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German Pages 254 [256] Year 1992
Thomas Spitzley Handeln wider besseres Wissen
W DE G
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland
Band 30
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992
Handeln wider besseres Wissen Eine Diskussion klassischer Positionen von
Thomas Spitzley
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Spitzley, Thomas: Handeln wider besseres Wissen : eine Diskussion klassischer Positionen / von Thomas Spitzley. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 30) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-11-013507-8 NE: GT
© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, D-1000 Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, D-1000 Berlin 61
M. P. A.
Vorwort Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine in Teilen überarbeitete Dissertation, die Ende 1989 an der Universität Hamburg angenommen wurde. Für Hinweise zur Überarbeitung danke ich den Herausgebern. Einige Ergebnisse aus den Kapiteln 4 und 5 sind schon früher veröffentlicht worden, und zwar in Ratio (New Series), 1989 und 1990. Ich danke dem Herausgeber von Ratio, E. Craig, von diesem Material erneut Gebrauch machen zu dürfen. Finanziell wurde ich während der Arbeit an diesem Buch durch ein DAAD-Stipendium für einen Forschungsaufenthalt am St. John's College, Oxford, und durch ein Graduiertenstipendium des Cusanuswerkes unterstützt. Beiden Institutionen danke ich sehr. Inhaltlich habe ich in vielfacher Hinsicht von Diskussionen mit Freunden und Kollegen profitiert. Mein Dank für ihre kritischen Kommentare und präzisierenden Nachfragen gilt G. P. Baker, S. Dähnhardt, G. Graßhoff, M. Klatetzki, J. Kulenkampff, G.Meggle, L.Schäfer und G.Weyers. Ganz besonders danke ich Wolfgang Künne, der die Arbeit in all ihren Stadien ebenso wohlwollend wie kritisch begleitet hat. Th. Spitzley
... trahit sua quemque voluptas. Vergil Wenn wir unsern Leidenschaften widerstehen, danken wir es mehr ihrer Schwäche als unserer Stärke. La Rochefoucault
Hundert irreleitende Bilder kommen hier zusammen, und das macht die Schwierigkeiten der philosophischen Situationen aus. Wohin wir treten, wankt wieder der Boden. Die ,großen', schwierigen Probleme der Philosophie sind es nicht etwa dadurch, daß hier ein unerhört subtiler und geheimnisvoller Sachverhalt ist, den wir erforschen sollen, sondern dadurch, daß an dieser Stelle eine große Zahl irreführender Ausdrucksformen sich kreuzen. Wittgenstein
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Sokrates und Platon ber Handeln wider besseres Wissen 1.1 Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten 1.1.1 Zur Semantik von „insofern" und „insoweit" . . . . 1.1.2 Sokrates' Ausgangsthesen 1.1.3 Die Ansicht der Vielen 1.1.4 Synonymie oder analytische quivalenz 1.2 Hedonismus im Protagoras 1.3 Die Beziehung zwischen επιστήμη und τέχνη 1.4 Das sokratische Paradox 1.4.1 berw ltigtwerden 1.4.2 Kritik an der Substitution 1.4.3 Andere Erkl rungen von Handeln wider besseres Wissen 1.4.4 Das Abw gen 1.4.5 Die μετρική τέχνη 1.4.6 Sokrates' eigene Erkl rung 1.4.7 Der Absurdit tsvorwurf 1.5 Handeln wider besseres Wissen in der Politeia 1.5.1 Die Seelenteile 1.5.2 Die Seele im Konflikt 1.5.3 Metaphern in der Rede ber Handeln wider besseres Wissen 1.5.4 Die gesunde Seele und die Aufgabe der Erziehung . 1.6 Zusammenfassung 2
Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia 2.1 Der Anwendungsbereich der Begriffe Akrasia und Enkrateia 2.1.1 Abgrenzung gegen ber Besonnenheit, Zuchtlosigkeit und Starrsinnigkeit 2.1.2 Das Verh ltnis von Akrasia und Willensschw che . . 2.2 Die aristotelische Problemformulierung 2.3 Wissen
l 5 6 9 12 14 14 19 25 29 32 33 36 38 41 42 43 47 48 51 53 56 59 63 67 69 70 74 77
xii
Inhaltsverzeichnis
2.4 2.5
2.6
2.3.1 Aktuelles Wissen 2.3.2 Zwei Arten von dispositionalem Wissen 2.3.3 Gegenstände des Wissens 2.3.4 Wissen und Handeln Die aristotelische Argumentation Das aristotelische Bild von Akrasia 2.5.1 Das Wissen des Akratikers 2.5.2 Die Äußerungen des Akratikers 2.5.3 Metaphern in der Rede über Akrasia 2.5.4 Willentlich oder unwillentlich 2.5.5 Die Ursachen von Akrasia 2.5.6 Die Antwort auf Sokrates Zusammenfassung
3 Thomas von Aquin über Incontinentia 3.1 Der Anwendungsbereich des Begriffs Incontinentia 3.2 Wissen, Leidenschaft und Handeln 3.3 Das Wissen des Incontinenten 3.4 Der Argumentationsverlauf bei Incontinentia 3.5 Willentlich oder unwillentlich 3.6 Thomas von Aquin und Aristoteles 4
77 79 80 81 83 90 93 95 97 100 102 103 109 111 112 114 116 118 120 122
Moral Weakness bei Hare 125 4.1 Grundzüge von Hares präskriptivistischer Ethik 127 4.1.1 Die Bedeutung von „sollen" 128 4.2 Psychische Unfähigkeit 129 4.3 „sollen" ist zurückzuziehen 136 4.3.1 Fehlendes Wissen 138 4.4 Die abgeschwächte Bedeutung von „sollen" 143 4.5 Die Zustimmung zu einem Moralurteil 146 4.6 Handeln wider besseres Wissen in Moral Thinking 148 4.6.1 Die Zwei-Stufen-Theorie moralischen Denkens . . . 149 4.6.2 Moralische Konflikte und Handeln wider besseres Wissen 153 4.7 Hare im Vergleich 157 4.7.1 Haxe und Sokrates 158 4.7.2 Hare und Aristoteles 160 4.8 Zusammenfassung 161
Inhaltsverzeichnis 5 Davidson über Incontinence 5.1 Die logische Form von Evaluationen 5.2 Die Beziehung zwischen Evaluationen und Handlungen 5.3 Haxe und Davidson über Evaluationen 5.4 Präzisierungen 5.4.1 Die Evidenzkomponente 5.4.2 Alles in allem Urteile 5.5 Verstoß gegen das Kontinenzprinzip 5.6 Erklärung der Irrationalität 5.7 Davidson im Vergleich 5.7.1 Davidson und Hare 5.7.2 Davidson, Aristoteles und Thomas 5.7.3 Davidson und Platon 5.8 Möglichkeit und Wirklichkeit
xiii 165 171 . . 176 184 187 188 191 194 202 211 212 213 214 216
Literaturverzeichnis
225
Personenregister
235
Sachregister
237
Einleitung „... Einsicht fehlt Den meisten nicht, ganz anders liegt der Grund: Was recht ist, sehen wir und wissen wir Und tun es doch nicht, seis aus Lässigkeit, Seis weil die Lust des Augenblicks das Werk Verdrängt, und mancherlei Verlockung gibts: Endlos Geschwätz, den lieben Müßiggang, Die falsche Scham, die alles unterdrückt."1 Wer kennte nicht aus eigener — leidvoller! — Erfahrung, wovon die Königin Phaedra spricht? Können wir nicht mit schöner Regelmäßigkeit, ob bei anderen oder bei uns selbst, Situationen beobachten, in denen jemand z.B. sagt „Ich weiß ja, daß a am besten ist" und dennoch die Handlung b ausführt? Diesem alltäglich scheinenden Phänomen haben seit Jahrhunderten vor allem Moralphilosophen und Handlungstheoretiker, gerade in den letzten Jahrzehnten aber auch zahlreiche Psychologen und eine Reihe von Ökonomen, immer wieder ihre Aufmerksamkeit gewidmet. In einem Fall von Handeln wider besseres Wissen steht das, was der Handelnde sagt, im Widerspruch zu dem, was er tut. Nun hatten Philosophen nie Schwierigkeiten mit der Behauptung, daß Menschen nicht immer glauben, was sie sagen, doch manche Philosophen haben notorische Probleme mit der Ansicht, daß Menschen in ihrem Handeln nicht immer dem folgen, was sie glauben.2 Der weitverbreiteten These zufolge, daß jeder stets das tut, was er für am besten hält, scheint Handeln wider besseres Wissen unmöglich zu sein! Die verschiedenen Möglichkeiten, auf das SpannungsVerhältnis, das in einem Fall von Handeln wider besseres Wissen zwischen Äußerung und Handlung besteht, theoretisch zu reagieren, lassen sich — etwas vereinfacht — folgendermaßen beschreiben: (i) Wenn jemand b tut und b für ihn nicht am besten ist, so folgt daraus, daß er nicht weiß, was für ihn am besten ist. Er irrt sich in bezug auf das, was für ihn am besten ist. Ein Fall, in dem jemand zu Recht von 1 2
Euripides, „Hippolytos"', übers, von E. Buschor, Reclam, Stuttgart 1987, V. 378-385. A. J. P. Kenny, „Will, Freedom and Power" (WFP), Basil Blackwell, Oxford 1975, S. 103.
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Einleitung
sich behaupten kann „Ich weiß, daß a am besten ist" und dennoch b tut, ist demnach unmöglich. (ii) Wenn jemand b tut, b für ihn nicht am besten ist, und er sagt „Ich weiß, daß a am besten ist", dann weiß er es nicht wirklich, und man darf seine Äußerung nicht ernst nehmen. (in) Wenn jemand b tut, b für ihn nicht am besten ist und er zu Recht von sich behauptet „Ich weiß, daß a am besten ist", dann ist er unfähig, a zu tun. (iv) Wenn jemand b tut, b für ihn nicht am besten ist und er von sich behauptet „Ich weiß, daß a am besten ist", dann darf man seine Äußerung nur in einem abgeschwächten Sinne verstehen. (v) Es ist durchaus möglich, daß jemand b tut, b für ihn nicht am besten ist und er zu Recht von sich behauptet „Ich weiß, daß a am besten ist". Man braucht dem Handelnden weder Unfähigkeit zu unterstellen noch seine Äußerung anders als wörtlich zu verstehen. Untersucht man die philosophische Problemgeschichte von Handeln wider besseres Wissen, begegnet man allen genannten Positionen: (i) findet sich bei Platon und ist unter der Bezeichnung „Sokratisches Paradox" berühmt geworden; (ii) wird von Aristoteles und Thomas von Aquin vertreten; (iii) und (iv) werden von R. M. Hare propagiert; und (v) hat in D.Davidson einen entschiedenen Verfechter. Jede einzelne dieser Positionen kann man aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte als klassisch bezeichnen. Die sokratisch-platonische Auffassung, wie sie im Protagoras und in der Politeia zum Ausdruck kommt, und die aristotelische Replik dazu in der Nikomachischen Ethik bilden den immer noch lehrreichen Anfang einer jeden philosophischen Beschäftigung mit Handeln wider besseres Wissen. Thomas von Aquin erörtert das Problem vor allem in der Summa Theologiae. Er ist, was Handeln wider besseres Wissen angeht, eigentlich nur als Interpret von Aristoteles anzusehen, und doch sind bei ihm interessante Akzentverschiebungen und wertvolle Hinweise zu entdecken, die nicht allein das Verständnis der aristotelischen Auffassung erleichtern. In diesem Jahrhundert hat R. M. Hare, einer der berühmtesten analytischen Moraltheoretiker, insbesondere durch ein Kapitel seines Buches Freedom and Reason die Diskussion des Problems von Handeln wider besseres Wissen aufs neue belebt. Im Mittelpunkt steht bei ihm die Frage, inwieweit die Möglichkeit von Handeln wider besseres Wissen Auswirkungen auf ein präskriptivistisches Ethikverständnis hat. D. Davidson schließlich hat mit seinem Aufsatz „How is Weakness of the Will Possible?", dem wohl Bedeutendsten, was seit langer Zeit zu Handeln wider besseres Wissen geschrieben worden ist, die Diskussion in ei-
Einleitung
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nem Maße entfacht, daß die relevante Literatur mittlerweile kaum mehr überschaubar ist. In diesem Aufsatz hat Davidson auch die Grenzen des Problembereichs neu abgesteckt. Ging es den zuvor genannten Autoren mehr oder weniger (nur) um eine moralische Frage, nämlich ob und wie es möglich ist, einem Moralprinzip oder einem Moralurteil aufrichtig zuzustimmen und dennoch anders zu handeln, so ist Davidson ganz generell an allen Fällen interessiert, in denen jemand entgegen seinem eigenen Urteil handelt: sei es ein Moralurteil oder nicht, sei es wahr oder falsch, handele es sich dabei um Wissen oder um eine bloße Überzeugung. Diese fünf Ansätze sind es auch, die ich in den folgenden Kapiteln diskutieren werde. Dabei bildet einen Schwerpunkt die sorgfältige Rekonstruktion der Thesen des jeweiligen Autors und ihre kritische Kommentierung. Daneben werde ich ausführlich untersuchen, inwieweit beim Vergleich der verschiedenen Auffassungen Gemeinsamkeiten erkennbar sind und welchen Beitrag die einzelnen Ansätze zu einem systematischen Verständnis von Handeln wider besseres Wissen leisten. Der Titel „Handeln wider besseres Wissen" suggeriert, daß alle in diesem Buch diskutierten Ansätze Aussagen über denselben Phänomenbereich machen. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Umfang des Begriffs Handeln wider besseres Wissen ist sowohl zu klein als auch zu groß, um jedem der besprochenen Ansätze gerecht zu werden. Davidson beispielsweise geht es um etwas, das er auch als „acting against one's better judgement" bezeichnet. Nun kann aber jemand natürlich seinem (besseren) Urteil, daß p, zuwiderhandeln, ohne zu wissen, daß p, nämlich z.B. dann, wenn er keine guten Gründe für seine Überzeugung, daß p, besitzt oder wenn es nicht wahr ist, daß p. Nicht alle Fälle, die Davidsons Ansatz abdeckt, sind also unter den Begriff Handeln wider besseres Wissen subsumierbar. Hare dagegen beschäftigt sich nur mit solchen Situationen, in denen jemand seinem eigenen Moralurteil zuwiderhandelt. Die Menge dieser Fälle steht zu derjenigen, welche durch den Begriff Handeln wider besseres Wissen abdeckt wird, in einem Schnittmengenverhältnis: Es gibt Fälle, in denen man nicht weiß, daß p, wenn man seinem Moralurteil „p" zuwiderhandelt, und manchmal ist es kein Mora/urteil, gegen das man im Fall von Handeln wider besseres Wissen verstößt. Angesichts dieses Befundes könnte man fragen, ob das Buch nicht anders — passender — hätte betitelt werden können. Im Deutschen gibt es nur einen mit „Handeln wider besseres Wissen" konkurrierenden Ausdruck, der vielleicht sogar gebräuchlicher ist, nämlich „Willensschwäche".3 Anders ist es im Englischen. Dort wird häufig die Phrase „acting against one's better judgement" verwendet. Die deutsche Übersetzung „Handeln wider besseres Urteil" klingt allerdings sehr fremd und eher gestelzt.
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Einleitung
Entspricht nun aber die Menge der Fälle, die unter den Begriff Willensschwäche fallen, dem von den einzelnen Autoren behandelten Phänomenbereich? Nein, denn weder ist z.B. jeder Fall von Willensschwäche einer, in dem man seinem Moralurteil zuwiderhandelt (Hare), noch ist der willensschwache Zauderer, der sich nicht entscheiden kann, jemand, der seinem eigenen Urteil zuwiderhandelt (Davidson) — er gelangt gar nicht erst zu einem (handlungsempfehlenden) Urteil. Das Ergebnis dieser Überlegung ist: Beide Begriffe, sowohl Handeln wider besseres Wissen als auch Willenschwäche, haben nicht den Umfang, der dem behandelten Phänomenbereich angemessen wäre. Während „Willensschwäche" aber für keinen der verschiedenen Ansätze ein guter Titel wäre, bezeichnet „Handeln wider besseres Wissen" zumindest exakt das, was Sokrates als bloßes Scheinphänomen zu entlarven sucht, und auch Aristotles und Thomas von Aquin geht es um (einen Teilbereich der) Handlungen, die mit eigenem Wissen unvereinbar sind. Außerdem scheint man sich bei der Verwendung des Begriffs Willensschwäche darauf festlegen zu müssen, daß es so etwas wie einen Willen gibt, der dann und wann einmal schwach sein kann. Nun könnte man zwar bei Platon sagen, das Überlegende (Logistiken) und das Eifernde (Thymoeides) seien zu schwach, um sich gegen den dritten Seelenteil, das Begehrende (Epithymetikon) durchzusetzen; wenigstens zwei der von mir besprochenen Autoren, nämlich Hare und Davidson, verpflichten sich aber nicht auf die Annahme der Existenz einer psychischen Entität, die man als Willen bezeichnen kann, und auch ich möchte mich auf nichts dergleichen festlegen (lassen).
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Sokrates und Platon über Handeln wider besseres Wissen
Wohl die meisten Menschen sind der Ansicht, daß manchmal jemand, obwohl er weiß, was er am besten tun sollte, und es auch tun könnte, dennoch anders handelt, weil er z.B. von etwas Angenehmem überwältigt wird. Was Platon von dieser Ansicht hält, wie er dieses Phänomen beschreibt und welche Erklärung er dafür vorschlägt, kommt insbesondere im Protagoras und in der Politeia zum Ausdruck. Dabei kann man allerdings nicht von einer Auffassung sprechen, die Platon zuzuschreiben sei, denn in den beiden Werken werden zwei verschiedene Ansätze deutlich. Im Protagoras verwendet Platon weder für die Menschen, die in der geschilderten Weise handeln, noch für das entsprechende Phänomen eine eigene Bezeichnung. In anderen Schriften, im Timaios, der Politeia und insbesondere in den Nomoi gebraucht er zwar — ähnlich wie später Aristoteles — z.B. „ " oder „ ", doch diese Ausdrücke kommen nur relativ selten vor. Ich werde in diesem Kapitel stets von Handeln wider besseres Wissen sprechen. Dieser Begriff kennzeichnet nämlich, wie wir sehen werden, exakt das Phänomen, um das es Sokrates geht. Die zentralen Themen des Protagoras sind das Wesen und die Lehrbarkeit der Tugend ( ). Protagoras behauptet, es sei möglich, nur eine der fünf Tugenden Gerechtigkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit, Tapferkeit und Weisheit zu besitzen, ohne zugleich alle zu besitzen, und meint, die einzelnen Tugenden müßten sowohl voneinander als auch vom Ganzen unterschieden werden. Sokrates dagegen versucht nacheinander zu zeigen, daß jeweils zwei der fünf Tugenden identisch sind. Am Ende des Dialogs steht als Ergebnis: 1) Bei allen einzelnen Tugenden handelt es sich um dieselbe Tugend; 2) Tugend ist Wissen; 3) Tugend ist lehrbar; 4) schlechtes Handeln beruht auf Unwissenheit. In dem Abschnitt, der für das mit Handeln wider besseres Wissen verbundene Problem einschlägig ist (351b-358e), versucht Sokrates, auf einem indirekten Weg die Identität von Tapferkeit und Weisheit zu zeigen. Aufbauend auf ein bestimmtes Verständnis der Beziehung, die zwischen dem Angenehmen und dem Guten und zwischen dem Unangenehmen und dem Schlechten besteht, kann Sokrates schließlich nachweisen, daß Tapferkeit als Wissen angesehen werden muß.
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Sokrates und Platon über Handeln wider besseres Wissen
Platon hat kein unmittelbares Interesse an dem Phänomen Handeln wider besseres Wissen. Sein Motiv dafür, sich dennoch damit auseinanderzusetzen, wird allerdings deutlich, wenn man noch einmal auf das zurückblickt, was als Ergebnis des Dialogs festgehalten werden kann, und dabei insbesondere auf die zweite These: Tugend ist Wissen. Wenn einerseits Tugend Wissen ist und andererseits, wovon Platon überzeugt war, ein sehr enger Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln besteht, dann folgt daraus, daß niemand (willentlich) wider besseres Wissen etwas Schlechtes tut. Diese These, die unter dem Namen „Sokratisches Paradox" berühmt geworden ist, steht jedoch in direktem Widerspruch zu der Meinung, die, wie Platon und Sokrates selbst glauben, von den meisten Menschen vertreten wird, daß nämlich manchmal jemand zwar weiß, was für ihn am besten ist, und es auch tun könnte, aber dennoch etwas anderes (Schlechteres) tut. Wenn also Platon seine Thesen nicht zurücknehmen möchte, muß er entweder zeigen, inwiefern sie mit Handeln wider besseres Wissen vereinbar sind, oder daß es dieses vermeintliche Phänomen in Wirklichkeit gar nicht gibt.1 Wie wir sehen werden, schlägt Platon den zweiten Weg ein. Im folgenden werde ich zunächst die Ausgangsthesen von Sokrates, Protagoras und den Vielen (öl ) rekonstruieren.2 Anschließend werde ich untersuchen, welche Art von Hedonismus im Protagoras zum Ausdruck kommt. Es folgt eine kurze Erörterung des platonischen Wissensbegriffs. Dann werde ich mich dem sogenannten sokratischen Paradox zuwenden und genauer erläutern, weshalb Sokrates es für unmöglich hält, wider besseres Wissen zu handeln. Den Abschluß bildet eine Darstellung des gewandelten platonischen Verständnisses von Handeln wider besseres Wissen, wie es in der Politeia deutlich wird.
1.1
Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten
In einem Fall von Handeln wider besseres Wissen weiß der Handelnde zwar, so glaubt man gemeinhin, was zu tun für ihn gut bzw. am besten ist; aber er tut nicht das für ihn Beste, sondern handelt anders, weil er beispielsweise von etwas Angenehmem überwältigt wird. In einem solchen Fall Vgl. J. C. B. Gosling & C. C. W. Taylor, „The Greeks on Pleasure", Clarendon Press, Oxford 1982, S. 53. Dabei werde ich nicht auf die Präge eingehen, welche Ansichten man Platon, dem historischen Protagoras oder dem historischen Sokrates zuschreiben darf. Wenn ich also im weiteren Verlauf dieser Arbeit z.B. davon spreche, daß Sokrates eine bestimmte These vertritt, ist damit nicht mehr gemeint, als daß diese These in Sokrates' Äußerungen zum Ausdruck kommt.
Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten
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scheint demnach das Angenehme einen st rkeren Einflu auf das Handeln zu haben als das Gute. Die Beziehung, die zwischen dem Angenehmen und dem Guten besteht, und in gleichem Ma e Sokrates' These in bezug auf das Verh ltnis von Wissen und Handeln sind von zentraler Bedeutung f r sein Verst ndnis von Handeln wider besseres Wissen. Davon ausgehend, versucht Sokrates n mlich nachzuweisen, da es unm glich ist, wider besseres Wissen zu handeln. In einem ersten Schritt werde ich nun untersuchen, welche Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten besteht; das Verh ltnis zwischen Wissen und Handeln ist Thema des darauf folgenden Abschnittes.3 Gegen Ende des Dialogs er ffnet Sokrates eine neue Runde des Gespr chs mit der ganz unverf nglichen Frage an Protagoras: ob er der Meinung sei, da einige Menschen gut, andere schlecht leben (351b3f). So allgemein gefragt, kann Protagoras leicht „Ja" sagen. Auf Sokrates' genauere Erkundigung hin stimmt Protagoras zu: (1)
Ein Mensch lebt nicht gut, wenn er gequ lt (ανιώμενός) und gepeinigt (όδυνώμενος) lebt (351b4-6),
(2)
Ein Mensch lebt gut, wenn er sein Leben angenehm (ήδέως) zubringt (351b6f).
Aus (1) und (2) schlie t Sokrates v llig korrekt: (3) (4)
Angenehm leben ist gut (αγαθός) (351b7-cl), Unangenehm (άηδώς) leben ist schlecht (κακός) (351cl; vgl. 358a5f).
Doch jetzt hat Protagoras pl tzlich Vorbehalte. Er schr nkt ein, nur dann sei es gut, angenehm zu leben, wenn man an Lobenswertem (τοις καλοίς) Vergn gen findend lebe (351clf).4 Diese Einschr nkung interpretiert Sokrates so, da er Protagoras die Meinung unterstellt, die auch die Vielen ( l πολλοί) vertreten, da es n mlich sowohl Angenehmes gebe, das schlecht sei, als auch Unangenehmes (ανιαρά), das gut sei (351c2f).5 3 4
5
Vgl. unten, 1.3. Vgl. aber 358b3-6: Dort, am Ende ihres Gespr chs, stimmt er Sokrates darin zu, da alle auf ein leidfreies und angenehmes Leben abzielenden Handlungen lobenswert sind. Damit wird seine Einschr nkung berfl ssig. Zur Gleichsetzung von χαλός und αγαθός vgl. auch Menon 77b, Symposion 201c, Alkibiades I, 115a-116a, Gorgiaa 474d-e. An dieser Stelle ist zweierlei zu beachten: 1.) Genaugenommen wird Sokrates Protagoras' Einwand nicht gerecht. Eigentlich m te man Protagoras so verstehen, da es einiges Angenehme gibt, das nicht lobenswert ist — doch damit ist noch nichts dar ber gesagt, ob dieses Angenehme zugleich auch schlecht ist. Da Protagoras Sokrates' Interpretation jedoch nicht zur ckweist, werde auch ich darauf nicht
8
Sokrates und Platon ber Handeln wider besseres Wissen
Dieser Ansicht ist auch Sokrates, und gleicherma en kann man von ihm zu Recht sagen, da auch er (l)-(4) akzeptiert. Seine anschlie ende u erung sollte man daher als Pr zisierungsversuch verstehen: „Ich meine n mlich, ob [i)] das Angenehme nicht, insofern / insoweit [καθ' δ] es angenehm ist, insofern / insoweit [κατά τοϋτο] gut ist, [ii)] ohne R cksicht darauf, da daraus etwa anderes entsteht [d.h. ohne Ber cksichtigung m glicher anderer Folgen]. Und andererseits wiederum ganz genau so [ωσαύτως ούτως] [iii)] das Unangenehme: Ist es nicht, insofern / insoweit [καθ' δσον] es unangenehm ist, schlecht?" (351c4-6)6
Und nur wenige Zeilen sp ter wiederholt Sokrates: „Dieses also meine ich, ob es nicht, [iv)] insofern/ insoweit [καθ' δσον] es angenehm ist, gut ist, wobei ich frage, [v)] ob nicht die Lust [das Angenehme] selbst gut ist." (351el-3)7
Betrachten wir zun chst i), iii) und iv). In i) und iv) pr zisiert Sokrates, welches Verh ltnis seiner Meinung nach zwischen Gutem und Angenehmem besteht, und in iii) pr zisiert er ganz analog seine Auffassung hinsichtlich der Beziehung zwischen Unangenehmem und Schlechtem, eine Beziehung, die „wiederum ganz genauso" ist wie die zwischen Gutem und Angenehmem bestehende. Ein Blick auf den Originaltext l t erkennen, da der einzige hier relevante Unterschied zwischen i) und iii) einerseits und iv) andererseits darin besteht, da es in i) „καθ' δ ... κατά τούτο" hei t und in iii) und iv) „καθ' δσον" (ein Pendant zu „κατά τοϋτο" fehlt). Wenn man von der beraus plausiblen Annahme ausgeht, da Sokrates an beiden Stellen dasselbe sagen m chte, mu man nun also eine bersetzung finden, die sowohl zu i) als auch zu iii) und iv) pa t. Zwei bersetzungsm glichkeiten bieten sich an, n mlich: a)
insofern es angenehm ist, auf diese Weise [insofern] ist es gut,
b)
insoweit es angenehm ist, auf diese Weise [insoweit] ist es gut.
weiter eingehen. 2.) Jetzt ist nicht mehr von einem angenehmen oder unangenehmen Leben die Rede, sondern ganz generell von Angenehmem und Unangenehmem. Meine bersetzung. Soweit nicht anders eingegeben, sind die Platon-Zitate entnommen aus „Platon. Werke in acht B nden", G. Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970-1988; dabei handelt es sich um eine berarbeitung der von Schleiermacher vorgenommen bersetzung. Die griechischen Zitate aus Platons Werken sind entnommen aus: „Platonis Opera", I. Burnet (Hg.), 5 Vols., Clarendon Press, Oxford 1900-1907, repr. 1972-1975; bei den Stellenangaben folge ich der Stephanus-Paginierung. Meine bersetzung.
Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten
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Für iii) und iv) gilt Entsprechendes.8 Sind a) und b) nur stilistische Varianten, die dieselbe Bedeutung besitzen, oder handelt es sich bei ihnen um echte Übersetzungsalternativen mit unterschiedlichen inhaltlichen Implikationen?
1.1.1
Zur Semantik von „insofern" und „insoweit"
Wenn man wie in a) sagt, etwas ist gut, insofern es angenehm ist, so meint man damit (in einer Interpretation): Wenn etwas angenehm ist, so ist es damit prima facie auch gut — genauso wie ein abgasarmes Auto prima facie gut oder ein pünktlicher Angestellter prima facie vorbildlich ist. Wer behauptet, etwas sei G, insofern es F ist, legt sich damit nicht darauf fest, daß er — nach gründlicherem Überlegen — das Urteil vertritt, es sei alles in allem G. Das Angenehme hat (bei Lichte besehen) möglicherweise gesundheitsschädliche Konsequenzen, ist gefährlich oder moralisch verwerflich; das Auto ist vielleicht völlig verrostet und in bezug auf seine Verkehrstüchtigkeit eine Gefahr nicht nur für die Insassen; und der Angestellte mag bei seiner Arbeit und im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten alles andere als vorbildlich sein. Selbst wenn aber etwas Angenehmes gesundheitsschädliche Konsequenzen hätte, gefährlich und darüber hinaus auch noch moralisch verwerflich wäre, könnte man immer noch darauf beharren, es sei zumindest in einer Hinsicht gut, nämlich insofern es angenehm sei.9 Diesen Überlegungen zufolge können wir a) interpretieren als a')
In der Hinsicht, in der etwas angenehm ist, ist es gut. 10
Rein philologisch wäre es wohl auch möglich, i) durch „weil es angenehm ist, deswegen ist es gut" zu übertragen. Dies ist jedoch weder in einer mir bekannten Übersetzung geschehen (es sei denn, man interpretierte Rufeners „sind die Dinge, sofern sie lustvoll sind, nicht eben dadurch gut" dementsprechend; vgl. R. Rufener, „Platon. Frühdialoge", eingel. von O. Gigon, Artemis, Zürich / München 1974), noch hielte ich es für besonders fruchtbar. Deshalb werde ich auch nicht weiter darauf eingehen. Hier wird die Nähe erkennbar, die zwischen „insofern es angenehm ist, ist es gut" und „weil es angenehm ist, ist es gut" besteht. Noch besser kommt sie z.B. in „Eine Prognose der Konjunkturentwicklung ist insofern schwierig, als nicht alle beeinflussenden Faktoren bekannt sind" zum Ausdruck. Es gibt noch zwei weitere Möglichkeiten, „insofern" zu interpretieren: zum einen relativisch („Die Aufsichtsratsmitglieder, insofern [sc. die] sie noch nicht zurückgetreten waren, strahlten Zuversicht aus"), zum anderen konditional („Am Ende der überlangen Vorstellung wird der Theaterkritiker, insofern [sc. wenn] er überhaupt bis dahin aushält, fluchtartig den Saal verlassen"). Keine dieser beiden Interpretationsmöglichkeiten kommt jedoch für a) in Frage. Was das relativische Verständnis von „insofern" angeht, so ist es nicht möglich, a) dementsprechend zu interpretie-
10
Sokrates und Platon über Handeln wider besseres Wissen
Kommen wir nun zu einem Vergleich zwischen a) und b). Besteht zwischen „insofern" und „insoweit" ein Unterschied? Zunächst einmal ist zu betonen, daß es möglich ist, „insoweit" genauso zu gebrauchen wie „insofern" und damit auszudrücken „in dieser Hinsicht".11 Da es bei dieser Verwendungsweise von „insoweit" keinen Unterschied macht, welche der beiden Übersetzungsalternativen man wählt, ist es wenig fruchtbar, ihr hier weiter nachzugehen. Es gibt allerdings noch eine andere Verwendungsmöglichkeit von „insoweit"; sie wird am Beispiel (5)
Insoweit sie umweltverträglich sind, werden wir neue Produktionsverfahren anwenden
deutlich. (5) kann man paraphrasieren durch (5')
Wir werden neue Produktionsverfahren in dem Maße anwenden, in dem sie umweit verträglich sind.
Überträgt man diese Paraphrase auf b), erhält man b')
Etwas ist in dem Maße gut, in dem es angenehm ist.
Und b') sollte man, um die darin verborgene Pointe noch deutlicher werden zu lassen, als Konditional auffassen: b")
Wenn etwas in einem bestimmten Maße angenehm ist, dann ist es auch in diesem Maße gut.
Versteht man b") wörtlich, so ergeben sich für das Verhältnis zwischen dem Guten und dem Angenehmen folgende Konsequenzen: Wenn man weiß, wie angenehm etwas ist, weiß man damit auch, wie gut es ist, und man braucht für das Urteil „X ist (so-und-so) gut" keinerlei weitere Faktoren zu berücksichtigen, auch keine möglichen anderen Konsequenzen von X. Etwas, das besonders angenehm ist, ist auch besonders gut. Wenn X
11
ren. Akzeptierte man die konditionale Interpretation von „insofern", so würde a) zu „Wenn es angenehm ist, ist es gut". Hätte Platon diese Relation zwischen Angenehmem und Gutem ausdrücken wollen, so hätte er sich jedoch sicher anderer sprachlicher Mittel bedient. Anstelle der mehrdeutigen Ausdrücke „ * " und ,, ' " hätte er wohl eher das eindeutige „el" verwendet. Vgl.: „Seine Fragen sollen nur insoweit diskutiert werden, als sie für die Arbeit im Seminar unmittelbar relevant sind." Dieses Beispiel kann man so auffassen, daß damit ausgedrückt wird, daß die Hinsicht, unter der die Fragen diskutiert werden sollen, die der unmittelbaren Relevanz für die Arbeit im Seminar ist. Außerdem kann man es aber auch konditional verstehen: Die Fragen sollen nur diskutiert werden, falls sie für die Arbeit im Seminar relevant sind.
Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten
11
angenehmer ist als Y, dann ist X auch besser als Y, und wenn X im höchsten Maße angenehm ist, dann folgt daraus, daß X auch im höchsten Maße gut ist. Allerdings besagt b") nicht auch noch, daß etwas, das nicht angenehm ist, auch nicht gut ist. Die Antezedenskomponente von b") gibt zwar eine hinreichende Bedingung dafür an, daß etwas in einem bestimmten Maße gut ist, aber keine notwendige Bedingung. Es ist also nicht so, daß etwas nur dann gut ist, wenn es angenehm ist. Vielmehr ist durchaus denkbar, daß etwas zwar nicht angenehm, aber aufgrund anderer Eigenschaften dennoch gut ist. An dieser Stelle ist es wichtig, sich an eine Einschränkung zu erinnern. Ich hatte gesagt, ich wolle mich bei der Erörterung der Übersetzungsmöglichkeiten zunächst auf den Teilsatz i) beschränken, doch für iii) und iv)12 gelte Entsprechendes. Während in i) und iv) von dem Angenehmen und dem Guten die Rede ist, geht es in iii) um das Verhältnis zwischen dem Unangenehmen und dem Schlechten. Versteht man nun iii) im Sinne von b"), so wird mit iii) gesagt: „Wenn etwas in einem bestimmten Maße unangenehm ist, dann ist es auch in diesem Maße schlecht". In Verbindung mit b") ergibt sich daraus, daß immer dann, wenn etwas in einem bestimmten Maße angenehm oder unangenehm ist, auch genau feststeht, in welchem Maße es gut oder schlecht ist. Nur dann, wenn etwas weder angenehm noch unangenehm ist, können wir auf dieser Basis nichts darüber sagen, ob und inwieweit es gut oder schlecht ist. Liest man i)-iv) im Sinne von a') („In der Hinsicht, in der etwas angenehm ist, ist es gut") und b"), so zeigt ein Vergleich der beiden Übersetzungssmöglichkeiten, daß sie einerseits zwar etwas gemeinsam haben, andererseits aber auch ein deutlicher Unterschied zwischen ihnen besteht. Gemeinsam ist ihnen, daß man aus dem Umstand, daß X weder angenehm noch unangenehm ist, nicht schließen kann, X sei auch weder gut noch schlecht (wobei man jedoch mit Bezug auf a') ableiten kann, daß X zumindest in dieser Hinsicht weder gut noch schlecht ist). Der wichtige Unterschied liegt aber darin, daß man wohl gemäß b"), nicht aber nach a') daraus, daß etwas im höchsten Maße angenehm ist, schließen kann, es sei auch im höchsten Maße gut. Zwar folgt aus (6)
X ist im höchsten Maße angenehm
und b") „X ist im höchsten Maße gut", doch dies folgt nicht aus a') und (6). Daraus kann man nur ableiten, X sei insofern, in dieser Hinsicht im höchsten Maße gut.13 12
Vgl. oben, S. 8. Darauf werde ich im letzten Kapitel ausführlicher eingehen; vgl. unten, 5.1.
12
Sokrates und Platon über Handeln wider besseres Wissen
Während es a') zufolge möglich ist, daß X angenehmer als ist, aber besser als X (man denke nur an A, der zwar pünktlicher, aber alles in allem viel weniger vorbildlich ist als B), schließen b') bzw. b") diesen Fall aus. Nach a') kann es auch noch andere Merkmale geben, die darauf Einfluß haben, ob etwas (letztendlich oder alles in allem) gut oder schlecht ist, und daß etwas angenehm ist, reicht anders als bei b') für sich genommen noch nicht aus, um zu urteilen, daß es gut ist.
1.1.2 Sokrates' Ausgangsthesen Zwar kennen wir jetzt die unterschiedlichen Implikationen der beiden Übersetzungsmöglichkeiten a) und b), doch welche Alternative ist vorzuziehen? Meiner Ansicht nach spricht die folgende Überlegung dafür, sich bei der Übersetzung von i), iii) und iv) für die Variante a) zu entscheiden und den Schlüsselterm „insofern" wie in a') zu verstehen als „in dieser Hinsicht": Betrachtet man in der zitierten Passage 351c4-6 den Abschnitt ii),14 so wird deutlich, daß a') besser mit dem Kontext vereinbar ist als b"). Dort sagt Sokrates nämlich, bei seinem Urteil, etwas sei gut, insofern/insoweit es angenehm sei, ziehe er mögliche andere Folgen nicht in Betracht. Wahrend sich nach a') die Beurteilung von X durch die Berücksichtigung etwaiger Folgen durchaus ändern könnte, spielen die Folgen gemäß b") bei der Einschätzung von X überhaupt keine Rolle, wenn erst einmal geklärt ist, wie angenehm X ist. Interpretiert man i), iii) und i v) also im Sinne von a'), teilt Sokrates etwas Nützliches und Wichtiges mit, wenn er sagt, daß die möglichen Folgen für die Beurteilung unberücksichtigt bleiben. Bei einer Interpretation im Sinne von b") ist diese Information dagegen unwichtig.15 Demzufolge können wir Sokrates hier zwei Thesen zuschreiben: (S 1) (S 2)
In der Hinsicht, in der etwas angenehm ist, ist es gut, In der Hinsicht, in der etwas unangenehm ist, ist es schlecht.
Wie aus der Erörterung von a') hervorgeht, erlauben (Sl) und (S 2), daß etwas (Un-) Angenehmes in anderer Hinsicht und auch alles in allem schlecht (gut) sein kann.16 Sokrates' Thesen sind also ohne weiteres 14
16
Vgl. oben, S. 8. Darüber hinaus ist die Übersetzungsmöglichkeit a') auch inhaltlich plausibler, und man sollte Sokrates nicht ohne Not eine unplausible Ansicht unterstellen. Nach (S 1) hält Sokrates das Angenehme also in demselben Sinne für etwas Gutes, wie man Pünktlichkeit als etwas Vorbildhaftes oder Ehrlichkeit als eine Tugend bezeichnen kann: Insofern jemand ehrlich ist, ist er auch tugendhaft (vgl. J. St. Mill,
Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten
13
mit einer Lesart von Protagoras' Ansicht, es gebe z.B. Angenehmes, das schlecht sei (vgl. 351c3f), vereinbar, dann n mlich, wenn man Protagoras so interpretiert: Wenn etwas Angenehmes schlecht ist, dann ist es in einer anderen Hinsicht schlecht ist, und nicht in Hinblick darauf, da es angenehm ist. Protagoras aber hat Sokrates' Thesen offensichtlich gar nicht richtig verstanden: „Ich wei nicht, Sokrates, ... so unbedingt [απλώς], wie du fragst, ob ich antworten soll, da alles Angenehme [τα ηδέα] gut ist und das Peinliche [das Unangenehme (τα ανιαρά)] bel. Vielmehr d nkt es mich nicht nur in Beziehung auf die gegenw rtige Antwort sicherer, sondern auch f r mein ganzes briges Leben, wenn ich antworte, da es einiges gibt unter dem Angenehmen [α των ηδέων], was nicht gut, und wiederum unter dem Unangenehmen [ά των ανιαρών] einiges, was nicht bel ist, anderes, was so ist und drittens noch anderes, was keins von beiden ist, weder gut noch bel." (351c7-d7) H tte Protagoras wirklich verstanden, da Sokrates fragt, ob etwas Angenehmes insofern nicht auch gut sei, k nnte er kaum behaupten, Sokrates frage schlechthin oder unbedingt (απλώς), ob etwas Angenehmes gut sei. Au erdem f hrt er fast unmittelbar anschlie end fort: „La uns zusehn, Sokrates, wie du ja immer sagst, und wenn ... sich zeigt, da das Gute und Angenehme dasselbe ist, so wollen wir es einr umen, wo aber nicht, so wollen wir es dann schon bestreiten." (351e3-7) Doch die Sokrates hier unterstellte These „Etwas ist genau dann gut, wenn es angenehm ist" geht weit ber die Konjunktion von (S 1) und (S 2) hinaus.17 Sokrates geht auf Protagoras' Vorschlag ein, und so untersuchen sie nun gemeinsam die Beziehung, die zwischen dem Angenehmen und dem Guten einerseits und dem Unangenehmen und dem Schlechten andererseits besteht. Diese Untersuchung erfolgt in einem fiktiven Gespr ch, das die beiden mit den Vielen, der Mehrzahl der Menschen ( l πολλοί των ανθρώπων) f hren. Daher stehen im folgenden die Ansichten der Vielen im Mittelpunkt der Er rterung.18 Es zeigt sich allerdings, da zumindest
17
„A System of Logic", I, v, §7, in: ders., „Collected Works of John Stuart Mill", Vol. 7, J. M. Robson (Hg.), University of Toronto Press and Routledge & Kegan Paul, Toronto/London 1974). Da auch Sokrates glaubt, Protagoras mi verstehe ihn hier, darauf deutet 351elf hin. „Dieses also meine ich", sagt Sokrates dort und wiederholt noch einmal seine Teilthese (S 1), „insofern es angenehm ist, ob es nicht gut ist" (meine bersetzung; vgl. i) und v), oben, S. 8). „Aber, o Sokrates", fragt Protagoras, „was sollen wir denn die Meinung der Leute in Betrachtung ziehen, welche sagen, was ihnen einf llt? — Ich glaube nur, sprach ich, da uns dies etwas helfen wird, um zu entdecken, wie sich die Tapferkeit eigentlich zu den brigen Teilen der Tugend verhalte." (353a7-b3)
14
Sokrates und Platon ber Handeln wider besseres Wissen
Protagoras letztlich dieselbe Meinung vertritt (vgl. 358al-5); was Sokrates angeht, so ist es umstritten, inwieweit er die Ansichten der Vielen teilt. 1.1.3
Die Ansicht der Vielen
Die Vielen k nnen nur Lust (ηδονή) und die Befreiung von Unlust (λύπη), aber kein anderes Ziel angeben, in bezug auf das sie etwas „gut" nennen (354b5-c2; vgl. 354dl-3 und 354e8-355a2).19 Auch sie glauben, da es Unangenehmes gibt, welches gut ist, und Angenehmes, das schlecht ist. Wenn sie von etwas Unangenehmem (ανιαρός) sagen, es sei gut, oder von etwas Angenehmem, es sei schlecht, dann tun sie dies einzig aufgrund der daraus resultierenden angenehmen bzw. unangenehmen Konsequenzen (354a2-b5, 353c4-el). Zwar ist z.B. das Unangenehme in Hinblick darauf, da es unangenehm ist, schlecht, aber die Vielen nennen „selbst das Unlustempfinden gut, wenn es entweder noch gr ere Unlust, als die es selbst in sich hat, entfernt, oder gr ere Lust, als die Unlust war, bereitet" (354d5-7). Ihrer Meinung nach ist etwas allein deshalb gut, weil aus ihm Lust resultiert oder es Unlust abwendet bzw. von Unlust befreit (354b5-7). So erstreben sie Angenehmes als Gutes und meiden Unangenehmes als Schlechtes (354c3-5). Da sie nicht sagen k nnen, da das Gute vom Angenehmen oder das Schlechte vom Unangenehmen verschieden ist (354e8-355a2), zeigt sich nach Sokrates, da sie nur jeweils zwei Namen f r denselben Gegenstand verwenden (355b3-cl): „gut" und „angenehm" einerseits und „schlecht" und „unangenehm" andererseits sind wechselseitig f reinander substituierbar. 1.1.4
Synonymie oder analytische
quivalenz
Wie aber ist die Substituierbarkeitsbehauptung zu verstehen? Die Antwort auf diese Pr ge ist umstritten. Handelt es sich bei „gut" und „angenehm", „schlecht" und „unangenehm" um zwei Paare von jeweils synonymen Ausdr cken, sind sie analytisch konvertierbar (implizieren sie sich wechselseitig), oder sind sie nur material quivalent?20
20
"... Socrates vaxies between ηδονής and ηδονών. He also varies between ηδονών and ηδέων, but as ηδέα have been defined in terms of ηδονή (351D-E), the shift seems not to affect his argument." (D. Gallop, „The Socratic Paradox in the Protagoras", S. 120 Anm.4, in: Phronesis 9, 1964, S. 117-129; vgl. auch T.Irwin, JPlato's Moral Theory" (PMT), Clarendon Press, Oxford 1977, S.307 Anm. 11.) Die Synonymiethese vertritt z.B. J. P. Sullivan (vgl. ders., „The Hedonism in Plato's Protagoras", S. 19, in: Phronesis 6,1961, S. 10-28). G. Vlastos argumentiert dagegen
Die Beziehung zwischen dem Angenehmen und dem Guten
15
Man könnte für eine zurückhaltende Interpretation plädieren: "[Ejconomy of interpretation indicates that this identity should be understood, not as identity of sense between the members of each pair, but as identity of reference, the reference of those adjectival terms being understood as the attribute which, in Mill's terminology (System of Logic I.ii.5) they connote."21 Doch andererseits kann man auch versuchen, durch einen Verweis auf den Text die Synonymiethese zu begründen:22 Sokrates sagt in 355b5-7, er wolle, „da sich gezeigt hat, daß dieses [sc. das Angenehme, das Gute, das Unangenehme und das Schlechte] nur zweierlei ist, es auch nur mit zwei Worten bezeichnen". Es ist zwar durchaus zuzugestehen, daß die Synonymiethese zumindest prima facie sehr plausibel ist,23 doch die folgende Überlegung zwingt uns meiner Ansicht nach, sie aufzugeben. Eine notwendige Bedingung dafür, daß zwei Prädikate (z.B. „gut" und „angenehm") synonym sind, läßt sich so formulieren: „Zwei Prädikate >F< und >G< sind nur dann synonym, wenn die Aussage, daß (x) (Fx Gx), evident ist."24 Diese Bedingung ist für „gut" und „angenehm" und „schlecht" und „unangenehm" jedoch klarerweise nicht erfüllt. Es bedarf ja gerade erst eines längeren Diskurses, bis Sokrates die Vielen davon überzeugt hat, daß sie in der Tat alles und nur das „gut" („schlecht") nennen, was angenehm (unangenehm) ist. Es ist nicht der Fall, daß niemand den Satz
21
22 23
24
für die These der analytischen Konvertierbarkeit (vgl. ders., „Socrates on Acrasia" (Acrasia), S. 76, in: Phoenix 23, 1969, S. 71-88). Dreizehn Jahre zuvor war er nur der Ansicht, „a) that pleasure is good (not the only one), b) that whatever is best will in fact be the most pleasant. ... [Tjhere is nothing to keep a man from asserting ... both (a) and (b), without defining the good in terms of the pleasant" (G. Vlastos (Hg.), „P/aio's Protagoras" (Introduction), trans. M. Ostwald, BobbsMerrill, New York 1956, S.xli). Die (schwächste) These der materialen Äquivalenz wird u.a. von M. Dyson verteidigt (vgl. ders., „Knowledge and Hedonism in Plato's Protagoras", S. 42 Anm. 17, in: Journal of Hellenic Studies 96, 1976, S. 32-45). C.C.W. Taylor, „Plato. Protagoras" (Protagoras), Clarendon Press, Oxford 1976, S. 179. Sullivan, S. 19. "But Socrates surely means no such thing; the primitiveness of his logical vocabulary, as recorded (or simulated?) by Plato, could be responsible for the overstatement here..." (Vlastos, Acrasia, S. 79 Anm. 26) Vgl. auch J. C. B. Gosling, ,J>lato", Routledge & Kegan Paul, London / Boston 1973, S. 180f, und Irwin, PMT, S. 307 Anm. 10: "He [sc. Socrates] suggests that 'pleasant' and 'good' are two names for the same thing (353b3-cl; cf. Phil. 60a7-b4); but the 'same thing' (pragma) or 'reality' (ousia) need not be the same meaning." W. Künne, „Abstrakte Gegenstände", Suhrkamp, Frankfurt/M. 1983, S. 264.
16
Sokrates und Platon über Handeln wider besseres Wissen
(S) Für alle Gegenstände gilt: Etwas ist genau dann gut, wenn es angenehm ist, verstehen kann, ohne zu wissen, daß mit ihm etwas Wahres gesagt wird. Dies ist jedoch eine notwendige Bedingungen dafür, daß (S) evident ist.25 Man muß daher schließen, daß „gut" und „angenehm", „schlecht" und „unangenehm" keine synonymen Ausdrücke sind. Kann aber vielleicht die schwächere These der analytischen Konvertierbarkeit bzw. der analytischen Äquivalenz von „gut" und „angenehm", „schlecht" und „unangenehm" aufrechterhalten werden? Zwei Prädikate „F" und „G" sind genau dann analytisch äquivalent, wenn es analytisch ist, daß (x) (Fx p.
Wissen
79
sein Wissen von der praktischen Konklusion noch nicht einmal in Betracht gezogen. Der (sehr enge) Zusammenhang zwischen praktischer Konklusion und Handlung ist eine zusätzliche These von Aristoteles, die nichts direkt mit seinem Verständnis von „Wissen anwenden" oder „Wissen in Betracht ziehen" zu tun hat.
2.3.2 Zwei Arten von dispositionalem Wissen Um die Bedeutung des Ausdrucks „Wissen, daß p, haben" zu klären, ist es hilfreich, eine Passage aus den Kategorien zu zitieren: „Über das Haben spricht man auf mehrfache Weise, sei es Haben als Zustand und Disposition oder als sonst eine Eigenschaft; man sagt von uns, daß wir ein Wissen oder eine Tugend haben." (15bl7-19)
Dieses Zitat macht deutlich, daß „Wissen haben" als „dispositionales Wissen haben" zu verstehen ist. „Wissen anwenden" kann dagegen als „aktuelles Wissen haben" aufgefaßt werden.39 Es gibt zwei Weisen, Wissen zu haben (1147alO-14; vgl. auch De Anima 417a22-b2): (a)
Wissen, daß p, in jeder Hinsicht haben (Wissen haben im strikten Sinne),
(b)
Wissen, daß p, in gewisser Hinsicht haben.
Wie wir gesehen haben, bedeutet (a), dispositionales Wissen zu haben. Für (b) gibt Aristoteles eine Reihe von Beispielen: Solche Art von Wissen hat jemand, der schläft, wahnsinnig oder betrunken ist. Weitere Klärung bringt eine Passage aus De Generatione Animalium 735a9-ll: Ein schlafender Mathematiker ist weiter davon entfernt, sein Wissen anzuwenden, als wenn er wach wäre; und wenn er wach ist, bedarf es immer noch eines zusätzlichen Schrittes, bis er sein mathematisches Wissen anwendet, um z.B. ein geometrisches Konstruktionsproblem zu lösen.40 Kenny spricht in diesen Fällen von „half-having knowledge";41 ich werde es im folgenden „höherstufig-dispositionales Wissen" oder „dispositionales Wissen zweiter Ordnung" nennen. So wie die Erde noch keine ,Statue in Möglichkeit' ist, da sie sich zuerst in Erz umwandeln muß,42 so muß der schlafende Mathe39
41 42
Vgl. Platons Gleichnis vom Taubenschlag im Theaitet (197cl-d2). Diese Beispiele legen es nahe, statt von Arten von Wissen lieber von Arten von Zuständen zu sprechen, in denen sich jemand befinden kann, der weiß, daß p. Kenny, ATW, S. 160. Vgl. Metaphysik 1049al5f.
80
Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
matiker zun chst aufwachen, bevor sein mathematisches Wissen ihm zur Disposition steht.
2.3.3
Gegenst nde des Wissens
Die Differenzierung zwischen Arten von Wissen ist nicht die einzig relevante; es mu noch eine andere wichtige Unterscheidung getroffen werden (vgl. 1146b35-1147alO). Man kann von zwei Arten von Pr missen Wissen haben, n mlich von universalen und von partikularen. „Die eine [sc. Art von Pr missen] sagt, da die und die Art von Mensch die und die Art von Handlung ausf hren soll, die andere aber sagt, da dies so und so [sc. eine Handlung der betreffenden Art] ist und ich eine Person des betreffenden Typs bin."43 Jemand kann durchaus Wissen von beiden Pr missen haben und trotzdem gegen sein Wissen handeln: wenn er n mlich zwar sein Wissen von der universalen Pr misse anwendet, nicht aber sein Wissen von der partikularen (1147a2f). Und sicher ist auch der umgekehrte Fall denkbar, da jemand gegen sein Wissen handelt, weil er nur von seinem Wissen von der partikularen Pr misse Gebrauch macht. Nun gibt es aber nicht nur den Unterschied zwischen universalen und partikularen Pr missen, sondern man kann auch innerhalb der universalen Pr misse eine Unterscheidung treffen (1147a4f): Zum einen wird auf Gegenst nde einer gewissen Art Bezug genommen, zum anderen auf Personen einer gewissen Sorte. "The general rule παντί ανθρώπφ συμφέρει τ& ξηρά [Trockene Nahrung ist gut f r alle Menschen] contains two universale and therefore requires two minor premisses to connect it with a particular agent and a particular act. The first of these takes as middle term the universal which is predicated of the agent (εφ' αότοΰ). This minor premiss is obvious and does not detain us, cf. de Mot. An. 701 a, 25... But the other universal (το επί του πράγματος) is of a different character. Επιστήμη takes us no further than ξηρόν το τοιόνδε [Solcherart Nahrung ist trocken], and this can only yield the conclusion έμοί συμφέρει το τοιόνδε [Solcherart Nahrung ist gut f r mich], not an act. We are in that case left in the position of the doctor who only knows that light food is digestible without knowing what food is light (1141 b, 19 n.)."44 43 44
De Ammo 434al7-19; vgl. Analytica Priora 67b3-5. J. Burnet (Hg.), „The Ethics of Aristotle", Methuen & Co., London 1900, S. 300. Vgl. auch J.A.Stewart, ,Jfotes on the Nicomachian Ethics of Aristotle", Vol.11, Clarendon Press, Oxford 1892, comm. ad loc.
Wissen
81
Es ist durchaus möglich, so Aristoteles, daß jemand von „Trockene Nahrung ist gut für alle Menschen", „Ich bin ein Mensch" und „Solcherart Nahrung ist trocken" Wissen hat; ob aber diese Nahrung von der und der Art ist, davon hat er entweder kein Wissen, oder es ist nicht wirksam ( ) (1147a5-7). Diese Lesart, nämlich „Trockene Nahrung ist gut für alle Menschen" als universale Prämisse (Obersatz) zu verstehen und den Rest als Untersatz („composite minor premise")45 aufzufassen, paßt gut zu dem eben zitierten Modell eines praktischen Syllogismus in De Anima (434al7-19), wo Aristoteles „die und die Art von Mensch soll die und die Art von Handlung ausführen" als Beispiel für die universale Prämisse und „dies ist so und so, und ich bin eine Person des betreffenden Typs" als Beispiel für die partikulare Prämisse angibt. Der entscheidende Unterschied zu 1147a5-7 besteht darin, daß dort der erste Teil der partikularen Prämisse aufgesplittet ist: „Dies ist so und so" erscheint als „Solcherart Nahrung ist trocken" und „Diese Nahrung ist von der und der Art".
2.3.4 Wissen und Handeln In einem Syllogismus46 ist die eine Meinung ( ) universal, während die andere das Einzelne zum Gegenstand hat und insofern unter der Herrschaft der Sinneswahrnehmung steht (1147a25f). Wenn nun im Fall von theoretischem Schließen die beiden Meinungen zusammen betrachtet werden, muß die Seele der resultierenden Konklusion zustimmen. Wenn jemand glaubt, daß die Prämissen wahr sind, und sie zusammen betrachtet, muß er auch glauben, daß die Konklusion wahr ist.47 Wenn allerdings in einem Fall von praktischem Schließen die beiden Meinungen zusammen betrachtet werden, muß der Mensch — wenn er handeln kann und nicht daran gehindert ist (1147a30f) — sofort handeln. 45 46
47
Kenny, PSI, S. 172. Der Ausdruck „Syllogismus" hat bei Aristoteles keine einheitliche Bedeutung. Während „Syllogismus" in der Regel eine Folge von Sätzen oder eine Folge von propositionalen Gehalten von Sätzen meint, ist hier eher von etwas Kognitivem die Rede, nämlich von dem Prozeß, auf den man auch mit dem verwandten Verb „ " Bezug nimmt. Vgl. Analytica Priora 67a33-37. In dem hier vorauszusetzenden Sinn von „Syllogismus" ist demnach nicht jedes deduktiv korrekte Argument ein Syllogismus. Denn natürlich ist es möglich, die beiden Prämissen und die Konklusion zu kennen, zu wissen, daß die Prämissen wahr sind, und doch nicht zu sehen, daß die Konklusion aus den Prämissen folgt — man braucht sich die Prämissen und / oder die Konklusion nur hinreichend kompliziert zu denken. Aristoteles spricht hier also nur von trivialschlüssigen Argumenten.
82
Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
Wenn z.B. jemand denkt „Alles Süße soll man kosten" und „Dies ist süß", muß er es sofort kosten (1147a29-31).48 Man könnte einwenden, dies sei offensichtlich falsch, denn man könne auch an etwas denken, das man hätte tun sollen (z.B. am Tag zuvor) oder was man in der nächsten Woche tun soll. Aristoteles denkt jedoch sicher nur an Fälle, wo der Zeitpunkt der Entscheidung oder des praktischen Schließens auch gleichzeitig die Gelegenheit zum Handeln ist.49 In De Motu Animalium geht Aristoteles einen Schritt weiter. Man muß nicht nur sofort handeln, sondern er sagt sogar: „... die Konklusion, die aus den zwei Prämissen entsteht, ist die Handlung" (701all-13) und „... daß also die Handlung die Konklusion darstellt, ist klar" (701a22f). Diese prima facie überraschenden Aussagen werden verständlicher, wenn sie zusammen mit einer Bemerkung aus der Endemischen Ethik gelesen werden. Dort heißt es: „... das Ende des Denkens ist der Ausgangspunkt [ ] der Handlung." (1227b32f) Das Ende unseres Denkens kann man sich in diesem Kontext verständlich machen als das Ende des praktischen Schließens. Nun ist es nicht so, daß man aus den Prämissen immer eine Konklusion ableitet. Das oben verwendete Beispiel wieder aufgreifend, kann man sagen, es ist nicht nötig, aus „Alles Süße soll man kosten" und „Dies ist süß", bevor man handelt, zuerst noch abzuleiten „Man soll dies kosten" (und in einem weiteren Schritt vielleicht auch noch „Ich soll dies kosten"). In solchen Fällen sind wir schon dann am Ende des Denkens, wenn wir die Prämissen zusammen betrachten, und nicht erst, wenn wir zu einer Konklusion gelangt sind. Da das Ende des Denkens der Ausgangspunkt der Handlung sein soll, kann man sagen, in manchen Fällen ist das Zusammenbetrachten der Prämissen der Ausgangspunkt der Handlung, so daß in gewissem Sinne die Handlung direkt aus den beiden Prämissen entsteht. Nähme man nun noch an, das, was aus dem Denken der beiden Prämissen entstehe, sei die Konklusion, würde verständlich, daß Aristoteles sagt, die Handlung stelle die Konklusion dar.50 In eine ähnliche Richtung geht die Interpretation von Nussbaum. Sie plädiert dafür, die zitierten Stellen wörtlich zu verstehen:
4
50
Ross weist zu Recht darauf hin, daß dieser Syllogismus allein nicht der eines akratischen, sondern der eines zuchtlosen Menschen ist: W. D. Ross, „Aristotle" (Aristotle), Methuen & Co., London 1923, 5. überarbeitete Auflage 1949, S. 223; vgl. auch G. E. M. Anscombe, „Intention", Basil Blackwell, Oxford 21963, S. 64 f. Vgl. G. Santas, „Aristotle on Practical Inference, the Explanation of Action, and Acrasia" (Aristotle), S. 176, in: Phronesis 14, 1969, S. 162-189. Diese abstrakten Überlegungen kann man sich auch noch an einem Beispiel aus der Alltagssprache verdeutlichen: Wenn man jemanden drängt, die Konsequenzen zu ziehen, so ist das in den seltensten Fällen (z.B. bei einer Logikprüfung) eine Aufforderung, aus Prämissen eine Konklusion abzuleiten; im Normalfall ist es eine direkte Aufforderung zum Handeln.
Die aristotelische Argumentation
83
"The so-called conclusion is, in the practical case, not a proposition at all, but an action. That is, the factors that (for the sake of an illustrative parallel) Aristotle will call premises lead to action, not just to verbalizing or thinking. Action (or refraining from action) is the explanandum; speech [or thought or judgement] is no substitute. ... Of course a human agent might verbalize his conclusion; he might express his desire and his belief in words as well. But this will not in any important respect alter our account of his behaviour. If he says, must build a house,' but does not set himself to do it, we cannot admit that he has 'drawn the conclusion;'... "51 In dem Abschnitt von De Motu Animalium, in dessen Kontext die beiden obigen Zitate stehen, möchte Aristoteles erklären, weshalb Handlungen ausgeführt werden. Man könnte seine Theorie der Motivation durchaus als Theorie der teleologischen Erklärung bezeichnen.52 Die einzelne Handlung ist das Explanandum, und die Prämissen eines praktischen Syllogismus bilden das Explanans. "If then a man goes through a piece of practical reasoning, either he acts on the decision (or resolution) he has reached or there must be an explanation for his not acting (or for doing something else instead)."53 Wir müssen dann entweder sagen, er sei gehindert worden, zu handeln, oder wir hätten uns dabei geirrt, als wir ihm gewisse Wünsche und Meinungen zuschrieben, welche die Prämissen des praktischen Syllogismus bildeten.
2.4
Die aristotelische Argumentation
Aristoteles verwendet nun die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Wissen und den verschiedenen Gegenstände des Wissens (den beiden Arten von Prämissen), um an einem Beispiel zu erläutern, was bei Akrasia der Fall ist. Unter den Kommentatoren gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die richtige Interpretation der entscheidenden Textpassagen 1147a31-1147b3 und 1147b9-12.54 Im folgenden werde 51
52 53
54
M. C. Nussbaum, „Aristotle's De Motu Animalium" (De Motu), Princeton University Press, Princeton 1978, repr. with corr. 1985, S. 186. Santas, Aristotle, S. 171. Santas, Aristotle, S. 177; vgl. Nussbaum, De Motu, S. 179, und a.a.O., S. 186: "(W]e will, as in the case where he neither verbalizes nor acts, have to question the sincerity of his want and / or belief or look for a preventing factor." Vgl. z.B. Kenny, PSI, S. 178ff, ATW, S.158ff, J.J.Walsh, „Aristotle's Conception of Moral Weakness", Columbia University Press, New York und London 1963, S. 105 ff, und Hardie, S. 282 ff (dort gibt es auch noch zusätzliche Literaturhinweise).
84
Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
ich den Text zun chst interpretativ paraphasieren und dabei nur soviel hinzuf gen, wie mir f r das Verst ndnis unbedingt notwendig erscheint: Wenn eine universale Meinung in uns gegenw rtig ist, die uns verbietet, zu kosten: (l*)
[Es ist verboten, zu kosten]
und in uns auch die universale Meinung gegenw rtig ist (2)
Alles S e ist genu verhei end (ηδύς)
und die Meinung (3)
Dies ist s ,
die wirksam ist (ενεργεί), und wenn das Verlangen nach Genu , die Begierde (επιθυμία), zufallig in uns gegenw rtig ist, fordert die eine Meinung von uns, diesen Gegenstand, n mlich dieses spezielle s e Objekt, zu meiden, doch die Begierde dr ngt uns zu ihm hin. So ergibt es sich, da jemand akratisch handelt unter dem Einflu (in einem bestimmten Sinne) eines Prinzips (1) und einer Meinung (2) (υπό λόγου πως καΐ δόξης), und zwar einer Meinung, die nicht aus sich selbst heraus, sondern infolge eines Begleitumstandes (συμβεβηκός) dem richtigen Prinzip entgegengesetzt ist.55 Denn eigentlich ist nicht die Meinung (2), sondern die Begierde dem richtigen Prinzip (1) entgegengesetzt. Von der letzten Proposition (τελευταία πρότασις),56 einer Meinung ber einen wahrnehmbaren Gegenstand und einer, die (gew hnlich) unser Handeln bestimmt, hat jemand, der im Zustand der Leidenschaft ist, entweder kein Wissen, oder er hat es nur in dem Sinne, wie es ein Betrunkener hat, der Empedokles rezitiert. Aus dieser Paraphrase ergeben sich einige Probleme: a) Aristoteles hat die universale Pr misse (l*) inhaltlich nicht n her bestimmt. Das deutet darauf hin, da die exakte Kenntnis dieser Pr misse keine unabdingbare Voraussetzung f r das Verst ndnis dieser Passage ist. Mir scheint, Aristoteles wollte an dieser Stelle nur modellhaft darstellen, mit welcher Art von Pr missen der Akratiker es zu tun hat. Daher k nnen wir anstelle von (l*) im folgenden der Einfachheit halber (1)
Kein Mensch soll etwas S es kosten57
verwenden. (1) ist allerdings ganz sicher keine Pr misse, die in einem konkreten Fall von Akrasia vertreten werden k nnte. Eine solche Pr misse 55
56 57
Vgl. H.H.Joachim, „Aristotle. The Nichomachean Ethics. A Commentary", D. A. Rees (Hg.), Clarendon Press, Oxford 1951, S. 229. Vgl. Kenny, ATW, S. 164. Hier wird die Parallelit t zu De Anima 434al6 f (vgl. oben, S. 80) deutlich.
Die aristotelische Argumentation
85
müßte nämlich eine sein, die auch von einem Besonnenen vertreten werden kann, denn die Prinzipien des Akratikers sind dieselben wie die des Besonnenen (vgl. 1151b34-1152al).58 Der Besonnene hält Maß in bezug auf körperliche Annehmlichkeiten, die den Geschmack und die Berührung betreffen.59 "Consequently the universal premise will be concerned with the avoidance of excessive gustatory pleasure. It will be concerned with the avoidance of tastes precisely qua pleasant... "60
Außerdem muß es sich bei der gesuchten universalen Prämisse um eine handeln, die ebenso wie (1) zusammen mit der (den) anderen Prämisse(n) zu einer Konklusion wie (4)
Ich soll dies nicht kosten
führt. b) Doch wie lautet (lauten) diese andere(n) Prämisse(n)? Wenn, wie Kenny argumentiert, (l*) in einer ganz bestimmten Weise von Annehmlichkeiten handelt, dann genügen (l*) und (3) offensichtlich nicht, um zu der Konklusion (4) zu kommen. Und auch (l*) und (2) sind nicht hinreichend, da wir eine Konklusion haben wollen, die sich auf einen einzelnen Gegenstand bezieht (z.B. „Ich soll dies nicht kosten"). Ein Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, wie Ross eine weitere Prämisse (einen Untersatz) von der Art „Dies ist x" zu postulieren, so daß damit und mit Hilfe von (l*), worin auf Bezug genommen wird, die Konklusion (4) ableitbar ist.61 Dafür gibt es allerdings keinen rechtfertigenden Hinweis im Text. Plausibler ist Kennys Vorschlag,62 der auf die Einführung einer Zusatzprämisse verzichtet. Danach ist die gesuchte Prämisse hybrid partikular, 58 59
62
Vgl. Kenny, ATW, S. 159. Vgl. dazu 1117b23-1119bl8, insb. 1117b24f und 1119allf. Kenny, ATW, S. 159; vgl.: „Von der Vernunft wird ein universales Urteil vorgeschlagen, das ein unmäßiges Kosten von Süßem verbietet, d.h., es besagt: ,Nichts Süßes sollte außerhalb einer bestimmten Zeit gekostet werden'..." (Thomas von Aquin, ,ßententia Libri Ethicorum" (Libri Ethicorum), S.392f, in: „Sonett Thomae de Aquino. Opera Omnia", Bd. 47, 2, editio Leonina, Commissio Leonina, Rom 1884-; meine Übersetzung.) Ross, Aristotle, S. 223; ganz analog vgl. R. Robinson, „Aristotle on Akrasia", S. 145, in: ders., ^Essays in Greek Philosophy", Clarendon Press, Oxford 1969, S. 139-160: "The particular premiss of the right syllogism is not the same as the particular premiss of the wrong syllogism. What then, is the particular premiss of the right syllogism? We cannot tell. We can only conjecture. Similarly, therefore, we can only conjecture what is the universal premiss of the right syllogism, which also Aristotle does not tell us." Kenny, PSI, S. 181.
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Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
nämlich die Konjunktion von (2) und (3).63 Diesen Vorschlag halte ich allerdings nur insoweit für gut, als es sich um einen konkreten Fall von Akrasia handelt. In dem Mode/flbeispiel, mit dem wir es hier zu tun haben, bedarf es nämlich keiner so komplizierten (Re-)Konstruktion des Obersatzes und des Syllogismus. Für die inhaltliche Bestimmung des Obersatzes genügt die in (1) gewählte Formulierung, so daß man dann nur noch (3) braucht, um die Konklusion (4) abzuleiten.64 Dieses (einfachere) Modell werde ich meinen weiteren Ausführungen zugrunde legen.65 c) Von wie vielen Syllogismen ist hier die Rede? Kenny behauptet, wir hätten es in dem Abschnitt 1147a31-b3 bloß mit einem Syllogismus zu tun.66 Aristoteles erwähnt drei Meinungen ((l)-(3)), und daher darf man wohl annehmen, daß nur sie wichtig sind, um zu verstehen, was in einem Fall von Akrasia geschieht. Diesen drei Meinungen können unterschiedliche Funktionen zugeschrieben werden, je nachdem, welchen Argumentationsstrang des Akratikers man betrachtet: den der Vernunft oder den der Begierde. In dem einen Fall ist (1) der Obersatz, (3) der Untersatz und (4) die Konklusion; (2) hat keine Funktion. In dem anderen Fall ist (2) der Obersatz, (3) bildet den Untersatz, und (1) hat keine Funktion. Dann ist die Konklusion (5)
Dies ist genußverheißend.
Wie wir noch sehen werden, hängt es von der Art der Akrasia ab, wie viele Syllogismen im Akratiker vorhanden sind, denn im Impulsiven ist ausschließlich der Argumentationsstrang der Begierde vorhanden, während es bei Akrasia aufgrund von Schwäche zusätzlich auch noch den der Vernunft gibt.67 Gegen Kenny ist demnach zu konstatieren, daß man auf die Frage „Um wie viele Syllogismen handelt es sich?" keine eindeutige Antwort geben kann. 63
64
65
66 67
Hier muß man allerdings fragen, ob dies für Aristoteles überhaupt verständlich gewesen wäre. Können wir ihm eine solche Theorie tatsächlich guten Gewissens unterstellen? Genau genommen ist das nicht richtig, denn man braucht neben (3) auch noch die partikulare Prämisse „Ich bin ein Mensch". Davon kann man jedoch jedem dispositionales Wissen unterstellen, welches bei Bedarf problemlos aktuell wird, so daß wir auf die Berücksichtigung dieser zusätzlichen Prämisse verzichten können. Die Legitimität dieser Vorgehensweise wird noch deutlicher, wenn man 1144a31-33 berücksichtigt, wo Aristoteles — in anderem Zusammenhang — sagt: „Denn das Schlußverfahren, welches auf ein Handeln abzielt, hat ja einen Ausgangssatz, der etwa lautet: ,Nachdem das Endziel, der oberste Wert, so und so beschaffen ist ...' — die genaue Benennung (des Ziels) tut nichts zur Sache: es kommt uns nur auf die Argumentation an — da mag es das erste beste sein."· (Dirlmeier-Übersetzung; meine Hervorhebung) Vgl. Kenny, PSI, S. 178ff. Vgl. unten, S. 90.
Die aristotelische Argumentation
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d) Welches ist die Meinung, die von uns fordert, den Gegenstand zu vermeiden? Man k nnte geneigt sein, (4) daf r zu halten, denn im Text hei t es, da die Meinung von uns fordert, diesen speziellen (τούτο) Gegenstand zu vermeiden, und die einzige Meinung, die explizit so auf einen einzelnen Gegenstand Bezug nimmt, ist (4) — doch sie wird im Text an keiner Stelle erw hnt. Die entscheidende Text passage lautet im Original: „δταν ούν ή μεν καθόλου ένή χωλύουσα γεύεσθαι, ή δε, δτι παν γλυκί> ηδύ, τουτί δε γλυκύ (αυτή δε ενεργεί), τύχη δ' επιθυμία ένοϋσα, ή μεν οδν λέγει φεύγειν τούτο, ή δ' επιθυμία άγει·" (1147a31-34)68
Ber cksichtigt man die Parallelit t zu „ή μεν καθόλου . . . ή δε ...", so kann sich das „ή μεν" in „ή μεν ουν λέγει" nur auf die universale Pr misse (1) beziehen. Doch (1) allein sagt nat rlich nicht, da dieser spezielle Gegenstand zu vermeiden ist — dazu bedarf es noch der partikularen Pr misse (3); aus beiden zusammen folgt dann allerdings (4). Daher schlage ich vor, diese Passage zu lesen als „die eine [universale] Meinung [(!)] sagt [in Verbindung mit der partikularen Meinung (3)], da dieser Gegenstand zu vermeiden ist". Ganz analog dr ngt nat rlich die Begierde allein auch nicht auf einen Gegenstand hin, sondern nur, wenn sie mit der Meinung verkn pft ist, da der Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat. Und da der Gegenstand diese bestimmte Eigenschaft hat, diese Meinung wird in (5) („Dies ist genu verhei end") ausgedr ckt. (5) wiederum wird von der universalen Meinung (2) „Alles S e ist genu verhei end" und der partikularen Meinung (3) „Dies ist s " impliziert. Den letzten Teil des Zitats sollte man also lesen als „die Begierde aber dr ngt uns [in Verbindung mit der anderen universalen Meinung (2) und der partikularen Meinung (3)] zu ihm [sc. diesem Gegenstand] hin". e) Welches ist „die Meinung, die wirksam ist" (1147a33)? Mit Ross69 k nnen wir unter der wirksamen Meinung diejenige verstehen, die Auswirkungen auf die Handlung hat. Aufgrund des Satzbaus k nnte man erwarten, da sich „αυτή δε ενεργεί" auf das unmittelbar davorstehende „τουτί δε γλυκύ", also auf (3) bezieht.70 Diese Lesart ist jedoch wenig plausibel. Da n mlich (3) eine Auswirkung auf die Handlung hat, ist ganz nat rlich, denn (3) kommt sowohl im Argumentationsstrang der Vernunft als auch in dem der Begierde als Untersatz vor. Die in d) vorgeschlagene Interpretation von 1147a31-34 legt eine andere Lesart nahe. Danach ist an 68 6 70
Zitiert nach Bywater. Vgl. Ross, Oxford- bersetzung, ad loc. Vgl. die Rackham- bersetzung: „ . . . and it is this minor premise that is active".
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Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
der genannten Stelle im wesentlichen von zwei universalen Meinungen die Rede, n mlich von (1) und (2). Und so sollte man „αδτη δε ενεργεί" als sich auf „ή δε", also auf (2) beziehend auffassen. Die Pointe besteht dann darin, da im Fall von Akrasia nicht der Obersatz des Argumentationsstranges der Vernunft, sondern der Obersatz des Argumentationsstranges der Begierde Einflu auf die Handlung nimmt.71 Die beiden folgenden Passagen sind zus tzliche Belege f r die Bedeutsamkeit der Obers tze: „Dies [sc. der h chste Wert, der im Obersatz eines praktischen Syllogismus zum Ausdruck kommt] zeigt sich nur dem guten Menschen. Sittliche Minderwertigkeit [μοχθηρία] aber bewirkt eine T uschung in bezug auf die Prinzipien des Handelns und lenkt von ihnen ab." (1144a34-36) „Denn wie die sittliche Trefflichkeit [αρετή] das Grundprinzip des Handelns in uns erh lt, so wird es von der sittlichen Minderwertigkeit [μοχθηρία] zerst rt." (1151al5f)72 Nun ist Akrasia nicht im strengen Sinne etwas sittlich Minderwertiges' wie z.B. Zuchtlosigkeit, sondern nur in einem schw cheren Sinne. Von daher wird verst ndlich, da der Akratiker nicht vollst ndig von dem Obersatz der Vernunft abgelenkt wird. Im Unterschied zum Zuchtlosen wei er ja, wie er (eigentlich) handeln sollte, d.h., er verf gt ber die erste Pr misse (den Obersatz) des Syllogismus der Vernunft. Doch anders als beim Besonnenen hat diese Pr misse nicht auch eine Auswirkung auf die Handlung. Das Handeln des Akratikers wird vielmehr von einer anderen Pr misse beeinflu t, ber die er im Gegensatz zum Besonnenen noch zus tzlich verf gt, n mlich vom Obersatz des Syllogismus der Begierde. Die gegen ber dem Zuchtlosen vergleichsweise geringere sittliche Minderwertigkeit besteht also darin, da der Akratiker zwar ber den Obersatz des Syllogismus der Vernunft verf gt, von ihm aber abgelenkt wird, so da ein anderer Obersatz sein Handeln bestimmt. f) Wie kommt es, da uns die Begierde zu diesem speziellen s en Gegenstand hindr ngen kann? Dirlmeier bersetzt 1147a35: 71
72
Theoretisch best nde auch die M glichkeit, in 1147a31 f „ή μεν καθόλου" als „die universale Pr misse" zu lesen, die „ή δε", einer partikularen (und nicht einer anderen universalen) Pr misse gegen bersteht. Dann w re die Konjunktion von (2) und (3) als wirksame (hybrid) partikulare Pr misse aufzufassen. Ich sehe jedoch keinen Grund, diese kompliziertere Interpretation der einfacheren vorzuziehen. — Bekker liest in seiner Edition von Aristoteles' Werken in der oben zitierten Schl sselpassage 1147a31-34 anstelle von „ff jeweils „ή" („Aristotelis Opera", ex rec. I. Bekkeri, ed. Academia Regia Borussica, Vol. 2, de Gruyter, Berlin 1960), und auch in der LoebAusgabe von Rackham fehlt beide Male der Gravis. Doch auch bei dieser Lesart kann ich meine Argumentation in d) und e) aufrechterhalten. Dirlmeier- bersetzung.
Die aristotelische Argumentation
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„... die Begierde, die ja die Kraft hat, jedes unserer Organe zu bewegen".73
Aristoteles erw hnt in diesem Textabschnitt aber keinerlei Organe oder K rperteile, so da die jErkl rung4 etwas unvermittelt erscheint. Nach Ramsauer ist diese Stelle dagegen so zu bersetzen: „... denn jeder der Seelenteile kann den Menschen bewegen",74
n mlich επιθυμία ebenso wie λόγος. Das scheint mir viel plausibler und auch mit dem Kontext gut vereinbar zu sein, denn gleich im n chsten Satz hei t es von der Begierde, sie sei dem richtigen Prinzip entgegengesetzt, also dem λόγος. g) Was ist mit „τελευταία πρότασις" gemeint? Ist es, wie Ross in der Oxford- bersetzung vorschl gt, die letzte Pr misse? Oder ist es die Konklusion?75 Oder ndert sich die Referenz dieses Ausdrucks von Zeit zu Zeit, so da er sich manchmal auf die Konklusion und ein anderes Mal auf eine Pr misse bezieht?76 Meines Erachtens ist die beste bersetzung „die letzte Proposition", doch worauf bezieht sich dieser Ausdruck? Meiner Interpretation zufolge (vgl. a)-d)) kann die letzte Pr misse nicht gemeint sein. Die letzte Pr misse ist in jedem Fall (3) („Dies ist s "). Mit Blick auf die τελευταία πρότασις sagt Aristoteles, von ihr habe der Akratiker entweder gar kein Wissen oder er habe es nur in einem eingeschr nkten Sinne, doch von (3) mu der Akratiker sogar aktuelles Wissen haben: Er mu sein Wissen von (3) anwenden, denn sonst k nnte er nicht zu der Konklusion (5) („Dies ist genu verhei end") gelangen. Das ist aber notwendig, denn wie wir in d) gesehen haben, kann die Begierde allein einen Menschen nicht zu einem Gegenstand hindr ngen. Es mu vielmehr klar sein, da der fragliche Gegenstand genu verhei end ist (5).77 Daraus ergibt sich, da mit „τελευταία πρότασις" die Konklusion (4) „Ich soll dies nicht kosten" gemeint sein mu .78 Und in der Tat ist (4) eine Meinung ber einen wahrnehmbaren Gegenstand,79 n mlich ber diesen bestimmten Gegenstand, und normalerweise ist es diese Meinung, die unser Handeln bestimmt — wenn auch nicht im Fall von Akrasia. 3 4
75
76
79
Vgl. Ross, Oxford- bersetzung: „... for it can move each of our bodily parts". „χινείν γαρ ίχαστον δύναται των μορίων: et ό λάγοζ 6 ϊνεκά τίνος et ipsa ή επιθυμία": G. Ramsauer, „Aristotelis Ethica Nicomachea", ed. et commentario continue instruxit, Teubner, Leipzig 1878, S. 442; vgl. dazu Stewart, Vol. II, S. 159. Vgl. Santas, Aristotle, S. 183 f, und Kenny, PSI, S. 183.
Kenny, ATW, S. 164. Diese berlegung macht gleichzeitig auch Kennys These von der wechselnden Referenz des Ausdrucks unhaltbar. Zu derselben Auffassung gelangt auch J. Owens in seinem Aufsatz „The Acratics 'Ultimate Premise' in Aristotle", in: J. Wiesner (Hg.), ^Aristoteles. Werk und Wirkung", Bd. l, de Gruyter, Berlin/New York 1985, S. 376-392; vgl. insb. S. 390 ff. Vgl. 1147b9f und oben, S. 84.
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Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
Dieser Interpretation zufolge gelangt der Akratiker entweder zur Konklusion (4) (dann hat er von ihr in einer gewissen Hinsicht Wissen, n mlich h herstufig-dispositionales Wissen), oder er gelangt gar nicht erst zu ihr. Der erstgenannte Fall ist der eines Menschen, der aufgrund von Schw che akratisch handelt und der Konklusion seiner berlegung nicht treu bleibt; der zweite Fall ist der eines impulsiven, ungest men Menschen, der berhaupt keine berlegung anstellt oder zumindest die beiden Pr missen (1) und (3) nicht zusammen betrachtet.
2.5 Das aristotelische Bild von Akrasia Diese Ausf hrungen lassen ein gewisses Bild der Akrasia entstehen. Im Akratiker sind zwei Argumentationsstr nge gegenw rtig: (i) die Argumentation der Vernunft und (ii) die Argumentation der Begierde. Wenn man bei Aristoteles' Beispiel bleibt, kann man sagen, da die Argumentation der Vernunft von (1) und (3) zu der Konklusion (4) f hrt. Aristoteles sagt ber die Akratiker: Sie »gehen n mlich mit sich zu Rate [βουλευσάμενοι], bleiben dann aber ... dem Ergebnis ihres Mit-sichzu-Rate-Gehens [οίς έβουλεύσαντο] nicht treu". (1150bl9-21)80 Dieses Zitat st tzt eindeutig meine Interpretation, wonach der Akratiker zur Konklusion des Syllogismus der Vernunft gelangen kann. Zugleich wird noch einmal deutlich, da Aristoteles hier nur ber Akrasia aufgrund von Schw che spricht. Der Impulsive geht ja, wie schon gesagt, gar nicht erst mit sich zu Rate und kommt daher auch zu keinem Ergebnis, dem er treu bleiben k nnte. Beim Impulsiven gibt es also keinen Argumentationsstrang der Vernunft, so da wir es in einem solchen Fall nur mit einem Syllogismus zu tun haben. Wohlverstanden kann auch ein weiteres Zitat als Beleg f r meine Interpretation angesehen werden, wenn Aristoteles n mlich sagt, Akrasia sei einer προαίρεσις entgegengesetzt (1151a7; vgl. auch 1151a30f und 1148a9). Um den Stellenwert dieser Passage zu erkennen, mu man sich vergegenw rtigen, was Aristoteles unter „προαίρεσις" versteht: ,,[W]as aber die προαίρεσις angeht, so ist offenkundig, da sie weder ein einfacher Wunsch [βούλησις] noch eine schlichte Meinung [δόξα] ist, sondern eine Meinung und ein Streben [ορεξις], wenn sie das Ergebnis des Mit-sich-zuRate-Gehens [sc. die Konklusion] sind." (EE 1227a3-5)81 80 81
Meine Hervorhebung; vgl. auch 1152al8£ und 28 f. Meine Hervorhebung; vgl. NE 1113a2f und 9-11. — Die προαίρεσις beinhaltet „das Sich-klar-werden dar ber, weshalb man einem Ding vor dem anderen den Vorzug gibt, warum das Bevorzugte zweckentsprechender ist." Dirlmeier, NE, S. 329
Das aristotelische Bild von Akrasia
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„προαφεϊσθαι bedeutet: aufgrund von berlegung einem Ding vor einem anderen den Vorzug geben (so Ar. selbst EN 1112al7). Das Substantiv also bedeutet: , berlegte Wahl'"82 oder auch „wohlbedachtes Vorziehen". „Es gibt keine προαίρεσις ohne ... charakterliche Grundhaltung [Ιξις]", sagt Aristoteles (1139a33f) und meint damit, man k nne etwas nur dann eine προαίρεσις nennen, wenn es der sittlichen Grundhaltung des Handelnden entspricht, sei sie tugend- oder lasterhaft.83 Nun macht der Akratiker etwas deshalb, weil es hier und jetzt angenehm oder genu verhei end ist, aber nicht, weil er einer bestimmten Regel in bezug auf Angenehmes oder Genu verhei endes folgt.84 Was er tut, entspricht gerade nicht seiner Vorstellung vom guten Handeln, und so kann man bei seinem Handeln auch nicht sagen, es erfolge aufgrund einer προαίρεσις. Dieser berlegung k nnte man entgegenhalten, der Akratiker handele zwar entgegen seiner Wahl, n mlich gegen die ,Stimme der Vernunft', aber er handele auch gem einer Wahl, n mlich gem der ,Stimme der Begierde' . Mit Aristoteles ist darauf zu antworten, da man von dem Akratiker zwar m glicherweise sagen kann, er entscheide sich f r das, was die ,Stimme der Begierde' spricht, doch dabei handelt es sich keinesfalls um eine berlegte Wahl, um ein wohlbedachtes Vorziehen, und demzufolge nicht um eine προαίρεσις (vgl. llllblSf und 1134a20f). Wenn der Akratiker nun aber zur Konklusion der Vernunft (4) gelangt, dann m te er eigentlich, wie Aristoteles in 1147a30f sagt, zur selben Zeit dementsprechend handeln. Aber er tut es nicht. Die — zugegebenerma en nicht besonders befriedigende — Erkl rung daf r liegt darin, da die Begierde ihn daran hindert,85 und diese Ausnahme gesteht Aristoteles zu (vgl. 1147a30f).
82 83
84
Anm. 50, 3. Zum Begriff der προαίρεσις vgl. auch H. K hn, „Der Begriff der Prohairesis in der Nikomachischen Ethik", in: D. Henrich, W.Schulz, K.-H. VolkmannSchluck (Hg.), , ie Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift f r Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag", J. C. B. Mohr (P. Siebeck), T bingen 1960, S. 123-140. Dirlmeier, NE, S. 327 Anm. 48,3. Vgl. G. E. M. Anscombe, „Thought and Action in Aristotle" (Thought and Action), S. 148, in: R. Bambrough (Hg.), ,Jfew Essays on Plato and Aristotle", Routledge & Kegan Paul, London 21965, S. 143-158, und T. H.Irwin, „Reason and Responsibility in Aristotle", S. 128f, in: A. Oksenberg-Rorty (Hg.), Assays on Aristotle's Ethics" (Essays), University of California Press, Berkeley/Los Angeles / London 1980, S. 117-155. Vgl. Anscombe, Thought and Action, S. 144, und Kenny, ATW, S. 71. Gegen Hardie (S. 283) stimme ich mit Kenny berein, der behauptet: "κωλυόμενον in line 31 probably does not mean 'physically hindered' but 'prevented by a conflicting internal factor'. Otherwise, the verb is used to refer to quite different factors in line 31 and line 32; and in line 31 μη κωλυόμενον becomes merely a repitition of δυνάμενον." (PSI, S. 178)
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Aristoteles' Auseinandersetzung mit Akrasia
Die Argumentation der Begierde führt von (2) und (3) zu der Konklusion (5). Anders als bei der Argumentation der Vernunft wird hier jedoch keine Konklusion zugunsten einer Handlung gezogen,86 denn die Überlegung kommt nach Aristoteles nicht über (5) „Dies ist genufiverheißend" hinaus. Die Konklusion drückt nur aus, daß dieses bestimmte Objekt genußverheißend ist, und „die Begierde stürmt sofort los auf den Genuß" (1149a34f; vgl. EE 1224blf). Doch man kann sofort ein Gegenargument ins Feld führen. Man könnte annehmen,87 daß zusätzlich zu (2) und (3) noch eine andere Meinung in uns gegenwärtig ist, nämlich z.B. (6)
Jeder Mensch soll alles Genuß verheißende verfolgen.
Dann würde aus (2) und (3) (5) folgen und aus (5) und (6)88 (7)
Ich soll dies verfolgen.
Aristoteles' Antwort auf diesen Einwand wäre vermutlich, daß wir unser Verhalten natürlich auf diese Art rationalisieren können, daß (6) und (7) jedoch nicht notwendig sind.89 Ein Mensch braucht nur zu glauben, daß dies angenehm ist, damit die Begierde ihn zu einer Handlung drängen kann. Die beiden Argumentationsstränge, mit denen wir es bei Akrasia aufgrund von Schwäche zu tun haben, sind zusammenfassend noch einmal in der folgenden Tabelle dargestellt: Syllogismus der Vernunft
Syllogismus der Begierde
(1) Kein Mensch soll etwas Süßes kosten.
(2) Alles Süße ist genußverheißend.
(3) Dies ist süß.
(3) Dies ist süß.
(4) Ich soll dies nicht kosten.
(5) Dies ist genußverheißend.
(1) und (2) sind die Obersätze, und (3) ist der beiden Argumentationssträngen gemeinsame Untersatz. (4) und (5) sind die beiden Konklusionen. Zwischen ihnen besteht ein entscheidender Unterschied: (5) ist keine 86 87 88
89
Kenny, PSI, S. 182. Vgl. Santas, Aristotle, S. 165. Hinzugenommen werden muß natürlich noch die Prämisse „Ich bin ein Mensch": Vgl. oben, S. 86 Anm. 64. Dies ist ein weiteres Argument gegen die These, der Akratiker gebe einem Ding vor einem anderen aufgrund von Überlegung ((5) & (6) l· (7)) den Vorzug und handele auch gemäß einer Wahl.
Das aristotelische Bild von Akrasia
93
Konklusion zugunsten einer Handlung, doch in (4) wird eindeutig eine Handlungsempfehlung ausgedrückt.
2.5.1 Das Wissen des Akratikers Explizit sagt Aristoteles nichts darüber, in welchem Sinne der Akratiker von (1), (2), (3) oder (5) Wissen hat. Was (l)-(3) angeht, so ist die Antwort einfach zu geben — zumindest im Fall von Akrasia aufgrund von Schwäche: Der Akratiker hat Wissen davon, und er wendet es auch an. Anderenfalls könnte er nicht zu den Konklusionen (4) („Ich soll dies nicht kosten") und (5) gelangen. Beim Impulsiven ist die Situation etwas anders. Sicher muß man ihm auch aktuelles Wissen von (2) und (3) zuschreiben, da er sonst nicht zur Konklusion (5) gelangen könnte. Doch welche Art Wissen hat er von (1)? Hätte er aktuelles Wissen davon, sollte man eigentlich annehmen, daß er dann auch zur Konklusion (4) kommt — das aber schließt Aristoteles aus. Eine mögliche Erklärung wäre, daß der Impulsive es versäumt, die beiden Prämissen (1) und (3) im Zusammenhang zu sehen, sie miteinander zu verbinden.90 Schriebe man dem Impulsiven nur dispositionales Wissen von (1) zu, entstünde dieses Problem nicht, da er dann aus (1) und (3) nicht schließen könnte, denn dazu müßte er sein Wissen anwenden. Es gibt bei Aristoteles aber keinen Hinweis darauf, welche der beiden Möglichkeiten zu favorisieren ist. So muß offenbleiben, welche Art von Wissen der Impulsive Aristoteles zufolge von (1) hat bzw. haben kann. In bezug auf (5) gilt (und zwar für beide Arten von Akrasia), daß der Akratiker davon sicher nicht bloß höherstufig-dispositionales Wissen haben kann. Aber hat er dispositionales oder aktuelles Wissen? Würde ihm dispositionales Wissen genügen, da die Begierde doch sofort „auf den Genuß losstürmt"? Ich denke, der Akratiker muß sich zumindest in irgendeiner Hinsicht mit seinem Wissen von (5) befassen, es in Betracht ziehen, sich vor Augen halten, denn wie könnte die Begierde sonst überhaupt zu einer Bewegung angeregt werden? Sich mit seinem Wissen zu befassen, bedeutet aber, wie wir gesehen haben,91 sein Wissen anzuwenden. D.h., der Akratiker hat von (5) aktuelles Wissen. Wenn auch nicht in bezug auf (l)-(3), so sagt Aristoteles doch etwas über die Art von Wissen, die der Akratiker (allerdings nicht der Impulsive) von (4) hat. Davon hat er höherstufig-dispositionales Wissen (1147b9-12).
91
Vgl. A. Oksenberg-Rorty, „Akr und die Maxime der Leidenschaft, (line)i sind beim Continenten und Incontinenten noch gleich, doch schon 20 21 22 23
Vgl. NE 1140bl3-16 und oben, S. 108. Vgl. Ia2ae. 10, 3, NE 1147al5-17 und oben, S. 94. Zu diesem Absatz vgl. Ia2ae. 77, 2 ad 4. De Malo 3, 9 ad 7; vgl. auch Ia2ae. 77, 7 ad 4.
Das Wissen des Incontinent«!
117
die Untersätze im jeweiligen praktischen Syllogismus, (2 con ) und (2j nc ), unterscheiden sich.24 Es stellt sich nun die Frage, welche Art von Wissen (aktuelles oder dispositionales) der Incontinente Thomas' Ansicht nach von den einzelnen Propositionen hat, aus denen die beiden Syllogismen bestehen. Der Schlüssel zur Antwort ist in Ia2ae. 77, 2 ad 3, zu finden: „Es ist nicht möglich, daß jemand aktuell ein Wissen oder eine wahre Meinung von einer universal affirmativen Proposition und gleichzeitig aktuell eine falsche Meinung von einer partikular negativen Proposition hat oder umgekehrt [d.h., daß jemand aktuell eine falsche Meinung von einer universal affirmativen Proposition hat und gleichzeitig aktuell ein Wissen oder eine wahre Meinung von einer partikular negativen Proposition]. Es ist aber wohl möglich, daß jemand dispositional ein wahres Wissen von einer universal affirmativen Proposition hat und aktuell eine falsche Meinung von einer partikular negativen Proposition ... "25 Wörtlich verstanden ist der erste Satz des Zitats natürlich falsch. Sicher kann man z.B. aktuell der falschen Meinung (li nc ), einer universal affirmativen Proposition, sein und beispielsweise von (4)
Einige Menschen sind nicht hilfsbereit,
einer partikular negativen Proposition, aktuelles Wissen haben — und zwar auch gleichzeitig. Das wollte Thomas aber bestimmt nicht bestreiten. Um seiner Intention gerecht zu werden und seiner These größere Plausibilität zu verleihen, sollte man vielmehr annehmen, daß er voraussetzt, die beiden Propositionen stünden in einem bestimmten Verhältnis zueinander, nämlich in einem kontradiktorischen. Jemand kann also nicht, so muß man Thomas' These erläutern, aktualiter der falschen Meinung (li nc ) sein und gleichzeitig aktuelles Wissen haben von: (5)
Einiges Lustvolle ist nicht zu verfolgen.
Interessanterweise ist aber ein solches Propositionenpaar in den Syllogismen des Incontinenten und des Continenten, um die es Thomas hier ja geht, gar nicht zu finden.26 Es ist jedoch möglich, eine Proposition zu Das müssen sie natürlich auch, da man weder aus (l c on) und (2i nc ) noch aus (li n c) und (2 CO n) allein (3COn) oder (3i„c) ableiten kann. Vgl. auch De Malo 3, 9 ad 5. Diese und die folgenden Übersetzungen stammen von mir. (line) und (3Con) kommen als Beispiel deshalb nicht in Frage, weil in (3con) gar nicht davon die Rede ist, daß es sich bei der betreffenden Handlung um etwas Lustvolles handelt.
118
Thomas von Aquin über Incontinentia
konstruieren, die zu (l;nc) in kontradiktorischem Verhältnis steht. Wenn NN nämlich von (3con) und von (2;nc) aktuelles Wissen hat, kann man ihm auch zu Recht unterstellen, daß er (aktualiter) weiß: Diese lustvolle Handlung ist nicht zu verfolgen.27
(6)
Ganz analog läßt sich auch eine Proposition konstruieren, die zu (!COn) in einem kontradiktorischen Verhältnis steht. Wer von (3i„c) und von (2con) aktuell eine falsche Meinung bzw. Wissen hat, dem kann man auch unterstellen, daß er aktualiter der falschen Meinung ist: (7)
Diese sündhafte Handlung ist zu verfolgen.
Wenden wir diese Überlegungen nun auf die Ausgangsfrage an, welche Art von Wissen (aktuelles oder dispositionales) der Incontinente Thomas' Ansicht nach von den verschiedenen Propositionen in den beiden Syllogismen hat, so zeigt sich, daß der Incontinente jeweils nur von zwei der drei Propositionen (l con ), (2 con ) und (3inc) bzw. (l inc ), (2 inc ) und (3con) aktuelles Wissen oder eine aktuelle Meinung haben kann. Nun muß allerdings die Meinung des Incontinenten, daß dies zu verfolgen ist (3i nc ), aktuell sein, denn sie ist es, welche die Handlung des Incontinenten letztendlich beeinflußt. Demnach kann der Incontinente nur von (Icon) oder von (2 con ) aktuelles Wissen haben. Um zur Konklusion (3inc) gelangen zu können, müssen auch die Prämissen (li nc ) und (2i nc ) aktuell sein. Daraus ergibt sich dann wiederum, daß der Incontinente von (3COn) kein aktuelles Wissen haben kann, sondern nur dispositionales. Thomas zufolge hat der Incontinente also aktuell die falschen Meinungen (line), (2jnc) und (3i„c) und bestenfalls dispositionales Wissen von (3COn)· Was (Icon) und (2con) angeht, so läßt sich bisher nicht mehr sagen, als daß der Incontinente nur von einer der beiden Propositionen aktuelles Wissen haben kann.28
3-4
Der Argumentationsverlauf bei Incontinentia
Der Umstand, daß die Leidenschaft beim Incontinenten verhindert, daß (Icon) als Obersatz eines praktischen Syllogismus herangezogen wird (Ia2ae.77, 2 ad 4), legt die Vermutung nahe, daß es Thomas zufolge in einem Fall von Incontinentia gar keinen echten Argumentationsstrang der Vernunft gibt. Man könnte annehmen, daß der Incontinente überhaupt 27
28
Dabei ist vorausgesetzt, daß NN weiß, daß mit „dies" bzw. „diese" jeweils auf dasselbe Bezug genommen wird. Vgl. dazu unten, S. 120 Anm. 31.
Der Argumentationsverlauf bei Incontinentia
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nicht weiß, daß die betreffende Handlung eine Sünde ist (2con). Demnach dürfte er auch nicht zu der Konklusion gelangen, die der Vernunft entspricht (3con)· Diese Auffassung wird zusätzlich dadurch gestützt, daß Thomas von der Unwissenheit des Incontinenten hinsichtlich dessen, was zu wählen ist, spricht.29 Andererseits behauptet er aber auch, daß jemand, bei dem die Leidenschaft auftritt, sagen kann, daß dies nicht getan werden darf,30 was genau der vernunftgemäßen Konklusion (3con) entspricht. Die Erklärung für diese vermeintliche Inkonsistenz scheint mir zu sein, daß an den Stellen, die gegen die Annahme sprechen, daß der Incontinente zu (3con) gelangt, nur auf den letztlich handlungsbestimmenden Syllogismus Bezug genommen wird. Dort mag es tatsächlich so sein, daß der Incontinente nur dem Argumentationsstrang der Begierde folgt. Für diese Erklärung spricht auch Thomas' Bemerkung, der Incontinente handele entgegen dem, was er sich früher vorgenommen habe, nicht aber entgegen dem, was er jetzt wolle (Ia2ae. 6, 7 ad2). Im Endeffekt wird die Handlung des Incontinenten zwar von dem bestimmt, was er jetzt will; er muß aber zuvor schon einmal beim Überlegen zu (3con) gelangt sein — sonst wäre es kein Fall von Incontinentia. Und so sagt auch Thomas, der Incontinente halte nicht an dem fest, was die Vernunft ihm geraten habe (2a2ae. 156, 1). Unklar ist jedoch noch immer, weshalb der Incontinente laut Thomas vier Propositionen in einem Syllogismus verwendet. Zumindest auf den ersten Blick überrascht die Anzahl der verwendeten Propositionen. Einerseits erscheint sie nämlich zu hoch: Wofür benötigt der Incontinente (l CO n) in seinem Syllogismus? Andererseits erscheint sie aber zu gering: Muß der Incontinente denn nicht auch von (2con) und (3COn) Wissen haben? Mit der ersten Frage wird auf die deduktive Redundanz von (l CO n) angespielt. In der Tat ist der letztlich handlungsbestimmende Syllogismus des Incontinenten mit (lmc) ? (2;nc) und (3inc) vollständig beschrieben; (l con ) ist für die Deduktion nicht erforderlich. Die zweite Frage betrifft die psychische Realität des Incontinenten. Man könnte nur ernsthaft von jemandem behaupten, er sei incontinent, wenn er weiß, daß die betreffende Handlung sündhaft ist (2 con ) und daß man sie nicht ausführen darf (3con)· Demnach gehören zu einer angemessenen Beschreibung der psychischen Realität eines Incontinenten neben (li nc ) ? (2in C ) und (3inc) auch (!«,„), (2con) und (3con)· Diese Überlegungen scheinen deutlich zu machen, daß Thomas mit seiner Bemerkung, der Incontinente verwende vier Propositionen in einem Syllogismus, weder auf deduktive Notwendigkeit Bezug genommen, noch 29 30
2a2ae. 156, 3 ad 1; vgl. unten, S. 120. Vgl. Ia2ae. 77, 2 ad 5, und oben, 2.5.2.
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Thomas von Aquin über Incontinentia
die psychische Realität des Incontinenten gemeint haben kann. Daß dieser Schein trügt, erkennt man, wenn man Thomas' Behauptung wiederum vor dem Hintergrund betrachtet, daß es ihm nur um den letztlich handlungsbestimmenden Syllogismus und somit auch einzig um die Situation des Incontinenten unmittelbar vor der Handlung geht. Dann aber kann man durchaus annehmen, daß die psychische Realität des Incontinenten tatsächlich durch (linc)> (2i nc ), (3inc) und (l co n)> vollständig beschrieben wird und sowohl (2 con ) als auch (3con) keine Rolle mehr spielen. Legt man diese Annahme zugrunde, so läßt sich die psychologisch nicht ganz unplausible These vertreten, der Incontinente schwanke unmittelbar vor seiner Handlung noch, ob er dem Prinzip der Vernunft oder der Maxime der Leidenschaft folgen soll, entscheide sich dann aber unter dem Einfluß der Leidenschaft für letzteres.31 „Die Leidenschaft [passto] hindert nun die Vernunft, so daß diese nicht unter dem ersten [Obersatz (l CO n) eine Proposition (2COn)] dazunimmt und [daraus (3Con)] schließt; vielmehr nimmt die Vernunft, solange die Leidenschaft andauert, unter dem zweiten [Obersatz (line) eine Proposition (2j nc )] dazu und schließt [daraus (3inc)]."32 Eine Konsequenz dieses Ergebnisses ist, daß klarsichtige Incontinentia Thomas zufolge nicht vorkommt. In einem Fall von klarsichtiger Incontinentia gehörte zur vollständigen Beschreibung der psychischen Realität des Incontinenten nämlich auch (3con), und zwar nicht nur unmittelbar vor, sondern auch während der Handlung.
3.5
Willentlich oder unwillentlich
Dadurch, daß beim Incontinenten das Streben (appetitus) infolge der Leidenschaft auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet ist, entsteht in ihm eine Unwissenheit (2a2ae. 156, 3 ad l).33 „Die Unwissenheit des Incontinenten betrifft einen bestimmten Aspekt der Wahl, insofern der Incontinente nämlich glaubt, er müsse diese bestimmte Sache jetzt wählen."34 31
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Diese Überlegungen legen den Schluß nahe, daß der Incontinente von (Icon) aktuelles Wissen hat, von (2 con ) aber nur dispositionales. „Passio igitur ligat rationem ne assumat et concludat sub prima; unde ea durante, assumit et concludit sub secunda." (Ia2ae. 77, 2 ad 4) meint damit aber immer nur, daß Thomas spricht zwar häufig von C/Viwissenheit, Un\ kein aktuelles Wissen vorhanden ist. „[Ijgnorantia incontinentis attenditur quantum ad aliquod particulare eligibile, prout scilicet aestimat hoc nunc esse eligendum..." (2a2ae. 156, 3 adl; vgl. auch Ia2ae. 77, 7 ad 2.)
Willentlich oder unwillentlich
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Der Incontinente ist also der falschen Überzeugung, er solle eine bestimmte Handlung ausführen (3jnc), und weiß nicht, was er vernünftigerweise wählen sollte, d.h., er hat kein Wissen von (3con), der Konklusion des Syllogismus des Continenten. Diese Unwissenheit dauert so lange, wie die Leidenschaft anhält. Ist die Leidenschaft vorüber, kann (l CO n) als Obersatz in einem Syllogismus fungieren. Was dann die zweite Prämisse angeht, so muß entweder aus dem dispositionalen Wissen von (2con) ein aktuelles werden, oder es muß das vorhandene aktuelle Wissen herangezogen werden. Nun kann aus (l con ) und (2con) (3con) gefolgert werden, und die beschriebene Unwissenheit ist vorüber.35 Ist nun der Umstand, daß der Incontinente in einer bestimmten Hinsicht unwissend ist, Grund genug, seine Handlung „unwillentlich" zu nennen? Thomas unterscheidet drei Arten von Unwissenheit: Unwissenheit, die dem Willen vorausgeht (ignorantia antecedenter), die gleichzeitig mit ihm auftritt (ignorantia concomitanter) und die ihm folgt (ignorantia consequenter) (Ia2ae. 6, 8). Von einer auf den Willen folgenden Unwissenheit36 spricht Thomas u.a., wenn einer das, was er bedenken kann und soll, z.B. wegen einer Leidenschaft bei der Handlung nicht berücksichtigt. Es ist dann eine Unwissenheit schlechter Wahl (ignorantia malae electionis) oder besser eine Unwissenheit, die in einer schlechten Wahl zum Ausdruck kommt (Ia2se. 6, 8): Der Incontinente führt die sündhafte Handlung aus. Nun ist (3con) etwas, das der Incontinente wissen kann und an sich zu wissen verpflichtet ist, so daß es sich bei der Unwissenheit des Incontinenten in bezug auf (3COn) um eine auf den Willen folgende Unwissenheit handelt (vgl. 2a2ae. 156, 3 ad 1). Eine solche Unwissenheit nennt Thomas auch „willentliche Unwissenheit" („ignorantia voluntaria"}. Da sie willentlich ist, kann das, was durch sie verursacht wird, nämlich die Handlung des Incontinenten, nicht schlechthin unwillentlich sein. So scheint man durchaus zu Recht sagen zu können, der Incontinente handele willentlich und sei für seine Handlung verantwortlich, denn man kann ihm auch seine Unwissenheit vorwerfen.
36
Thomas teilt allerdings nicht die sokratisch-aristotelische Ansicht, (aktuelles) Wissen sei auch hinreichend für richtiges Handeln. Zwar tendiert der Wille nie zu etwas Schlechtem außer im Fall von Unwissenheit oder Irrtum der Vernunft (Ia2ae. 77, 2, vgl. De Veritate 25,1), doch ,,[b]loßes Wissen [co^nifio] allein genügt nicht, um den Incontinenten zu heilen, denn er bedarf noch der inneren Hilfe durch die Gnade, um die Begierde [concupiacentia] zu unterdrücken, und daneben auch der äußeren Hilfe der Ermahnung und Strafe, die ihn dazu führt, anzufangen, seinen Begierden zu widerstehen, so daß sie geschwächt werden." (Ia2ae. 156, 3 ad 2) Vgl. auch Ia2ae. 8, l, Ia2ae. 9, 4 ad l, und M. Wittmann, „Die Ethik des hl. Thomas von Aquin", Max Hueber, München 1933, S. 95. Vgl. oben, S. 102, Handeln in Unwissenheit.
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Thomas von Aquin über Incontinentia
In einer gewissen Hinsicht ist die Handlung des Incontinenten allerdings doch unwillentlich, insofern nämlich, als die Unwissenheit der Bewegung des Willens auf das, was zu tun ist, vorausgeht und es diese Bewegung nicht gäbe, wenn anstelle der Unwissenheit aktuelles Wissen vorhanden wäre (Ia2ae. 6, 8). Neben Unwissenheit gibt es noch einen weiteren möglichen Grund dafür, daß eine Handlung unwillentlich erfolgt, nämlich wenn die Begierde (concupiscentia) den Willen und die Vernunft in einer bestimmten Weise beeinflußt. Thomas unterscheidet Grade der Beeinflussung und vertritt die Auffassung, eine Handlung sei dann unwillentlich, wenn die Intensität der Begierde den Gebrauch der Vernunft gänzlich ausschalte.37 Dies ist bei Incontinentia jedoch nicht der Fall. Dem Incontinenten geht es nicht so wie beispielsweise jemandem, der gleichsam blind ist vor Wut, der also keiner vernünftigen Überlegung zugänglich ist, geschweige denn sie selber anstellt. Wenn die Begierde nämlich so heftig ist, daß sie beim Handelnden den Gebrauch der Vernunft völlig unterbindet, sind die Begriffe Continentia und Incontinentia nicht anwendbar, da dann von einem Urteil der Vernunft, dem ja der Continente folgt und das der Incontinente in seinem Handeln ignoriert, keine Rede sein kann (Ia2ae. 156, 1). Der Incontinente wird vielmehr nur in einem schwächeren Maße von seinen Begierden beeinflußt38 und behält sein Urteilsvermögen. Aus diesem Grunde kann Thomas weiterhin behaupten, die Handlung des Incontinenten erfolge willentlich.39
3.6
Thomas von Aquin und Aristoteles
Vergleicht man Thomas' Ansatz mit dem von Aristoteles, werden vier Unterschiede deutlich: a) Zunächst fällt auf, daß nach Thomas der Continente und der Incontinente unterschiedliche partikulare Propositionen im Syllogismus verwenden, nämlich (2con) und (2i nc ). Bei Aristoteles gibt es dagegen nur eine partikulare Proposition („Dies ist süß"40), aus der in Verbindung mit dem 37 38
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Ia2ae. 6, 7 ad 3; vgl. Ia2ae. 10, 3, und Ia2ae. 75, 2. ,,[D]ie Begierde veranlaßt den Willen, das Objekt der Begierde zu wollen. Und auf diese Weise macht die Begierde eine Handlung in größerem Maße willentlich als unwillentlich." (Ia2ae. 6,7) Vgl. auch De Veritate 22, 9 ad 3. — Zu einer kurzen Darstellung der Unterschiede, die zwischen dem aristotelischen und thomistischen Verständnis von Willentlichkeit bestehen, uns hier aber nicht zu beschäftigen brauchen, vgl. A. J. P. Kenny, „Thomas von Aquin über den Willen", insb. S. 113-121, in: W. Kluxen (Hg.), „Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch", Karl Alber, Freiburg / München 1975, S.101-131. Vgl. oben, S. 92 f.
Thomas von Aquin und Aristoteles
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entsprechenden Obersatz sowohl der Enkratiker als auch der Akratiker eine Konklusion ableiten kann. b) Nach Thomas ist nicht nur die Konklusion des Continenten (3con), sondern auch die des Incontinenten (3inc) handlungsempfehlend. Sie driikken aus, was der Mensch zu tun bzw. zu lassen hat. Im Gegensatz dazu wird, wie wir gesehen haben,41 bei Aristoteles im Argumentationsstrang der Begierde ausdrücklich keine Konklusion zugunsten einer Handlung gezogen. Nach Aristoteles brauchen „... bei der Begierde ... Reflexion oder die Sinne nur anzudeuten, daß etwas angenehm [genußverheißend] sei — und schon stürmt sie los auf den Genuß."42 Daher bedarf es auch keiner Aufforderung mehr, diese bestimmte Handlung zu verfolgen, wie es (3i nc ) ist. Thomas zufolge wird jedoch „... der Mensch nicht sofort auf das Streben des Eifernden [appetitus irascibilis] oder Begehrenden [appetitus concupiscibilia] hin bewegt, sondern es wird der Befehl des Willens, der die höhere Strebekraft ist, abgewartet."43 Insofern ist also für die entsprechende Handlung auch noch eine Konklusion wie (3i„c), „Dies ist zu verfolgen", erforderlich. c) Obwohl Thomas in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik die aristotelische Unterscheidung zwischen aktuellem, dispositionalem und höherstufig-dispositionalem Wissen korrekt darstellt,44 glaubt er bei seiner eigenen Erörterung von Incontinentia auf die dritte Art von Wissen verzichten zu können. Er schreibt dem Incontinenten dispositionales Wissen von der Konklusion des Syllogismus der Vernunft zu, wo Aristoteles von Aö/iersiii/i