Schizophrenien: Wissen - Verstehen - Handeln: Brücken bauen zwischen Wahnwelten und Realität 9783666462658, 9783525462652, 9783647462653


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Schizophrenien: Wissen - Verstehen - Handeln: Brücken bauen zwischen Wahnwelten und Realität
 9783666462658, 9783525462652, 9783647462653

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V

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Josi Rom

Schizophrenien:

Wissen – Verstehen – Handeln Brücken bauen zwischen Wahnwelten und Realität

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46265-2 ISBN 978-3-647-46265-3 (E-Book) Umschlagabbildung: jala / photocase.com © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Statt eines Vorworts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil A: Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1 Was bedeutet Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Objektivierbares und subjektives Wissen . . . . . . . . . . . . .  19 1.2 Widersprüchliches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24 1.3 Wahrnehmung und Verarbeitung von Wissen . . . . . . . .  33 1.4 Forschung allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  40 1.5 Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  44 2 Schizophrenien: Wissen aus der Außenposition . . . . . . . . . . 49 2.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  49 2.2 Teilobjektfokussierte Außenperspektiven . . . . . . . . . . . . .  54 2.2.1 Neuroanatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 2.2.2 Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 2.2.3 Genetik und Epigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 2.2.4 Oxytocin, ein körpereigenes Antipsychotikum? . .  64 2.2.5 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 2.3 Subjektfokussierte Außenpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 2.3.1 Die psychopathologische Untersuchung . . . . . . . .  79 2.3.2 Gegenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 2.3.3 Die unfreiwillige Erstuntersuchung . . . . . . . . . . . . .  87 2.3.4 Die »freiwillige« Erstuntersuchung . . . . . . . . . . . . .  99 2.3.5 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 3 Schizophrenien: Wissen aus der Innenposition . . . . . . . . . . . 109

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Inhalt

Teil B: Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1 Was bedeutet Verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2 Klassische Physik und Einsteins Relativitätstheorien . . . . . . 125 2.1 Lichtgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 2.2 Spezielle Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127 2.2.1 Zeitdilatation und Längenkontraktion . . . . . . . . . .  127 2.2.2 Relativistische Massenzunahme . . . . . . . . . . . . . . . .  129 2.3 Allgemeine Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 3 Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  137 3.2 Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  138 3.3 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139 3.4 Informationstheorie und Verrücktheiten der Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 3.4.1 Ausgangsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 3.4.2 Vom Teilchen zur Informationstheorie . . . . . . . . . .  144 3.4.3 Inflation nach dem Urknall . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  150 3.4.4 Fünf Stringtheorien und Multiversen . . . . . . . . . . .  151 4 Schizophrenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 4.2 Vier Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 4.2.1 Erste Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 4.2.2 Zweite Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161 4.2.3 Dritte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 4.2.4 Vierte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  168 4.2.5 Vergleich und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . .  170 4.3 Gegenübertragungsfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  172 4.4 Sinn und Grenzen im Verstehen schizophrener Welten .  184 4.5 Einsicht, Ansicht und Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . .  187 Teil C: Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1 Die heutige Fortbildungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1.1 Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  201 1.2 Referenten und Organisatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204

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Inhalt7

1.2.1 Inhaltliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 1.2.2 Administrative Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . .  206 2 Modellfortbildung zum Thema »Schizophrenien« . . . . . . . . 209 2.1 Berücksichtigte Therapierichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 2.2 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  210 2.3 Ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211 2.4 Vorveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  213 2.5 Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  214 2.6 Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  216 3 Brückenbau innerhalb der therapeutischen Landschaft und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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Zwischen Entweder und Oder führt noch manches Sträßlein. Josef Viktor von Scheffel (1826–1886)

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Statt eines Vorworts

Kein Mensch ist unersetzbar, aber jeder Mensch ist einmalig. Ich hätte mir gewünscht, dass mein langjähriger Supervisor Christian Scharfetter das Vorwort zu diesem Buch schreibt, wie er es bei »Identitätsgrenzen des Ich« (2008) getan hat. Leider erkrankte Herr Scharfetter im Sommer 2012 so ernsthaft, dass ich ihn nicht mehr darum bitten konnte. Am 25. November 2012 ist Herr Scharfetter verstorben. Symbolisch für die Lücke, die bei mir entstanden ist, verzichte ich auf ein Vorwort.

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Einleitung

Der geachtete Rebbe (Rabbiner) lebt im Schtetl (Stadt) mit seiner Rebbezen (Frau) in einer kleinen Wohnung bestehend aus einem Schlafzimmer und separiertem Allzweckraum mit integrierter Küche. Während der Rabbi studiert oder sich den Anliegen seiner Gemeinde zuwendet, kocht im Hintergrund die Rebbezen, besorgt den Haushalt und bekommt unweigerlich mit, womit sich der Rebbe gerade befasst. Jankel (Jakob) und Moische (Moses), zwei Mitglieder seiner Gemeinde, haben sich wegen eines Handels verkracht. Sie wollen ihren Streit durch den Rebbe beurteilen und entscheiden lassen und damit beenden. Da kein Platz für ein Wartezimmer vorhanden ist, bittet der Rebbe die beiden, am kommenden Montagmorgen im Abstand von einer Stunde zu ihm zu kommen. Moische erscheint pünktlich um acht Uhr und erzählt dem Rebbe ausführlich und aufgebracht seine Version des ihm durch Jankel zugefügten Unrechts! Der Rebbe hört geduldig zu. Nach längerem Schweigen und Nachdenken sagt er endlich, Moische ernst anblickend: »Du hast recht.« Moische geht erleichtert seines Wegs. Pünktlich um neun Uhr erscheint Jankel. Die Geschichte wiederholt sich. Nachdem er sich dieselbe Begebenheit diesmal aus Jankels Sicht angehört hat, sagt der Rebbe erneut und erst nach längerem Schweigen zu Jankel: »Du hast recht.« Auch Jankel verlässt daraufhin erleichtert, ja beglückt durch die Entscheidung die Wohnung des Rebbe. Als beide weggegangen sind, fragt die Rebbezen, die alles mitgehört hat, ihren Mann etwas ungehalten: »Wie kannst du beiden recht geben?« Darauf antwortet ihr der Rebbe: »Auch du hast recht.«

So unnachgiebig wie Jankel und Moische scheinen sich Vertreter der Neurobiologie, Psychiatrie, Psychotherapie und die der Psychoanalyse, Philosophie und anderer Disziplinen in einigen Fragen gegenüberzustehen – manchmal auch innerhalb der Schulen untereinander. Zum Beispiel, wenn es um die Freiheit unserer Entscheidungen, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Einleitung

Widersprüche der Einstein’schen speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie zur Quantenphysik (Teil B) geht oder darum, was denn Geist und Psyche seien (Teil A). Der Streit nimmt oft emotionale Züge an. Er erinnert an unerbittlich geführte Diskussionen zwischen politischen Gegnern, Atheisten und Gläubigen oder Gelehrten verschiedener Religionen. Zwischen den rivalisierenden Psychotherapieschulen geht es heute oft nicht anders her. Als ich mich in den letzten Jahren intensiver mit verschiedenen Denksystemen auseinandersetzte, schien mir die Meinung, mit der ich mich gerade befasste, innerhalb desselben Systems meist schlüssig und nachvollziehbar. Erweiterte ich meinen Blickwinkel, wurde mir deutlich, wie grundlegend diese sich jedoch widersprachen. Ich fand mich in der unbequemen Position des Rebbe wieder. Beruhigende Antworten taten sich mir keine auf. Was mich heute hingegen beunruhigt, ist die Heftigkeit, mit der solche Auseinandersetzungen geführt werden. Die Gelassenheit des Rabbi wünschte ich mir hier: Vielleicht haben alle recht! Als Psychoanalytiker lebe ich in einer für die Psychoanalyse schwierigen Zeit. Heute sind Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Naturwissenschaftlichkeit gefragt. Der sachlich teilweise berechtigte Aufschwung der Verhaltenstherapie gegenüber anderen Therapieverfahren in den letzten Jahren hängt sicher auch damit zusammen. Diese surft auf der Welle und lässt sich mittragen. Skills-Training, Psychoedukation, IPT (Integrative Psychologische Therapie) und ihre Anwendungen sind manualisierte und daher relativ einfach zu evaluierende Techniken. Weiter hoch im Kurs stehen Pharmakotherapien. Diese haben es heute nicht mehr so leicht wie nach der Einführung der Neuroleptika. Damals stellten sie eine »Erlösung« dar, eine befreiende Möglichkeit, wegzukommen von den teils an Unmenschlichkeit grenzenden Methoden, die zuvor angewendet worden waren, um schizophrene Menschen in ihren akuten Phasen ruhigzustellen. Sie waren zugleich ein Türöffner für manche in Kliniken versorgten sogenannten chronisch-schizophrenen Patienten, welche unter Neuroleptika wenigstens zeitweise wieder außerhalb der Einrichtungen leben konnten. Medikamente haben jedoch bis heute Nebenwirkungen, teils schwere und teils sogar irreversible. Sie werden von einigen schizophrenen Menschen aus subjektiven wie objektiv nachvollziehbaren Gründen abgelehnt, oft verweigert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Einleitung13

Unter politischem Druck und dem unerbittlichen Konkurrenzkampf der Industrie wurden Neuroleptika in den letzten Jahren billiger. Dieser Trend hält an. Was den Aspekt der Wirtschaftlichkeit der Behandlungen betrifft, ist Pharmakotherapie für das Gesundheitssystem zunehmend attraktiver geworden. Psychische Störungen scheinen zuzunehmen. Genauer betrachtet werden Störungen jedoch meist nur weiter unterteilt, vorhandene umbenannt und das entsprechende Produkt zur Behandlung liegt bald vor. Wenn nicht ein neues Medikament gefunden wird, kann auch die Bandbreite der Wirkungen alter Medikamente mittels aktueller Studien um dieses neue Spektrum erweitert und anerkannt werden. Die Unübersichtlichkeit auf dem Markt nimmt zu. Dem behandelnden Arzt bleibt oft nur der Glaube an das, was versprochen wird. Welchen Stellenwert haben der Patient in diesem Wettstreit sowie sein berechtigter Anspruch auf eine für ihn optimale und effiziente pharmakologische Behandlung? Wissenschaftlich nachweisbare Resultate und damit verknüpft die Wirtschaftlichkeit sind wichtige Parameter, was für gut befunden und von den Krankenkassen bezahlt wird und was nicht. Die psychoanalytische Psychosenbehandlung schizophrener Menschen wird oft als obsolet beurteilt. Das halte ich für eine voreilige Folgerung und für wissenschaftlich nicht haltbar. Ich werde aufzeigen, dass eine Behandlung eher zum Ziel führt, wenn man davon ausgeht, dass es nicht nur eine Wirklichkeit oder gar Wahrheit gibt. Das Ganze ist mehr als die messbare Summe seiner Teile. Die psychoanalytische Schizophreniebehandlung, um die es mir geht, steht nicht im luftleeren Raum und ist auch keine Luftblase. Sie benötigt nur andere Kriterien und andere Fragestellungen, um Wirksamkeit sichtbar zu machen; zum Teil sogar auch mittels bildgebender Verfahren. In meiner Auseinandersetzung beschreite ich einen ungewohnten Weg und greife in Teil A und B unter anderem auf Wissen aus Bereichen der Mathematik, Physik, Philosophie, aber auch der Neurobiologie zurück. In wichtigen Fragen gehen die einzelnen Disziplinen von grundlegend verschiedenen Annahmen aus. Möchte man jedoch Systeme sinnvoll und synergistisch in Beziehung zueinander setzen und konstruktive Vergleiche und Diskussionen möglich machen, sollte man sich zuvor auf gleiche Axiome und eine gemeinsame Sprache einigen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Einleitung

Verstehen (Teil B) wird als gemeinsam gebildetes Produkt zweier koexistierender Wissenspositionen (Teil A) dargelegt. Als Therapeut schizophrener Mitmenschen finde ich mich oft in der Situation unversöhnlicher Meinungen, Weltbilder und Wahrheiten wieder. Ich bin inzwischen gewohnt, mit meinen schizophrenen Patienten um eine gemeinsame Sprache zu ringen, welche das Unverständliche für beide Seiten erkenn- und annehmbar werden lässt. Ich schreibe dieses Buch in der Überzeugung, dass die konstruktive Auseinandersetzung von Therapeuten verschiedener Ausrichtungen und Schulen sowie mit Kollegen aus der Forschung gefördert werden muss. Wenn es gelingt, solche Diskussionen nicht nur im kleinen Kreis, in den eigenen Reihen zu führen, sondern sich mit den Sichtweisen anderer zu befassen, kann dies wesentlich dazu beitragen, respektvoller und versöhnlicher in der Begegnung miteinander und damit auch mit schizophren-psychotischen Menschen umzugehen. Ziel ist es, ihrem Denken und Fühlen in ihren so anderen Welten näherzukommen und zunächst zum interessierten, zugelassenen Gast und Begleiter, später vielleicht sogar zum Partner zu werden. In Erweiterung zu meinem Buch »Identitätsgrenzen des Ich« (2008) versuche ich in Teil A komplexe, neurobiologische Forschungserkenntnisse verständlich, aber auch kritisch darzustellen. Inwieweit lassen sie sich in die psychoanalytische Psychosenbehandlung schizophrener Menschen integrieren? Was sind Schizophrenien überhaupt? Letztendlich nur sprachliche Konventionen für nicht Definierbares? Begriffe, um uns zu verständigen und forschen zu können? Diese Konventionen haben sich in ihren Definitionen seit Bleulers Vorschlag (1908, 1911), die von Kraepelin konstruierte Gruppe »Dementia Praecox« als Schizophrenien zu bezeichnen, wesentlich verändert: vom Versuch des psychopathologischen Verstehens hin zur Beschreibung von Symptomen, die zusammengefasst eine Diagnose ergeben. Parallel, aber unabhängig dazu hat sich die neurobiologische Forschung rasant weiterentwickelt und Erkenntnisse erbracht, die es zu berücksichtigen gilt und die im DSM V und der ICD-11 zum Tragen kommen werden. Als Psychiater und Psychoanalytiker mit naturwissenschaftlichem Hintergrund werde ich in diesem Buch andere Gebiete sondieren, ohne dabei meine psychiatrische und psychoanalytische »Heimat« aus den Augen zu verlieren. Die Leitfrage lautet stets: Inwieweit tra© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Einleitung15

gen Erkenntnisse aus diesen anderen Disziplinen zu einem tieferen Verständnis des schizophrenen Mitmenschen, zu einem gelingenden Beziehungsaufbau und einer erfolgreichen Beziehungsgestaltung bei? Ein weiterer wichtiger Grund, dieses Buch zu schreiben, ist, der psychoanalytischen Psychosentherapie als effiziente, nachhaltige und letztendlich langfristig auch kostengünstige Behandlung einen gebührenden Platz in der Therapielandschaft einzuräumen. Als Schlussfolgerung meiner Ausführungen stelle ich im Teil C ein disziplinenübergreifendes Fortbildungskonzept vor. Es bietet die Möglichkeit, zu synergistischen Betrachtungs- und Handlungsoptionen zu gelangen – zum Wohle der Patienten und im Sinne der Diskursförderung.

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Teil A: Wissen

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Was bedeutet Wissen?

1.1

Objektivierbares und subjektives Wissen

»Ich weiß«: Diese zwei Worte führen uns in ungeahnte Tiefen existenziellen Denkens. Wer ist »ich«? Wenn es ein Ich gibt, muss es nicht auch ein Nicht-Ich geben? Sonst wäre alles Ich! Wenn Ich alles wäre, warum braucht es dann ein Ich? Muss das Ich zwingend ein Bewusstsein haben, um zu wissen, dass es Ich »ist«? Ist das Universum, ein Stuhl oder ein Photon eventuell auch ein Ich? Oder gibt es gar kein anderes Ich außer mir? Gibt es mich denn wirklich? Aber was ist wirklich? Ich weiß doch, dass es mich gibt. Ich bin! Oder ist dieses Wissen eine Illusion, die mein Gehirn erzeugt (Metzinger, 2009)? Aber was ist denn das Gehirn? Ist das Gehirn ein Ich? Und heißt Wissen Wissen um sich selbst oder auch Wissen um das Andere, das Nicht-Ich? Was ist Nicht-Ich, woraus besteht es? Gibt es das Nicht-Ich wirklich? Und was bedeutet Wissen überhaupt? Ist Wissen auch Wirklichkeit, Wahrheit? Oder ist Wissen abhängig von etwas? Verändert sich Wissen oder ist es stabil, absolut? Wenn es sich ändert, unter welchen Bedingungen und wie? Wie wird Wirklichkeit zu Wahrheit? Oder gibt es gar keine Wahrheit? Würde ich in diesem Buch diesen Fragen nachgehen, käme ich kaum zum Thema Schizophrenien. Trotzdem werde ich mich einigen dieser Fragen begrenzt widmen. Was könnte das Ich sein und welches Wissen ist uns zugänglich? Schizophrenien und Wahn haben sehr viel mit solchen Fragestellungen gemeinsam und führen uns in Widersprüche und unauflösbare Paradoxien. Wenn wir bereits an philosophischen und mathematischen Verstrickungen und Überlegungen scheitern, welche wir mit Denken noch nachvollziehen können, wie wollen wir schizophrene Welten erfassen, wissen und verstehen und mit schizophrenen Menschen therapeutisch arbeiten, also handeln? © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil A: Wissen

Wie können wir uns mit schizophrenen Menschen über ihre Welten unterhalten, mit ihnen, den in ihren labyrinthartigen Welten gnadenlos eingeschlossenen Spezialisten der Widersprüche, die sich darin bewegen, als gäbe es Unmöglichkeiten überhaupt nicht? Tun wir Gesunde das im Alltag nicht manchmal auch? Wie verschieden sind wir tatsächlich? Wie definieren wir die Grenze zwischen gesund und krank? Wenn wir zum Wissen schizophrener Menschen über sich selbst gelangen wollen, was ich als Wissen aus der Innenposition (Teil A, Kapitel 3) bezeichne, kommen wir mit dem Wissen und Verständnis unserer Welt, was ich als Wissen aus der Außenposition (Teil A, Kapitel 2) bezeichne, allein nicht weiter. In den vergangenen Jahren hat sich die Medizin vom zeitaufwendigen Dialog mit dem Patienten wegbewegt, eine zunehmende Technisierung und Biologisierung ist zu beobachten. Der Patient wird dadurch vom betroffenen Menschen zum zu behandelnden Objekt. Der Umgang mit ihm ist meist durch Manuale vorgegeben und beschränkt sich auf die Vermittlung des Wissens, welches der Patient benötigt, um die Behandlung nicht zu gefährden. Leider erfasst diese Entwicklung auch zunehmend die Psychiatrie und macht nicht einmal Halt vor der letzten Bastion: der therapeutischen Beziehung. Die Psychoanalyse gilt als überholt und obsolet, es mangele ihr, so der Vorwurf, an wissenschaftlichen Beweisen der Wirksamkeit, an Doppelblindstudien, Reproduzierbarkeit und Voraussagen, welche sich bestätigen lassen. Dieser Platzverweis hat Konsequenzen für den Umgang mit unseren schizophrenen Mitmenschen. Wir glauben von außen nach innen hineinzusehen und zu verstehen, wie das »schizophrene Gehirn« funktioniert. Bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT) ermöglichen uns indirekt und leicht verzögert, einem schizophrenen Menschen beim Halluzinieren zuzuschauen und festzustellen, in welchen Strukturen seines Gehirns sich Stoffwechselveränderungen nachweisen lassen. Wir können zudem indirekt feststellen, welche Veränderungen Medikamente in den betroffenen Gehirnstrukturen kurz- und mittelfristig bewirken. Auch Unterschiede der Wirksamkeit von Neuroleptika der neuen Generation, den Atypika, gegenüber Neuroleptika der älteren Generation lassen sich so nachweisen (Pankow u. Heinz, 2011, S. 58). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Was bedeutet Wissen?21

Genetik, Epigenetik, Neurobiologie allgemein, mit oder ohne bildgebende Verfahren, Pharmakologie, Hilfsmittel wie das AMDPSystem zur Erfassung von Psychopathologien sowie das DSM oder die ICD zur Diagnosestellung machen den Patienten als aktiven Partner fast überflüssig. Die Welt des schizophrenen Menschen ist jedoch von innen nach außen sowie von außen nach innen verschlossen. Wir wissen nicht einmal, ob es einen Zugang, eine Tür, einen Schlüssel zu seiner innersten Welt gibt – und wenn ja, wo sich diese in einem sich andauernd verändernden und sich teils umbauenden Wahnsystem befinden. Dessen ungeachtet suchen wir von außen Möglichkeiten, mit den Mitteln der uns zugänglichen Welt aktiv Informationen und Wissen über ihn zu erhalten. Alles, was wir auf diesem Weg herausfinden können, ist sehr wahrscheinlich nicht einmal die halbe Wahrheit und selbst die verändert sich im Laufe der Zeit. Während man noch vor einigen Jahren von einem alternden, eher statischen Gehirn ausging, wissen wir inzwischen um unser neuroplastisches Gehirn, das sich während des ganzen Lebens umbauen und verändern kann. Während man vor zwanzig Jahren glaubte, die im Wesentlichen unveränderbare, vorbestimmende Genetik würde uns unter anderem über die Entzifferung des Genoms bald auch die Tür zum Wissen und Verständnis der Schizophrenien öffnen, müssen wir heute enttäuscht feststellen, dass das Schizophrenie-Gen genauso wenig existiert, wie im Gehirn ein Ich-Zentrum oder eine Steuerungszentrale nachzuweisen ist. Da tauchte helfend am Horizont, sozusagen im zweiten Anlauf, die Epigenetik auf. Mit ihren Mechanismen der Genregulation, zum Beispiel über Methylgruppen, die auch als Riegel in der DNA bezeichnet werden können, dem sogenannten Histoncode und der Mikro-RNA (mRNA), machen uns diese Forschungszweige neue Hoffnungen, ein vertieftes biologisches Wissen und Verständnis auch zu Schizophrenien zu erhalten. Zudem lassen sie erahnen, welche neuen therapeutischen Behandlungsansätze in der nahen oder fernen Zukunft möglich sein könnten. Die Epigenetik fordert von uns schon heute ein radikales Umdenken. Forscher berichten wie eben erwähnt von »Schaltern«, zum Beispiel den Methylgruppen, die an der Aminosäure Cytosin andockend Gene abstellen können, und von Acetylgruppen, wel© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil A: Wissen

che ihrerseits Gene an- und/oder abstellen können. Zudem ist von Transposonen die Rede. Da gibt es »springende DNA-Abschnitte«, welche sich an anderen Stellen des Genoms wieder einbauen und so Entscheidendes bewirken können. Es stellt sich die Frage, was für Auswirkungen dieses Wissen wohl für die »klassische« Pharmakotherapie der Schizophrenien, zum Beispiel mit den Neuroleptika, haben und diese verändern wird. Müssen wir vielleicht feststellen, dass gewisse Medikamente, wie sie heute eingesetzt werden, zu sekundären epigenetischen Veränderungen führen können? Man denke an Röntgenstrahlen und deren schädigende Wirkung auf den lebenden Organismus, welche erst spät entdeckt wurde. Müssen Neuroleptika durch neue, epigenetisch wirksame Stoffe ersetzt oder vielleicht auch nur ergänzt werden? Wie wir sehen werden, spielt in einem Bereich der Forschung heute der Glycinzusatz zu gewissen Neuroleptika eine wichtige Rolle. Die Epigenetik zeigt uns, dass es Regulationsmechanismen der Gene gibt, welche nicht bereits durch die Gene selbst unveränderbar vorbestimmt sind. Ganz im Gegenteil haben diese einen großen Einfluss, was mit der genetischen Information überhaupt geschieht, und können sogar genetisch weitergegeben werden. Auch die Epigenetik stellt eine wichtige Brücke zwischen innen und außen, nämlich zwischen Genetik und Umwelt dar. Sie ermöglicht uns einen Verständniszugang zum Genom selbst, sofern wir diese Mechanismen in Zukunft weiter aufdecken. Dieses (epi-)genetische, molekularbiologische Wissen allein reicht jedoch in keiner Weise aus, um schizophrene Menschen in ihren eigenen inneren Welten zu verstehen. Deshalb müssen wir auch den beschwerlichen, aber nicht weniger faszinierenden Weg der psychoanalytischen Psychosentherapie gehen. Wir generieren durch diesen zweiten Zugang nach innen ein Wissen, welches den klassisch wissenschaftlichen Methoden noch immer verschlossen ist. Dafür müssen und wollen wir den schizophrenen Menschen als Partner gewinnen. Es ist unumgänglich, mit ihm als Subjekt in einen Dialog, in einen Psychodialog, wie ich das nenne, zu treten. Der Psychodialog dient unter anderem als Vorbereitung und Vorbedingung für eine erst viel später eventuell dazukommende Psychoedukation im Rahmen einer Verhaltens© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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therapie. Psychoanalytischer Psychodialog als mögliche Brücke zur verhaltenstherapeutischen Psychoedukation – ein Phantom oder eine realisierbare Vision für die nahe Zukunft? Ein wichtiger Aspekt, der dem heute bekannten »Außenwissen« Rechnung trägt, ist, dass die Behandlungen früh begonnen werden sollten, sind doch die Erfolgschancen dann weit größer. Wir können es uns nicht leisten, wegen theoretischer Querelen entscheidende Zeit ungenutzt vergehen zu lassen. Die Forschung befasst sich zwar intensiv mit Fragen der Früherkennung, allerdings ist Früherkennung von außen das eine, den schizophrenen Menschen als Partner zu gewinnen das andere. Denn bekanntlich ist die mangelnde Compliance auch heute noch das Problem Nummer eins in der Behandlung schizophrener Menschen. Nicht selten und eng damit verbunden ist auch die statistische Häufigkeit von Suiziden. Gerade im Bereich des Aufbaus der Compliance wirkt die psychoanalytische Psychosentherapie nachhaltig. Dazu gehört das Verständnis des Kontaktwiderstandes und eines entsprechenden therapeutischen Umgangs damit. Benedetti hat diesen unter anderem bereits 1967 in »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychose« beschrieben (Benedetti, 1975). Warum eigentlich soll der schizophrene Mensch zum Subjekt werden und nicht Forschungsobjekt bleiben? Wenn unser Bauch schmerzt und wir von Angst übermannt werden, würden wir uns doch auch freiwillig und bedingungslos blind behandeln lassen, vielleicht weil wir um jede Linderung froh wären. Es mag uns in diesem Augenblick nur recht sein, die Verantwortung an kompetente Helfer abzugeben und nicht selbst zuständig sein zu müssen. Nicht so der schizophrene Mensch: Die Angst und der seelische Schmerz im schizophrenen Wahn sind für uns unvorstellbar. Die sichernden Grenzen nach außen sind verwischt. Das Ich und Nicht-Ich drohen zu verschmelzen. Die Unterscheidung zwischen ihm selbst und der Außenwelt droht aufgehoben zu werden, auch die gewaltigen Mächte, welche halluziniert und abwehrend als von außen kommend verkannt werden können, bedrohen ihn. Daher werden wir zwar oft als Helfer wahrgenommen, meist gleichzeitig aber auch als Bedrohung. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Schizophrenen früh als echte Partner gewinnen und zu ihrer Sicht, ihrem Wissen und Erle© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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ben Zugang erhalten, eine Position zu besetzen, die helfend eingreifen kann, diese sich auflösenden Grenzen wenigstens vorübergehend zu stabilisieren. Der Weg dorthin führt nur über die therapeutische Beziehungsbildung. Nur so wächst die Bereitschaft des Patienten, von außen kommende Möglichkeiten der Behandlungen zu nutzen. Sinnvolle Interventionen setzen aber nicht nur Wissen aus der Außen- und Innensicht voraus, sondern auch ein gemeinsames Verstehen dieses Geschehens (Teil B, Kapitel 4).

1.2 Widersprüchliches Wissen Informationen sind die Bausteine unseres Wissens. Viel Information bedeutet potenziell viel Wissen. Wie wirklich sind jedoch diese Erkenntnisse, welche uns durch unsere Sinne zugänglich werden? Gibt es auch Wahrheiten, die existieren, unabhängig davon, ob wir sie wahrnehmen und entdecken? Gibt es eine absolute Wahrheit? Welche wahrgenommenen Wirklichkeiten sind wahr? Dazu Thomas Metzinger in seinem Buch »Der Ego-Tunnel« (2009, S. 21): »Was wir sehen und hören oder ertasten und erfühlen, was wir riechen und schmecken, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Außenwelt existiert. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt. Die Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane ist begrenzt. […] aber sie wurden nicht mit dem Ziel entwickelt, die enorme Fülle und den Reichtum der Wirklichkeit in all ihren unauslotbaren Tiefen wahrheitsgetreu abzubilden.« Sind die von schizophrenen Menschen wahrgenommenen Wirklichkeiten auch irgendwie wirklich oder wahr? Zum Beispiel halluzinatorisch oder wahnhaft Erlebtes, das wir als von ihnen subjektiv empfunden, aber von uns als objektiv falsch erkannte Wahrnehmungen deuten? Täuschen wir uns vielleicht mit unserer »objektiven« Sicht? Sind wir Gefangene unserer wissenschaftlich begründeten Logik? Ein einfaches Experiment zeigt, dass wir hier schnell an unsere Grenzen stoßen. Lesen Sie bitte folgenden Satz und entscheiden Sie eindeutig, ob dieser richtig oder falsch ist: »Dieser Satz ist falsch.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Dieser selbstbezügliche Satz zeigt unsere Beschränktheit im Umgang mit Logik und Sprache deutlich auf. Das berühmte Kreter-Dilemma ist auf diesem Prinzip aufgebaut. Kurt Gödel, ein genialer Mathematiker, hat eindrücklich beschrieben, wie mit solchen logischen Dilemmata umgegangen werden kann. 2005 hat die Philosophin Rebecca Goldstein ein sehr lesenswertes Buch über ihn geschrieben. Gödel, der oft im gleichen Atemzug mit Einstein und Heisenberg genannt wird, hat bereits als 23-Jähriger seine Unvollständigkeitssätze (1930, siehe S. 26) vorgelegt. Diese haben unser Wissen über die uns zugängliche und nichtzugängliche Welt maßgeblich verändert. Gödel ist einsam gestorben. Im Wahn, alles sei vergiftet, verweigerte er die Nahrungsaufnahme. Er starb 72-jährig am 12. Januar 1978. Auf dem Totenschein ist der Tod als Folge »von Unterernährung durch Auszehrung durch eine Persönlichkeitsstörung« (Goldstein, 2005, S. 254) festgehalten worden. Zwei Aspekte veranlassen mich, auf ihn und seine Denkart einzugehen: seine Genialität und Genauigkeit in der Auseinandersetzung mit dem, was Wirklichkeit und Wahrheit ist und was wir wissen können, sowie seine seit Kindheit bestehende Hypochondrie. Er war überzeugt, an einem Herzfehler zu leiden (Goldstein, 2005, S. 54). Im Laufe der Jahre bildeten sich seine Verfolgungs- und Vergiftungsideen aus. Er verkörperte den vielleicht nur vermeintlichen Widerspruch in sich: Logik und Wahn. Einstein und Gödel standen sich in vielem sehr nahe. Sie konnten fast täglich auf einem gemeinsamen Spaziergang zwischen ihren Häusern und dem Institute for Advanced Study der Universität Princeton gesehen werden (Goldstein, 2005, S. 21). Was die beiden dabei miteinander beredet haben, bleibt allerdings ein Rätsel. Einstein verstand seine Theorie als Beschreibung einer objektiven Natur der Raumzeit, welche sich wesentlich von unserem menschlichen, subjektiven Erleben von Raum und Zeit unterscheidet. Gödel seinerseits begriff die mathematische Wirklichkeit auch als objektiv existierend. Gödels Anschauung wird auch als Begriffsrealismus oder mathematischer Realismus bezeichnet. Seine zwei Unvollständigkeitssätze sind eine geeignete Ausgangsbasis, um Überlegungen zu Wahn, Wahrheit und Wirklichkeit anzustellen und daraus therapeutisch Relevantes für den Umgang mit schizophrenen Menschen zu gewinnen: © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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ȤȤ »Erster Gödel’scher Unvollständigkeitssatz: In jedem formalen System, das zumindest eine Theorie der natürlichen Zahlen enthält, gibt es eine unentscheidbare Formel, das heißt eine Formel, die nicht beweisbar und deren Negation ebenfalls nicht beweisbar ist. ȤȤ Zweiter Gödel’scher Unvollständigkeitssatz: Aus dem Satz folgt, dass die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems, das zumindest eine Theorie der natürlichen Zahlen enthält, nicht innerhalb des Systems nachgewiesen werden kann« (zitiert nach Goldstein, 2005, S. 22). Um die Dimension der logischen Verstrickungen, in die wir geraten können, darzustellen, möchte ich auf das von Bertrand Russel dargelegte Paradoxon eingehen (Goldstein, 2005, S. 91). Die Russel-Antinomie betrifft die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Eine Menge, die sich selbst enthält, ist zum Beispiel die Menge aller abstrakten Objekte, da diese selbst ein abstraktes Objekt ist. Eine Menge, die sich nicht selbst enthält, ist, um Goldsteins Beispiel zu folgen, die Menge der Mathematiker, da die Menge aller Mathematiker ein abstraktes Objekt und kein Mathematiker ist. Nun sehen wir uns die Menge aller Mengen an, die sich nicht selbst enthalten. Frage: Ist diese Menge in sich selbst als Element enthalten oder nicht? Wenn sie sich nicht selbst als Element enthält, dann gehört sie definitionsgemäß dazu und enthält sich somit selbst, was sich wiederum definitionsgemäß ausschließt. Und wenn sie sich selbst enthält, dann gehört sie nicht zur Menge der sich nicht enthaltenen Mengen und ist somit auch kein Element ihrer selbst. Der Schluss daraus muss sein, dass sie sich als Element dann und nur dann enthält, wenn sie sich nicht selbst als Element enthält! Etwas konkreter (Doxiadis u. Papadimitriou, 2010, S. 165): »Wer rasiert den Barbier eines Dorfes, der alle Männer rasiert, die sich nicht selber rasieren?« Daraus folgt unweigerlich die Frage, worauf unsere Gewissheit basiert. Bezüglich unseres Themas dieses Buches: Worauf stützen wir uns in der Behandlung schizophrener Menschen? Wenn wir überzeugt sind, Gewissheit zu haben, warum sieht der Schizophrene das nicht ein? Gibt es eine absolute Wahrheit, welche auch er akzeptieren muss? © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Wir meinen, er könne diese nur momentan aufgrund seiner Krankheit nicht erkennen, weil die formalen und inhaltlichen Denkstörungen und der ihn vielleicht blockierende unverrückbare Wahn ihm unsere Sicht nicht ermöglichen. So einfach ist es nicht, wie wir von vielen schizophrenen Menschen erfahren, die irgendwann ganz oder für eine längere Zeit aus ihrer Wahnwelt in die Welt der sogenannten Normalität zurückgefunden haben. Es ist nicht so, dass, wenn der Wahn nicht mehr vorhanden zu sein scheint, dieser auch gänzlich verschwunden wäre wie ein Tumor nach seiner Entfernung. Es bleibt zumindest eine tiefe und nur selten für uns verstehbare Erfahrung, die archiviert, leider oft abrufbar ist. Die Psychose prägt das Leben des Betroffenen nachhaltig und kann ihn immer wieder schwer verunsichern und unerwartet in eine erneute Krise stürzen. Wenn wir dem Schizophrenen per Psychoedukation seine Krankheit mit unserem Wissen erklären wollen, sollten wir uns zuvor nicht sicher sein, dass unsere Sichtweise in dem Moment auch ihm subjektiv als Option mehr bringt als sein Erleben der Dinge? Und wie kann unsere »Gewissheit« in die tresorartig geschützte Wahnwelt transferiert werden? Konsequenterweise stößt unsere Außensicht, die dem Patienten vermittelt werden soll, bei ihm oft auf Zweifel und Widerstand, eine Mitursache der schon angesprochenen mangelnden Compliance. Hier setzt die psychoanalytische Psychosentherapie mit dem Psychodialog ein. Dabei stehen sich in Bereichen zwar widersprechende, jedoch gleichberechtigte, zunächst koexistierende Welten nebeneinander. Eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zum Schizophrenen wird die Bildung einer gemeinsamen, provisorischen dritten Welt sein – mit Übergangssubjekten, Teilen aus beiden »Welten« sowie einer gemeinsamen Sprache im »dualen Raum« der Therapie. Aus Teilen der zwei sich in vielem widersprechenden Systeme wird also ein drittes gemeinsames System gebildet. Im Gödel’schen Sinn enthält auch dieses System eine mögliche Unauflösbarkeit, nun aber für beide dieselbe, weil sie sich im selben System darstellt und daher auch gemeinsam angegangen werden kann. Nicht etwa, um den Widerspruch aufzulösen, sondern mit dem Ziel, damit gemeinsam umgehen zu lernen. Später zahlt sich dieses umständliche und intensive Vorgehen durch Nachhaltigkeit und erhöhte Compliance © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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aus. Das betrifft auch eine möglicherweise notwendige Pharmakotherapie sowie die vielleicht später indizierte Psychoedukation. Erst wenn wir eine gemeinsame Welt gebildet haben, sei sie noch so klein, haben wir eine Chance, uns später über anderes zu verständigen, ohne dass einem von beiden eine Gewissheit aufgedrückt wird. Goldstein (2005) zeigt diesbezüglich wichtige Konsequenzen auf, die sich aus den Unvollständigkeitssätzen für die schizophrenen Logiken ergeben und für unser Thema relevant sind (S. 206 f.): »Gödels Sätze spiegeln sich auf düstere Weise in dem Kernproblem der Psychopathologie wider: So wie die Widerspruchfreiheit eines formalen Systems nicht mit den Mitteln des Systems selber nachgewiesen werden kann, so lässt sich auch unsere Rationalität – unsere geistige Gesundheit – nicht mit unserer Rationalität selbst nachweisen. Wie kann eine Person, die innerhalb eines Systems von Glaubensätzen funktioniert – darunter auch von Glaubenssätzen dieser Glaubenssätze –, sich außerhalb dieses Systems begeben, um in Erfahrung zu bringen, ob es vernünftig ist? Wenn das gesamte System von Wahnvorstellungen befallen wird, einschließlich der kognitiven Schlussregeln, wie kann man sich dann durch logisches Denken von dem Wahn befreien? […] Paranoia besteht nicht in dem Verlust der Rationalität. Viel mehr gleicht sie einem Amoklauf der Vernunft, der unentwegten Suche nach raffinierten, hintergründigen Erklärungen. Paranoides Denken zeichnet sich nicht durch Unlogik, sondern durch fehlgeleitete Logik, einer außer Kontrolle geratenen Logik aus.« Schizophrene Menschen haben sich manchmal in jahrelanger Arbeit eine Art instabile Stabilität im Wahngebilde geschaffen: ihr eigenes, von uns unabhängiges Wissen um die Welt. Unsere Realität droht dieses Gleichgewicht zu destabilisieren. Entweder wird diese Gefahr autistisch abgewendet oder unser Eindringen in ihre Welt wird ständig neu und mehr oder weniger erfolgreich eingebaut – erfolgreich heißt, solange sich dieses ewig umzubauende Konstrukt einigermaßen stabil halten kann und die Betroffenen nicht zu sehr in Konflikt mit dem Außen geraten. Dieses Wissen aus der Innenposition muss vor uns geschützt und versteckt werden. Die dazu notwendige Nähe-Distanz-Regulierung äußert sich unter anderem im bereits angesprochenen Kontaktwider© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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stand. Gaetano Benedetti schreibt dazu in »Todeslandschaften der Seele« zutreffend (1987, S. 117): »Für den Ausbau dieser Abwehrstrategien opfert der Patient unter Umständen zwanzig, dreißig Jahre seines Lebens. Die Verfeinerung des Abwehrsystems wird zum Hauptziel seiner Existenz. Es wäre ein therapeutischer Nonsens, wollte man sich darauf versteifen, das wahnhafte Meisterwerk eines chronisch Schizophrenen zu zerstören.« Kommen wir von der abstrakten, theoretischen Welt der Mathematik zur etwas konkreteren Welt der Physik. Wir treffen auf Newton, Einstein und Heisenberg als Zwischenhalte auf unserem Weg zu den Schizophrenien. Mit einer kurzen Schrödinger-Geschichte zur Quantenphysik, welche die Widersprüchlichkeit der klassischen zur Quantenphysik aufzeigt, verlassen wir das interessante Gebiet, um zu unserem Thema der Schizophrenien zurückzukehren. Was ist Licht? Isaac Newton und seine Anhänger waren überzeugt, dass Licht aus Teilchen besteht. Robert Hook und viele andere vertraten hingegen die Meinung, dass Licht als Wellen verstanden werden müsse. 1802 bewies der englische Arzt Thomas Young mit seinem Doppelspaltversuch eindrücklich die Wellennatur des Lichtes. Einstein brachte die Welt durcheinander, als er mit seiner Deutung des photoelektrischen Effekts die Teilchennatur des Lichtes darlegte. Dafür erhielt er den Nobelpreis und nicht, wie manchmal angenommen, für die geniale spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. 1921 kam Heisenberg und warf die klassische Physik mit seiner Unschärferelation über den Haufen! Das passte nicht in Einsteins Weltbild. In Anton Zeilingers treffend betiteltem Buch »Einsteins Spuk« (2005) kann man dies und vieles weitere Spannende zur Quantenphysik nachlesen. Was sind Doppelspaltversuch, photoelektrischer Effekt und Unschärferelation? Zuvor noch der Hinweis, dass es auch in der Physik grundsätzlich zwei verschiedene Betrachtungen zur Wirklichkeit gibt, den Realismus und den Antirealismus (Hawking, 2010). Es geht um die Frage, ob es eine reale Außenwelt gibt, eindeutig und unabhängig vom wahrnehmenden Beobachter, oder nicht. Martin Suhr erinnert in »Jean Paul Sartre zur Einführung« (2001, S. 88) an die berühmte philosophische Frage, »ob ein stürzender Baum auch dann Geräusche macht, wenn keiner zuhört«. Der modell© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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abhängige Realismus umgeht diese Frage, indem er sie als sinnlos einstuft. Hawking äußert sich in »Der große Entwurf« (2010, S. 44 f.) folgendermaßen: »Wenn wir zwei Modelle haben, die sich beide mit den Beobachtungen decken, wie das Weltbild des Goldfisches und das unsere, so können wir nicht sagen, das eine sei realer als das andere. Wir können jeweils das Modell verwenden, das in der betrachteten Situation praktischer ist. […] Wir fertigen Modelle in der Wissenschaft an, aber auch im Alltag. Modellabhängiger Realismus gilt nicht nur für wissenschaftliche Modelle, sondern auch für die bewussten und unbewussten mentalen Modelle, die wir alle schaffen, um unsere alltägliche Welt zu deuten und zu verstehen. Es gibt keine Möglichkeit, unsere Wahrnehmung der Welt unabhängig vom Beobachter – von uns – zu beschreiben.« Der Doppelspaltversuch: Das Licht einer Lichtquelle wird von einer Wand (Beobachtungsschirm) aufgefangen. Dazwischen befindet sich eine kleine Wand mit zwei Spaltöffnungen. Lässt man beide Spaltöffnungen gleichzeitig offen, sieht man an der Wand helle und dunkle Streifen, die man auch Interferenzstreifen nennt. Die dunklen Stellen sind dunkel, weil sich die Lichtwellen gegenseitig aufheben. Die hellen Stellen sind hell, weil sich die Lichtwellen gegenseitig verstärken. Lässt man abwechselnd nur einen der zwei Spaltöffnungen offen, gibt es keine Streifen mehr, sondern jeweils nur einen diffusen, relativ breiten Lichtfleck. Das Streifenbild ist offenbar nicht nur die Summe der beiden Lichtfleckbilder. Young hat so die Wellennatur des Lichtes aufgezeigt. In Zeilingers Buch (2005, S. 41) ist dies anschaulich dargestellt. Der photoelektrische Effekt: Einstein stellte 1905 theoretische Überlegungen zur möglichen Teilchenbeschaffenheit von Licht an und schlussfolgerte, Photonen seien lokalisierte Punkte, welche sich im Raum bewegen, genauso wie beispielsweise Moleküle oder Atome. Er griff auf die Erkenntnisse von Wilhelm Hallwachs aus dem Jahr 1887 zurück. Dieser hatte herausgefunden, dass man durch Bestrahlung einer Metallplatte mit Licht Elektronen »freischlagen« kann. Diese sind durch den so erzeugten elektrischen Strom nachweisbar (photoelektrischer Effekt). Die Tatsache, dass Elektronen unmittelbar bei Auftreffen von Licht frei werden, bringt Youngs »Wellenbild des © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Lichtes« ins Wanken. Denn Licht als Wellen regt Elektronen lediglich zu Schwingungen an, anfangs nur wenig, mit zunehmendem Licht mehr, so dass sich Elektronen erst später aus der Oberfläche der Platte lösen können. Beim photoelektrischen Effekt hingegen lösen sich diese unmittelbar. Betrachtet man Licht als Teilchen, gibt es keine Erklärungsprobleme, betrachtet man Licht als Welle, hingegen schon. Einstein ging davon aus, dass ein Photon sofort ein Elektron herausschlagen kann und dass die Menge der herausgeschlagenen Elektronen genau entsprechend der Lichtmenge steigt. Er sagte kühn voraus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Frequenz des Lichtstrahls gibt, welcher auf die Metallplatte fällt, und der Energie der austretenden Elektronen. Das wies 1916 Robert Andrews Millikan in einem Experiment nach und bestätigte so Einsteins Annahme der Lichtteilchen (Zeilinger, 2005, S. 54). Hatte Newton also doch recht? Im Jahr 1926 gesellte sich eine weitere Schwierigkeit in der Teilchenphysik hinzu, die Heisenberg’sche Unschärferelation. Die Heisenberg’sche Unschärferelation: Der Fähigkeit zur gleichzeitigen Messung des Aufenthaltsortes eines Teilchens sowie seiner Geschwindigkeit sind Grenzen gesetzt. Multipliziert man die Unbestimmtheit der Position mit der Unbestimmtheit des Impulses (Masse x Geschwindigkeit), kann gemäß der Unschärferelation dieses Ergebnis niemals unter einen festen Wert sinken. Man nennt diesen Wert Plank’sches Wirkungsquantum. Einfacher ausgedrückt: Je genauer ich die Geschwindigkeit eines Teilchens messe, desto weniger genau kann ich den Aufenthaltsort messen und umgekehrt. Um eine wichtige Konsequenz der Quantentheorie näher zu erläutern, ohne tiefer in die Physik vordringen zu müssen, hier die Geschichte von »Schrödingers Katze« aus dem 2005 erschienenen Roman von Adam Fawer (S. 167 f.). Es geht in der Kurzgeschichte darum, dass gemäß der Quantenphysik ein Ereignis nicht unabhängig vom Beobachter abläuft. Wenn wir ein Ereignis beobachten, beeinflusst das den weiteren Ablauf. Erwin Schrödinger, einer der Väter der Quantenphysik, war sich bewusst, wie schwer nachvollziehbar es ist, wenn man versucht, die Quantenphysik mit unserer für uns subjektiv realen Welt zu begreifen. Deshalb schlug er 1935 ein Gedankenexperiment vor. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Ein radioaktives Teilchen hat zwei mögliche Zustände. Es kann zerfallen und gibt Radioaktivität ab, oder es zerfällt nicht, dann ruht es. Die Quantenphysik lehrt uns, sobald wir das Atom beobachten, wird es sich in einem der beiden Zustände befinden, aber solange wir es nicht beobachten, befindet es sich im Grunde gleichzeitig in beiden Zuständen. Was würde geschehen, wenn man eine Katze in einen Kasten setzt, indem sich eine Flasche mit einem tödlichen Gas, ein radioaktives Atom und eine Hammervorrichtung befinden, die ausschlägt, sobald sie Energie feststellt. Wenn das radioaktive Atom zerfällt, schlägt der Hammer die Flasche kaputt, das Gas wird freigesetzt und die Katze stirbt. Wenn das Atom aber nicht zerfällt, bewegt sich der Hammer nicht und die Katze überlebt. Bis man jedoch den Kasten öffnet und das Atom beobachtet, ist es weder zerfallen noch ist es nicht zerfallen. Die Frage ist also: Was geschieht mit der Katze, solange der Kasten geschlossen ist? Da sich das Atom in zwei verschiedenen Zuständen befindet, ergeht es der Katze genauso. Sie ist gleichzeitig tot und lebendig. Wie sollen wir damit umgehen? Über weite Strecken findet die psychoanalytische Psychosentherapie gleichzeitig in den Wahnwelten der Schizophrenen und in unserer Welt statt. Das primäre Ziel der psychoanalytischen Psychosenpsychotherapie ist jedoch nicht, möglichst schnell eine Anpassung der schizophrenen Person an die Gesellschaft zu erreichen, sondern erst einmal in Beziehung zu ihnen in ihren Welten zu kommen. Will man Schizophrenien verstehen und sie nicht nur als Forschungsobjekt begreifen, reicht die »klassische Physik« der Psychiatrie mit ihrer Außensicht und Interpretation ihrer Daten bei weitem nicht aus. Diese Außenbetrachtung ist zwar wichtig, berücksichtigt jedoch die »Subjekte«, also die Träger dieser Schizophrenien mit ihrem persönlichen Erleben und inneren Wissen, viel zu wenig. Das Objektwissen mag zum Verstehen einer Perspektive ausreichen, jedoch gelingt es ohne die Innensicht nicht, diese Menschen wirklich gut und nachhaltig zu behandeln. Die Innensicht, also die Optik des Patienten, ist zwingend notwendig. Erst dann kann man sich dem gemeinsamen Verstehen von zwei anfänglich inkompatiblen Realitäten annähern. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Diese Vorgehensweise findet sich auch in der Physik. Wollen wir zum Beispiel der Frage näherkommen, was beim Urknall genau geschah, benötigen wir sowohl die Astrophysik und damit die Makrophysik mit all ihren offenen Fragen wie der Gültigkeit des Standardmodells und ihren Grenzen des Erklärbaren und den Widersprüchen als auch die Quantenphysik, die Mikrophysik des Kleinen. Eine vereinte Forschung ohne Glaubenskriege, wie diese am CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, dt.: Europäische Organisation für Kernforschung) mit dem LHC (Large Hadron Collider) seit Jahren durchgeführt wird, ist hier zur Selbstverständlichkeit geworden. Leider ist dies in der Psychiatrie und Psychotherapie nur selten der Fall. Seit 2005 arbeite ich im Rahmen des Psychosesymposiums an einem integrativen Projekt für systemische, kognitiv-­ verhaltenstherapeutische und analytische Psychosenpsychotherapie einschließlich neurobiologischer Forschung an der Charité in Berlin mit, welche 2011 zur Gründung eines Dachverbandes deutschsprachiger Psychosenpsychotherapie (DDPP) führte. In diesen Jahren erlebte ich, wie schwierig es manchmal für Vertreter ganz verschiedener Therapierichtungen sein kann, einen konstruktiven Dialog zu führen. Die Angst vor Entwertung, nicht als gleichberechtigt bzw. gleichwertig wahrgenommen und respektiert zu werden, ist innerhalb unserer Gruppe nach harter und kontinuierlicher Arbeit und Auseinandersetzung inzwischen deutlich gesunken.

1.3 Wahrnehmung und Verarbeitung von Wissen Ob wir Informationen überhaupt bemerken und wahrnehmen, hängt von unseren Sinnen ab oder, wie Richard David Precht (2007, S. 27) es ausdrückt: »[…] der Mensch vermag nur das zu erkennen, was der im Konkurrenzkampf der Evolution entstandene Erkennungsapparat ihm an Erkenntnisfähigkeit gestattet.« Wir nehmen wahr, wozu wir mit unseren Sinnen, der Leistung unseres Gehirns fähig sind. Manchmal genügt es, sich zu konzentrieren und bewusster durch die Welt zu gehen, um mehr zu sehen. Manchmal benötigen wir wie im Fall des Sehens geeignete technische Hilfsmittel, um uns etwas zugänglich zu machen. Das Meiste werden wir wohl nie wahrnehmen, weil es jenseits unserer Fähig- und Möglichkeiten liegt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Es gibt viel Wissen, welches uns bewusst zur Verfügung steht, dennoch können wir nicht alles aufnehmen und integrieren. Nehmen wir das Beispiel der Zeitungen, die wir aufbewahren, um sie irgendwann zu lesen, weil darin Interessantes enthalten ist. Wir kommen nur nie dazu, weil wir keine Zeit haben und uns die sich ansammelnde Menge überfordert. Wir werden von Informationsoptionen überflutet und stehen unter dem Einfluss der subjektiv erlebten, an uns vorbeirasenden, ja nahezu entfliehenden Zeit. Objektiv werden wir aber immer älter und haben real mehr Lebenszeit zur Verfügung. Wie weit objektiv und subjektiv doch schon im »Gesunden« auseinanderliegen! Nicht zu vernachlässigen ist der »Verlust« an Wissen durch Vergessen. Erkenntnisse aus der experimentellen Gehirnforschung zeigen uns unsere Grenzen auf. Die Gruppe um Christof Koch (USA) wies anhand eines Versuchs mit zwei Bildern (Gesicht und Haus), die später übereinandergelegt werden, nach, dass wir immer nur ein Bild bewusst wahrnehmen und sehen können (Rees, Kreiman u. Koch, 2002). Spannend wäre natürlich zu wissen, wie und wo sich in einem uns nicht bewusst ablaufenden Wettkampf im Gehirn die Entscheidung zu diesem einen Bild abspielt. Daran forschen unzählige Wissenschaftler auf der ganzen Welt. Für uns relevant ist, dass wir offenbar unbewusst aus dem zur Verfügung Stehenden ausfiltrieren und »entscheiden«. Was wir dann etwas später bewusst wahrnehmen und als unsere Entscheidung deklarieren, läuft aber zuvor in einem unbewussten Prozess ab. Dies benannte Freud visionär mit seinem berühmt gewordenen Satz: »Wir sind nicht Herr im eigenen Haus.« Schizophrene Menschen sehen, hören, tasten, schmecken und riechen manchmal etwas, das wir mit ihnen weder teilen noch nachvollziehen können. Diese Wahrnehmungen werden von uns als Halluzinationen (Sinnestäuschungen ohne Sinnesreiz, Definition siehe Scharfetter, 2002, S. 200) oder Illusionen (Sinnestäuschungen mit Sinnesreiz, Definition siehe Scharfetter, 2002, S. 211) identifiziert, für die Betroffenen sind sie real. Emrich und Dillo (2008) haben mittels fMRT- und PET-Untersuchungen nachgewiesen, dass beim akustischen Halluzinieren schizophrener Menschen dieselben Areale im Gehirn aktiviert werden wie bei Gesunden (S. 9): »Es hat sich gezeigt, dass während des Hörens von Stimmen der linke, manchmal © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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auch zusätzlich der rechte obere und mittlere temporale Pol aktiviert waren. Somit zeigen bei den Patienten mit akustischen Halluzinationen diejenigen Strukturen Signalveränderungen, welche auch bei der Wahrnehmung realer, externer Stimmen aktiviert sind, nämlich die akustischen Assoziationsareale.« Diese Resultate werden in der Hirnforschung heute genauer differenziert und interpretiert. Dem Schizophrenen muss daher seine gesamte Wahrnehmung so real vorkommen wie dem Gesunden, der seine subjektiven Wahrnehmungen mit anderen teilen und so objektivieren kann. Auf schizophrene Menschen strömen wesentlich mehr Informationen ein und überfluten sie. Sie müssen mittels ihrer »doppelten Buchhaltung« neben unserer Realität das eigene Psychotische verarbeiten und integrieren. Manchmal gelingt es ihnen mehr passiv als aktiv, sich schützend autistisch im Wahn von der Welt abzuschotten, oder sie verharren in einem katatonen Zustand (vgl. Rom, 2008, S. 56). Wichtig ist für uns die Möglichkeit, den Blick abwenden zu können, wenn wir Erschreckendes oder Unangenehmes sehen – es sei denn, wir müssen das Bedrohliche im Auge behalten, um uns vor einem Angriff zu schützen und wehren zu können. Sehen wir fern, spielt sich für uns Nichtschizophrene das Geschehen weit von uns entfernt ab, wir wissen, dass es nicht im Zimmer stattfindet, in welchem der TV-Apparat steht. Deshalb können wir das Gerät einfach abstellen oder zu einem anderen Sender wechseln. Nicht so im Erleben der schizophren-psychotischen Menschen. Für sie spielen sich solche Ereignisse real in unmittelbarer physischer Nähe ab, im Raum, in dem sie sich aufhalten. Dies lässt sich leicht verifizieren, wenn man sich die Zeit nimmt, gemeinsam mit dem bereits vertraut gewordenen, aber außerhalb der Therapie noch instabilen schizophrenen Menschen einen Film seiner Wahl anzusehen und ihn zu beobachten und zu befragen, was er eben erlebt! Wir Nichtschizophrenen identifizieren uns mit dem Gezeigten, um emotional mitfiebern zu können. Trotzdem gelingt uns die Differenzierung zur Realsituation jederzeit, da wir über einen Apparat verfügen, um solche Situationen einordnen zu können und adäquat damit umzugehen. In »Identitätsgrenzen des Ich« führe ich in meinem Modell aus, wie diese Fähigkeit unter anderem mit der intakten Ich-Grenze, mit Per© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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sönlichkeitsstrukturen und Vernetzungen zusammenhängt. Wenn das Ich in seiner Funktion gestört ist, so wie wir es beim Schizophrenen annehmen dürfen, hat das fatale Konsequenzen für die Wahrnehmung. Neben einem Kollaps der Zeitachse findet für uns von außen wahrnehmbar auch eine temporäre vollständige Aufhebung der räumlich-zeitlichen Ordnung zwischen der Welt und der schizophrenen Person in der Welt statt. Auch bei Kleinkindern können wir solche temporären »Verkennungen« beobachten. Kinder können jedoch von den ihnen vertrauten Eltern begleitet und den Umstand erklärt rasch wieder Abstand gewinnen und sich in Bezug auf das Gesehene wieder angstfrei einordnen. Bei Wiederholung reagieren sie bereits wesentlich weniger ängstlich und können mit der Zeit sogar genüsslich einen früher Angst machenden Film ansehen. Beim schizophrenen Menschen hingegen muss das nicht gelingen, das Gesehene kann ihn derart weiterverfolgen, dass er die Verkennung nicht mehr los wird. Dann bleibt ihm zur Stabilisierung manchmal nur noch der Einbau in seine Wahnwelt. Wir Gesunden können lernen, mit potenziell gefährlichen Situationen umzugehen. In Selbstverteidigungskursen lernen und üben wir den Ernstfall und verschaffen uns so ein Gefühl von Sicherheit. Viele psychisch Kranke können das in Therapien ebenfalls lernen, zum Beispiel mit Hilfe von Skills-Gruppen, wie sie im Rahmen der Verhaltenstherapie angeboten werden. Sie lernen, das Zepter zumindest subjektiv in der Hand zu behalten oder beängstigende Situationen wenigstens steuern zu können. Ganz anders ist es bei schizophrenen Menschen. Sie erleben selten das Gefühl, etwas im Griff zu haben, auch wenn es nach außen hin oft so wirkt, weil sie sich uns gegenüber derart verhalten. Wenn sie sich sicher fühlen, dann höchstens im Rahmen ihrer Abwehr im Größenwahn als Kehrseite der gleichzeitig als unerträglich empfundenen Negativexistenz, als Folge der in der Psychose subjektiv erlebten Fragmentierung. Diese existenzielle Angst wird erfolglos abgespalten und besteht weiter in Form des absolut beherrschenden und angstmachenden Gefühls der totalen Auflösung der eigenen Person. Diese Gleichzeitigkeit und die zeitweise bestehende Überforderung im subjektiven Erleben sind für uns kaum nachvollziehbar. Außen und innen kann für manche Betroffene gar nicht mehr © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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oder allenfalls nur kurzzeitig auseinandergehalten und differenziert werden, was zur Folge haben kann, dass sie Bedrohliches nicht mehr los werden, keine Fluchtoption mehr besteht. So wird verfügbares Wissen für viele schizophrene Menschen, insbesondere im akuten Schub, nicht etwa als hilfreich und stabilisierend erlebt, sondern wird zum sich andauernd verändernden, unfreiwilligen, nicht abwendbaren und sie überfordernden Wissen, dem sie sich nicht mehr entziehen können, weil es keine geschützten Innen- oder Außenräume mehr gibt. Die Möglichkeit, wegzusehen, gibt es ebenfalls nicht mehr. Das käme der totalen Aufgabe der Kontrolle gleich, sie würden noch ungeschützter und ausgelieferter in der Welt stehen. Da bleibt wohl nur eine wahnhafte Verarbeitung im Sinne der Parakonstruktion (Hartwich, 2004, S. 89) oder der Wahn als Ausdruck der vollständigen Wehrlosigkeit, weil keine helfende Abwehr mehr möglich ist. Medikamente helfen manchmal wenigstens für den Moment, etwas Ruhe und Distanz in dieses Geschehen zu bringen, um die Ich-Grenze etwas zu stabilisieren und Vernetzungen vorübergehend wieder zu etablieren, aber längst nicht immer. Andere wiederum fühlen sich gerade durch die Medikamentengabe noch mehr ausgeliefert und fremdgesteuert, was dann psychotisch verarbeitet wird. Patienten berichten, durch die Medikamente eingeschlossen zu werden oder den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren. Gleichzeitig baut sich durch die Wirkung der Neuroleptika auch eine Distanz zu ihrer inneren, für sie bis dahin kontrollierbareren Wahnwelt auf, in der sie sich sonst geschützter fühlen. Mit der Wahnlogik steht wenigstens eine Scheinoption zur Verfügung, alles erklären und zuordnen, wenn auch nicht wirklich steuern zu können. Die Angst, entweder den innen wütenden Mächten völlig ausgeliefert zu sein oder zwischen unserer Welt und der eigenen Wahnwelt im Nichts, in einer erschreckenden und bedrohlichen Leere zu versinken, steigt an. Als Außenstehende nehmen wir dies bei Patienten wegen der Wirkung der Medikamente, die sie ruhiger erscheinen lassen, so nicht wahr. Sie erleben uns paradoxerweise manchmal in den Phasen der medikamentösen Behandlung als Schutz und sehnen uns herbei, gleichzeitig stellen wir für sie auch eine Bedrohung dar, die sie auf Distanz halten müssen. Wir werden Zeugen, Helfer im Geschehen und sind zugleich Gegner! © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Frei verfügbare Informationen und Wissen sind für schizophrene Menschen gleichzeitig Schutz und Gefahr. Sie bringen sie nicht weiter, sondern überfordern sie und lassen sie sich im Kreis drehen, umgeben von Zerrspiegeln, die alles von ihren Bewegungen abhängig erscheinen lassen und sie gnadenlos verwirren können. Einst begründete mir ein Patient, der morgens nicht zur Arbeit erschien, sein Fehlen wütend so: »Sie können gut reden. Sie sind ausgeschlafen und ausgeruht. Aber ich: Kaum lege ich mich abends hin, bin ich wie gelähmt und erlebe, wie der Andere mir meine Identität und Hülle wegnimmt und lachend in die Welt hinausgeht, Drogen konsumiert, die dann wieder bei mir nachgewiesen werden. Er steckt mich am Morgen wieder in meinen Körper und ich muss für alles geradestehen. Wissen Sie denn, wie viel Angst ich durchstehe, einfach so ohne Körper völlig ausgeliefert dazuliegen und mit ansehen zu müssen, wie er sich verausgabt und auf meine Kosten amüsiert? Ich schlafe keine Sekunde. Und dann soll ich zur Arbeit gehen!« Nach Einnahme der Medikamente wurde er für uns von außen betrachtet ruhiger und konnte der Nachtwache zufolge sogar durchschlafen. Nur wurde mir in der folgenden Therapiestunde erschreckend klar, dass wir mit den Medikamenten wohl nur für uns Ruhe geschaffen hatten, während es in ihm wegen seiner zusätzlich medikamentös bedingten Ohnmacht bis zur Suizidalität hin tobte. Er wurde auch im Schlaf verfolgt und gehetzt. Er litt sehr. Nicht nur der »Andere« war sein steter Feind. Zusätzlich wurden wir es auch. Dass er sich nicht umbrachte, war nicht etwa der guten Wirkung der Medikamente zuzuschreiben, sondern dem Umstand, dass die Medikamente ihn motorisch »lahm legten«. Für uns ein Segen, für ihn ein Fluch.

Es ist mehr nötig als Medikation, um Menschen in solchen Situationen langfristig gerecht zu werden. Zu einem späteren Zeitpunkt wird das gemeinsame Reflektieren darüber, wie jeder diese Situation wahrgenommen hat, möglich. Es ist der einzige wirklich gangbare Weg, therapeutisch im pharmakologischen wie psychotherapeutischen Sinn zu handeln, gemeinsam etwas zu bewirken und nachhaltig zu verändern. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Denn wenn ich das gesuchte, erwartete oder das auf der Suche zusätzlich gefundene Wissen nur aus der Außenperspektive zusammengefügt habe, heißt das noch lange nicht, dass ich auch umfassend weiß und verstehe. Ich konzentriere mich auf verschiedene Methoden im Erlangen von Wissen über schizophrene Menschen, auf Methoden der Wissensbeschaffung aus der Außen- und Innensicht. Denn nicht nur wir »Gesunden« forschen und wollen wissen, verstehen und gemäß unseren Einsichten »vernünftig« handeln. Auch der schizophrene Mensch befasst sich intensiv mit sich und der Welt. Er muss versuchen, Stabilität und insbesondere emotionale Sicherheit in sein System zu bringen. Das tut er mehr oder weniger erfolgreich über die verschiedenen Formen der für ihn sinngebenden Wahnbildungen. Es ist seine einzige Möglichkeit, da die ihm zur Verfügung stehende »psychische Energie« sehr schnell ausgehen kann und für eine stabilere Form der Abwehr nicht ausreicht, die wir sonst bei persönlichkeitsgestörten oder neurotischen Menschen antreffen. Seine Störungen zwingen ihn unaufhörlich zu versuchen, seinen Wahn zu stabilisieren. Im Unterschied zu uns kann der schizophrene Mensch in seiner Psychose innere und äußere oder gleichzeitig stattfindende Ereignisse nicht immer als unabhängig voneinander erleben. Sie vermischen sich und können von ihm nur noch wahnhaft verknüpft integriert werden, will er nicht davon unkontrolliert beherrscht und gesteuert werden. So werden schizophrene Menschen zu unfreiwilligen Forschern ihrer selbst. Sie finden und kreieren ihr eigenes Wissen im Wahn und ergänzen es mit der immerzu neu erlebten realen Welt. So zerstörend und verwüstend die psychotischen Krisen im Inneren wüten, Wirklichkeit und Realität verdecken, zerstückeln, verdrängen, so unverrückbar und doch in sich kreativ erscheint dagegen der Wahn der Erklärungen in diesem für uns so fremden Wissen. Welche Modelle und Hypothesen über die Psyche und über Schizophrenien taugen und welche Schlüsse lässt die Forschung wirklich zu?

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1.4 Forschung allgemein Ich beginne meine Ausführungen mit einem relativierenden Gleichnis des Astrophysikers Arthur Eddington, das Hans-Peter Dürr in »Warum es ums Ganze geht« darstellt (2009, S. 119): »Ein Naturwissenschaftler – ein Ichthyologe, ein Fischsachverständiger –, der das Leben im Meer erforschen will und dazu einfach Fische fängt, findet nach jahrelangem Fischen ein Grundgesetz der Ichthyologie: ›Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter.‹ Denn bei keinem Fang war je ein Fisch dabei, der kleiner als fünf Zentimeter war. Auf dem Heimweg trifft er seinen besten Freund, den Metaphysiker, und erzählt ihm von seiner Entdeckung. Aber dieser sagt: ›Mein Lieber, das ist doch gar kein Grundgesetz. Wenn du die Maschenweite deines Netzes gemessen hättest, hättest du festgestellt, dass du gar keine kleineren Fische fangen konntest.‹ Aber der Ichthyologe ist von dieser Entgegnung nicht beeindruckt und erwidert: ›Entschuldige, du verstehst nichts von Naturwissenschaften. Du bist kein Fischer, kein Ichthyologe. In der Ichthyologie ist ein Fisch definiert als etwas, das man mit Netzen fangen kann. Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch. Im Übrigen, wenn du das Fangbare als eine Einschränkung empfindest, muss ich dir sagen: Ich sehe es nicht als Einschränkung. Ich fange ja Fische, um sie auf den Markt zu tragen. Es hat mich noch nie jemand nach einem Fisch gefragt, den ich nicht fangen kann.‹« Naturwissenschaftliche Forschung, wie wir sie im Alltag erfahren, erleben wir als Erzeugen von uns unzugänglichem Wissen, welches von der Forschung für uns aufbereitet und in den für uns relevanten Aspekten auf den Markt getragen wird. Was ist der Rahmen der Gültigkeit? Es gibt Forschung in der Mathematik, die keiner Experimente bedarf und uns Fakten liefert, auf die wir uns verlassen können, auch in hundert Jahren noch. Was bewiesen ist, gilt, außer es werden doch noch Widersprüche entdeckt. Die naturwissenschaftliche Forschung liefert zunächst einmal Fakten, die wir begeistert und mit Gewinn nutzen. Möglicherweise entdecken wir erst später, dass diese schwerwiegende Konsequenzen haben, zum Teil auch irreversible Schäden verursachen können. Das war als Folge der Relativitätstheorien wie auch bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen der Fall, und in Zukunft könnte es vielleicht die Nanotechnologie sein. Damit eng verknüpft © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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ist die ewige Frage nach der Vollständigkeit unseres Wissen oder der wichtigen Aspekte, die es auch langfristig zu bedenken gilt, und dem Grad der Sicherheit des umgesetzten Wissens. Sind wir auch für unvorhersehbare, äußerst unwahrscheinliche Folgen genügend gewappnet? Wiederum andere Forschungsergebnisse, zum Beispiel aus der Medizin, warten mit scheinbar gesicherten Fakten auf, die in Behandlungen als letzte Rettung erscheinen. Denken wir zum Beispiel aber auch an den Rückruf von Medikamenten, die alle vorgeschriebenen Phasen der Forschung erfolgreich durchlaufen haben, die von Behörden geprüft und als mehr oder weniger unbedenklich zugelassen wurden und die sich dennoch in der Praxis nicht als Segen herausgestellt haben. Gesundheitsempfehlungen werden erfahrungsgemäß ungefähr alle zwanzig Jahre durch neue ersetzt, welche früheren zum Teil sogar widersprechen. Das regt neben berechtigter Faszination und Begeisterung über Forschung und Wissenschaft auch zum kritischen Hinterfragen und Nachdenken an. Dürr hat im Blick auf ökologische Fragen in »Warum es ums Ganze geht« Folgendes geschrieben, das für die Forschung allgemein, aber auch für uns »Nutzer« gelten kann (2009, S. 74 f.): »Durch das hemmungslose Wirken des Menschen bahnen sich an vielen Stellen katastrophale Entwicklungen an. […] wir bezeichnen unser Tun als ›Wissen‹schaft, wenngleich es schon lange zur ›Machen‹schaft geworden ist. […] Doch Machen erfordert Verantwortlichkeit von dem, der manipuliert, der Wissen ins Werk setzt.« Er fordert daher, Bezug nehmend auf eine Grundforderung des naturwissenschaftlichen Forschens, dass Resultate nicht nur reproduzierbar sein müssen, sondern auch gültige Voraussagen machen sollen, die früher oder später nachgewiesen werden können: »Der Forscher muss wirklich in der Lage sein, die Folgen seines Tuns voraussehen zu können. […] Es muss allgemein verbindliche Wertmaßstäbe geben, mithilfe derer der Forscher seine Handlungen als mehr oder weniger vernünftig oder unvernünftig, nützlich oder schädlich, gut oder böse einstufen kann. Und dann muss der Wissenschaftler wirklich selbst für die negativen Folgen in einer für ihn relevanten Weise zur Rechenschaft gezogen werden.« Wie Forschung betrieben wird, technische, medizinische oder psychotherapeutische, unterscheidet sich wesentlich durch die Ver© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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schiedenheit und Komplexität des jeweiligen Forschungsobjektes und die Schwierigkeit des Zugangs. Beispielsweise wird ein Kletterseil mittels maschinell durchgeführter Belastungsproben auf Reißwiderstand und Haltbarkeit getestet. Wenn das Seil industriell nach strengen Vorgaben qualitätsgesichert hergestellt wird, kann man mit gutem Gewissen davon ausgehen, dass das Produkt, soweit kein unvorhersehbarer, unbemerkter Produktionsfehler aufgetreten ist, den angegebenen Belastungen standhält. Ein gewisses Risiko bleibt jedoch. Wenn ich tausend Menschen auf die Verträglichkeit eines Medikamentes hin untersuche, gibt es keine Gewähr, dass es wirklich auch bei Millionen von Menschen bedenkenlos angewendet werden kann. Sogar beim gleichen Menschen könnten sich irgendwann und für uns im Voraus unberechenbare Veränderungen einstellen. Zum Beispiel können zu einem späteren Zeitpunkt im Leben eines Patienten plötzlich Allergien auf Bestandteile eines Medikamentes auftreten, was für dieselbe Person lebensgefährlich werden kann. Wie viele Menschen auch ausgetestet werden, wir bleiben letztendlich bei Wahrscheinlichkeiten und damit bei mehr oder weniger kalkulierbaren Risiken. Sicherheit gibt es nur beschränkt. Wenn wir die Probleme der Psychotherapieforschung betrachten, wird es noch komplexer. Die Forschung der somatischen Medizin kann sich in der Grundlagenforschung und experimentell auf vorhandene, definierte Objekte wie Organe und ihre Produkte beziehen. Wir können, um ein Beispiel anzuführen, die Nieren eines Menschen mittels vieler Methoden erfassen und testen. Man kann beim Abklären des Gesundheitszustands des Kranken eine Ultraschalluntersuchung, eine CT (Computertomografie), ein MRI (Magnetresonanzbild) machen und das Blut auf Kreatinin oder andere Werte, die mit der Niere in Verbindung stehen, untersuchen, genetische Nachforschungen betreiben usw. Vor einer Nierentransplantation wird unter anderem über immunologische Tests zusätzlich abgeklärt, ob die Niere des Spenders vom Empfänger mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Ist er unabhängig von der Kompatibilität auch gesund genug (Lunge, Herz, Blut etc.), um die Operation zu überstehen? Vieles kann heute untersucht und mit abschätzbarer Wahrscheinlichkeit versehen werden. Experimente und bereits durchgeführte Transplantationen machen uns erfahrener. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Mit der neueren, neurobiologisch orientierten Psychotherapieforschung wollen wir unter anderem die »Psyche« über das Gehirn untersuchen. Das können wir jedoch nicht wirklich, weil wir nicht wissen, was Psyche – und damit eng verknüpft, was Bewusstsein – überhaupt ist. Wir kennen kein Organ »Psyche«, dem wir das Bewusstsein als Funktion zuordnen können. Es bleibt die Vorstellung, dass Psyche und Gehirn sehr eng verknüpft sein müssen. Wir nutzen technische Verfahren, welche uns über das Funktionieren des Gehirns und damit vermutlich indirekt über die Psyche Auskunft geben können. Wenn in fMRT-Untersuchungen zum Hören eines Tons, einer Musik oder eines Schreies wiederholt Potenziale gemessen werden, die auf Aktivitäten in Gehirnarealen schließen lassen, beweist das noch nicht, dass das Hören auch wirklich in diesen Arealen entsteht. Dasselbe gilt für Gefühle. Es geht mir darum, die Schwierigkeit in der Forschung, insbesondere was Psyche und damit auch Wirkung von Psychotherapien betrifft, herauszustreichen. Ich halte zusammenfassend fest, dass die experimentelle naturwissenschaftliche Forschung im abgesteckten Rahmen sichere Aussagen machen kann, auf die wir uns weitgehend verlassen können. Diese haben dennoch nur relative Gültigkeit, was uns Anwender im Allgemeinen nicht zu stören braucht. Dazu gehört die technische Forschung und nur beschränkt die Medizinforschung. Die neurobiologische Erforschung der Psyche hingegen, auch wenn zum Beispiel unterstützt durch bildgebende Verfahren, sowie die Genetik und Epigenetik befinden sich immer noch in einem frühen Entwicklungsstadium. Das weckt Hoffnungen für die Zukunft. Wichtige Grundlagenfragen sind jedoch ungeklärt. Wir bewegen uns mit dem heute Bekannten noch auf zu dünnem Eis, um abschließende Antworten zu Schizophrenien geben zu können. Gleichzeitig eröffnet die wissenschaftliche Empirie für manche Bereiche der Medizin, wie etwa die Krebsforschung, bereits heute unglaubliche neue Erkenntnisse, welche einen Wissens- und Verstehenszuwachs sowie »Quantensprünge« im Handeln ermöglicht. Forschungen zu Schizophrenien scheinen ein möglicher Schlüssel zu einer Tür zu sein, welche uns Einblicke in die Vorhalle der Psyche erlauben. Doch einen Weg in den Innenraum, zur Psyche, zum subjektiven Erleben schizophrener © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Menschen zu finden, bleibt nach wie vor der therapeutischen, bislang vorwiegend der psychoanalytischen Arbeit vorbehalten. Um einen Tresor zu öffnen, sind bekanntlich zwei Schlüssel nötig: Einen besitzt die Bank, den anderen der Kunde. Ähnlich ist es in der Schizophrenieforschung – nur wenn beide passen, lässt sich der Tresor öffnen. Doch auch darin werden wir »die« Psyche nicht finden, sondern wichtige Aspekte der Psyche gekoppelt an den ganzen Menschen. Wie wir sehen werden, sind nur verknüpfte Außen- und Innensicht der Weg zum Wissen um schizophrene Menschen. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine theoretische oder experimentelle naturwissenschaftliche Forschungsarbeit akzeptiert wird? Heute wird neben einer brauchbaren sinnvollen Fragestellung, einer Hypothese als Ausgangslage, die Reproduzierbarkeit von experimentell erarbeiteten Resultaten aus diesen Versuchen verlangt, auch durch andere Forscher. Zudem sollten optimalerweise Voraussagen gemacht werden, welche später verifiziert werden können, um das Modell im Nachhinein zu stützen. Die Methoden, um diese experimentellen Beweise zu erbringen, erfordern statistische Modelle, die gewährleisten sollen, dass bei der Auswahl sowie der Anzahl von Untersuchungen und der Auswertung der Daten gültige Schlüsse gezogen werden dürfen. Wissenschaftliche Forschung kann manchmal dennoch zu verschiedenen Standpunkten, Interpretationen oder Schlüssen führen. Im Extremfall können diese sich sogar widersprechen, weil Eindeutigkeit durch die einzelnen Resultate nicht gegeben ist. Damit nähern wir uns wieder den schizophrenen Welten an. Davor gilt es zu klären, was wir unter Psychotherapieforschung allgemein verstehen.

1.5 Psychotherapieforschung Unter der Vorgabe, dass die Wirksamkeit (und damit verknüpft auch die Wirtschaftlichkeit) von psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen wissenschaftlich nachgewiesen werden muss, steigt die Zahl entsprechender Forschungsprojekte an. Natürlich kann die Wirkung von Psychotherapien genauso wie die Wirkung von Medikamenten zum Beispiel im fMRT an einer großen Anzahl zum Beispiel schizophrener Menschen im Quervergleich und auch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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longitudinal angelegt beobachtet, gemessen und verglichen werden. Allerdings konzentriert man sich in diesem Rahmen eben auf das Gehirn oder dessen Regionen des schizophrenen Patienten, nicht aber auf den Menschen als Ganzes. In welchem Hirnareal ist unter welchen Einflüssen was in welcher Zeit nachzuweisen? In der »direkten« Psychotherapieforschung hingegen setzt man sich mit der Person selbst auseinander. Was lässt sich von außen beobachten? Was teilt sie uns verbal und nonverbal darüber mit, wie sie denkt, erlebt und fühlt? Hierin liegt eine der Schwierigkeiten. Betrachten wir die Forderung nach der Reproduzierbarkeit von Resultaten, welche in der experimentellen naturwissenschaftlichen Forschung gefordert wird. Eine Therapiesituation lässt sich nie unter identischen Voraussetzungen nachbilden, ja nicht einmal unter nahezu identischen. Weder Inhalt noch Setting der Therapiestunde können exakt reproduziert werden, nicht einmal mit denselben Personen. Der Therapeut ist anders gekleidet, hat schlechtere Laune, eventuell findet die Stunde zu einem anderen Zeitpunkt als gewohnt statt. Jede therapeutische Situation weist andere, einmalige Aspekte auf. Man könnte einwenden, das geschehe letztendlich auch bei wiederholten fMRT-Untersuchungen. Das ist zwar richtig, aber nur beschränkt relevant für den Ausgang der Untersuchung und die Schlüsse und Interpretationen, die man aus den Ergebnissen ableitet. Da darf (oder sollte) die Beziehung zum Untersucher nur eine Nebenrolle spielen, was die Beziehung als menschliche Begegnung betrifft. Sie beschränkt sich auf eine freundliche, aber neutrale Begrüßung, auf die Erklärung, was wann abläuft, auf die Klärung sachlicher Fragen und die Verabschiedung. So jedenfalls muss die Untersuchung angelegt sein, will man sich nicht der Kritik aussetzen, den Patienten zum Beispiel in seiner Stimmung beeinflusst zu haben, was die Verwendbarkeit der Resultate in Frage stellen könnte. In der Therapiesituation hingegen spielt die therapeutische Beziehung die entscheidende Rolle. Diese muss abstinent und keinesfalls manipulierend sein. Sie darf nicht unempathisch sein, unabhängig davon, welche Psychotherapiemethode der Therapeut anwendet. Wir wissen heute aus der Placebo-Nocebo-Forschung, welch großen Einfluss die Beziehung und die Art des Umgangs mit dem Patienten © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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auf die Wirksamkeit hat. Was wir an Variabilität beim Therapeuten sehen, gilt zum Teil auch für unseren Patienten. Die beiden Hauptdarsteller der Untersuchung sind also für eine wissenschaftlich verwertbare Aussage einer Forschung zu variabel und auch die Situation, das heißt die Forschungsanlage, in der sie sich begegnen, lässt sich in relevanten Punkten nicht oder nur in wenigen Aspekten einigermaßen exakt wieder herstellen. Und zu guter Letzt interagieren die beiden Personen miteinander und haben damit auch Einfluss auf die Beziehung zwischen ihnen, die es als einen der Hauptfaktoren neben den zwei Personen selbst zu untersuchen gilt. In den letzten Jahren wurden deshalb Therapiestunden zum Beispiel mittels Videoaufnahmen festgehalten, um die Therapie und die Prozesse, die dort ablaufen, besser und wiederholt und von verschiedenen Personen einschätzen lassen zu können. Nur hat dies nichts mit Reproduzierbarkeit zu tun, zudem gerade bei schizophrenen Patienten das Aufnehmen der Therapiesituation paranoid verarbeitet werden und somit die Resultate beeinflussen und verfälschen kann. Dieselbe Kritik lässt sich übrigens auch bei fMRT-Untersuchungen schizophrener Menschen anbringen. Hier wird nur eine spezielle Auswahl von Patienten untersucht, die sich in einem einigermaßen stabilen psychischen Zustand befinden. Es müssen beim zu untersuchenden schizophrenen Menschen wichtige Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine fMRT überhaupt vorgenommen werden kann (mehr dazu in Kapitel 3, »Schizophrenien: Wissen aus der Innenposition«). Des Weiteren gibt es für die Forschung in der Psychotherapie standardisierte und halbstandardisierte Fragebögen, die vom Patienten und/oder Therapeuten ausgefüllt werden müssen. Das kann in, nach, manchmal sogar zusammen während jeder oder nur in manchen Therapiesitzungen stattfinden, regelmäßig oder nur nach gewissen Zeiträumen. Auch hier stellt sich die Frage, inwieweit dass Wissen um solche Befragungen die Therapie selbst beeinflussen kann. Zu berücksichtigen ist, dass sich die Beurteilung in der Zwischenzeit bis zur Beantwortung der Fragen verändern kann. Wenn sie in der Sitzung selbst vorgenommen wird, was bekannt sein oder zu Beginn der Sitzung deklariert werden muss, ist der Faktor der Beeinflussung der Therapiesitzung sicher größer. Dafür ist die Authentizität eher © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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gewährleistet und die Verfälschung der Aussagen durch das, was in der Zwischenzeit verändernd einwirken könnte, ist geringer. Wie kann der schizophrene Mensch wissenschaftlich gültige Aussagen zum Erleben von »damals« machen, wenn sich »seine« Welt bis zur Beantwortung der Fragen wesentlich verändern kann? Werden beide befragt, Patient und Therapeut, so ergibt sich die Möglichkeit, den Verlauf aus beiden Perspektiven zu vergleichen und eventuell störende Aspekte statistisch zu erfassen und zu berücksichtigen. Es werden inzwischen viele wertvolle Studien an verschiedenen Institutionen durchgeführt, welche klinische Verläufe nach bestimmten ausgewählten Kriterien untersuchen. Regelmäßig werden Daten zusammengetragen, erfasst, ausgewertet und publiziert. Viele offene Fragen müssen auch da in Zukunft noch geklärt werden. Mit solchen Methoden lassen sich richtungsweisende Empfehlungen, vielleicht Tendenzen herausarbeiten. Ergebnisse anderer Therapien und Therapiemethoden lassen sich untereinander vergleichen. Jedoch kann man so keine tiefergehenden Einsichten bezüglich einzelner therapeutischer Prozesse gewinnen, die spezifische Rückschlüsse auf Wirksamkeitsfaktoren zulassen. Außerdem gibt es die zahlreichen Kasuistiken, die regelmäßig angelegt werden, aber keiner statistischen Auswertung im naturwissenschaftlichen Sinn genügen können. Indirekte Untersuchungen mittels bezahlter Supervisionen oder kollegialer Intervisionen der Behandlungen sollen dank der gemeinsamen Reflexion mithelfen abzusichern, dass psychotherapeutisch gut gearbeitet wird. Allerdings halten auch diese Vorgehensweisen den heute geforderten wissenschaftlichen Kriterien nicht stand. Diese Ausführungen sollen keinesfalls vermitteln, dass es nicht sinnvoll und auch dringend notwendig ist, sich weiter zur Psychotherapieforschung Gedanken zu machen und diese voranzutreiben. Nur bedarf es dafür geeigneter Forschungsrichtlinien, die erst noch zu definieren sind. Die Psychotherapieforschung befindet sich diesbezüglich noch am Beginn eines Prozesses. Es wird zudem der gegenseitigen Anerkennung von naturwissenschaftlicher und Psychotherapieforschung bedürfen, auch wenn sie sich auf verschiedene Voraussetzungen stützen und manchmal zu Widersprüchen führen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Die Medizinalisierung der Psychiatrie und mittlerweile bereits auch der Psychotherapie erweckt allerdings den Eindruck, dass eine einseitige Wissenschaftsgläubigkeit und damit Abhängigkeit entstanden ist, die manchmal mehr schadet als nützt. Das Erkennen und Akzeptieren, wie wenig wir über Psyche und Bewusstsein heute wirklich gesichert wissen, sollte in die Forschung und Beurteilung der therapeutischen Behandlungsmethoden einfließen. Nach diesen Betrachtungen zur allgemeinen Psychotherapieforschung kommen wir nun zum Thema Schizophrenien.

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Schizophrenien: Wissen aus der Außenposition

Wir betreten nun weit unsichereren Boden als in den bisherigen Ausführungen. Was genau verstehen wir unter den Begriffen Psyche, Bewusstsein und Unbewusstes? Ich werde nach einem erneuten Umweg einige makro- und mikroskopische Außenansichten zu Schizophrenien vorstellen.

2.1 Vorbemerkung Es scheint, dass die Psyche sich aus unendlich vielen koordinierten Funktionen eines sich andauernd anpassenden und neu konstituierenden hochflexiblen Netzwerks ergibt, welches nicht von einem zentralen Steuerungs- oder Kontrollzentrum koordiniert wird, sondern eine Art vernetzte Selbstorganisation aufzuweisen scheint, die uns noch weitgehend fremd und unbekannt ist. Dieses Funktionieren wird von uns größtenteils gar nicht bewusst wahrgenommen und läuft ohne unser aktives Agieren ab. Das Bewusstsein »gesellt« sich erst »später« dazu und hat nur begrenzte Möglichkeiten der Steuerung und Einflussnahme. Ähnliches finden wir im physischen Teil unseres Seins. Auch unser Körper wird von uns nur zum Teil bewusst wahrgenommen, viele Körperfunktionen und ihre Steuerung entgehen unserem Bewusstsein zeitweise oder ständig, obwohl sie unser Leben erst ermöglichen. Wir spüren unser Herz im Alltag selten bewusst, außer wir konzentrieren uns aktiv darauf. Beim Rennen oder vor einer wichtigen Begegnung »klopft« es übermäßig. Obwohl wir es nur zeitweise wahrnehmen, hat es bereits vor unserer Geburt begonnen zu schlagen und tut dies seither ununterbrochen. Es gibt jederzeit nachweisbar ein materielles und gut lokalisierbares Organ Herz in uns, dessen wir uns rational bewusst sind. Wir können den Puls messen, mittels Hilfsgeräten wie dem Stethoskop Herztöne und -geräusche abhören oder im Ultraschall seine Konturen und Bewe© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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gungen darstellen oder es während einer entsprechenden Operation auch direkt untersuchen. Genauso nehmen wir unsere Milz, Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse, unser gesamtes Immunsystem sowie wie einen wesentlichen Teil des Nervensystems im Normalfall nicht wahr. Symptome, die den Ablauf eines gesunden Lebens bedrohen können, werden meist leider erst bewusst wahrgenommen, wenn sie sich störend auf unser Wohlbefinden auswirken. Bei der Psyche hingegen ist dieser Vorgang sehr viel komplexer und komplizierter. Ich spreche nicht vom Gehirn, da Psyche mehr ist als das. Schon das Gehirn allein ist emergent, also mehr als die Summe seiner Teile. Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan, worauf Fuchs (2009) schon im gleichnamigen Titel seines Buches hinweist – ein Netzwerk, welches in seinen Teilen koordiniert zusammenspielt, sich laufend überprüft, orientiert und organisiert. Warum sonst haben wir vor einem Treffen mit einem Unbekannten oder vor einer Prüfung oder vor Abflug eines Flugzeugs ein mulmiges Gefühl im Magen? Der Magen steht über seine Inervation in enger Rückkoppelung und Kontakt zum Gehirn. Es ist einmal mehr als Wechselwirkung eines Netzwerks zu verstehen, das weit über den Rand des Gehirns hinausreicht. Psychopathologisch können wir wohl Symptome beschreiben, zusammenfassen und definieren, so zum Beispiel, was wir unter einer paranoiden Schizophrenie verstehen wollen. Wir können aber nicht feststellen, woher diese Fehlfunktion ursächlich kommt. Dass das Gehirn für das, was wir Psyche nennen, eine immens wichtige und zentrale Rolle spielen muss, ist unbestritten. Nicht viel besser geht es uns, wenn wir eine Stufe weiter zur Lokalisation des Bewusstseins und des Unbewussten Stellung beziehen sollen. Insbesondere die moderne Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren ermöglicht uns dennoch interessante Zuordnungen zu machen. Was Freud seinerzeit mutig postulierte, dass es neben dem Bewusstsein auch ein Unbewusstes gibt, ist inzwischen wissenschaftlich unbestrittenen. Doch wo befindet sich dieses Unbewusste? Welche Strukturen beheimaten unser Bewusstsein? Da wir nicht wissen, wo die Psyche ihren Sitz hat und wir nur ganz »quantenphysikalisch« höchstens Aufenthaltswahrscheinlichkeiten angeben können, können auch die »Möbel innerhalb dieses Gebäudes« nicht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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genau geortet werden. Wo Gehirnstrukturen entscheidend (mit-) wirken, lässt sich heute hingegen teilweise darstellen. Dazu benennt Gerhard Roth die Strukturen, welche für die Kontrolle von Willenshandlungen zuständig sind und welche für uns völlig unbewusst agieren: »Mit bewussten Handlungsplanungen im engeren Sinn sind der präfrontale und der hintere parietale Kortex befasst. […] Die kortikalen Areale können als bewusst agierende Instanzen also allein nicht unsere Handlungen bestimmen. Vielmehr müssen die außerhalb der Großhirnrinde angesiedelten und damit völlig unbewusst agierenden Basalganglien an diesem Aktivierungsprozess mitwirken. […] Wichtig zu beachten ist, dass in den Basalganglien nicht nur die grundsätzlich unbewussten, sondern auch alle ehemals bewussten Handlungserfahrungen abgelegt sind, einschließlich aller Interaktionen mit der natürlichen und sozialen Umwelt, die ins Unbewusste ›abgesunken‹ sind. […] Die Frage ist nun: Wer kontrolliert die Basalganglien? Die Antwort darauf heißt: das ebenfalls unbewusst arbeitende limbische System. Innerhalb der limbischen Zentren sind hierbei vor allem die Amygdala im weiteren Sinne (einschließlich des Nucleus accumbens) und der Hippocampus wichtig« (Roth u. Grün, 2006, S. 12 f.). Wenn wir über Gehirnstrukturen und ihre Verknüpfungen nachdenken, stoßen wir unweigerlich wieder auf die Frage, was von uns selbst vermeintlich oder wirklich bewusst gesteuert wird. In diesem Zusammenhang haben die Libet-Experimente (z. B. Libet, Gleason, Wright u. Pearl, 1983) Aufsehen erregt. Benjamin Libet und seine Mitarbeiter wiesen mittels einfachster EEG-Messungen und einer einfachen Versuchsanordnung mit Probanden Folgendes nach: Bevor wir uns unserer Wahrnehmung nach bewusst zu einer Handlung entscheiden, wurde diese bereits zuvor unbewusst vorbereitet und weitgehend entschieden. Wolfgang Prinz drückte dies mit einem provozierenden Satz so aus: »Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun« (1996, S. 86). Martine Nida Rümelin (2007) weist darauf hin, dass die von Benjamin Libet und Mitarbeitern durchgeführten Experimente auf Versuche zurückgehen, die bereits 1965 von Kornhuber und Deecke gemacht wurden. Diese stellten in Versuchen fest, dass bei Probanden mittels EEG bereits 550 Millisekunden vor Beginn einer Bewegung, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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dessen Zeitpunkt von den Probanden selbst gewählt werden durfte, ein Bereitschaftspotenzial gemessen werden konnte (Nida Rümelin, 2007, S. 93): »Nach ihren Ergebnissen findet dieses bewusste Ereignis, dass sie etwas unbestimmt manchmal als Entscheidung, manchmal als Bewegungswunsch und manchmal als Absicht bezeichnen, etwa 200 Millisekunden vor dem Beginn der Bewegung statt. […] Die Versuchspersonen sahen eine Art Uhr, deren Zeiger sich während des Experimentes in 2,56 Sekunden einmal ganz umdrehte, und gaben im Nachhinein an, wo sich der Zeiger der Uhr befand, als ›der Wunsch zu handeln auftrat‹ oder ›sie die Absicht bildeten‹ oder ›sie die Entscheidung trafen‹, die Bewegung auszuführen. Dagegen erfolgte die Messung des Zeitpunkts der Bewegung selbst über die Messung von Potenzialänderungen an Elektroden, die über dem betreffenden Muskel angebracht waren. Die Messung des Beginns des Bereitschaftspotenzials erfolgte durch Mittelung über 40 Versuche.« Die Diskussion um die Frage des freien Willens wird bis heute heftig geführt. Aus verschiedenen Richtungen folgte Kritik. Die als voreilig eingestuften allgemeingültigen Schlüsse, die aus den LibetExperimenten gezogen werden sollen, wurden in Frage gestellt. Eine ausführliche Auseinandersetzung darüber ist vielerorts nachzulesen (den neurobiologischen Aspekt auf die Philosophie ausweitend z. B. im Kongressband »Hirnforschung und Menschenbild« von Holderegger, Sitter-Liver, Hess u. Rager, 2007). Heute sind wir allerdings mit moderneren Methoden der bildgebenden Verfahren zu noch weit differenzierteren und aufsehenerregenderen Experimenten imstande, welche auch Kritikpunkte an den Libet-Experimenten korrigierend berücksichtigen. Diese bestätigen nicht nur deren Resultate, sie gehen sogar weit darüber hinaus. Eine Konsequenz aus der breit angelegten Fortschung ist, dass bereits über Lügendetektoren mittels fMRT-Bildern diskutiert wird, welche Antworten von Verdächtigen, zum Beispiel, ob sie einen bestimmten Raum kennen, der ihnen im Tomografen liegend gezeigt wird, mit einer fast hundertprozentigen Sicherheit als Lüge oder Wahrheit identifizieren können. Ohne tiefer in die Anatomie, Physiologie und Neurobiologie einzusteigen, reicht für unser Thema ein knapper Einblick, um eine Vorstellung zu erhalten, dass viele Strukturen im Gehirn am Funk© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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tionieren von Psyche, Bewusstsein und Unbewusstem entscheidend beteiligt sind. Der Blick in der modernen Forschung zu Schizophrenien richtet sich vor allem auf ausgewählte Strukturen des Gehirns. Trotzdem gilt es zu beachten, dass es sich um die Lokalisation von Orten eines funktionellen Geschehens handelt, aber nicht um den Ort des Ursprungs. Nicht vergessen werden darf zudem, dass es sich dabei nur um für uns mittels technischer Mittel sichtbar gewordene Teilaspekte handelt, aber nicht um die »Sache« selbst. Thomas Fuchs schreibt (2009, S. 73): »Zunächst messen Bildgebungstechniken gar nicht die neuronale Aktivität als solche, sondern nur indirekte Parameter, etwa beim fMRT den erhöhten Blutfluss und Sauerstoffverbrauch in bestimmten Hirnarealen, aus dem man auf die neuronale Aktivität rückschließt. Diese sind freilich nur sehr globale Maße für die lokal unterschiedliche Hirnaktivität. Sodann handelt es sich nicht um ›Bilder des Gehirns‹, sondern nur um Visualisierungen statistischer Berechnungen, also um kompliziert hergestellte wissenschaftliche Konstrukte. Dabei werden zum einen immer Mittelwerte aus größeren Stichproben von Probanden gebildet, da sich aufgrund der äußerst geringen Aktivitätsunterschiede individuell keine aussagekräftigen Ergebnisse gewinnen lassen. Zum anderen werden zur Kontrastierung Subtraktionsrechnungen vorgenommen, d. h., die Grundaktivität des Gehirns wird im voraus ermittelt und dann ›abgezogen‹, damit die lokal erhöhten Aktivierungen hervortreten. Dabei ist freilich keineswegs geklärt, ob die untersuchten Erlebnisphänomene tatsächlich den am farbigsten aufleuchtenden Strukturen entsprechen.« Aspekte, die es ähnlich kritisch zu reflektieren gilt, werden wir bei der Genetik begegnen. Insbesondere gilt es im klinischen Alltag im Rahmen der Diagnosestellung solche schnell als Wahrheiten überschätzte Wissensfaktoren zu relativieren. Schizophrenien sind und bleiben bis zum Beweis des Gegenteils unsere Nomenklatur, vereinfachende Konstrukte und Modelle über Abläufe, die in der Realität weit komplexer sind, als wir erfassen können. Da wir in erster Linie mit betroffenen schizophrenen Menschen umgehen wollen, gilt es nicht vereinfachend schwarz-weiß zu denken, sondern das gesammelte Wissen aus der Außensicht, welches uns derzeit zur Verfügung steht, anzunehmen, nebeneinanderzustellen, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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bewusst zu reflektieren und zu entscheiden, was uns im Kontakt mit dem Gegenüber wann und wie weiterhilft, und dass wir es mit einem komplexen Menschen und nicht nur mit einem Gehirn zu tun haben. Dann laufen wir nicht Gefahr, unser Wissen mit Wirklichkeit und Wahrheit zu verwechseln.

2.2 Teilobjektfokussierte Außenperspektiven Außenpositionen wie die der Neurobiologie, Molekularbiologie, Anatomie, Pathologie, Genetik, Epigenetik, Psychopathologie, Pharmakologie ist gemeinsam, dass sie lediglich eine Teilperspektive abbilden. Sie berücksichtigen außerdem selten die Innenposition des schizophrenen Menschen. Teilobjektfokussiert meint also, dass die hier besprochenen Perspektiven nicht den ganzen Menschen inklusive seiner Subjektivität ins Zentrum der Betrachtung setzen, sondern Teilaspekte, nachweisbare makroskopische und mikroskopische Puzzleteile. Die moderne Psychopathologie und Diagnostik baut hingegen ein Geländer zum Menschen und seinem Blick auf die Welt. Dies ist aber noch lange keine Brücke zur weitgehend subjektfokussierten Annäherung in der analytischen Psychosenpsychotherapie, wo der schizophrene Mensch zwar zunächst weiterhin auch als Objekt wahrgenommen und betrachtet wird, aber sein und unser subjektives Erleben sowie sein Innenleben in der Begegnung mehr Raum erhält, als das objektiv Nachweisbare zulässt. 2.2.1 Neuroanatomie

Lange Zeit vor der Möglichkeit, von außen ins Gehirn zu blicken, ergaben Obduktionen in der Anatomie und Pathologie den allerdings weitgehend unspezifischen Befund, dass die Gehirne schizophrener Menschen erweiterte Ventrikel aufwiesen. Mentzos weist (2008, S. 43) auf die fortdauernde Berücksichtigung dieser anatomischen Ebene in der Auseinandersetzung mit Schizophrenien hin: »Die bei einem Teil der Schizophrenen schon vor Jahrzehnten pneumo-enzephalografisch festgestellte Erweiterung der Ventrikel des Gehirns konnte jetzt durch die moderne, nichtinvasive Methodik bestätigt werden. Aktueller und wichtiger sind aber Befunde, die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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für Volumenreduktion, Atrophie, bestimmter Hirnareale sprechen, wie zum Beispiel im Hippocampus, im Frontallappen des Gehirns, Hypofrontalität, im ACC (Anterior Cingulate Cortex). Problematisch ist nur, dass einige dieser Veränderungen nicht nur bei psychotischen (bzw. nicht nur bei Schizophrenie), sondern auch bei anderen Störungen festgestellt wurden.« Auf Volumenminderungen im Gehirn und andere anatomische Befunde weist auch Braus 2005 (S. 122 f., 125) und 2011 (S. 102) hin. Er geht weit differenzierter in der Ortung und Diskussion der Bedeutung dieser möglichen anatomischen Veränderungen ein, welche er nicht auf den kortikalen Bereich beschränkt, sondern subkortikale Strukturen einbezieht. Er weist unter anderem auf ältere Studien hin, welche Anfang und andere gegen Ende der 1990er Jahre durchgeführt wurden und bei Zeitverläufen von mehreren Jahren keine fortschreitenden ventrikulären Erweiterungen gefunden haben. Das spricht eher für eine Hirnentwicklungsstörung. Spätere Untersuchungen, die Braus erwähnt, zeigten mit verbesserter Technik nun Subgruppen, welche eine Progression der Ventrikelgröße aufwiesen, was auf eine Neurodegeneration hinweist. Dieser Schluss trügt. Braus weist auf Weinbergers Kritik (2002) hin, dass wiederum spätere Untersuchungen um 2000 zeigen konnten, dass die meisten der untersuchten Patienten, die eine progrediente Volumenänderung zeigten, zugleich und paradoxerweise aber klinische Verbesserungen aufwiesen! So einfach ist das alles demnach nicht. Denn es müsste kritisch betrachtet und diskutiert werden, inwieweit es sich überhaupt um wirkliche Volumenänderungen im pathologischen Sinne handelt. So schreibt Braus (2005, S. 123): »Offen bleibt somit derzeit die Frage nach der Ursache der MR-Volumenreduktion. Segmentierungsdaten lassen nur den Schluss zu, dass eine Reduktion der grauen Substanz die Hauptursache der Volumenreduktion ist. Die Ursachen können vielfältig sein und reichen von MR-methodischen Ursachen über Veränderungen im neuronalen und nicht neuronalen Gewebe hin zu anderen physiologischen Änderungen wie in der Hirnperfusion, im Fett- oder im Wassergehalt.« Braus hält zusammenfassend fest (2005, S. 125): »Die vorliegenden Studien zeigen sowohl Hinweise auf progrediente Entwicklungen als auch Hinweise auf eine Entwicklungsstörung auf. Zunehmend wird die These vertreten, dass beide © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Ansätze sich nicht ausschließen, sondern als komplementär gelten können. Bis jetzt ist noch nicht nachgewiesen worden, dass progrediente Volumenänderungen regelhaft durch einfache Neuronenverluste bedingt sind, es ist jedoch davon auszugehen, dass unterschiedliche pathologische Prozesse existieren.« Im Weiteren weist er auf wichtige Zusammenhänge zu kognitiven Funktionen hin und hofft auf die Weiterentwicklung der darstellenden Methoden. Heikel für die Diskussion sind Befunde aus neueren bildgebenden Verfahren, welche zeigen, dass auch Neuroleptikamedikation als Ursache von Volumenminderung in Betracht gezogen werden muss! Interessant und erwähnenswert sind Untersuchungen von Zellkulturen mit Neuronen schizophrener Menschen. Im Fachblatt »Nature« wurde ein ausführlicher Artikel über Stammzellforschung und Schizophrenien vorgelegt (Brennand et  al., 2011). Wichtige Ergebnisse in der Grundlagenforschung könnten helfen, die Schizophrenien auf biologischer Ebene besser zu verstehen. Der noch ungewisse Umweltfaktor wurde durch die nachfolgend beschriebenen Laboruntersuchungen ausgeschlossen. In diesen Studien konnte bisher gezeigt werden, dass die Vernetzung der Nervenzellen schizophrener Menschen wesentlich schlechter funktioniert als bei entsprechenden Nervenzellen von Gesunden. Erblich vorbelasteten schizophrenen Menschen wurden Hautzellen entnommen und zu pluripotenten Stammzellen umprogrammiert. Aus diesen wiederum züchteten Forscher anschließend Nervenzellen. Der Vergleich mit Nervenzellen Gesunder zeigte, dass bei den umprogrammierten Zellen weniger Verzweigungen ausgebildet wurden. Daraufhin wurden antipsychotisch wirkende Medikamente an diesen Zellen getestet. Der Erfolg war allerdings dürftig, zeigte doch nur ein Medikament Wirkung bezüglich der Verbesserung der Vernetzung und erhöhte die entsprechende Genaktivität. Da scheint sich ein weiteres Puzzleteil aufzutun, welches unter Umständen in Zukunft für das Gesamtpuzzle der Schizophrenien von Bedeutung sein könnte. Gehirnmorphologie und Schizophrenien aus anatomischer Sicht lassen zurzeit noch viele Fragen offen. Ich verzichte hier auf weitere Ausführungen zu zwar interessanten epigenetischen Deutungen der anatomischen Veränderungen schizophrener Menschen, zum Beispiel den teils nachgewiesenen Asymmetrien von Hirnhälften und © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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den möglichen Zusammenhang zum Imprinting im Rahmen der Epigenetik (siehe übernächster Abschnitt). Die erwähnten Beiträge von Braus (2005, 2011) und Mentzos (2008) bieten einen außerordentlich guten didaktischen Zugang zu diesen so schwierigen Themen und regen zudem an, sich mit diesen Aspekten der Schizophrenien weiter zu befassen. 2.2.2 Molekularbiologie

Ich wende mich nun der die Pharmakologie seit Jahren prägenden sowie genetisch relevanten molekularbiologischen Dopaminhypothese zu, ergänzend, weil zukunftsweisend, auch der weniger bekannten Glutamathypothese. Der Einfachheit halber verzichte ich auf Ausführungen zu dem wahrscheinlich nicht ganz so zukunftsträchtigen Serotonin-Dopamin-Zusammenhang. Dorothea von Haebler und Jürgen Gallinat schreiben zur Glutamathypothese (2008, S. 18): »Das Thema Neurobiologie der Schizophrenie ist allerdings unendlich groß und hat verschiedenste Zugangsmöglichkeiten. […] Die Beschäftigung mit den Grundlagen macht dann wiederum deutlich, wie groß die Lücken noch sind und dass für eine so komplexe und vielgestaltige Erkrankung wie die Schizophrenie eine Argumentation mit Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen am realistischsten ist.« Dieser Satz gilt auch im erweiterten Rahmen und kann auf das gesamte Thema Schizophrenien übertragen werden. Was die Dopamin- und Glutamathypothese und meine Ausführungen dazu betrifft, orientiere ich mich ebenfalls nur zusammenfassend am Inhalt dieses Artikels. Eigene Beiträge beschränken sich auf Bemerkungen und Kommentare. Von Haebler und Gallinat weisen (2008, S. 19) darauf hin, dass die Dopaminhypothese heute noch der experimentell am besten gesicherte Ansatz ist. Die Pharmakotherapie stützt sich mit ihrer Forschung und ihren Produkten weitgehend auf dieses Konzept. Ein gestörtes dopaminerges System führt zur Überfunktion im mesolimbischen Trakt, was die sogenannten produktiven Symptome erklären soll. Die Minderfunktion von Dopamin wird im dorsolateralen präfrontalen Kortex geortet, was wiederum die Negativsymptomatik schizophrener Menschen erklären soll. Im © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Sinne von Epiphänomenen kann die Dopaminhypothese sicher postuliert werden, nicht aber als Ursache und alleinige Erklärung der Schizophrenien. Insbesondere kann sie unter anderem kognitive Störungen wie Defizite in der Aufmerksamkeit, die bei den Schizophrenien häufig auftreten und zu den Kerndefiziten gezählt werden, nicht erklären. Auch die Glutamathypothese, welche von den Autoren zwar zu Recht ins Spiel gebracht wird, ändert an der Epiphänomalität dieses Ansatzes nichts. Es gibt Verbindungen zwischen den beiden Systemen, die in Zukunft unter Umständen therapeutisch in der pharmakologischen Behandlung schizophrener Menschen relevant werden könnten. Wie von den Autoren dargestellt, wurden bereits 1980 bei Untersuchungen im Liquor schizophrener Patienten abnorm verminderte Glutamatwerte gefunden. Diese Befunde konnten aber nicht immer reproduziert werden. Somit genügten sie den bereits erwähnten wissenschaftlich geforderten Kriterien nicht. Glutamat ist der häufigste Neurotransmitter im Gehirn. Im Vergleich führen die Autoren an, dass beinahe alle Gehirnzellen Rezeptoren haben, die auf Glutamat reagieren, und mehr als die Hälfte der 100 Billionen Neuronen im Gehirn auch Glutamat als Neurotransmitter bilden. Daneben steht die kleine Zahl von nur etwa 10.000 dopaminbildenden Neuronen. Dies verführt dazu, sich vor allem der Dopaminhypothese zuzuwenden. Glutamat ist grundsätzlich ein erregender Neurotransmitter, der aber auch inhibitorische Effekte zeigen kann. Glutamatrezeptoren unterteilen sich weiter. Zu erwähnen sind dabei hier vor allem die ionotropen NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-D-Aspartat), weil gezeigt werden konnte, dass durch geringe Erhöhung der Konzentration der NMDA-vermittelnden Glutamattransmissionen eine verbesserte Kognition erreicht werden konnte, während allerdings die starke Erhöhung zur Neurotoxizität führte. Dieses Fenster zwischen therapeutisch nutzbarer Wirksamkeit und Toxizität scheint für Interventionen relativ klein zu sein. Das Resultat der verbesserten Kognition lässt dennoch aufhorchen. Auch die Autoren schlagen die bekannte Brücke zur Genetik und erwähnen, dass erste Untersuchungen bei Menschen mit genetischen Varianten des NMDA-Rezeptors Einfluss auf präfrontale Funktionen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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zeigten und so potenzielle Kandidaten sein könnten, welche die präfrontale Dysfunktion bei Schizophrenien erklären. Sie wagen den Ausblick auf die mittlerweile im Test stehenden pharmakologischen Konsequenzen, die sich für zukünftige Medikamente als relevant erweisen könnten. So werden Untersuchungen gemacht, die direkt oder indirekt an glutamatsensitiven Rezeptoren ansetzen. Den üblichen Neuroleptika (mit Ausnahme von Clozapin, das selbst an NMDA-Rezeptoren agiert) wird Glycin zugegeben (KoAgonist am NMDA-Rezeptor), was die Glutamatwirkung verstärkt und erwartungsgemäß die Kognition etwas verbessert, zudem auch einen Rückgang sowohl der Positiv- als auch der Negativsymptomatik zeigt. Noch sind die bisherigen Studien widersprüchlich. Ein Hoffnungsträger soll eine kontrollierte Studie mit einem Produkt (LY2140023) sein, dass im Vergleich zu Olanzepin untersucht und verglichen wird. Bei optimistisch stimmenden Resultaten könnte das zur Entwicklung weiterer glutamataktiver Substanzen führen. Man erhofft sich eine neue Form der antipsychotischen Behandlung zu finden, welche außerhalb der üblichen Dopaminmodulation steht. 2.2.3 Genetik und Epigenetik

Für dieses Thema möchte ich auf die entsprechenden Beiträge von Braus in seinem 2005 erschienenen Buch »Schizophrenie« sowie im bereits erwähnten Buch »Ein Blick ins Gehirn« (2011) verweisen. Für Nichtmediziner/-naturwissenschaftler lohnt es sich, zwei allgemeiner und populärwissenschaftlich gefasste Bücher zur Epigenetik zu lesen, »Der zweite Code« (2009) von Peter Spork sowie die Beiträge zur Schizophrenie in Jörg Blechs Werk »Gene sind kein Schicksal« (2010). Grundlagen der Genetik und Epigenetik finden sich dort leichtverständlich dargelegt, Grundbegriffe wie DNS/DNA sowie ihre Zusammensetzung aus den vier Aminosäuren (Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin) sowie RNS/RNA werden erläutert, darin finden sich Ausführungen zur sogenannten »fünften Aminosäure«, dem methylierten Cytosin (5-m Cytosin), welches für die epigenetische Forschung eine große Rolle spielt. Was genau sind überhaupt Gene? In der Kurzfassung: ein Stück DNA-Text, welches den Informationscode zur Herstellung jeweils eines Proteins enthält. Wie unterscheiden sie sich von Pseudogenen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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und wie viele Gene haben wir Menschen überhaupt (die Zahl sinkt ständig und dürfte heute bei vielleicht 20.000 liegen)? Was versteht man unter Nucleosomen? Was unter ihren Bestandteilen, den vier Typen von Histonen? Hier belasse ich es dabei zu erwähnen, dass jedes Histon im Nucleosom doppelt vorkommt und dass nur zwei davon, nämlich H3 und H4, wegen ihren »Schwänzen« epigenetisch besonders wichtig sind, weil dort Methylgruppen ansetzen können. Was genau versteht man unter Imprinting? Was dazu ist heute gesichertes Wissen und was lediglich Hypothese? Dazu nur soviel: Imprinting beschreibt den möglichen epigenetischen Einfluss der Geschlechterrolle, welcher auch bei Krankheitsentwicklungen mitspielen kann, wahrscheinlich bereits vor und im embryonalen Stadium. Was ist unter der nobelpreisgekrönten RNA-Interferenz genau zu verstehen? All das und vieles mehr wird in den Literaturempfehlungen einfach und spannend dargelegt. Ich konzentriere mich auf möglicherweise zukunftsträchtige Aspekte der Genetik und Epigenetik im Zusammenhang mit Schizophrenien. Blech schreibt zur Beziehung Genetik–Epigenetik Folgendes und bezieht sich auf einen der heute führenden Genetiker Moshe Szyf (2010, S. 45): »Menschen kann man nicht auf eine einzige Zelle reduzieren, und wir können Menschen nicht von ihrer Umwelt trennen.« Blech fügt an: »Doch genau diesen Irrtum begehen jene, die Gene als allmächtige Befehlshaber verstehen. Denn das Erbgut ist formbar und führt einen ständigen Dialog mit der Umwelt. Seine epigenetischen Markierungen durchleben einen beständigen Wandel. Die Entzifferung des Erbgutes kann diese Wandelbarkeit gar nicht erfassen, weil es nur eine Momentaufnahme liefert; einen Schnappschuss, der zwar den genetischen Code offenbart, jedoch nicht verrät, wie dieser gestern abgelesen wurde und morgen abgelesen wird, inwiefern die Gene überhaupt aktiv waren, sind und sein werden.« Eine Überlegung, die bei der Betrachtung der bildgebenden Verfahren ebenfalls beachtet werden muss. Was sagt ein Bild oder eine Bildersequenz wirklich aus und welche Schlüsse lassen sich für länger als nur den Moment der Aufnahme ziehen? Was geschieht tagtäglich bei schizophrenen Menschen durch ihr von Eindrücken und Emotionen überflutetes »mehrdimensionales« Erleben und wie wirkt sich © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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das epigenetisch steuernd und letztendlich auch langfristig sekundär auf ihre Gene aus? Zukunftsmusik, sich solchen Fragen zu nähern, da das Wissen um die Genetik der Schizophrenien heute immer noch zu ungewiss ist und sich der Betrachtung und Erforschung epigenetischer Wirkung entzieht. Zurück zu Blech, der zu den psychischen Faktoren ergänzend schreibt (2010, S. 46): »Das Erbgut ist sozusagen immer in Bewegung, äußere Faktoren verändern es fortwährend. Nicht nur nichtphysische Faktoren wie Gefühle und Erfahrungen wirken auf die Gene, sondern auch fassbare Dinge wie Schadstoffe und Substanzen aus der Nahrung.« In Bezug auf Psychotherapien warnt auch Braus und schreibt (2011, S. 7): »Psychotherapeutische Intervention ist letzten Endes auch eine Genexpressionsbehandlung, da sie neuronale Plastizität beeinflusst und die Persönlichkeit verändern will.« Was gibt die Genetik heute wirklich zu Schizophrenien her? Braus schreibt dazu in seinem Kapitel »Schizophreniespektrum« (2011, S. 103): »Das schizophrene Spektrum steht mit einer großen Zahl von Genen in Beziehung.« Er weist dann (S. 104) auf Dysbindin und Neuroregulin hin, welche für die synaptische Plastizität und die Hirnentwicklung essenziell seien, erwähnt noch weitere Risikogene und schreibt dann mehr oder weniger hoffnungsvoll (S. 104): »Dies ist nur eine Auswahl; Tandon und Mitarbeiter rechnen damit, dass in Zukunft noch weitere Gene hinzukommen.« Im folgenden Kapitel zeigt er mögliche Konsequenzen für aktuelle und zukünftige Therapien auf und nennt eine Palette von Optionen. Allerdings sucht man vergebens nach den hier im Zentrum stehenden Behandlungsmethoden der analytischen Psychosenpsychotherapie. All das Großartige aus der Neurobiologie darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nach wie vor im Neandertalerstadium sind, was unser Wissen zu Genetik und Schizophrenien betrifft. Wie bereits erwähnt ist eine mögliche Option in der Pharmakotherapie schizophrener Menschen der Glycinzusatz zu Neuroleptika. Zu erwähnen ist außerdem das mögliche epigenetische Potenzial von Trichostatin A, was an Tieren bereits untersucht und getestet wurde. Dieses kann die Genexpression insofern beeinflussen, indem es in das Gleichgewicht von Acetylgruppen und Methylgruppen an den entsprechenden Histonen eingreift und so Gene reguliert, mit dem © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Effekt, dass Gene besser oder auch nicht abgelesen werden können. Tierversuche zeigten, dass unter Behandlung mit Trichostatin A »frühkindliche«, traumatisch bedingte Defekte in gewissem Sinne therapeutisch umgeschrieben werden konnten (Blech, 2010). Dies ist möglicherweise auch ein Ansatz, um bei Menschen auf die Steuerung der Gene einzuwirken, sofern man die Gene findet, die eindeutig Schizophrenien auf diesem Niveau auslösen können. Dazu Blech, der sich auf Bernard Crespi bezieht (2010, S. 60): »Seelische Leiden haben demnach weniger damit zu tun, welche Gene man geerbt hat oder nicht. Viel wichtiger erscheint, wie diese Gene gesteuert sind. Welche Gene sind auf ›an‹ geschaltet, welche auf ›aus‹? Die Fragen entscheiden sich, sobald der Samenfaden in die Eizelle eindringt und das Ringen zwischen den mütterlichen und väterlichen Genen beginnt. Der Geschlechterkampf, glauben Crespi und Badock, ›könnte eine Schlüsselrolle spielen, ob im Gehirn des Sprösslings ein Gleichgewicht oder ein Ungleichgewicht entsteht‹. Fällt der Kampf deutlich zugunsten des Vaters aus, dann neigt das sich entwickelnde Gehirn zum autistischen Spektrum. […] Tatsächlich haben autistische Menschen eine verstärkte Aktivität von igf2-Genen, also ein Imprinting zugunsten des Vaters. Geht der Konflikt für die Mutter aus, dann tendiert das wachsende Gehirn eher zum psychotischen Spektrum. […] Autismus und Schizophrenie sind demnach keine getrennten Krankheiten, sondern sie sind miteinander verbunden und liegen wie Antagonisten an den Enden eines Spektrums.« Spork (2009) weist auf den Saarbrücker Epigenetiker Jörn Walter hin (S. 227), der ähnliche Aussagen zur Rolle des Imprinting bei der Hirnentwicklung Schizophrener machte. Es ist mehrfach auf die unterschiedliche Entwicklung der Hirnhälften hingewiesen worden, welche manche Epigenetiker mit dem Imprinting-Einfluss eines Elternteils in Zusammenhang bringen. Eine sehr interessante Betrachtungsweise, welche die Epigenetik in der Bedeutung herausstreicht, ist die Zwillingsforschung an eineiigen Zwillingen. Diese wird inzwischen vielerorts betrieben. Blech weist im Kapitel »Gleiches Erbgut, ungleiche Seelengesundheit« auf interessante Daten hin (2010, S. 95): »Eineiige Zwillinge haben ein identisches Erbgut, aber sie erkranken mitnichten immer © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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an den gleichen psychiatrischen Leiden. Beispiel Schizophrenie: Wenn sie in reines Erbleiden wäre, dann müsste die Erblichkeit bei einem Faktor von 1.0 liegen. Doch Untersuchungen unter eineiigen Zwillingen zufolge liegt der Faktor nur bei 0,31 – es muss also noch Auslöser geben, die mit den Genen nichts zu tun haben.« Er nennt dazu auch Ergebnisse aus Untersuchungen von Kindern schizophrener Mütter (schizophrene Väter wurden offensichtlich ausgeschlossen, was eventuell mit Imprinting-Überlegungen zusammenhängen könnte), die aber von seelisch gesunden Adoptiveltern aufgezogen wurden. Solche Studien wurden von Pekka Tienari an der Universität von Oulu in Finnland gemacht. Ohne auf Details einzugehen, folge ich der Zusammenfassung von Blech (2010). Es wurden in einer Gruppe 145 solcher Adoptivkinder gefunden und mit der zweiten Gruppe, 158 Adoptivkinder ohne schizophrene Mutter, verglichen. Aus der Gruppe 2 erkrankten acht an Schizophrenie. Aus Gruppe 1 sogar 32, was zunächst eher den rein genetischen Ansatz einer Erklärung stützte. Erst die genauere Untersuchung der familiären Verhältnisse bei den 32 schizophrenieerkrankten Adoptivkindern zeigte allerdings, dass viele aus der ersten Gruppe in schwierigen Verhältnissen aufwuchsen, und umgekehrt blieben viele Kinder trotz genetischer Vorbelastung, aber in guten Verhältnissen aufgewachsen, gesund. So mussten die zuerst gezogenen Schlüsse überdacht und neu interpretiert werden. Ein solches Vorgehen in Forschungsprojekten ist verständlich, da beim ersten Durchgang gefundene Daten oft Aspekte aufzeigen, die genauer überprüft, weiter untersucht werden müssen, um brauchbare und wissenschaftlich stichhaltige Aussagen machen zu können. Daraus schlossen die Untersucher, dass neben den Genen der Faktor Umwelt eine gewichtige Rolle spielen muss, ob eine Schizophrenie bei genetischer Vorbelastung auch wirklich ausbricht oder nicht. In dieser Untersuchung waren es konkret die familiären Verhältnisse, in denen die Kinder aufwuchsen, welche entscheidend mitwirkten. Dazu passen Resultate von pathologischen Untersuchungen an verstorbenen schizophrenen Menschen, deren Nervenzellen Hinweise enthielten, dass epigenetische Veränderungen stattgefunden hatten. Die DNA-Methyltransferase (Enzym, das andere Gene © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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methyliert, also das Ablesen blockiert) war gemäß den Untersuchungen im präfrontalen Kortex offenbar sehr aktiv gewesen. Es soll sich um die zwei Gene gad67 und Reelin gehandelt haben, welche in diesen untersuchten Gehirnen weitgehend abgeschaltet waren. Das alles mag uns wissenschaftlich mehr oder wenig schlüssig und überzeugend erscheinen. Die eindeutige Zuordnung von genetischen Aspekten zu Schizophrenien fehlt heute bei weitem, weshalb in der Literatur oft auf die Zukunft der Forschung verwiesen wird. Wir finden auch da Grundlagenforschungsfragmente, die irgendwann zusammengesetzt vielleicht eine Vorstellung ermöglichen, worum genau es sich von außen betrachtet bei dem, was wir als Schizophrenien bezeichnen, handeln könnte. 2.2.4 Oxytocin, ein körpereigenes Antipsychotikum?

Oxytocin ist ein vom Körper selbst produziertes spezifisches Neuropeptid, das unter anderem auf die emotionale Stimmungslage Gesunder wie psychisch kranker Menschen positiv einzuwirken vermag. Das gilt höchstwahrscheinlich auch bei schizophrenen Menschen. Zu beachten sind dabei die relevanten und spezifischen Unterschiede im emotionalen »Funktionieren« schizophrener Menschen. Die nachgewiesene positive Wirkung bei der Regulation von »Stressabbau« bei Probanden lädt geradezu ein, diesbezüglich über den Einsatz bei der Behandlung schizophrener Menschen nachzudenken. Das Neuropeptid aus der Gruppe der Proteohormone wird im Nucleus paraventricularis im Hypothalamus gebildet, zu einem geringen Teil auch im Nucleus supraopticus, ebenfalls Kerngebiet des Hypothalamus. Von hier wird Oxytocin über Axone zur Hypophyse transportiert. Bei Bedarf wirkt es über komplizierte Wege auf verschiedene Organsysteme ein, welche ich nicht weiter differenziere. Es wirkt wahrscheinlich direkt, aber nachweislich sicher indirekt vertrauensbildend, angstsenkend und fördert die Bindungsfähigkeit. Aus Tierversuchen weiß man bereits länger, dass Oxytocin, welches wegen seiner Wirkung auch als »Kuschelhormon« bezeichnet wird, die Fähigkeit steigert, soziale Bindungen aufzubauen und, was ebenso wichtig ist, diese über »gewisse« Zeit zu halten. Braus beschreibt treffend Oxytocin als »Zügel der Amygdalafunktionen«, als Regulator von Emotionen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Sehr wichtig scheinen mir die Resultate aus der Bindungs-, Empathie- und Vertrauensforschung. Die Bedeutung auf medikamentöser Ebene für die Überwindung des später noch ausführlich darzustellenden Kontaktwiderstandes bei schizophrenen Menschen ist allerdings heute noch nicht abzusehen. Es wird sich in Zukunft zeigen müssen, ob Oxytocin als »Medikament« für schizophrene Menschen zur Verfügung stehen, ob und unter welchen Vorbedingungen es insgesamt stabilisierend auf die sehr instabile Stimmungslage mancher schizophrener Menschen einwirken kann. Braus (2011) weist darauf hin, dass der breite Einsatz außerhalb der Forschung im Alltag heute noch nicht möglich ist. Wenn die Forschung in Richtung Anwendbarkeit weitergeht, könnte es in Zukunft als »natürliches Antipsychotikum« für die Motivation zur Behandlung vielleicht eher eingesetzt werden als die heute oft als vergiftend erlebten und daher abgelehnten Neuroleptika. Aus Sicht der Außenposition gäbe es uns etwas in die Hand, das aus der subjektiven und leidvollen Innenposition schizophrener Menschen heraus zu mehr Akzeptanz und somit zur Verbesserung ihres Zustandes führen könnte. Wenn es zudem mit Hilfe des Oxytocins gelänge, ihre Ablehnung und Skepsis sowohl in Beziehungen als auch gegenüber Neuroleptika zu mindern, wäre viel erreicht und ein Beitrag geleistet, dass sie sich besser und angstfreier gesellschaftlich integrieren könnten. Braus (2011) führt Lesenswertes zum Thema Oxytocin und Schizophrenien aus. Insbesondere weise ich auf seine Bemerkungen zur Wichtigkeit des Zeitfaktors und zum Unterschied des Wirkungseintritts des Neuropeptids beim Erstkontakt und bei wiederholtem Kontakt mit Patienten mit Amygdaladysfunktionen hin (S. 80). Er beschreibt, dass es bei Beziehungsbeginn offenbar 25 bis 30 Minuten dauert, bis Oxytocin in »wünschenswertem« Ausmaß zur Verfügung steht. Später, wenn eine therapeutische Beziehung aufgebaut wurde, wird dafür wesentlich weniger Zeit benötigt. Derartige Untersuchungen mit schizophrenen Menschen werden nicht erwähnt und wären sicher schwieriger zu handhaben. Dennoch wäre es eine mögliche Brücke zur gemeinsamen Psychotherapieforschung von Neurobiologen und Psychotherapeuten. Nicht unerwähnt bleiben sollten die vielen originellen, spielerisch angelegten Untersuchungen zu Oxytocin an gesunden Pro© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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banden, auf die ich nur hinweisen kann. Sie zeigen, wie sich das menschliche Verhalten verändert, wenn Oxytocin (als Nasenspray) verabreicht wird. Solche Untersuchungen gibt es zum Beispiel auch zu borderline-persönlichkeitsgestörten Menschen. Die Resultate lassen sich aber nicht bedenkenlos eins zu eins auf schizophrene Menschen übertragen. Menschen, welche sich zuvor vorsichtig und auch berechnend im Spiel um Geld verhielten, waren nach Gabe des Oxytocin »spendabler, aber auch risikofreudiger«. Sie waren eher bereit, Geld an unbekannte Mitspieler abzugeben, ohne zu wissen, ob und wie viel sie später zurückerhalten werden. Dazu verweise ich auf die umfangreiche Empathie- und Vertrauensforschung, unter anderem auch an der ETHZ (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich). In Bezug auf schizophrene Menschen sollte allerdings kritisch angefügt werden, dass das erarbeitete Wissen um die »erhöhte Risikobereitschaft« unter Oxytocin bei gesunden oder borderlinegestörter Probanden gerade für schizophrene Menschen differenziert und genauer erforscht werden müsste. In Akutsituationen könnte die Gabe von Oxytocin bei einigen Patienten eventuell nicht nur beruhigend und so gefahrensenkend wirken, da neben der erwünschten Vertrauensbildung und erhöhter Bindungsbereitschaft auch die Risikoabschätzung unerwünschterweise gesenkt und er eventuell gleichzeitig destabilisiert werden könnte. Die Risikoeinschätzung ist durch die Grundkrankheit bereits wesentlich verändert. Ob sich das als unberechenbarer Faktor und Gefahr bei einigen schizophrenen Menschen erweisen könnte, wird wohl auch Forschungsthema der Zukunft sein müssen. Weiterhin zu berücksichtigen ist der Vertrauens- und Bindungsaspekt. Der schizophrene Mensch unterscheidet sich diesbezüglich grundsätzlich von gesunden wie auch borderline-persönlichkeitsorganisierten Menschen, was beispielsweise am Verhalten in Gruppen beobachtet werden kann. Zur Vorbereitung ein Exkurs in die Biologie: Wir kennen das Schwarmverhalten und die Schwarmintelligenz bei Tier und Mensch. Kleine Fische zum Beispiel sammeln sich auf ihren Reisen durch die Gewässer oft in Schwärmen, um bessere Überlebenschancen zu haben. So erscheint der Schwarm für den Gegner groß und mächtig. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Die sich im Inneren befindenden Fische sind daher vor Angriffen zwar geschützt, aber auch weniger flexibel in der Fluchtoption als die sich außen befindenden. Gleichzeitig erhöht sich das Risiko durch die Schwarmbildung, weil ein Fischschwarm so eher vom Feind gesehen und wahrgenommen wird als der einzelne Fisch. Auch Vogelschwärme können Formatierungen am Himmel bilden, die nicht nur schön anzusehen, sondern für sie auch gewinnbringend sind. Wir fragen uns beim faszinierten Zusehen oft, wie sie sich koordinieren und wie diese Gebilde funktionieren. Ameisenvölker mit ihrer Organisation und viele weitere Beispiele aus der Tierwelt leiten uns zum Thema Emergenz durch Gruppenbildung. Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile. Solche Gruppenphänomene kennen wir natürlich auch bei uns Menschen, im Guten wie im Schlechten. »Massenhysterie« und Manipulier- und Kontrollierbarkeit von Menschenmassen ist ein gefragtes Thema in der Forschung. Menschen sind grundsätzlich von Beginn an abhängige, physiologische Frühgeburten und daher gezwungenermaßen soziale Wesen, welche den Austausch mit anderen zum Überleben benötigen und suchen, embryonal und in der ersten Zeit in der engen Mutter-Kind-Beziehung. Hier spielt übrigens das Oxytocin eine wesentliche Rolle. Die Ausdehnung der Beziehungsfelder zur nahen Umwelt, meist innerhalb der Familie, wird nun sehr wichtig. Im Kindesalter beginnt die freiwillige und unfreiwillige Gruppenbildung außerhalb der Familie. Erwachsene gestalten sich, wann immer möglich, ihre Gruppenzugehörigkeit selbst. Beispiele sind gesellige Anlässe, gemeinsame kulturelle oder sportliche Aktivitäten. Schert ein Einzelner aus, weil er zum Beispiel zu viel Alkohol konsumiert hat und in der Gruppe unangenehm auffällt, so wird er vielleicht gemieden oder zurechtgewiesen; die Gruppe schützt sich damit selbst. Das mag gewinnbringend für alle Beteiligten sein, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Nach einem Fußballspiel im Stadion hingegen kann sich eine größere Gruppe im Sinne eines Schwarmverhaltens plötzlich emotional ungebremst gefährlich aufladen. Bekanntlich führt dies nicht selten zur von außen fast nicht mehr kontrollierbaren und auch von innen her nicht mehr bewusst gesteuerten »Masse«. Der Einzelne verliert einen Großteil seiner © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Steuerungsmöglichkeit. Wenn zum Beispiel die »geliebte« Mannschaft unerwartet verliert oder gewinnt, kochen die Emotionen hoch. Was der Einzelne nie tun würde, kann nun in der Gruppe in Gewalt und Zerstörung ausarten. Der seriöse Bankangestellte und liebe Nachbar kann dann genauso zum Hooligan »mutieren« wie der lange bekannte gefährliche Rowdy. Wenn sich die Gruppe auflöst, kippt man wieder in die eigene, mehr oder weniger kontrollierbare Identität zurück. Denken wir dazu auch an Gruppendemonstrationen aus politischen Gründen, wie wir sie zum Beispiel seit 2011 im arabischen Raum erlebten und immer wieder erleben. Diese können ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Dynamik entwickeln und Unglaubliches in beide Richtungen bewegen (siehe auch Ciompi u. Endert, 2011). In der Masse zu sein und Teil davon zu werden, kostet temporär einen nicht unerheblichen individuellen »Identitätspreis« zu Gunsten des Teilhabenkönnens an der Gruppen-, also Schwarmidentität und Schwarmintelligenz. Diese vermittelt uns Gesunden vorübergehend bis zu einem gewissen Punkt ein Gefühl des Dabei- und Mitseins. Es stärkt uns auf eine subtile illusionäre Art, weshalb wir uns primär nicht dagegen wehren, sondern dies oft sogar bewusst suchen! Wir leisten uns diesen vorübergehenden »Eintausch«. Viele schizophrene Menschen verhalten sich gerade in dieser Beziehung meistens völlig anders. Wegen ihrer Fragmentierungsangst meiden sie jeden subjektiv empfundenen »fremdgesteuerten« Identitätsverlust soweit wie möglich. Sie meiden Orte und Veranstaltungen mit Menschenansammlungen. Subjektiv fühlen sie sich gefährdet und entwickeln die Angst, sich zu verlieren. Der schizophrene Mensch kann sich das nicht leisten, da es ihn in den Grundfesten seines Ich erschüttern, zu einem »point of no return« führen könnte. Dieses gänzlich andere Gruppenverhalten gilt es auch bei der Oxytocinforschung zu berücksichtigen. Was heißt Vertrauensbildung bei einem schizophrenen Menschen? Wie verändert sich diese in den fluktuierenden Phasen seines Krankseins? Ein weiterer reproduzierbarer Parameter in der Bindungs- und Vertrauensforschung ist der ebenfalls gut untersuchte veränderte Blickkontakt unter Oxytocingabe. Während dieser bei den meisten der untersuchten gesunden und nichtschizophrenen Probanden länger und intensiver wird, was darum gemessen werden kann, weil © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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sie Dank ihrer Compliance mitarbeiten wollen und können, ist dies nicht nur beim akut gefährdeten oder sehr instabilen schizophrenen Menschen kaum untersuch- und nicht wissenschaftlich verwertbar zu messen. Sogar wenn er zu Beginn mitwirken möchte, kann der Patient die Zustimmung schlagartig zurückziehen. Dies führt neben der Frage, ob nicht die Untersuchung selbst seine Psychose weiter unterhält, zu ethischen Überlegungen. Datenschutzaspekte wie fehlende rechtsgültige, also in zurechnungsfähigem Zustand erteilte Einwilligungen des schizophrenen »Probanden«, welche gefordert wird, würden solchen Forschungsprojekten zumindest in akuten Phasen zudem unüberwindbar im Wege stehen. Noch unrealistischer ist eine solche Untersuchung bei Erstbegegnungen. Das hängt neben den genannten rechtlichen Aspekten auch mit den Rahmen- und Untersuchungsbedingungen sowie mit der dann hohen emotionalen Anspannung des Patienten zusammen. Aus der klinischen Praxis kennen wir entweder den stechenden, durchdringenden Blick, der bei uns oft eindimensional falsch als bedrohlich gedeutet wird, oder im Gegensatz dazu den vermeidenden Blick oder das nur kurze, oft misstrauische rasche Aufnehmen eines Blickkontakts mit uns. Das ändert sich erst mit zunehmendem Vertrauen und meist nur langsam. Die Vermeidung des Blickkontaktes sollte zudem nicht zu schnell gedeutet werden. Ich erinnere mich inzwischen an viele Patienten, die mir später, als wir darüber sprechen konnten, erklärten, dass sie mich vor ihrem vergifteten, mich vernichtenden Blick schützen wollten. Im Wahn waren sie überzeugt, dass ich bei Blickkontakt tot umfallen, verbrannt oder sonst schwer geschädigt werden würde. Es war weder Misstrauen noch Ablehnung, wie ich es in den Anfängen meiner Psychiatriezeit oft falsch deutete, sondern Schutz. Schutz nicht primär für mich: Es ging oft darum, mich als Außenobjekt, als Orientierungspunkt, als Projektionsfläche, die beherrscht werden kann, nicht zu verlieren. Gleichzeitig konnte ich als Bedrohung empfunden werden. Bei aller Bedrohung, die der Patient durch mich paranoid erlebte, wirkte meine Präsenz gleichzeitig auch stabilisierend. Darauf muss man erst einmal kommen! Wer täglich mit diesen Menschen arbeitet, lernt sehr bald, diese wesentlichen psychodynamischen Nuancen, die für eine Beziehungs© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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aufnahme entscheidend und wichtig sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig zu deuten und vorsichtig nachfragend zu klären sowie therapeutisch zu nutzen. Wie wirkt Oxytocin bei schizophrenen Menschen und auf ihren Blickkontaktaufbau zu uns und wie sollen wir diese Veränderungen deuten? Untersuchungsergebnisse, welche die beruhigende Wirkung des Hormons aufzeigen, sind auf schizophrene Patienten wie gesagt nur sehr beschränkt übertragbar. Die beruhigende Wirkung des zugewandten Geprächs, von Körperkontakt (zum Beispiel über Massage durch einen Bekannten oder Physiotherapeuten) und von Oxytocingabe wurden bei gesunden Probanden miteinander verglichen. Über den vom Schizophrenen im Gegensatz zum Gesunden völlig anders wahrgenommenen und nur selten beruhigend wirkenden Körperkontakt, insbesondere durch fremde Menschen, oft aber sogar bei ihnen nahestehenden Personen, gehe ich hier nur knapp ein. Jeder, der mit schizophrenen Menschen zu tun hat, kennt dies aus eigener Erfahrung. Körperkontakt kann zwar manchmal rasch beruhigen, aber er kann auch sehr schnell zur Eskalation führen – das gilt sowohl für die Akutphasen als auch im späteren Verlauf. Ob und wie Oxytocin diesbezüglich positiv verändernd wirken könnte, wäre interessant, ist aber wohl nur schwer zu erforschen. Grundsätzlich muss sogar bei einem Großteil der schizophrenen Menschen mit einer nicht unbedingt erwarteten »paradoxen« Wirkung von Oxytocin gerechnet werden. 2.2.5 Bildgebende Verfahren

Mit einem Blick in meine Vergangenheit, einem Erlebnis aus meiner Kindheit, möchte ich diesen Abschnitt einleiten. Als kleiner Junge besorgte mir meine Mutter jeweils im selben Schuhladen neue Schuhe. Der Besitzer war ein Bekannter meines Vaters. Er nahm Rücksicht auf die sehr beschränkten ökonomischen Verhältnisse meiner Eltern, welche drei Kinder durchzubringen hatten, und gab uns immer Rabatt. Vor dem Bezahlen mussten wir nach ihm rufen lassen. Er trat aus seinem durch einen Vorhang abgetrennten Büro hervor, nannte einen symbolischen Preis, unterhielt sich kurz mit uns und wir verließen den Laden.

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Als kleiner Junge wusste ich um diesen »rituellen« Ablauf, verstand diese Szene jedoch nicht wirklich. Es geschah jedoch oft, dass die Schuhe, welche meine Mutter für gut befand, mir nicht gefielen. Für sie waren der Preis und die Qualität maßgebend, für mich das Aussehen der Schuhe und meine Vorstellungen, wie ich mir darin gefiel und wie es sich wohl anfühlen würde, damit gesehen zu werden. Deshalb griff ich zu einem ineffizienten Trick. Ich äußerte, der eine Schuh wäre unbequem, würde mich drücken und ich stoße mit den Zehen vorn an. Sogleich musste ich meine Füße mit angezogenen Schuhen in einen Apparat halten, der mittels Durchleuchtung meine Füße im Schuh abbildete. Natürlich entlarvte mich dieses Vorgehen. Anfänglich begriff ich nicht, weshalb. Doch der Beschluss stand rasch fest und ich wurde mit den Worten vertröstet, man würde den Schuh noch etwas ausklopfen und so würde er perfekt passen. Erst viel später, als ich größer war, durfte ich einmal in den Apparat blicken, als sich dieselbe Frage bei meinem Bruder stellte. Nun verstand ich! Jahre später, als wir zusammen auf einer gemeinsamen Reisen waren, erzählte mir meine Mutter, als wir über meine Kindheit sprachen, wie ökonomisch belastend diese Zeit damals war und warum oft nicht meinen Wünschen entsprechend gewählt wurde. Für mich war es damals als Kind schwierig, dies zu akzeptieren, besonders weil ich es bei vielen Freunden so anders erlebt hatte. Meine Mutter litt sehr darunter, mir meine Wünsche nicht erfüllen zu können, und noch mehr, mich deshalb manchmal unglücklich zu sehen. Sie wiederum erfuhr auf der Reise von mir, wie sehr ich mich als Kind geschämt hatte, nicht mit ähnlichen Kleidern und Schuhen wie die anderen herumlaufen zu können. Beide wussten wir aber damals nicht um die Gefühle des anderen.

Was ich damit beispielhaft verdeutlichen möchte, ist, dass die »Durchleuchtmaschine«, welche übrigens wegen der Radioaktivität später für diesen Zweck verboten wurde, wohl harte Fakten aufzuzeigen und eine rationale Entscheidung rasch zu ermöglichen vermochte. Sie konnte aber nie und nimmer darstellen, was sich emotional dahinter verbarg – weder mein subjektives Erleben noch das meiner Mutter. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Wie wären die Entscheidungen beim Schuhkauf ausgefallen, hätten beide die Innenposition des anderen gekannt? Vielleicht aufgrund der Verhältnisse nicht anders. Nur hätte es wohl mehr Verständnis und mit Sicherheit Trost und Zusprache für mich gegeben. Dennoch hätte ich etwas, wenn auch schmerzhaft, über die Grenzen des Möglichen und die existierende Ungleichheit in einer Gesellschaft lernen können. Meine »Compliance« hätte sich beim nächsten Schuhkauf wahrscheinlich doch etwas verbessert. So ging ich jahrelang jeweils nur nach heftigen Diskussionen und sehr ungern mit, um Schuhe zu kaufen. Eher war ich bereit, meine ausgetretenen Schuhe bis zum bitteren Ende zu tragen. Die vielen eindrücklichen fMRT-Untersuchungen an Gehirnen von gesunden Probanden und Kranken sind mittlerweile allgemein bekannt. Im Unterschied zu üblichen nichtfunktionellen MRT-Bildern, die statische Bilder zeigen, lassen sich Prozesse mittels fMRT dynamisch und statisch darstellen und festhalten. Während der Untersuchung sollen Probanden zum Beispiel Aufgaben lösen, die ihnen gegeben werden. Mittels der fMRT-Aufzeichnungen wird Aufschluss darüber gewonnen, welche Gehirnstrukturen sich wann und in welchem Umfang an Aktivität an den Prozessen beteiligen und sich verändern. Solche Untersuchungen können wiederholt durchgeführt und die Resultate verglichen werden. Man kann dann zeigen, ob und wie sich im Vergleich zum Beispiel die graue und weiße Substanz, einzelne Regionen oder einzelne Strukturen im Gehirn über kurz oder lang aufgrund der Neuroplastizität des Gehirn verändern und so im Positiven wie Negativen beeinflussen lassen können. Veränderungen können auch durch Erkrankungen selbst bedingt sein, durch Einflussnahme mittels verabreichter Substanzen oder durch wiederholt zugefügte Sinnesreize wie Schmerz. Durch gezieltes Training können gewünschte Veränderungen im Gehirn so angestrebt werden. Ein großer Vorteil gegenüber anderen bildgebenden Verfahren ist der Umstand, dass MRT und fMRT keine Strahlenbelastung für die Probanden erzeugen und daher Untersuchungen gemäß heutigem Wissensstand unbedenklich wiederholt werden können. Eine Brücke zwischen Genetik und Epigenetik zu schlagen respektive Umweltfaktoren, die in Gehirnstrukturen Veränderungen bewirken, zu erfassen und in ihrer Entwicklung zu verfolgen und zu © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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deuten, könnte ein weiterer erhoffter Gewinn der modernen bildgebenden Verfahren sein. Dazu sind geeignete Biomarker notwendig. Biomarker sind »Produkte« des Organismus, die zum einen messbar sind und zum anderen als Indikatoren für die Beurteilung, ob Prozesse »gesund« oder »krank« sind, verwendet werden können. Konkret unterscheidet man zwischen diagnostischen Biomarkern, welche, wie der Name sagt, zur Definition und Unterscheidung von Krankheiten dienen sollen. Die prädiktiven Biomarker können uns Wahrscheinlichkeiten angeben, zum Beispiel bei Risikopatienten, ob die Krankheit bei dieser Person zum Ausbruch kommt, und liefern manchmal sogar zeitliche Hinweise, um rechtzeitig zu erkennen, wann die Wahrscheinlichkeit in eine sehr hohe übergeht, was wiederum eine rechtzeitige Behandlung indizieren und ermöglichen könnte. Das ist schon deshalb wichtig, weil man nicht alle Risikopatienten prophylaktisch behandeln kann und sollte. Behandlungen weisen bekanntlich auch mehr oder weniger schwerwiegende Nebenwirkungen auf, die zumutbar und auch gerechtfertigt sein müssen, um den »rein statistisch gefährdeten« Patienten damit nicht unnötig zu belasten. Wir dürfen nie vergessen, dass Wahrscheinlichkeiten bei Biomarker oft aus Untersuchungen mit sogenannten univariaten Strategien stammen, das heißt, dass Gruppen von Gesunden mit Gruppen von Kranken oder Krankengruppen mit anderen Krankengruppen verglichen werden und daraus nur sehr vorsichtig Schlüsse für das Individuum selbst gezogen werden sollten. Wenn zum Beispiel ein hochspezifischer Marker zu einer Krankheit gefunden wird und dieser in einer Population häufig nachgewiesen wird, lässt sich daraus im Allgemeinen für den Einzelnen, der Träger dieses Markers ist, nicht zwingend schließen, dass die Krankheit bei ihm auch wirklich ausbricht. Neben dem Marker sind es meist bestimmte »Umstände«, die sehr komplex verknüpft sein können, die Einfluss darauf haben, ob es überhaupt zum Ausbruch der Krankheit kommt. Dies ist einer der Gründe, warum es seit einiger Zeit Vorstöße gibt, mathematisch hoch komplizierte multivariate Strategien zu verwenden. Darauf kann ich hier nicht weiter eingehen. Zudem gibt es die prognostischen Biomarker, welche Wahrscheinlichkeiten zum klinischen Verlauf einer Krankheit ergeben, also Vorhersagen ermöglichen können. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Je mehr die Psychiatrie in Richtung einer personalisierten Medizin steuert, umso wichtiger werden solche Biomarker. Beim Gehirn wird die Rolle der bildgebenden Verfahren auch diesbezüglich wohl zunehmend unverzichtbar. Bei den schizophrenen Erkrankungen ist leider die Sachlage derart komplex, dass es wohl noch Zukunftsmusik ist, sichere Biomarker zu orten, die schlüssig und klar abgegrenzt zu anderen psychiatrischen Erkrankungen verwendet werden können, also eindeutig und spezifisch sind. Wenn man an neuere psychopathologische Modelle denkt, welche zum Beispiel Depression und Schizophrenie oder, wie epigenetisch begründet, Autismus und Schizophrenie als Krankheit miteinander verknüpfen oder gar als solche begreifen wollen, wird klar, wie schwierig dieses Unterfangen ist. Bei der sehr gut untersuchten Alzheimer-Krankheit wurden bereits Fortschritte bezüglich spezifischer Biomarker gemacht, allerdings ließ sich aus diesen Forschungsergebnissen bis heute wenig für die konkrete Behandlung des an Alzheimer erkrankten Patienten ableiten. Zurück zum Thema schizophrene Menschen. Da es die Schizophrenie, wie wir inzwischen wissen, nicht gibt, wird sich das Spezifische dieser Erkrankungen mit moderner Bildgebung schlecht darstellen lassen. Jeder, der mit schizophrenen Menschen zu tun hat, weiß, dass diese Störungen im prozesshaften Fluss sind und sich nicht statisch und schon gar nicht stabil verhalten. Es gibt dennoch von außen betrachtet sowohl stabile als auch instabile Phasen. Instabil zeigen sich uns zum Beispiel akute Erstschübe, kürzere oder länger dauernde psychotische Exazerbationen, einmalig bis hin zu wiederkehrenden Episoden. All diese Varianten können sehr heftig sein. Stabil erscheinen uns Phasen nach psychotischen Episoden, die in einen Dauerzustand übergehen und jahrelang unveränderlich bleiben können. Es handelt sich um eine nur vermeintliche Stabilität. Die Leute sind ruhig, mehr oder weniger offen gegenüber der Außenwelt, sie arbeiten, nehmen regelmäßig ihre Medikamente ein und leben einen geregelten Alltag, der ihnen Halt gibt. Wer täglich mit diesen Menschen arbeitet, weiß, dass es dieses »Ruhige« nicht wirklich gibt. Das psychotische Erleben kann für längere Zeit in den Hintergrund treten. Es scheint bildlich gesprochen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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abgelegt im Archiv. Trotzdem ist es immer da und ist bei den meisten mehr oder weniger leicht jederzeit abrufbar. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die »instabile Stabilität« destabilisiert wird. Das kann von außen durch reale Belastungen geschehen. Wenn von innen her verursacht, so geschieht dies durch verstärktes psychotisches Erleben, langsam oder auch ganz plötzlich auftretend. In den stabilen Phasen ist reales Leben und psychotisches Erleben, welches für den Betroffenen subjektiv weiterhin reales Leben ist, prioritär eher hintereinander, aber doch auch zeitlich parallel geschaltet. In akuten Phasen hingegen wird beides nebeneinander geschaltet sein, teilweise werden die Grenzen ganz aufgehoben. Im sehr schlimmen Fall überflutet das Psychotische die Realität derart, dass diese überdeckt wird und im Alltag für den schizophrenen Menschen kaum mehr verfügbar ist, weil sie fast vollständig in den Hintergrund gedrängt wurde. Es scheint, als ob das Archiv aufgebrochen wäre und die einzelnen Ordner und Blätter durchs ganze Haus gewirbelt werden, was Chaos und Unordnung schafft. Wenn der Sturm nicht abflaut, kann es zur »tsunamiartigen« inneren Verwüstung kommen, was eine Trennung der eigentlich zeitlich aktuellen Ordner und der ehemals archivierten nicht mehr zulässt. Leider sind uns heute insbesondere die inneren Mechanismen, die zur Destabilisierung führen, nicht direkt von außen zugänglich. Wir können im besten Fall durch Außenpositionbetrachtung und klinische Kontrollen manchmal sehen, dass sich etwas »anbahnt«, allerdings oft ohne den Grund zu erkennen. Andererseits lassen sich reale Kriterien nennen, die zur Destabilisierung beim Einzelnen führen können und durch Außenfaktoren bedingt sind, man denke an das anerkannte Vulnerabilitäts-StressKonzept. Es gibt derzeit noch keinen 24-Stunden-Schutz für diese Menschen, existiert doch weder ein Gerät wie ein Schrittmacher beim Herzkranken, der bei Destabilisierungsgefahr den Rhythmus von sich aus wieder einreguliert, noch ein bildgebendes Dauermonitoring, welches wenigstens aufzeigen würde, wann ein destabilisierender Prozess beginnt. Wir können den schizophrenen Menschen nicht von jeglicher emotionaler Belastung fernhalten, insbesondere weil wir oft nicht genau wissen, was genau ihn emotional so erschüttert. Da reichen zum Beispiel einzelne Worte oder Gerüche, die uns Nichtschizophrenen normal und nicht belastend erscheinen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Welche dieser schizophrenen Menschen können nun überhaupt mittels bildgebender Verfahren untersucht werden? Was genau ist der Bildgebung zugänglich? In welchen dieser Phasen ist eine bildgebende Untersuchung überhaupt durchführbar? Wie stabil muss der schizophrene Proband sein, damit er überhaupt untersucht werden kann? Was ist unter stabil zu verstehen? Wie lange darf eine Untersuchung dauern, ohne dass der schizophrene Proband die Untersuchung selbst paranoid zu verarbeiten beginnt oder durch seine inneren Prozesse gar nicht mehr mitmachen kann? Wird er bei einer Nachuntersuchung in innerlich gleichem Zustand sein oder nicht? Wie stellt man das fest? Was für Resultate dürfen wir erwarten? Was sind die Konsequenzen für das Verstehen und Handeln? Ich beschränke mich in der Diskussion auf die Auseinandersetzung mit der Anwendung des fMRT (funktionelle Magnetresonanztomografie) bei schizophrenen Menschen. Wer mehr dazu und über die vielen anderen heute verfügbaren bildgebenden Verfahren wie DTI (Diffusions-Tensor-Bildgebung), PET (Positronenemissionstomografie) oder SPECT (Single-Photon-Emissionscomputertomografie) nachlesen möchte, findet dazu viele aktuelle Fachartikel sowie insbesondere kurze und verständliche Informationen in den Büchern von Braus. Heute wird versucht, über kombinierte Anwendung verschiedener Verfahren ein größeres Spektrum zu erfassen und umfangreichere Informationen zu erhalten, was auch erfolgreich ist, zumindest in den diesen Verfahren zugänglichen Teilaspekten. Kurz sei hier eine Technik, welche beim fMRT angewendet wird, erläutert, der BOLD-Effekt (»blood-oxygen-level-dependent«, ausführlich erklärt in Braus, 2005, S. 164 ff.). Diese macht sich den bekannten Zusammenhang zwischen lokaler Durchblutung im Gehirn, dem lokalen Glukosemetabolismus und der gemessenen neuronalen Aktivität zunutze. Braus weist im Unterkapitel »Qualitätssicherung« zur Anwendung des fMRT bei schizophrenen Menschen eindeutig auf Störfaktoren hin (2005, S. 169): »Messungen mit dem fMRT – insbesondere mit psychiatrischen Patienten – erfordern ein hohes methodisches Problembewusstsein. Die Methode reagiert extrem empfindlich auf äußere Störungen. […] Patienten und Probanden müssen genau © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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instruiert und aufgeklärt sein. Ohne die motivierte Aufgabenbewältigung während der Messung im ungewohnten Umfeld des Tomographen können keine verwertbaren Daten bei aktiven Paradigmen aufgenommen werden. Der zeitliche Aufwand durch mehrfaches Üben der Aufgabe außerhalb des Magneten ist sehr groß und oft auch aus methodischen Überlegungen (z. B. Einfluss von Lerneffekten) notwendig. […] Die Dauer einer funktionellen Messung sollte ca. 15–20 Minuten nicht wesentlich überschreiten, da ansonsten mit nachlassender Aufmerksamkeit und Artefakten durch unwillkürliche Bewegungen gerechnet werden muss. Es muss aber eine genügende Anzahl von Ereignissen in jeder Reizkategorie stattfinden, sodass die Anforderungen bezüglich der statistischen Auswertung gewährleistet sind (Jezzard et al. 2001).« Wenn wir diese Vorbedingungen ernst nehmen, fällt ein Großteil der schizophrenen Menschen als Probanden dafür weg. Die Schlüsse, die aus der bildgebenden Forschung gezogen werden dürfen, beziehen sich nur auf eine kleine »Auswahl«. Es ist unmöglich, bei der Exazerbation eines schizophrenen Schubes zeitgleich ins Gehirn zu sehen. Zudem kann man beispielsweise den Prozess, wie sich ein Verfolgungswahn gegenüber einem Liebeswahn von der Entstehung bis zum Abklingen entwickelt, nicht darstellen und schon gar nicht unterscheiden. Wenn ein schizophrener Proband unter medikamentöser Behandlung steht, stellt sich die Frage, wie es sich wohl beim gleichen Probanden darstellen würde, hätte er keine neuroleptische Medikation. Wie »gesund« muss der schizophrene Proband sein, um all diese Bedingungen zu erfüllen? Zusammengefasst: Wie aussagekräftig sind die Resultate der so ausgewählten »stabilen« schizophrenen Menschen, die untersucht werden können? Wie zulässig ist es, diese Ergebnisse auf andere, nicht so stabile Betroffene zu übertragen? Wie reproduzierbar sind die Messwerte? Wenn wir zudem davon ausgehen müssen, dass ein während der Untersuchung nach außen stabil wirkender Proband (Außenposition) es im Inneren noch lange nicht sein muss (Innenposition)? Was vermögen uns fMRT-Bilder wirklich zu zeigen? Es sind keine Abbildungen der Psyche, nicht einmal des Gehirns oder seiner Strukturen, sondern Modelle, welche Hirnstrukturen darstellen und Aspekte der Prozesse, die da ablaufen, für uns veranschaulichen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Bildgebende Verfahren helfen wesentlich mit, sich ein Bild davon zu machen, was vom Gehirn indirekt dargestellt werden kann, um daraus modellhafte Überlegungen anzustellen. Sie vermitteln uns kein direktes Wissen über die Psyche oder die Qualität emotionaler Vorgänge in den Probanden. Da sind wir heute auf die Berichte des Gegenübers angewiesen. Wir können aufgrund der Bilder lediglich davon ausgehen, dass »es den Probanden schmerzt«, wenn es im fMRT an entsprechenden Stellen der dargestellten Gehirnbereiche »feuert«. Wie sich der Schmerz anfühlt, geht aus den Bildern allein nicht hervor. Ob und wann es mittels moderner Bildgebung sogar möglich werden wird, nicht nur Darstellungen zu erhalten, sondern direkte Behandlungsoptionen hervorzubringen, wie wir es von Röntgenstrahlen, beispielsweise im Rahmen der Radiotherapie bei Karzinompatienten, kennen, ist eine sehr spannende Frage für ein Übermorgen. Forensiker, Neurowissenschaftler sowie der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel gehen davon aus, dass in Zukunft bildgebende Verfahren indirekt wesentlich mithelfen können, dass schwere, heute unbehandelbare, lebenslang verurteilte Gewaltverbrecher in 10 bis 15 Jahren mittels bildgebender Verfahren durch direkte Eingriffe ins Gehirn »positiv« beeinflusst werden könnten (Implantation von lokal eingreifenden und steuernden »Chips« ins Gehirn) mit dem Ziel, ihr aggressives Potenzial zu senken. Verwahrten Tätern könnte damit eine Chance gegeben werden, sich ohne größeres Risiko für die Gesellschaft wieder zu integrieren (Merkel, 2008, 2010). Trotz kritischer und unbeantworteter Fragen stelle ich die Wichtigkeit dieses Forschungsbereiches nicht in Frage. Es ist vernünftig, alles berücksichtigend voranzugehen, zu forschen und verschiedene Aspekte miteinander zu verknüpfen. Wenn allerdings die gegenseitige Öffnung fehlt oder diese nur rudimentär geschieht, kann sich das behindernd auf die Entwicklung von potenten Behandlungen auswirken, weil sich jeder nur in seinem Teilbereich bewegt. Besonders wichtig ist mir dabei die Integration von Sichtweisen der schizophrenen Menschen. Sie können sich uns wegen ihrer Störung ohne unsere Hilfe nicht verständlich machen. Die Übersetzer- und Vermittleraufgabe kann die psychoanalytische Psychosentherapie © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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wahrnehmen: Brücken zu bauen, diese Menschen zu erreichen und ihre Welt für uns zugänglicher und verständlicher zu machen und umgekehrt. Die Flut an Publikationen, welche all die genannten Teilbereiche unabhängig voneinander hervorbringen, zeigt, dass sich die meisten Wissenschaftler auf ihre Thematik fokussieren und im besseren Fall gerade noch mit den Bereichsnachbarn im Kontakt und Austausch stehen. Das muss sich ändern. Die direkte und zugewandte Beziehungsbildung zum schizophrenen Menschen als Quelle, zu Wissen zu gelangen, ist Thema des nächsten Abschnitts.

2.3 Subjektfokussierte Außenpositionen 2.3.1 Die psychopathologische Untersuchung

Zu Beginn der Begegnung mit schizophrenen Menschen nimmt auch der Psychotherapeut zunächst lediglich eine Außensicht ein. In den zuvor genannten Untersuchungen sollte hingegen das »Objekt« schizophrener Mensch, respektive »etwas« von ihm genauer untersucht und mit Befunden und Daten anderer schizophrener Menschen verglichen werden. Dagegen steht das Subjekt »schizophrener Mensch« sowohl in der Erstbegegnung als auch in der Psychotherapie als Ganzheit im Mittelpunkt und nicht das Gehirn, die Gene oder andere Teile des Ganzen. Christian Scharfetter weist in seinem Buch » Spurensuche in der Psychopathologie« (2011, S. 22) auf die drei grundsätzlich verschiedenen Positionen hin, die differenziert beachtet werden müssen. In allen schweren psychopathologischen Manifestationen »bleibt der Psychiater oft ohne genauere Kenntnis über die Innenvorgänge des sprachlosen oder spracharmen Patienten. […] Die Psychopathologie muss besser differenzieren: 1. Die Erste-Person-Perspektive: die Selbsterfahrung eines Menschen und den funktionellen Zusammenhang des Verhaltens mit dem Erlebten. 2. Die interpersonelle (Ich-Du/Sie) Perspektive: was ereignet sich in der Dualität, Pluralität inner- und ausserfamiliär, in der PatientTherapeut-Interaktion, im Team etc.? © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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3. Die Dritte-Person-Perspektive: Was kann ein ›objektiver‹ Beobachter, Interviewer registrieren, eventuell in standardisierter, semistandardisierter Befragung?« (S. 27 f.). Die psychopathologische Untersuchung in einer Erstbegegnung geschieht vorwiegend durch bewusstes Beobachten und Wahrnehmen des Gegenübers. Zusätzlich ist es Ziel für den analytischen Therapeuten aus der Außenposition, einen Einblick in die Innenposition zu erhalten, eventuell sogar etwas davon »erzählt« zu bekommen. Umgekehrt soll sich für den schizophrenen Menschen die Erstbegegnung mit seinem Therapeuten so gestalten, dass dieser sich primär für ihn und nicht allein für seine Pathologie interessiert. Wir hoffen damit auch, die meist deutlich vorhandene Anspannung des Patienten zu mindern und so einen Beitrag zu leisten, seine Angst für ihn »steuerbarer« zu machen. Verschwinden wird sie kaum. Reines Abfragen von Items und Überprüfen der Psychostatus-Kriterien, die in Manualen für Untersuchungsgespräche und Diagnosestellung bereitstehen, wäre eine verpasste Chance, sich als Menschen erfahren zu lassen, der sich für den Betroffenen und seine Leiden interessiert. Dabei sollte der Therapeut dem Patienten keinesfalls zu nahe kommen, da er ihn dadurch tiefer zurück in seine Welt treiben könnte. Diese heikle Gratwanderung der NäheDistanz-Regulierung in der Erstbegegnung verlangt gleichzeitig volle Aufmerksamkeit und Bezogenheit auf die eigene Person und die des schizophrenen Menschen. Was bedeutet das konkret? Psychopathologisch nach Halluzinationen zu fragen, ist eine tagtägliche psychiatrische und nur auf den ersten Blick einfache Aufgabe. Sie ist die hohe Kunst der Gesprächsführung, wenn wir den Anspruch haben, dass es beziehungsbildend nützlich sein soll. Sachliches Abfragen der Checkliste, des nächsten zu untersuchenden Punktes, zum Beispiel von akustischen Halluzinationen: »Hören Sie Stimmen?«, eventuell mit dem Zusatz versehen: »… die andere nicht hören?«, macht unser schizophrenes Gegenüber meist misstrauisch, manchmal sogar wütend. Es fehlt die notwendige Sensibilität und emotionale dualisierte Basis der Empathie, um solche, ihn existenziell betreffende, Fragen zu stellen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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In seinem paranoiden Misstrauen entlarvt er unsere Unfähigkeit, das für ihn Offensichtliche nicht selber wahrnehmen zu können, also schwächer zu sein als er. Anders, wenn er sich von uns nur ausspioniert fühlt, weil der ihm mächtig erscheinende Befrager um seine geheimen Kontakte weiß, also selbst entsprechende Fähigkeiten aufweist. Das kann für ihn gefährlich werden. Oft hat er Übung in solchen Befragungen aus früheren Begegnungen mit Behandlern und kennt die Folgen, wenn er offen darüber spricht. Wie so oft würde eine Medikamentengabe oder Erhöhung der Dosis erfolgen, dabei würde er dennoch allein und unverstanden zurückbleiben. Verständlich, dass er derartig wichtige Aspekte seines Inneren ohne Vertrauen nicht preisgeben kann. Fallen dieser Art gibt es noch viele. Frage ich hingegen im »richtigen« Moment des Gesprächsverlaufes oder, wenn nicht früher möglich, erst in den nächsten Tagen neutral-empathisch und inhaltlich interessiert nach, zum Beispiel: »Kennen Sie das verwirrende Gefühl, dass Sie manchmal hören, sehen oder fühlen, was die anderen um Sie herum oft gar nicht nachvollziehen können?«, dann ergibt sich meiner Erfahrung nach eine Situation, die der Patient als »Verstanden-werden-Wollen« erlebt. Sein Einsamkeitsgefühl verringert sich. Bis dahin musste er abwehren und sich gleichzeitig großartig, klein und verletzlich fühlen. Ein zugewandtes Nachfragen öffnet möglicherweise eine Tür: »Wie geht es Ihnen damit? Dürfen und wollen Sie mir mitteilen, mit wem Sie im Kontakt stehen?« Warum gerade er auserwählt sei und von wo aus er kontaktiert werde? Befinden sich die »Stimmen« oder Geschöpfe in seinem Körper oder kommen sie von weit außen, zum Beispiel aus dem All? Erlebt er es bedrohlich oder stellen diese gar seine Lebensgarantie dar? Stellung zu beziehen, auch was das emotional für den Betroffenen bedeuten könnte, ist dualisierend und therapeutisch wirksam. Mit der reinen Anwendung manualisierter Diagnostikhilfen bleibt man oft nach den ersten heiklen Fragen im Streit und nur an der Oberfläche stecken. Manuale verführen eher junge Kollegen, den einfacheren Weg, das Abarbeiten der Listen, zu wählen, Befunde zu erheben, zu notieren und später in Ruhe im Kämmerchen auszuwerten, anstatt den schwierigen und aufwendigen Weg zu gehen und in eine interessierte Beziehung mit dem schizophrenen Menschen zu treten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Das wichtigste Werkzeug für diesen schwierigeren, aber ergiebigeren Weg ist die Gegenübertragungsabbildungen in sich selbst (sh. Abschnitt 2.3.2 sowie Teil B, Kapitel 4). Voraussetzung dafür ist, sich auf die spezielle, oft für beide unangenehme Situation glaubhaft und konzentriert einzulassen, Raum für beide zu schaffen. Häufig sind wir gefordert, unglaubliche, für uns unbekannte Dimensionen seiner ihn anfänglich überflutenden Angst in uns abbilden zu lassen. Es erfordert Überwindung und Kraft, nicht reflexartig abzuwehren, sich zurückzuziehen oder zu entziehen. Wir müssen uns anbieten, das von ihm subjektiv Erlebte abstinent, aber empathisch anzunehmen, es zu würdigen, ohne es abzulehnen oder zu bestätigen. Eine optimal geführte Erstuntersuchung bietet eine einmalige Chance, zum notwendigen tiefen Verständnis der Person des Patienten zu gelangen, das für uns erforderliche Wissen aus seiner Innenposition hervorzubringen, ohne es zu erzwingen. Es handelt sich um ein mehrdimensionales Wissen, das nur zu einem sehr kleinen Teil direkt zugänglich ist. Jemand, der herumtobt, vor sich hin halluziniert und das Gegenwärtige, insbesondere die Beziehung zu uns, paranoid verarbeitet, sagt wenig über die ursächlichen Geschehnisse im Inneren seiner Psychose aus. Dieser Vulkan wird weit unter der Oberfläche gespeist, an einem Ort, wo sich auch technische Apparate keinen Zugang mehr von außen verschaffen können. Nur das vorsichtige psychotherapeutische »Abtauchen« kann Aufschluss darüber geben, was »da unten« geschieht. Wir sehen lediglich die hervorquellende Lava. Dazu Christian Scharfetter (2011, S. 21): »Psychopathologie ist viel mehr als bloss das Auflisten und Definieren von Symptomen konventionell anerkannter psychischer Störungen (wie sie immerhin in internationalem Konsens in ICD und DSM katalogisiert sind). Psychopathologie ist die Lehre von den Leiden und Dysfunktionalität anzeigenden Erlebnis- und Verhaltensweisen.« Ein Versuch, mit der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik) ergänzend zu den bereits etablierten und rein deskriptiven Diagnoseschlüsseln ICD und DSM den psychodynamischen Aspekt gerade bei schizophrenen Menschen einzubringen, hat sich bis heute nicht durchsetzen können. Das mag mit dem wahrscheinlich verständlichen, aber doch unerfüllbaren Wunschdenken im Rahmen des OPD zusammenhängen, die psychodynamische © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Betrachtungsweise der Diagnostik doch noch irgendwie der wissenschaftlichen Beschreib- und Messbarkeit verfügbar zu machen in der Hoffnung, so in der wissenschaftsorientierten Medizinerwelt akzeptiert zu werden. 2.3.2 Gegenübertragung

Das wichtigste und ergiebigste Werkzeug für die Wahrnehmung und Ortung des schizophrenen Menschen in seiner Innenwelt ist die Gegenübertragung. Sie ermöglicht vorerst nur einen Blick durchs Schlüsselloch. Unsere Gegenübertragung basiert auf einer passiven intuitiven Wahrnehmung, die von außen, nämlich vom Patienten, in uns aktiviert wird. Das ist zu unterscheiden von unserer Gegenidentifikation, die mit unserer aktiven Fähigkeit und der Absicht zu tun hat, sich in die Situation des Gegenübers hineinzuversetzen. Ein sehr schwieriges Thema, bei dem es um mehr als Mitgefühl und Empathie geht. In der Forschung versucht man diesem durch Untersuchungen der Spiegelneuronen und ihrer Funktionen näherzukommen. Mehr dazu findet sich im Buch »Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls« (Rizzolatti u. Sinigaglia, 2008). Die Begriffe »Übertragung« und »Gegenübertragung« haben sich inzwischen viele Therapierichtungen zu Eigen gemacht, sie verstehen darunter aber nicht immer dasselbe. Im »Kleinen Wörterbuch der Psychoanalyse« von Thomas Auchter und Laura Viviana Strauss (2003, S. 169) findet sich zur Übertragung Folgendes: »Es handelt sich um eine Form unbewusster Wiederholung früherer Objektbeziehungen im Umgang mit aktuellen Personen in Gedanken Gefühlen Phantasien und Wahrnehmungen. […] Der Begriff verdeutlicht, dass neben der bewussten Annäherung an ein Objekt unbewusste ›private‹ Theorien eine Rolle spielen, welche die Wahrnehmung von sich selbst und dem anderen als Objekt beeinflussen.« Das Konzept der Übertragung ist gekoppelt an die Voraussetzung der Existenz des Unbewussten. Dazu heißt es (Auchter u. Strauss, 2003, S. 170): »Das Unbewusste ist das zentrale Konzept der Psychoanalyse. Es bezeichnet die Annahme, dass eine psychische Aktivität stattfindet, die vom Subjekt nicht bewusst wahrgenommen wird, jedoch entscheidenden dynamischen Einfluss auf dessen Verhalten und Erleben aus© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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übt, vor allem auf seine Selbst- und seine Objektbeziehungen.« Wie nahe kommen sich hier Neurobiologie und Psychoanalyse! Harold W. Koenigsberg weist in seinem Beitrag »Gegenübertragung« im »Handbuch der Borderline-Störungen« von Kernberg, Dulz und Sachsse (2000) auf Freud hin (S. 88): »Freud führte den Begriff ein (1910/1957), um damit die Auswirkungen zu benennen, die der Patient auf die unbewussten Gefühle des Therapeuten hat. Freuds ausführlichste Diskussion dieses Begriffes findet im Zusammenhang mit der Reaktion des Therapeuten auf eine erotische Übertragung einer Patientin statt. Er warnt hierbei den Therapeuten davor, die ihm von der Patientin entgegengebrachte Übertragungsliebe nicht fälschlicherweise als ›dem Charme seiner eigenen Person‹ geltend misszuverstehen (Freud 1915/1957, S. 160 f.). […] In diesem Fall besteht die Aufgabe des Therapeuten darin, sich von der Gegenübertragung zu befreien.« Gegenübertragung ist also ein störender Faktor in der Behandlung, den es auszuschalten gilt. Das war über lange Zeit die Überzeugung, speziell in konservativen Psychoanalytikerkreisen. Nicht so bei den psychoanalytischen Psychosepsychotherapeuten, da sie aus der Not heraus den Wert der Gegenübertragung in Diagnostik und Therapie früh erkannten. Im Laufe der Zeit, mit der Anerkennung psychoanalytischer Behandlung bei schwerkranken persönlichkeitsgestörten und psychotischen Menschen, erhielt die Gegenübertragung einen gebührenden Platz und ist nicht mehr daraus wegzudenken! Koenigsberg (2000, S. 88) schreibt dazu: »Heimann (1950) erweiterte den Begriff der Gegenübertragung dahingehend, dass sie in diesen alle Gefühle des Therapeuten gegenüber seinem Patienten mit einschloss. Dabei handelt es sich also nicht nur um Reaktionen des Therapeuten, die sich auf seine Vergangenheit und seine unbewussten Konflikte zurückführen lassen, sondern ganz allgemein um alle von dem Patienten im Therapeuten ausgelösten Reaktionen, die nicht nur dessen individuellem psychologischen Muster entstammen […], die Gegenübertragung nicht nur als potentielles Hindernis, sondern auch als Mittel zu betrachten, mit dem etwas über den Patienten gelernt werden kann. […] Sie erlaubt einen Zugang zu Informationen, die der Patient über Kanäle vermittelt, welche die direkte verbale Kommunikation umgehen.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Koenigsberg weist in seinem Artikel auf wichtige Unterschiede der Gegenübertragung bei Borderline-Patienten im Vergleich zu Gegenübertragungsphänomenen bei Neurose-Patienten hin (2000, S. 87): »Die Arbeit mit der Gegenübertragung spielt eine ganz wesentliche Rolle in der Psychotherapie von Borderline-Patienten. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen. Zuerst einmal wird bei Borderline-Patienten die Gegenübertragung oft mit einer überraschenden Geschwindigkeit sehr intensiv, und der Therapeut muss hierauf vorbereitet sein. Darüber hinaus kann die Gegenübertragung über große Zeiträume die verlässlichste Informationsquelle von der inneren Welt des Patienten darstellen. […] Die in der Arbeit mit Borderline-Patienten entstehende Gegenübertragung ist allerdings ein zweischneidiges Schwert, da sie zwar ein wichtiger Zugang zu der Objektwelt des Patienten ist, gleichzeitig aber auch die Therapie zerstören kann. In der Tat sind Gegenübertragungsprobleme der häufigste Grund für einen vorzeitigen Therapieabbruch in der Psychotherapie von Borderline-Patienten.« Wenn er sich auf Therapien bezieht, ist der Wert für die Diagnostik bei Borderline-Patienten bereits in der Erstbegegnung nicht zu unterschätzen. Zu unterscheiden sind die ganz anderen Gegenübertragungsphänomene, die wir im Kontakt mit schizophrenen Patienten erleben. Im »Kleinen Wörterbuch der Psychoanalyse« ist zur Gegenübertragung Folgendes zu lesen (Auchter u. Strauss, 2003, S. 72): »Die gegenwärtige psychoanalytische Theorie versteht darunter die Gesamtheit bewusster und unbewusster Reaktionen des Analytikers auf den Patienten und dessen Übertragung. Die Analyse der Gegenübertragung setzt voraus, dass der Analytiker in der Lage ist, seine inneren Prozesse wahrzunehmen und sich reflektierend damit auseinanderzusetzen. Das erleichtert es ihm, zwischen seiner eigenen Gegenübertragung und seiner Übertragung auf den Patienten zu unterscheiden.« Benedetti weist in »Psychotherapie als existentielle Herausforderung« (1992, S. 66) auf die Abweichungen zum ursprünglichen Konzept der Gegenübertragung bei schizophrenen Menschen hin: »Es gibt also beim Therapeuten eine ›Gegenübertragung‹, die nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart stammt. Im Grunde ist © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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dann der Terminus ›Gegenübertragung‹ nicht mehr angebracht; er hat nur noch eine historische Bedeutung. In der Geschichte der Psychoanalyse meinen Termini wie ›Übertragung‹ und ›Gegenübertragung‹, das Affekte aus früheren Erfahrungen des Lebens auf die Gegenwart ›übertragen‹ werden. […] Aber die umgekehrte Übertragung, die der Beziehung aus der Gegenwart auf die Erfahrung der Vergangenheit, ist das Anliegen besonders der Therapie der Psychosen.« Er schließt den Abschnitt mit der heute noch geltenden wichtigen Voraussetzung, um mit schizophrenen Menschen in eine therapeutische Beziehung zu treten (S. 68): »Zum Schluss möchte ich erwähnen, das eine solche therapeutische Identifikation und Integration des Wahn-Anliegens in der therapeutischen Person geschehen kann, wenn der Therapeut sich symmetrisch mit seinem Patienten erlebt. Das bedeutet bei ihm eine gewisse Spaltung zwischen der ärztlichen Seite, die die Psychopathologie feststellt, und der existentiellen Seite, die die verborgene menschliche Wahrheit in der Psychopathologie entdeckt und erlebt.« Am Beispiel verschiedener Qualitäten der Angst, die übertragen werden können, stelle ich Unterschiede dar, die sich in der Gegenübertragung abbilden und bereits in der Erstbegegnung eine entscheidende Rolle spielen können. Schilderungen, wie ich sie von vielen schizophrenen Menschen in den Therapien erhalten habe, decken sich mit Benedettis Beschreibungen. Die Angst des Neurotikers kann sein, abgelehnt zu werden, durch ein Examen zu fallen usw. Er selbst hat Angst vor »etwas«. Ein borderlinepersönlichkeitsorganisierter Mensch dagegen kann heftige Angst entwickeln, »durchzudrehen, verrückt zu werden«, so dass diese nur noch über selbstverletzendes Verhalten und meist nur kurzfristig zu bannen ist. Er erlebt eine solche Angst grenzpsychotisch. Sie bedroht ihn direkt, unmittelbar und subjektiv existenziell. Der schizophrene Mensch hingegen hat im Extremzustand nicht Angst vor etwas, sondern er ist die Angst. Er kann sie nicht mehr abwenden. Deshalb wird diese, wenn irgendwie möglich, schnell in den Wahn integriert und dadurch subjektiv relativiert. Nur ist und bleibt sie weiterhin vorhanden. Die unterschiedlichen Angstqualitäten lassen erahnen, mit welchen Gegenübertragungssituationen man konfrontiert werden kann © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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und wie differenziert unsere Möglichkeiten sein müssen, um bereits im Erstkontakt therapeutisch damit umzugehen. 2.3.3 Die unfreiwillige Erstuntersuchung

Wie kommt es zur ersten psychopathologischen Untersuchung? Erstbegegnungen ergeben sich auf verschiedene Weisen. Dazu gehört der Eintritt in eine Klinik. Dieser kann mehr oder weniger freiwillig oder mit Zwang erfolgen. Die verschiedenen Ausgangslagen erfordern unterschiedliches Vorgehen, worauf ich später zurückkomme. Unterschiedlich gelagerte Erstbegegnungen gibt es auch in der Ambulanz oder Praxis. Der Patient kommt zu einem Vorgespräch idealerweise aus der Klinik (was leider heute in der Schweiz aus kassentechnischen Gründen kaum machbar ist, aber sinnvoll wäre), weil eine gesicherte Nachbehandlung Bedingung für die Entlassung ist. Heute wird dies meist telefonisch nur wenige Tage vor geplantem Austritt aus der Klinik erledigt. Der Patient selbst hat eigentlich keinerlei Wünsche an uns. Er erlebt uns in diesem Kontext meist nicht als neutral, sondern als Helfer und Verbündeter der Klinik. Deshalb wird er uns vermutlich eher misstrauisch und verschlossen begegnen, aber offen genug, um sein Ziel, aus der Klinik entlassen zu werden, zu erreichen – eventuell mit der Absicht, die vereinbarten Termine später nicht wahrzunehmen. Andersherum sind wir in seinen Augen die Retter, um aus der Klinik zu gelangen, und deshalb Verbündete. So ist unsere Ausgangslage für erste Schritte der Beziehungsbildung vermeintlich besser. Manchmal hat wiederum der Patient Angst vor dem Austritt und wir sind ein möglicher Anker auf der anderen Seite der Brücke zur gefährlichen Welt. Er kommt probehalber, um zu sehen, ob er über diese Brücke gehen möchte und ob er uns zutraut, ihn beschützend in eine Welt zu begleiten, die ihn zuvor in die Klinik gebracht hat. Darüber hinaus gibt es die vielen schizophrenen Menschen, die nicht nach einem Klinikaufenthalt, sondern aus ihrem Alltag zu uns kommen. Manchmal steht der eindringliche Wunsch und Druck des Umfeldes dahinter, sich anzumelden, je nach Situation sogar mit der Warnung verbunden, ansonsten die Wohnung oder den Arbeitsplatz aufgeben zu müssen. Es kommt vor, dass der Patient uns nur deshalb aufsucht, weil ihm aktuell mit der Klinikeinwei© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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sung gedroht wird und er aus zwei Übeln das für ihn leichter zu regulierende wählt. Manchmal kommen schizophrene Menschen (relativ) freiwillig zum Erstgespräch und später in die Therapie, was auch bedeuten kann, dass zum Beispiel eine nicht reale Instanz aus ihrer Wahnwelt dies fordert und sie lediglich dem Befehl der sie beherrschenden Stimme gehorchen. Von dieser wissen wir zum Zeitpunkt der Erstbegegnung meistens noch nichts. Oder der Patient findet sich mit Hoffnungen und Wünschen ein, die weitab unserer Vorstellungen von einer Behandlung liegen. Und es gibt die vielen Patienten, die uns wie Menschen mit anderen Störungen aus ihrem Bedürfnis heraus aufsuchen, behandelt zu werden, um ihr Leid zu mindern.Wie lernt man mit diesen verschiedenen Ausgangslagen therapeutisch umzugehen? Das soll über spezifische Fortbildungen indirekt im Kapitel »Handeln« thematisiert werden. Hier geht es darum, wie Wissen aus der direkten, aktiven Begegnung im Erstgespräch gewonnen werden kann. Was immer sich aus der Erstbegegnung an Befunden und an Beziehung ergibt, ist eine Momentaufnahme einer unnatürlichen, für beide mehr oder weniger belastenden Situation. Daraus lassen sich keine gesicherten Aussagen für einen längeren Zeitraum ableiten. Weitere Begegnungen sind nötig, zusätzliche Momentaufnahmen aus gewöhnlicheren Therapiesituationen. Das ist der Vorteil einer längeroder auch Jahre dauernden Therapie. Diese vielen Momentaufnahmen ergeben aneinandergereiht einen »Film«, der uns erlaubt, eine im Verlauf möglicherweise eintretende schwierige Situation besser beurteilen zu können. Fragen danach, wie stabil oder instabil eine »Psychose« wohl ist oder was Parameter sein könnten, ob und wann eine positive oder gefährliche Veränderung langsam oder schneller eintreten könnte, sind so leichter zu beantworten. In der Erstbegegnung erleben wir den Patienten oft in seiner labilsten Nähe-Distanz-Regulierung. Eventuell lässt sich daraus erahnen, welche therapeutisch nutzbaren, stabilisierenden Interventionen sich ergeben, wie lange diese anhalten, bevor sie wieder instabil werden. Ganz nebenbei gewinnen wir aus diesem aufmerksam geführten offenen Gespräch die wichtigen Daten zum Psychostatus. Durch eine, wenn auch nur kurz anhaltende, Vertrauensbildung erhalten © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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wir zusätzlich Einblick in die Tiefe der Symptome, mögliche erste Deutungen derselben und in das innere Erleben. Manchmal wendet der Patient sich plötzlich von mir ab, vielleicht zuckt er aus dem Nichts heraus zusammen, oder er blickt und hört ganz verklärt mit lächelndem Gesichtsausdruck in die Ecke des Raumes oder verharrt aus dem Satz heraus im momentanen Zustand. Wenn wir uns auf das Manual oder den Notizblock vor uns konzentrieren anstatt auf unsere Patienten und uns selbst, geht vieles unbemerkt an uns vorbei. Gelingt es mir hingegen vorsichtig, das Beobachtete zu dualisieren und interessiert, um ihn besorgt nachzufragen, was denn eben geschehen sei, kann das verschlossene Türen öffnen und den Patienten in unser Gespräch zurückzuholen. Vielleicht erfahre ich Hintergründe, Geschichten und erhalte Einblicke in eine Dimension des Wahngebäudes. Darauf können wir eventuell später wieder zurückgreifen. Wenn das Gegenteil eintrifft und meine Intervention zu seinem Rückzug führt, bleibt mir wenigstens die Möglichkeit, entschuldigend darauf hinzuweisen, dass ich ihm wohl eben zu nahe gekommen sei, was die Beziehung für einen weiteren möglichen Schritt eventuell aufrechterhält. Das Angebot, über seine und meine Grenzen zu reden, herauszufinden, was zwischen uns an Nähe möglich ist und was nicht, baut eine Brücke, zu Partnern zu werden, sogar wenn der Patient nicht unmittelbar darauf einsteigt. Es gibt kaum eine bessere Gelegenheit als die Erstbegegnung und Erstuntersuchung außer der Therapie, um mehr über unser Gegenüber und sein Erleben in seinen Welten zu erfahren. Daraus ergibt sich keine Garantie, dass es immer so vertrauensvoll bleiben wird. Diese Momentaufnahme bleibt ein potenziell wichtiger »Schnappschuss«. Ein gut geführtes Erstgespräch, sogar wenn es im schlimmsten Fall zu einer Zwangsmaßnahme führt, was meiner langjährigen Erfahrung nach allerdings sehr selten geschieht, kann ein Baustein, im besten Fall ein Eckpfeiler für einen langen konstruktiven therapeutischen Weg ergeben, den beide zusammen gehen und dennoch jeder für und mit sich selbst. Wissen, welches sich später in Therapien durch die Summe der Momentaufnahmen erweitert, unterscheidet sich grundlegend vom Wissen aus dem Erstgespräch – qualitativ durch die entstandene »Beziehungstiefe« und quantitativ, da sich in der zeitlichen Konti© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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nuität ein Vergleichspotenzial ergibt. Wie geht man nun konkret in der Erstbegegnung vor? Unfreiwillige Erstbegegnungen mit schizophrenen Menschen ergeben sich im stationären Rahmen, wenn sie gegen ihren Willen in die Klinik eingewiesen werden. Die Aufnahme erfolgt häufig von weniger erfahrenen Kollegen. Gerät ein Patient aus der ambulanten Praxis in Not und dekompensiert akut psychotisch, findet der »Erstkontakt« wenn möglich in der dem Klienten vertrauten Umgebung statt. Streng betrachtet ist das keine Erstbegegnung. Die psychotisch bedingte Ablehnung und Verkennung des Therapeuten kann von beiden wie eine Erstbegegnung erlebt werden. Viele Kollegen aus der Praxis leisten Notfalldienste in der Region und werden mit schizophrenen Patienten konfrontiert, die sie zuvor nicht kannten. Manchmal betrifft es den Patienten eines Kollegen, welchen man hinzuziehen kann, meistens ist man auf sich selbst gestellt. Auftraggeber können Wohnheime, ein Allgemeinarzt, der zu dieser Zeit Notdienst hat, die Polizei oder andere Ermächtigte sein, je nach Region. Dann kommt es zur unfreiwilligen Erstbegegnung eines erfahrenen Kollegen mit einem ihm bisher unbekannten schizophrenen Menschen. Im Gegensatz zur Klinikaufnahme stellen diese Situationen eine zusätzliche Herausforderung und Belastung dar. Beiden ist die Örtlichkeit fremd, außer der Patient muss zu Hause oder im Wohnheim aufgesucht werden. Zudem ist vom Auftraggeber primär keine therapeutische Beziehungsaufnahme gefragt, sondern eine rasche Beurteilung des Patienten und der Situation, um das weitere Prozedere festlegen zu können. Muss man den Patienten vor sich selbst oder andere vor ihm schützen? Ein reflektiertes und umsichtiges Vorgehen, das mehr Zeit benötigt und die Innensicht des Patienten versucht zu berücksichtigen, ist mehr als die Beurteilung einer momentanen Situation von außen, unter Umständen geht es hier darum, entscheidende Weichen für die Zukunft eines Menschen zu stellen. Dafür ist viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl notwendig, was oft eine Einweisung ersparen kann. Am Beispiel von Situationen, wie wir sie bei Klinikaufnahmen von unfreiwillig eintretenden schizophrenen Patienten erleben, ver© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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suche ich die Rolle und den Einsatz der Gegenübertragung aufzuzeigen. In meinem Therapiebuch »Identitätsgrenzen des Ich« (2008) finden sich dazu weitere ausführliche Darstellungen mit Fallbeispielen eigener Patienten. Zur Situation einer Klinikeinweisung: Bereits die Vorankündigung, wie und von wem ein schizophrener Patient in die Klinik eingewiesen wird und was dazu führte, kann beim aufnehmenden, unerfahrenen Kollegen vor der Erstbegegnung mit dem Patienten in eine falsche Richtung führen. Seine bisherigen ähnlichen Erfahrungen und unbewusst abgespeicherten Erinnerungen werden aktiviert. Vorstellungen, Fantasien, Ängste und Gefühle spielen in der späteren Beziehungsbildung bereits vor der Begegnung eine Rolle. Was bei ihm vor Ankunft des Patienten ausgelöst wird, entwickelt sich unter Umständen wie eine Kettenreaktion weiter. Die Art und Weise, wie vorbereitende Informationen dem später zuständigen Team vermittelt werden, kann Weichen für den Umgang mit dem eintreffenden Patienten stellen. Neben der verbalen Ebene bestimmen zudem körperlich und mimisch ausgesandte Signale des Übermittlers der Informationen den emotionalen Transfer ins Team mit und verursachen unbewusst weitere »Gegenübertragungsreaktionen«. Daher ist es sinnvoller, die Anmeldung durch einen erfahrenen Kollegen entgegennehmen zu lassen. Dieser kann reflektieren, sich seiner Gefühle wie der Gegenübertragung und seiner Abwehr bewusst werden, damit umgehen und die Anmeldung neutral, das heißt weder bagatellisierend noch dramatisierend, weitergeben und entscheidend dazu beitragen, dass die später erfolgende Aufnahme den realen Verhältnissen entsprechend optimal durchgeführt wird. Bei der telefonischen Anmeldung kann festgestellt werden: Wo finden sich Hinweise zur Haltung des Anrufers? Ist dieser aufgeregt, vielleicht in Panik geraten, verharmlost er oder kann er sachlich, abgeklärt und situationsgerecht Auskunft geben? Kann er detaillierte Aussagen zur Situation machen, wie sie sich anfänglich darstellte und bis zum Telefonat verändert hat? Das könnte zum Beispiel Aufschluss über die zu erwartende Steuerbarkeit des Klienten geben. Lange vor Eintreffen des Patienten selbst beginnt die unbewusste Gegenübertragung ihr Spiel mit allen Beteiligten, wenn sie unreflektiert wirken kann. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Erfahrene Kollegen greifen auf angelerntes und intuitives Wissen zurück, was auf sie selbst wie nach außen beruhigend wirkt. Zudem besprechen und verlassen sie sich auf im Team vorhandene erfahrene Pfleger. Anders der etwas ängstliche Kollege, der sich manchmal in Abgründe der Varianten stürzt, die eintreffen könnten. Schlimm kann es beispielsweise ausgehen, wenn der gedachte Worst Case als Tatsache über den eintreffenden Patienten so weitervermittelt wird, dass die Zwangsmaßnahme fälschlicherweise von allen als einzige Option angenommen und wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung inszeniert wird. Wiederum andere, weniger erfahrene Kollegen wählen in der Not den Rückzug und delegieren die befürchtete Situation an andere. Den Hintergrundoberarzt oder Kollegen hinzuzuziehen, ist oft sinnvoll und keine Abwehrreaktion. Wenn es aber Ausagieren der regressiven Abwehr ist, schadet es allen Beteiligten in der weiteren Zusammenarbeit. Deshalb ist es entscheidend und wichtig, die erhaltenen Vorinformationen vernünftig einzuordnen und bei sich dadurch ausgelöste Gefühle zu reflektieren, bevor man sie weitergibt. Das mag zeitraubend und kompliziert erscheinen, ist aber klug und effizient. Zu denken, man habe dafür keine Zeit mehr, da der Patient jederzeit eintreffen kann, ist eine Falle. Da gelte es rasch handfeste Vorbereitungen zu treffen. Daraus ergibt sich mein Votum für die frühe analytische Selbsterfahrung für alle Kollegen in der Weiterbildung, egal welche Therapierichtung man für sich zu praktizieren wählt. Die vertiefte psychoanalytische Selbsterfahrung hilft, solche differenzierten Vorgänge, wie sie bei komplexen, emotional belastenden Erstbegegnungen anzutreffen sind, in Sekundenschnelle bewerkstelligen zu können. Die Selbsterfahrung aufzuschieben, ist nicht klug. Man sollte über diese Erfahrung so früh wie möglich verfügen können, um sie bereits während der Weiterbildungszeit in der Patienten- wie Teamarbeit einsetzen zu können. In der Aufnahmesituation selbst wird man kaum Zeit haben zu reflektieren. Da muss sich das Team auf die gute Vorarbeit, Erfahrung sowie Intuition verlassen. Deshalb ist die Zeit davor, wenn auch nur wenige Minuten zur Verfügung stehen, kostbar und darf nicht verspielt werden. Der Erstkontakt spielt sich jeweils unterschiedlich ab. Zuerst gehe ich auf den erregten, dennoch erreichbaren und ansprechbaren schi© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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zophrenen Menschen ein. Dem Konzept der Dualisierung folgend ist es ratsam, den Patienten kurz zu begrüßen, sich vorzustellen und dabei zu würdigen, dass es für ihn wohl schwierig sein muss, hier zu sein. Zu erwähnen, dass bereits im Vorfeld Informationen übermittelt wurden, wird häufig mit einem Wutausbruch beantwortet. Deshalb empfehle ich die Begegnung mit der Aussage weiterzuführen, dass es dem Untersucher wichtig ist, von ihm zu erfahren, was genau passiert sei, warum er hierher gebracht wurde. Nach dem Hinweis, man möchte auch seine Vorstellungen diskutieren und soweit möglich mitberücksichtigen, nennt man den Zeitrahmen, der zur Verfügung steht. Dieser sollte sich zwischen 15 und 40 Minuten bewegen. Am Schluss des Gespräches weist man auf die baldige Visite mit dem Oberarzt hin, um mit ihm gemeinsam weiterzusehen. Geschieht die Aufnahme in der Nacht, vertröstet man den Patienten auf den nächsten Tag. Gemeinsam überlegt man, wie er die Zeit bis dahin überbrücken und was ihm an Hilfe angeboten werden kann. Wenn sich eine Beruhigung abzeichnet und er seinen Standpunkt darlegen konnte, ist der Moment gekommen, ihm mitzuteilen, dass man bereits über Informationen verfüge, aber froh sei, nun beide Sichtweisen zu kennen. Dieser Ablauf ist in der Realität selbstverständlich nicht wie dargelegt vorher bestimmbar. Dennoch ist es wichtig, über ein Konzept zu verfügen, dass der Situation angepasst entsprechend geändert werden kann, wenn diese es erfordert. Zum Beispiel könnte der Patient auf die Eingangsfrage antworten: »Sie wissen ja sowieso schon alles.« Das erfordert eine kluge Antwort wie: »Ja, ich wurde informiert, mir ist Ihre Sichtweise jedoch genauso wichtig.« Solche und andere im Vorfeld durchdachte konzeptuelle Vorgehensweisen stellen sich mit der Zeit ein. Zugrunde liegt diesem »Rezeptbuch« also kein erlernbares Manual, sondern eine reiche eigene Berufserfahrung, die zu einer Fülle verfügbarer Optionen führt. Dieses Vorgehen lehrte mich, dass eine zweite, für uns unzugängliche verdeckte innere Seite des schizophrenen Menschen sein Agieren bestimmt. Sie zu ignorieren, kann sich in der psychotischen Krise fatal auswirken. Dann ist er sensibler und vulnerabler als sonst. Er fühlt sich absolut ausgeliefert, verlassen und verraten. Er steht existenzielle Ängste aus, von denen wir zuerst kaum etwas wahrnehmen, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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da es sich von außen so darstellt, als würde er sich mit Großartigkeit, Drohungen und wahnhaften Erklärungen wirkungsvoll zur Wehr setzen. Dieses Aufbäumen ist die einzige verbleibende Reaktion des in die Ecke Getriebenen, der nur noch die Flucht nach vorn antreten kann. Es ist gleichzeitig der letzte Akt vor der Kapitulation. Die sonst ambivalenzbedingte Entscheidungsunfähigkeit scheint in der extremen Not aufgelöst. Hier gewinnt der Patient sich mit letzter Energie kurzfristig zurück, erlebt sich spürbar existent, ordnet wahnhaft ein, was um ihn und mit ihm geschieht. Die Wut und Kraft, die zusammengeballt in seiner Ablehnung und Auflehnung entsteht, überdeckt für uns kurzzeitig seine eigentliche Schwäche, die Ambivalenz, die ihn sonst hindert zu entscheiden, sowie seine existenzielle Angst, jegliche Kontrolle entrissen zu bekommen. Mein Konzept des flexiblen Fixpunktes ist entscheidend für den weiteren Verlauf. Fixpunkt heißt, dem Patienten mit adäquater und klarer Haltung authentisch gegenüberzutreten. Dabei ist Selbstbezogenheit wichtig, weil in unserer Authentizität auch Unsicheres Platz haben darf und wir es aushalten und zulassen sollten. Zu Beginn verwirrt und bedroht das den Patienten, gleichzeitig nimmt er unsere hohe Flexibilität im Umgang mit ihm als entlastend wahr. Wir sind da, wo er uns gerade erträgt, wir kommen ihm weder zu nah noch bleiben wir ihm zu fern, wir bewegen uns zu ihm hin, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Wir schützen den dualen Raum und verlassen ihn nicht, zeigen ihm unsere Bereitschaft, diese schwierige, oft beidseitig spannungsgeladene Situation gemeinsam durchzustehen. Wir bieten ein stützendes und sicheres Standbein an, eine Hilfe für sein zerfallendes »Ich-System«. Was dadurch entsteht, kann mit Worten kaum beschrieben werden. Wo ist das zusätzlich gewonnene Wissen aus dieser Haltung und Position? Wie sieht es aus? Wie können wir es in der Krankengeschichte dokumentieren? Vieles, was auf diesen Wegen entsteht, ist nicht mitteilbar, nicht messbar, nicht vergleichbar, weil es einmalig, individuell und in jeder Begegnung mit demselben oder einem anderen schizophrenen Menschen anders ist. Wir können es nicht auflisten und in Manuale integrieren. Aber es ist erlebbar und wir wissen nach einer solchen intensiven Aufnahmebegegnung wesentlich mehr von unserem Gegenüber als nur den Psychostatus, die Diagnose und © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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das weitere Prozedere. Wir haben in uns als Spiegel »etwas Unbenennbares« von ihm abgebildet, das nicht im Unbewussten verloren gehen kann, wenn wir es weiterhin verwenden. Auch der Patient bedient sich dessen und wird es nutzen. Es sind Gefühle, Ahnungen, innere Bilder. Das gemeinsame Ringen um das Nichtsagbare, die entstandenen Bilder schaffen einen neutralen Platz zwischen dem Untersucher und dem Patienten, um besser miteinander kommunizieren zu können. Es ist oft leichter, mit Schizophrenen über ihre Welten in Bildern zu kommunizieren. Diese haben für uns Symbolcharakter, für sie sind sie über lange Zeit Realität. Vieles vom Unsagbaren wird in Bildern vermittelbar, austauschbar und bearbeitbar. Die Behandlungskontinuität ist für die Zeit nach der Aufnahme enorm wichtig. Deshalb sollte dieselbe Person, welche die Aufnahme durchgeführt hat, weiterbehandeln. Ein Therapeutenwechsel könnte die schwierige Ausgangslage für eine nachhaltige Behandlung unnötig schwächen. Das gewonnene »unsagbare Wissen« der Erstbegegnung ginge verloren, weil es an diese zwei Menschen gebunden ist – ein Joker, der nicht eingesetzt und unnötig vergeben würde! Das gilt sogar dann, wenn es zur Zwangsbehandlung gekommen ist. Leider leben wir in einer Zeit, die für solche Überlegungen kaum Platz lässt. Finanzielle, organisatorische und administrative Aspekte stehen solchen Aufnahmen und der Kontinuität in der Weiterbehandlung in Kliniken im Wege. Ein fataler Irrweg, meine ich. Einige meiner später erfolgreichen Therapien haben zunächst mit einem solch schwierigen, aber behutsam gegangenen Weg, manchmal sogar mit einer Zwangsbehandlung ihren Anfang zu einem, von der Umgebung oft unerwarteten, guten Verlauf genommen. Die inneren Bilder, welche während der Begegnung mit schizophrenen Menschen entstehen, stellen ein wertvolles Kapital für die folgende Behandlung dar. Die Fragmentierung hat nicht das gesamte Potenzial seines Denkens und Fühlens destruktiv verändert oder »aufgelöst«. Es scheint, dass tief liegende gesunde kohärenzbildende Faktoren intakt geblieben sind. Es ist erstaunlich, wie viel leichter erreichbar ein schizophrenes Gegenüber mit in Worten ausgedrückten Bildern ist und wie oft in kürzester Zeit der Kontaktwiderstand wenigstens vorübergehend kleiner wird. Viele auch gemeinsam entwickelte Bilder können bereits nach kurzer Zeit den Therapeuten © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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erahnen lassen, was im Inneren des Gegenübers, in seinen Wahngebilden vorgehen könnte. Solche Bilder in Worte zu fassen, sie zu beschreiben, ist die Brücke zur Sprache zu unserer Realität hin. Dafür benötigt er unsere partnerschaftliche Hilfe. Auch in Supervisionen lässt sich damit arbeiten. Wenn das Team einer Klinikstation ihren Patienten vorstellt und jeder aus seinem Erleben mit ihm berichtet, bilden sich in mir Fragmente ab. Wenn ich diese für mich zu einem Bild synthetisiere und diese in Alltagsund unsere »Fachsprache« übersetze, erlebe ich oft, dass sich das Team in ihrer Arbeit mit dem Patienten verstanden fühlt und es auf den mir unbekannten Patienten zutrifft. Nicht selten erhalte ich Wochen später Rückmeldungen, dass Patienten in der Zwischenzeit von ganz ähnlichen Bildern berichtet haben wie denen, die in der Supervision entstanden waren. Der erregte, dennoch erreichbare Patient stellt eine schwierige Aufnahmesituation dar. Noch schwieriger ist es, wenn der Patient unerreichbar und gewalttätig auftritt oder in seiner Stimmung so instabil ist, dass ein Aufnahmegespräch unmöglich ist und er vor sich, eventuell auch andere vor ihm geschützt werden müssen. Das zwingt uns, vom einseitigen Wissen direkt zum Handeln übergehen zu müssen, ohne eine Chance zu haben zu verstehen. Ein klar vorbereitetes einfaches Management der Situation führt meistens zum Ziel, ihn fürs Erste adäquat zu medizieren und zu überwachen, bis sein Zustand ein Erstgespräch erlaubt. Nach einer Zwangsaufnahme stellt das Erlebte und unmittelbar zuvor vom Gegenüber Ausgelöste einen zusätzlichen Wissensgewinn dar, der zur weiteren Reflexion zur Verfügung steht. In der Team-Nachbesprechung, die unmittelbar danach geschehen muss, sollten sich alle Beteiligten zu ihrem Erleben äußern können. Jeder ist emotional vom Eigenen betroffen und zugleich Spiegel des anderen. Dieses Vorgehen ist deshalb auch aus psychohygienischen Gründen wichtig. Es dient zudem der nächsten Schicht des Teams, welche mit den zuvor reflektierten Informationen professionell weiterarbeiten kann. Leider werden heutzutage solche schwierigen Aufnahmesituationen unter dem Arbeitsdruck als Routine abgetan. Unvermittelt wechselt man danach zum gewohnten Klinikalltag. Einem Menschen Gewalt antun zu müssen, darf nie Routine werden. Wir tun es zu © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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unserem und zu seinem Schutz sowie zum Schutz der Mitpatienten auf der Station. Unbearbeitet bleibt eine Zwangsmaßnahme für alle Beteiligten eine traumatisierende Episode. In der Zeit als leitender Arzt unter anderem auf einer Akutstation entwickelte ich in Zusammenarbeit mit der Oberschwester und dem Chefarzt ein Konzept für eine interne Pflichtweiterbildung für die Teams der Klinik. Wir wählten den Titel »Deeskalation«. Diese war in mehrere Module aufgeteilt und wurde nach meinem Weggang weitergeführt. Teams durchliefen gemeinsam an jedem Nachmittag eine theoretische Einführung ins Modulthema. Praktische Übungen bildeten den mittleren Teil und zuletzt wurde ein Informationsaustausch über eigene Erfahrungen zum Thema mit der Großgruppe durchgeführt und von meinem Oberarztkollegen der anderen Akutstation geleitet. Was wir in diesen Besprechungen zu hören bekamen, erschütterte und erstaunte uns zugleich. Mitarbeiter begannen zu berichten, was sie, ausgelöst durch die Weiterbildung, assoziativ erinnerten und was sie an diesem Nachmittag unerwartet emotional einholte. Nach Jahren des Schweigens oder Verdrängens berichteten sie über Erlebnisse von Zwangsbehandlungssituationen, an denen sie teils vor Jahren beteiligt waren. Diese Emotionen waren gekoppelt an nichtadäquate Scham- und Schuldgefühle. Unverarbeitet ruhten sie unbewusst und verdrängt. Die Feststellung, wie viele der eigenen Teammitglieder ganz ähnliche Gefühle in sich bargen, gekoppelt an die Möglichkeit, Erlebnisse mit anderen zu teilen und offen darüber zu sprechen, führte durchwegs zu Erleichterung bis hin zu Dankbarkeit. Wie gefährlich, belastend, ja äußerst unklug ist es, »heroisch« über solche Situationen hinwegzugehen, anstatt sich die Zeit zu nehmen, das Erlebte in einem geschützten Rahmen offen nachzubesprechen! Gelingt es mit dem Patienten, die erfolgte Zwangsbehandlung zu dualisieren, kann dies Ausgangspunkt für eine gute therapeutische Beziehung werden. Wissen aus dem gemeinsamen, von jedem Beteiligten aber anders Erlebten zu dualisieren, baut Brücken. Wenn der schizophrene Mensch unsere Nöte in derselben Situation von uns vernimmt, hört er unser Schwachsein nicht verzerrt aus seiner psychotisch-größenwahnsinnigen Abwehr, sondern aus der gemeinsamen Realität. Sich hilflos und ohnmächtig zu fühlen, so erging es © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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ihm doch auch; es war eine beiderseits bedrohliche, Angst machende und unlösbar erscheinende Situation. Wir hatten nichts mehr im Köcher als den Pfeil der Zwangsbehandlung. Solche Situationen in Zukunft zu vermeiden, wird gemeinsames Ziel. Wenn der entstandenen Kränkung und Scham des Patienten in der therapeutischen Situation Platz gelassen wird, kann dies das Fundament einer guten Zusammenarbeit in der Therapie sein. Eine Ansprache könnte so lauten: »Es muss für Sie gestern schrecklich gewesen sein, diesen Zwang durch uns erleben zu müssen, und sicher ist es auch jetzt noch schlimm für Sie. Das tut uns leid. Versuchen Sie anzunehmen, dass wir nicht mehr anders konnten. Wir waren an der Grenze unserer Möglichkeiten angelangt, fanden keinen Zugang mehr zu Ihnen. Gegenseitig haben wir den anderen jeweils als stark, bedrohlich und mächtig erlebt, aber wir waren gefangen in Angst und wussten nicht mehr weiter.« Vielleicht gelingt es dem Patienten schon beim ersten Mal, dies von uns anzunehmen. Andernfalls muss es später erneut zum Thema gemacht werden. Der Patient darf wiederholt über sich berichten. Möglicherweise schimpft er zunächst, droht, vielleicht weint er. Das auszuhalten und nicht wegzugehen, ist unsere therapeutische Antwort, ihm zu zeigen, dass wir flexible Fixpunkte sind, die bereit sind, mit ihm einen gemeinsamen Weg zu gehen. Wenn er sich derart ärgert, dass unser Dasein für ihn zur Qual wird, ist es ratsamer, sich zum Beispiel mit den Worten zu verabschieden: »Ich lasse Sie jetzt allein, denn ich merke, dass es noch zu früh ist. Ich komme Sie wieder besuchen und hoffe, dass es irgendwann möglich wird, darüber zu reden.« Den Zeitpunkt des nächstes Besuchs zu nennen und einzuhalten, ist unerlässlich. Das setzt ein Zeichen, wie wichtig er uns ist. Der folgende Besuch lässt sich so eröffnen: »Wie versprochen bin ich wieder bei Ihnen.« Tobt er erneut, folgt: »Auch für mich ist es nicht leicht. Wir sitzen im selben Boot und haben uns gegenseitig nicht ausgewählt. Wir können nur versuchen, das Beste daraus zu machen, trotz des schwierigen Beginns.« Einfacher ist die Wiederaufnahme eines bereits bekannten Patienten. Das hat Vorteile und Nachteile, abhängig davon, wie er die letzte Hospitalisation in Erinnerung behalten und verarbeitet hat. Oft zählen bekannte Gesichter und Menschen, die er positiv besetzt © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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hat, mehr als das schlimme real Erlebte. Grund genug, immer behutsam mit Patienten umzugehen. Bei einer Wiederaufnahme, sogar wenn diese erneut unter Zwang erfolgt, kann sich das auszahlen. Es hilft, die schwierige Situation wiederum zu deeskalieren. 2.3.4 Die »freiwillige« Erstuntersuchung

Wissen generiert sich bei freiwilligen Erstbegegnungen ähnlich wie bei unfreiwilligen. Die Ausgangslage ist wesentlich komfortabler, da kein unmittelbarer Zwang die Begegnung zusätzlich behindert. Dennoch erfordert auch diese Form der Erstbegegnung eine bedachte und reflektierte Haltung, damit es rasch zur therapeutisch verwertbaren Gegenübertragung und zum Zugang zu seiner Innenposition kommt. Erfolgt die Anmeldung telefonisch aus der Klinik, geschieht dies oft durch den behandelnden Arzt, seltener durch den Patienten selbst. Das Telefonat sollte ähnlich differenziert angegangen werden wie die Vorankündigung einer unfreiwilligen Aufnahme in die Klinik. Auch da zahlt es sich nicht aus, wegen Zeitdruck nur minimale Daten aufzunehmen, einen Termin für ein Vorgespräch zu vereinbaren und das Weitere zu vertagen. Bin ich einer von vielen auf einer Liste oder gibt es konkrete Überlegungen, die dazu geführt haben, dass der schizophrene Mensch gerade zu mir kommen soll? Ist er über die Anfrage informiert und einverstanden oder fühlt der Kollege vor, ob bei mir ein Behandlungsplatz zur Verfügung steht? Vor einem Vorgespräch ist ein direkter telefonischer Kontakt mit dem Patienten unverzichtbar. Dazu muss er wissen, wann er mich persönlich erreichen kann, um nicht schon beim telefonischen Erstkontakt auf später vertröstet werden zu müssen, was den Kontaktwiderstand erhöhen könnte. Ist der zukünftige Patient gleich selbst am Telefon, lohnt es sich, rasch eine Atmosphäre der Ruhe und Gelassenheit zu schaffen. Einige Therapeuten haben mit Absicht ihren Anrufbeantworter nicht in Betrieb, wenn sie mit jemandem arbeiten – trotz den sich daraus ergebenden kurzgehaltenen Störungen und Nachteilen. Eine gute Möglichkeit besteht darin, dem Patienten anzubieten, ihn zu einer vereinbarten Zeit, die beiden passt, zurückzurufen. So erspart man ihm, den unbekannten Therapeuten erneut kontaktieren zu müssen, was angstsenkend und wertschätzend ist. Uns seine Nummer zu überlassen, kann von ihm als zu große Nähe © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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empfunden werden, weshalb man ihn wählen lässt, nochmals anzurufen oder angerufen zu werden. Das mag banal klingen, ist es aber nicht. Beziehungsfallstricke und verpasste Chancen, welche sich aus solchen Situationen ergeben, werden häufig Thema in Supervisionen. In der Schweiz haben die Krankenversicherer leider noch nicht verstanden, wie wertvoll und längerfristig wirtschaftlicher es wäre, den Erstkontakt mit dem Nachbehandler in seiner Praxis bereits vor Austritt aus der Klinik zu finanzieren. Ein Vorgespräch gegen Ende der Hospitalisation schafft für den meist ambivalenten schizophrenen Menschen mehr Sicherheit und senkt die Hemmschwelle, nach Austritt den zweiten Termin, die erste ambulante Konsultation nach der Entlassung, wahrzunehmen. Er kennt bereits den Weg dahin, die Räumlichkeiten und den Therapeuten, was von großem Vorteil ist. Der Übergang gestaltet sich für ihn kontinuierlicher, was entscheidend sein kann und wiederum den Kontaktwiderstand beträchtlich senkt. Wenn die gesicherte Nachbehandlung Vorbedingung der Klinik ist, dass der Patient entlassen wird, klingt es am Telefon oft unverblümt und ehrlich so: »Ich muss eine Nachbehandlung haben, damit ich die Klinik verlassen kann.« Ihn gleich damit zu konfrontieren, was er selbst wolle, schafft unnötigen Abstand. Nur als Mittel zum Zweck dienen zu sollen, kann spontan Ablehnung im Therapeuten hervorrufen. Ich pflege zu sagen: »Da haben Sie eine wahrscheinlich nicht einfache Zeit schon fast überstanden. Ich kann mir vorstellen, dass Sie eigentlich genug von Ärzten und Behandlungen haben. Ich biete Ihnen an, unverbindlich bei mir vorbeizukommen, damit wir zusammen diskutieren können, was sinnvoll sein kann, dass Sie den Übergang aus der Klinik in den Alltag gut hinkriegen und es hoffentlich nicht wieder zur Einweisung kommt.« Solch ein Vorgehen senkt mit großer Wahrscheinlichkeit seine Angst und schafft gleich zu Beginn eine Dualisierung, die einlädt zu kommen und ihn nicht wegstößt. Ich mache seit Jahren die Erfahrung, dass solche gut vorbereiteten, aber eigentlich unfreiwilligen Vorgespräche zu einer Brücke werden, die den Einstieg in eine nachhaltige Behandlung wesentlich wahrscheinlicher macht. Manchmal hat der Patient aus irgendwelchen Gründen Angst, die Klinik zu verlassen, und sagt: »Ich werde demnächst gehen müs© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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sen …« Dies ist ein sachter Hinweis auf die andere Art der Unfreiwilligkeit. Höre ich so etwas heraus, frage ich nach: »Macht es Ihnen Sorgen, entlassen zu werden, oder sind Sie froh, gehen zu können?« Darauf folgt entweder ein deutliches Ja oder etwas Unklares. Beides gibt mir Anlass zu sagen: »Ja, das verstehe ich gut. So ein Austritt ist mit vielen Fragen und Unklarheiten, vielleicht auch Ängsten, wie es weitergehen könnte, verbunden. Vier Augen sehen mehr als zwei, deshalb biete ich Ihnen an, unverbindlich bei mir vorbeizukommen, um zu sehen, ob Sie es sich vorstellen könnten, sich bei diesem großen Schritt von mir begleiten zu lassen.« Wiederum anders klingt es, wenn jemand aus der Klinik unbedingt zu mir kommen will. Vielleicht hat man mich ihm namentlich in der Klinik empfohlen oder er hat von anderen Patienten, die bereits bei mir in Behandlung sind, Hinweise bekommen. Dann folgt die Verbündung schon am Telefon: »Man hat Sie mir unbedingt empfohlen …« Da gilt es zu relativieren, ohne zu enttäuschen. Nur auf die momentane Idealisierung zu setzen, wäre unklug! War er schon vor der Einweisung bei mir in Behandlung, wurde er sogar von mir eingewiesen, mit seinem Einverständnis oder auch gegen seinen Willen, gilt es bestehende Hemmnisse der Kontaktwiederaufnahme wann immer möglich noch während der Hospitalisation anzusprechen und aus dem Wege zu räumen, damit der Patient ohne Ängste und Blockaden wieder in die Therapie zurückkehren kann. Dann gibt es Patienten, die aus verschiedenen weiteren Gründen direkt zu mir gelangen. In den Dialogen geht es in Varianten immer darum, den anderen in seiner Selbst- oder Fremdmotivation zu erkennen und ihn vorsichtig-würdigend da abzuholen, wo er sich befindet, und nicht gleich sachlich-klärend zu konfrontieren. Wenn wir uns einig werden, erkläre ich detailliert den Weg zu mir in die Praxis. Ich frage nach, ob ein Handy vorhanden ist, und biete an, mich bei Schwierigkeiten kurzfristig zu kontaktieren. Wenn ich das Gefühl habe, es sei etwas an Vertrauen entstanden, frage ich vorsichtig nach, ob er mir eventuell auch seine Telefonnummer hinterlassen möchte, damit ich ihn erreichen kann, falls dies nicht schon vorgängig geschehen ist. Ich würde aber gut verstehen, wenn er dies bei einer für ihn noch fremden Person nicht wünsche. Dies sind für ihn Sicherheit vermittelnde Maßnahmen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Unmittelbar bevor wir dem schizophrenen Klienten in der Praxis begegnen, entstehen in uns spezielle Gegenübertragungsgefühle. Diese können Formen von »wilden« Fantasien bis hin zu Ängsten annehmen und sind deutlich intensiver als nur gespanntes Warten auf den Unbekannten, wie wir es sonst kennen. Dieses vorerst ungesicherte Wissen vermischt sich mit dem früheren aus dem Telefonat. Diese Ansammlung von fremden, unkoordinierten, uns teils verunsichernden Gefühlen sollten wir zulassen und nicht abblocken (mehr dazu in Teil B, Kapitel 4). Damit neutral umgehen zu können, ist harte Arbeit. Vor einer heiklen Begegnung mit einem unbekannten Patienten neigen wir unreflektiert eher zur Geschäftigkeit und wehren unbewusst ab; ein Telefonat da, einen Eintrag in die Krankengeschichte dort. Hans Kind wies in seinen Psychiatrievorlesungen für die Medizinstudenten, welche ich selbst erlebte, sowie in seinem erstmals 1973 erschienen Buch »Psychiatrische Untersuchung« darauf hin, dass die ersten Momente der Begegnung, der erste Eindruck oft verklausuliert Wichtiges beinhaltet, was man später erst in längerer Behandlung mühselig erarbeitet. Er schreibt im Kapitel 2 im Abschnitt »Der erste Eindruck« (1984, S. 10): »Eine Erfahrung, die viele Psychiater gemacht haben und die auch statistisch belegt wurde (zum Beispiel Langen 1954), besagt, dass zahlreiche Kranke schon in den ersten Minuten des Gespräches mit dem Psychiater ihren Hauptkonflikt formulieren.« Blickt man nach einer längeren Zeit der Therapie zurück und lässt sie Revue passieren, liest seine Notizen, deren Inhalt inzwischen in Vergessenheit geraten war, fallen einem die vielen Irritationen und Auffälligkeiten zu Beginn wieder ein. Wir erkennen, dass wir dafür damals noch nicht offen genug waren. Auch bei Therapien mit schizophrenen Menschen finden wir dieses Phänomen wieder. Dieses eigentlich zugängliche Potenzial zu vergeuden, welches uns eine Brücke zum zweiten Wissen schaffen kann, erschwert die Arbeit und spiegelt sich in der schlechten Compliance schizophrener Menschen wider. Trotz aller Fortschritte der Forschung und Therapiemethodenentwicklung ist zusätzlich die harte Arbeit der psychoanalytischen Psychosenpsychotherapie nötig, die bereits mit der Erstbegegnung beginnt. Wissenschaftlich validierte und manualisierte »Therapievehikel« lassen uns zu oft im Stich. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Mit Hilfe der Gegenübertragungsarbeit verfügen wir ergänzend über ein potentes Mittel, in die Innenwelt des Gegenübers zu blicken, zu Beginn nur durch einen kleinen Spalt. Mit dem klassischen psychopathologischen Wissen, das wir parallel erheben, sowie dem zusätzlichen Wissen, welches wir aus der Forschung dazugewinnen und integrieren, sind wir sehr viel besser ausgerüstet, dem Patienten auf allen Ebenen angemessen zu begegnen und ihm nachhaltig und hilfreich zur Seite zu stehen. Das mag spekulativ erscheinen, ist aber meine eigene Erfahrung nach einem Vierteljahrhundert Praxis. Zurück zur Situation der Erstbegegnung und was bei uns im ersten Moment ausgelöst wird, wenn der Patient im Wartezimmer steht oder sitzt und wir ihn begrüßen und abholen kommen. Wie bewegt er sich auf mich zu? Wie sieht er mich an? Wie kommt er ins Zimmer? Wie setzt er sich? Wie richtet er sich in dieser Situation ein? Wie verändert er sich während dem Gespräch? Was löst all dies bei mir aus? Kein Gesamtgefühl oder Eindruck ist gefragt, sondern die einzelnen Fragmente, das heißt möglichst viele meiner Gefühle bewusst und differenziert wahrzunehmen. Später, wenn der Patient wieder gegangen ist, lohnt es sich, die zusätzlich benötigte Zeit aufzuwenden, um all unsere Wahrnehmungen zu analysieren. Sie bilden sich sowohl aus den erhaschten Blicken in seine Innenwelt als auch aus der Außensicht auf ihn. Es gibt unendlich viele Varianten von Erstgesprächssituationen. Nach jedem verfügen wir über eine einmalige »Urmomentaufnahme« – dank dem Einbezug der Gegenübertragung eine an Tiefenblick bereicherte. 2.3.5 Psychotherapie

Da die Erstbegegnung eine zunächst verschlüsselte, aber recht umfassende Momentaufnahme darstellt, bietet erst die folgende analytische Psychosenpsychotherapie eine Ansammlung von vielen weiteren Einzelbildern. Diese sind beim Therapeuten doppelt gut aufbewahrt. Sie sind die Grundlage für den weiteren Prozess der Behandlung und stellen, im Sinne einer Sicherheitskopie, eine Garantie für beide dar, wenn die Fragmentierung im Patienten diese in ihm zu zerstören droht. Im Therapeuten entwickelt sich aus den Einzelbildern wie bereits erwähnt schrittweise ein »Film«, der ihn sein Gegenüber © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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besser in sich selbst erfahren lässt. Damit beginnt die Entwicklung eines gemeinsamen Raums, des dualen Therapieraums. Welchen Stellenwert dem Dualisieren zukommt, lässt sich aus Alice BernhardHegglins Beitrag »Wege des Hoffens« entnehmen. Sie bezieht sich insbesondere auf Benedetti in »Der Geisteskranke als Mitmensch« (1976). Ihr Artikel wurde in »Die Kunst des Hoffens« (Rachel, 2000, S. 98 f.) abgedruckt: »Therapeutisches Mitsein führt den Therapeuten zu einer existentiellen Teilnahme am Erleben des Patienten, das Benedetti schon früh die ›Dualisierung des Leidens‹ nennt. Durch die Dualisierung wird das Leiden ein ›duales Erleben‹, das auch im Therapeuten stattfindet. […] Der Patient dreht sich in den fürchterlichen Bildern des Nicht-Seins. […] Eine erste Aufgabe des Therapeuten liegt darin, das ausweglose, zum inneren Tod führende psychotische Dilemma in einen dualen Prozess zu verwandeln, der dann eine Lösungsmöglichkeit anbietet. Durch die Dualisierung entsteht zudem für den Kranken ›die Möglichkeit, Leiden in der dialogischen Beziehung auf einen Hörenden hin zu realisieren‹, was seine Einsamkeit aufbricht.« Ein Beispiel aus meiner Praxis: Nach Jahren der Behandlung einer seit ihrer Jugend selbstdestruktiven schizophrenen Frau, die subjektiv ohne Lebensberechtigung unrechtmäßig existierte, schreibt sie mir an ihrem Geburtstag in einer SMS unter anderem Folgendes: »Ich werde heute nicht wie auch schon in mein Tagebuch schreiben ›je n’existe pas‹ (ich existiere nicht), sondern ich werde mich so viel freuen wie möglich und dankbar sein für mein Leben.« Ein Jahr zuvor wäre ein solcher Satz für sie erstmals zwar denkbar, aber nicht aussprechbar gewesen und im Wahn eine gefährliche Todsünde, diesen aufzuschreiben!

Bilder, die im Therapeuten entstehen und mitgeteilt werden, lassen sich gemeinsam, zuerst wahnintern, besprechen. Darüber entsteht neben einer gemeinsamen Sprache ein verworrener und verwirrender »Film«. Benedetti schreibt in »Psychotherapie als existentielle Herausforderung« (1992, S. 65): »Meine Definition der Psychosentherapie als Deutung der eigenen Gegenübertragung relativiert den Begriff der objektiven Psychopathologie. Diese ist in der Psychosentherapie das, was im therapeutischen Gegenstoß erscheint, sich in © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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der Dynamik der Begegnung erst voll ausformt und nicht allein aus der ihr innewohnenden Psychodynamik entsteht.« Ergänzend heißt es zur wahninternen Deutung (S. 87): »Diese zielt darauf, dass der Psychotherapeut bereit ist, in den Wahn seines Patienten wie in eine inszenierte Handlung, die sich am Rande der normalen Realität abspielt, einzutreten, freilich immer er selber bleibend, bis zu dem Zeitpunkt, da es ihm gelingt, dem Patienten das ›progressive Symbol‹ anzubieten, das die Szene von selbst erweitert, so dass schließlich auch unsere logische Realität im ehemaligen Raum des Wahns Platz findet. Eine Auseinandersetzung mit dem Wahn als solchem findet hier also nicht statt. Vielmehr wird eine phantasmatische Kommunikation innerhalb der vom Wahn diktierten Grenzen angestrebt.« Später stehen in der Behandlung schizophrener Menschen weitere, nicht analytische Therapieformen nachhaltig wirksam zur Verfügung. Der ideale Zeitpunkt dafür scheint mir aus meiner eigenen und Supervisionserfahrung dann gekommen, wenn für den schizophrenen Menschen neben wahninternen auch wahnexterne Deutungen möglich geworden sind, das bedeutet, eine Realitätskonfrontation zeitweise möglich wird und er eine Distanz zu seinem Wahn kurzzeitig zulassen und darauf zurückkommen kann. Der Therapeut respektiert den ihm fremden Wahn, im Gegenzug respektiert der Schizophrene »unsere« Realität als eine ihm fremde Möglichkeit. Wahnexterne Deutung meint »Konfrontation des Wahns mit der Realität«. Damit wird oft viel zu früh angesetzt. Benedetti schreibt zur wahnexternen Deutung in »Psychotherapie als existentielle Herausforderung« den sehr berührenden Satz (1992, S. 86): »Die wahnexterne Deutung akzeptiert die Wahn-Aussage als solche nicht – sie widerspricht ihr –; aber sie akzeptiert den Kranken.« Das ist es, was oft fehlt: die Akzeptanz des Kranken und die Geduld und Gelassenheit, seinen Wahn oder oft auch mehrere verknüpfte oder isoliert funktionierende Wahngebilde vorerst nebeneinanderstehen zu lassen und sich gegenseitig respektierend konstruktiv damit auseinanderzusetzen. Wie soll ich einen schizophrenen Menschen akzeptieren können, wenn ich keine Ahnung von seiner Welt habe? Wie, wenn ich mich weigere, mich gedanklich und emotional in seine Welt zu begeben? Diese therapeutische Leistung ist jedoch Voraussetzung dafür, dass der schizophrene Mensch über© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil A: Wissen

haupt bereit ist, mich als Gegenüber zu respektieren, noch weit entfernt davon, mich zu akzeptieren. Dafür sind den auf die Außenposition beschränkten Therapien sehr enge Grenzen gesetzt. Die Therapiegeschichte bildet mit der Zeit eine provisorische Brücke zum Patienten. Es werden Übergangssubjekte gebildet. Bei Benedetti heißt es (1992, S. 40): »Durch die anteilnehmende Zuwendung zum Patienten entsteht ein Netz von beiderseitigen Projektionen und Introjektionen, die ihren Niederschlag finden in dem, was ich das ›Übergangssubjekt‹ nenne: ein Bild, das aus Teilen von uns und Teilen vom Patienten besteht, das oft eine phantasmatische Gestalt, eine Stimme, ein Traumbild, eine Zeichnung ist, ein ›Etwas‹ jedenfalls, das sich von den übrigen Halluzinationen dadurch unterscheidet, dass es Symbolcharakter auch für den Patienten gewinnt – offenbar dadurch, dass er nun das sich zwischen uns entwerfende, positive Unbewusste integrieren kann.« Es entsteht ein Prototyp von etwas Gemeinsamem, das wiederum ein neues, gemeinsames Wissen zulässt, ohne das autistisch Wahnhafte in Frage zu stellen. Wissen in der Psychotherapie setzt sich aus dem in den Therapiestunden kontinuierlich wachsenden Offenkundigen, dem real Erlebten zusammen. Der psychoanalytisch ausgebildete Therapeut kann mittels wahninterner und wahnexterner Deutung psychotisch nicht verbal Formulierbares in einem ersten Schritt in Bilder übersetzt sichtbar werden lassen – ein gemeinsames Gut beider. Das lässt sich im klassisch wissenschaftlichen Sinn weder messen noch nachweisen. Die »progressive Psychopathologie«, welche sich meistens bei schizophrenen Patienten entwickelt, die so behandelt werden, ist für den nichtanalytisch ausgebildeten Untersucher im psychiatrischen Psychostatus weiterhin pathologisch nachweisbar, nicht aber der qualitative Unterschied zur nichtprogressiven Psychopathologie. In »Identitätsgrenzen des Ich« habe ich Beispiele aus Therapien schizophrener und borderlinekranker Menschen ausführlich dargestellt. Benedetti schreibt zur progressiven Psychopathologie in »Psychotherapie als existentielle Herausforderung« (1992, S. 69): »Darunter verstehe ich freilich nicht allein den therapeutischen Fortschritt, der als Progression die Regression aufhebt. Es handelt sich vielmehr um eine Zweigleisigkeit und eine Neuausgabe der Psychopathologie beim © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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sich entwickelnden Patienten, die formal der prätherapeutischen ähnlich ist, sich also noch der psychotischen Formen bedient, um aber durch sie bereits ›antipsychotische Intentionen‹ auszudrücken, das heißt, authentische kommunikative Inhalte zu äußern und zu integrieren, die in ihrem zaghaften Beginn wie eine ›Dualisierung des Autismus‹ anmuten und die, buchstäblich genommen, in der symbolisierenden Sprache wie eine therapeutische ›folie à deux‹ aussehen können.« Später heißt es (S. 75): »Im Verlauf einer solchen progressiven Psychopathologie nähert sich der Patient seinem Therapeuten; er übernimmt dessen Gedankengänge – so, wie dieser umgekehrt an den Symbolen des Patienten mitgestaltend teilnimmt. Grandiosität und Nicht-Existenz treten zurück.« Ziel ist es, Realität und Wahn in einer gemeinsam gebildeten Therapiewelt koexistieren zu lassen und dem anderen jeweils von seiner Welt zu berichten, ohne dass es zum Kampf und zur Rivalität kommt. Das andere Wissen, welches sich dank dieses Dialogs für den Therapeuten entwickelt, ist einmalig. Er versteht mehr von den Mechanismen der ganz individuell ausgestalteten Innenwelt des schizophrenen Gegenübers. Er beginnt sich mit ihm nicht nur wahnintern zu unterhalten, sondern setzt im richtigen Zeitpunkt die Realität als zusätzliche Option daneben. Es handelt sich um eine Einladung und Brücke zugleich, in unserer Begleitung vorerst Gast in der Realität zu werden und ein Leben darin auszuprobieren, ohne das Wahnhafte dafür aufgeben zu müssen. Das ist eine der spannendsten Phasen der Therapie. Irgendwann kann der Patient in unserer Sprache von seinem Wahn berichten und bemüht sich so, wie wir uns bemüht haben, seine Welt kennen zu lernen. Ein Teil der Ernte unserer Positivierung auf all diesen Etappen ist Wissen, das anders nicht zu erhalten ist. Der schizophrene Wahn ist nach erfolgreicher Behandlung versorgt, aber nicht gelöscht. Er befindet sich im Keller oder im Zimmer nebenan. Wie sicher er dort verwahrt ist, ist individuell verschieden und von außen nur schwer abschätzbar. Was geschieht, wenn sich die Tür zum Wahn ungewollt wieder öffnet? Hinweise aus der klassischen Schizophrenieforschung zur Erkennung solcher Instabilitäten und Mechanismen sind rar.

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Schizophrenien: Wissen aus der Innenposition

Es wäre vermessen von mir anzunehmen, ich könne aus der Innenposition der schizophrenen Menschen umfassend und authentisch berichten. Das vermögen nur die Betroffenen selbst. Ich schreibe von meinen Begegnungen und Erfahrungen, den Reisen in ihre Innenwelten und was sich für den Psychodialog als wichtig erwiesen hat. Die reflektierte und analysierte Gegenübertragung hilft mir dabei, neben meinem eigenen Teil des Erlebens auch davon zu berichten, was sich vom schizophrenen Gegenüber in mir abbildet. Viele schizophrene Menschen freuen sich zu Beginn nicht, wenn wir ungebeten in ihr Leben »eindringen«. Sie haben kein Bedürfnis, sich freiwillig mit uns abzugeben. Zu oft waren wir Störenfriede und Eindringlinge. Viele Schizophrene haben in ihrer Geschichte »Schlechtes« durch uns erfahren. Mit »uns« meine ich nicht ausschließlich uns Therapeuten, das können auch die Familie, Menschen aus ihrer Umgebung, am Arbeitsplatz, sofern es diesen überhaupt gegeben hat, sein. Manchmal fühlen sie sich durch unseren therapeutischen Umgang mit ihnen unverstanden und beeinflusst. Das ist keine Schuldzuweisung oder ein Schuldbekenntnis. Es bezieht sich auf das psychotisch verarbeitete Reale, worauf wir zunächst oft gar keinen Einfluss haben. Ein Beispiel zu gut gemeinter »Naivität« aus dem Psychiatriealltag: Kürzlich erhielt ich von einer bekannten Klinik einen Werbeflyer für ihre neu eröffnete Psychose-Ersterkrankungs-Spezialstation zugesandt. Dieser sollte Einweiser informieren und dazu motivieren, ihn an Betroffene weiterzugeben. Folgenden Text daraus gebe ich hier wieder: »Unser Stationsangebot ist vielfältig und Ihr persönlicher Therapieplan wird mit Ihnen gemeinsam erstellt. Vor allem die Psychoedukation (Vermittlung krankheitsrelevanten Wissens) und die soziale Kompetenz-Gruppe lassen die Betroffenen zu Experten ihres Leides werden.« Was soll ein neu erkrankter schizophrener Patient darüber denken? Im ersten Satz wird er persönlich und in Höflichkeitsform ange© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil A: Wissen

sprochen, im zweiten Satz ist unpersönlich von »Betroffenen« die Rede? Die Aussage »lassen die Betroffenen zu Experten ihres Leides werden« wirkte auf mich befremdlich, wenn nicht gar überheblich. Es wird von Beginn an suggeriert, die wahren Experten seien die Behandler, welche anbieten, ihr Expertentum mit dem schizophrenen Menschen zu teilen. Ein verzwacktes Angebot einer therapeutischen Dualisierung! Sind nicht unsere schizophrenen Mitmenschen die einzigen und eigentlichen Experten ihrer Krankheit? Unfreiwillige, einsame, eingeschlossene Experten zunächst, weil sie bisher noch keine therapeutische Beziehung und Erfahrung machen konnten, in welcher therapeutisch entlastend dualisiert wurde. Sinnvoll ist also eine solche Herangehensweise erst dann, wenn eine Beziehung und eine gemeinsame Sprache entwickelt werden konnte. Ziel muss sein, Expertenwissen aus der Außen- und Innenposition nicht wertend nebeneinanderzustellen, um ins konstruktive therapeutische Gespräch zu kommen. Realitätskonfrontation und Psychoedukation, um psychotische Vorgänge der krankhaft veränderten Wahrnehmungen erklären zu wollen, ist im Anfangsstadium der Beziehungsbildung, welche lange dauern kann, meiner Erfahrung nach vergebene Mühe. Anstatt dem Patienten einen Schritt näher zu kommen, trifft das Gegenteil ein. Er fühlt sich bestätigt, dass wir ihn nicht verstehen. Mit diesem Hintergrund begreifen wir, was Benedetti in »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychosen« mit Kontaktwiderstand benennt (1975, S. 144 f.): »Der Widerstand der grenzpsychotischen (wie auch der psychotischen) Patienten unterscheidet sich in seiner wesentlichen Struktur vom Widerstand des neurotischen Patienten. Der neurotische Patient ist grundsätzlich mit dem Kontakt, mit der Beziehung zu seinem Psychotherapeuten einverstanden. Die Psychotherapie, der Versuch also, an sich selber dialogisch zu arbeiten, ist seine eigene freiwillige Entscheidung. Der Widerstand des neurotischen Patienten beginnt dort, wo der Therapeut ihn mit Situationen, Zusammenhängen, Einstellungen, Problemen, Konflikten, Affekten konfrontiert, die ihn belasten und denen er sich dann eben in seinem Widerstand verschließen möchte. Der Widerstand des neurotischen Patienten ist in allererster Linie ein Inhaltswiderstand. […] Bei ihnen ist aber noch eine zweite Form von Widerstand vorhanden, die meis© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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tens dem Inhaltswiderstand vorausgeht: Das ist der Kontaktwiderstand, also die Angst davor, mit einem fremden Menschen, dem Therapeuten, in einen seelischen Kontakt zu treten, ihm eine Seite seines Selbst anzuvertrauen.« In der Erstbegegnung ist man wie ein Vertreter, der seine Produkte an der Wohnungstür anbietet und im besten Fall einen Blick ins nächstgelegene Zimmer erhaschen kann. Wie überwinden wir den Kontaktwiderstand für einen längeren Zeitraum? Wie gelangen wir in die Innenräume? Es gibt keinen anderen Weg als die nachhaltige Beziehungsbildung. Wir sind gefragt, über weite Zeiträume die Verschrobenheit, Ablehnung und Angst des Patienten auszuhalten und uns nicht vertreiben zu lassen. Lange sind wir lediglich störende Fremdkörper, die nur selten als »genehm« empfunden werden, irgendwann werden wir Bestandteil ihres Gebäudes. Wenn der schizophrene Mensch merkt, dass wir ihn nicht verlassen, ihn aber auch nicht aktiv mit unseren Interventionen oder Forderungen bedrängen, entsteht für ihn irgendwann ein ungläubiges, aber doch neugierig machendes Staunen. In dieser Unausweichlichkeit entwickelt er eine vorerst psychotisch gefärbte Ambivalenz uns gegenüber. Das ist besser als Ablehnung. Viele meiner Patienten haben mir in späteren Phasen der Therapie darüber berichtet. So habe ich begriffen, dass es unsere Arbeit ist, seiner anfänglichen teils heftigen Ablehnung verständnisvoll, stabilisierend und positivierend deutend zu begegnen. Er beginnt wahrzunehmen, dass wir ihn für seine Ablehnung nicht verurteilen, sondern versuchen, ihn zu verstehen. Natürlich gibt es Grenzen, die weit außen gesteckt sind. Selbstund Fremdgefährdung können Randpunkte unserer therapeutischen Möglichkeiten werden. Suizid würde unsere therapeutische Beziehung einseitig beenden, die Gefährdung von uns selbst oder anderen Personen auch. Wir reden über Aggression, Suizidgedanken und Wünsche mit dem Ziel, diese zu überwinden, um die therapeutische Beziehung zum Wohl des Patienten zu erhalten. Erst mit der Zeit beginnt er ambivalent, freudig-unwillig anzunehmen, dass dem wohl so ist. Er versucht, uns als Container für seine emotionalen Belastungen zu benutzen, den Kontaktwiderstand zu erhöhen, uns zu vertreiben, obwohl er eigentlich gleichzeitig unser Beziehungsangebot annehmen will. Anfänglich können wir uns mit ihm darüber noch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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nicht austauschen. Uns bleibt nur, auf die Gegenübertragungsgefühle zu achten und abzuwarten. Einer meiner unfreiwilligen Patienten in der Klinik lehnte mich lange Zeit ab, wich mir aus, wo er nur konnte, lief, wenn er außerhalb seines Zimmers war, demonstrativ mit einem Kopfhörer herum, signalisierte: »Ich bin nicht ansprechbar.« Sonst wirkte er schüchtern, fast ängstlich und unnahbar. Es wurde schwierig und umständlich, ihn zu erreichen, schon wenn es beispielsweise um die Terminvereinbarung ging. Damit löste er in mir einen Kontaktwiderstand in Form von Unlust und sogar Ärger aus. Dies bemerkend begann ich damit, meine negativen Gegenübertragungsgefühle emotional zu neutralisieren, mir mildernde Gründe für sein ablehnendes Verhalten zu überlegen, indem ich es als unabhängig von meiner Person deutete. Meinen Ärger verstand ich als projektives Abbild seiner Abwehr einer mir nicht zugänglichen Angst. Gleichzeitig rief sein Verhalten in mir Bilder von spielenden Kindern wach, die sich die Ohren zuhalten, wenn Eltern rufen und sie beim Spielen stören, weil sie nicht nach Hause wollen. Mit diesen Bildern gelang es mir meinen anfänglich »narzisstisch gefärbten« Ärger zu überwinden und ihn gemischt mit Mitleid durch ein Schmunzeln zu ersetzen. Ich wurde dem Patienten gegenüber empathischer und mochte mich um ihn bemühen. Sein Kontaktwiderstand wurde für mich aushaltbarer, ohne die von mir vorgängig erlebte heftige Ablehnung zu verdrängen. Wenn er endlich einmal in die Sitzung kam, richtete er, mich nicht anblickend, irgendeine alltägliche, belanglose Anfrage an mich. Diese Szene wiederholte sich. Auf diese Weise kamen wir ins von ihm bestimmte Gespräch. Ich fragte ihn am Ende jeder Sitzung, wann er wiederkommen wolle. Auch das Ende der einzelnen Sitzungen durfte er bestimmen. Ich teilte beim ersten Mal mit, dass ich nicht länger als dreißig Minuten einplanen würde, er jederzeit gehen könne. Die Abstände zwischen seinen Terminwünschen verringerten sich in kurzer Zeit. Er kam pünktlich zu jedem vereinbarten Termin und brachte seine Kopfhörer mit. Zu meinem Erstaunen freute ich mich mit der Zeit regelrecht auf ihn. Dabei halfen die positiven Rückmeldung seiner Umgebung, er sei jeweils nach den Sitzun-

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gen bei mir für längere Dauer zugänglicher und angenehmer im Umgang! Monate später, als ich auf den Beginn unserer Therapie zu sprechen kam, berichtete er mir, dass dem nicht so war, wie ich es mir gedacht und gedeutet hatte. Er legte anfänglich die Kopfhörer deshalb an, weil er tatsächlich Angst hatte, zu mir zu kommen, Angst vor dem, was ich zu ihm sagen könnte. Er befürchtete, dass dies im Widerspruch zu den Befehlen seiner Herrscher stehen und er macht- und hilflos als Spielball zweier Mächte untergehen würde, was schlimmer sei, als nur einer Macht ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig befürchtete er, meine Worte zu verpassen und mir später nichtwissend und unvorbereitet ausgeliefert zu sein. Er musste hinhören. Seinen Konflikt löste er neben dem Regulieren mit dem Kopfhörer, indem er kam und das Gespräch an sich riss. Mit der Zeit änderte sich für ihn die Bedeutung meiner Worte. Sie waren ihm inzwischen wichtig geworden. Er wollte sie nicht mit den ihn beherrschenden inneren Mächten teilen und an sie verlieren. Meine anfängliche Zurückhaltung deutete er als Respekt und Zuwendung, als mein aufmerksames »hellseherisches« Bemerken, wie bedroht er war. Er hatte mich in seiner Vorstellung auf seine Seite ziehen können (progressive Psychopathologie) und war überzeugt, dass auch ich meine Worte ausschließlich ihm zuteilwerden lassen wolle. Durch seine Anfragen den Alltag betreffend stellte er einen einseitigen Kontakt zu mir her, der ihm erlaubte, mir einen beschränkten und ihn weniger gefährdenden Platz zuzuweisen. Was in seiner Innenwelt vorging, darüber konnte er damals noch nicht sprechen, er ging aber davon aus, dass ich sowieso darum wüsste.

Dieses Beispiel zeigt koexistierende, sich wandelnde »Missverständnisse« als Basis einer unfreiwilligen therapeutischen Beziehung, welche über lange Zeit unmöglich verbal zu klären gewesen wären. Wir dachten aneinander vorbei, jeder in seiner Welt und doch im Kontakt: er in seinem Wahn und ich mit meiner simplen Deutung in meiner Welt. Es gab dafür noch keine gemeinsame Sprache. Emotional überwanden wir beide den Kontaktwiderstand nonverbal, wandten uns dem anderen zunehmend zu und bemühten uns, ein Miteinander zu ermöglichen. Ohne meine Bereitschaft, seine Innenposition als koexistent zu respektieren, über die ich aus meiner Sicht nur speku© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil A: Wissen

lieren und auf meine Gegenübertragungsarbeit zurückgreifen konnte, wäre ich bald aus dem »Spiel« gewesen und um Medikamenteneinsatz kaum herumgekommen. Genau darin lag in seiner Geschichte die Falle. Häufig wurde der Patient unfreiwillig mediziert, weil seine Aggression und Suizidalität von außen nicht einzuschätzen waren und man sich daher verpflichtet fühlte, zu handeln. Dies war Teil seiner historisch begründeten Abwehr und Ängste mir gegenüber. Ab diesem Zeitpunkt wurde Medikamenteneinnahme nie mehr zum Streitpunkt, da wir diese gemeinsam einsetzten und er einer der Patienten wurde, der dank des Psychodialogs erstmals eine hohe Compliance entwickelte. Erst viel später wird es möglich, gemeinsam von der Metaebene auf die bisherige Therapie zurückzublicken, dem anderen aus dem eigenen damaligen Erleben, den Deutungen zu berichten. Die beiden Perspektiven derselben Geschichte werden gleichberechtigt nebeneinandergestellt. Im Austausch wird das erweiterte gemeinsame Wissen, das Dritte, gebildet. Die zwei Varianten koexistieren so lange, bis der schizophrene Mensch selbst beginnen kann, seine Version als möglicherweise »gestört« anzusprechen. Inzwischen fühlt er sich subjektiv nicht mehr dem Behandler ausgeliefert, sondern befindet sich partnerschaftlich mit seinem Therapeuten als Dolmetscher im Schutz des dualen Raumes. Das Beispiel lässt zudem erkennen, dass es zwei Arten von Innenpositionen gibt – unsere Innensicht aus therapeutischer »Außenposition seiner Innenposition« und die »Innenposition der Innenposition« des schizophrenen Menschen selbst. Sie sind über die Gegenübertragungsarbeit des Therapeuten verbunden. Der Abstand zwischen ihnen schrumpft, bei gutem Therapieverlauf bildet sich eine dritte gemeinsame Innenposition aus. Als ich seinerzeit eine meiner Patientinnen kennen lernte, verließ sie die Wohnung ihrer Eltern ohne Begleitung kaum und nur so kurz wie absolut notwendig. Dabei traten existenzielle bedrohliche Ängste auf, verbunden mit der Befürchtung, draußen von allen Leuten ausgelacht und bedroht zu werden, zumal diese ihre Gedanken kommentierten (Halluzinationen) und Bescheid wussten, was hinter verschlossenen Türen bei ihr zu Hause ablief. Zudem befürchtete sie,

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nicht mehr in die Wohnung und später in der Klinik, in ihr Zimmer zurückzufinden und unterzugehen. Sogar in ihrem Zimmer fühlte sie sich ausgeliefert, geplagt und gefoltert. Manchmal wurden ihr Stunden der Ruhe erlaubt, selten mehr. Meistens war es lediglich hart verdiente Belohnung. Dann durfte sie einen Ausflug ins Weltall machen, wo sie sich frei und glücklich fühlte. In diesen Situationen war sie für Außenstehende fast unerreichbar. Dies führte zeitweise zu temporären katatonen Zuständen. Der Preis, den sie für diese Ausflüge in ihrem Wahn zuvor entrichten musste, war Verzicht, eingefordertes selbstverletzendes Verhalten als Bestrafung durch und zur Befriedigung der sie beherrschenden Mächte. In der ersten Phase der Therapie musste ich sie deshalb in der Klinik in ihrem Zimmer besuchen gehen. Später holte ich sie zur Therapiestunde ab und brachte sie auf die Station zurück. Nach der Entlassung folgte die lange Phase, in welcher sie sich bedroht fühlte, wenn sie aus der Wohnung ging, um ambulant zu mir zu kommen. Da ihr die Therapie inzwischen sehr wichtig geworden war, nahm sie alle Gefahren in Kauf, keine Sitzung zu verpassen. Kürzlich berichtete sie stolz, dass sie fast keine Zeit mehr habe, zu Hause zu bleiben, obwohl sie es sehr liebe und genieße. Es sei schön, andere Menschen zu treffen, Ausflüge zu machen. Sie sei fast jeden Tag unterwegs. »Das wäre früher unmöglich gewesen«, sagte sie ergriffen. Ich widersprach und erklärte ihr, es wäre in der Realität genau so möglich gewesen wie heute, wenn nicht das psychotische Erleben viele Jahre blockierend den Weg zur Realität versperrt hätte. Sie konterte sogleich und bestand darauf, dass dies aus meiner Sicht wohl so sei, sie damals aber wirklich nicht konnte, weil sie vor der Therapie nichts anderes als die Unterwerfung kannte. Wir einigten uns auf den Kompromiss, dass wohl beide aus ihrer Position recht hätten, letztendlich zähle heute, dass es jetzt schön sei und sie es heute genießen könne, draußen zu sein, sich in der realen Welt frei bewegen zu können, ohne daran gehindert zu werden, obschon die Stimmen aus dem Verlies, in welches sie sie inzwischen eingesperrt hätte, ihr manchmal drohend zurufen und sie auch heute noch vorübergehend erreichen könnten. Meistens

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lasse sie sich von ihnen nicht mehr beeindrucken. Die Trennwand zwischen Realität und Psychose ist in harter therapeutischer Arbeit gemeinsam gebaut worden und hält meist.

Es ist keine dauerhafte Heilung, aber die Patientin hat Abstand zu ihrer sie jahrzehntelang bedrohenden Psychose gewonnen. Vielleicht nur für gewisse Zeit, aber zu diesem Zeitpunkt länger als je zuvor ist ein subjektiv wesentlich besseres Leben durch die gemeinsam aufgebaute dritte Plattform in der Therapie möglich – zuerst in ihrem Wahngebäude und später mit einer Brücke in die Realität außerhalb der Wahnwelt. Anamnestisch zu erwähnen ist, dass bei ihr Jahre vor unserer Erstbegegnung die Psychose früh erkannt und rasch medikamentös behandelt wurde. Ab der Pubertät wurde sie mehrfach hospitalisiert und zeitweise mit den damals zur Verfügung stehenden Medikamenten sogar mit Höchstdosen und in Kombination mit Depotmedikation über längere Zeit unfreiwillig behandelt, was leider nie weiter half, genauso wenig wie die vorhergehenden ambulanten Versuche, sie stabilisierend zu behandeln. Als »hoffnungsloser Fall« wurde sie mir aus einer anderen Klinik zugewiesen. Ein Medikament nimmt sie bis heute, aber freiwillig, ein. Sie bestimmt in Absprache mit mir die inzwischen recht niedrige Dosis, was ihr subjektiv hilft – nicht etwa gegen ihr psychotisches Erleben, sondern es unterstützt sie, mit dem in der Therapie Verstandenen konstruktiv umzugehen. Wie sehen Wahnwelten aus? Wie viele gibt es maximal in einer schizophrenen Innenwelt? Berühren sie sich oder gibt es unberührte, sogar gesunde Zwischenräume, die sie trennen? Oder agieren mehrere Wahnwelten fragmentiert oder sogar vollständig dissoziiert nebeneinander? Können die Grenzen dazwischen durch den schizophrenen Prozess selbst fragmentiert werden? Brechen intern Grenzen zwischen psychotischen Welten innerhalb desselben Individuums auf und durchmischen sich die Welten dann zu neuen Wahnwelten? Wie gehen solche Fusionen vor sich? Welche allgemeingültigen Gesetze gelten da? Fast alle Fälle habe ich in einem Vierteljahrhundert der Reisen in Innenwelten schizophrener Menschen angetroffen. Auf viele Fragen kann ich keine klare und schon gar keine abschließende Antwort geben, auch der Genetik, Epigenetik oder bildgebenden Verfahren gelingt dies nicht. Auch die folgenden Fra© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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gen entziehen sich einer wissenschaftlich begründbaren und stichhaltigen Antwort: Wo gleichen sich spezifische Arten von Wahngebilden? Wo beginnt die individuelle Gestaltung und Ausformung, ab wann lassen sie sich nicht mehr vergleichen? Oder gibt es starre Grundgebilde, die in jedem Wahngebilde zu finden sind? Hier gibt es leider keinen strukturierten »Reiseführer«, dem man folgen könnte. Jedenfalls entwickelt jeder schizophrene Mensch seine Welten individuell im Detail weiter, mit oder ohne sich gleichenden Grundmauern. Dieser Prozess ist nicht einfach durch Abbruch des Fundaments zu stoppen, da die Sekundärgebilde nicht weniger stabil sind als die primären. Das dürfte ähnlich der sich wechselseitig beeinflussenden Beziehung zwischen zum Beispiel Genetik und Epigenetik zu verstehen sein. Es gibt wohl Arten des Wahngebäudes, wie Liebeswahn, Verfolgungswahn usw., die einen Grundaufbau vermuten lassen. Dieser Schluss beruht auf dem, was wir nachweisen können, von dem wir erfahren, was sich uns prominent zeigt. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass es nur einen kleinen, eher unbedeutenden gemeinsamen Nenner in Bezug auf Wahnwelten gibt, während der individuelle Ausbau den weit größeren Teil ausmacht. Die Physik des Wahns oder der Wahnsysteme gibt es kaum, dafür ein riesiges Potenzial von Wissen, das nur auf den ersten Blick unzugänglich erscheint und darauf wartet, bemerkt, beachtet und eingesammelt zu werden.

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Teil B: Verstehen

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Was bedeutet Verstehen?

Ich verstehe: Was hat es damit auf sich? Wie ist es mit »ich weiß« verknüpft? Sind Wissen und Verstehen ein Geschwisterpaar, nahe Verwandte oder gar Zwillinge? In diesem Kapitel geht es darum, mit dem schizophrenen Menschen zu einem »gemeinsamen Verstehen« zu gelangen. Wie begreift der schizophrene Mensch mit seiner Wahrnehmung und seinem Wissen um die Welt die Begegnung mit uns? Wie verstehen wir aus unserer Weltwahrnehmung und unserem Wissen die Begegnung mit ihm? Gibt es Potenzial für ein teilbares Verstehen? Wie können sich die beiden »Weltfremden« mit- und untereinander verständigen? Mein Weg zur therapeutischen Beziehungsbildung, zum gegenseitigen und gemeinsamen Verstehen führt über den Umweg der Physik und ihre ungelösten »Widersprüche« und »Verrücktheiten«. Nach vereinfachter Darlegung von Einsteins spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie folgt ein Blick in die kaum »verstehbare« Welt der Quantenphysik, um uns der oft unbegreiflichen »Physik« schizophrener Menschen verständnisvoller anzunähern. Einstein ist vor allem wegen seiner Relativitätstheorien bekannt geworden. Er leistete aber bereits mit dem Konzept des Photons als Lichtquant einen wichtigen Beitrag zum Verstehen des Lichts. Für sein theoretisches Verständnis des photoelektrischen Effektes erhielt er 1921 den Nobelpreis für Physik, welchen er im Jahr 1922 in Empfang nehmen durfte. Mit der speziellen Relativitätstheorie entwickelte er seine Gedanken zu einem revolutionären und völlig neuen Verständnis von Zeit und Raum, der »Raumzeit«. Mit der allgemeinen Relativitätstheorie vervollständigte er die Lücken der speziellen Relativitätstheorie durch die neuartige Bedeutung, die er der Gravitation gab. Ungewollt lieferte er damit eine Vorlage für die Quantenphysik. Leider konnte er sich damit nie anfreunden (Brooks, 2011, S. 12): »Seine bekannten Leistungen vollbrachte Einstein zu Beginn seiner Laufbahn. Mit der © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil B: Verstehen

experimentellen Entdeckung des Photons als Energiequant schuf er einen der Grundpfeiler der Quantentheorie.« Später findet sich folgender Kommentar im Kapitel »Einsteins Achillesferse« (Brooks, 2011, S. 184): »Einstein hatte sich nie mit ihr [Quantentheorie] abgefunden und hoffte, sie werde nicht lange Bestand haben. Es kam anders. […] Als er 1955 starb, hatte die moderne Physik ihn abgehängt.« Einsteins Versuche, die Quantenphysik zu widerlegen respektive ihre Unvollständigkeit nachzuweisen (siehe auch Einstein-PodolskyRosen-Paradoxon aus dem Jahr 1935; Greene, 2008, S. 123–127), weil er die Konsequenz der Verschränkung der Quantenmechanik, die sogenannte »Nichtlokalität« des Universums mit der Möglichkeit instantaner Ereignisse, als unmöglich erachtete, verstrickten ihn tief in einen persönlichen Widerspruch. Gerade das EPR-Pardoxon zum Beweis der Lokalität des Universums sollte später Grundlage der Widerlegung seiner Überzeugung werden. John Bell bereitete 1964 theoretisch vor, was experimentell später durch John Clauser und Stuart Freedman in den siebziger Jahren bewiesen und im Verlauf durch die Experimente von Alain Apects gekrönt wurde (Greene, 2008, S. 138 f.), so spukhaft es auch heute noch erscheinen mag. Ähnlich hartnäckig zeigte sich Einstein bereits, als es darum ging, das damals anerkannte Modell eines »statischen« Universums aufzugeben, ein Universum, welches immer da war und immer da sein wird. Als Konsequenzen seiner allgemeinen Relativitätstheorie wurde nämlich das Modell eines dynamischen Universums möglich. Im Artikel »Eine Reise zum Anfang der Dinge« legt Ralph Behorst (2012) die von Einstein selbst erkannte unbequeme Konsequenz seiner 1915 dargelegten Gravitation dar. Neben der Krümmung des Raumes würde auch ein Wachsen und Schrumpfen des Universums möglich sein. Wegen der Anziehung der Körper müsste dies irgendwann zur kosmischen Katastrophe führen; das Universum müsste langfristig in sich zusammenstürzen! Einstein war von diesen Folgerungen, welche er 1917 in seinem Artikel »Kosmologische Betrachtungen zur Allgemeinen Relativitätstheorie« selbst darlegte, befremdet. Er führte deshalb mit der berühmt gewordenen »kosmologischen Konstante« eine fiktive Kompensationskraft ein, die der Gravitation entgegengesetzt abstoßend © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Was bedeutet Verstehen?123

wirken und die Galaxien konstant auf Abstand halten sollte, um den Kollaps zu verhindern. Erst 1931 korrigierte er seine Haltung und erklärte öffentlich, dass die Einführung der kosmologischen Konstante die größte Eselei seines Lebens gewesen sei. Ganz anders verhielt es sich mit seinem Denken über Zeit und Raum im Rahmen seiner Relativitätstheorien. Die Idee der Abstoßung als Kompensation der Gravitationsanziehung wurde viel später beim Entwickeln der Inflationstheorie von Alan Guth wieder aufgenommen – dazu Brian Greene (2008, S. 324): »Infolge seines negativen Drucks erzeugte das Inflaton-Feld eine gigantische Gravitationsabstoßung, die jede Raumregion veranlasste, sich von jeder anderen in rasendem Tempo zu entfernen.« Richard P. Feynman, Nobelpreisträger für Physik 1965, wird uns später in die verrücktesten Etagen der Quantenphysik begleiten, dessen Wegbereiter er war. Danach sind wir gut gerüstet, um uns wieder dem psychoanalytischen Schizophrenieverständnis und dem schizophrenen Menschen zuzuwenden. Wie gelangen wir grundsätzlich vom Wissen zum Verstehen? Bausteine des Verstehens sind verknüpftes Wissen. Informationen führen zunächst zu Fragen und Spekulationen. Angehäuftes Wissen ermöglicht eine Hypothesenbildung und vorerst Modellwissen in einen vermuteten Zusammenhang zu bringen. Bestätigt sich die Hypothese, haben wir mehr verstanden. Wir wissen mehr als zuvor. Verstehen bedeutet, mehr Wissen zu generieren. So schließt sich der Kreis zum vorherigen Kapitel »Wissen«. Verstehen kann beständig, unbeständig und veränderlich sein. Es kann sich im Verlauf als nicht mehr richtig, anders richtig herausstellen oder bestätigt werden, weil es den wiederholten Überprüfungen beharrlich standhält oder zumindest nicht widerlegt werden kann. Lange glaubte man, die Erde sei eine Scheibe und das Zentrum des Universums. Aufgrund von wiederholten Beobachtungen oder Vermutungen oder Glauben »wusste« man dies. Daraus bildete man Hypothesen des Verstehens von beobachtbaren Vorgängen, die vorerst nicht widerlegt werden konnten oder aus weltanschaulichen, oft religiös fundierten Gründen nicht widerlegt werden durften. Denken wir an Galileo Galilei! Aufgrund präziserer Beobachtungen und einem daraus resultierenden anderen Verstehen, aus dem neu vorlie© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil B: Verstehen

genden Wissen heraus war das alte Weltbild in der Folge nicht mehr haltbar. Die neuen Erkenntnisse, dass die Erde einer Kugel ähnlicher ist als einer Platte und die Erde schwerlich das Zentrum des Universums sein kann, mussten in ein neues Weltbild integriert werden. Wo stehen wir heute im Verstehen des Universums? Von Quantenphysikern wie Hans-Peter Dürr und anderen erfahren wir, dass die eigentlichen Bausteine der Materie letztendlich nicht mehr selbst Materie sind. In den Stringtheorien/M-Theorie ist die Masse eines Teilchens nichts als die Energie seines schwingenden eindimensionalen Strings (Greene, 2008, S. 399). Wie kommt es zur Materie? Was eigentlich ist Masse? Wie kommt ein Elektron, das nicht zum Atomkern gehört, zu seiner Masse? Was gibt es außer Materie noch und wie stellt sich dies für uns spürbar dar außer als Folgerungen mathematischer Gleichungen? Was bedeutet das alles für unsere Makrowelt? Was ist dunkle Materie, dunkle Energie oder was sind schwarze Löcher? Was sagt das heute gültige, wenn auch nach wie vor nicht wirkliche befriedigende Standardmodell der Physik aus? Ich beginne wieder mit Einstein. Um den »einfachen« Grundüberlegungen Einsteins zu folgen, benötigt man keine höhere Mathematik. Für unsere Haltung sowie den umsichtigen Umgang mit schizophrenen Menschen ist die Beschäftigung damit deshalb hilfreich, weil es unsere Denkflexibilität und damit die Bereitschaft erhöht, uns auf unsere Patienten einzulassen. Wenn wir einen Zugang zu ihren uns zunächst unverständlich und unlogisch erscheinenden, für sie leider oft schrecklichen Welten finden, eröffnen sich faszinierende Blicke auf Schizophrenien und eventuell auf neue, individuell angepasste Behandlungswege.

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2.1 Lichtgeschwindigkeit Zunächst greife ich einen wichtigen Aspekt heraus; das Licht und seine Geschwindigkeit. Seit den Resultaten der Messungen von 1887 durch Albert Abraham Michelson und Edward Morley, welche sie kaum glauben konnten und als Messfehler interpretieren wollten, wissen wir: Die Lichtgeschwindigkeit ist konstant, unabhängig von der Bewegung des Lichtes, von der Person, dem Messgerät oder der Richtung, aus der man sie misst. Das Experiment sollte eigentlich die verschiedenen Lichtgeschwindigkeiten messen. Man glaubte damals, dass es einen Äther im Raum gäbe, durch welchen sich das Licht hindurchbewegt. Dieser müsste auf die Geschwindigkeit einwirken und verschiedene Geschwindigkeiten ergeben, je nach Richtung, in der das Licht diesen durchquert. Das wiederum basierte auf der damals herrschenden Überzeugung, dass Längen und Zeit feste, unveränderliche Größen seien. Egal wie Michelson und Morley ihre Messungen wiederholten und anlegten, die Geschwindigkeit des Lichtes war immer gleich, einerlei, in welche Richtung die Person sich mit dem Messgerät auch bewegte, ob fix von einem Punkt aus gemessen wurde und aus welcher Himmelsrichtung das reflektierte Licht auf das Messgerät traf. Das verwirrte. Es ließ nur den einen Schluss zu: Licht hat nur eine Geschwindigkeit, wie bekannt beträgt diese etwa 299.792 Kilometer pro Sekunde. Somit musste die bis dahin geltende Gleichung »c (Lichtgeschwindigkeit) = Weg geteilt durch Zeit« neu interpretiert werden. Wenn die Lichtgeschwindig1

Die Ausführungen zu Einsteins Relativitätstheorie(n) sind auf einer DVD aus dem Jahr 2003 gut dargestellt. Sie wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung Wissenschaft und Kultur der Gerald Kargl GmbH Filmproduktion Wien zur Umsetzung in Auftrag gegeben und trägt den Titel »Einsteins Relativitätstheorie: Das Geheimnis von Raum und Zeit«.

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keit zwingend konstant ist, unabhängig davon, wie und wo ich diese messe, sollten die anderen Komponenten der Gleichung, Weg und Zeit, variabel sein. Dazu ein gut vorstellbares, aber verwirrendes Beispiel: Senden Astronomen Laserstrahlen, also Photonen, von einer Messstation der Erde zum Mond, wo diese zurückreflektiert werden, und messen sie die Zeit eines Weges hin oder zurück, so erhalten sie immer 1,3 Sekunden als Ergebnis. Photonen, die gleichmäßig zwischen zwei reflektierenden Flächen hin und her pendeln, stellen wegen dieser Periodizität »Uhren« dar, so wie eine mechanische Uhr auch auf einer Periodizität aufbaut. Ein unvorstellbar schnell vorbeifliegender Astronaut würde den Weg des Photons (könnte man es aufzeichnen) wegen seiner relativen Bewegung zur Erde und Mond als Zickzacklinie sehen, wir von der Erde aus aber als Strecke. Vergleicht man diese beiden Wege, dann wäre die vom Astronauten gemessene Strecke länger. Da Licht immer die gleiche Geschwindigkeit hat, kann das, gemäß der Gleichung (Geschwindigkeit = Strecke geteilt durch Zeit), durch eine »Zunahme« der Zeit erklärt werden, bedeutet also eine Verlangsamung der Zeit. Das Licht mit seiner konstanten Geschwindigkeit kann die Differenz der Wege nicht ausgleichen. Für den Astronauten verläuft die Zeit zwischen Erde und Mond demnach zwingend langsamer. Solche und andere Überlegungen bildeten den Ausgangspunkte für Einsteins Gedanken und die daraus resultierenden Schlüsse zur Zeit. Brooks beschreibt das nur schwer Nachvollziehbare so (2011, S. 20 f.): »Die Gesetze der Physik gelten für jedermann, egal ob und wie er sich durch das Universum bewegt. Die wichtigste Konsequenz daraus ist die Konstanz der (in der ganzen Welt mit c bezeichneten) Lichtgeschwindigkeit. […] Die Lichtgeschwindigkeit ändert sich nicht, auch wenn sich Quelle und Empfänger relativ zueinander bewegen. Das Spektakuläre an dieser Tatsache ist, dass sich, wenn die Bedingungen es erfordern, alles außer der Lichtgeschwindigkeit ändern kann – unter anderem die Zeit.« Dazu führt Brooks ein alltäglicheres Beispiel aus, welches von uns intuitiv als unmöglich beurteilt würde, jedoch erwiesenermaßen richtig ist (S. 149): »Wenn also ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern auf Sie zufährt, wird das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Licht nicht durch die Bewegung der Quelle beschleunigt und, wenn es sich von Ihnen entfernt, wird das Licht auch nicht verlangsamt. Es bewegt sich stets mit knapp 300 Millionen m/s. Diese Tatsache bildet das Fundament der Speziellen Relativitätstheorie.« Eine weitere Konsequenz aus der konstanten Lichtgeschwindigkeit: Wenn für jeden Beobachter Licht gleich schnell ist, unabhängig davon, ob er sich bewegt oder stillsteht, kann niemand innerhalb des Systems schneller sein als Licht, kein Lichtstrahl kann je eingeholt werden. Das führt zur dritten Folgerung von Einstein, der relativistischen Massenzunahme.

2.2 Spezielle Relativitätstheorie 2.2.1 Zeitdilatation und Längenkontraktion

Hört man in der Eisenbahn Familiengesprächen zu, kann man häufig folgende Sätze aus Kindermund vernehmen: »Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?« »Wie weit ist es noch bis dorthin?« Erwachsene stellen sich eher die Frage: »Wie schnell muss ich sein, dass ich es doch noch pünktlich zur Verabredung schaffe?« Wir gehen im Alltag davon aus, dass die Begriffe Zeit und Weg (Raum) feste unveränderliche Größen sind. Die Länge eines Meter bleibt ein Meter und eine Minute ist und bleibt eine Minute! Bereits in der Grundschule haben wir gelernt: »Geschwindigkeit ist variabel und errechnet sich aus zurückgelegtem Weg geteilt durch benötigte Zeit.« Das mag für unseren Alltag gelten, stimmt aber nicht wirklich. Könnten wir uns mit mindestens 10 % der Lichtgeschwindigkeit bewegen, würden die Konsequenzen des Fehlers wahrnehmbar. Einstein löste sich von der Alltagsintuition, um die Phänomene von Zeit und Raum zu untersuchen.Warum machte sich gerade Einstein zur Relativität von Zeit und Raum so viele nicht alltägliche Gedanken? Dazu Bertram Weiss (2011, S. 24): »Aber weshalb hat gerade Einstein, dieses angeblich ›depperte Kind‹, das Prinzip der Relativität gefunden? Er [Einstein] schrieb einmal: ›ich habe mich derart langsam entwickelt, dass ich erst anfing mich über Raum und Zeit zu wundern, als ich bereits erwachsen war‹.« Im selben Artikel findet sich folgendes Beispiel: Stellen wir uns einen Mann im Abteil eines vorbeifahrenden Zug vor, er hat seinen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Koffer oberhalb seines Kopfes im Gepäckteil deponiert. Gleichzeitig (was immer das auch heißen mag!) steht ein zweiter Mann auf dem Bahnsteig, an welchem gerade eben dieser Zug vorbeifährt. Der mit einer dauernd Lichtsignale aussendenden Apparatur versehene Koffer fällt aus dem Gepäckteil. Beide bemerken es und sehen dem Lichtsignal zu. Was sieht jeder von ihnen? Welchen Weg legt das Lichtsignal, das beide beobachten, aus der Sicht eines jeden Betrachters zurück? Für den Reisenden in der Bahn bewegt sich der Koffer respektive das beobachtete Licht senkrecht nach unten. Für den Beobachter auf dem Bahnsteig jedoch bewegt es sich schräg nach unten und legt somit eine längere Strecke zurück – so, wie es das vorherige Beispiel des Astronauten gezeigt hat. Da die Lichtgeschwindigkeit für beide gleich groß ist, sollten die anderen Größen Weg und Zeit veränderlich sein. Deshalb folgern wir, dass die Zeit in der Bahn für den außenstehenden Beobachter langsamer vergeht als seine eigene. Was sich Einstein auf dem Papier (in seinem »Labor«, wie er es einmal genannt haben soll) überlegte, wurde viele Jahre nach seinem Tod bewiesen. 1971 wurde dazu ein teures Experiment durchgeführt. Hierzu noch einmal Weiss (2011, S. 24): »Im Oktober 1971 bringen die US-Physiker Joseph Hafele und Richard Keating vier solche Zeitmesser [hochpräzise Atomuhren] in Linienmaschinen unter. Für die Uhren, jede so groß wie eine Kommode, müssen die Forscher zwei Tickets lösen. […] Nach der Landung vergleichen sie die Zeitmesser mit einer baugleichen Uhr in Washington D. C. – und erkennen: Im Verlaufe ihres Fluges verzögerte sich der Takt der Atomuhren um 60 Milliardstelsekunden: Das ist ungefähr die Größe, die Hafele und Keating auf der Basis von Einsteins Annahmen vorausgesagt hatten. Die bis heute präziseste Messung der Zeitdilatation glückte 2003 dem Physiker Guido Saathoff und seinen Kollegen vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg.« Bewegte Uhren gehen also langsamer als in ihrem Ruhesystem oder: Die Zeit dehnt sich. Das nennt man Zeitdilatation. Im berühmten Gedankenexperiment, dem Zwillingsparadoxon, ergibt sich die folgende »verrückte«, aber gedanklich nachvollziehbare Situation (Weiss, 2011, S. 23): »Während einer der Brüder auf der Erde bleibt, steigt der andere im Jahr 2020 in ein Raumschiff und rast mit 80 % der Lichtgeschwindigkeit zu einem acht Lichtjahre © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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entfernten Sonnensystem. Von dort kehrt er mit gleicher Geschwindigkeit zur Erde zurück, wo er – nach irdischer Zeit – im Jahr 2040 eintrifft. Doch während für den Bruder auf der Erde zwanzig Jahre vergangen sind, waren es für ihn nur zwölf. Denn durch den Ausflug ins All wurde die für ihn gültige Zeit aufgrund der Geschwindigkeit gedehnt. Er ist nun acht Jahre jünger als sein Zwillingsbruder.« Eine weitere Folgerung, die sich daraus ergibt, ist: Bewegte Objekte müssen in Bewegungsrichtung schrumpfen. Das wird Längenkontraktion genannt. Im Zwillingsparadoxon wirken sich beide Aspekte im bewegten System aus, somit auch auf den Alterungsprozess. Beide haben ihre Zeit im jeweiligen System kontinuierlich als linear fließend erlebt. Zeitdilatation und Längenkontraktion gehören zusammen. 2.2.2 Relativistische Massenzunahme

Wie verhält sich nun Masse zu Raum, Zeit und Geschwindigkeit? Wie wir inzwischen wissen, hat Licht für alle Beobachter eine einzige, immer gleich bleibende konstante Geschwindigkeit, unabhängig davon, wie schnell und in welche Richtung sich der Beobachter bewegt. Nichts kann schneller sein als Licht. Diese Begrenzung liegt auch in einer Eigenschaft eines »Körpers« selbst, in seiner Trägheit. Das altbekannte Newton’sche Trägheitsprinzip besagt, dass jeder »Körper« in seinem Zustand verharrt, bis eine äußere Kraft auf ihn einwirkt und ihn bewegt. Deshalb kreisen Satelliten endlos um die Erde, bis eine Kraft in Form von Energie auf sie einwirkt. Um einen »Körper« aus seinem Zustand zu bewegen, ist Energie nötig, um den Trägheitswiderstand zu überwinden. Je schneller die Bewegung eines Körpers wird, umso mehr nimmt seine Masse zu. Dazu ein Gedankenspiel: Ein Asteroid prallt auf die Erde. Der Beobachter auf der Erde würde das Herannahen eines sehr schnell auf ihn zurasenden Objekts wahrnehmen, der Aufprall wäre gewaltig und würde einen Schaden anrichten, dessen Ausmaß von seiner Geschwindigkeit und Masse abhängt. Der mit sehr hoher Geschwindigkeit vorbeirasende Astronaut hingegen würde den Asteroideneinschlag auf die Erde wegen der Zeitdilatation wie in Zeitlupe verlangsamt und den Einschlag als »sanften Aufprall« wahrnehmen, obschon der Schaden natürlich derselbe wäre. Das bedeutet aber, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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dass die Masse des Asteroiden für den Astronauten größer sein muss, da er sich für ihn langsamer bewegt. Das war das dritte Naturphänomen, das Einstein beschrieb und das unter dem Namen relativistische Massenzunahme bekannt ist. Sie besagt, dass die Masse eines Körpers nicht konstant ist, sondern mit zunehmender Bewegungsgeschwindigkeit größer wird. Die nicht überwindbare Grenze bleibt die Lichtgeschwindigkeit. Die Masse würde sonst unendlich groß werden müssen. Dass dem auch wirklich so ist, zeigen moderne experimentelle Versuche der Beschleunigung von sehr kleinen Massen. Um diese Massenzunahme beobachten zu können, sind sehr hohe Geschwindigkeiten notwendig, wie sie im LHC (Large Hadron Collider) am CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, dt.: Europäische Organisation für Kernforschung) erzeugt werden können. Man lässt unglaublich beschleunigte geladene Teilchen aus beiden Richtungen auf einer Kreisbahn aufeinanderprallen. Dabei kann man unter anderem auch die Masse und Massenzunahme bestimmen. Nahe der Lichtgeschwindigkeit nimmt diese um das 40.000-Fache zu. Die Massenzunahme basiert nicht etwa auf einer Teilchenzahlzunahme, diese bleibt immer gleich, sondern auf einer Energiezunahme. Einstein fand heraus, dass Masse und Energie äquivalent sein müssen, was er seinerzeit mit mathematischen Methoden mit der uns bekannten Formel E = mc2 ausdrückte. Masse kann zu Energie umgewandelt werden. Was das bedeutet, lässt sich an zwei Beispielen erklären. In einem Kilogramm Ruhemasse stecken 100 Trillion Joule Energie (17 Nullen!). Damit kann man acht Kubikkilometer Wasser einen Kilometer in die Höhe heben, was etwa gleichbedeutend wäre mit einem mittelgroßen Alpensee. Brooks sagt dazu (2011, S. 121): »Mit dem Energiegehalt einer einzigen Walnuss könnte man den Bedarf einer Stadt decken.« Zuerst glaubte man, dass sei nur ein theoretisches Gedankenspiel. Erst als Atomphysiker die Relation zur Bindungsenergie zwischen Protonen und Neutronen herstellten, die den Atomkern bilden, und diese Bindungsenergie als freisetzbare Energie erkannten (Strahlung), wurde daraus eine Alltagsrealität, die bis heute Entsetzen und Erschrecken auslöst. Die katastrophalste Umsetzung der theoretisch faszinierenden speziellen Relativitätstheorie findet © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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sich in der Atombombe wieder: die dunkle Kehrseite eines genialen Gedankenspiels. Vorweggenommen: Die Stringtheorien kehren diese Erkenntnisse um und basieren darauf, dass Energie auch in Masse umgewandelt werden kann.

2.3 Allgemeine Relativitätstheorie Einstein bewies mit der speziellen Relativitätstheorie, dass die Welt nicht das ist, als was sie uns erscheint. Erst, wenn man mit einem Raumschiff mit unglaublich hoher Geschwindigkeit durchs All reisen und sich von außen unbeeinflusst an anderen Systemen vorbeibewegen könnte, würden wir das bemerken. Geschwindigkeiten, die wir real nicht annähernd je werden erreichen können. Beim Betrachten von Planeten, zum Beispiel der Erde, könnte man die drei Phänomene der speziellen Relativitätstheorie von außen erleben. Umgekehrt könnten auch Beobachter von der Erde aus die gleichen Phänomene am Raumschiff, das vorbeirast, erkennen. Für den Raumschiffpiloten würde sich zum Beispiel die Erde im Vorbeiflug ellipsoid verkrümmt darstellen, während an Bord alles unverändert gleich bleiben würde. Für den Erdbewohner hingegen, könnte er das Raumschiff sehen, würde sich dieses verlangsamt und verkürzt zeigen, während bei ihm auf der Erde alles beim Gewohnten bliebe. Vorbedingung dafür wäre allerdings, dass beide Systeme absolut unabhängig funktionierende, in sich geschlossene Systeme wären, auf die keinerlei äußeren Kräfte einwirken, also kein Einfluss von außen ausgeübt werden könnte. Dass sind die Bedingungen, unter welchen die spezielle Relativitätstheorie gilt. In solchen Systemen herrschte absolute Schwerelosigkeit. Sie werden Inertialsysteme genannt. Die Gravitation der Erde wirkt auf das Raumschiff und seinen Inhalt. Es wirkt also doch eine äußere Kraft, welche die Bedingungen aufhebt, welche für ein Inertialsystem gelten muss, da das Raumschiff sich gar nicht unbeeinflusst an der Erde vorbeibewegen kann. Wenn diese Kraft auch nur minimal klein ist, ist sie doch immer da und wirkt unendlich weit bis an den »Rand des Universums«, was immer das heißen mag. Sie verhindert, dass das Raumschiff ein perfektes Inertialsystem sein kann, was Einstein für die allgemeine Gültigkeit der speziellen Relativitätstheorie fordern muss. Zudem überdeckt die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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wesentlich stärkere Gravitation der Sonne die der Erde, wie wiederum diese überdeckt wird von der Gravitation der Milchstraße und so weiter. Alles im Universum steht in Wechselwirkung zueinander. Alle Galaxiehaufen wirken nicht nur gegenseitig aufeinander, sie beeinflussen zusammen sogar die Expansion des Kosmos. Wie weit müsste ein Raumschiff fortfliegen, um sich diesen Gravitationskräften zu entziehen? Gibt es überhaupt einen Ort im Universum, wo die Bedingungen eines Intertialsystems erfüllt sind? Die Antwort lautet nein. Einstein arbeitete weiter an seinen Gedanken, bis er die allgemeine Relativitätstheorie vorlegen konnte. Die spezielle Relativitätstheorie ist nur beschränkt, aber nicht allgemein gültig. Die Umformulierung von Einsteins spezieller Relativitätstheorie zur bereits erläuterten Zeitdilatation und Längenkontraktion ist die Folge. ȤȤ Zeitdilatation: Unter Einwirkung der Schwerkraft gehen bewegte Uhren langsamer. ȤȤ Längenkontraktion: Bewegte Körper schrumpfen unter Einwirkung der Schwerkraft. Was ist Gravitation? Was ist Schwerelosigkeit? Was ist freier Fall? Letztendlich sind es verschiedene Facetten desselben. Einstein folgerte: Große Massen verändern den Raum. Schwerkraft ist die Krümmung des Raumes. Zuvor wurde Gravitation als aufeinanderwirkende Kraft von Massen verstanden. Einstein erklärte mit seinem Verständnis der Gravitation, dass Körper wie in der Krümmung der Raumzeit in einem Trichter nach unten »fallen«. So zwingt die Gravitation die Planeten in ihre Umlaufbahn um die Sonne. Die Schwerkraft der Sonne wiederum krümmt den Raum und die Umlaufbahnen in Sonnennähe. Die von Astronomen beobachtete, vermeintlich unerklärliche Erscheinung, dass Merkur nicht bei jedem Umlauf derselben Bahn folgt, sondern eine Rosettenbahn beschreibt und die Bahn so leicht verschoben wird (Perihelverschiebung des Merkur), konnte Einstein bei Anwendung seiner neuen Gravitationsgleichung erstmals theoretisch darlegen. Eine wichtige Konsequenz aus dem Einstein’schen Verständnis der Gravitation ist, dass sogar Licht durch die Gravitation gebeugt © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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wird. Nach dem Newton’schen Verständnis der Gravitation ist das unmöglich, weil Licht (Photonen) keine Masse hat, die angezogen werden kann. 1919 konnten Einsteins Vorhersagen, wie von fernen Sternen ausgesendetes Licht durch die Raumzeitkrümmung abgelenkt wird, wenn es auf seinem Weg an der Sonne vorbeikommt, erstmals anlässlich einer Sonnenfinsternis überprüft werden. Weitere, unserer Intuition widersprechende Gravitationsphänomene sind die folgenden: Eine Uhr geht in der Talsohle langsamer als auf der Bergspitze, da die Zeit wegen der Gravitation langsamer läuft, je näher wir dem Erdmittelpunkt sind. Das gilt natürlich auch für den Menschen: Der Kopf altert etwas schneller als die Füße. Die Auswirkung ist allerdings so gering, dass wir dies nie merken werden. Im Universum hingegen hat dies erkennbare Folgen: in unserem Sonnensystem zum Beispiel zwischen Erde und Umlaufbahn von Satelliten, welche in etwa 25.000 Kilometer Entfernung um die Erde kreisen und die Daten für unsere GPS-Systeme liefern. Würden die GPS-Geräte nicht auch den Krümmungseffekt aus der allgemeinen Relativitätstheorie mitberücksichtigen, landeten wir neben dem angepeilten Ziel. Dazu Ben Moor in seinem Buch »Elefanten im All« (2012, S. 105): »Die Einbeziehung der Allgemeinen Relativitätstheorie ist auch für ganz praktische Zwecke wichtig. Ein gutes Beispiel ist das Global Positioning System (GPS), das der Navigation, der Landvermessung und der Zeitmessung dient. Es beruht auf einem Netz von Satelliten, die die Erde umkreisen und jeweils ihre Position sowie ein genaues Zeitsignal von einer mitgeführten Atomuhr aussenden. Nach der Entschlüsselung des Signals lässt sich die Position eines Menschen im dreidimensionalen Raum mit einer Genauigkeit von wenigen Metern bestimmen. Da sich die Satelliten relativ zu dem ruhenden Beobachter auf der Erde mit einer Geschwindigkeit von 14000 km pro Stunde bewegen, erfahren sie eine messbare Zeitdilatation, denn nach Einsteins spezieller Relativitätstheorie hängen Zeit und Raum eng zusammen: Die Schnelligkeit, mit der die Zeit vergeht, hängt davon ab, wie schnell sich jemand bewegt. Dadurch verlieren die GPS-Satelliten täglich etwa sieben Mikrosekunden. Die Uhren werden außerdem vom Gravitationsfeld der Erde beeinflusst, das die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Zeit, je näher man der Erde kommt, verlangsamt. Letztlich laufen die GPS-Uhren pro Tag um 46 Mikrosekunden schneller als unsere Uhren auf der Erde. Beide Effekte werden vom GPS-System gemessen und korrigiert. Andernfalls würde der Fehler bezüglich des Standorts des Empfängers Tag für Tag um rund zehn Kilometer abweichen, und damit wäre das System unbrauchbar.« Die Physik spielt also in unserem Alltag eine größere Rolle, als wir uns bewusst sind. Einstein postulierte weiterhin die Existenz von »schwarzen Löchern«, als er sich Gedanken zu Sternen machte, die irgendwann unter dem Druck der eigenen Schwerkraft in sich zusammenstürzen müssen. Ein Teil der Raumzeit wird durch die extrem starke Krümmung von der Außenwelt abgeschnürt und abgekapselt, so dass aus dem Trichter kein Licht mehr nach draußen entrinnen kann und der Stern deshalb unsichtbar wird. Heute wissen wir, dass der Anteil der sichtbaren Materie im Universum nur einen sehr kleinen Teil der im Universum zwingend vorhanden sein müssenden Materie ausmacht. Das führt zu modernster Teilchenforschung, unter anderem zur Suche nach »schweren Teilchen« (mehr dazu findet sich in GEOkompakt 29, »Der Urknall«, aus dem Jahr 2012). Allerdings wies Gödel 1949 Einstein auf eine eigenartige »Verrücktheit« seiner allgemeinen Relativitätstheorie hin. Rein mathematisch betrachtet, erlaubt seine Feldgleichung mögliche Zeitschleifen und somit theoretisch auch Zeitreisen in die Vergangenheit wie in die Zukunft. Das führte zu der paradoxen Möglichkeit, dass jemand in die Vergangenheit reisen, seinen Großvater umbringen und so seine Existenz verunmöglichen könnte. Brooks (2011) zeigt im Abschnitt »Die Zeit wird bewacht« (S. 100 ff.) drei Gründe auf, warum wir weiterhin gut schlafen können und uns das nicht weiter zu beunruhigen braucht. Was hat Relativitätstheorie mit Schizophrenien zu tun? Nichts und sehr viel zugleich. Es gibt Bereiche des schizophrenen Denkens und Fühlens, welche für uns erst nachvollziehbar und verstehbar werden, wenn wir unsere Vorstellungen, wie die Welt beschaffen sei und wie sie funktioniere, loslassen können, um eine andere Dimension von Denken und Fühlen zuzulassen, welche »schizophrenes« Verstehen erlaubt. Der schizophrene Mensch hat diese Wahlmöglichkeit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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zumindest vorübergehend, manchmal ganz verloren. Seine Krankheit zwingt »sein Gehirn« in eine Denk- und Fühlbahn, vergleichbar einer Gewehrkugel, die ihre ballistische Bahn nach Abschuss nicht verlassen kann, wenn nicht äußere Kräfte dies erzwingen. Wenn wir uns auf das uns Fremde einlassen, beginnen wir zu verstehen, warum schizophrene Menschen Ereignisse teils völlig anders erleben müssen als wir. Mit Blick in seine Innenpositionen erkennen wir von außen Hinweise auf die Logik in der Wahnwelt. Ähnlich verlangte das Verstehen der Relativitätstheorien unser Umdenken zu Begriffen wie Raum, Zeit, Masse und Gravitation. Bei der Quantenphysik gelingt dies nicht mehr. Um zu einem Verständnis der Welt zu kommen, wie sie sich uns heute darstellt, benötigen wir die Relativitätstheorien zusammen mit den widersprüchlichen Erkenntnissen der Quantenphysik – so wie der Therapeut den Weg vom gerade noch Verständlichen zum manchmal gänzlich Unverständlichen gehen muss, um eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können. Nicht die Physik ist das Wichtigste, das wir von den Ausführungen zu Einstein mitnehmen wollen, sondern die Bereitschaft, Ereignisse aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sogar wenn sie uns falsch erscheinen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für unsere Haltung schizophrenen Menschen gegenüber, damit sie beginnen können, sich mutig in unsere Richtung zu bewegen. Erst so wird ein Zusammenleben möglich und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert.

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3 Quantenphysik

3.1 Vorbemerkung Einstein befasste sich mit dem Universum, seinen Strukturen und den darin geltenden Gesetzen von Raum, Zeit, Massen, Gravitation, der Raumkrümmung und Lichtbeugung. Er prägte unsere Welt, im Positiven wie im Negativen. Als überzeugter Pazifist erschütterte ihn die von ihm ungewollte Entwicklung der Atombombe. Große Teile und kleine Teile dürfen in der Physik nicht in einen Topf geworfen werden. Kleinste Teile zeigen Eigenschaften, die für große Massen nicht nachvollziehbar sind, im Widerspruch zu unserem gesunden Menschenverstand stehen und doch in der Theorie keinesfalls vernachlässigt werden dürfen. Die Quantenphysik befasst sich vorwiegend mit den absolut kleinsten inneren Aspekten und Kräften, welche unsere große Makrowelt ausmachen und auch zusammenhalten, so weit man dies überhaupt so ausdrücken darf. Stephen Hawking bemerkt zur Berechtigung der Quantentheorien in seinem Buch »Der große Entwurf« (2010, S. 11): »Quantentheorien haben sich bei Vorhersagen über Ereignisse auf mikroskopischen Größenskalen als bemerkenswert genau erwiesen, reproduzieren aber auch, wenn man sie auf die makroskopischen Verhältnisse unserer Alltagswelt anwendet, die Vorhersagen der alten klassischen Theorien. Doch Quantentheorie und klassische Physik beruhen auf ganz verschiedenen Auffassungen von der physikalischen Wirklichkeit.« Wenn man von einem Urknall ausgeht und den zu Beginn geltenden Gesetzen der Entstehung unseres Universums und der Zeit, zeigen sich die Verschiedenheiten der zwei Betrachtungen. Dazu schreibt Stephen Hawking in seinem Buch »Das Universum in der Nussschale« (2003, S. 87): »Zwar geht aus den Theoremen, die Penrose und ich bewiesen haben, hervor, dass das Universum einen Anfang gehabt haben muss, doch liefern sie über die Natur dieses Anfangs wenig Informationen. Sie lassen darauf schließen, dass das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Universum in einem Urknall begonnen hat, in einem Punkt, in dem das ganze Universum und alles, was in ihm enthalten ist, zu unendlicher Dichte zusammengepresst war. An diesem Punkt verliert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ihre Gültigkeit, so dass sie nicht zu der Vorhersage taugt wie das Universum angefangen hat.« Im bereits erwähnten Buch »Der große Entwurf« finden wir präzisiert (2010, S. 131): »Doch wenn wir weit genug in der Zeit zurückgehen, hat das Universum die Ausmaße der Planck-Größe, ein Milliardstel Billionstel Billionstel eines Zentimeters, und das ist eine Größenordnung, bei der die Quantentheorie berücksichtigt werden muss. Obwohl wir also noch keine vollständige Quantentheorie der Gravitation haben, wissen wir, dass der Ursprung des Universums ein Quantenereignis war.« Bei Urknall und schwarzen Löchern treffen allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik unvermeidbar aufeinander, weshalb das Streben nach Vereinheitlichung der Theorien eine der interessantesten Aufgaben der modernen Physik geworden ist. Greene (2008) äußert sich folgendermaßen (S. 379)2: »Laut der allgemeinen Relativitätstheorie wird alle Materie, aus der ein schwarzes Loch besteht, in einem einzigen winzigen Punkt in der Mitte des schwarzen Lochs zusammengepresst. Infolgedessen ist das Zentrum eines schwarzen Lochs sowohl außerordentlich massereich als auch unglaublich winzig und gehört daher auf beide Seiten der vermeintlichen Trennlinie: Wir müssen die allgemeine Relativitätstheorie verwenden, weil die große Masse ein beträchtliches Gravitationsfeld erzeugt, und wir müssen die Quantenmechanik heranziehen, weil die gesamte Masse auf einen winzigen Punkt zusammengepresst wird.«

3.2 Licht Licht stellt immer noch eine Herausforderung für die klassische wie für die Quantenphysik dar. Im Kapitel »Wissen« habe ich auf den historischen Streit, ob Licht als Welle oder Teilchen zu verstehen sei, 2 Siehe zu diesem Themenkomplex auch die DVD zum gleichnamigen Buch »Der Stoff, aus dem der Kosmos ist. Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit« (München: Polyband/WVG).

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hingewiesen. Der geniale Denker Feynman, der die Quantenelektrodynamik (QED) entscheidend mitbegründete, setzte sich sehr dafür ein, sich von der Wellennatur des Lichtes zu verabschieden. Brooks schreibt (2011, S. 13): »Die QED beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Licht und Materie und wird allgemein als erfolgreichste physikalische Theorie gefeiert.« So verführerisch es sein mag, sich Licht, also Photonen im Sinne von Lichtquanten, als Teilchen vorzustellen, lässt sich ein Lichtquant nicht mit Protonen, Neutronen oder Elektronen vergleichen, weil Photonen im Gegensatz dazu über keine Masse verfügen. Brooks führt aus (2011, S. 144): »Heute müssen wir uns Licht als Welle und als Teilchen vorstellen – oder als keins von beiden.« Erinnern wir uns an den Rabbi: »Beide haben recht!« Brooks weist darauf hin, als er zur berühmt gewordenen Schrödinger-Gleichung schreibt (S. 29): »Schrödinger-Gleichung heißt und beschreibt, wie sich ein Teilchen verhält, wenn man es als Welle behandelt.« Und später heißt es relativierend: »Anders gesagt: Schrödingers Formel beschreibt nicht das Quantenobjekt, sondern gibt lediglich an, was wir über dieses Objekt herausfinden können.« Das Kapitel »Was ist Licht« beschließt er dann so (S. 152): »Licht eröffnet uns Einblicke in das Universum und gibt uns Macht, unsere Welt zu verändern [er greift auf sein zuvor genanntes Beispiel des Laser zurück], aber sein Wesen entzieht sich unserer Kenntnis. […] Noch immer können wir Welle und Partikel nicht schlüssig unter einen Hut bringen. Dieses Rätsel, Dreh- und Angelpunkt der Quantentheorie, bleibt ein Rätsel und Licht ist … ein Welltikel!« Dieses Beispiel soll dazu ermuntern, Unklarheiten und ungelöste Streitfragen zu Schizophrenien, welche unsere kleine Fachwelt spalten und Neurobiologie und Psychotherapie rivalisieren lassen, vorerst nebeneinander stehen zu lassen.

3.3 Zeit Dass Zeit keine Konstante ist, wissen wir seit Einstein. Was sind Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Zeit? Wann und wie entstand Zeit? Gibt es sie überhaupt oder ist sie nur ein Phänomen für uns dreidimensionale Menschen? Zeit als vierte Achse des Koordinatensystems unserer Welt, in der wir leben, in der wir uns orientieren, zu betrachten, führt zu © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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unangenehmen Besonderheiten. Auf den üblichen Achsen eines Koordinatensystems mit Länge, Breite und Höhe können wir uns in jede Richtung bewegen. Auf einer Straße gehen wir vorwärts oder rückwärts, klettern auf den Baum oder fallen herunter. Im Gegensatz dazu zwingt uns die Zeit mit ihrer Achse in eine Bewegungsrichtung – nach vorn, in die Zukunft. Wir können physisch zeitlich nicht zurückgehen, dank unserer Erinnerungen in Gedanken schon. Brooks schreibt (2011, S. 19): »Der ›kosmologische Zeitpfeil‹ zum Beispiel beschreibt beginnend bei einem besonderen Zustand niedriger Entropie und hoher Ordnung die Entwicklung des Universums. […] Das Ende kommt, wenn alle Ordnung beseitigt ist; dann wird das Universum einen Zustand der allgegenwärtigen Ruhe erreicht haben, es wird tot sein – so formulierte es Lord Kelvin.« Wenn es einen Urknall gegeben hat, der ein Quantenereignis war und dem wir unser Universums in heutiger Form verdanken, war davor die Zeit schon da? Entstand Zeit erst mit oder irgendwann nach dem Urknall? Der Weg von Einstein zum Urknall führt über die Makrophysik und so über den Mathematiker Alexander Friedmann. 1922 wagte er aufzuzeigen, was geschieht, wenn man Einsteins »kosmologische Konstante« als Null annimmt. Seine Überlegungen zeigten die Möglichkeit eines veränderlichen Universums auf. Das wollte Einstein nicht wahrhaben. 1925 starb Friedmann. Er erlebte Einsteins Einsicht, die im Jahr 1931 erfolgte, nicht mehr. Der katholische Priester und Physiker Georges Lemaître ging einen Schritt weiter als Friedmann. Er legte 1927 erstmals die Idee des Urknalls vor, ohne allerdings diesen Ausdruck zu verwenden. Aus der damals bereits bekannten Erkenntnis, dass sich das Universum ausdehnt, folgerte er, dass es demzufolge irgendwann früher einen Ursprung gegeben haben muss. Roger Penrose und der wohl den meisten Lesern eher bekannte, bereits zitierte Stephen Hawking leiteten in den 1970er Jahren den Urknall erneut aufgrund von exakten mathematischen Überlegungen her. Man mag vielleicht erahnen, woher die Zeit in die Welt gekommen sein mag, aber was Zeit ist, wissen wir bis heute nicht. Brooks schreibt deshalb wohl zu Recht (S. 20): »[…] wir haben durchaus Gründe anzunehmen, dass es sie nicht gibt.« Trotzdem, Zeit bestimmt unser Leben in allen Belangen. Sie läuft nur in Richtung Zukunft und wir kennen Eigenschaften dieser Zeit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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»im Großen« durch die Beschreibung der Relativitätstheorie. Wie sehen die Eigenschaften der Zeit mit dem Blick aus der Mikrowelt der Quantenmechanik aus? Diese zeigt, dass die Zeit in dieser Dimension weitgehend keine Rolle spielen kann. Subatomare »Teilchen« existieren unabhängig von der benannten, für uns zwingenden Richtung der Zeit. Brooks sagt dazu (2011, S. 26): »Sie können sich nicht nur simultan rechts- oder linksherum drehen, sondern ihr Zustand kann sich auch simultan vorwärts und rückwärts in der Zeit entwickeln. […] Darüber hinaus verrät uns die spezielle Relativitätstheorie, dass sich masselose Teilchen wie Photonen und Gluonen (die für den Zusammenhalt von Atomkernen sorgen) mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und den Ablauf der Zeit überhaupt nicht ›spüren‹.« Dies ist ein weiteres großes Problem der Zeit. Blicken wir mit der klassischen Physik in die Vergangenheit bis zum Beginn des Universums, so verlieren wir die Zeit in »Urknallnähe«, das heißt in der »Planck-Ära« (Zeitpunkt null – wie auch immer dieser definiert wird – bis zur Zeit 10–43 Sekunde nach dem Urknall). Hier gilt die Relativitätstheorie noch nicht. Wenn wir mit der Quantenphysik exakt in die Zukunft blicken wollen, scheitern wir erneut. Diesmal unter anderem wegen der Heisenberg’schen Unschärferelation,welche uns daran hindert, Ereignisse mit Sicherheit und Gewissheit für einen Zeitpunkt (Geschwindigkeit des betreffenden Teilchens) an einem bestimmten Ort zu bestimmen. Unsere Welt funktioniert in der makroskopischen Betrachtung gemäß den heutigen Erkenntnissen der Naturwissenschaften determiniert. Daraus müsste sich einiges für die Zukunft exakt vorausberechnen lassen. Gemäß der Erkenntnisse der Quantenphysik ist das unmöglich, da die Zukunft undeterminiert und offen ist, Ereignisse in jedem Moment neu entschieden werden. Dazu Hawking in »Der große Entwurf« (2010, S. 70 f.): »Egal wie viele Informationen wir zur Verfügung haben oder wie es um unsere Rechenkapazität bestellt ist, die Ergebnisse physikalischer Prozesse lassen sich laut Quantenphysik nicht mit Bestimmtheit vorhersagen, weil sie nicht genau determiniert sind. Stattdessen bestimmt die Natur, auch wenn der Anfangszustand eines Systems gegeben ist, dessen zukünftigen Zustand durch einen Prozess, der prinzipiell ungewiss ist. […] Es könnte der Eindruck entstehen, die Quantenphysik untergrabe die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Idee, dass die Natur von Gesetzen regiert wird, doch das ist nicht der Fall. Sie zwingt uns lediglich dazu, neue Formen des Determinismus gelten zu lassen: Bei gegebenem Zustand eines Systems zu einer bestimmten Zeit, determinieren die Naturgesetze die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Zukünfte und Vergangenheiten, statt die Zukunft und Vergangenheit mit Gewissheit zu bestimmen.« Ein Hinweis auf die imaginäre Zeit soll hier nicht fehlen. Das Konzept der imaginären Zahlen aus der Mathematik lässt sich in ein Zeitmodell übernehmen. Es ist die Zeit, die zusätzlich zur reellen Zeit durch die imaginären Zahlen angegeben wird und die man sich als senkrecht zur reellen Zeitachse verlaufend vorstellen muss. Hawking schreibt in »Das Universum in der Nussschale« (2003, S. 66): »Man kann ein mathematisches Modell konstruieren, in dem die Richtung einer imaginären Zeit rechtwinklig zur gewöhnlicheren reellen Zeit verläuft. Die Regeln des Modells bestimmen die Geschichte in der imaginären Zeit abhängig von der Geschichte in der reellen Zeit und umgekehrt.« Die imaginäre Zeit wird in neueren Erklärungsmodellen unseres Universums benutzt, welche die Urknalltheorie mit der Einmaligkeit unseres Universums verlassen. Da stellen sich nicht nur Fragen zum einmaligen Zeitbeginn, sondern in radikaler Weise zur Existenz von Rändern des Raums und dem Dahinter oder Nichträndern unseres expandierenden Universums oder zu Hypothesen zu anderen existierenden Parallelwelten in einem alles umfassenden Multiversum und den Grenzen dazwischen, in welchem unsere Welt nur eine von vielen wäre. Damit sind wir definitiv beim Kapitel »Verrücktheiten« (3.4) angelangt. Ein kurzer Abstecher zur Materie, Antimaterie und Masse bringt uns zu solchen Modellen, insbesondere den wichtigen quantenphysikalischen Ideen von Feynman. Diese basieren auf seiner Annahme, dass alle Wege eines Quants in der Vergangenheit gegangen werden, die im Rahmen der Summe aller möglichen Pfade enthalten sind. Sie ist bekannt unter seinem Begriff der »Summe über alle Geschichten« (Greene, 2008, S. 212) respektive in der Fachwelt unter der »PfadIntegral-Methode« (Vaas, 2012, S. 96). Unsere Realität ist chaostheoretisch betrachtet wegen ihrer hohen Wahrscheinlichkeit aus allen vorstellbaren Varianten nur eine Mög© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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lichkeit, für unsere Wahrnehmung jedoch die scheinbar einzige. Konkreter auf das Doppelspalt-Experiment angewendet hieße das, dass ein Photon, welches durch zwei, drei, hundert oder unendlich viele mögliche Spalten hindurchgehen kann, unbeobachtet auch alle möglichen Wege beschreitet. Was mit den mathematischen Wahrscheinlichkeitswolken im Moment unseres Beobachtens passiert (Kollaps der Wahrscheinlichkeit auf null), kann verständlich in Hawkings Werk »Der große Entwurf« und in Greens Buch »Der Stoff, aus dem der Kosmos ist« nachgelesen werden. Zurück zum Thema »Wir, schizophrene Menschen und unsere verschiedenen Welten«. Was ist Zeit in unserer Empfindung und worauf basiert diese Wahrnehmung? Brooks weist darauf hin (2011, S. 17), dass das Striatum (Teil der Basalganglien, die zum Großhirn gehören) zwar zuständig für unsere subjektive Zeitwahrnehmung ist, nur: Die Zeitmessung des Gehirns ist nicht konstant und hängt wesentlich von unserem Bewusstsein ab. Deshalb muss unser subjektives Erleben von Zeit für physikalische Überlegungen beiseite geschoben werden. Nicht so bei Betrachtungen der Welten schizophrener Menschen: Hier stellt die manchmal extrem veränderte Zeitwahrnehmung eine wesentliche psychopathologische Eigenschaft der Krankheit dar. Qualitäten der Zeitempfindung, wie wahnhaft verändert sie sein können, verlangen in der psychoanalytischen Behandlung unsere volle Aufmerksamkeit, weil sich uns die »Mehrzeitigkeit« und andere pathologische Zeitqualitäten eröffnen, wenn wir Patienten dazu und zu ihrem Umgang damit befragen. In manchen Zuständen subjektiven Erlebens können mehrere Zeiten gleichzeitig nebeneinander, übereinander oder sich vermischend bestehen. Die Zeit kann stehen bleiben oder rückwärts laufen.

3.4 Informationstheorie und Verrücktheiten der Quantenphysik 3.4.1 Ausgangsfragen

Betrachten wir den möglichen Beginn unseres Universums durch den Urknall. Wir wissen seit Hubbles Beobachtungen, dass das Universum expandiert und zu allem Elend, dass Galaxien sich schneller von uns wegbewegen, je weiter entfernt sie von uns sind. Wie soll man das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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verstehen? Wohin führt das in weiter Zukunft? Gibt es irgendwann eine Umkehr und das Universum kollabiert in einem Punkt unendlicher Dichte? Geht die Expansion ewig weiter? Woher bedient sich das Universum energetisch, um all das zu leisten? Erreicht es irgendwann einen »steady state« und bleibt einfach in einem Gleichgewicht der Kräfte stehen? Und was geschähe weiter? Welche Rolle spielen die postulierte, aber nie bewiesene mysteriöse dunkle Materie und die dunkle Energie? Wie entstand nach dem Urknall Materie, wo doch Antimaterie und Materie sich gegenseitig aufheben sollten (Annihilation)? Ist der Urknall als Ausgang einer symmetrischen Entwicklung zu verstehen, wo Antimaterie und Materie wirklich in gleichen »Mengen« entstanden? Wenn ja, wo geschah dann der Bruch, der die Symmetrie zu Gunsten der Materie verschob, und warum? Sacharow, Feynman, Hawking, Witten und andere fanden mögliche quantentheoretische Erklärungsmodelle, welche diese Phänomene theoretisch verständlicher machen. All diese »Verrücktheiten« sind logisch und mathematisch nachvollziehbar. Tauchen wir ein in die Welt der kleinsten Teilchen. 3.4.2 Vom Teilchen zur Informationstheorie

Das Atom ist definitiv nicht das letzte unteilbare Teilchen. Das wissen wir. Betrachten wir einen Kern eines Atoms genauer. Seine Bausteine sind Neutronen und Protonen und die dazwischen wirkenden Kräfte, weiterhin seine ihn »umkreisenden« Elektronen (negativ geladene Teilchen). Woher die Masse der Elektronen kommen soll, ist eines der spannenden, weitgehend ungelösten Probleme der Physik. Der Atomkern selbst besteht also aus Protonen (positiv geladene Masseteilchen) und Neutronen (ungeladene Masseteilchen). Warum stoßen sich aber die positiv geladenen Teilchen im Kern nicht gegenseitig ab? Das hängt mit starken Kräften, den starken Wechselwirkungen im Kerninneren zusammen, welche der Abstoßung entgegenwirken müssen. Um das zu verstehen, brauchte es die weitere Aufsplittung der Nukleonen (Protonen und Neutronen zusammen) in subatomare Quarks. Davon gibt es diverse Sorten mit eigenartigen Namen wie Strange, Bottom, Top, Up und Down. Protonen setzen sich aus einem Down- und zwei Up-Quarks zusammen: Neutronen aus einem Up- und zwei Down-Quarks. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Obwohl wir das inzwischen wissen, lüftet sich das Geheimnis, was Masse eigentlich ist und was im Kerninneren geschieht, nicht wirklich. Die Up- und Down-Quarks zusammengezählt machen nämlich nur etwa 1 % der Nukleonenmasse aus. Der Rest muss nach der Relativitätstheorie die Energie sein, welche die Quarks zusammenhält. Dies ist ein Thema der Quantenchromodynamik (QCD). Das aus der Antimaterie zugehörige (Anti-)Paar zu den Quarks sind die Antiquarks. Sind Materie und Antimaterie beim Urknall zu gleichen Teilen entstanden oder nicht? Wenn ja, stellt sich die heikle Frage, warum sich diese nicht vollständig gegenseitig aufgelöst haben? Wie konnte Materie überhaupt entstehen? Wenn Materie und Antimaterie zusammentreffen, heben sie sich auf. Woher also kommt der Rest, aus dem »unsere« Materie, unser Universum, Galaxien, also auch die Erde und wir Menschen entstehen konnten? Hatte es im Rahmen des Urknalls ein Ungleichgewicht gegeben? War die Verteilung von Materie und Antimaterie aus irgendwelchen Gründen doch nicht gleich? Brooks und Greene beschreiben die Entwicklung dieser Fragestellung und die möglichen Antworten ausführlich. Andrej Sacharow gab Ende der 1960er Jahre eine mögliche Antwort auf die Frage der Herkunft der heute bestehenden Materie. Die »schwache Wechselwirkung« (Kraft im Kern, die auch für den radioaktiven Zerfall sowie weitere Prozesse im Kern verantwortlich gemacht wird) soll Materie »etwas anders« beeinflussen als die Antimaterie. Dadurch unterscheiden sich die physikalischen Gesetze für Materie und Antimaterie minimal, was dazu führt, dass die physikalischen Erhaltungssätze wie für Impuls und Energie nicht auf Prozesse angewendet werden dürfen, wenn beide daran beteiligt sind. Welches sind die Vorgänge, die das Gleichgewicht zur Asymmetrie hin verschieben, so dass Materie »überleben« konnte? Weitere Teilchen wurden postuliert, welche beim Urknall entstanden sein sollen und zunächst ideale Bedingungen vorgefunden haben. Wegen dem inzwischen erkalteten Universum finden wir sie heute nicht mehr. Ein solches Teilchen soll nun das Majoron sein, welches dafür sorgte, dass sich das Universum damals nicht völlig durch die Annihilation »leerte«– und zwar deshalb, so jedenfalls die Annahme, weil es die Symmetriegesetze nicht befolgte. Das bedeutet, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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dass nicht bei jedem Zerfallsprozess gleich viele Materie- und Antimaterieteilchen entstehen. Brooks dazu (2011, S. 170): »Das Majoron zerfällt mit der Zeit in Neutrinos – winzige ungeladene Partikel, die mit knapp Lichtgeschwindigkeit im All herumfliegen – und Antineutrinos, sieht sich aber nicht gezwungen, gleiche Mengen von beiden freizusetzen. Zu ihren Lebzeiten treffen die Neutrinos und Antineutrinos auf Elektronen und Positronen, wobei Quarks und Antiquarks entstehen. Gibt es anfangs mehr Neutrinos als Antineutrinos, dann bekommt man auch mehr Quarks als Antiquarks. Nach der Annihilation bleiben Quarks übrig. Die Lösung klingt nett. Leider gibt es ein Haar in der Suppe: Sie ist nicht bewiesen. Niemand hat bisher ein Majoron direkt beobachtet. Indirekte Hinweise erhoffen sich die Physiker vom LHC am CERN.« Übrigens brachten 2011 Neutrinos große Unruhe in die Welt der Physik. Bei Messungen im CERN sollen einige Neutrinos schneller gewesen sein als Licht. Im Wissensteil des Tagesanzeigers vom 24. September 2011 (Grotelüschen, 2011, S. 54) finden wir unter der Überschrift »Hat Einstein sich geirrt?« Folgendes: »Eigentlich soll Opera (Messstation im Gran-Sasso-Labor im italienischen Teil des LHC) feststellen, inwieweit sich unterschiedliche Neutrinosorten während des Fluges verwandeln können. Doch der Detektor taugt auch für eine präzise Geschwindigkeitsmessung. […] Als die Experten die Daten analysierten, kamen sie zu einem verblüffenden Ergebnis. ›Die Neutrinos kamen 60 Nanosekunden, also 60 Milliardstel Sekunden, früher am Detektor an als erwartet, waren also schneller als das Licht.‹« Hätte dem nicht ein Messfehler zugrunde gelegen, der 2012 nachgewiesen werden konnte, hätte dies eine Widerlegung von Einsteins spezieller Relativitätstheorie bedeutet! Moderne Theorien wie die Stringtheorien/M-Theorie sehen das Entstehen von Massen und verschiedenen Teilchen als Produkt von Schwingungen der Strings. Greene legt dar (2008, S. 399): »Doch Einsteins Gleichung (E = mc2) lässt sich ohne Weiteres auch umkehren – so, dass Masse aus Energie produziert wird. […] In der Stringtheorie ist die Masse eines Teilchens nichts als die Energie seines schwingenden Strings. Den Umstand, dass ein Teilchen schwerer ist als ein anderes, erklärt die Stringtheorie beispielsweise damit, dass der String, der das schwerere Teilchen bildet, rascher und heftiger © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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schwingt als der String, der das leichtere Teilchen bildet. Rasche und heftigere Schwingungen bedeuten höhere Energie, und höhere Energie übersetzt sich dank Einsteins Gleichung in größere Massen.« Zurück zur Vor-Stringzeit: Was erwartet uns, wenn wir jedes neu gefundene Teilchen in seine Bestandteile zerlegen und bei der Masselosigkeit angelangt sind? Eine gewichtige Annahme ist, dass wir unweigerlich zur Information und zur Frage nach Realität vordringen. Brooks schreibt im Kapitel »Was ist das wahre Wesen der Realität?« (2011, S. 191): »Die großen vereinheitlichten Theorien sind schön und gut, und auch die Jagd nach der Quantengravitation, die die Wissenschaft des winzig Kleinen mit der Wissenschaft des Riesengroßen verbindet, ist aufregend und sinnvoll. Aber nichts davon beantwortet die Frage: Woraus besteht die Realität?« Der Mathematiker Roger Rosen schlug drei Komponenten vor, um das Verständnis von Realität näher zu betrachten. Diese seien untereinander durch eine zwingende zyklische Abhängigkeit verknüpft. Die Dreieinigkeit bestehend aus der »physikalischen Realität«, der »geistigen Realität« und der »mathematischen Realität«. Seine Argumentation findet sich im selben Kapitel von Brooks. Zusammengefasst (2011, S. 192 f.): »Die ›physikalische Realität‹ ist nur erkennbar durch die von unseren Gehirnen konstruierte ›geistige Realität‹ (das Bewusstsein) und lässt sich nur beschreiben, wenn wir davon ausgehen, dass die Formeln und Gesetze der Physik aus einer ›mathematischen Realität‹ stammen, die parallel zur physikalischen Welt existiert. […] Information haben wir im Gehirn, mit Mathematik können wir sie manipulieren und mit physikalischen Dingen ist sie untrennbar verbunden.« Auf schizophrene Menschen und ihre Gehirne übertragen bedeutet dies, dass bereits der Punkt »geistige Realität«, der die subjektiv erlebte »physikalische Realität« beeinflusst, die dadurch verschieden der unseren wird, eine Inkompatibilität darstellt, die nicht einfach korrigiert werden kann, wie dies heute von der Neurobiologie und damit gekoppelt der Verhaltenstherapie hoffnungsvoll suggeriert wird. Unter diesen Realitäten soll die Information als Basis der Dreieinigkeit liegen. Information als letzte und unterste Stufe der Kaskade? Rolf Landauer postulierte, dass Informationen physikalisch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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seien, weil jede Information an ein physikalisches System gebunden ist. Physiker animierte das, die Umkehrung seiner Aussage zu prüfen: Stimmt auch, dass alles Physikalische letztendlich Information ist? Brooks zählt drei Gründe auf, welche eine solche Annahme sinnvoll erscheinen lassen (2011, S. 194): »Der erste ist der Fakt, dass Information auf geisterhafte Weise mit den Grundgesetzen des Universums verknüpft zu sein scheint.« Wieder spielt die physikalische Grenze, die Lichtgeschwindigkeit eine Rolle. Könnte der Grund für die Begrenzung der Geschwindigkeit des Lichtes vielleicht auch die begrenzte Geschwindigkeit von Informationen sein? Betrachten wir dazu den Begriff Bit (»binary digit«) aus der Computerwelt, die Maßeinheit für die Übertragung und Speicherung von Informationen. Brooks dazu (2011, S. 195): »Eine zweite wesentliche Kerngröße der Informationstheorie ist die Bandbreite eines Kanals. Sie gibt an, wie viele Bit pro Sekunde eine bestimmte Verbindung durchlaufen können.« Claude Elwood Shannon zeigte, dass eine Obergrenze für die Geschwindigkeit existiert, mit der Informationen verlustfrei durch einen »Kanal« geleitet werden können. Das wird Shannon-Limit genannt. Wie ähnlich das den Gesetzen der Physik zum Licht und seiner Geschwindigkeit ist! Brooks fährt fort (S. 195): »Je näher man dieser theoretisch möglichen Geschwindigkeit kommt, umso schwerer ist es, die Geschwindigkeit noch zu steigern. Was sollte die Ursache dieser Analogie sein? Hängt Information, wie das Licht, unmittelbar mit der Grundstruktur der physikalischen Realität zusammen?« Ein zweiter guter Grund anzunehmen, dass alles Physikalische auch Information ist, bietet die Physik der schwarzen Löcher mit Hawkings Betrachtungen und seinem Beitrag zur Frage, was mit Informationen geschieht, die in schwarzen Löchern vorhanden sein müssen, da keine Informationen verloren gehen können, analog dem Energieerhaltungsprinzip? Brooks erläutert (2011, S. 195): »Nichts, was einmal die Grenze des ›Ereignishorizonts‹ – des kugelförmigen Volumens, das ein schwarzes Loch umgibt – überschritten hat, kommt je wieder zum Vorschein. Anders ausgedrückt: Schwarze Löcher sind Informationssenken. Alles, was sie verschlucken, trägt Information in Form von Atomzuständen, Teilchenspins und so weiter. Was passiert mit dieser Information?« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Die Konklusionen, die aus jahrelanger Forschung dazu gezogen werden können, fasst Brooks zur Frage »Wo ist die Information hingelangt?« (S. 196) zusammen: »In diesem Sinne könnte unsere räumliche Realität als Projektion der Informationen aus der zweidimensionalen ›Hülle‹ des Universums zustande kommen. Mit anderen Worten: Alles, was Sie für physikalisch real halten, ist in Wirklichkeit ein Abbild von Information.« Die Quantenphysik liefert weitere Gründe, sich dem Thema Information und Physikalität zuzuwenden. Sowohl die Quanten- wie auch die Informationstheorie beziehen sich auf unteilbare Größen (Quant und Bits). Was könnte das Bindeglied zwischen den beiden sein? Brooks schreibt dazu (2011, S. 197): »Die Seltsamkeit der Quantenwelt könnte daraus erwachsen, dass der Informationsgehalt eines Quantenteilchens begrenzt ist.« Damit hätten wir gute Gründe anzunehmen, dass Information die Basis des Physikalischen ist oder wie Hans-Peter Dürr es ausdrückte (2009, S. 95): »Die ursprünglichen Elemente der Quantenphysik sind ›Beziehungen der Formstruktur‹. Sie sind nicht Materie. Wenn diese Nicht-Materie gewissermaßen gerinnt, zu Schlacke wird, dann wird daraus etwas Materielles.« Beziehung der Formstruktur wiederum muss als Information verstanden werden, womit sich der Kreis schließt. Den Höhepunkt der Verrücktheiten stellen die Verschränkung sowie die damit verknüpfte Teleportation von Teilchen wie zum Beispiel Photonen dar. Beide basieren auf dem »spukhaften« Zusammenhang zwischen Information und Quant. Experimentelle Nachweise der Teleportation auf der Basis der Verschränkung sind bereits 1997 von zwei Teams erbracht worden: an der Universität in Innsbruck unter der Leitung von Anton Zeilinger und an der Universität in Rom unter der Leitung von Francesco De Martini. Detailliert und spannend nachzulesen sind diese Experimente mit den vielen logistischen und Denkproblemen, die sich dabei stellten, im Buch von Greene (2008, S. 494–499). Mit Hilfe der zwei Observatorien der Kanarischen Inseln auf La Palma und Teneriffa forscht Anton Zeilinger intensiv experimentell zu Verschränkungen. Zwei bildliche Darstellungen dazu finden sich in Zeilingers Buch »Einsteins Spuk« (2005, S. 95, S. 244). Verschränkung wird im Glossar von Brooks (2011, S. 204) so © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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beschrieben: »Phänomen, dass bei der Wechselwirkung zweier Quantenteilchen auftritt: Die Verbindung führt dazu, dass jedes einzelne Teilchen Informationen über den Zustand beider Teilchen enthält.« Das Erstaunliche daran ist, dass sich diese Teilchen unendlich weit voneinander entfernt befinden könnten, so dass kein Transfer vom einen zum anderen physikalisch möglich wäre, da nicht einmal mit Lichtgeschwindigkeit transportierte Information das andere Teilchen schnell genug erreichen könnte, und trotzdem tragen beide Teilchen die verschränkte Information, aber erst dann, wenn bei einem Teilchen gemessen wird. Wie ist das möglich? Eben eine Verrücktheit, die sich unserem alltäglichen Verstehen entzieht. Ob, wie Nils Bohr postulierte, sich die Verschränkung aus der Quantenmechanik ergibt, durch die Messung hervorgerufen wird oder, wie Einstein »fälschlicherweise« annahm, die Messung nur die sowieso vorhandene, wenn auch ungewusste, aber bereits bestehende Information bestätigte, wurde erst nach seinem Tod zu Gunsten der Quantenphysik, also zu Gunsten von Bohr entschieden. Wir können Quantenphysik herleiten, beweisen, aber kaum wirklich verstehen. Zeilinger erzählt in seinem Buch »Einsteins Spuk« die fiktive Geschichte zweier Studenten, die sich spielerisch, humorvoll und Schritt für Schritt der Quantenphysik und der Verschränkung annähern. Mit etwas Bereitschaft, sich in die Welt mathematischer Logik entführen zu lassen, tut sich dem Leser eine unglaubliche Welt auf. Schon das Verstehen der Relativitätstheorien erfordert von uns eine Loslösung von unserem gewohnten intuitiven Verstehen. Einiges mehr ringt uns diesbezüglich die Quantenphysik ab. Zum Abschluss des Abschnitts Quantenphysik einige Bemerkungen zu Inflation, den fünf Stringtheorien, welche versuchen, eine Brücke zwischen den Widersprüchen von allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu schlagen. Danach gelangen wir wieder zu den schizophrenen Menschen und ihren »verrückten« Welten. 3.4.3 Inflation nach dem Urknall

Warum ist das Universum so ideal konstruiert, dass Galaxien und wir Menschen entstehen konnten? Warum kollabiert das Universum nicht irgendwann, bedingt durch die gewaltige Krümmung des © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Raums, wie es das bei hoher Konzentration von Masse und Energie gemäß Einstein tun müsste? Warum expandiert es und warum bewegen sich Galaxien schneller von uns weg, je weiter entfernt sie sich von uns befinden? Wie ist es möglich, dass die Temperatur im Universum an dessen entgegengesetzten »Enden« (fast) gleich sein soll? Da Wärme in Form von Photonen transportiert wird, diese sich maximal mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen können, hätte die Zeit gar nicht gereicht, die Wärme von einem Ende zum anderen zu transportieren, um auszugleichen. Brooks erläutert (2011, S. 88 f.): »Zu Beginn der 1980er Jahre entledigten sich die Physiker beider Probleme mit einem Streich. Das Zauberwort hieß ›Inflation‹: Unmittelbar nach dem Urknall soll das Universum eine Periode superschneller Ausdehnung durchlaufen haben. Obwohl niemand sagen kann, wie und warum dies geschehen ist, klingt die Idee vernünftiger als alle Alternativen; sie erklärt immerhin die Nivellierung der Temperatur und die Flachheit des Universums. Fast drei Jahrzehnte hatten die Leute seitdem Zeit, mit verschiedenen denkbaren Mechanismen der Inflation herumzuspielen. Das populärste Szenario ist die ewig währende Neuentstehung von Universen. […] Das klingt fantastisch, nicht? Gewaltigen Rückenwind bekam die Hypothese dann auch noch von den Stringtheoretikern, die damit ihre eigenen Probleme lösen konnten.« Es bleiben viele offene Fragen. Imaginäre Zeit und die »ewige« Inflation, wie sie genannt wird, sind zumindest Hypothesen, die vieles mathematisch nachvollziehen lassen und Anlass zu Theorien geben. So sind wir wieder bei der Beziehung zwischen Psyche und Schizophrenien angelangt. Obwohl bis heute so viel Wissen und manche Hypothesen des Verstehens generiert wurden, gibt es mehr offene Fragen als befriedigende Antworten. 3.4.4 Fünf Stringtheorien und Multiversen

Brooks (2011) lässt uns wissen, dass die Stringtheorie bereits 1968 Thema gewesen sei, aber vorerst in ihrer Bedeutung verkannt wurde, in Vergessenheit geriet und der Standardtheorie Platz machen musste. Gründe dafür waren, dass Materie aus zwei Gruppen von Elementarteilchen besteht, den Fermionen (die Materieteilchen wie Quarks © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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und Elektronen) und den für die Wechselwirkung zuständigen und nachgewiesenen Bosonen. Die Entdeckung des fünften fundamentalen bosonischen Teilchens, das berühmt gewordene Higgs-Teilchen (außerdem gibt es Photonen, Gluonen, W- und Z- Teilchen) bzw. ein Higgs-ähnliches Teilchen, wurde im Sommer 2012 vom CERN verkündet. Sollte sich dies in einem unabhängigen weiteren Versuch nachweisen lassen, so ist das Letzte der Bosonen »Realität« der Physik. Die Stringtheorie konnte keine Aussagen zur Existenz und Verhalten von Fermionen machen. Stringtheoretiker wollen Relativitätstheorie und Quantenphysik unter ein Dach bringen, daher müssen Fermionen in der Theorie erklärt werden können. Die Stringtheorie hätte damals noch 25 Raumdimensionen zulassen müssen, Teilchen postulieren, die zum einen nie zur Ruhe kommen und sich zudem in Überlichtgeschwindigkeit hätten bewegen müssen. Grundsätzlich baut die Idee der Strings darauf auf, dass Materie nicht mehr nur als »Materiekügelchen« zu verstehen sei, sondern als eindimensionale Fäden, welche durch ihre eigene Energie in Schwingungen geraten und sich mit Energiegewinn verlängern und bei Energieverlust verkürzen. Damit taten sich neue Dimensionen des Verstehens auf. Sie postulierten, dass alle Materie aus Strings (kleinen schwingenden »Fäden« als Energiebündel) besteht. Die Schwingungsfrequenz würde dann entscheiden, welche Form von Materie man vor sich hat. Als Brücke zur Teilchenphysik stellten Theoretiker sich vor, dass solche Fäden, wenn sie aufeinander treffen, verschiedene neue Schwingungsspektren ergeben, welche wir als subatomare Teilchen feststellen können. 1970 wurde die Stringtheorie durch Pierre Ramond wiederbelebt, als er aufzeigen konnte, dass es Stringvibrationen gibt, welche zu Fermionen passen, sich die anfänglich notwendigen 25 Raumdimensionen auf neun reduzieren lassen und Überlichtgeschwindigkeit für Teilchen überflüssig ist. Bald tauchte eine Lösung für die noch störende zentrale Frage dieser Stringtheorie auf, dass Teilchen nicht aufhören durften, sich zu bewegen. Der Durchbruch gelang mit den Licht- und Gravitationsquanten: »Die Stringtheorie ordnet den beiden Enden eines Strings ein Teilchen bzw. sein Antiteilchen zu, beispielsweise ein Elektron und ein Positron. Die Vibrationen der Strings tragen die Kraft, die zwischen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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diesem Ladungsträgerpaar wirkt. Strings können in zwei Teile zerfallen und miteinander kollidieren. Dabei bilden sich gelegentlich in sich geschlossene Schleifen, mit denen keine Ladung verbunden ist, sondern eine Kraft, wie wir sie von der Gravitation kennen« (Brooks, 2011, S. 155 f.). Das war eine Sensation! Einsteins Verständnis von Gravitation kann so mit der Stringtheorie erklärt werden. Es war die Geburtsstunde für Ideen zur Quantentheorie der Gravitation. Eine gute Ausgangslage, auch wenn sich seither nichts wirklich Überzeugendes daraus ergeben hat. Ein Schatten legt sich über die Begeisterung. Wo sind die weiteren sechs Dimensionen, welche die Stringtheorie fordert, von unserer dreidimensionalen Welt aufwärts bis zur neunten Dimension? Brooks schreibt (2011, S. 157): »Ein Antwortversuch lautet, kurz gefasst: Aus unserer Perspektive sind die Extradimensionen ganz eng aufgerollt oder ›kompaktifiziert‹. Wenn Sie aus großer Entfernung auf einen Gartenschlauch blicken, erscheint er Ihnen nicht räumlich, sondern als Linie, als eindimensionales Gebilde. So, sagen die Stringtheoretiker, sollen wir uns die zusätzlichen Dimensionen vorstellen. Sie sind da, aber sie beeinflussen unsere Wahrnehmung des Raums nicht. […] Die Stringtheorie beschreibt demzufolge nicht ein einziges (unser) Universum, sondern sehr viele Universen, die sich alle ein klein wenig voneinander unterscheiden, Myriaden von Welten jeder Größe und Gestalt.« Es fanden sich im Laufe der Zeit fünf Stringtheorien, welche alle mathematisch richtig, allerdings auch weiterer Anlass für prinzipielle Zweifel am Ansatz waren. 1995 zeigte Edward Witten in genialer Weise, dass alle fünf Theorien nichts weiter sind als fünf Möglichkeiten einer einzigen Theorie, die unter dem Namen »M-Theorie« bekannt geworden ist und mit zehn Raumdimensionen (beziehungsweise 11) auskommt (Greene, 2008, S. 426). Was für einen Sinn macht all das? Brooks schreibt (2011, S. 157): »Kritiker sagen, die Stringtheorie sei keine ›Theorie von allem‹, sondern eine ›Theorie des Beliebigen‹ – des x-Beliebigen. […] Viele ihrer Anhänger weisen diese Einwände rundweg zurück. Die Stringtheorie, halten sie dagegen, liefere derart viele Universen, weil es vielleicht eben derart viele gibt.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Bezüglich der Multiversen belasse ich es bei der Erklärung aus dem Glossar von Brooks (2011, S. 202): »Universum, das aus Myriaden eigenständiger Universen besteht, zwischen denen keine Verbindung existiert, die einen Übergang vom einen ins andere ermöglichen würde.« Hawking und auch Greene gehen auf die Theorie der Multiversen in ihren Bücher verständlich und ausführlich ein. Physik spielt jede Sekunde in unserem Leben eine Rolle. Handy, Laser, Auto, Flugzeug: Darüber wissen wir Bescheid und können damit umgehen, aber nur sehr wenig davon verstehen. Theorien der Physik, egal wie durchgeknallt sie uns erscheinen mögen, sind keine Stammtischgespräche über Möglichkeiten, sondern auf vielen Ebenen durchdachte Gedanken zu uns und unserem Universum im Kleinen und Großen, die, um ernst genommen zu werden, den unbestechlichen mathematischen Gleichungen genügen und daraus gefolgert werden müssen. Mit dem Thema »Multiversen« sind wir am Ende meiner Ausführungen zur Physik angelangt, es bildet eine Brücke, um zu den schizophrenen Menschen und ihren »Multiversen« zu gelangen.

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4.1 Vorbemerkung Zurück daheim! So geht es mir nach dieser weiten Reise durch »fremde Länder«. Das Verstehen schizophrener Menschen ergibt sich aus der therapeutischen Annäherung und Zusammenführung von zwei inkompatiblen Welten: die Sicht des schizophrenen Menschen aus seiner Innenposition und die des Therapeuten aus der Außenposition. Das gemeinsame Dritte entsteht im dualen Raum, welchen der Therapeut anbietet und ihn an die Möglichkeiten des Gegenübers anpasst, indem er diesen gemeinsam mit ihm flexibel definiert. Im »dualen Raum« soll sich der therapeutische Prozess entwickeln. Voraussetzung einer erfolgreichen Behandlung ist ein gemeinsam geschaffenes Verständnis in einer gemeinsamen Sprache, dem Psychodialog, welcher inhaltlich für Außenstehende manchmal kaum zu durchdringen ist. Dieser bildet die Brücke der Verständigung, eine Vorstufe zur Brücke des Handelns. In jeder Therapie entsteht ein einmaliges, individuelles »Kunstwerk«, ein Unikat, das in jeder neuen Behandlung mit einem anderen schizophrenen Menschen erfunden und gebaut werden muss. Oberflächlich gleicht dies konzeptuell der in letzter Zeit vermehrt angepriesenen »personalisierten Medizin«. Das täuscht. Personalisierte Medizin ist der Begriff für eine pharmokologische Behandlung, die auf das individuelle Genom des Patienten abgestimmt wird. Sie versucht eine ihm und seinem Genom Rechnung tragende, also (teil-) maßgeschneiderte Therapie in der somatischen Medizin anzubieten. Dafür wird am passiven Patienten bestimmt und gemessen. Genom ist allerdings nicht Person und nicht gleich Persönlichkeit. In der psychoanalytischen Schizophrenietherapie hingegen geht es um eine Behandlung, die ebenfalls maßgeschneidert entworfen, aber gemeinsam aktiv aus der Therapiebeziehung heraus entwickelt wird. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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An einfachen Fallbeispielen aus meiner Klinik- und Praxiszeit zeige ich auf, was aus gemeinsamer Realität und gemeinsamem Verstehen resultieren und sich weiterentwickeln kann, ich erläutere, wie ich mit meinem Teil der Beziehung umgehe. Anhand dieser therapeutischen Reflexionen soll deutlich werden, wie wir (gerade auch in heiklen Situationen) gegenseitig konstruktiv Einfluss aufeinander nehmen können und dass dies nicht zufällig und beliebig geschieht. Ich verzichte auf die Darstellung hochkomplex geführter Psychodialoge innerhalb der Wahnwelten schizophrener Menschen, wie ich sie in »Identitätsgrenzen des Ich« ausführlich dargestellt habe. Ich müsste parallel zum Geschehen aus der Außensicht die Innenwelt des Gegenübers so erklären, wie ich diese verstehe und interpretiere, um anschließend in jedem Beispiel das Entstehen des Gemeinsamen darzulegen. Die faszinierende Verwandlung vom »Verrückten« über ein gemeinsam Verrücktes zur Realität käme so sicher zum Tragen. Ob das allerdings auch dem Verstehen im breiteren Rahmen dienen könnte, bezweifle ich. Deshalb beschränke ich mich auf kurze Einblicke. Aus meinem Buch »Identitätsgrenzen des Ich« (2008, S. 126) verwende ich das erste Beispiel. Dort nahm es den Platz einer nebenbei erwähnten Episode ein. Hier führe ich diese mehrjährige »Straßenbeziehung« zu einem schizophrenen Mann detaillierter aus. Das zweite und dritte Beispiel eines anderen schizophrenen Patienten entstammen der ambulanten Therapie. Bedingt durch die unterschiedlichen Beziehungen lässt sich der Unterschied in der Tiefe und Qualität des Verstehens aufzeigen. Leider fand nur der eine dieser Patienten den Weg zu mir in eine nachhaltige und erfolgreiche Therapie. Der andere blieb bis zuletzt auf freundlicher Distanz, was für ihn bereits viel war. Dennoch entwickelte sich auch hier eine Form eines stabilen kleinen »dualen Zimmerchens« mit zwar schwachen, aber dennoch genügend starken Bindungskräften, die sich wenigstens einmal und für kurze Zeit in einer Notsituation für den Patienten bezahlt gemacht haben. Das zweite und dritte Beispiel gibt besonderen Einblick in den Fortschritt innerhalb weniger Wochen. Es beleuchtet das progressiv-wahnhaft verarbeitete Selbstverständnis aus seiner individuellen Innensicht. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Ein kurzer SMS-Austausch, welcher im Anschluss an eine Therapiestunde stattfand, beschließt die Reihe der Beispiele. Der sich so »normal« lesende SMS-Dialog einer heute über 40-jährigen Patientin ist für sie alles andere als Selbstverständlichkeit. Ich begleite sie psychiatrisch-psychotherapeutisch seit über 17 Jahren. Die lange Therapiedauer mag zuerst erschrecken. Deshalb ist zu erwähnen, dass sie mir seinerzeit als »hoffnungsloser Fall« einer schizophrenen Autistin zugewiesen wurde. Zuvor wurde mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Psychiatrie verzweifelt und leider erfolglos versucht, sie zu behandeln. Unsere Arbeit lohnte sich für beide. Es stellte sich heraus, dass sie doch kein hoffnungsloser Fall war. Ich habe viel an und von ihr gelernt und sie lebt heute ein nach außen hin fast normales Leben. Die einzelnen Geschichten stelle ich zuerst ohne ausführliche Kommentare dar und begnüge mich mit erklärenden Hinweisen. Anschließend benutze ich eine Bildersprache, um die Geschichten des aus der Außensicht Unverständlichen zugänglicher zu machen. Danach diskutiere ich das Thema Verstehen aus Innen- und Außensicht kurz und allgemein, wobei dem Leser die Verbindung zu den Beispielen nicht schwerfallen dürfte.

4.2 Vier Fallbeispiele 4.2.1 Erste Geschichte

Ein Patient einer Langzeitstation für »schwere Fälle« verführte mich fast unbemerkt langsam aber sicher dazu, seine jahrelang von ihm allein besetzte autistische Wahnwelt zu besuchen und eine spezielle Form der Beziehung mit ihm einzugehen. Frühmorgens auf meinem täglichen Weg von meinem Büro- und Praxisraum durch die Klinik zu einer meiner Stationen kam ich unweigerlich an ihm vorbei. Er lehnte sich oft stundenlang aus dem geöffneten Fenster seines im untersten Stock gelegenen Zimmers und beobachtete das Geschehen. Zu Beginn ignorierte er mich, fluchte meist unverständlich vor sich hin. Ich grüßte ihn beim Vorbeigehen jeweils freundlich. Irgendwann begann er mir beim Vorbeigehen eine Frage nachzurufen. Es ging in Varianten immer um dasselbe Thema: »Wann ist © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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der genaue Zeitpunkt des bevorstehenden Untergangs der Welt?« Einmal blieb ich intuitiv stehen, sein Dialogangebot etwas intensiver wahrnehmend, und fragte zurück, wie er eigentlich zu seinem Wissen käme (nicht Befürchtung, sondern Wissen, da er sonst Zweifel hätte heraushören können und sich wohl zurückgezogen hätte), dass die Welt demnächst untergehen müsse. Er lausche den ganzen Tag den speziellen Wellen aus dem All (Halluzinationen), manchmal mit Hilfe seines Radios (Illusionen), über das er von seinen Verbündeten im Weltall mit verschlüsselten Botschaften versorgt würde, um über die eigentliche Wahrheit informiert zu werden. Hier lügen ja sowieso alle (warum fragt er dann mich?). Nur er sei mit den entsprechenden Chips im Körper ausgestattet, diese speziellen Wellen empfangen und die Botschaften mit dem nur ihm bekannten Schlüssel verstehen zu können (und doch traut er mir ein Mehrwissen zu). Manchmal gelinge es ihm, damit feindliche Stimmen abzuhören, deshalb lebe er überhaupt noch. Er sei immer vorgewarnt (auch vor mir?). Wegen seiner Macht trachten ihm viele nach dem Leben, insbesondere die USA mit ihrer CIA. Er müsse immer gewappnet sein. Diese zusammengesetzten Mitteilungsfragmente erhielt ich über Monate in kleinen Häppchen. Ich ging jeweils positivierend auf ihn ein, in der Aussage nicht widersprechend, ihn offensichtlich beruhigend und inhaltlich neutral Stellung beziehend. Ich antwortete zum Beispiel, dass es wohl noch lange nicht so weit sei. Er wiederum begann mich manchmal neben den Fragen mit mehr Informationen zu sich selbst zu versorgen, mehr und mehr sogar mit Botschaften aus dem All, die er mir, sich weit aus dem Fenster lehnend, vertraulich und komplizenhaft »zuflüsterte«. Irgendwann fragte er mich, ob ich heute Morgen die ihn warnenden Wellen aus der Rheinau (Klinik, in welcher er lange stationär hospitalisiert war) auch aufgefangen habe. Es war mir auf der Stelle klar, dass etwas Wichtiges geschehen war. Er hatte mich erstmals dualisierend in sein Wahnsystem eingebaut, als Partner gleichwertig und positiv besetzt. Ich, der wie er die Fähigkeit besitzt, das sonst allen Verborgene und nur ihm Offene wahrzunehmen. Keine »Folie à deux«, sondern progressive Psychopathologie im Sinne von Benedetti! Ich antwortete erneut neutral, dass ich nichts vernommen habe, er könne ganz beruhigt sein, hier geschehe ihm nichts und ich würde morgen wieder vorbeikommen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Unsere Dialoge dauerten nie länger als zwei bis drei Minuten. Ich bemerkte, dass ich beim Weitergehen intensiver darüber nachdachte und dem Gesagten nachfühlte. In mir fügten sich die Puzzleteile zu einem großen Bild zusammen. Darüber freute ich mich. Zudem fiel mir auf, dass ich offenbar die Begegnungen mit ihm schon seit einiger Zeit fest in meinen Ablauf eingeplant hatte und deshalb nie gehetzt war und nie zu spät auf der Station erschien! Einmal wurde ich von einem Kollegen in meinem Hintergrundsnotdienst zu eben diesem Patienten gerufen, weil er auf Station dekompensierte und akut gewalttätig zu werden drohte. Anlass war, dass er wegen einer plötzlich aufgetretenen, stark geröteten, schmerzenden und entzündeten Schwellung am Ellbogen von seinem behandelnden Arzt ins Spital hätte geschickt werden sollen, um ihn untersuchen und eventuell mittels einer Punktion entlastend Flüssigkeit herausziehen zu lassen. Eine medizinisch nachvollziehbare Entscheidung, allerdings nur aus der Außenposition des ihn behandelnden und an sich sehr feinfühligen Kollegen. Dieser informierte ihn zuvor sachlich-empathisch über seine Überlegungen, was die überraschenden Reaktionen des Patienten auslöste und er zu drohen und ihn als Betrüger zu beschimpfen begann. Man bat mich um Hilfe. Ich eilte auf die Station, mit Angst vor dem Ungewissen und gleichzeitigem tiefem Mitgefühl für ihn und seine Not. Mein Puzzlebild war beim Eintreten sofort präsent. Ich spürte in Blitzeseile, dass er mir auf eigentümliche Art sehr nah und doch unendlich weit weg war. Ich begrüßte ihn empathisch mit den Worten, »was ihm denn da am Ellbogen geschehen sei«, worauf er gar nicht einging und nur über den Kollegen schimpfte, der ihn auslöschen wolle. Er empfing mich trotz seines Erregungszustandes erstaunlicherweise zugewandt und freundlich. Nach weiteren einfühlenden Worten ließ er mich den Ellbogen untersuchen. Es gab in diesem Moment eine unbeschreibbare Verbindung zwischen uns, als würde uns unser duales »Zimmerchen« in diesem Moment schützend umgeben, als hätte es sich ins Geschehen installiert. Es war meine erste physisch so nahe Begegnung mit ihm, die ich vorsichtig angehen und keinesfalls »verschenken« wollte. Allerdings wollte ich auch eine adäquate Lösung herbeiführen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Den Kollegen zu »opfern« und in ein schlechtes Licht zu rücken, wäre wohl der einfachste Weg gewesen, sich Nähe zu verschaffen, was nicht nur untherapeutisch, sondern auch menschlich unhaltbar gewesen wäre. Ich spürte seine Not tief in mir, blickte ihm in die Augen und sagte ihm, es werde schon gutgehen. Ich würde ihn und seine Not gut verstehen, aber auch, dass sich der Kollege sehr große Sorgen um ihn gemacht habe. Ich hätte ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, ob er sich diesen anhören wolle? Er bejahte. Da ich die somatische Situation im Gegensatz zur psychiatrischen nicht als sofort behandlungsbedürftig einschätzte, riet ich, den geschwollenen Ellbogen vorerst eine halbe Stunde lang mit Eis zu kühlen und zu beobachten, was geschehe. Ich würde wiederkommen und mich mit ihm beraten, wie es weitergehen müsse. Als ich später erneut vorbeikam, fand ich einen Patienten, der mich wie ein glückliches Kind anstrahlte. Der Ellbogen war inzwischen bereits wesentlich abgeschwollen und tat ihm nicht mehr so weh. Alle waren erleichtert. Nach einer weiteren kurzen Unterhaltung mit mir, der bisher längsten zwischen uns, bot ich ihm an, ihn ins Spital zu begleiten, was er ablehnte. Am nächsten Tag ging er ohne Probleme von einem Pfleger begleitet dorthin zur Kontrolle. Was spielte sich in der Innenposition, im Erleben des Patienten ab? Das Verlassen der Klinik, eine bevorstehende Punktion, also ein Eindringen in seinen Körper, in einem ihm fremden Spital lösten bei ihm schlimmste, perakut-psychotisch auftretende Ängste aus. Einerseits ging es um die Gefühle, im Spital ausgeliefert und gefoltert zu werden, aber auch um die Befürchtung, man würde seine Chips entdecken, diese operativ entfernen und ihn so von seinen mächtigen Verbündeten trennen und für immer lahm legen. Das allerdings erfuhr ich in dieser Klarheit erst viel später in unseren auch danach weiter stattfindenden Dialogen. Bereits im Moment des Sichtkontaktes »wusste« ich sofort diffus darum, verstand, dass ihn etwas bedrohte, wenn ich es auch noch nicht klar hätte ausdrücken können. Kurz darauf bedankte er sich bei mir, als ich wieder an seinem Fenster vorbeiging und mich erkundigte, wie es ihm gehe. Er erzählte überall herum, ich sei der beste Arzt der Welt. Diese Begegnung hätte unter anderen Voraussetzungen ganz anders ausgehen können! Hier ergab sich für mich mehr als ein © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Wissen aus der Außenposition um ihn, ein Verstehen zwischen uns, welches sich nicht mit Worten allein beschreiben lässt. Es hatte mit der Geschichte unserer täglichen speziellen Begegnungen zu tun. Das Zusammenbringen unserer medizinischen Realität und seiner Innenwelt scheint in dieser Situation fast die einzig gangbare Lösung gewesen zu sein, um zu verhindern, dass es nicht zu Gewalt von seiner Seite kommt. Wir hätten darauf wohl nur mit Gegengewaltanwendung reagieren können. 4.2.2 Zweite Geschichte

Ein schizophrener Patient, der im Vorfeld andere Therapien vorzeitig beenden musste, war zum Zeitpunkt der Episode bereits seit einigen Jahren bei mir in Behandlung. Die letzten Jahre lebte er sein Leben inzwischen stabil ohne psychotische Krisen, welche früher zu Klinikeinweisungen geführt hatten. Einmal wirkte er ganz anders als sonst auf mich, als er zur Therapiesitzung kam. Äußerlich war nichts zu bemerken, aber das Gefühl, welches er bei mir auslöste, entwickelte sich anders als sonst. Es verschwand nicht. Es war mir so fremd, dass es etwas sein musste, das von ihm unbewusst auf mich übertragen wurde und sich in meinem Bewusstsein bemerkbar machte. Auf meine gewohnte Frage, wie es ihm gehe, antwortete er kurz und knapp mit »gut«! Ich ließ es für den Moment so stehen. Innerlich blieb ich aber unangenehm angespannt. Gefühlsmäßig empfand ich den sowieso meist emotional distanzierten Patienten noch schwieriger erreichbar als sonst, trotzdem erschien er mir nicht unerreichbar und paradoxerweise sehr nah! Ich hatte das Gefühl, als würde ich ihn besorgt aus der Ferne herumirren sehen, und meine Stimme könnte ihn nicht erreichen. Im weiteren Verlauf berichtete er sachlich von seinem Alltag, insbesondere von seiner Arbeit. Bald zeigte sich, was meine veränderte Wahrnehmung hervorrief. Als hätte er zuvor nie »gut« gesagt, berichtete er von seiner momentan großen Belastung am Arbeitsplatz. Einer seiner Aufträge einer Firma, die er seit Jahren administrativ betreute, sollte demnächst auslaufen. Obwohl dieser Auftrag noch nicht abgeschlossen werden konnte, habe ihm der neue Vorgesetzte gesagt, er solle sich bereits in den neuen Auftrag einarbeiten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Von außen erweckt mein Patient für die meisten einen unauffälligen Eindruck. Er wirkt distanziert, freundlich und meidet zu nahen Kontakt und Gespräche, insbesondere wenn mehrere beteiligt sind. Mit dieser Strategie ist er im Leben gut durchgekommen. Kaum jemand bemerkte seine Krankheit. Er arbeitete an seinem geschützten Arbeitsplatz morgens, war immer sehr gewissenhaft, konzentriert und zuverlässig, allerdings höchstens fünf Stunden mit kleinen Pausen dazwischen und nur, wenn er Aufgabe für Aufgabe in seinem Rhythmus und in seiner von ihm bestimmten Reihenfolge erledigen konnte. Waren diese Bedingungen nicht gegeben, veränderte er sich rapide. Er brauchte zudem nach der Arbeit täglich Stunden der Erholung und Ruhe, oft sogar einen Mittagsschlaf, bevor er sich wieder unter Menschen begab, meist bei einem Spaziergang durch die Stadt. Er wurde wegen seiner äußerlich kaum wahrnehmbaren Besonderheiten und »Unauffälligkeit« regelmäßig von neuen Vorgesetzten überschätzt und überfordert. So auch dieses Mal. Im weiteren Verlauf der Sitzung begann er mir seine Tür zur Innensicht zu öffnen, so dass ich seine Verarbeitung der Situation zu erahnen begann. Ich bemerkte, wie er sich zunehmend inhaltlich psychotischer ausdrückte als sonst. Er berichtete mir von den anderen, ebenfalls im Raum sitzenden Kollegen, die ihn wohl im Auftrag des neuen Vorgesetzten beobachteten und sich flüsternd kritisch über ihn geäußert hätten, er habe dabei vernommen, dass er zu wenig leiste. Seine ihm seit Jahren bekannten (inneren) imperativen Stimmen forderten von ihm, sehr genau hinzuhören und alles Gesagte in sich aufzunehmen und zu kontrollieren. Das zu Verarbeitende mehrte sich für ihn exponentiell und überforderte ihn maßlos. Da wurde ich besonders hellhörig. Überforderungen hatten ihn schon Jahre bevor wir uns kannten, immer wieder in tiefes psychotisches Gedankenkreisen abgleiten lassen, manchmal bis zur Erschöpfung. Nicht selten endete dies in stationär behandlungsbedürftiger Katatonie. Ich kannte solche sich akut zuspitzende Exazerbationen nur aus unserer Anfangszeit. Früher begann sich allerdings auch noch sein PC interaktiv mit ihm zu befassen (Illusionen), ihm seine Grenze zur Welt unfreiwillig zu öffnen und ihn zu bedrohen. Damit war er schutzlos und offen zugänglich für alle von innen wie von außen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Diesmal hingegen war dies dank der gut angelaufenen und intensiven Therapie und seiner inzwischen gewachsenen Fähigkeit, sich zu wehren, so nicht mehr der Fall. Ich reagierte in der Sitzung sofort aktiv und bot ihm ohne inhaltlich auf sein psychotisches Erleben einzugehen zuerst einmal an, seinen Vorgesetzten anzurufen und ihm das Problem in seinem Beisein zu erklären. Bereits das beruhigte ihn sichtbar. Er stimmte zu und ich tat es. Der Vorgesetzte selbst war nicht erreichbar, jedoch eine ehemalige Vorgesetzte, die vor Jahren in einer ähnlichen sich anbahnenden »Katastrophe« rechtzeitig zu einem gemeinsamen klärenden Gespräch mit ihm bei mir in der Praxis vorbeigekommen war. Die Situation ließ sich damals rasch mit ihr auf der Ebene der Außenrealität für alle Beteiligten gut klären. Der Patient beruhigte sich während meines Telefonats mit dieser Stellvertreterin. In unserem folgenden Dialog konnte er sich langsam von seinen psychotischen Deutungen distanzieren, zuerst nur von den ihm bekannten inneren Stimmen, wobei er diese, wie er selbst sagte, wieder hinten anstellte, sie an ihren Ort brachte, wo sie ihn nicht mehr so stark belästigen konnten. Inzwischen hatte er sich das Sagen in sich wieder erkämpft und ließ sich nicht mehr von ihnen verwirren. Die Außenrealität ordnete sich rasch wieder »vorn« ein, allerdings ohne die Innenrealität ganz »auszulöschen«! Direkt anschließend mit ihm über das an dem Tag Geschehene aus seiner Innensicht sprechen zu wollen, wäre in dem Zeitpunkt viel zu früh und überfordernd gewesen. Es brauchte die Zeit bis zur nächsten Sitzung. Zusammen auf der »Terrasse« stehend blickten wir dann aus der Distanz gemeinsam auf das Geschehene, um so die Auslöser der innerpsychotischen Dynamik und Destabilisierung zu besprechen. Zuerst galt es wahnintern zu verstehen, um dann die Brücke zur wahnexternen Deutung beschreiten zu können, was gleichbedeutend ist mit Realitätsprüfung und Konfrontation mit der »Realität«, wie wir »Nichtschizophrenen« die Ereignisse sehen und deuten. Der Rest der besagten Stunde blieb uns für die sehr wichtige therapieinterne Klärung des Beginns der Sitzung, die mich nach wie vor verwirrte. Wir begannen gemeinsam zu verstehen, warum er zu Beginn auf meine Befindlichkeitsfrage mit »gut« geantwortet hatte. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Seine vielleicht für manchen Leser erstaunliche Antwort war: »Weil ich wusste, dass ich hier endlich wieder geschützt und in Sicherheit bin, und mich ruhiger fühlte.« Die Therapie und den dualen Raum als sicheren Ort in einer zunehmend wahnbesetzten Realität empfinden zu können, ist keine Selbstverständlichkeit. Kurz nach Beginn der Behandlung bei mir »flüchtete« er vor einer Therapiestunde psychotisch zur Polizei und erbat Hilfe, anstatt in die Sitzung zu kommen. Er erlebte sich von den Menschen auf der Straße und im Haus mehr und mehr bedrängt und verfolgt. Als er zu mir in die Therapie kommen sollte, fürchtete er sich auch vor mir. Ich gehörte für ihn plötzlich auch zu den Verfolgern. Da er mich auf keinen Fall sehen wollte, wurde in telefonischer Absprache mit der Polizei ein Kollege, der Dienst hatte, zur Beurteilung herangezogen. Der Patient wurde anschließend für einige Wochen in die Klinik eingewiesen. Von da aus fanden wieder erste Annäherungen zwischen uns statt, welche die Weiterführung der Behandlung bei mir vorbereiteten. In mühsamer Kleinarbeit schafften wir es gemeinsam, die aus dem Lot geratene, damals noch jungfräuliche therapeutische Beziehung wieder zurück in unseren immer noch instabilen und fluktuierenden dualen Raum zu bringen. Das aufgetretene Misstrauen mir gegenüber wurde von mir deutend legitimiert und gemeinsam besprachen wir, wie schwer es im Leben sei, nachhaltiges Vertrauen aufzubauen, was allerdings für beide gleichermaßen gelte. Damals war die Therapie zeitweise für ihn subjektiv noch eine Bedrohung und keinesfalls ein sicherer Zufluchtsort. Danach zählte ich nie mehr zu seinen Verfolgern, sondern wurde zum distanzierten, aber vertrauenswürdigen Verbündeten, später zur neutralen, aber ihm nahen Helferperson, die er nachhaltig schätzte. Zurück zur aktuellen Geschichte, der nächsten Sitzung. Er kam pünktlich wie gewohnt und machte mir diesmal einen ausgeglichenen Eindruck. Ich stellte ihm die Frage nach seinem Befinden erneut und erhielt dieselbe Antwort, »gut«. Ich fragte nach, was »gut« heute bedeute. Er antwortete mit einem Bild, wie dies oft seine Art war, eine Frage zu beantworten. Das Bild war für ihn alles andere als »nur« eine symbolische Antwort. Es gehe ihm gut. Er genieße es, im Schlauchboot auf offenem Meer sitzend den Fischen zusehen zu können, manchmal auch den © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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auftauchenden Haien. Ich fragte nach, warum in einem Schlauchboot? Die Haie könnten ins Gummiboot beißen und er wäre nicht mehr vor ihnen geschützt. Seine Antwort: Er habe inzwischen gelernt, gut auf sich zu achten, um nicht in Gefahr zu geraten. Ein Gummiboot sei sehr viel mehr und sicherer als nur wie früher schwimmend allem im Meer ausgeliefert zu sein. Dabei wies er mich auf eine meiner Interventionen vor Jahren hin, die ich nicht mehr aktiv präsent hatte. Als es ihm einmal sehr schlecht gegangen sei, hätte ich ihm gesagt, er befände sich zurzeit gefühlsmäßig angeschnallt in einer offenen Kabine einer Achterbahn auf dem Jahrmarkt. Da fühle man sich manchmal abhängig und ausgeliefert. Ich hätte ihn damals damit sehr beruhigt, dass die Bahn das Geleise, auf dem sie fährt, nicht verlassen könne, da diese selbst in der geltenden Physik gefangen sei und ihm deshalb so lange nichts geschehe, wie er angeschnallt sitzen bleibe. Irgendwann komme sie zum Stillstand und er könne unversehrt aussteigen. Heute würde er nicht mehr auf solchen Bahnen fahren, wo man nur hilflos abwartend sitzen kann, sondern sein Boot selbst steuern. Erst nach diesem Dialog in Bildern wurde es möglich, die konkrete Episode bei der Arbeit vor der letzten Therapiesitzung nachzubesprechen. Im Dialog entwickelte ich mit ihm eine Brücke von seinem Bild der Innenwelt zur realen Außenwelt. Dabei sagte ich zuerst verständnisvoll nachfühlend: »Ja, das waren wohl doch zu große Wellen, die Ihr Boot durchschüttelten, als Sie gleich zwei Aufträge zeitlich parallel hätten erledigen sollen. Das konnte Ihr neuer Vorgesetzter nicht wissen, weil er sie noch nicht so gut kennt. Aber jetzt weiß er es.« So verknüpfte ich Innen- und Außenwelt. Er antwortete sehr realitätsgetreu, dass mein Telefonat in der Sitzung ihm sehr geholfen habe, seine inneren, heute für ihn unlogischen, aber damals nicht beherrschbaren, anschwellenden Ängste zu beruhigen. So sei es ihm in meinem Beisein möglich geworden, die Steuerung wieder zu übernehmen und das Bedrohliche nach hinten zu stellen. Heute sei es zwar noch da, aber gut eingeschlossen. Ich erwiderte ganz in der Außenrealität bleibend, dass ich ohne sein Kommen und offenes Berichten kaum meinen Beitrag zur Lösung hätte erbringen können. Es sei unsere gemeinsame Arbeit gewesen, welche diese © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Umstellung hätte bewirken können. Irgendwann in der Zukunft werde er ein solches Problem auch ohne meine Hilfe selbständig bewältigen können. Er verstand sein damaliges Erleben neu aus einer Außensicht, als Entgleisung und psychotische Reaktion auf den von außen unabsichtlich erzeugten Druck bei der Arbeit. Er konnte es in diesem Moment sogar als eine inadäquate, angstmachende Welle erkennen und aus Distanz von seinem psychotischen Erleben sprechen, allerdings im Wissen um das im Moment zwar wieder angebundene, aber weiter existente Psychotische in ihm. Das war harte Arbeit. Es blieb wieder einmal beim Sturm in seiner Innenwelt, ohne dass eine schwere Dekompensation in die Außenwelt erfolgte. Dank des langjährigen Aufbaus einer Koexistenz von Realität und Wahn und der gemeinsamen Bildersprache, die wir beide benutzten, ließ sich diese Krise rasch und von außen unsichtbar bewältigen. Früher hätte sich so eine Situation, die er autistisch mit sich selbst abgehandelt hätte, rasch zur vollständigen Dekompensation entwickeln können. Wiederum wenige Wochen später folgte erneut eine kurze psychotische Krise des Patienten. Der inzwischen eingetretene Fortschritt zeigte sich in seinem eigenständigeren Umgang damit. 4.2.3 Dritte Geschichte

Derselbe Patient wohnte seit Jahren allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Seine Mutter sowie die Schwester mit ihrem Ehemann wohnten an verschiedenen Orten im Ausland. Wenn die Schwester und ihr Mann oder die Mutter zu Besuch in die Schweiz kamen, wohnten sie jeweils für einige Tage bei ihm. Wie man sich vorstellen kann, war es eine echte Herausforderung, in so engen Verhältnissen fast ohne Ausweichmöglichkeiten zusammenzuleben. Seine schizophrene Erkrankung wurde von der Familie stets ignoriert. Auch ein Familiengespräch mit einem meiner systemisch versierten Vorgänger brachte keine Bereitschaft, den Sohn als krank anzunehmen. Entsprechend wurde auf ihn wiederkehrender Druck aus der Familie ausgeübt, sein Leben endlich »normal« zu gestalten. Ein Sonderling sei er halt! Bei mir fanden auf Wunsch des Patienten keine solchen Gespräche mehr statt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Da die Familie aus der Schweiz weggezogen war, blieb er allein zurück. Durch den Wegfall des permanenten Drucks eröffneten sich ihm vorsichtig neue Perspektiven. Er berichtete mir, seither regelmäßig mit einem Freund auszugehen, der psychisch krank sei und im Gegensatz zu ihm regelmäßig in Kliniken hospitalisiert werde. Meist gingen sie zusammen essen und führten vorsichtige Dialoge, welche mit den Jahren etwas tiefer, aber nie wirklich persönlich wurden. Er wählte kleine Restaurants mit nur wenigen Gästen aus. Wenn es ihm mit den Kollegen zuviel wurde, was regelmäßig der Fall war, hatte er inzwischen gelernt, sich kurz auf die Toilette zurückzuziehen, das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen und sich wieder einzuordnen. Notfalls verabschiedete er sich freundlich mit einer banalen Begründung und ging, ohne aufzufallen. Zu Hause erholte er sich jeweils über Nacht wieder. Dank der guten Entwicklung in der Therapie verbrachte er die Pausen bei der Arbeit inzwischen mit den Kollegen, allerdings ohne viel zum Gespräch beizutragen, außer wenn er gefragt wurde. Das war notwendig, um sich vor zu viel Nähe zu schützen. Vor der Therapie hingegen hielt er sich wehrlos und davon angezogen manchmal in Menschenmassen auf. Dort geriet er jeweils bald in einen psychotischen Wirbelsturm, was ihm nicht gut tat. Innerlich wie äußerlich wahrnehmbar wurde er schnell paranoid, befand sich in einer anderen Welt, musste alles auf sich beziehen und versuchte meist erfolglos krampfhaft, der Situation Herr zu werden, indem er den inneren Stimmen folgend versuchte, die Übersicht zu behalten. Kommen wir zur hier wichtigen Geschichte: Es war wieder einmal soweit. Für ein verlängertes Wochenende besuchte ihn seine Schwester mit Partner. Am letzten Tag vor deren Abreise fand unsere Therapiestunde statt. Auf meine Frage, wie es ihm mit den Gästen gegangen sei, antwortete er mit »gut«. Er berichtete, dass seine Gäste bereits am ersten Abend mit ihm unbedingt noch zu einem Straßenfest gehen wollten. Bis 22 Uhr sei es für ihn noch einigermaßen erträglich gewesen. Dann hätte er sich einzig mit dem Hinweis, müde zu sein, ohne weitere Erklärung von ihnen verabschiedet und sei nach Hause schlafen gegangen. Es hätte sowieso nichts geholfen, sich ihnen erklären zu wollen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Am kommenden Tag wären sie erneut stundenlang gemeinsam beim Fest gewesen. Diesmal hielt er es problemlos bis zum Ende aus. Ich bat ihn, mir vom Abend genauer zu berichten. Er erzählte: »Meine Haut ist auch diesmal unter den vielen Menschen wieder dünner und durchlässiger geworden. Von außen drang vieles ungefiltert in mich ein, was ich nicht mehr verarbeiten, bewältigen und einordnen konnte. Ich weiß zwar inzwischen, dass die Stimmen in mir lediglich Illusionen sind. Es gelang diesen trotzdem, dass ich zwingend alles, was gesagt wurde, mithören, behalten und einordnen musste. Wegen der vielen sich bewegenden und dauernd neu auftauchenden Menschen war das nicht mehr zu bewältigen. Es hat mich auch diesmal überfordert. Hätte ich zu meiner Beruhigung noch Alkohol getrunken, wie das früher oft der Fall war, wäre ich wohl erneut tief in meine Psychose gestürzt. Meine Energie am ersten Abend hatte bald nicht mehr ausgereicht. Deshalb bin ich rechtzeitig, aber mich höflich verabschiedend gegangen.« Meine Frage, warum es am anderen Tag besser gegangen ist, beantwortete er übersetzt in seine Bilder etwa so: Er sei ausgeruhter und besser vorbereitet gewesen auf das, was ihn erwarten würde. Er hätte sich sehr sorgsam durch die Menschen bewegt und möglichst nichts zu sehr an sich herankommen lassen. Oft sei er stehen geblieben und habe seine Haut gut abgedichtet. Dieser Schutz habe seine Grenze. Am zweiten Tag sei diese aber nicht überschritten worden. Es ist davon auszugehen, dass seine Gäste von alldem nichts mitbekommen haben … Die Geschichte spricht für sich. 4.2.4 Vierte Geschichte

Es folgt eine Kurzvignette zu einer Patientin, welche nach Jahren des autistischen schizophrenen Lebens den Ausbruch gewagt und diesen in einem wichtigen Bereich auch geschafft hat. Der Weg dahin erforderte jahrelange psychosenpsychotherapeutische Arbeit. Vorerst ging es um den Aufbau einer dritten Welt, dem dualen Raum der Therapie. In diesem erfuhr sie erstmals eine Abnahme des Einflusses der sie beherrschenden und bestimmenden Mächte der Psychose. Bereits in der Kindheit wurde sie zunehmend von vernichtenden Mächten in der wachsenden und sich negativ verwandelnden Psychose geplagt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Den ganz großen Schritt umzusetzen, sich mutig davon zu lösen, um etwas mehr Distanz zu gewinnen, war ein Riesenkraftakt. Er führte dazu, dass sie ihr Leben inzwischen selbständig und verantwortungsbewusst in der eigenen Mietwohnung lebt. Über Jahre besetzte die intensive Auseinandersetzung mit ihrer Innenwelt die Therapie fast vollständig. Irgendwann wurde es ihr für mich überraschend möglich, über den »banalen Alltag« zu berichten. Dass sie überhaupt ein mobiles Telefon benutzt, was sie nach wie vor nur ungern, aber inzwischen regelmäßig tut, grenzt schon fast an ein Wunder. Sie lehnte bis vor kurzer Zeit weitgehend »Technisches« ab. Es war ihr unheimlich und sie hatte große Angst davor, insbesondere vor Computern und dem undurchschaubaren Internet, auch vor einfacheren Geräten wie einem Handy. Sie überwand sich langsam, erkannte die Vorteile und stellte ihre Ängste beiseite. So indirekten Kontakt zu mir, auch außerhalb der Sitzungen, herstellen zu können, bedeutete ihr sehr viel. Früher wäre so ein Schritt undenkbar gewesen. Im Sinne einer Übung vereinbarten wir, dass sie auf eine SMS von mir innerhalb von einem Tag antworten soll und umgekehrt. Es war viel Geduld und Zeit nötig, und nur dank der neu entdeckten Freude, selbst »angesimst« zu werden, schaffte sie es. So kam es zu folgendem SMS-Dialog, den ich mit ihrer Einwilligung wörtlich und ihre Anonymität wahrend hier wiedergebe: Irgendwann im Jahr 2011: Danke sehr für Ihr langes SMS. Ja, ich verteidige die Angriffe meiner Psychose auf die schönen Erfahrungen und Gefühle, die ich im Moment erleben darf. Ich kann nicht genug davon bekommen und wehre mich nach Kräften gegen das Negative von der Psychose. Neun Tage später: Lieber Josi Rom, danke für unsere Stunde gestern und für den guten Termin. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich Sie langweile mit den erlebten Sachen, die ich ihnen (auf Ihr Nachfragen) erzähle. Das tut mir leid, aber stellen Sie sich vor, dass ich diese »normalen« Erlebnisse sehr lange nicht erfahren konnte und schon gar nicht so wie jetzt … Für Sie ist das nichts Besonderes, doch für mich bedeutet das sehr viel mehr Lebendigkeit und Freude für mein Leben – deshalb

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erzähle ich solch scheinbar banale Sachen, können Sie das verstehen? Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und grüße Sie herzlich. Gleichentags: Hallo, Sie langweilen mich nicht und nie mit »Normalität« und ich bin über Ihre Entwicklung sehr glücklich, da dies ja unter anderem auch Früchte jahrelanger gemeinsamer Arbeit sind. Ich wünsche Ihnen noch viel »langweilige Normalität« und Abschied von der Psychose! Gruß J. Rom Gleichentags: Danke! Ja, das sind die Früchte unserer gemeinsamen Arbeit und Ihres besonderen Engagements! Ohne Sie wäre ich für immer in der Psychi verschwunden – unsere Therapie ist für mich das größte Geschenk (für das ich kämpfe). Danke aus tiefstem Herzen, dass Sie auch für mich da sind.

Der oberflächlich betrachtet normale Text ist ein Resultat der gemeinsam erarbeiteten Beziehung und Trennung der Welten, ein Weg vom früher sie in ihrer Wahrnehmung existenziell bedrohenden Gegner zum heutigen vertrauten therapeutischen »Partner«. 4.2.5 Vergleich und Zusammenfassung

Wie unterscheidet sich in diesen Beispielen »Verstehen«? Es ist nicht möglich, jeden einzelnen der langen, schwierigen und individuell verschiedenen Wege mit meinem jeweiligen Anteil zum und am Innenwissen darzulegen. Das würde zu jedem Patienten fast schon ein vollständiges Buch ergeben. Zudem müsste auch der nonverbale Anteil in Worte gefasst und berücksichtigt werden, was im besten Fall für meinen Teil des Erlebens möglich wäre. Ich beschränke mich auf einige kurze und den Abschnitt abschließende Bemerkungen. Beispiel 1: Da ich die Wahnwelt dieses schizophrenen Menschen aus unseren Dialogen nur in winzigen Bruchstücken kannte, konnte ich mit diesem rudimentären Teilwissen seine Innenwelt, seine individuelle Wahnwelt nur intuitiv erahnen. Später, als wieder Zeit für weitere Dialoge war, fügte sich für mich ein kleiner Teil des Riesen© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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puzzles leichter zusammen. Die »Androhung«, zur Entlastung des geschwollenen Gelenks durch seine Haut ins Innere einzudringen, war für ihn gleichbedeutend mit der Entdeckung seiner Chips und musste ihn daher subjektiv existenziell bedrohen. Für jeden Außenstehenden war es unmöglich, dies zu wissen, und daher war und blieb sein Verhalten von außen nicht verstehbar. Im Beispiel 2 wurde es uns möglich, die Erfahrungen des Patienten am Arbeitsplatz zu besprechen. Von außen konnte vom Vorgesetzten nichts wahrgenommen werden. Als Therapeut gelang es mir, als »Partner« zu verstehen, zu reagieren und für die »Außenwelt« zu übersetzen. Erst anschließend musste sozusagen auch intern die abgelaufene psychotische Entgleisung gemeinsam in Worten ausgedrückt und verstanden werden, zuerst in seiner Welt und seiner Sprache und dann zur Außenrealität in Bezug gesetzt. Im Beispiel 3 war es demselben Patienten bereits selbständig möglich, sein psychotisches »Innenweltproblem« ohne Hilfe von außen zu lösen, und es blieb dabei, dass er mir lediglich davon berichtete und wir es danach gemeinsam einordnen konnten. Das SMS-Dialog-Beispiel benötigt keine weiteren Erklärungen. Die Ausgangslage für den therapeutischen Weg vom Gegner zum Partner beschreibe ich in Supervisionen oft bildlich veranschaulichend etwa so: Zwei Menschen, die sich meist nicht gegenseitig freiwillig gewählt haben, müssen umständehalber miteinander zu tun haben, so zum Beispiel in einer Klinik, wenn Behandler und eingewiesener Patient gezwungen sind, sich zu arrangieren. Dazu das Bild: Man sitzt unfreiwillig im selben Boot auf offenem Meer. Jeder kann sein Ruder benutzen, wie er will. Man hängt jedoch nicht nur vom eigenen Ruder, sondern auch von der Bereitschaft, sich zu koordinieren, ab. Sonst kommt keiner vom Fleck und sicher nicht an den Ort, wo jeder hin möchte. Will man überleben und an Land kommen, muss man sich absprechen und gemeinsam rudern. Ich pflege zu sagen: Wir müssen uns weder lieben noch wirklich mögen, nur gut zusammenarbeiten, im beiderseitigen Interesse.

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4.3 Gegenübertragungsfallen Das Verstehen schizophrener Menschen in Therapien beinhaltet vernünftigerweise auch ihr eigenes Verstehen ihrer Innenwelten. Die Gegenübertragung ist für uns bereits zu Beginn der passende Schlüssel in Rohform. Im Therapieprozess wird dieser feingeschliffen. Über lange Zeit ist die Gegenübertragung unsere einzige und nur ungenaue Orientierungsmöglichkeit. Medikamente haben nicht nur Wirkungen, sondern auch Nebenwirkungen – das trifft auf unsere Gegenübertragungsreaktionen ebenso zu. Ich nenne dies Gegenübertragungsfallen, weil sie eine gut angelaufene und nachhaltige Behandlung jederzeit beeinflussen und sogar zerstören können. Der Weg in die Therapie und in lauernde Gegenübertragungsfallen beginnt bereits vor der physischen Begegnung mit dem schizophrenen Menschen. Anders als bei neurotischen Patienten entsteht bei schizophrenen Menschen im Vorfeld einer Stunde bei mir ein spezielles »unsicheres Gefühl«. Dieses Phänomen stellt sich regelmäßig bei den meisten erfahrenen Kollegen ein, die mit schizophrenen Menschen arbeiten. Es könnte auch als eine spezielle Form von »Intuition« bezeichnet werden. Das Gefühl ist unangenehm und nur beschränkt beherrschbar und wird unreflektiert oft vom Therapeuten abgewehrt und verdrängt. Das kann in die Gegenübertragungsfalle führen. Unter Intuition verstehe ich, ähnlich wie zum Beispiel die Jung’sche Psychologie, eine Grundfunktion einer Wahrnehmung von Optionen, von Potenzialen in zukünftigen Entwicklungen, eine instinktive Ahnung, ein passives Erahnen von dem, was einem widerfährt. Intuition steht im Gegensatz zum diskursiven, also bewussten aktiven Erkennen aufgrund von Wahrnehmungen und aktiven logischen Folgerungen. Im Vorfeld der Begegnung mit dem schizophrenen Menschen entsteht dieses diffuse »Unsicherheitsgefühl« vor dem »Ungewissen«. Es fühlt sich fremd und ungewohnt tiefliegend, aber dennoch ruhig und präsent an. Bei schwer borderlinegestörten Menschen gibt es im Vorfeld der Begegnung manchmal auch vorauseilende Gegenübertragungsgefühle. Sie sind meist an konkrete Erinnerungen geknüpft und aktivie© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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ren etwas in mir. Sie treten plötzlich auf, können mich überwältigen und lösen kurzzeitig oft negative Gegenübertragungsreaktionen aus, dringen aber nur beschränkt und punktuell in die Tiefe vor. Zudem werden diese Vorgefühle bei der Realbegegnung und im Laufe der Therapiesitzung entweder bedeutend verstärkt, vermindert oder verschwinden gänzlich. Dagegen treten die speziellen Gefühle vor der Begegnung mit einem schizophrenen Patienten bei mir immer auf, auch wenn ich den Patienten schon länger kenne, wir bereits mehrere schlimme Krisen gemeinsam gut überstanden haben und er seit Jahren stabil ist. Es fühlt sich im Laufe der Zeit etwas weniger intensiv an, wie ein kontinuierliches, leicht schwingendes, unangenehmes Hintergrundsgeräusch. Beim Abholen im Wartezimmer, im Moment der physischen Begegnung, löst es sich auf. Interessanterweise ist es der Patient, der dieses Gefühl bei mir passiv »zum Verschwinden« bringt, nur durch sein physisches Dasein. Solche körperlichen Beschreibungen eines psychischen Phänomens mögen befremdend klingen. Wie soll man das Unbeschreibliche auszudrücken versuchen! Dieses Gefühl benannte Scharfetter in einer meiner vielen Supervisionssitzungen treffend mit »sorgender Verunsicherung«. Man ist sich nie sicher, was einen erwartet, nicht einmal dann, wenn man sich selbst aufgrund des bisherigen Verlaufs sicher fühlt. Solche speziellen Emotionen sind nonverbale Befunde. Diese darf man nicht ignorieren. Es sind Weichen auf einer Bahnstrecke, hier wird entschieden, ob der Zug für den Rest oder einen langen Teil der Strecke nach rechts oder links fährt. Das erfordert harte Arbeit mit und an sich selbst. Wird sie vom Therapeuten nicht geleistet, kann dies Ursache von späteren, entscheidenden Gegenübertragungsfallen werden. Damit eine therapeutisch wertvolle Quelle nicht zur Falle wird, stelle ich mich jedes Mal bewusst auf den kommenden Patienten ein, wie bereits im Wissensteil beschrieben. Ich nehme mir bewusst und sitzend die kurze Zeit, um dieses »Phänomen« wahrzunehmen und zuzulassen. Wichtig dabei ist, mich in Gedanken nicht auf den Patienten oder ein Ereignis mit ihm zu fixieren, sondern die Gedanken und Gefühle möglichst locker vorbeiziehen zu lassen. Hingegen konzentriere ich mich aktiv auf das, was in mir ausgelöst wird und bestehen bleibt. So eröffnet sich ein innerer Raum, der sonst ver© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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schlossen bleiben würde. Der Patient »erreicht mich« in Gedanken und Gefühlen, ohne dass er physisch präsent ist. Die dabei passiv aufkommenden, meist diffus unangenehmen Empfindungen ertrage ich vorerst »einfach einmal«, nehme sie zur Kenntnis, ohne mich auf eine emotionale Abwärtsbahn und in Ängste zu begeben. Das Andere, das Neugierige, Freudig-Gespannte bewahre ich parallel dazu ebenfalls aktiv. Mit diesem Gemisch begegne ich dem Patienten. Es hilft, bereits im Vorfeld vorsichtiger und gleichzeitig offen zu sein, um ihn adäquat zu empfangen, im Wissen, dass sich die »sorgende Verunsicherung« ganz oder zumindest größtenteils blitzschnell auflöst, sobald wir uns physisch und mit Blickkontakt begegnen. So entsteht gleich zu Beginn in mir ein erleichtertes Dankbarkeitsgefühl dem Patienten gegenüber. Dieses empfinde ich als wichtig für die weitere Beziehungsaufnahme in den ersten Minuten der Therapiesitzung. Bleibt aber mein unsicheres Gefühl bestehen, ist es für mich ein Alarmzeichen aus der Gegenübertragung, welches ich nicht unbeachtet lasse, da es entscheidend zum weiteren Verlauf der Begegnung in der Therapiesitzung beiträgt. Dieses Vorgefühl, ob es bei der Begegnung verschwindet oder bestehen bleibt, erinnert mich daran, dass noch weitere mir unbekannte und dennoch eventuell parallel aktive »Universen der Wahnwelt« vorhanden sein können – unabhängig davon, wie nahe ich dem schizophrenen Menschen und er mir inzwischen hat kommen können. Die schlechte Nachricht: Für solche Gegenübertragungsarbeit gibt es keine Anweisung im Sinne eines Manuals, das man erlernen und anwenden könnte. Diese therapeutisch wichtigen Sensoren wahrzunehmen und die Fähigkeit, sie zu benutzen, erfordert, sich auf viele Varianten unbewusster Inszenierungen einzulassen. Jedes Mal wird man von Neuem gefordert, zwischen sich selbst, dem eigenen Unbewussten und dem Fremdausgelösten zu unterscheiden. Man muss Erfahrungen sammeln, reflektieren und sich selbst dabei weiterentwickeln. Das Feld der möglichen Gegenübertragungsfallen ist riesig. Die begrenzenden Pole bilden die starken, oft unreflektierten Gegenübertragungsgefühle – die stark negativen auf der einen, die extrem © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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positiven auf der anderen Seite. Dazwischen liegt eine große Bandbreite therapeutisch nutzbarer Bereiche, allerdings schlummert hier auch eine weitere gefährliche Gegenübertragungsfalle – die sich unbemerkt einstellende Gleichgültigkeit. Diese Falle zeigt sich nicht offensichtlich. Man pflegt einen korrekten Umgang mit dem schizophrenen Patienten, bestellt ihn regelmäßig ein, er kommt, man überprüft die Wirkung der verordneten Medikamente, schreibt Rezepte, spricht über den aktuellen Alltag, ohne jedoch in die Tiefe zu gehen. Sanft fällt man in die ritualisierte Gewöhnung. So können wichtige Zwischentöne untergehen, weil man sich nicht aktiv genügend Zeit und Ruhe für ihn nimmt. Man einigt sich unausgesprochen auf dieses Arrangement, das freundlich-distanziertere Vorgehen, und ist beiderseitig froh, wenn die Sitzung schnell und problemlos vorbeigeht. Dazu gehört auch die vermeintlich beruhigende Absicherung, den nächsten Termin zu vereinbaren. Alles nimmt unspektakulär seinen Lauf. Die unbemerkte, nicht störende Gleichgültigkeit bildet die unausweichliche Gegenübertragungsfalle. Bei schizophrenen Menschen spricht man im Rahmen der Psychopathologie oft von Negativsymptomen und meint damit, dass sie uns unter anderem abgestellt, desinteressiert und passiv erscheinen. In »Identitätsgrenzen des Ich« habe ich an Beispielen aufgezeigt, wie äußere Passivität meist innere Aktivität verdeckt und autistisch abgehandelte schwerste Stürme und Auseinandersetzungen stattfinden, die wir in der Außenposition nicht wahrnehmen können. Der Patient ist in höchstem Maße beschäftigt, auch mit dem Abdichten seiner Grenzen nach außen, und kann keine Energie mehr für das Geschehen außerhalb seiner Innenwelt aufbringen. Deshalb erscheint er uns fälschlicherweise passiv. Wir Therapeuten können ebenfalls »Negativsymptome« entwickeln. Eine Variante ist die beschriebene Gleichgültigkeits-Gegenübertragungsfalle, die uns schachmatt setzt, ohne dass wir es bemerken. Wir werden zu Figuren, die auf- und abräumen, ohne wirklich zu spielen, und dennoch das Gefühl haben, im Spiel zu sein. Das sich entwickelnde gefährliche psychotische Geschehen läuft auf einem anderen Schachbrett ab, ohne uns als aktive Mitspieler. Wir bemerken es, wenn der Patient in der Außenwelt dekompensiert, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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und wir oft überrascht und notfallmäßig reagieren müssen. Aus dem Bereich der Gleichgültigkeit, welche ich zur nichttherapeutischen Mitte zähle, ist der Weg zu einem der Pole meist in oder nach einer heftigen Dekompensation, sehr rasch getan. Das Mittelfeld ist für uns im Alltag meist gut managbar und recht bequem, solange nichts Außergewöhnliches passiert. Unreflektiert bleibt der therapierelevante positive Entwicklungsprozess allerdings aus. Die Pole der Gegenübertragungsfallen führen uns rascher in spürbare Fallen, weil die Umwelt oder wir diese nach gewisser Zeit kaum mehr übersehen können. Bei starken und anhaltenden, sich wiederholenden negativen Gegenübertragungsgefühlen können sie uns im Extremfall dazu bringen, den Patienten zu hassen, ihn definitiv und eingrenzend kontrollieren zu wollen. Es können in uns ungewohnte heftige bis »sadistische« Fantasien frei werden. Die negative Gegenübertragung führt unbearbeitet im Extremfall zum Therapieabbruch. Der Therapeut fühlt sich enttäuscht vom Patienten, wird vielleicht ärgerlich und ungeduldig und hält diesen auf Distanz, letzlich wird er oft weiterver- oder in eine Klinik eingewiesen. Der sensible schizophrene Patient, der seine unbewussten negativen Gefühle erfolgreich auf den Therapeuten projiziert hatte, distanziert sich ebenfalls vom Therapeuten, weil er diesen als fremd erlebt und seine Ängste vor ihm zunehmen. Der andere Pol der Gegenübertragungsfallen, die positiven Gegenübertragungsgefühle, können im Extremfall dazu führen, dass unser Mitgefühl zu einem realen Mitleiden wird und wir ins Helfersyndrom rutschen können. Unbemerkt ins Symbiotische gezogen, verkennen und verlieren wir den Patienten. Wir können mit den eigenen Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die er in uns auslöst, nicht mehr therapeutisch umgehen, weil wir diese unbewusst agierend auflösen wollen. Bei der positiven Gegenübertragungsfalle wird die Fürsorge des Therapeuten dem Patienten zu nah und zu viel. Dieser schützt sich, zum Beispiel durch Settingbrüche oder Abbruch der Behandlung, nicht selten durch eine psychotische Krise, welche ihn in die Klinik und weg vom Therapeuten bringt. Umgekehrt kann es dem Therapeuten mit seiner (Über-)Fürsorge und seinen Bemühungen zu intensiv werden, so dass er überfordert Distanz zum Patienten herstellt, was dieser nicht einordnen kann. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Ein solcher Weg kann unbewusst kompensatorisch sekundär wieder in eine negative Gegenübertragungsfalle führen. Die Gegenübertragungsfalle wird zu Beginn häufig noch nicht richtig als solche gedeutet. Ist das heftige Gefühl, das ich in mir spüre, wirklich Ausdruck seiner auf mich übertragenen, in mich verlegten oder abgebildeten Gefühle? Ist es vielleicht meine eigene Angst oder Sorge, die nur durch ihn in mir aktiviert wurde? Die Trennung dieser Qualitäten ist manchmal nur gemeinsam durch vorsichtiges Nachfragen in geeigneter Formulierung möglich und entscheidet maßgeblich über den weiteren Verlauf der Therapie und deren Erfolg. Eine Gegenübertragungsfalle wirkt sich wie ein künstliches Magnetfeld um eine Kompassnadel aus und führt, ohne bemerkt zu werden, in die falsche Richtung. Die gute Nachricht: Gegenübertragungsfallen können, wenn rechtzeitig reflektiert, sogar zu Quellen des vertieften Verstehens werden, die wir nutzen sollten. Denn sie geschehen in jeder Therapie und kein Therapeut ist davor gefeit! Das Rezept, solche Fallen früh zu bemerken oder, wenn man unbewusst hineingetappt ist, diese positiv zu verwenden, ist »einfach«. Ergänzend zur eigenen Selbsterfahrung benötigen wir den kontinuierlichen Spiegel der Supervision. Dabei ist eine zwingende Voraussetzung die Offenheit, über alle entstehenden Gefühle zu berichten. Dazu gehört das Vertrauen in den Supervisor, von ihm weder entwertet noch beschämt oder gar besserwisserisch gedemütigt zu werden, einerlei, was man berichtet. Das erfordert vom Supervisor den Respekt vor dem Supervisanden, die Würdigung, wie schwer es sein muss, offen über Unsicherheiten oder gar unterlaufene Fehler zu reden, sein subjektiv empfundenes Versagen vielleicht auch sachlich bestätigt zu bekommen. Der Prozess des freien Berichtens ähnelt dem freien Assoziieren in der Analyse. Es ist eine wertvolle Chance, mich im Spiegel Supervisor zu betrachten und das zuvor von mir unbewusst Abgewehrte und Verdrängte sichtbar werden zu lassen. Die Supervision ermöglicht es mir, den Patienten indirekt mit möglichst allen Facetten des aus der Therapie in mir Abgebildeten besser zu reflektieren, erste Anzeichen meiner Abwehr im Sinne der beginnenden Gegenübertragungsfalle rechtzeitig zu bemerken. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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In der Supervision erkannt lassen sich solche heftigen Verkennungen und Verwechslungen rasch verstehend und uns entlastend beheben. Die Gefühle dem Patienten gegenüber neutralisieren sich schlagartig und ermöglichen es uns, unsere Haltung ihm gegenüber zu relativieren, danach zu positivieren und machen eine nächste Begegnung mit dieser korrigierten Haltung möglich. Meistens finden wir unsere Freude wieder, ihm erneut zu begegnen. Ohne diese Hilfe aus der Supervision kommen wir mit dem schizophrenen Patienten früher oder später meist nicht mehr klar. Letztendlich kann im schlimmsten und nicht seltenen Fall eine Verunsicherung unbewusst in den Patienten zurückverlegt werden. Er erhält in unverdauter, »unrecycelter« Form zurück, was Teil von ihm ist, bedingt durch unsere Unfähigkeit, ihn zu verstehen und dies therapeutisch zu verwerten. Er, der sich sowieso schon verfolgt fühlt, erhält so die ursprünglich wahnhafte, sich selbst erfüllende Prophezeiung real bestätigt, dass auch wir ihn verfolgen und belasten. Die Spirale beginnt sich zu drehen! Als Trost für den betroffenen Leser, dem Erinnerungen an solche Situationen aufkommen: Ich habe selbstverständlich solche Erfahrungen im Laufe der eigenen Entwicklung in Therapien auch machen müssen. Zum Glück wurden von mir unbewusst fehlgeleitete Wege jeweils rechtzeitig und im Ansatz von außen erkannt – dank meiner Supervisionen, die ich seit meiner Assistenzarztzeit regelmäßig wahrnehme. Glücklicherweise führen solche drohenden, aber rechtzeitig erkannten Entgleisungen oft zu einer wirklichen Verdichtung der Beziehung mit dem Patienten im gesunden Sinn. Unsere innere Reifung bringt uns weiter und wird unbewusst vom Gegenüber positiv integriert. Wenn dem Therapeuten die Behandlung trotz aller Vorsicht völlig entglitten ist, lohnt es sich, mutig und offen in der Supervision Hilfe zu suchen, ohne sich durch falsche Schamgefühle behindern zu lassen. Benedetti erwähnte mehrfach in Vorträgen, wie vor allem der schizophrene Patient seinem Therapeuten schlimme Fehltritte vergibt, solange er ehrlich dazu stehen kann und bei sich bleibt. Zudecken hingegen verwirrt ihn. Er, der alles wahrnimmt, aber nicht wirklich rational einordnen kann, ist den Gefühlen des »Verwirrtwerdens« gnadenlos ausgeliefert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Gegenübertragungsfallen können im günstigsten Fall in therapeutisches Wirken umgesetzt werden, im schlechten Fall großen Schaden anrichten. Es gibt Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten in der Arbeit mit der Gegenübertragung. Manchmal nützt sie uns nichts, obschon wir in keine Falle getreten sind. Perakut entstehende Dekompensationen, von denen wir überrascht und in die wir unerwartet hineingezogen werden, gehören dazu. Wenn wir nicht sorgsam mit dem Setting und den Grenzen umgehen, kann eine psychotische Eskalation in Gang gesetzt werden. Weil das so wichtig ist, dazu ein Beispiel: Einer meiner zum Glück bereits erfahreneren Assistenten, der damals noch nicht lange in der Klinik arbeitete, hatte Dienst. Er wurde von der Nachtwache wegen einer Unklarheit zu einem ihm zuvor nicht bekannten, sonst friedlichen Langzeitpatienten einer offenen Station gerufen. Aus der Außensicht betrachtet hatte der Patient einen von ihm selbst starr geregelten stabilen Tagesablauf, der sich fast ohne Veränderung seit Jahren wiederholte. Die Nachtwache hatte leider beim Telefonieren nicht darauf geachtet, die Tür zum Stationszimmer ganz zu schließen. Der Patient hörte zufällig, da er sich auf dem Gang in unmittelbarer Nähe befand, seinen Namen und dass ein ihm unbekannter Arzt kommen werde. Er versteckte sich hinter der Tür des Aufenthaltsraums. Als mein Kollege kam und ihn suchte, trat er hinter der Tür hervor, überraschte ihn mit einem gefährlichen Messer in der Hand und wollte auf ihn losgehen. Geistesgegenwärtig und reflexartig stieß der Arzt dem Patienten einen zufällig dastehenden Rolltisch entgegen und entfernte sich zügig. Der Patient verbarrikadierte sich im Zimmer, das Messer weiter verkrampft in der Hand haltend und nicht mehr erreichbar, so dass die Polizei ihn mit großem Aufwand überwältigen und aus seiner Verschanzung auf die geschlossene Station bringen musste.

Alle waren erschrocken, dass in diesem so friedlichen Menschen unbemerkt ein derartiges Gewaltpotenzial schlummerte. Er selbst war sich nie einer »Schuld« bewusst. Von mir wiederholt darauf angesprochen argumentierte er stets, sich existenziell bedroht gefühlt und legitim geschützt zu haben. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Nach wenigen Tagen war der Spuk vorbei und sein Leben ging wie zuvor streng geregelt und ritualisiert weiter. Während der Zeit, in welcher ich noch dort arbeitete, wurde er nie mehr gefährlich. Außenposition und Innenposition im Verstehen derselben Situation lagen sehr weit auseinander, ohne dass das Potenzial der Gegenübertragung zum Tragen hätte kommen können oder dass eine Gegenübertragungsfalle betreten wurde. In dieser Situation blieb dem Kollegen nur noch die reflexartige Reaktion, da er keine Zeit hatte, um ein warnendes Vorgefühl überhaupt entwickeln zu können. Es bleibt uns lediglich die immer notwendige Vorsicht im Umgang mit schizophrenen Menschen und ihren manchmal ihnen selbst unbekannten Seiten. Dieses Beispiel zeigt, wie zum Beispiel unter gewissen Umständen aus jahrelanger Stabilität blitzschnell eine gewaltige Instabilität mit inneren Umbrüchen entstehen kann. Das Innenwissen des schizophrenen Menschen und sein psychotisches Verstehen und Interpretieren einer aktuellen Situation kann rasch zu einer unberechenbaren Größe werden. Erst im Nachhinein, in der gemeinsamen Rückblende wurde klar, wie dieser Umsturz in der Innenwelt des Patienten geschehen konnte. Es war ein Detail, welches existenzielle Angst bei ihm auslöste. Da er nicht vorinformiert war und nur wegen der nicht verschlossenen Stationszimmertür durch Zufall vernahm, dass ein fremder Arzt zu ihm kommen werde, entstand für ihn eine äußerst bedrohliche Situation, die er psychotisch verkennend kontrollieren wollte. Diese Episode war mit Anlass, warum ich zusammen mit der Oberschwester die bereits erwähnte und sich über mehrere Module erstreckende Deeskalationsweiterbildung in der Klinik entwickelt und durchgeführt habe. Sich anbahnende kritische Situationen habe ich selbst oft erlebt. Bei meinen Patienten hatte ich bisher meistens das Glück, die sich anbahnenden inneren »Tsunamis« vorher wahrzunehmen. Vorsichtig angesprochen konnte das Geschehen dualisiert und eine Eskalation rechtzeitig abgewendet werden. Es war nicht nur Zufall oder Glück. Die äußerst unangenehmen, teils verwirrenden Vorwarnzeichen bewusst wahrzunehmen, setzt viel Therapieerfahrung voraus. Plötzlich auftretende ungewohnte emotionale »Fragmente« in der © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Innenwelt des schizophrenen Menschen irritieren und destabilisieren ihn. Das kann von uns als ungewohnte Veränderung vorerst nur verschwommen wahrgenommen werden, bevor der Prozess bei der folgenden Eskalation nach außen für jedermann sichtbar wird. Verstehen heißt nie, alles bis ins Letzte zu verstehen, schon gar nicht die Innenwelt eines schizophrenen Menschen. Die unbekannten Anteile sind groß und bleiben selbst für sie oft unzugänglich. In der Therapie mit schizophrenen Menschen (wie in den Naturwissenschaften) spielen auf dem Weg zum Verstehen Intuition, Kreativität und Rationalität eine gewichtige Rolle. Dazu Henri Poincaré (1854–1912): »Mit Logik kann man Beweise führen, aber keine neuen Erkenntnisse gewinnen, dazu gehört Intuition.« Die für den Therapieerfolg wichtige Empathie wird inzwischen an vielen Orten intensiv untersucht, so im »Social Brain Lab« in Amsterdam, wo Empathie Gegenstand von verknüpfter psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung ist. Vielleicht wird es in einiger Zeit möglich werden, mit Hilfe bildgebender Verfahren der Psychosenpsychotherapie unter Berücksichtigung der Gegenübertragung einen klassisch »wissenschaftlichen« Boden zu bereiten. Dazu müsste Empathieforschung mit unseren klinischen Erfahrungen verknüpft werden. Die Zukunft wird zeigen, ob ein solcher Brückenschlag möglich wird, was von beiden Seiten viel Kooperation und gegenseitigen Respekt verlangt. Der schizophrene Mensch überträgt für uns Vermischtes aus Realität und Wahn und autobiografisch oft nicht »sicher« Zuschreibbares. Er hat keine kontinuierliche, verlässliche und stets verfügbare authentische Geschichte mehr wie wir, da sein autobiografisches Gedächtnis von einer subjektiv erlebten Fragmentation seiner Persönlichkeit sowie seiner entsprechenden Wahnbildung meist schwer betroffen ist. Auch wir »Gesunde« schreiben unsere Autobiografie bei jedem Neuerzählen unserer Geschichte um. Dies geschieht allerdings auf der Basis eines subjektiv stabilen Identitätsgefühls, welches sich im »Kern« nicht grundsätzlich ändert. Je psychotischer der schizophrene Mensch ist, desto mehr fehlt ihm der Zugang zu seiner »Kernidentität« und zu seiner Autobiografie. Diese hat er zum Teil verloren, nicht aber die vollständige Erinnerung daran. Der Gedächtnisforscher © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Markowitsch weist nachvollziehbar darauf hin, dass Erinnerungen wohl blockiert sein können, aber im Allgemeinen (anders als zum Beispiel bei demenzerkrankten Patienten) nicht wirklich verloren gehen. Die eigene Biografie mag beim schizophrenen Menschen als eine mögliche Variante neben anderen konstant oder in Teilen konstant bestehen bleiben, oft aber vermischen sich für ihn in der Erinnerung Wahn- und »Realbiografisches«. Deshalb lässt sich mit der klassischen Übertragung über lange Zeit weniger gut odert gar nicht arbeiten – im Gegensatz zur Gegenübertragung. Benedetti schreibt in »Psychotherapie als existentielle Herausforderung« (1992) zum Werkzeug »Gegenübertragung« den sehr eindrücklichen Satz, den ich aus meiner Erfahrung nur bestätigen kann (S. 62): »Was ich meinen psychotischen Patienten in erster Linie deute, ist nicht ihre Psychopathologie, sondern meine Reaktion auf diese – also meine Gegenübertragung. Ich deute dem Patienten mich selber, damit er sich verstehen und am Ende auch selber deuten kann.« Im therapeutischen Bereich bin ich vorerst sozusagen nur die passiv reagierende Leinwand, auf die projiziert wird. Gerade schizophrene Menschen verwirren uns mit Befremdlichem und Ungewohntem sehr und wecken damit in uns heftigste Abwehr. Umso mehr gilt es das in mir Gefühlte genau und sorgsam zu überprüfen. Viele sozialpsychiatrische Rehabilitationsversuche scheitern nach anfänglichem Erfolgen plötzlich und für die Behandler oft überraschend wegen fehlender Kenntnisse um die parallel laufenden Prozessdynamiken im Inneren des schizophrenen Menschen. Dazu habe ich in »Identitätsgrenzen des Ich« ausführlich Theorie und Beispiele dargelegt, gestützt auf die von Benedetti ausgeführte »Leihexistenz«. Zurück in den Praxisraum und meinen »ungewohnten« Vorgefühlen als Tor zu einem später erweiterten Verstehen. In der Stunde selbst kann an den vom schizophrenen Patienten eingebrachten Themen auf beide Positionen achtend reflektierter eingegangen werden, was zu einem gemeinsam erarbeiteten vertieften Verstehen führt, welches im guten Fall bereits in der Sitzung von beiden geteilt wird. Wenn man unbewusst und unreflektiert die eigenen, bereits vor Beginn vorhandenen, noch ungewohnten Gefühle abwehrt, indem man beispielsweise vermeintlich wichtige anstehende Telefonate © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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führt, Akten von anderen Patienten studiert oder Privates erledigt, entgeht einem dieser sich einmalig präsentierende Zugang zur Innenposition. Neben meinen eigenen haben mich die Erfahrungen aus inzwischen hunderten von Supervisionsstunden gelehrt, wie wichtig diese inneren Vorgänge des Therapeuten bei so schwer gestörten Menschen sind, sowohl als Leinwand als auch als Container, im besten Fall mit der Zeit als recycelnder Container zur Verfügung zu stehen. Verpassen wir diese Chance, bleiben wir sehr oft an der »Oberfläche« des gegenwärtig Angebotenen haften, ohne die Tiefe, die in den Worten und Gesten des Patienten liegt, überhaupt würdigend wahrzunehmen, wir legen sie im Sinne der unbewussten Abwehr rasch wieder beiseite und übergehen sie. Solche Mechanismen könnte man einem Supervisanden mit Videoaufnahmen von Sitzungen gut aufzeigen. Dennoch finde ich Videoaufnahmen mit nicht stabilen psychotischen Menschen problematisch, sogar wenn sie zuvor ihre Zustimmung gegeben haben. Ich erhalte manchmal Anfragen, gemeinsam Videos anzusehen, oft im Vorfeld einer bevorstehenden Fallpräsentation und vor allem von in Kliniken arbeitenden Kollegen, wenn die Infrastruktur dafür vorhanden ist und dort regelmäßig mit Videos gearbeitet wird. Ich werte solche Anfragen als Vertrauenszeichen an den Supervisor, bin dennoch nicht sehr glücklich darüber. Im Rahmen einer offenen und guten Atmosphäre in der klassischen Supervision stellen sich diese Aspekte ebenfalls deutlich dar. Meine Eröffnungsfrage im Fallbeispiel zwei, als der Patient nach seinem Befinden befragt mit »gut« antwortete, lässt erahnen, wie fatal es hätte werden können, die tiefer liegende, anfänglich von mir unverstandene Botschaft zu übergehen. Wenn einige Leser hier einwenden, »das hätten wir, ohne die sorgende Verunsicherung im Vorfeld wahrzunehmen, auch bemerkt«, erinnere ich an unzählige Versuche, die das Gegenteil beweisen, so an das »Gorillakostüm-Experiment« der Psychologen Daniel Simons und Christopher Chabris, nachzulesen in Richard David Prechts Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« (2007). Weil es so wichtig ist, hier nochmals ein Zitat von Precht im selben Buch (2007, S. 92): »Ist unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache konzentriert, kümmert sich unser Gehirn oft gar nicht um © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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andere Dinge, selbst wenn sie mitunter völlig abstrus sind und eigentlich auffallen müssten. […] Unsere Aufmerksamkeit ist ein Scheinwerfer, der nur Weniges beleuchtet. Der dunkle Rest wandert ins Unbewusste.« Therapeutische Begegnungen gerade mit schizophrenen Menschen überfordern uns in diesem Punkt der Wahrnehmung maßlos. Wenn wir nicht geschult sind, möglichst alle unsere Wahrnehmungskanäle aktiv zu öffnen und passiv reflektierend offen zu lassen, einerlei, was passiert, und möglichst viel von dem sich in uns Abbildenden nicht nur wahrzunehmen, sondern auch intuitiv zu filtern und uns selbst bewusst zur Verfügung zu halten, haben wir in der Behandlung von schizophrenen Menschen mittelfristig wenig Chancen, an sie heranzukommen. Viel Vorarbeit an sich selbst ist nötig, um die eigenen Intuitionen und Gegenübertragungen wahrnehmen und verstehen zu lernen sowie therapeutisch konstruktiv nutzen zu können. Dialoge können nur in der Tiefe, an den Schnittpunkten beider Positionen langfristig wirklich verstanden werden und zu therapeutischen Erfolgen führen, welche vom Betroffenen nach abgeschlossener Behandlung selbst weitergetragen werden. Leider sind Gegenübertragungsfallen heute ein Hauptproblem in unserer gestressten, ökonomisierten Zeit geworden. Alles soll rasch und effizient abgehandelt werden. Es ist keine Hexerei, ein »guter« Psychosepsychotherapeut zu werden. Es erfordert jedoch über Jahre harte Arbeit an sich, gekoppelt an viele Erfahrungen, die gesammelt werden müssen. Was sind Ziele und Grenzen vom gemeinsamen Verstehen mit schizophrenen Menschen? Das führt zum nächsten Abschnitt dieses Kapitels.

4.4 Sinn und Grenzen im Verstehen schizophrener Welten Es ist weder möglich noch sinnvoll, schizophrene Innenwelten vollständig entdecken und durchdringen zu wollen. Selbst der wissenschaftliche Ehrgeiz, den schizophrenen Menschen aus der Außenposition zu verstehen, stößt an Grenzen. Sinn des Verstehens ist nicht, eine Wahrheit zu finden, die es nicht gibt. Sinn ist, über ein © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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gemeinsames Verstehen zu lernen, ein Problem so zu definieren, dass beide zusammen an einer Lösung arbeiten können. Verstehen soll helfen, alle realen wie wahnhaften Probleme ernst zu nehmen und aus dem Weg zu räumen, sie zumindest temporär gemeinsam beiseitezustellen, um überhaupt über die Brücke »Verstehen« vom Wissen zum Handeln zu gelangen. Es folgt ein Fallbeispiel, welches auf den ersten Blick wie eine kognitive Exposition und Überwindung durch Üben erscheint. Zuvor bedurfte es jahrelanger psychoanalytischer Arbeit, um zusammen mit der Patientin eine gemeinsame Sprache in ihrer Innenwelt zu entwickeln, ihre inneren, sie bedrohenden Mächte zu verstehen, mit ihnen umgehen zu lernen, um letztendlich über diese Brücke zum Handeln gehen zu können. Zu erwähnen ist, dass sie leider zuvor eine mehr als zehnjährige erfolglose Psychiatrie- und Psychotherapiegeschichte durchlief. Die Patientin, welche über Jahre Gewässer als höchste Gefahr verkannte und sich von diesen fernhielt, wagte mit mir einen Spaziergang zum See. Von weitem erschrak sie bereits wegen einem Busch, den sie als bedrohliche Hexe vor dem See wachend wahrnahm. In einem ersten Schritt wurde es möglich, dass sie, anders als sonst, nicht davonrannte, sondern dass wir uns an diesem Ort stehend darüber auszutauschen begannen, was jeder denn aus seiner Warte wahrnehme, und es nebeneinander stehen ließen. So sagte ich auch, dass ich keine Hexe sähe, sondern einen Busch – ganz im Sinne der wahnexternen Deutung, der Konfrontation mit unserer Realität. Wir einigten uns, dass ich vorerst auf eigenes Risiko allein hingehe und sie mich dabei beobachten solle. Ich näherte mich dem Busch. In Angst um mich bat sie mich, nicht weiterzugehen. Ich berührte diesen Busch und lud sie ein, näher zu kommen, was sie aufgrund der bereits damals recht stabilen therapeutischen Beziehung skeptisch mit einigen Schritten tat. Sie war einverstanden, dass ich sie dort abhole, wo sie nicht mehr weitergehen konnte. Zusammen gingen wir langsam weiter, so nahe, bis sie den Busch als nicht mehr so gefährlich anerkannte und sogar berührte. Allerdings stellte sie damals noch progressivpsychotisch deutend fest, dass die Hexe eben vor mir geflohen

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sei. Egal, wir konnten passieren und uns dem Wasser nähern, wo sie vorerst nur bedrohliche Riesengestalten sah, die sie verschlingen wollten. Es war in der Folge eine lange und schwierige Arbeit, bis sie neben dem Bedrohlichen auch die Schönheit des Wasserspiegels koexistent aushalten konnte. Heute besucht sie regelmäßig ihre Mutter und genießt mit ihr gemeinsame Schifffahrten ohne jede Angst. Sie kann sich gut an vergangene Sichtweisen erinnern. Diese sind heute noch abrufbar, allerdings sind sie wie die Löwen im Zoo hinter einer Glasscheibe sicher versorgt und, was besonders wichtig ist, sie nehmen ihr nicht die Lust an der Fahrt auf dem See.

Ein Sinn des gemeinsamen Verstehens ist, ein Leben für den schizophrenen Menschen zu konstruieren, welches nicht nur unseren gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht, sondern ihm ein möglichst angstfreies, qualitätvolles Leben unter uns ermöglicht. Für die Umsetzung vom Verstehen ins Handeln benötigt er zusätzliche Hilfe, wie es unter anderem die Verhaltenstherapie anbietet. Das wertvolle Leben des erfolgreich behandelten schizophrenen Menschen wird von ihm als »seines« besetzt, gehört ihm als Besitzer mit Identität und Selbstgefühl. Beim Therapeuten ist die gemeinsame Geschichte wie in einem Container gesichert und bewahrt. Sie steht weiterhin zur Verfügung und ist eine Art Versicherung des Zurückgewonnenen und Neueroberten, sozusagen eine Sicherheitskopie und zugleich Quittung und Garantie. Wichtig wird diese im möglicherweise eintretenden Rückfall. Dann steht die erarbeitete gemeinsame Sprache und Geschichte bereit, die ihm hilft, erneut gemeinsam den Weg aus dem psychotischen Labyrinth zu finden. Zu den Grenzen der Behandlung zählen auch Schicksalsschläge, welche als real existierende und unberechenbare Faktoren auf die Therapie einwirken können. Unfälle, Krankheiten und schlimmstenfalls Tod verursachen ungewollte Brüche. Was ist dann zu tun, wenn der Therapeut betroffen ist und den Patienten allein zurücklassen würde? Wie geht es dann trotzdem weiter? Dies muss in dafür geeigneten Momenten wiederholt besprochen werden und in jeder Phase der Behandlung Thema sein. Hier sind weit mehr als rationale Erklärungen und Vorschläge nötig. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Grenzen werden uns unter anderem durch große unbekannte Felder innerhalb der Wahnwelten gesetzt, welche wir nie erfassen können. Zum einen bleibt uns vieles verborgen, weil der schizophrene Mensch es aktiv vor uns verbirgt, zum anderen, weil es ihm selbst gar nicht zugänglich ist. Das soll uns nicht davon abhalten, trotzdem in sicherer Distanz bei ihm zu bleiben. Obwohl es uns Menschen klar ist, dass wir nicht einmal unser eigenes Sonnensystem physisch werden verlassen können, landeten Menschen auf dem so nahen Mond, was ein Meilenstein war. In der Quantenphysik erforscht man die Möglichkeit von Wurmlöchern, die mathematisch nachweislich existieren, obwohl wir wissen, dass es uns wohl kaum vergönnt sein wird, diese zu benutzen, um Zeitreisen zu machen. Dieses Streben hilft uns weiter, unser Sein in unserem Universum auszuhalten, es gibt uns das Gefühl, durch Wissen und Verstehen dabei zu bleiben. In der Schizophreniebehandlung bestehen verschiedene Formen der Grenzen. Solche, die wir nicht überwinden können, und leider auch sehr viele, die wir nicht überwinden wollen. Für diesen Teil zahlt oft der schizophrene Mensch den Preis, zumal er fast keine Lobby hat, die sich für ihn und seine Sorgen und Nöte, auch die seiner Innenwelt, einsetzt. Man kann nicht alles verstehen. Die Voraussetzung, um schizophrene Menschen klug und menschlich zu behandeln, ist, dass wir nicht Halt machen vor der wissenschaftlich nicht beweisbaren, aber vorhandenen Innenposition und die Augen und Türen nicht verschließen.

4.5 Einsicht, Ansicht und Compliance Ein Dauerthema in Supervisionen von Behandlungen schizophrener Menschen ist die häufig fehlende Krankheitseinsicht des Patienten. Das zehrt und bringt Therapeuten bei längeren Behandlungen oft an den Rand der Verzweiflung. Konsequenz einer fehlenden oder mangelnden Krankheitseinsicht ist die fehlende oder nur kurz anhaltende Compliance. Häufig wird dies im Zusammenhang mit der pharmakologischen Behandlung diskutiert, betrifft aber auch Abmachungen im Alltag. Auf den ersten Blick scheint uns die Noncompliance © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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unbegreiflich. Patienten ziehen offensichtlich ihr »eigensinniges« Verhalten unseren Vorschlägen und den angebotenen Medikamenten vor, sogar wenn die sich seit Jahren wiederholenden Eskalationen regelmäßig zur Einweisung in die Klinik führen. Die Geschichte spielt sich oft ähnlich ab. Nach der Entlassung aus der Klinik in gebessertem, medikamentös gut eingestelltem und weitgehend kompensiertem Zustand setzen die schizophrenen Patienten früher oder später die Medikamente wieder ab. Aus unserer Außenposition ist dies kaum nachvollziehbar, da es ihnen doch damit besser ging. Im Alltag beginnen sie sich in bekannter Weise zu verändern, was von der Umgebung als beängstigend wahrgenommen wird. Auf die erfolglosen Konfrontationen mit seinen Veränderungen folgt irgendwann die Dekompensation, welche wiederum zur Klinikeinweisung führen kann, wo dann erneut die Medikamenteneinstellung vorgenommen wird. Deshalb wird seit einigen Jahren die medikamentöse Einstellung mit Psychoedukation kombiniert. Sie findet in Einzelsitzungen oder in Gruppen mit gleichermaßen Betroffenen statt und hat zum Ziel, die Krankheitseinsicht zu fördern und die Compliance der Medikamenteneinnahme nachhaltig zu verbessern. Trotz aller Erfolge in der wissenschaftlichen Erforschung der Schizophrenien sowie der Entwicklung von entsprechenden Programmen zur Psychoedukation bleibt die Noncompliance nachgewiesenermaßen weiterhin »das« große Problem. Sie hat sich in all den Jahren kaum nachhaltig positiv beeinflussen lassen. Das ist ein Grund, weshalb die Diskussion um die pharamakologische Behandlung mittels Depotneuroleptika in letzter Zeit wieder Aufschwung erhält. An der 9. CNS-Academy-Fortbildung in Zürich im Februar 2011 wurde ein Workshop zum Thema »Schizophrenie« mit dem Titel »Was ist gut für unsere Patienten und woher wissen wir das?« angeboten. Eigentlich klang das sehr einladend, ganz in meinem Verständnis und Sinn, was den Umgang mit schizophrenen Menschen betrifft. Der Begleittext zum Workshop ließ mich allerdings aufhorchen. Ich zitiere: »Die Rolle des Arztes hat sich immer mehr verschoben, vom einzig Kundigen, der mit Fachautorität entscheidet, was gemacht wird, zum beratenden Fachmann, der gemeinsam mit dem Patienten einen individuell für diesen passenden Weg © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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erarbeitet. Auf Seite des Arztes könnte man diese Entwicklung mit dem Schlagwort ›Vom Urteil zum Dialog‹ kennzeichnen und auf Seite des Patienten ›Von der artigen Compliance zur informierten Adhärenz‹.« Bis hierher konnte ich zustimmend nicken. Aber dann ging es folgendermaßen weiter: »Wie gelingt es, eine möglichst große Adhärenz zu erreichen? Müssen wir vielleicht auch bezüglich alter und zumindest in der Schweiz weitgehend verlassener Therapiemethoden, wie der Depotmedikation, umdenken?« Der Workshop befasste sich insbesondere mit dem pharmakologischen Aspekt und nicht mit der Innenposition und Sicht des schizophrenen Patienten. Gleiches findet sich in vielen Publikationen wieder, die ich hier gar nicht weiter erwähne, weil sie sich inhaltlich kaum in ihren Aussagen unterscheiden und mit dem verzweifelt wirkenden Vorschlag der Wiedereinführung der Depotmedikation enden. Depotmedikation kann meiner Erfahrung nach eine wichtige und wertvolle Stellung in pharmakologischen Behandlungen einnehmen. Sie ist keinesfalls die Lösung des Complianceproblems! Neben der dargelegten erforderlichen Berücksichtigung unseres Verstehens der Innenposition des Patienten ist auch seine Sicht auf sich selbst aus der Außenposition wichtige, wenn nicht gar zwingende Voraussetzung für eine gute Compliance. Das Fehlen seiner Möglichkeit, sich von außen als Individuum zu betrachten und »neutral« auf sich zu blicken und über sich zu reflektieren, ist ja gerade eine der spezifischen Krankheitshauptsymptome von schizophrenen Menschen. Würde er in einer frühen Phase der Erkrankung bereits eine stabile Krankheitseinsicht haben, müssten größte Zweifel an der Diagnose aufkommen. Ich zitiere den Text zum Kapitel »Schizophrenie« der ICD-10 (Dilling, Mombour u. Schmidt, 1991, S. 95), mit Absicht aus der ersten Auflage: »Die schizophrenen Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affektivität gekennzeichnet. Die Klarheit des Bewusstseins und die intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt. Im Laufe der Zeit können sich jedoch gewisse kognitive Defizite entwickeln. Die Störung beeinträchtigt die Grundfunktionen, die dem normalen Menschen ein Gefühl von Individualität, Einzigartigkeit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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und Entscheidungsfreiheit geben. […] Bei der charakteristischen schizophrenen Denkstörung werden nebensächliche und unwichtige Züge eines Gesamtkonzepts, die bei normaler psychischer Aktivität zurückgehalten werden, in den Vordergrund gerückt und an Stelle wichtiger und situationsentsprechender Elemente verwendet.« Betrachtet man die Symptombeschreibungen 1.–8. aus der Auswahl, welche für die Diagnose aufgezählt werden, wird einem die Absurdität der Erwartung klar, dass ein schizophrener Mensch krankheitseinsichtig sein könnte, bevor ihm ein stabiles Selbstbild zur Verfügung steht. Dieses kann nicht allein durch die medikamentöse Behandlung erreicht und gesichert werden, da er Außen- und Innensicht aufgrund seiner fragmentierten Ich-Grenze gar nicht unterscheiden und trennen kann. In seiner Wahrnehmung dringen wir mit unserer Sicht in ihn ein und besetzen ihn. In seinem subjektiven Erleben tun dies die Medikamente ebenso. Kaum geschluckt, beherrschen sie ihn. Deshalb lehnt er sie ab. Wenn jedoch im dualen Raum der Psychosenpsychotherapie und vorerst innerhalb seines Wahnsystems eine Koalition mit uns und dem Medikament gebildet werden kann, wird er diese gesichert und verlässlich einnehmen können. Außerdem finden wir bei einem Teil der schizophrenen Patienten eine gute Compliance bei der Medikamenteneinnahme, sogar ohne stabile therapeutische Beziehung und ohne innere Stabilität. Das ist dann der Fall, wenn der schizophrene Mensch die aktive Einnahme im Rahmen seiner Psychose als von ihm oder den ihn beherrschenden Mächten entschieden und gesteuert erleben und besetzen kann. Oder wenn das Medikament als Geschenk und Rettung guter Mächte vor den bösen Feinden erlebt wird. Das mag erfreulich klingen, ist es aber nur zum Teil, weil das weder mit anhaltender Stabilität noch mit Krankheitseinsicht zu tun hat, sondern letztendlich Teil seines Wahnsystems ist, welches uns zufälligerweise entgegenkommt und das wir intern kaum mitsteuern können. Ich erlaube mir provozierend zur Diskussion zu stellen, dass fehlende Krankheitseinsicht ebenso bei uns Behandlern zu finden ist. Die meisten Behandlungskonzepte, die heute Anwendung finden, erlauben uns gar keine Einsicht in seine Innenposition. Wir sind aus seiner Sicht genauso uneinsichtig, wie wir es von ihm behaupten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Genau genommen haben wir aus der Außenposition lediglich eine Krankheitsansicht, aber keine Einsicht! Das mag wie eine Wortspielerei klingen, darin steckt jedoch eine tiefe Wahrheit, über die wir nachdenken sollten. Erst mit unserem Bemühen, seine Innenposition zu respektieren und ihr näherzukommen, schaffen wir eine Basis für die erwünschte nachhaltige Compliance. Ohne seine Mithilfe und Bereitschaft, uns in ihn blicken zu lassen, schaffen wir das kaum. Der Weg dahin ist für beide beschwerlich und oft sehr lang. Es ist dennoch der Königsweg der Behandlung schizophrener Menschen. Die dabei entstehende stabile Brücke zwischen zwei sich widersprechenden, aber koexistenten Krankheitseinsichten macht eine stabile Compliance möglich, weil man zusammen versteht oder zumindest versteht, warum der Andere manchmal nicht versteht. Diese Dualisierung verbindet und verbündet. Sie bietet eine echte Chance für die Entwicklung einer nachhaltigen Compliance, die auf gegenseitigem Respekt und Akzeptanz gebaut und gewachsen ist. Das führt uns zum Kapitel »Handeln« – allerdings nicht, wie man erwarten würde, im Sinne der Behandlung des schizophrenen Menschen. Darüber habe ich in »Identitätsgrenzen des Ich« ausführlich geschrieben. Es geht um den Umgang mit unserem Wissen über schizophrene Menschen und uns selbst. Es ist höchste Zeit zu beginnen, uns zu vernetzen, damit wir auf lange Sicht in der Lage sind, unser angesammeltes fragmentiertes Wissen zu einem wissenden gemeinsamen Verstehen aus der Außensicht zu entwickeln. Indem wir die Brücke zum Innenwissen des Patienten schlagen, gelangen wir zu einem sinnvollen gemeinsamen Handeln, das von ihm als Partner angenommen werden kann – ganz im Sinne des leicht abgewandelten Zitats aus den Sprüchen der Väter (Babylonischer Talmud, Nesikin, Kapitel 4): »Schau nicht [nur] auf den Krug, sondern [auch] auf das, was darin ist!«

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Teil C: Handeln

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Die heutige Fortbildungssituation

Dieses Kapitel befasst sich nicht direkt mit dem schizophrenen Menschen. Zum Aspekt Handeln, Therapieren von schizophrenen Menschen habe ich mich wie erwähnt in meinem Buch »Identitätsgrenzen des Ich« ausführlich geäußert. Hier stehen Psychiater, Therapeuten und Forschende aller Richtungen im Zentrum – Personen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Schizophrenien und schizophrenen Menschen befassen, die meisten aus der Außenposition, nur wenige aus der Innenposition. Kompetentes Handeln muss auf einer soliden Grundlage basieren. Dazu gehören auch breit angelegte, interdisziplinäre Fortbildungen. Ich gehe der Frage nach, wie Fortbildungen der Zukunft gestaltet werden müssten, damit das angesammelte, verstreute Wissen und Verstehen der einzelnen Sichtweisen gebündelt, strukturiert und anwendungsbereit zu den handelnden Personen und ihren schizophrenen Patienten zurückfließen kann. Auf Aus- und Weiterbildung sowie die vielen privat organisierten nichtuniversitären Angebote von Fortbildungen gehe ich hier nicht ein. Zur Begriffsklärung: »Ausbildung« meint im Rahmen der ärztlichen Definition in der Schweiz die erste Etappe des Weges zum Psychiater und Psychotherapeuten. Am Anfang steht das allgemeine Universitätsstudium Medizin mit dem Ziel, Arzt mit Staatsexamen zu werden. Es geht noch nicht um fachspezifische Bildung. Der Weg zum Chirurgen steht danach genauso so offen wie der zum Psychiater und Psychotherapeuten. »Weiterbildung« ist die Spezialisierung nach dem Staatsexamen. Sie führt in der Schweiz zum Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Weg dahin wird durch das Reglement der FMH (Föderatio Medicorum Helveticum) respektive delegiert an die Fachgesellschaft SGPP (Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie) curriculär festgelegt. Dieses wurde im Laufe der Jahre mehrfach umgearbeitet. Zurzeit ist eine »Neudefinition« und -regelung im Gange. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil C: Handeln

Die »Fortbildung«, um die es hier geht, betrifft die ausgebildeten spezialisierten Ärzte, welche sich kontinuierlich in ihrem Fach fortbilden sollen, um die Qualität ihrer Arbeit am Patienten zu gewährleisten. Gemäß dem FMH-Reglement müssen wir regelmäßig nachweisen können, dass die geforderten Minimalbedingungen erfüllt sind. Der Einfachheit halber verzichte ich darauf, die vielen anderen, nichtärztlichen Werdegänge zum (Psychosen-)Psychotherapeuten aufzuführen, wie zum Beispiel den Weg über das Psychologiestudium und die darauf folgende Ausbildung an spezialisierten Instituten und Kliniken. Mein Modell soll nicht als Konkurrenz zu bestehenden Angeboten der Fortbildung verstanden werden. Die Idee ist, ein Kernkonzept für einer größere Region zu entwerfen, die inhaltliche wie strukturelle und organisatorische Aspekte beinhaltet. Daran könnten sich andere Fortbildungsangebote orientieren und indirekt, sowohl was die Themen als auch was die Umsetzung betrifft, davon profitieren. Es setzt die Bereitschaft voraus, die hier kritisch dargelegten Betrachtungen zu überprüfen und eventuell nötige Anpassungen vorzunehmen. Grundsätzlich basiert mein Modell auf wichtigen und einfachen Erkenntnissen, die wissenschaftlich fundiert sind, doch in ihrer Umsetzung bislang kaum berücksichtigt werden. Emotionalität in der Wissensvermittlung ist einer dieser Aspekte, die stiefmütterlich behandelt werden. Hans J. Markowitsch und Harald Welzer schreiben in »Das autobiograpische Gedächtnis« (2005, S. 67) im Abschnitt »Motivation und Emotion – das limbische System«: »Ebenso wie Aufmerksamkeitsprozesse und exekutive Funktionen formen auch motivationale und emotionale Vorgänge unser Gedächtnis. Erst der Wille (das Motiv), etwas zu tun oder etwas zu lassen, lässt unser Interesse erwachen und führt uns somit an den Lernvorgang heran. Gesteigert werden Wille und Interesse dadurch, dass wir der Umwelt nicht neutral gegenüberstehen, sondern emotional berührt werden.« Die Fallvorstellung soll in meinem Modell die emotionale Grundlage bilden. Nicht allein Faktenwissen soll vermittelt werden, es geht ums »Geschichtenerzählen«. Erzählt wird die Geschichte © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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eines betroffenen schizophrenen Menschen, in dessen Leben die Störung einbrach, wie sie ihn und seine Umwelt veränderte, was ihn schließlich in die Behandlung zum Therapeuten brachte und wie ihre gemeinsame Geschichte beide verändert hat. Erzählt wird, in welche Sackgassen sie geraten sind, wie sie Auswege und Umwege gesucht und gefunden haben oder auch nicht, wo sie inzwischen stehen, der Therapeut und sein schizophrener Patient. Das Faktenwissen dazu wird anschließend in Workshops eingebaut. Die Verknüpfung zwischen Gedächtnis und Emotionalität spielt beim Lernen eine wesentliche Rolle. In diesem Zusammenhang ist die bereits im Jahr 2000 nobelpreisgekrönte Arbeit von Eric Kandel zur Erforschung des Langzeitgedächtnisses zu nennen. Er bewies, dass das Langzeitgedächtnis nicht auf einer Qualitätsverbesserung der Synapsen selbst beruht, sondern auf der Bildung von vermehrten Bindungen zwischen den Synapsen, was an die Freisetzung eines Proteins (CREB-Bindeprotein) aus Nervenzellen geknüpft ist, welches er bereits in den 1980er Jahren entdeckte (Precht, 2007, S. 106). Hier sei aus der neueren Forschung nur soviel erwähnt, dass die emotionale Verknüpfung für die Nachhaltigkeit im Abspeichern und Erinnern »nackter« Fakten eine gewichtige Rolle spielt, so auch beim motorischen Umsetzen des Gehörten beim Musizieren und Tanzen. Beispiele zu Untersuchungen audiomotorischer Koppelung finden sich in der Hirnforschung mit Musikern, wie sie an der Zürcher Universität der Neuropsychologe Lutz Jäncke seit Jahren betreibt. Einiges davon findet sich in seinem Buch »Macht Musik schlau?« (2008). Wenn man aus wissenschaftlicher Sicht über nachhaltige Fortbildungen nachdenkt, sind Emotionen beim Lernen nicht zu unterschätzen. Inzwischen weisen die meisten Fachleute, die sich intensiv mit Lernen und Lernprozessen befassen, auf den Zusammenhang zwischen dem Gelernten und der Emotionalität für nachhaltiges Erinnern des Faktenwissens hin. Erinnern als Voraussetzung, um Wissen und Verstehen in sinnvolles Handeln umzusetzen, geht nicht ohne Emotionen. Deshalb ist die Art und Weise, wie etwas vorgetragen und vom Referenten selbst emotional besetzt wird, so wichtig. Das im Kapitel »Wissen« erwähnte Limit, uns nicht auf zwei Kanäle gleichzeitig © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil C: Handeln

voll konzentrieren zu können, muss in der Anwendung moderner Techniken bei Fortbildungen mit berücksichtigt werden. Es nützt oft wenig, mehrere Kanäle unreflektiert parallel einzusetzen. Gleichzeitig zu sprechen, Bilder und Schrift zu projizieren, ohne dass das zeitlich gut miteinander koordiniert und an die Möglichkeiten unseres Gehirns angepasst wird, schmälert den Gewinn eines Referats. In meinem Modell gehe ich von einer Veranstaltung zu einem Jahresthema, beispielsweise »Schizophrenien«, aus. Es könnte für das Einzugsgebiet einer Universität, wie zum Beispiel Zürich mit der PUK (Psychiatrische Universitätsklinik, Burghölzli genannt), entworfen werden. Das Jahresthema ist für weitere regionale Fortbildungsveranstaltungen im selben Jahr als unverbindliches Angebot zu verstehen. Wenn Kliniken und Institutionen sowie private Anbieter diesem Vorschlag folgend eigene ergänzende und vertiefende Angebote zum selben Thema lancieren, entstehen Synergieeffekte. Dies würde zu einer Potenzierung des Wissens und Verstehens führen, derart gebündelte Angebote könnten viele Therapeuten zusätzlich erreichen. Die im Folgenden modellhaft vorgestellte Fortbildungsveranstaltung bildet jeweils den Start. In leicht abgewandelter Form kann sie auch für fast alle anderen Themenkreise der Psychiatrie und Psychotherapie angewendet werden. In meiner Vision gäbe es im Idealfall regelmäßige Angebote zu übergreifenden Themen wie Depressionen, Zwangserkrankungen, Sucht usw., die zeitlich nicht überlappend koordiniert und geplant werden. Ob in der Praxis oder größeren Institution, jeder kann für sich entscheiden, was er für sein Handeln brauchen kann, und sich entsprechend beteiligen. Fortbildung ist beim Thema »Schizophrenien« besonders heikel. Die Therapie muss den betroffenen, oft schwer zugänglichen Menschen erreichen und ihn in seiner gesamten Person und Komplexität seiner Störungen erfassen und weiterbringen und sich nicht nur auf einen Sektor der Wissens- und Sichtweise seines Behandlers beschränken. Das Wissen zu Schizophrenien aus den Außenpositionen ist inzwischen so spezialisiert, dass heute beim einzelnen Behandler lediglich ein fragmentiertes Wissen, im besten Fall um einige Aspekte erweitert, anzutreffen ist. Sichtweisen der Innenpositionen fehlen meist oder sind nur selten anzutreffen. Das muss sich ändern. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Sogar die weiter voneinander entfernt liegenden Sichtweisen der Außenpositionen sind meist untereinander nicht oder nur wenig vernetzt. Man begegnet im kleinen Kreis immer den gleichen Bekannten, vielen anderen Kollegen kaum. Übergreifende und interdisziplinäre Fortbildungen sowie Kongresse sind selten. Auf Kongressen, die fachlich etwas breiter angelegt sind, versucht man möglichst »vieles von allem« in kurzer Zeit anzubieten und bleibt damit nur an der Oberfläche. Andererseits wird Wissen manchmal auch derart konzentriert dargeboten, dass es nur für Insider verstehbar ist. Dozieren in aneinandergereihten Kurzreferaten von zwanzig bis dreißig Minuten hat Vorrang vor vertiefendem Diskutieren. Diskussionen haben schon deshalb fast keinen Platz, weil das »chronisch« schlechte Zeitmanagement der Verantwortlichen diese verunmöglichen. Unglücklicherweise getrauen sich nur wenige der Gastgeber, zeitlich überzogene Referate ihrer Gäste rechtzeitig zu beenden. Damit es gar nicht soweit kommen muss, kann bereits bei der Einladung sehr höflich auf das strikte Zeitmanagement hingewiesen werden. Unmittelbar vor dem Referat wird der Referent freundlich, aber deutlich daran erinnert. Der Verantwortliche stellt sich spätestens fünf Minuten vor Ablauf der Redezeit neben den Referenten, um aufzuzeigen, dass die Zeit demnächst abgelaufen sein wird. In dieser Rolle musste ich nur selten einen Referenten aktiv unterbrechen. Wenn dem Redner bereits in der Planung der Fortbildung für seinen Vortrag genügend Zeit eingeräumt wird, vermindert das die »Gefahr«, dass er überzieht, zusätzlich. Ziel eines guten Referats ist nicht das Vermitteln von möglichst viel Wissen, sondern das Publikum abzuholen, es emotional zu erreichen und anzuregen, es auch nonverbal einzuladen mitzudenken. So entsteht eine Basis für spannende Diskussionen und einen regen Austausch. In den heutigen Referaten wird der Zuhörer wegen der knapp bemessenen Zeit meist mit Wissen überflutet, das sich nicht nachhaltig festsetzen kann. Als Beruhigung und Trost gibt es Mappen mit Handouts. Der Teilnehmer nimmt sich vor, später in Ruhe nachzulesen. Das geschieht meistens nicht. Irgendwann landet viel Papier ungelesen in einem Ordner oder gleich im Altpapier. Macht man sich dennoch die Mühe, die Handouts später nachzulesen, fällt es © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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oft schwer, die hochkomplexen, zusammengefassten Fakten nachzuvollziehen und wirklich vertieft zu verstehen. Je weiter die inhaltlichen Positionen der Referenten einer Veranstaltung voneinander entfernt liegen, desto eher kann es in höflichen oder weniger höflichen Streitereien weniger Spezialisten enden, während die Menge der Teilnehmenden oft beeindruckt, manchmal aber auch verwirrt und sich selbst überlassen zurückbleibt. Dennoch sind natürlich viele Fortbildungen sehr spannend, interessant und aufschlussreich. Jede Veranstaltung für sich betrachtet bietet einen kleinen fachlichen Gewinn, der zum Teil hängen bleibt, sich meist jedoch leider nicht nachhaltig auswirkt. Ich spreche aus langer eigener Erfahrung. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre habe ich als Teilnehmer den verantwortlichen Veranstaltern oft Rückmeldungen gegeben. Sie blieben meist freundlich gedankt, manchmal sogar geschätzt, aber letztendlich doch ungehört auf der Strecke. Dieser Umstand veranlasste mich schon als junger Oberarzt, Weiter- und Fortbildungsmodelle für den kleinen Rahmen zu entwickeln und umzusetzen. Diese wurden konsequent evaluiert und fast immer als erfolgreich und nutzbringend bewertet. Im Laufe der Jahre ist es gelungen, meine Vorstellungen mit gleichgesinnten (gleichgeplagten) Kollegen zu teilen und zu koordinieren sowie gemeinsam weiterzuentwickeln – sehr intensiv mit Einzelpersonen, aber auch mit Vertretern von Institutionen. Seit 2007 beschäftige ich mich in Berlin im Rahmen der Dozentengruppe der an der Charité durchgeführten Psychosesymposien und DDPP-Kongressen aktiv mit diesem Thema. Ich gehe nun auf die einzelnen »Komponenten«, die für einen Kongress, Symposium oder sonstige fachliche Fortbildungsveranstaltung nötig sind, systematisch näher ein und reflektiere die Positionen kritisch. Es wird um die Teilnehmenden, die Referenten und die Organisatoren gehen. Letztere unterteilen sich in fachlich und für die Administration Zuständige. Fehlt eine dieser drei Komponenten, gibt es keine Veranstaltung. Anschließend stelle ich meine Vision der Fortbildung der Zukunft bezogen auf das Thema »Schizophrenien« vor. Ich folge dabei meinen Ideen und Gedanken, die ich in eigenen Referaten, Weiter- und Fortbildungen, Seminaren und Supervisionen gesammelt habe. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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1.1 Teilnehmer Die Teilnehmer bilden das Kernstück jeder Veranstaltung. Ohne sie läuft nichts. In den heutigen Fortbildungen kommen sie jedoch kaum als Experten und Spezialisten mit großer Alltagserfahrung ins Spiel. Sie bleiben traditionellerweise die Lernenden. Sie sind »Schüler«, denen von den wissenden und verstehenden »Lehrern« Wissen und Verstehen angeboten wird, welches sie aufnehmen und integrieren sollen. Auf den ersten Blick könnte man tatsächlich glauben, die Teilnehmer würden ausschließlich kommen, um etwas zu lernen. In Tat und Wahrheit gibt es weitere zu berücksichtigende Motivationen. Die meisten Kollegen, mit denen ich im Laufe der Jahre Erfahrungen ausgetauscht habe, bestätigen meine Einschätzungen. Sie gewichten die folgenden einzelnen Aspekte teils unterschiedlich. Sich fortzubilden, ist eine erwünschte, legitime und leicht zu vertretende Abwechslung, aus dem Alltag der einsamen Praxisarbeit herauszukommen. Man trifft andere Kollegen im lockeren Rahmen. »Sehen und Gesehen werden« ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Die geforderten Fortbildungsnachweise (Credits) können ohne großen aktiven Aufwand erlangt werden. Ein häufig anzutreffender Motivationsaspekt ist die im Hintergrund lauernde Angst, das Neueste zu verpassen, nicht »up to date« zu sein. Dieses Gefühl rückt durch die Teilnahme zunächst in den Hintergrund. Sollte zufälligerweise ein Thema angeboten werden, welches zu diesem Zeitpunkt ein Problem in der konkreten Arbeit mit einem Patienten darstellt, kann die Teilnahme eine Hoffnung wecken, da eine Lösung zu finden. Zudem schafft ein Kongress, eine Fortbildung eine Möglichkeit, »die Großen«, von denen man gelesen oder gehört hat, aus der Nähe zu erleben. Dazu gehört für einige sicher der Reiz, sich durch Fragen bemerkbar zu machen, um sich dem Auditorium als Wissende zu präsentieren. Viele Teilnehmer haben dagegen Scheu, in einem solchen Rahmen etwas zu bemerken oder zu fragen. Die Angst, sich vor großem Publikum zu äußern und sich eventuell bloßzustellen, hindert daran. Ein angstfreies Klima bei Fortbildungen zu schaffen, ist ein ernstzunehmendes, heute weitgehend vernachlässigtes Kriterium, um gute und effiziente Veranstaltungen durchzuführen. Dazu © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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gehört, ein lockeres, emotional einladendes Umfeld zu schaffen, das den gegenseitigen Austausch ermöglicht. Da reicht der Orangensaft oder Sekt und freundliche Pharmavertreter zu Beginn nicht aus. Diesbezüglich ist es in den letzten Jahren im Ansatz etwas besser geworden, da zusätzlich zu den Vorträgen auch Workshops angeboten werden, die diesen Aspekten Rechnung tragen sollen. Workshops dauern in der Regel länger als die einzelnen Referate und sollten theoretisch von einem kleineren Kreis besucht werden. Die Realität sieht oft ganz anders aus. Workshops stellen sich leider zu oft als fortgesetzte »Vorlesung im kleineren Rahmen« heraus. Ein Referent monologisiert im ungünstigsten Fall den Großteil der Zeit zu seinem Thema. Nur selten bleibt genügend Spielraum für Diskussionen in diesem eigentlich genau dafür vorgesehenen kleineren Rahmen. Mit der Idee von Workshops hat das wenig zu tun. Sinn und Zweck wäre, in kleinen Gruppen mit einem ausgewählten Referenten und dem Kreis der Teilnehmenden in Kontakt zu kommen, den »Angstpegel« zu senken, das Thema gemeinsam zu vertiefen und untereinander Erfahrungen auszutauschen. Diese Vorgabe erfüllen nur wenige Angebote. Workshops mit dreißig bis fünfzig und manchmal weit mehr Teilnehmern und einem weiterdozierenden Referenten sprechen emotional nicht an und wirken nicht nachhaltig. Ein weiterer, kritisch zu reflektierender Grund, warum an diesen Veranstaltungen teilgenommen wird, ist, dass man sich finanziell nur bescheiden beteiligen muss, also Gast und Konsument ist. Wenn die Veranstaltung nicht anspricht, fehlt man ohne Bedenken, bummelt in der Stadt und macht sich einen gemütlichen freien Halbtag, was kaum auffällt und das ungute Gefühl, welches während der Veranstaltung entstanden ist, lustvoll kompensiert. Die größte finanzielle Investition für Kollegen mit eigener Praxis ist der Einkommensausfall. Da die Veranstaltungen oft nur wenige Stunden bis zu einen Tag beanspruchen, sorgen die Veranstalter dafür, dass es nicht zum Hinderungsgrund wird. Geraffter werden Veranstaltungen auch über Mittag als »LunchFortbildung« angeboten. Man eilt aus der Praxis oder dem Institutionsalltag zur Fortbildung, hört sich Interessantes an, isst eine Kleinigkeit, tauscht dabei kurz einige höfliche Worte mit Kollegen aus und eilt zurück in den Alltag. Nur sehr gut vorgebildeten und © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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geübten Teilnehmern ist es möglich, das Gehörte zu erinnern und sinnvoll einzusetzen. Es gibt weitere Fortbildungsangebote, die während der Semester stattfinden. Sie werden lange vorher angekündigt und sind in den Praxisalltag einplanbar. Es gibt auch regelmäßige Angebote, die an jeweils einem festen Wochentag zu einem bestimmten Termin und über den Zeitraum des Semesters zu einem Thema stattfinden. Verschiedene Referenten aus verschiedenen Richtungen werden dafür eingeladen. Sie dauern in der Regel 90 bis 120 Minuten. Danach kehrt man an die Arbeit, in die Praxis, in die Institution oder, wenn am frühen Abend angesetzt, nach Hause zurück. Auch bei solchen Fortbildungen bleibt oft zu wenig Zeit, um sich in Ruhe auszutauschen und das Gehörte zu verdauen. Alle diese Angebote mögen jedes für sich wertvolle und interessante Module darstellen, sind aber unkoordiniert und tragen den genannten wichtigen Faktoren nur selten Rechnung. Für effizientes nachhaltiges Lernen und Umsetzen in die Praxis sind sie meiner Erfahrung nach wenig geeignet. Daraus ergibt sich für mich, dass in Zukunft das Augenmerk auf ein verbessertes, angstfreies Veranstaltungsklima gerichtet werden sollte. Angebote müssten regional inhaltlich besser koordiniert und der notwenige Zeitrahmen der Module gezielt überdacht werden, um nicht nur dem Einzelnen, sondern einem untereinander locker vernetzten Kollektiv Wege zu eröffnen, letztendlich bessere Qualität in der Arbeit des Einzelnen zu fördern und nachhaltig weiterzuentwickeln. Die Teilnehmer sollten vom passiven Konsumenten zum aktiven, gleichberechtigten Partner werden. Praxiswissen und Verstehen sollten einen angemessenen Platz neben Forschung, universitärem und Klinikwissen erhalten und Kollegen aus der Praxis damit als Experten ernst genommen werden. Das erfordert mehr direkte Beteiligung und Mitverantwortung auch der Teilnehmer. Sie sollen sowohl zur Organisation als auch zur Finanzierung und zum Inhalt ihren Beitrag leisten.

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1.2 Referenten und Organisatoren 1.2.1 Inhaltliche Verantwortung

Universitäten sowie Kliniken haben den Auftrag der Bildung auf allen zuvor genannten drei Ebenen. Daher besteht ein großes Interesse, nachweisen zu können, dass sie diesen Auftrag erfüllen, der ihnen letztendlich Gelder sichert. Inhaltlich sollen sie das Neueste aus Universitäts- und Klinikwissen zur Verfügung stellen. Gesellschaftlich und politisch betrachtet sind sie die Garanten für hohe Qualität von Lehre, Forschung und klinischer Tätigkeit. Dafür erhalten die Exponenten neben finanziellen Mitteln auch Ruhm und Ehre von der Gesellschaft zuerkannt. Die jeweils eingeladenen Referenten sollen vermitteln und fördern. Oft handelt es sich um hoch spezialisierte Fachleute, meist auf Universitätsniveau, die auf einzelnen Gebieten herausragend sind und in Fortbildungen viel beitragen können. Sie tun dies mit unterschiedlichem didaktischem Geschick – manchmal brillant und manchmal weniger herausragend, was auf die Nachhaltigkeit im Erinnern der Lernenden einen wesentlichen Einfluss hat. Aufgrund der großen Anforderungen und Erwartungen, die von allen Seiten in ihrem Alltag an sie gestellt werden, sammeln sie nur selten genügend direkte Patientenbehandlungserfahrungen. Der Anspruch, international anerkannt zu sein, viel zu publizieren und zitiert werden zu müssen, hindert sie daran. Sie wissen nachweislich sehr viel auf ihrem Forschungsgebiet, aber oft nur wenig von der konkreten und realen Situation auf der Ebene des Behandlers, der hier als Lernender zuhört. Neben dem Forschen, Publizieren und Vorlesungen halten sollten sie zudem ihre Institution(en) leiten, Führungsaufgaben wahrnehmen, delegieren, ohne die Übersicht zu verlieren, wirtschaftliche Verantwortung mittragen und in der Öffentlichkeit präsent sein. Sie werden so oft zu »Reisenden«, was eine regelmäßige und ruhige Behandlung eigener Patienten ausschließt. Für die Verknüpfung ihres enormen Wissens und Verstehens in ihrem Bereich mit der Praxis bleibt wenig oder gar keine Zeit. Anders in der somatischen Medizin: Auch hier finden sich große korrekturbedürftige Verluste in wesentlichen Bereichen. Dennoch, um an einer Universitätsklinik eine ordentliche Professur, zum Bei© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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spiel für Viszeral-Chirurgie, zu erhalten, ist es notwendig, eine entsprechende Abteilung eines Universitätsspitals zu leiten, Kollegen auszubilden und eventuell sogar zusätzlich die Stelle eines Klinikdirektors zu besetzen, aber zwingend auch in seinem Fachgebiet regelmäßig und sehr gut operieren zu können, eine Koryphäe in diesem Bereich zu sein, sowohl auf Wissens- und Verstehens- als auch auf Handlungsebene. Hier ist meines Erachtens in den letzten Jahren auch in der Psychiatrie vieles aus dem Ruder gelaufen. Das wirkt sich bis auf die Ebene der Fortbildungen negativ aus. Parallel dazu hat sich in den letzten zwanzig Jahren auf Chefarztebene in Nicht-Universitätskliniken ein ähnlicher Prozess entwickelt, der vom direkten Patientenkontakt wegführt. Chefärzte der Psychiatrie außerhalb der Universitäten müssen ihre Kliniken nicht nur fachlich und personell leiten, sondern vermehrt auch Verantwortung für wirtschaftliche Aspekte übernehmen und die Klinik administrativ mitmanagen. Das haben sie auf ihrem Weg zuvor nicht gelernt und müssen es im Nachhinein zeitaufwendig ergänzen. Damit Kliniken in der Schweiz auf Spitallisten gelangen und ihre erbrachten Leistungen von Krankenkassen bezahlt werden, müssen sie sich intern mit der Klinikverwaltung über Konzepte einigen, die indirekt mehr und mehr auf Behandlungen und deren Qualität einwirkt. Das bedeutet Zeitverlust für die direkten Behandlungen von Patienten. In letzter Zeit ist in der Schweiz mancherorts zudem ein Trend festzustellen, dass freiwerdende Chefarztpositionen vermehrt mit Universitätsabsolventen besetzt werden, die in jungen Jahren bereits beeindruckend viel »Papier« nachzuweisen haben. Mir stellt sich die kritische Frage, wo neben all den Diplomen und Publikationen, welche viel Zeit in Anspruch genommen haben müssen, die eigene intensive und über Jahre gesammelte Erfahrung der harten Arbeit am Patienten bleibt. Das, was einem Klinikchef unendlich wichtig sein müsste, für Patienten da zu sein, die Qualität der Klinik zu fördern und Kollegen anzuleiten und weiterzubilden, fehlt heute mehr denn je. Wo nur sind die »handelnden« Vorbilder in der Psychiatrie zu finden? In Fortbildungen hat sich eine eindimensionale Hierarchie durchgesetzt, die weitab der Realität steht und die Qualität respektive das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Potenzial beschneidet, welches in solchen Veranstaltungen liegen könnte. Das muss sich ändern, wenn die Psychiatrie und Psychotherapie in Zukunft weiter glaubhaft Bestand haben sollen. Die inhaltliche Verantwortlichkeit kann und darf nicht allein bei den Vertreter der Universitäten oder den Klinikchefärzten liegen. Gute nachhaltige Fortbildungen brauchen gleichberechtigten partnerschaftlichen Austausch aller Mitspieler. Nur so entsteht eine Win-win-Situation. 1.2.2 Administrative Verantwortung

Viele Fortbildungsveranstaltungen werden von der Pharmaindustrie vollständig organisiert oder zumindest unterstützt. Das Davor und Danach liegt oft in ihren Händen. Die inhaltliche Gestaltung obliegt hingegen den Fachleuten. Sie bestimmen Thema und Referenten in Absprache mit der Pharmaindustrie, die dann den Großteil der Kosten trägt. Da die heutige Psychiatrie stark an der Neurobiologie orientiert ist, besteht eine enge und einseitige Verknüpfung zu pharmakologischen Behandlungen. Da der Staat das notwendige Geld nicht zur Verfügung stellt, hat die Pharmaindustrie diese Lücke ausgefüllt. Die Politiker legen fest, wie viel öffentliche Gelder unter anderem in die Psychiatrie und in die universitäre Forschung fließen darf – meist sind die zugebilligten Mittel knapp bemessen. Psychotherapie an Universitäten findet sich kaum und wenn, dann nur auf einem Nebengeleise. Auf Kongressen tritt die Pharmaindustrie in der Rolle der Gastgeber und Partner der Universität auf. Sie organisiert, lädt ein, sie offeriert ein kulinarisches und, wenn es ein größerer Kongress ist, auch das kulturelle Rahmenprogramm und stellt ihre Unterlagen zur Verfügung. In der Mappe der entsprechenden Firma werden auch die Bestätigungen für die Veranstaltung sowie die Abstracts der Vorträge bereitgestellt, zusätzlich versehen mit Prospekten zu ihren Produkten. Manchmal gibt es eine Begrüßung und ein Kurzreferat eines ihrer Vertreter. Die Pharmaindustrie ist überall präsent, das Risiko für den Inhalt trägt sie nicht. Das tragen die Fachleute. Nach der Fortbildung gibt es von einigen Firmen Angebote, zum Beispiel im Internet Referate nochmals zu hören und sich mittels OnlineKursen weiterzubilden. All das ersetzt das persönliche Erleben der Veranstaltung natürlich nicht. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Im Geschäftsalltag dagegen muss die Pharmaindustrie mühsam über viele Vertreter und mit großem zeitlichem wie finanziellem Aufwand versuchen, an die einzelnen Ärzte zu gelangen, um einen Termin für die Vorstellung ihrer Produkte zu erbitten. Dafür wird verständlicherweise in der Praxis meist nur eine kurze Pause zwischen zwei Patientenbehandlungen zur Verfügung gestellt. Dank der geänderten Gesetzgebung dürfen Vertreter seit einigen Jahren keine Geschenke oder Einladungen an die Kollegen abgeben. Sie bringen lediglich ihr auf Produkte beschränktes Wissen mit sowie Unterlagen und Publikationen der Pharmaindustrie, die meist nicht unabhängig erstellt wurden. Sie verfügen oft nicht über ein vertieftes Wissen und Verstehen auf der Ebene der betroffenen Patienten, die ihre angepriesenen Produkte einnehmen sollen. Nur selten finden sich wirklich kompetente Gesprächspartner. An den Fortbildungen hingegen treffen entsprechende Firmen in kurzer Zeit auf einige hundert Psychiater, gebündelt und gut erreichbar und eben in der komfortablen Rolle der Gastgeber und nicht als Bittsteller. Betrachtet man den finanziellen Aufwand der Pharmaindustrie, so begreift man, dass diese Investitionen für sie lohnend sind. Unter dem Strich machen sie ein sehr gutes Geschäft, ich nehme an, das beste der Beteiligten – mit wenig Personaleinsatz und relativ kleinem finanziellem Aufwand, zudem ohne großes Risiko. Ich äußere mich nicht zur heftig geführten Debatte, wie weit die Psychiatrie in ihrer Entwicklung und Forschung durch die Pharmaindustrie beeinflusst und bestimmt wird. Trotzdem, Pharmaka sind sehr wichtig in der adäquaten Behandlung schizophrener Menschen. Daher darf und soll die Pharmaindustrie an Fortbildungen teilnehmen können. Sie soll einen finanziellen Beitrag leisten dürfen, allerdings nur im Sinne einer bezahlten »Eintrittskarte« und nicht mehr. Deshalb sollte ihre Beteiligung an Bedingungen, Erwartungen auch die Ethik betreffend gekoppelt sein. Ihre Beteiligung soll nicht ihrer Gewinnmaximierung dienen, sondern zuerst dem Patienten. Für ein Zukunftsmodell ist es zwingend, sich solchen Fragen offen zu stellen und zu überlegen, welchen Part jeder spielen darf und soll und wie das Verhältnis von Investition und Erfolg auf jeder Ebene aussehen sollte. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Es gibt weitere interessierte Organisationen, die angesprochen und eingeladen werden könnten. Dazu gehören unter anderem die Krankenversicherer, Angehörigenvereinigungen und verpflichtend Vertreter der Lokalpolitik.

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Modellfortbildung zum Thema »Schizophrenien«

2.1 Berücksichtigte Therapierichtungen Im gültigen FMH-Reglement (2012) können die Weiterbildungskandidaten für den Facharzttitel Psychiatrie und Psychotherapie ihren Schwerpunkt aus drei Psychotherapierichtungen auswählen: ȤȤ Verhaltenstherapie, ȤȤ systemische Therapie und ȤȤ tiefenpsychologische, psychoanalytisch-psychodynamische Therapie. Im gedanklichen Pilotprojekt verwende ich diese drei Kategorien ebenfalls. Für die einzelnen Fortbildungsveranstaltungen ergänze ich den Psychiatrieteil mit der heute nicht wegzudenkenden Neurobiologie, damit verknüpft die Pharmakotherapie. Eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft wird die konsequente Vernetzung des Wissens von Psychiatrie und Psychotherapie werden. Nicht berücksichtigt habe ich Bereiche wie Sozialpsychiatrie, Forensik und weitere Psychotherapierichtungen. Im Rahmen einer späteren Erweiterung des Konzeptes könnten zusätzliche Gebiete einbezogen werden. Für den Einstieg scheint mir diese Einschränkung übersichtlicher und für die organisatorischen Überlegungen praktikabler.

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2.2 Inhalt Im Vorfeld bildet sich ein Fünf-Personen-Gremium1 (wie dieses initialisiert wird, muss zuvor festgelegt werden), welches das Jahresthema bestimmt. Themen gibt es viele, eine Auswahl wäre zum Beispiel: ȤȤ Schizophrenien: Halluzinationen und Illusionen, ȤȤ Schizophrenien: Wahnsysteme, ȤȤ Schizophrenien: Kommunikationsprobleme, ȤȤ Schizophrenien: Zwänge bei Schizophrenen, ȤȤ Schizophrenien: Cannabis und Psychose, ȤȤ Schizophrenien: Medikamenten-Compliance und Psychotherapie, ȤȤ Schizophrenien: Grenzen der Behandlung und was kommt danach? Das Gremium organisiert eine einfache Verlosung. Alle genannten Personen(-kreise), die eine Falldarstellung zum Jahresthema des Kongresses anbieten wollen, können sich beteiligen. Organisatorisch könnte die Infrastruktur und Administration der PUK (Psychiatrische Universitätsklinik), eventuell der ZGPP (Zürcher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie) genutzt werden. Ausgeschlossen von dieser Aufgabe wären Pharmaindustrie, Krankenkassen und andere Gremien oder Organisationen, welche eigene Interessen damit verknüpfen könnten. Jeder Kollege mit abgeschlossener Weiterbildung, der frei praktiziert oder institutionell mit Patienten tätig ist, kann sich ohne gro1

Das Gremium setzt sich zum Beispiel aus je einer Person der folgenden Bereiche zusammen: – Forschung, Neurobiologie; – Pharmakologie; – systemische Psychotherapie: Vertreter aus der Praxis/nicht universitären Institutionen; – Verhaltenstherapie: Vertreter aus der Praxis/nicht universitären Institutionen; – psychoanalytisch-psychodynamische Psychotherapie: Vertreter aus der Praxis/nicht universitären Institutionen.

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Modellfortbildung zum Thema »Schizophrenien«211

ßen Aufwand und Vorarbeit an der Verlosung beteiligen und sich bewerben. Das Losverfahren entscheidet über drei Kandidaten, die eingeladen werden, ihren »Fall« unter Einhaltung der vom Gremium festgelegten Kriterien schriftlich und auf maximal zwei Seiten darzulegen und einzureichen. Das Gremium bestimmt daraus möglichst einstimmig oder nach Mehrheitsprinzip, wer mit seinem Fall ausgewählt wird. Diese Person erhält freien Eintritt zur Fortbildung und ist eingeladen, zusammen mit den fünf Gremiumsmitgliedern das Schlusspodium zu bestreiten. Die- oder derjenige verpflichtet sich, die Falldarstellung nach den vorgegebenen Kriterien vorzutragen und die Anonymisierung des Patienten zu garantieren. Neben dem Darlegen von Fakten wird die emotionale Offenheit verlangt, die Geschichte des Patienten zu erzählen und insbesondere auch von Gegenübertragungsgefühlen zu berichten.

2.3 Ablauf Am ersten Tag (Struktur siehe S. 212 f.) ist nach der Begrüßung die Falldarstellung von maximal 45 Minuten Dauer Ausgangspunkt und Grundlage für den gesamten Kongress. Im Anschluss wird die Falldarstellung von jedem der fünf Gremiumsmitglieder aus seiner Perspektive maximal zehn Minuten kommentiert. In der zweiten Tageshälfte und am folgenden Tag besucht jeder Teilnehmer in einer gemischten, aber geschlossenen Gruppe (Interdisziplinarität) die von Vertretern aller Richtungen angebotenen Workshops. Organisatorisch sind Gruppen von zehn bis zwanzig Teilnehmern zusammenzustellen, die in den zwei Tagen zyklisch die Workshops der fünf Fachrichtungen gemeinsam besuchen und dadurch vertieften Einblick in alle Sichtweisen erhalten. Je nach Teilnehmerzahl müssen vom Gremium rechtzeitig Gruppenleiter zur Verfügung gestellt werden: Bei zum Beispiel 250 Teilnehmern gibt es gleichzeitig fünf Gruppen für jede Fachrichtung, die jeweils zehn Personen beinhalten, bei 500 Teilnehmern wären es zwanzig Teilnehmer pro Gruppe, was für einen interaktiven Workshop geradeso noch machbar ist, oder, wenn finanziell möglich, zehn Gruppen pro Richtung mit zehn Teilnehmern pro Gruppe. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Am abschließenden Podiumsgespräch, das 45 Minuten, maximal 60 Minuten dauert, beteiligen sich zunächst nur die fünf Mitglieder des Gremiums und der Fallreferent. Moderiert wird das Podium von einer Person des Fünfergremiums, welche der Fallvorstellende bestimmt. Erst anschließend wird die Diskussion für das Publikum geöffnet. Ein fachfremdes Referat rundet den inhaltlichen Teil ab. Dieses kann von einem Philosophen, Physiker, Ökonomen, Juristen oder sonst jemandem, der zum Thema beitragen kann, gehalten werden. Als ich vor vielen Jahren in Königslutter eingeladen war, ein Referat zu halten sowie einen vertiefenden Workshop zu meinem Thema anzubieten, lernte ich das Modell des fachfremden »Gastreferenten« erstmals kennen. Es überzeugte mich. Ein beeindruckendes Eröffnungsreferat des Philosophen Roland Simon Schaefer mit dem Titel »Philosophie des Glücks – Philosophie des Unglücks« ist im Kongressband »Heil und Unheil für die Seele« (Mauthe, 2004) abgedruckt. In meinem Modell setze ich das fachfremde Referat bewusst nicht als Eröffnungs-, sondern als Abschlussreferat ein. Nach einer intensiven fachlichen Auseinandersetzung mit einem Thema vergisst man oft, dass es noch eine Welt außerhalb der eigenen Community gibt. Ein fachfremdes Referat soll helfen, sich dieser wieder zuzuwenden. Den Abschluss bilden ein kurzer Dank und die Verabschiedung durch ein Mitglied des Fünfergremiums. Mit Hilfe von klug gestalteten Evaluationsbögen, die zu Beginn ausgegeben werden, ergibt sich ein Mittel der Auswertung. Um einen hohen Rücklauf zu erzielen, erhalten die Teilnehmer bei Abgabe eine kleine Rückerstattung oder eine Gutschrift für den nächsten Kongress. Danach könnte es je nach Finanzen ein Kulturangebot mit anschließendem gemütlichen Nachtessen geben. Konkret könnte der Zeitplan wie folgt aussehen: Tag 1 10.00–10.15 Uhr: Start mit Begrüßung und Einführung 10.15–11.00 Uhr: Fallvorstellung 11.00–11.30 Uhr: Pause

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Modellfortbildung zum Thema »Schizophrenien«213

11.30–12.20 Uhr (bis max. 12.30 Uhr): fünf Kommentare à zehn Minuten 12.30–14.00 Uhr: Mittagspause 14.00–15.00 Uhr: Workshop 1 15.00–15.30 Uhr: Pause 15.30–16.30 Uhr: Workshop 2 Tag 2 10.00–11.00 Uhr: Workshop 3 11.00–11.30 Uhr: Pause 11.30–12.30 Uhr: Workshop 4 12.30–14.00 Uhr: Mittagspause 14.00–15.00 Uhr: Workshop 5 15.00–15.30 Uhr: Pause 15.30–16.30 Uhr: Podium 16.30–17.15 Uhr: offene Diskussion 17.15–18.00 Uhr: Abschlussreferat (aus einem fachfremden Gebiet wie Philosophie, Physik, Wirtschaft usw.) Schlusswort von einem Vertreter des Fünfergremiums Apero bis 20 Uhr

2.4 Vorveranstaltung Vor Beginn der Hauptfortbildung wird eine eintägige Einstiegshilfe angeboten. Referate aus allen fünf Blickwinkeln geben eine allgemeine theoretische Einführung ins Thema. Dieser Vorspann orientiert sich nicht am Fallbeispiel, sondern allgemein am Hauptthema. Didaktisch anregend sollen theoretische Grundlagen vermittelt und in kurzen Diskussionen die Klärung allgemeiner Fragen ermöglicht werden. Zeitlich ist dieser Tag großzügig gestaltet. Morgens von circa 9.00 bis 12.00 Uhr finden zwei Referate von je 45 Minuten mit je 15 Minuten Diskussion sowie einer Pause dazwischen statt, nachmittags von 13.00 bis 17.00 Uhr die übrigen drei Blöcke mit jeweils einer Pause dazwischen. Der konkrete Zeitplan sähe folgendermaßen aus: © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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09.00–09.15 Uhr: Begrüßung 09.15–10.00 Uhr: Referat 1 10.00–10.15 Uhr: Diskussion 10.15–10.45 Uhr: Pause 10.45–11.30 Uhr: Referat 2 11.30–11.45 Uhr: Diskussion Mittagspause bis 13 Uhr 13.00–13.45 Uhr: Referat 3 13.45–14.00 Uhr: Diskussion 14.00–14.30 Uhr: Pause 14.30–15.15 Uhr: Referat 4 15.15–15.30 Uhr: Diskussion 15.30–16.00 Uhr: Pause 16.00–16.45 Uhr: Referat 5 16.45–17.00 Uhr: Diskussion und Ende

2.5 Ein Beispiel Angenommen, die Fünfergruppe beschließt folgendes Thema des Jahres: »Schizophrenien und Cannabis«. Es handelt sich um ein kontrovers und oft emotional diskutiertes Thema, welches wegen der Früherkennung aber zunehmend an Bedeutung gewinnt und einen Platz in der Themenliste besetzen muss. Das Gremium wählt inhaltlich sorgsam aus den vielen Möglichkeiten von Teilaspekten diejenigen aus, die es für die Fortbildung in Theorie und Praxis als bedeutsam erachtet. So könnte sich ergeben, dass von der universitären Seite (PUK) beschlossen würde, bildgebende Verfahren gekoppelt an Genetik und Epigenetik als Thema einzubringen. Aus der systemischen Ecke könnte der Vorschlag kommen, Besonderheiten bei der Familiengesprächsführung vorzustellen, wenn das betroffene schizophrene Mitglied Cannabis konsumiert. Aus der verhaltenstherapeutischen Ecke würde vielleicht ein Manual vorgestellt werden, wie mit schizophrenen Menschen, die Cannabis konsumieren, unter welchen Vorbedingungen psychoedukativ zum Thema gearbeitet werden kann. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Modellfortbildung zum Thema »Schizophrenien«215

Aus der psychoanalytisch-psychodynamischen Ecke könnte ein Beitrag zur Bedeutung der Wirkung von Cannabis auf die Innenposition des Betroffenen angeboten werden. Aus der pharmakotherapeutischen Sicht könnte aufgezeigt werden, welche Wirkung der Cannabiskonsum auf schizophrene Menschen in verschiedenen Lebensaltern aus pharmakologischer Sicht hat (was auch mit den Resultaten der bildgebenden Verfahren gekoppelt sein könnte). Zudem könnten eventuell auch mögliche pharmakologische Alternativen für einen Teil der Betroffenen diskutiert und die Erfahrungen aus der Alltagspraxis danebengestellt werden. Der Gastreferent käme zum Beispiel aus der Quantenphysik und würde einen Vortrag zum Thema »Verschiedene Wirklichkeiten« halten. Während sich die Vorveranstaltung mit ihren einführenden Theorievorträgen ausführlich jedem der fünf Standpunkte widmet, beschränkt sich die Fortbildung auf die kurzen Inputs mit den zehnminütigen Kommentaren zur Fallvorstellung vor Beginn des Workshopmoduls. Daher muss sich der Teilnehmer im Vorfeld überlegen, ob er sich mit der Teilnahme an der Vorveranstaltung intensiv und kompakt auf die einzelnen Sichtweisen vorbereiten lassen will oder ob er bereits über genügend Wissen und Verstehen verfügt, um nur an der Hauptveranstaltung teilzunehmen. Jedes der fünf Gremiumsmitglieder überlegt sich aus seinem Bereich mögliche Referenten, die für die Vorveranstaltung und die Workshops in Frage kommen könnten und die über die inhaltliche Kompetenz sowie die notwendigen didaktischen Fähigkeiten verfügen. Das Gremium beschließt eine »geheime« Prioritätenliste und gibt diese an die Organisatoren der Ausschreibung weiter. Diese folgt mit ihren Anfragen im Namen des Fünfergremiums der Prioritätenliste. Wenn die Zusagen stehen, kann die öffentliche Ausschreibung erfolgen. Das Gremium muss sich für seine Arbeit ein realistisches Zeitmanagement auferlegen. Jeder der Vertreter der fünf Richtungen überlegt sich zudem für seinen Bereich, welche nichtärztlichen Institutionen eingeladen werden sollten. Die Institute sind für Versand und Mitteilung selbstverantwortlich zuständig, da sie auch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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profitieren und so einen Beitrag leisten sollen. Sie erhalten von den Organisatoren lediglich die Ausschreibung zugestellt. Die jeweiligen Mitglieder dieser Institutionen, die teilnehmen wollen, müssen über eine FMH-äquivalente Weiterbildung verfügen. In meinem Modell sollte die Ausschreibung durch den Dachverband erfolgen, der alle Psychiater und ärztlichen Psychotherapeuten FMH unter sich vereint, unterstützt von der lokalen PUK. Das ist im Beispiel von Zürich die ZGPP (Zürcher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie). Die ZGPP respektive ihre Mitglieder profitieren von der Fortbildung in hohem Maß, so dass ihr administrativer Aufwand und Beitrag gerechtfertigt ist. Es ist kaum vorstellbar, dass die Mitglieder der ZGPP, welche einen großen Teil der potenziellen Teilnehmer ausmachen, eine solche Beteiligung ablehnen würden, zumal es dem von ihr seit Jahren geforderten Kurs wesentlich entgegenkommt, mehr Verbindungen zwischen frei praktizierenden Kollegen und Vertretern der PUK zu schaffen. Wenn die Schizophrenie-Fortbildung in der Region einen Bekanntheitsgrad erreicht hat, kann die Ausschreibung mit weniger Aufwand gehandhabt werden. Eine Erleichterung ist es, eine der bekannten Internetplattformen zu nutzen. Was die notwendigen öffentlichen Räumlichkeiten betrifft, könnte vorzugsweise die PUK zuständig sein, da sie über die dafür notwendigen Kontakte verfügt. Sie kann mit der Gesundheitsdirektion des Kantons über entsprechende Räumlichkeiten und die Finanzierung verhandeln. Neben einem größeren Raum (Hörsaal etc.) für Referate, die Fallvorstellung und das Podiumsgespräch sind weitere kleinere Räume für die Workshops in der Nähe notwendig.

2.6 Kosten Ich habe in Eigenverantwortung und auf eigenes finanzielles Risiko unter anderem ein einwöchiges Psychoseseminar auf Comino einige Jahre lang erfolgreich durchgeführt. Neben der sorgfältigen Planung kümmerte ich mich um Gestaltung und Verbreitung der Ausschreibung sowie den Inhalt des Seminars. Die Organisation von der Ausschreibung bis zur Rückkehr, die Verabschiedung der Teilnehmer und Auswertung der Evaluation, die Koordination und Abwicklung © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Modellfortbildung zum Thema »Schizophrenien«217

der Buchhaltung, das Verhandeln der Flug-, Hotel- sowie Transferkosten auf Malta und vieles mehr ergaben ein komplexes Projekt. In der Startphase glaubten nur wenige Leute an ein Gelingen. Leider gilt zu oft, was eine alte Werbebinsenwahrheit besagt: »Nur was etwas kostet, ist auch etwas wert.« Einen persönlichen Beitrag zu leisten, wertet die Fortbildung auf. So ist jeder Teilnehmer zusätzlich motiviert, nicht nur passiver Konsument zu bleiben, sondern sich aktiv zu beteiligen. Ausnahme bildet der Fallvorstellende, da er mit seinem Aufwand im Vorfeld, den inhaltlichen Kern für die Fortbildung zu stellen, seinen Teil bereits beigesteuert hat. Im Verhältnis zum Praxisausfall ist der finanzielle Aufwand gering und in Relation zum möglichen inhaltlichen Gewinn klein. Jeder Teilnehmer der Fortbildung sollte einen Beitrag von circa 500  SFr (400 Euro) leisten. Für die Vorveranstaltung sollten weitere circa 300 SFr (250 Euro) erhoben werden. Insgesamt kostet die Teilnahme höchstens 800 SFr (650 Euro). Bei 250 Fortbildungsteilnehmern und 150 Kollegen, die auch die Vorveranstaltung buchen, kommt bereits ein stattlicher Betrag von 170.000 SFr (137.500 Euro) zusammen. Da die PUK/ZGPP administrativ-organisatorisch viel leisten, sollte von ihnen als Institutionen keine zusätzliche finanzielle Beteiligung verlangt werden. Die ZGPP-Mitglieder sowie Universitätskollegen hingegen bezahlen für ihre Teilnahme den vollen Betrag. Auch die Ärztegesellschaften der Regionen, welche in der Schweiz wegen der obligatorischen Mitgliedschaft Mediziner aller Fachrichtungen unter ihrem Dach vereinen, sollten sich finanziell beteiligen, da auch die somatisch tätigen Kollegen wie Spitäler und Institutionen indirekt profitieren. Die lokalen Krankenkassen und ihr Dachverband (in der Schweiz: Santésuisse) profitieren sowohl kurzfristig durch die Qualitätssteigerung der therapeutischen Behandlungen als auch langfristig, wenn anfänglich nur hypothetisch, wegen vorhersehbarer sinkender Kosten im Behandlungsbereich. Sie sollten gewonnen werden, einen substanziellen Beitrag zu leisten. Zudem profitieren sie von einem Prestigegewinn in der Bevölkerung und bei ihren Versicherten. Sie könnten so mithelfen, eine Brücke zwischen den seit Jahren zerstrittenen Lagern Ärzteschaft und Krankenkassenverband zu bauen, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil C: Handeln

indem sie in diesem gemeinsamen und für beide wichtigen Bereich Partner würden. Deshalb wären sie eingeladen, einige Vertreter zu delegieren. An Ort und Stelle könnten sie sich von der Qualität und damit dem Sinn ihrer Investition überzeugen. Die Pharmaindustrie sollte im ähnlichen Rahmen eingeladen werden, mitzufinanzieren. Sie sind Gäste und keine Gastgeber mehr. Ihnen steht außer ihrer Präsenz keine Werbung zu. Mit dem Kanton könnte man über eine im Betrag begrenzte Defizitgarantie verhandeln. Es gäbe weitere Möglichkeiten, Finanzen zu generieren. Darüber kann man sich dann Gedanken machen, wenn es um die konkrete Umsetzung einer solchen Fortbildung geht. Neben der Einwerbung von Mitteln geht es um die Steuerung der Einnahmen und Ausgaben, insbesondere was die Honorare betrifft. Es würde zu den vornehmen Aufgaben des Fünfergremiums gehören, Kollegen zu gewinnen, die sich nicht teuer bezahlen lassen, sondern am Projekt interessiert und motiviert sind, aus Begeisterung mitzumachen und die Veranstaltung zu einem Erfolg werden zu lassen. Ich möchte mit diesen Überlegungen aufzeigen, dass in der heutigen Zeit auch Psychiater und Therapeuten nicht darum herumkommen, neben hauptsächlich fachlichen und berufspolitischen Themen auch über finanzielle Aspekte in unserem Bereich nachzudenken und Verantwortung zu übernehmen, also zu handeln. Wir sind verpflichtet, in alle Richtungen weit über den eigenen Tellerrand zu blicken und mitzuwirken. Der Psychiatrie wie Psychotherapie stehen in naher Zukunft in mehrerer Hinsicht harte Zeiten bevor, intern wie extern bedingt. Der Nachwuchs fehlt, »die Psyche« hat zurzeit keine Hochkonjunktur mehr, ganz im Gegensatz zum Gehirn. Die Gesellschaft ist heute aufs Machbare und Sichtbare fokussiert. Da spielt der Körper eine größere Rolle als die nicht fassbare Psyche. Das betrifft unser Fach existenziell.

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Brückenbau innerhalb der therapeutischen Landschaft und darüber hinaus

Auf Fortbildungen zur Behandlung schizophrener Menschen zurückkommend bedeutet das, gemeinsam koordiniert zu handeln. Jeder bringt sich aktiv ein. Aufeinander abgestimmt geht es gemeinsam weiter. Idealerweise würde das in die Behandlungssituation übertragen von Therapeut wie Patient verlangen, über Wissen und Verstehen aus beiden Positionen zu verfügen. Das kann der schizophrene Mensch zu Beginn noch nicht leisten. Wie im Kapitel »Verstehen« dargelegt, gehört dies zu seiner Störung. Er kennt vorerst nur eine Sicht – seine eigene, wahnhaft verfärbte, in seinem Wahnsystem eingeschlossene und gefangene Perspektive. Sie ermöglicht es ihm, seine fragmentierende Identität zu »retten«. Die Außenwelt bedroht ihn subjektiv und ist für ihn ohne Wahn unlenkbar. Im Gebäude des Wahnsystems eingeordnet ist sie hingegen für ihn besser steuerbar und bleibt stabiler, sogar dann, wenn sie sich durch verschiedene Wahnpositionen intern verändern muss. Die Anpassung seiner Identität an unsere, ihm so widersprechende Sicht würde zur zunehmenden Bedrohung werden. Widersprüche mit der Außenwelt lassen sich im Wahngebäude für den Patienten problemlos und für uns von außen oft unbegreiflich »logisch« auflösen, einfügen und unterbringen. Seine jeweilige momentane Identität muss im Wahn für ihn zu jedem Zeitpunkt eindeutig bleiben, obschon er darin auch mehrere Identitäten annehmen kann, die sich nicht vermischen, außer im Rahmen einer akuten Dekompensation. Von außen betrachtet, besetzt er jeweils nur eine seiner fluktuierenden Identitäten. So wie wir die Kleider wechseln können, wechselt er den Umständen gemäß im Wahnsystem seine Identität. Im Gegensatz zum Kleiderwechsel, im Sinne der freien Wahl und Zwangserkrankte ausgenommen, ist er gezwungen, die jeweils vom Wahnsystem vorgesehene Identität zur Rettung seiner Stabilität zu übernehmen. Die Gefahr für ihn sind wir mit unserer Außensicht. Dieser Konfrontation hat er © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Teil C: Handeln

anfänglich nur den Wahn entgegenzusetzen. Er kann keine Brücke zu uns bauen. Wir hingegen können lernen, beide Positionen zu besetzen und sie koexistieren zu lassen. Compliance lässt sich nicht erzwingen, auch nicht längerfristig durch Medikamente. Deshalb sind Fortbildungen, wie ich sie vorschlage, unabdingbar, weil sie den Zugang zur Innenposition des Betroffenen auch für Nichtpsychoanalytiker ermöglichen können, wenn sie bereit sind, punktuell oder streckenweise den für sie fremden Weg der psychoanalytischen Psychosenpsychotherapie unterstützt und reflektiert zu gehen. Dasselbe gilt in umgekehrter Richtung. Der Psychoanalytiker kommt in der Behandlung ohne medikamentöse Unterstützung oder ohne vertieftes Wissen und Verstehen der Neurobiologie, Genetik oft nicht weiter und bleibt unnötigerweise auf dem Weg zum Patienten stecken. Zusammen besitzen Psychiatrie und Psychotherapie ein unglaublich großes Potenzial. Bei allem zurzeit bestehenden Unwissen und Ungewissen ist dies wohl die einzige wirklich hoffnungsträchtige Art weiterzukommen – mit und für den schizophrenen Menschen. Ich habe mich hier auf die Fortbildung beschränkt. Bereits in Ausund Weiterbildung sollten die angesprochenen Verbesserungsvorschläge in den nächsten Jahren berücksichtigt und integriert werden. Der heute gegenläufige, unverständliche, aber wachsende Trend, dass den Assistenzärzten zunehmend mehr Administration abverlangt wird, was auf Kosten der Zeit für den Patienten geht, ist fatal. Das lässt sich beispielhaft an der Zunahme der Formulare zeigen, die für den Nachweis der Weiterbildung FMH heute im Vergleich zu früher eingereicht werden müssen. Auch das heute geforderte aufwendige Dokumentieren der Krankengeschichten in Kliniken sowie die Austritts- und andere Berichte nehmen an Umfang, aber nicht wirklich an relevantem und brauchbarem Inhalt zu. Der Versuch, sich damit juristisch abzusichern, Suizide oder Fehlbehandlungen zu verhindern, ist der falsche Weg. Es ist einzig die tief gehende Erfahrung mit den Patienten und kontinuierliches therapeutisches Engagement, welche weiterhelfen können, die Qualität nachhaltig zu verbessern. Hier wird Zeit beim Patienten und nicht Zeitverlust vor dem PC gebraucht! Lernen von erfahrenen Kollegen schafft die wesentliche Basis dafür. Es ist dringend eine Umkehr, ein grundsätzliches Umdenken © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Brückenbau innerhalb der therapeutischen Landschaft221

nötig, was den Weg zum »guten« Arzt, Therapeuten, Forscher oder Klinikleiter betrifft. Wir sind nicht allein gefragt umzudenken, jedoch sollten wir nicht so lange warten, bis andere unsere Arbeit bestimmen. Nehmen wir es lieber heute schon selbst in die Hand. Das Wissen, Verstehen und Handeln auf unserem Gebiet könnte in Zukunft auch darüber hinaus wichtig werden. Die Welt droht in vielen Bereichen aus den Fugen zu geraten. Der Menschheit entgleitet zunehmend die Kontrolle in vielen überlebenswichtigen Bereichen. Betrachtet man die besorgniserregenden Entwicklungen in der Wirtschaft und damit verknüpft die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, inzwischen auch in westlichen Ländern, die fast unlösbaren ökologischen Probleme, dazu der sich gespenstisch beschleunigende technische Fortschritt, der uns Menschen maßlos überfordert und bei dem wir nur noch knapp als Anwender mithalten können, nicht aber als Wissende und Verstehende, wird es bereits in naher Zukunft ungemütlicher werden. Betrachten wir die unsinnigen und zerstörenden, heftig geführten Kriege zur Erhaltung einer Macht auf Kosten der Bürger dieser Länder, die Radikalisierung und Fundamentalisierung in Religion und Politik, so müssten wir als Spezialisten des »Brückenbaus« zur Koexistenz von Widersprüchlichem eigentlich in Zukunft sehr gefragt sein, an Lösungen mitzuarbeiten. Wir sollten uns nicht in einen Elfenbeinturm zurück- und mit einer Vogel-Strauß-Politik den wichtigen Fragen der Zukunft entziehen und schon gar nicht instrumentalisieren lassen, was die Psychiatrie in der Vergangenheit leider nur allzu oft zugelassen hat. Beginnen wir im Kleinen mit dem vorgeschlagenen Brückenbau zwischen den in diesem Buch aufgeführten Fachbereichen der Psychiatrie und Psychotherapie und den schizophrenen Menschen. Hier sollten wir alle bestehenden Optionen nutzen und einbeziehen, um zu verhindern, dass ein fataler »Turm zu Babel« entsteht. In der selbst gebauten Isolation der Fachbereiche spricht bereits heute jeder seine eigene Sprache, was dazu führen kann, dass man sich untereinander bald gar nicht mehr versteht. Wirken wir dem entgegen. Dazu und als Abschluss eine ermutigende Aufforderung von Paul Anton de Lagarde (1827–1891): Jeder Mensch hat die Chance, mindestens einen Teil der Welt zu verändern, nämlich sich selbst. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Zusammenfassung

Ich möchte hier den ersten Satz aus der Zusammenfassung meines Buchs »Identitätsgrenzen des Ich« wiederholen (2008, S. 231): »Ich beende dieses Buch irgendwo in meinem Alltag, unglücklich über das unendlich viele, das ich nicht schreiben konnte, und glücklich, dass es mir überhaupt und mit Hilfe anderer gelungen ist, soweit zu kommen.« Die Einleitung dieses Buchs begann mit der Beschreibung meiner Verwirrung und Irritation. Die fortschreitenden rivalisierenden Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie führen in eine fatale Zukunft, falls sie nicht bereits von unserer Generation gebremst und umgelenkt werden. Auf der einen Seite bringt die wissenschaftliche Entwicklung wertvolle und faszinierende Fakten sowie neue Erkenntnisse ans Tageslicht, die uns helfen, mehr zu verstehen. Andererseits entfernen sie uns zunehmend von einem menschlichen Zugang und der für den Patienten überlebensnotwendigen, empathischen Beziehung zu ihm. Ich ging beiden Vektoren nach. Werden sich in naher Zukunft letztendlich Gewinn und Verlust für die Patienten aufheben? Ich verwies auf Parallelitäten und Schnittpunkte, wie wir sie in der Physik antreffen. Wenn in unserem Universum Materie und Antimaterie aufeinandertreffen, lösen sie sich gegenseitig auf und verlieren sich in der Annihilation. Den hohen Preis für unsere »narzisstischen Verrücktheiten« bezahlen in erster Linie die Patienten. Besonders betroffen sind die fast ohne Lobby dastehenden schizophrenen Menschen. Gerade sie sind mir in meiner täglichen Arbeit ein spezielles Anliegen. In der Einleitung kündigte ich einen Lösungsvorschlag an. Dabei spielt nicht die Behandlung der Patienten die zentrale Rolle, sondern unser Umgang untereinander, den wir verändern sollen, Forscher wie Behandler. Mit Hilfe des Instrumentes »Fortbildung« schlug ich vor, in veränderter Form einen anderen, neuen Weg zu gehen. Die inzwischen sich fremd gewordenen Wissenden, Verstehenden und © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Zusammenfassung

gänzlich verschieden Handelnden sollen sich über das Dritte, die Fortbildung, wieder annähern – mit Hilfe eines Veranstaltungsmodells, welches in einzelnen Aspekten bereits heute an verschiedenen Orten umgesetzt wird. Mein Fortbildungsansatz versucht, scheinbar Unvereinbares in einem ersten Schritt nebeneinanderzustellen. Es gilt erste Fäden dazwischen zu spannen, welche mit der Zeit zu stabilen Seilen versponnen werden können, die letztendlich zu einem tragfähigen Netz zwischen uns und im nächsten Schritt für den schizophrenen Menschen werden. Erst wenn das gelungen ist, erreichen wir die schizophrenen Menschen besser. Dank ihrer verbesserten Compliance wagen sie uns näherzurücken. Den ersten Teil »Wissen« begann ich in Anlehnung an eine der berühmten Fragen von Immanuel Kant: »Was können wir wissen?«, und fragte weiter, wie wir zu diesem teilweise nicht direkt verfügbaren Wissen gelangen. Was dürfen wir von der Forschung allgemein und speziell in der Psychiatrie sowie in der Psychotherapie erwarten? Unserem Wissen sind natürlicherweise Grenzen gesetzt. Sie zwingen uns, das Wissen zu relativieren und die Bedeutung, die wir ihm zuschreiben, etwas bescheidener zu sehen. Den größeren Rahmen verlassend ging ich mit dem Beispiel unseres Wissens über schizophrene Menschen einen Schritt weiter. Wissen von außen, das ich als Wissen aus der Außenposition bezeichnete, unterschied ich vom Wissen des schizophrenen Menschen um seine psychotische Innenwelt und benannte es als Wissen der Innenposition. Diese beiden Positionen sind oft inkompatibel und dennoch beide »relativ wahr«. Genau das gestaltet unser Nebeneinander mit schizophrenen Menschen schwierig. Zum Umgang mit Dilemmata griff ich auf den Mathematiker Kurt Gödel und seine wichtigen Unvollständigkeitssätze zurück. Um schizophrene Menschen besser verstehen zu können, bedarf es zunächst eines Wissens um beide Positionen. Den Leser führte ich zuerst ins Labyrinth der verzweigten, teilobjektfokussierten Welten des Außenwissens zu Schizophrenien. Dieses wird heute weitgehend von der Forschung besetzt. Ich streifte die Neuroanatomie sowie Molekularbiologie inklusive Genetik und Epigenetik. Ich ging weiter der Frage nach, was Oxytocin als potenziell körpereigenes © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

Zusammenfassung225

Antipsychotikum für eine Rolle in der Behandlung spielen könnte, auf welchen physikalischen Grundlagen die neueren bildgebenden Verfahren basieren, was sie an zusätzlichen Erkenntnissen zu Schizophrenien beitragen können und in welchen Phasen der Erkrankung diese überhaupt eingesetzt werden dürfen. Auf meinem Rundgang lud ich dazu ein, Blicke in diese verschiedensten Räume zu werfen. Sie sind untereinander teilweise verbunden oder überschneiden sich partiell. Jene anderen Bereiche hingegen, die voneinander getrennt und oft autistisch abgespalten sind, ziehen unabhängig voneinander aneinander vorbei. Jeder einzelne Raum ist faszinierend und aus einem spezifischen Blickwinkel zumindest vorübergehend bedeutsam. Auf diesem Weg könnte man sich leicht verlieren in all den Verzweigungen, Sackgassen und weiterführenden Verästelungen, in den Details und in der Faszination der einzelnen Räume. Zum Wissen aus der Forschung fügte ich die subjektfokussierte, psychopathologische Untersuchung schizophrener Menschen hinzu. Dem Weg der klassischen Erhebung von Befunden stellte ich die davon zu unterscheidende psychoanalytische Methode gegenüber. Sie versucht, zusätzlich zur klassischen Psychopathologie von außen mit Hilfe von reflektierten Gegenübertragungsphänomenen einen kurzen Blick in die Innenpositionen zu erhaschen. Ich beendete den Teil »Wissen« mit Bemerkungen zur daraus folgenden psychoanalytischen Psychotherapie schizophrener Menschen, welche die Innenwelten so weit wie möglich ausleuchten soll. Im zweiten Teil »Verstehen« stellte ich zuerst den Zusammenhang von Wissen und Verstehen her. Am Beispiel der verschiedenen Welten innerhalb der Physik versuchte ich die meist friedlich und konstruktiv nebeneinanderstehenden Inkompatibilitäten von Makrophysik und Quantenphysik aufzuzeigen und auf die dort vorhandene Zusammenarbeit hinzuweisen, dank welcher ein vertieftes Verstehen unseres Universums erst möglich wird. Es sollte unsere Sensibilität entwickeln helfen und den in der Psychiatrie zunehmend vorherrschenden Glauben hinterfragen, man hätte mit der erweiterten Neurobiologie und den modernen bildgebenden Verfahren den alleinigen und wahren wissenschaftlichen Zugang zum Wissen und Verstehen von schizophrenen Menschen gefunden. Die einzelnen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Kapitel sollten den verengten Blick weiten und dazu anregen, Ungewissheiten auszuhalten und Wahrscheinlichkeiten an die Stelle von scheinbaren Sicherheiten zu setzen sowie mehr Akzeptanz für das Andere zu gewinnen. Wir sollten dem Verstehen eine andere Bedeutung geben, indem wir Freiräume für Inkompatibilitäten schaffen, die wir für den Umgang mit schizophrenen Menschen benötigen. Ich begann mit Gedanken zu Licht, Zeit, Gesetzen der klassischen Newton’schen Physik, um zu Einsteins spezieller Sicht der Welt, seinen Relativitätstheorien zu gelangen. Diese sind nachvollziehbar, verlangten aber von uns bereits ein ungewohntes Umdenken, was die Beziehung von Zeit, Raum und Materie in unserem Universum betrifft. Da es keine voneinander unabhängigen Inertialsysteme im Universum gibt, musste Einstein erkennen, dass seine spezielle Relativitätstheorie keine Allgemeingültigkeit hat. Ich stellte die spezielle Relativitätstheorie allgemeinverständlich dar. Anschließend widmete ich mich Einsteins genialen und konsequenzenreichen Lösungswegen aus der Beschränktheit der speziellen Relativitätstheorie heraus zu der allgemeinen Relativitätstheorie und seiner neuartigen Betrachtung der Gravitation. Dann ging es weiter in die »verrückte« Welt der Quantenphysik. Im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich spannend und verwirrend führte sie uns in Abgründe des Fühlens und Denkens, ins Unverständliche, Unvorstellbare und Nichtnachvollziehbare. Was ist Materie? Wie ist sie entstanden? Wie hängt Materie mit Information zusammen? Welche Physik war wohl am Beginn des Urknalls gültig? Weshalb dehnt sich das Universum überhaupt aus, obwohl es aufgrund der Gravitationskräfte doch in sich kollabieren sollte? Das führte uns zu der in der Physik getroffenen Annahme von dunkler Energie und Materie und auch zur Vermutung der Existenz von schwarzen Löchern, wie sie entstehen und was mit ihnen und der darin verborgenen Information geschieht. Themen wie die Verschränkung von Quantenteilchen und Multiversen brachten unsere Weltbilder und intuitiven Überzeugungen gnadenlos ins Wanken. Wie wir gesehen haben, handeln wir oft, ohne zu verstehen. Ähnlich geht es uns in und mit den Welten schizophrener Menschen. Anhand von Fallvignetten zeigte ich im darauffolgenden Kapitel auf, wie sich in der psychoanalytisch-psychodynamischen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Behandlung dieser Menschen durch Zulassen einer konstruktiven, respektvollen Koexistenz Wissen aus zwei sich widersprechenden Positionen nebeneinanderstellen lässt. Daraus kann ein gemeinsames »drittes« Wissen als Basis für das Verstehen entstehen und ausgebaut werden. Dieses hilft dem Therapeuten, Auswege aus schwierigen Situationen zu finden, sogar wenn ihm das schizophrene Gegenüber gänzlich zu entgleiten droht. Dank der gemeinsamen Sprache und dem vom Patienten wahnintern gebauten Verständnis der Geschehnisse, an welchen er uns teilhaben lässt, kann man die heute leider immer noch zu häufig angewandte »Gewalt« oftmals vermeiden und viele heikle Situationen zumindest für den Moment retten. Die Fallstricke der Gegenübertragungsfallen wurden ebenfalls aufgezeigt. Sie helfen uns, reflektierend in der Begegnung mit schizophrenen Menschen zu bleiben. Da lauert auf der einen Seite die positive Gegenübertragungsfalle. Sie verhindert therapeutisches Handeln, weil wir uns mit der Not des schizophrenen Menschen zu sehr identifizieren, uns bis ins Symbiotische verbünden und die Grenze dazwischen aus den Augen verlieren. Der andere Pol, die negative Gegenübertragungsfalle, ist nicht weniger gefährlich. Der schizophrene Mensch überträgt seine ihn überschwemmende, unvorstellbare Angst, sich im Nichts aufzulösen, auf uns. Im unreflektierten und daher unbemerkten Fall versuchen wir uns unbewusst dagegen zu wehren und wollen ihn kontrollieren, unterwerfen und auf Distanz zu uns halten. Dazwischen liegt die Gegenübertragungsfalle der »Gleichgültigkeit«. Wenn wir uns unbewusst mit seiner Abwehr verbünden und alles uns Unverständliche durch beidseitige Anpassung ausklammern, vermeiden wir die Konflikte, ohne das dahinterliegende Psychotische gebührend wahrzunehmen und zu verstehen. Das geht so lange gut, bis die Psychose durchbricht und wir überrascht und erstaunt zur Kenntnis nehmen müssen, was wir alles nicht wahrnehmen wollten. An Fallvignetten zeigte ich zudem die Grenzen der Möglichkeiten des psychoanalytischen Verstehens und Behandelns auf und was wir trotzdem, auch ohne Therapie, für einzelne »unmögliche« Begegnungen an Werkzeugen zur Verfügung haben. Den Teil »Verstehen« beendete ich mit kritischen Gedanken zu unserer unberechtigten Erwartung an die Compliance schizophrener Menschen. Ohne unsere © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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therapeutische Übersetzung können sie uns oft gar nicht verstehen. Was berechtigt uns, uns über ihre mangelnde Compliance zu beklagen? Ich ging der Frage nach, was heute für Lösungsansätze angepriesen werden. Aus pharmakologischer Sicht wird vorgeschlagen, in Zukunft wieder vermehrt mit Depotmedikamenten zu arbeiten. Daneben stellte ich die Option der psychoanalytischen Betrachtungsund Handlungsweise. Sie führt über den Weg eines gemeinsamen Verstehens effizienter zur besseren Compliance. Im dritten Teil »Handeln« wandte ich den Blick vom schizophrenen Patienten weg zu den Behandlern und richtete das Augenmerk auf die Fortbildungen. Sie scheinen mir Schlüssel und geeignetes Mittel für die anstehenden, zwingend notwendigen Veränderungen zu sein. Fortbildungen wenden sich an die bereits erfahreneren Kollegen und sollen Vorbildcharakter für nachrückende Generationen haben. In einem angedachten Pilotprojekt, ausgehend von dem erweiterten Raum der Universität Zürich mit ihrer berühmten PUK (Psychiatrische Universitätsklinik), dem Burghölzli, erläuterte ich verschiedene Ebenen. Das Modell soll helfen, konstruktiv und synergistisch alles vorhandene Wissen, Verstehen und Handeln zum Thema Schizophrenien zusammenzuführen und damit an die ruhmreiche Zeit des Burghölzli anzuknüpfen. Bleulers Entwicklung des Schizophreniebegriffes läutete eine psychotherapeutisch spannende Ära ein, die leider schnell wieder abgeflacht und inzwischen fast vergessen ist. Sie wird heute abgelöst durch die fulminanten Erfolge der Neurobiologie, in letzter Zeit insbesondere durch die neueren bildgebenden Verfahren. Grundgedanke meines Modells ist, das Eine zu tun, ohne das Andere zu lassen. Nach der Klärung der Begriffe Aus-, Weiter- und Fortbildung dachte ich kritisch über das heute bestehende Fortbildungsangebot nach. Die Veranstalter, die Teilnehmer und die Dozenten differenziert und kritisch in ihren heutigen Rollen beleuchtend entwickelte ich Ideen zu meinem Modell. Es weist allen Beteiligten neue partnerschaftlichere Positionen zu und nimmt sie in die entsprechende Verantwortung. Was sind Vorbedingungen für eine gute Fortbildung? Was sind die wissenschaftlich erwiesenen Faktoren, die heute leider zu oft übergangen werden und uns Potenzial kosten? Wie sieht die hochgelobte und allseits versicherte Interdisziplinarität in der Rea© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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lität aus? Was kann sich in Zukunft verbessern? Ich widmete mich diesen Fragen mit Hilfe des vorgestellten Modells. Dieses sieht vor, dass ein Fünfergremium eine Fallvorstellung eines Teilnehmers auswählt, mit der die gesamte Fortbildung beginnt und an der sie sich orientiert. Sie dauert im Hauptteil zwei Tage und ist einem Thema aus dem Feld Schizophrenien gewidmet. Sowohl Forschung als auch Behandlung haben darin ihren gleichberechtigten Platz. Ein Vorbereitungstag bietet zudem die Möglichkeit, sich vorher mit der dazugehörigen Theorie auseinanderzusetzen. Zum Thema werden fünf gewählte Perspektiven angeboten: Schizophrenieforschung aus Sicht der Neurobiologie, der Pharmakotherapie (beide von der PUK gestellt) sowie der drei großen Psychotherapierichtungen, der psychoanalytisch-psychodynamischen, der systemischen und der Verhaltenstherapie. Nach der Fallvorstellung und den kurzen Stellungnahmen aus allen fünf vertretenen Richtungen durchläuft jeder Teilnehmer in einer gemischten, überblickbaren und konstanten Gruppe alle fünf Workshops. Diese erfüllen die Erwartungen, die mit der Bezeichnung Workshop verbunden sind. Am konkreten Fallbeispiel lernt man jede der Sichtweisen vertieft kennen und diskutiert diese interdisziplinär innerhalb der eigenen Gruppe. Anschließend findet eine Podiumsdiskussion statt, zunächst im Kreis des Fünfergremiums und des Fallvorstellenden. Danach öffnet sich dieser Kreis für das ganze Publikum. Ein fachfremdes Gastreferat zum Thema beschließt den fachlichen Teil der Fortbildung. Wie genau implementiert man in einer Region wie Zürich und Umgebung ein neues Fortbildungsmodell? Wer sind die Akteure und mit welchen Rollen und Kompetenzen sollen sie ausgestattet sein? Wie gewinnt man Kollegen und Institute dazu, konstruktiv mitzuziehen? Wie finanziert man ein solches Modell möglichst ohne in Abhängigkeiten zu geraten, wie es heute oft mit der Pharmabranche der Fall ist? Auf solche Fragen gibt mein Modell mögliche Antworten. Insbesondere ist damit das hochgesteckte Ziel verknüpft, über die Verbesserung der Qualität und Breite der Fortbildungen einen Transfer zu den Teilnehmern zu ermöglichen, welcher mittelfristig die Behandlung unserer schizophrenen Mitmenschen als Partner nachhaltig verbessert und optimiert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462652 — ISBN E-Book: 9783647462653

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Zusammenfassung

Über den Tellerrand blickend versuchte ich in meiner Schlussbemerkung aufzuzeigen, dass Problemlösungsansätze in der psychoanalytischen Behandlung schizophrener Menschen auch Lösungsansätze in der Politik, Wirtschaft, aber auch im Umgang miteinander darstellen könnten.

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Dank

Ein besonderer Dank gilt den vielen Patienten, die mir in all den Jahren Einlass in ihre »anderen« Welten gewährt haben. Ich danke meiner Lebenspartnerin. Sie war in jeder Hinsicht meine wichtigste mentale Stütze. Sie hat mich mit viel Geduld in Zeiten des Zweifelns ermutigt weiterzuschreiben. Großer Dank gebührt meinem inzwischen leider verstorbenen langjährigen Supervisor Prof. Christian Scharfetter. Er war oft meine »Brille«, durch die ich im Dschungel der Vielfalt meiner Themen immer wieder klarer sehen konnte. Ich danke den unzähligen Menschen, die mir Türen zu fachfremden Bereichen geöffnet haben. Dank geht an Sandra Englisch, die mich erneut auf dem heiklen Weg vom Entwurf zum druckreifen Manuskript unterstützte.

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