korruption in der Verwaltung und Geschäftswelt, Mangel an Religion, schlechte Schulen, die ihre Aufgaben nicht erfüllen, und rassische Diskriminierung (Nancy J. Beran, Harry E. Allen 1973). In Melbourne, Sydney, Brisbane und in der kleinen ländlichen Stadt Laidley, die 60 Meilen von Brisbane entfernt liegt, hat Paul R. Wilson (1971) 1018 Probanden befragt. Er erkundigte sich bei ihnen nach den bedeutsamsten innenpolitischen Problemen, nach dem Umfang der Kriminalität und nach ihren kriminalpoJitischen Vorstellungen. In Australien steht das Verbrechensproblem nach der Erziehungsfrage in der Meinung der Bevölkerung an zweiter Stelle der innenpolitischen Probleme. In den USA nimmtdas Kriminalitätsproblem ebenfalls die zweite Stelle der innenpolitischen Probleme ein, allerdings nach den Rassenschwierigkeiten, die an erster Stelle stehen. Die Bevölkerung der Unterschichten sorgt sich in Australien mehr um das Problem des Opferwerdens als die der oberen Schichten. Aus der Unterschicht kommen die meisten Kriminellen und jugendlichen Delinquenten (offiziell registrierte und institutionalisierte Kriminelle und Delinquente). Die Unterschicht leidet am meisten unter schweren Verbrechen. Der Kreis wird dadurch geschlossen, daß die Unterschicht mehr Besorgnis über Verbrechen äußert als alle anderen Schichten. Die Befragten sind der Meinung, daß das Verbrechen ansteigt, aber nicht in dem Gebiet, in dem sie leben, selbst wenn es sich um mit Kriminalität hoch belastete Bezirke handelt. Die am dichtesten besiedelten großstädtischen Gebiete haben nicht nur eine wachsende Kriminalitätsrate, sondern die Leute, die in diesen Bezirken wohnen, werden auch mehr mit der Kriminalität konfrontiert. Sie werden sie verstärkt gewahr, und sie sorgen sich mehr wegen der Kriminalität als die Bevölkerung in kleineren Städten oder in ländlichen Gebieten. Die Menschen in einer Gemeinschaft, die am ehesten in Gefahr sind, Opfer von schweren Verbrechen zu werden, sind um das Verbrechen am meisten besorgt. Der Trend war erkennbar, daß die gesamte Stichprobe den Umfang schwerer Verbrechen, der in ihrer Gemeinschaft vorhanden war, einschneidend und beständig unterbewertete. Es gab dreimal mehr Mordfälle, doppelt so viele Notzuchtsfälle und zweieinhalbmal mehr Banküberfälle, als die Bevölkerung wahrnahm. Die Leute schützen sich, indem sie ihre Häuser abschließen: drei Viertel der gesamten Stichprobe in städtischen Gebieten und ungefähr die Hälfte

im ländlichen Bezirk. Eine ziemlich große Zahl von Befragten benutzt lieber nachts Taxis, als zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie vermeiden es, mit Fremden zu sprechen und allein auszugehen, und tragen Waffen verschiedenster Art bei sich. Auf die Frage, was getan werden müsse, um den Umfang der Kriminalität zu verringern, antworteten 51% der städtischen und 55% der ländlichen Stichprobe: Die Polizeieffizienz müsse dadurch erhöht werden, daß man die Polizei verstärke, mehr Polizeipatrouillen durchführe und bessere Kriminalitätsbekämpfungsmethoden bei der Polizei anwende. Die Bevölkerung hält das Verbrechen für eine Krankheit wie etwa Krebs, der einen gesunden Körper befällt. Den meisten Bürgern schwebt ein Bild von der Gesellschaft und ihren Problemen vor, das darin besteht, daß ein im wesentlichen gesunder Organismus von fremden Substanzen befallen wird. Die Polizei wird in der Rolle von Ärzten gesehen, deren Aufgabe es ist, ein Geschwulst zu beseitigen, einen Virus zu zerstören, ohne den Charakter der Gemeinschaft selbst zu ändern. Dieses Bild von der Kriminalität und ihrer Bekämpfung wird der Gesellschaft von den Massenmedien vermittelt. Mindestens zwei von fünf Bewohnern der Bundesrepublik Deutschland fühlen sich nicht sicher, wenn sie nachts auf den Straßen sein müssen. Sehr stark tritt das Gefühl der Unsicherheit bei Personen ab 60 Jahren und bei Angehörigen der einfachsten sozialen Schichten hervor. Jeder zweite West-Berliner gab zu, daß es ihm unheimlich sei, nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs zu sein. 51% der Großstädter haben Furcht vor nächtlichen Wanderungen ohne Begleitung. In den Hafenstädten Hamburg und Bremen sind es 53, in West-Berlin 54%. Diese Furcht wird durch die völlig unsachgemäße kriminologische Unterrichtung der Bevölkerung durch die Massenmedien und die dramatisierende sensationelle Berichterstattung über einzelne Kriminalfälle erzeugt. Die Massenmedien bilden und verstärken auch die völlig falschen kriminalpolitischen Klischees in der Öffentlichkeit. Im Frühjahr und Frühsommer 1966 interviewten Albert D. Biderman, Louise A. Johnson, Jennie Mclntyre und Adrianne W. Weir (1967) in drei Polizeidistrikten in Washington D. C. 511 nach Zufall ausgewählte Versuchspersonen, die über 18 Jahre alt waren. Die erwachsenen Befragten glaubten, daß das Kriminalitätsproblem in Washington D. C. ernst sei, daß es noch gravierender werde und daß sie selbst besorgt sein müßten. Die Probanden wurden gefragt, ob es einen Anstieg der Gewaltkriminalität wie ζ. B. Tötung oder Notzucht in Washington D. C. in den letzten Jahren gegeben habe. Über die Hälfte hielt das Ansteigen der Gewaltkriminalität für sehr schwerwiegend. Nationale Umfragen haben in den letzten Jahren gezeigt, daß

Viktimologie die Mehrheit der Bevölkerung angestiegene Kriminalitätsraten in Verbindung bringt mit einem Zusammenbruch der Moralvorstellungen, einer unzureichenden moralischen Erziehung und einer mangelhaften moralischen Disziplin der jungen Leute. Wenn man nach Gegenmitteln für die als bedrohlich empfundene Verbrechenssituation fragte, sahen sie im großen und ganzen nach einer strengeren Polizei und einer nachsichtsloseren Verurteilung aus. Als die Probanden in Washington D. C. gefragt wurden, was sie für am wichtigsten hielten, um die Kriminalität in ihrer Stadt herabzumindern, befürworteten sie ebenfalls Strenge. Ihre Antworten wurden klassifiziert nach Empfehlungen für repressive Maßnahmen, soziale Verbesserungen und moralische Erziehung. Repressive Maßnahmen schlossen ein die Forderung nach mehr Polizei, härteren Urteilen und nach einem scharfen Vorgehen gegenüber Jugendlichen. Soziale Verbesserung umfaßte die Befürwortung eines größeren Stellenangebots, Freizeitaktivitäten und -programme für Jugendliche, bessere Wohnungen und verbesserte Beziehungen zwischen Polizei und Gemeinschaft. Moralische Erziehungsmaßnahmen bestanden in besserer Erziehung der Kinder, verbesserter religiöser Unterweisung und ganz einfach im Lehren von Disziplin. 60% der Befragten empfahlen repressive Maßnahmen, 36,5% soziale Verbesserungen und moralische Erziehung. Nur 3,5% sprachen sich für moralische Maßnahmen allein aus. Ein anderer Beweis für die Tendenz, eine verschärfte Strafverfolgung als einen gangbaren Weg zur Lösung des Kriminalitätsproblems zu sehen, ist in den Antworten auf die Frage zu erblicken, ob die Urteile der Gerichte in Washington D. C. im allgemeinen zu milde oder zu streng seien. Über die Hälfte (58%) antwortete, die Urteile seien zu milde. 22% hielten sie für gerade so recht. 11% waren der Meinung, sie seien manchmal zu milde und zuweilen zu streng. Weniger als 2 % antworteten, sie seien zu streng. Die restlichen 7 % hatten keine Meinung. Mehr Polizei, eine strengere Polizei und weniger Milde durch das Gericht, das sind die Wege, die ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung gehen würde, um den Umfang der Kriminalität zu vermindern. Wenige zogen in Erwägung, daß soziale Wandlungen und die Verbesserung der moralischen Atmosphäre in der Bevölkerung die Lösung darstellen könnten. Es gibt nicht nur ein SichVerlassen auf die Polizei, sondern gegenüber der Polizei ist auch ein beträchtlicher guter Wille zu beobachten. Die meisten Befragten (85%) stimmten darin überein, daß Leute, die einen solch harten Beruf wie Polizisten ihn hätten, mehr Dank und Respekt verdienten, als sie gegenwärtig von der Öffentlichkeit erhielten. Nahezu genauso viele (78%) stimmten darin überein, daß es nur ganz wenige Polizisten gebe, die für die

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schlechte Publizität verantwortlich seien, die die Polizei manchmal erhalte. 68% waren der Meinung, daß die Polizei besser bezahlt werden müßte, als sie gegenwärtig entlohnt wird. Zentrale Ergebnisse waren ferner, daß die Öffentlichkeit äußerst furchtsam gegenüber Opferwerden ist und daß diese Befürchtungen merkbare Wirkungen auf ihren Lebensstil haben. Die Publizität der Verbrechensstatistiken ist eine der wichtigeren Quellen für die fehlerhaften kriminologischen Eindrücke der Bevölkerung. Kriminalstatistiken sind Behördenstatistiken. Ihr Primärzweck besteht darin, die Strafverfolgungsbehörden mit Informationen zu versehen. Die Funktion der Unterrichtung der Öffentlichkeit ist lediglich ein Beiprodukt. Der Eindruck der Bevölkerung von der steigenden Kriminalität wird in den USA verursacht durch das Lesen von Nachrichten, die sich auf die polizeilichen Kriminalstatistiken beziehen, durch die Berichterstattung über dramatisierte Einzelfälle spektakulären Mordes und das Sehen von Hearings über legislative Untersuchungen bezüglich des organisierten Verbrechens. Eine Längsschnittuntersuchung von 1500 weißen und schwarzen Familien führte Leonard Savitz (1973 a (1)) in Philadelphia durch, von Familien, die alle im Jahre 1970 einen 12 Jahre alten Jungen hatten. Bei 661 schwarzen Familien wurden Tiefeninterviews vom Jungen und seiner Mutter in 83% der Fälle im ersten Jahr (N = 533) und in 76% der Fälle im zweiten Jahr (N = 503) gemacht. Furcht vor Kriminalität wurde als die subjektive Einschätzung des Risikos definiert, Opfer eines bestimmten Delikts zu werden. Zur Furcht vor Kriminalität gehörte auch die subjektive Beurteilung des Risikos für ein Familienmitglied, Opfer eines Verbrechens zu werden. Die meisten Jungen (65%) glaubten, daß Teile der Stadt in unmittelbarer Nähe ihrer Nachbarschaft gefährlich seien. 43% der Jugendlichen bezogen diese Furcht auf ihr eigenes Wohngebiet. Das tatsächliche Opferwerden der Jugendlichen weicht von der Kenntnis des Haushaltsvorstandes über dieses Opferwerden ab. Raubüberfälle erlitten 38% der Jugendlichen. Beim Haushaltsvorstand waren allerdings nur 8 % dieser Raubüberfälle bekannt. Bei weißen Jugendlichen lauten die entsprechenden Zahlen: 2 5 % für die erlittenen Raubüberfälle und 5 % für die Kenntnis des Haushaltsvorstandes davon. Die Jungen erzählten also wahrscheinlich nicht immer zu Hause, wenn sie Opfer eines Verbrechens geworden sind. Leonard Savitz (1973 a (2)) befragte 202 Familien näher. Ein Großteil der Jungen wird niemals Opfer einer Straftat. 80% von ihnen wurden weder körperlich angegriffen noch erpreßt. 61% der Jungen wurden weder beraubt noch erpreßt, und 57% der Jungen wurden weder angegriffen noch beraubt. Die Furcht vor dem Verbrechen

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Viktimologie

ist freilich dennoch sehr hoch. 62% sagten, daß sie Furcht in den Straßen und an den Ecken ihres Häuserblocks besäßen. 77% äußerten, daß sie sich in den Straßen und an den Straßenecken in unmittelbarer Nähe ihres Häuserblocks ängstigten. Orte der sozialen Aktivität, Parks, Spielplätze, Tanzlokale und Kinos, wurden von 44% bis 56% aller Jugendlichen als gefährlich angesehen. Die öffentlichen Transportmittel, Straßenbahnen, Busse und Untergrundbahnen, waren für 53% bis 67% der Jugendlichen furchterregend. Auch alle örtlichkeiten, die mit der Schule zusammenhängen, riefen viel Furcht hervor: 55% erklärten, die Straßen von der Schule und zur Schule seien gefährlich, während 46% dies von den Schulhöfen, 28% von Schulgebäuden und 21% von ihren Klassenräumen bemerkten. Die Jugendlichen schätzten 8 Situationen nach dem Grad ihrer Furcht ein: 1. Beraubtwerden von einem Erwachsenen, 2. Beraubtwerden von einem Teenager, 3. Geschlagenwerden von einem Erwachsenen, 4. Geschlagenwerden von einem Gleichaltrigen, 5. Getötetwerden von einem Erwachsenen, 6. Getötetwerden von einem Gleichaltrigen, 7. Schutzeinkaufen (Erpreßtwerden) von einem Erwachsenen und 8. Schutzeinkaufen von einem Teenager. Keine bedeutsame Furcht für irgend eine dieser Situationen zeigten 7,7% aller Erwachsenen und 2,1% aller Jugendlichen. Ein wenig Furcht ließen bei einer oder zwei Situationen 5,1% der Jugendlichen und 1,8% der Eltern erkennen. Einige allgemeine Furcht wurde wenigstens bei einigen Situationen von 10,9% der Jugendlichen und 9,1% der Erwachsenen offenbar. Furcht unterhalb des Durchschnitts des Mittelwerts machten 27,6% der Jugendlichen und 26,7% der Erwachsenen sichtbar. Furcht oberhalb des Mittelpunktes enthüllten 35,1% aller Erwachsenen und 27,6% aller Jugendlichen. Allgemeine Furcht in vielen Situationen war die Antwort von 10,5% der Erwachsenen und 13% der Jugendlichen. Die höchste Furchtkategorie enthielt 14,7% aller Erwachsenen und 8,1% aller Jugendlichen. Der Mittelwert der Furcht wurde von 60% aller Erwachsenen und von 49% aller Jugendlichen überschritten. 30% aller Eltern äußerten geringe Furcht darüber, daß ihre Kinder in der Schule beraubt werden könnten, 20% durchschnittliche Sorge, während 50% ein Höchstmaß an Angst offenbarten. 55% der Eltern ließen ein solches Höchstmaß davor erkennen, daß ihr Kind in der Schule körperlich verletzt werden können. Das Ausmaß der Kriminalitätsfurcht ist unabhängig von der Häufigkeit des Opferwerdens. Der Mittelwert der Furcht betrug 6,9 in Familien mit mehreren Opfern, 6,5 in Familien mit einem Opfer und 5,9 in Familien mit keinem Opfer. Die Furcht, daß das Kind in der Schule kriminell verletzt werden könnte, machten 6,9 für Familien mit mehreren Opfern, 6,8 für Familien mit einem

Opfer und 6,2 für Familien mit keinem Opfer aus. Bezüglich des Raubs in der Schule beliefen sich die Zahlen für Eltern mit mehreren Opfern in der Familie auf 7,1, mit einem Opfer auf 5,9 und mit keinem Opfer auf 5,9. Kombiniert man beide Ereignisse, die die Viktimisierung des Kindes in der Schule betreffen, so ergibt sich ein Mittelwert für die Furcht von 14 für Eltern in Familien mit mehreren Opfern, 12,7 für Eltern in Familien mit einem Opfer und 12,1 für Eltern von Kindern die kein Opfer einer Straftat geworden sind. Eine Stichprobe von 1143 Jugendlichen in einer „High School" einer Stadt von 85 000 Einwohnern in einem Staat an der Ostküste der USA wurde befragt (William H. Feyerherm, Michael J. Hindelang 1974), für wie wahrscheinlich sie es halten würde, daß eine Person in den Straßen ihrer Nachbarschaft beraubt oder angegriffen würde. 40% der männlichen (Durchschnittsalter 16,3) und 44% der weiblichen (Durchschnittsalter 16,1) Probanden hielten solche Ereignisse für einigermaßen wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich. Dieselbe Frage, die man einer für die USA repräsentativen Stichprobe von Erwachsenen stellte (Philip H. Ennis 1967 a), wurde von diesem Sample dahingehend beantwortet, daß 22% der männlichen und 25% der weiblichen Befragten solche kriminellen Vorgänge für einigermaßen oder sehr wahrscheinlich hielten. Eine damit verwandte Frage, die sich auf die wahrgenommene Sicherheit in der Nachbarschaft nach Dunkelheit bezog, beantwortete das Sample der Jugendlichen von Feyerherm und Hindelang in der Weise, daß sich 11% der männlichen und 38% der weiblichen Jugendlichen unsicher oder sehr unsicher fühlen, wenn sie nach Dunkelheit in ihrer Nachbarschaft auf der Straße sind. Dieselbe Frage wurde in der Ennis-Studie gefragt und zeigte ähnliche Ergebnisse: 16% der männlichen und 44% der weiblichen Probanden fühlten sich unsicher oder sehr unsicher, wenn sie allein nach Dunkelheit in ihrer Nachbarschaft auf der Straße waren. Die Frage, ob es ein Gebiet innerhalb einer Meile gebe, in dem der Befragte Angst haben würde, bei Nacht allein auf der Straße zu sein, wurde von einer repräsentativen Stichprobe für die USA im Jahr 1972 von 20% der männlichen und 59% der weiblichen Probanden bejaht. In der Studie von Feyerherm und Hindelang glaubten 55% der männlichen Befragten, die drei- oder mehrmals im vorhergehenden Jahr Opfer geworden waren, daß es einigermaßen oder sehr wahrscheinlich sei, daß eine Person auf den Straßen in ihrer Nachbarschaft beraubt oder angegriffen würde. Zu der Einstellung über mögliche Viktimisierungen tragen zahlreiche andere Faktoren bei, ζ. B. Opferwerden von Freunden der Befragten und Berichte der Massenmedien über „kriminelle Wellen".

Viktimologie Aus den referierten viktimologischen Untersuchungen ergibt sieh, daß die Bevölkerung nicht sorgfältig und zutreffend über das Ausmaß, die Struktur und die Entwicklung der Kriminalität unterrichtet wird. Kriminologen haben auf politische Instanzen und Massenmedien keinen Einfluß. Es herrscht in der Gesellschaft die völlig verfehlte Ansicht vor, die Kriminalität werde ihr von wenigen „entarteten Volksschädlingen" angetan, die es nur zu fangen und zu vernichten gelte. Kriminellenjagd ist ein geschätztes Gesellschaftsspiel. Es wird nicht erkannt, daß die Kriminalität ein Problem der Gesellschaft ist. Viele Kriminologen tun alles, um diese Erkenntnis zu verhindern. Die nicht ausreichend und falsch unterrichtete Bevölkerung besitzt eine diffuse Furcht vor dem Verbrechen, die sich auf fast alles und jeden erstreckt. Sie fühlt sich in ihrer Existenz bedroht. Sie befürwortet eine harte, strenge Strafverfolgung. Jeder fürchtet sich vor dem Verbrechen, ob er nun bereits Opfer geworden ist oder nicht. Diese Furcht, die auf unzulängliche Kriminalitätsdarstellungen in den Massenmedien zurückzuführen ist (so Leonard Savitz: persönliche Mitteilung am 29. August 1973), beeinflußt die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung erheblich. Auf der einen Seite verhält sie sich recht vernünftig und läßt Vorsicht walten (vgl. Tabelle 6 und 7). Sie bleibt nachts zu Hause und hält ihre Kinder am Abend und in der Nacht von der Straße entfernt. Sie verschließt ihre Haustüren. Auf der anderen Seite treten aufgrund der diffusen

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Kriminalitätsfurcht negative soziale Folgen ein: eine soziale Unsicherheit, Mangel an Vertrauen gegenüber öffentlichen Institutionen (ζ. B. gegenüber der Schule) und soziale Desintegration. Man geht Fremden aus dem Weg und spricht nicht mehr mit ihnen. Man besucht Freunde weniger. Man hält die Schule für keinen sicheren Platz. Es fehlen die Einsicht und das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, das Verbrechen durch die Gemeinschaft selbst zu kontrollieren. Man verläßt sich allein auf die Polizei, die überhaupt nicht in der Lage sein kann, der Bevölkerung die Sicherheit zu bieten, die sie von ihr erwartet. Hier ist ein Sozialprozeß in Gang gesetzt, der von Politikern und Massenmedien in falscher Richtung ständig verstärkt wird. C. Prozeß des Oplerwerdene 1. Viktimogene Situationen Viktimogene Situationen sind soziale Lagen, in denen man leicht zum Opfer werden kann. Zur Veranschaulichung können zwei Beispiele genannt werden: Eine alte, aber gut gekleidete Frau geht nachts allein im Slumviertel einer Großstadt mit einer gefüllten Einkaufstasche langsam über einen Bürgersteig. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie beraubt werden wird, ist in dieser Situation sehr hoch. Eine Bank mit einem schlechten Alarmsystem und einem unübersichtlichen Hinterausgang liegt unmittelbar an einer Autobahn.

Tabelle 6 Verändertes Benehmen unter schwarzen Jugendlichen

A. Vermeidungen Ich wechsele die Straßenseite, wenn ich eine Gruppe Fremder sehe Ich vermeide es, mit Fremden zu sprechen Ich gehe nicht aus bei Nacht in meine unmittelbare Nachbarschaft Ich versuche, möglichst in der Reichweite meines Häuserblocks zu bleiben, wenn ich an die Luft gehe Ich versuche, das Gang-Gebiet anderer Banden bei Tag nicht zu betreten Ich versuche, das Gang-Gebiet anderer Banden bei Nacht nicht zu betreten B. Waffen-Reaktionen Ich trage einen Revolver oder ein Messer bei mir Ich trage „irgendetwas anderes" (als Waffe) bei mir

1. Jahr (N = 532)

2. Jahr (N = 520)

69% 82%

59% 72%

60%

54%

72%

56%

72%

61%

83%

71%

15% 83%

8% 71%

Quelle: Leonard Savitz: Victimization, fear of crime and altered behavoir in relationship to delinquency. New York 1973 b, S. 42.

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Viktimologie Tabelle 7

Prozentsätze schwarzer Erwachsener, die ihr Verhalten in den letzten beiden Jahren geändert haben 1. Jahr 2. Jahr (N = 532) (N = 520) Vermeidungen kürzlichen Verhaltens 1. Ich bleibe in der Nacht zu Hause 80% 81% 2. Wenn ich nachts ausgehe, versuche ich, nicht alleine zu gehen 86% 91% 3. Ich gehe nicht allein ins Kino 75% 71% 4. Ich gehe weniger alleine einkaufen 62% 67% 5. Ich besuche Freunde weniger 76% 74% 6. Ich spreche nicht mit Fremden auf der Straße 83% 82% 7. Ich wechsele die Straßenseite, wenn eine Gruppe von Jugendlichen auf mich zukommt 70% 75% 8. Ich vermeide die Untergrundbahn 77% 70% 9. Ich versuche, nicht in „schlechten" Gebieten zu arbeiten 70% 71% 10. Ich halte die Kinder während des Tages von der Straße entfernt 37% 41% 11. Ich halte die Kinder während des Abends und der Nacht von der Straße entfernt 93% 96% B. Positive nichtökonomische Reaktionen 12. Ich halte die Haustür geschlossen, selbst wenn ich zu Hause bin 13. Ich bin in eine sicherere Nachbarschaft umgezogen 14. Ich versuchte, meine Kinder in eine sicherere Schule zu geben C. Reaktionen, die mit finanziellen Ausgaben verbunden sind 15. Ich habe zahlreiche und bessere Schlösser an den Türen angebracht 16. Ich habe zahlreichere Gitter und Abschirmungen an den Fenstern angebracht 17. Ich benutze Taxis, wenn immer es möglich ist 18. Ich bringe mehr Lampen um das Haus herum an 19. Ich kaufte einen Wachhund

91% 28%

93% 9%

39%

30%

62%

49%

18% 58% 55% 35%

10% 29% 36% 24%

Quelle: Leonard Savitz: Victimization, fear of crime and altered behavior in relationship to delinquency. New York 1973b, S. 43. Auch hier wird die Wahrscheinlichkeit der Beraubung der Bank extrem hoch. Es gibt bestimmte Opferzeiten, in denen viktimogene Situationen vermehrt auftreten. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg waren Tötungsdelikte an den Zonengrenzen des besetzten Deutschlands sehr häufig. Es handelte sich einmal um Niemandsland, in dem Tötungsdelikte schwer aufzuklären waren. Zum anderen wechselten viele notleidende, durch den Zusammenbruch entwurzelte und ihre nächsten Angehörigen suchende Menschen ohne die erforderlichen Personalpapiere und Passierscheine von einer Besatzungszone illegal in eine andere. Dasselbe taten schwerrückfällige Kriminelle. So entstand zeitlich und örtlich eine besondere

Opferkonzentration durch bestimmte Opferkonstellationen. Schwarzhändler waren gegen Betrug, Raub, Diebstahl, ja kriminelle Tötung so gut wie ungeschützt; der Schwarzmarkt war eine illegale Zone ohne soziale Kontrolle. In unwegsamem Gebiet einsam liegende Gutshöfe waren Raub und Mord durch nach Deutschland während des 2. Weltkriegs verschleppte Personen und Deutsche wehrlos ausgesetzt. Räuberbanden bildeten sich. Die Geschäfte wurden geplündert. Eine soziale Kontrolle war durch die Besatzungsmächte nur mühsam zustande zu bringen. Die Hungernden und Frierenden der Nachkriegs jähre und die Rriegerwitwen befanden sich in viktimogenen Situationen, weil sie ohne ausreichenden sozialen

Viktimologie Schutz besonders verletzbar waren. Die durch den enormen Männerausfall verminderten Heiratschancen zahlreicher deutscher Mädchen wurden gerade von Berufs- und Gewohnheitsbetrügern ausgenutzt. Der für die damalige Zeit charakteristische Betrügertyp des Grußbestellers wandte sich an Frauen, die auf die Rückkehr ihres vermieten oder in Gefangenschaft lebenden Mannes warteten (Karl S. Bader 1949). Opferkonzentrationen gibt es in bestimmten Opfergebieten. Im Übergangsgebiet zwischen Slum und großstädtischer Nachbarschaft der Mittelschicht ereignen sich in den USA besonders viele Raubüberfälle (Morton Hunt 1972). J e höher die Kriminalitätsbelastung in einem bestimmten Bezirk ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit des Opferwerdens (Μ. K. Block, G. J . Long 1973). Delikte gegen die Person, ζ. B. Tötung, ereignen sich in New York City vermehrt in den Bezirken, in denen farbige Familien mit niedrigem Einkommen wohnen und in denen der Bevölkerungsanteil der 16- bis 21jährigen Arbeitslosen besonders hoch ist. Vermögensdelikte, ζ. B. Raub und Einbruch, kommen gehäuft in den Gebieten von New York City vor, in denen der Bevölkerungsanteil der über 65jährigen mit hohem Einkommen extrem groß ist. Die viktimogenen Situationen sind nicht immer im voraus klar zu bestimmen. Sehr oft führen Schlägereien in Hafenkneipen zu Körperverletzungen und Tötungen, die in ihrer Entstehung fast zufällig sind. In solchen viktimogenen Situationen verschwimmen Unterscheidungen zwischen Täter und Opfer zumeist. Die Situation wird im nachhinein kriminalistisch aufgeklärt und strafrechtlich beurteilt, in ihrer vollen kriminologischen Dynamik aber nicht erfaßt. Es kommt für die kriminalistische und strafrechtliche Beurteilung allein darauf an, wer wen wann zuerst mit welcher Waffe getroffen hat, wie das Ereignis berichtet worden ist und welche unmittelbaren Entscheidungen durch die Polizei getroffen worden sind. In der Zeit vom 1.1.1961 bis 31.12.1965 sind die Tötungen in Belo Horizonte, der Hauptstadt des Staates Minas Gerais und der drittgrößten Stadt Brasiliens, untersucht worden (J. Homero E. Yearwood 1972). Es handelte sich um 252 getötete Opfer und um 291 Täter. Bei einer Situationsanalyse dieser Tötungen stellte sich heraus, daß die Täter die Möglichkeit zur Tötung nicht zu suchen und auch kein Opfer mühsam zu finden brauchten. Die Opfer waren leicht und schnell zur Hand. Bei der Untersuchung von 281 kriminellen Tötungen mit 296 Opfern in Slowenien/Jugoslawien in der Zeit von 1954 bis 1967 ermittelte Ante Carich (1973), daß bei 124 Delikten (45%) eine dritte Person in bedeutsamer Weise beteiligt war. Ein solcher „in die Tat verwickelter Dritter" stiftet an; er erleichtert und unterstützt den Rechtsbruch. Er schafft eine „kriminelle Atmosphäre" unter den

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Teilnehmern, von denen das Verbrechen vorangetrieben wird. Aus dieser kriminologischen Dynamik wird bei der kriminalistischen Aufklärung und bei der strafrechtlichen Subsumtion nur der Straftäter als Subjekt und das Opfer als Objekt der Straftat herausgenommen. Damit wird der Wirklichkeit Gewalt angetan. Gute Beispiele für viktimogene Situationen liefert die Phänomenologie der Notzuchtdelikte. Um die viktimogene Situation richtig erkennen zu können, ist es notwendig, festzustellen, ob ein amoralisches Verhalten der Geschädigten in einer für sie riskanten Lage gegeben war. Dieser Sachverhalt muß sich dann adäquat im Bewußtsein des Täters widergespiegelt und Einfluß auf die Begehung der Tat gehabt haben. Der Notzuchtstäter legt sehr häufig die Situation und die Verhaltensweise des Opfers unrichtig aus. Nach einer Studie über Notzuchtsopfer in der Sowjetunion (W. S. Minskaja 1972) befanden sich 5 5 % der Opfer vor der Tat in einem betrunkenen Zustand. Eine typische viktimogene Situation entsteht für das Mädchen, das durch das Anhalten von Autos reisen will. Der Täter kann das Opfer isolieren, indem er für das Delikt einen geeigneten Tatort auswählt. Er ist ferner in der Lage, sicher mit dem Auto nach der Straftat zu entkommen. Die Opfer weigern sich zumeist, das Delikt bei der Polizei anzuzeigen. Falls sie Anzeige erstatten, geben sie keine vollständigen Einzelheiten über das Ereignis an. Sie zeigen sich an dem ganzen Fall meist uninteressiert. Ihr Mangel an Interesse ist teilweise darauf zurückzuführen, daß sie der Polizei mißtrauen und daß sie die Polizei nicht leiden mögen. Sie offenbaren schließlich einen fatalistischen Zug hinsichtlich der Straftat und erstatten Anzeige im Grunde nur, um die „männliche Ausbeutung" zu beweisen. Das „Berkeley Police Department" führte von Januar 1964 bis Dezember 1970 eine empirisch-viktimologische Untersuchung über Notzuchtsopfer durch, die per Anhalter reisten (Steve Nelson, Menachem Amir 1973). Die Notzucht mußte auf der freiwilligen Annahme durch das Opfer beruhen, eine Autofahrt mit einer Person oder mehreren Personen zu unternehmen, die ihr fremd waren. Der Kontakt mußte auf der öffentlichen Straße stattgefunden haben und daraus resultieren, daß das Opfer um die Fahrt dringend gebeten und den Fahrer angehalten oder daß der Täter dem Opfer die Fahrt angeboten und das Opfer die Fahrt akzeptiert hatte. Es wurden nur solche Delikte untersucht, die sich in der City von Berkeley ereignet hatten und die dem „Berkeley Police Department" gemeldet worden waren. Das Widerstreben, das Delikt anzuzeigen, resultierte aus Verlegenheit, aus der Annahme, daß die Polizei wenig zu tun in der Lage sein werde, um den Täter zu fassen, und bei einigen Opfern aus Feindschaft gegenüber der Polizei. Das Verhalten des Opfers trägt zu ihrem

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Viktimologie

Opferwerden bei. Die Opfer sind regelmäßig unterwürfig, und es besteht ein Fatalismus bei ihnen im Hinblick auf die Wagnisse, Gefahren und Risiken, die sich aus ihrem Reisen per Anhalter ergeben. In 82% der Notzuchtsfälle reiste das Mädchen per Anhalter allein. Sie begab sich hierdurch der Möglichkeit der Hilfeleistung. In 60% der Fälle ging von dem Opfer der Kontakt aus, der zu seiner Notzüchtigung führte. Das Reisen per Anhalter allein, das Anhalten des Fremden, um ihn zum Mitfahrendürfen zu bewegen, und die Art, sich nachlässig zu kleiden, vermitteln bei dem Täter ein bestimmtes Bild des Mädchens, das per Anhalter reist. Er hält es allzu leicht für eine Person mit lockeren, liederlichen Moralvorstellungen. In diesem Zusammenhang ist der Eindruck, den die potentiellen Täter haben, wichtiger als das Selbstbild, das das Mädchen von sich hat. Nur 15% der Anhalterinnen leisteten dem Täter Widerstand. Es herrscht bei ihnen eine fatalistische, lässige, gleichgültige Einstellung vor, was die Risiken angeht, die Anhalterinnen eingehen. In nur 30,3% der angezeigten Delikte wurden die Täter verhaftet oder identifiziert. Die meisten Täter bei Notzuchtsfällen an Anhalterinnen stammten aus der Unterschicht. Sie besaßen die Fähigkeit, das Opfer aufzufinden und auszusuchen, das Talent, den Tatort an einen für sie sicheren Ort zu verlegen, und das Geschick, das Opfer zu isolieren, seinen Widerstand zu brechen und einen sicheren Fluchtweg zu finden. Es ist verhältnismäßig leicht für den Täter, ein Opfer aus den Anhalterinnen auszusuchen, die am Rand der Straße stehen. Wenn das Opfer einmal freiwillig in das Fahrzeug des Täters eingestiegen ist, kann er einen sicheren Tatort für seinen Angriff auswählen und das Opfer zur selben Zeit von jeder Hilfe isolieren. Im Anschluß an die Tat ist die Flucht leicht dadurch zu erreichen, daß das Opfer am Tatort zurückgelassen oder daß es an einer ausgesuchten einsamen Stelle aus dem Auto herausgelassen wird. Bei Kontakten mit Anhalterinnen wurde herausgefunden, daß sich die meisten von ihnen der Wagnisse und Gefahren aufgrund von Warnungen ihrer Eltern, von Polizeibeamten oder gelegentlichen Zeitungsberichten voll bewußt waren. Viktimogene Situationen entstehen aufgrund bestimmter ökonomischer Verhältnisse in einem sozialen System. In einer materiellen Überflußgesellschaft mit Vollbeschäftigung wird auf das eigene Eigentum nicht genügend geachtet und das Eigentum anderer nicht zufriedenstellend respektiert. Leicht erlangbare Konsumgüter werden in ihrem Wert nicht hoch genug eingeschätzt. Der Arbeitskräftemangel läßt Arbeitgeber über die Diebstähle ihrer Angestellten hinwegsehen. Bezüglich der eigenen Habe ist man sorglos, leichtsinnig. Trotz der Warnungen der Polizei vor Taschendieben, Autodiebstählen und Ein-

brüchen werden die einfachsten Verhütungsmaßnahmen nur wenig beachtet. Türen und Fenster bleiben unverschlossen. Eigentum bleibt unbewacht. Das gilt besonders für Autos, aus denen wertvolle Güter, ζ. B. Fotoapparate, gestohlen werden (Harry Elmer Barnes, Negley K. Teeters 1959, S. 595, 596). Bei einer Untersuchung von 313 Einbrüchen in Geschäfte in Washington D. C. wurde festgestellt, daß 21 (7%) Täter das Geschäft durch die unverschlossene Tür und 70 (22%) durch ungeschlossene Fenster betreten hatten (President's Commission 1967 a, S. 42). Das Streben nach immer höheren Verkaufsquoten, moderne Werbemethoden und Arbeitskräftemangel führen in Warenhäusern und Selbstbedienungsläden dazu, daß der Kunde und somit auch der potentielle Dieb der nahezu unbeaufsichtigten Ware gegenübersteht. Meist werden allerdings Artikel von geringem Wert gestohlen, obgleich der berufsmäßige Ladendieb teure Pelze und Juwelen stehlen mag. Die meisten Produkte, die von Ladendieben entwendet werden, sind Nahrungsmittel, Spirituosen und Kleidungsstücke in einem Wert von weniger als 10 US-Dollar (President's Commission 1967 b, S. 84). Nach einer empirischen Studie über Diebstahl aus Warenhäusern und Selbstbedienungsläden in der Hamburger Innenstadt (3622 Fälle mit 3815 Tätern aus dem Jahre 1970) betrug die Schadenssumme bei 54,9% aller Fälle weniger als 20 DM und bei 78,8% aller Fälle weniger als 50 DM (Wolfgang Kucklick, Josef Otto 1973). Dieser Wert der gestohlenen Gegenstände steht in krassem Mißverhältnis zum Arbeitsaufwand der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. Dennoch stößt die Entkriminalisierung oder die Herabstufung als Ordnungswidrigkeit bei Ersttätern und geringer Schadenssumme auf Schwierigkeiten. Man kann zwar argumentieren, daß derjenige, der die modernen Werbemethoden einsetze, die geradezu zum Wegnehmen aufforderten, auch für die Kontrolle über seine Waren selbst sorgen müsse. Immerhin sind technische Einrichtungen, ζ. B. Fernsehübertragungsanlagen, in Verbindung mit fortgesetzt gleichbleibendem Einsatz von Hausdetektiven geeignet, die Zahl der Ladendiebstähle zu verringern. Hier bürdet man die Last der Sozialkontrolle ganz oder zum großen Teil dem potentiellen Opfer auf. Dennoch kann man das Kontrollproblem nicht nur auf den Kostenfaktor reduzieren. Die Kosten trägt nämlich stets der Konsument. Wenn man die Frage über technische Vorbeugungseinrichtungen löst, so werden die Ausgaben auf den Käufer umgelegt. Dasselbe geschieht, wenn man von Seiten des potentiellen Opfers fast nichts unternimmt. Die durch Ladendiebstahl voraussichtlich eintretenden Verluste werden über die Preisgestaltung kompensiert. Löst man das Problem über den verstärkten offiziellen Einsatz der Kriminal-

557

Viktimologie polizei, so muß der Bürger höhere Steuern aufbringen. Immerhin wäre dieser Weg der klarste und konsequenteste, weil er das Entstehen eines organisierten Ladendiebstahls am besten zu verhindern in der Lage wäre. Als schwerer Nachteil müßte freilich in Kauf genommen werden, daß „Kleinkriminelle" durch das Eingreifen der offiziellen Instanzen der Sozialkontrolle stigmatisiert und in eine kriminelle Rolle hineingedrängt werden könnten. Auf jeden Fall würde man die kriminalistischen und strafrechtlichen Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden. Es ist nämlich nicht leicht, festzustellen, wann eine Ersttat mit geringer Schadenssumme gegeben ist. Es ist schließlich nicht unproblematisch, wo man die Grenzen zur wiederholten Tat und zur höheren Schadenssumme zieht. Kleine Leute stehlen in Warenhäusern und Selbstbedienungsläden oft Sachen von geringem Wert. In Hamburg machten die Täter, die über kein eigenes Einkommen verfügen, 4 8 % aller Ladendiebe aus (Hausfrauen, Schüler und Studenten). Personen mit einem monatlichen Einkommen bis 500 DM begingen zu 48,5% Ladendiebstahl. Der Angestelltendiebstahl macht indessen ein vielfaches des Ladendiebstahls aus (President's Commission 1967b, S. 84). Eine neuerliche Untersuchung vom National Industrial Conference Board" fand heraus, daß 2 0 % aller 473 befragten Handels- und Industriegesellschaften und 3 0 % aller Gesellschaften mit mehr als 1000 Angestellten ein schweres Problem des Diebstahls von Werkzeugen, Ausrüstungen, Material und Produkten durch Angestellte hatten. 7 4 % berichteten der Polizei die Entdeckung der Diebstähle nicht, die durch eigene Angestellte begangen worden waren. Die Angestellten wurden zwar entlassen, aber der Polizei nicht angezeigt. Nur große Gesellschaften haben überhaupt die Möglichkeit, Angestelltendiebstähle zu entdecken, weil sie Kontrollen durchzuführen in der Lage sind. Selbst Firmen mit mehreren hundert Angestellten und Arbeitern bemerken deren Diebstähle nicht. Da Wiedergutmachung durch den Angestellten meist doch nicht erlangt werden kann, verzichtet der Arbeitgeber in der Regel auf weitere gerichtliche Schritte, um seine Viktimiseirung nicht noch zu vergrößern (Gerald D. Robin 1970). Die meisten Verluste durch „klassische" Delikte wie Diebstahl, Betrug, Raub und Erpressung erleiden die kleinen Handelsgeschäfte. Nach einer empirischviktimologischen Studie des „U.S. Department of Commerce" sehen die Kriminalitätseinbußen nach den Einnahmenskategorien der Handelsgeschäfte folgendermaßen aus (US Senate 1972, S. 373): Geschäftseinnahmen Einnahmen aller Geschäfte Einnahmen über 5 Millionen US-Doller

Index 100 9

Einnahmen zwischen 5 Millionen und einer Million US-Dollar Einnahmen unter einer Million bis 100 000 US-Dollar Einnahmen unter 100 000 US-Dollar

127 205 323

Kleine Geschäftsleute erleiden also einen Verlust durch Kriminalität, der 3,2 mal höher als der Durchschnittsverlust und 35 mal höher ist als der Verlust von Geschäften mit Einnahmen über 5 Millionen US-Dollar. Der kleine Geschäftsmann ist demnach besonders opferanfällig. In den kleinen Geschäften entwickeln sich ständig viktimogene Situationen, weil Kontrollen nicht effektiv durchgeführt werden können und weil die soziale Sichtbarkeit höher als in Warenhäusern und Supermärkten ist. Die Nachbarn eines kleinen Geschäftsmanns kennen seine Gewohnheiten (schwachen Stellen) und wissen, wo er seine wertvollsten Güter aufbewahrt. Das Geschäft liegt ihnen einfach am nächsten. Die großen Handelsgeschäfte sind für den gewöhnlichen Dieb und Einbrecher fremder und furchteinflößender. Firmen, die in kleinen Stückzahlen hochwertige Konsumprodukte herstellen, erleiden mehr Einbußen als die Hersteller von industrieller Massenproduktion. In Restaurants, Hotels und Krankenhäusern werden Bestecke, Nahrungsmittel, Spirituosen, Silber und Wäsche gestohlen. Wäschereien und Reinigungen werden Opfer des Vandalismus, der auch ein erstrangiges Problem von 48 öffentlichen Organisationen ist, die in Boston, Chikago und Washington D. C. untersucht worden sind. Es handelte sich um Telefongesellschaften, Schulen, Büchereien, Verkehrs- und Autobahnabteilungen, Parkverwaltungen, öffentliche Transportunternehmungen und gemeinnützige Wohnungsunternehmen. Sie alle klagten über sinnlose Zerstörungen an Gebäuden, Einrichtungen und Ausrüstungen. 2.

Täter-Opfer-Beziehung

In der Viktimologie gibt es objektive und subjektive soziale Beziehungen. Objektive soziale Beziehungen verbinden Menschen in räumlicher und zeitlicher Nähe, ohne daß sie davon zu wissen brauchen. Um eine objektive soziale Beziehung handelt es sich ζ. B., wenn Täter und Opfer in derselben Nachbarschaft wohnen, ohne daß es es ihnen beiden bewußt geworden ist. Wenn der potentielle Täter sein Opfer oder umgekehrt das mögliche Opfer seinen Täter kennt, so kann man zwar von einem einseitigen subjektiven menschlichen Verhältnis, nicht aber von einer zwischenmenschlichen Beziehung reden. Die soziale Beziehung lebt in Gegenseitigkeit und Wechselwirkung, im sozialen Prozeß. So können sich Täter und Opfer kurz vor der Tat kennengelernt haben. Soziale Beziehungen setzen wechselseitige

558

Viktimologie

Einwirkungen und Verhaltensformen voraus, einschließlich der dahinter stehenden Motivationen, Sinngebungen und Zwecksetzungen. Sie können zwischen Personen, zwischen Personen und Organisationen und zwischen Organisationen bestehen, wobei für Organisationen stets Menschen handeln. Der Begriff „soziale Beziehung" im Sinne viktimologischer Betrachtung meint ein Verhalten, das — allen Beteiligten bewußt — deren eigenes Handeln sinnhaft am fremden Handeln orientiert (Egon Rössmann 1969, S. 423). Diese Orientierung an Erwartungen, positiven und negativen Einstellungen des Partners und an der Einschätzung und Bewertung der gemeinsamen Situation durch den Partner ist wesentliches Kriterium der subjektiven sozialen Beziehung. Hier ist Max Webers Definition „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Verhalten mehrerer" berücksichtigt. In den empirisch-viktimologischen Untersuchungen, die referiert werden, geht man von unterschiedlichen Begriffsbestimmungen der „sozialen Beziehung" aus, ohne daß dies immer in den Studien selbst klar zum Ausdruck kommt. Aus dieser begrifflichen Unklarheit mögen die sich zwar nicht widersprechenden, aber doch stellenweise sich graduell stark unterscheidenden Forschungsergebnisse herrühren. Der Begriff des „Beziehungsverbrechens" (Hans Schultz 1956) wird nicht zugrunde gelegt. E r ist zu eng und bedeutet, daß Rechtsbrüche aus einer bestimmten menschlichen Beziehung erwachsen oder doch maßgeblich durch eine solche Beziehung bestimmt worden sein müssen. Die Beziehung muß zur Ursache oder zumindest Mitbedingung der Straftat geworden sein. „Die Beziehung zwischen Täter und Opfer ist kriminologisch nur dort gegeben, wo die einzelne konkrete Tat oder eine Mehrheit von Taten aus dieser Beziehung erwachsen, wo die unmittelbare aktuelle Auseinandersetzung von Täter und Opfer zum in der Tat wirksamen Geschehen gehört" (Hans Schultz 1956, S. 179). Einerseits ist diese sehr enge Beziehung im folgenden nicht gemeint. Andererseits ist eine bloß objektive soziale Beziehung zu unbestimmt. Zur sozialen Beziehung gehört dynamische Wechselwirkung und gegenseitige subjektiv aufeinander bezogene Orientierung. So plagt ein Alkoholiker jahrelang seine Frau, ohne daß sie etwas anderes tut, als zu klagen. Zwei in allen Einzelheiten polar entgegengesetzte Typen: ein vital-animalischer Mann und eine passiv-duldende Frau bilden eine fest gebundene Kontrastehe: die Trinkerehe. Zwei Menschen mit gleichartiger Neurose unter mehr oder weniger komplementären Formen begegnen sich und finden sich jahrelang auf ihnen unerklärliche Weise durch Haß-Liebe oder Haß aneinandergekettet. Dieses Eifersuchtsoder Haßpaar bildet den Kern, um den sich ein

soziales Gebilde von unauffälligen Hetzern entwickelt, die diese Bindung noch fester und unauflösbarer machen. Viele Kriminologen haben bemerkt, wie unerklärlich leichtgläubig, duldend und passiv zahlreiche Opfer der Erpresser sind. Noch unerklärlicher wird es, wenn man berücksichtigt, daß sie sich manchmal für ein Delikt erpressen lassen, das sie gar nicht begangen haben (Henri Ellenberger 1954, S. 276/277). 1967 wurden in den 17 größten Städten der USA 608 Tötungsdelikte, 1493 Körperverletzungen, 617 Notzuchtsfälle, 509 bewaffnete und 502 unbewaffnete Raubüberfälle kriminologisch überprüft (Donald J . Mulvihill, Melvin M. Tumin, Lynn A. Curtis, Band 11, 1969, S. 207—258): Eine Subkultur der Gewalt wird charakterisiert durch schlechte, überbelegte Wohnungen, hohe Bevölkerungsdichte und ein System von Werten, das oft physische Aggression bei der Sozialisation von Kindern und bei zwischenmenschlichen Beziehungen Erwachsener einschließt, so daß sie manchmal im kriminellen Totschlag endet. Ein beträchtlicher Anteil von Interaktionen schließt indessen Fremde ein. Dieser Anteil ist bei krimineller Tötung mit 1 6 % niedrig; er steigt bei der Körperverletzung auf 2 1 % an und wird bei der Notzucht mit 5 3 % zur Mehrheit. Er herrscht beim bewaffneten (79%) und unbewaffneten Raub ( 8 6 % ) vor. Mitverursacht durch das Opfer wird die kriminelle Tötung in 2 2 % und die Körperverletzung in 1 4 % der Fälle. Der hohe Grad der Emotionalität und der Irrationalität der Tötung und Körperverletzung machen Warnungen gegen bevorstehende Angriffe ziemlich nutzlos. In der D D R erwies sich das Opferverhalten vor allem bei den Tötungsdelikten, den Körperverletzungen und den sexuellen Gewaltstraftaten als beachtlich. „Aber auch bei diesen Delikten gaben die meisten Opfer den Tätern keinen Anlaß zur Begehung des Delikts. Bei den Tötungsdelikten trifft diese Feststellung auf etwa 6 0 % der Opfer zu, bei den sexuellen Gewaltdelikten auf mehr als 7 5 % , bei den Körperverletzungen auf etwa 5 0 % " (Wilfried Friebel, Kurt Manecke, Walter Orschekowski 1970, S. 184). Die Opfer kommen den Tätern oft bei der Herstellung des ersten Kontakts weitgehend entgegen. Sie gewähren Zärtlichkeiten oder erwidern diese. Sie folgen dem Täter an einen einsamen Ort. Sie begleiten ihn in seine Wohnung oder nehmen ihn mit in ihre eigene Wohnung. Mit dem tatsächlichen oder auch vermeintlichen Entgegenkommen des Opfers steigert sich das sexuelle Verlangen der Täter. „Gerade das Tötungsverbrechen, ähnlich auch die Notzucht . . . beweisen immer wieder, daß von der Person und vom Verhalten des Opfers Impulse ausgehen können, die bei der Entstehung der Tat, in der Motivation des Täters, in seinem Tatentschluß usw. eine erhebliche Rolle spielen. Diese Impulse können u. U. sogar die Qualität

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Viktomologie von Verbrechensursachen erlangen" (Gerhard Feix 1967, S. 329). Im Saarland kommt bei den Delikten Mord und Totschlag ein erheblicher Prozentsatz der Opfer aus dem näheren Bekanntenkreis und aus der Verwandtschaft des Täters. Etwa zwei Drittel der durch diese Straftaten Geschädigten standen in unmittelbarer Umweltbeziehung zum betreffenden Straftäter. Bei der Analyse der Notzucht fällt der hohe Anteil der aus dem näheren Bekanntenkreis des Opfers stammenden Täter ebenfalls auf. In fast 30% der statistisch registrierten Notzuchtsfälle bestand ein aus der engeren Umwelt herrührendes Verhältnis zwischen Opfer und Täter. Bei den im Saarland im Jahre 1971 sexuell mißbrauchten 414 Kindern stammt ein Drittel aus der näheren Umgebung des Täters. Beim Raub schließlich macht die Täter-OpferBeziehung 16% der registrierten Opfer aus (Pirmin Becker o. J.). Für das Jahr 1973 wurden in Schleswig-Holstein 9899 Opfer von Straftaten erfaßt (Innenminister des Landes SchleswigHolstein, Kriminalpolizeiamt 1974): Für diese Fälle insgesamt war eine Täter-Opfer-Beziehung

bei 18,5% gegeben. Die folgenden Prozentzahlen geben die Anteile der Täter-Opfer-Beziehungen bei den Einzeldelikten wieder: 65,5% bei Mord (N = 58), 72,3% bei Totschlag (N = 65), 42,5% bei Gewalt- und Abhängigkeitsunzucht (N = 400), 37,6% bei Notzucht (N = 258), 48,2% bei Unzucht mit Kindern (N = 492), 23,9% bei Raub (N = 460), 38,3% bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung (N = 1435), 96,3% bei Mißhandlung von Kindern (N = 54) und 8,9% beim Betrug (N = 6907) (vgl. Schaubild 2). Die kriminellen Tötungen in Philadelphia hat Marvin Ε. Wolfgang (1958) vom 1.1.1948 bis 31.12.1952 untersucht. Es handelte sich um 588 Fälle mit 621 Tätern. Die kriminelle Tötung ist verschieden von den Morddarstellungen in der Literatur und in den Massenmedien. Getötet wird in der Regel plötzlich, brutal und ohne Umschweife. Die Waffen sind einfach. Bei 374 Fällen von 588 (64%) spielt der Alkohol in der Tötungssituation mit. Es ist bedeutsam, daß bei sieben Zehnteln dieser 374 Fälle sowohl Täter wie Opfer alkoholische Getränke zu sich genommen

Schaubild 2 Anteil der Täter-Opfer-Beziehung an den aufgeklärten Fällen Fälle mit Opfererfassung insgesamt

Mißhandlung von Kindern

Mord

gefährliche und schwere Körperverletzung

Totschlag

Gewalt- und Abhängigkcitsunzucht

Raub

Unzucht mit Kindern

BHI

Opferbeziehung

Notzucht

|

| ohne Opferbeziehung

Quelle: Innenminister des Landes Schleswig- Holstein, Kriminalpolizeiamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1973 für das Land Schleswig-Holstein. Kiel 1974, S. 87.

560

Viktimologie Schaubüd 3:

Opfer von kriminellen Tötungen pro 100 000 Einwohner im Jahre 1971 in Kalifornien (Alters- und Geschlechtsverteilung)

5

10

15

20

25

«—0—Φ—φ -

30

35

A0

männlich

45

50

Ο

55

Ο

60

65

70

75

80

85

90

Ο = weiblich

Quelle: State of California, Bureau of Criminal Statistics (Hrsg.): Homicides in California. Sacramento 1972, S. 10. hatten. Von 621 Tätern hatten 400 (64%) Vorstrafen. Von 588 Opfern waren 277 (47%) vorbestraft. Das Opfer ist eine zum Getötetwerden neigende Person, d. h. jemand, der ständig in Situationen gebracht wird oder sich selbst in Situationen bringt, die gewaltsame physische Angriffe fördern. Folgende Kriterien enger Kontakte zwischen Täter und Opfer bilden 65% der Täter-Opfer-Beziehungen: enge Freundschaft, Familienzugehörigkeit, Liebschaft und homosexuelle Partnerschaft. Verhältnismäßig enge Freundschaft (28%) und Familienzugehörigkeit oder Verwandtschaft (25%) bilden die beiden häufigsten Beziehungen. Unter Frauen war die Familienbeziehung mit 52% am weitesten verbreitet. Von den 588 Fällen waren 150 (26%) durch das Opfer selbst hervorgerufen. In vielen Fällen hat das Opfer dieselben Persönlichkeitszüge wie der Täter. Man kann davon sprechen, daß häufig zwei potentielle Täter in einer Tötungssituation zusammenkommen und daß es nur dem Zufall überlassen bleibt, wer von beiden Täter oder Opfer wird. Die Studie von Wolfgang zur kriminellen Tötung in Philadelphia wurde in Houston/ Texas und in Chikago wiederholt und in ihren Ergebnissen bestätigt. In Houston wurden 438

Fälle mit 430 Tätern und 425 Opfern aus der Zeit vom 15.3.1958 bis 31.12.1961 erforscht (Alex D. Pokorny 1965). Die kriminelle Tötung ereignet sich viel öfter zwischen Menschen, die eine enge persönliche Beziehung miteinander haben, als zwischen Fremden. Angreifer und Opfer wohnen meist eng beieinander. In 65% der Fälle wohnten Täter und Opfer weniger als eine Meile weit voneinander entfernt im weit ausgedehnten Stadtgebiet von Houston (objektive soziale Beziehung). In Chikago wurden 459 Fälle krimineller Tötung mit 395 Opfern und 429 Tätern aus dem Jahr 1965 analysiert (Harwin L. Voss, John R. Hepburn 1968). Opfer, die von Familienmitgliedern oder engen Freunden erschlagen wurden, machten 47,4% aller Opfer aus. Bei den weiblichen Opfern wurden sogar 96% von Familienmitgliedern, engen Freunden oder Bekannten getötet. Von 311 Fällen krimineller Tötung des Chikagoer Materials sind 118 (37,9%) von den Opfern selbst verursacht worden. Die Prozentsätze der kriminellen Tötungen in Chikago, bei denen Täter und Opfer miteinander bekannt waren, machten für die folgenden Jahre aus: 1965: 76%, 1966: 73%, 1967: 73%, 1968: 73%, 1969: 63% und 1970: 62% (Richard Block,

561

Viktimologie Franklin Ε. Zimring 1973). In 1972 betrug das Alter von 1433 Opfern von Tötungsdelikten in New York City über 21 Jahre. 161 Opfer waren 16 bis 20, 41 waren 7 bis 15 Jahre und 56 unter 7 Jahre alt. 1419 Opfer waren männlich und 272 weiblich (vgl. zur Alters- und Geschlechtsverteilung der Opfer von Tötungen in Kalifornien: Schaubild 3). Von 1691 der Polizei in New York City im Jahre 1972 bekanntgewordenen kriminellen Tötungen war bei etwa 70% irgendeine soziale Beziehung zwischen Täter und Opfer vorhanden. 121 Opfer (jede 14. kriminelle Tötung) wurden von Familienangehörigen getötet. Das macht 7,1% aller bekanntgewordenen Tötungen im Jahr 1972 aus. 182 Opfer (jede 9,3. kriminelle Tötung) wurden von jemandem getötet, mit dem sie eine enge persönliche Beziehung hatten, ζ. B. eine Familien- oder eine Freundschaftsbeziehung. Diese Fälle betragen 10,8% der gesamten kriminellen Tötungen im Jahr 1972 in New York City (New York City Police Department 1973 a). In 1973 hatten 865 Opfer krimineller Tötungen in New York City nachweisbare Spuren von Alkohol oder Rauschgift in ihrem Blut. Das ist etwas mehr als die Hälfte aller Opfer krimineller Tötungen in New York City (1680). Bei 1334 Fällen (79,4% aller bekanntgewordenen kriminellen Tötungen) war es möglich, festzustellen, ob zwischen Täter und Opfer eine Beziehung vor der Tat bestanden hatte. Von diesen Fällen ereigneten sich 685 (51,3%) zwischen Freunden und Bekannten mit einer oberflächlichen Beziehung. 372 (27,9%) trugen sich zwischen völlig Fremden

und 277 (20,8%) zwischen Personen mit enger sozialer Beziehung zu. Eine soziale Beziehung vor der Tat wurde bei 72,1% von den 1334 Fällen in New York City im Jahre 1973 ermittelt (New York City Police Department 1974). Pawel Horoszowski (1973) untersuchte 330 Fälle von Tötungsdelikten im Affekt in den Jahren 1932 bis 1936 in acht Gerichtsbezirken in Polen. Ein Viertel der Opfer der männlichen Straftäter waren Mitglieder der Familie des Täters, seiner Verwandten oder ähnlicher nahestehender Personen. Die weiblichen Opfer männlicher Täter waren nahezu lOOprozentig solche Personen mit engen Beziehungen. Die verbleibenden Opfer (157 Männer und nur 3 Frauen) waren eng miteinander bekannt. Sie standen in Beziehungen der verschiedensten Art zu dem Täter oder hatten häufigen Kontakt mit ihm. An diesem Beispiel der Tötungen im Affekt wird deutlich, daß die kriminelle Tötung auf affektiv-emotionalem persönlichen Hintergrund den Endpunkt eines Interaktionsprozesses darstellt. Die Art der Täter-OpferBeziehung bei Mord und Totschlag in SchleswigHolstein im Jahre 1973 stellt sich folgendermaßen dar: Von 123 Fällen mit Opfererfassung waren Täter und Opfer verwandt und verschwägert bei 45 kriminellen Tötungen (36,6%). 9 lebten in Hausgemeinschaft (7,3%). 26 Opfer gehörten zum Bekanntenkreis des Täters (21,1%), und bei 5 Fällen (4,1%) teilten Täter und Opfer den Arbeitsplatz gemeinsam. In keiner sozialen Beziehung standen 38 (30,9%) Täter zu ihren Opfern (vgl. Schaubild 4).

Schaubild 4: Art der Täter-Opfer-Beziehung bei Mord und Totschlag gemeinsamer Arbeitsplatz

Bekanntenkreis ohne Beziehung Hausgemeinschaft

verwandt, verschwägert Quelle: Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Kriminalpolizeiamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1973 für das Land Schleswig-Holstein. Kiel 1974, S. 99. 36 HdK, 2. Aufl., Bd. III

562

Viktimologie

In Japan wurden 275 Verwandtenmorde durchforscht. In 46% war der Vater das Opfer. Er trug u. a. wegen einer aggressiven tyrannischen Persönlichkeit die Hauptschuld an seiner Tötung. Der älteste Sohn, der in den japanischen Familien eine ziemlich beherrschende Stellung einnimmt, geriet sehr oft ins Zentrum eines Familienkonfliktes und wurde getötet. Beim Geschwistermord waren in 60% von 157 Fällen die Opfer für ihre Tötung verantwortlich (Koichi Miyazawa 1970). Selbst bei geisteskranken Tätern krimineller Tötung ist die soziale Beziehung von ausschlaggebender Bedeutung. Der typische Fall einer kriminellen Tötung durch einen Geisteskranken besteht nicht darin, daß er sein Opfer unmotiviert — sozusagen „kalt lächelnd" und wie „aus heiterem Himmel" — überfällt und tötet. Wolfgang Böker und Heinz Häfner (1973) fanden heraus, daß die meisten Opfer der geistesgestörten Gewalttäter in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Bereich der familiären oder intimpartnerschaftlichen Beziehungspersonen, dem sog. „Intimkreis", gewählt wurden. Lediglich etwa 30% aus der Gesamtgruppe der geisteskranken Täter griffen ihnen weniger nahestehende Personen an, und nur in 9% wurden fremde, dem Täter unbekannte Menschen, ζ. B. Straßenpasaanten, Opfer einer Gewalttat. Die Opfer geistesgestörter Täter entstammen in auffallender Häufung dem Kreis der engsten menschlichen Beziehungen. Etwa 60% der Opfer gehörten der Kernfamilie des Täters an — Ehepartner, Kinder, Eltern und Geschwister — oder waren in einer intimen Beziehung mit ihm verbunden. Nur etwa 9% waren fremde, dem Täter unbekannte Personen, während etwa 7% ihm in irgendeiner Autoritätsrolle, etwa als Ärzte, Richter, Polizeibeamte, begegnet waren. Die übrigen etwa 23% der Opfer waren mit dem Täter befreundet oder bekannt. Daraus ist zu schließen, daß enge menschliche Beziehungen für die Tatmotive Geistesgestörter eine wichtige Rolle spielen. Vorzeichen drohender Gewalttätigkeit und der Gefährdung bestimmter Personen kommen im engsten Beziehungskreis des Täters vor. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Beziehungspartner wegen ihrer Gefühlsbindung an den Täter oft nur unzureichend in der Lage sind, die ihnen drohende Gefahr zu erkennen. Der spätere Täter gibt nicht selten Hinweise in Gestalt von Drohungen und Andeutungen, wen er angreifen könnte. Er richtet sie häufig auch direkt an die bedrohte Person. In England ermittelte Norwood East, daß nur 6,6% von 300 geistesgestörten und lediglich 16,5% von 200 geistesgesunden Mördern ihnen fremde Personen töteten (vgl. im einzelnen Tabelle 8). Der Ausdruck „Opfer-Präzipitation" wird bei kriminellen Tötungen angewandt, bei denen das Opfer ein unmittelbarer Vorläufer für die Tat ist (Marvin Ε. Wolfgang 1974). Ein betrunkener

Tabelle 8 Opfer-Täter-Beziehung bei geistesgestörten und geistig gesunden Tätern

Typ des Opfers

Fremder Bekannter, Freund Geliebte Ehefrau Andere Beziehung

Geistig gesunder Täter

Geisteskranker Täter

16,5 20,4 31,2 16,5 15,4

6,6 29,2 8,1 26,5 29,6

100,0

100,0

Quelle: John M. MacDonald: The murderer and his victim. Springfield/ΠΙ. 1961, S. 65. Ehemann, der seine Frau in der Küche schlug, gab ihr ein Schlachtermesser in die Hand und forderte sie heraus, ihn damit zu erstechen. Sie warnte ihn, es nicht noch einmal zu wagen, sie zu schlagen. Daraufhin schlug er ihr erneut ins Gesicht, und sie erstach ihn mit tödlichem Ausgang. Frauen neigen weniger dazu, ihr eigenes Opferwerden mitzuverursachen als Männer. Enge Freunde, Verwandte und Bekannte sind als Opfer in 69% derjenigen Tötungen verwickelt, die vom Opfer mitverursacht werden. In opfermitverursachenden Fällen hatten die Opfer unmittelbar vor der Tat mehr Alkohol getrunken (69%) als in den Fällen, in denen das Opfer die Tat nicht mitverursacht hatte (47%). Ein höherer Prozentsatz der Opfer in opfermitverursachten Fällen (62%) als in opfernichtmitverursachten Fällen (42%) hatte Vorstrafen. Von 470 kriminellen Tötungen in Polen waren 49% vom Opfer provoziert. In Afrika werden 16 bis 20% der Fälle krimineller Tötungen als vorwiegend opferverursacht beurteilt (Lynn A. Curtis 1974). Die Gerichtsakten von 144 Verurteilungen wegen krimineller Tötungen in Zentralindien in der Zeit von 1946 bis 1956 überprüfte Edwin D. Driver (1967). Er fand einen hohen Grad von Homogenität zwischen Kriminellen und ihren Opfern im Hinblick auf Religion, Kaste und Geschlecht. Die Opfer waren selten Fremde, meist Verwandte oder nahe Bekannte, ζ. B. Nachbarn, Freunde, Geliebte oder Mitarbeiter. Von allen Opfern waren 70 Verwandte, 61 nahe Bekannte, und nur 13 waren Fremde. Die kriminelle Tötung in Uganda im Jahre 1964 untersuchte R. E. S. Tanner (1970 a). Von 711 bekanntgewordenen kriminellen Tötungen führten nur 137 zur Verurteilung. Die Regierung von Uganda definiert sich selbst als nicht in der Lage, die Kriminalität in ihrem Land wirksam zu kontrollieren. Keinerlei

Viktimologie soziale Beziehungen wurden in 64% der Fälle von kriminellen Tötungen in Uganda festgestellt. In den Fällen, in denen soziale Beziehungen ermittelt werden konnten, töteten Männer ihre Frauen in 72% und Männer ihre engen Freunde und Bekannten in 23,6%. Die Erkundung einer nachbarschaftlichen Beziehung ist in Uganda schwierig, weil der größte Teil der Bevölkerung nicht in Dörfern oder Städten wohnt. Die Besiedlung ist in einzelnen Häusern über das ganze Land verteilt, was die soziale Kontrolle des Verbrechens durch Nachbarn und Gemeinschaft, aber auch durch Polizei und Gericht außerordentlich erschwert (R. E. S. Tanner 1970b). Selbst bei Raubmorden ist der Anteil der Fälle mit „Opferbeziehung" nicht klein. Von 32 verübten Raubmorden wurden in der BRD nur 11 an Opfern begangen, die dem Täter unbekannt waren (Eduard Werner 1956). Die Fälle, in denen ein einseitiges subjektives Verhältnis, nämlich das Kennen des Opfers durch den potentiellen Täter, gegeben war, scheinen indessen zu überwiegen. 50 Fällen von Raubmord in Österreich mit 59 Tätern und 51 Opfern ist Ezzat Abdel Fattah (1971) nachgegangen. Er stellte drei Opfergruppen fest: In der ersten Gruppe befindet sich ein ganz bestimmtes Opfer. Es ist gerade seine Existenz und seine Anwesenheit, die beim Mörder die Idee zum Raubmord entstehen lassen. Eine zeitweise längere oder kürzere Phase, während der ein Tatplan ausgearbeitet wird, teilt die Verbrechensidee von ihrer Ausführung. Eine günstige Gelegenheit für die Tatausführung wird vom Täter ausgesucht. In der zweiten Gruppe ist ein ganz bestimmtes Opfer in einer speziell günstigen Situation für den Angriff vorhanden. Die Idee für das Verbrechen entsteht und die Wahl des Opfers wird inspiriert zur selben Zeit durch das Vorhandensein des Opfers in dieser günstigen Situation. Der Mörder führt das Verbrechen kurze Zeit, nachdem ihm die Idee dazu gekommen ist, aus, indem er die Gelegenheit und die Situation ausnutzt, in der er sich mit Rücksicht auf das Opfer befindet. Bei diesen beiden Typen von Fällen stellt das Opfer selbst eine bestimmte Ursache für das Verbrechen dar. In der dritten Gruppe hat der Täter zwar die Idee für das Verbrechen. Sie wird aber unabhängig von der Person des Opfers geboren. Der Raubmörder macht ein Opfer ausfindig, gegen das er seine Idee ausführen kann, und er sucht eine Gelegenheit, um den Raubmord zu begehen. Nur in 8 von 50 Fällen stellte Fattah keine „Täter-OpferBeziehung" fest. In allen übrigen Fällen lagen persönliche, verwandtschaftliche, freundschaftliche, erotische, situative, bekanntschaftliche, nachbarschaftliche oder berufliche Beziehungen vor. Es konnte deshalb festgestellt wreden, daß die Personen, die Raubmord begehen, nur in den seltensten Fällen Opfer aus Unbekannten auswählen, 36·

563

sondern daß sie vielmehr dahin tendieren, sie aus dem Kreis der Menschen auszusuchen, die sie kennen und mit denen sie mehr oder weniger enge Beziehungen unterhalten. Diese Opfer besitzen bestimmte Persönlichkeitszüge und Qualitäten, die sie für den Raubmord prädestinieren. Es handelt sich vor allem um alte Menschen, die in einem schlechten physischen Zustand sind und Geld oder Wertsachen bei sich haben. Der Alkohol spielt eine viktimogene Rolle in mancherlei Hinsicht: Das Opfer wird in gefährliche Situationen gebracht. Sein Widerstand wird abgeschwächt oder beseitigt. Seine Wachsamkeit wird vermindert. Seine Unvorsichtigkeit und Sorglosigkeit vergrößern sich, und sein kritisches Urteil wird vernebelt. Bestimmte Berufe, wie die des Taxifahrers und des berufsmäßigen Kassierers, sind besonders raubmordgefährdet. Asoziales Verhalten und räumliche Isolation sind Prädispositionen in der Sozialordnung, die bei der Wahl des Opfers zum Raubmord beitragen. Der Wunsch nach sexuellem Vergnügen und darüber hinaus nach sexuellen Ausschweifungen, wie Homosexualität, steigern das Risiko des Opferwerdens. Ebenso treffen bestimmte Charakterfehler, wie Bestechlichkeit und Geldgier, auf Individuen zu, die geneigter als andere sind, Opfer verschiedenartiger Delikte, unter ihnen speziell des Raubmordes, zu werden. Trifft die Annahme zu, daß kriminelle Tötungen häufig aus der Sozialbeziehung, aus dem interaktionistischen Sozialprozeß erwachsen, so liegt beim Raubmord doch die Hypothese näher, daß sehr oft ein einseitiges subjektives Verhältnis, nämlich das Kennen des Opfers durch den potentiellen Täter, gegeben ist. Bei der Körperverletzung überwiegt wieder eine andere Art der Sozialbeziehung, nämlich das kurzzeitige Kennenlernen von Täter und Opfer vor der Tat. 25% der 965 schweren und gefährlichen Körperverletzungen in St. Louis aus dem Jahr 1961, also 241 Fälle, verfolgten David J. Pittman und William Handy 1964: Vor der Körperverletzung fand in der Regel eine Interaktion zwischen Täter und Opfer statt. Verbale Argumentationen gingen in 181 von 241 Fällen der Aggression voraus. Bei der Untersuchung von 131 Opfern der Körperverletzung in Washington D. C. wurde festgestellt, daß nur 25 (19%) dem Angreifer nicht vorher begegnet waren. 14 (11%) wurden von ihren Ehepartnern, 13 (10%) durch andere Verwandte und 79 (60%) von Personen angegriffen, mit denen sie oberflächlich und gelegentlich zusammengetroffen waren (President's Commission 1967 a, S. 40). Ein spielerisch-kindlicher Kontakt zwischen kindlichem Opfer und erwachsenem Täter ist für die Unzucht mit Kindern charakteristisch. Die im Kinsey-Report veröffentlichten Zahlen, nach denen 24% der befragten Frauen als Kind der sexuellen Annäherung eines erwachsenen Mannes

Viktimologie

564

ausgesetzt gewesen sind, davon 80% nur einmalig, sind ein Hinweis auf die Ubiquität derartiger Kontakte (Alfred C. Kinsey, Wardell B. Pomeroy, Clyde Ε. Martin, Paul H. Gebhard 1954, S. 117). 5% der Frauen berichteten von neun und mehr Erlebnissen. Die erwachsenen Männer, die sich diesen Mädchen im Vorpubertätsalter in 609 berichteten Fällen genähert hatten, waren folgendermaßen identifiziert worden: Fremde 52%, Freunde und Bekannte 32%, Onkel 9%, Väter 4%, Brüder 3%, Großväter 2% und andere Verwandte 5%. Folgende Formen von Annäherungen und Kontakten waren es, die nach den Berichten der Frauen in 1075 Fällen vorgekommen sind: nur Annäherung 9%, Entblößung der männlichen Genitalien 52%, Entblößung der weiblichen Genitalien 1%, Streicheln, ohne genitalen Kontakt 31%, Manipulation an den weiblichen Genitalien 22%, Manipulation an den männlichen Genitalien 5%, oraler Kontakt, weibliche Genitalien 1%, oraler Kontakt, männliche Genitalien 1% und Koitus 3%. Hier wird erneut dentlieh, daß die leichteren Erscheinungsformen bei der Unzucht mit Kindern stark überwiegen. Von den 4441 Frauen und Mädchen, die John H. Gagnon (1965) in den USA gefragt hat, ob sie Opfer einer Sexualstraftat geworden seien, antworteten 1075 (24%) in bejahendem Sinne. 1200 Probandinnen wurden ausführlicher interviewt. Von ihnen berichteten 333 (28%) von einer Sexualerfahrung mit einem Erwachsenen vor ihrem 13. Lebensjahr. Von den 400 Delikten, die von 333 Frauen und Mädchen geschildert worden sind, waren — nach der Erinnerung der Probandinnen — nur 6% der Fälle der Polizei angezeigt worden. Die Erscheinungsformen der Opferteilnahme waren ganz überwiegend zufällig oder häufig zufällig (vgl. wegen der Einzelheiten Tabelle 9). Die soziale Beziehung zwischen Täter und Opfer variierte mit dem Typ des Opfers. Das zufällige Opfer mit nur einer Tabelle 9 Erscheinungsformen der Opferteilnahme Anzahl der Fälle Prozent Zufall Häufiger Zufall Zwang Einverständnis

77.2 13.5 1.5 7.8 100

(257) (45)

Häufigkeit der Vorfälle Prozent

(5) (26)

64.2 26.2 1.5 8.0

(257) (105) (6) (32)

333

99.9

400

Quelle: John H. Gagnon: Female child victims of sex offenses. Social Problems 1965, S. 181.

Erfahrung hatte dieses Erlebnis in der Regel mit einem völlig Fremden, den es — nach seiner Erinnerung — vorher nicht gesehen hatte. Etwa ein Viertel (27%) der Opfer war mit dem erwachsenen Täter bekannt. 8% der Delikte ereigneten sich mit Verwandten. Thea Schönfelder (1968) zog 30 Mädchen aus eigenem Untersuchungsgut und 188 weibliche Fälle aus Aktenmaterial (Landgericht Hamburg: 60 Verfahren mit 84 Mädchen, Landgericht Itzehoe: 76 Verfahren mit 104 Mädchen) für ihre Studie heran. Folgende Formen des Sexualkontakts kamen in ihrem Material vor: nichtgenitale Berührungen 18, genitale Berührungen 76, gegenseitige Manipulationen 16, beischlafähnliche Handlungen, orale und anale Praktiken 42 und versuchter oder vollendeter Geschlechtsverkehr 36. Die Täter im sozialen Nahraum, der Nachbar, Bekannte, Freund der Familie, der angeheiratete oder blutsverwandte Familienangehörige und die Autoritätsperson, überwiegen auch in dem Material von Thea Schönfelder: 33 (18%) waren Fremde, 74 (40%) Bekannte, 19 (10%) Autoritätspersonen, 21 (11%) Stiefväter, 27 (14%) Väter und 14 (7%) sonstige Familienmitglieder. Mangelnde Intelligenz und abnorme Persönlichkeitsstruktur sind häufig. Instabile Familienverhältnisse und Verwahrlosung kommen ebenfalls oft vor unter den kindlichen Opfern. Der Anteil der aus sozial schwächeren Verhältnissen stammenden Mädchen ist höher als der Anteil aus günstigerem Sozialniveau. Nichtverwandte Täter finden sich häufiger unter stabilen als unter instabilen Verhältnissen. Von 188 Mädchen konnten 70 (37%) als aktiv an der Sexualstraftat mitbeteiligt bezeichnet werden. Richtet der Mann ein freundlich-anteilnehmendes Intereses auf das Kind, vermeidet er jedes Spannungsmoment und entspricht er nicht dem Bilde des von den Eltern gekennzeichneten „Kinderschrecks", so ist bei einem naiven Verhaftetsein des Kindes in einer Spiel- und Märchenwelt, bei kontaktfreudiger Zutraulichkeit, aber auch bei arglos-erwachsenengläubiger Unterwürfigkeit, eine vorhandene Reserviertheit selbst von einem fremden Mann leicht auszuräumen. Eine aktive Mitbeteiligung ist in über einem Drittel der Fälle anzunehmen. Die kindlichen Opfer kommen häufig aus einer emotionalen Mangelsituation. Vom echten Liebesverhältnis und sympathiegetragenen Experiment finden sich fließende Übergänge zu ungebunden verwahrlostem Verhalten. Der Aspekt des Spiels trifft oft in den Vordergrund. Aktive Abwehrmaßnahmen sind selten. Der Bekanntheitsgrad des Täters erschwert in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Ablehnung seiner Person. Im Dane County (Wisconsin, USA) hat Charles H. McCaghy (1967) im Februar 1964 181 Fälle von Unzucht mit Kindern näher aufgeklärt. Die meisten Täter (68%) waren mit dem kindlichen Opfer mindestens oberflächlich bekannt. Offener

Viktimologie Zwang und Gewaltanwendung kamen bei der Mehrzahl der Fälle (76%) nicht vor. Auch Rudolf Wyss (1967) hat an seinem schweizerischen Untersuchungsgut festgestellt, daß von den 119 Probanden, die sich nur an Mädchen oder nur an Knaben vergingen, 96 ihre Opfer unter Bekannten, Verwandten und Pflegebefohlenen suchten und nur 23 fremde Kinder mißbrauchten. Aus ihrem österreichischen Material bestätigt Anna Kainz (1967), daß es sich bei den Bekannten der Opfer meist um Nachbarn handelte, bei denen die Kinder zu Besuch weilten oder zum Fernsehen eingeladen waren, und auch um Geschäftsleute, zu denen die Kinder zum Einkaufen geschickt worden waren. Von 1199 Opfern, die Use Matthes (1961) in der Bundesrepublik Deutschland untersuchte, waren 887 (74%) weibliche und 312 (26%) männliche Minderjährige. Sie faßt ihre Ergebnisse dahingehend zusammen, daß insgesamt 257 Mädchen zwischen 2 und 20 Jahren (56,7%) eine positive und 196 Mädchen (43,3%) eine negative Einstellung zur Tat zeigten. Demnach überwiegen — wenn auch nicht in sehr erheblichem Maße — die weiblichen Minderjährigen, die der Handlung positiv gegenüberstanden und dem Täter die Begehung des Delikts relativ leicht machten. In der Studie von Ilse Matthes (1961) sind gleichfalls die Täter aus dem sozialen Nahraum in der Mehrheit (vgl. zu den Einzelheiten Tabelle 10). In der forensischen Untersuchungsstelle in Toronto studierten Johannes W. Mohr, R. E. Turner und Μ. B. Jerry (1964) in der Zeit von 1956 bis 1959 55 Pädophile und 54 Exhibitionisten. Besonders bei heterosexuellen Beziehungen zu Kindern stammte der Täter aus der näheren Umwelt des Opfers. Bei homosexueller Pädophilie spielte eine oberflächliche, gelegentliche Bekanntschaft die vorherrschende Rolle. Man kann argumentieren, daß Täter aus dem sozialen Nahraum des geschädigten Kindes leichter entdeckt werden können. Man kann aber auch sagen, daß sich Eltern eher scheuen, Angehörige und Freunde der Familie anzuzeigen als Fremde. Zudem erzählen die geschädigten Kinder sexuelle Erlebnisse mit Fremden eher zu Hause als mit Angehörigen oder Freunden der Familie. Die allgemeine Annahme, daß Kinder stets die schuldlosen Opfer und die Erwachsenen immer die schuldigen Täter sind, stimmt allein in strafrechtlichem Sinne. Der Erwachsene ist der Rechtsbrecher, weil er der verantwortliche Erwachsene ist. Das Kind ist das Opfer, weil es ein Kind ist und die Tragweite seiner Handlungen noch nicht so überschauen kann wie ein Erwachsener. Selbst dort, wo die Initiative vom Kind ausgeht, bedarf es der Klärung, ob das Kind den Sexualpartner sucht oder die väterliche Ersatzperson und den Freund, bei dem die Sexualhandlung mit in Kauf genommen wird (Günther Kaiser 1974). Allerdings läßt sich solche geforderte Klärung schwer herbei-

565

führen, weil die Motivation der initiativen Kinder meist höchst komplex und unentwirrbar verschlungen ist. Die Opfer von Exhibitionisten sind fast lOOprozentig Fremde. Der Täter sucht keine Beziehung. Er will das Opfer in der Regel erschrekken und einschüchtern. Er hat selbst Angst vor dem Opfer, und er scheut die menschliche Beziehung (Johannes W. Mohr, R. E. Turner und Μ. B. Jerry 1964, S. 120, 121). Bei Untersuchungen über Sexualstraftaten haben sich die Opfer als kollaborativ in 8% von 330 Fällen, als nichts einwendend in 40% von 1994 Fällen, als teilnehmend in 60% von 73 Fällen und als unterwürfig in 21% von 185 Fällen erwiesen (LeRoy G. Schultz 1968, S. 137 m. w. N.). In den Kantonen Zürich, Bern und Solothurn hat Heinz Reinhardt (1967) an Hand der Strafakten in 150 Fällen die Täter-Opfer-Beziehung näher erforscht. Es handelte sich bei den Opfern um Mädchen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Reinhardt kommt zu folgenden Ergebnissen: Die Mehrzahl der Opfer kann nicht als verführt oder mißbraucht gelten. Die meisten Mädchen sind, wenn auch nicht in allen Fällen die Treibenden, so doch die von sich aus alle sexuellen Handlungen bereitwilligst Duldenden. 54% der Mädchen verfügten über sexuelle Erfahrungen vor der zur Strafverfolgung führenden Tat. 73,3% verhielten sich provokatorisch oder duldeten bereitwilligst den Verkehr, wobei 50,9% für den Täter Gefühle empfanden. 77,8% stammten aus einem ungünstigen Milieu, und bei 82,2% förderte mangelnde Beaufsichtigung das Delikt.

Tabelle 10 Soziale Beziehungen zwischen den 2- bis 20jährigen weiblichen Minderjährigen und den Beschuldigten

Formen der sozialen Beziehung

Vater, Stief- und Pflegevater Sonstwie verwandt Hausgenosse Näher bekannt Flüchtig bekannt Unbekannt Summe

2- bis 20jährige weibliche Minderjährige Ν Prozent 73 30 36 439 30 278

8,2 3,4 4,1 49,5 3,4 31,4

886

100,0

Quelle: Ilse Matthes: Minderjähre „Geschädigte" als Zeugen in Sittlichkeitsprozessen. Wiesbaden 1961, S. 27.

566

Viktimologie

Die gründlichste empirische Studie über die Täter-Opfer-Beziehung bei der Notzucht stammt von Menachem Amir (1971). Er verfolgte in Philadelphia 646 Notzuchtsfälle, die der Polizei der Stadt in den Jahren 1958 und 1960 bekanntgeworden waren. 348 Fälle waren aus dem Jahr 1958 und 298 aus dem J a h r 1960. Auf Einzelnotzucht entfallen 370, auf Paarnotzucht (zwei Täter) 105 und auf Gruppennotzucht (mehrere Täter) 171 Fälle. Betrachtet man die Eingangsinteraktion, so sind die gefährlichsten Treffpunkte die Straße (48%). Die meisten Notzuchtstaten spielen sich in Wohnungen ab (67%). 96 Fälle (15%) wurden im Auto begangen. Bei 550 Fällen (85%) wurde Zwang in der Notzuchtssituation angewandt. Bei nahezu einem Drittel der Fälle ( 2 9 % ) bestand der Zwang in Form von Rauheit und Grobheit. In einem Viertel der Fälle wurde das Opfer während der Notzuchtssituation geschlagen. In einem Fünftel der Fälle (20,5%) wurde es brutal behandelt und in 1 2 % sogar gewürgt. Schwere Grade von Gewaltanwendung geschahen bei der Gruppennotzucht, während die Einzelnotzucht die geringste Gewalt bei der Notzuchtshandlung aufwies. Der Widerstand des Opfers erhöht die Provokation, die der Täter ihm gegenüber empfindet, und es wird im Falle der Widerstandsleistung meist Subjekt größerer physischer Brutalität und sexueller Erniedrigung. In 173 Fällen ( 2 7 % ) leistete das Opfer dem Täter vor und während der Notzuchtshandlung Widerstand, und in 116 Fällen (18%) kämpfte das Opfer sehr stark gegen den Angreifer. Diese Ergebnisse machen die Naivität deutlich, von allen Frauen und Mädchen zu erwarten, für ihre sexuelle Selbstbestimmung zu kämpfen. Wenn das Opfer mit einer Bedrohung seines Lebens oder seines physischen Wohlbefindens konfrontiert ist, läßt es davon ab, Widerstand zu leisten oder zu kämpfen. Unterwürfiges Verhalten wurde von den Opfern in etwa 6 0 % der Fälle gezeigt. J e höher das Ausmaß der Gewaltanwendung ist, desto größer ist der Grad des Widerstandsverhaltens. 676 Täter von insgesamt 1292 (53%) waren Bekannte, enge Nachbarn, Freunde, Familienfreunde und Verwandte des Opfers. 616 Täter ( 4 7 % ) waren dem Opfer fremd. Es sollte beachtet werden, daß Mädchen, die ihren Freunden trauen, oder diejenigen, deren Familien Vertrauen in ihre Freunde und Verwandten haben, nicht davon verschont bleiben, Opfer von Notzuchtstaten zu werden. Der höchste Anteil des Vorhandenseins von Alkohol in der Notzuchtssituation betrifft die Fälle, in die Fremde verwickelt waren (69%). J e enger die Beziehung zwischen Opfer und Täter war, desto größer war die Gewalt, die gegenüber dem Opfer angewandt worden ist. In 2 5 % der Fälle geschah der Angriff nach gemeinsamem Trinken, einer wilden Party oder einer erotischen Intim situation zwischen Täter und Opfer in einem

Auto. Die Psychoanalyse sieht jede Frau als potentielles Opfer an. Der psychopathologische Ansatz unterstreicht emotionale oder geistige Störungen bei den Frauen und Mädchen, die Opfer von Notzuchtshandlungen werden. Die soziologische Theorie legt Gewicht auf Jugendund Statusprobleme der Mädchen. Die grundlegende Idee der psychoanalytischen Schule ist der Gedanke der Tendenz zum Opferwerden als einer universalen Bedingung jeder Frau. Mädchen, die aus Elternhäusern kommen, in denen sie zurückgewiesen werden, oder aus einer materiell wie personell defizitären Umgebung und Mädchen, die sexuelle Führung und Schutz innerhalb der Familie entbehren, tendieren dazu, schnell heranzureifen. Indem sie nach neuen Erfahrungen Ausschau halten, die ihnen Schutz, Beachtung und Status verleihen sollen, werden diese Mädchen leicht Beziehungen eingehen und sich in Situationen einlassen, die mit Gefahren der sexuellen Ausbeutung und Erniedrigung befrachtet sind. Wenn Mädchen zu Hause zurückgewiesen werden, wird Sexualität für sie ein Weg, um Liebe und Intimität zu erlangen. Das allgemeine Modell der Rolle des Opfers im Verbrechen ist das eines passiven, schwachen, verletzbaren Gegenüber zum Täter. Hans von Hentig (1948) entwickelte das Opfer-Täter-Modell. Das Konzept der vorwiegenden Opferverursachung, der Opferpräzipitation nach Marvin Ε . Wolfgang (1958) basiert auf dem Opfer-Täter-Opfer-Modell. Hier ist das Opfer, das ausagiert, das die Interaktion zwischen ihr und dem Täter anbahnt. Durch ihr Verhalten schafft sie erst die Gelegenheit für kriminelles Verhalten des Täters. Sie löst diese Möglichkeit aus, wenn sie vorher in dem Täter angelegt war. Ihr Verhalten transformiert ihn dadurch in einen Handelnden, daß seine kriminellen Absichten vom Opfer gerichtet werden, das ihn nicht nur zur Tat führen, sondern auch die Erscheinungsform seiner Tat bestimmen kann. Das Verhalten des Opfers und seine Interpretation oder Mißinterpretation durch den Täter lassen es symbolisch oder tatsächlich in eine Situation eintreten, in der sein Handeln und die Situation „suggestiv" werden und aus der der Täter sexuelle Zugänglichkeit schließen kann. Auf diese Weise wird der Widerstand des Opfers, wenn er tatsächlich stattfindet, nicht ernstgenommen, oder die Situation und die „Motive" des Täters werden in einer Weise beeinflußt, daß er sich über die Proteste des Opfers hinwegsetzt. Von 646 Notzuchtsfällen sind 122 (19%) vorwiegend vom Opfer herbeigeführt. In der Mehrheit der Fälle (82%) lebten Opfer und Täter in demselben Gebiet (objektive Beziehung). Die Analyse zeigte, daß 7 1 % der Notzuchtsfälle geplant waren. Bei über der Hälfte der Täter waren er und sein Opfer sich gegenseitig in einem Umfang bekannt, daß man von einer engen persönlichen Beziehung sprechen

Viktimologie kann. Je enger die Beziehung zwischen Opfer und Täter war, desto größer war die Anwendung von psysischer Gewalt gegen das Opfer. Nachbarn und Bekannte erwiesen sich als die gefährlichsten Menschen insoweit, als brutale Notzucht im Spiele war. Wenn das Opfer nicht allein verantwortlich für das ist, was ein „unglückliches Ereignis" (Menachem Amir 1967 a und b) genannt werden kann, so ist es dennoch oft „ein ergänzender, ein komplementärer Partner". Opferpräzipitation bedeutet schnelle und eilige Handlung, unangemessene, ungebührliche, übermäßige, unkluge, unbesonnene Hast. Opferpräzipitation findet ihren Sinn darin, daß in einer besonderen Situation das Verhalten des Opfers von dem Täter interpretiert werden kann als unmittelbare Einladung zu sexuellen Beziehungen oder als ein Zeichen, daß es für Sexualkontakte verfügbar sein wird, wenn er weiterhin danach drängt. Das Opferverhalten kann hierbei in einem Handeln bestehen. So kann sie damit einverstanden sein, mit ihm viel Alkohol zu trinken oder mit ihm im Auto mitzufahren. Es kann auch eine Unterlassen sein. So kann sie ζ. B. versäumen, stark genug gegen seine sexuellen Vorschläge und Vorspiele zu protestieren. Das Verhalten des Opfers kann als offene Unterwerfung verstanden werden. Ob dies tatsächlich der Fall ist, braucht indessen nicht so wichtig zu sein. Entscheidend ist die Interpretation der Handlungen des Opfers innerhalb der gerade vorhandenen Situation durch den Täter. Der Ausdruck „Opferpräzipitation" beschreibt solche Notzuchtssituationen, in denen das Opfer tatsächlich oder allem Anschein nach mit sexuellen Beziehungen einverstanden war, aber sich vor der eigentlichen Handlung zurückzog oder nicht stark genug gegen den Vorschlag reagierte, der von dem Täter ausging. Eine signifikante Beziehung wurde gefunden zwischen vorwiegend durch das Opfer verursachter Notzucht und Alkoholkonsum. In 53% der vorwiegend durch das Opfer ausgelösten Notzuchtssituationen wurde Alkoholkonsum festgestellt, und zwar entweder beim Opfer allein oder sowohl beim Täter wie beim Opfer. Demgegenüber wurden in nur 25% der nicht durch das Opfer verursachten Fälle Alkoholkonsum gefunden. Enge persönliche Beziehungen, von Bekanntschaft bis zu verschiedenen Arten von Familienbeziehungen, machen 71% der opferverursachten Notzuchtsfälle aus, aber nur 43% der nichtopferverursachten. Ein Vergleich von 122 Fällen vorwiegend opferverursachter mit 524 Fällen von nichtopferausgelöster Notzucht ergibt signifikant höhere Anteile in den folgenden Charakteristiken bei den Fällen mit opferverursachter Notzucht: Alkohol in der Notzuchtssituation, speziell beim Opfer oder sowohl beim Opfer wie beim Täter, schlechtes Ansehen des Opfers, Wohnen von Täter und Opfer im selben Gebiet, Kennenlernen des

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Opfers durch den Täter in einer Bar, auf einem Picknick oder auf einer Party, Gebrauch von Zwang, um das Opfer gefügig zu machen, sexuelle Demütigung auf Seiten des Opfers und TäterOpfer-Beziehungen, unter Einschluß aller Kategorien der engen persönlichen Beziehungen, mit Ausnahme von Familienbeziehungen. In Hamburg wurden von Wolfgang Kucklick (1970) 221 Fälle von Notzucht auf die TäterOpfer-Beziehung hin beurteilt. 75 Opfer standen zur Tatzeit unter Alkoholeinfluß. Anbahnungsorte waren hauptsächlich die öffentliche Straße (66 Opfer), Lokale (57 Fälle), Bahnhof und öffentliche Verkehrsmittel (6 Opfer). Bei 37 Opfern bestanden zu den Tätern soziale oder familiäre Beziehungen: Bekanntschaft, Nachbarschaft, Verwandtschaft und Zusammenarbeit im Betrieb. 30 Gruppennotzuchtsdelikte wurden ausgewertet. In 16 Fällen bestanden soziale Beziehungen zwischen einem und mehreren Tätern und dem Opfer vor der Tat. Folgende Annäherungshandlungen wurden festgestellt: Der Täter fällt eine Fußgängerin an (27 Fälle, davon 25 Versuche). Er lädt zur Spazierfahrt ein (25 Fälle, davon 12 Versuche). Der Rechtsbrecher knüpft ein allgemeines Gespräch an (21 Fälle, davon 10 Versuche). Er verfolgt das Opfer (19 Fälle, davon 14 Versuche). Er lädt in seine eigene Wohnung ein (14 Fälle, davon 5 Versuche). Er steigt in die Wohnung ein (6 Fälle, davon 3 Versuche). Er gibt sich als Autoritätsperson aus (5 Fälle, davon 2 Versuche). Mindestens 43 der 221 Notzuchtsopfer waren exponierte Opfer: 17 Prostituierte, 12 Streunerinnen, 6 Fürsorgezöglinge, 6 Vermißte und 2 Trinkerinnen. Diese exponierten Opfer begeben sich an Orte, an denen sie Gefahr laufen, Opfer von Notzuchtsverbrechen zu werden. Als Tatmittel wurden angewandt: Drohen mit Gewalt und Festhalten (59 Fälle), Schläge (53 Fälle), Würgen (34 Fälle), Mundzuhalten (27 Fälle) und Alkoholkonsum (15 Fälle). Engere Orte der Tatausführung waren: Kraftfahrzeuge (35 Fälle), Wohnung des Täters (29 Fälle), Wohnung des Opfers (25 Fälle), Lokale (13 Fälle), Privatgrundstücke (12 Fälle), Treppenhäuser (7 Fälle) und unbewohnte Häuser (4 Fälle). Besonders festzuhalten bleibt, daß jedes dritte Opfer zur Tatzeit unter Alkoholeinfluß stand und daß in jedem zweiten Fall Täter-Opfer-Beziehungen bestanden. Die Opfer waren zu leichtgläubig. In vielen Fällen ließen sie sich zum Mitfahren in Kraftfahrzeugen und in die Wohnung des Täters einladen. Die viktimologischen Beziehungen der Notzucht hat W. S. Minskaja (1972) für die Sowjetunion herausgearbeitet. 55% der Opfer befanden sich vor der Tat in betrunkenem Zustand. In 47% der Fälle waren Täter und Opfer betrunken. In 27% der Fälle wurde die Notzucht im Hause des Täters begangen, in 10% im Hause des Opfers. Anbahnungsorte waren in 52% der Fälle die Straße,

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Vikümologie

der Park oder die öffentlichen Verkehrsmittel. 25% der Opfer hatten durch amoralisches Verhalten der Notzucht Vorschub geleistet. Sie besaßen Neigungen zu Alkoholkonsum und zu ausgelassenem Zeitvertreib, ohne bei dem Zusammentreffen mit Bekannten wählerisch zu sein. Aus einer empirisch-viktimologischen Studie, die in Washington D. C. gemacht worden ist (vgl. President's Commission 1967 a, S. 40), ergibt sich, daß nahezu zwei Drittel der 151 Notzuchtopfer mit ihrem Täter beiläufig bekannt waren. Nur 36% von 224 Angreifern waren ihren Opfern vollständig fremd. 16 Täter (7%) waren ihren Opfern von Ansehen bekannt, obwohl sie keinerlei vorherigen Kontakt hatten. 31 (14%) der 224 Angreifer waren Verwandte, Familienfreunde oder Freunde der Opfer, und 88 (39%) waren Bekannte oder Nachbarn. Bei den Opfern von Sexualdelikten gibt es eine Tendenz, ihren Täter zu ermutigen und willentlich am Sexualakt teilzunehmen. Das „Opfer" ist oft ein zustimmender und manchmal ein durchaus unterwürfiger Sexualpartner (Paul H. Gebhard, John H. Gagnon, Wardell B. Pomeroy, Cornelia V. Christenson 1965, S. 794). Der Reiz von außen für ein Notzuchtsdelikt ist meist das leichtfertige Verhalten des Opfers. Nach japanischen empirisch-viktimologischen Studien (vgl. das Referat von Koichi Miyazawa 1970) handelt es sich bei fast 62% der Fälle um zufällige Begegnungen auf der Straße. 38,6% der Taten werden von Einzeltätern und 61,4% von mehreren Tätern begangen. Die Opfer haben dem Täter oft eine stillschweigende Zustimmung zur Straftat gegeben. In 40,35% der Fälle wurde das Opfer ohne Drohung oder Gewalt zum Begehungsort geführt. Es gibt viele leichtsinnige, fahrlässige Typen von Opfern, die nach längerer Zeitdauer, trotz der Veränderung der Situation, nichts tun und sogar die Gelegenheit nicht nutzen, dem Täter zu entfliehen. Den Opfern wird in 53,5% der Fälle in Tokio, in 42,5% in Utsunomiya, in 37,7% in Yomagata und in 26,8% in Kumamoto fahrlässiges Verhalten vorgeworfen. Die Opfer vertrauen dem Täter nur allzu leichtfertig. Sie entfernen sich trotz Fluchtmöglichkeit nicht. Die junge Frau und das junge Mädchen führen in den japanischen großen Städten ein ungesundes Leben. Sie hören bis spät in die Nacht Jazzmusik. Sie verbringen ihre Zeit sinnlos, indem sie Betäubungs- und Schlafmittel nehmen. Sie geraten bewußt in gefährliche Situationen, weil sie das Abenteuer suchen. Eine völlig andere Erscheinungsform der Notzucht haben Michael W. Agopian, Duncan Chappell und Gilbert Geis (1974) analysiert. Es handelte sich um die interrassische Notzucht, um 63 Fälle in Oakland/Kaliforniern aus dem Jahr 1971, bei denen schwarze Täter weiße Frauen notzüchtigten. Sie taten dies meist aus einem Haßmotiv heraus: Ich habe dem Recht des

weißen Mannes getrotzt; ich habe auf seinem Recht herumgetrampelt. Ich habe seine Frauen entweiht. Das hat mich am meisten befriedigt. Die meisten Opfer (57%) berichteten selbst, daß sie sich in der Notzuchtssituation unterwürfig verhalten hätten. Von den Frauen, die kämpften, wurden mehr als die Hälfte (7 von 13) geschlagen. Die Annahme des Opfers, daß Gewaltanwendung durch den Täter bevorstehe, hat sie zu starker Widerstandsleistung veranlaßt, die ihrerseits die latente Gewalt des Täters ausgelöst hat (Interaktionsprozeß). In der Mehrzahl der Fälle waren sich Täter und Opfer gegenseitig bis kurz vor den Ereignissen unbekannt, die zur Notzucht führten. So bot ζ. B. ein Neger einem weißen Mädchen, das auf den Bus wartete, die Mitfahrt in seinem Wagen an. 90,4% interrassischer Notzuchtsfälle ereigneten sich zwischen Fremden. Das ist kein Widerspruch zu den Ergebnissen von Menachem Amir, da sich dessen Notzuchtsfälle in ganz überwiegender Mehrzahl intrarassisch zutrugen. Bei den interrassischen Fällen war überhaupt kein Alkohol mit im Spiel. Ohne sich auf empirisch-viktimologisches Material zu stützen, haben Kurt Weis und Sandra S. Borges (1973) weitreichende hypothetische, zum Teil stark spekulative Thesen aufgestellt: Das Opfer werde als „Verlierer" mißachtet, nur weil es Opfer geworden sei. Man denke über das Opfer, daß es nach der Tat verlangt, „gefragt" habe und daß es das bekommen habe, was es verdient habe. Das Opfer eines Verbrechens gegen eine Person sei oft gebrandmarkt. Je mehr die Begegnung gesehen werde als ein Wettkampf zwischen gleichen Streitern, desto größer sei das Brandmal für den Verlierer oder das Opfer. In einer männlich beherrschten Gesellschaft sei die Frau das Eigentum des Mannes. Sie werde wie ein Sexualobjekt behandelt. Sexuell erfahrene Frauen und Mädchen und Notzuchtopfer würden als „beschädigte Ware" und als unerwünscht angesehen. Die Frau sei psychisch nicht darauf vorbereitet, sich selbst physisch in einem Nahkampf zu verteidigen. Frauen und Mädchen würden unter dem Leitbild sexueller Objekte erzogen. Ihr Sozialisationsprozeß bestehe darin, die psychologischen Kennzeichen eines wehrlosen Opfers zu internalisieren. Der Frau und dem Mädchen werde ständig beigebracht, daß sie wehrlos und verantwortlich zugleich für ihr Opferwerden seien. Notzucht werde von den Männern weniger zu ihrer sexuellen Befriedigung begangen als zur Erniedrigung und Verletzung der Selbstbestimmung der Frau. Sie sei in Wirklichkeit ein Angriff auf die weibliche Persönlichkeit; sie habe die Bedeutung einer Depersonalisierung. Sie sei Teil der kollektiven Ausbeutung, der sexuellen Ausbeutung der Frau in einer männlich beherrschten Gesellschaft. Die Notzucht wirke sich als ein sozialer Kontrollmechanismus aus. Dieser Mechanismus habe den

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Viktimologie Zweck, die Frauen und Mädchen an ihrem Platz in der Gesellschaft zu halten oder sie dorthin zu stellen. Gemeint ist der angeblich geminderte soziale Status der Frau, nur weil sie eine Frau ist. Die Thesen von Kurt Weis und Sandra S. Borges (1973) stammen aus der Ideologie der nordamerikanischen Frauenrechtsbewegung, der sogenannten „Frauenbefreiung", die von der Mehrheit der nordamerikanischen Frauen und Mädchen nicht unterstützt wird. Hier wird der Vorgang der Notzucht mit ideologischen Gedanken befrachtet, die einer unvoreingenommenen viktimologischen Betrachtung nur schaden. Eins ist allerdings richtig, daß zwischen Männern und Frauen in sexuellen Fragen ein sozial ungesundes Klima herrscht. Die Frau „verkauft sich" mit ihrer Sexualität; sie kämpft mit ihr im sozialen Wettbewerb. Sie gibt sich den heuchlerischen „moralischen" Anschein, keine sexuellen Bedürfnisse zu haben. Die meisten Frauen und Mädchen wollen deshalb von Männern „erobert" sein. Sie machen sich dadurch selbst zur „Ware". Sie genießen es, wenn Männer um sie kämpfen. Sie möchten bewußt oder unbewußt zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden, um einen scheinheiligen „moralischen" Anspruch zu wahren. Die Frauen und Mädchen reizen die Männer sexuell beständig. In der Intimsituation spielen sie mit ihrer Sexualität. Der Mann, der sich auf dieses für ihn gefährliche kokette Spiel einläßt, trägt das Risiko, daß die Frau oder das Mädchen die Situation n a c h t r ä g l i c h als Notzucht definiert. „Um die Szene von der Verführung zur Notzucht zu verlagern, muß die Frau jenseits des Punktes Widerstand leisten, der normalerweise von Frauen erwartet wird, die einerseits Geschlechtsverkehr wünschen, aber andererseits ihren „moralischen" Anschein aufrechterhalten wollen" (Weis, Borges 1973, S. 92). Diese völlig verkrampfte soziale Situation wird als Verführung akzeptiert oder als Notzucht deklariert allein von der Frau, die stets „Opfer" spielt. Daß auch der Mann durchaus Opfer weiblicher Verführungskünste, Hinterlist und Verlogenheit werden kann, diese Feststellung wäre einer ausgewogenen Darstellung der Problematik bei Kurt Weis und Sandra S. Borges (1973) zugute gekommen. Ein Verharren in der aggressiven Ideologie der „Frauenbefreiung" läßt den Vorwurf der Befangenheit leicht aufkommen. Es ist heute genauso häufig, daß der Mann als Eigentum seiner Frau behandelt wird. Sexuelle Erfahrung der Frauen und Mädchen wird in der sexuell immer liberaler werdenden westlichen Gesellschaft nicht mehr in demselben Maße wie früher als Mangel bewertet. Der Sozialisationsprozeß der Mädchen gleicht sich immer mehr dem der Jungen an. Ehemals auch echt weibliche Werte wie Güte, Müde, Barmherzigkeit, Bewahrung moralischer Maßstäbe, sind heute fast nur noch der Lächerlichkeit preisgegeben.

Weibliche Aggressivität ist verletzender als männliche. Frauen und Mädchen lernen sich genauso zu verteidigen wie Männer und Buben. Männer werden von Frauen in derselben Weise erniedrigt wie umgekehrt; sie können von Frauen ebenso finanziell ausgebeutet werden, wie Männer Frauen ausbeuten. Man kann durchaus sagen, daß viele Frauen und Mädchen heute ihre eigene Sexualität zum Schaden der Männer selbst „ausbeuten". Hier ist ein verhängnisvoller Sozialprozeß im Gange, der von Männern wie Frauen gleicherweise vorangetrieben wird. Daß Frauen und Mädchen sich unterdrückt fühlen, macht nur deutlich, daß sie nicht fähig sind, die ihnen eingeräumten gleichen Rechte und Möglichkeiten wahrzunehmen und auszufüllen. Beim Opfer des Raubes ist ebenso wie beim Opfer des Raubmordes das einseitige subjektive menschliche Verhältnis vorherrschend. In Hamburg wurden bei 679 Raubüberfällen in der Zeit vom 1. 2.1969 bis 31.1.1970 858 Opfer geschädigt (Wolfgang Kucklick 1970). Davon wurden bei 547 vollendeten Taten 714 und bei 132 Versuchen 144 Personen als Opfer gezählt. Alleingehende Fußgänger waren die weitaus meisten Opfer des Raubes (425). Touristen, Homosexuelle und Prostituierte waren besonders opferanfällig. Das Opfer war angetrunken in 224 (26,6%) und betrunken in 115 Fällen (13,7%). Dem Opfer unbekannte Täter machen die Mehrzahl der Fälle mit 618 (72,9%) aus. Vom Ansehen kannten 107 Opfer (12,6%) ihre Täter. Flüchtig waren 36 Opfer (4,3%) mit ihren Tätern bekannt. Namentlich kannten 75 Opfer (8,9%) ihre Täter. Verwandt mit ihren Tätern waren 9 Opfer (1,1%). Besonders auffallend ist, daß bei der Deliktsart Handtaschenraub unter 100 Opfern allein 29 verwitwete alte Frauen und bei der Erscheinungsform Raub in einem Geschäft 49 Opfer (52,7%) 50 Jahre und älter waren. Die Täter suchen sich solche Geschäfte als Tatobjekte aus, bei denen sie wenig körperlichen Widerstand durch das Geschäftspersonal zu befürchten haben. 3.

Täter-Opfer-Abfolge

Eine Person kann nacheinander Täter und Opfer werden oder umgekehrt. Überprüft man die Lebensgeschichte Schwerkrimineller, so erfährt man häufig von Mißhandlungen, Ausbeutung und Verwahrlosung, die sie als Kinder erlebt haben. Nach japanischen Studien (Koichi Miyazawa 1970) verbirgt das Opfer von Roheitsdelikten latente Tätereigenschaften gleichartiger Straftaten. Opfer solcher Delikte begehen deshalb oft bei darauffolgenden Konfliktsfällen aggressive Rechtsbrüche. Vom 26. April bis 11. Juli 1946 hat Tadeusz Grygier (1954), selbst Opfer eines Konzentrationslagers, in einem Lager für verschleppte Personen in Kempten im Allgäu 4281 Probanden

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Viktimologie

untersucht. Er benutzte zum Teil projektive psychologische Testmethoden. Die verschleppten Personen waren während des Krieges — aus allen Teilen Europas, hauptsächlich aus Polen — innerhalb des damaligen deutschen Reichsgebietes in der Industrie, in der Landwirtschaft und hauptsächlich in Konzentrationslagern der Unterdrükkung unterworfen. Sie konnten als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnet werden. Grygiers Hauptthese lautete, das Phänomen der Unterdrückung und die Opferatmosphäre hätten gravierende Persönlichkeitswandlungen zur Folge gehabt. Er fand folgende Hauptresultate: Seine Probanden zeigten keinerlei persönliche Einsicht in ihre emotionalen Probleme. Sie waren unfähig, psychische und soziale Situationen von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beurteilen und ihre Ansichten in einem Meinungsbildungsprozeß zu differenzieren. Grygier bezeichnet diese Eigenschaften als rigide und egozentrisch. Seine Probanden schoben alle Schuld auf andere. Die Kriminalitätsrate der Experimentalgruppe (unterdrückte, verschleppte Personen) war 45mal höher als die der „normalen" Kontrollgruppe (Tadeusz Grygier 1954, S. 295). Diese Ergebnisse können allerdings auch durch die abnorme Nachkriegszeit maßgeblich mitverursacht worden sein. Immerhin zieht Grygier folgende Schlußfolgerungen, an denen er auch gegenwärtig noch festhält (persönliche Mitteilung am 15. Juli 1974 in Oxford): Unterdrückung ist der Formung einer antisozialen Persönlichkeit förderlich. Personen mit einer solchen durch Viktimisierung maßgeblich beeinflußten Persönlichkeitsstruktur neigen zu Konflikten mit anderen Menschen und zu Verbrechen. Sie können charakterisiert werden durch Egozentrizität, durch ihre Einstellung, scharfe Unterschiede zwischen Innen- und Außengruppe zu machen, und durch Feindseligkeit und Voreingenommenheit gegenüber der Außengruppe. Die Hauptpersönlichkeitszüge dieser Menschen bestehen in mangelnder Einsicht und fehlender Selbstkritik und im Ausagieren ihrer Aggressionen. Sie betrachten die Welt als feindlich und bedrohend. Terence P. Thornberry und Robert M. Figlio (1974) haben die Beziehung zwischen Opferwerden und Kriminalität in Philadelphia untersucht. Ausgebildete Sozialarbeiter interviewten 567 Probanden des Geburtsjahrganges 1945. Selbstberichtinformationen über Opferwerden und Gesetzesbrüche wurden aufgrund eines ausführlichen Fragebogens erhoben, und zwar innerhalb dreier Entwicklungsphasen: jünger als 12 Jahre, zwischen 12 und 18 Jahren und über 18 Jahre alt. Alle interviewten Probanden berichteten, daß sie mindestens bis zu ihrem 26. Lebensjahr Opfer eines Delikts geworden sind. Kein Proband erreichte das Alter von 26 Jahren, ohne nicht wenigstens einmal ein Opfer eines Delikts geworden zu sein. An den 567 Probanden sind 6213 Delikte

verübt worden. Das bedeutet, daß nahezu 11 Delikte auf ein Mitglied der Stichprobe entfielen. Die Quoten des Opferwerdens wurden für 8 verschiedene Delikte (leichte und schwere Körperletzungen, Raub, Erstechen, Erschießen, Taschendiebstahl, Diebstahl und Sachbeschädigung) und innerhalb dreier Entwicklungsphasen festgestellt: weniger als 12 Jahre, zwischen 12 und 18 Jahren und über 18 Jahre alt. Der klarste Unterschied ergab sich zwischen Gewalt- und Vermögensdelikten. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden (einfache und schwere Körperverletzung oder Raub), nimmt mit dem Älterwerden ab, während die Aussicht, Opfer eines Vermögensdelikts zu werden (Diebstahl, Taschendiebstahl und Sachbeschädigung), mit dem Älterwerden zunimmt. Ein Beispiel zeigt dies: Der Prozentsatz der Personen, die körperlich angegriffen werden, nimmt während der 3 Altersphasen von 68,8% auf 6 0 , 3 % bis auf 18,3% ab, während der Prozentsatz der Leute, die Diebstahlsopfer werden, während der 3 Altersphasen von 28,1% über 39,5% bis auf 53,4% zunimmt. Die Häufigkeit der Verhaftung steht in enger und beständiger Beziehung zum Opferwerden. Mit dem Grad der Beteiligung an krimineller Aktivität wächst auch die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden. Es gibt bisher keinen Beweis dafür, daß kriminelle Aktivität zum Opferwerden führt. Umgekehrt geht allerdings das Opferwerden der kriminellen Aktivität voraus. Eine große Mehrheit der Probanden von Thornberry und Figlio berichtete, daß sie, bevor sie zum erstenmal verhaftet worden ist, Opfer eines Delikts geworden ist. Es spricht vieles dafür, daß das Opferwerden bahnend für und möglicherweise unterstützend auf zukünftiges Fehlverhalten wirkt. So können Opferwerden und kriminelles Verhalten ein allgemeines Verhaltensphänomen der Jugend und der Jahre des frühen Erwachsenenalters sein. 4. Die subjektiven Gründe des Täters Delinquentes Betragen wird wie das meiste Verhalten gelernt. Es wird eingeübt in einem Prozeß sozialer Interaktion. Ein großer Teil der Kriminalität beruht darauf, daß diejenigen, die sich kriminell benehmen, dieses Verhalten zu rechtfertigen vermögen, ohne in radikaler Opposition zur geltenden Wertordnung zu stehen. Die Rechtfertigung findet nicht nach dem Rechtsbruch statt, sondern sie wird zum Motiv der Straftat. Diese „Techniken der Neutralisation" (Gresham M. Sykes, David Matza 1968) werden von Kriminellen erlernt. Sie lehnen die Verantwortung ab, indem sie sich mehr von außen getrieben als selbst handelnd empfinden. Ihre Persönlichkeit entfremdet sich von der Tat. Sie verneinen ihr Unrecht. Sie lehnen das Opfer ab, indem sie sich selbst zum Rächer aufwerfen und das Opfer zum

Viktimologie Übeltäter machen. Sie behaupten, das Opfer habe die Tat gewollt oder zumindest verdient. Sie weisen die Zurückweisenden zurück und verdammen die Verdammenden (ζ. B. die Instanzen der Sozialkontrolle). Sie berufen sich schließlich auf höhere Instanzen, indem sie vorgeben, höherrangigen Normen gefolgt zu sein. Das Opfer wird als wertloses menschliches Wesen definiert, oder ihm wird die Eigenschaft, ein menschliches Wesen zu sein, überhaupt abgesprochen (Herman und Julia Schwendinger 1969). Das Opfer wird herabgewürdigt. Ihm wird ein schlechter Ruf nachgesagt. Es ist in einem kriminellen Beruf beschäftigt. Es hat Vorstrafen und legt unordentliches Benehmen an den Tag. Es prostituiert sich, trinkt gewohnheitsmäßig Alkohol und konsumiert Narkotika. Frühere Anzeigen des Opfers wegen erlittener Straftaten haben sich als unbegründet erwiesen. Die Wahrnehmung des Opfers durch den Täter hat Simha F. Landau (1973) untersucht. 104 Probanden wurden in Israel individuell interviewt, während sie eine Freiheitsstrafe verbüßten. Unterschieden wurden folgende Gruppen: Gewalttäter (kriminelle Tötung und Körperverletzung): 37 Probanden, Vermögenstäter (Raub, Einbruch, Diebstahl, Hehlerei): 26 Probanden, Betrüger und Urkundenfälscher: 18 Probanden und Sexualtäter (Notzucht und Unzucht mit Kindern): 23 Probanden. Neutralisationstechniken werden weniger unter Vermögens- und Betrugstätern gefunden. Die überwiegende Mehrheit der Täter dieser Gruppen gibt zu, daß der Grund für ihre kriminellen Handlungen der Wunsch nach materiellem Gewinn war. Was die anderen beiden Gruppen anbelangt, so ist das Bild sehr unterschiedlich. Mehr als die Hälfte der Gewalttäter sieht situative Faktoren als Ursachen für das kriminelle Geschehen an. Die Opfer-Partner begannen mit dem Angriff. Ungefähr ein Viertel dieser Straftäter beschuldigte allein das Opfer für sein Opferwerden. Die Sexualtäter antworteten sehr verschieden. Die Hälfte von ihnen beschuldigte das Opfer: Sie wollte es, sie war verdorben. Nahezu alle anderen Straftäter in dieser Gruppe behaupteten eine Art verminderter Verantwortlichkeit, weil sie unter dem Einfluß von Rauschmitteln oder Alkohol gestanden hätten, weil sie impulsiv und depressiv oder nicht imstande gewesen seien, ihre eigenen Triebe zu kontrollieren. Unter den Gewalttätern, die ihre Opfer vorher nicht kannten, hätten mehr als 40% die Tat begangen, selbst wenn sie das Opfer vorher gekannt hätten. Die Vermögenstäter wie die Sexualtäter behaupteten in ihrer Mehrheit, daß ihr kriminelles Verhalten keinerlei Leiden bei ihren Opfern hervorgerufen habe. Demgegenüber gaben die meisten Täter der zwei anderen Gruppen (Gewalt- und Betrugstäter) zu, daß ihre Opfer gelitten hätten. Selbst unter diesen Straftätern verneinten jedoch ungefähr 40% ein Leiden ihrer Opfer. Diese Ergebnisse sind besonders erstaun-

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lich, wenn man bedenkt, daß ungefähr drei Viertel der Gewalttäter ihre Opfer töteten. Auf die Frage nach ihrem eigenen Leiden gab die überwältigende Mehrheit der Straftäter an, daß sie unter ihrem Delikt gelitten habe. Der Straftäter nimmt sich demnach als das wirkliche Opfer seiner Handlungen wahr. Während noch die meisten Straftäter zugaben, daß sie ihren Opfern Leiden verursachten, waren sie alle der Meinung, daß sie der Familie des Opfers keinerlei Schäden zugefügt hätten. In allen Gruppen behaupteten die Straftäter demgegenüber, daß ihre eigene Familie unter ihrer Kriminalität und deren Folgen leiden würde. Die Anschuldigung des Opfers, die Straftat verursacht zu haben, ist eine gut bekannte Schutzbehauptung, die durch die Straftäter im Strafverfahren häufig aufgestellt wird. Eigentums- und Betrugsstraftäter gaben in den meisten Fällen ihre volle Schuld an ihrer Straftat zu. Im Gegensatz dazu nimmt nur ein Drittel der Gewalt- und der Sexualstraftäter die volle Verantwortlichkeit für ihre Straftat auf sich. Die meisten Täter räumen eine Teilschuld ein, häufiger noch behaupten sie, sie seien völlig unschuldig. Mehr als die Hälfte der Gewalttäter behauptet, daß die alleinige Schuld auf der Seite des Opfers gelegen habe. Unter Sexualstraftätern beträgt der Anteil hierfür ungefähr ein Viertel der Fälle. 42% von ihnen sehen das Opfer als teilweise schuldig an, und weniger als ein Drittel beschuldigt in dieser Gruppe das Opfer für die Straftat nicht. Von allen Straftätern in Landaus Studie machten nur fünf den Schaden wieder gut, den sie angerichtet hatten. Während die Mehrheit der Betrugsstraftäter willens war, den Schaden, der dem Opfer entstanden war, wiedergutzumachen, lehnten nahezu alle anderen Straftäter eine Schadensersatzleistung ab. Diese Absage war am höchsten unter den Gewaltund Sexualstraftätern, während sie unter den Eigentumstätern ein wenig niedriger war. Die Gewalttäter (Tötungsdelikte und Körperverletzung) machten in ihrer überwiegenden Mehrheit situative Faktoren für ihre Straftat verantwortlich, oder sie gaben dem Opfer die alleinige Schuld. Ein beträchtlicher Anteil von denen, die ihr Opfer vorher nicht kannten, würde nichtsdestoweniger die Straftat begangen haben, wenn sie mit ihrem Opfer vorher bekannt geworden wären. Die Frage, ob der Täter das Opfer als schwächer, genauso stark wie er selbst oder als stärker wahrnahm, hatte auf die Begehung der Straftat keinen Einfluß. In zahlreichen Fällen wählte der Täter sein Opfer aus. Die meisten Sexualstraftäter beurteilten ihr Opfer entweder völlig oder teilweise als schuldig an ihrer Straftat. Nahezu alle Rechtsbrecher sind nicht bereit, dem Opfer oder seinen Verwandten Wiedergutmachung zu leisten. Für die Eigentumsstraftäter (Raub, Einbruch, Diebstahl, Hehlerei) war hauptsächlich materieller Gewinn Motiv ihrer Straftat. Die Mehrheit der

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Viktimologie

Straftäter würde ihren Rechtsbruch nicht begangen haben, wenn sie das Opfer vorher gekannt hätte. Die meisten Rechtsbrecher in dieser Gruppe behaupteten, daß ihr Opfer nicht gelitten habe. Sie gaben ihre Schuld unumwunden zu, waren aber nicht bereit, das Opfer zu entschädigen. Auch bei den Betrügern und Urkundenfälschern war hauptsächlich ein materieller Grund Motiv für ihre Straftat. Von denen, die mit ihrem Opfer vor der Straftat nicht bekannt waren, würde nichtsdestoweniger ein Drittel die Straftat auch dann begangen haben, wenn sie das Opfer gekannt hätten. Die meisten Straftäter gaben zu, daß sie ihrem Opfer Leiden zugefügt hätten. Sie sahen sich selbst als allein schuldig an und waren auch durchaus gewillt, das Opfer zu entschädigen. Bei den Sexualstraftätern (Notzucht und Unzucht mit Kindern) würden diejenigen, die ihr Opfer vor der Straftat nicht gekannt hatten, das Delikt nicht begangen haben, wenn sie es vorher gekannt hätten. In den meisten Fällen wurde das Opfer als schwächer angesehen. Es wurde vom Straftäter ausgewählt. Die Mehrzahl der Täter verneinte, daß sie ihrem Opfer Leiden zugefügt hätte. Sie sahen das Opfer als völlig oder teilweise schuldig an und waren nicht bereit, es zu entschädigen. Simha F . Landau erklärt ihre nach Deliktstätertypen unterschiedlichen Forschungsergebnisse mit einer Billigkeitstheorie: Durch die Kriminalität gerät das Selbstkonzept des Straftäters in Bedrängnis. Es gibt allgemein anerkannte moralische Leitbilder, die darauf hinauslaufen, daß man fair und gerecht im Umgang mit anderen sein sollte. Die kriminelle Schädigung eines anderen verletzt die ethischen Prinzipien und verursacht Konflikte mit den Selbsterwartungen des Rechtsbrechers. J e größer das tatsächliche Leiden und der Schaden sind, die das Opfer hatte, desto größer ist die Bedrängnis des Schädigers. Hieraus entsteht sein Bedürfnis, die psychische Billigkeit wiederherzustellen. Das tut er dadurch, daß er das Opfer für sein Mißgeschick selbst verantwortlich macht, daß er das Leiden des Opfers verneint und daß er sich weigert, es zu entschädigen. Diese Einstellung hängt mit der Schwere des Delikts zusammen. J e schwerer das Delikt vom Straftäter empfunden wird, desto ausgeprägter ist seine Einstellung, das Opfer verantwortlich zu machen. Die Gewalttäter gaben mehr als jede andere Gruppe dem Opfer die Verantwortung für die Straftat. Es folgen die Sexual- und die Eigentumstäter. Kein Betrüger gibt dem Opfer die volle Schuld. Die niedrigste Bereitschaft zur Entschädigung des Opfers bestand bei den Gewalttätern. Es folgen die Sexualstraftäter. Die Eigentumsstraftäter sind erheblich eher bereit, das Opfer zu entschädigen, und die Betrüger sind fast alle geneigt, Schadensersatz zu leisten. Durch die Eigentums- und Betrugsstraftäter werden weniger Schäden und Leiden für ihre Opfer verursacht.

Sie geraten deshalb auch weniger in psychische Bedrängnis. Unter diesen Gruppen mit leichterer Kriminalität, nämlich mit Eigentums- und Betrugsstraftaten, findet sich ein sehr viel höherer Anteil derjenigen, die die volle Schuld für ihre Straftat zugeben, während die zwei anderen Gruppen, nämlich die Gewalt- und Sexualstraftäter, ihre Schuld meistens verneinen, um die Billigkeit wiederherzustellen. Daß nicht nur bei den Rechtsbrechern, sondern auch in der Gesellschaft allgemein die Tendenz besteht, das Opfer herabzuwürdigen, es zu brandmarken und es als „Verlierer" in einem Wettbewerb zu beurteilen, wird von William Ryan (1971, 1974), Kurt Weis und Sandra S. Borges (1973) behauptet. Es bestehe ein allgemeiner kultureller Widerwille und eine Abneigung gegenüber dem Opfer. Die Mißachtung des Opfers werde bis zu einem Punkt vorangetrieben, bei dem dem Opfer allein die Schuld dafür gegeben werde, daß es Opfer geworden sei. Bei Notzuchtprozessen stehe nicht der Täter, sondern das Opfer vor Gericht. Ryan spricht von „Opferbeiastern". Bei der Opferbeschuldigung handele es sich um einen feinsinnigen Prozeß, der von Freundlichkeit und Sorge getragen sei und alle Fallen statistischer Tricks des Wissenschaftsbetriebes benutze. Der Prozeß des Opferbeschuldigens werde mit einer humanitären Einstellung bemäntelt. Für das Opfer werde eine tiefe Sorge empfunden. Die altmodische konservative Ideologie habe das Opfer einfach für minderwertig, erbbiologisch defekt und moralisch unfähig erklärt. Nach der neuen Ideologie handele es sich um ein sozial erworbenes Opferstigma. Es sei dem Opferbeiaster nunmehr möglich, auf der einen Seite die sozialen Mängel zu verurteilen, die dem Opfer anhafteten, auf der anderen Seite aber die bestehenden Wirkungen der sozialen Kräfte zu ignorieren, die gerade zum Opferwerden führten. Eine Änderung des Opfers, aber kein Wandel der Gesellschaft sei beabsichtigt. So wolle man die Fähigkeiten und Einstellungen des Ghettokindes verbessern, um auf diese Weise die Schulen strukturell nicht ändern zu müssen. Der Opferbeiaster blicke mit Sympathie auf diejenigen, die die Opferprobleme „hätten". Er sondere sie aus, um sie als eine besondere Gruppe zu definieren. Die opferanfälligen Personen, die sich von Normalpersonen unterschieden, seien weniger leistungsfähig, nicht so fachkundig, ungeübter, unwissender, kurz weniger menschlich. Das Opfer werde als ein Barbar und als ein Wilder identifiziert. Ryan bezeichnet die Entdeckung von Wilden als eine wesentliche Komponente und Voraussetzung für die Beschuldigung des Opfers. Die Kunst, Wilde zu entdecken, sei die bedeutsamste Fähigkeit, die man haben müsse, wenn man ein Opferbeschuldiger werden wolle. Man müsse nämlich nachweisen können, daß die Armen, die Farbigen, die Kranken, die Arbeits-

Viktimologie losen und die Slumbewohner von den Normalpersonen unterschiedlich und ihnen fremd seien. Eine so verstandene viktimologische Forschung zeige, wie „diese Leute" in unterschiedlichen Formen denken, nach verschiedenen Leitbildern handeln, unterschiedlichen Wertvorstellungen anhängen, verschiedene Ziele zu erreichen suchen und unterschiedliche Wahrheiten lernen. Es handele sich hier um den geschickten Versuch des Sozialdarwinismus, die Sozialprobleme zu erkennen und ihre Verursachung denjenigen anzuhängen, die von ihnen betroffen seien. Der typische Opferbeschuldiger sei hierbei eine Person der Mittelschicht, die sich materiell gut stehe. Er habe einen ansehnlichen Beruf, ein zufriedenstellendes Einkommen, ein großes Haus und ein schönes Auto. Er nehme indessen die Armut, die Rassendiskriminierung, die Ausbeutung und das kriminelle Opferwerden wahr, und darüber hinaus möchte er etwas Konkretes tun, um die Bedingungen für die Armen, die Farbigen und die kriminell Geschädigten zu verbessern. Er weise schnell und selbstbewußt zwei extreme Alternativen zurück. Er könne sich nicht einverstanden erklären mit einer reaktionären und repressiven Position, die die fortwährende Unterdrückung und Ausbeutung als einen Preis für die privilegierte Position der eigenen Schicht akzeptiere. Das sei unvereinbar mit seiner individuellen Moralauffassung und mit seinen eigenen politischen Prinzipien. Andererseits sei er noch allergischer gegen die Radikalen. Er weise die extreme Lösung des revolutionären sozialen Wandels zurück, und das sei auch verständlich, weil eine solche radikale Änderung seine persönlichen Interessen und sein eigenes Wohlbefinden bedrohten. So befinde sich der Opferbeschuldiger in einem Dilemma, dessen Lösung in einem brillanten Kompromiß bestehe. Die Opferbeschuldiger wendeten ihre Aufmerksamkeit dem Opfer zu, nachdem es bereits Opfer geworden sei. Die Lösung liege in der Belastung des Opfers; Selbstkritik und Selbstbeschuldigung würden zurückgewiesen. Neutralisationstechniken als Motive für Rechtsbrecher sind durchaus empirisch nachweisbar. Daß diese Neutralisationstechniken nach Deliktstätertypen verschieden sein können, hat Simha F. Landau (1973) an einer — allerdings zu heterogenen und deshalb zu kleinen — Stichprobe nachzuweisen versucht. Für die Behauptung, es bestehe in der Gesellschaft die Tendenz, das Opfer herabzuwürdigen und zu stigmatisieren, fehlt allerdings jede empirische Grundlage. Mannigfaltige Reaktionen verschiedener Teilgruppen der Gesellschaft auf Viktimisierungen liegen näher. Von übertriebenem Mitleid mit dem Opfer über Gleichgültigkeit bis zu Opferzurückweisung kommt eine große Variationsbreite von Reaktionen ins Spiel. Zu diesen Reaktionen können auch heuchlerische Sorge mit dem Opfer und Opferbeschuldigung

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zum Zwecke der Scheinlösung sozialer Probleme gehören. Die Figuren des „Verlierers" (Kurt Weis, Sandra S. Borges 1973), des „Opferbelasters" und „Opferbeschuldigers" (William Ryan 1971, 1974) sind indessen überzeichnet. Die einseitige Übertreibung wird an Ryans Formulierung deutlich, das Opfer werde als ein Wilder, als ein Barbar identifiziert. Statisch-dogmatische Betrachtungsweise ist für die Überzeichnungen verantwortlich. Schuld ist ein irrationaler Begriff, mit dem in der sozialwissenschaftlichen Viktimologii wenig zu erreichen ist. Die Mitverursachungslast an kriminellem Verhalten trifft nicht nur einseitig den Täter oder das Opfer oder die Gesellschaft. In den Sozialprozeß der Kriminalitätsverursachung sind Täter, Opfer und Gesellschaft gleichermaßen eingebunden. Aus diesem dynamischen Interaktionsprozeß ein Element herauszunehmen, ist verfehlt. Man kann deshalb beim Opfer nicht vom sozial herabgewürdigten „Verlierer" reden. Ebenso einseitig ist die Reaktion der Opferbeschuldigung. Mit einer solchen Reaktion beim Täter zu rechnen, ist allerdings realistisch.

D. Opferschäden und Wiedergutmachung 1. Schädigung

des

Opfers

Personen und Organisationen können Opfer sein. Materielle Schäden sind bei beiden relativ leicht festzustellen. „Moralische" Schädigungen sind bei abstrakten Opfern überhaupt nicht zu erkennen. Hier wird der Schaden fiktiv; eine Gefährdung genügt. Zu den psychischen Schäden sagt Hans Göppinger (1973, S. 316): „Ohne Zweifel führt bei manchen Opfern das Verbrechen zu einem oftmals längere Zeit wirksamen seelischen Trauma. Doch sollte man diesbezüglich g r u n d s ä t z l i c h e n Behauptungen gegenüber kritisch sein." Diese Aussage ist so allgemein und unentschieden gehalten, daß aus ihr keinerlei praktische Folgerungen gezogen werden können. Viktimologische Forschungsergebnisse über Opferschädigungen liegen zur Unzucht mit Kindern, zur Notzucht und zum Exhibitionismus vor. Lange Zeit fortgesetzte unsittliche Handlungen an Kindern sollen nach Erika Geisler (1959, S. 74—89) in der Regel die schwersten seelischen Folgen haben. Nicht nur sensitive, sondern auch triebhafte Kinder könnten besonders nachhaltig durch sexuelle Erlebnisse negativ beeindruckt werden. Geisler stützt ihre Aussagen auf die Begutachtung von 100 minderjährigen Opfern von Sexualdelikten, die sie in der Zeit von 1950 bis 1953 an der Universitäts-Nervenklinik der Charit6 Berlin untersucht hat, und auf Einzelfälle sexuell auffälliger und durch Sittlichkeitsdelikte psychisch geschädigter klinisch behandelter Kinder der Universitätsklinik Würzburg aus der Zeit von 1954 bis 1958. Über dieses nicht auswahlfreie Proban-

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Viktimologie

dengut sagt Geisler (1959, S. 79): Nur wenige Kinder begegneten uns, die sexuelle Widerfahrnisse verarbeiteten oder wenigstens so weit verdrängten, daß diese Widerfahrnisse keine Beunruhigung erzeugten. Geisler (1962) räumt ein, daß ihre Beobachtungen statistisch unzulänglich seien. Die folgenden Symptome psychischer Störungen stützt sie auf das Studium von Einzelfällen: Steigerung sexueller Erregbarkeit, Fixierung an die sexuelle Sphäre mit nur schwer steuerbarer Triebbefriedigung und der Gefahr sexueller Entgleisungen bis zur Verwahrlosung, gestörte Entwicklung der Liebesfähigkeit infolge unbewußter Widerstände gegen eine früh als bedrohlich erlebte Sexualität, Konfliktneurosen und psychosomatische Störungen aus dem subjektiven, oft überwertigen Gefühl des Mitverschuldens bei den verwerflichen Handlungen und Kurzschlußreaktionen und schwere Konflikte in der Auseinandersetzung mit dem Täter, mit Sühnemaßnahmen und sozialen Komplikationen. Weil das Kind noch nicht fähig ist, sexuelle Triebe mit reifen Arten interpersönlicher Beziehungen zu integrieren, kann es nach Seymor L. Halleck (1965) gestörte emotionale Reaktionen und Fixierungen entwickeln. Aus ihnen können wiederum schwierige Probleme in seinem späteren Sexualleben entstehen, die von Frigidität mit Furcht vor Geschlechtsverkehr bis zu zielloser Promiskuität reichen können. Jede wirkliche sexuelle Befriedigung und Freude an hetero-sexuellen Beziehungen werden schwierig. Eine psychische Schädigung von Kindern durch Sexualdelikte verneinen demgegenüber grundsätzlich John H. Gagnon (1965), Reinhart Lempp (1968) und Rudolf Wyss (1963). Von den 1075 Opfern, die Gagnon untersuchte, hatten 75% keine erkennbaren Schäden, 9 bis 12% unbedeutende Beschwerden und lediglich 4 bis 7% wichtigere psychische Störungen. Lempp räumt zwar ein, daß für ein Kind das Erlebnis einer überraschenden Gewaltanwendung, vor allem von Seiten einer fremden erwachsenen Person, zu einem seelischen Schock und darüber hinaus zu einer anhaltenden Veränderung seiner Umweltbeziehungen führen kann. Bei einer Reihenuntersuchung an 97 kindlichen Opfern von Sexualdelikten ließ sich jedoch in keinem Fall eine sichere und zweifelsfreie Schädigung der Kinder unmittelbar durch die sexuelle Handlung nachweisen. Das Belastende für die Kinder war vielmehr die Reaktionsweise der sie umgebenden Erwachsenen, angefangen von den manchmal vorwurfsvollen bestürzten Eltern bis hin zu den mißtrauischen jugendpsychiatrischen Gutachtern und den oft quälenden Befragungen der Richter. Schuldgefühle entstanden, wenn ein gewisses eigenes Entgegenkommen oder auch nur eine befriedigte Neugier mit im Spiele war. Die zum Teil positive Stellungnahme zur Tat wurde hierbei

auch dadurch begründet, daß manche dieser Kinder einem echten Kontakt- oder einem besonderen Zärtlichkeitsbedürfnis nachgegeben hatten. Wyss hebt hervor, daß die Ertragungsfähigkeit, die Stabilität und Plastizität der kindlichen Psyche sexuellen traumatisierenden Einwirkungen gegenüber außerordentlich hoch sind. Das kindliche Opfer erleidet wegen seiner großen Widerstandskraft und seiner schnellen Erholungsfähigkeit nach vorübergehender Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges im guten Familienverband keine Dauerschäden. Viele Kinder reagieren auf sexuellen Kontakt mit Erwachsenen akut mit Schock, Angst und Schuldgefühlen. Diese Reaktion klingt bei vernünftigem Verhalten der Umgebung rasch ab. Ungünstiges, d. h. aufgeregtes, anschuldigendes, strafendes Verhalten der Umgebung, polizeiliche und gerichtliche Vorgänge wirken oft traumatisierender als das erlebte Sexualdelikt. Spätschäden nach in der Kindheit erlittenen Sexualdelikten sind empirisch nicht zu beweisen. Nach einer Studie von Elisabeth Nau (1965) hatten von 1441 Mädchen, die Opfer von Sexualdelikten geworden waren, 75% sexuelle Vorerlebnisse. Wenn man die Fälle von Unzucht mit Kindern aussondert, in denen der Täter Gewalt anwandte, so beruht der Grad der psychischen Schädigung nicht unwesentlich auf der emotionalen Stabilität und dem Intaktsein der Familie des Opfers. Diese Faktoren wirkten indessen bereits bei der Viktimisierung entscheidend mit. Es ist deshalb schwierig, herauszufinden, ob die emotionale Störung des Opfers Ursache oder Wirkung des Sexualdelikts gewesen ist, dem das Kind zum Opfer gefallen ist. Kinder und Jugendliche können schon vor ihrer Begegnung mit Sexualdelinquenten triebhaft enthemmt oder mit Schuldgefühlen, Angst und anderen neurotischen Symptomen behaftet sein. Karl Josef Groffmann (1962) unterscheidet die unmittelbaren, aber vorübergehenden Störungen oder Reaktionen von den Fehlentwicklungen und Dauerschädigungen und den indirekten sozialpsychischen Auswirkungen. Bei den Dauerschädigungen soll es bisweilen zu triebhafter Enthemmung, ζ. B. zu sexueller Verwahrlosung, oder zu neurotischer Hemmung, ζ. B. Frigidität, kommen können. Insgesamt wagt Groffmann allerdings die Hypothese, daß psychisch gesunde Kinder und Jugendliche, die gleichzeitig in ihrer Umwelt verständnisvollen Halt finden, durch Sexualdelikte nicht anhaltend aus ihrer Entwicklungsbahn geworfen werden. Der Schweregrad des sexuellen Traumas richtet sich indessen auch nach den Erlebnisqualitäten des Opfers. Ein wohlbehütetes kleines Mädchen mag mehr durch den Vorfall selbst als durch die digitale Berührung seines Genitale traumatisiert sein; der freiwillig ausgeübte Geschlechtsverkehr einer verwahrlosten Pubertierenden wiegt demgegenüber unter Umständen weniger schwer (Thea

Viktimologie Schönfelder 1968, S. 17). Schließlich ist die kulturelle Prägung von entscheidender Bedeutung. Falls das Kind nicht kulturell geprägt wäre, ist es nach Alfred C. Kinsey (1954, S. 120/121) zweifelhaft, ob es durch die sexuellen Annäherungen überhaupt geschädigt würde. Es ist schwer zu verstehen, warum ein Kind darüber verstört sein sollte, daß man seine Genitalien berührt oder daß es die Genitalien anderer Personen zu sehen bekommt. Wenn die Kinder beständig durch Eltern und Lehrer vor Kontakten mit Erwachsenen gewarnt werden und doch keine genaue Auskunft über die Art der verbotenen Kontakte erhalten, so kann es leicht geschehen, daß sie hysterisch reagieren, sobald sich ihnen irgendeine ältere Person nähert, stehen bleibt und mit ihnen auf der Straße spricht, sie streichelt oder ihnen etwas schenken will, obwohl der Erwachsene keinerlei sexuelle Absichten haben mag. Die emotionalen Reaktionen der Eltern, der Polizeibeamten und anderer Erwachsener, die den Fall entdecken, schädigen das Kind seelisch mehr, als es die Sexualakte selbst tun. Die ständige öffentliche Hysterie über Sexualvergehen kann sehr wohl ernste Auswirkungen auf die spätere sexuelle Anpassungsfähigkeit vieler Kinder haben. Es gibt freilich Fälle, in denen Erwachsene den betreffenden Kindern physischen Schaden zufügen. Aber diese Fälle sind in der Minderheit. Die Öffentlichkeit sollte lernen, zwischen solchen ernsten Fällen und den sonstigen sexuellen Annäherungen zu unterscheiden, aus denen dem Kind mit großer Wahrscheinlichkeit keine nennenswerten Schäden erwachsen würden, wenn sich die Eltern nicht so entsetzt zeigen würden. Unter den 4441 Frauen, die Kinsey befragte, befand sich nur ein einziger Fall einer wirklich schweren als Kind erlittenen Schädigung. Über die psychischen und sozialen Schäden bei Notzuchtopfern haben Kurt Weis und Sandra S. Borges (1973) entschiedene Auffassungen. Die verbreitetsten Empfindungen seien Gefühle des Schocks, des Vertrauensbruchs und der Erniedrigung mit selbstanklagender Schuld dafür, daß sich das Opfer in eine Opfersituation gebracht habe. Weis und Borges berichten von ihren Interviews mit weiblichen Probanden. Sie glauben, eine Beziehung zwischen Notzucht und Selbstmord festgestellt zu haben. Einige weibliche Versuchspersonen beriefen sich darauf, daß der Notzuchtsakt eine Verminderung ihrer Selbstachtung zur Folge gehabt habe. Diese Verminderung habe zur Unfähigkeit geführt, normale heterosexuelle Beziehungen anzuknüpfen. Schließlich habe dann diese Unfähigkeit Selbstmordversuche verursacht. Der Täter, der die Gefühle, Wünsche und Proteste des Opfers nicht beachte, betrachte es als bloßes Objekt; er depersonalisiere das Opfer. Diese Depersonalisation wirke sich auf die Psyche des Opfers im negativen Sinn aus. Sandra Sutherland

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und Donald J. Scherl (1970) haben ein Jahr lang 13 Notzuchtopfer in den USA beobachtet. Es handelte sich um weiße Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren, die in eine Gemeinschaft mit niedrigem Einkommen gezogen waren, um ihre Überzeugung, etwas wirklich Nützliches zu tun, in der gegenwärtigen Gesellschaft in die Tat umzusetzen. Sutherland und Scherl beobachteten drei Phasen eines Sozialprozesses der Reaktion des Opfers auf Notzuchtsakte. Die erste Phase betraf die momentane Reaktion. In den Augenblicken, Stunden und Tagen unmittelbar nach der Notzucht bestand die akute Reaktion des Opfers in einer Vielfalt von Formen, die Schock, Unglaube, Zweifel, Schrecken und Bestürzung einschlossen. Oft war das Opfer unfähig, über das zu sprechen, was ihm zugestoßen war, oder den Mann zu beschreiben, der sie angegriffen hatte. „Meine Eltern dürfen davon nichts wissen", war meist ihre unmittelbare Reaktion. In der Mehrzahl der Fälle trat eine bemerkenswerte Abnahme in der Angst und anderen Symptomen der weiblichen Probanden ein, nachdem sie die Möglichkeit hatten, den Vorfall mit ihrer Familie zu besprechen. Eine speziell ausgebildete Sozialarbeiterin sollte deshalb dem Notzuchtsopfer helfen, ihre Familie in Kenntnis zu setzen. Sie sollte das Opfer auf die Polizeistation begleiten, und sie sollte für rechtliche und medizinische Beratung Sorge tragen. Die zweite Phase des Sozialprozesses, eine Zeit der Pseudoanpassung, stellt keine letzte Lösung des traumatischen Erlebnisses und der widerstreitenden Gefühle dar, die im Opfer geweckt wurden. „Es hätte jedem passieren können", ist eine Art Abwehrmechanismus in dieser Phase. Die dritte Phase der Integration und Lösung beginnt, wenn das Opfer ein Gefühl der Depression und das Bedürfnis nach einer Aussprache entwickelt. Zunächst muß das Opfer ein neues Selbstbild integrieren. Es muß das Ereignis akzeptieren und zu einer realistischen Einschätzung seiner Mitschuld kommen. Sodann muß das Opfer seine Gefühle für den Angreifer und seine Beziehung zu ihm lösen. Seine frühere Einstellung, nämlich „des Mannes Probleme zu verstehen", weicht einem Zorn auf ihn dafür, daß er sie „gebraucht" hat, und einem Unwillen sich selbst gegenüber, daß sie es erlaubt hat, „gebraucht" worden zu sein. Das Sexualdelikt mit den harmlosesten Folgen für das Opfer ist der Exhibitionismus (Eberhard Schorsch 1971, S. 98). Von Februar bis November 1970 befragten Jürgen Scharfenberg und Siegfried Schirmer (1972) in Ost-Berliner Jugend- und Studentenklubs (Gruppe 1) und in einigen OstBerliner Schulen (Gruppe 2) Mädchen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren danach, ob sie jemals ein gewaltloses exhibitionistisches Erlebnis gehabt hätten, welche Reaktionen es gegebenenfalls hervorgerufen habe, ob sie es Erwachsenen berichtet hätten und ob es zu polizeilichen Ermittlungen

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gekommen sei. Insgesamt befragten sie 903 Jugendliche, 703 in Klubhäusern und 200 in verschiedenen Schulen. Von den 703 in Klubhäusern Befragten hatten 300 einen Exhibitionisten erlebt. 37 der Befragten hatten eine solche Begegnung sogar mehrmals. Von den 200 in Schulen Befragten hatten 87 eine Erfahrung mit einem Exhibitionisten. Drei Befragte waren mehrmals mit diesem Verhalten konfrontiert worden. Fast jedes 2. Mädchen hatte ein solches Erlebnis. Bemerkenswert ist, daß insgesamt nur 71 Probanden das Vorkommnis Erwachsenen berichteten. Gründe f ü r das Verschweigen wurden als Scham, Gleichgültigkeit und Vergessen angegeben, wobei das Vergessen auch auf eine wenig nachhaltige Reaktion schließen läßt. Zu einer polizeilichen Anzeige und Ermittlung kam es nur in 22 Fällen. Das durch die Befragung ermittelte Dunkelfeld liegt sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Gruppe der Befragten bei weit über 90%. Die Erlebnisreaktionen waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von unbestimmter Furcht und Erschrecken über ein bisher nicht gekanntes Verhalten, Neugier, ängstliches Wegrennen bis zu kindisch-läppischem Kichern, insbesondere dann, wenn die Kinder und Jugendlichen einen Exhibitionisten in einer Gruppe Gleichaltriger erlebt hatten. Schäden, ernsthafte psychische Verhaltensstörungen oder körperliche Reaktionen auf das Erlebte verneinten alle Befragten. Bei denjenigen, die kurze Zeit zurückliegend ein solches Erlebnis hatten, überwog in den meisten Fällen eine sachlich nüchterne Verarbeitung des Erlebten. Einige sagten, daß sie solche Männer, die sie aus der Literatur, Erzählungen der Bekannten und Eltern bildhaft zu kennen glaubten, in ihrer Phantasie immer als schmutzige, ungepflegte und brutale Gestalten gesehen hätten, jedoch in der Realität mit durchaus gepflegten und durchschnittlich aussehenden Exhibitionisten konfrontiert worden seien. Geschädigt fühlte sich keines der Mädchen. Im Hinblick auf die Ungefährlichkeit des Exhibitionisten und die objektive Geringfügigkeit der Rechtsgutgefährdung stellt sich die dringliche Frage, ob sich nicht Wege außerhalb des Strafrechts finden lassen, die zur Bewältigung dieses heute noch als „Sexualverbrechen" von der Umwelt verkannten perversen Verhaltens führen. Eine Entdramatisierung ist zu empfehlen. Generell kann man nicht sagen, daß Sexualdelikte die Opfer psychisch schädigen oder daß sie keinerlei Schaden anrichten. Es muß zunächst geklärt werden, was unter Schaden zu verstehen ist. Vorübergehende psychische Störungen sind von Dauerschäden, ζ. B. psychischen Hemmungen oder Enthemmungen, und spzialpsychischen Wirkungen, ζ. B. auf die Familienbeziehungen des Opfers, zu unterscheiden. Sodann ist wichtig, um welche Art von Delikt es sich handelt und in

welcher Weise es ausgeführt worden ist. Das Delikt selbst und die Art seiner Ausführung (ζ. B. Gewaltanwendung) können freilich nur einen wichtigen Stellenwert innerhalb eines dynamischen Geschehens, eines Sozialprozesses bilden. In diesem Sozialprozeß sind viele Elemente, die dynamisch zusammenwirken, von großer Bedeutung: die Persönlichkeiten des Opfers und des Täters, die Täter-Opfer-Beziehung, die sozialen Nahräume, in denen Täter und Opfer leben, die Beteiligung des Opfers an der Tat, die Vorerlebnisse des Opfers, die Reaktionen des sozialen Nahraums des Opfers auf die Tat und schließlich die Handlungsweisen der Instanzen der Sozialkontrolle, der Kriminalpolizei und Gerichte, dem Opfer gegenüber. 2. Behandlung des Opfers In der täterorientierten Kriminologie, die Kriminalität auf Individualpathologie zurückführt, hat sich eine Behandlungsideologie entwickelt. Man glaubt, den Rückfall dadurch verhindern zu können, daß man den Täter in der künstlichen Atmosphäre einer Strafanstalt chirurgisch, medikamentös, psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelt. Empirisch-kriminologische Forschungen haben ergeben, daß die Rückfallquote bei der Massenkriminalität durch keine dieser Behandlungsmethoden in den Strafanstalten im Sinne der Verminderung beeinflußt werden kann. Während man beim Täter beharrlich am Behandlungsgedanken festhält und keine noch so hohen Kosten scheut, um ihn durchzusetzen, bleibt die Behandlung des Opfers vergessen und unerörtert. Man diskutiert nicht einmal die Frage, ob das Opfer behandlungsbedürftig ist. Es wird in unglaublicher Weise vernachlässigt. Kurt Weis und Sandra S. Borges (1973) sind der Auffassung, daß die traumatisierende Depersonalisation des Notzuchtopfers vermieden werden könne, wenn es sich als Nicht-Person und Nicht-Handelnde zu definieren in der Lage sehe. Das Opfer könne weiterhin den personalen Aspekt des Vorgangs verneinen, wenn es fähig sei, den Täter als NichtPerson und auf diese Weise den Notzuchtsakt als nicht-sexuelle Begegnung zwischen NichtPersonen anzusehen. Es ist zweifelhaft, ob man den Schäden, die ein Notzuchtsakt im komplizierten sozialpsychischen Feld des Opfers zu verursachen vermag, durch solch einfache „philosophisch-dogmatische Selbsthilfe" wirksam zu begegnen vermag. Weis und Borges empfehlen darüber hinaus eine Art „Gruppengespräch", bei dem sich die Notzuchtsopfer gemeinsam darüber einigen sollen, daß der Notzuchtsakt einen Teil einer kollektiven Ausbeutung der Frauen in einer männlich beherrschten sexualisierten Gesellschaft darstellt. Eine solche Indoktrination verschlimmert die möglichen Notzuchtsschäden noch und er-

Viktimologie scheint in keiner Weise hilfreich. Ob der Vorschlag, viktimologische Kliniken einzurichten (Beniamin Mendelsohn 1973), die notwendige Behandlung des Opfers ermöglicht, erscheint höchst unsicher. Es kommt weniger auf die Therapie der physischen und psychischen Krankheiten einzelner Opfer an als auf die Beseitigung negativer Beeinträchtigungen in den sozialpsychischen Bereichen der Opfer. Bei der Unzucht mit Kindern hängen Art und Intensität und Dauer der Schädigung von folgenden Faktoren ab: Persönlichkeit des Opfers, TäterOpfer-Beziehung, Alter des Opfers, Art der sexuellen Handlungen und ihrer Intensität. Reaktion der Umgebung nach Tataufklärung, psychische Belastung des Opfers im Ermittlungs- und Strafverfahren, negative Umweltfolgen, ζ. B. Diskriminierung des Tatopfers in der Familie, der Nachbarschaft und in der Schule, und unangebrachte fürsorgerische Maßnahmen nach Aufdeckung der Tat. Die therapeutischen Eingriffe müssen diese verschiedenen Arten der Schädigungen berücksichtigen. Das kann am besten dadurch geschehen, daß das Opfer viktimologisch nicht nur in seinem sozialen Nahraum, sondern daß der soziale Nahraum des Opfers selbst viktimologisch behandelt wird. Das Kind darf im Ermittlungs- und Strafverfahren nicht zu sehr psychisch belastet werden. Der Jugendschutz darf sich nicht dadurch in sein Gegenteil verkehren, daß das geschädigte Kind zusätzlich traumatisiert wird (Hedwig Wallis 1965). Die Opferbehandlung muß schnell eintreten, wirksam sein, von kompetenter Seite gegeben werden und auf lange Frist geplant sein. Die Aufklärung der durch Sexualstraftaten betroffenen Kinder über Ablauf und Regeln einer Hauptverhandlung kann ebenso ratsam sein wie eine kurzfristige Erholung, die darauf abzielt, das Kind sein Erlebnis „vergessen" zu lassen. Durch Befragungen von 200 Universitätsstudenten und 530 Jugendlichen im Alter von 17 und 18 Jahren erbrachte Yona Cohen (1973) in Israel den empirischen Beweis, daß zwischen der Einstellung der Öffentlichkeit nach Tatvergeltung und schneller Wiedergutmachung und angemessener Behandlung der Opfer unterschiedlicher Delikte eine signifikante Beziehung besteht. Die erhaltenen Antworten zeigten deutlich, daß die Vergeltung für die Straftat bei den Versuchspersonen weniger ausgeprägt war, wenn die Verbrechensopfer geeignete Hilfe erhalten hatten. 35 Raubopfer betreute Yona Cohen (1973) in Tel Aviv von Juni 1972 bis Januar 1973 mit der Methode der Krisenintervention, die durchaus eine praktikable Behandlungsmethode für Verbrechensopfer darstellt. Die Raubopfer reagierten in höchst unterschiedlicher Weise auf die Straftat. Einige vermieden es, größere Geldsummen bei sich oder in ihrer Wohnung zu haben. Andere schafften sich für ihre Selbstverteidigung Waffen 37 HdK, 2. Aull., Bd. III

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an. Einige installierten neue Schlösser an ihren Türen und Gitter an ihren Fenstern. Zahlreiche Opfer hielten Kontakt mit der Polizei, um gegen zukünftige Notfälle gesichert zu sein. Einige Raubopfer entwickelten aber auch Angstzustände zu Hause und bei der Arbeit. Sie vermieden es, nachts auszugehen. Sie hielten sich von dem Platz fern, wo der Raub stattgefunden hatte. Sie verdrängten ihre Erfahrung. Etliche Raubopfer entwickelten paranoide regressive Tendenzen. Sie fürchteten die Rache der Räuber, weil sie zur Polizei gegangen waren. Die Wirklichkeit erschien ihnen verzerrt: Alle schauten sie so seltsam an. Sie konnten sich auf ihre Arbeit nicht konzentrieren, nicht mehr klar denken. Ihr Gedächtnis war geschwächt. Die Angst wurde ferner somatisch verarbeitet. Sie bekamen hohe Temperaturen nach dem Schock. Sie litten unter Schlaflosigkeit und an Magen- und Kopfschmerzen. Auch Verhaltensänderungen in signifikanten Bereichen kamen vor. Einige Probanden entwickelten Spannungssymptome mit ihren Familienmitgliedern. Andere wechselten ihre Arbeit oder zogen um. Viele Raubopfer beschuldigten die Polizei und alle Behörden, ineffektiv zu sein. Die Ignoranz der Nachbarn wurde ebenfalls beklagt: Ich erzählte meinen Nachbarn, was geschehen war, aber sie vergaßen es sofort wieder. Für Überlebende von nationalsozialistischen Konzentrationslagern lebten die Erfahrungen, die sie dort gemacht hatten, die alten Erinnerungen und Befürchtungen nach dem Raubüberfall wieder auf. Die Methode der Krisenintervention beabsichtigt, die rationalen Reaktionen auf die Viktimisierung zu verstärken und die sozial wie psychisch Krankhaften therapeutisch anzugehen. Es handelte sich meist um eine Behandlungszeit von 3 bis 6 Wochen. Selbst bei kurzfristigen Schäden bestand die Gefahr, daß sie sich zu Dauerschäden entwickelten, wenn die Krise nicht überwunden wurde. Das Ergebnis einer Krise kann frühere Krisen wieder aufleben lassen, die nicht vollständig überwunden worden sind. Die Behandlungsmethode der Krisenintervention versucht, die Ereignisse psychisch zu verarbeiten, die die Krise hervorgerufen haben. Sie kennt keine scharfe Unterscheidung zwischen einer diagnostischen und einer therapeutischen Phase. Sie besteht in psychischer wie materieller Hilfe. Zur Unterstützung werden auch andere Personen, Verwandte, Freunde, religiöse Betreuer in einer integrativen Art herangezogen. Die Krisenintervention trägt den unterschiedlichen Erfordernissen der verschiedenen Opfer Rechnung. Es gibt kein starres Modell. Zunächst fragt der Therapeut nach den Einzelheiten des Tatherganges. Er versucht, sich über die gegenwärtige Lage des Opfers ein Bild zu machen. Er bemüht sich ζ. B. zu klären, ob das Opfer sich schämt, Opfer geworden zu sein. In dieser Phase unterstützt der

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Therapeut und klärt, aber er interpretiert nicht (positive Übertragung). Sodann trachtet der Therapeut danach, etwas über den Täter zu erfahren. Das Opfer soll auf diese Weise seine Gefühle der Aggression und Wut gegen die Personen ausdrücken können, die es verletzt haben. Der Therapeut fragt danach, wie der Raub hätte verhindert werden können. Auf diese Weise bemüht er sich, herauszufinden, ob Schuldgefühle beim Opfer wegen seiner Leichtfertigkeit oder gar Mitbeteiligung vorhanden sind. Es wird Unterstützung angeboten, um Schuldgefühle und Selbstvorwürfe zu verringern. Der Therapeut schlägt realistische Vorbeugungsmaßnahmen für die Zukunft vor. Er fragt nach den Vorstellungen des Opfers für seine Gesundheit, seine Familie und seinen Beruf. Dieser Ansatz ermöglicht es, den globalen Schock in handliche und wirklichkeitsorientierte Aufgaben aufzuteilen. Schließlich strebt der Therapeut danach, die Selbsthilfe des Opfers und die Unterstützung des Opfers durch andere zu aktivieren. Endlich bringt der Therapeut einen Ablösungsprozeß in Gang, da das Opfer durch den Schock der Straftat keine „Sekundärgewinne" erzielen soll. 3.

Wiedergutmachung

Es geht dem Strafrecht vor allem darum, den Kriminellen zu fassen und zu bestrafen. Eine wachsende Aufmerksamkeit wird der Resozialisierung des Täters gewidmet. Abgesehen von allgemeinen Wohlfahrtserwägungen wird wenig oder nichts getan, um dem Opfer des Verbrechens zu helfen, das psychisch und physisch unfähig gemacht oder finanziell durch die Tat ruiniert worden ist und dessen Familienangehörigen seiner Unterstützung ermangeln, wenn es getötet worden ist oder einen physischen oder psychischen Dauerschaden erlitten hat. Es geht um die Rehabilitation von Täter und Opfer. Hierbei muß die öffentliche Apathie dem Täter und Opfer gegenüber überwunden werden. Die Strafe muß aus der abstrakten Weltferne, in die sie durch Kant, Hegel und Feuerbach gerückt worden ist, wieder auf den Boden der Realitäten geholt werden (Hans Kühler 1969, S. 64). Es geht um die lebensbewahrende Versöhnung des Delinquenten mit seinem Opfer und mit der Gesellschaft. Der Ausdruck Entschädigung hat Zahlungen durch den Staat an das Opfer des Verbrechens oder an seine Familienangehörigen für erlittene Verluste zum Gegenstand. Das Wort Ersatzleistung bezieht sich auf Beiträge, die dem Opfer durch den Täter geleistet werden. Die Wiedergutmachungsfrage war bereits im Gesetzbuch des Hammurabi (1728/ 1686 ν. Chr.) für Babylonien angesprochen. In diesem Gesetz heißt es: Wenn ein Mann einen Raubüberfall begeht und gefangen wird, soll er die Todesstrafe erleiden. Wenn der Räuber nicht

gefaßt wird, soll der Mensch, der beraubt worden ist, in der Gegenwart Gottes eine ins einzelne gehende Aufstellung seiner Verluste angeben und die Stadt oder der Gouverneur, innerhalb dessen Provinz und Jurisdiktion der Raub verübt worden ist, soll ihm ersetzen, was immer er verloren hat. Wenn er sein Leben verloren hat, soll die Stadt oder der Gouverneur seinen Hinterbliebenen einen bestimmten Betrag in Silber bezahlen. Die Hebräer, die Griechen, Römer und Germanen kannten die Wiedergutmachung des Opfers durch den Täter als Reaktion auf dessen Straftat. Der germanische Mörder im 1. Jahrhundert n. Chr. wurde ζ. B. verurteilt, als Strafe eine bestimmte Anzahl von Vieh an die Sippe seines Opfers abzugeben. Später wurde die Hälfte der Strafe dem König zugesprochen, die anderer Hälfte der Person, für die Gerechtigkeit verlangt wurde, oder für seinen Verwandten. In den frühen Gesellschaften wurde das Verbrechen als eine private Missetat angesehen, die durch die Familie oder eine andere soziale Gruppe, zu der das Opfer gehörte, gerächt wurde. Nachdem die Gesellschaften seßhaft geworden waren, ersetzte man die Rache durch die Bezahlung des Schadens in Geld oder Vieh von Seiten des Täters an das Opfer aufgrund eines Maßstabes für die Bezahlung, der von der Gesellschaft bestimmt wurde. Als die Macht des Herrschers immer größer wurde, sah man das Verbrechen als eine Verletzung des „Königsfriedens" an. Es wurde angenommen, daß der Herrscher das Recht habe, unmittelbar einzugreifen. Eine Zeitlang fuhr man zwar fort, das Opfer direkt mit einem zusätzlichen Betrag zu entschädigen, der dem Staat bezahlt werden mußte. Im Laufe der Zeit hörte man aber auf, für den Schaden dem Opfer Ersatz zu leisten. Alle Schäden mußten dem Staat wiedergutgemacht werden. Das hatte den Vorteil, daß alle Elemente der persönlichen Rache aus der Lösung des Konflikts verbannt wurden. Das Opfer wurde indessen mit seinen Verlusten allein zurückgelassen. Man verwies es auf die Genugtuung, die es dadurch erlangte, daß es den Täter bestraft sah. Gegenwärtig steht dem Opfer im wesentlichen eine Zuflucht zum Zivilverfahren offen. Ein solcher Prozeß ist jedoch selten erfolgreich. Die internationalen Strafvollzugskongresse in Paris im Jahre 1895 und in Brüssel im Jahre 1900 setzten sich mit Nachdruck für die Wiedergutmachungsleistung an das Opfer ein. Ihre Resolutionen blieben in den nationalen Gesetzgebungen allerdings bis in die Neuzeit hinein unberücksichtigt. In einer repräsentativen Meinungsumfrage im Jahre 1965 sprachen sich in den USA 6 2 % der Befragten für eine Entschädigung des Verbrechensopfers aus. Über 9 0 % von 1700 befragten beruflichen Mitgliedern des „National Council on Crime and Delinquency" (Polizeibeamte, Richter, Bewäh-

Viktimologie lungshelfer, Strafvollzugsbedienstete) befürworteten 1967 eine Entschädigung des Opfers. In der Bundesrepublik hat das Adhäsionsverfahren nach §§403ff. StPO, in dem der durch eine Straftat Verletzte oder sein Erbe einen aus dem Rechtsbruch erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch im Strafverfahren geltend machen kann, keine praktische Bedeutung erlangt. Armin Schoreit (1973, S. 10) kennzeichnet die Lage in der Bundesrepublik mit folgenden Worten: Das Opfer der Straftat muß sich um seine Wiedergutmachung selbst kümmern. Falls ihm kein Armenrecht zusteht, muß es Anwälte suchen, Vorschüsse zahlen, das Prozeßrisiko tragen und die Vollstreckung betreiben. Es muß mit der Gefahr rechnen, fruchtlos zu vollstrecken. Gänzlich machtlos ist der durch die Straftat Geschädigte, wenn der Täter nicht ermittelt werden kann oder flüchtig ist. Selbst wenn er aber im Strafverfahren verurteilt wird, ist dem Opfer damit nicht gedient. Je strenger die Strafe und je länger der Freiheitsentzug sind, desto geringer ist die Aussicht, jemals wegen des Schadens befriedigt zu werden. Das ganze Ausmaß an Ungerechtigkeit, das die geltende Rechtsordnung Opfern von Straftaten bereiten kann, offenbart sich besonders deutlich in denjenigen Fällen, in denen die Straftat so schwere körperliche Folgen für das Opfer hat, daß seine Handlungsfähigkeit, sein Lebenswille und seine für die Führung von Zivilprozessen notwendige Kampfbereitschaft zerstört wurden. Hirnschäden können das Opfer völlig hilflos machen. Der Verlust der Arbeitsfähigkeit kann Mittellosigkeit verursachen. Der Straftäter profitiert dann dank unserer Zivilrechtsordnung davon, daß er das Opfer unschädlich gemacht hat. Gewiß wird durch die Allgemeinheit für hilflose Mitbürger gesorgt. Jedoch kann es oft nur als schwere Ungerechtigkeit angesehen werden, wenn ein arbeitsamer, gut verdienender Mensch unschuldig durch eine Straftat zum Krüppel wird, alles verliert, was er als Lebensinhalt betrachtete, und nur aufgrund der Sozialhilfe das sogenannte Existenzminimum erhält. Gesetze über die Entschädigung von Opfern sind in folgenden Staaten erlassen worden: zuerst in Neuseeland 1963, sodann in England im Jahre 1964. Es folgten in der gesetzlichen Entwicklung die folgenden Einzelstaaten der USA: Kalifornien 1965, New York 1966, Hawaii 1967, Maryland and Massachusetts 1968, Nevada 1969, New Jersey 1971, Rhode Island und Alaska 1972. Eine Regelung auf bundesstaatlicher Ebene ist in den USA durch den „Victims of Crime Act 1973" vorgesehen. Gesetze über die Wiedergutmachung der Opferschäden gibt es auch in zwei Provinzen Kanadas: Saskatschewan 1967 und Neufundland 1968 und in zwei Staaten Australiens: Neusüdwales 1967 und Queensland 1968. Schließlich sind Gesetze in folgenden Ländern zu nennen: Nord37'

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irland von 1968 und Österreich von 1972. In anderen Ländern befinden sich Gesetze in Vorbereitung, so ζ. B. in Italien. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich im Oktober 1970 die Justizminister und -Senatoren des Bundes und der Länder für eine gesetzliche Regelung der Wiedergutmachung des Schadens der Verbrechensopfer ausgesprochen. Die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages brachte im Juli 1971 den Initiativantrag eines Gesetzes über Hilfe für Opfer von Straftaten ein. Im September 1972 behandelte die sozialrechtliche Arbeitsgemeinschaft des 49. Deutschen Juristentages Fragen der sozialen Entschädigung und damit auch der Entschädigung für Opfer von Straftaten. Schließlich liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung (Kabinettvorlage) über ein Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) gegenwärtig vor. Nur eine Minderheit der Straftäter wird gefaßt und verurteilt. Sie gehören zum größten Teil den niedrigsten sozioökonomischen Schichten an. Die Verdienste in den Strafanstalten reichen kaum aus, um auch nur einen Teil der Kosten für den Aufenthalt der Strafgefangenen zu bezahlen. Der Widerstand der Gesellschaft gegen die Wiedereingliederung der entlassenen Strafgefangenen und ihr Mangel an beruflichen Fähigkeiten verhindern, daß sich ihre Beschäftigung nach ihrer Entlassung als lohnend genug ausweist, um eine Wiedergutmachung, es sei denn eine symbolische, in Geld zu ermöglichen. Die Kosten, die dem Staat entstehen würden, um ein System der Verwaltung zu schaffen, in dem die Straftäter den Schaden für die Opfer wiedergutmachen, würde die Ausgaben übersteigen, die verursacht würden, wenn der Staat selbst die Opfer für ihre Schäden und Verluste schadlos halten würde. Der Staat ist für die Verhütung des Verbrechens verantwortlich. Er muß die Opfer entschädigen, wenn es mißlingt, sie wirksam vor dem Verbrechen zu schützen. Für eine staatliche Entschädigung der Verbrechensopfer sprechen viele Gründe: die Mitverantwortung der Gesellschaft für zahlreiche Verbrechensfaktoren, der zwangsläufig unzureichende staatliche Schutz vor Straftaten, die Wertlosigkeit privater Ansprüche des Opfers gegen den oft nicht zu ermittelnden und meistens vermögenslosen Täter und die moralische Pflicht des sozialen Rechtsstaates, Opfer von Unglücksfällen nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen (Eike von Hippel 1971). Die Gesellschaft ist eine Gefahrengemeinschaft, in der menschliche Solidarit ä t verwirklicht werden muß. Da jedes Individuum als Mitglied der Gesellschaft ein potentielles Verbrechensopfer ist, muß dafür gesorgt werden, daß jedermann zu den Kosten des Verbrechens beiträgt. Eine Versicherung durch die Versicherungswirtschaft ist unzulänglich. Da das Versicherungsrisiko relativ gering ist, lohnt es sich nicht, von jedermann einen Beitrag einzuziehen. Der

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Weg über die allgemeinen Steuern ist einfacher und billiger. Kein Opfer einer Straftat ist sinnlos geschädigt. Denn es ist das Opfer eines für alle notwendigen Sozialkontaktes. Seine Berührung mit dem Täter ist nicht ohne Wert. Der Schaden aus der Straftat wurde dem Opfer als Dienst an der Gemeinschaft abverlangt. Nicht nur die Anerkennung der positiven Bedeutung der Opferrolle liegt in einer Entschädigungsregelung. Sie stellt auch eine Belohnung für eine aktive Leistung dar. Der sich Wehrende handelt im eigenen Interesse, aber zwangsläufig auch im Interesse aller. Mit der Abwehr der Straftat, ja selbst mit nutzlosem Widerstand, erfüllt er einen gemeinnützigen Zweck (Armin Schoreit 1973, S. 76 und 84). Das Opfer hat daher einen Wiedergutmachungsanspruch als Rechtsanspruch. Die Zahlung einer Entschädigung auf dem Gnadenwege ist abzulehnen. Wiedergutmachung wird in der Regel für einen Schaden geleistet, der sich als körperliche Schädigung unter Einschluß einer Schwangerschaft, eines geistigen und nervösen Schocks darstellt. Durch die Entschädigung werden Ausgaben abgedeckt, die sich aus dem Tod (ζ. B. Bestattungskosten) oder der Verletzung des Opfers (Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit) ergeben. Ferner sind in der Regel folgende Hilfeleistungen vorgesehen: therapeutische Kosten, insbesondere ärztliche Hilfe, Heilmittel, Anstaltspflege, Zahnbehandlung, Aufenthalt in Kurbädern und Heilstätten, orthopädische Versorgung, ferner Förderungsmaßnahmen für Kinder der Geschädigten sowie für Witwen und Waisen, Erholungs- und Wohnungsfürsorge, Hilfe in besonderen Lebenslagen und ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt. Schließlich werden der Verdienstausfall und die Kosten für Kinderpflege erstattet. Wiedergutmachung wird in der Regel nur für Schäden durch bestimmte Delikte gezahlt, die in den Gesetzen nach dem Enumerationsprinzip genannt sind. Es handelt sich meist um Delikte gegen die Person: Tötung, Körperverletzung, Sexualdelikte; Gewaltdelikte: Raub, Einbruch, Entführung, Aufruhr und gemeingefährliche Delikte: Brandstiftung, Überschwemmung, Sprengstoffanschläge und Vergiftung. Keine Wiedergutmachung wird für Schäden geleistet, die sich aus Verletzungen von Straßenverkehrsgesetzen ergeben. Eine Ausnahme bildet ein krimineller Angriff, bei dem das Fahrzeug selbst als Angriffswaffe benutzt worden ist (Donal E. J. MacNamara, John J. Sullivan 1973). Opfer, die Anlaß zu dem kriminellen Akt gegeben oder ihn gar provoziert haben, können für ihr Opferwerden keine Wiedergutmachung bekommen. Dasselbe gilt für Täter und Komplizen. Bisweilen wird in den Gesetzen Bedürftigkeit des Opfers oder seiner Angehörigen gefordert. Da das Opfer indessen einen Rechtsanspruch auf Entschädi-

gung hat, ist das Erfordernis der Bedürftigkeit abzulehnen. Immaterielle Schäden für Schmerzen und Leiden werden in zahlreichen Gesetzen ausgeschlossen. Opfer, die nicht das ihnen Mögliche zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verfolgung des Täters getan haben, sind von der Entschädigung gleichfalls ausgenommen. In zahlreichen Gesetzen sind Ausschlußfristen von einem Jahr nach der Straftat festgelegt, die das Opfer erlitten hat. Entschädigung für Opfer von Eigentumsdelikten, Vermögensstraftaten oder Sachbeschädigung wird gesetzlich meist nicht geleistet. Man argumentiert, solche Straftaten könnten von dem Opfer beliebig provoziert oder auch nur untätig erduldet werden, wenn eine lohnende Entschädigung winke. In Wirklichkeit will der Gesetzgeber die finanzieren Lasten für die Wiedergutmachung von Verbrechensopfern begrenzen. Nichtgewaltsame Delikte können schwerere und längere Schädigungen für Opfer und Angehörige verursachen als Gewaltdelikte. Die Begründung, Eigentum könne heute ziemlich leicht versichert werden, ist gleichfalls zweifelhaft, weil gegenwärtig sowohl das Leben wie auch der Körper ebenso leicht versichert werden können. Es gibt keinen statistischen Beweis dafür, daß das gestohlene Gut dem Eigentümer gewöhnlich zurückgegeben wird. Aber selbst wenn dies so sein sollte, sind die Fälle nicht gering, in denen das Eigentum in einem beschädigten Zustand zurückerstattet wird. Freilich gehören die Sympathien der Öffentlichkeit dem mehr, der körperliche Schäden zu erdulden hat, als dem, der Vermögensschäden erlitten hat. Obwohl dies grundsätzlich richtig ist, kann es sehr wohl sein, daß die Öffentlichkeit auch Sympathien mit demjenigen hat, der Eigentum verliert, das einen besonderen Wert für ihn hat, oder der sein gesamtes Hab und Gut einbüßt. Die Argumentation, bei Verbrechen, die in großem Umfang Eigentum beträfen, sei die Gefahr der mißbräuchlichen Anträge groß, ist unannehmbar, weil auch bei Gewaltdelikten die Möglichkeit falscher Anträge gegeben ist. Es ist zwar richtig, daß ein Körperschaden vorhanden sein muß. Dieser Körperschaden kann aber eine andere als eine deliktische Ursache haben. Die Begründung, physischer Schaden sei schwerer als Eigentumsschaden, ist zu allgemein. Sie ignoriert die vielen Fälle, in denen Eigentumsschädigung sehr schwere Folgen haben kann und im Gegensatz dazu Körperschäden sehr leicht sein können. Ein Ausschluß der Entschädigung für Vermögensdelikte ist daher ungerechtfertigt. Von den Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft kann allerdings erwartet werden, daß sie sich gegen kriminelle Vermögenseinbußen selbst versichern. Viele Gesetze sehen Mindest- und Höchstsummen für die Beantragung der Entschädigung vor. Die Notwendigkeit der Beantragung eines Mindestschadens sollte entfallen. Denn bisweilen kann

Viktimologie ein Schaden unter dem Mindestbetrag für ein bestimmtes Opfer einen sehr schweren Verlust bedeuten. Eine Maximalgrenze sollte im Prinzip bestehen bleiben. Aber es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, in besonderen Fällen eine höhere Summe zu gewähren. Die Wiedergutmachung für Schäden, die durch den Täter innerhalb seiner Familie verursacht worden sind, sollte nicht für alle Fälle ausgeschlossen werden. Es sollten vielmehr Schritte unternommen werden, damit der Täter keinen Vorteil aus der Wiedergutmachungszahlung erlangen kann, die als Ergebnis seines Verbrechens geleistet wird. Notwiedergutmachung sollte in dringenden Fällen gewährt werden können (Uzy Hasson, Leslie Sebba 1973). Einige Schwierigkeiten sind bei der praktischen Verwirklichung der Gesetze zur Wiedergutmachung von Schäden der Verbrechensopfer entstanden. Die Öffentlichkeit ist in ihrer Gesamtheit und die Opfer, die Anspruch auf Wiedergutmachung haben, sind speziell nicht ausreichend über ihre Möglichkeiten zur Erlangung der Entschädigung informiert. Der Entwurf der CDU/ CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag sah deshalb vor, daß die Staatsanwaltschaften und Gerichte verpflichtet sein sollten, den Verletzten und seine Erben auf ihr Recht hinzuweisen, Entschädigungsansprüche geltend machen zu können. Die Antragsteller werden für gewöhnlich durch die Kompliziertheit der gesetzlichen Regelung und durch die langen Verzögerungen abgeschreckt, die bei der Verfolgung ihrer Anträge entstehen. Schließlich hat sich gezeigt, daß die Honorare für medizinische Ausgaben von Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken in den meisten Fällen außerordentlich übersetzt waren. Für das Verfahren zur Erlangung von Wiedergutmachung für Verbrechensschäden sind Anträge des Opfers, seines Ehegatten, seines Kindes oder einer anderen Person erforderlich, die von der Hilfe und Unterstützung des Opfers abhängig war. Meist ist eine eigenständige Behörde vorgesehen (im Staate New York ζ. B. der „Crime Victims Compensation Board"). Allerdings könnten auch die Strafgerichte wie in Australien die Wiedergutmachungsanträge bearbeiten. Das Verfahren sollte möglichst unbürokratisch und informell gehandhabt werden, damit das Verbrechensopfer schnell entschädigt werden kann. Mörder und Totschläger haben in ihrer Mehrheit den Wunsch, den Hinterbliebenen ihrer Opfer Wiedergutmachung zu leisten (Stephen Schafer 1964). Dieser Wunsch besteht allerdings meist nicht bei den anderen Kriminellen. Die Strafe zielt auf die Wiedergutmachung der abstrakten Verletzung des Ordnungssystems der Gesellschaft. Ihr abstrakter „moralischer" Schaden ist nicht ersetzbar. Der individuelle Schaden des Opfers kann indessen erstattet werden. Ursprünglich suchten der Herrscher und später die Gesellschaft,

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die nur im abstrakten Sinne geschädigt war, strafrechtlichen Rückgriff zu nehmen, um den Täter abzuschrecken und Rachegefühle zu befriedigen. Das bestehende Strafrechtssystem sieht die Bestrafung des Täters als die einzige Genugtuung und Belohnung des Opfers vor. Wenn der Kriminelle seine Zeit im Strafvollzug mit sehr erheblichen Kosten der Gesellschaft herumgebracht hat, glaubt er, seine Schuld gebüßt zu haben. Je schwerer das Verbrechen war, desto länger wird der Täter im Strafvollzug gehalten, desto größer sind die Kosten für den Steuerzahler und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er jemals in der Lage sein wird, der Gesellschaft und seinem Opfer die Schäden zu ersetzen, die er verursacht hat. Die Idee, daß der Straftäter durch seine Tat abstrakte Werte der Gesellschaft verletzt hat, kann von den Rechtsbrechern aufgrund ihrer geistigen Ausstattung kaum begriffen werden. Die Ersatzleistung des Täters kann als Rehabilitation durch Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer einen guten Sinn haben. Der ausgestoßene, degradierte Strafgefangene kann dadurch seine Selbstachtung zurückerlangen und seinen guten Willen in der Gemeinschaft unter Beweis stellen, daß er den Schaden wiedergutmacht, den er konkret dem Opfer zugefügt hat (David J. Bentel 1968). Hierbei kann keine Rede davon sein, daß die Errichtung eines Gemeinschaftsfonds für eine Versicherung gegen das Verbrechen die Verurteilung zu lebenslanger Zwangsarbeit voraussetze (so Moussa Prince 1964). Es ist auch völlig unrealistisch, vorzuschlagen, die verurteilten Straftäter sollten nicht nur für ihre eigenen Delikte schadensersatzpflichtig sein, sondern auch für diejenigen der größeren Gruppe der nichtentdeckten oder nichtüberführten Straftäter (vgl. Burt Gallaway, Joe Hudson 1972). Der Betrag, den der Täter dem Opfer schuldet, sollte dadurch vermindert oder ganz eliminiert werden, daß der Täter erfolgreich geltend macht, das Opfer habe das Delikt mitverursacht oder zu ihm beigetragen. Ersatzleistung durch den Täter kann einen sehr konstruktiven Zweck verfolgen und praktische Hilfe für das Opfer darstellen. Das Zentralproblem ist, sicherzustellen, daß die Beträge für solche Zahlungen der Leistungsfähigkeit des Täters entsprechen. Dem ehemaligen Strafgefangenen darf nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt die erfolgreiche Eingliederung in die Gemeinschaft durch drückende unrealistische Schuldenlasten nicht erschwert oder unmöglich gemacht werden. In vielen Fällen wird deshalb nur eine teilweise Ersatzleistung durch den Täter möglich sein. Dies spricht um so mehr für eine Entschädigung des Opfers durch den Staat. 4.

Strafvollzug

Das Opfer kann durch den Strafvollzug in mannigfaltiger Weise Ersatzleistung erlangen (vgl.

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Viktimologie

Gerhard Ο. W. Mueller, Η. H. A. Cooper 1973). Strafvollzug wird in diesem Zusammenhang nicht als Freiheitsentzug allein verstanden. Behandlung in Freiheit ist u. a. auch eine Form des Strafvollzugs. Die Herstellung einer bedeutsamen Beziehung zwischen Täter und Opfer ist ein nützlicher Gesichtspunkt im Rahmen der Resozialisierung des Täters. Ersatzleistung durch den Täter kann zur Bedingung für die Gewährung der Strafaussetzung zur Bewährung oder der bedingten Entlassung gemacht werden. Diese Alternativen sind sinnvoll vom viktimologischen Standpunkt aus, weil sie den Straftäter konstruktiv zur Arbeit für eine frühe Entlassung motivieren, während sie seine Aufmerksamkeit unmittelbar auf den Schaden richten, den er angerichtet hat. Er wird gezwungen, sich mit den Folgen seines antisozialen Verhaltens auseinanderzusetzen; denn seine Freiheit wird in ein Gleichgewicht zu seiner Bereitschaft und Fähigkeit gebracht, angemessene Wiedergutmachung für seine schädigenden Handlungen oder Unterlassungen zu leisten. Ihm wird auf diese Weise nahegelegt, über sein Opfer in einer unmittelbaren Weise nachzudenken und die Wiederherstellung der sozialen Position des Opfers als einen Teil seiner eigenen Rehabilitation zu sehen. Das Opfer hat auf der anderen Seite keine Möglichkeit, naheliegende Rachegefühle zu pflegen; denn sein Interesse besteht hauptsächlich darin, eine adäquate Ersatzleistung zu erhalten. Eine weitere Möglichkeit der Ersatzleistung durch den Täter ist die Abzweigung eines Teils der Geldstrafe. Jede Ausweitung des Geldstrafensystems begegnet zwar der Kritik, daß sie denjenigen, die die Möglichkeit dazu haben, sich freizukaufen, den Weg aus der Strafanstalt in die Freiheit eröffnet. Es soll indessen Sinn des Strafvollzugs sein, das Bewußtsein des Täters für seine Verantwortlichkeiten dem Individuum gegenüber zu schärfen, das er geschädigt hat. Gegenwärtig ermangelt der Täter, der eine Geldstrafe bezahlt, eines solchen Gefühls für sein Opfer; denn er weiß, daß das Opfer keinen direkten Nutzen von der Geldstrafe hat, die auf diese Weise ganz einfach als eine unpersönliche Unbequemlichkeit, als eine Belästigung, wenn nicht als ein Ausweg aus etwas Schlechterem, nämlich aus dem Freiheitsentzug, empfunden wird. Es gibt einen bemerkens- und begrüßenswerten Unterschied dort, wo der Staat selbst zum Opfer wird. In Steuerangelegenheiten ζ. B. kümmert sich das Gesetz weniger darum, den Rechtsbrecher zu bestrafen, als vielmehr darum, daß er den Schaden wiedergutmacht, den er dem Staat zugefügt hat. Es ist erwägenswert, daß die Ergebisse der Arbeit des Strafgefangenen in der Vollzugsanstalt oder die Zahlungen aus einem Tagesbußensystem, unter dem der Straftäter in angemessener Weise arbeitet, dem Opfer zugute kommen. Was hier vorgeschlagen wird, ist eine Modifikation des Tagesbußensystems in einer

Weise, daß das Opfer unmittelbar Nutznießer der Bemühungen des Täters wird. Der Schaden, den der Täter verursacht hat, ist gewöhnlich weit höher als seine ökonomische Möglichkeit, eine realistische Wiedergutmachung zu leisten. Das Opfer muß deshalb die Wiedergutmachung in Abschlagszahlungen erhalten. Die zivile Bindung des Strafvollzugsverdienstes des Täters zum Zwecke der Ersatzleistung an das Opfer kann allein dann wirksam funktionieren, wenn der Täter für seine Arbeit in der Strafvollzugsanstalt angemessen bezahlt wird. Bei der zivilen Bindung von Verdiensten des Täters außerhalb der Strafanstalt ist es ebenfalls notwendig, eine konkrete Übereinkunft vorzusehen, etwa die Ersatzleistung als Auflage zur Strafaussetzung zur Bewährung oder zur bedingten Entlassung, um für den Straftäter eine Notwendigkeit zu schaffen, seine Verpflichtungen zu erfüllen und seine Zahlungen fortzusetzen. Die Wiedergutmachung für das Opfer kann garantiert werden durch eine Bedingung bei der Verurteilung, daß der Verlust der Freiheit nämlich automatisch einer vorsätzlichen Verletzung der Zahlungsverpflichtungen mit der Konsequenz folgt, dann den Schaden durch den Verdienst in der Strafvollzugsanstalt wiedergutmachen zu müssen. Die Sanktion der Ersatzleistung durch den Täter hat viele Vorteile (Burt Gallaway, Joe Hudson 1973 b). Sie wird rational und logisch zu den Schäden in Beziehung gesetzt, die der Täter verursacht hat. Das ist nicht der Fall, wenn er in einen „Käfig" eingesperrt und das Opfer durch das Strafvollzugssystem ignoriert wird. Sie ist klar und bestimmt, so daß der Täter immer weiß, wo er in Beziehung zu den Zielen steht, die er erreichen soll. Wiederum trifft dies nicht zu, wenn der Täter in eine Strafvollzugsanstalt eingewiesen wird und das Ziel seiner Rehabilitation bestenfalls vage und schlechtestenfalls irreführend ist. Sie erfordert eine aktive Teilnahme des Täters, der nicht mehr bloß der passive Empfänger einer therapeutischen oder strafrechtlichen Behandlung zur Änderung seines Verhaltens ist. Seine aktive Beteiligung daran, das getane Unrecht ungetan zu machen, wird im Gegenteil seine Selbstachtung und sein Selbstbild als verantwortliches und wertvolles Mitglied der Gesellschaft stärken. Die Sanktion der Ersatzleistung sieht einen konkreten Weg vor, auf dem der Täter sein Unrecht büßen und wiedergutmachen kann. Dieser Weg sollte eine konstruktive sozialnützliche Methode für ihn sein, um mit der Schuld fertig zu werden, die aus seiner Straftat erwachsen sein mag. Schließlich sollte die Ersatzleistung eine positivere Reaktion der Mitglieder der Gemeinschaft dem Täter gegenüber zum Ergebnis haben. Der Täter sollte angesehen werden als eine Person, die zwar illegale Handlungen begangen hat, die aber nunmehr versucht, ihr Unrecht wiedergutzumachen. Er sollte nicht

Viktimologie mehr als krank oder schuldig oder unwiderleglich unmoralisch beurteilt werden. Ein Beispiel, wie die Sanktion der Ersatzleistung verwirklicht werden kann, ist das „Minnesota Restitution Center", das dem „Minnesota Department of Corrections" untersteht und das eine auf die Gemeinschaft gegründete Wohnmöglichkeit darstellt (Burt Gallaway, Joe Hudson 1973 b). In diesem Wohnheim in Freiheit leben ausgewählte Strafgefangene aus dem Staatsgefängnis von Minnesota. Im Brennpunkt des Behandlungsprogramms steht die Wiedergutmachung. Die Probanden haben alle nach einer Strafverbüßung von vier Monaten in dem Staatsgefängnis bedingte Entlassung erhalten. Die Zusammenarbeit zwischen Täter und Opfer beim Abschluß einer vertraglichen Vereinbarung ist wesentliche Grundlage dieses Behandlungsprojekts. Das Personal ist aus ehemaligen Strafgefangenen zusammengesetzt. Für das Behandlungsprojekt werden erwachsene Vermögenstäter ausgewählt, die nicht im Besitz einer Schußwaffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs während der Ausführung ihrer Tat waren. Den Opfern wird eine Möglichkeit geboten, an dem Ersatzleistungsprogramm teilzunehmen. Wenn sie es wünschen, können sie zur Strafanstalt kommen, um den Wiedergutmachungsvertrag mit dem Straftäter auszuhandeln. Nach dem erfolgreichen Abschluß einer Wiedergutmachungsvereinbarung wird dem „Parole Board" eine Abschrift dieser Vereinbarung übersandt. Er entscheidet dann über die bedingte Entlassung. Seit September 1972 wurden im ersten Jahr der Durchführung insgesamt 31 Ersatzleistungsverträge abgeschlossen. Die Zusammenarbeit zwischen Täter und Opfer bringt in der Regel gewandelte Einstellungen auf beiden Seiten mit sich. Sie erkennen sich gegenseitig als Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen und Problemen. Der tatsächliche Prozeß der Vertragsverhandlung zwischen Täter und Opfer verursacht Angst beim Zusammentreffen und Unbehagen bei beiden, wenn sie miteinander sprechen. Die Insassen zeigten Gefühle der Scham und der Schuld. Nur wenige Probleme entstanden im Hinblick auf eine gegenseitig annehmbare Ersatzleistung. Der Einfluß des Opfers auf den Täter kann allerdings unterschiedlich sein, wenn das „Opfer" ein Repräsentant einer großen Gesellschaft ist. In der Anfangsphase des Programms erhoben sich ernsthafte Zweifel über das Ausmaß, in dem Opfer aufgeschlossen genug sein würden, ihre Zeit dafür auf zuwenden, zum Staatsgefängnis zu reisen, um dort mit dem Straftäter Rückerstattungskontrakte auszuhandeln. Es zeigte sich indessen, daß die Opfer im allgemeinen bereit waren, an den direkten Vertragsverhandlungen teilzunehmen. Es erhob sich die Frage, ob Straftäter in den Fällen vom Programm ausgeschlossen werden sollten, in denen das Opfer eine Teilnahme

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verweigerte oder in denen keine Schäden entstanden waren. Als eine Alternative für die unmittelbare Zahlung der Wiedergutmachung an ein Opfer wurde eine symbolische Ersatzleistung entwickelt, bei der der Täter eine bestimmte Anzahl von Dienststunden für eine Dienststelle der Gemeinschaft leistete. Verbrechen wird in diesem Zusammenhang formell als ein Akt gegen die Gemeinschaft definiert. Die Ersatzleistungsverpflichtungen, die durch die Straftäter eingegangen wurden, waren relativ leicht. Sie betrafen verhältnismäßig kleine Schadensbeträge. Bei der Zusammensetzung der Population für das Behandlungsprojekt (Vermögenstäter) ging man von folgenden Hypothesen aus: Die Opfer, die Vermögensverluste erlitten hätten, würden leichter gewillt sein, mit den Tätern persönlich zu verhandeln, als die Opfer von Raubüberfällen und Körperverletzungen. Es würde relativ leicht sein, den Geldwert bei Vermögensdelikten zu bestimmen. Bei diesen Delikten stellt sich die komplizierte Frage nach immateriellen Schäden für Schmerzen und Leiden nicht. Ebenfalls kann hier kaum zweifelhaft sein, in welchem Umfang das Opfer zu seinem eigenen Opferwerden beigetragen hat. Schließlich ging man bei den sehr begrenzten Sicherheitsvorkehrungen in dem Wohnheim davon aus, daß der am wenigsten sozial sichtbare Typ des Straftäters, nämlich der Vermögenstäter, am wenigsten Widerstand und Feindschaft in der Gemeinschaft hervorrufen würde. Das würde jedoch bei allen Gewalttätern der Fall sein. Fast alle Männer, die für das Programm zugelassen wurden, hatten lange kriminelle Karrieren mit einem Lebensstil häufiger und langer Aufenthalte in Strafvollzugsanstalten hinter sich. Kritisch wurde eingewandt, es handele sich in Wirklichkeit um ein „Schuldgefängnis". Konventionelle Formen der Hilfe in Strafanstalten haben sehr geringen, wenn überhaupt einen dokumentierten Einfluß auf die Probanden. Die Männer, die an dem Programm teilnehmen, müssen in einem Gruppenwohnheim leben. Sie müssen an obligatorischen Gruppensitzungen teilnehmen. In diesem Behandlungsprogramm ist das Opfer eine angesehene Partei im Strafvollzugssystem geworden. E . Verbrechensvorbeugung und -aufklärnng Die Vorbeugungsmaßnahmen sind — vom viktimologischen Standpunkt aus — nach den verschiedenen Erscheinungsformen der Delikte höchst unterschiedlich. Einfache „Patentrezepte" gibt es nicht. Selbst wenn man eine einzelne Erscheinungsform eines bestimmten Deliktes berücksichtigt, können viktimologische Vorbeugungs- und Aufklärungsmaßnahmen in der Regel nicht generell und für alle Fälle empfohlen werden. Es kommt viel auf die jeweilige Situation an, in der das Verbrechen geschieht. Viktimologisch im vor-

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aus analysierte Bekämpfungsmöglichkeiten können allerdings vorbeugend durchaus wirksam sein. Man kann nicht sagen, daß irrational und affektivemotional motivierten Delikten durch rationelle Aufklärung potentieller Opfer nicht vorzubeugen sei. Eine Vorbeugung gegenüber solchen Delikten kann in einer Weise geleistet werden, daß potentielle Opfer auf die Gefahren und Risiken aufmerksam gemacht werden, die sie dadurch eingehen, daß sie sich in viktimogene Situationen begeben. Im folgenden können lediglich einige Gesichtspunkte viktimologischer Vorbeugung anhand von Beispielen deutlich gemacht werden. Es kommt für den Diebstahl und Einbruch nicht nur darauf an, daß sich die potentiellen Opfer versichern, sondern auch darauf, daß sie aktiv daran mitwirken, ihre Viktimisierung zu vermeiden. Begangene Eigentumsdelikte, für die die Versicherungen einstehen, schädigen zwar das individuelle Opfer nicht, sie fügen aber der Volkswirtschaft Schaden zu. Ein aktiveres Handeln des potentiellen Opfers bei der Vorbeugung gegen Eigentumsdelikte ist auch deshalb notwendig, weil die Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B. Kriminalpolizei und Gerichte) sich personell und finanziell außerstande sehen, die moderne Massenkriminalität, die Vermögenskriminalität ist, noch vollständig zu kontrollieren. Eine legale oder illegale Entkriminalisierung hat bei kleineren Eigentumsdelikten aus Personalmangel oder ineffektivem Handeln der Kriminalpolizei bereits in kapitalistischen wie sozialistischen Ländern eingesetzt. Diese Entwicklung ist indessen nicht ungefährlich für die Gesellschaften, weil auch Kleindiebstähle organisiert werden können und dann der Volkswirtschaft erheblichen Schaden zufügen. Die Aufklärung der Öffentlichkeit über Verbrechenstechniken bei Vermögensdelikten (ζ. B. bei Diebstahl, Betrug, Erpressung) durch das Fernsehen ist nicht unbedenklich. In der Bundesrepublik Deutschland denkt man fast ausschließlich an das potentielle Opfer, nicht aber an den potentiellen Täter. Eine 100%ige Einschaltquote kann nicht erreicht werden. Wenn Verbrechenstechniken vorgeführt werden, so warnt man nicht nur potentielle Opfer, sondern es werden auch potentiellen Tätern neue Anregungen gegeben, zumal immer neue Verbrechenstechniken auf der Grundlage der alten entwickelt und überholte Verbrechenstechniken modifiziert werden können. Die Zuschauer. die die vorbeugenden Aufklärungssendungen nicht sehen konnten, kommen dann als Opfer in Betracht. Wie unterschiedlich die Auffassungen unter den Kriminologen sind, zeigt ein Beispiel aus Polen. Eine empirisch-kriminologische Studie über Taschendiebstahl in Breslau ist nicht veröffentlicht worden, weil sie u. a. auch Ausführungsarten des Taschendiebstahls beschrieb. Obgleich dieser Teil der kriminologischen Untersuchung von nur untergeordneter Bedeutung war,

verbot man die wissenschaftliche Publikation. Hier dachte man ausschließlich an potentielle Täter, nicht aber an potentielle Opfer, die durch die Aufklärung über Techniken des Taschendiebstahls hätten gewarnt werden können. Die Studie wurde nicht einmal kriminologischen Forschern zugänglich gemacht. Beim Delikt des Raubes nützen technische Vorrichtungen (Alarmanlagen, kugelsichere Scheiben) nicht viel. Denn die Straftäter lassen sich immer neue Begehungsformen einfallen. So werden beim Bankraub mit Geiselnahme alle technischen Vorbeugungsmaßnahmen hinfällig. Hier öffentlich zu empfehlen, das Leben der Geiseln in jedem Falle zu schützen, ist viktimologisch nicht zu vertreten, weil solche Empfehlung zu Anschlußtaten Anlaß geben kann. Der Schutz des Lebens der Geiseln ist auch nicht stets von der Kriminalpolizei durchhaltbar. Die Vorbeugungsmaßnahmen der Geldinstitute gegenüber Raubüberfällen werden in ähnlicher Weise dadurch von den Tätern umgangen, daß sie sich ζ. B. nachts durch Einbruch Zugang zum gesicherten Bereich verschaffen und dann die ersten Bankangestellten morgens erwarten, die leicht zu überwältigen sind und die dann zur Herausgabe des Geldes gezwungen werden. Hierdurch vermeidet man das aufwendige „Geldschrankknacken" mit Schweißgeräten. Eine vorbeugende Wirkung gegen Raubüberfälle ist nur dann gewährleistet, wenn die potentiellen Täter ein hohes Risiko eingehen. Mehr Gelassenheit ist auf der Seite der Opfer ratsam. Viele Räuber sind dafür bekannt, daß sie in hohem Maße nervös sind und daß sie bei einem Raubüberfall den Finger am Abzug haben. Sie wollen eigentlich die Pistole oder die Maschinenpistole nicht benutzen. Aber Pistolen haben die unheilvolle Eigenschaft, nach Abfeuern zu rufen. Es ist die nervöse Spannung in einer Raubsituation, die oft nach gewaltsamer Lösung schreit. Die Räuber sind in furchtbarer Angst, von der Polizei gefaßt oder vom Opfer verletzt zu werden. Ein halbherziger Versuch zu kämpfen, der den Angreifer nicht sofort und völlig entwaffnet und überwältigt, und bloße Drohungen sind geeignet, die Kriminalstatistiken anstelle eines schweren Raubes durch einen zusätzlichen Raubmord zu vergrößern (so schon Hans von Hentig 1948, S. 438). Mannigfaltige Bekämpfungsmaßnahmen, die auch vorbeugend wirken sollen, werden für Flugzeugentführungen oder Bombenanschläge aus „politischen" Gründen empfohlen. Es wird ζ. B . geraten, mit den Flugzeugentführern überhaupt nicht zu verhandeln und sie auf diese Weise sozial zu isolieren und zu entmutigen. Andere befürworten demgegenüber langdauernde Verhandlungen, um die Flugzeugentführer „mürbe" zu machen. Die Geiseln sollten sich möglichst bemühen, mit den Attentätern gut bekannt zu werden. Denn man geht davon aus, daß kein noch so ver-

Viktimologie hetzter Mensch einen anderen Menschen umbringt, wenn er ihn gut kennt oder sich gar mit ihm angefreundet hat. Alle diese Empfehlungen machen die staatliche und gesellschaftliche Ohnmacht gegenüber rücksichtslosen Attentätern deutlich. Am besten wäre eine internationale Vereinbarung zur Bekämpfung von Flugzeugentführungen und die Beseitigung von sozialen und politischen Problemen, aus denen solche Gewaltakte erwachsen. Eine gute soziale Kontrolle aller Passagiere vermag schon vorbeugend in vielen Fällen zu wirken. Aber auch sie versagt, wenn die Attentäter mit Maschinenpistolen die Kontrollkräfte unmittelbar angreifen. Hier stoßen selbst Vorbeugungsmaßnahmen meist ins Leere, die echte Risiken für die Attentäter bedeuten. Denn die Angreifer haben oft ihren eigenen Tod bereits mit einkalkuliert. Die internationale Luftfahrt ist leicht verletzbar. Man sollte für die gefaßten Flugzeugentführer eine Wiedereinführung der Todesstrafe erwägen, damit man wenigstens keine neuen Flugzeugentführungen und sonstigen Terrorakte (ζ. B. Diplomatenentführung) zur Befreiung der eingesperrten Attentäter riskiert. Zwar sind Gegenschläge der Terroristen bei Vollstreckung der Todesstrafe zu befürchten. Die Abschaffung der Todesstrafe, für die der Verfasser dieses Artikels stets nachdrücklich eingetreten ist und weiterhin eintritt, sollte kein unumstößliches Dogma darstellen, wenn es gilt, unschuldige Menschen zu retten. Gegenüber zu allem entschlossenen Terroristen können sich jeder Staat und jede Gesellschaft nur wehren, wenn sie bedingungslos kämpfen. Das setzt allerdings einen Widerstandswillen voraus. Jede Milde und Nachgiebigkeit gegenüber fanatisierten politischen Überzeugungstätern kann verheerende Folgen für völlig unschuldige Menschen haben. Letztlich hat der Staat die Wahl, unschuldige (Geiseln) oder schuldige Menschen (Flugzeugentführer) zu opfern. Diese Wahl dürfte ihm nicht schwer fallen. Denn jeder Staat hat die Pflicht, seine Bürger vor kriminellen Handlungen zu schützen. Humanitäre Maßnahmen gegenüber politischen Überzeugungstätern sind fehl am Platze, weil solche Maßnahmen von den Tätern nur als Schwäche des Staates ausgelegt und rücksichtslos ausgenutzt werden. Die Notzucht ist im Kähmen der viktimologischen Vorbeugung ein schwieriges Delikt. In jedem Fall ist es richtig, daß man den potentiellen Notzuchtsopfern nahelegen soll, sich nicht in viktimogene Situationen zu begeben. Dies schließt die Darlegung ein, welches viktimogene Situationen im Hinblick auf die Notzucht sind. Mitunter können oder wollen jedoch Mädchen und Frauen viktimogene Situationen nicht umgehen. Sie nehmen sie zumindest in Kauf. Darüber hinaus legen sie in ihrer Mehrheit eine ambivalente Haltung an den Tag. Auf der einen Seite stimulieren sie das männliche Geschlecht durch ihre Kleidung

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und Haltung sexuell. Auf der anderen Seite benehmen sie sich auch ihren Freunden und Bekannten gegenüber abwehrend, um ihr „moralisches" Ansehen nicht einzubüßen. Diese verkrampfte Haltung macht es den potentiellen Sexualpartnern nicht leicht. Es liegt ganz bei der Frau, den Akt als für sie und ihren Partner befriedigende „Eroberung" oder als kriminelle Handlung im nachhinein zu definieren. Nicht selten kommt es vor, daß Mädchen und Frauen Notzuchtanzeige erstatten und daß sie später diese Anzeige zurückziehen, wenn sich die persönlichen Beziehungen zu ihrem Partner für sie befriedigender gestalten oder wenn zumindest der Sexualakt keine Folgen hatte. Ob sich eine Frau oder ein Mädchen in einer tatsächlichen (ζ. B. überfallartigen) Notzuchtsituation wehren soll oder nicht, kann allgemein nicht entschieden werden. Falls sie keinen oder geringfügigen Widerstand leistet, hat sie möglicherweise vor Gericht als Zeugin einen schweren Stand. Wenn sie wirklich kämpft, geht sie das Risiko ein, sich schwerer Verletzungen oder gar einer Tötung durch den Täter auszusetzen. Das Ausmaß des Widerstandes bei der Notzucht ist oft entscheidend für die Überlegungen des Gerichts (Lynda Lytle Holmstrom, Ann Wolbert Burgess 1973 a). Ob es indessen sinnvoll ist, sich zu wehren, kann allein das Opfer in der jeweiligen aktuellen Notzuchtsituation entscheiden. Diese Entscheidung ist abhängig von der richtigen Einschätzung dreier Hauptfaktoren durch das Opfer: der Persönlichkeit des Täters, insbesondere seiner Neigung zur Aggressivität, dem sozialen Umfeld der Notzuchtsituation, insbesondere Tatort und -zeit, und der Persönlichkeit des Opfers, insbesondere ihrer Durchsetzungsfähigkeit. Widerstand ist oft sinnlos und gefährlich. Er kann den sexuell stimulierten Täter zum äußersten reizen. Es ist besser für das potentielle Opfer, das Sich-Bringen oder Gebracht-Werden in eine viktimogene Situation zu vermeiden, in der ihr keine oder nur unter äußerst schwierigen Bedingungen Hilfe geleistet werden kann. Es ist bei der Unzucht mit Kindern völlig falsch, die potentiellen Opfer vor dem „fremden bösen Onkel" (Kinderschreck) zu warnen, der ihnen auf Spiel- und Rummelplätzen auflauere und den sich die Kinder als einen ungepflegten, schmutzigen Menschen mit „Verbrechervisage" (Unhold, Lustgreis) vorstellen. Vage Andeutungen und Warnungen, keine Geschenke von Fremden anzunehmen, nützen nichts. Sie schaden eher. Denn sie lenken die Aufmerksamkeit des Kindes von den Gefahren ab, die ihm im sozialen Nahraum von Verwandten, Familienfreunden und Nachbarn drohen. Wenn die Eltern und Erzieher nicht deutlich und in kindergemäßer Weise sagen, worum es eigentlich geht, wird eher die Neugier des Kindes geweckt. Eine undramatische, realistische und ehrliche Auf-

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klärung, die sich auf viktimologisch-empirische Forschungsergebnisse stützt, ist den Eltern und Erziehern anzuraten. Alle unklaren, verschleiernden Andeutungen machen den Gegenstand für Kinder nur „interessant". Falsche Anschuldigungen kinderfreundlicher Menschen werden dann in unnötiger Weise provoziert. Ein verkrampftes Verhältnis der Familien zur Sexualität erschwert eine sachgerechte und angemessene Vorbeugung. Zur Dramatisierung des Delikts der Unzucht mit Kindern besteht kein Anlaß. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes für das Jahr 1972 sind von 2 572 630 registrierten Verbrechen und Vergehen im Bundesgebiet 14498 Delikte der Unzucht mit Kindern. Diese Straftat wird vorwiegend in Landgemeinden und Kleinstädten begangen. Die Aufklärungsquote lag im Jahre 1972 mit 70,4% relativ hoch. Unzucht mit Kindern wird schon von Heranwachsenden und Jungerwachsenen begangen. Der Schwerpunkt der Begehung liegt mit 34,4% allerdings bei Tätern der Altersgruppe zwischen 25 und 40 Jahren und mit 17,8% bei Rechtsbrechern der Altersgruppe zwischen 40 und 60 Jahren. Straftäter über 60 Jahre machen nur einen Anteil von 9,2% aus. Die Unzucht mit Kindern wird zu 73,9% von Tätern begangen, die in der Tatortgemeinde wohnen. Es handelt sich also um Delikte mit geringer Täterund Opfermobilität. Der Anteil der Ausländer ist mit 14,7% und der der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher mit 1,7% niedrig. Die Begehungsweisen sind überwiegend leicht und schädigen das Kind in der Regel nicht schwer und nicht nachhaltig. Alles kommt auf die verständnisvolle Reaktion des sozialen Nahraums des Kindes (ζ. B. seiner Familie, der Schule, seiner Nachbarschaft) und der Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B. der Kriminalpolizei und der Gerichte) an. Die Straft a t der Unzucht mit Kindern darf allerdings auch nicht bagatellisiert werden. Für die Verbrechensaufklärung ist die TäterOpfer-Beziehung oft von entscheidender Bedeutung. Der Kriminalist muß fast stets bei seiner Aufklärungsarbeit von einem lebenden oder toten Opfer ausgehen. Auch ein totes Opfer kann durch Spuren, Indizien und Angaben von Personen seines sozialen Nahraums sprechen. Gerade für die Delikte mit hoher Täter-Opfer-Beziehungsquote (Mord, Totschlag, Unzucht mit Kindern, Notzucht und gefährliche und schwere Körperverletzung) ist es wichtig, bei der Aufklärungsarbeit vom Opfer — seiner Persönlichkeit, seinen Einstellungen und Gewohnheiten, seinem sozialen Nahraum — auszugehen. Innerhalb des möglicherweise sehr ausgedehnten Kontaktbereichs des Opfers können sich Spuren e i n e r B e z i e h u n g finden, die sich zusammen mit dem möglichen Tatmotiv und unter Berücksichtigung von Zeit, Ort und modus operandi als tatrelevant erweist. Das hat Paul Grob (1964) an zahlreichen Bei-

spielen von Mordfällen verdeutlicht. Er kommt zu folgenden Schlußfolgerungen: Beziehungslose Kapitalverbrechen gegen Leib und Leben sind ebenso selten wie motivlose. Je enger die TäterOpfer-Beziehung war, je länger sie gedauert hat, desto weniger bleibt sie in der Rege] dem sozialen Nahraum verborgen, desto eher findet sich ihr Niederschlag in Briefen, Tagebüchern, Aufzeichnungen, Mitteilungen des Opfers gegenüber Drittpersonen, Gegenständen, Andenken, Geschenken, Amuletten, Fotografien, testamentarischen Vorkehrungen oder irgendwelchen anderen Auswirkungen. Die Methodik, mit der Aufklärungsarbeit zunächst beim Opfer zu beginnen und systematisch weiter vorzudringen, wird die Chancen der Verbrechensaufklärung erhöhen. F. Strafrecht und Strafverfahren 1. Strafrechtliche

Verantwortlichkeit

Während die Strafe als eine Angelegenheit des Staates betrachtet wird, sieht man das verletzende Ergebnis des Verbrechens, nämlich der dem Opfer entstandene Schaden, als eine Privatangelegenheit des Opfers an. Nach einem Verbrechen wird die gesamte Schuld auf den Täter geschoben, also auf denjenigen, der im letzten Abschnitt des Entstehungsprozesses der Kriminalität strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Der dynamische Aspekt der Straftat wird nicht in Betracht gezogen. Das mitverursachende Verhalten des Opfers, das die gesamte Entwicklung zum Verbrechen hin stark beeinflußt haben kann, wird nicht beachtet. Im Gegensatz zum Verständnis des Verbrechens als einer Verletzung der Interessen des Opfers entwickelte sich durch das Erstarken des Staates eine andere Interpretation, nämlich die der Störung der Gesellschaftsordnung. Als Ergebnis wurde das Opfer der Kriminalität vergessen. Der Staat interessierte sich nur noch für die Verantwortlichkeit des Straftäters. Das machte die Verantwortlichkeit so einseitig. Das Opfer blieb eine Ursache, ein Grund für das Strafverfahren, also ein bloßes Objekt. Während das Opfer keine Möglichkeit hat, auf die Ergebnisse des Verfahrens einzuwirken, während es kein Recht hat, Rache oder Wiedergutmachung zu fordern, während es nicht riskiert, in die Verantwortlichkeit für das Verbrechen einbezogen zu werden, ist das Strafverfahren gleichwohl formell zu seinem Schutz, seiner Sicherheit und Integrität bestimmt; die Strafe berücksichtigt die individuelle Schuld des Täters. Die TäterOpfer-Beziehung kann indessen die Entstehung des Verbrechens in vielen Fällen besser erklären und zu einem gerechteren und zutreffenderen Verständnis des Sozialprozesses beitragen, der in der Straftat endete. Hier ist das funktionale Zusammenspiel der kausalen Elemente von entschei-

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Viktimologie dender Bedeutung. Wenn die Verantwortlichkeit funktional verstanden wird (Stephen Schafer 1968), kann sie nicht innerhalb eines isolierten und objektivierten Gebietes starrer Formalität angewandt werden. Sie geht über die Grenzen der Persönlichkeit des Täters und der strikten Legaldefinitionen der kriminellen Rechtsbrüche hinaus. Es ist auch die Aufgabe des Opfers, seine Viktimisierung zu verhindern. Es ist verpflichtet, alles zu tun oder zu unterlassen, um andere nicht in die Versuchung der Begehung einer Straftat zu führen. Gleichzeitig wird von ihm — im Rahmen seiner Möglichkeiten — erwartet, daß es kriminellen Versuchen möglichst aktiv begegnet. Das ist die funktionale Verantwortlichkeit des Opfers, der eine funktionale Verantwortlichkeit des Täters entspricht. Der Täter kennt die gesetzlichen Verbote und Gebote und rationalisiert sein eigenes von ihnen abweichendes Verhalten. Die Ausdehnung des formalistischen und individualistischen Strafurteils in die Richtung auf ein Verständnis eines dynamischen kriminellen Geschehens deckt die sich ergänzenden funktionalen Verantwortlichkeiten des Opfers und des Täters auf. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters bleibt auch bei Mitberücksichtigung der möglichen Beteiligung des Opfers an der Straftat grundsätzlich bestehen. Ihre Beurteilung wird freilich durch Anwendung viktimologischer Forschungsergebnisse realistischer und damit gerechter. Das Opfer wird an der Kontrolle der Kriminalität maßgeblich mitbeteiligt. Das muß auch so sein. Denn der Massenkriminalität kann gegenwärtig nicht mehr nur durch den Einsatz der Instanzen der Sozialkontrolle (ζ. B. der Kriminalpolizei und der Gerichte) begegnet werden. Vergeltungs- und Behandlungsstrafvollzug haben versagt. Die Verantwortlichkeit für die Verhinderung von Straftaten muß mehr auf die sozialen Gruppen (ζ. B. die Familie, Schule, Nachbarschaft) und das potentielle Opfer übergehen. Das Opfer wird zwar in der Regel strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen, wenn es seiner sozialen Verantwortlichkeit nicht in ausreichendem Maße nachkommt. Die viktimologische Bewertung seines Verhaltens hat aber maßgeblichen Einfluß auf die Bemessung der Verantwortlichkeit des Täters für den Rechtsbruch. 2. Strafrechtliche

Reaktion

Das Verhalten des Opfers kann die strafrechtliche Reaktion mitbestimmen. Zwar darf es nicht so sein, daß beispielsweise die Zustimmung oder Mitwirkung des Kindes beim Delikt der Unzucht mit Kindern zur Folge hat, daß die Strafbarkeit des Täters entfällt. Das Kind übersieht die Tragweite seiner Entscheidung noch nicht. Es kann über sein Verhalten noch nicht eigenverantwortlich bestimmen. Der Erwachsene ist aufgrund

Legaldefinition Täter und das Kind Opfer, weil bei dem Sexualakt der Erwachsene ein Erwachsener und weil das Kind ein Kind ist. Hieran kann auch eine viktimologische Betrachtungsweise nichts ändern (vgl. auch Thea Schönfelder 1965 und Johannes W. Mohr u. a. 1964, S. 34 oben). Immerhin ist es aber ein wesentlicher Unterschied, ob der Erwachsene dem Kind seine Erwachsenensexualität aufzwingt und durch massive Handlungen physische Verletzungen beim Opfer verursacht oder ob das Kind sexuellen Berührungen des Erwachsenen in kindgemäßer Weise zustimmt. Solche Begehungsformen von Delikten und das entsprechende Verhalten des Opfers sollten nicht nur für die Frage der Strafzumessung, sondern auch für die Auswahl der strafrechtlichen Reaktion (ζ. B. für die Gewährung von Strafaussetzung zur Bewährung) von maßgeblicher Bedeutung sein. Der Entwurf eines Amerikanischen Musterstrafgesetzbuches (Richard M. Honig 1965, S. 77) sieht in Sektion 7.01 Absatz 2 vor, daß der Angeklagte Strafaussetzung zur Bewährung bekommen soll, wenn das Opfer die Tat veranlaßte oder ihre Durchführung erleichterte. Solche Modifizierungen von Strafrechtsfolgen aufgrund viktimologischer Erkenntnisse können durchaus erweitert werden. Denn das Opferverhalten beeinflußt und formt das Täterverhalten im Interaktionsprozeß mit. |3. Strafzumessung Es kann keine Rede davon sein, im Opfer den eigentlich Schuldigen gefunden zu haben. Das Verhalten des Opfers bei der Strafzumessung des Täters zu berücksichtigen, ist indessen allein schon aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten und zum Zwecke der Individualisierung seiner Verurteilung angezeigt. Das Problem besteht freilich auch hier — wie allgemein bei der Strafzumessung — im Ausgleich „gegenläufiger Wertungen". Horst Schüler-Springorum (1970, S. 210) fragt mit Recht, wie man die Leichtgläubigkeit des Betrugsopfers oder die lange Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer bei Sexualdelikten werten soll. Die Konstruktion viktimologischer Gegentatbestände schließt er aus. Auf Opfereignungen und -neigungen kann es allein nicht ankommen. Macht sie sich der Täter allerdings systematisch zunutze, so muß dieser subjektive Umstand strafschärfend wirken. Ob das Betrugsopfer einfältig ist oder nicht, ist für sich allein gesehen irrelevant. Nutzt der Täter diese Einfalt jedoch plan- und zweckvoll aus, so handelt es sich um einen Strafschärfungsgrund. Das Verhalten des Opfers kann bei der Strafzumessung allein dynamisch in Beziehung zum Verhalten des Täters gesehen werden. So fällt ζ. B. die Gewaltanwendung gegenüber dem Opfer besonders schwer ins Gewicht. Berücksichtigt man zum Zwecke der besseren Systemati-

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Viktimologie

sierung der Strafzumessung nur einmal das Verhalten des Opfers — also losgelöst vom Verhalten des Täters, was an sich unzulässig ist —, so kann man folgende grobe Regeln aufstellen: Die vorsätzliche oder fahrlässige Mitverursachung der Tat durch das Opfer oder gar seine Provokation wirken strafmildernd für den Täter. Wenn sich das Opfer vorsätzlich oder fahrlässig in viktimogene Situationen begibt, so ist dieser Umstand ebenfalls strafmildernd zu berücksichtigen. Das Opfer darf den Täter nicht ernstlich in Versuchung führen. Die Art der Täter-Opfer-Beziehung kann — für sich allein betrachtet — als Strafzumessungsgrund nicht ausreichen. Es kommt stets auf die Tatausführung und die Persönlichkeiten von Täter und Opfer an. Man kann zwar generell sagen, daß die Tat um so verwerflicher bewertet werden muß, je näher die Beziehung zwischen Täter und Opfer ist. Denn der Täter nutzt hier regelmäßig das Vertrauen des Opfers aus. Ist die gesamte Tatausführung trotz enger TäterOpfer-Beziehung aber leicht und trägt das Opfer nicht unwesentlich zur Mitverursachung des Rechtsbruchs bei, so spricht diese Strafzumessungskonstellation eher für eine Strafmilderung. Sind sich Täter und Opfer völlig fremd, überfällt der Täter das Opfer und wendet er brutale physische Gewalt an, so handelt es sich bei dieser Strafzumessungskonstellation demgegenüber um eine Strafschärfung. Viktimologische Elemente müssen zwar grundsätzlich in die Strafzumessungsbeurteilung eingehen, sie dürfen aber nicht losgelöst und unabhängig von den anderen Strafzumessungselementen gesehen werden. Wie wichtig die Tatausführung und die Persönlichkeiten von Täter und Opfer für die Strafzumessung sind, zeigen die experimentellen Untersuchungen von David Landy und Elliot Äronson (1974). 116 Studenten und Studentinnen der Universität Texas wurde ein fiktiver Fall zur Beurteilung vorgelegt. Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, auf der Grundlage eines Falles einen Angeklagten zu verurteilen. Es handelte sich um einen Fall mit zwei verschiedenen Opfern —einem attraktiven und einem unattraktiven, und drei unterschiedlichen Tätern — einem attraktiven einem unattraktiven und einem neutralen. Der Fall lautete folgendermaßen: Der Angeklagte fuhr am Heiligen Abend, dem 24. Dezember, nach einer Weihnachtsfeier aus seinem Büro nach Hause und tötete unterwegs fahrlässig einen Fußgänger. Er hatte auf der Weihnachtsfeier stark getrunken. Einer seiner Kollegen hatte ihm angeboten, ihn nach Hause zu bringen. Er fühlte sich indessen durchaus fahrtüchtig. Nach dem Ende der Feier hatte er sich ans Steuer seines Autos gesetzt. Sechs Blocks von seiner Garage entfernt wurde er von einem Polizisten wegen rücksichtslosen Fahrens angehalten. Wegen des Weihnachtsabends sah der Polizist jedoch von

einer Anzeige ab. Er forderte den Angeklagten allerdings auf, sein Auto zu parken und mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Der Angeklagte stimmte zu. Er rief ein Taxi. Nachdem er mit dem Taxi um die Ecke gefahren war, ließ er es anhalten, zahlte den Taxifahrer und ging zu seinem Wagen zurück. Er setzte sich wiederum ans Steuer. Vier Blocks von der Straße, wo ihn der Polizist angehalten hatte, überfuhr er ein Rotlicht. Er fuhr einen Fußgänger an, der gerade die Straße überquerte. Der Fußgänger starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Angeklagte stand nun wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Diesem Fall wurden ein attraktives und ein unattraktives Opfer zugeordnet. Das attraktive Opfer wurde wie folgt geschildert: Es war ein bekannter Architekt und ein prominentes Mitglied seiner Gemeinschaft. Er hatte viele gutbekannte Gebäude innerhalb seines Staates entworfen. Er war ein aktives Mitglied im Wohlfahrtskomitee einer Gemeinschaft. Zur Zeit des Unfalls war er mit Weihnachtsgeschenken auf dem Weg in ein Waisenhaus, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehörte. Er ließ eine Frau und zwei Kinder im Alter von 11 und 15 Jahren zurück. Die persönlichen und sozialen Verhältnisse des unattraktiven Opfers wurden folgendermaßen dargestellt: Es war ein notorischer Gangster und Boß eines Syndikats, der um die Macht in seinem Syndikat wetteiferte, um die Unterweltaktivitäten in seinem Staat völlig zu kontrollieren. Er war dafür bekannt, daß er für ein Massaker an fünf Männern aus der Unterwelt verantwortlich gewesen war. ZurZeit des Unfalls trug er einen geladenen Revolver bei sich. Gegen Sicherheitsleistung war er auf freiem Fuß in Erwartung eines Verfahrens mit doppelter Anklage wegen Scheckbetrugs und Einkommenssteuerhinterziehung. In dem Experiment wurden ferner drei verschiedene Angeklagte vorgestellt. Der attraktive Angeklagte wurde folgendermaßen beschrieben: E r war ein 64 Jahre alter Versicherungsfachmann, der in derselben Firma bereits 42 Jahre arbeitete. Er war freundlich mit jedermann und als guter Kollege bekannt. Er war ein Witwer. Seine Frau war ein J a h r zuvor an Krebs gestorben. Er wollte seinen Weihnachtsabend mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter zusammen verbringen. Als sich der Unfall ereignete, stieß der Angeklagte mit seinem Bein gegen das Steuerrad. Dieses Ereignis verschlimmerte eine Schußwunde aus dem Krieg, die ihm schon lange starke Schmerzen bereitet hatte. An Verkehrsvorstrafen hatte er drei Anzeigen in fünf Jahren erhalten. Zwei davon betrafen Geschwindigkeitsübertretungen. Der unattraktive Angeklagte war ein 33jähriger Portier. In dem Gebäude, in dem er in den letzten zwei Monaten gearbeitet hatte, war er nicht bei vielen Firmenangestellten bekannt. Er war dennoch zur Weihnachtsfeier

Viktimologie eingeladen worden. Der Angeklagte war zweimal geschieden. Er besaß drei Kinder aus seiner ersten Ehe. Seine erste Frau war wieder verheiratet. Er wollte seinen Weihnachtsabend mit seiner Freundin in ihrem Appartment verbringen. Die Wirkung des Unfalls auf den Angeklagten war unbedeutend. Er war durch das Ereignis leicht benommen, aber er litt unter keinen größeren Verletzungen. Er hatte zwei Vorstrafen während der letzten fünf Jahre in seinem Strafregister: einen Einbruch und ein Rauschgiftvergehen. Sein Verkehrsstrafregister zeigte drei Eintragungen in derselben Zeit. Schließlich wurde von dem neutralen Angeklagten folgendes Bild entworfen: Er war in einer Versicherungsgesellschaft angestellt. Er ging kurz nach Beginn der Feier dorthin. Nach der Weihnachtsfeier wollte er nach Hause. Als sich das Unglück ereignete, war er durch das Ereignis leicht benommen, aber er litt unter keinen größeren Verletzungen. Sein Verkehrsstrafregister zeigte drei Eintragungen in den letzten 5 Jahren. Zwei der Eintragungen betrafen Geschwindigkeitsübertretungen. Die Experimentalpersonen wurden gebeten, ihre Eindrücke von den Angeklagten und Opfern auf einer Skala mit 9 Punkten anzugeben. Der Punkt 9 bedeutete extrem negativ, ungünstig, der Punkt 1 extrem positiv, günstig. Die durchschnittliche Eindruckseinstufung im Hinblick auf eine Verurteilung des Angeklagten war bei den attraktiven Opfern 2,52, während die durchschnittliche Eindruckseinstufung bei den unattraktiven Opfern 7,64 war. Dieser Unterschied war sehr signifikant auf der WahrscheinJichkeitsgrundlage von 0,001. Die durchschnittlichen Einstufungen der Eindrücke bei den Angeklagten waren im Hinblick auf ihre Verurteilung folgendermaßen: der attraktive Angeklagte 5,53, der neutrale Angeklagte 6,04 und der unattraktive Angeklagte 7,08. Es ergaben sich Signifikanzen auf den Wahrscheinlichkeitsgrundlagen von 0,001. Die Persönlichkeitsbeschreibungen der Angeklagten und der Opfer hatten ihre beabsichtigten Wirkungen. Sowohl die Persönlichkeit des Angeklagten wie auch die Persönlichkeit des Opfers sind wichtige Variablen bei der Schwere der auferlegten Verurteilungen. Das Experiment unterstützt die allgemeine Beobachtung, daß die Richter in einem Strafverfahren durch die Persönlichkeitszüge und sozialen Verhältnisse des Angeklagten und des Opfers beinflußt werden. Sie haben die Tendenz, milder in ihrer Entscheidung zu sein, wenn der Angeklagte positive und das Opfer negative Persönlichkeitszüge besitzen. Sie sind strenger, wenn der Angeklagte negative und das Opfer positive Persönlichkeitszüge haben und in entsprechend ungünstigen oder günstigen sozialen Verhältnissen leben. Die Persönlichkeitszüge und sozialen Verhältnisse der Täter und der Opfer brauchen mit dem Delikt

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und dem Umfeld des Delikts, in dem es begangen worden ist, nichts zu tun zu haben. 4. Das Opfer im Ermitflungs- und

Strafverfahren

Im Ermittlungs- und Strafverfahren ist das Opfer ein Beweismittel, ein Objekt. Es muß das Ziel zukünftiger Ausgestaltung des Ermittlungsund Strafverfahrens sein, dem Opfer eine eigenständige Stellung einzuräumen, es zum Subjekt der Verfahren zu machen. Zwar ist durch den Rechtsbruch auch die Gesellschaftsordnung verletzt, vor allem trifft die Straftat aber das Opfer, das größere Berücksichtigung seiner Rechte und Pflichten verdient. Die Masse der Arbeit der Strafgerichte besteht in der Verhandlung und Aburteilung minderer Verletzungen von Vermögenswerten oder solcher Probleme wie Fahren ohne Führerschein oder Fahren in angetrunkenem Zustand. Diese Fragen könnten ökonomischer und wirksamer in einem informellen Verfahren erledigt werden. Der finanzielle und personelle Aufwand eines formellen Strafverfahrens und die soziale Brandmarkung als Auswirkung der Verurteilung wegen einer Straftat sind nicht in allen Fällen notwendig. Im Familienrecht, im Jugendrecht, im Arbeitsrecht und in vielen anderen Rechtsgebieten werden die Werte, die durch das Recht geschützt und gefördert werden, nicht unbedingt in einem streitigen Verfahren ausgefochten, sondern sie werden in einem Ausgleichsverfahren zu lösen versucht. Im Gegensatz zum streitigen Verfahren gewährleistet das Vergleichsverfahren die volle Beachtung der Interessen des Opfers und die Notwendigkeit seiner Entschädigung. Eine der schärfsten Kritiken des formellen Strafverfahrens und der strafrechtlichen Verurteilungen überhaupt besteht darin, daß sie dahin tendieren, die Jungen, die Armen, die Machtlosen und die Ungelernten am härtesten zu treffen. Wirtschaftsbetrüge werden oft im Wege des privaten Ausgleichs erledigt. Menschen ohne Geld und Einfluß gibt man, wenn sie wegen Bagatelldiebstählen gefaßt werden, oft keine Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Eine große Zahl von ihnen wird direkt vor den Strafgerichten angeklagt. Die Erfahrung lehrt, daß das Entfernthalten vom Gerichtssystem nicht nur ratsam und durchführbar ist, sondern daß es auch die Kosten verringert und zufriedenstellende Entscheidungen gewährleistet, die den Rückfall vermindern. Bei einer einverständlichen Lösung der Probleme unter den Beteiligten gibt es keine Verurteilungen. Gleichwohl hat auch das einverständliche Verfahren einen abschreckenden Erfolg. Denn es stellt einen wertvollen Lernprozeß für den Täter dar. Als Reaktion auf die Anklage muß er erscheinen. Er muß dem Opfer begegnen. Er muß seine Verantwortung oder Teilverantwortung für den Rechtsbruch eingestehen oder sich entspre-

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Viktimologie

chend verteidigen. Br muß die Herausforderung bestehen, einige konkrete Vorschläge zu unterbreiten, um die Straftat wiedergutzumachen. Der Ausgleichs- und Schlichtungsprozeß (settlement process) unterstützt die Werte der Gesellschaft. Ein Richter müßte allerdings die Vorabentscheidung darüber treffen, ob ein Fall vor einem Gericht nach dem klassischen Verfahren verhandelt oder im Ausgleichs- und Schlichtungsprozeß gelöst werden soll. Die Zustimmung des Opfers und des Täters sind Vorbedingungen für den Ausgleichs- und Schlichtungsprozeß. Die Rolle des Opfers im Strafverfahren muß neu überdacht werden. Die Straftat, die ein geschütztes Gemeinschaftsinteresse verletzt hat, findet ihre Ursprünge in der Verletzung der Rechte und Erwartungen des Opfers. Eine aktive und informierte Teilnahme des Opfers am Ausgleichsund Schlichtungsverfahren ist unbedingt nötig. Selbst in einem formellen Gerichtsverfahren sollte den Sorgen um die Verletzung der Interessen des Opfers in verschiedener Weise Rechnung getragen werden: Man sollte das Wohlbefinden des Opfers dadurch respektieren, daß man — wenn eben möglich — beantragte Vertagungen zugesteht. Das Opfer sollte eine Möglichkeit erhalten, seine Ansicht über eine geeignete Reaktion auf die Straftat dem Gericht kundzutun. Der Entscheidung über die Wiedergutmachung des erlittenen Verlustes sollte Vorrang eingeräumt werden. Wenn die Fakten unstreitig sind, sollte der Täter ermutigt werden, sich mit dem Opfer in weniger bedeutenden Fällen unmittelbar zu treffen und eine Lösung des Konflikts selbst auszuhandeln. Der Täter sollte seinen Anteil an der Verantwortung für das begangene Unrecht dadurch übernehmen, daß er einen fairen und gerechten Ausgleich vorschlägt. Ein Vermittlungs-, Schlichtungs- und Ausgleichsverfahren sollte in jedem Fall dem formellen Strafverfahren vorgeschaltet werden. Die formellen Strafverfahren sollten den Fällen schwerer Kriminalität vorbehalten bleiben. Bei vielen Straftaten kann es sich der Staat heute leisten, seine überragende Rolle zurückzunehmen und dem Opfer zu erlauben, eine aktive Rolle im Ausgleich und in der Vermittlung zu übernehmen. Selbst in den Fällen, in denen es zum formellen Strafverfahren kommt, sollte der Rolle und den Interessen des Opfers größere Priorität eingeräumt werden (vgl. Law Reform Commission of Canada 1974). Eine besonders schwierige Stellung hat das Kind als Zeuge in Sittlichkeitsprozessen. Es muß auf der einen Seite geschützt und geschont werden, um psychische Schäden nicht entstehen zu lassen oder bereits entstandene zu vertiefen. Auf der anderer Seite muß der Angeklagte seine ihm zustehenden Rechte voll ausschöpfen können, um Falschaussagen und darauf sich stützende Fehlurteile zu vermeiden. Eine Lösung dieses Kon-

flikts zugunsten einer Seite ist verfehlt. Gleichwohl wird sie immer wieder vorgeschlagen und sogar praktiziert. Ohne nähere Begründung behauptet Serwe (1970, S. 73/74): „Es wäre fehlerhaft, sich bei der Vernehmung von Opfern, auch kindlichen Opfern, von der Vorstellung leiten zu lassen, das Opfer könne bei der Befragung seelischen Schaden nehmen und aus diesem Grunde der Aufklärung der Sache dienliche Fragen zu unterlassen. Die Sachaufklärung muß im Interesse des Angeklagten und einer möglichst wirklichkeitsnahen Rekonstruktion der Ereignisse oberstes Ziel bleiben." Anton Roesen (1964, S. 443) sieht den Konflikt, den auch er einseitig lösen will: „Selbst die Rücksicht auf das Seelenleben eines Kindes tritt in dem Konflikt zurück." Der Preis der Wahrung der Rechte des Angeklagten wäre zu teuer bezahlt, würde man psychische Schäden der Opfer in Kauf nehmen. Die Teilnehmer am 1. Internationalen Symposium über Viktimologie, das vom 2. bis 6. September 1973 in Jerusalem stattfand, haben einstimmig beschlossen: „Es müssen institutionelle Verfahren vorgesehen werden, um das Opfer gegen unbeabsichtigte schädliche Folgen des Gerichtsverfahrens zu schützen." Die gesamte rechtliche Ausgestaltung des Strafverfahrens ist auf die Bedürfnisse, Rechte und Pflichten des Erwachsenen ausschließlich zugeschnitten. Man mag in der Realität noch so sehr versuchen, dieses Verfahren kindergemäß auszugestalten. Es wird nicht gelingen, die „selbstverständlich akzeptierende, gefühlsgesättigte Zuwendung" (Elisabeth MüllerLuckmann) aller Beteiligten im Gerichtssaal zu erzeugen, die das Kind für seine Existenz notwendigerweise braucht. „Dieser Mangel an unverhüllter liebender Geneigtheit und die Fülle rationaler Skepsis, die das Kind zwangsläufig oft im Gerichtssaal spürt, kann von ihm als krasse Abweichung von der ihm gemäßen Lebenssituation durchaus in Gestalt einer sein Dasein gefährdenden Aggression erlebt werden" (Elisabeth Müller-Luckmann 1963, S. 18). In der Schweiz ist die Regelung der Einvernahme von Kindern und Jugendlichen im Strafverfahren höchst unterschiedlich (vgl. dazu Judith Stamm 1967). Im Kanton Basel-Stadt soll die Einvernahme von Kindern und Jugendlichen in einem Strafverfahren gegen Erwachsene — wenn möglich — außerhalb der gewöhnlichen Diensträume und in Abwesenheit von erwachsenen Angeschuldigten und Zeugen durchgeführt werden. T. C. N. Gibbens und Joyce Prince (1963) betonen für England, daß der Streß, der wochen-, monate- und jahrelang auf dem Kind lastet, psychisch schädigend wirkt; das Erscheinen vor Gericht sei hauptsächlich wegen der Situation verletzend, die es hervorrufe. Der wesentliche Gesichtspunkt ist für sie, daß das Kind sich an Vorstellungen wieder orientieren muß, die auf Interpretationen der

Viktimologie Erwachsenen von der Straftat und ihrer Bestrafung beruhen. Die Wirkung der Gerichtsverhandlungen auf 82 Kinder —• 24 Jungen im Alter von 8 oder 9 Jahren und 58 Mädchen im Alter zwischen 6 und 16 Jahren — haben Gibbens und Prince 1963 untersucht: 56% der Kinder einer Kontrollgruppe, die nicht vor Gericht aussagen mußten, erholten sich sehr schnell. Demgegenüber traf dies nur für 18% der Experimentalgruppe zu. Im Falle der Erwachsenen kann man verstehen, daß die Belastung des Erscheinens vor Gericht dazu beitragen mag, die Wahrheit zu erfahren. Aber ob das Verhalten des Kindes vor Gericht irgendeine zuverlässige Indikation seiner Gefühle und der Wahrheit zu geben vermag, ist außerordentlich zweifelhaft. Es ist ferner höchst problematisch, ob das Auftreten des Kindes voi^ Gericht nach einigen Wochen wirklich dazu beiträgt, die Wahrheit herauszufinden. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage genügt im übrigen die Entwicklung von Gütekriterien nicht, die an die Aussage zu stellen sind (->· Forensische Psychologie I., S. 210—217). Die Zugrundelegung einer dynamischen Konzeption der Persönlichkeit des Zeugen reicht nicht aus (vgl. demgegenüber Udo Undeutsch 1967, Friedrich Arntzen 1970, Arne Trankell 1971). Die Straftat, über die der kindliche Zeuge oder die kindliche Zeugin aussagt, muß vielmehr in größere sozialpsychische und viktimologische Zusammenhänge gestellt werden. Opfereignung und -neigung, viktimogene Situationen und vor allem die Täter-Opfer-Beziehung erlangen — um nur einige Beispiele zu nennen — in der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage wesentliche Bedeutung. Die viktimologische Fragestellung ist weit umfassender als die bisherige sehr enge forensisch-psychologische. Es muß der gesamte Sozialprozeß aufgedeckt werden, der zur Straftat geführt hat (ähnlich bereits Werner Villinger 1962, S. 57). Die Untersuchung der Aussagefähigkeit, -Willigkeit und -bereitschaft und die psychologische Beurteilung der aussagenden Persönlichkeit (so Hildegard Hiltmann 1962, S. 74) können die strafrechtliche Verurteilung eines Angeklagten nicht tragen. Dafür sind die psychologischen Testverfahren und die bisher entwickelten Methoden der Aussagepsychologie (Arntzen, Trankell, Undeutsch) nicht zuverlässig genug. Mit den neueren viktimologischen Forschungsergebnissen, die weiterzuentwickeln sind, eröffnen sich nunmehr erstmalig überlegene wissenschaftliche Möglichkeiten, die geeignet und in der Lage sind, die Zeugenaussage auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Daß Kinder vor Gericht in Einzelheiten über einen Vorgang berichten müssen, den sie als unangenehm und traumatisch empfinden, mag für viele von ihnen eine Wiederbelebung der Erfahrung bedeuten. Oft haben Kinder Schwierig-

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keiten, diese Erfahrung wieder durchzugehen, und es geschieht nicht selten, daß ihr Gedächtnis blockiert ist, daß sie das Ereignis „vergessen" haben (Verdrängung) und daß sie falsche Beschreibungen geben. Im Jahre 1955 ist in Israel ein Gesetz erlassen worden, das das Zeugnis der von Sexualverbrechen geschädigten Kinder regelt und den Schutz solcher Kinder bezweckt (David Reifen 1966, 1973). Ein Jugenduntersuchungsführer wird ernannt, nachdem eine Beratung mit einem Komitee herbeigeführt worden ist, das sich mit seiner Ernennung befaßt. Dieses Komitee besteht aus einem Jugendrichter, der Vorsitzender ist, einem Sachverständigen in Sozialhygiene, einem Lehrer, einem in Kinderpsychologie erfahrenen Sozialarbeiter und einem Polizeioffizier hohen Ranges. Keine Person wird allein aufgrund des Zeugnisses des Jugenduntersuchungsführers verurteilt. Dieses Zeugnis muß vielmehr durch andere Beweismittel unterstützt werden. Es gibt zwei wichtige Neuerungen nach dem israelischen Gesetz: Die Untersuchung des kindlichen Opfers wird in die Hände von Sachverständigen gelegt, die in Vernehmungstechniken und Sozialhygiene geschult sind. Das kindliche Opfer unter 14 Jahren gibt kein Zeugnis vor Gericht, es sei denn, der Jugenduntersuchungsführer hätte entschieden, daß es dort erscheinen soll. Kandidaten als Jugenduntersuchungsführer sind psychiatrische Sozialarbeiter, klinische Psychologen, Kinderpsychiater, Bewährungshelfer und Kinderfürsorger. Es ist schwieriger für Menschen, die in juristischen Konzepten geschult sind, wirkliche Gefühle und Verständnis für die Dynamik menschlichen Verhaltens zu entwickeln und Interviewtechniken zu erlernen. Die Anwesenheit des Jugenduntersuchungsführers gibt dem Kind vor Gericht die notwendige Hilfe und das Vertrauen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Jugenduntersuchungsführer fähig sind, mehr Informationen von den Opfern zu erhalten als der erfahrenste Polizist. Im Jahre 1962 ist ein Zusatz zu dem Gesetz von 1955 in Israel verabschiedet worden. Nach diesem Gesetz kann in den Fällen, in denen der Untersuchungsführer das Zeugnis des Kindes oder Jugendlichen vor Gericht erlaubt hat, das Gericht entscheiden, daß die Zeugenaussage abgebrochen wird, wenn der Jugenduntersuchungsführer der Auffassung ist, daß die Fortsetzung der Aussage beim Kind oder Jugendlichen seelischen Schaden verursachen kann. Das Recht des Angeklagten, seine Unschuld zu beweisen und eine Anklage zu widerlegen, wird als eines der fundamentalen Menschenrechte angesehen. In einzelnen Fällen kann es nur dann verwirklicht werden, wenn der Angeklagte vor Gericht mit dem Zeugen konfrontiert wird. Aber der Angeklagte kann ebenso Vorteile aus der Furcht des Kindes ziehen, die ganze Geschichte vor Gericht in seiner Anwesenheit erzählen zu müssen. Er kann Zweifel an der Aussage des

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Kindes dadurch erwecken, daß er es in Widersprüche verwickelt, um so seinen Freispruch zu erwirken. Auf diese Weise kann es geschehen, daß das Kind, das Opfer eines Sexualdelikts geworden ist, vor Gericht erneut zum Opfer gemacht wird und daß es dort als ein Lügner gestempelt wird, weil es durch die Fragen, die man ihm stellt, verwirrt ist und weil es mit dem Gerichtsverfahren der Erwachsenen nicht fertig wird. Die Erfahrungen in Israel haben bewiesen, daß Täter oft Kinder mit Rache bedrohen, wenn sie irgendwelche Einzelheiten aufdecken, und daß die Kinder diese Bedrohungen sehr ernst nehmen. David Reifen (1973) hat Kinder im Alter von 10 bis 13 Jahren vor Gericht beobachtet, denen man das Erscheinen wegen der Stärke ihrer ruhigen ausgewogenen Seelenlage erlaubt hatte, die sie bei der Vernehmung durch den Jugenduntersuchungsführer gezeigt hatten. Vor Gericht und in Anwesenheit des Täters reagierten sie indessen völlig anders. Einige konnten auf Fragen nicht antworten. Andere vergaßen sehr bedeutungsvolle Einzelheiten, andere zitterten und wurden unruhig. Solche Reaktionen vermindern den Wert ihrer Aussage erheblich. 1097 Fälle von Kindern, die Opfer von Sexualstraftaten geworden waren, untersuchte David Reifen (1973). Er kam zu dem Ergebnis, daß etwa ein Drittel der Täter vor Gericht gebracht worden ist, weil es genügend prima facie Material gegen sie gab. 25% von ihnen bekannten sich in der ersten Sitzung des Gerichts schuldig. Unter diesen Umständen war es nicht notwendig, weitere Zeugen zu hören. 65% wurden von den Gerichten schuldig befunden und 10% freigesprochen, weil die Beweisführung ungenügend war und weil der Beweis nicht über jeden Zweifel erhaben erschien. In den Fällen, in denen der Beweis den Gerichten anheimgegeben worden war, erlaubten die Jugenduntersuchungsführer 20% der kindlichen Opfer, selbst Zeugnis vor Gericht abzulegen. In diesen Fällen war der Jugenduntersuchungsführer während der Gerichtssitzung anwesend, und es konnte beobachtet werden, wie wichtig dies für das Kind selbst war. Das Opfer zog moralische Hilfe und Sicherheit aus seiner Anwesenheit. Der Täter ist oft ein Verwandter des Opfers, ein Freund der Familie, ein Nachbar oder guter Bekannter. In den Fällen, in denen der Täter gefaßt worden war, waren 59% der Täter dem Kind bekannt. Diese Bekanntschaft wirkt sich vor Gericht dahingehend aus, daß die Aussage dem Kind außerordentlich peinlich ist. Seit dem Gesetz, das im Jahre 1955 in Israel in Kraft trat, haben mehr Menschen den Behörden Sexualdelikte an Kindern angezeigt als früher. Man versuchte vordem vielmehr, diese Delikte zu verbergen. Das Ansteigen der Anzeigebereitschaft in Israel ist auf den verbesserten Schutz des Kindes und die größere Effektivität der Gerichte zurückzuführen.

Unter israelischem Recht kann eine Person für eine Sexualstraftat nur verurteilt werden, wenn diese Tat durch zusätzliche Beweismittel bestätigt wird. Wenn der Angeklagte also leugnet, kann er nicht allein auf der Grundlage des Zeugnisses des Opfers verurteilt werden. Nach englischem Recht ist dies Erfordernis etwas weniger rigoros: Der Richter muß nur die Geschworenen vor der Gefahr warnen, den Angeklagten in zweifelhaften Fällen ohne Bestätigung zu verurteilen. Die Wirksamkeit des Erfordernisses der Bestätigung hat Leslie Sebba (1974) in Israel an Opfern von schweren Sexualdelikten, an Opfern von Notzucht, versuchter Notzucht und unzüchtigen Angriffen, untersucht. Alle Anzeigen dieser drei Delikte, die die Polizei zwischen dem 1.4.1961 #und dem 31. 3.1963 erreichten, wurden auf der Grundlage der Polizeiakten, der staatsanwaltschaftlichen Akten und der Gerichtsakten überprüft. Während der Mangel an Beweisbestätigung der einzige erklärte Grund für die Einstellung des Verfahrens in nur 26 von 83 Fällen war (31%), spielte die Bestätigung bei der Verurteilung in 56 Fällen (67%) teilweise eine Rolle. Um die Verurteilung wegen eines sexuellen Angriffs zu unterstützen, ist die Bestätigung der gesamten materiellen Fakten notwendig. Es gibt in der Praxis drei Elemente, die nachgewiesen werden müssen: die Identität des Täters, die Begehung der angeblichen Handlung und der Mangel an Übereinstimmung zwischen der Aussage des Täters und der des Opfers. Die Abwesenheit der Bestätigung in einem dieser Elemente kann zu folgenden Ergebnissen führen: Einstellung des Verfahrens bei der Staatsanwaltschaft (oder auch schon mangelnde Anzeigeverfolgung bei der Polizei), Modifikation der Anklage durch die Staatsanwaltschaft (ζ. B. die Änderung in eine Anklage, die keiner Bestätigung bedarf oder für die sich der Angeklagte schuldig bekennt), Einstellung des Verfahrens durch das Gericht und Modifikation des Delikts, für das der Angeklagte durch das Gericht verurteilt wird. In den Fällen, in denen die Abwesenheit der Bestätigung teilweise eine Rolle spielte, war es die Begehung der physischen Handlung, die am meisten der Bestätigung ermangelte. Der Mangel an Bestätigung für fehlende Übereinstimmung zwischen den Aussagen des Täters und des Opfers war weniger verbreitet, während die fehlende Bestätigung für die Identität des Verdächtigen vergleichsweise selten war. Das Prinzip hinter der gesetzlichen Regelung liegt in dem Umstand, daß der Richter nicht sicher sein kann, ob das Opfer auf der alleinigen Grundlage seiner eigenen Angaben und seiner eigenen Geschichte ehrlich ist. Denn solche Sicherheit kann nicht durch das traditionelle Gerichtsverfahren erlangt werden, selbst wenn Sachverständigengutachten vorliegen. Im Rahmen dieses Verfahrens existiert kein adäquater

Viktimologie Schutz ohne die Forderung nach tatsächlicher Bestätigung des Zeugenbeweises durch das Opfer. G. Der Opfer-Ombudsmann Um die Forschungsergebnisse der Viktimologie in deT Praxis nutzbar zu machen, empfiehlt sich die Einrichtung der Stellung eines Opfer-Ombudsmanns (vgl. hierzu insbesondere John Dussich 1973). Der psychische Zusammenbruch einer Person, die körperlich verletzt worden ist, eines Mädchens, das genotzüchtigt worden ist, einer Familie, die eines ihrer Mitglieder durch Mord verloren hat, wird vom Kriminalrechtssystem im wesentlichen unbeachtet gelassen. Spezialbehandlung muß ζ. B. den Opfern der Notzucht zuteil werden können, und zwar im Hinblick auf ihre unmittelbaren wie auch im Hinblick auf ihre Langzeitprobleme. Die kindlichen Opfer von erwachsenen Sexualtätern sind die am wenigsten geschätzten Kinder der Gemeinschaft. Die zweite Dimension bezieht sich auf den Schutz des Opfers vor sozialer Belastung. Sie kann sich ergeben aus unmittelbarer Ausbeutung durch die Massenmedien in der Förderung der Sensation oder aus der Zurückweisung durch die Gemeinschaft aufgrund verzerrter Information, die sich um das Ereignis bildet, und schädigenden Stereotypisierungen von bestimmten Opfertypen. Die dritte Dimension betrifft die Täter-Opfer-Beziehung. Die Berücksichtigung dieser Beziehung kann einen präventiven Wert haben. Opferakten müßten angelegt werden. In vielen Fällen benötigen die Opfer therapeutische Dienste, um ihr viktimogenes Verhalten zu ändern. Es wird vorgeschlagen, jede Gemeinschaft mit einem Opfer-Ombudsmann auszustatten, der den Opfern helfen soll, ihre Krisen zu überwinden, und der es ermöglichen soll, dem Opfer die Hilfsquellen der Gemeisnchaft zugänglich zu machen. Während eines Eingangsinterviews würde der Ombudsmann die Opfer dahingehend beraten, welche Dienste in der Gemeinschaft für sie bereitstehen und auf welche Weise sie im Einzelfall nutzbar gemacht werden können. In den Fällen, in denen das Opfer unfähig ist, sich aufgrund psychischer und physischer Schäden selbst zu helfen, würde der Ombudsmann es ermöglichen, mit den Behörden in der Gemeinschaft, die dem Opfer keifen können, Kontakt aufzunehmen und zu veranlassen, daß das Opfer diesen Behörden und Agenturen vorgestellt wird. Auf Anfrage hin würde der Ombudsmann die Massenmedien mit genauer Information über das Opfer versorgen, und wenn es notwendig erscheint, als ein sozialer Puffer zwischen dem Opfer und den Massenmedien auftreten. Der Ombudsmann würde sich mit allen Bundes-, Staats- und kommunalen Gesetzen vertraut machen, die eine Entschädigung des Opfers vorsehen 38 HdK, 2. Aufl., Bd. III

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und auf diese Weise als eine Auskunftsperson für die Opfer dienen, die Information über das Erlangen solcher Entschädigung benötigen. Die Aktivitäten des Ombudsmanns würden darin bestehen, als ein zeitweiliger Helfer und Freund für das Opfer zu handeln, um den Schaden, den es durch das Verbrechen erlitten hat, zu verringern und um die Möglichkeit einer Wiederholung eines weiteren Opferwerdens zu verhüten. Das Einstellen des Opfer-Ombudsmanns ist der erste Schritt in der ersten Phase des Aufbaus eines viktimologischen Dienstes. Der Bewerber sollte wenigstens einen akademischen Grad in Sozialwissenschaften oder einem benachbarten Gebiet haben. Er sollte die Gemeinschaft kennen und sollte wenigstens zwei Jahre Erfahrung in der Sozialarbeit in einer Gemeinschaft mitbringen. Er sollte sich bemühen, den enthumanisierenden Einfluß des juristischen Prozesses auf das Opfer zu vermindern. Er sollte das Opfer vor unangemessenen, ungebührlichen emotionalen Belastungen schützen, die aus dem Erscheinen des Opfers vor Gericht herrühren. Er sollte das Gericht ermutigen, dem Opfer als ein Teil des Urteils Wiedergutmachung zuzugestehen. Er sollte die Massenmedien informieren. Diese Information sollte sich darauf beziehen, bei den Massenmedien ein Verständnis für die Täter-Opfer-Beziehung zu ermöglichen. Er sollte die Grunddaten für den sozialen Hintergrund des Opfers zum Zwecke der Forschung sammeln. Der Opfer-Ombudsmann sollte eng mit der Kriminaljustiz und den Wohlfahrtsbehörden in der Gemeinschaft zusammenarbeiten. Die Personalhilfsquellen würden logischerweise das Personal für den OpferOmbudsmann einschließen und das Personal der Behörden und Hilfsorganisationen, die mit ihm zusammenarbeiten, ζ. B. Ärzte, Schwestern, Psychiater, Polizei, Staatsanwälte, Richter, Journalisten, ferner freiwillige Helfer, die in den Fällen wirken könnten, in denen Hilfsquellen der Gemeinschaft entweder nicht bestehen oder zu teuer sind. Finanzielle Hilfsquellen beziehen sich auf die Gelder, die benötigt werden, um das Büro des Opfer-Ombudsmanns einzurichten und zu unterhalten, und auf die Gelder, die benötigt werden, private Dienste in Anspruch zu nehmen. Das Geld sollte aus verschiedenen Quellen kommen: Gelder der Gemeinde, private Spenden, Staatszuschüsse und Zuschüsse des Bundes. Die zwei Dienststellen, die benötigt würden, um eine Kooperation und damit die Wirksamkeit des Projekts zu ermöglichen, würden sein: die örtliche Polizei und der örtliche Gesundheitsdienst. Das Programm hat drei Komponenten: der unmittelbare Schaden, der Medienpuffer und die OpferTäter-Analyse. Der Opfer-Ombudsmann könnte durch seine praktische Erfahrung wesentlich dazu beitragen, die viktimologische Forschung empirisch weiterzuentwickeln: durch Anstöße, die er

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Viktimologie

viktimologischen Forschern gibt, durch Sammeln von Material und überhaupt durch enge Zusammenarbeit mit viktimologischen Forschern. H. Viktimologie des Völkermordes Mit der Viktimologie des Völkermordes hat sich Vahakn N. Dadrian (1973, 1974) besonders auseinandergesetzt. Selbst ein Amerikaner armenischer Abstammung, hat er die beiden größten Völkermorde des 20. Jahrhunderts, den Völkermord an den Armeniern durch die Jungtürken während des 1. Weltkrieges und den Völkermord an den Juden durch die Nationalsozialisten während des 2. Weltkriegs, sorgfältig analysiert (vgl. auch Genocidium I, S. 268—274). Völkermord ist nach seiner Definition der erfolgreiche Versuch, durch eine herrschende Gruppe, die mit formeller Autorität oder mit überwiegendem Zugang zu den umfassenden Machtpositionen ausgestattet ist, die Zahl einer Minderheitsgruppe durch Zwangsherrschaft oder Zufügung tödlicher Gewalt zu reduzieren, deren letztendliche Vernichtung für wünschenswert und nützlich gehalten wird und deren entsprechende Verletzbarkeit ein Hauptfaktor ist, der zur Völkermordentscheidung beiträgt. Beim absoluten Völkermord ist der Zerstörungsprozeß massiv. Er bezieht alle Opferkategorien ein. Er wird lange Zeit aufrechterhalten, und er bezweckt die totale Ausrottung der Opfergruppe. Dieser Prozeß erfordert eine einzigartige Kombination von drei Bedingungen: der höchste Grad der Verletzbarkeit des Opfers, die begleitende Auffassung des Täters, das Opfer sei eine akute unmittelbare und ernste Gefahr und die völlige Konzentration der Macht in den Händen der Tätergruppe. Die wichtigsten Gesichtspunkte des Völkermordes an den Armeniern und an den Juden können — nach Dadrian — wie folgt zusammengefaßt werden: Beide Akte des Völkermordes wurden geplant und ausgeführt während der dringenden Notlagen eines Weltkriegs. In beiden Fällen waren die Hauptinstrumente für die Planung und Ausführung der Völkermorde politische Parteien (Jungtürken und Nationalsozialisten), die sich mit dem Monopol der Macht versehen und die wichtigsten Funktionen ihrer Staaten übernommen hatten. Die Kriegsministerien und ausgewählte Organe der zugeordneten Militärstrukturen wurden unterworfen und für die mannigfaltigen Zwecke des Völkermords benutzt, ökonomische Betrachtungen, die sowohl offizielle als auch einige persönliche Pläne der Bereicherung auf Kosten der relativ reicheren Mitglieder der Opfergruppe betrafen, spielten eine bedeutsame Rolle. In beiden Fällen waren die Opfergruppen Minderheiten, deren allumfassende Verletzbarkeit dem Grad der Leichtigkeit entsprach, mit der die herrschende Gruppe ihre Pläne der Ausrottung ausführte.

Kulturelle, religiöse und rassische Unterschiede trennten die Opfergruppen von den Tätergruppen. Nach der Definition der Jungtürken spielten die Armenier vor allen Dingen die Rolle der Verräter des Reiches. Sie wurden nicht nur in Verbindung gebracht mit Separatistenplänen, sondern sie wurden auch gebrandmarkt als Saboteure der türkischen Kriegsanstrengungen. Hätten die Armenier sich organisiert, in konzertierten Aktionen den Autoritäten getrotzt und Widerstand gewagt, wäre der Definitions- und Interpretationsprozeß in einer anderen Weise verlaufen. Wahrscheinlich wären die Täter vorsichtiger und umsichtiger zu Werke gegangen. Die Nationalsozialisten sahen die Juden als unmittelbare Bedroher für die arische Rasse an. Der Krieg gab ihnen eine einzigartige Gelegenheit, den Völkermord auszuführen, eine passende Zeit zur „Endlösung der Judenfrage". Viktimisierung kann nicht nur als eine einseitige, sondern sie muß als eine zweiseitige Form kollektiven Verhaltens gesehen werden, bei der man Täter und Opfer als interdependente, wechselseitig abhängige Elemente unterscheidet. Völkermord ist ein besonderer Prozeß der Interaktion, durch den eine potentielle Tätergruppe und eine potentielle Opfergruppe aufgrund der Entwicklung eines Konflikts in eine aktuelle Täter- und eine aktuelle Opfergruppe umgewandelt werden. Der Höhepunkt des Völkermordes an den Armeniern fiel zusammen mit dem Zusammenbruch des ottomanischen Weltreichs. Der landläufige Ausdruck, den die Türken für die armenischen Christen gebrauchten, war „Hund". Das bedeutete einen geringeren Wert, als sie ihren Haustieren zumaßen. Das Zeugnis der armenischen Christen vor Gericht war von geringem Wert. Sie waren vom Militärdienst ausgeschlossen. Das Prinzip ihrer Unterjochung war institutionalisiert. Die Armenier waren im großen und ganzen der Gnade und Barmherzigkeit der Mitglieder der herrschenden Gruppe ausgeliefert. Diese ungeschützte Lage, die sie aufrecht erhielten, ermutigte die herrschende Gruppe nicht nur, sie in mannigfaltiger Weise zu mißbrauchen, sondern sie entmutigte die Minderheit und ließ sie hilflos und als willkommenes Ziel für Ausbeutung (hohe Steuern) und in Zeiten der nationalen Krise als Sündenböcke erscheinen. Es gibt Wege für eine machtlose und unterjochte Minderheit, den Plänen einer mächtigeren herrschenden Gruppe zu widerstehen, die auf ihre Ausrottung abzielen. Die herrschenden Türken schätzen jahrhundertelang solche Berufe wie Militärdienst, Regierung und Beamtenschaft oder Landbesitz sehr hoch. Diese Kriterien für einen hohen sozialen Status wurden noch verstärkt durch die entsprechende Geringschätzung für Berufe, die mit Handel und Industrie zu tun hatten. Türkische Verachtung für den Handel

Viktimologie ließ ein ernstes Vakuum in der Wirtschaft entstehen. Bs war für die Türken degradierend, sich für Handel und Finanzen zu interessieren. Das Wort Händler war für einen typischen Türken mit einem sozialen Unwerturteil verbunden. Obwohl sie nur 12% der Gesamtbevölkerung im ottomanischen Weltreich ausmachten (ungefähr 18 Millionen zusammen), beherrschten die Armenier die Gebiete des Bankgeschäfts und des Geldverleihs vollständig. Darüber hinaus kontrollierten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kleiderherstellung, den Bergbau, die Reedereien und die Mühlen. Die armenischen Eigenschaften waren wirklich unerläßlich für ihre türkischen Herren, und die anerkannte Beachtung dieser Tatsache zeigte sich in der alltäglichen Tolerierung, die sie von den Türken erhielten. Es bildete sich eine ruchlose Symbiose. Parasitäre Beziehungen mit der herrschenden Gruppe entwickelten sich, aufgrund deren sich die Armenier auf Berufe konzentrierten, die zur selben Zeit funktional wichtig, finanziell lohnend, auffallend, sozial deutüch sichtbar und verächtlich waren. Das Entstehen des türkischen Nationalismus und der armenische Ethnozentrismus, der der Assimilation durch Konversion vom Christentum zum Moslemglauben widerstand, förderte den Völkermord. Unter der ziemlich törichten, zum Konservativismus neigenden türkischen Bevölkerung gab der armenische kommerzielle Genius ihnen ein wirkliches Monopol im Handel und einen großen Anteil am Wohlstand des Landes. Es ist kein Zufall, daß die beiden größten Völkermorde dieses Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen zusammenfallen. In seiner Analyse des Prinzips der Herrschaft bestand Georg Simmel darauf, daß sie ein Fall der Interaktion ist und daß sie in den Fällen der unterdrückenden und grausamen Unterordnung immer noch ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit für die Unterdrückten offen läßt, nämlich ihren Willen, sich nicht zu beugen und der Zwangsherrschaft zu widerstehen. Im Falle der Aufrechterhaltung eines solchen Willens tendiert die Interaktion danach, sich selbst aufrechtzuerhalten und sich wechselseitig zu bestimmen. Das Fehlen eines solchen Willens lädt zur Anwendung von Gewalt auf der Seite der herrschenden Gruppe ein und beendet auf diese Weise die Beziehung. Gegenseitig bestimmte Interaktionen kristallisieren sich im Nationalismus der Übergeordneten und im Ethnozentrismus der Untergeordneten. Die herrschende türkische Gruppe wollte die Gesellschaft aus einer heterogenen in eine homogene Einheit verwandeln. Hier wurde der Völkermord ein Mittel zum Zweck für eine radikale strukturelle Veränderung des Sozialsystems. Die Vereinigungs- und Fortschrittspartei der Jungtürken war eine monolithische politische Einheit. Ein mächtiger potentieller Täter kann leicht im Rahmen seiner Verteidigung die Pläne 38*

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und Handlungen des Völkermords rationalisieren. Die Abwesenheit einer tatsächlichen und effektiven Abschreckung oder einer Furcht vor zukünftigen Vergeltungsmaßnahmen können als Ermutigung dienen. In den Jahren 1915/1916 wurden über eine Million Armenier in der Türkei getötet. In der Besprechung über den geplanten Massenmord an polnischen Juden bemerkte Adolf Hitler die Bestürzung einiger seiner Generale. Um ihre Befürchtungen zu beschwichtigen, sagte er: „Wer spricht nach alledem heute noch von der Vernichtung der Armenier? Die Welt glaubt an den Erfolg allein." I. Gesellschaftliche Einflüsse 1. Täter als Opfer

Eine dynamische, realitätsbezogene Viktimologie geht nicht nur vom Strafgesetz und seiner Anwendung aus. Nach dem Strafgesetz und seiner Anwendung werden bestimmte Personen als Opfer und andere als Täter definiert. Täter können gleichfalls Opfer sein oder zu Opfern gemacht werden. Sie können zunächst einmal vor Begehung ihrer Straftaten Opfer von Rechtsbrüchen geworden sein. Sie können ferner Opfer der sozialen Bedingungen sein, unter denen sie aufwachsen und leben mußten. Sie können schließlich durch Degradierungs- und Stigmatisierungsprozesse nach ihrer Ergreifung durch die Instanzen der Sozialkontrolle (Kriminalpolizei, Gerichte, Strafvollzug) zu Opfern gemacht werden. Newman und Litt (1973) haben in ihrer Studie: Der Täter als Opfer folgende Hypothesen überprüft: Die mögliche Ansicht des Täters, selbst ein Opfer zu sein, mag hervorgerufen oder veranlaßt sein durch eine Verurteilung. Der Täter sieht sich möglicherweise besonders dann als Opfer an, wenn er lange Freiheitsstrafen erhält. Jede Person hat einen bestimmten Umfang unfairen Opferwerdens zu ertragen. Die Ertragungsfähigkeit, die viktimelle Toleranz der Straftäter, ist eventuell besonders gering. Aus einer offiziell kriminellen und institutionalisierten Population von 217 Personen meldeten sich 74 Probanden freiwillig. Den Strafgefangenen wurden 16 Fragen gestellt. Fünf direkte Fragen wurden näher analysiert. Auf die Frage, ob der Straftäter vor seiner Tat Opfer geworden sei, antworteten 61 von 74 positiv, 12 negativ und einer unentschieden. An den 61, die Opfer geworden waren, wurden 174 Straftaten verübt. Diebstahl und Betrug machten 55% aus. Nur 3 von 61 Opfern berichteten über Sexualstraftaten. Die Straftäter wurden ferner gefragt, ob sie während der Begehung einer Straftat das Gefühl gehabt hätten, daß sie das von der Gesellschaft zurück bekämen, was die Gesellschaft ihnen schulde. Auf diese Frage gaben nur 14 zu, daß sie einen Groll auf die Gesellschaft hätten, wäh-

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Viktimologie

rend 54 antworteten, daß sie zumindest bewußt und wissentlich keinerlei Beschwerden gegen die Gesellschaft vorzubringen hätten. Von 174 Straftaten, die gegen 61 Straftäter begangen worden waren, wurden nur 15 Fälle vor die Strafjustiz gebracht. 91,4% der Straftaten blieben ungesühnt. Die Antworten auf alle Fragen zeigten eine Betonung auf einem starken Opfergefühl von seiten der Strafgefangenen. Aus der Beantwortung sogenannter offener Fragen geht hervor, daß viele Straftäter sich als Opfer ihrer eigenen emotionalen Schwierigkeiten empfinden. Zahlreiche Straftäter gaben ein Gefühl der Rache zu, oder sie beklagten sich darüber, übermäßig in Versuchung geführt worden zu sein. Auf die Frage, wie man ihnen am besten nach der Entlassung helfen könne, antworteten: 22, sie möchten nicht zum Opfer gemacht werden, 21, sie möchten eine gute Stellung bekommen und 15, den Entlassenen sollte mehr Vertrauen entgegengebracht werden. Viele fühlten sich nicht genügend ausgerüstet für eine Welt des scharfen Wettbewerbs. Andere sagten, ihre Eltern hätten keine ausreichende Kontrolle über sie ausgeübt. Viele gaben an, daß sie im Anstaltsstrafvollzug wie Kinder behandelt würden und daß dies ihre Selbstachtung vermindere und ihren Glauben an sich selbst zerschlage. Zahlreiche Stimmen erhoben sich, die die Meinung äußerten, daß lange Freiheitsstrafen überhaupt keinem Zweck dienten. Sie würden die Person lediglich degradieren, so daß sie den Rest ihres Lebens in Institutionen verbringen müsse. Ein Gefühl des Opferwerdens kann bei 55% der Straftäter, die antworteten, festgestellt werden. Strafgefangene werden durch andere Strafgefangene zu Opfern gemacht. Eine Subkultur der Strafanstalt in dem Sinne, daß alle Strafgefangenen einmütig zusammenarbeiten, gibt es nicht. Simon Dinitz, Stuart J. Miller und Clemens Bartollas (1973) haben die Ausbeutung von jugendlichen Strafgefangenen durch andere Strafgefangene in einer Jugendstrafanstalt im Staate Ohio untersucht. In dieser Anstalt befanden sich feindselige und aggressive männliche Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren. Die Anstalt verfügte über 8 Pavillons. In jedem Bungalow lebten 24 Jugendliche. Die Institution kann 192 Jungen beherbergen, obwohl sie während der Untersuchungszeit tatsächlich nur 159 Jugendlichen Wohnung bot. Die 150 Jungen, von denen eine vollständige Information erlangt werden konnte, hatten ein Durchschnittsalter von 16,9 Jahren. Sie hatten durchschnittlich 2,4 Vorstrafen. Sie wurden danach gefragt, anzuzeigen, ob und in welcher Weise ein Junge gewöhnlich in der Jugendstrafanstalt zum Opfer werde. Die Viktimisierungen bezogen sich auf die Wegnahme von Nahrungsmitteln, Kleidung, Zigaretten und auf Masturbation und Homosexualität. 18% der Probanden beuteten andere aus, wurden aber selbst

nicht ausgebeutet. Ein Drittel nutzte andere aus und wurde selbst gelegentlich ausgenutzt. 10,7% waren keine Opfer, aber auch keine Täter innerhalb der Anstalt. 20,7% wurden gelegentlich und 17,3% oft erpreßt. Reine Opfer beliefen sich deshalb auf nahezu 2 von jeweils 5 Jungen. Nahezu 90% der Probanden waren in irgendeiner Weise an dem Ausbeutungsspiel beteiligt. 16% der Jungen wurden sexuell für gewöhnlich auf einer chronischen Basis mißbraucht, weil sie schon stigmatisiert waren und deshalb ein leichtes Spiel für andere boten. 86 Jungen von 150 wurden ausgenutzt, indem man ihnen Nahrung, Kleidung oder Zigaretten wegnahm. Nur etwa 35% der Probanden waren nicht eingeschüchtert und in die Rolle eines Opfers zu irgendeiner Zeit gezwungen. Bestimmtheit gepaart mit manipulativer verbaler Geschicklichkeit schützten einige der physisch Schwachen davor, Opfer zu werden. Die rassenspezifischen Besonderheiten der Viktimisierung in dieser Jugendstrafanstalt im Staate Ohio arbeiteten Clemens Bartollas und Stuart J. Miller (1973b) heraus. 46% der Jungen der Anstalt waren schwarz, 54% weiß. Die Jugenderzieher waren zu 97% Schwarze. Weiße waren die am schwersten ausgebeuteten Opfer dieser Institution. Von 16 Jungen, die man sexuell mißbrauchte, waren ζ. B. 13 weiße. In jedem Cottage, selbst dort, wo die Weißen etwas die Schwarzen zahlenmäßig übertrafen, waren die Weißen klar am Ende der Hackordnung. In dieser Institution nützten schwarze Insassen nicht nur weiße im Hinblick auf Zigaretten, Nahrungsmittel, Kleidung und Sexualität aus, sondern die schwarzen Insassen sozialisierten die weißen auch in eine schwarze Subkultur hinein. Die Schwarzen hatten durch ihre Machtposition die Möglichkeit, zu kontrollieren, welche Musik gespielt und welches Fernsehprogramm angesehen wurde. Sie diktierten zusätzlich die Art der Nahrung, den Stil der Kleidung und der Sprache, die in den Pavillons gesprochen wurde. Die beherrschende Stellung der Schwarzen rührte daher, daß sie aggressiver waren, daß sie als Gruppe mehr zusammenhielten, und schließlich aus dem Umstand heraus, daß sie durch die Weißen in der freien Gesellschaft zu Opfern gemacht worden waren. Der Weiße der Unterschicht ist nicht so leicht zum Opfer zu machen wie der Weiße der Mittelschicht. Der weiße Junge der Mittelschicht weiß nicht, wie er sich physisch zu verteidigen hat. Das Bezahlen von Schutz ist der einzige Ausweg für ihn. Er gibt Dinge weg, die er von zu Hause geschickt bekommt. Einer der wenigen weißen Jungen, der eine beherrschende Stellung in seinem Bungalow besaß, gab vor, einen Bankraub begangen zu haben. Das schützte ihn davor, erpreßt zu werden. Wichtig war auch die Zahl der Freunde, die ein Neuankömmling in einem Bungalow hatte. Wenn er einen oder zwei Freunde hatte, beson-

Viktimologie ders solche, die angesehen waren, bekam er Unterstützung für den Fall, daß feindliche Gleichaltrige ihn zum Opfer machen wollten. Die wichtigsten Variablen von allen waren die Persönlichkeitscharakteristiken der Weißen. Wenn ein weißer Junge in dem Bungalow mit einem Ausdruck der Furchtsamkeit kam, wenn er Fragen nicht sofort beantwortete, wenn er mit der Antwort zögerte, warum er in die Strafanstalt geschickt worden war, wenn er verbale und physische Beweise dafür bot, daß er passiv war, wurde er sehr schnell als einer erkannt, der sexuell ausgebeutet werden konnte, und er kam unter einen beträchtlichen Druck der schwarzen Jungen, die an einem sexuellen Mißbrauch des weißen Jungen interessiert waren. 2. Das Opfer der Wirtschaftskriminalität, der politischen Straftat und des organisierten Verbrechens Bei der Wirtschaftskriminalität von einer sich „verflüchtigenden Opfereigenschaft" (Günther Kaiser 1974) zu reden, ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Denn es sollte gerade die Aufgabe der kriminologischen Wissenschaft sein, das bei der Wirtschaftskriminalität sozial schwer sichtbare Opfer erkennbar zu machen. Die Erkennbarkeit des Opfers ist der erste und wesentlichste Schritt zur Verhütung und Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Zunächst können Einzelpersonen, Angestellte (ζ. B. Betriebsdiebstahl, Veruntreuungen) oder „Käufer" (ζ. B. Ladendiebstahl), aber auch organisierte Gruppen von Einzelpersonen Delikte gegen Wirtschaftsunternehmen begehen. Ferner kann sich die Wirtschaftskriminalität auch gegen Mitbewerber, also andere Wirtschaftsunternehmen, richten. Schließlich kann die Wirtschaftskriminalität durch Nichteinhaltung von Wirtschaftsgesetzen die Wirtschaftsordnung schädigen und im äußersten Falle völlig untergraben. Bei allen Formen der Wirtschaftskriminalität ist letztlich die Gesellschaft das Opfer; also es sind die ehrlichen Konsumenten Opfer, die die Schäden der verschiedenen Formen der Wirtschaftskriminalität immer bezahlen müssen. Wenn eine Bank durch kriminelle Machenschaften ihrer Eigentümer oder Mitbewerber zusammenbricht, so haben nicht nur die Bankkunden, sondern es haben alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten den Schaden. Die Schäden, die durch Betriebs- und Ladendiebstäble entstehen, werden auf die Preise umgelegt, so daß wieder letztlich der ehrliche Konsument das Opfer ist. Er merkt und sieht nicht, daß und wie er Opfer der Wirtschaftskriminalität wird. Die Anonymität des Opfers macht die Vorbeugung gegen Wirtschaftskriminalität und ihre Bekämpfung so schwer. Unmittelbar geschädigt sind hierbei vor allem die kleinen Betriebe. 212 erwachsene Einwohner von Bloomington/Indiana wurden in ihren Häusern befragt

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(Erwin 0 . Smigel 1956). Man gab ihnen 15 hypothetische Situationsfragen. Thema war das Stehlen aus Regierungsbetrieben, großen und kleinen Geschäften. Die kleinen Geschäfte werden als Opfer bevorzugt. Die Diebe wählen das geringste Risiko. Selbst wenn die Täter gefaßt würden, meinten die Befragten, seien die kleinen Geschäftsleute, die in persönlichem Kontakt mit ihren Kunden stünden, milder als die Manager der großen Kaufhäuser oder die Regierungsangestellten. Beim Betrug gilt der Satz: Man ist nie so nahe daran getäuscht zu werden, als wenn man täuschen will. Zwei potentielle Betrüger schaffen eine viktimogene Situation. Der Täter sucht den Gewinnsüchtigen und nutzt dessen auf Eigennutz bedachten Willenszustand aus. Wenn man den ganzen Prozeß dieses Geschehens objektiv betrachtet, sieht es zuweilen so aus, als ob das Opfer selbst den Täter betrügen wolle, indem es sich der vermeintlichen Unerfahrenheit und Unwissenheit des Täters heimtückisch bedienen wolle. Zwar spielt das Opfer zunächst die Rolle des Täters. Aber der Täter seinerseits ist klüger und tüchtiger als das Opfer. Letzten Endes gelingt dem Täter sein arglistiger Plan (Koichi Miyazawa 1970, Henri Ellenberger 1954). Derjenige, der falschspielen will, unterliegt ganz besonders der Gefahr, von einem noch geschickteren Falschspieler betrogen zu werden. Täter und Opfer werden weitgehend austauschbar. Das Risiko, übervorteilt zu werden, wird bewußt in Kauf genommen sowohl aus Angst, ein anderer könne das Geschäft machen, als auch eingedenk der eigenen gelegentlich riskierten Methoden (Horst Schüler-Springorum 1970). Bei der politischen Straftat ist gleichfalls die Gesellschaft letztlich immer das Opfer. Denn ihre Wertordnung und ihre Leitbilder werden stets schwer geschädigt. Straftaten gegen ein soziales System (Hochverrat, Landesverrat, Staatsgefährdung, aber auch Bombenanschläge aus politischen Motiven) sind wohlbekannt. Politische Kriminalität, die im Auftrag und für ein soziales System oder innerhalb eines sozialen Systems begangen wird, ist zwar weitverbreitet, entzieht sich aber der kriminologischen Erforschung, weil die Kriminologen innerhalb sozialer Systeme leben müssen, die Täter indessen für gewöhnlich weit mächtiger als kriminologische Forscher sind und weil die Täter wegen ihrer Mächtigkeit innerhalb des sozialen Prozesses die Möglichkeit haben, ihre kriminellen Handlungen und Unterlassungen wirksam zu verschleiern. Im allgemeinen kommt es der Masse der Bevölkerung auch mehr darauf an, für übersehbare kurze Zeit ein angenehmes Leben zu führen, als auf weitere Sicht hin ein Staatswesen ohne kriminelle Elemente zu besitzen. Diese kurzsichtige Betrachtungsweise führt allerdings in der Regel zu den größten und schmerzlichsten Schäden im materiellen und personellen

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Viktimologie

Bereich. Markantestes, wenn auch keineswegs einziges Beispiel ist das kriminelle System des Nationalsozialismus. Unter diesem System haben nicht nur andere Gesellschaften und deren Gruppen (ζ. B . Konzentrationslager, Geiselerschießungen und andere kriminelle Übergriffe während der Kriegshandlungen im 2. Weltkrieg), sondern es hat auch die deutsche Gesellschaft bis heute schwer gelitten. Sichtbarstes Zeichen sind die Gebietsverluste und die deutsche Teilung. Schmerzlichste Verluste sind Verluste an Menschen, seien es Polen, Juden, Russen, Amerikaner, Deutsche oder Angehörige aller anderen Staaten. Zwar kann und soll der Faschismus nicht mit den sozialen Systemen der westlichen Demokratien und der sozialistischen Länder verglichen werden. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß auch diese sozialen Systeme nicht frei von politischer Kriminalität waren noch sind. Sie kann im Krieg durch kriminelle Ausschreitungen beider Seiten (Vietnam) oder im Frieden durch kriminelles Verhalten gegenüber dem Mitbewerber im demokratischen Willensbildungsprozeß (Watergate) begangen werden. Sie kann gegenüber anderen Gesellschaften verübt werden (Besetzungen von Ungarn, 1956, und der Tschechoslowakei, 1968). Sie kann sich gegen wehrlose, völlig unbeteiligte Menschen richten (Terrorakte palästinensischer Untergrundorganisationen). Es handelt sich bei allen diesen kriminellen Gewaltakten stets um Überzeugungstäter, d. h. um Menschen, die das Recht zu haben meinen, Gewalt anzuwenden. Leidtragende Opfer sind in der Regel die Täter oder deren Gegner nicht selbst, sondern völlig unschuldige, machtund wehrlose Menschen. Es geht bei der politischen Kriminalität um ein Definitionsproblem. Die Täter selbst definieren ihre Handlungen nicht als kriminell, sondern sie setzen ihr persönliches, ihr Partei- oder Regierungsinteresse gleich mit dem Interesse ihres Staates, ihrer Staatengemeinschaften oder gar der Menschheit. Sie alle sind mehr oder weniger überzeugt, Gutes zu tun und für das von ihnen für gut erkannte Ziel auch kriminelle Mittel einsetzen zu dürfen. Sie definieren jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, als kriminell, um ihn geistig, seelisch oder körperlich vernichten zu können. Politik ohne Humanismus, ohne Gewaltverzicht und ohne die strenge Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien schafft viktimogene Situationen großen Ausmaßes für die Begehung politisch-kriminellen Verhaltens. Die Opfer des organisierten Verbrechens machen es erst möglich. Zwar gibt es auch deutlich sozial sichtbare Opfer des organisierten Verbrechens: lästige Angehörige der Syndikate oder bestochene Polizeibeamte und Gewerkschaftsführer, die dem organisierten Verbrechen als Zeugen gefährlich werden können und deshalb beseitigt werden. Hierbei geht es allerdings nur um die Opfer der sogenannten Begleitkriminalität. Die Opfer der

eigentlichen kriminellen Aktivitäten des organisierten Verbrechens (ζ. B. illegales Spiel, Darlehnsgewährung zu Wucherzinsen, Rauschgifthandel usw.) sind insofern seine „Ursachen", als das organisierte Verbrechertum die illegalen Bedürfnisse der Opfer befriedigt und gerade auf ihre Mitwirkung angewiesen ist. Es handelt sich also regelmäßig um übereinstimmende Opfer, die aus der kriminellen Aktivität persönlichen Gewinn ziehen wollen. Anders ist es indessen bei den Opfern von organisierten Auto-, Juwelen- und Pelzdiebstählen. 3. Die Gesellschaft als Opfer Die Kriminellen machen die Gesellschaft stets zum Opfer. Denn die Gesellschaft muß letztlich für die Schäden aufkommen, die durch Kriminalität verursacht werden. Sie muß die Kosten für die soziale Kontrolle der Kriminalität tragen. Gesellschaften können freilich auch andere Gesellschaften zu Opfern machen. Das gilt für Krieg und kriegsähnliche Handlungen (Besetzungen, Bürgerkriege). Krieg und kriegsähnliche Handlungen sind stets schwere Verbrechen. Denn j e d e Seite definiert sich als Angegriffener und Verteidiger, als zur Anwendung kriegerischer Gewalt berechtigt. Es ist deshalb verfehlt, Pazifisten als unrealistische Schwärmer lächerlich zu machen. Sie sind die einzigen Realisten in einer ideologischverhetzten, inhumanen Welt. Gesellschaften können andere Gesellschaften durch Währungsmanipulationen ausbeuten. Sie können einfach völlig über ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten leben und deshalb angesichts der starken internationalen wirtschaftlichen Verflechtung solche Störfaktoren bilden, daß andere wirtschaftlich-diszipliniertere Gesellschaften ihnen im Eigeninteresse helfen müssen und so zu Opfern werden. Sie können ferner ihre wirtschaftliche Macht (technisches Wissen und Können oder Rohstoffreserven) derartig ausnützen, daß andere Gesellschaften Opfer werden. Beispiele, wie Gesellschaften zu Opfern gemacht werden können, bilden anschaulich die kriminellen Ausschreitungen während kriegerischer Auseinandersetzungen. Da nicht alle Fälle in diesem Zusammenhang dargestellt werden können, muß betont werden, daß das folgende Modell keineswegs besonders hervorgehoben werden soll. Immerhin werden schwere kriminelle Ausschreitungen während kriegerischer Auseinandersetzungen von der Weltöffentlichkeit sehr schnell vergessen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn nicht ständige Wiederholungen von kriminellen Massenausschreitungen durch solches Vergessen mitverursacht würden. In der Zeit vom 25. März bis 7. Dezember 1971 verübten die pakistanischen Truppen Massennotzuchtsakte an wehrlosen Frauen und Mädchen in Bangladesch. Die Befehle zu solchen kriminellen

Viktimologie Handlungen waren vom höchsten S t a b der pakistanischen Truppen ausgegangen. Sie verfolgten den politischen Zweck, ein Volk zu demütigen und zu unterjochen. Sie lagen deshalb ganz auf der Linie der militärischen Strategie. E s wurden nahezu 200 000 Frauen und Mädchen genotzüchtigt. R o y (1973) ließ 109 Opfer verschiedener Altersgruppen durch Sozialarbeiterinnen in Bangladesch interviewen. Die Notzuchtsfälle ereigneten sich an Frauen aus den unteren Schichten mit niedrigem sozialen Status und geringem Einkommen weit häufiger als an Frauen aus der Mittel- und Oberschicht. Wenn die Truppen überstürzt fliehen mußten, wurden die genotzüchtigten Opfer, die teilweise in Sammellagern bis zu 500 Frauen und Mädchen gefangengehalten wurden, niedergeschossen, um auf diese Weise zu verhindern, daß der Feind Informationen erhalte. In allen Fällen wurde das Opfer von einem oder zwei Tätern festgehalten, während ein dritter sie notzüchtigte. Der militärische Kommandeur nahm selbst selten an solchen Gruppennotzuchtsakten teil. E r wählte für sich gewöhnlich ein Opfer aus, das ihm attraktiv und unterwürfig erschien, und vergewaltigte sie in seinem eigenen privaten Raum. Täter und Opfer kannten sich vorher nicht. Die Opfer hatten mit den pakistanischen Truppen vorher keinerlei Kontakt. Nahezu 5 5 % der Opfer wehrten sich verzweifelt. Fast 2 7 % protestierten nur mit Worten. Die Opfer akzeptierten die Viktimisierung, um ihr Eigentum und ihre Familien zu schützen. Gleichwohl mußten zahlreiche Opfer während des Notzuchtsaktes zusehen, wie ihre Häuser niedergebrannt wurden, wie ihr Eigentum geplündert wurde und wie ihre Kinder vor ihren Augen getötet wurden. Man riß ihnen ihre Babys aus den Armen, warf sie in die Luft und spießte sie zum Spaß mit den Bajonetten auf. Die Frauen, die aufgrund von Notzuchtsakten schwanger geworden waren, erstickten viele Kinder während der Geburt, oder sie ertränkten sie in den Flüssen, Brunnen und Wasserlöchern in Bangladesch. 4. Die Opfer der Gesellschaft Die sozial Abweichenden (Seymour L . Halleck 1974) wie die sozial Konformen (Chanoch J a c o b sen 1973) können Opfer der Gesellschaft sein. Durch ihre Definitionsmacht über die Maßstäbe der Normalität trägt die Medizin zur Viktimisierung von sozialen Gruppen bei, die zu Randgruppen werden. Der Prozeß der Benennung ermöglicht die Unterdrückung sozialabweichender Gruppen in einer subtilen Art. Die Glaubenssätze der Gemeinschaft werden dadurch gestärkt, daß diejenigen, die in irgendeiner Weise unterschiedlich sind, als gefährlich oder minderwertig definiert werden. Die von der Psychopathologie angewandten Begriffe „emotional gestört", „psycho-

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pathisch", „sozial konflikthaft", „verhaltensges t ö r t " und „sozial unreif" sind keine medizinischen Fachausdrücke, sondern Definitionen des Arztes über Normalität, die mehr oder weniger willkürlich sind und die im Einzelfall dazu dienen, Menschen zu unterdrücken. Sie sollen die Unterdrückten davon überzeugen, daß sie mit R e c h t unterjocht werden, weil sie gefährlich oder minderwertig seien. Die Frauen und Mädchen sind in einer weitgehend männlich orientierten Gesellschaft aus leitenden Positionen der Wirtschaft, der Politik und der akademischen Welt verdrängt. Das weibliche Geschlecht ist genauso intelligent und leistungsfähig wie das männliche. Die Frauen sind sogar widerstandsfähiger und sexuell leistungsfähiger als Männer. Die moderne Sexualfcrschung hat herausgefunden, daß Frauen fähig sind, den Sexualakt genauso gern zu mögen und mitunter sogar mehr als Männer. Normale Frauen sind sexuell mächtiger als Männer, weil sie den Orgasmus viel leichter mehrfach erleben können als Männer. Frauen werden daher von ihrem Geschlecht und ihrer Sexualität her zu Unrecht als „schwaches" Geschlecht bezeichnet. Frauen sind biologisch und sozial nicht minderwertiger als Männer. Die Alten, die Jungen, die Armen werden ebenfalls völlig zu Unrecht diskriminiert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. In zahlreichen Gesellschaften gilt dies auch für rassische Minderheiten (ζ. B . Farbige, Juden). Es gibt keine soziale Rolle für alte und junge Menschen in unserer rapide sich wandelnden Gesellschaft. Die Jungen müssen lernen, die Alten müssen sich ausruhen. Die „Erwachsenen", die Wirtschaft und Gesellschaft tragen, sind mit Arbeit und Vergnügen völlig überfordert und überlastet. Für Junge wie Alte gibt es keine Arbeit, kein Gefühl der Nützlichkeit und der Würde. Eine kinderund jugendgemäße Arbeit und eine soziale Verantwortlichkeit für die Jugend wären wesentliche Faktoren für eine Integration der Gesellschaft. Diejenigen, die alt und arm sind, gehören zu den elendsten. Sie sind nahezu völlig sozial isoliert und verbringen — gelangweilt und in großstädtischen Ghettos verborgen — ihre Zeit mit dem Warten auf ihren Tod. Selbst in relativ komfortablen Gemeinschaften von Pensionären haben alte Menschen nichts zu tun und leben sinn- und zwecklos in den Tag hinein. Wenn alte und junge Menschen bedeutsame Plätze in der Gesellschaft hätten, könnten sie mit Anstand und Würde leben. Die Jungen brauchten nicht zu rebellieren. Die Depression der Alten würde wegfallen. Daß das Altern ein Hauptgrund für Depressionen ist, muß als Mythos bezeichnet werden. Eine falsche Reaktion auf das Anderssein von Menschen ist ebenso sozialschädlich wie keinerlei Reaktion. Aus Machtlosigkeit, Furcht, Indifferenz, Resignation und Apathie kann ein soziales Klima

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der P e r m i s s i v i t ä t entstehen, das durch ein weitv e r b r e i t e t e s F e h l e n einer R e a k t i o n auf n i c h t k o n formes V e r h a l t e n gekennzeichnet ist. Die sozialen Gruppen, die sich a m meisten k o n f o r m v e r h a l t e n , sind dann die Opfer der Gesellschaft. D e n n sie t r a g e n die Gesellschaft, ohne einen N u t z e n oder W e r t g e w i n n d a v o n zu h a b e n . D a s Anderssein, das soziale Abweichen wird n i c h t m e h r n e g a t i v geb r a n d m a r k t , sondern in falsch v e r s t a n d e n e r Toler a n z f a s t schon als Verdienst, jedenfalls als völlig gerechtfertigt empfunden. Toleranz b e s t e h t in d e m Ausdehnen u n d Spannen der n o r m a t i v e n Grenzen eines W e r t s y s t e m s . I n d e m zuletzt beschriebenen permissiven Sozialprozeß ist indessen ü b e r h a u p t keine n o r m a t i v e S p a n n u n g m e h r v o r h a n d e n . Die N o r m e n sind vielmehr so sehr perv e r t i e r t , d a ß derjenige, der sozial Nützliches und W e r t v o l l e s leistet, z u m Opfer der Gesellschaft g e m a c h t wird. E i n e so handelnde u n d w e r t e n d e Gesellschaft g e h t i h r e m völligen Z u s a m m e n b r u c h entgegen.

M o n o g r a p h i e n und

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SCHNEIDER

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Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

w WEIBLICHE KRIMINALITÄT UND FRAUENSTRAFVOLLZUG I. EINLEITUNG A. Betrachtungsweise Die ältere kriminologische Literatur ist grundsätzlich und die neuere deutsche überwiegend anlageorientiert (Hellmer 196B, S. 196). Soziologie, Sozial- und Tiefenpsychologie haben jedoch die Bedeutung umweit- und entwicklungsbedingter Faktoren für das soziale Verhalten deutlich gemacht und der Kriminologie entsprechend erweiterte Gesichtspunkte eröffnet. In der allgemeinen Kriminologie, die wegen der geringen Beteiligung von Frauen fast nur mit männlicher Straffälligkeit befaßt ist, war eine solche Akzentverschiebung deshalb nicht schwierig, weil, wenigstens im Ansatz, auch schon früher ökonomische Faktoren in diese Forschung einbezogen wurden. Anders war es bei der Betrachtung der weiblichen Kriminalität. Hier blieb es bei der grundsätzlich biologistischen Vorstellung, weil das Phänomen nahezu ausschließlich von Männern „androzentrisch" (Bade bei Siebecke, 1961, S. X) betrachtet wurde und diese ihren einseitig männlichen Standpunkt kaum reflektierten. Sie sahen die Frau vor allem als Trägerin ihrer Geschlechtsfunktion. Diese „körperhafte" (Beauvoir S. 613) Beurteilung beruht darauf, daß der Mann die Frau in der Vergangenheit außerhalb der Ehe kaum als Mitarbeiterin erlebte und daher das UngeschlechtlichMenschliche in ihrem Wesen unterbewertete. Für Lombroso ist deshalb die Prostitution die typische Form weiblicher Degeneration. Wulff en (S. 4) kommt zu dem Schluß, daß „bei dem Weibe die meisten kriminellen Auswirkungen aus naheliegenden psycho-physiologischen Gründen in irgendeinem näheren oder entfernteren Zusammenhang mit seinem Geschlechtsleben stehen". Solcher Geschlechtssubjektivismus führt zu einer eigenartigen, untergründigen Ablehnung der Frau mit Neigung zu negativen Deutungen, ab und zu allerdings auch zu unsachlicher Ritterlichkeit. „Die Frau steht immer dort, wo der Mann seinen Schatten hat, weshalb er sie nur allzu leicht mit letzterem verwechselt. Und wenn er dieses Mißverständnis wieder gut machen will, so überschätzt er die Frau und traut ihr Desiderata zu" (Jung S. 5). Die Frage, in wieweit gewisse Phänomene weiblichen Verhaltens auf Anpassungsschwierigkeiten beruhen, wird kaum gestellt. So Wulften (S. 16): „Wirtschaftliche Krisen und besonders Teuerungsjahre haben nur geringen Einfluß auf die weibliche Kriminalität". Die Unan-

gepaßtheit der Frau an die männlich geprägte Umwelt wird von Lombroso (1902 S. 48 u. 66/67) als biologische Andersartigkeit verstanden. Beobachtungen werden ausschließlich biologisch erklärt. Lombroso sieht vor allem das weibliche Streben nach dem Manne und deutet es aus ihrer Geschlechtlichkeit. Wulffen, der übrigens das nüchterne, oberflächliche Gefühlsleben der Frau, ihren mangelnden Sinn für die Schönheit der Künste, die Lyrik eines Gedichtes, ihre weniger innige Liebesfähigkeit, ihre Unfähigkeit zu Freundschaften und Idealismus bemängelt (S. 35), leitet ihre Straftaten ebenfalls aus ihrer Sexualität her. „Dem Weibe ist mit seiner Veranlagung von der Natur ein kupplerischer Zug mitgegeben worden (S. 3 9 5 ) . . . bei weiblichen Brandstiftern ist der erotische oder sexuelle Zusammenhang mit der Tat meist mehr oder weniger offensichtlich gegeben (S. 120). „Bei weiblichen Verbrechern wird — anders als bei männlichen — das .sexuell befleckte Vorleben' als Hinweis auf ,sexuelle Unterströmungen' der Tatbegehung gewertet" (S. 128). Aktivität der Frau weist auf sexuelle Veranlagung (S. 161). So wird sogar bei politischen Kämpfen (suffragettes) diese Komponente gesucht (S. 284). Von solcher Sicht ist es schwer, die soziale Lage der Frau in die Betrachtung einzubeziehen und daran zu denken, daß die Frau ihre Stellung in der Gesellschaft ehemals fast ausschließlich als Sexualpartnerin innehatte. Womit sollte sie ζ. B. erpressen, als mit diesen Beziehungen, die nahezu ihre einzigen waren ? Sicherlich spielt die Sexualität bei der weiblichen Kriminalität eine Rolle, doch darin unterscheidet sie sich nicht von der männlichen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß vom Motiv her ihr Anteil an der offenen wie der versteckten Sexualkriminalität geringer ist. Da der Mann während seiner Vorherrschaft zum normativen Gestalter der gesellschaftlichen Ideologie wurde, schlossen sich die Frauen, wie ζ. B. H. Damrow, seinem Urteil an. Selbst die Anhänger der Psychoanalyse haben „die Kategorien von Mann und Weib so übernommen, wie die gegenwärtige Gesellschaft sie festlegt" (Beauvoir S. 412). Noch immer fehlt es an der notwendigen Ergänzung der männlichen Urteile durch weibliche Stellungnahmen und durch exakte Untersuchungen. Die Vorstellungen über weibliche Kriminalität sind also noch nicht genügend objektiviert und werden deshalb wahrscheinlich noch erheblichen Wandlungen unterliegen. Die jüngeren Autoren übernehmen die ausschließlich biologische Betrachtungsweise nicht. Ihnen gilt die Frau nicht überwiegend als „Sexualverbrecherin". Doch spielen biologische Gesichtspunkte noch immer eine überwertige Rolle. So leitet ζ. B. Amelunxen (S. 9) die Methoden weib-

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug licher Tatbegehung aus ihrem natürlichen Charakter ab. Er stellt fest, bei wahrscheinlicher Fehleinschätzung der Wohlstandskriminalität und Außerachtlassung der noch immer gerade bei Frauen nicht selten vorhandenen Not — ζ. B. bei ungelernten Arbeiterinnen mit Minimallohn, bei unvermutet vom Ehemann verlassenen oder nicht unterstützten Müttern — daß „die Frauenkriminalität selten von der Poverti kommt" (S. 19). Er sieht dabei auch nicht, daß die Suggestion der Konsumwerbung in erster Linie auf Frauen und Mütter ausgerichtet ist. Auch Kern findet die Ursache weiblicher Kriminalität in der natürlichen Anlage. Demgegenüber hatte schon Aschaffenburg als Grund der Kriegskriminalität der Frauen konstatiert: „die Frau des Volkes (ist) von der Not ums tägliche Brot stärker seelisch betroffen als die Männer" (S. 181). Auch Hagemann geht von soziologischen Gesichtspunkten aus, wenn er die weibliche Kriminalität als Folge ihrer Unangepaßtheit an eine ihr fremde, vom Manne geschaffene Umwelt begreift. „Die Frau entwickelt folgerichtig die Moral des Schwachen. . . . sie handelt mit den Mitteln, welche der Lage der physisch und sozial schwächeren Frau entsprechen" (S. 1053). Demgegenüber gruppiert er ihre Straftaten in die aus ihrer Unfreiheit als Geschlechtspartnerin und die aus ihrer sozialen Abhängigkeit erwachsenden. Einige deutet er sogar als Protest gegen ihre gesellschaftliche Stellung. Damit stellt er sich auf den Boden der neueren, vor allem von Sutherland durchdachten kriminologischen Betrachtungsweise, bei der etwa Brauneck die individuelle, aber sozial bezogene Entwicklungsgeschichte oder Kvaraceus allgemein kulturelle Aspekte in den Vordergrund stellen. König vermeidet die „fruchtlose Diskussion um Anlage und Umweltbedingtheit" dadurch, daß er die Kriminalität als Entwicklung von festen Verhaltensmustern aus einem umwegreichen Prozeß des Lernens durch leichte Verhaltensschwankungen hindurch, also als sozialen Prozeß erklärt (S. 3). Ebenso muß die Ansicht von der Konstanz ihres Wesens, die nach Rühle-Gerstel der Frau gegenüber immer viel mehr vorgeherrscht hat als gegenüber dem Manne, aufgegeben werden (S. 67) und ihr Charakter allerspätestens, seit Mead völlig voneinander abweichende Charaktereigenschaften von Frauen in verschiedenen Gesellschaften nachgewiesen hat, als „Sekundärreaktion auf eine Situation" (Beauvoir, S. 7) verstanden werden. Für die Betrachtung der weiblichen Kriminalität bedeutet das: es muß vor allen Dingen die Rolle berücksichtigt werden, die Frauen in der heutigen, noch immer von Männern beherrschten Gesellschaft spielen. Diese Rolle können sie — in ihrer großen Masse — nach Reckless nur durch passive Anpassung an die fremde Herrschaftswelt unter Vermeidung offener Kampfmethodik und eigenständiger Wirksamkeit bewältigen. Diese Deutung 39 HdK, 2. Aufl., Bd. I I I

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erklärt die von Aschaffenburg (S. 282) ohne Begründung festgestellte Tatsache: „im ganzen trägt das weibliche Verbrechen mehr den Charakter der Unaufrichtigkeit, das männliche der Gewalt". B. Die Lage der Frau Bei einer solchen Betrachtung wird es, anders als früher, notwendig, wenigstens grundzughaft, die gesellschaftliche Lage der Frau vor ihrer Kriminalität zu betrachten (vgl. hierzu Horkheimer, Mead, Hellmer 1959, Pross). Während früher ihre soziale Stellung fast ausschließlich von ihrer Funktion als Geschlechtspartnerin bestimmt wurde und die biologische Betrachtung ihres Verhaltens damit wenigstens einen Schein von Richtigkeit enthielt, hat sich dies seit dem Ansatz der Emanzipation, die neue Wesenszüge hervortreten ließ, geändert. Doch befindet sich die Frau noch so sehr in diesem Umwandlungsprozeß, daß eine klare Sicht nicht möglich ist. Nicht einmal die faktische Emanzipation ist ja voll verwirklicht. Nach Marcuse ist sie in einer repressiven Gesellschaft überhaupt nicht wirklich realisierbar. Darüber hinaus ist aber die Bewußtseinsemanzipation noch viel weniger erreicht, da Ideologien länger haften als sozio-ökonomische Strukturen. D. h., daß noch das allgemeine und das Denken der Frau selbst von der Tradition der männlichen Vorherrschaft bestimmt ist. So etwa stellt sich in groben Zügen die Lage der Frau heute dar: Trotz 100 Jahren Frauenbewegung und 50 Jahren aktiven und passiven Wahlrechts leben die Frauen unabhängig von ihrer Klasse, noch immer, auch ökonomisch, ohne Gleichberechtigung als „das andere Geschlecht" (Beauvoir) in einer männlich bestimmten Welt. Soweit sie Berufe ausüben, tun sie es nur selten in führenden, das Gesicht dieser Berufe gestaltenden Stellungen. Sie besetzen die unteren Sprossen der Rangleiter und üben die unqualifizierten Tätigkeiten aus. Noch immer gilt nicht einmal am gleichwertigen Arbeitsplatz gleicher Lohn für gleiche Leistung. Schul- und Berufsausbildung sind schlechter, meist mühsamer. Das Verhältnis der ungelernten zu gelernten Arbeiterinnen ist nach Pross (S. 136) 90 : 1 0 , bei Männern 50 : 50. In den gehobenen Berufen haben sie ungenügende Aufstiegschancen (3% Richterinnen, 3% Hochschullehrerinnen, 2—3% Beamtinnen im gehobenen und höheren Dienst der Bundesverwaltung). Sie können also gesellschaftlichen Erfolg noch immer leichter durch männliche Vermittlung als durch eigene Leistung erlangen. Diese Tatsache bestimmt ihr gesellschaftliches Bewußtsein, ihre Selbständigkeit, ihr Selbstverständnis und ihr Leistungsbewußtsein. Wo Frauen aber beruflos in der Familie leben, sind sie noch immer wirtschaftlich vom Ehemann abhängig; wo sie das durch Berufstätigkeit vermeiden oder durch Mitverdienen den

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Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

Lebensstandard erhöhen wollen, sind sie in einer durchschnittlich 75stündigen Arbeitswoche, ohne ausreichende, gesellschaftlich organisierte Hilfe überlastet. Nach Thönnessen ist die Frau in der Übergangsepoche durch den Verlust des ökonomischen Schutzes in der Familie und durch den Konsumzwang unserer Wirtschaftsordnung besonders unfrei geworden; hiervon sind die Proletarierinnen, die an der Kriminalität, die wir in Strafanstalten finden, vor allem beteiligt sind, in erster Linie betroffen. Frauen sind wegen ihrer Überlastung oft krank und deshalb am Arbeitsplatz unbeliebt, dazu kaum in der Lage, an ihrer geistigen Weiterentwicklung zu arbeiten oder sich an gesellschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. So werden sie, ebenso wie in ihrer früheren familiären Gebundenheit, daran gehindert, für die Umgestaltung der Gesellschaft aus einer nur von Männern in eine von Frauen mitbestimmte zu wirken. Infolgedessen entscheiden nach wie vor männliche Maßstäbe über das Klima dieser Gesellschaft und fügen sich die Frauen diesem Schema ein. Die weibliche Erziehung ist von männlichen Leitbildern bestimmt, da diese die Großen dieser Welt repräsentieren. Die Mädchen können sich zu ihnen am ehesten durch angepaßte „Weiblichkeit" in Beziehung setzen. Auch deshalb hat die Bemühung der Konsumgesellschaft, besonders die weiblichen Käuferschichten anzusprechen, relativ leichtes Spiel. Denn noch immer läßt sich die Frau einreden, „Gefallen" sei ihre Hauptaufgabe, und investiert deshalb hier Kräfte, die ihr für die Erreichung anderer Ziele fehlen. Der Wunsch, solchen Ansprüchen zu genügen, ist nicht selten die Ursache auch ihres kriminellen Verhaltens. Derartig übermäßige Beanspruchung, Konflikte mit den Maßstäben einer männlich orientierten Gesellschaft, Erfolglosigkeit im Arbeitsleben, bedingen psychische Spannungen. Versicherungsstatistische Untersuchungen ergaben ζ. B. bei Studentinnen doppelt so viele psychoneurotische Störungen wie bei ihren männlichen Kollegen (Damm). Die Bemühung der Frau, mit der aus ihrer Geschlechtslage stammenden „Minderwertigkeitssituation" (Rühle-Gerstel, S. 27 u. 70) fertig zu werden, ist also bisher trotz des Wandels dieser Situation nicht erfolgreich gewesen. Zu den sozialen kommen die biologischen Belastungen. Noch immer spielt die geringere Körperkraft der Frauen eine Rolle, besonders auch in den Beziehungen der Geschlechter in der Familie. Sie führt zu Aggressionen, die ζ. B. bei Gattenmord und Kindesmißhandlung hervortreten. Auch andere Straftaten scheinen in dem Protest gegen diese Unterlegenheit ihre Wurzel zu haben. Vor allem aber ist die Frau weit mehr durch die Aufgabe der Arterhaltung in Anspruch genommen als der Mann, und zwar nicht nur durch Mutterschaft, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit, sondern vor allem auch durch die „Unausgeglichenheit"

ihres Organismus (Beauvoir, S. 65 u. 689). Während diese offenbar bei reifen, emanzipierten Persönlichkeiten — wie auch andere Belastungen — zunehmend bedeutungsloser wird, schafft sie bei labilen, psychopathischen oder neurotischen Personen endogene Kriminalitätsfaktoren (Birnbaum, S. 364) in Form erhöhter Anfälligkeit gegen Versuchungen infolge von hormonalen Einflüssen bei Menstruation, Schwangerschaft und Klimakterium, die durch „erhöhte Stimmungslabilität, Sensibilität, gesteigerte Triebstärke, herabgesetztes Hemmungsvermögen, Einengung der Verstandestätigkeit und des Bewußtseins und Verwirrtheitszustände . . . sowohl den Intellekt als auch den Willen und die Gefühlssphäre ergreifen". Bestimmte „Affekt- und Impulsverbrechen" wie „Warenhausdiebstähle, Brandstiftungen, falsche Anschuldigungen, Beleidigungen, Verleumdungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Eides- und Tötungsdelikte, Körperverletzungen" werden solchen Einflüssen zugeschrieben (Heldmann, S. 88/ 89), ohne daß jedoch substantiiertes Material vorgelegt wird (Pollack, S. 135). Hagemann (S. 1055) und Damrow (S. 11) fordern deshalb, im Bereich der Verbrechensbekämpfung hierauf Rücksicht zu nehmen. In der ausländischen Rechtsprechung (Cuba, El Salvador, Columbien, UdSSR, Italien, Frankreich, England, USA) soll das nach Heldmann (S. 95/96) im Rahmen von Zurechnung und Strafzumessung geschehen. In Deutschland folgt § 217 solchen Gedankengängen; in der Rechtsprechung werden sie, nach von Hentig (1930) etwa im Rahmen von § 51 StGB, kaum berücksichtigt. Π. DIE VON FRAUEN BEGANGENEN STRAFTATEN A. Der Anteil der weiblichen Kriminalität insgesamt Die weibliche Kriminalität wird im folgenden Abschnitt unter der Voraussetzung betrachtet, daß sie durch die offiziellen Verurteiltenziffern (Kriminalitätsziffern) in etwa wiedergegeben wird. Diese grundsätzliche Frage, die kritisch zu betrachten aller Anlaß besteht, kann jedoch im Zusammenhang dieses Beitrages nicht diskutiert werden (-> Statistik und Kriminalität). Statistische Angaben müssen, besonders im Vergleich miteinander, vorsichtig aufgenommen werden, weil die Unterschiedlichkeit von Gesetzen und Gesetzesanwendung und die bei den einzelnen Delikten verschieden hohen Dunkelziffern, die nach Pollack außergewöhnlich viel von der weiblichen Kriminalität verhüllen, erhebliche Unsicherheitsfaktoren enthalten. Immerhin läßt sich doch wohl mit einiger Sicherheit sagen, daß die weibliche Kriminalität wie zu allen Zeiten, so auch gegenwärtig, erheblich hinter der männlichen

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

611

besondere 1923 und 1924 (Inflation) und Täler während des 1. Weltkrieges, als ein Teil der Männer nicht der Heimatsgerichtsbarkeit unterstand. Ein weiteres Tal zeigen die Zahlen ab 1933, diese müssen jedoch wegen der Unzuverlässigkeit der Statistik nach 1934 außer Betracht bleiben. Wird allerdings die nach dem 2. Weltkrieg zunehmende Verkehrskriminalität abgezogen, so liegt die Zahl für die männliche Straffälligkeit der Jahre 1954—1958 unter der von 1884—1888. Ob die Herausnahme der gesamten Verkehrskriminalität bei der Beurteilung der kriminellen Anfälligkeit zulässig ist oder ob sich in den Verkehrsdelikten nicht doch, wenigstens teilweise, echte Kriminalität verbirgt, ist noch nicht ausdiskutiert. Die weibliche Straffälligkeit fällt, auch bei Einbeziehung der Verkehrsdelikte von 362 im Jahre 1885 auf 266 im Jahre 1966, steigt dann aber wieder an bis auf 331 im Jahre 1970. Was dieser überraschende Anstieg in den letzten Jahren zu bedeuten hat, läßt sich noch nicht übersehen; er kann Reaktion auf die Rezession von 1966/67 sein (Krisenkriminalität), er könnte auch den Beginn einer neuen Entwicklung bedeuten. Insgesamt

zurückbleibt. Statistisch macht sie in der BRD zur Zeit etwa 13% der Gesamtkriminalität aus (Tab. la). (Den folgenden Ausführungen werden durchweg, als am zuverlässigsten, die Zahlen der verurteilten Täter zugrunde gelegt.) Bei einer Gruppierung in erwachsene, heranwachsende und jugendliche Täter ergibt sich, daß die Straffälligkeit der Heranwachsenden beider Geschlechter, absolut gesehen, am höchsten ist. Bei den Frauen folgen hinter den heranwachsenden, anders als in früheren Jahren, die jugendlichen und zuletzt die erwachsenen. Im Verhältnis zu den Männern gleichen Alters sind die erwachsenen Frauen am meisten, die jugendlichen und heranwachsenden fast gleichviel weniger beteiligt. Sieht man allerdings von der Verkehrskriminalität ab, an der Frauen bisher relativ wenig Anteil haben, so verschiebt sich das Verhältnis zu ihren Ungunsten (Tab. l b ) . Die Entwicklung der Kriminalität über einen längeren Zeitraum hinweg gibt Tab. 2 wieder. Danach ist die männliche Straffälligkeit von 1885 bis 1970 von 1708 auf 2504 je 100 000 gestiegen. Die Kurve enthält Schwankungen, Spitzen ins-

Tabelle 1 a Weibliche Straffälligkeit 1962—1970 (Stat. BA A9) absolute Zahl d. Verurteilten

auf 100 000 d. jew. Bev.gruppe

Jahr

insges.

Frauen

Frauen i. %

insges.

Frauen

Männer

1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970

579198 566 683 586 226 570392 607 752 632 060 652 263 618170 643 285

68 501 65 225 67 584 63 846 66306 71652 76345 79 220 84 337

11,5 11,5 11,5 11,2 10,9 11,3 11,7 12,8 13,1

1328 1249 1282 1234 1303 1348 1392 1310 1346

282 267 275 258 266 285 304 313 331

2557 2394 2453 2365 2496 2572 2653 2459 2504

Tabelle l b Verurteilte u. Straßenverkehrsdelikte 1968 u. 1970 (Stat. BA A 9) ohne Straßenverkehrsdelikte

mit Straßenverkehrsdelikten männl.

weibl.

w. i. %

insges.

männl.

weibl.

w. i. %

575 918 2 653,2

76 345 303,7

11,7

326 835 697,7

270 517 1 246,2

56 318 224,0

17,2

643 285 558 948 2 504,4 1 345,8

84 337 331,0

13,1

335 197 271 064 701,2 1 214,5

64 133 251,7

19,1

insges. 1968 absol. a. 100 000 1970 absolut a. 100 000 39·

652 263 1392









Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

Tabelle 2 der Straffälligkeit zwischen 1885—1970 (Stat. BA u. Roesner, 580)

Jahr

Straffälligkeit auf 100 000 der je weil, straf mündigen Gruppe

Rechtskräftig Verurteilte insgesamt

Frauen

Frauen i. %

insgesamt

Frauen

Männer

1885

325122

61357

18,9

1006

364

1708

1890

363163

67 258

18,6

1049

373

1787

1895

436319

76997

17,6

1200

406

2067

1900

456479

72 844

16,0

1164

375

2039

1905

508102

80 955

15,9

1205

370

2106

1184

369

2059

1910

538 225

86 926

16,2

1918

341526

127 923

37,5

1923

823 902

134943

16,4

1693

528

2981

1924

696668

114 488

16,4

1494

467

2635

1925

575746

93 367

16,2

1217

377

2140

1926

589 611

89 344

15,2

1229

356

2186

1927

808356

91990

15,1

1249

362

2219 2132



482



1928

585 862

83 457

14,2

1188

324

1929

593 707

81580

13,7

1191

314

2146

1930

594610

79 350

13,3

1187

304

2148

1931

564 903

72 373

12,8

1125

277

1974

1932

564 479

63 486

11,2

1125

243

2008

1950

296 356

51298

17,3

807

257

1466

1951

401538

62 298

15,6

1073

308

1982

1952

463 418

70 008

15,1

1221

340

2265

1953

485 065

68 866

14,2

1260

330

2359

1954

502 211

63 757

12,7

1281

301

2434

1955

530 655

63 560

12,0

1331

295

2546

1956

546 819

64138

11,7

1350

294

2584

1957

564026

63 570

11,3

1398

291

2703

1958

549 191

61303

11,2

1347

278

2608

1959

565110

64 435

1371

289

2644

1960

578 767

65 373

11,4 11,3

1311

273

2539

1961

602 417

67 439

1352

280

2612

1962

597198

68 501

11,2 11,5

1328

282

2557

1963

566 683

65 225

11,5

1249

267

2394

1964

586 266

67 584

11,5

1282

275

2453

1965

570 392

63 846

11,2

1234

258

2365

1966

607 752

66 304

10,9

1303

266

2496

1967

632 060

71652

11,3

1348

285

2572

1968

652 263

76 345

11,7

1392

304

2653

1969

618170

79 220

12,8

1310

313

2459

1970

643 285

84 337

13,1

1346

331

2504

(Amnestie!)

613

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug enthält die Kurve auch sonst Schwankungen, einen deutlichen Tiefstand, wie bei den Männern, 1914. Roesner (S. 580) und Koppenfels führen ihn auf die idealistische Stimmung des 1. Kriegsiahres zurück. 1918 zeigt eine hohe Spitze, ebenso 1923. Ab 1925 fällt sie, abweichend von der der männlichen Straffälligkeit, deutlich ab. Das Verhältnis der weiblichen zur männlichen Straffälligkeit wird insgesamt — bis auf die letzten Jahre — immer günstiger. Nur in Krisenzeiten, wie insbesondere den Kriegen, verschob sie sich zuungunsten der Frauen. Über diese „Krisenkriminalität" wird noch zu sprechen sein. Sobald nach dem zweiten Weltkrieg wieder zuverlässige Zahlen zugänglich werden, sind diese erheblich erhöht, wobei die weibliche Kriminalität, wie bereits gesagt, besonders schlecht abschneidet. Sie fällt — 1950 gibt wegen der Amnestie kein klares Bild — erst von 1954 an auf die Zahlen von 1930 zurück; anschließend sinkt sie weiter, während die Kurve der Männer, allerdings nur bei Einbeziehung der Verkehrskriminalität, zwischen 1954—1958 erneut steigt und dann einigermaßen konstant bleibt. Offenbar wandern die „labilen" Frauen in diesen Jahren auch nicht eigentlich in die Prostitution ab. Das Abwandern in die Prostitution wäre zu erwarten, wenn sie die eigentliche Form weiblicher Kriminalität wäre, wie Lombroso meinte, also für die geringen Zahlen der weiblichen Straffälligen nahezu ausschließlich verantwortlich wäre. Zur Anschauung stehen allerdings nur Zahlen des städtischen Gesundheitsamtes der Stadt Frankfurt/M., wo die Prostitution jedoch einen guten Markt hat, zur Verfügung. Auch ihre Zahlen nahmen zunächst ab, stiegen allerdings ebenfalls wieder an (Tab. 3). Tabelle 3 Prostituierte und Frauen mit h. w. G. in Ffm. 1950- 1970 1957: 935 1964: 1025 1950: 1279 1951: 1952: 1953: 1954:

1391 1322 1193 1054

1955: 1041 1956: 1000

1958: 940 1959: 992 1960: 998 1961: 914 1962: 914

1968: 1296 1969: 1274

1963:

1970: 1243

874

1965: 1044 1966: 1077 1967: 1191

Bei den weiblichen Jugendlichen ist die Entwicklung der bei den Frauen festgestellten ähnlich. Ihre Beteiligung an der gesamten Jugendkriminalität betrug 1882 20,7% und fiel bis 1930 auf 13% (Roesner S. 844). In und nach dem 1. Weltkrieg stieg sie ebenso wie die der Frauen absolut, jedoch wegen der großen Zunahme der Kriminalität der männlichen Jugendlichen nicht

auch im Verhältnis erheblich an. Dann fiel sie stärker als jene. In der großen Linie verbesserte sich das Verhältnis zwischen männlicher und weiblicher Jugendkriminalität von 1882—1930 ständig zugunsten der Mädchen. In den Jahren der schweren Wirtschaftskrise war es für die Mädchen etwas ungünstiger. Während nämlich die Straffälligkeit der Heranwachsenden 1933 insgesamt fällt, steigt die der weiblichen, und die der weiblichen Jugendlichen fällt nicht im gleichen Maße wie die Gesamtzahlen (Tab. 4 a). Tabelle 4 a Zahl der vu. Jugendlichen und Heranwachsenden 1930—1933 auf 100 000 der jeweiligen Bevölkerungsgruppe (Stat. BA 1960) Jahr 1930 1931 1932 1933

Heranwachsende insg. weibl. 1493 1511 1701 1511

324 313 306 323

Jugendliche insg. weibl. 566 561 623 553

149 138 144 137

Möglicherweise wirken sich, wie 1914, die politischen Ereignisse, dieses Mal aber vor allem bei den männlichen Heranwachsenden und Jugendlichen, aus. Nach dem 2. Weltkrieg ist die Jugendkriminalität beider Geschlechter verhältnismäßig hoch. Sie fällt 1953, steigt aber ab 1956 wieder an, jedoch bei den Jungen mehr als bei den Mädchen und bei den deutschen Mädchen weniger als bei den amerikanischen (Grünhut). Bei den weiblichen Heranwachsenden ist zwischen 1954 und 1967 sogar ein geringfügiger Rückgang der Kriminalität festzustellen (1969 und 1970 allerdings der bereits erwähnte, noch nicht klärbare Anstieg über 1954 hinaus), während die der männlichen Heranwachsenden, weitgehend allerdings auf Konto der Verkehrsdelikte, gestiegen ist (Tab. 4b). Insgesamt also ist die (verurteilte) weibliche Straffälligkeit zurückgegangen. Auf die leichte Zunahme der letzten Jahre jedenfalls kann eine Verifizierung der Prognose von Pollack (S. XVI), Heiland und von Földes (S. 636), daß mit zunehmender Emanzipation die Kriminalität der Frauen steigen würde, nicht gestützt werden. Ob sie sich qualitativ verändert hat, kann nur aus Wandlungen der weiblichen Beteiligung an den einzelnen Straftaten und ggf. des Anteils der einzelnen Straftaten an der weiblichen Gesamtkriminalität während der letzten Jahrzehnte geschlossen werden. B. Die einzelnen Straftaten An der Spitze der weiblichen, ebenso wie der männlichen Kriminalität stehen Verkehrs- und Vermögensdelikte gem. §§242—248 StGB, und

614

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug Tab. 4b

Zahl der vu. Jugendlichen und Heranwachsenden 1951—1970 auf 100 000 der jeweiligen Bevölkerungsgruppe (Stat. BA A 9, 1957, 61, 64, 66, 70) Jahr

Heranwachsende insg. weibl.

1951

noch nicht gezählt

1051

230

1952

noch nicht gezählt

934

220

1953

noch nicht gezählt

852

247

Jugendliche insg. weibl.

1954

2623

592

842

210

1955

2713

559

1015

202

1958

2939

528

1285

234

1959

3083

549

1335

242

1960

3019

511

1394

238

1961

3394

542

1568

244

1962

3402

560

1584

262

1963

3087

550

1499

248

1964

3108

561

1606

247

1965

2964

522

1361

229

1966

3220

668

1422

263

1967

3201

573

1458

285

1968

3252

593

1588

340

1969

3179

611

1728

403

1970

3303

673

1741

479

zwar in der Form, daß bei erwachsenen und heranwachsenden Männern und bei heranwachsenden Frauen außer im Jahre 1970 die Verkehrsdelikte, bei erwachsenen Frauen und jugendlichen Männern wie Frauen und — vielleicht einmalig — 1970 auch bei heranwachsenden Frauen der einfache Diebstahl an 1. Stelle steht. Absolut gesehen sind allerdings selbst dann, wenn bei Männern der Diebstahl erst an 2. Stelle steht, dessen Zahlen selbst erheblich höher als bei den Frauen. (Die folgenden Angaben entstammen der Statistik 1966). In allen Altersgruppen der Frauen und bei den erwachsenen Männern folgt an 3. Stelle der Betrug. Er wird lediglich bei den heranwachsenden und jugendlichen Männern durch den Einbruchsdiebstahl verdrängt. Der Einbruchsdiebstahl spielt bei Frauen insgesamt eine untergeordnete Rolle, bei den geringen Zahlen von Straftaten heranwachsender und jugendlicher Frauen jedoch steht er nicht an letzter Stelle. Zusammen mit anderen empirischen Erfahrungen weist diese Tatsache darauf hin, daß Einbruchsdiebstähle von jungen Frauen oft in Gemeinschaft mit gleichaltrigen Männern begangen werden. Straftaten gegen den Staat spielen bei Frauen ebenfalls eine sehr geringe Rolle, sie unterschreiten ihren Anteil an der

Gesamtkriminalität. Das gleiche gilt für gemeingefährliche Verbrechen. Während bei Männern aller Altersgruppen an 4. Stelle die Gewaltdelikte (vors. Körperverletzung) folgen, stehen diese bei Frauen erst an 7., 8. und 9. Stelle. Außer bei den Jugendlichen gehen die Verletzung der Unterhaltspflicht und in allen Altersgruppen die Unterschlagung voran. Bei den erwachsenen Frauen liegt die Beleidigung an 6. Stelle. Sie wurde lange als ein typisch weibliches Delikt angesehen. Bei den jungen Frauen kommt sie jedoch nach den männlichen Altersgenossen (9 u. 10) erst an 13. Stelle, und wenngleich sie bei den männlichen Erwachsenen erst den 10. Platz einnimmt, so sind die absoluten Zahlen der von diesen begangenen Beleidigungen doch wesentlich höher (5662 : 8101), so daß die Frauen an ihnen nur zu 11,7% beteiligt sind, also kaum mehr als ihrem Anteil an allen Straftaten (10,9%) entspricht. Sittlichkeitsdelikte, die bei den erwachsenen Männern an 6. Stelle stehen, bei den jugendlichen sogar an 5., kommen bei den erwachsenen Frauen erst an 11., bei den beiden jungen Altersgruppen sogar erst an 15. Stelle. Ziemlich an den Anfang der Reihe treten neben Beleidigungen Urkundenfälschungen (9, 11, 7) und Hehlerei (10, 7, 6), die neben Kuppelei, Abtreibung und Meineid, bzw. falscher Aussage vor Gericht ebenfalls immer als typisch weibliche Straftaten angesehen wurden. So ergeben Tab. 5 u. 6, daß bei relativ geringen absoluten Zahlen die Beteiligung der Frauen an Kuppelei, Abtreibung, falscher Aussage und Meineid, in den beiden letzten Fällen besonders von heranwachsenden und jugendlichen, am höchsten ist. Bei Meineid und falscher Aussage sind heranwachsende und jugendliche Frauen überhaupt am stärksten beteiligt. Ihr Anteil übertrifft wie die Kuppelei der erwachsenen Frauen sogar den der männlichen Täter, was sonst nur noch bei Kindestötungen und Eigenabtreibungen, also den Delikten, die tatbestandsmäßig nur von Frauen begangen werden können, der Fall ist. Falsche Anschuldigung und Verleumdung folgen auch bei Frauen erst an 16., bei Jugendlichen allerdings an 9. Stelle. Am Ende der Reihenfolge stehen in allen Altersgruppen beider Geschlechter, am ausgeprägtesten jedoch bei den Frauen, die schwersten Straftaten: Mord und Totschlag. Bei den jüngeren Männern allerdings rücken sie vom 26. bzw. 27. Platz der Tabelle auf den 17. bzw. 20. Ebenfalls auffallend selten sind Frauen an unachtsamen und geplant aggressiven Angriffen wie fahrlässigen Straftaten gegen das Leben, Raub und Sachbeschädigung und an den aus eigenständiger Teilnahme am öffentlichen Leben erwachsenden Straftaten wie Bestechung und Verstößen im Amt beteiligt. Wenn man nun die zeitliche Entwicklung in der Begehung einzelner Straftaten betrachtet, so zeigt sich in der statistischen Aufstellung von

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug Roesner (S. 680) insgesamt, d. h. bei Männern und Frauen zusammen, in der Vermögenskriminalität ein Rückgang, soweit einfacher Diebstahl, Unterschlagung, Begünstigung und Hehlerei betroffen sind, eine Zunahme hingegen bei schwerem Diebstahl, Raub und Betrug, also bei den gewaltsamen, intellektuellen und den Besonderheiten der wirtschaftlichen Entwicklung (ζ. B. Abzahlungsbetrug) entsprechenden Begehungsformen. Die Urkundenfälschung stieg bis 1932 beträchtlich an, ging jedoch in den letzten Jahren unter den Stand von 1884—1888 zurück. Bei den Delikten gegen das Leben findet sich nach dem 2. Weltkrieg eine leichte Erhöhung beim Mord, Abnahme beim Totschlag (Änderung in der Rechtssprechung ?) und ein Rückgang der gefährlichen Körperverletzung. Zugenommen haben im Zusammenhang mit den Verkehrsdelikten fahrlässige Tötung und Körperverletzung. Bei den Sittlichkeitsdelikten zeigt sich der in ökonomisch besseren Zeiten übliche Anstieg bei den jungen Männern (Roesner, Koppenfels). Die Angriffe auf die Ehre nahmen bis 1954 erheblich ab, ebenso die Eidesdelikte bis 1923. Diese steigen anschließend erneut und gehen erst seit einigen Jahren wieder zurück. Innerhalb der weiblichen Kriminalität nehmen, wie allgemein, unter den Vermögensdelikten Unterschlagung und Erpressung, Begünstigung und Hehlerei ab (Tab. 7). Die an sich schon geringe Beteiligung am schweren Diebstahl geht erheblich zurück. Der Anteil an der Kuppelei nimmt seit 1884 ab, steigt im 1. Weltkrieg und ist 1970 auf 15% gesunken. Unter den Straftaten gegen das Leben nahmen Mord und gefährliche Körperverletzung ab; dagegen begehen Frauen Totschlag nahezu gleich häufig wie früher (Tab. 10). Sittlichkeitsdelikte spielen bei ihnen nach wie vor eine relativ geringe Rolle. Ebenso ist es mit den weiblichen Straftaten gegen die Ehre. Im Gegensatz dazu sind Meineid und falsche uneidliche Aussage gestiegen. In den letzten Jahren ist die absolute Zahl der Verstöße der Frauen etwa gleichbleibend, während sie bei den Männern geringfügig gesunken ist. 1950 machte die Beteiligung von Frauen mehr als 50% aus. Die Verurteilung von Frauen wegen falscher Anschuldigung nahm seit dem 1. Weltkrieg zu. Es fragt sich, ob Frauen die allgemeine Aggressivität zunehmend in dieser Form abreagieren. Denn unter den eigentlichen weiblichen Aggressionsdelikten haben Sachbeschädigungen und vorsätzliche Brandstiftung geringfügig abgenommen. Der Hausfriedensbruch ist ebenfalls zunächst zurückgegangen, wird aber seit einigen Jahren wieder häufiger. Er führt seit dem 2. Weltkrieg zu Freiheitsstrafen, vor allen Dingen als Verletzung von Aufenthaltsverboten durch Landstreicherinnen und Dirnen. Unter den spezifischen „weiblichen Straftaten" (Mittelhäußer) geht die Abtreibung, die bis in die dreißiger Jahre erheblich ansteigt,

615

in den fünfziger Jahren zurück. Hier spiegelt sich vermutlich vor allem die abnehmende Verfolgungsintensität wider. Über die Delikte gegen die Familie liegen leider keine älteren Vergleichszahlen vor. Nach der neueren Statistik gewinnt man den Eindruck, daß auf diesem Gebiet, parallel zu dem Verhalten der Männer, eine wichtige Zunahme der weiblichen Straffälligkeit liegt (Hellmer 1959 S. 66/57 u. Tab. 8). In der Frankfurter Frauenstrafanstalt stehen, wenn die Strafen unter 3 Monaten einbezogen werden, Unterhaltspflichtverletzungen neben Diebstahl an 2. Stelle. Die Verkehrsdelikte haben zwischen 1962 und 1966 ebenso wie bei den Männern auch bei den erwachsenen Frauen, besonders auffallend jedoch bei den heranwachsenden, zugenommen, seit 1968 scheinen sie in allen Gruppen zu fallen (Tab.5). Interessant ist noch die Feststellung, an welchen Straftaten Frauen etwa entsprechend ihrem Gesamtanteil und wo sie geringer, bzw. stärker beteiligt sind. Etwa ihrer Gesamtbeteiligung von 11—14% entspricht ihr Anteil an Beleidigungen, Unterhaltspflichtverletzung und Totschlag; darüber liegt ihr Anteil an den einfachen Vermögensdelikten, besonders weit darüber an falscher Aussage vor Gericht, Fremdabtreibung und Kuppelei. An falschen Anschuldigungen, fahrlässigen Falscheiden und Meineid (Tab. 7) sind sie zwar mehr als ihrem doppelten Anteil entsprechend beteiligt, doch immer noch längst nicht mit 50%. Alle diese Delikte, die ζ. T. als „typisch weiblich" bezeichnet werden wegen der „weiblichen Waffe Lüge" (Damrow S. 55) begehen Männer häufiger als Frauen. Die einzigen Straftaten, an denen Frauen mehr beteiligt sind als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, sind Eigenabtreibung und Kindes Vernachlässigung, Delikte, die entweder überhaupt oder doch fast nur von Frauen begangen werden können. Die absoluten Zahlen sind auch hier gering, was im ersteren Falle an der hohen Dunkelziffer liegt. Ganz erheblich unter ihrem Gesamtanteil liegen die von Frauen begangenen Straßenverkehrsdelikte, fast alle Gewaltdelikte wie vorsätzliche Körperverletzung, Mord, vorsätzliche Brandstiftung und schließlich schwerer Diebstahl und die Sittlichkeitsdelikte außer Blutschande, die sich ja auch als Gewaltdelikte und fast immer als Ausfluß von Aggressionen darstellen. Auch die beiden Rückfalldelikte Diebstahl und Betrug und schließlich die strafbare, weil öffentlich in Erscheinung tretende, Volltrunkenheit treten weit zurück. Das relativ häufige Auftreten von Totschlag ist als Extremhandlung extremer Charaktere oder Situationen zu erklären. Daß Totschlag von Frauen, abgesehen von Krisenzeiten, so viel häufiger begangen wird als Mord, hängt wohl damit zusammen, daß Frauen im allgemeinen nur im äußersten Affekt so gewalttätig reagieren und also die Mordattribute seltener angenommen werden können. Der Gesamtanteil

616

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

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618

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

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620

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug Tabelle 8 Verurteilungen wegen Verletzung der Unterhaltspflicht u. Vernachlässigung eines Kindes (A 9) Verurteilte

Verurteilt wegen

Jahr

insgesamt

männlich

weiblich

Frauen in %

Grundzahlen Verletzung der Unterhaltspflicht 170b

Vernachlässigung eines Kindes (170 d)

1955 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970

9061 10216 10626 11524 12 418 13479 12 682 12 864 11242

7852 8969 9226 9 939 10633 11802 11090 11249 10083

1209 1247 1401 1585 1785 1677 1592 1615 1159

13,3 12,2 13,1 13,8 14,4 12,4 12,5 12,6 10,3

1955 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970

288 297 265 206 261 296 231 197 159

63 75 59 47 60 71 65 55 44

225 222 206 159 201 225 166 142 155

78,0 75,0 77,7 77,0 77,0 76,0 71,8 72,1 72,3

der Frauen an diesen Extrem-Delikten ist überdies seit 1960 beträchtlich zurückgegangen, was immer in relativ ruhigen Entwicklungsperioden zu beobachten ist (Tab. 7, 10 u. 11). Bei den Minderjährigen war nach dem 2. Weltkrieg die Kriminalität ebenfalls allgemein und die Vermögenskriminalität im besonderen erheblich gestiegen. Sie fiel zwar zwischen 1947 und 1949 vorübergehend, nahm aber dann bei den männlichen Jugendlichen erheblich zu (Tab. 9, es hegen nur Zahlen der Polizeistat. vor). Die Mädchen folgten aufs ganze gesehen dieser erheblich ansteigenden Tendenz bei der Vermögenskriminalität nicht. Zwar nahmen bei ihnen Diebstahl, Unterschlagung und Betrug ab 1954 leicht zu, jedoch weit weniger als bei den Jungen. Bei den Heranwachsenden war die Tendenz sogar sinkend, auch Begünstigung und Hehlerei nahmen bei ihnen ab. An Eigentumsdelikten mit Gewaltanwendung sind lediglich die jungen Mädchen nennenswert beteiligt, wahrscheinlich, wie bereits gesagt, im Zusammenwirken mit männlichen Altersgenossen. Die Straffälligkeit gegen das Leben wird bei den Frauen unter 21 Jahren durch

Kindestötungen und Abtreibungen überlastet. Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung und schwere Körperverletzungen spielen bei ihnen eine sehr geringe Rolle. Nur leichte und fahrlässige Körperverletzungen nehmen, besonders bei den Heranwachsenden, absolut erheblich, wegen der noch größeren Zunahme bei den männlichen Heranwachsenden aber bei sinkender Beteiligung, zu. Es handelt sich wohl überwiegend um Verkehrsunfälle. Bei der Volltrunkenheit in Verbindung mit Verkehrsunfällen scheiden die Mädchen aus, während die bloße Volltrunkenheit auch bei ihnen, wenn auch nur geringfügig, zunimmt. Die Sittlichkeitsdelikte treten völlig zurück. Die Straftaten gegen die Ehre nehmen, wie auch bei den Frauen, ab. Jedoch sind die Minderjährigen mit Eides- und Verfahrensdelikten wesentlich stärker als diese und auch mehr als die altersgleichen Männer belastet. Untersuchungen müßten klären, ob es sich, wie zu vermuten ist, im wesentlichen um Kuppelei-, Vaterschafts- und Ehescheidungsverfahren handelt. Ähnliches gilt für die falsche Anschuldigung (Anzeigen wegen Sittlichkeitsdelikten?), bei der die Tendenz allerdings offenbar

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

621

Tabelle 9

Tabelle 10

Straffälligkeit der Jugendlichen in den Jahren 1947—1951 (Bundeskriminalstat. Brit. Zone 1947 bis 1949 S. 49,1950/51 S. 8/9 u. 11/12)

Mord und Totschlag 1924—1954 (Stat. BA A 9, 1953)

insg. Vermögensdelikte gesamt Straftaten gegen das Leben

Vermögensdelikte gesamt Straftaten gegen das Leben

Vermögensdelikte gesamt Straftaten gegen das Leben

Vermögensdelikte gesamt Straftaten gegen das Leben

Jahr weibl.

77 552

59 890

17 662

1 302

1165

137

msg.

1948 männl.

weibl.

59 860

47 681

12179

1 737

1523

214

1949 männl.

weibl.

insg. Vermögensdelikte gesamt Straftaten gegen das Leben

1947 männl.

1924 1925 1926 1927 1928 1929 1949 1950 1951 1952 1953 1954

insg.

Frauen

Mord %

Mädchen

%

193 185 170 124 90 69 200 136 110 138 145 98

35 34 26 14 10 5 52 26 17 15 15 12

18,1 18,4 15,3 11,3 11,1 7,2 26,0 19,1 15,5 10,9 10,3 12,6

14 9 6 11 3 3 9 8 4 5 13 4

7,3 4,9 3,5 8,9 3,3 4,3 4,5 5,9 3,6 3,6 9,0 4,2

insg.

Frauen

%

Mädchen

%

333 339 354 338 279 317 181 177 137 178 160 130

71 44 56 56 40 44 48 48 39 53 37 31

21,3 13,0 15,8 16,6 14,3 13,9 26,5 27,1 28,5 29,8 23,1 23,8

7 2 2 5 6 7 1 4 2 6

2,1 0,6 0,6 1,5 2,2 2,2 0,6 2,3 1,5 3,4

Jahr 52 417 2 447

42 283

10 188

2 174

273

insg.

1950 männl.

weibl.

53 063

45 282

7 781

3 348

3 004

344

msg.

1951 männl.

weibl.

61 748

52 623

8115

3 863

3 465

398

abnehmend ist. An "den Straftaten gegen die Familie sind die heranwachsenden Frauen in besonders hohem, die Männer übertreffendem Maße beteiligt. Die Kuppelei spielt bei den jugendlichen Mädchen keine, bei den heranwachsenden allerdings eine etwas größere Rolle. Die Betrachtung der Statistik ergibt zunächst, daß die Hehlerei ihre bei Frauen vorrangige Stellung verloren hat. Sie ist nicht mehr das Vermögensdelikt, „das Anlage und Lebensweise den Frauen zuweist" (Aschaffenburg S. 181; Roesner S. 588; Amelunxen S. 13). Ohne Konkurrenz steht an der Spitze der Vermögensdelikte

1924 1925 1926 1927 1928 1929 1949 1950 1951 1952 1953 1954

Totschlag





3

2,3

Tabelle 11 Mord und Totschlag 1963—1970 (Stat. BA A 9)* Jahr

Männer

Frauen

1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970

254 281 305 318 312 364 360 355

41 35 34 37 25 49 47 41

Frauen in 16,1 12,5 11,1 11,6 7,2 11,8 11,5 10,0

(* Totschlag begingen Frauen etwa 2—3mal so häufig wie Mord.)

622

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

der einfache Diebstahl, der anders als die Hehlerei eine selbständig begehbare Straftat ist. Er wird vorwiegend in den Formen begangen, die mit den wichtigsten Lebensbereichen der Frauen zusammenhängen: Taschen- und Warenhausdiebstahl, Diebstahl am Arbeitsplatz und in der Wohnung. Hinzu kommt der Beischlafdiebstahl der Prostituierten. Der Warenhausdiebstahl galt immer als ein typisch weibliches Delikt, über dessen kriminalpathologische Seite Untersuchungen vorliegen, die auf die Generationsphasen der Frauen verweisen (Birnbaum, Ronke). Die Untersuchung von W. Krause hat jedoch ergeben, daß Männer heute offenbar in ähnlichem Umfang Ladendiebstähle begehen wie Frauen. Bei abnehmender häuslicher Tätigkeit der Frauen und zunehmender der Männer kommen sich hier beide Geschlechter näher, weil sie den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind. Der Betrug hat allgemein beträchtlich zugenommen; mit ihrer Verselbständigung sind die Frauen in diese Entwicklung zum Hochstapler und Großbetrüger, aber auch zum kleinen Darlehensbetrüger, den typischen Massen-Straftätern der Industriegesellschaft, einbezogen worden, so daß nach 1950 das Verhältnis männlicher zu weiblichen Betrügern sich sogar ein wenig zuungunsten der Frauen verschoben hat. Bei Kuppelei, Meineid und falscher Anschuldigung, an denen die Frauen, abgesehen von Aussetzung, Kindestötung und Abtreibung, besonders stark beteiligt sind, haben sich Änderungen nur vorübergehend ergeben. Die Kuppelei, das Vermögensdelikt der Hausfrau, wird bis 1960 von Frauen häufiger als von Männern begangen. Sie hatte in diesem Jahrhundert zunächst nachgelassen, im 1. und nach dem 2. Weltkrieg aber wieder erheblich zugenommen, anfangs als Notdelikt der Kleinbürgerin, deren Wohnung erhalten geblieben war und die Nutzen aus der Besetzung des Landes zog. Gegenwärtig ist eine Einengung des Täterkreises und damit beträchtliche Abnahme festzustellen. Daß in zunehmendem Maße sie wieder von alternden Prostituierten begangen wird, ändert nichts an ihrem ökonomischen Grundcharakter, für den mehr die Kenntnis dieses Lebensstiles und damit die Möglichkeit ihn auszubeuten als „sexuelle Lüsternheit" bestimmend sind. Wenn Meineid und falsche Aussagen zugenommen haben, so spricht die Tatsache, daß sie vor allen Dingen in bestimmten Altersgruppen vorkommen, stärker für Situationsbedingtheit als für „weiblichen Hang zu Lügenhaftigkeit und Unaufrichtigkeit". Bei den in Frage stehenden Prozessen geht es wahrscheinlich um lebenswichtige, materielle und Prestige-Interessen. Falsche Anschuldigungen und das Ausweichen vor Gericht dürften die Waffen sein, mit denen die gesellschaftlich schwache Frau ihren Kampf ums Dasein zu führen versucht und wohl auch ihr schlechtes Selbstbewußtsein aufwerten zu können glaubt.

Die vorwiegende Motivation könnte nur durch Einzeluntersuchungen geklärt werden. Als von Anlage her typisch weibliches Delikt gilt auch die Beleidigung: „aus der Leichtfertigkeit zu erklären, mit welcher Frauen bei ihrer zu Klatschund Rachsucht, Neid und Mißgunst neigenden charakterlichen Veranlagung zumeist in vorgerücktem Alter mit scharfer Zunge die Ehre und den guten Ruf ihrer Nächsten verletzen" (Roesner S. 588). Dabei wurden 1960 auf 100 Männer nur 19 und 1970 gar nur 11 Frauen wegen Beleidigung verurteilt. Zu Anfang des Jahrhunderts allerdings war die weibliche Beteiligung höher. Das spricht für die Richtigkeit der Deutung von Aschaffenburg (S. 182) „ . . . ζ. T. tragen auch die ständigen Reibereien mit den Hausgenossinnen unter den beschränkten Wohnverhältnissen weiter Kreise die Schuld". Mit zunehmender Befreiung aus der Enge der Mietkasernen und Notunterkünfte (besonders seit 1954) und infolge der außerhäuslichen Beschäftigung der Frauen scheint diese „charakterliche Veranlagung" nachzulassen. Die Zunahme der falschen Anschuldigungen, parallel zur Abnahme der Beleidigungen, läßt vermuten, daß die lebensgewandtere Frau mehr dazu neigt, sich für ihre Querelen der Bürokratie zu bedienen. Besonders interessant ist, daß entgegen den Erwartungen mit zunehmender Emanzipation die weibliche Gewaltkriminalität nicht gestiegen ist. Anderes wird, allerdings ohne exakte Angaben, aus den USA von Rappaport (S. 7) berichtet. Es kann nicht angenommen werden, daß die Aggressivität der Frauen durch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation weniger gereizt wird als die der Männer. Sie äußert sich jedoch aufgrund von Schicksal und Erziehung überwiegend in masochistischer Form, in Schuldgefühlen, Verzweiflungen und ohnmächtigen Gefühlsausbrüchen (so auch Helene Deutsch). Lediglich an den extremsten Aggressionsdelikten, Mord und Totschlag, waren Frauen immer mit einem langsam abnehmenden, doch wenigstens beim Totschlag über ihrer allgemeinen Kriminalitätsquote liegenden Anteil beteiligt. In Ausnahmesituationen sind also Frauen, ebenso wie Männer, extrovertierter Heftigkeit, Kraft und ggf. auch Grausamkeit fähig. Doch haben auch diese Straftaten nicht etwa unter dem Einfluß der Emanzipation zugenommen, sondern sind seit der Stabilisierung nach dem 2. Weltkrieg zurückgegangen, seit 1968 allerdings wieder angestiegen (Tab. 10). Zunächst war auch hier, besonders beim Mord, die weibliche Kriminalität verhältnismäßig mehr als die männliche erhöht. Sie fiel aber von 1950—1954 auf weniger als ein Viertel und später noch wesentlich darunter. Die Beteiligung am Totschlag war lediglich wegen der relativ wenigen Verurteilungen von Männern höher als vor dem Kriege. Der hohe Anteil und der vorübergehende Anstieg der weiblichen Mord- und Totschlagsziffern in Krisenzeiten

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug widerlegt Lombrosos Ansicht, daß einen Mord zu „planen und auszuführen . . . nicht nur körperliche Kraft, sondern auch eine gewisse intellektuelle Energie und Planmäßigkeit erfordert, gerade daran aber fehlt es dem Weib" (1902 S. 164). Auch die Behauptung, beim von Frauen begangenen Mord überwiege der sexuelle Hintergrund (Roesner S. 590; Gummersbach), muß analysiert werden. Zwar sind die Opfer überwiegend Ehemänner, doch stand bei 18 Täterinnen in der Frauenstrafanstalt Frankfurt das materielle Motiv zusammen mit Abwehr gegen scheinbar ausweglose Quälerei im Vordergrund. Liebe und sexueller Ekel spielen zwar die 2. Rolle, bleiben aber zahlenmäßig weit zurück. Auch kann „Liebe" nicht unbedingt mit Sexualität gleichgesetzt werden. Die Brandstiftung hat ebenfalls laufend abgenommen. Die vorsätzliche spielt heute nur noch bei Mädchen als pathologisches Pubertätsdelikt eine Rolle. In der Strafanstalt tritt sie nicht selten bei Jugendlichen während der Menstruation in Erscheinung. Im ganzen bietet die freiere Gesellschaft, offenbar besonders bei erwachsenen Frauen, andere Lösungsmöglichkeiten für Frustrationen. Weibliche Sittlichkeitsdelikte treten nach wie vor kaum auf. Hier dürfte allerdings die Dunkelziffer hoch sein, ζ. B. bei Blutschande zwischen Mutter und Sohn. Sicherlich ist sie jedoch weit seltener als zwischen Vater und Tochter und wohl immer ein Zeichen von gleichsam „archaischer" Primitivität der Verhältnisse oder Abartigkeit (so auch v. Hentig, 1962 a). Wo die Prostitution, ausschließlich für die beteiligte Frau, strafbar ist, verschiebt sie zu Unrecht die statistisch erfaßte Sittlichkeitskriminalität zuungunsten der Frau. Die Beteiligung der Frauen an Verkehrsdelikten ist vorläufig noch relativ gering (Tab. 6 a). Das hängt offenbar auch mit der zahlen- und streckenmäßig geringeren Teilnahme am Straßenverkehr (so Middendorf, 1963 S. 40), aber auch wohl mit größerer Ängstlichkeit und Vorsicht zusammen und mit der Seltenheit weiblicher Trunkenheit am Steuer, auch wohl als Folge des geringeren Selbstbewußtseins der Frauen, besonders in technischer Beziehung. Auch diese für unsere Zeit typische Abreaktion von Aggression ist insoweit von Frauen bisher kaum übernommen worden. Ebenso waren nach Muchow ja Mädchen an den Halbstarkenkrawallen nur mit 5% und „am Rande" beteiligt (S. 126). Lediglich bei den Heranwachsenden — und das in allerletzter Zeit — deutet sich möglicherweise eine neue Tendenz an. Trotzdem blieb 1966 auch hier das Verhältnis noch unter 10%. Diese vorläufige Auswertung zwingt zu einer Neuorientierung über das, was bisher in der Kriminologie als „typisch" weiblich galt. Die Charakterisierung ζ. B. von Unaufrichtigkeit, Neigung zu Kuppelei und Beleidigung als zur Straffälligkeit führenden, wesensmäßig weiblichen Eigenschaften kann nicht aufrecht erhalten wer-

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den. Es handelt sich vielmehr um Mittel zur Durchsetzung lebensnotwendiger, materieller Interessen und zur Herstellung des ebenso notwendigen inneren Gleichgewichts, zu denen die Frauen aufgrund ihrer besonderen sozialen Lage greifen zu müssen glauben. Das Fortbestehen traditioneller Lebensformen bzw. traditioneller Positionsschwächen läßt sie alte Methoden beibehalten, wie ζ. B. Kuppelei und Unaufrichtigkeit im Gerichtsverfahren, wenn sie in scheinbar auswegslose Lagen geraten. Die in ihrer gesellschaftlichen Stellung eingetretenen Veränderungen andererseits, wie vor allem die größere Selbständigkeit im Berufsleben, wirkt sich in einer Verlagerung der Delikte und Begehungsformen aus, wie ζ. B. im Wechsel von der Hehlerei zum Diebstahl am Arbeitsplatz und im Hervortreten der Vergehen gegen die Familie, insbesondere der Unterhaltspflichtverletzung, die erst mit der infolge eigener Erwerbstätigkeit auch für die Frauen entstehenden Verpflichtung zur finanziellen Sorge für die Kinder relevant wurde. C. Die weibliche Kriminalität in Krisenzeiten Sie ist ein besonders typischer Fall weiblichen Reagierens auf eine bestimmte soziale Situation. Im ersten Weltkrieg begann die Straffälligkeit der Frauen vom dritten Kriegsjahr an merklich zu steigen und hielt sich dann bis 1924 in etwa gleicher Höhe. Von 1916 ab wirkten sich Hunger und Kälte katastrophal aus. Außerdem trugen die Frauen die Last von Beruf und Familie für die eingezogenen und gefallenen Männer. Dieser Zustand überdauerte den Krieg, da die Männer ζ. T. spät, ζ. T. gar nicht zurückkehrten. Die Kriegsheimkehrer mußten sich im zivilen Leben erst wieder zurechtfinden, die Ehen litten Not, der Hunger hielt an, die Frauen verloren, meist übergangslos durch die Demobilmachung, zugunsten der Männer ihre Arbeitsstellen. Heiratschancen bestanden für einen großen Teil nicht mehr, so daß ihre wirtschaftliche Lage insgesamt besonders schlecht war. Unter diesen Umständen von einer besonderen „Krisenanfälligkeit" der Frau zu sprechen, als ob es sich um ihre „Vermännlichung durch das Verlassen des häuslichen Rahmens handele (Exner S. 198, Koppenfels S. 23), trifft die Wirklichkeit nicht. Es geht vielmehr um eine außergewöhnliche Überlastung der Frauen, die die Sorge für Arbeitsplätze und Kinder, meist unvorbereitet, allein zu tragen haben, und also um eine ganz unmittelbare Notlage, die nicht einmal nur das eigene Wohl, sondern das der Allernächsten, von ihnen Abhängigen mitbetrifft (Mittermaier S. 49, Koppenfels S. 41). Erst in zweiter Linie kommt als weitere Gefährdung die Lockerung der Sitten hinzu, von der die jungen Frauen und Mädchen besonders betroffen werden (Koppenfels S. 14). Diese Auflockerung

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

624

wirkt sich bei den Männern zwar auch aus, aber nicht im Bereich der ordentlichen, sondern der Kriegsgerichtsbarkeit. Während der Inflation stieg die männliche Kriminalität in ähnlicher Weise an, d. h. bei beiden Geschlechtern nahmen die Eigentumsdelikte zur Beschaffung des notwendigen Lebensbedarfes zu. Eine Erhöhung der Gewaltkriminalität trat bei den Frauen dagegen nicht ein. Die nach der Inflation einsetzende Abnahme der weiblichen Straffälligkeit wurde, außer bei den Heranwachsenden, durch die schwere Wirtschaftskrise von 1930—1938 nicht unterbrochen. Es scheint, daß wenigstens bei erwachsenen Frauen nur schwere Katastrophen und der Ausfall der Familienväter zu einer Krisenkriminalität führen. Der zweite Weltkrieg und die folgenden Jahre lasteten auf den Frauen noch wesentlich schwerer als der erste und die ihm folgende Inflation. Bombenterror, Kriegshandlungen im Lande, Besetzung, Hunger nach dem Zusammenbruch, Verlust von Habe und Heimat, Flüchtlingsschicksal (Memminger S. 71), lange Abwesenheit der Ehemänner und Väter, ihr zahlenmäßig viel größerer Ausfall, die seelische Zerstörtheit der Zurückkehrenden, alles das stellte außerordentliche Anforderungen an die Frauen (Bader, 1949, S. 26). Auch die persönliche Gefährdung der jüngeren, kriegsverpflichteten und in Gefangenschaft geratenen Frauen war ungleich stärker. Exakte statistische Angaben aus diesen Jahren fehlen (Rangol, 1961, S. 131). Als es sie wieder gab, zeigte sich erneut eine erhöhte Kriminalität der Frauen. Für die Jahre 1946/47 ergaben Sonderuntersuchungen (Bader, 1961, S. 153) in Bayern: Zunahme von Verwahrlosung, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, Erhöhung der weiblichen Beteiligung an einfachem und schwerem Diebstahl, Unterschlagung und Hehlerei (S. 103, 153), eine gewisse Zunahme auch bei der weiblichen Gewaltkriminalität wie Mord, Totschlag, Kindestötung (S. 36), Zunahme von falschen Anschuldigungen (S. 114 u. 156). Bei allen Delikten tritt jedoch schon 1947 wieder ein Rückgang ein. Über die Verhältnisse in Berlin liegt eine Untersuchung für die Jahre von 1946—1954 vor. Danach ist die Kriminalität der Frauen im Verhältnis zu der der Männer hier besonders stark angestiegen, was sich aus der besonderen Situation Berlins am Kriegsende und in der Nachkriegszeit erklären dürfte (Tab. 12).

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Interessanterweise stieg in Berlin die weibliche Kriminalität, deren Kurve ebenso wie die der Männer bis 1951 absank, ab 1952 bei allen Altersgruppen parallel zur Kriminalität der erwachsenen, aber im Gegensatz zu der der jungen und jugendlichen Männer wieder an. Das gilt für den einfachen und den schweren Diebstahl (Pingel S. 153). Bei der Hehlerei liegen die Zahlen für die Frauen 1946 sogar über denen für die Männer. Sie sinken dann, steigen aber ebenfalls erneut (1954:

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug 70%). Beim Betrug ist bei steigenden absoluten Zahlen für die Erwachsenen beider Geschlechter das Verhältnis für die Frauen günstiger (1947: 43%, 1953: 32,5%, 1954: 35%). Die Vermögenskriminalität der Frauen blieb also verhältnismäßig lange hoch, was wohl mit der in Berlin länger andauernden Notsituation zusammenhängt. In den übrigen Deliktsgruppen ist eine entsprechende Steigerung nicht festzustellen. Bei der Mord- und Raubstatistik lassen die geringen Zahlen keine Schlüsse zu. An den Körperverletzungen sind die Frauen 1947 mit 20% beteiligt (S. 160), 1949 nur noch mit 10,8%, 1954 mit 11%. Möglicherweise wird das danach zu erwartende weitere Absinken durch die Verkehrskriminalität auch bei den Frauen aufgehalten. Die Verurteilungen von Frauen wegen Kuppelei übersteigen in allen Jahren außer 1953 und 1954 die von Männern. Auch bei den weiblichen Jugendlichen stieg im zweiten Weltkrieg die Kriminalität stärker als im ersten. Die absoluten ZaMen haben sich 1942 gegenüber 1937 im Reichsdurchschnitt mehr als verdoppelt, während sie 1916 gegenüber 1913 nur um Ys gestiegen sind. Bei einer Untersuchung der Verhältnisse im Landkreis Pinneberg in den Jahren 1939—1945 (Frenzel) wurden auch 58, das waren 18% Mädchen überprüft. Ihre Beteiligung an Diebstählen machte 25% aus und lag damit über ihrer Insgesamt-Beteiligung. Von 3 Brandstiftungen wurden 2 von Mädchen begangen. Wie bei den Jungen war auch bei ihnen die Kriminalität mit 17 Jahren am höchsten, doch waren verhältnismäßig weniger jünger als 15 Jahre. Als Ursache für den Anstieg der weiblichen Jugendkriminalität gibt Frenzel die Eingliederung der Mädchen in den Arbeitsprozeß an (S. 33); gemeint ist wohl vor allem die Heranziehung zum Arbeitsund Wehrdienst, die für die ζ. T. bis dahin im Familienleben eng gebundenen Mädchen eine besondere Gefährdung bedeutete. Zu erwähnen ist hier noch eine Untersuchung von Mergen über die Tiroler Karrner, eine Volksgruppe am Rande der Gesellschaft, die sich, ähnlich wie die Zigeuner, dauernd in einer Art Krisensituation befindet (S. 27). Auch hier ist die Kriminalität der Frauen mit 44,7% sehr hoch, wobei es sich jedoch überwiegend um Bagatelldelikte handelt, der kleinere Teil entfällt auf ernsthafte Straftaten. Bei den Männern ist das umgekehrt. Auch in diesen sozialen Verhältnissen tragen die Frauen die Hauptlast der Sorge für die Familie. Durchweg wird die weibliche Krisenkriminalität als Konsequenz der Übernahme männlicher Arbeit durch die Frauen gesehen, also auf die berufliche Emanzipation geschoben (Pollak, S. 58; Koppenfels, S. 23). Μ. E. kann das aus den bisher angeführten Daten nicht gefolgert werden. Die Kriminalität der Frauen ist jeweils nach dem Ende der Notzeiten wieder gefallen, während die Berufstätigkeit der Frauen, insbesondere nach 40 HdK, 2. Aull., Bd. III

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dem zweiten 2. Weltkrieg, nicht ab-, sondern zugenommen hat. Vielmehr ist die Krisenkriminalität, die fast ausschließlich Vermögens- und Gelegenheitskriminalität ist, klassische Notkriminalität und liegt die Erklärung für die „Krisenanfälligkeit" der Frauen darin, daß viele von ihnen in Notsituationen besonders überfordert werden, weil sie ohne jede Vorbereitung und ohne die gewohnte Unterstützung durch den Ehemann die durch den Mangel noch erschwerte, volle Verantwortung für die Familie und eine ungewohnte Berufstätigkeit übernehmen müssen. Der Hinweis auf die erhöhte weibliche Straffälligkeit in den nicht kriegführenden Ländern Europas spricht nicht gegen diese Erklärung, denn auch in diesen Ländern herrschte Mangel und wurde die Frau durch berufliche und familiäre Verpflichtungen anstelle der durch militärische Aufgaben abgezogenen Männer überfordert. Ähnlich dürfte es bei den Karrnerinnen sein, die nicht etwa in männlichen Berufen, also emanzipiert, tätig sind, sondern die lediglich oft in großer Not leben, wenn die sich ungeordnet verhaltenden Männer sie mit der Sorge um Familie und insbesondere Kinder allein lassen. D. Tatort, Alter, Begehungsart Die geographische Verteilung der weiblichen Straffälligkeit entspricht etwa der männlichen, lediglich in der Großstadt — heraus fällt allerdings im Jahre 1966 Hamburg — scheinen Frauen noch stärker gefährdet zu sein. Am höchsten ist die Straffälligkeit in Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern, dann folgten 1953 Land und Kleinstadt, ab 1962 umgekehrt Kleinstadt und Land (Pol. Stat. 1953 u. 1962). Diese Umkehrung beruht darauf, daß die Kriminalitätsziffer auf dem Lande gleich blieb, während sie in den Städten anstieg. Insgesamt schnitten die Frauen in Bremen, BerlinWest, Hamburg, Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg am schlechtesten ab (Tab. 13). In Berlin ist die Straffälligkeit der Jugendlichen beider Geschlechter erheblich höher als im Bundesdurchschnitt und erinnert damit an die Krisenkriminalität. Die der heranwachsenden Frauen liegt lediglich in Hamburg (wie auch in früheren Jahren) und Saarland überraschend niedrig. Wenngleich alle regionalen Vergleiche wegen der unterschiedlichen Strafverfolgungspraxis fragwürdig sind, so weisen auch diese Zahlen doch auf die hohe Umweltabhängigkeit der weiblichen wie der jugendlichen Kriminellen hin. In den außerdeutschen Ländern war zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Straffälligkeit der Frauen in kapitalistisch entwickelten Ländern besonders hoch (Lombroso 1902 S. 161); so war sie in Großbritannien am höchsten, in den noch feudalistischen Ländern wie Argentinien und Algerien am niedrigsten. In den zwanziger Jahren dieses Jahr-

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

626

Tabelle 13 Die Straffälligkeit der Frauen in den Bundesländern (Stat. BA 1970, A 9)

Land

Schleswig-Holstein Hamburg Niedersachsen Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Saarland Berlin-West

auf 100 000 d. betr. Bev.gruppe, 1970

Grundzahlen Frauen in %

insges.

1960

1966

1970

10,2 11,3 9,9 11,3 10,4 11,3 11,4 10,9 12,5

9,3 8,9 9,1 10,6 11,0 11,5 10,7 11,0 11,3 9,9 14,6

11,7 14,7 11,7 10,4 12,9 14,4 14,2 13,4 12,8 11,5 14,4

.10,7

hunderte war sie in den Agrarländern Finnland (4,9), Kanada (6,8), Griechenland (6,3) ebenfalls wesentlich niedriger als in den Industriestaaten Belgien (34,2), England (10,5), Frankreich (20,1) und Deutschland (16,7) (Roesner S. 693). 1952 war es zu einer größeren Angleichung gekommen: Österreich 17%, Finnland 4,6%, Schweden und Japan 6,3%, England und Frankreich 9,8%, Belgien 25,6%, Ungarn und Portugal 22,6% (Neumaier S. 8). Solche Vergleiche können wegen der Verschiedenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, Vorstellungen und Gesetze nur gewisse Tendenzen andeuten. Middendorff (1953 S. 34) stellt fest, daß die weibliche Jugendkriminalität überall da wächst, wo die Verwahrlosung gerichtlich belangt wird. Das ist ζ. B. in Teilen von USA der Fall (Einsele 1939). Gewisse quantitative Unterschiede zeigen sich bei der weiblichen Kriegskriminalität in Deutschland und Österreich. Bei grundsätzlich gleichem Anwachsen nehmen in Österreich vor allem die Aggressionsdelikte und die Kriminalität auf dem Lande zu. Hier trat außerdem neben dem Diebstahl die falsche Aussage vor Gericht stärker in den Vordergrund, offenbar in Vaterschaftsprozessen (Neumaier). Diese Erhöhung hielt 1954 noch an (Reckenzaun). In USA waren nach Bauer (1957) 1943 Frauen mit 15,5%, Mädchen mit 19% an der Straffälligkeit ihrer Altersgruppe beteiligt (S. 54). Die Gefährdung der Mädchen hat dort nach dem Kriege offenbar nicht abgenommen. So waren in den fünfziger Jahren unter 1,5 Millionen der Polizei bekannten Jugendlichen 350 000 = 23,3% Mädchen (Selvidge S. 42). Bei den Frauen wird in USA, ohne Zahlenangaben, eine Tendenz zur

Jugend!.

Heranw.

Erwachs.

1970 255 362 293 441 339 332 356 346 333 195 366

487 249 501 524 508 509 484 449 454 147 808

604 278 679 540 615 648 753 746 809 393 582

222 371 256 432 312 303 322 315 299 187 343

Begehung typisch männlicher, aggressiver Gewaltdelikte festgestellt (Rappaport S. 7). Bei den erwachsenen Frauen stehen Diebstahl und Betrug mit 17% an der Spitze, bei den Minderjährigen führt mit Abstand wie in Deutschland der einfache Diebstahl (Fritz Bauer 1957 S. 64). Im Jahre 1961 war das Verhältnis der verhafteten Frauen in USA zu den verhafteten Männern in den Städten 1 : 8, auf dem Lande 1 : 1 0 (Reckless S. 2). Hier nimmt übrigens die weibliche Kriminalität intensiver zu als in der Stadt und im Verhältnis mehr als die männliche, d. h. sie holt auf. Das Alter, in dem die Frauen erstmals straffällig werden, weist keine umfassende Statistik aus. Nach Einzelfeststellungen liegt es jedoch über dem der Männer. In der Gruppe von Brauneck (1961 S. 37, 49) wurden zwar 11,4% der Mädchen, aber nur 9,4% der Jungen mit 12 Jahren, mit 13, 14 Jahren jedoch 41,8% der Jungen und nur 22,7% der Mädchen, mit 15 Jahren etwa gleichviele von beiden Geschlechtern und mit 16 und 17 mehr Mädchen als Jungen straffällig. Die Mädchen waren bei ihrer 1. Straftat durchschnittlich 15,1, die Jungen 14,8 Jahre alt. Nach der Strafvollzugsstatistik (Stat. BA A9, 1966) waren am 31. 3.1966 von den männlichen Gefangenen und Verwahrten 1,1%, von den weiblichen nur 0,6% zwischen 14 und 18 Jahren (1962 war das Verhältnis sogar 2,2 :0,5 gewesen). In einer in der Frauenstrafanstalt in Frankfurt/M. untersuchten Gruppe (Einsele 1968 S. 33) waren bei ihrer ersten Verurteilung 56% unter 25 Jahren, aber nur 28% unter 21 Jahren. Die früh straffällig gewordenen Frauen gehörten überwiegend zu den

Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug später häufig Rückfälligen, diejenigen aber, die bei der 1. Straftat älter als 40 Jahre waren, zählten ausnahmslos zu den „Gelegenheitstäterinnen" (S. 54/55). Von den später als „Hangtäterinnen" bezeichneten hatten 83% mit Straftaten als Folge von Verwahrlosung begonnen. Das ist auch nach Mergen (1963 S. 166) und Teuber (S. 46/47) überhaupt typisch für Mädchen, auch für die, die sich später eingliedern. Von 196 Frauen, die 1958 und 1959 aus der Frauenstrafanstalt Gotteszell entlassen worden waren, hatten l/3 ihre erste Straftat als Jugendliche, knapp die Hälfte als Heranwachsende und Vs als Jungerwachsene begangen (Memminger S. 108ff.). Die in Haft befindlichen weiblichen Gefangenen sind ebenfalls im Durchschnitt älter als die männlichen, außerdem bleiben Frauen länger straffällig als Männer. So lag nach der Strafvollzugsstatistik (Stat. B A A 9 I I I 1966) das Alter der Hauptgruppe (65%) von männlichen Zuchthausgefangenen zwischen 25 und 40 Jahren, das der weiblichen (65%) zwischen 30 und 50. Bei den Männern sanken die Zahlen bei mehr als 40 Jahren fast auf die Hälfte, bei den Frauen erst über 50 und dann nur um x/3 (so auch Lövenich S. 195). Von den Gefängnisgefangenen waren 84% der Männer, aber nur 69% der Frauen unter 40 Jahren. Auch von England wird berichtet, daß sich ältere Männer eher adaptieren als Frauen (Elliot S. 220). Bei den mit Haft Bestraften ist es umgekehrt, die Frauen konzentrieren sich in den jüngeren Gruppen, die Männer sind älter (74% bzw. 65% unter 40 Jahren, Stat. B A A 9 I I I 1966). Das Delikt, mit dem Frauen meist beginnen, ist der Diebstahl. Bei von Einsele untersuchten 313 Frauen (1968 S. 37) hatten etwa 50% zuerst einen Diebstahl begangen, 11,5% waren zuerst mit Haft bestraft worden, 9% fingen mit einem Betrug (Memminger 10%) und 5% (Memminger 7 % ) mit einer Unterschlagung an. Eine hohe Zahl der Straftaten stand in engstem Zusammenhang mit Verwahrlosung. Es zeigte sich auch, daß die Diebinnen zum großen Teil schon als Kinder angefangen hatten, zu stehlen. Die Betrügerinnen fingen wesentlich später an, frühestens als Heranwachsende, 50% einer von Kitz ( I V ) untersuchten Gruppe sogar erst mit dem 25. Lebensjahr. Die meisten Straffälligen in der Gruppe von Einsele (S. 34/35) waren zwischen 21 und 30 Jahre alt (so auch Lövenich S. 193) und nicht, wie noch von Lombroso (1902 S. 170) angegeben wurde, zwischen 31 und 40 Jahren. Darin liegt eine gewisse Annäherung an die männliche Straffälligkeit. Die Kuppelei ist, ebenso wie die Abtreibung, noch immer die Straftat der Frauen über 40 (so auch Hagemann S. 1059). Bei zunehmendem Alter tritt der Diebstahl zurück und nimmt der Betrug zu. Unterhaltspflichtverletzung und Kindesvernachlässigung werden naturgemäß vor allem in den Jahren zwischen 20 und 40 begangen. Meineid gibt es in allen 40*

627

Altersstufen, wobei es sich offenbar bei den jüngeren Frauen unter 40 Jahren um Vaterschaftsprozesse, Kuppelei- und Ehescheidungsverfahren handelt (Einsele 1968 S. 40). Die Art der Tatbegehung richtet sich nach den spezifischen Umweltbedingungen (Hagemann S. 1053). Eine nähere Analyse fördert bei den Frauen einzelne Besonderheiten zutage, die bei Männern anders liegen. Ζ. Β. steht eine große Zahl der von Frauen und Mädchen begangenen Vermögensdelikte in Zusammenhang mit Streunen und h. w. G. Dabei spielen nicht etwa sexuelle Motive die Hauptrolle, vielmehr liegt in einer männlich bestimmten Gesellschaft hier das Gebiet, das den beruflich meist schlecht ausgerüsteten Frauen, die von der Emanzipation kaum erreicht sind, ohne besonderen Einsatz mit männlicher Hilfe die beste Existenzmöglichkeit zu bieten scheint. Weitere Untersuchungen beweisen, daß die Methoden der Tatausführung bei Frauen und Mädchen durchweg besonders einfach sind. Unter den Vermögensdelikten spielen anfangs der einfache und der Diebstahl i. R. ohne Verbindung zu anderen Straftaten die Hauptrolle, während später Betrug und Unterschlagung einen größeren Raum einnehmen. Der Tatablauf ist primitiv. Bei 75 von Klingler und Neumann ( I V ) untersuchten Diebstählen erwachsener Frauen waren 50 Bekannte geschädigt worden, 47 Frauen hatten am Arbeitsplatz und in der Wohnung gestohlen (ähnlich Memminger S. 123), 20 begingen Laden- und Einschleichdiebstähle. Die meisten beschränkten sich auf eine Gattung Diebesgut (Geld, Textilien), der Wert war gering. Auffallend war der Mangel an Planung (so auch Brauneck, 1961, S. 15, 199, 205). Bei weiblichen Jugendlichen ist das nicht anders (Schmidt S. 292). Auch sie werden unter spontaner Ausnutzung sich bietender Gelegenheiten straffällig. Das Risiko steht in keinem Verhältnis zum Erfolg. Gestohlen wird an Arbeitsstellen und in Wohnungen, an Wochentagen (Jungen am Sonntag) und vorwiegend zwischen 14 und 18 Uhr (Jungen abends oder nachts). Verwendet werden gefühlsbetonte Tricks, und es wird auf erotisch gefärbtes Mitleid spekuliert. Häufig folgen die Handlungen dem Streunen. Für die Mädchen ist die Neigung zur Flucht aus den Unzuträglichkeiten ihres Lebens kennzeichnend (so für USA auch Rappaport S. 9). Sie reagieren selten aggressiv nach außen. Nur sehr junge Mädchen handeln ähnlich wie Jungen, weil ihr Selbstbewußtsein wohl noch ungebrochener ist (so auch Deutsch und Beauvoir). Ein auffälliges Merkmal weiblicher Tatbegehung ist, daß Frauen und Mädchen überwiegend — manchmal allerdings unter männlichem Einfluß — allein handeln („lone-wolf-doers" Reckless S. 5) und nur sehr selten in Banden. Brauneck (1961 S. 201, 204) findet 90% Mädchen allein handelnd gegenüber 50% Jungen, wobei es unter diesen die schwer

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Weibliche Kriminalität und Frauenstrafvollzug

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