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German Pages 402 [404] Year 2000
Peter Stemmer Handeln zugunsten anderer
Peter Stemmer
Handeln zugunsten anderer Eine moralphilosophische Untersuchung
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
2000
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek —
ClP-Einheitsaufnahme
Stemmer, Peter: Handeln zugunsten anderer : eine moralphilosophische Untersuchung / Peter Stemmer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 ISBN 3-11-016966-5
© Copyright 2 0 0 0 by Walter de Gruyter GmbH 8c Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: +malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen Diskettenkonvertierung: Readymade, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: WB-Druck, Rieden/Allgäu
Vorbemerkung Ein Buch zu schreiben, das sich mit Fragen beschäftigt, die einem so nahegehen, wie es moralische Fragen tun, ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Um so wichtiger ist der Austausch und die Diskussion mit Kollegen und Freunden. Ich möchte besonders Ernst Tugendhat danken, der die einzelnen Kapitel in ihrer ersten Fassung gelesen und kommentiert und mir damit sehr geholfen hat. Besonders danke ich auch Jacob Rosenthal, der das Manuskript ebenfalls vor seiner endgültigen Fertigstellung gelesen und wesentlich zu seiner Verbesserung beigetragen hat. Dunja Jaber hat größere Stücke gelesen und immer wieder wichtige Fragen mit mir diskutiert. Waltraud Weigel hat das Manuskript geschrieben und vom Anfang bis zum Ende fabelhaft geholfen. Konstanz, im Juli 2000
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
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Teil I: Fragestellung und erste Klärungen § 1 § 2 § 3
Einleitung und Fragestellung; der Begriff des moralischen Handelns Was heißt es, moralisches Handeln zu begründen? Moralische Forderungen: Sollen und Müssen . . .
3 15 39
Teil II: Moralisches Handeln § § § §
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§ 8
Moralische Rechte und moralische Pflichten . . . Negative Affekte und moralische Sanktionen . . . Unrechttun im Verborgenen Der Inhalt der Moral und das Problem der Gerechtigkeit Wer ist Mitglied der moralischen Gemeinschaft?
73 121 162 192 249
Teil III: Altruistisches Handeln § 9 Altruistisches Handeln und Ideale § 1 0 Altruistisches Handeln und Mitleid § 1 1 Geteilte Ideale und Quasi-Moralen
291 327 349
Literaturverzeichnis Sachregister Personenregister
377 385 391
„Es scheint mir nicht richtig, Sokrates, wenn man nur die Meinungen der anderen darlegen kann, aber nicht seine eigene, vor allem wenn man sich schon so lange mit der Sache beschäftigt hat." „Scheint es dir dann richtig, wenn einer über das, was er nicht weiß, so redet, als wisse er es?" „Nein, nicht als wisse er es, wohl aber soll er das, was er meint, eben als seine Meinung vortragen wollen." Glaukon und Sokrates in Platon, Politela 506bc
Teil I: Fragestellung und erste Klärungen
§ 1 Einleitung und Fragestellung; der Begriff des moralischen Handelns 1. Es hat etwas Beirrendes, wenn man sich ständig in bestimmter Weise verhält, durchaus in der Überzeugung, daß es vernünftig ist, so zu agieren, man aber nicht in der Lage ist, sich klarzumachen, worin die unterstellte Vernünftigkeit eigentlich liegt. In einer solchen Situation verstehen wir uns selbst nicht. Das eigene Tun ist uns fremd, es hat sich gewissermaßen verselbständigt, und wir stehen in einer eigentümlichen Distanz zu ihm. Es scheint, als stünden wir in dieser Weise zu unserer moralischen Praxis. Die meisten von uns sind davon überzeugt, sogar sehr fest überzeugt, daß es vernünftig ist, sich moralisch zu verhalten, daß die moralischen Forderungen, die wir an andere richten und diese an uns, eine Basis haben und es deshalb richtig ist, ihnen nachzukommen. Wir sind fest davon überzeugt, daß wir auf sicherem Boden stehen, wenn wir moralisch urteilen und uns angesichts eines Unrechts moralisch empören. Aber es gelingt uns nicht, Klarheit darüber zu gewinnen, was die innere Rationalität dieser Praxis ist. Wir verhalten uns in dieser Weise, können aber nicht sagen, worin dieses Verhalten seinen Grund hat. Wir stehen damit einem zentralen Bereich des eigenen Lebens in bedrückender Hilflosigkeit gegenüber. Wie sehr im Bereich des Moralischen die Selbstverständlichkeit unseres Tuns und die Unfähigkeit, dieses Tun zu verstehen, zusammengehen, zeigt sich vielleicht am deutlichsten an der Praxis moralischen Urteilens. Moralisch zu urteilen, ist ein tief verwurzeltes und anscheinend nicht wegzudenkendes Element unseres Lebens. Daß jemand sein Versprechen nicht hätte brechen dürfen, daß man einen anderen nicht verletzen darf, daß er seine kranke Mutter unterstützen muß, daß sie das Vertrauen
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ihres Bruders nicht so hätte mißbrauchen dürfen, - so urteilen wir ständig und ganz fraglos. Aber wir scheinen nicht zu begreifen, was wir mit Urteilen dieser Art eigentlich tun. Wer ein moralisches Urteil fällt, erhebt damit wie jeder, der ein Urteil fällt, einen Wahrheitsanspruch, den Anspruch, dai? das, was in dem Urteil als wahr hingestellt wird, auch tatsächlich wahr ist. Wahr sein, heißt, die Wirklichkeit treffen. Ein Urteil ist demnach wahr, wenn es die Wirklichkeit trifft. Oder, anders formuliert, wenn es eine Tatsache gibt, die das Urteil wahr macht. So wird das Urteil, daß der Bodensee 63 km lang ist, wahr durch die Tatsache, daß der Bodensee 63 km lang ist. Diese Tatsache ist das Stück Wirklichkeit, das das entsprechende Urteil wahr macht. Auf welche Wirklichkeit aber bezieht sich ein moralisches Urteil? Daß man etwas nicht tun darf, daß man etwas tun muß, - auf welche Art von Wirklichkeit beziehen wir uns mit diesen Urteilen? Gibt es so etwas wie moralische Tatsachen? Wer ein moralisches Urteil fällt und damit notwendigerweise seine Wahrheit beansprucht, scheint dies, bewußt oder unbewußt, vorauszusetzen. Von welcher Art aber könnten moralische Tatsachen sein? Klar scheint, daß moralische Urteile nicht einfach empirisch sind. Das heißt, sie beziehen sich nicht auf eine Wirklichkeit, die uns durch die sinnliche Erfahrung zugänglich ist. Wir können nicht in die Welt schauen und sehen, daß man das-und-das nicht tun darf, daß man zum Beispiel ein gegebenes Versprechen nicht brechen darf. Aber worauf beziehen sich moralische Urteile dann? Man gerät hier schnell in ein Gestrüpp von Schwierigkeiten. Moralphilosophen haben verschiedene Vorschläge gemacht, um sich daraus zu befreien. Vielen haftet etwas Verzweifeltes und Handstreichartiges an, als sei den Schwierigkeiten nur mit einem großen, definitiven Schlag zu entkommen. Eine Idee war, tatsächlich nicht-empirische, wie es hieß, nicht-natürliche Tatsachen anzunehmen und eine besondere, nicht an die Wahrnehmungsorgane gebundene intuitive Erkenntnisfähigkeit zu postulieren, durch die wir epistemischen Zugang zu diesen Tatsachen eigener Art haben. Es gibt hiernach einen nicht-empirischen,
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normativen Teil der Welt. Doch diese mysteriösen Tatsachen und die genauso mysteriöse intuitive Erkenntnisfähigkeit sind nur philosophische Erfindungen. Beides gibt es nicht. Sie wurden erfunden, um mit dem quälenden Umstand, daß wir unsere Praxis moralischen Urteilens nicht verstehen, fertig zu werden. Eine andere, radikale Idee, mit der man der Schwierigkeiten Herr zu werden hoffte, war, kurzerhand zu bestreiten, daß moralische Urteile echte Urteile seien. Es handele sich nur um Schein-Urteile, die fälschlicherweise die äußere Form von Urteilen angenommen hätten. Den für Urteile definitiven Wahrheitsbezug dürfe man hier deshalb nicht suchen. Was man gewöhnlich für moralische Urteile hält, seien nur Expressionen von mehr oder weniger individuellen Gefühlen, Interessen, Pro- und Kontra-Einstellungen. Die Schwierigkeiten dieser Auffassung liegen auf der Hand. Sie wirft unsere vorreflexive Vorstellung von dem, was wir tun, wenn wir ein moralisches Urteil fällen, völlig um. Wir verstehen ein moralisches Urteil wie, daß man einen anderen Menschen nicht töten darf, nicht als bloße Expression eines Gefühls. Wir verbinden mit einem solchen Urteil vielmehr einen Anspruch auf Objektivität: es ist einfach eine Tatsache, daß man Menschen nicht töten darf. Das heißt, wir betrachten es nicht als Zufall oder als Ergebnis eines Irrtums, daß wir uns, wenn wir moralisch Stellung nehmen, der Urteilsform bedienen. Die Schwierigkeit, die Praxis moralischen Urteilens zu verstehen, ist nur ein Indikator dafür, daß wir das Moralische insgesamt nicht verstehen. Die eigentliche Grundschwierigkeit, aus der die weiteren Schwierigkeiten erst entstehen, liegt darin, daß wir nicht klar haben, von welcher Art das moralische Müssen bzw. Nicht-Dürfen ist. Wo kommt dieses Müssen her, was ist sein Ursprung, und was gibt ihm seine spezifische Autorität und Kraft, was seinen besonderen Verpflichtungscharakter? Wir wissen, mit anderen Worten, nicht, was die Quelle und der Status der moralischen Normativität ist, woher es also kommt und was es bedeutet, daß man moralischerweise bestimmte Dinge tun muß und andere nicht tun darf. Weil es so ist, ist
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auch unklar, wovon wir mit den moralischen Urteilen „Du mußt das-und-das tun" und „Du darfst das-und-das nicht tun" eigentlich sprechen. Auch die Frage, warum es vernünftig ist, moralisch zu handeln, führt ohne Umschweife auf diesen Punkt. Wer so fragt, will wissen, warum man so handeln soll, wie es von einem moralisch gefordert ist. Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn zunächst geklärt wird, von welcher Art die moralischen Forderungen sind und damit auch von welcher Art das moralische Müssen ist, das in diesen Forderungen zum Ausdruck kommt. Was für einem Müssen steht man gegenüber, wenn man moralischerweise das-und-das tun muß? Und was passiert, wenn man anders als „gemußt" handelt? Erst wenn man dies weiß, kann man überlegen, ob es vernünftig ist, so wie „gemußt" zu handeln, ob es also vernünftig ist, moralisch zu handeln. Auch hier erweist sich die Frage nach der Quelle und dem Status des moralischen Müssens als unumgänglich. Die Schwierigkeit, zu einem Verständnis des Moralischen und seiner spezifischen Normativität zu kommen, hat mit der geschichtlichen Situation zu tun, in der wir ein solches Verständnis suchen. Unsere Moral hat eine religiöse Vergangenheit. Die Moral, wie wir sie kennen, die Welt unserer moralischen Begriffe und moralischen Intuitionen wie auch das Bild, das wir vorreflexiv von der Moral haben, sind durch und durch geprägt von religiösen Hintergrundannahmen, die über viele Jahrhunderte die Vorstellungswelt der Menschen bestimmt haben. Zentral ist hier die Vorstellung eines transzendenten Wesens, das sich für die Menschen und ihr Leben interessiert und von ihnen will, daß sie bestimmte Dinge tun und lassen, und das ihnen deshalb Gesetze gibt, die es zu einem verpflichtenden „ M u ß " machen, entsprechend zu handeln. Eine solche Gesetzeskonzeption der Moral ist Teil der jüdisch-christlichen Religion, und auch andere Religionen denken Gott als ein Wesen, das von den Menschen bestimmte Handlungen fordert und sie bestraft, wenn sie anders handeln. Dieses theonome Bild der Moral hat unsere moralische Begrifflichkeit hervorgebracht. Deshalb kommt, wie sich leicht zeigen läßt, in einer
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theozentrischen Sicht der Welt jedem der tragenden Begriffe unserer Moral ein klarer Sinn zu. Wenn Gott den Menschen Gesetze gibt und ihnen damit ein bestimmtes Verhalten vorschreibt und für den Fall des Zuwiderhandelns Sanktionen androht, ist sehr klar, was die Quelle und der Status des moralischen Müssens sind, es ist sehr klar, was es heißt, daß die moralischen Handlungen von uns gefordert, daß sie uns geboten sind, es ist sehr klar, was es heißt, daß die Menschen verpflichtet sind, moralisch zu handeln. Und es ist auch sehr klar, warum es vernünftig ist, sich moralisch zu verhalten. Die theonome Deutung der Moral ist die, die genau zu unseren moralischen Begriffen und dem, was wir intuitiv mit ihnen verbinden, paßt. Wie aber sind diese Begriffe zu verstehen, nachdem die theozentrische Sicht der Welt im Zuge der Aufklärung und endgültig infolge der Entdeckungen Darwins zusammengebrochen ist und mit ihr die religiöse Fundierung der Moral? Kann man in einer posttheozentrischen Welt an ihnen festhalten, oder muß man die ganze Konzeption einer Moral der moralischen Forderungen und des moralischen Verpflichtetseins aufgeben und nach einem völlig anderen Verständnis der Moral suchen? Die meisten glauben, daß zumindest nicht so viel geschehen ist, daß man gezwungen wäre, unser Verständnis des Moralischen von Grund auf zu revidieren. M a n könne, so die Vorstellung, an dem traditionellen Konzept der Moral und den es tragenden Begriffen auch in einer posttheozentrischen Welt festhalten, man müsse nur die entfallene religiöse Begründung durch eine andere Begründung ersetzen. Kant ist der bedeutendste Vertreter dieser Sichtweise. Er hat an der Gesetzeskonzeption der jüdisch-christlich geprägten Moral festgehalten und nur den gesetzgebenden Gott durch die gesetzgebende Vernunft ersetzt. Nicht mehr Gott, sondern die Vernunft gibt uns die Gesetze, die fixieren, was moralisch geboten und verboten ist. Es gibt andere Varianten dieser Strategie. M a n hat an die Stelle von Gott auch die Natur, die Gesellschaft, das Gewissen oder einen Vertrag gesetzt und in diesen Instanzen den
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Autor der an uns gerichteten moralischen Forderungen gesehen. Diese Strategie läuft Gefahr, das eine Transzendente durch ein anderes zu ersetzen. So wie es Kant mit der Erfindung einer gesetzgebenden Vernunft getan hat. Aber das heißt nicht, daß die Strategie des bloßen Austausche der Begründung nicht in irgendeiner Form erfolgreich sein kann. Tatsächlich scheint ihr Erfolg jedoch eher unwahrscheinlich zu sein. Denn es ist ja nicht so, daß Begründung und Begründetes hier zwei nur nachträglich verknüpfte Elemente sind, die zuvor keinerlei Einfluß aufeinander hatten und deshalb ohne Änderung ihrer selbst durch einen einfachen Schnitt getrennt werden können. Die religiöse Begründung ist ja nicht nachträglich mit einer von allen religiösen Vorstellungen unberührten Moral verbunden worden. Die Vorstellungen über Art, Inhalt und Begründung der Moral sind vielmehr insgesamt im Rahmen einer theozentrischen Weltsicht entwickelt worden. Von daher scheint es wahrscheinlich zu sein, daß es einer größeren Veränderung bedarf. Es kann indes sein, daß die konservative Strategie zumindest partiell erfolgreich ist, indem sie zumindest für einen Teilbereich der traditionellen Moral zeigen kann, daß hier die Rede vom moralischen Müssen und vom moralischen Gefordertsein auch ohne Voraussetzung religiöser oder anderer metaphysischer Prämissen einen vernünftigen Sinn hat. Die andere Möglichkeit ist, daß die Strategie des bloßen Austausche der Begründung insgesamt scheitert und die überkommene Konzeption der Moral im ganzen durch eine andere Konzeption ersetzt werden muß. Man muß durchaus damit rechnen, daß die zentralen Begriffe unseres moralischen Kosmos, abgerissen von ihren religiösen Wurzeln, keinen Sinn, keinen angebbaren Inhalt mehr haben und deshalb für uns nur noch Phantome sind. Man muß damit rechnen, daß es nötig ist, die Gesetzeskonzeption der Moral und die aus ihr hervorgegangene Begrifflichkeit ganz aufzugeben und an ihre Stelle eine andere Konzeption zu setzen. Einer der Philosophen, die eine solche radikale Revision für nötig hielten, war Schopenhauer. Er hat der Gesetzes- und Gebotsmoral, in der er nur eine
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„Verkleidung der theologischen Moral" sah, eine Mitleidsmoral entgegengesetzt, die den Forderungs- und Verpflichtungscharakter des Moralischen ausdrücklich aufgibt. 1 Schopenhauers Konzeption ist nur eine Variante einer solchen grundsätzlichen Revision, eine andere ist der Rückgriff auf die antike eudaimonistische Ethik, von der Kant glaubte, sie ein für allemal widerlegt zu haben. Die eudaimonistische Ethik versucht zu zeigen, daß es für jeden im Blick auf sein eigenes Glück angeraten ist, zugunsten anderer zu handeln. Es ist klug, dies zu tun, aber keine moralische Pflicht. Den Begriff der moralischen Pflicht kennt diese Ethik so wenig wie den des moralischen Müssens und des moralischen Gefordertseins. Wie sich zeigt, ist nicht nur fraglich, was in einer posttheozentrischen Welt die Quelle und der Status des moralischen Müssens ist, es ist auch - grundsätzlicher - fraglich, ob man überhaupt an der Idee einer spezifisch moralischen Normativität festhalten kann. Oder ob an die Stelle der Moral, wie wir sie kennen, etwas ganz anderes treten muß: ein normatives System bloßer Klugheitsregeln oder das freie Spiel des Altruismus, der sich aus vielen Quellen speist, unter anderen aus dem Gefühl des Mitleids. Wenn es so wäre, müßten wir uns von der Idee des moralischen Verpflichtetseins verabschieden, wir müßten aufhören, von moralischem Unrecht zu sprechen, und wir müßten damit natürlich auch unsere Praxis grundlegend ändern: Wir könnten keine moralischen Forderungen mehr an andere richten; wir könnten uns nicht mehr empören, selbst dann nicht, wenn uns selbst etwas Schlimmes angetan wird. Natürlich gäbe es auch keinen Grund mehr, sich über sich selbst zu empören, wenn man selbst anderen etwas angetan hat. Mit diesen Überlegungen sind die Fragen, um die es in diesem Buch gehen wird, markiert. Es geht um eine Theorie des Moralischen, die frei von religiösen und anderen metaphysi1
Vgl. A. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral (1841), in: A. S.: Sämtliche Werke, hg. A. Hübscher, Bd. 4 (Wiesbaden 2 1 9 5 0 ) , Zitat: § 12, S. 185.
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sehen Annahmen ist, die das Moralische wirklich als Teil einer posttheozentrischen Welt begreift und es als das versteht, was es immer gewesen ist, nämlich eine soziale Errungenschaft, eine Hervorbringung der Menschen oder zumindest etwas, was aus ihrem Zusammenleben mehr oder weniger spontan entstanden ist. Meine Ausgangs- und Leitfrage wird sein, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Diese Frage ist die, die uns praktisch am nächsten ist und mit der das Nachdenken über das Moralische deshalb häufig beginnt. Denn an uns werden moralische Forderungen gerichtet, und wir können immer fragen, ob es vernünftig ist, ihnen nachzukommen. Auch wenn es für uns selbstverständlich ist, dies zu tun, ist es, wie wir sahen, eine bedrängende Frage, worin die unterstellte Vernünftigkeit des moralischen Handelns eigentlich liegt. Hinzu kommt, daß wir moralische Forderungen an andere richten, von ihnen verlangen, moralisch zu handeln; und natürlich können sie uns immer fragen, warum sie so handeln sollen, warum sie das tun sollen, von dem wir meinen, daß sie es tun müssen. Die Frage nach dem Vernünftigsein moralischen Handelns wird, wie schon gesagt, schnell zu der Frage führen, von welcher Art die moralischen Forderungen sind und von welcher Art das moralische Müssen ist, das in ihnen zum Ausdruck kommt, wo es herkommt und was ihm seine verpflichtende Kraft gibt. Daran, ob sich für diese Fragen überzeugende Antworten finden lassen, wird sich die grundsätzliche Frage entscheiden, ob man überhaupt an der überkommenen Idee der Moral festhalten kann oder ob man an ihre Stelle etwas anderes setzen muß. 2. Ich werde, wenn ich frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, einen Begriff des moralischen Handelns zugrundelegen, der durch zwei definierende Elemente bestimmt ist: Moralisches Handeln ist (1) ein Handeln (Tun oder Unterlassen) zugunsten anderer, und es hat (2) die Charakteristik des moralischen Gefordertseins. Mit diesem zweiten Element gehe ich hypothetisch von dem herkömmlichen Verständnis des Moralischen aus, ich lasse mir dies gleichsam von der Moral, die wir
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haben, vorgeben. Es wird sich dann im Laufe der Untersuchung zeigen, ob sich an einem solchen Begriff des moralischen Handelns festhalten läßt. Die Idee des moralischen Gefordertseins, wie sie Teil der überkommenen Moral ist, läßt sich am besten erläutern, wenn man zunächst zwei zentrale Aspekte herausstellt. Erstens ist das moralische Gefordertsein etwas anderes als das rationale (oder, wie man auch sagt: prudentielle) Müssen. Nehmen wir an, jemand ist krank oder verletzt, und er kann nur wieder gesund und voll aktionsfähig werden, wenn er sich einer schmerzhaften Gymnastik unterzieht. In dieser Situation muß er, wenn er wieder gesund werden will, die Gymnastik machen. Dieses Müssen ist ein rationales Müssen. Es ist, gegeben das Ziel, rational zwingend, die Gymnastik zu machen. Es nicht zu tun, wäre irrational. Man würde den, der sich so verhält, kritisieren und sagen: „Du verhältst dich irrational, du hättest dich anders entscheiden müssen, so schneidest du dir ins eigene Fleisch." Die Gymnastik zu machen, ist hingegen klarerweise nicht moralisch gefordert. Die betreffende Person begeht, wenn sie es nicht tut, kein moralisches Unrecht. Und man kann sich deshalb über sie nicht moralisch empören. Das moralische Gefühl der Empörung ist hier fehl am Platz. - Man muß also, das ist der erste wichtige Punkt, unterscheiden, ob es für jemanden ein rationales oder ein moralisches „ M u ß " ist, so-und-so zu handeln. Der zweite für das Verständnis des moralischen Gefordertseins zentrale Punkt ist folgender: In dem angeführten Beispiel ist es so, daß jemand etwas tun muß, wenn er etwas anderes erreichen will. Das Müssen ist hier ein relatives Müssen, relativ auf das vorausgesetzte Wollen. Das moralische Gefordertsein ist nach unserem intuitiven Verständnis von anderer Art. Es ist nicht relativ, sondern in eigentümlicher Weise absolut oder unbedingt. Der, an den sich die moralische Forderung richtet, muß so handeln, unabhängig davon, welche Ziele er verfolgt. Er muß so handeln, Punkt. Er ist moralisch verpflichtet, so zu handeln, Punkt. Das moralische Gefordertsein ist, wie man
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sagt, ein kategorisches Gefordertsein. Es hat eine eigene Verbindlichkeit, der sich, so unsere gewöhnliche Vorstellung, niemand entziehen kann. Soweit eine erste Explikation der für unser Verständnis der Moral zentralen Idee des moralischen Gefordertseins. Es wird im folgenden zu klären sein, ob und, wenn ja, in welchem Sinne diese Idee Teil einer aufgeklärten Moral sein kann. - Es sei zum Abschluß dieser einführenden Überlegungen noch darauf hingewiesen, daß die Bestimmung des moralischen Handelns, die ich gegeben habe, obwohl sie ein wesentliches Element der tradierten Moral, eben das des kategorischen Gefordertseins, übernimmt, doch in zwei anderen Hinsichten von dem gewöhnlichen Verständnis abweicht. Zum einen werden dadurch, daß moralisches Handeln als Handeln zugunsten anderer bestimmt wird, moralische Handlungen sich selbst gegenüber ausgeschlossen. Der Grund hierfür ist, daß es in einer aufgeklärten Moral, wie ich sie entwickeln werde, keine Basis für Pflichten dieser Art gibt. Die gegebene Bestimmung nimmt dieses Ergebnis vorweg. Im übrigen sind die Pflichten gegenüber sich selbst in jedem Fall sekundär. Im Zentrum jeder Moral steht das Handeln zugunsten anderer, was sich darin spiegelt, daß es Moralen gibt, die keine Pflichten gegenüber sich selbst kennen, aber natürlich keine Moralen, die keine Pflichten gegenüber anderen enthalten. Zum anderen weicht die gegebene Definition des moralischen Handelns dadurch ab, daß sie nichts über das Motiv bestimmt, aus dem heraus jemand moralisch handelt. Viele Philosophen sprechen nur dann von moralischem Handeln, wenn es einem bestimmten Motiv entspringt. So ist nach Schopenhauer eine Handlung nur dann eine moralische, wenn sie aus einem uneigennützigen Motiv getan wird.2 Und tatsächlich ist es eine geläufige Vorstellung der Alltagsmoral, daß jemand, der nur aus eigennützigen Motiven zugunsten anderer handelt,
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Vgl. Schopenhauer, Grundlage der Moral, bes. § 15.
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etwa nur aus dem Streben nach Reputation, nicht moralisch handelt. Auch bei Kant ist das Vorliegen eines bestimmten Motivs ein Definiens des moralischen Handelns. Die Handlung darf wie bei Schopenhauer nicht aus einem eigennützigen Motiv getan werden, aber darüber hinaus auch nicht aus Mitleid oder Sympathie oder einer anderen unmittelbaren Neigung; sie ist nur dann moralisch, wenn sie getan wird, weil sie moralisch gefordert ist, wenn sie also, wie Kant sagt, „aus Pflicht" getan wird. 3 Die Frage, aus welchem Motiv jemand etwas zugunsten anderer tut, ist in Kontexten wichtig, in denen es darum geht, andere Personen zu beurteilen und sich ein Bild davon zu machen, in welchem Maße sie zu schätzen sind. Den, der nur wegen des erhofften Reputationsgewinns etwas für andere tut, schätzen wir nicht so (wenn überhaupt) wie den, der dasselbe um der anderen willen tut. In einem Kontext dieser Art reicht es offenkundig nicht, zu wissen, was jemand getan hat, man muß auch wissen, aus welchem Motiv er es getan hat. Besonders dringlich ist die Frage nach dem Motiv in einer Vorstellungswelt, in der ein Gott die Menschen für ihr Verhalten belohnt und bestraft. Verdienstlich und der göttlichen Belohnung würdig ist hier nicht die einfache Handlung zugunsten anderer, denn sie kann, wie gesagt, auch aus eigennützigen Motiven resultieren. Verdienstvoll und moralisch ist die Handlung erst dann, wenn sie aus dem richtigen, nämlich selbstlosen Motiv heraus getan wird. Es mag sein, daß erst im Zuge dieser religiösen Vorstellungen die Frage nach dem Motiv und damit der Aspekt des Verdienstvollen eine so starke Bedeutung in der Moralphilosophie gewonnen hat. In jedem Fall ist damit ein der Moral eher fremdes Element in den Vordergrund gerückt. Denn die Moral zielt darauf, daß die Menschen bestimmte Dinge unterlassen und andere tun, daß sie aufeinander Rücksicht nehmen und sich in Notsituationen helfen. Sie zielt nicht dar-
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Vgl. I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AkademieAusgabe (AA ), Bd. IV, 3 9 7 f.
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auf, daß die Menschen die Dinge tun, für die sie von ihren Mitmenschen oder von Gott besonders geschätzt werden. In unserem Kontext besteht kein Grund, das moralische Handeln auch über ein bestimmtes Motiv zu definieren. Dies zu tun, entspringt, wie gezeigt, einem spezielleren Interesse. Nachdem der Begriff des moralischen Handelns so weit bestimmt ist, kann ich mit der Untersuchung der Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, beginnen.
§ 2 Was heißt es, moralisches Handeln zu begründen? 1. Was muß man zeigen, wenn man zeigen will, daß es vernünftig (oder rational) ist, moralisch zu handeln? Was heißt es, moralisches Handeln zu begründen? Zunächst ist wichtig, daß es keinen Grund gibt, hier, weil es um moralisches Handeln geht, Besonderheiten zu vermuten. „Begründen" heißt hier genau das, was es immer auf Handlungen bezogen bedeutet; und „vernünftig" bedeutet ebenfalls genau das, was es immer in bezug auf Handlungen bedeutet. Was aber heißt es, von einer Handlung zu sagen, sie sei vernünftig? Wir müssen einsetzen mit einer Unterscheidung, die sehr wichtig und für die Untersuchungen dieses Buches von grundlegender Bedeutung ist, - ich meine die Unterscheidung von rational zwingend und rational möglich. Eine Handlung ist rational zwingend, wenn es irrational ist, sie nicht zu tun. Man muß sie tun, sonst handelt man irrational. Rational möglich ist eine Handlung hingegen, wenn es nicht irrational ist, sie nicht zu tun, wenn es aber auch nicht irrational ist, sie zu tun. Man muß sie also nicht tun, man muß sie aber auch nicht lassen. Man hat die Option: Man kann sie tun, und man kann sie nicht tun. Beides ist rational möglich. 1 Wenn von der Begründung einer Handlung die Rede ist, geht es immer um den Nachweis,
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B. Gert hat in demselben Sinn „rationally required" und „rationally allowed" unterschieden. Vgl. Morality. Its Nature and justification (Oxford 1998) 30 und auch sein früheres Buch The Moral Rules (Oxford 1966) XIV; dt.: Die moralischen Regeln (Frankfurt 1983) 12. Th. Nagel gebraucht für dieselbe Unterscheidung die Ausdrücke „rationally required" und „rationally acceptable": The View from Nowhere (Oxford 1986) 200.
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daß die Handlung rational zwingend ist. Dies gilt auch für die Begründung moralischen Handelns. Wir wollen wissen, ob man rationalerweise moralisch handeln muß, und nicht, ob man es rationalerweise tun kann. Die Alternative, die sich hinsichtlich des moralischen Handelns stellt, ist also, ob es rational zwingend ist, so zu handeln, oder nicht. Wenn ja, dann verhält sich der, der unmoralisch handelt, irrational. Wenn nein, dann ist, moralisch zu handeln, allenfalls rational möglich: Man hat die Option, so zu handeln, aber auch die Option, es nicht zu tun. Ich kann die Frage, um die es im folgenden gehen wird, jetzt auch so formulieren: Ist das, was moralisch gefordert ist, auch rational zwingend? Ist es ein rationales „Muß", das zu tun, was von einem moralisch gefordert wird? - Es könnte sein, daß die Frage, so gestellt, als irritierend und irgendwie falsch empfunden wird. Moralische Forderungen sind, so haben wir gesagt, kategorische Forderungen: Man muß moralisch handeln, ob man will oder nicht, man muß so handeln, Punkt. Wenn es so ist, wo ist dann, so könnte man fragen, noch Platz für die Überlegung, ob es vernünftig ist, so zu handeln? Diese Überlegung scheint hier deplaciert, unpassend, ja vielleicht sogar unerlaubt zu sein. Es ist richtig: Moralische Forderungen sind kategorische Forderungen; aber das heißt nicht, daß sie zum moralischen Handeln determinieren. Natürlich kann der, an den sich eine moralische Forderung richtet, anders als gefordert handeln. Und deswegen kann er auch überlegen, ob es besser ist, so oder so zu handeln. Man kann angesichts einer moralischen Forderung immer fragen, ob es vernünftig ist, der Forderung nachzukommen. Diese Frage ist sinnvoll und nicht irgendwie falsch oder fehl am Platz. Der analoge Fall des juridischen Gefordertseins verdeutlicht das. Wenn ein Gesetz von mir verlangt, das-und-das zu tun, kann ich natürlich fragen, ob es vernünftig ist, mich wie gefordert zu verhalten. Diese Überlegung ist nicht sinnlos. Und sie nimmt auch von dem Gefordertsein nichts weg. 2. Eine Handlung zu begründen, heißt, zu zeigen, daß es für eine bestimmte Person (oder eine Mehrzahl von Personen) ver-
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niinftig ist, diese Handlung zu tun. Die Begründung einer Handlung ist immer eine in diesem Sinne personenbezogene Begründung. Wem gegenüber ist das moralische Handeln zu begründen? Dem gegenüber, der angesichts der an ihn gerichteten moralischen Forderungen fragt, was dies für Forderungen sind und was für ihn der Grund sein soll, diesen Forderungen nachzukommen. Also dem moralischen Skeptiker gegenüber. Für das Folgende ist es entscheidend, sich ein genaues Bild davon zu machen, wie der moralische Skeptiker beschaffen ist. Man muß wissen, was er akzeptiert, welche Meinungen und Interessen er hat. Denn man muß wissen, was die Basis für eine Diskussion mit ihm ist und wo eine Argumentation ihm gegenüber ansetzen kann. Als erstes muß man sich klarmachen, daß der moralische Skeptiker kein Interesse hat, Rücksicht auf die Interessen anderer zu nehmen. Er hat keine altruistischen Präferenzen, keine altruistischen Ideale, es gehört auch nicht zu seinem Selbstverständnis, jemand zu sein, der etwas für andere tut. Der Skeptiker hat auch nicht so etwas wie eine generelle Sympathie gegenüber jedermann. Es ist ihm nicht angenehm, etwas für andere zu tun oder etwas zu ihren Gunsten zu unterlassen. Es entspricht nicht seinen Interessen und nicht seinen Gefühlen, dies zu tun. Zumindest nicht über den Kreis derer hinaus, denen er persönlich verbunden und zugetan ist. - Hinter dieser Charakterisierung des Skeptikers steht nicht ein besonders pessimistisches Menschenbild, das im Menschen ein einzig und allein auf seinen eigenen Vorteil bedachtes Lebewesen sieht und seine altruistischen Dispositionen unterschätzt. Diese Charakterisierung hat überhaupt nichts mit einem Menschenbild zu tun, sie ist in dieser Hinsicht völlig neutral. Die Charakterisierung folgt vielmehr aus dem in § 1 erläuterten Begriff des moralischen Handelns. Moralisches Handeln ist kategorisch gefordertes Handeln. Dies hatten wir uns von dem hergebrachten Verständnis des Moralischen vorgeben lassen und hypothetisch akzeptiert. Das kategorische Gefordertsein des moralischen Handelns bedeutet, so hatte ich gesagt, daß der, an den
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sich eine moralische Forderung richtet, so handeln muß unabhängig davon, welche Ziele er verfolgt. Aber nicht nur dies, er muß auch unabhängig davon, welche Gefühle, welche Ideale und welches Selbstverständnis er hat, ja überhaupt unabhängig davon, was für eine Person er ist, moralisch handeln. Folglich muß er auch unabhängig davon, ob er altruistische Interessen, altruistische Gefühle oder altruistische Ideale hat, so handeln. Wenn jemand angesichts einer an ihn gerichteten moralischen Forderung fragt, ob diese Forderung sich auch dann an ihn richtet, wenn er keine altruistischen Neigungen hat, ist die Anwort eindeutig „ja". Vielleicht würde man noch hinzufügen: „Gerade dann ist die Forderung an dich gerichtet. Denn wenn du altruistische Neigungen hättest, würdest du ,νοη selbst' zugunsten anderer handeln, und es bedürfte der moralischen Forderung nicht." Wenn er dann fragt, was für ihn der Grund sein soll, so wie gefordert zu handeln, kann die Antwort natürlich nicht altruistische Interessen und Gefühle voraussetzen und hieran anknüpfen. Dies ist der Grund, warum der Skeptiker als eine Person zu denken ist, die keine altruistischen Neigungen und Interessen hat. Als zweites charakterisiert den Skeptiker, daß er nicht schon einen moralischen Standpunkt einnimmt. Er fragt ja gerade, warum er diesen Standpunkt einnehmen soll. Der Skeptiker stellt seine Frage von einem außermoralischen Standpunkt aus. Und hier muß m?.n ihm begegnen, wenn sich die eigene Argumentation nicht im Kreis drehen und das voraussetzen soll, was sie erst zeigen will. Das bedeutet, daß man auf die Frage, warum moralisch handeln, nicht antworten kann: „Weil du dazu moralisch verpflichtet bist." Als drittes charakterisiert den Skeptiker, daß er keine religiösen Annahmen akzeptiert. Er nimmt nicht an, daß es ein transzendentes Wesen gibt, das der Autor der moralischen Forderungen ist. Der Skeptiker akzeptiert genausowenig andere metaphysische Annahmen. Vor allem akzeptiert er weder einen unabhängig von uns, in diesem Sinne objektiv existierenden normativen Teil der Welt noch einen derartigen evaluativen
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Teil der Welt. Denn es gibt weder objektive Normen noch objektive Werte. G. Harman und J. L. Mackie haben im einzelnen dargelegt, in welche Schwierigkeiten und Abstrusitäten die Annahme einer objektiven Existenz von Normen und Werten führt. 2 Obwohl, beginnt man nachzudenken, nichts für die objektive Existenz dieser Entitäten spricht, trifft uns diese Einsicht hart. Denn die Vorstellung von der Objektivität vor allem normativer Tatsachen gehört zu den fest verwurzelten Hintergrundannahmen, die unser Bild von der Welt maßgeblich bestimmen. In Auseinandersetzungen über moralische Fragen behaupten die beteiligten Parteien zwar nicht ausdrücklich, daß das, worauf sie sich in ihren moralischen Urteilen beziehen, objektive Tatsachen sind, aber sie setzen es in aller Regel stillschweigend voraus. Daß man niemanden foltern darf, das ist, so die gewöhnliche Vorstellung, einfach eine objektive Tatsache, etwas uns Vorgegebenes, das nicht wir in die Welt gebracht haben, das vielmehr die Welt uns vorgibt. Es ist zwar eine Tatsache anderer Art als die empirische Tatsache, daß der Bodensee 63 km lang ist. Aber darin, eine objektive, von uns unabhängige Tatsache zu sein, unterscheidet sie sich in nichts von einer empirischen Tatsache. Wir sind also normalerweise in bezug auf Normen und Werte Objektivisten, vorreflexiv, ohne diese Frage überhaupt aufzuwerfen. Dieser Objektivismus wird gestützt, ja fast zur Selbstverständlichkeit durch das Faktum, daß wir zu normativen und evaluativen Fragen Stellung nehmen, indem wir Urteile fällen. Das suggeriert, wie bereits erwähnt, die Vorstellung einer objektiven normativen bzw. evaluativen Wirklichkeit, an der sich entscheidet, ob die Urteile wahr oder falsch sind. Auch die Vorstellungswelt der traditionellen, religiös fundierten Moral stützt den Objektivismus. Wenn die moralischen Gebote von Gott stammen und Ausdruck sei-
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Vgl. G. Harman: The Nature of Morality. An Introduction to Ethics (New York 1977), ch. 1; dt.: Das Wesen der Moral (Frankfurt 1981); J. L. Mackie: Ethics. Inventing Right and Wrong (London 1977), ch. 1; dt.: Ethik (Stuttgart 1983).
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nes Wollens sind, dann sind sie zwar willensabhängig, uns Menschen aber doch, und das ist das Entscheidende, vorgegeben. Sie sind etwas, das unabhängig von uns da ist, etwas, das wir vorfinden und nicht selbst in die Welt bringen. Der Skeptiker teilt diesen Objektivismus, wie gesagt, nicht. Deshalb ist es ausgeschlossen, ihn bei der Diskussion der Frage, warum er moralisch handeln soll, auf die objektive Existenz moralischer Normen, auf das moralische Gefordertsein von etwas als Teil der Welt hinzuweisen. Daß man einen Menschen nicht töten darf, daß man nicht foltern darf, sind keine Tatsachen, die die Welt uns vorgibt und gewissermaßen für uns bereithält. Objektive Normen dieser Art gibt es nicht. 3.1. Wir haben jetzt gesehen, woran die Diskussion mit dem moralischen Skeptiker nicht anknüpfen kann. Woran kann sie anknüpfen? Um das herauszufinden, müssen wir die Frage, was es heißt, daß eine Handlung für jemanden vernünftig ist, weiter untersuchen. Was ist es, was eine Handlung für jemanden vernünftig, sprich: rational zwingend macht? - Ich gehe von einer einfachen Grundkonzeption praktischer Rationalität aus, die ich im wesentlichen für richtig halte, aber, wo nötig, präzisieren und modifizieren werde. Es ist die Konzeption, die vor allem D. Hume wirkungsvoll formuliert hat.3 Sie behauptet im Kern zweierlei: Erstens. Die Ziele des Handelns sind ausschließlich durch die Wünsche der Individuen bestimmt.4 Zweitens. 3
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Vgl. D. Hume: A Treatise of Human Nature, ed. L. A. Selby-Bigge, 2nd edition by P. H. Nidditch (Oxford 1978), bes. II, iii, sect. 3, p. 4 1 3 ^ 1 8 : „Of the Influencing Motives of the Will". Ich werde im folgenden die Ausdrücke „Wünsche", „Wollen", „Interessen", „Präferenzen" trotz ihrer in anderen Kontexten wichtigen Unterschiede unterschiedslos verwenden, weil es in der jetzigen Diskussion auf ihre Differenzen nicht ankommt. Am liebsten spräche ich einfach vom Wollen, doch gerade dieses Wort kennt kein brauchbares Substantiv (mit Pluralformen) und ist deshalb unpraktisch. - Das Wort „Interesse" schwankt zwischen einer subjektiven und einer objektiven Verwendung. Man kann sagen, die Person A wünsche zwar X nicht, sie sei (in diesem Sinne) an X nicht interessiert, aber X liege doch in ihrem (objektiven)
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Die Vernunft hat die Aufgabe, die Erlangung der gewünschten Dinge zu maximieren. Die Vernunft ist gewissermaßen die Dienstmagd der Wünsche, und sie ist nur dieses. Sie vermag nicht selbst Ziele des Handelns zu bestimmen. Die Vernunft nimmt die Ziele unseres Handelns vielmehr als gegeben hin und erkennt, durch die Wahl welcher Handlungen wir diese Ziele am besten erreichen können. „Reason is, and ought", so schreibt Hume in einer berühmten Passage, „only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them." 5 Die Wünsche sind folglich das, woran sich entscheidet, was zu tun vernünftig ist. Wenn eine Person überlegt, was zu tun für sie vernünftig ist, überlegt sie, welche Handlung gemessen an ihren Wünschen vernünftig ist. Und wer überlegt, was zu tun für eine andere Person vernünftig ist, überlegt, welche Handlung gemessen an ihren Wünschen vernünftig ist. Man kann also eine Handlung einer anderen Person gar nicht auf vernünftig und unvernünftig hin beurteilen, ohne etwas über ihre Wünsche und Ziele zu wissen. Diese Überlegungen zeigen, daß der Begriff der praktischen Rationalität in einem sehr präzisen Sinn personenbezogen ist. Zu sagen, eine Handlung sei vernünftig, heißt nicht einfach, sie sei für eine Person vernünftig, es heißt, daß sie für eine Person relativ auf ihre Wünsche vernünftig ist. Soweit verschiedene Personen verschiedene Wünsche und Ziele haben, ist, was zu tun vernünftig ist, von Person zu Person etwas anderes. Ein und dieselbe Handlung kann folglich für eine Person vernünftig sein, für eine andere hingegen nicht. Praktische Rationalität ist, wie sich zeigt, strikt individuell. Und sie ist, das ist nach dem Gesagten bereits klar, strikt instrumentell. Denn vernünftig sind die Handlungen, die man tun muß, um seine Wünsche optimal zu erfüllen. Über eine Person zu sagen, sie handele rational,
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Interesse. In dieser letzten Verwendung wird das Wort unabhängig von den Präferenzen der Person zugesprochen. Ich werde „Interesse" immer nur in subjektiver Bedeutung verwenden. Hume, Treatise, p. 415.
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sagt also nichts darüber aus, welche Ziele sie verfolgt, sondern nur, daß sie ihre Ziele, welche auch immer es sein mögen, in einer bestimmten Weise verfolgt. An dieser Stelle ist ein Problem zu berücksichtigen, das zu einer ersten Präzisierung nötigt. Es ist möglich, daß die Wahl einer Handlung auf einer falschen Meinung beruht und deshalb nicht die geeignete Handlung gewählt wird, ohne daß das Haben dieser Meinung kritisierbar wäre. Angenommen, Paul will seinen Durst löschen und trinkt ein Glas Wasser, ohne zu wissen, daß es vergiftet ist. Diese falsche Handlungswahl beruht auf der falschen Meinung, das Wasser sei in Ordnung, einer Meinung im Hintergrund, die als solche gar nicht isoliert und thematisiert worden ist. Denn Paul hatte keinen Anlaß, an der Qualität des Wassers zu zweifeln, er hatte keinen Anlaß, das Wasser zu prüfen und im Zweifel ein anderes Getränk zu wählen. Seine Wahl beruht also auf einer falschen, aber nicht auf einer vorwerfbar falschen Meinung. War es nun rational oder war es irrational, das Wasser zu trinken? Unsere Intuitionen scheinen hier zu schwanken. Die eine sagt, es war rational. Das Wasser zu trinken, war zwar faktisch nicht die Handlung, die am besten das gewünschte Ziel herbeiführt, aber Paul hatte keinen Grund, zu mutmaßen, es sei nicht das geeignetste Mittel. Hätte er einen Anhaltspunkt gehabt, ohne ihm nachzugehen, wäre seine Handlung irrational, sie beruhte auf einer falschen Meinung, deren Besitz vorwerfbar wäre. Über die Rationalität entscheidet - so diese Intuition - die Perspektive des Wählenden, und zwar zum Zeitpunkt der Wahl, nicht die Perspektive vom Ergebnis her. Die andere Intuition sagt, es sei irrational gewesen, das Wasser zu trinken. Die Handlung habe, objektiv betrachtet, nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt. In ihre Wahl sei eine falsche Meinung eingegangen, wobei es gleichgültig sei, ob es dem Wählenden vorzuwerfen sei, diese Meinung zu haben. Die Unvernünftigkeit der Handlung zeigt sich auch darin, daß Paul in dem Moment, in dem er bemerkt oder erfährt, daß das Wasser vergiftet war, seine Handlung gerne ungeschehen machen würde, wenn es nur möglich wäre. Und
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jeder, der die Situation beobachtet und weiß, daß das Wasser vergiftet ist, würde Paul davon abhalten, es zu trinken. - Man steht hier nicht vor einem wirklichen Entweder-Oder, nur vor der Frage, auf welche Seite der Sache es einem ankommt. Tatsächlich urteilen wir aus beiden Perspektiven; jede ist uns, je nach den Umständen, wichtig. Wir beurteilen eine Handlung aus der Perspektive des Wählenden zur Zeit der Wahl, wofür dann im Falle einer in die Wahl eingehenden falschen Meinung nicht nur das Faktum der falschen Meinung, sondern auch deren Vorwerfbarkeit von Belang ist. Und wir beurteilen eine Handlung auch aus einer objektiven Perspektive, wofür dann im Falle einer bei der Handlungswahl vorausgesetzten falschen Meinung nur das Faktum, nicht die Vorwerfbarkeit der falschen Meinung eine Rolle spielt. Wenn es so ist, sollte man die verschiedenen Verwendungsweisen von „rational" möglichst auseinanderhalten. Man kann vielleicht von zwei Rationalitätsgraden sprechen: Wenn eine Handlung in der Weise rational ist, daß ihre Wahl nicht auf einer vorwerfbar falschen Meinung oder, wie man noch hinzufügen müßte, auf einem sonstigen vorwerfbaren epistemischen Fehler beruht, erfüllt sie einen ersten, unteren Grad an Rationalität. Und wenn eine Handlung in der Weise rational ist, daß ihre Wahl nicht auf einer falschen Meinung oder einem sonstigen epistemischen Fehler beruht, erfüllt sie einen zweiten, höheren Grad an Rationalität. Es ist, wie ich glaube, sehr klar, daß in unserem Kontext nur das Vernünftigsein einer Handlung im zweiten, stärkeren Sinne wichtig ist. Die Diskussion mit dem moralischen Skeptiker versucht ihm zu zeigen, daß es für ihn auf der Basis wahrer Meinungen vernünftig ist, moralisch zu handeln. Das Ziel ist nicht, ihn in einer Weise zum moralischen Handeln zu überreden, die ihm erlaubt, nachträglich, bei entsprechender Information, zu sagen: „Hätte ich das gewußt, hätte ich das moralische Handeln nicht gewählt." Wir werden „rational" also in dem Sinne verstehen, daß von einer Handlung zu sagen, sie sei für die Person A rational, bedeutet, daß sie tatsächlich, und nicht nur in den Augen von A, am besten dazu dient, ein Ziel von A zu erreichen.
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Die so weit entwickelte instrumenteile Konzeption praktischer Rationalität leugnet, wie wir sahen, daß die Vernunft, oder deutlicher formuliert, das Vernünftigsein einer Person diese aus sich heraus auf irgendwelche Handlungen festlegt. Das Vernünftigsein allein macht es nicht zwingend, bestimmte Handlungen zu tun. Damit steht diese Konzeption explizit gegen die kantische Alternative. In Kants Augen hat Hume den Fehler gemacht, die instrumenteile Rationalität für die ganze praktische Rationalität zu halten und in der optimalen Verfolgung des Gewünschten die einzige Aufgabe praktischen Vernünftigseins zu sehen. Kant sieht in der bloßen Mittelwahl zu vorgegebenen Zielen nicht die eigentliche Aufgabe der praktischen Vernunft, und er beurteilt ihre Leistungsfähigkeit auf diesem Feld eher pessimistisch. 6 In Wirklichkeit gibt es, so Kant, neben der instrumentellen Vernunft eine andere Form praktischer Vernunft, die ohne jeden Bezug auf Wünsche bestimmt, was zu tun vernünftig ist. Bestimmte Handlungen zu tun, ist einfachhin oder absolut vernünftig, nicht relativ auf einen gegebenen Bezugspunkt. Die entscheidende Frage ist hier, was es heißen soll, daß eine Handlung an und für sich und nicht dadurch, daß eine Person durch sie ein vorgegebenes Ziel am besten erreicht, vernünftig ist. Meines Erachtens widerspricht es dem Sinn von „vernünftig", von einer Handlung zu sagen, sie sei vernünftig, Punkt. Diese Rede scheint ohne angebbare Bedeutung zu sein, weil es das Phänomen, auf das sie sich bezieht, nicht gibt: Es gibt keine Handlungen, die einfachhin oder absolut vernünftig sind. 7 Bei Kant sind die allein von der Vernunft gebotenen Handlungen die moralischen Handlungen. Sich moralisch zu verhalten, folgt mithin unmittelbar aus bloßem Vernünftigsein. Wer vernünftig ist, nimmt allein dadurch eine Haltung ein, die die Belan6 7
Vgl. Kant, Grundlegung, AA IV, 395 f. E. Tugendhat hat deshalb Kants Idee einer praktischen Vernunft, die bestimmte Handlungen als schlechthin vernünftig auszeichnet, zu Recht eine „philosophische Erfindung" genannt. Vgl. Vorlesungen über Ethik (Frankfurt 1993) 45; auch S. 1 3 3 - 1 3 9 , wo Tugendhat seine Kritik detailliert am Text der Grundlegungsschrift begründet.
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ge anderer so berücksichtigt wie die eigenen. Diese Konzeption praktischer Vernunft ist vielfach aufgegriffen und in vielen Varianten neu formuliert worden. Die Grundidee all dieser Versuche ist es, daß, vernünftig zu sein, bedeutet, einen unpersönlichen Standpunkt einzunehmen, also die Interessen aller in gleicher Weise zu berücksichtigen. Wer vernünftig ist, hat damit eo ipso schon einen moralischen Standpunkt eingenommen. Der moralische Skeptiker würde, hiermit konfrontiert, fragen, warum es unvernünftig ist, die Handlungen zu wählen, die der Verfolgung der eigenen Ziele am besten dienen, ohne die Wünsche anderer in gleicher Weise zu berücksichtigen. In welchem Sinn sollte dies unvernünftig sein? Es ist vielleicht egoistisch, es mag auch unmoralisch sein, aber warum ist es einfachhin unvernünftig und eine überindividuelle, unpersönliche Haltung einfachhin vernünftig? Diese Frage bleibt in den an Kant anschließenden Versuchen, Moralität zu einem immanenten Element des Vernünftigseins zu machen, offen. Wirklich zu zeigen ist hingegen, daß es unter Zugrundelegung eines instrumentellen und individuellen Begriffs praktischen Vernünftigseins, der das Moralischsein nicht von vorneherein einschließt, vernünftig ist, moralisch zu handeln. 3.2. Es ist indes nötig, diesen instrumenteilen Begriff praktischer Rationalität in einem weiteren und sehr wesentlichen Punkt zu präzisieren. Bisher muß es so scheinen, als seien unsere Wünsche ganz der Vernunft entzogen. Als seien sie für die Vernunft etwas bloß Vorgegebenes und als habe sie keinerlei Einfluß darauf, welche Wünsche wir haben. Ist es wirklich so? Ist es wirklich unmöglich, Wünsche als rational bzw. irrational zu beurteilen? 8 Oder gibt es ein von den faktischen 8
Es geht bei dieser Frage nur um, wie man sagen kann, intrinsische Wünsche; das sind Wünsche, die das Gewünschte um seiner selbst willen wünschen. Daß extrinsische Wünsche, solche, die das Gewünschte nur als Mittel zu etwas anderem wünschen, irrational sein können, ist leicht einzusehen. Sie sind dann irrational, wenn die von ihnen unterstellte Kausalbeziehung faktisch nicht vorliegt. Wünsche dieser Art können mithin infolge eines kognitiven Defizits irrational sein.
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Wünschen unabhängiges Maß, an dem sich bemißt, ob ein Wunsch richtig oder falsch, rational oder irrational ist? - Man muß sich hier zunächst vergegenwärtigen, daß wir nicht bestimmte Sachverhalte als in sich wünschenswert auszeichnen und dann die Wünsche, die auf diese Sachverhalte zielen, rational nennen können, und die Wünsche, die nicht in sich Wünschenswertes zum Gegenstand haben, irrational. Dies zu tun, bedeutete, die Existenz objektiver Werte anzunehmen, die unseren Wünschen durch die Wirklichkeit selbst vorgegeben und ihnen Norm und Maßstab sind. Doch solche Werte gibt es, wie wir sahen, nicht. Und deshalb führt kein Weg vom Sein zum Wünschen. Man wünscht nicht etwas, weil es unabhängig von jedem Wünschen in sich wertvoll ist, etwas ist vielmehr nur wertvoll durch einen Bezug auf Wünsche. Wertvoll zu sein, heißt, (wie wir sehen werden: in bestimmter Weise) gewünscht zu werden. Werte sind in ihrer Existenz abhängig von der Existenz von Wünschen. Wo keine Wünsche, da auch keine Werte. Letzten Endes gibt es also nur eines, nämlich Wünsche. Man kann Wünsche folglich nicht über ihre Inhalte als rational oder irrational beurteilen. Nicht daß wir das-und-das wünschen, nicht das Was des Wünschens macht einen Wunsch rational bzw. irrational. Wenn es überhaupt sinnvoll ist, von rationalen und irrationalen Wünschen zu sprechen, dann nur hinsichtlich des Wie des Wünschens, also der Art und Weise, in der jemand einen Wunsch hat. Kann man also von einem Wunsch unabhängig davon, was sein Gegenstand ist, sagen, er sei rational oder irrational? Eine erste Möglichkeit, Wünsche unabhängig von ihren Inhalten zu kritisieren, ist gegeben, wenn mehrere Wünsche ein und derselben Person nicht zusammenpassen. Wenn, um ein besonders einfaches Beispiel zu nehmen, eine Person bei der Wahl zwischen den Sachverhalten X und Ζ X vorzieht, bei der Wahl zwischen X und Y Y und bei der Wahl zwischen Y und Ζ Ζ, ist das Set dieser drei Präferenzen inkohärent. Das heißt nicht, daß gerade die eine Präferenz, die den Sachverhalt X dem Sachverhalt Ζ vorzieht, irrational ist; aber zumindest eine der
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drei Präferenzen muß von einem rationalen Individuum korrigiert werden. In der Ordnung und Hierarchie der Wünsche paßt etwas nicht zusammen. - Eine Reihe anderer Möglichkeiten, Wünsche als irrational zu kritisieren, ergeben sich aus der Tatsache, daß Wünsche in eine Vielzahl von Meinungen eingebettet sind und eine oder mehrere der relevanten Meinungen, das heißt der Meinungen, die die Ausrichtung oder Intensität eines Wunsches bestimmen, falsch sein können. M a n wünscht dann etwas (überhaupt oder in der speziellen Intensität), weil man eine falsche Meinung hat. Hätte man die richtige, strebte man das Gewünschte gar nicht oder zumindest nicht in dem M a ß e an. So kann jemand eine falsche Meinung über den Gegenstand seines Wunsches haben. Wenn er das Gewünschte dann erlangt, zeigt sich, daß es anders, sagen wir: schlechter ist als angenommen. Der Träger des Wunsches muß einsehen, daß er sich den Gegenstand seines Wunsches fälschlich anders vorgestellt hatte. Hätte er gewußt, wie er tatsächlich ist, hätte er ihn nicht (oder nicht in dem Maße) gewollt. Statt des Gefühls der Zufriedenheit oder der Freude, mit dem man normalerweise auf das Erreichen von etwas Gewolltem reagiert, macht sich Enttäuschung breit. Das Gefühl der Enttäuschung erschließt einem das Gewollte als etwas, das man zwar faktisch gewollt hat, an dem einem aber, wie sich jetzt herausstellt, in Wahrheit nicht oder nicht in dem M a ß e liegt. Oder nehmen wir an, jemand erstrebt etwas allein deswegen, weil seine Eltern, wie er glaubt, wollen, daß er das Angestrebte erreicht. Tatsächlich wollen die Eltern dies gar nicht, es handelt sich um einen Irrtum. Auch hier beruht das Wünschen auf einer falschen Meinung. Und auch hier denkt der Träger des Wünschens, falls er von dem Irrtum erfährt: Ich hätte es nicht wünschen sollen; hätte ich mir diesen Wunsch doch nicht zu eigen gemacht! Die Wünsche, die auf einer falschen Meinung basieren, sind kognitiv defizient und gehen infolge dieses Defizits in die Irre. Wünsche dieser Art können unvernünftig oder irrational genannt werden, wobei „irrational" wieder in dem starken Sinn des zweiten, höheren Rationalitätsgrades verwandt ist, also in der
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Verwendung, für die die Frage der Vorwerfbarkeit der falschen Meinung keine Rolle spielt. Auch hier ist der Grund, „rational" bzw. „irrational" in diesem starken Sinn zu verstehen, der Blick auf die geplante Diskussion mit dem moralischen Skeptiker. Wenn, dem Skeptiker zu zeigen, daß moralisches Handeln vernünftig ist, heißt, ihm zu zeigen, daß es für ihn relativ auf seine Wünsche vernünftig ist, kann sich die Argumentation nicht auf solche Wünsche beziehen, die der Skeptiker zwar faktisch hat, die er aber, wenn er eine der vorausgesetzten Meinungen korrigiert, fallen läßt. Die Argumentation kann sich also nicht auf Wünsche beziehen, die auf falschen Meinungen fußen, ganz gleich ob das Haben dieser Meinungen vorwerfbar ist oder nicht. Würde sie es tun, würde sie in dem Moment, in dem der Skeptiker seinen Irrtum bemerkt und den entsprechenden Wunsch aufgibt, wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Kognitiv defiziente Wünsche fußen nicht unbedingt auf falschen Meinungen; es gibt andere Formen kognitiver Defizienz. So können einem, ohne es zu wissen, relevante Informationen fehlen. Es kann auch sein, daß man zwar alle nötigen Informationen hat, sie aber verdrängt, beiseite schiebt oder nicht realisiert. So kann sich jemand, solange er das Gewollte nicht erreicht hat, so auf sein Erreichen konzentrieren, daß er abblendet, warum er es eigentlich will. Erst wenn er das Gewollte erlangt hat, die Fixierung hierauf von ihm abfällt und sich sein Blickfeld wieder weitet, realisiert er, daß er das Gewollte aus einem Motiv gewollt hat, das er mißbilligt. Etwa aus Neid, aus falschem Ehrgeiz oder einem unangebrachten Minderwertigkeitsgefühl. Er mißbilligt die Genese des Wollens, und das bewirkt, daß das Gewollte für ihn seinen Wert verliert und sein Erreichen ihn nicht befriedigt. Er denkt, daß er, was er so sehr gewünscht hat, nicht hätte wünschen sollen. Ganz ähnlich ist der Fall, in dem man auch erst nachträglich erkennt oder sich bewußt macht, was man zunächst nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte, nämlich daß das Zustandekommen eines Wunsches durch manipulative Einflußnahmen, sozialen Druck oder innere Zwänge bedingt war. Man erkennt dann, daß die Gene-
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se des Wollens nicht selbstbestimmt war; man fühlt sich folglich nicht als wirklicher „Autor" und Urheber des Wunsches und distanziert sich von ihm. Ein weiterer Fall ist der eines unüberlegten Wunsches. Jemand hat zwar die nötigen Informationen, läßt sie aber beiseite und wünscht spontan und unüberlegt etwas, an dem ihm, wie er selbst wüßte, wenn er nur überlegte, gar nicht liegt. - In all diesen Fällen sind die Wünsche kognitiv defizient, sie sind nicht in die nötigen Informationen eingebettet; und das heißt auch hier, daß die Wünsche irrational sind. Wir können jetzt die Frage beantworten, ob es ein von den faktischen Wünschen unabhängiges Maß gibt, an dem sich bemißt, ob ein Wunsch rational oder irrational ist. Es gibt, so hat sich gezeigt, ein solches Maß. Aber ob ein Wunsch rational oder irrational ist, entscheidet sich nicht an dem Was, sondern allein an dem Wie des Wünschens. Irrational ist ein Wunsch, wenn er kognitiv defizient ist; wenn er dies nicht ist, ist er rational. Das heißt, daß „rational" in Anwendung auf Wünsche nicht „rational zwingend", sondern nur „rational möglich" bedeutet. Eine Person hat einen rationalen Wunsch, wenn es nicht irrational ist, ihn zu haben. Sie muß ihn aber nicht haben. Ihn nicht zu haben, wäre auch nicht irrational. 9 Hinzu9
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt R. Brandt in seinem Buch A Theory of the Good and the Right (Oxford 1979). Brandt vertritt die Auffassung, rational sei ein Wunsch, wenn er eine sogenannte ,kognitive Psychotherapie', das heißt, eine eindringliche und nötigenfalls wiederholte Konfrontation mit allen relevanten Fakten überstehe. Irrational ist ein Wunsch, der infolge einer solchen Konfrontation fallengelassen wird (113). Brandt macht freilich die Rationalität eines Wunsches merkwürdigerweise an dem psychologischen Erfolg der kognitiven Psychotherapie, also dem faktischen Fallen- oder Nicht-Fallenlassen des Wunsches fest, nicht an ihrem epistemischen Resultat, der Einsicht, daß der Wunsch entweder alle relevanten Informationen angemessen berücksichtigt oder nicht. Dies hat zur Folge, wie Brandt selbst sieht (113), daß ein Wunsch, der infolge einer kognitiven Psychotherapie als kognitiv defizient erkannt wird, aber aufgrund irgendeines hartnäckigen psychischen Mechanismus dennoch nicht verschwindet, als rational gilt. Das scheint mir
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zufügen ist noch, daß rationale Wünsche inkohärent sein können. Dann ist, wie wir sahen, das Set der Wünsche kritisierbar. M a n kann also, so mein Ergebnis, Wünsche als irrational kritisieren. Unsere Wünsche sind keineswegs völlig dem Einfluß der Vernunft entzogen. Die Vernunft hat Einfluß darauf, welche Wünsche wir haben. Die Kritik eines Wunsches kann freilich nur kognitiv sein. Sie kann nicht mit der Annahme operieren, bestimmte Sachverhalte seien in sich wünschenswert. Sie ist deshalb immer „wertfrei". Eine Kritik von Wünschen ist durchaus auch aus der Perspektive 3. Person möglich. Eine andere Person kann gegebenenfalls eher als ich erkennen, daß ein Wunsch von mir kognitiv defizient ist. Etwa wenn sie sieht, daß ich bestimmte relevante Informationen nicht habe, und wenn sie - das ist die zweite, ganz entscheidende Bedingung weiß, daß ich selbst meinen Wunsch kritisieren und aufgeben würde, wenn ich die entsprechenden Informationen hätte. Die Kritik eines anderen nimmt auf diese Weise stets die Selbstkritik dessen, um dessen Wünsche es geht, vorweg. Sie enthält immer die Behauptung, daß der, der den Wunsch hat, sich von ihm lösen würde, wenn er die nötigen Informationen hätte. Diese Kritik urteilt somit immer aus der Perspektive der Person, die Träger des kritisierten Wunsches ist. Nachdem jetzt geklärt ist, daß man von rationalen und irrationalen Wünschen sprechen kann und was es heißt, von Wünschen zu sagen, sie seien rational oder irrational, stellt sich eine weitere Frage, nämlich ob wir erkennen können, daß Wünsche rational sind. Dies ist aus mehreren Gründen problematisch. Zu erkennen, daß ein Wunsch, den man hat, mit seinen anderen Wünschen zusammenpaßt, setzt voraus, daß man in der Lage ist, unplausibel zu sein. Es ist ganz natürlich, zu sagen: „Mein Wunsch ist irrational, aber es gelingt mir nicht, ihn loszuwerden." Abwegig ist es hingegen, zu sagen: „Es gelingt mir nicht, diesen Wunsch loszuwerden, obwohl es zu ihm, wie ich inzwischen weiß, nur infolge falscher Prämissen gekommen ist. Er ist deshalb in gewisser Weise gar nicht mein Wunsch und ich stehe nicht wirklich hinter ihm. Aber da es mir nicht gelingt, ihn zum Verschwinden zu bringen, ist er rational."
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seine Wünsche insgesamt zu überschauen. Selbst wenn wir davon absehen, daß unsere Wünsche kein festes, ein für alle Mal fixiertes Gebäude bilden, sondern eine bewegliche, sich ständig verändernde Konstellation, ist es klar, daß wir einen Wunsch immer nur auf seine Kohärenz mit einigen benachbarten Wünschen und einigen im Gewebe der Wünsche dominanten Wünschen prüfen können. Insofern bleibt die Feststellung, ein Wunsch passe zu den anderen Wünschen, vorläufig und offen für die (spätere) Einsicht, daß es doch nicht so ist. Es gibt allerdings Wünsche, die so elementar oder so dominant sind, daß, wenn sich eine Inkohärenz zeigen sollte, klar ist, daß man an ihnen festhält und die anderen, im Verhältnis zu ihnen inkohärenten Wünsche fallen läßt oder anders gewichtet. Wie es häufig unmöglich ist, Inkohärenz definitiv auszuschließen, so ist es häufig auch nicht möglich, kognitive Defizienz auszuschließen. So besonders bei wichtigen, die Lebensweise einer Person bestimmenden Wünschen. 10 Bei Wünschen dieser Art ist es fast immer unmöglich, ein klares Bild von der Genese eines Wunsches zu haben. Ein solcher Wunsch speist sich aus zu vielen Quellen, als daß es möglich wäre, sich sein Zustandekommen im ganzen durchsichtig zu machen. Die inneren und äußeren Einwirkungen sind zu vielfältig, zum Teil zu untergründig, zum Teil liegen sie zu weit in der Vergangenheit, als daß es möglich wäre, sie umfassend aufzudecken. Wir haben hier immer zu wenig Informationen und müssen deshalb damit rechnen, daß wir diesen oder jenen Wunsch, wüßten wir mehr, aufgeben oder modifizieren würden. Die Feststellung, ein bestimmter Wunsch sei rational, da kognitiv nicht defizient, bleibt aus diesem Grunde häufig vorläufig und offen für die gegenteilige Erkenntnis. Dieses epistemische Problem besteht
10 Vgl. zu Wünschen dieser Art, ihrer Rationalität und deren Erkennbarkeit meinen Aufsatz Was es heißt, ein gutes Leben zu leben, in: H. Steinfath (Hg.): Was ist ein gutes Leben? (Frankfurt 1998) 47-72, 60-68. Ich habe hier und im Vorausgehenden einige Passagen aus diesem Text übernommen.
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nicht nur hinsichtlich der Genese eines Wunsches, sondern auch hinsichtlich seines Gegenstandes. Wenn wir etwas wünschen, was wir bisher nicht haben und nicht hatten, fehlt notwendigerweise die Erfahrung, wie es ist, das Gewünschte zu haben. Wie es ist, Vater zu sein, in seinem Beruf erfolgreich zu sein, in einem anderen Erdteil Helfer der Armen zu sein, können wir, solange wir es nicht sind, allenfalls „von außen", aber nicht „von innen" wissen. Dieses Informationsdefizit ist prinzipiell nicht zu beheben. Die Frage ist, ob auch relevante Informationen fehlen, das heißt solche, die den Träger des Wunsches, wenn er das Gewünschte erlangt hat, sagen lassen: „Hätte ich das gewußt, hätte ich es nicht gewollt." Das läßt sich vorab nicht wissen, es stellt sich erst im nachhinein heraus, zumindest in den Fällen, in denen das Gewünschte Wirklichkeit wird. Bezieht sich die epistemische Unsicherheit nicht auf den Gegenstand, sondern das Zustandekommen eines Wunsches, stellt sich hingegen auch dann, wenn das Gewünschte verwirklicht ist, nicht heraus, ob relevante Informationen fehlen oder nicht. Die Genese des Wunsches bleibt hier auch im nachhinein partiell unaufgeklärt. Die Feststellung, ein Wunsch sei nicht kognitiv defizient, ist, wie wir sehen, in vielen Fällen vorläufig und offen für Korrektur. Es gibt aber elementare Wünsche, bei denen jeder sicher ist, daß es wirklich sein Wunsch ist, und bei denen jeder sicher sein kann, über das Gewünschte hinreichend viel zu wissen. Besonders deutliche Beispiele sind Wünsche, die Lebensnotwendigkeiten betreffen, etwa die Wünsche, zu essen und zu trinken, oder auch der Wunsch, nicht verletzt zu werden. Es ist kein Zufall, daß diese Wünsche nicht individuell sind und nicht das eigene Leben, das man im Unterschied zu dem der anderen führt, ausmachen. - Wir können festhalten: Die gezeigten epistemischen Beschränkungen bedeuten, daß man Wünsche zwar definitiv als irrational charakterisieren kann, dann wenn eine Inkohärenz oder ein kognitives Defizit aufgedeckt ist, daß aber bei vielen Wünschen die Charakterisierung als rational nur vorläufig sein kann.
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Ich habe oben gesagt, von einer Person zu sagen, sie handele rational, sage nichts darüber aus, welche Wünsche sie hat, nur, daß sie ihre Wünsche, welche auch immer es sein mögen, in einer bestimmten Weise verfolgt. Nachdem jetzt gezeigt ist, daß die Vernunft sehr wohl Einfluß darauf hat, welche Wünsche man hat, bedarf es folgender Präzisierung: Eine Person „rational" zu nennen, sagt nichts darüber, welche Wünsche sie inhaltlich hat, nur, daß sie ihrer Form nach rationale Wünsche hat und daß sie sie in einer bestimmten Weise verfolgt. Die Vernünftigkeit einer Handlung ist also nicht relativ auf irgendwelche Wünsche, wie es zunächst schien, sie ist relativ auf rationale Wünsche. Von einer für die Person A rationalen Handlung zu sprechen, bedeutet demnach in unserem Kontext, zu sagen, sie diene tatsächlich, und nicht nur in den Augen von A, am besten dazu, einen rationalen Wunsch von A zu erfüllen. Natürlich bleibt es auch unter der Bedingung rationaler Wünsche dabei, daß die Menschen verschiedene Wünsche haben. Die formale Rationalität bewirkt nicht die allgemeine Kongruenz der Wünsche. 3.3. Die Frage, was es heißt, daß eine Handlung für jemanden vernünftig ist, ist jetzt beantwortet. Ich hatte gesagt, diese Frage sei zu klären, bevor man herausfinden könne, woran die Diskussion mit dem moralischen Skeptiker über das Vernünftigsein moralischen Handelns anknüpfen kann. Was ist nun für diese Frage gewonnen? Wenn es nur in Relation auf rationale Wünsche möglich ist, von einer Handlung zu zeigen, daß sie vernünftig ist, ist es klar, daß man dem Skeptiker nur in Relation auf seine rationalen Wünsche zeigen kann, daß er rationalerweise moralisch handeln muß. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Das liegt im Begriff der praktischen Rationalität. Aber welche Wünsche hat der Skeptiker? Auf diese Frage spitzt sich die Überlegung zu. Als erstes muß man hier festhalten, daß man dem Skeptiker keine Wünsche andemonstrieren kann. Man kann ihm nicht zeigen, daß er rationalerweise bestimmte Wünsche, die er nicht hat, haben muß. Wünsche (zumindest intrin-
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sische Wünsche, um die es hier geht11) sind allenfalls rational möglich, aber nicht rational zwingend. Man kann dem Skeptiker nur zeigen, daß er bestimmte Wünsche, die er vielleicht hat, nicht haben sollte, daß es irrational ist, sie zu haben. Dies bedeutet, daß eine bestimmte Argumentationsform zugunsten moralischen Handelns ausgeschlossen ist: Man kann dem Skeptiker nicht in einem ersten Schritt bestimmte Wünsche andemonstrieren und ihm dann im zweiten Schritt zeigen, daß es relativ auf diese Wünsche für ihn vernünftig ist, moralisch zu handeln. Eine solche Argumentation ist nicht möglich, weil der erste Schritt nicht gelingen kann. Hieraus folgt, daß auch die klassische eudaimonistische Argumentation nicht erfolgreich sein kann. Man kann nicht, wie sie es versucht, dem Skeptiker im ersten Schritt zeigen, daß er das-und-das als sein Glück wollen muß, um dann im zweiten Schritt zu demonstrieren, daß, moralisch zu handeln, für die Erlangung des so bestimmten Glücks konstitutiv und damit vernünftig ist. Was das Glück, das höchste und letzte Ziel des Strebens, ist, bestimmt jedes Individuum für sich selbst durch das, was es will. Niemand kann dem Skeptiker andemonstrieren, daß er das-und-das als sein Glück anstreben muß. Was das Glück inhaltlich ausmacht, ist durch das Wollen der einzelnen Menschen bestimmt, nicht durch die Vernunft für alle gleichermaßen. Welche Wünsche hat nun der Skeptiker? An welche Wünsche kann der Versuch einer Moralbegründung anknüpfen? Es scheint, als gebe es nur zwei Antwortstrategien. Die erste nimmt an, daß man sich, wenn man dem Skeptiker keine Wünsche als rational zwingend andemonstrieren kann, nur auf Wünsche beziehen kann, die er faktisch hat. Er hat auf jeden Fall die Wünsche, die alle Menschen einfach aufgrund der Tatsache, daß sie Lebewesen dieser Art sind, faktisch haben. Diese Wün-
11 Bei extrinsischen Wünschen kann man natürlich demonstrieren, daß jemand rationalerweise etwas wünschen muß. - Vgl. zu der Unterscheidung intrinsischer und extrinsischer Wünsche oben S. 2 5 , Anm. 8.
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sehe braucht man niemandem anzudemonstrieren, weil es niemanden gibt, der sie nicht hat; sie liegen unterhalb der Wünsche, durch die sich die Menschen unterscheiden. Weil sie so allgemein und elementar sind, kann man sich auch sicher sein, daß sie nicht kognitiv defizient und deshalb nicht irrational sind. Es sind also rationale Wünsche. Die Begründung zeigt dann, so die Idee, daß es in Relation auf diese rationalen Wünsche vernünftig ist, moralisch zu handeln. Diese Strategie setzt also bei einem Minimum anthropologischer Grunddaten an. Es ist des öfteren versucht worden, auf diesem Weg zum Ziel zu kommen. Hobbes ist vielleicht der bedeutendste Vertreter dieser Strategie. Seine Ausgangsthese ist, daß alle Menschen den Wunsch haben, sich selbst zu erhalten. Und in Relation auf diesen (rationalen) Wunsch kann man, so Hobbes, zeigen, daß es für jeden Menschen vernünftig ist, moralisch zu handeln. Die zweite Strategie verzichtet konsequent darauf, Annahmen über den Inhalt der Wünsche, die der Skeptiker hat, zu machen. Die Begründungsidee ist hier: Wenn man überhaupt Wünsche hat und sie verfolgen will, welche auch immer es sein mögen, ist es vernünftig, moralisch zu handeln. Dieser Begründungsversuch bedarf also der anthropologischen Annahmen der ersten Strategie nicht, er kommt mit weniger Annahmen aus. Diese Strategie ist folglich strenger als die erste, sie ist überhaupt die denkbar strengste. D. Gauthier hat sie in Morals by Agreement (1986) verfolgt. Gauthier rückt sein Projekt ausdrücklich in die Nähe des kantischen Versuchs, Moral aus reiner Vernunft zu begründen.12 Aber im Unterschied zu Kant lehnt er eine Vernunft ab, die ohne Bezug auf Wünsche bestimmte Handlungen als rational zwingend auszeichnet. Gauthier versteht praktisches Vernünftigsein instrumenteil und individuell. Das Vernünftigsein einer Handlung ist auf die Wünsche des jeweiligen Individuums bezogen. Aber er glaubt von den Inhalten der Wünsche absehen zu können. Wer nur überhaupt etwas will, und das tut 12 Vgl. D. Gauthier: The Unity of Reason: A Subversive Reinterpretation of Kant (1985), in: D. G.: Moral Dealing (Ithaca 1990) 1 1 0 - 1 2 6 , 118.
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Fragestellung und erste Klärungen
auch der moralische Skeptiker, für den ist es vernünftig, sich moralisch zu verhalten. 13 3.4. Es muß hier noch offen bleiben, welche dieser Strategien die bessere ist. Aber gleichgültig welche man einschlägt, die verbliebene Basis für die Argumentation mit dem moralischen Skeptiker ist in jedem Fall außerordentlich schmal. Angesichts dieser Ausgangssituation, wie sie jetzt herauspräpariert ist, neigt man nicht zur Zuversicht. Wie soll es möglich sein, dem Skeptiker auf dieser Basis zu zeigen, daß es für ihn vernünftig ist, moralisch zu handeln? Es ist indes sehr wichtig, sich diese Ausgangslage so klar wie möglich vor Augen zu führen und nicht gleich zu Beginn das, was zu leisten ist, im Diffusen und Undurchschauten zu lassen. W e r keine Klarheit über die Diskussionslage mit dem Skeptiker hat, hat keinen Begriff davon, was es heißt, moralisches Handeln zu begründen. Und er hat keine Vorstellung davon, welche Last er schultert, wenn er darangeht, eine Begründung moralischen Handelns zu konzipieren. Es ist angesichts dieser Ausgangssituation nicht verwunderlich, daß viele meinen, das Projekt einer Moralbegründung könne nicht erfolgreich sein. Die meisten von ihnen gehen aber andererseits fest davon aus, daß, moralisch zu handeln, nicht einfach nur eine Option ist. Wie das zusammenpaßt, bleibt ein Geheimnis. Ich meine, man steht hier in Wirklichkeit vor einer klaren Alternative: Entweder läßt sich ausgehend von der schmalen Basis, die bleibt, zeigen, daß es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Oder es läßt sich nicht zeigen. Wenn letzteres, müssen wir uns von der Vorstellungswelt der M o r a l lösen und versuchen, unsere Art des Handelns und Fühlens dieser Einsicht anzupassen. 13 Vgl. Gauthier, Morals by Agreement, 102f.: „Morality ... is possible if the constraints are generated simply by the understanding that they make possible the more effective realization of one's interests, the greater fulfilment of one's preferences, whatever one's interests or preferences may be." - Siehe auch D. Gauthier: Between Hobbes and Rawls, in: D. G./R. Sugden (eds.): Rationality, Justice and the Social Contract (Ann Arbor 1 9 9 3 ) 2 4 - 3 9 , 2 6 .
Was beißt es, moralisches
Handeln
zu begründen?
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Die Vorab-Einschätzung, eine Begründung moralischen Handelns sei unmöglich, wenn praktisches Vernünftigsein so wie jetzt dargelegt zu verstehen sei, könnte durch eine speziellere Überlegung noch befeuert werden. Moralisches Handeln steht häufig, wie jeder weiß, gegen unsere Wünsche und Interessen. Man würde gerne X tun, muß es aber lassen, weil die Moral es so verlangt. Die Moral fordert oft, die Verfolgung eigener Wünsche einzuschränken. In einzelnen Fällen kann es deshalb sehr hart sein, moralisch zu handeln. Nun heißt aber, wie gesehen, jemandem zu zeigen, daß es für ihn vernünftig ist, so-und-so zu handeln, ihm zu zeigen, daß, so zu handeln, am besten der Verfolgung seiner (rationalen) Wünsche dient. Eine Handlung zu begründen, heißt, zu zeigen, daß, so zu handeln, im Interesse des Handelnden liegt. Jede Begründung einer Handlung ist in diesem Sinne egozentrisch - eine Einsicht, die bereits die Sophisten und dann vor allem Piaton klar formuliert haben und zur Grundlage ihrer Versuche, Handlungen zugunsten anderer zu begründen, gemacht haben. 14 Die Egozentrik der Begründung bedeutet freilich nicht, daß die Interessen egoistisch sein müssen, sie können auf den eigenen Vorteil, aber auch auf den Vorteil anderer gerichtet sein. Was der Gegenstand der Interessen ist, ist völlig offen, es müssen nur die Interessen dessen sein, für den, so-undso zu handeln, begründet sein soll. Wenn die Begründung einer Handlung notwendig egozentrisch ist, könnte es so aussehen, als sei der Gedanke einer Begründung moralischen Handelns ein Widerspruch in sich: Es soll gezeigt werden, daß etwas, das häufig gegen unser Interesse steht, in unserem Interesse liegt. Das sieht paradox aus und scheint eine Unmöglichkeit zu sein. Doch dieser Eindruck täuscht. Wir haben viele Wünsche, und es ist eine einfache Wahrheit, daß etwas, das gegen die einen Wünsche steht, der Realisierung anderer Wünsche dienen kann. Man denke an die mit Schmerzen verbundene Gymnastik. Man will sie nicht, weil man die Schmerzen nicht will, aber unter dem Strich will 14 Vgl. hierzu P. Stemmer: Der Grundriß der platonischen Ethik. Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988) 529-569, 535-541.
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man sie doch, weil man die durch sie bewirkte Wiedererlangung der Gesundheit höher schätzt als die Vermeidung der Schmerzen. Diese Überlegung zeigt sehr gut, welche Struktur die Begründung moralischen Handelns nur haben kann. Obwohl moralisches Handeln ein Handeln zugunsten anderer ist, kann seine Vernünftigkeit nur darin liegen, daß es zugleich auch im Interesse des Handelnden ist. Auch die Einschränkung eigener Interessen, die das moralische Handeln bedeutet, muß ihrerseits im eigenen Interesse liegen. Auf eine Begründung von dieser Struktur muß der Versuch, moralisches Handeln als vernünftig zu erweisen, zielen. Einen anderen Weg gibt es, wie ich meine, nicht. 4 . Zum Abschluß dieses Kapitels noch eine kurze Bemerkung. Das Nachdenken über eine Begründung moralischen Handelns wird häufig mit Skepsis und Unverständnis betrachtet, weil man den Eindruck hat, es handele sich um ein gesuchtes oder nur traditionell vorgegebenes, aber nicht um ein echtes Problem. W a s sich vor allem daran zeige, daß es den moralischen Skeptiker doch gar nicht gebe. Er sei doch bloß imaginiert. Niemand vertrete diese Position. Warum dann gegen sie argumentieren? - Der Skeptiker ist in der T a t nur imaginiert. Aber wir denken nicht über Moralbegründung nach, um etwas in der Hand zu haben, falls uns eines Tages ein leibhaftiger moralischer Skeptiker entgegentritt. Unser Motiv ist ein anderes. Es ist, wie schon gesagt, ein intellektuell unbefriedigender und irritierender, ja vielleicht gelegentlich sogar quälender Zustand, eine Praxis zu üben und damit vorauszusetzen, daß es vernünftig ist, so zu handeln, ohne zu verstehen, worin die unterstellte Vernünftigkeit besteht. In dieser Unzufriedenheit zeigt sich der Wunsch, über unser Tun und Lassen mehr zu wissen und sich seiner Grundlagen zu vergewissern. Um uns hier zu einer Klärung und Prüfung herauszufordern, erfinden wir den Skeptiker, der den Zweifeln und Ungewißheiten Gestalt und Stimme gibt. Das entscheidende Motiv, sich mit der Begründung moralischen Handelns zu befassen, ist also, sich über eine Praxis, die für unser gemeinsames Leben zentral ist, klarer zu werden.
§ 3 Moralische Forderungen: Sollen und Müssen 1. Nachdem jetzt geklärt ist, was es heißt, moralisches Handeln zu begründen, beginne ich die Diskussion mit dem moralischen Skeptiker. Seine erste Frage angesichts der an ihn gerichteten moralischen Forderungen lautet, was für Forderungen dies eigentlich sind: Wer ist ihr Autor, was begründet sie und die ihnen entspringende Verpflichtung? Die erste Aufgabe dem Skeptiker gegenüber ist es also, verständlich zu machen, Forderungen welcher Art moralische Forderungen sind. Ich werde, um hier zu einer Klärung zu kommen, zunächst die sprachlichen Formen, in denen moralische Forderungen zum Ausdruck kommen, soweit es für unsere Zwecke nötig ist, analysieren. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß Forderungen, also auch moralische Forderungen, am unmittelbarsten und direktesten in Imperativsätzen zum Ausdruck kommen. Deshalb ist es weniger überraschend, als es vielleicht auf den ersten Blick scheint, daß R. M. Hare geäußert hat, das Studium der Imperative sei die bei weitem beste Einführung in das Studium der Moral. 1 Doch die Moralphilosophie ist diesen Weg traditionell nicht gegangen. Sie hat sich, wenn sie nicht auf das Wort „gut" und das moralische Gutsein fixiert war, an Soll-Sätzen orientiert. Moralische Forderungen werden, so die Vorstellung, sprachlich in Soll-Sätzen zum Ausdruck gebracht. Und tatsächlich fallen uns, wenn wir an moralische Forderungen denken, als erstes nicht Imperative, sondern solche Sätze ein wie: „Du sollst nicht töten." oder: „Du sollst die Wahrheit sagen." Man denke an die Formulierungen des Dekalogs (in den uns geläufigen Übersetzungen). Auch Kant denkt, wenn er von „Impera1
R. M. Hare: The Language of Morals (Oxford 1952) 2; dt.: Die der Moral (Frankfurt 1972) 20.
Sprache
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ti ven" spricht, primär nicht an grammatische Imperative, sondern an Soll-Sätze. In der Grundlegungsschrift heißt es: „Alle Imperative werden durch ein Sollen ausgedrückt ..." 2 In letzter Zeit ist die traditionelle Orientierung an Soll-Sätzen wiederholt kritisiert worden.3 Es sei merkwürdig und ein Mißverständnis, daß die Moralphilosophie so stark auf das Sollen fixiert sei, wo es doch im Alltag viel häufiger sei, in moralischen Kontexten statt vom „sollen" vom „müssen" zu sprechen. Man sage: „Du mußt", nicht: „Du sollst die Wahrheit sagen." Wir können offenlassen, welches Wort wir im Alltag häufger verwenden. Die Rede vom „müssen" - ich habe sie im Vorangegangenen immer gebraucht - hat in jedem Fall ihre Rechtfertigung in der Vorstellung, daß eine moralische Forderung eine, wie Kant sagt, praktische Notwendigkeit zum Ausdruck bringt. Die Tradition hat speziell von einer moralischen Notwendigkeit (nécessitas moralis) gesprochen.4 Diese Notwendigkeit und das Nichtanders-Können des Adressaten der Forderung wird sprachlich durch das „müssen" genau getroffen, nicht jedoch durch das „sollen". „Sollen" hat, wie wir sehen werden, eine andere Funktion. Ich werde beide Ausdrucksweisen nacheinander untersuchen und dabei auf die Verbindungslinien zu den Impera2
AA IV, 4 1 3 . - Vielleicht darf man den Satz aufgrund der Kursivierung von „sollen" so wiedergeben: „Alle Imperative werden durch das W o r t .sollen' (oder: durch einen Soll-Satz) ausgedrückt..." In diesem Sinne übersetzt jedenfalls Th. K. Abbott ins Englische (Kant, Fundamental Principles of the Metaphysics of Ethics, London 1 9 5 9 ) . - Als ein Beispiel für einen „Imperativ" nennt Kant etwa den Soll-Satz: „Du sollst nichts betrüglich versprechen" ( 4 1 9 ) .
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Vgl. R. Wertheimer: The Significance of Sense. Meaning, Modality, and Morality (Ithaca 1 9 7 2 ) 1 1 7 ; Mackie, Ethics, 64, dt. 79f.; H.-U. Hoche: Elemente einer Anatomie der Verpflichtung (Freiburg 1 9 9 2 ) 3 0 1 ; Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 36. Vgl. z.B. H. Grotius: De jure belli ac pads ( 1 6 2 5 ) , ed. B. J. A. de Kantervan Hettinga Tromp (Leiden 1 9 3 9 ) I, 1, § X , 1; S. Pufendorf: De jure naturae et gentium ( 1 6 7 2 ) , ed. G. Mascovius, torn. 1 (Frankfurt/Leipzig 1 7 5 9 , N D Frankfurt 1 9 6 7 ) I, 1, § X X I ; I, 2 , § VI; Kant: Kritik der praktischen Vernunft ( 1 7 8 8 ) , AA V, 81, 1 2 5 ; ders.: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA X X , 1 6 2 .
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tiven achten. Wir werden sehen, daß Soll- und Muß-Sätze deutlich unterschieden sind und unterschiedliche Kontextvorstellungen wachrufen, die jedoch beide wesentlich unser vorreflexives Verständnis davon, was eine moralische Forderung ist, bestimmen. 2.1. Ich beginne mit der Analyse von „sollen". Es ist wichtig, nicht mit Verwendungen aus moralischen Kontexten zu beginnen. Denn hier ist man häufig durch feste Vorab-Assoziationen und Vorab-Meinungen beeinflußt, die den Blick auf die sprachlichen Phänomene verstellen. Man sollte statt dessen mit Verwendungen einsetzen, die mit Moral nichts zu tun haben und überhaupt so unkompliziert wie möglich sind, und erst dann, wenn man bereits festen Boden unter den Füßen hat, in Kontinuität zu den erreichten Ergebnissen die moralischen SollSätze aufklären. - Beginnen wir also mit einem simplen Beispiel: Meine Frau kommt nach Hause, und ich sage zu ihr: „Du sollst morgen eine Stunde früher ins Büro kommen." Der Satz ist seiner syntaktischen Form nach ein assertorischer Satz, also ein Satz, mit dem man behauptet, daß etwas der Fall ist. Tatsächlich teile ich meiner Frau mit diesem Satz mit, daß jemand sie auffordert, morgen eine Stunde früher ins Büro zu kommen. Man kann sagen, ich teile mit, daß eine Aufforderung „im Raum steht". Dabei wird ausdrücklich gesagt, an wen sich die Aufforderung richtet und welchen Inhalt sie hat. Ungesagt bleibt aber, wer das Subjekt, der Autor der Aufforderung ist. Deshalb könnte meine Frau fragen: „Wer will das?" Oder: „Von wem kommt das?" Meine Antwort: „Von deinem Chef. Er hat angerufen." Soll-Sätze sind in diesem Sinne anonym. Assertorische Sätze sind dadurch definiert, wahr oder falsch zu sein. Kann man von dem Soll-Satz sagen, er sei wahr oder falsch? Ja, natürlich. Die Mitteilung, daß meine Frau morgen früher kommen soll, ist wahr, wenn eine Aufforderung dieses Inhalts wirklich ergangen ist, und sie ist falsch, wenn dies nicht der Fall ist. Es ist möglich, daß meine Frau auf meine Mitteilung hin sagt: „Das stimmt nicht. Die Aufforderung könnte nur
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von meinem Chef kommen. Und der ist zur Zeit in Ferien und hat dich bestimmt nicht angerufen." Sie würde damit die Wahrheit meiner Mitteilung bestreiten. Oder ein Dritter könnte sagen: „Ich habe das Gespräch mitgehört. Es ist falsch, daß du eine Stunde früher kommen sollst. Du sollst morgen nur auf jeden Fall pünktlich da sein." Wir haben es bei einem Soll-Satz der angeführten Art - ich werde von „praktischen Soll-Sätzen" sprechen - also zweifellos mit einem assertorischen Satz zu tun; er ist wie jeder assertorische Satz mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, und man kann zu ihm bejahend oder verneinend Stellung nehmen. Praktische Soll-Sätze zeigen in den angesprochenen Punkten Parallelen und Gemeinsamkeiten mit einer anderen Art von Soll-Sätzen. In Sätzen wie „Der Fahrer soll betrunken gewesen sein.", „Die Frau von Herrn Seidenman soll sehr schön sein.", „Die Kriminalitätsrate soll in den nächsten Jahren stark ansteigen." wird nicht festgestellt, daß eine Aufforderung, sondern daß eine Behauptung im Raum steht: Jemand behauptet, daß der Fahrer betrunken war, daß die Frau von Herrn Seidenman sehr schön ist, etc. Wer der Autor der jeweiligen Behauptung ist, bleibt hier ebenfalls ungesagt. Soll-Sätze dieser Art - man kann von theoretischen Soll-Sätzen sprechen - sind auch anonym. Und sie sind genau wie praktische Soll-Sätze mit einem Wahrheitsanspruch verbunden. Es handelt sich also auch um assertorische Sätze. Unser Ausgangsbeispiel hat zu der Annahme geführt, in einem praktischen Soll-Satz werde festgestellt, daß eine Aufforderung im Raum stehe. Das ist etwas ungenau. Es ist oft, aber nicht immer eine Aufforderung im Spiel, wenn „sollen" in diesem Sinne verwandt wird. Immer ist ein Wollen im Spiel. Besonders klar zeigt sich dies daran, daß man auch von Dingen, die keine Personen sind, sagen kann, daß sie etwas tun sollen; zum Beispiel: „Der Zaun soll verhindern, daß Unbefugte das Grundstück betreten.", „Die Randbuchstaben sollen den Text weiter untergliedern." M a n kann an Dinge dieser Art keine Aufforderungen richten, aber wollen, daß sie einem Zweck
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dienen oder eine Funktion erfüllen. Es gibt auch praktische Soll-Sätze mit persönlichem Subjekt, die auf ein Wollen, aber nicht speziell auf ein Auffordern bezogen sind. So zum Beispiel die Sätze: „Sie sollen wissen, daß wir Sie sehr schätzen.", „Du sollst so schnell wie möglich wieder gesund werden." Oder die Soll-Sätze, die den Willen einer ungenannten M a c h t voraussetzen: „Er sollte seine Heimat nicht mehr Wiedersehen.", „Es soll vielleicht alles so sein." - Ich werde mich im folgenden allein auf die praktischen Soll-Sätze beziehen, in denen es speziell um Aufforderungen geht. Der Grund ist einfach: Zu dieser Art gehören die moralischen Soll-Sätze. 2 . 2 . Vielleicht überrascht der Befund, daß praktische SollSätze assertorisch sind und feststellen, daß etwas der Fall ist. Jemand könnte einwenden, wenn man zu jemandem sage: „Du sollst das-und-das t u n . " , dann teile man ihm nicht mit, daß eine Aufforderung im Raum steht, man fordere ihn vielmehr auf, das-und-das zu tun. Statt der „Du sollst "-Formulierung könnte man auch den Imperativ verwenden und direkt formulieren: „Tue das-und-das!" M i t diesem Einwand ist man in guter philosophischer Gesellschaft. Praktische Soll-Sätze werden häufig als Imperative oder verdeckte Imperative gedeutet. Oder man glaubt, Soll-Sätze dieser Art hätten eine doppelte Funktion, zum einen die beschriebene assertive und zum anderen eine imperative. 5 Oder man faßt Imperative und Soll-Sätze als „Forderungssätze" zusammen, deren Gemeinsamkeit es ist, „entweder zu einer Handlung aufzufordern oder sie zu verbieten . . . " . Als solche stehen dann Forderungssätze assertorischen Sätzen gegenüber. 6 Hier verbinden sich oberflächliche sprach5
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So zum Beispiel H. Kelsen: Allgemeine Theorie der Normen (Wien 1979) 121, 125; oder F. v. Kutschera: Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen (Freiburg 1973) 12. So R. Rand: Logik der Forderungssätze. Internationale Zeitung für Rechtsphilosophie 1 (1939) 3 0 8 - 3 2 2 , Zitat S. 312. - Vgl. auch Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 41, wo es heißt, Soll-Sätze seien „Handlungsaufforderungen" .
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liehe Analysen mit philosophischen Hintergrundannahmen verschiedener Herkunft. Eine in diesen Auffassungen wirksame Tradition ist die des logischen Positivismus. Die Philosophen dieser Richtung waren der Auffassung, Soll-Sätze seien nicht verifizierbar. Der Streit um ihre Wahrheit oder Falschheit sei deshalb verfehlt. Es handele sich in Wirklichkeit gar nicht um assertorische Sätze, ihre syntaktische Form sei nur ein irreführender Schein. In Wahrheit seien Sätze dieser Art Imperative. 7 Es ist nicht schwer, zu sehen, daß diese Auffassungen falsch sind. M a n sollte nie die Genauigkeit und Nuanciertheit der Sprache unterschätzen. Sie leistet sich nur ganz selten den Luxus, für ein und dieselbe Funktion mehrere Ausdrücke oder Ausdrucksformen bereitzuhalten. Die klügere Ausgangshypothese ist immer die Annahme, daß verschiedene Ausdrucksformen verschiedene Funktionen haben, mag der gegenteilige Eindruck zunächst auch noch so stark sein. So ist es auch hier. Wir haben schon gesehen, daß man einem Satz der Form: „Du sollst das-und-das tun." entgegentreten kann, indem man sagt: „Das stimmt nicht." oder „Das ist nicht w a h r . " Ein solcher Satz kann bestritten werden, eben weil er assertorisch ist. Auf eine Aufforderung kann man hingegen nicht in dieser Weise antworten. Es ist unmöglich, auf den Imperativ „Kommen Sie morgen früher!" mit „Das stimmt nicht." zu reagieren. Außerdem: Einen Satz der Form „Du sollst das-und-das tun." als Imperativ zu verstehen, würde bedeuten, „sollen" in der Personalform der 2. Person aus der Sinnkontinuität mit den Formen der 1. und 3. Person herauszulösen. Denn wenn ich in 1. Person zu meiner Frau sage: „Ich soll morgen eine Stunde früher k o m m e n " , formuliere ich sicher keinen Imperativ. Und auch
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R. Carnap schreibt in Philosophy and Logical Syntax (London 1935) 24 über Wertsätze, was er ebenso über Soll-Sätze hätte sagen können: „Most philosophers have been deceived by this [grammatical] form into thinking that a value statement is really an assertive proposition, and must be either true or false... But actually a value statement is nothing else than a command in a misleading grammatical form..."
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wenn ich sage: „Robert (unser Sohn) soll morgen eine Stunde früher kommen", ist dies kein Imperativ. Außerdem: Bei einem Imperativ sind der Sprecher und der Autor der Aufforderung immer ein und dieselbe Person, bei einem „Du sollst"-Satz ist dies nur ausnahmsweise der Fall; normalerweise sind der Sprecher und die ungenannte Person, um deren Aufforderung es geht, verschiedene Personen. So zeigt sich, daß ich meine Frau mit dem Satz: „Du sollst morgen eine Stunde früher kommen." keineswegs zu etwas auffordere, deutlich daran, daß ich diesem Satz folgende Bemerkung folgen lassen kann: „Ich finde, du bist in den letzten Tagen oft genug früher gekommen. So dringend wird es wohl nicht sein. Meines Erachtens reicht es, wenn du morgen zur üblichen Zeit gehst." Ich würde meiner Frau damit empfehlen, der Aufforderung nicht nachzukommen. Ich könnte sie sogar direkt auffordern, ihr nicht nachzukommen: „Du sollst früher kommen, aber tue es nicht!" Ich bin hier also ganz sicher nicht der Autor der Aufforderung, früher zu kommen, ich teile nur mit, daß diese Aufforderung durch jemanden, der nicht eigens genannt wird, ergangen ist. Der Einwender könnte vielleicht noch insistieren und sagen, daß meine Analyse für das Beispiel zwar stimme, das Beispiel aber offenbar nicht den zentralen Gebrauch des praktischen „sollen" spiegele. Wenn die Mutter zu ihrer Tochter sage: „Du sollst die Tür zumachen.", dann sei das keine Mitteilung über die Aufforderung eines Dritten, sondern eine Aufforderung der Mutter an die Tochter, die auch direkt in dem Imperativ „Mach' die Tür zu!" zum Ausdruck gebracht werden könnte. - Doch auch hier wird eine sprachliche und damit auch phänomenale Differenz übergangen. Der Soll-Satz und der Imperativ haben in Wahrheit signifikant verschiedene Funktionen. Die Mutter könnte den Satz „Du sollst die Tür zumachen." etwa in folgendem Kontext verwenden: Der Vater sagt zu seiner Tochter: „Mach' die Tür zu!" Das ist eine Aufforderung, sprachlich in einem Imperativ ausgedrückt. Da die Tochter sich nicht rührt, sagt die Mutter nach einer Weile zu ihr: „Du sollst die Tür zumachen." Sie sagt nicht: „Mach' die Tür zu!" Im letzten Fall
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würde sie die Aufforderung des Vaters wiederholen und nun ihrerseits die Tochter auffordern, die Tür zuzumachen. Im ersten Fall aber sagt sie, daß die Aufforderung an sie, die Tür zuzumachen, im Raum steht. Die Mutter bezieht sich mit dem Soll-Satz auf die zuvor ergangene Aufforderung des Vaters zurück. Diese Aufforderung, so sagt sie, steht (noch) im Raum. 8 Sie könnte den Rückbezug explizit machen, indem sie dem SollSatz anfügt: „Dein Vater hat dich dazu aufgefordert." Die Möglichkeit eines solchen Nachsatzes ist für praktische SollSätze typisch. „Du sollst hier nicht rauchen. Die Gastgeber wünschen es nicht." „Sie sollen Ihren Posten nicht verlassen. Der Kompaniechef hat es ausdrücklich befohlen. " - Natürlich ist es auch möglich, mit einem Soll-Satz auf eine eigene Aufforderung zurückzukommen. Die Aufforderung an die Tochter, die Tür zuzumachen, kann auch von der Mutter gekommen sein. Sie kommt dann mit dem „Du sollst die Tür zumachen." auf ihre eigene Aufforderung zurück und stellt fest, daß sie (noch) im Raum steht. Wir können festhalten, daß ein praktischer Soll-Satz kein Imperativ ist, sondern ein assertorischer Satz. Er stellt fest, daß eine bestimmte Aufforderung an jemanden ergangen ist. Indem er dies feststellt, bezieht er sich auf eine zuvor ergangene Aufforderung durch einen Dritten oder durch den Sprecher selbst zurück. Ein praktischer Soll-Satz ist in diesem Sinne rekursiv. Das Insistieren des Einwenders ist, obwohl verfehlt, nicht grundlos. Er hat etwas Zutreffendes im Auge. Es kommt aber darauf an, es richtig zu fassen. Er hat im Auge, daß praktische Soll-Sätze in bestimmten Kontexten durchaus eine auffordernde Wirkung haben und zum Zweck des Aufforderns gebraucht werden. Wenn die Mutter zur Tochter sagt: „Du sollst die Tür zumachen." hat diese Feststellung in aller Regel eine auffordernde Wirkung. Denn durch die Erinnerung an die ergangene
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Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 122, hat diesen Unterschied zwischen Imperativ und Soll-Satz bereits gut verdeutlicht.
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Aufforderung, der die Tochter noch nicht nachgekommen ist, wird die Aufforderung vergegenwärtigt und damit in einer Art erneuert. Die Notwendigkeit, mit dem Soll-Satz noch einmal auf die Aufforderung zurückkommen zu müssen (eben weil bisher nichts passiert ist), gibt dem Soll-Satz häufig einen drängenden oder sogar drohenden T o n . Ein Soll-Satz ist immer dann mit einer auffordernden Intention verbunden, wenn der Sprecher sich mit der Aufforderung, auf die sich der Soll-Satz zurückbezieht, identifiziert. In dem Fall, in dem es die eigene Aufforderung des Sprechers ist, ist das evident. Aber der Sprecher kann sich natürlich auch die Aufforderung eines Dritten zu eigen machen. So kann sich die Mutter mit der Aufforderung des Vaters an die Tochter identifizieren. Ebenso steht ein Gottesgläubiger, der mit Bezug auf ein Gebot Gottes zu jemandem sagt: „Du sollst nicht ehebrechen." hinter diesem Gebot. Gott ist zwar der Autor der Aufforderung, deshalb wählt der Sprecher intuitiv den Soll-Satz und nicht den Imperativ, aber weil er sich das Gebot zu eigen macht, fordert er sein Gegenüber dadurch, daß er feststellt, daß dieses göttliche Gebot besteht, auch selbst auf, entsprechend zu handeln. D a ß Soll-Sätze in bestimmten Kontexten mit auffordernder Intention verbunden sind, ist, wie die Beispiele zeigen, unbestreitbar. Aber diese Tatsache ändert nichts daran, daß praktische Soll-Sätze assertorische Sätze sind und keine Imperative. Es ist notwendig, bei einer sprachlichen Äußerung zu unterscheiden zwischen dem, was man mit ihr zu verstehen gibt, und der beabsichtigten Wirkung, die der Sprecher zu erzielen hofft, indem er das-und-das zu verstehen gibt. Ich kann jemanden, indem ich ihm sage, daß es brennt, dazu bewegen wollen, das Haus zu verlassen. Ich stelle mit dem Satz: „Es brennt." fest, daß etwas der Fall ist, und durch die Äußerung dieses Satzes in einem bestimmten Kontext hoffe ich, den Hörer dazu zu bringen, etwas zu tun. D a ß ich mit der Feststellung diese Intention verbinde, ändert nichts daran, daß „Es brennt." ein assertorischer Satz ist. M a n kann einen assertorischen Satz mit sehr verschiedenen Intentionen äußern: um jemanden zu etwas
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Fragestellung und erste Klärungen
aufzufordern, um jemanden zu warnen, um jemanden an etwas zu erinnern etc. Hinter der Vorstellung, praktische Soll-Sätze seien, zumindest in einer ihrer Funktionen, Imperative, steht wahrscheinlich nicht nur die Erfahrung des Sprechers, der einen solchen Satz in bestimmten Kontexten mit der Intention des Aufforderns gebraucht, sondern auch und vielleicht sogar stärker die Erfahrung des Hörers oder Adressaten eines solchen Satzes. Denn selbst in Situationen, in denen sich der Sprecher nicht mit der Aufforderung identifiziert und der Soll-Satz nur in der Absicht, über das Bestehen der Aufforderung zu informieren, geäußert wird, bedeutet, Adressat eines solchen Soll-Satzes zu sein, mit einer Aufforderung konfrontiert zu werden. Wenn mein M a n n zu mir sagt: „Du sollst morgen eine Stunde früher k o m m e n . " , bin ich, ganz gleich wie er sich zu der Aufforderung stellt, mit dieser Aufforderung konfrontiert. Durch den Soll-Satz tritt diese Aufforderung an mich heran; ich erfahre, daß jemand eine bestimmte Aufforderung an mich richtet. Diese Erfahrung des Hörers legt es nahe, praktische Soll-Sätze für Imperative zu halten, aber eine sorgfältigere Analyse zeigt, daß sie keine Imperative, sondern assertorische Sätze sind. 2 . 3 . Ich gehe jetzt zum moralischen „sollen" über. Das Wichtigste ist zunächst, daß moralische Soll-Sätze wie „Du sollst dein Versprechen halten." offenkundig zum Genus der praktischen Soll-Sätze gehören. Wie diese sind sie assertorische Sätze, und wie diese stellen sie fest, daß eine Aufforderung im Raum steht. Dabei nennen sie wie alle praktischen Soll-Sätze den Inhalt und den Adressaten der Aufforderung, aber nicht ihren Autor. Moralische Soll-Sätze sind also auch rekursiv und anonym. Es gibt mithin keinen Grund, anzunehmen, „sollen" habe in moralischen Kontexten eine eigene, irgendwie exklusive Bedeutung. Es ist leicht zu sehen, daß moralische Soll-Sätze aufgrund ihrer Rekursivität auf eine zuvor ergangene Aufforderung sehr gut zu der Vorstellungswelt einer religiös fundierten M o r a l
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passen. Der Autor der Aufforderungen ist hier Gott. Der Mensch kommt, wenn er einen moralischen Soll-Satz gebraucht, nur auf die göttlichen Gebote zurück, er sagt, daß sie bestehen, er teilt das mit oder erinnert daran, was natürlich eine auffordernde Wirkung hat. Das „sollen" hat in diesem Kontext einen klaren Bezug, es ist sofort klar, wovon die Rede ist. Die theozentrische Weltsicht verschafft dem moralischen „sollen" eine besondere Eingängigkeit und Evidenz. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß in der traditionellen Orientierung der Moralphilosophie an Soll-Sätzen die religiöse Vergangenheit der Moral weiterwirkt. Dennoch ist es falsch, zu meinen, die Rede vom moralischen „sollen" sei an die religiöse Konzeption der Moral gebunden und habe in einer Moral ohne Gott keinen Platz mehr.9 Warum sollte das so sein? Wenn Gott nicht der Autor der moralischen Aufforderungen ist, dann können es die Menschen selbst sein. Sie selbst können wechselseitig moralische Aufforderungen an sich richten. Und dann ist es ganz richtig, auf eine solche Aufforderung mit einem moralischen Soll-Satz zurückzukommen. Moralische Soll-Sätze können also auch in einer posttheozentrischen Moral einen „Sitz im Leben" haben. Wir müssen nach dem Genus noch die spezifischen Differenzen bestimmen, durch die sich moralische Soll-Sätze von anderen praktischen Soll-Sätzen unterscheiden. Das erste spezifizierende Merkmal betrifft den Inhalt der Aufforderung. Die Aufforderung, auf die ein moralischer Soll-Satz zurückbezogen ist, hat immer zum Inhalt, etwas zugunsten anderer zu tun oder zu unterlassen. Das zweite spezifizierende Merkmal betrifft die Art der Aufforderung. Es gibt viele Arten von Aufforderungen: von Befehlen, Geboten, Kommandos über Forderungen, Wei-
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So etwa Hoche, Elemente einer Anatomie der Verpflichtung, 301; auch G. Ε. M. Anscombe: Modern Moral Philosophy (1958), in: G. Ε. Μ. Α.: The Collected Philosophical Papers, vol. 3 (Oxford 1981) 2 6 - 4 2 ; dt. in: G. Grewendorf/G. Meggle (Hg.): Seminar: Sprache und Ethik (Frankfurt 1974) 2 1 7 - 2 4 3 . - Siehe auch Schopenhauer, Grundlage der Moral, § 4, S. 121 f., 124 f.; § 13, S. 195.
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sungen, Anordnungen zu Bitten, Instruktionen, Rezepten.10 Von welcher Art sind die Aufforderungen, auf die sich das moralische „sollen" zurückbezieht? Wir haben gesagt, moralisches Handeln habe die Charakteristik des Gefordertseins. Es handelt sich also um Forderungen. Aber was ist damit genauer gemeint, Aufforderungen welcher Art sind moralische Forderungen? Ich will einige wesentliche Merkmale nennen. Zunächst etwas Allgemeines zu Forderungen: Wer etwas von jemandem fordert, muß im Unterschied zum Beispiel zu dem, der jemanden um etwas bittet, dem anderen gegenüber in einer bestimmten Position sein, in einer Position, die ihn in die Lage versetzt, von dem anderen etwas fordern zu können. Man kann sagen, wer etwas von jemandem fordert, muß ihm gegenüber etwas in der Hand haben, er muß über gewisse Machtmittel verfügen, die ihn in die Position bringen, etwas fordern zu können. Dieser Sachverhalt spiegelt sich darin, daß, wer eine Forderung an jemanden richtet, dies immer mit der Androhung von Übeln für den Fall des Zuwider-Handelns verbinden kann. Die typische Ausdrucksweisen, mit denen diese Androhungen formuliert werden, sind angehängte „Sonst"- bzw. „Oder"-Sätze: „Verlassen Sie sofort mein Haus, sonst werde ich die Polizei holen." bzw. „Oder ich werde die Polizei holen." In diesen Nach-Sätzen wird nur ausdrücklich gemacht, was eine Forderung als solche enthält: die Drohung, andernfalls bestimmte Übel zuzufügen. Welche Position versetzt in die Lage, moralische Forderungen an jemanden zu richten? Wir können moralische Forderungen, unserem intuitiven Verständnis folgend, gegen zwei andere Arten von Forderungen abgrenzen. Zum einen sind sie keine Forderungen, die auf einer Position wesensmäßiger Überlegenheit beruhen. In einer theozentrischen Weltsicht gebietet Gott den Menschen, sich so-und-so zu verhalten. Was diese Weise
10 Vgl. zu den verschiedenen vorgeschlagenen Klassifikationen G. Hindelang: Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen (Göppingen 1978), bes. 75-118; C. L. Hamblin: Imperatives (Oxford 1987) ch. 1.
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des Forderns möglich macht, ist die einmalige Stellung, die Gott innehat, seine Macht, seine unvergleichliche Souveränität und Autorität, seine unendliche Überlegenheit den Menschen gegenüber. Diese in seinem Wesen gründende Überlegenheit läßt Gott in der Position sein, den Menschen gebieten zu können. Der uns nächste Kontext, in dem Gebote dieser Art eine Rolle spielen, ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Auch hier besteht ein Machtgefälle, einerseits die Überlegenheit der Eltern, andererseits die starke Abhängigkeit der Kinder. Auch hier bringt die Überlegenheit die Eltern in die Position, ihren Kindern etwas gebieten zu können. Es liegt auf der H a n d , daß eine aufgeklärte Moral die moralischen Forderungen nicht als Gebote versteht, die in dieser Weise auf einer Position wesensmäßiger Überlegenheit beruhen. Zum andern sind moralische Forderungen keine erpresserischen Forderungen. Sie basieren nicht auf einer Machtposition, die sich dem erpresserischen Ausnutzen situativer Vorteile verdankt. Der Straßenräuber, der den Passanten mit einer Pistole bedroht und von ihm die Herausgabe seines Geldes verlangt, nutzt den Besitz der Pistole und die gegebene Situation zu der erpresserischen Forderung: „Geld 'raus! Oder es knallt." Es leuchtet wohl auch hier ein, daß moralische Forderungen nicht von dieser Art sind. M a n denke nur daran, daß die Person A, wenn von ihr moralisch gefordert ist, X zu tun, verpflichtet ist, X zu tun. Der moralischen Forderung entspricht auf der Seite dessen, den die Forderung trifft, die moralische Pflicht, entsprechend zu handeln. Der Passant, von dem unter vorgehaltener Pistole die Herausgabe seines Geldes gefordert wird, ist aber nicht verpflichtet, das Geld herauszugeben. Er ist gezwungen, es zu tun, aber nicht dazu verpflichtet. Dem entspricht, daß der Erpresser kein Recht auf die Herausgabe des Geldes hat und deshalb auch kein Recht, die Herausgabe zu fordern. Erpresserische Forderungen sind unberechtigte Forderungen. Und hier liegt der entscheidende Unterschied zu moralischen Forderungen: Moralische Forderungen fußen auf einem Recht, auf einer rechtlichen Position. Wer etwas von jemandem moralisch for-
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dert, setzt voraus, daß er ein Recht hat, dies zu tun. Er geht davon aus, daß er einen Anspruch darauf hat, daß der Adressat der Forderung das Geforderte tut. Dies, sein Recht, bringt ihn also in die Position, von einem anderen etwas moralisch fordern zu können. Die Forderung beruht hier nicht auf einer wesensmäßigen Überlegenheit und auch nicht auf erpresserisch genutzten situativen Vorteilen. - Es könnte jemand einwerfen, wenn Gott den Menschen gebiete, in bestimmter Weise zu handeln, dann sei er auch berechtigt, dies zu tun. Er habe aufgrund seiner unendlichen Machtfülle und wesensmäßiger Überlegenheit das Recht, von den Menschen bestimmte Verhaltensweisen zu fordern. Und auch die Eltern hätten das Recht, ihren Kindern bestimmte Handlungen zu gebieten. Ja, das ist richtig. Auch die göttlichen und elterlichen Gebote würde man für berechtigte Forderungen halten. Aber das nimmt nichts von dem Gesagten zurück. Das Spezifische der moralischen Forderungen liegt eben darin, daß sie (im Unterschied zu erpresserischen Forderungen) berechtigte Forderungen sind, das ihnen zugrunde liegende Recht aber (im Unterschied zu göttlichen oder elterlichen Geboten) nicht aus einer wesensmäßigen Überlegenheit resultiert, sondern aus etwas anderem. Natürlich muß man, wenn man genauer verstehen will, was eine moralische Forderung ist, klären, was dieses „andere" ist, das das Recht gibt, moralische Forderungen an jemanden zu richten. M a n muß klären, was der Ursprung dieses Rechtes ist und - damit zusammenhängend - was der Ursprung der dem Recht korrelierenden moralischen Verpflichtung ist. Hierzu gehört auch, zu klären, was der, der von jemandem etwas moralisch fordert, dem anderen gegenüber konkret in der Hand hat: Welches sind die Übel, mit denen er für den Fall, daß der andere der Forderung nicht nachkommt, droht? Was also ist bei moralischen Forderungen der Inhalt des „Sonst"-Satzes: „Tue dasund-das! Sonst werde ich ..."? Wie immer diese Fragen zu beantworten sein werden, klar ist jedenfalls, daß die Rede von moralischen Forderungen in ein rechtliches Umfeld gehört. Moralische Forderungen stehen in einem rechtlichen Kontext,
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sie setzen ein rechtliches Beziehungsgefüge, eine rechtliche Ordnung voraus. Wer dem moralischen Skeptiker auf die Frage, welcher Art moralische Forderungen sind, antworten will, muß deshalb darlegen, was der rechtliche Kontext moralischer Forderungen ist und was dieses rechtliche Gefüge konstituiert. Diese Frage wie die Teilfragen, was der Ursprung des Rechts ist, auf das sich der beruft, der eine moralische Forderung stellt, was der Ursprung der dem Recht korrelierenden moralischen Verpflichtung ist, und was die Übel sind, die für den Fall der Nichtbefolgung einer moralischen Forderung angedroht werden, führen ins Innerste der Problematik moralischer Forderungen. Ich werde mit der Untersuchung dieser Fragen im nächsten Kapitel (§ 4) beginnen. Zunächst kann ich die Überlegungen zum moralischen „sollen" abschließen und festhalten: Moralische Soll-Sätze stellen fest, daß eine Forderung im Raum steht, eine Forderung, die von dem Angesprochenen verlangt, etwas zugunsten anderer zu tun oder zu unterlassen, und für die der nicht genannte Autor der Forderung eine rechtliche Position beansprucht, die ihn berechtigt, dies zu verlangen. 3.1. Ich komme jetzt zum „müssen". Wie gesehen, sagen wir nicht nur „Du sollst", sondern auch „Du mußt dein Versprechen halten." In dem „müssen" kommt, so haben wir gesagt, das Nötigende des Moralischen besonders stark zum Ausdruck. Wie ist dieses „müssen" genau zu verstehen? 11 Auch hier empfiehlt es sich, mit der Analyse nicht-moralischer Verwendungen zu beginnen und dann, im Licht der erreichten Ergebnisse, die moralischen Verwendungen zu untersuchen. - Wir können bei unserem Ausgangsbeispiel bleiben. Was ändert sich, und was bleibt gleich, wenn ich zu meiner Frau statt: „Du sollst morgen eine Stunde früher ins Büro kommen." sage: „Du mußt morgen eine Stunde früher ins Büro kommen."? Zunächst: Auch der Muß-Satz ist ein assertorischer Satz, nicht etwa ein Imperativ; 11 Vgl. zum folgenden bes. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 36 f., 40-45.
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er stellt fest, daß etwas der Fall ist. Der Satz ist wahr oder falsch. Meine Frau könnte ihn bestreiten und z.B. sagen: „Nein, das stimmt nicht, das muß ich nicht. Es gibt nichts, weshalb ich morgen früher kommen muß." Oder ein anderes Beispiel: „Du mußt vorne an der Kreuzung halten." „Nein, das war einmal. Die Vorfahrtsregelung ist seit einiger Zeit geändert." Natürlich kann man einen Satz wie „Du mußt an der Kreuzung halten." gebrauchen, um den anderen zum Halten aufzufordern. Aber das ändert genau wie bei einem Soll-Satz nichts daran, daß ein Muß-Satz ein Aussagesatz ist, der feststellt, daß etwas der Fall ist. Ein Muß-Satz stellt fest, daß eine Notwendigkeit besteht. „Du mußt das-und-das tun." heißt „Es ist notwendig, daß du das-und-das tust." Die Notwendigkeit schließt andere Möglichkeiten aus. Daß es notwendig ist, daß jemand etwas tut, besagt also, daß er nicht anders kann, als dies zu tun. Deshalb könnte man statt „Du mußt ..." auch sagen: „Du kannst nicht anders, als . . . " Wird die verbale Ergänzung von „müssen" negiert, gebrauchen wir statt „müssen" „nicht können": „Du kannst morgen nicht früher ins Büro gehen.", „Du kannst dein Versprechen nicht brechen." Darin, daß die Person, über die der Muß-Satz spricht, nicht anders kann, keine andere Option hat, liegt die Unentrinnbarkeit des Müssens - oder besser gesagt: des „Gemußten". Der Unterschied zu Soll-Sätzen ist hier offenkundig. Ein Soll-Satz sagt nur, daß eine Aufforderung einer nicht genannten Person im Raum steht; von einem Müssen und einem Nicht-anders-Können ist hier nicht die Rede. Das führt zu einem weiteren Unterschied. Ein Soll-Satz steht in einem „persönlichen" Kontext. Der Autor der Aufforderung, auf die ein Soll-Satz bezogen ist, ist eine Person, wenn auch ungesagt bleibt, welche Person. Ein Muß-Satz steht nicht in einem solchen „persönlichen" Kontext. Damit hängt zusammen, daß ein Muß-Satz nicht rekursiv ist, er bezieht sich nicht auf eine zuvor ergangene Aufforderung oder eine andere zuvor erfolgte Handlung zurück. Hieraus ergibt sich eine weitere Differenz: Bei einem Soll-Satz bleibt, wie gesehen, offen, ob sich
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der Sprecher die Aufforderung, auf die der Soll-Satz zurückbezogen ist, zu eigen macht oder nicht. Er kann die Aufforderung ablehnen und sagen: „Du sollst das-und-das tun, aber tue es nicht!" Bei einem Muß-Satz stellt sich diese Frage nicht; denn er bezieht sich nicht auf eine zuvor ergangene Aufforderung zurück. Der Sprecher eines Muß-Satzes behauptet einfach die Notwendigkeit, das-und-das zu tun. Hiervon kann er sich nicht gleichzeitig distanzieren. Er kann nicht sagen: „Du mußt dasund-das tun, aber tue es nicht!" Genaugenommen kann er nicht einmal sagen: „Du mußt das-und-das tun, tue es!" Denn das behauptete Müssen schließt andere Handlungsmöglichkeiten aus, während die Aufforderung „Tue es!" wie jede Aufforderung voraussetzt, daß der Adressat andere Handlungsmöglichkeiten hat. Diese wenigen Überlegungen zeigen bereits, daß Soll- und Muß-Sätze Aussagen sehr verschiedenen Inhalts machen. Sie liegen keineswegs so nähe beieinander, wie es eine oberflächliche sprachliche Phänomenologie vielleicht erscheinen läßt. Es ist keineswegs so, daß, wie etwa Tugendhat meint, „,Sollen' ... als ein abgeschwächtes ,Müssen' verwendet [wird], als eines, das Ausnahmen zuläßt." 12 Muß- und Soll-Sätze sagen nicht dasselbe, die einen nur etwas strenger als die anderen. Auch mit dem Zulassen von Ausnahmen hat der sprachliche Unterschied nichts zu tun. Der Wechsel von einem Soll- zu einem Muß-Satz ist vielmehr, wie gezeigt, ein Wechsel zu einer Aussage ganz anderen Inhalts. 3.2. Worin gründet die Notwendigkeit, die in praktischen Muß-Sätzen zum Ausdruck kommt? Als Situationen, auf die es paßt, zu sagen: „Ich mußte ..., ich konnte nicht anders als ...", fallen einem vielleicht am ehesten Handlungen ein, die man unter äußerem oder innerem Zwang getan hat. „Infolge der 12 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 36; Tugendhat führt, um diese Einschätzung zu stützen, zudem unglücklicherweise einen Beispielsatz der Form „du solltest..." an, womit er die elementaren semantischen Unterschiede zwischen „du sollst..."- und „du solltest..."-Sätzen übergeht.
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Sucht mußte ich mir eine Spritze setzen. Ich konnte nicht anders." Oder: „Er hat mich mit Gewalt gezwungen, den Raum zu verlassen. Ich konnte nicht anders." Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, hier überhaupt von „Handlungen" zu sprechen. Denn es scheint, als ähnele dieses Müssen dem Müssen, von dem die Rede ist, wenn man sagt: „Wenn ich einen Stein, den ich in der Hand habe, loslasse, muß er infolge der Erdanziehungskraft zur Erde fallen." Ich kann die Frage nach der Beschaffenheit dieses Müssens übergehen, weil das Müssen, das uns interessiert, klarerweise von anderer Art ist. Wenn ich zu meiner Frau sage: „Du mußt morgen früher gehen.", dann denke ich nicht an ein Müssen infolge eines äußeren oder inneren Zwanges. Ich gehe vielmehr davon aus, daß meine Frau sehr wohl die Freiheit hat, nicht früher zu gehen. Wir stoßen hier auf den irritierenden Umstand, daß ich einerseits sage, daß meine Frau früher gehen muß, also nicht anders kann, als dies zu tun, aber andererseits davon ausgehe, daß sie die Freiheit hat, auch nicht früher zu gehen. Das sieht aus wie ein Paradox und rückt die Rede vom „müssen" in ein dubioses Licht. Dieselbe Paradoxie entsteht, wenn ich sage: „Du mußt dein Versprechen halten." Denn natürlich weiß ich, daß der Angesprochene sehr wohl die Möglichkeit hat, das Versprechen nicht zu halten. Nur weil ich das weiß, sage ich ihm, daß er es halten muß. Deutlich tritt diese Paradoxie auch bei der negierten Form hervor. Man sagt: „Du kannst dein Versprechen nicht brechen.", wohl wissend, daß er es natürlich brechen kann. Besonders kraß wird die Paradoxie, wenn man auf eine Handlung zurückschaut, die jemand getan hat, obwohl er sie nicht tun konnte. Es ist hier kaum möglich, zu sagen: „Du konntest das nicht tun." Er hat es ja getan! Die Wirklichkeit scheint das behauptete Nicht-Können zu widerlegen. Dies läßt den Satz so unsinnig erscheinen. Um dem zu entkommen, weicht man in der Regel aus und bedient sich einer anderen sprachlichen Ausdrucksform. Statt „Du konntest das nicht tun." sagen wir: „Du durftest das nicht tun." oder „Du hättest das nicht tun dürfen."
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Es ist sehr wichtig, dieses für das praktische Müssen charakteristische Paradox zu sehen und zu verstehen, wie es zu ihm kommt. Was es mit ihm auf sich hat, zeigt sich, wenn man ein möglichst einfaches Beispiel eines praktischen Müssens betrachtet, bei dem die Rede von der Notwendigkeit einer Handlung unmittelbar einleuchtet. Ich sage auf einer Party zu Theresa: „Wenn du den letzten Bus erreichen willst, mußt du jetzt aufbrechen." Das Müssen gründet hier darin, daß Theresa den letzten Bus erreichen will und daß, jetzt zu gehen, das einzige Mittel ist, dieses Ziel zu erreichen. Wenn Theresa dieses Ziel nicht hätte oder es eine Möglichkeit gäbe, noch zu bleiben und dennoch den Bus zu bekommen, müßte sie natürlich nicht gehen. Aber so wie die Dinge liegen, ist der sofortige Aufbruch notwendig, um das Ziel zu erreichen, und deshalb muß sie aufbrechen. Wir haben hier genau die Situation, die den Eindruck des Paradoxen macht. Einerseits muß Theresa aufbrechen, andererseits hat sie natürlich die Freiheit, noch zu bleiben. Es gibt keine innere oder äußere Gewalt, die sie zwingt, jetzt zu gehen. Die Lösung des Paradoxes liegt offenkundig darin, daß das Müssen bedingt oder relativ ist. Es ist kein determinierendes Müssen, das Theresa die Freiheit nimmt, so oder auch so zu handeln. Sie hat die Option, so, aber auch anders zu handeln. Aber wenn sie dieses Ziel hat und es erreichen will, muß sie das notwendige Mittel ergreifen. Und wenn sie es nicht ergreift, muß sie die negative Folge, ihr Ziel nicht zu erreichen, hinnehmen. Die Optionslosigkeit, die der Muß-Satz behauptet, liegt also nicht wirklich beim Gehen. Hier hat sie eine Option, denn sie kann noch bleiben. Die Optionslosigkeit liegt woanders: Theresa hat nicht die Option, noch zu bleiben und doch den letzten Bus noch zu bekommen. Diese Möglichkeit ist in der Situation, in der sie ist, ausgeschlossen. Und deshalb muß sie, wenn sie den Bus bekommen will, gehen. Das praktische Müssen besteht hier darin, daß Theresa zwar anders als „gemußt" handeln kann, daß, anders zu handeln, aber bedeutet, das angestrebte Ziel nicht zu erreichen. Erst die Unumgänglichkeit dieser negativen Konsequenz im Falle des AndersHandelns konstituiert das Müssen.
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Diese Konstitution des Müssens zeigt sich auch deutlich an folgendem Sachverhalt. Ich hatte gesagt, der Satz: „Du mußt die-und-die Handlung t u n . " sei nicht ergänzbar durch die Aufforderung „Tue es nicht!" und genaugenommen auch nicht durch die Aufforderung „Tue es!" Denn der Muß-Satz behaupte ein Nicht-anders-Können, während ein Imperativ immer ein Anders-Können voraussetze. Nun ist es aber durchaus denkbar, zu Theresa zu sagen: „Wenn du den letzten Bus erreichen willst, mußt du jetzt aufbrechen, aber, bitte, bleib' n o c h ! " Der Imperativ, einerseits durch das Müssen ausgeschlossen, ist andererseits also doch möglich. Wir stoßen hier von einer anderen Seite erneut auf das Paradox. Aber die Lösung ist nach dem, was gesagt wurde, klar: Das Müssen ist relativ auf das ErreichenWollen eines Zieles, das Bekommen des letzten Busses. Innerhalb dieses Rahmens gibt es keine andere Möglichkeit als jetzt aufzubrechen. Und innerhalb dieses Rahmens ist deshalb in der T a t kein Platz für die Aufforderung, noch zu bleiben. Wenn ich Theresa dennoch auffordere, noch zu bleiben, ist das, und das ist das Entscheidende, zugleich die Aufforderung, das angestrebte Ziel aufzugeben und den letzten Bus fahren zu lassen. Ich habe mit dieser Aufforderung gewissermaßen den Rahmen, innerhalb dessen das Müssen nur besteht, verlassen. D a ß es sinnvoll ist, die Aufforderung, noch zu bleiben, an Theresa zu richten, diese Aufforderung die andere Aufforderung, den Bus fahren zu lassen, aber notwendigerweise umfaßt, bedeutet nichts anderes, als daß Theresa zwar die Freiheit hat, noch zu bleiben, daß sie aber nicht die Option hat, noch zu bleiben und dennoch den letzten Bus zu bekommen. Und genau dies konstituiert das relative oder, wie man auch sagen kann: begrenzte Müssen, mit dem Theresa konfrontiert ist. Nur im Vorbeigehen sei bemerkt, daß Sätze des Typs: „Wenn du den letzten Bus bekommen willst, mußt du jetzt gehen." genau das zum Ausdruck bringen, was Kant „hypothetische Imperative" nennt. Es wurde schon gesagt, daß Kant, obwohl er von „Imperativen" spricht, an Soll-Sätze denkt. Doch auch hierin ist er ungenau. In Wirklichkeit sind es Muß-Sätze, in
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denen das zum Ausdruck kommt, was er „Imperative" nennt. Hypothetische Imperative stellen, so sagt Kant, „die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor". 13 Im nächsten Schritt ist zu klären, wie weit sich die Ergebnisse, die sich anhand des Theresa-Beispiels ergeben haben, verallgemeinern lassen. Ist das Müssen, das ein praktischer Muß-Satz zum Ausdruck bringt, immer ein relatives und begrenztes Müssen? Es scheint, als sei es so. Denn ein praktisches Müssen setzt immer voraus, daß der andere trotz des Müssens die Freiheit hat, auch anders als „gemußt" zu handeln. Ein praktisches Müssen determiniert niemals einfachhin zu einer Handlung. Jeder Adressat eines praktischen Muß-Satzes weiß das. Denn er weiß, daß es möglich ist, auf den Muß-Satz mit der Frage zu reagieren: „Und was würde passieren, wenn ich es nicht tue, wenn ich also nicht tue, was ich tun muß?" Damit setzt der Frager voraus, daß er die Option hat, das, was er tun muß, nicht zu tun. Er kann anders handeln, das ist ihm klar. Aber er hat nicht, so unterstellt er mit seiner Frage, die Option, anders zu handeln und doch dem zu entgehen, was dann - für ihn Schlechtes - passiert. Wer fragt: „Und was würde passieren, wenn ...?", setzt also voraus, daß das Müssen in der Unausweichlichkeit einer negativen Konsequenz im Falle des AndersHandelns besteht. Und das heißt, daß der Frager das Müssen intuitiv als ein relatives Müssen versteht. Er weiß, daß er es mit einem relativen Müssen zu tun hat, aber er weiß nicht, worauf das Müssen relativ ist. Er weiß nicht, welche negative Konsequenz er im Falle des Anders-Handelns unausweichlich hinnehmen müßte. Und damit weiß er nicht, welchem Müssen er eigentlich gegenübersteht. Das Müssen ist mithin unterbestimmt und unfaßlich, solange unklar ist, was passieren würde, wenn ... Der Frager ist sich folglich nicht im klaren darüber, in welcher Situation er sich eigentlich befindet. Und deshalb kann er nicht 13 Kant, Grundlegung, AA IV, 414.
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aus eigener Einsicht in die Situation entscheiden, wie er handeln will, ob er tut, was er muß, oder ob er es nicht tut. Dieselbe Situation besteht, wenn Theresa, nachdem ich ihr gesagt habe, daß sie gehen muß, zurückfragt: „Wieso m u ß ich gehen? Was ist es, was mich zwingt, zu gehen?" Auch sie übersieht die Situation nicht, auch sie kann nicht aus eigener Einsicht entscheiden, wie sie handeln will. Erst wenn ich ihr sage, daß sie nur, wenn sie jetzt aufbricht, den letzten Bus erreichen wird, was sie doch will, versteht sie, welchem Müssen sie ausgesetzt ist. Erst jetzt weiß sie, in welcher Situation sie eigentlich ist. D a ß es bei einem praktischen Muß-Satz immer möglich und sinnvoll ist, zu fragen: „Und was würde passieren, wenn ...?", zeigt, daß ein praktisches Müssen immer ein relatives und begrenztes Müssen ist. Dieses Ergebnis steht freilich noch nicht wirklich auf sicheren Füßen. Es ist noch eine gegenläufige Überlegung zu berücksichtigen und zu prüfen. Wir haben gesehen, daß es Forderungen gibt, die in einer Position wesensmäßiger Überlegenheit gründen. Die Eltern fordern auf diese Weise von ihren Kindern ein bestimmtes Verhalten. Und Gott fordert auf diese Weise, so die Vorstellung einer theonomen Moral, von den Menschen, daß sie bestimmte Dinge tun und andere lassen. Das Müssen, vor dem die Kinder bzw. die Menschen hier stehen, ist offenkundig kein determinierendes Müssen. Aber ist es deshalb ein relatives Müssen? Oder ist es ein Müssen eigener Art zwischen determinierendem und relativem Müssen? - Die eine Antwort auf diese Frage lautet, daß hier kein eigenes, irgendwie nicht-relatives Müssen vorliegt, sondern klarerweise ein relatives. Denn die Position wesensmäßiger Überlegenheit impliziert die Macht, Sanktionen zu setzen und zu verhängen. Und die aus einer solchen Position kommenden Gebote sind mit Sanktionsandrohungen verbunden: Wer nicht tut, was er muß, wird bestraft. Die Frage des Adressaten: „Und was würde passieren, wenn ...?", ist also auch hier am Platz. Das Müssen besteht auch hier in der Unumgänglichkeit negativer Konsequenzen im Falle des Anders-Handelns. Und damit ist auch dieses Müssen ein relatives Müssen: Wenn man den
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angedrohten Sanktionen entgehen will, muß man den Geboten entsprechend handeln. Die andere Antwort lautet: Es ist richtig, daß die Position wesensmäßiger Überlegenheit die Sanktionsmacht einschließt. Aber negative Konsequenzen spielen bei diesem Müssen keine konstitutive Rolle. Das Müssen besteht hier ganz unabhängig von negativen Konsequenzen. Es entspringt allein dem Willen dessen, der in der entsprechenden Position ist. So ist Gottes Wille für die Menschen ganz unabhängig von negativen Folgen ein Müssen. Gott setzt allein durch sein Wollen dieses Müssen. Eben deshalb ist dieses Müssen auch ein kategorisches Müssen, das von jedem Wollen auf Seiten des Adressaten unabhängig ist. Gewiß ist, wenn eine andere Person etwas von uns will, dies im allgemeinen für uns kein Müssen. Aber Gott ist eben in einer Position prinzipieller Überlegenheit, und deshalb konstituiert sein Wollen für die Menschen ein Müssen. Die Frage: „Und was würde passieren, wenn ich anders als ,gemußt' handele?" ist hier demnach deplaciert. Wer so fragt, hat die Eigenart des Müssens, vor dem er steht, nicht verstanden. Wer so fragt, hat nicht verstanden, wer Gott ist und in welcher Beziehung er zu Gott steht. Genauso verkennt ein Kind, wenn es angesichts eines elterlichen Gebots fragt: „Und was würde passieren, wenn ...?, die spezifische Position der Eltern und seine Beziehung zu den Eltern. Zu tun, was die Eltern wollen, ist für das Kind ein „Muß", weil es die Eltern sind, die es wollen, und nicht weil es sonst mit negativen Konsequenzen zu rechnen hat. Diese Antwort sagt also, daß der Wille dessen, der in der Position wesensmäßiger Überlegenheit ist, auch dann für die Adressaten ein Müssen wäre, wenn der Überlegene auf Sanktionen verzichtete. Es ist meines Erachtens nicht so klar, was von dieser zweiten Antwort zu halten ist und ob es das in ihr konzipierte Müssen, das nicht determinierend, aber dennoch nicht relativ ist, gibt. Ich neige indes zu der Ansicht, daß es dieses Müssen nicht gibt, daß es nur ein Konstrukt ist. Denn es bleibt durchaus unklar, worin es eigentlich bestehen soll. Es entsteht, so die Idee, durch
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eine Transformation eines Wollens einer Person in ein Müssen für andere Personen, wobei der Katalysator, der diese Umwandlung erst möglich macht, die wesensmäßige Überlegenheit ist. Das bleibt mysteriös. Außerdem: W o ist bei diesem Müssen eigentlich die Optionslosigkeit, die jedes Müssen doch bedeutet? Theresa hatte nicht die Option, noch zu bleiben und doch den letzten Bus zu bekommen. Deshalb gibt es für sie, wenn sie den Bus bekommen will, keine andere Möglichkeit als zu gehen. W o ist die Optionslosigkeit bei dem jetzt konzipierten Müssen? Der Adressat dieses Müssens kann anders als „gem u ß t " handeln. Hier hat er eine Option. Die Optionslosigkeit liegt auch nicht darin, daß es unmöglich ist, anders zu handeln und doch einer negativen Konsequenz zu entgehen. Denn das Müssen soll ja von jeder negativen Konsequenz und damit von jedem Wollen auf Seiten des Adressaten unabhängig sein. W o ist aber dann die Optionslosigkeit? Oder, anders gefragt: Worin besteht das Müssen, wenn man anders als „gemußt" handeln kann und, wenn man es tut, nichts passiert? Ich werde also davon ausgehen, daß es das „absolute" Müssen, das allein aus dem Willen einer Person kommt, die wesensmäßig überlegen ist, nicht gibt. Und daß das praktische Müssen folglich immer relativ ist, einschließlich des Müssens, das das Resultat göttlicher oder elterlicher Gebote ist. Ich kann hinzufügen, daß, selbst wenn es anders wäre und es das in der zweiten Antwort konzipierte nicht-relative Müssen gäbe, dies für die Untersuchungen über die spezielle Beschaffenheit des moralischen Müssens kein relevanter Befund wäre. Denn die moralischen Forderungen können, wie schon gezeigt, in einer aufgeklärten Moral nicht als Forderungen verstanden werden, die aus einer Position wesensmäßiger Überlegenheit kommen. Das moralische Müssen ist nicht das Resultat solcher Gebote. Wir können jetzt einen weiteren wichtigen Punkt machen: Wenn das praktische Müssen immer relativ auf ein vorausgesetztes Wollen der Person ist, die muß, bedeutet dies zugleich, daß das praktische Müssen immer ein rationales Müssen ist. Wenn eine Person etwas Bestimmtes erreichen (oder vermeiden)
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will und deshalb die Handlung X tun muß, dann ist es für sie ein rationales „ M u ß " , X zu tun. Es ist für sie rational zwingend, so zu handeln. Und es wäre irrational, es nicht zu tun. So ist es für Theresa, wenn sie den letzten Bus erreichen will, rational zwingend, jetzt aufzubrechen. Tut sie es nicht, verhält sie sich irrational. Etwas praktisch zu müssen, heißt also immer, daß es rational zwingend ist, es zu tun. 3 . 3 . Die so weit entfaltete Analyse des praktischen Müssens impliziert wesentliche Ergebnisse bezüglich des moralischen Müssens. Zunächst bedeutet, daß jedes Müssen, von dem ein praktischer Muß-Satz spricht, ein relatives Müssen ist, daß auch das moralische Müssen von dieser Art sein muß. Auch das moralische Müssen muß ein relatives, ein auf ein Wollen relatives Müssen sein. Das moralische Müssen ist klarerweise nicht einfachhin determinierend. Wer etwas moralisch tun muß, hat, wie bereits erwähnt, natürlich die Freiheit, auch anders zu handeln. Auch das moralische Müssen kennt das für das praktische Müssen charakteristische Paradox: M a n muß eine Handlung tun und hat doch die Freiheit, sie nicht zu tun. Die Lösung des Paradoxes liegt auch beim moralischen Müssen darin, daß das Müssen relativ oder bedingt ist. Die Optionslosigkeit, die das Müssen behauptet, betrifft nicht die moralisch „gemußte" Handlung an und für sich. Der Adressat des moralischen Müssens kann ja anders als „gemußt" handeln. Die Optionslosigkeit kann nur darin bestehen, daß es ausgeschlossen ist, anders als „gemußt" zu handeln und doch ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Diese Option hat der Adressat des Müssens nicht. Und deshalb muß er, vorausgesetzt er will das Ziel erreichen, die „gemußte" Handlung tun. Das moralische Müssen ist, so zeigt sich, wie jedes andere praktische Müssen ein auf ein Wollen relatives und damit ein bedingtes Müssen. Dieser Befund mag überraschen und Widerstände wecken. Er steht in starker Spannung zu unserer Vorstellung, das moralische Müssen sei ein kategorisches, ein irgendwie „absolutes" Müssen. Diese Spannung nährt erhebliche Zweifel an der Rieh-
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tigkeit des Ergebnisses. Wir sind selbst von der traditionellen Vorstellung ausgegangen, daß das moralische Handeln kategorisch gefordert ist und daß das moralische Müssen deshalb ein kategorisches Müssen ist. Dies bedeute, so hatten wir gesagt, daß der Adressat dieses Müssens moralisch handeln muß, gleichgültig welche Ziele er verfolgt, ja sogar gleichgültig was für eine Person er ist. Er muß so handeln, Punkt. Wie paßt das damit zusammen, daß das moralische Müssen ein auf ein Wollen des Adressaten relatives Müssen ist? Wenn es in dieser Weise relativ ist, ist es doch ein hypothetisches Müssen und damit, wie es scheint, gerade kein kategorisches. Ich kann diese Frage jetzt noch nicht beantworten. Erst die weiteren Untersuchungen über die Konstitution des Moralischen und die Natur des moralischen Müssens werden zeigen, ob man an der überkommenen und für unser Moralverständnis so zentralen Idee der Kategorizität dieses Müssens festhalten kann und wie diese Idee gegebenenfalls zu verstehen ist. Ich werde diese Fragen abschließend erst in § 7 beantworten. 14 Schon jetzt kann ich aber sagen, daß die noch ausstehenden Untersuchungen an dem jetzigen Ergebnis nichts ändern werden. Es wird dabei bleiben, daß jedes praktische Müssen und damit auch das moralische Müssen ein relatives und bedingtes Müssen ist. Die Idee des Kategorischen hat demnach nur eine Chance, wenn sie mit dieser Einsicht vereinbar ist. Dies bedeutet, das läßt sich auch jetzt schon sagen, daß sich Kants Verständnis der Kategorizität des moralischen Müssens nicht halten läßt. Kant versteht das kategorische moralische Müssen als ein von jedem Wollen unabhängiges Müssen. „Der kategorische Imperativ", so schreibt er, „würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte." Der Einschub „für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck" setzt den kategorischen vom hypothetischen Imperativ
1 4 Vgl. § 7, S. 2 0 8 f .
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ab. Wenig später heißt es, der kategorische Imperativ erkläre „die Handlung ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d.i. auch ohne irgend einen andern Zweck, für sich als objektiv notwendig". 15 Das moralische Müssen ist also für Kant gewissermaßen ein „freistehendes" Müssen, es ist nicht an ein Wollen gebunden, es existiert unabhängig davon. Andererseits ist es, das ist klar, kein einfachhin determinierendes Müssen. Kant weiß natürlich, daß das moralische Müssen die Freiheit läßt, anders als „gemußt" zu handeln. Folglich ist das moralische Müssen, wie Kant es konzipiert, ein praktisches Müssen zwischen einem determinierenden und einem relativen Müssen. Ein solches Müssen gibt es aber nicht. Von welcher Art sollte es sein? Man kann hier an die Idee eines „absoluten" Müssens denken, das jemand aus der Position wesensmäßiger Überlegenheit durch sein Wollen setzt. Aber erstens scheint es ein solches Müssen, wie wir sahen, nicht zu geben, und zweitens denkt Kant selbst nicht an eine Autorität, die den Menschen aus einer Position wesensmäßiger Überlegenheit moralische Gebote und Verbote gibt. Von welcher Art ist das Müssen, das Kant konzipiert, aber dann? Was konstituiert es, wenn nicht ein innerer oder äußerer Zwang und wenn nicht die Unumgänglichkeit einer negativen Konsequenz im Falle des AndersHandelns? Wo ist, so auch hier die Frage, die Alternativlosigkeit, die ein Müssen bedeutet? Die „gemußte" Handlung ist nicht an und für sich alternativlos. Man hat die Option, auch anders zu handeln. Die Alternativlosigkeit kann auch nicht darin bestehen, daß es, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will, keine andere Möglichkeit gibt, als die „gemußte" Handlung zu tun. Eine solche Relativität auf ein Wollen schließt Kant ja aus. Wo also ist die Unausweichlichkeit des moralischen Handelns? Was konstituiert das Nicht-anders-Können? Die Frage bleibt ohne Antwort. Damit erweist sich das kategorische Müssen, wie Kant es versteht, als eine bloße Fiktion.
15 Kant, Grundlegung, AA IV, 414 f; vgl. auch 441.
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D a ß es tatsächlich so ist, bestätigt folgende Überlegung. Auch bei einem moralischen Müssen kann der Adressat fragen: „Und was würde passieren, wenn ich es nicht tue?" Kant müßte diese Frage als sinnlos zurückweisen und einfach darauf bestehen, daß man diese Frage bei einem moralischen Müssen nicht stellen kann. Das wäre jedoch ganz und gar unplausibel. Denn der Adressat des Müssens hat die Freiheit, anders zu handeln, und er ist sich dessen, wie seine Frage zeigt, auch bewußt. Solange er aber nicht weiß, was passieren würde, wenn er anders als „gemußt" handelt, weiß er gar nicht, in welcher Situation er eigentlich ist. Er ist deshalb nicht in der Lage, aus eigener Einschätzung der Situation zu entscheiden, ob er tut, was er muß, oder nicht. Kant könnte auf die Frage „Was würde passieren . . . " , statt sie zurückzuweisen, vielleicht auch antworten: „Was passieren würde, ist, daß du dann unvernünftig gehandelt hättest." Auch diese Antwort wäre merkwürdig. Die Sprache signalisiert es schon. Denn Kant würde damit nicht auf negative Konsequenzen der erwogenen Handlung hinweisen, wie es die Frage fordert, sondern die erwogene Handlung nur als unvernünftig klassifizieren. Das heißt, daß er die Frage in Wahrheit gar nicht beantwortete. Es sei hier daran erinnert, daß Kant das Vernünftigsein einer moralischen Handlung ohne Bezug auf ein vorausgesetztes Wollen bestimmt. Weswegen, in dieser Weise unvernünftig zu sein, nicht bedeutet, ein Ziel, das man verfolgt, zu verfehlen oder nicht effektiv zu fördern. Sich in dieser Weise unvernünftig zu verhalten, heißt nicht, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, es ist nicht mit negativen Konsequenzen verbunden. M a n handelt einfach unvernünftig, und das ist es. Wenn Kant die Frage, was passieren würde ..., so nähme, wie sie gemeint ist, müßte er also antworten: „Es würde nichts passieren." Was macht dann aber das Müssen aus? Das kategorische Müssen, wie Kant es versteht, hängt, so zeigt auch diese Überlegung, in der Luft. Die Wirklichkeit eines praktischen Müssens erweist sich eben daran, daß man zwar anders handeln kann, daß, anders zu handeln, aber bedeutet, negative Konsequenzen hinnehmen zu müssen.
Moralische Forderungen: Sollen und Müssen
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Die Einsicht, daß das moralische Müssen, wenn es ein wirkliches Müssen sein soll und nicht nur eine Fiktion, wie jedes andere praktische Müssen nur ein auf ein Wollen relatives Müssen sein kann, impliziert eine weitere äußerst wichtige Konsequenz, die wir auch schon jetzt, noch vor der eigentlichen Untersuchung über das moralische Müssen, festhalten können: die Konsequenz nämlich, daß das moralische Müssen ein rationales Müssen sein muß. Wie gesagt, bedeutet, etwas praktisch tun zu müssen, daß es rational zwingend ist, dies zu tun. Dies gilt auch für das moralische Müssen. Wenn das moralische Müssen wollensrelativ ist, handelt der, der gegen das Müssen handelt, gegen sein Wollen, er handelt gegen ein Ziel, das er verfolgt, und damit verhält er sich irrational. Dies ist erneut ein überraschendes Ergebnis. Ich habe selbst darauf hingewiesen 16 , daß man, wenn man von der überkommenen Idee des Moralischen ausgeht, das moralische Müssen vom rationalen Müssen unterscheiden muß. Denn wer gegen ein rationales Müssen handelt, verhält sich irrational, während, wer gegen ein moralisches Müssen handelt, ein moralisches Unrecht begeht. Außerdem kann man, so zu handeln, wie es rational zwingend ist, dem anderen nur raten, während man, so zu handeln, wie es moralisch zwingend ist, vom anderen fordern kann. Die Forderung stützt sich, wie wir sahen, auf ein Recht, und ihm korreliert die Pflicht des anderen, die von ihm geforderte Handlung zu tun. Die Handlung, die man moralisch tun muß, ist also eine, zu der man moralisch verpflichtet ist. Der Begriff des moralischen Müssens, wie wir ihn traditionell verstehen, ist durch die Ideen der moralischen Forderung, der moralischen Pflicht und des entsprechenden moralischen Rechts bestimmt. Keine dieser Ideen ist hingegen mit dem Begriff des rationalen Müssens assoziiert. Wenn sich nun herausgestellt hat, daß das moralische Müssen, wenn es nicht ein Phantom sein soll, nur ein rationales Müssen sein kann, was bleibt dann von den genannten spezifischen Merkmalen? Was bleibt dann von diesen Unterschie16 Vgl. § 1, S. 11.
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Fragestellung und erste Klärungen
den, die das moralische Müssen, wie es bisher schien, vom rationalen Müssen abheben? Was bleibt dann, so kann man auch fragen, von der traditionellen Idee des Moralischen mit den Vorstellungen des moralischen Verpflichtetseins, der moralischen Forderung und des moralischen Rechts? Auch diese Fragen bleiben in diesem Kapitel noch unbeantwortet. Um sie wird es in den nächsten Kapiteln gehen. Schon jetzt läßt sich aber sagen: Die spezifischen Merkmale des moralischen Müssens können nicht solche sein, die das moralische Müssen zu einem eigenen, autonomen Müssen neben dem rationalen Müssen machen. Es können nur solche sein, die das moralische Müssen als eine besondere Spezies des rationalen Müssens auszeichnen und es von anderen Formen dieses Müssens abheben. Wenn man überhaupt an der überkommenen Idee eines spezifisch moralischen Müssens festhalten kann, kann dieses Müssen nur ein besonderes rationales Müssen sein, eben ein rationales Müssen, gegen das zu handeln, dann nicht nur irrational, sondern auch ein moralisches Unrecht ist. Es muß nicht nur rational zwingend sein, wie „gemußt" zu handeln, es muß auch moralisch verpflichtend sein, es muß jemand ein Recht auf diese Handlung haben und deshalb auch das Recht, sie von dem Adressaten des Müssens zu fordern. Die Frage wird sein, ich habe es schon gesagt, ob es ein solches Müssen gibt und, wenn ja, von welcher Art es genau ist. 4. Abschließend setze ich noch einmal die drei einschlägigen sprachlichen Ausdrucksformen: Imperativ, Soll-Satz und MußSatz ins Verhältnis. Eine moralische Forderung wird am unmittelbarsten und direktesten durch einen Imperativ zum Ausdruck gebracht und an den Adressaten gerichtet. Ein moralischer Soll-Satz rekurriert auf eine moralische Forderung und stellt fest, daß sie, an den-und-den Adressaten gerichtet, im Raum steht. Dabei bleibt offen, wer der Autor der Forderung ist. Es bleibt auch offen, ob der Sprecher die Forderung für berechtigt hält oder nicht. In vielen Fällen ist durch den Kontext klar, daß er sich die Forderung zu eigen macht. Besonders gut passen
Moralische Forderungen: Sollen und Müssen
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moralische Soll-Sätze in den Kontext theonomer Moralvorstellungen. Hier ist Gott der Urheber der moralischen Forderungen. Und die Menschen konstatieren mit moralischen SollSätzen das Im-Raum-Stehen der göttlichen Gebote. Wie wir sahen, haben moralische Soll-Sätze aber keineswegs nur in heteronomen Moralkonzeptionen eine Funktion. Ein moralischer Muß-Satz stellt fest, daß es für die Person, über die der Satz spricht, notwendig ist, die moralische Handlung zu tun. Er konstatiert diese Notwendigkeit, ohne etwas dazu zu sagen, wie es zu ihr gekommen ist. Der Muß-Satz bezieht sich nicht auf eine Forderung eines anderen zurück, er ist nicht rekursiv. Deshalb fehlt ihm die Indirektheit des Soll-Satzes und die damit verbundene Unbestimmtheit. Diese Unterschiede legen verschiedene Verwendungen von moralischen Muß- und Soll-Sätzen nahe. Wenn man beabsichtigt, jemanden zu einer moralischen Handlung zu bewegen, aber nicht die direkte Ausdrucksform des Imperativs benutzen will, wird man vermutlich eher einen Muß-Satz als einen Soll-Satz gebrauchen. Der Muß-Satz stellt in aller Unmißverständlichkeit das Faktum des Müssens, des Nicht-anders-Könnens fest. Der Soll-Satz ist hingegen komplizierter, er hat, selbst wenn er mit auffordernder Absicht gebraucht wird, nicht die Eindeutigkeit und damit den Nachdruck, der dem entsprechenden Muß-Satz eigen ist. Insofern ist die Einschätzung, daß das Nötigende des Moralischen besser in einem Muß- als in einem Soll-Satz zum Ausdruck kommt, durchaus richtig. - Man darf hier freilich nicht vergessen, daß das moralische Müssen in der überkommenen Vorstellung des Moralischen, die wir hypothetisch zugrunde gelegt haben, in bestimmter Weise ausgedeutet wird. Wer moralischerweise X tun muß, von dem ist moralisch gefordert, X zu tun, er ist verpflichtet, X zu tun. Jemand hat einen Anspruch, ein Recht darauf, daß er X tut. Diese Ideen der moralischen Forderung, der moralischen Pflicht und des moralischen Rechts bestimmen, wie wir sahen, das moralische Müssen, und sie stellen es auch in einen persönlichen Kontext. Denn ein Verpflichtetsein hat seinen Ursprung, wie wir noch sehen werden 17 , immer in
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Fragestellung und erste Klärungen
Personen. Wo jemand zu etwas verpflichtet ist, haben Personen diese Verpflichtung geschaffen. Ebenso sind die Autoren von Forderungen und die Träger von Rechten immer Personen. Diese Ideen nähern das moralische Müssen also an das Sollen an. Dies ändert aber nichts daran, daß der moralische MußSatz ausschließlich von dem eingetretenen Resultat, eben dem Müssen, spricht und dieses Faktum des Müssens klar und vorbehaltlos konstatiert, während dem Soll-Satz die genannte Unbestimmtheit anhaftet. Die Überlegungen dieses Kapitels haben gezeigt, welchen weiteren Weg die Auseinandersetzung mit dem moralischen Skeptiker und die Beantwortung seiner Frage, was für Forderungen die an ihn gerichteten moralischen Forderungen sind, nehmen muß. Die Idee der moralischen Forderung führt, wie wir fanden, in einen rechtlichen Kontext. Moralische Forderungen sind Forderungen, die sich auf ein Recht, auf eine rechtliche Position stützen. Dem Recht korreliert auf der Seite des Adressaten der Forderung die Pflicht, das Geforderte zu tun. Wir müssen herausfinden, was dieses rechtliche Gefüge konstituiert und damit was der Ursprung des Rechtes und der entsprechenden Pflicht ist. Die Theorie der moralischen Verpflichtung, die diese Fragen beantworten soll, muß, das ist ein Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen, mit der Einsicht vereinbar sein, daß das moralische Müssen ein wollensrelatives und damit ein rationales Müssen ist. Das moralische Müssen muß also einerseits ein relatives und rationales Müssen sein, andererseits soll es aber auch richtig sein, vom Verpflichtetsein und - damit zusammenhängend - vom moralischen Gefordertsein zu sprechen. Nur wenn es gelingt, dies zusammenzubringen, wird es möglich sein, an der überkommenen Idee des Moralischen und an den für diese Idee zentralen Vorstellungen der moralischen Forderung, der moralischen Pflicht und des moralischen Rechts festzuhalten.
17 Vgl. § 4, S. I l l f.
Teil II: Moralisches Handeln
§ 4 Moralische Rechte und moralische Pflichten 1. Moralische Forderungen stehen, so wurde im letzten Kapitel gezeigt, in einem rechtlichen Kontext, sie setzen ein rechtliches Beziehungsgefüge, eine rechtliche Ordnung voraus. Moralische Forderungen sind berechtigte Forderungen, ihnen liegt ein Recht zugrunde. Und dies bedeutet, daß ihnen ein Verpflichtetsein auf seiten derer, an die sie sich richten, entspricht. Von welcher Art ist nun das Recht, das einer moralischen Forderung zugrunde liegt, und wie kommt es, daß jemand ein solches Recht hat? Bevor ich diese Frage angehe, sei darauf hingewiesen, daß hier von einer rechtlichen Ordnung die Rede ist, die verschieden und unabhängig ist von einer staatlichen Rechtsordnung, die sich vor allem aus den staatlichen Gesetzen und den Regelungen für den Fall des Zuwiderhandelns zusammensetzt. Wenn ich eine moralische Forderung an jemanden richte, etwa die, ein gegebenes Versprechen zu halten, dann ist das Recht, dies zu tun, nicht durch eine staatliche Rechtsordnung und ihre Gesetze zuerkannt; es ist deshalb kein legales, sondern ein, wie man sagt, moralisches Recht. Und die Verpflichtung, die diesem Recht korreliert, ist nicht eine legale, sondern eine moralische Verpflichtung. Der Gebrauch des Adjektivs „legal" ist hier unglücklich, weil „legal" im Deutschen zuerst „gesetzlich erlaubt" bedeutet und dies ja nicht gemeint ist. Ich werde deshalb von einerseits moralischen und andererseits juridischen Rechten und Pflichten sprechen. Das Recht, auf das sich eine moralische Forderung stützt, ist also ein moralisches Recht, und es ist Teil einer rechtlichen Ordnung, die von der juridischen Rechtsordnung eines Staates unabhängig ist. Diese Unabhängigkeit schließt natürlich nicht aus, daß eine staatliche Rechtsordnung moralische Rechte auch zu juridischen Rechten macht, indem sie sie durch Verfassung oder Gesetz zuerkennt und ihren Schutz gesetzlich organisiert.
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Moralisches Handeln
Es könnte vielleicht bereits hier jemand einwenden, diese moralische Rechtsordnung, von der die Rede ist, sei doch eine merkwürdige Verdoppelung der tatsächlichen staatlichen Rechtsordnung. Diese sei wirklich, greifbar, wirksam, jene aber nur eine theoretische Konstruktion, erfunden wahrscheinlich wie viele dieser philosophischen Konstrukte aus einer theoretischen Not heraus, aber eben doch eine Erfindung. Warum zwei Rechtsordnungen annehmen, wo wir doch offenkundig nur mit einer, der staatlichen, leben? - Der Einwurf nötigt dazu, sich noch einmal bewußt zu machen, was die Beweggründe für die Rede von moralischen Rechten und einer moralischen Rechtsordnung sind. Wir haben gesehen, daß zu dem Konzept von Moral, das wir traditionell haben, das Gefordertsein moralischen Handelns gehört. Und dies ist nicht einfach eine am grünen Tisch ausgedachte Idee, sondern eine Vorstellung, die unsere tatsächliche moralische Praxis reflektiert: Wir fordern von anderen, moralisch zu handeln. Wenn wir dem Sinn geben wollen, müssen wir uns offenbar als Träger moralischer Rechte verstehen. O b dies, und damit die Idee und die Praxis moralischen Forderns, vernünftig oder unvernünftig ist, wird sich im folgenden zeigen. Zunächst ist indes zu untersuchen, was moralische Rechte sind. 2 . 1 . M a n kann die Struktur eines Rechts auf einfache Weise so fassen: Die Person A hat ein Recht auf X gegenüber der Person B. Dabei ist A der Rechtsträger, Β der Adressat des Rechts und X der Gegenstand oder der Inhalt des Rechts. Für ein Recht ist es definitiv, an jemanden (oder auch an eine Institution) adressiert zu sein. Ein Recht zu haben, bedeutet, in einer Position zu sein, von jemandem etwas fordern zu können. Wenn A gegenüber Β ein Recht auf X hat, ist A in einer Position, die Handlung X von Β fordern zu können.' Und dies bedeutet, daß es für Β ein 1
So auch J. Feinberg: The Rights of Animals and Unborn Generations (1974), in: J. F.: Rights, Justice, and the Bounds of Liberty (Princeton 1980) 1 5 9 - 1 8 3 , 159: „To have a right is to have a claim to something and against someone, ..."
Moralische Rechte und moralische
Pflichten
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„Muß", eine Pflicht ist, X zu tun. Man kann deshalb auch sagen, daß ein Recht zu haben, bedeutet, in einer Position zu sein, in der andere einem gegenüber zu etwas verpflichtet sind. Ein Recht bringt mithin den Rechtsträger und den Adressaten des Rechts in eine Position, es konstituiert ein Beziehungsgefüge: Der Rechtsträger kann von dem Adressaten etwas fordern, und der Adressat steht dem Rechtsträger gegenüber unter einem „Muß". Der Inhalt eines Rechts kann entweder ein Tun oder eine Unterlassung sein. Handelt es sich um ein Recht auf eine Handlung des Adressaten, spricht man von einem Leistungsrecht: Β ist verpflichtet, A gegenüber eine Leistung zu erbringen. Handelt es sich um ein Recht auf eine Unterlassung, spricht man von einem Abwehrrecht, oder auch von einem Freiheitsrecht, weil ein Recht dieser Art dem Rechtsträger einen bestimmten Freiheitsraum schafft, in den „hineinzuhandeln" Β unterlassen muß. Diese Unterscheidung von Leistungs- und Freiheitsrechten ist auch, wenn es um moralische Rechte geht, am Platz. Die Person A kann gegenüber Β ein moralisches Recht auf eine Handlung haben, etwa auf Hilfeleistung in einer Notsituation; und sie kann gegenüber Β ein moralisches Recht auf eine Unterlassung haben, etwa darauf, nicht verletzt zu werden. Die moralischen Leistungsrechte geraten häufig zu Unrecht in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Die erste Assoziation im Feld des Moralischen scheint zu sein, daß man etwas nicht tun darf, und weit weniger die Vorstellung, daß man etwas tun muß. Die Analyse der moralischen Leistungsrechte ist mit speziellen Problemen verbunden. Sie haben mit der Frage zu tun, wer genau der Adressat dieser Rechte ist. Ich komme hierauf später zurück. 2 Ein Recht konstituiert nicht nur eine Beziehung zwischen dem Rechtsträger und dem Rechtsadressaten. Hinzukommt eine Beziehung zur Rechtsgemeinschaft. Beide, Rechtsträger und Rechtsadressat, stehen aufgrund eines Rechts in bestimmter 2
Vgl. unten § 7, S. 2 0 0 f.
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Moralisches Handeln
Weise zur Rechtsgemeinschaft. Der Rechtsträger kann sich zur Durchsetzung seines Rechts an die Rechtsgemeinschaft wenden, und die Rechtsgemeinschaft muß dem Rechtsadressaten gegenüber für den Fall der Rechtsverletzung über die Möglichkeit einer Sanktionierung verfügen. Wer ein Recht hat, hat also eine soziale Garantie der Durchsetzung dieses Anspruchs. Er steht nicht allein, er hat die Rechtsgemeinschaft auf seiner Seite; sie sichert sein Recht. Und wer ein Recht verletzt, hat folglich nicht nur den Rechtsträger, sondern auch die Rechtsgemeinschaft gegen sich. Bei einem juridischen Recht ist es klar, welchen Weg die Durchsetzung des Rechtsanspruchs nimmt: Man kann klagen und damit die staatlichen Organe zu seinen Gunsten mobilisieren. Bei einem moralischen Recht ist das weniger klar, da ein solches Recht ja von der staatlichen Rechtsordnung und deren Machtmitteln unabhängig ist. Hier fällt der moralischen Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Rechte der einzelnen mit anderen als juridischen Mitteln zu sichern. Auf welche Weise dies geschieht, wird das Thema des nächsten Kapitels ( § 5 ) sein. 2.2. Nach dem Gesagten ist klar, daß der Besitz eines Rechts für den Rechtsträger von Vorteil ist. Er ist in der Position, von anderen etwas fordern zu können. Rechte sind Vorteile, sie sind, mit einem Wort von R. Dworkin 3 , Trümpfe, die man gegen andere in der Hand hat. Wer ein Recht besitzt, ist in einer starken Position. Für die Adressaten ist ein Recht hingegen von Nachteil. Sie geraten in eine Situation des Müssens, sie sind durch das Recht zu etwas verpflichtet. Ihre Freiheit ist eingeschränkt. Die Adressaten sind in einer schwachen Position. Macht jemand gegenüber dem moralischen Skeptiker ein moralisches Recht geltend, indem er eine moralische Forderung an ihn richtet, wird der Skeptiker fragen, woher das Recht, auf das sich der Fordernde stützt, kommt. Wie kommt er in seinen Besitz? Was ist es, was ihn, den Skeptiker, in die schwache 3
R. Dworkin: Taking Rights Seriously (London 1977) XI; dt.: Bürgerrechte ernstgenommen (Frankfurt 1984) 14.
Moralische
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Pflichten
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Position bringt und den anderen, den Fordernden, in die starke Position? Wo also kommen moralische Rechte her? Es ist eine verbreitete Vorstellung, daß wir solche Rechte einfach haben, daß wir sie einfach aufgrund unseres Menschseins besitzen. Der Rede von „Menschenrechten", die ja als von einer staatlichen Rechtsordnung unabhängige moralische Rechte verstanden werden, liegt wohl in der Regel eine solche Vorstellung zugrunde. Im Hintergrund stehen hier häufig religiöse Überzeugungen, im speziellen die, daß Gott die Menschen mit diesen Rechten ausgestattet hat. Sie haften den Menschen an und können ihnen, obwohl sie verletzt und mißachtet werden können, nicht weggenommen werden, auch nicht von einem Staat. Deshalb kann es auch keinen Menschen geben, der sie nicht hat. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es, daß die Menschen von ihrem Schöpfer mit „gewissen unveräußerlichen Rechten" „ausgestattet" worden sind. 4 Läßt sich, wenn man diese religiösen Überzeugungen beiseite läßt, die Vorstellung, daß Menschen als solche moralische Rechte einfach haben, beibehalten? In einer älteren Tradition, die ihre Blütezeit im 17. Jahrhundert hatte, aber heute noch lebendig ist, spricht man statt von Menschenrechten von „natürlichen Rechten". „Natürlich" heißt hier zunächst nur „nichtpositiv", „nicht-gesetzt", nämlich nicht von einer staatlichen Rechtsordnung oder einer anderen menschlichen Instanz gesetzt. Natürliche Rechte werden nicht von den Menschen zuerkannt, wir finden sie vielmehr vor, sie sind uns „durch die Natur selbst" vorgegeben. Diese naturrechtliche Tradition krankt daran, auf die Frage, was es heißt, daß die Rechte durch die Natur selbst vorgegeben sind, keine klare Antwort gegeben zu haben. Klar ist allein, daß die moralischen Rechte etwas Objektives sind, etwas, was von uns unabhängig Teil der Welt
4
The Declaration of Independence (4. Juli 1776): „We hold these truths to be self-evident, that all men ... are endowed by their Creator with certain unalienable rights; that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness."
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Moralisches
Handeln
ist. Nun haben wir moralische Rechte freilich nicht so, wie wir Körperorgane oder empirisch faßliche Fähigkeiten haben. Folglich kann die objektive Existenz der Rechte nicht eine empirische sein. Rechte müßten demnach objektive überempirische Entitäten sein, die den Menschen auf mysteriöse Weise anhaften. Man muß diese Vorstellungen nicht bis ins Detail verfolgen, um zu sehen, daß sie nicht haltbar sind. Rechte sind genausowenig wie Werte und Normen objektive Entitäten überempirischer Natur, die uns auf geheimnisvolle, völlig unklar bleibende Weise epistemisch zugänglich sind. Die Konzeption natürlicher, objektiv vorgegebener Rechte führt in die Irre. Klarheit gewinnt sie im Grunde nur unter Voraussetzung religiöser Annahmen. Wenn Gott den Menschen moralische Rechte verliehen hat, sind diese Rechte zwar durch einen Akt der Zuerkennung entstanden, den Menschen aber doch vorgegeben, etwas, was unabhängig von ihrem Wollen einfach „da" ist. Bei Hobbes und einigen anderen Autoren, so etwa auch bei J. Bentham 5 , findet sich eine Konzeption natürlicher Rechte (bzw. eines natürlichen Rechts), die sich von den gerade diskutierten Auffassungen stark unterscheidet. Im Naturzustand, so Hobbes, hat jeder die Freiheit, zu tun und zu lassen, was er will. Diese Freiheit ist gerade nicht eingeschränkt durch natürliche Rechte der anderen, die sie als Menschen einfach haben. Natürliche Rechte in diesem Sinne kennt Hobbes (wie auch Bentham) nicht. Aber er faßt die Freiheit, zu tun, was man will, selbst als ein Recht. Jeder habe das natürliche Recht, zu tun, was er will: „in such a condition, every man has a right to every thing", und dieses Recht sei ein „natural right". 6 Hier ist nicht die Rede von „natürlich", sondern die von „Recht" unplausibel. Denn die Freiheit, zu tun, was man will, impliziert nicht das Recht, von anderen zu fordern, die Ausübung dieser Freiheit nicht zu behindern. Und sie impliziert folglich auch nicht ein Verpflich5 6
Vgl. zu Bentham in diesem Punkt H. L. A. Hart: Legal Rights (1973), in: H. L. A. H.: Essays on Bentham (Oxford 1982) 162-193, 171 ff. Th. Hobbes: Leviathan, ed. R. Tuck (Cambridge 1996) ch. 14, p. 91.
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tetsein auf der anderen Seite. Die Freiheit hat, so kann man sagen, überhaupt keinen Adressaten. Und deshalb ist es irreführend, diese Freiheit ein Recht zu nennen. Freiheiten sind nur dann Rechte, wenn die anderen verpflichtet sind, Eingriffe in diese Freiheiten zu unterlassen. So habe ich nicht nur die Freiheit, auf öffentlichen Wegen spazieren zu gehen, ich habe, weil die anderen verpflichtet sind, mir diese Freiheit zu lassen, auch das Recht, dies zu tun. Im Naturzustand gibt es diese Verpflichtungen der anderen jedoch nicht, und deshalb ist die natürliche Freiheit, zu tun, was man will, kein natürliches Recht im üblichen Sinne von „ R e c h t " . Pufendorf hat dies bereits in aller Klarheit herausgestellt. 7 Eine weitere Konzeption über den Ursprung moralischer Rechte neben der religiösen und der naturrechtlichen Konzeption behauptet, moralische Rechte entstünden aus basalen Interessen oder Bedürfnissen der Menschen: Die Menschen haben bestimmte Grundbedürfnisse, und allein deshalb haben sie ein Recht darauf, daß diese Bedürfnisse befriedigt werden. Folglich gibt es Interessen, deren zentrale Bedeutung für das menschliche Leben ausreicht, um ihre Beachtung zu einer Verpflichtung für andere werden zu lassen. Nun ist, ein Interesse an etwas zu haben und ein Recht darauf zu haben, daß andere die Verfolgung dieses Interesses nicht behindern oder sogar aktiv etwas für seine Befriedigung tun, offenkundig zweierlei. Und die Frage ist, wie man von dem einen zum anderen kommt. Entweder ist es ein ungerechtfertigter Sprung vom Faktischen ins Normative. Oder man sagt, daß es einfach ein objektives, in der Welt vorgegebenes Faktum ist, daß das Haben bestimmter Interessen mit dem Besitz entsprechender moralischer Rechte verknüpft ist. Damit ist man aber erneut bei der objektiven Existenz moralischer Rechte, und deshalb in denselben Schwierigkeiten wie die naturrechtliche Konzeption. In Wahrheit ist die direkte Ableitung moralischer Rechte aus den Grundinteressen der 7
Pufendorf, De jure naturae et gentium, III, V, § 3. - Vgl. hierzu R. Tuck: Natural Rights Theories (Cambridge 1979) 159 ff.
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Moralisches Handeln
Menschen nur eine Spielart dieser Konzeption, eine Spielart, die freilich auf die Rede von „natürlichen Rechten" verzichtet.8 Der entscheidende Schritt zu einer adäquaten Auffassung über den Status moralischer Rechte ist, sich von der Idee, Rechte seien etwas objektiv Vorgegebenes, das wir in der Welt vorfinden, zu befreien. Moralische Rechte sind nicht objektive Gegebenheiten, sie werden vielmehr verliehen, sie werden zuerkannt, und zwar nicht von Gott, sondern von den Menschen selbst. Wenn man religiöse und andere metaphysische Annahmen, die man denen, die sie nicht schon für wahr halten, mangels Begründbarkeit nicht nahebringen kann, fallen läßt, kann man moralische Rechte nur als positive, als gesetzte Rechte verstehen. Die Menschen selbst sind die Schöpfer dieser Rechte. Hierin besteht kein Unterschied zu den juridischen Rechten. Welche Gründe können Menschen haben, moralische Rechte zuzuerkennen? Der moralische Skeptiker wird fragen, warum er einem anderen Menschen ein Recht ihm gegenüber zuerkennen soll. Das Ergebnis wäre doch, daß der andere ihm gegenüber in einer starken Position und er dem anderen gegenüber in einer schwachen Position wäre. Der andere könnte im Unterschied zum status quo etwas von ihm fordern, er selbst stünde dem anderen gegenüber, ebenfalls im Unterschied zum status quo, unter einem „ M u ß " . Es wäre für den Skeptiker, der ja keine altruistischen Interessen oder Ideale hat, in der Tat irrational, eine rechtliche Beziehung dieser Art herbeizuführen. 8
Daß bei einigen Vertretern der Interesse-Theorie der Wunsch der Vater des Gedankens ist, der Wunsch, daß es so sein möge, daß basale Interessen direkt moralische Rechte kreieren, und hinter dem Wunsch die Angst steht, daß man, wenn es nicht so wäre, keinen Weg mehr fände, wirklich allen Menschen moralische Rechte zuzusprechen, ist deutlich spürbar bei N. M a c C o r m i c k : Children's
Rights: a Test-Case
for
Theo-
ries of Rights (1976), in: N. M.: Legal Right and Social Democracy (Oxford 1982) 1 5 4 - 1 6 6 . - Ein anderer zeitgenössischer Vertreter der Interesse-Theorie ist J. Raz; vgl. The Morality of Freedom (Oxford 1986) ch. 7.
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Pflichten
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Er hat keinen Grund, einen Zustand eines einseitigen Rechts und einer einseitigen Verpflichtung einem Zustand ohne Rechte und Verpflichtungen vorzuziehen. Er gewinnt einen solchen Grund erst, wenn er für das, was er gibt, etwas bekommt, das ihm wertvoller ist als das, was er gibt. Dies könnte darin liegen, im Gegenzug von der Person, der er ein Recht zuerkennt, dasselbe Recht zuerkannt zu bekommen. So hätte er wie die andere Person das Recht, etwas zu fordern, und die andere Person wäre wie er verpflichtet, der Forderung nachzukommen. Voraussetzung für das gegenseitige Zuerkennen eines moralischen Rechts, also für den Tausch von Rechten ist, daß der Skeptiker und sein Gegenüber es als vorteilhaft betrachten, trotz des Preises der Verpflichtung das entsprechende Recht zu haben. Man kann vier Optionen unterscheiden, die A, der Skeptiker, und B, sein Gegenüber, haben: ( 1 ) der Zustand ohne Rechte und ohne Verpflichtungen für A und für B; (2) der Zustand mit einem einseitigen Recht für Β und der entsprechenden Verpflichtung für A; (3) der Zustand mit einem einseitigen Recht für A und der entsprechenden Verpflichtung für B; (4) der Zustand mit einem gegenseitigen Recht und einer gegenseitigen Verpflichtung für A und B. Aus der Perspektive des Skeptikers ist Zustand (2) klarerweise der schlechteste. Er muß seine Freiheit einschränken, ohne etwas dafür zu bekommen. Zustand (1) ist demgegenüber vorzuziehen. Zustand (3) ist der beste, aber unrealistisch, weil Β keinen Grund hat, sich auf ihn einzulassen. Wenn die Zustände (2) und (3) unrealistisch sind, bleibt nur die Wahl zwischen Zustand (1) und Zustand (4). Wenn Zustand (4) für A besser ist als Zustand ( 1 ) und wenn das auch für Β gilt, ist es für A und für Β vernünftig, gemeinsam Zustand (4) herbeizuführen und in der Weise zu kooperieren, daß man sich gegenseitig das moralische Recht zuerkennt und jeder damit die entsprechende
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Moralisches Handeln
Verpflichtung übernimmt. - Nehmen wir ein einfaches Beispiel: A hat das Interesse, von Β nicht verletzt zu werden. Er möchte sicher sein, daß das nicht passiert, und er möchte in diesem Punkt von Bs möglichem Wohlwollen und seinen möglichen altruistischen Präferenzen unabhängig sein. Und A will dies so sehr, daß er dafür seine eigene Handlungsmöglichkeit, den anderen zu verletzen, hergeben würde. Dieselbe Interessenlage findet sich bei Β A gegenüber. In dieser Situation ist es vernünftig, sich gegenseitig das Recht darauf, durch den anderen nicht verletzt zu werden, zuzuerkennen und damit die korrelierende Verpflichtung, den anderen nicht zu verletzen, zu übernehmen. Das durch eine solche Kooperation geschaffene rechtliche Beziehungsgefüge ist für beide besser als ein Zustand ohne Rechte und Pflichten. Für beide bringt die Kooperation ein Plus. Die Freiheitsspielräume werden hier gegenseitig begrenzt, woran aber beiden liegt, weil es Sicherheit und damit auch Freiheit bringt. Der Skeptiker und sein Gegenüber tauschen im Grunde Freiheit gegen Freiheit: eine Freiheit, auf die sie verzichten können, gegen eine, an der sie stark interessiert sind. Durch die Kooperation des Skeptikers und seines Gegenübers entsteht eine moralische Rechtsordnung, es entsteht ein moralischer Raum, in dem und in dem allein moralische H a n d lungen möglich sind. Wenn A der Forderung, die Β an ihn richtet, nachkommt und entsprechend handelt, ist seine H a n d lung (1) eine Handlung zugunsten eines anderen (nämlich B), und sie weist (2) die Charakteristik des Gefordertseins auf: A muß so handeln, er ist verpflichtet, so zu handeln. Damit erfüllt diese Handlung die beiden Kriterien, durch die ich (in § 1 ) eine moralische Handlung definiert habe. Eine Handlung dieser Art ist nur innerhalb des durch die Kooperation von A und Β konstituierten moralischen Raumes möglich. In einer Lebensform, die keine moralischen Rechte kennt, kann A zwar zugunsten von Β handeln, aber eine solche Handlung kann nicht die Charakteristik des Gefordertseins haben, weil es im vormoralischen Raum ohne Rechte keine Basis für Forderungen gibt. Der Skeptiker und sein Gegenüber haben also durch ihre
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Kooperation einen moralischen Raum geschaffen und sich in ihn hineingestellt; sie bilden, so könnte man auch sagen, aufgrund ihrer Kooperation eine moralische Gemeinschaft. Sie tun dies, weil es ihren eigenen, individuellen Interessen entspricht. Es ist für jeden von ihnen rational, den Raum des Moralischen zu betreten. Rawls bestimmt eine Gesellschaft als „a cooperative venture for mutual advantage". 9 Genau von dieser Art ist die Gemeinschaft, die A und Β hervorbringen. - Es liegt viel daran, die Rede vom „moralischen Raum" nicht mißzuverstehen. Gemeint ist nur ein Handlungsraum, in dem Handlungen zugunsten anderer mit dem Spezifikum des Gefordertseins möglich sind. Gemeint ist nicht ein Raum, innerhalb dessen der Skeptiker Handlungsentscheidungen anders als unter Gesichtspunkten der Rationalität, d.h. der möglichst optimalen Verfolgung eigener Interessen fällt. Der Skeptiker stellt sich in einen durch Rechte und Pflichten geordneten Raum, aber er entscheidet innerhalb dieses Raumes weiter allein nach rationalen Gesichtspunkten. Er nimmt also nicht einen moralischen Standpunkt ein, in dem Sinne, daß er zwischen Handlungen nicht mehr aus seiner Perspektive und im Blick auf seine Interessen, sondern aus einer unbeteiligten oder unparteilichen Perspektive wählt. Wir können die Frage des moralischen Skeptikers, wo die moralischen Rechte, die die anderen ihm gegenüber geltend machen, eigentlich herkommen, jetzt beantworten: Sie entstehen aus einem wechselseitigen Tausch von Freiheitsverzicht gegen Freiheitsgewinn. Die Wechselseitigkeit ist notwendige Bedingung dafür, daß es zur Zuerkennung moralischer Rechte durch den Skeptiker kommt. Die Zuerkennung einseitiger Rechte und die Übernahme einseitiger Pflichten setzt altruistische Präferenzen voraus, die der Skeptiker, wie wir wissen, nicht hat. Voraussetzung dafür, daß es zu einem Rechtetausch kommt, ist, wie gesehen, eine besondere Konstellation der eigenen Inter9
J.Rawls: A Theory of Justice (Cambridge, Mass. 1971) 4; dt.: Theorie der Gerechtigkeit (Frankfurt 1 9 7 5 ) 20.
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essen und der Interessen der anderen. Es kommt zu einem System moralischer Rechte und Pflichten nur, sofern und soweit die Interessen der beteiligten Personen konvergieren. - Es gibt also durchaus einen Zusammenhang von Interessen und moralischen Rechten; nur ist er von ganz anderer Art als es die Interessen-Theorie behauptet. Moralische Rechte entstehen daraus, daß mehrere Personen aus gleichen oder ähnlichen Interessenlagen heraus sich zu ihrem jeweils eigenen Vorteil wechselseitig Rechte zuerkennen. Rechte sind aber nicht einfach, wie vom Himmel gefallen, da, weil bestimmte basale Interessen da sind. 2 . 3 . W i r stoßen mit diesem Ergebnis auf die Grundidee des moralischen Kontraktualismus, auf die Idee also, daß (1) der Raum des Moralischen durch Kooperation erst konstituiert wird und daß es (2) für die Personen, die in dieser Weise kooperieren, unabhängig von altruistischen Präferenzen rational ist, den moralischen Raum zu betreten, und zwar rational im Sinne des oben entwickelten instrumentellen und individuellen Begriffs der Rationalität. Das Moralische erwächst also, so die Idee, aus dem Interesse der Menschen, ihr eigenes Leben möglichst zuträglich einzurichten, und aus dem Nachdenken darüber, auf welche Weise dieses Ziel am besten zu erreichen ist. Die Idee des moralischen Kontraktualismus, die von der des politischen, auf die Legitimation des Staates zielenden Kontraktualismus zu unterscheiden ist, ist alt; sie ist bereits von den griechischen Sophisten (oder einigen von ihnen) in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts in dem Bestreben, die Rationalität moralischen Verhaltens unabhängig von religiösen und anderen tradierten „höheren Wahrheiten" zu erweisen, entwickelt worden. Die Idee war freilich in der Geschichte der Ethik nicht sehr erfolgreich. Piaton und Aristoteles haben den Kontraktualismus abgelehnt. In der Antike hat ihn nur Epikur (und seine Schule) aufgegriffen. „Gerechtigkeit ist", so schreibt Epikur, „nicht etwas an sich Seiendes, sondern ein im Umgang miteinander ... abgeschlossener Vertrag mit dem Inhalt, einander nicht zu schä-
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digen und nicht geschädigt zu werden." 10 Im jüdischen und christlichen Denken wird die Moral naturgemäß theonom verstanden. Erst Hobbes hat das Konzept der Sophisten erneuert und ungleich detaillierter entwickelt. Allerdings kennt Hobbes nicht einen eigenen vom Recht unabhängigen Bereich der Moral. Er kommt deshalb zu einer politisch-rechtlichen Lösung der Frage, wie sich freien Menschen gegenüber Handlungsbeschränkungen rechtfertigen lassen. Im 18. und 19. und dem größten Teil des 20. Jahrhunderts dominierten dann, während der politische Kontraktualismus sehr erfolgreich war, wieder ganz andere Konzeptionen der Moral. Erst seit wenigen Jahrzehnten wird der moralische Kontraktualismus wieder verteidigt und diskutiert. Der bedeutendste Versuch einer umfassenden Neuformulierung ist D. Gauthiers Buch „Morals by Agreement". 11 Rawls' Kontraktualismus ist von anderer Art und gehört nicht in diesen Kontext. Denn Rawls fragt nicht, wie von einer vormoralischen Basis aus rationalerweise eine moralische Welt entsteht, er setzt von vorneherein einen moralischen Standpunkt im Sinne der Unparteilichkeit voraus und fragt lediglich, wie die Moral inhaltlich auszugestalten ist, speziell welche Konzeption der Gerechtigkeit die richtige ist. Hierauf versucht er mit Hilfe der Vertragsidee eine Antwort zu geben. 12 Rawls' Kontrakt ist, so könnte man sagen, ein Kontrakt innerhalb der Moral, der Kontrakt des moralischen Kontraktualismus ist ein Kontrakt vor oder außerhalb der Moral, durch den eine moralische Welt erst entsteht. 3.1. Wir haben jetzt ein erstes Bild von dem Kontext, in dem moralische Forderungen nur möglich sind, und davon, wie es zu diesem Kontext, dem Relationsgefüge von moralischen Rechten und Pflichten, kommt. Natürlich bedarf es noch wesentlicher 10 Epikur, Kyriai Doxai 33. 11 Zu nennen sind daneben vor allem Mackie, Ethics, und G. R. Grice: The Grounds of Moral Judgement (Cambridge 1967). 12 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, bes. 563 und 561, dt. 6 1 0 und 608.
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Ergänzungen; die Landkarte, auf der wir unsere Eintragungen machen, zeigt noch sehr viele weiße Flecken. Aber wichtiger ist im Moment, daß auch, was schon eingezeichnet ist, nur vorläufig fixiert ist. Die Eintragungen sind gewissermaßen nur mit Bleistift gemacht, noch nicht mit Tinte, so daß noch Veränderungen vorgenommen werden können. Wer das bisherige Bild bereits für endgültig hält, hat das Problem des moralischen Forderns in seiner Tiefendimension noch nicht durchdrungen, und er hat von dem, was der moralische Raum ist, nur eine oberflächliche und noch unaufgeklärte Vorstellung. Dies wird klar, wenn man die Frage stellt, die in der Moralphilosophie, wenn vom Müssen und Verpflichtetsein die Rede ist, immer entscheidend ist: Worin besteht nun konkret die Unausweichlichkeit des moralischen Handelns, was macht konkret das moralische Müssen, das Verpflichtetsein, das Nicht-anders-Können aus? Wer sich hier mit verschwommenen Vorstellungen oder mit zwar vertrauten, aber Klarheit nur suggerierenden Formeln begnügt, hat den entscheidenden Schritt zur Aufklärung des Moralischen noch nicht getan. Und deshalb kann er nicht antworten, wenn der Skeptiker fragt, was es für ihn unausweichlich macht, wie gefordert zu handeln. Kant und die Tradition, in der er steht, haben diese Frage unter dem Stichwort der Verbindlichkeit erörtert. W a s ist es, das die Verbindlichkeit des moralisch Geforderten konstituiert? Kant hat ganz zu Recht gesagt, dies sei die zentrale Frage der Moralphilosophie, der Begriff der moralischen Verbindlichkeit sei ihr erster Begriff. Die Philosophie sei freilich, so Kant, weit davon entfernt, „die zur Evidenz nötige Deutlichkeit und Sicherheit" dieses Grundbegriffs zu liefern. 13 M a n sagt nicht zuviel, wenn man feststellt, daß sich an dieser Sachlage bis heute wenig geändert hat. Wir haben gesehen, daß man am besten dahinterkommt, was ein Müssen konstituiert, wenn man fragt, was passiert, wenn man anders als „gemußt" handelt. Denn jedes praktische Müs13 Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze chen Theologie und der Moral (1764), AA II, 298.
der natürli-
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sen ist ein relatives Müssen. Es läßt zu, daß der Adressat des Müssens auch anders handelt; nur passiert dann etwas, es stellt sich eine für ihn negative Konsequenz ein. Dieser Umstand, daß im Falle des Anders-Handelns unausweichlich eine negative Konsequenz eintritt, konstituiert gerade das Müssen. Dies gilt, wie wir sahen, auch für das moralische Müssen. Auch das moralische Müssen ist ein relatives Müssen. Auch beim moralischen Müssen ist deshalb die entscheidende Frage: „Und was passiert, was ist die negative Konsequenz, wenn ich anders handele?" Die Idee des Kontraktualismus legt zunächst die Antwort nahe, daß, wer anders als „gemußt" handelt, einen mit seinem Gegenüber abgeschlossenen Vertrag bricht. Ein Vertrag macht es hiernach unausweichlich, moralisch zu handeln: Man muß moralisch handeln, weil es vertraglich so vereinbart ist, weil man sich vertraglich dazu verpflichtet hat. Diese Antwort scheitert jedoch. Man kann die Kooperation zwischen den Personen A und B, in der sie sich wechselseitig moralische Rechte zuerkennen und wechselseitig Pflichten übernehmen, nicht als Vertrag fassen. Denn ein Vertrag ist, gleichgültig, ob man ihn wie im deutschen Recht als eine übereinstimmende Willenserklärung zweier (oder mehrerer) Parteien über die Herbeiführung einer Rechtsfolge oder wie im amerikanischen Recht als wechselseitiges Versprechen bestimmt, in jedem Fall ein Rechtsgeschäft innerhalb einer bestehenden juridischen Rechtsordnung. Diese Rechtsordnung regelt die Gültigkeitsbedingungen von Verträgen, sie macht die Vertragstreue zu einer juridischen Verpflichtung und sie organisiert für den Fall des Vertragsbruches Sanktionierung oder Wiedergutmachung. Ein Vertrag setzt insofern, obwohl selbst Rechtsquelle, ein schon bestehendes juridisches Recht voraus. In einem vorjuridischen Raum kann es folglich keine Verträge geben. Da die Kooperation zwischen A und Β aber in diesem Raum angesiedelt ist, kann ihr Agreement kein Vertrag sein. Der Ausdruck „Kontraktualismus" führt in diesem Punkt in die Irre.14 Ich habe 14 Daß dieser Einwand seine Geschichte hat, zeigen die Ausführungen von J. W. Gough: The Social Contract (Oxford 1936, 2 1957) 4 ff.
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deshalb bisher das Wort „Vertrag" gemieden und immer die vage Formulierung „Kooperation" gebraucht, wobei offen blieb, von welcher Art diese Kooperation genau ist. Ich werde im folgenden auch vom „Agreement" zwischen A und Β sprechen. Das englische Wort empfiehlt sich in dieser Phase der Untersuchung durch seine relative Unbestimmtheit. Wer einräumt, daß, weil kein Vertrag, auch kein Vertragsbruch vorliegt, könnte indes sagen: „Ja, ein Vertragsbruch ist es nicht, wenn A anders als ,gemußt' handelt, aber es ist der Bruch eines Versprechens. A hat Β ein moralisches Recht ihm gegenüber zuerkannt und damit eine entsprechende Verpflichtung gegenüber Β übernommen. Das heißt mit anderen Worten, daß er Β versprochen hat, etwas Bestimmtes zu tun bzw. zu unterlassen. Und dieses Versprechen bricht er, wenn er anders als ,gemußt' handelt." Tatsächlich wird im Kontraktualismus der „Kontrakt" häufig nicht als ein rechtlich geschützter Vertrag, sondern als ein gegenseitiges Versprechen ohne rechtlichen Schutz verstanden. Doch auch diese Antwort scheitert. Denn ein Versprechen ist eine moralische Institution, etwas, was es in der Ausgangslage, in der A und Β sich begegnen und den Rechtetausch vornehmen, gar nicht gibt. Der moralische Raum, in dem so etwas wie ein Versprechen möglich ist, entsteht ja erst aus dem Agreement von A und B. Es gibt nichts Moralisches, was dem vorausgeht, das Agreement geht vielmehr allem Moralischen voraus. Wollte man darauf beharren, daß das Agreement ein gegenseitiges Versprechen ist, müßte man annehmen, daß es unabhängig von der Etablierung des moralischen Raumes und ihr vorausgehend so etwas wie ein moralisches Naturgesetz gibt, daß man Versprechen halten muß. Oder aber ein göttliches Gebot dieses Inhalts. Ein moralischer Kontraktualismus, der sich zu einer dieser Annahmen gezwungen sieht, fällt jedoch in eine metaphysische Konzeption zurück. Man kann das Argument auch so formulieren: Etwas zu versprechen, heißt, sich moralisch zu verpflichten, in einer bestimmten Situation eine bestimmte Leistung zu erbringen. Die Idee des Versprechens setzt somit den Begriff der moralischen
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Verpflichtung bereits voraus; und deshalb ist es nicht möglich, die Frage, was eigentlich das moralische Verpflichtetsein, das moralische Müssen ausmacht, im Rekurs auf die Idee des Versprechens zu beantworten. - Mit diesen Überlegungen erweist sich ein Grundtheorem des traditionellen Kontraktualismus als falsch. Die Verpflichtung, die Α Β gegenüber übernimmt, läßt sich nicht als Selbstverpflichtung durch ein Versprechen verstehen. Man muß die Vorstellung, eine Selbstverpflichtung durch Versprechen sei der Grundbaustein der Kooperation, fallen lassen. Dies ist eine für jede Form des moralischen Kontraktualismus zentrale und folgenreiche Einsicht. An dem Scheitern der beiden Antworten auf die Frage, was das moralische Müssen konstituiert, zeigt sich plötzlich, daß, was bisher klar zu sein schien, in Wahrheit noch unklar ist, nämlich worin die Kooperation zwischen A und Β eigentlich besteht. Und was das ist, von dem bisher so selbstverständlich gesprochen wurde: die Übernahme einer Verpflichtung von Α Β gegenüber. Es ist noch unklar, wofür diese Ausdrücke eigentlich stehen und damit was A und Β eigentlich konkret tun, wenn sie eine moralische Ordnung begründen. - Auch eine dritte Antwort entpuppt sich bei näherem Hinsehen schnell als unzutreffend. Sie sagt, das moralische Recht des einen sei das, was es für den anderen unausweichlich mache, moralisch zu handeln. Das Recht von A sei also die Quelle des Müssens von B. Es ist wichtig, hier nicht in ein unreflektiertes Verständnis moralischer Rechte zurückzufallen. Ein moralisches Recht geht der ihm korrelierenden Pflicht nicht voraus, es ist ihr gegenüber nicht primär und begründet sie nicht. Ein moralisches Recht ist nicht etwas objektiv Sakrosanktes, das aus sich heraus moralische Normativität kreiert. Moralische Rechte entstehen, wie wir sahen, indem sie zuerkannt werden. Und zwar in der Weise, daß Α Β ein Recht zuerkennt, indem er Β gegenüber eine entsprechende Verpflichtung übernimmt. Ein moralisches Recht zuzuerkennen, heißt, eine moralische Verpflichtung zu übernehmen. Dies bedeutet: das moralische Recht von Β gegenüber A und die moralische Verpflichtung von A gegenüber Β sind
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gleichursprünglich. 15 Die Frage, was die moralische Verpflichtung, was das moralische Müssen von Β konstituiert, ist folglich zugleich die Frage, was eigentlich das Recht von A konstituiert. Wenn es so ist, ist klar, daß das moralische Müssen nicht im Rückgriff auf moralische Rechte erklärt werden kann. Vielmehr müssen beide gemeinsam durch etwas Drittes verständlich gemacht werden. Damit ist auch die dritte Antwort gescheitert. - Die Einsicht in die Gleichursprünglichkeit von moralischen Rechten und Pflichten zwingt, wie sich zeigt, zu der Konsequenz, daß wir, solange wir nicht wissen, was eigentlich das moralische Müssen ist, auch nicht wissen, was eigentlich ein moralisches Recht ist und was es bedeutet, ein solches Recht zu haben. Und was es bedeutet, ein solches Recht zuzuerkennen. Wir können zwar sagen, daß, ein Recht zu haben, heißt, daß der andere etwas tun muß, etwas zu tun verpflichtet ist; und daß, ein Recht zuzuerkennen, heißt, eine entsprechende Verpflichtung zu übernehmen. Aber solange wir nicht wissen, was diese Verpflichtung, dieses Müssen konstituiert und was es heißt, eine Verpflichtung zu übernehmen, wissen wir auch nicht wirklich, was es heißt, ein Recht zu haben und ein Recht zuzuerkennen. Die bisherige Rede von moralischen Rechten und dem Zuerkennen solcher Rechte hängt also noch in der Luft. Es ist noch unklar, was hinter diesen Ausdrücken eigentlich an Realität steht. Damit erweist sich die Vorstellung von der Kooperation von A und Β mit einem Schlag als eine black box. Es ist unklar, was sie enthält. Es ist unklar, was A und Β eigentlich tun, wenn sie den moralischen Raum etablieren. Die so selbstverständlich und ganz natürlich scheinende Vorstellung, daß A und Β wechselseitig Rechte zuerkennen und Verpflichtungen übernehmen, ist leer, solange ungeklärt ist, was das moralische Müssen 15 Die Gleichursprünglichkeit von Rechten und Pflichten hat Kelsen (freilich im Blick auf Rechtspflichten) gegen traditionelle naturrechtliche Lehren, die von der Priorität natürlicher Rechte ausgehen, sehr deutlich herausgestellt; vgl. Reine Rechtslehre (Wien 2 1960) 134 f.
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eigentlich ist. Die drei diskutierten Antwortversuche bedenken alle nicht hinreichend, in welcher Situation sich A und Β begegnen und kooperieren. Es ist eine Situation noch ohne moralische Ordnung, und natürlich auch ohne juridische Ordnung. Und deshalb eine Situation, in der ein moralisches (und juridisches) Müssen noch nicht vorausgesetzt werden kann, sondern erst geschaffen werden muß. - Es scheint, als stünden wir vor einem Scherbenhaufen. Und als müßten wir alle bereits vorgenommenen Eintragungen auf der Landkarte wieder ausradieren und auf andere Weise ganz neu beginnen. Ist damit die kontraktualistische Grundidee, daß die Menschen durch eine bestimmte Weise der Kooperation einen moralischen Raum, in dem es moralische Forderungen und ein moralisches Müssen erst geben kann, selbst schaffen, gescheitert? Nicht unbedingt. Die Frage ist, wie die Kooperation aussehen muß, damit die Aufrichtung des moralischen Raumes aus einem moralischen (und juridischen) Vakuum heraus gelingt. A und Β wollen einen solchen Raum; sie wollen, daß der andere ihnen gegenüber bestimmte Dinge tun muß bzw. nicht tun darf. Das entscheidende Problem ist, wie es ihnen gelingen kann, einen solchen Raum des Müssens hervorzubringen. 3.2. Die Grundeinsicht, von der A und Β ausgehen müssen, ist einfach: Ein Müssen konstituiert sich durch eine negative Konsequenz im Falle des Anders-Handelns. Die Handlung X wird dadurch zu etwas, das die Person Ρ tun muß, daß, X nicht zu tun, unweigerlich eine negative Konsequenz für Ρ nach sich zieht. Und zu einer Handlung, die die Person Ρ nicht tun darf (kann), wird X dadurch, daß, X zu tun, unweigerlich eine negative Konsequenz für Ρ nach sich zieht. Die Unausweichlichkeit der negativen Konsequenz konstituiert das Müssen. Dabei kann die Verknüpfung von „gemußter" Handlung und negativer Konsequenz einfach gegeben sein, aufgrund von Naturgesetzen oder der Konstellation der Umstände. So wenn jemand aufgrund medizinischer Fakten Gymnastik treiben muß, um wieder gesund zu werden. Oder wenn im Fall von Theresa die
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Umstände einfach so sind, daß sie die Party um die-und-die Uhrzeit verlassen muß, wenn sie den letzten Bus erreichen will. Die Verknüpfung von „gemußter" Handlung und negativer Konsequenz kann aber auch bewußt hergestellt werden, um bestimmte Handlungen künstlich zu solchen zu machen, die man tun muß. Die negative Konsequenz ist in diesem Fall eine Sanktion, das Müssen ein sanktionsrelatives Müssen. Wenn dies klar ist, können A und Β zunächst erkennen, daß im vormoralischen Raum bereits ein Müssen „da" ist, - ein Müssen, das sie nicht durch Sanktionen erst künstlich hervorbringen müssen. Denn es ist, wie wir sahen, für A, wenn er sich davor schützen will, daß Β ihm X antut, rational, X gegenüber Β zu unterlassen, vorausgesetzt Β tut ihm gegenüber im Gegenzug dasselbe. Und für Β ist es, wenn er dasselbe Ziel verfolgt, ebenfalls rational, sich so zu verhalten. A und Β müssen also, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen, ihr Handeln koordinieren, und jeder muß, als seinen Teil des gemeinsamen Projekts, dem anderen gegenüber X unterlassen, vorausgesetzt der andere tut dasselbe. Dieses „Muß" ist ein rationales „Muß": es ist rational zwingend, sich so zu verhalten. Wer es nicht tut, muß unweigerlich die negative Konsequenz hinnehmen, sein Ziel nicht zu erreichen. Es handelt sich hier offenkundig nicht um ein sanktionsrelatives Müssen, es ist ein Müssen wie in der Situation, in der C Gymnastik treiben muß, wenn er wieder gesund werden will. Das Müssen, vor dem A und Β stehen, hat freilich die Besonderheit, daß A X nur dann unterlassen muß, wenn auch Β X unterläßt. Wenn Β X tut und es deshalb nicht zu einer gemeinsamen kooperativen Strategie kommt, muß auch A X nicht unterlassen. Er kann sein Ziel aufgrund des Verhaltens von Β nicht mehr erreichen. Das Müssen, um das es hier geht, ist also ein in dem beschriebenen Sinn konditioniertes Müssen: Man muß etwas tun, aber nur dann, wenn eine Kondition erfüllt ist. Wobei die Kondition hier ein bestimmtes Verhalten einer anderen Person ist. Das Gymnastik-Treiben-Müssen ist nicht in dieser Weise konditioniert. Hier hängt es allein von C ab, ob er sein Ziel erreicht, während weder A noch Β ihr Ziel
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ohne das Zutun des anderen erreichen können. As Verhalten ist also nicht (wie im Fall von C) die einzige Variable in einer ansonsten festen Konstellation von Umständen, es gibt eine zweite Variable: das Verhalten von B. Das macht die Situation, in der A überlegt, was zu tun ist, komplizierter; denn er muß das Verhalten von Β einkalkulieren. 16 Es gibt also, das zeigt diese Überlegung, im vormoralischen Zustand eine Dynamik weg von dem Zustand, in dem, wie Hobbes sagt, jeder die Freiheit hat, alles zu tun, hin zu einem Zustand mit rational zwingenden reziproken Freiheitsbeschränkungen, also einem Zustand mit Strukturen kooperativer Ordnung. Man könnte vom vormoralischen Zustand 1 und vom vormoralischen Zustand 2 sprechen. Zwischen ihnen liegt auf Seiten von A und Β die Erkenntnis, daß die Koordination ihres Verhaltens notwendig ist, wenn sie ihre jeweiligen Ziele erreichen wollen, und daß ihnen das Erreichen dieser Ziele wichtiger ist als die mit der Kooperation verbundenen Handlungsbeschränkungen. Zu dieser Erkenntnis muß hinzukommen, daß der eine den anderen erkennen läßt, daß er die Vorteile der Kooperation erkannt hat. Wenn beides gegeben ist, stellt sich die Koordination des Verhaltens von selbst und, ohne daß es einer expliziten Vereinbarung bedarf, ein. Denn es ist unter diesen Bedingungen für beide rational, zugunsten des anderen auf die Realisierung bestimmter Handlungsmöglichkeiten zu verzichten. Das Agreement, das hier zwischen A und Β stattfindet, besteht also im Grunde darin, zu erkennen, daß der andere das kooperative Kalkül durchschaut hat. Dies reicht, um sich auf die gemeinsame Linie des wechselseitigen Freiheitsverzichts einzuschwingen. 17 16 Man hat, um die Art der Überlegung in der Situation von C von der in der Situation von A und Β zu unterscheiden, von parametrischer und strategischer Rationalität gesprochen; vgl. J. Elster: Ulysses and the Sirens. Studies in Rationality and Irrationality (Cambridge 1979) 18 f., 117-123. 17 Das mehr oder weniger spontane Entstehen kooperativer Strukturen hat in aufschlußreicher Weise R. Sugden untersucht; vgl. R. Sugden: The Economics of Rights, Co-operation and Welfare (Oxford 1986).
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Der vormoralische Zustand 2, der im Unterschied zu Zustand 1 kooperatives Handeln und dessen Früchte kennt, ist noch ein Zustand ohne Moral. In ihm gibt es zwar Handlungen zugunsten anderer, aber diese Handlungen haben nicht die Charakteristik des Gefordertseins, die für moralisches Handeln nach unserem Verständnis definitiv ist. Es gibt in Zustand 2 keine Rechte, keine Pflichten und deshalb auch keine moralischen Forderungen. Das Müssen, unter dem A und Β stehen, ist kein moralisches Müssen, es ist ein bloß rationales, oder, wie ich auch sage, bloß prudentielles Müssen. A kann von Β nicht fordern, sich so-und-so zu verhalten. Er kann Β zeigen, daß es, wenn er sein Ziel erreichen will, rational ist, es zu tun. Aber wenn Β sich dann doch anders verhält, ist es seine Sache. Was er tut, ist irrational, aber er verletzt nicht eine Pflicht. - Ein Kontraktualismus, der ausschließlich die Art von Agreements, die von Zustand 1 zu Zustand 2 führen, kennt, erreicht, so zeigt sich, noch keine Moral. Er steht auf demselben Niveau wie der Eudaimonismus. Nach der eudaimonistischen Theorie muß man sich zugunsten anderer verhalten, weil dies dem eigenen Glück dient. Auch hier ist das Problem, daß man vom anderen nicht fordern kann, zu tun, was für ihn rational ist. Der vormoralische Zustand 1 ist, wie gesehen, nicht stabil, er enthält eine Dynamik in Richtung Zustand 2. Wenn A und Β wollen, daß bestimmte Handlungen nicht getan werden, und gut genug überlegen, wie sie dieses Ziel erreichen können, wechseln sie von Zustand 1 zu Zustand 2. Was für Zustand 1 gilt, gilt indes auch für Zustand 2. Auch er ist nicht stabil, auch er enthält eine Dynamik in Richtung auf einen entwickelteren Zustand. Dies ist, wie wir sehen werden, der moralische Raum. Welche Interessen und welche Einsichten bringen A und Β dazu, Zustand 2 in einen moralischen Raum zu verändern? Allgemein kann man sagen: ihr ursprüngliches Interesse, nämlich möglichst sicher zu sein, daß ihnen bestimmte Dinge nicht angetan werden, und die Einsicht, daß die gewünschte Sicherheit durch ein bloß prudentiell fundiertes System kooperativer Strukturen nicht oder nicht optimal erreicht wird. Denn zum
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einen kann dieses System durch ein zusätzliches künstlich etabliertes Müssen ergänzt und die Schutzwirkung dadurch erheblich verstärkt werden. Und zum anderen hat dieses System, wie ich zeigen will, für A und Β beunruhigende Mängel: in bestimmten Situationen kommt es überhaupt nicht zu kooperativen Strukturen, in anderen Situationen ist es fraglich, ob solche Strukturen entstehen. Sehen wir zunächst von diesen Mängeln ab, so ist klar, daß A und Β ganz generell ein Interesse haben, das bloß prudentielle Müssen zu verstärken. Sie möchten ihm zusätzliche Kraft geben, damit es nachteiliger und damit unwahrscheinlicher wird, anders als „gemußt" zu handeln. Ihre Maxime ist: je kraftvoller das Müssen, je härter also die negative Konsequenz, die hinnehmen muß, wer anders als „gemußt" handelt, um so besser für unsere Sicherheit. Zwei speziellere Überlegungen geben diesem allgemeinen Interesse an einer Verstärkung des bloß prudentiellen Müssens weitere Nahrung. Zunächst: Nicht jeder erkennt, daß es für ihn rational ist, sein Verhalten mit dem anderer zu koordinieren. Nicht jeder durchschaut, daß es seinen eigenen Interessen dient, sich Handlungsbeschränkungen zugunsten anderer aufzuerlegen, vorausgesetzt der andere tut es auch. A und Β wollen natürlich in der Sicherheit, daß bestimmte Handlungen nicht getan werden, nicht nur nicht vom möglichen Wohlwollen des anderen und seinen möglichen altruistischen Präferenzen abhängig sein, sie wollen auch möglichst wenig von seiner Einsichtsfähigkeit abhängig sein. Sie können sich zwar nie definitiv vor Irrationalität und Dummheit schützen; aber je härter die negative Konsequenz ist und je deutlicher sie mit der „gemußten" Handlung verbunden ist, um so unwahrscheinlicher ist es, daß sich der andere irrational verhält. Dann eine Überlegung, die bereits bei Hobbes eine große Rolle spielt18: Die Menschen handeln bisweilen infolge von starken Affekten gegen ihre eigene Einsicht in das, was zu tun vernünf-
18 Vgl. Hobbes, Leviathan, ch. 14, p. 96; ch. 17, p. 117.
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tig wäre. Natürlich wollen A und Β auch vor affektiven Handlungen dieser Art möglichst geschützt sein. Auch hier gibt es keine definitive Sicherheit, aber je offensichtlicher und massiver die drohende Konsequenz ist, um so unwahrscheinlicher wird es, daß der andere in dieser Weise gegen seinen eigenen Vorteil handelt. D a ß bloß prudentiell fundierte kooperative Strukturen d.h. der vormoralische Zustand 2 - in bestimmten Situationen gar nicht zustande kommen und in anderen Situationen ihr Zustandekommen fraglich ist, zeigt sich, wenn man die Baugesetze kooperativen Handelns genauer untersucht. Stellen wir uns zwei benachbarte Bauern vor, M a x h u b e r und Holzer. Sie sind einander nicht zugetan, aber rationale Personen. 19 Wie die Umstände sind, ist es für beide vernünftig, sich gegenseitig bei der Getreideernte zu helfen. Das Getreide von Maxhuber ist in dieser W o c h e erntereif, das von Holzer in 1 4 Tagen. Angenommen, Holzer hilft M a x h u b e r in dieser Woche. Welche Gründe hätte Maxhuber dann, Holzer in 14 Tagen zu helfen? Wenn er rational kalkuliert, muß er zu dem Ergebnis kommen: keine. Für ihn ist es zweifellos das Beste, daß Holzer ihm hilft, ohne daß er im Gegenzug hilft. In der Sprache der Spieltheorie, der Theorie strategischer Rationalität, kann man sagen, daß es für Maxhuber eine dominante Strategie gibt: Es ist für ihn in jedem Fall, wenn Holzer ihm hilft und natürlich auch wenn Holzer ihm nicht hilft, vernünftig, nicht zu helfen. Holzer kann, daß sich die Situation für Maxhuber so darstellt, leicht erkennen und deshalb ohne Mühe antizipieren, daß Maxhuber nicht helfen wird. Und das bedeutet natürlich, daß auch Holzer in dieser Woche nicht helfen wird. Die Kooperation kommt also, obwohl sie für beide nützlich wäre und beide sie wollen, gar nicht zustande. Jeder steht damit schlechter da als im Falle der
1 9 Ich übernehme dieses ursprünglich von Hume (Treatise ΙΙΙ,ίί, sect. 5, p. 5 2 0 f.) stammende Beispiel leicht modifiziert von D. Gauthier: Wby Contractarianismi, in: P. Vallentyne (ed.): Contractarianism and Rational Choice (Cambridge 1 9 9 1 ) 1 5 - 3 0 , 2 4 f.
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Kooperation. Ein beirrendes Ergebnis. Die Rationalität stellt sich hier gewissermaßen selbst ein Bein. 20 Die für beide Beteiligten vorteilhafte kooperative Strategie setzt sich nicht durch, weil es, wenn der eine seine kooperative Leistung erbracht hat, für den anderen rational ist, sich nicht kooperativ zu verhalten. Die Schwierigkeit resultiert aus dem Umstand, daß Leistung und Gegenleistung hier zeitlich getrennt sind. Da dies aber keine Ausnahme-Situation, sondern der Normalfall kooperativen Handelns ist, könnte man glauben, der Übergang von Zustand 1 zu Zustand 2 , also die Etablierung einer kooperativen Ordnung, könne grundsätzlich nicht gelingen. Dies wäre jedoch ein zu hastiger Schluß. Denn es ist für Maxhuber durchaus rational, die Gegenleistung zu erbringen, wenn er auf das nächste Jahr und die weitere Zukunft schaut. Wenn Holzer in diesem Jahr vorleistet und Maxhuber nicht kooperiert, wird Holzer im nächsten Jahr wohl erst gar nicht auf die Idee kommen, zu kooperieren. Die Möglichkeit der Kooperation wäre also auf Dauer vertan, und dies ist für Maxhuber ein Nachteil, der die Vorteile der ausbeutenden Strategie in diesem Jahr vermutlich überwiegt. Folglich ist es für ihn unter dem Strich rational, auch in diesem J a h r zu kooperieren. Und weil Holzer diese Überlegung Maxhubers voraussehen kann, wird er bereit sein, sich vorab kooperativ zu verhalten. Die Kooperation kommt also, gegen den ersten Anschein, doch zustande. Sie kommt zustande, weil die Zukunft, wie R . Axelrod sagt 21 , einen Schatten auf die Gegenwart wirft und damit die aktuelle strategische Situation entscheidend verändert. Dies ist offenkundig eine ganz wichtige Überlegung. Aber der Hinweis auf die Zukunft ist nicht in jedem Fall durchschlagend. Sein Gewicht wird auf verschiedene Weise begrenzt bzw. ge-
2 0 In der Spieltheorie wird dieses Dilemma unter dem Namen des Gefangenendilemmas diskutiert. Vgl. hierzu vor allem R. Axelrod: The Evolution of Co-operation (London 1984); dt.: Die Evolution der Kooperation (München 3 1995). 21 Axelrod, Evolution, 12, dt. 11.
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schwächt, (a) Er verliert naturgemäß ganz sein Gewicht, wenn es kein nächstes Jahr geben wird: wenn Maxhuber etwa beschlossen hat, seinen Hof im nächsten Winter zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen. Wenn Holzer dies weiß, ist die Situation wieder so, daß es zu keiner Kooperation kommen wird. Und wenn Holzer es nicht weiß, aber so etwas ahnt, wird er vermutlich auch nicht bereit sein, seinen Teil des gemeinsamen Projekts vorab zu erbringen, (b) Geschwächt wird die Bedeutung der Zukunft durch den Umstand, daß die Menschen häufig einen momentanen Vorteil trotz damit verbundener langfristiger Einbußen ergreifen. Es wäre, mit anderen Worten, nicht ungewöhnlich, wenn Maxhuber jetzt die Vorteile des ausbeuterischen Verhaltens ergriffe und die Augen davor, was das für ihn langfristig bedeutet, verschlösse. Wenn Holzer sich dies vor Augen führt, könnte er in seiner Analyse, daß es für ihn vernünftig ist, sich vorab kooperativ zu verhalten, da es ja für Maxhuber im Blick auf die Zukunft rational ist, nachzuziehen, verunsichert sein. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Und damit wird es fraglich, ob es zur Kooperation kommt. 22 (c) Einen ähnlichen Effekt hat eine andere Überlegung. Maxhuber könnte denken, es sei keineswegs ausgemacht, daß Holzer mit ihm nie mehr kooperiert, wenn er dieses Mal die ausbeuterische Strategie wählt. Denn wenn es nie mehr zu einer Kooperation kommt, ist das nicht nur für Maxhuber, sondern auch für Holzer ein erheblicher Nachteil. Das heißt, Holzer könnte es, auch wenn er einmal ausgebeutet wurde, dennoch vernünftig finden, es noch einmal zu probieren. Maxhuber könnte auf diese Möglichkeit setzen und sich doch dazu entschließen, dieses Mal nicht zu kooperieren. Wenn Holzer dies antizipiert oder diese Überlegung Maxhuber nur unterstellt, wird er seinen Teil vermutlich nicht tun, und das heißt, es wird nicht zur Kooperation kommen und beide müssen auf deren Vorteile verzichten. 22 Vgl. zu diesem Problem bereits Hobbes: De cive, The English Version, ed. H. Warrender (Oxford 1983) ch. III, xxvii, p. 72; xxxii, p. 75 und Hume, Treatise III, ii, sect. 7, p. 534 f.
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Diese Überlegungen zeigen deutlich, daß es im vormoralischen Raum nicht durchgängig gelingt, zu stabilen und verläßlichen kooperativen Strukturen zu kommen. Zum Teil kommt es überhaupt nicht zu solchen Strukturen, und zum Teil ist es unsicher, ob es zu entsprechenden Agreements und damit zu einem prudentiellen Müssen kommt. Die Beteiligten wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, weil sie aus den angeführten Gründen nicht wissen, wie sie das Verhalten des anderen einschätzen sollen. Das prudentielle Müssen des Naturzustandes ist, wie gesagt, ein konditioniertes Müssen, es „existiert" nur unter der Kondition, daß der andere sich kooperativ verhält. Wenn unklar ist, ob er sich so verhält, ist auch unklar, ob das Müssen besteht, ob man also rationalerweise selbst kooperativ handeln muß. Angesichts dieser Schwierigkeiten werden A und Β einen Weg suchen, die Handlungen, von denen sie übereinstimmend wollen, daß sie nicht getan (bzw. getan) werden, unmöglich (bzw. zwingend) zu machen. Sie müssen, wo es im vormoralischen Raum zu keinem prudentiellen Müssen kommt oder die Situation unklar ist, ein anderes Müssen an seine Stelle setzen. Darüber hinaus haben sie, wo ein prudentielles Müssen zustande kommt, das starke Interesse, dieses Müssen zu verstärken. Denn so vergrößern sie die Sicherheit, daß bestimmte Handlungen nicht getan werden. Welchen Weg A und Β einschlagen müssen, um einen Raum effektiven Müssens zu etablieren, ist nach der vorgetragenen Analyse des Müssens leicht zu sehen. Sie müssen die Handlungen, von denen sie wollen, daß sie möglichst stark „gemußt" werden, künstlich mit negativen Konsequenzen, sprich: mit Sanktionen verknüpfen. Sie müssen also das bloß prudentielle Müssen durch ein zusätzliches künstliches Müssen verstärken bzw. es durch ein solches künstliches Müssen ersetzen. Wenn A will, daß Β ihm gegenüber X nicht tut, und Β dasselbe will und beide von dem möglichen Wohlwollen des anderen, von seinen Interessen und Wünschen, aber auch von seinen möglichen irrationalen Entscheidungen so gut es geht unabhängig sein wollen, dann müssen sie das Tun von X künstlich mit einer negativen Konse-
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quenz verknüpfen, die mit dem Tun von X unweigerlich eintritt und die so hart ist, daß es für A und Β möglichst in allen Situationen irrational ist, X zu tun. A und Β müssen mithin ein System von Sanktionen errichten, ein System von künstlich geschaffenen Nachteilen, die unweigerlich den treffen, der in bestimmter Weise handelt. Wie sich durch die Aufrichtung eines solchen Sanktionensystems die Situationen verändern, in denen A und Β überlegen, was sie am besten tun, läßt sich leicht verdeutlichen. Betrachten wir noch einmal Maxhuber und Holzer und die Situation, in der es kein nächstes Jahr geben wird. Hier kommt es, wie gesehen, zu keinem Agreement, obwohl beide die Kooperation wollen. Denn Maxhuber hat in dieser Situation keinen Grund, nachzuleisten, wenn Holzer vorgeleistet hat. Wenn es dennoch zur Kooperation kommen soll, müssen sie folglich künstlich für Maxhuber einen Grund schaffen, nachzuleisten. Sie tun das, indem sie für den Fall nicht-kooperativen Verhaltens eine Sanktion vorsehen. Maxhuber muß sich dann kooperativ verhalten, wenn er der Sanktion entgehen will. Da das künstlich geschaffene sanktionsrelative Müssen ganz unabhängig von dem Verhalten von Holzer besteht, entfällt für diesen der Grund, zu kooperieren. Maxhuber muß ja auf jeden Fall wegen der angedrohten Sanktion kooperieren. Folglich muß auch für Holzer das kooperative Verhalten künstlich durch eine Sanktion zu einem „gemußten" Verhalten gemacht werden. Wenn sie auf diese Weise für sich beide das kooperative Verhalten zu einem „ M u ß " machen, kommt es zu der von ihnen gewollten Kooperation, zu der es ohne eine Sanktionsregelung und damit ohne „künstliche" Gründe nicht kommt. Sie erreichen also auf einem Umwege doch noch, was sie gemeinsam wollen. Diese Überlegung läßt nebenbei erkennen, daß das sanktionskonstituierte Müssen im Unterschied zum bloß prudentiellen Müssen kein konditioniertes Müssen ist. Es ist deshalb in gewisser Weise primitiver. Dies hat den wesentlichen Vorteil, daß man leichter erkennt, daß dieses Müssen gegeben ist. Es „existiert" ganz unabhängig davon, was der andere tut. - In einer Situation, in
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der A und Β auch ohne ein System von Sanktionen zu einem Agreement kommen, treten die Sanktionen nur hinzu. Jeder hat durch sie einen zusätzlichen Grund, sich kooperativ zu verhalten. Außerdem haben jetzt auch jene einen Grund, sich kooperativ zu verhalten, die die Rationalität kooperativen Handelns nicht erkennen. Sie brauchen jetzt nur zu bemerken, daß, X zu tun, die-und-die Sanktion nach sich zieht. Die kompliziertere Tatsache, daß es für sie auch ohne Sanktionen rational wäre, zu kooperieren, kann ihnen verborgen bleiben. Das durch die Sanktionen konstituierte Müssen ist, wie wir noch sehen werden (unten in Punkt 3.3), das moralische Müssen. A und Β schaffen also mit der Aufrichtung des Sanktionensystems den moralischen Raum. Ihr Agreement, ein System von Sanktionen zu etablieren, ist der Übergang vom vormoralischen zum moralischen Raum. - Das moralische Müssen hat, so kann ich jetzt resümierend sagen, die Funktion, dem schwächeren bloß prudentiellen Müssen zu Hilfe zu kommen. Es dient seiner Verstärkung oder seiner Ersetzung. Es ist wichtig, noch einmal hervorzuheben, daß das moralische Müssen allein durch die Sanktion konstituiert ist. Die Unterlassung einer Handlung ist nur dadurch moralisch „gemußt", daß, sie zu tun, mit einer Sanktion verknüpft ist. Wo keine Sanktionen, da also kein moralisches Müssen. Es gibt kein den Sanktionen vorgängiges, von ihnen unabhängiges moralisches Müssen, keines, das aus Verträgen, Versprechen oder Rechten resultiert, und auch keines, das aus ominösen objektiven Tatsachen oder aus natürlichen oder göttlichen Gesetzen resultiert. Es ist also nicht so, daß eine Handlung, weil man sie moralisch nicht tun darf (kann), sanktioniert wird, vielmehr so, daß eine Handlung moralisch nicht getan werden darf (kann), weil sie mit einer Sanktion verknüpft ist. Die Sanktion ist nicht die nachträgliche Strafe für etwas, was man aus anderen Gründen moralisch nicht tun darf. Die Sanktion statuiert vielmehr das moralische Müssen, und ein anderes moralisches Müssen als das so durch die Verknüpfung mit einer Sanktion künstlich hervorgebrachte gibt es nicht. - Man darf
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Moralisches
Handeln
hier freilich nicht übersehen, daß das moralische Müssen in einer rationalen Moral nicht allein steht, es hat immer nur eine helfende, eine hinzukommende Funktion. Es ruht auf dem prudentiellen Müssen des vormoralischen Raumes auf und kommt ihm in einer der beschriebenen Weisen zu Hilfe. Auf dieses Faktum stößt man auch, wenn man die Frage stellt, welche Handlungen denn aus der Sicht von A und Β sanktioniert und damit zu moralisch „gemußten" Handlungen gemacht werden sollen. Man könnte sagen: da A nicht will, daß Β ihm X antut, und Β nicht, daß A ihm X antut, ist es vernünftig, das Tun von X zu sanktionieren. Die Antwort ist in Ordnung; aber wenn A und Β dies nicht wollen, besteht schon unabhängig von der Sanktionierung ein „Muß" für A und B, nämlich das bloß prudentielle Muß, X zu unterlassen, vorausgesetzt der andere tut es auch. Dies zeigt erneut, daß das moralische Müssen in einer rationalen Moral nur ein hinzukommendes Müssen ist. Es ist H. Kelsen, der die Idee eines sanktionskonstituierten Müssens am eindringlichsten herausgearbeitet hat, freilich im Blick auf das juridische Müssen.23 Das moralische Müssen stand nicht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Er ist ohne Zweifel in die Richtung gegangen, auch das moralische Müssen als ein sanktionskonstituiertes Müssen zu verstehen; dennoch scheint er in diesem Punkt nicht zu wirklicher Klarheit gelangt zu sein.24 Getan hat diesen Schritt E. Tugendhat. Er versteht das moralische Müssen als sanktionsbedingtes Müssen.25 Bei näherem Hinsehen unterscheidet sich seine Konzeption freilich beträchtlich von der hier entwickelten Auffassung des morali23 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, bes. 26, 44, 55 f., 116 ff., 123. 24 Vgl. hierzu Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 115 f. 25 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 43, 48, 59; ders.: Probleme der Ethik (Stuttgart 1984) 74 f., 132. - Auch Bentham bietet eine sanktionstheoretische Analyse des moralischen Müssens, freilich in einer spezifischen - probabilistischen - Variante. Vgl. hierzu P. M. S. Hacker: Sanction Theories of Duty, in: A. W. Β. Simpson (ed.): Oxford Essays in Jurisprudence (Oxford 1973) 131-170.
Moralische Rechte und moralische Pflichten
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sehen Müssens. Zum einen versteht Tugendhat „Sanktion" allgemein im Sinne von negativer Konsequenz 26 , und nicht als eine spezielle, nämlich künstlich geschaffene negative Konsequenz. Deshalb ist bei Tugendhat konsequenterweise das praktische Müssen insgesamt sanktionskonstituiert. 27 Damit ist die These über das moralische Müssen wesentlich unspezifischer, sie besagt nur, daß wie für das praktische Müssen insgesamt auch für das moralische Müssen gilt, daß, wer anders als „gemußt" handelt, mit einer negativen Konsequenz zu rechnen hat. Zum anderen übergeht Tugendhat den Zusammenhang des moralischen Müssens mit dem primären bloß prudentiellen Müssen. Dies deshalb, weil er, bevor er überlegt, wie die rationale Moral aussieht, einen allgemeinen oder formalen Begriff von Moral bestimmen will, einen Begriff also, der rationale und nicht-rationale Moralen umfaßt. 28 Der hier aufgedeckte Zusammenhang von moralischem und bloß prudentiellem Müssen ist natürlich nur in einer rationalen Moral gegeben. In einer nicht-rationalen, unaufgeklärten Moral ruht das moralische Müssen gerade nicht auf dem bloß prudentiellen Müssen des vormoralischen Raumes auf, es ist gerade nicht ein nur hinzukommendes Müssen, es hat sich vielmehr verselbständigt und von den Interessen der Beteiligten und dem, was für sie im Blick auf diese Interessen rational ist, gelöst. Eben hierin liegt das Nicht-Rationale einer solchen Moral. Wir haben jetzt eine klare Konzeption des moralischen Müssens. Sie ist frei von metaphysischen Prämissen und hat festen Boden unter den Füßen. Wir haben damit auch die Antwort gefunden auf die Frage, was eigentlich genau zwischen A und Β passiert, was das eigentlich ist, was bisher vage „Agreement" genannt wurde. Die Kooperation zwischen A und Β besteht darin, in bezug auf die Handlungen, von denen sie wollen, daß sie auf keinen Fall getan werden, und von denen sie 26 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 43. 27 Ebd. 48, 59. 28 Ebd. 46; ders.: Probleme der Ethik, 132.
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Moralisches Handeln
wollen, daß sie auf jeden Fall getan werden, gemeinsam ein System von Sanktionen zu etablieren. Das ist ihr gemeinsames Projekt, geboren aus einem übereinstimmenden Wollen und dem beiderseitigen Bestreben, das eigene Wollen möglichst optimal zu verfolgen. A und Β schließen also keinen Vertrag, sie geben sich nicht gegenseitig ein Versprechen; was sie wirklich tun, ist: sie kommen überein, ein System von Sanktionen zu errichten, um auf diesem Wege bestimmte nicht gewollte Handlungen unmöglich und bestimmte gewollte Handlungen notwendig zu machen. Dies ist das factum brutum ihrer Kooperation. Aber wie gelingt es A und B, die angestrebte Sanktionsordnung zu realisieren? Da der Erfolg des Projekts wesentlich davon abhängt, daß die Sanktion den Übeltäter, der anders als „gemußt" handelt, auch wirklich trifft, könnten A und Β die Idee haben, das Beste sei die Erfindung eines halb göttlichen, halb roboterartigen Wesens, das mit Sicherheit bemerkt, wenn jemand anders als „gemußt" handelt, und darauf automatisch mit der Verhängung einer Sanktion reagiert. A und Β würden dieses fabelhafte Wesen, das weiter nichts kann, installieren, es wäre ihr Produkt, aber es würde, existierte es erst einmal, seine Arbeit tun, ohne daß sie daran noch etwas ändern könnten. Sie brächten es hervor, aber es käme ohne ihr Zutun auf sie zurück. Natürlich können A und Β in Wirklichkeit ein solches Wesen nicht erschaffen. Ein Ersatz wäre eine juridische Macht, also ein Staat, der bestimmte Handlungen mit Sanktionen belegt und dessen Organe sogar ermächtigt sind, die Sanktionen nötigenfalls mit physischem Zwang durchzusetzen. Die Sanktionen sind dann juridische Sanktionen, also die Entziehung von Gütern wie Leben, Freiheit und Besitz. Hobbes und andere sind diesen Weg gegangen. Aber sie kommen auf diesem Weg nur zu einem juridischen, aber nicht zu einem moralischen Müssen. Sie überspringen gewissermaßen den Bereich des Moralischen und rekonstruieren ausschließlich die Etablierung eines juridischen Rechtsraumes. Wenn es aber einen eigenen, vom Recht unabhängigen moralischen Raum gibt, können die hier relevanten
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Sanktionen nur spezifisch moralische Sanktionen sein. Wie sehen sie aus? Und welche Instanz verhängt sie? A und Β leben nicht in einer Zwei-Personen-Welt, sondern in einer Gemeinschaft, die zusammen mit dem Geschädigten die Sanktionsinstanz bilden kann. Sofern sie dies tut, sind die moralischen Sanktionen informelle soziale Sanktionen. Informell, weil die Gemeinschaft sie selbst und direkt verhängt und die Sanktionierung nicht wie im Fall juridischer Sanktionen an den Staat und seine Organe delegiert. - Ich begnüge mich für jetzt mit diesen ersten Hinweisen zu den moralischen Sanktionen. Wie sie aussehen und wie es möglich ist, ein Zusammenleben in einer Gemeinschaft so zu organisieren, daß es ein System moralischer Sanktionen enthält, werde ich erst im nächsten Kapitel untersuchen. Für jetzt, für die Analyse des moralischen Müssens und für die Beantwortung der Frage, was eigentlich dieses Müssen konstituiert, ist es wichtig, daß es sich um ein durch Sanktionen, und zwar durch moralische Sanktionen konstituiertes Müssen handelt. 3 . 3 . Dieses Ergebnis provoziert sofort die Frage, ob mit ihm der Rede von moralischen Pflichten, moralischen Rechten und moralischen Forderungen nicht der Boden entzogen ist. Ist mit den vorangegangenen Überlegungen nicht gezeigt, daß diese Ideen ohne Fundament sind, daß sie in einer aufgeklärten Theorie des Moralischen keinen Platz mehr haben? Und daß sie, um endlich zu einem adäquaten Verständnis des Moralischen zu kommen, möglichst umgehend über Bord geworfen werden sollten? Denn wenn A seinem Gegenüber Β X nicht antun kann, weil er sonst eine schwerwiegende Sanktion hinnehmen muß, und dieses Müssen (bzw. Nicht-Können) in nichts anderem als der Unausweichlichkeit der Sanktion besteht, welchen Sinn hat es dann noch zu sagen, A sei verpflichtet, X nicht zu tun? Es ist für ihn aufgrund der Sanktion einfach rational zwingend, es nicht zu tun. Es ist ein rationales „ M u ß " . Das ist alles. Eine Verpflichtung scheint hier nicht zu bestehen. Wenn man verpflichtet ist, etwas zu unterlassen, bedeutet das mehr,
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Moralisches Handeln
als daß es rational zwingend ist, es nicht zu tun. Und dieses „Mehr" scheint es gerade nicht zu geben. Das von A und Β durch die künstliche Verknüpfung bestimmter Handlungen mit Sanktionen aufgerichtete System des Müssens erfüllt zwar den intendierten Zweck, bestimmte Handlungen effektiv unmöglich und andere effektiv zwingend zu machen, aber es macht diese Handlungen nur rational unmöglich und rational zwingend. Es scheint folglich auch ein bloß prudentielles System zu sein - ein prudentielles System, das dem primären prudentiellen Müssen verstärkend oder restituierend zu Hilfe kommt. Gewissermaßen die zweite Etage eines insgesamt bloß prudentiellen Gebäudes. Wenn jemand trotz der Sanktionen anders handelt, ist das, so scheint es, nur eine Irrationalität, aber nicht die Verletzung einer Pflicht. - Und welchen Sinn hat es im Rahmen dieser Konzeption des moralischen Müssens noch, von Β zu sagen, er habe gegenüber A ein Recht darauf, daß er ihm X nicht antut? Β kann aufgrund der Sanktion darauf setzen, daß A ihm X nicht antun wird. Aber was soll es heißen, daß er ein Recht darauf hat, daß A es nicht tut? Und welchen Sinn hat es noch, von Β zu sagen, er könne von A fordern, ihm X nicht anzutun? Β kann A sagen, daß er X nicht erleiden will, und er kann A auch sagen, daß es für ihn angesichts der Sanktion irrational wäre, ihm X anzutun. Aber Β hat, wie es scheint, nichts in der Hand, von A zu fordern, X nicht zu tun. Auch das moralische Fordern scheint in der Luft zu hängen. Ist also der moralische Raum, von dem bisher die Rede war, in Wahrheit doch nur ein bloß prudentieller Raum, in dem es keine moralischen Rechte, Pflichten und Forderungen gibt und folglich auch keine moralischen Handlungen? Wir haben oben bereits gesehen29, daß das moralische Müssen, wenn es ein wirkliches Müssen sein soll und nicht nur eine Fiktion, nur ein rationales Müssen sein kann. Insofern ist es jetzt keine Überraschung, zu sehen, daß das moralische Müssen als ein sanktionskonstituiertes Müssen in der Tat ein rationales, 2 9 Vgl. § 3, S. 6 7 .
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Pflichten
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prudentielles Müssen ist. Das moralische Müssen ist in der Tat die zweite Etage eines insgesamt prudentiellen Gebäudes. Die Frage ist, ob dieses Müssen bloß prudentiell ist oder ob es prudentiell ist, aber zudem die spezifischen Merkmale aufweist, die dem moralischen Müssen seinem traditionellen Verständnis nach eigen sind. Ob es also auf eine besondere Weise prudentiell ist, auf eine Weise, die es erlaubt, an den Ideen der moralischen Verpflichtung, des moralischen Rechts und der moralischen Forderung festzuhalten. Wir haben oben schon festgestellt, daß die spezifischen Merkmale des moralischen Müssens es nicht zu einem eigenen Müssen neben dem rationalen Müssen machen können; es kann nur so sein, daß diese Merkmale das moralische Müssen als eine besondere Spezies des rationalen Müssens auszeichnen und von anderen Formen dieses Müssens abheben. Ist das moralische Müssen, wie es hier konzipiert wurde, also ein rationales Müssen, gegen das zu handeln, nicht nur irrational, sondern auch ein moralisches Unrecht ist? Ist es nicht nur rational zwingend, wie „gemußt" zu handeln, sondern auch moralisch verpflichtend? Und hat jemand ein moralisches Recht auf diese Handlung und deshalb auch ein Recht, sie von dem Adressaten des Müssens zu fordern? Für die Untersuchung dieser Fragen empfiehlt sich eine Vorgehensweise, wie sie H. L. A. Hart in seinem Buch The Concept of Law30 eingeschlagen hat, um den Begriff des Rechts (im Sinne von „law") zu bestimmen. Hart geht von der Straßenräuber-Situation aus, in der ein Räuber einem Passanten eine Pistole vorhält und die Herausgabe der Geldbörse verlangt. In einer Situation dieser Art hatte der englische Jurist John Austin paradigmatisch die Funktionsweise des Rechts veranschaulicht gefunden. Denn die Essenz des Rechts sei es, daß ein politischer Machthaber bestimmte Handlungen ge- und verbietet und im Falle des Zuwiderhandelns Sanktionen verhängt.31 Hart findet 30 (Oxford 1961, 2 1994); dt.: Der Begriff des Rechts (Frankfurt 1973). 31 Vgl. J. Austin: The Province of Jurisprudence Determined (1832), ed. H. L. A. Hart (London 1954), bes. lect. I.
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eine solche Konzeption des Rechts falsch; er versucht gegen Austin zu zeigen, wie sich die Situation, in der ein Gesetz zu etwas nötigt, von der Situation des Straßenräubers unterscheidet. Entsprechend will ich fragen, nicht wie Hart ob sich das juridische Müssen, sondern ob sich das moralische Müssen von dem erpresserischen Müssen in der Situation des Straßenraubs unterscheidet. Diese Vorgehensweise liegt deshalb nahe, weil in der Situation des Raubes einerseits ein sanktionskonstituiertes Müssen vorliegt, andererseits aber die Begriffe Verpflichtung und Recht (im Sinne von „right") keinen Platz haben. Denn der Passant ist, wie schon gesagt, natürlich nicht verpflichtet, das Geld herauszugeben. Er muß es angesichts der vorgehaltenen Pistole tun. Und der Räuber hat natürlich kein Recht darauf, daß der Passant das Geld hergibt. Er hat eine Pistole und deswegen kann er damit rechnen, das Geld zu bekommen. Wenn er kein Recht auf die Herausgabe des Geldes hat, dann hat er auch nicht das Recht, die Herausgabe zu fordern. Seine Forderung an den Passanten ist nur eine erpresserische Forderung, nicht eine auf ein Recht gestützte Forderung. Würde der Räuber gefragt, was ihm das Recht gebe, die Geldbörse zu fordern, könnte er nur antworten: „Nichts." Vielleicht würde er hinzufügen: „Ein Recht habe ich nicht, aber diese Pistole hier, die habe ich, und das ist besser als jedes Recht." Gibt es, so also die Frage, relevante Unterschiede zwischen dem sanktionskonstituierten moralischen Müssen und dem ebenfalls sanktionskonstituierten erpresserischen Müssen? Relevant in speziell der Weise, daß sie erlauben, im Falle des moralischen Müssens vom Verpflichtetsein wie auch von moralischen Rechten zu sprechen? Ein Unterschied zumindest fällt sofort ins Auge: Die Situation, in der sich der Passant dem Räuber gegenüber befindet, ist eine Situation völliger Heteronomie. Der Passant ist einer Nötigung ausgesetzt, an der er nicht einen Gran eigenen Anteil hat. Anders im Falle des moralischen Müssens. Wenn A in der Situation ist, Β X nicht antun zu können, weil ihn sonst moralische Sanktionen treffen, dann hat er diese Situation, zusammen mit B, selbst herbeigeführt. Es ist
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ja gerade das gemeinsame Projekt von ihm und B, eine solche Konstellation künstlich herbeizuführen. Das Müssen, vor dem er steht, geht auf ihn selbst zurück, es ist ein Müssen, das er sich selbst auferlegt hat. - Zwei Dinge sind hervorzuheben, wenn von einem selbst-auferlegten Müssen die Rede ist. Zunächst: Die Idee eines Müssens, das man sich selbst auferlegt, ist nicht widersprüchlich und die eigene Urheberschaft nimmt dem Müssen nicht seine Kraft. Ich habe gesagt, daß, wenn es A und Β möglich wäre, das erwähnte halb göttliche, halb robotergleiche Wesen zu erschaffen, dieses Ungetüm die Sanktionen verhängen würde, ohne daß A und Β noch etwas daran ändern könnten, obwohl sie es selbst hervorgebracht haben. In vergleichbarer Art muß das System der moralischen Sanktionen seine Funktion erfüllen. Es ist von A und Β gewollt; aber wenn es installiert ist, verhängt es die Sanktionen, ohne daß A oder Β noch etwas daran ändern können. Nur wenn das System der Sanktionen diese Selbständigkeit hat, kommt es wirklich zu der Konstitution des Müssens. Man kann sich diesen Sachverhalt vielleicht mit Hilfe eines Bildes verdeutlichen. A und Β wollen sich, indem sie einen Raum des Moralischen wollen, in ein System des Müssens hineinstellen, das bestimmte Handlungen unmöglich und andere notwendig macht. Sie wollen sich also selbst Freiheitsmöglichkeiten nehmen, sie wollen sich, so könnte man sagen, selbst fesseln, sich selbst anketten. Doch eine solche Selbstankettung führt nicht zu dem gewünschten Ziel, wenn sich beide anketten, die Schlösser abschließen und die Schlüssel in die Tasche stecken. Denn dann hat jeder die Möglichkeit, das Schloß wieder aufzuschließen. Es hängt nur von seinem Entschluß ab, es zu tun oder es zu lassen. Die beiden müssen vielmehr, wenn sie Erfolg haben wollen, die Schlösser abschließen und anschließend die Schlüssel so weit wegwerfen, daß sie für sie unerreichbar sind. Damit haben sie sich auf eine Weise ein Stück Freiheit genommen, die es unmöglich macht, daß sie, wenn es ihnen paßt, doch wieder von ihr Gebrauch machen. Es besteht jetzt ein Nicht-Können, dessen Realität nicht dadurch geschmälert wird, daß A und Β es selbst gewollt
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und herbeigeführt haben. Genauso ist das moralische Müssen ein selbst-auferlegtes Müssen, an dessen nötigender Realität sich nichts dadurch ändert, daß A und Β es selbst gewollt haben. Das immer wieder vorgebrachte Argument, ein aus dem Eigeninteresse kommendes moralisches Müssen sei eine contradictio in adiecto, ist falsch. Das moralische Müssen ist gewollt, und dennoch ist es ein echtes Müssen, weil das einmal etablierte Sanktionensystem die Sanktionen verhängt, ohne daß der einzelne, der zusammen mit anderen dieses System geschaffen hat, daran etwas ändern kann. Das zweite Wichtige, das hervorzuheben ist, wenn von einem selbst-auferlegten Müssen die Rede ist, ist dieses: Das moralische Müssen ist, obwohl selbst-auferlegt, nicht durch ein Versprechen konstituiert, sondern durch moralische Sanktionen. Das ist ein entscheidender Unterschied und für eine angemessene moralphilosophische Explikation der kontraktualistischen Grundidee elementar. Es ist bereits gezeigt worden, daß ein Versprechen in dem vormoralischen Raum, in dem A und Β sich begegnen und kooperieren, nicht denkbar ist, weil ein Versprechen die Idee moralischer Verbindlichkeit bereits voraussetzt. Diese Einsicht bedeutet aber nicht, wie man vielleicht zunächst denken könnte, daß man die Idee des selbst-auferlegten Müssens aufgeben muß. Ein Versprechen ist nicht der einzige Weg zu einem Müssen dieser Art. Tatsächlich bringt man ein solches Müssen durch die gemeinsame Aufrichtung eines Systems moralischer Sanktionen hervor. Das moralische Müssen ist in der jetzt verdeutlichten Weise autonom, das erpresserische Müssen hingegen heteronom. Das hat zur Folge, daß die Instanz, die moralische Sanktionen verhängt, hierzu autorisiert ist, - autorisiert durch die, die den Raum des Moralischen geschaffen haben. Sie ist mithin berechtigt, die Sanktionen zu verhängen. Der Straßenräuber verfügt über eine solche Berechtigung nicht. Er ist in keiner Weise autorisiert, die Geldbörse zu fordern und den Passanten im Falle seines Zuwiderhandelns zu erschießen. Das ist zweifellos ein ganz entscheidender Unterschied. Doch ist er für die jetzige
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Problematik relevant? Erlaubt er, im Falle des moralischen Müssens nicht nur vom Müssen, sondern auch vom Verpflichtetsein zu sprechen? Man muß an dieser Stelle vorsichtig sein. Es ist eine intellektuelle Untugend, an traditionellen Formeln und Redeweisen festzuhalten, obwohl man an ihren Inhalt nicht mehr glaubt. Man interpretiert dann um, was einem nicht mehr paßt, und verschleiert so die Ergebnisse seines eigenen Nachdenkens (auch vor sich selbst). Dieses Verhaltensmuster findet sich vor allem dort, wo es starke Interessen gibt, an bestimmten überkommenen „Wahrheiten" nicht zu rütteln. Auch in der Moralphilosophie spielt das Interesse daran, daß bestimmte Dinge wahr sind, häufig untergründig eine große Rolle. Wenn wir also an dem für unsere Vorstellung von Moral zentralen Begriff der moralischen Verpflichtung nicht nur deshalb festhalten wollen, weil er überkommen ist und weil es uns vielleicht gefährlich vorkommt, ihn fallen zu lassen, müssen wir herausfinden, welche Elemente zum rationalen Müssen hinzukommen müssen, damit ein Verpflichtetsein vorliegt, und dann sehen, ob diese Elemente im Falle des moralischen Müssens gegeben sind. Zunächst: Im Falle eines praktischen Müssens, das nicht künstlich geschaffen ist, sondern sich aufgrund von Naturgesetzen oder der Konstellation der Umstände ergibt, sprechen wir nie von einem Verpflichtetsein. Wenn Theresa die Party verlassen muß, wenn sie den letzten Bus bekommen will, ist sie nicht verpflichtet, zu gehen. Und wenn Paul sich einer schmerzhaften Gymnastik unterziehen muß, wenn er wieder gesund werden will, ist er nicht verpflichtet, dies zu tun. Was fehlt hier, um von einer Verpflichtung sprechen zu können? Mir scheint, daß für die Idee der Verpflichtung ein, wie man sagen könnte, Kontext des Hervorbringens und damit ein personaler Kontext charakteristisch ist. Und der ist im Falle eines nicht-künstlichen Müssens nicht gegeben. Daß Paul sich der Gymnastik unterziehen muß, ergibt sich aus medizinischen Fakten, also letzten Endes aus Naturgesetzen. Das Müssen ergibt sich hier einfach aus den Umständen, sein Ursprung ist nicht das Wollen und Handeln
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einer Person. Daß Theresa gehen muß, ergibt sich ebenso aus Umständen, die vorgegeben sind: dem Fahrplan, der Distanz zwischen Wohnung und Bus-Haltestelle, der Zeit, die man braucht, um diese Distanz zu überwinden, etc. Auch hier ist der Ursprung des Müssens nicht das Wollen und Handeln einer Person. Wenn hingegen Gott, wie der religiöse Glaube annimmt, die Menschen zu etwas verpflichtet, dann tut er das durch seine Ge- und Verbote, die das Verpflichtetsein erzeugen und genau dies zum Ziel haben. Auch im Falle eines juridischen Verpflichtetseins geht dem eine Gesetzgebung voraus, die eigens das Ziel hat, eine solche Verpflichtung zu erzeugen. Genauso im Falle einer vertraglichen Verpflichtung; die Vertragspartner verfolgen mit dem Vertrag speziell das Ziel, eine Verpflichtung hervorzubringen. Eine Verpflichtung scheint also immer das Ergebnis eines Wollens und eines entsprechenden Handelns zu sein, und Subjekt dieses Wollens ist natürlich immer eine Person oder Personengruppe. Insofern kann man sagen, daß eine Verpflichtung immer einen personalen Ursprung hat. Mit dieser Überlegung ist etwas Wichtiges getroffen. Der Ursprung des moralischen Müssens ist ohne Zweifel das Wollen und Handeln von Personen. Das moralische Müssen ist ein künstlich hervorgebrachtes Müssen, es steht in einem Kontext des Hervorbringens. Aber dies reicht noch nicht aus, das moralische Müssen vom erpresserischen Müssen abzuheben und zu sagen, das eine sei ein Verpflichtetsein, das andere nicht. Denn natürlich ist auch das Müssen des Passanten ein von einer Person gewolltes und durch sie hervorgebrachtes Müssen. Dennoch ist es kein Verpflichtetsein. Der Begriff des Verpflichtetseins ist also durch das Kriterium des persönlichen Kontextes noch nicht hinreichend bestimmt. Es müssen weitere spezifizierende Kriterien hinzukommen. Hier kommt nun ins Spiel, was bei dem Vergleich des erpresserischen und des moralischen Müssens als erstes ins Auge fiel. Das erpresserische Müssen ist heteronom, das moralische Müssen ist autonom, was zur Konsequenz hat, daß der Straßenräuber nicht berechtigt ist, den Passanten zu nötigen, wäh-
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rend die Instanz, die die moralischen Sanktionen verhängt, dazu berechtigt ist. Sie ist durch die, die das Sanktionensystem gemeinsam errichtet haben, dazu autorisiert. Ebenso ist in der theonomen Sicht der Welt Gott aufgrund seiner unendlichen Überlegenheit und schlechthinnigen Autorität berechtigt, die Menschen zu bestimmten Handlungen zu nötigen. Selbst wenn er Handlungen dadurch erzwingt, daß er das Zuwiderhandeln mit ewiger Verdammnis bestraft, bleibt es bei dem Unterschied, daß Gott zu dieser Nötigung berechtigt ist, während es der Straßenräuber nicht ist. Und deshalb konstituiert die eine Nötigung eine Verpflichtung, die andere hingegen nicht. Genauso sind Eltern ihren Kindern gegenüber in einer Position, die sie berechtigt, Ge- und Verbote zu erteilen und entsprechend zu strafen, und die Kinder sind, so unsere Vorstellung, verpflichtet, zu gehorchen. Trotz der strukturellen Analogie zur Straßenräuber-Situation sind wir uns sicher, daß im einen Fall ein bloßes Müssen, ein bloßes Genötigtsein vorliegt, im anderen Fall aber ein Verpflichtetsein. Der entscheidende Unterschied, der dies erklärt, ist der des Berechtigtseins. - Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß das praktische Müssen dann ein Verpflichtetsein ist, wenn es erstens durch eine oder mehrere Personen hervorgebracht ist und wenn diese Personen zweitens berechtigt sind, dies zu tun. Das moralische Müssen erfüllt, wie gezeigt, diese Bedingungen. Und deshalb ist es, auch im Kontext einer sanktionstheoretischen Analyse des moralischen Müssens, gerechtfertigt, statt vom moralischen Müssen auch vom moralischen Verpflichtetsein zu sprechen. Die Einsicht, daß das moralische Müssen ein durch Sanktionen konstituiertes Müssen ist, bedeutet also nicht, wie es zunächst schien, daß die Idee des Verpflichtetseins ohne rationales Fundament ist und deshalb über Bord geworfen werden sollte. Diese Überlegungen treffen sich erneut mit Auffassungen, die Kelsen bezüglich des juridischen Müssens entwickelt hat. Kelsen konzipiert das juridische Müssen, wie erwähnt, als sanktionskonstituiertes Müssen. Dies hindert ihn aber nicht daran, von der Rechtspflicht zu sprechen. Das juridische Müs-
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sen ist, obwohl sanktionskonstituiert, ein Verpflichtetsein. Was es rechtfertigt, hier von einer Pflicht zu sprechen, erläutert Kelsen - auch im Blick auf Austins Befehlstheorie des Rechts - , indem er den Befehl eines Gangsters, ihm eine bestimmte Geldsumme zu geben, und den Befehl eines Steuerbeamten, eine bestimmte Geldsumme zu leisten, vergleicht. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß „nur der Befehl des Steuerbeamten, nicht der Befehl des Gangsters den Sinn einer geltenden, den Adressaten verpflichtenden Norm" hat: „weil", so Kelsen, „der Akt des Steuerbeamten durch ein Steuergesetz ermächtigt ist, während der Akt des Gangsters auf keiner solchen ihn ermächtigenden Norm beruht." 32 Die Bescheide der staatlichen Verwaltung sind also verpflichtend, weil die Behörden durch Gesetze zu Bescheiden dieser Art ermächtigt sind, und die Gesetze sind verpflichtend, weil der Gesetzgeber durch die Verfassung ermächtigt ist, Gesetze zu erlassen. Es ist mithin die Ermächtigung, die die Situation der juridischen Nötigung von der des Straßenraubes unterscheidet und erlaubt, vom Verpflichtetsein zu sprechen. Dasselbe gilt, so habe ich gesagt, für das moralische Verpflichtetsein. Auch hier ist die Sanktions-Instanz dazu ermächtigt oder, wie ich gesagt habe, autorisiert, die moralischen Sanktionen zu verhängen, während der Straßenräuber nicht autorisiert ist, das Geld von dem Passanten zu verlangen. - Wir haben damit einen Begriff der moralischen Verpflichtung entwickelt, der konkret bestimmt ist und keine metaphysischen Anleihen macht. Was moralisch verpflichtet, sind nicht irgendwelche mysteriösen Kräfte, sondern Sanktionen, aber Sanktionen, die eine Instanz verhängt, die dazu berechtigt ist. Wobei in einer aufgeklärten Moral die Autoren der Ermächtigung diejenigen sind, die den moralischen Verpflichtungen un-
32 Kelsen, Reine Rechtslehre, 8, auch 46; vgl. auch ders.: Getterai Theory of Law and State (Cambridge, Mass. 1949) 31 f.; ders.: Allgemeine Theorie der Normen, 21. - Die Hervorhebungen im Zitat stammen von mir.
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terliegen. Die Autoren der verpflichtenden Ordnung sind zugleich auch deren Adressaten. 33 Ist mit den vorangegangenen Überlegungen schon gezeigt, daß im Rahmen einer sanktionstheoretischen Konzeption des moralischen Müssens auch die Rede von moralischen Rechten begründet ist? Es scheint, ja. Denn das moralische Verpflichtetsein und das moralische Recht sind zwei Seiten derselben Medaille. Wenn man sagen kann, A sei gegenüber Β moralisch verpflichtet, X nicht zu tun, dann kann man auch sagen, Β habe das moralische Recht darauf, daß A ihm gegenüber X nicht tut. Das klingt vielleicht wie ein bloßer begrifflicher Mechanismus, der durch unsere mit dem Rechtsbegriff verknüpften Intuitionen nicht gedeckt ist. Wir neigen zu der Annahme, ein Recht sei mehr als bloß der Reflex einer Verpflichtung. Doch die Rechte 33 Es sei nur nebenbei notiert, daß diese Konzeption der Schwierigkeit entgeht, die Kelsen im Blick auf die juridische Verpflichtung mit seiner Lehre von der „Grundnorm" zu lösen versucht. Wenn die Bescheide des Steuerbeamten verpflichtend sind, weil er durch Gesetze ermächtigt ist, Bescheide dieser Art an die Bürger zu richten, und die Gesetze verpflichtend sind, weil der Gesetzgeber durch die Verfassung ermächtigt ist, Gesetze zu erlassen, wodurch ist dann die Verfassung verpflichtend? Durch wen sind die Verfassungsgeber ermächtigt? Kelsen antwortet, man müsse die einer weiteren Begründung nicht mehr fähige „Grundnorm", daß verpflichtend ist, was die Verfassung vorschreibt, einfach voraussetzen, nicht etwa als ein überpositives Naturgesetz, sondern als bloß gedachte notwendige Hypothese (vgl. Reine Rechtslehre, 197, 204, 223 ff.). Später vertritt Kelsen die Meinung, mit der Grundnorm müsse „eine imaginierte Autorität" gedacht werden, die die Verfassungsgeber ermächtigt und so die Verfassung verpflichtend macht (vgl. Die Funktion der Verfassung, in: Verhandlungen des 2. Österreichischen Juristentages Wien 1964, Bd. 2, Tl. 7 [Wien o.J.] 6 5 - 7 6 , 70). Das ist offenkundig eine verzweifelte Konstruktion, die das Problem des Regresses der ermächtigenden Instanz nicht zu lösen vermag. Die hier entwickelte Konzeption moralischer Verpflichtung kommt nicht in diese Schwierigkeit, weil die Ermächtigung hier nicht „von oben", von einer höheren und dann wieder höheren Stufe in der (bei Kelsen: staatlichen) Hierarchie kommt, sondern „von unten", von denen, die den moralischen Pflichten unterliegen. Die Ermächtigung kommt nicht wie bei Kelsen von außen, sondern aus der moralischen Gemeinschaft selbst.
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sind nicht, wie die naturrechtliche Tradition glaubt, gegenüber den Verpflichtungen primär, sie gehen den Verpflichtungen nicht voraus und sind nicht deren Grund. Rechte und Verpflichtungen sind in Wahrheit, wie gezeigt, gleichursprünglich. Mit der Aufrichtung des Systems der Sanktionen entstehen gleichzeitig Verpflichtungen und Rechte. Daß A gegenüber Β zu etwas verpflichtet ist und Β A gegenüber ein entsprechendes Recht hat, ist also nur ein einziger Tatbestand, nicht zwei. Es mag sein, daß diese Position noch immer nicht als überzeugend empfunden wird. Ein Recht ist, so könnte vielleicht jemand sagen, allein deshalb mehr als die Verpflichtung des anderen, weil, ein Recht zu haben, den Anspruch an die Rechtsgemeinschaft impliziert, das Recht zu schützen und ihm so erst Geltung zu verschaffen. Wer ein Recht hat, hat zugleich eine soziale Garantie der Durchsetzung dieses Anspruchs. Doch wenn die Rechte wie die korrelierenden Verpflichtungen durch Sanktionen konstituiert sind, ist ein Recht immer ein geschütztes, eben ein durch die Sanktionsordnung geschütztes Recht. Es gibt keine von Sanktionen unabhängigen, vorgängigen Rechte, denen dann erst nachträglich durch eine rechtliche Ordnung und ihre Sanktionen Schutz und soziale Geltung verschafft wird. Ein Recht ist als solches ein geschütztes Recht, weil das Recht darin besteht, daß die rechtsverletzende Handlung sanktioniert wird. Die Sanktionierung ist, so könnte man sagen, die Existenz des Rechts, nicht etwas, was zu vorgängigen Rechten erst nachträglich hinzukommt. Die Vorstellung, daß man ein Recht hat, dem dann über seine Existenz hinaus soziale Geltung verschafft werden muß, entstammt der Vorstellungswelt des Naturrechts. Löst man sich von ihr, ist der Hinweis auf den mit einem Recht gegebenen Anspruch auf soziale Garantie des Rechts kein Argument gegen die Auffassung, daß ein moralisches Recht nicht mehr ist als die Verpflichtung des anderen. - Ein juridisches Recht ist in entwickelten Rechtsordnungen insofern mehr als die Verpflichtung des anderen, als die Rechtsgemeinschaft in bestimmten Fällen die Klage oder Beschwerde des Rechtsträgers zur Bedingung für die Realisierung der Sanktion macht. Das
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Recht umfaßt hier die Macht, im Falle einer Rechtsverletzung selbst zu entscheiden, ob die vorgesehene Sanktion wirklich verhängt wird oder nicht. Wir können in unserem Kontext von diesem speziellen Aspekt absehen. Daß der Begriff des moralischen Rechts, auch wenn er von allen naturrechtlichen Vorstellungen befreit ist und in der jetzt explizierten Weise verstanden wird, eine wichtige Funktion hat, zeigt folgende Überlegung. Nehmen wir eine Situation, die gegenüber der ursprünglichen Straßenräuber-Situation geringfügig modifiziert ist. Ein Gangster nötigt A, gegenüber Β X zu tun. Wobei Β ein starkes Interesse daran hat, daß A ihm gegenüber X tut. Das Mittel der Nötigung ist auch hier eine Pistole und die Drohung, im Falle des Zuwider-Handelns von der Waffe Gebrauch zu machen. In dieser Situation kann Β ohne Zweifel darauf setzen, daß A X tun wird. Aber offenkundig hat er kein Recht darauf, daß A ihm gegenüber X tut. So wie A nicht verpflichtet ist, Β gegenüber X zu tun. A ist nur das Opfer einer gewalttätigen Nötigung, und Β ist nur ihr zufälliger Nutznießer. Wenn nun nicht ein bewaffneter Gangster, sondern eine dazu berechtigte Instanz Β nötigte, A gegenüber X zu tun, wären Β wie auch A in einer anderen Situation. Und diesen Unterschied faßt man auf überzeugende Weise, indem man sagt, Β sei verpflichtet, X zu tun, und A habe das Recht, daß ihm gegenüber X getan wird. Β wird eben nicht einfach genötigt, er wird verpflichtet, X zu tun. Und A ist nicht zufällig in der angenehmen Situation, daß Β ihm gegenüber X tut, vielmehr hat er ein Recht darauf. Diese Überlegung zeigt, daß die Plausibilität der Rede von moralischen Rechten aus derselben Quelle kommt wie die der Rede von moralischen Verpflichtungen. Und sie zeigt auch, daß es, wie es falsch wäre, die Rede von moralischen Verpflichtungen über Bord zu werfen, ebenso falsch wäre, die Rede von moralischen Rechten fallen zu lassen. N u n zuletzt zu der Frage, was es im Rahmen der hier entwickelten Konzeption des moralischen Müssens rechtfertigt, von moralischen Forderungen zu sprechen. Was trägt die Rede vom Fordern? Zunächst kann man sagen: Wenn A ein Recht
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Moralisches Handeln
darauf hat, daß Β ihm gegenüber X nicht tut, impliziert dies, daß A berechtigt ist, die Unterlassung von X von Β zu fordern. Das Recht auf etwas und die Berechtigung, die entsprechende Forderung an den Rechtsadressaten zu richten, sind unlösbar miteinander verbunden. W o das eine, da auch das andere, und umgekehrt. Außerdem: Wenn A von Β etwas moralisch fordert, sagt er nicht: „Du solltest dies tun.", sondern: „Du bist verpflichtet, dies zu tun." Da nun im Falle des moralischen Müssens die Aussage, daß Β gegenüber A verpflichtet ist, genau den Sachverhalt trifft, ist es auch richtig, von A zu sagen, daß er von Β die entsprechende Leistung fordern kann. Außerdem: Etwas zu fordern, impliziert, wie gesehen, immer, dem Adressaten der Forderung für den Fall des Zuwider-Handelns mit der Z u f ü gung von Übeln zu drohen. 3 4 Genau dies kann A tun, wenn er ein Recht darauf hat, daß Β ihm X nicht antut. Er kann Β für den Fall der Rechtsverletzung Übel androhen, nämlich die moralischen Sanktionen, die die moralische Gemeinschaft für diesen Fall vorsieht. Ich kann meine Überlegungen zum moralischen Müssen jetzt zusammenfassen. Das moralische Müssen ist wie jedes praktische Müssen ein rationales oder prudentielles Müssen. Die Sanktionsordnung und mit ihr der moralische Raum wird ja etabliert, um es irrational (rational unmöglich) zu machen, bestimmte Handlungen zu tun, und um es rational (rational zwingend) zu machen, bestimmte Handlungen zu tun. Das moralische Müssen ist indes ein besonderes prudentielles Müssen, es steht als eine besondere Art dieses Müssens neben dem bloß prudentiellen Müssen. Was die unterscheidenden Merkmale sind, habe ich gesagt. Das moralische Müssen ist zum einen ein Müssen, das nicht einfach aus vorgegebenen Umständen resultiert, sondern durch menschliches Handeln erst geschaffen wird. Es steht, wie gezeigt wurde, in einem persönlichen Kontext, es ist Menschenwerk und insofern ein in diesem Sinne künstliches Müssen. Es ist ein durch Sanktionen künst3 4 Vgl. oben § 3, S. 50.
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lieh geschaffenes Müssen. Es ist zum zweiten ein Müssen, das nicht durch gewalttätiges, erpresserisches Handeln entsteht, sondern durch berechtigtes Handeln. Mitglieder der moralischen Gemeinschaft haben den moralischen Raum selbst geschaffen, sie haben die moralischen Sanktionen selbst gewollt und die Sanktionsinstanz autorisiert, die Sanktionen im Falle des Anders-als-gemußt-Handelns zu verhängen. Sie haben sich damit selbst moralische Verpflichtungen auferlegt und dem anderen moralische Rechte zuerkannt und damit auch die Berechtigung, das „gemußte" Handeln zu fordern. Nichts von alledem findet sich in der Situation, in der sich jemand einer Gymnastik unterziehen muß, wenn er wieder gesund werden will, und ein anderer ihm deshalb rät, sich für die Gymnastik zu entscheiden. Und nichts davon in der Situation, in der Theresa die Party verlassen muß, wenn sie den letzten Bus erreichen will. Es zeigt sich also, daß, das moralische Müssen als sanktionskonstituiertes Müssen zu konzipieren, keineswegs bedeutet, dieses Müssen auf ein bloß prudentielles Müssen zu reduzieren. Und daß es keineswegs bedeutet, der Rede von moralischen Pflichten, Rechten und Forderungen den Boden zu entziehen. Das Gegenteil ist der Fall: Die sanktionstheoretische Konzeption des moralischen Müssens gibt diesen Vorstellungen erst einen klaren Inhalt. Auf dem Boden dieser Konzeption wird erst klar, was es heißt, eine Verpflichtung, ein Recht zu haben, und was es heißt, eine Verpflichtung zu übernehmen und ein Recht zuzuerkennen. Und damit wird erst verständlich, was die Basis für eine moralische Forderung ist. Die Ideen des moralischen Rechts, der moralischen Verpflichtung und der moralischen Forderung haben also, so zeigt sich, sehr wohl einen wichtigen Platz in einer posttheozentrischen und metaphysikfreien Konzeption des Moralischen. M a n kann an ihnen auch in einer aufgeklärten Moral festhalten. Mit den Überlegungen dieses Kapitels sind die Fragen, was moralische Rechte und Pflichten sind und woher sie kommen, beantwortet. Beantwortet ist damit auch die Frage des moralischen Skeptikers, worauf sich die an ihn gerichteten morali-
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Moralisches Handeln
sehen Forderungen gründen und was ihnen ihre nötigende Kraft gibt. Offen ist noch, von welcher Art die spezifisch moralischen Sanktionen sind. Offen ist auch noch, ob sich bei dieser Konzeption des moralischen Müssens an der Idee festhalten läßt, moralische Forderungen seien kategorische Forderungen.
§ 5 Negative Affekte und moralische Sanktionen 1. Was sind die spezifisch moralischen Sanktionen? Bisher wurde nur gesagt, sie seien informelle soziale Sanktionen, informell, weil die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sie direkt verhängen und die Sanktionierung nicht wie im Fall juridischer Sanktionen an den Staat delegieren. Welche Sanktionen sieht die moralische Gemeinschaft also vor, was passiert, wenn jemand anders als moralisch „gemußt" handelt? Zunächst reagieren die betroffenen Personen spontan, noch diesseits von Überlegung und Entscheidung, mit bestimmten negativen Gefühlen. Diese richten sich gegen den Übeltäter und sind für ihn unangenehm und von Nachteil; es sind negative Konsequenzen seines Unrechts. Wer überlegt, wie er handeln soll, wird vernünftigerweise die Unausweichlichkeit dieser Konsequenzen im Falle des Unrechttuns mitbedenken. Es ist folglich so, daß man bestimmte Dinge tun oder unterlassen muß, wenn man diese negativen Konsequenzen vermeiden will. Dennoch kann man hier nicht von Sanktionen sprechen. Ist doch die Verbindung bestimmter Handlungen mit negativen Konsequenzen im Falle von Sanktionen nicht aufgrund von Naturgesetzen, der natürlichen Ausstattung des Menschen oder der Konstellation der Umstände einfach gegeben, sondern künstlich hergestellt. Sanktionen sind negative Konsequenzen, mit denen man bestimmte Handlungen absichtlich belegt, um sie künstlich notwendig oder unmöglich zu machen. Affektive Reaktionen, die sich „von selbst" einstellen, sind also keine Sanktionen, obwohl sie die gleiche Wirkung haben können. Wer hier dennoch, wie es viele Autoren tun, von „Sanktionen" spricht, gebraucht das Wort in einem erweiterten Sinn, im Sinn von „negativer Konsequenz". Natürlich kann man das tun. Aber es hat zur Folge, daß man die Unterscheidung zwischen dem Müssen, das
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aufgrund natürlicher oder sonstiger Gegebenheiten einfach „da" ist, und dem sanktionskonstituierten Müssen, das absichtlich künstlich geschaffen wird, nicht mehr machen kann. Macht man diese Unterscheidung nicht, verfügt man nicht über die Mittel, den Begriff des moralischen Müssens adäquat zu bestimmen. Denn das infolge der Umstände einfach gegebene Müssen kann, wie oben gezeigt1, niemals ein verpflichtendes Müssen sein, während das sanktionskonstituierte Müssen, wenn die Person oder die Personengruppe, die die Sanktionen festlegt und verhängt, dazu berechtigt ist, ein verpflichtendes Müssen ist. Das moralische Müssen kann deshalb, da es ein verpflichtendes Müssen ist, nur ein sanktionskonstituiertes, nicht aber ein durch die Umstände gegebenes Müssen sein. Wer diese Unterscheidung nicht macht, weil er alle negativen Konsequenzen einer Handlung über einen Kamm schert und sie unterschiedslos „Sanktionen" nennt, kann also das verpflichtende Element des moralischen Müssens nicht fassen und verfehlt damit dessen Bestimmung. Da die spontanen negativen Affekte, wie gesagt, die gleiche Wirkung haben können wie Sanktionen, kommen sie den Intentionen derer zu Hilfe, die durch die Errichtung eines Sanktionensystems ein moralisches Müssen konstituieren wollen. Wie wir sehen werden, ist der Übergang von spontanen negativen Reaktionen zu absichtlich verhängten Sanktionen fließend und eine genaue Grenzziehung nicht möglich. Die spontanen Gefühle werden bewußt und in sanktionierender Absicht dem Übeltäter gezeigt, sie werden bewußt verstärkt und in sanktionierendes Verhalten umgesetzt. 2.1. Nehmen wir an, daß die Person A durch ein anderes Mitglied der moralischen Gemeinschaft im buchstäblichen Sinne verletzt wird. Die affektive Reaktion, mit der A hierauf antworten wird, ist komplex, sie enthält verschiedene Elemente, von denen ich drei herausheben und zum Zwecke der Analyse 1 Vgl. oben § 4, S. 111 f.
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isolieren möchte. Dabei sind die beiden ersten Elemente moralunabhängig, und nur die dritte Reaktionsweise ist moralspezifisch. - Die ursprünglichste und direkteste Reaktion ist eine heftige aggressive Anti-Emotion As gegen den Übeltäter, der der stärkste Trieb des Menschen, der Trieb zur Selbsterhaltung und zur Selbstverteidigung, zugrunde liegt. Der Stärke dieses Triebs entspricht die Intensität und Heftigkeit der aggressiven Emotion. Sie ist mit einem starken Handlungsimpuls verbunden, sie drängt zum rächenden Gegenschlag, zur möglichst nachhaltigen Gegenschädigung. Dieser Aggressionsaffekt ist moralunabhängig, A reagiert mit ihm auf den Angriff auf Leib und Leben noch ganz unabhängig von der Deutung der Schädigung als Unrecht. Man denke an Hobbes' Naturzustand, ein vormoralischer und vorrechtlicher Zustand, in dem es den Begriff des Unrechts nicht gibt. Natürlich würde A auch hier, würde er von einer anderen Person verletzt, mit einem starken, zum Gegenschlag drängenden Anti-Affekt reagieren. Bei diesem Affekt handelt es sich um eine nicht-moralische Form des Zorns. E. Westermarck hat von retributiven Emotionen gesprochen und zwischen positiven und negativen Emotionen dieser Art unterschieden. Beide Klassen enthalten moralische wie nichtmoralische Emotionen. Die nicht-moralischen negativ vergeltenden Emotionen sind der Zorn (anger) und das Rachegefühl (revenge), wobei Westermarck Zorn bestimmt als „plötzlichen Unwillen, bei dem die feindselige Reaktion gegen die Ursache des Schmerzes nicht durch Überlegung beeinflußt ist". 2 Während Westermarck das Wort „Zorn" also für den beschriebenen spontanen nicht-moralischen Aggressionsaffekt reserviert, und Zorn auch für andere Autoren immer ein nicht-moralisches Gefühl ist3, werde ich nicht-moralische und moralische
2
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E. Westermarck: The Origin and Development of the Moral Ideas, vol. I (London 1906) 21 f.; dt.: Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Bd. 1 (Leipzig 2 1913) 17 f.; vgl. auch ders.: Ethical Relativity (London 1932) 6 2 f. So etwa für Rawls, A Theory of Justice, 4 8 8 , dt. 530.
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Arten des Zorns unterscheiden. Andere Philosophen und Psychologen haben wieder anders, Aristoteles folgend, angenommen, Zorn sei immer ein moralisches Gefühl. 4 Hinter diesen Differenzen stecken in aller Regel keine wirklichen Meinungsverschiedenheiten, sondern nur Unterschiede in der Wortverwendung. Unser Vokabular für die Welt der Gefühle ist sehr vage und unbestimmt. Westermarck hat von einem „Chaos unserer psychologischen Terminologie" gesprochen. 5 Das ist vielleicht übertrieben, aber der bloße Gebrauch eines Wortes reicht, wenn es um Gefühle geht, oft nicht aus, um das Gemeinte hinreichend deutlich zu identifizieren. Worauf es im jetzigen Kontext allein ankommt, ist die Einsicht, daß man auf eine Verletzung, unabhängig von jeder moralischen Beurteilung des Geschehenen, mit einem gegen den Verursacher gerichteten aggressiven und zur Gegenschädigung treibenden Affekt reagiert. Diese Reaktion, unvermittelt, originär, man möchte fast sagen, animalisch, ist ein Element unserer affektiven Antwort auf einen Angriff auf Leib und Leben. Ein zweites Element hat nicht diese Unmittelbarkeit, es hat eine Vorgeschichte: die Etablierung des Moralischen durch A und die anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Ziel dieses gemeinsamen Projekts ist es, sich davor zu schützen, daß einem bestimmte Dinge angetan werden, unter anderem daß man verletzt wird. Und genau dies, was man unbedingt unmöglich machen wollte, ist mit der Verletzung von A jetzt geschehen. Das System des Moralischen funktioniert also nicht, zumindest hat es in diesem Fall nicht funktioniert. Das löst heftigen Unwillen aus. Man hat etwas gewollt, man hat seinen Teil dafür getan, daß es zustande kommt und funktioniert, und nun mißlingt es doch, und zwar in gravierender Weise. Das erzeugt eine starke Frustration, die untergründig aggressiv ist 4
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Vgl. Aristoteles, Rhetorik 1378 a 3 1 - 3 3 , b 1 0 - 1 3 , 1380 b 16 f.; so z.B. auch O. F. Bollnow: Einfache Sittlichkeit (Göttingen 1947) 109; J. R. Averiii: Anger and Aggression (New York 1982) 152, 245. Westermarck, Ethical Relativity, 64.
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und sich in Ärger und Wut entladen kann. Da, was passiert ist, seine Ursache indes nicht in äußeren Umständen hat, die dem Einfluß der Beteiligten entzogen sind, sondern im Handeln einer bestimmten Person, ist es wahrscheinlich, daß sich der Unwillen gegen diese Person richtet und zu einer Gegenschädigung drängt. Dieses affektive Gemisch aus Frustration, Unwillen und zumindest latenter Aggressivität ist, so wie ich es hier fasse, noch von allen moralischen Kategorien unabhängig; man reagiert einfach darauf, daß ein gemeinsames Projekt gescheitert ist, zumindest nicht so funktioniert wie intendiert. Es könnte auch ein Projekt sein, das mit Moral nichts zu tun hat. Man denke an eine Freundschaft, für die ich mich sehr engagiert habe und an deren Weiterbestehen ich stark interessiert bin, aus der sich die Freundin aber doch löst. Ich habe kein Recht, ihr deswegen Vorhaltungen zu machen. Dennoch richtet sich mein Unwillen wahrscheinlilch nicht einfach gegen das, was geschieht, sondern gegen die Freundin, weil sie es ist, durch deren Handeln die Freundschaft nicht weiterbesteht. - Ob und wie sehr sich die in der Frustration untergründig vorhandene Aggressivität entlädt, hängt sicher davon ab, wie wichtig einem das gemeinsame Vorhaben ist. Bei weniger wichtigen Projekten kann man sich leichter mit dem Scheitern abfinden. Doch die Moral ist für uns nicht irgendein Projekt, sie ist für unser Leben und seine Gestaltung zentral. Wenn das System der Moral nicht funktioniert, kommt etwas ins Rutschen, das wir nicht entbehren können. Deshalb ist hier die Wahrscheinlichkeit, daß die Frustration in eine gegen den Verursacher gerichtete aggressive Anti-Emotion umschlägt, sehr hoch. Dieser aus der Frustration kommende Aggressionsaffekt ist eine zweite Form nicht-moralischen Zorns. Er unterscheidet sich von dem zunächst beschriebenen unmittelbaren, quasi-animalischen Zorn nicht nur dadurch, daß er eine bestimmte Vorgeschichte voraussetzt, er ist vor allem deshalb eine Reaktion ganz anderer Art, weil er unabhängig davon ist, daß einen die Schädigung selbst trifft. Wenn A von einem Mitglied der moralischen Gemeinschaft verletzt wird,
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muß nicht nur A erkennen, daß das moralische System nicht funktioniert hat, alle, die dieses Projekt gewollt haben und an seinem Gelingen interessiert sind, sind zurückgestoßen und reagieren, sofern sie von dem Normbruch erfahren, frustriert und mit Zorn. Wer ein anderes Mitglied der moralischen Gemeinschaft verletzt, muß also noch vor allen moralischen Sanktionen nicht nur mit dem Zorn des direkt Betroffenen rechnen, sondern auch mit einer Wand gegen ihn gerichteten Unwillens, errichtet von all denen, die an dem Projekt der Moral beteiligt sind und von dem Unrecht erfahren. Das dritte Element der affektiven Antwort auf eine Verletzung ist moralspezifisch: es setzt die Etablierung der Moral voraus und ist nur innerhalb einer moralischen Ordnung möglich. Die Reaktion, die ich meine, ist die Empörung, mit der A auf die Verletzung reagiert. Man kann ein Gefühl dann moralisch nennen, wenn man zu seiner Erklärung auf einen moralischen Begriff zurückgreifen muß. 6 Genau in diesem Sinn ist die Empörung ein moralisches Gefühl, denn sie enthält, anders als der nicht-moralische Zorn, die Deutung des Verletztwerdens als Unrecht. Man reagiert mit Empörung auf etwas, was man als moralwidrig beurteilt. Es ist nicht nur etwas passiert, auf das man mit Bedauern, Enttäuschung, Unwillen reagiert, es ist nicht nur etwas passiert, was schlecht für einen ist, was man gerne anders hätte, was man anders erwartet oder erhofft hat, es ist vielmehr etwas passiert, was der andere nicht hätte tun dürfen, was er hätte unterlassen müssen. Er hat gegen eine moralische Verpflichtung gehandelt und damit ein moralisches Recht, ein moralisches Recht von A, verletzt. Mit dieser Rechtsverletzung geht das, was geschehen ist, über die körperliche Verletzung von A hinaus. A ist nicht nur in seiner körperlichen Integrität verletzt, er ist auch in seiner moralischen Integrität verletzt, und hierauf reagiert er mit Empörung. Jemand hat in den durch die moralischen Rechte definierten Freiheitsraum hineingehandelt, in den Raum, dessen Grenzen zu berücksich6
So tut es Rawls, A Theory of Justice, 481, dt. 523.
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tigen von allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft gefordert ist. Jemand ist, so könnte man sagen, A zu nahe gekommen. Das schockiert ihn, und er antwortet mit einer scharfen, hochschießenden, gegen das Unrecht rebellierenden aggressiven Anti-Emotion, der Empörung. Natürlich gehört zur Empörung auch der Impuls, den Affekt in Handeln umzusetzen und dem Übeltäter aggressiv entgegenzutreten. - Alle diese Charakteristika weisen die Empörung als eine Form des Zorns aus. In ihr finden wir die moralische Gestalt des Zorns. 7 Sieht man nur auf das persönliche Betroffensein von A als Opfer der Rechtsverletzung, erfaßt man das Phänomen der Empörung nur partiell. Die Empörung ist komplex, zu ihr
7
Einige Autoren nennen die moralische Emotion, mit der der Betroffene auf ein Unrecht antwortet, nicht „Empörung", sondern „Groll". Sie gebrauchen das Wort „Empörung" allein für die affektive Reaktion dessen, der in dritter Person mit dem Unrecht konfrontiert ist. So vor allem Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 20. Ich werde diesem Vorschlag nicht folgen und stattdessen die Reaktionen aus beiden Perspektiven als „Empörung" bezeichnen. Das entspricht nach meinem Gefühl besser dem Sprachgebrauch. Wir sprechen gewöhnlich im Blick auf die affektive Reaktion des Betroffenen von Empörung, nicht von Groll. Tatsächlich hat „Groll" eine andere und offenbar sehr spezielle Bedeutung. Während Empörung eine heiße, eruptive, das Unrecht in alle Welt hinausschreiende Emotion ist, ist Groll ein verhaltener, unter der Oberfläche schwelender, allenfalls dumpf „grollender" Zorn, der auf eine günstige Gelegenheit zum vergeltenden Gegenschlag wartet. Das DudenWörterbuch, Bd. 3 (Mannheim 1977) s.v., versucht, die Bedeutung von „Groll" mit folgenden Worten einzufangen: „heimliche, eingewurzelte Feindschaft od. verborgener Haß, zurückgestauter Unwille, der durch innere oder äußere Widerstände daran gehindert ist, sich nach außen zu entladen u. Verbitterung hervorruft." Vgl. auch Bollnow, Einfache Sittlichkeit, 111. Wichtiger noch ist, daß die sprachliche Gewohnheit hier wie auch sonst fast immer die Beschaffenheit der Phänomene spiegelt. Es ist, mit anderen Worten, kein Zufall, daß wir die moralspezifische affektive Reaktion auf ein Unrecht aus den unterschiedlichen Perspektiven mit ein und demselben Wort bezeichnen. Denn es gibt, wie noch zu zeigen ist, unterhalb der Unterschiede eine grundlegende Gemeinsamkeit in der empörten Reaktion des Betroffenen und des nicht direkt betroffenen Dritten.
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gehört noch ein anderes wesentliches Element, nämlich eine Betroffenheit von A, die von seiner Betroffenheit als Opfer unabhängig ist. Ich werde, mit einem mißverständlichen Ausdruck, von „nicht-persönlicher Betroffenheit" sprechen. Ein exakter, aber ganz unhandlicher Ausdruck wäre: das Nichtqua-Opfer-Betroffensein. Diese Betroffenheit teilt A mit denen, die selbst nicht als Opfer involviert sind, die aber als Dritte mit dem Unrecht konfrontiert sind. Wir sind bereits bei der Diskussion des zweiten Elements der affektiven Antwort auf eine Verletzung: der Frustration und des aus der Frustration kommenden Zorns, auf ein nicht-persönliches Betroffensein gestoßen. A ist hier, unabhängig davon, daß er das Opfer ist, in einer Weise von dem Nicht-Funktionieren des moralischen Projekts betroffen, in der auch die anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft betroffen sind. Sie alle müssen einsehen, daß ihr gemeinsames Projekt, die Moral, nicht durchweg zu den angestrebten Ergebnissen führt. Das berührt sie negativ, und deshalb reagieren sie mit dem Gefühl der Frustration und des Zorns. In strukturell derselben Weise enthält auch die Empörung ein Element nicht-persönlicher Betroffenheit. Was ist es, was an einer Rechtsverletzung, unabhängig von dem persönlichen Involviertsein, negativ berührt? Wir können, um dies herauszufinden, die Empörung des Dritten, des nicht direkt Involvierten untersuchen. Warum empört er sich? Was berührt ihn so stark negativ, daß er affektiv reagiert? Strawson hat gesagt, seine Empörung sei eine „stellvertretende" und „sympathetische" Emotion. 8 Er fühlt sich, so die Idee, in die Situation des persönlich Betroffenen ein und empfindet, so Strawson, „in seinem Namen" Empörung. 9 Der Dritte solida-
8
9
P. F. Strawson: Freedom and Resentment (1962), in: P. F. S.: Freedom and Resentment (London 1974) 1-25,14; dt.: Freiheit und Übelnehmen, in: U. Pothast (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus (Frankfurt 1978) 201-233, 217. „Vicarious" und „sympathetic" sind die Wörter, die Strawson gebraucht. Ebd.
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risiert sich affektiv mit dem Opfer, er springt ihm affektiv bei. Strawson greift hier auf eine ältere philosophische Tradition zurück. Daß das Mitgefühl (sympathy) die Basis der moralischen Gefühle auf Seiten der nicht unmittelbar Betroffenen sei, haben vor allem D. Hume und dann A. Smith gelehrt. 10 - Eine Haltung des Mitgefühls ist ohne Zweifel häufig die Basis für die Empörung eines Dritten. Das zeigt sich deutlich daran, daß wir uns, wenn Familienangehörigen oder Freunden Unrecht geschieht, mit größerer Wahrscheinlichkeit und stärker empören als in Situationen, in denen die Opfer uns fernstehen und wir wenig oder gar nichts mit ihnen zu tun haben. Diese sympathetische, aus dem Mitgefühl kommende Empörung beruht indes nicht auf der nicht-persönlichen Betroffenheit, von der ich gesagt habe, sie sei ein zentrales Element in der Empörung sowohl des Betroffenen wie des Dritten. Sie beruht vielmehr gleichsam auf einer Ausdehnung der persönlichen Betroffenheit auf die, die an dieser Betroffenheit partizipieren. Der Dritte ist auf diese Weise mit-betroffen, er hat aufgrund seines Sich-Einfühlens an der direkten Betroffenheit des Opfers teil, und hier liegt der Grund für seine Empörung. Die sympathetische Empörung ist mithin ein Abkömmling der Empörung aufgrund persönlichen Betroffenseins, sie gehört, wie man überspitzt sagen kann, auf die Seite des Opfers und nicht auf die des Dritten. So ist ihre Basis nicht das nicht-persönliche Betroffensein, das von dem Involviertsein des Opfers unabhängig ist. Worin besteht dann das nicht-persönliche Berührtsein durch die Rechtsverletzung? Zum Gehalt der Empörung gehört das „Das hättest du nicht tun dürfen.", und zwar auf der Seite des direkt Betroffenen wie auf der des Dritten. Die Charakterisierung des Geschehenen als moralwidrig ist unpersönlich, sie ist unabhängig von der Perspektive des Opfers. Aber diese Charakterisierung allein löst noch keinen Affekt aus. Die empörte 10 Vgl. Hume, Treatise, III, iii, sect. 1; Α. Smith: The Theory of Moral Sentiments (1759), ed. D. D. Raphael/A. L. Macfie (Oxford 1976) I, i, ch. 1.
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Reaktion wird erst verständlich, wenn man versteht, warum die Moralwidrigkeit, unabhängig vom persönlichen Betroffensein, so stark negativ berührt. Der Grund ist das Gefühl, daß, wenn ein Unrecht geschieht, gleichgültig wem, der Boden ins Wanken gerät, auf dem alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft stehen. Wenn ein Unrecht geschieht, wird die Grundlage beschädigt, auf deren Verläßlichkeit jeder einzelne angewiesen ist. Weniger metaphorisch läßt sich der Sachverhalt so fassen: Der Übeltäter hat das moralische Recht von A auf körperliche Integrität verletzt. Dieses Recht hat nicht nur A ihm gegenüber, alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft haben es. Daß es nicht einen anderen, sondern A getroffen hat, kann in manchen Fällen nur Zufall sein. Zumeist bestimmt jedoch nicht der Zufall, wer das Opfer ist, sondern die Konstellation der persönlichen und sonstigen Umstände. Konstellationen können sich freilich ändern, und es ist ungewiß, was in Zukunft geschehen wird. Doch selbst wenn es im Augenblick für den einzelnen nicht so aussieht, als werde der Übeltäter in Zukunft eines seiner Rechte verletzen: es ist in jedem Fall so, daß die moralische Gemeinschaft jemanden in ihren Reihen hat, der aus welchen Gründen auch immer seine Verpflichtungen nicht eingehalten und das moralische Recht eines anderen verletzt hat. Das bewirkt ein Gefühl latenten Bedrohtseins. Das System der Moral ist angegriffen, das Vertrauen in die Verläßlichkeit des gewährten Schutzes erschüttert. Das schafft ein Gefühl der Unsicherheit, aus der die Anti-Emotion gegen den Übeltäter, die Empörung kommt. Dabei ist nicht ausschlaggebend, daß gerade dieses konkrete Unrecht geschehen ist, sondern daß überhaupt ein Unrecht geschehen ist. Die Empörung hat deshalb die Tendenz, sich von der konkreten moralwidrigen Handlung zu lösen und sich gegen das Unrecht als solches und seinen Urheber zu wenden. Wäre das verletzte moralische Recht nicht dieses, sondern jenes, wäre der Betroffene nicht A, sondern B, die Empörung hätte denselben Grund. Es ist nun leicht zu sehen, daß diese nicht-persönliche Empörung auch zu der Empörung des direkt Betroffenen gehört.
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Unabhängig von seinem persönlichen Betroffensein bewirkt auch bei ihm, daß überhaupt ein Unrecht geschehen ist, eine anhaltende Verunsicherung. Auch ihm zeigt das geschehene Unrecht, daß die Moral keineswegs sicherstellt, daß sich die anderen moralisch verhalten. Das löst ein Gefühl des Bedrohtseins aus, aus dem, ganz wie bei den anderen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft, die gegen den Übeltäter gerichtete nicht-persönliche Empörung kommt. Diese Form der Empörung ist also bei dem Opfer und den nicht direkt Betroffenen dieselbe. Sie überspringt die Verschiedenheit ihrer Positionen. - Man kann überlegen, wie sich auf Seiten der Nicht-Betroffenen sympathetische und nicht-persönliche Empörung und auf Seiten des Betroffenen persönliche und nicht-persönliche Empörung zueinander verhalten. In der empörten Reaktion des Betroffenen steht natürlich die spezifische Empörung als Opfer des geschehenen Unrechts im Vordergrund. Man könnte vermuten, hier sei nur Platz für diese Form der Empörung, die nicht-persönliche Empörung spiele hier keine Rolle, sie sei eigentlich nur ein theoretisches Konstrukt. Doch diese Vermutung wäre falsch. Wer sich über ein erlittenes Unrecht empört, hat immer das Gefühl, daß etwas passiert ist, das nicht nur ihn, sondern eigentlich alle angeht. Es ist etwas passiert, das allgemein und das heißt: unabhängig vom persönlichen Betroffensein von Bedeutung ist. Deshalb der Impuls, das, was geschehen ist, weiterzusagen, ja herauszuschreien. Damit soll die Untat nicht nur dem Übeltäter vorgehalten werden, damit sollen auch die anderen auf das Geschehene aufmerksam gemacht werden. Wer sich empört, ist überzeugt, daß auch die anderen Grund haben, sich zu empören. Dies ist die Basis für die Hoffnung des Opfers auf ein affektives Zusammenstehen, und zwar unabhängig von einer möglichen sympathetischen Haltung der anderen. Die anderen haben Grund, sich ihretwegen, nicht seinetwegen zu empören. Sie selbst betrifft, was geschehen ist. Diese Sicht des Opfers, die konstitutiv für seine Empörung ist, zeigt, wie stark es trotz seines direkten Betroffenseins die Empörung als nicht-persönliche Emotion empfindet. Sähe es in dem erlittenen
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Unrecht nur deswegen etwas Schlimmes, weil speziell eines seiner moralischen Rechte verletzt ist, wäre nicht zu erklären, wie es annehmen kann, auch die anderen hätten Grund, sich über das Geschehene zu empören. Es zeigt sich also, daß die nicht-persönliche Empörung auf Seiten des Opfers keineswegs ein Konstrukt ist, sie ist vielmehr ein konstitutives Element seiner Empörung. Diese Einsicht erweist sich auch als hilfreich, wenn wir auf die Empörung der anderen schauen. Zunächst läßt sich sagen, daß hier natürlich die sympathetische und die nicht-persönliche Empörung zusammenkommen und sich vermischen können. Sicher kann die eine Form der Empörung überwiegen, die andere schwächer sein. Steht man dem Opfer nahe, dominiert wahrscheinlich die sympathetische Empörung. Aber weil auch der Dritte, wenn er sich empört, annimmt, das Geschehene gehe auch die anderen an und sei auch für sie ein Grund, sich zu empören, ist die nicht-persönliche Empörung auch für seine Empörung konstitutiv. Auch seine Empörung kann niemals ohne das nicht-persönliche Element sein; sie kann aber sehr wohl frei von der sympathetischen Empörung sein, die aus dem Sich-Einfühlen in die Situation des Opfers resultiert. Die nichtpersönliche Empörung ist hier folglich essentiell, die sympathetische nur hinzukommend. Daß die nicht-persönliche Empörung sowohl für die Empörung des Betroffenen wie auch für die des Dritten konstitutiv ist, erklärt einen charakteristischen Aspekt der Empörung: das Stellvertretende oder Repräsentative an ihr. Strawson hat, wie erwähnt, die Empörung eine „stellvertretende" Emotion genannt und dabei daran gedacht, daß der nicht direkt Involvierte sich im Namen des Opfers empört. Die Empörung scheint mir indes in einer ganz anderen Weise stellvertretend zu sein. Wer sich empört, hat, so hatte ich gesagt, das Gefühl, auch alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft hätten Grund, sich zu empören. Aber nicht alle erfahren von dem Unrecht, und ein Teil derer, die davon erfahren, sind aus verschiedenen Gründen daran gehindert, affektiv auf das Unrecht zu reagieren. Der, der
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sich empört, hat deshalb häufig das Gefühl, daß seine Empörung nicht nur seine ist, daß er sich vielmehr für die anderen mitempört, daß er sich auch in ihrem Namen empört und in seiner Empörung die ganze moralische Gemeinschaft vertritt. Das ist der stellvertretende oder repräsentative Zug der Empörung. Und er ist es, der ihr oft eine besondere Schärfe und Unerbittlichkeit verleiht. Es kommt noch etwas anderes hinzu. Wer sich empört, ist durch die moralische Gemeinschaft, so wie alle anderen Mitglieder, auch autorisiert, die moralwidrige Handlung zu sanktionieren. Die Gemeinschaft ermächtigt einen, dies zu tun. Sich dessen bewußt zu sein, färbt auf die Empörung ab. In sie mischt sich das Gefühl, die moralische Gemeinschaft hinter sich zu haben und in der Empörung von ihr getragen zu sein. M a n empört sich also nicht nur für andere mit, man fühlt sich in seiner Empörung auch durch die anderen autorisiert. Dies gibt der Empörung ihre Selbstgewißheit und bisweilen auch eine Spur von Selbstgefälligkeit. Wir haben jetzt einen Eindruck von den negativen Affekten, mit denen der, der ein Unrecht tut, auf Seiten des Betroffenen und zum Teil auch auf seiten Dritter unweigerlich rechnen muß. Eine moralwidrige Handlung löst nicht nur beim Opfer, sondern auch bei nicht direkt Betroffenen gegen den Übeltäter gerichtete Anti-Emotionen aus. Ich hatte, als ich den Begriff des (subjektiven) Rechts einführte, gesagt 11 , daß, wer gegen ein juridisches Recht verstößt, nicht nur den gegen sich hat, dessen Recht er verletzt hat, sondern im Grunde die gesamte Rechtsgemeinschaft. Wobei die Rechtsgemeinschaft durch den Staat und seine Organe vertreten ist. Etwas Vergleichbares gibt es also auch bei den moralischen Rechten. Wer gegen ein moralisches Recht verstößt, hat nicht nur den gegen sich, dessen Recht er verletzt, sondern im Grunde die gesamte moralische Gemeinschaft. Jeder einzelne hat Grund, sich zu empören und sich gegen das Unrecht aufzulehnen. - Zu untersuchen ist jetzt in
11 Vgl. oben § 4 , S. 7 5 f.
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einem weiteren Schritt, ob und in welcher Form der, der ein Unrecht tut, nicht nur mit Fremdaffekten, sondern auch mit negativen Selbstaffekten wie Schuld- und Schamgefühlen rechnen muß. Bevor ich zu dieser Frage (unter 2.3.) komme, ist zunächst auf einen grundlegenden Einwand gegen das bisher Gesagte einzugehen. 2 . 2 . Der Einwand besagt, eine kontraktualistisch fundierte Moral könne den Affekt der Empörung überhaupt nicht erklären, sie biete keine Basis für diese affektive Reaktion. In einer solchen allein im Eigeninteresse der Individuen verankerten Moral könne es, mit anderen Worten, Empörung gar nicht geben. Tugendhat hat dies immer wieder eingewandt. 12 Für ihn ist eine kontraktualistische Moral deshalb keine „genuine M o r a l " , sondern nur ein „Moralsubstitut" oder eine „Quasi-Mor a l " , die sich von einer „Moral im bisher üblichen Sinn" gerade dadurch unterscheide, daß sie nicht erlaube, Handlungen als empörend, und auch nicht als tadelnswert und schlecht, zu bezeichnen. 13 Auch Rawls hat die Auffassung vertreten, unter Egoisten seien die moralischen Gefühle und damit auch die Empörung, sowohl von Seiten der Opfer wie auch von Seiten Dritter, unmöglich. 1 4 Habe ich mich also, als ich die affektiven Reaktionen auf ein Unrecht analysierte, unbedacht an der Moral orientiert, wie wir sie kennen, statt an der kooperativ etablierten Moral, die ich zuvor als die rationale Moral, die sich dem moralischen Skeptiker gegenüber begründen läßt, konzipiert habe? Es ist bisher nichts dazu gesagt worden, ob die beiden Moralen übereinkommen, ob der Entwurf einer metaphysikfreien, dem Skeptiker gegenüber ausweisbaren M o r a l alle Züge der herkömmlichen Moral zu rekonstruieren vermag. Das ist
1 2 So besonders deutlich in: Zum Begriff und zur Begründung von Moral ( 1 9 8 9 ) , in: E. T.: Philosophische Aufsätze (Frankfurt 1 9 9 2 ) 3 1 5 - 3 3 3 , 324. 13 Ebd. 3 1 6 , 3 2 4 ; ders., Vorlesungen über Ethik, 1 4 Rawls, A Theory of Justice, 4 8 8 ; dt. 5 3 0 f.
75 f.
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eher unwahrscheinlich. Und es ist denkbar, daß wir uns angesichts eines Unrechts empören, aber die Frage, was die rationale Basis für diese affektive Reaktion ist, im Rahmen einer Moral, die allein auf den vom Skeptiker geteilten Prämissen beruht, nicht beantworten können. Sollte es so sein, müßten wir das Votum für eine kontraktualistische Moral offen mit der Empfehlung verbinden, das Gefühl der Empörung in uns möglichst absterben zu lassen. Wenn man überlegt, was die Empörung in einer Moral, wie sie hier bisher entwickelt wurde, problematisch machen könnte, drängt sich am ehesten folgende Überlegung auf. Das kooperativ etablierte System der Moral ist ein prudentielles System: M a n errichtet in der Verfolgung eigener Interessen ein Sanktionensystem und damit ein System des moralischen Müssens. Dieses System erzwingt, daß man, wiederum in Verfolgung eigener Interessen, moralkonform handelt. M a n tut, aus eigenem Interesse, was man aufgrund der Sanktionen rationalerweise tun muß. Wer anders als „gemußt" handelt, verhält sich unvernünftig, er tut nicht das, was zu tun für ihn das Beste wäre. N u n wurde schon mehrfach gesagt, daß, sich unvernünftig und damit gegen seine Interessen zu verhalten, nichts ist, auf das wir mit Empörung reagieren können. Wir können das Verhalten des anderen bedauern, wir können, wenn wir ein anderes Verhalten erhofft oder erwartet haben, enttäuscht sein, wir können versuchen, ihn zu belehren, und wir können, sofern seine Irrationalität eine Schädigung für uns bedeutet, mit Zorn reagieren. Aber wir können uns nicht empören. - Soweit diese Überlegung. Es ist nach den Erörterungen des letzten Kapitels ( § 4 ) leicht zu erkennen, daß sie ihr Ziel verfehlt. Denn so primitiv wie hier vorausgesetzt ist das entworfene System der Moral nicht. Es ist nicht ein bloß prudentielles System, wie es der Eudaimonismus ist. Der Eudaimonismus, der das moralische Müssen nicht als ein künstlich geschaffenes, sanktionskonstituiertes Müssen versteht, wird von der Argumentation getroffen, er bietet in der Tat keine Grundlage für die moralischen Gefühle. Wie man sich über den, der es unterläßt, Gym-
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nastik zu treiben, obwohl es ihn wieder gesund machen würde, nicht empören kann, so auch nicht über den, der es unterläßt, sich zugunsten anderer zu verhalten, obwohl es ihn glücklich machen würde. Nicht getroffen wird hingegen eine kontraktualistische Moral, die die Begriffe des moralischen Rechts, der moralischen Verpflichtung und der moralischen Forderung kennt. Wenn jemand in einer solchen Moral moralwidrig handelt, ist das nicht nur unvernünftig, es verletzt auch ein moralisches Recht, und das heißt, es ist eine Handlung, die gegen das steht, was von dem Handelnden moralisch gefordert ist. Mit den Begriffen der Verpflichtung, des Rechts und der Forderung hat eine kontraktualistische Moral wie die hier entwickelte, wie es scheint, die nötige Grundlage für das Gefühl der Empörung. Wenn A von Β fordert, X zu unterlassen, und das Recht hat, dies zu fordern, und Β folglich die Verpflichtung hat, X zu unterlassen, Β aber dennoch X tut, dann reagiert A hierauf mit Empörung. A erleidet in dieser Situation nicht nur eine buchstäbliche Schädigung, sondern auch eine Verletzung eines seiner Rechte. Und deshalb ist die affektive Reaktion eine moralische. A reagiert, weil er die Schädigung als Rechtsverletzung erlebt, mit moralischem Zorn. Und das ist die Empörung. Auch das nicht-persönliche Element der Empörung läßt sich auf dieser Basis verstehen. Daß überhaupt ein Unrecht geschehen ist, läßt nicht nur den direkt Betroffenen, sondern auch die anderen bezüglich ihrer Rechte und deren Unverletzlichkeit unsicher werden. Sie sind durch das, was geschehen ist, erschüttert, sie fühlen sich latent bedroht und reagieren deshalb auf das Unrecht mit Empörung. Hiermit ist die Überlegung zurückgewiesen, die den Einwand auf die nächstliegende Art zu stützen schien. Der Einwand selbst ist damit aber noch nicht unbedingt erledigt. Es könnte jemand sagen: Du hängst den Begriff der Empörung an den der moralischen Forderung und den des moralischen Rechts an. Das ist auch ganz richtig; ohne auf diese Begriffe zurückzugreifen, läßt sich von Empörung nicht sprechen. Aber es ist zu wenig. Dein Begriff der Empörung ist unterbestimmt. Das läßt
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sich ohne große Umstände zeigen. Nimm den, der anders als moralisch „gemußt" handelt und das Recht eines anderen verletzt, und dies, weil er die unausweichlichen negativen Konsequenzen dieser Handlung nicht genügend bedacht hat. Er muß infolgedessen die für ihn nachteiligen moralischen Sanktionen hinnehmen. Aber hat er im Rahmen der von dir konzipierten Moral Gründe, sich Schuldvorwürfe zu machen und Schuldgefühle zu haben? Doch offenbar nicht. Du mußt doch sehen, daß es gerade die Essenz deiner Moralkonzeption ausmacht, daß die Schädigung und Rechtsverletzung nicht etwas in sich Unmoralisches ist, sondern nur deshalb unmoralisch ist, weil sie mit moralischen Sanktionen bedroht ist. Sie ist nichts, was man an und für sich nicht tun darf, sie ist vielmehr nur dadurch, daß sie sanktioniert wird, etwas, was man nicht tun darf. Das ist deine Antwort auf die Einsicht, daß es keine objektiven Normen und Werte gibt. Wer ein Unrecht tut, verstößt also nicht gegen eine Norm einer objektiven moralischen Ordnung, er tut etwas, was mit Sanktionen belegt ist und ihm folglich schwerwiegende Nachteile bringt. Und was er deshalb im Rückblick lieber nicht getan hätte. Dies ist aber kein Grund, sich Schuldvorwürfe zu machen. Der Übeltäter hat, so wie du ihn verstehst, keine Schuld auf sich geladen. Er hat sich auf eine spezifische Weise irrational verhalten. Betrachte auch den, der gut überlegt, wie er handeln soll und für den es in einer außergewöhnlichen Konstellation von Präferenzen und Umständen wichtiger ist, den anderen zu schädigen oder seine Schädigung in Kauf zu nehmen, als die angedrohten Sanktionen zu vermeiden. Er bezahlt in dieser Situation, in der die Sanktionen ihr Ziel nicht erreichen, den Preis der Sanktionen um einer Sache willen, die ihm wichtiger ist. Aus der Perspektive einer kontraktualistischen Moral macht er, wenn seine Präferenzen von dieser Art sind, alles richtig. Und er hat keinen Grund, sich wegen der Schädigung des anderen Schuldvorwürfe zu machen. - Hier hilft, so der Einwender weiter, auch der Hinweis nicht, daß die kontraktualistische Moral, so wie du sie konzipierst, die Begriffe der Pflicht und des Rechts kennt und der eine wie
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der andere, wenn er jemanden schädigt, gegen seine moralische Pflicht handelt und das moralische Recht des Betroffenen verletzt. Und daß dies doch ein Grund sei, sich Schuldvorwürfe zu machen. Gegen seine Pflicht zu handeln und damit das Recht eines anderen zu verletzen, das sei doch gerade der Gegenstand eines Schuldvorwurfs. Dieser Hinweis verpufft, wenn man sich vergegenwärtigt, wie du im Rahmen der kontraktualistischen Moral die Begriffe der Pflicht und des Rechts gefaßt hast. Daß A die Pflicht hat, Β X nicht anzutun, bedeutet, daß A, wenn er X tut, hierfür sanktioniert wird, und zwar von Personen, die dazu berechtigt sind. Dieser Begriff des Verpflichtetseins impliziert nicht, daß, wer pflichtwidrig handelt, etwas in sich Unmoralisches tut, etwas in sich Schlimmes, was man objektiv nicht tun darf. Er tut vielmehr etwas, was für ihn mit spezifischen negativen Konsequenzen verbunden ist. Das ist alles. Hier findet sich kein Grund für Schuldvorwürfe und Schuldgefühle. Dasselbe ergibt sich natürlich, wenn man auf den Begriff des Rechts schaut. Denn daß Β das Recht darauf hat, daß A ihm X nicht antut, bedeutet genauso, daß A, wenn er X tut, hierfür von den dazu autorisierten Personen sanktioniert wird. Diese Sanktionierung ist, so haben wir gesagt, die Existenz des Rechts. Das Recht ist nichts der Sanktionsordnung Vorausgehendes. Es ergibt sich also erneut, daß der, der ein Recht verletzt, etwas tut, was für ihn unweigerlich spezifische negative Konsequenzen hat. Das ist alles. Etwas in sich Schlimmes, etwas, was man objektiv nicht tun darf, geschieht hier nicht. Deshalb findet sich hier, wie gesagt, kein Grund, sich Schuldvorwürfe zu machen. Und wenn der, der ein Unrecht tut, selbst einen solchen Grund nicht hat, dann haben auch der Betroffene und die anderen keinen Grund, ihm Schuldvorwürfe zu machen. Wenn es aber keine rationale Basis für einen Schuldvorwurf gibt, dann gibt es auch keine für das Gefühl der Empörung. Denn die Empörung impliziert den Vorwurf, anders als moralisch „gemußt" gehandelt zu haben. Und dies unterschlägst du, wenn du von „Empörung" sprichst. Und deshalb ist dein Begriff der Empörung unterbestimmt. Du faßt die Empörung als eine Art des Zorns,
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und letztlich reagiert der Zorn, so wie du ihn beschreibst, nur auf etwas, was der Betroffene nicht will. Was der andere tut, wird einmal ausschließlich als eine Gefährdung von Leib und Leben erlebt, dann ist der Zorn nicht-moralisch, und einmal auch als Verletzung eines moralischen Rechts, dann ist der Zorn moralisch, also das, was du „Empörung" nennst. Aber das den Affekt Auslösende ist immer, daß etwas passiert, was der Betroffene sehr stark nicht will. Auslöser ist nicht, daß das, was der andere tut, verwerflich und tadelnswert ist, etwas, was ihn mit Schuld belastet. Die Empörung, wie du sie verstehst, schaut gewissermaßen nur auf den Betroffenen, nicht auf den Übeltäter und seine Untat; sie kommt nur aus dem eigenen Nicht-Wollen, nicht aus dem moralischen Vorwurf an den anderen. Der moralische Vorwurf gehört aber, wie gesagt, definitiv zur Empörung; und deshalb ist, was du „Empörung" nennst, nicht das, was man üblicherweise so nennt. Soweit der Einwender. Ich halte diese Argumentation für stichhaltig. Wenn es zur Empörung gehört, einen Schuldvorwurf zu enthalten, bietet die kontraktualistische Moral keine Basis für diese Emotion. Sie erklärt zwar eine spezifisch moralische Anti-Emotion sowohl des Opfers wie der nicht direkt Betroffenen, aber sie erlaubt es nicht, dem Übeltäter einen Schuldvorwurf zu machen. Das, was ich „Empörung" genannt habe, eine moralische Form des Zorns, ist demnach nur eine reduzierte Empörung, eine, wie man vielleicht sagen könnte, „Empörung ohne V o r w u r f " . Der Einwender könnte mir, sich schon halb abwendend, noch zurufen, ich solle doch, wenn ich mir und anderen nichts vormachen wolle, auf das Wort „Empörung" ganz verzichten. Damit sei, so glaubt er, die Diskussion zwischen uns beendet. Doch tatsächlich ist ein entscheidender Punkt noch zu besprechen. Sage mir, so frage ich jetzt den Einwender, was ist es deiner Meinung nach eigentlich, was den, wie du sagst, in der Empörung enthaltenen Schuldvorwurf rechtfertigt? Worauf gründet sich der Schuldvorwurf? Er gründet, so seine Antwort, nicht einfach darauf, daß jemand etwas Moralwidriges tut und dies
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will oder willentlich in Kauf nimmt. Dies kann nicht die ganze Wahrheit sein. Denn sonst böte auch die kontraktualistische Moral eine Basis für Schuld vorwürfe. Denn natürlich handelt, wer hier das moralische Recht eines anderen verletzt, moralwidrig, und natürlich tut er das, das wurde immer vorausgesetzt, willentlich. Da der Kontraktualismus aber, wie gerade gezeigt, nicht von Schuldvorwürfen sprechen kann, muß die Rede von Schuld noch mehr enthalten als Moralwidrigkeit plus Dafür-Können. Daß in der kontraktualistischen Moral M o ralwidrigkeit und Vorwerfbarkeit nicht zusammengehören, liegt, so der Einwender weiter, daran, wie hier Moralwidrigkeit verstanden ist. Daß etwas moralwidrig ist, daß man etwas nicht tun darf, heißt ja nur, daß man, wenn man es doch tut, moralische Sanktionen hinnehmen muß. Denkt man die Sanktionen weg, bleibt kein moralisches Müssen zurück, und entsprechend auch keine Moralwidrigkeit. Was den Schuldvorwurf hier nicht erlaubt, ist, daß, wer sich moralwidrig verhält, nicht etwas in sich Schlimmes, etwas objektiv Unmoralisches tut, sondern nur etwas, was allein dadurch, daß es moralisch sanktioniert wird, zu einem Unrecht wird. Wer hingegen etwas objektiv Unmoralisches und Verwerfliches tut, wer gegen eine vorgegebene moralische Ordnung, an die die Menschen gebunden sind, verstößt, der verfehlt, was er objektiv muß, und dies rechtfertigt den Schuldvorwurf. Eine Handlung berechtigt, so also die These des Einwenders, dann zu einem Schuldvorwurf, wenn sie gegen ein objektives moralisches Müssen verstößt und wenn, wer so handelt, dafür kann. Diese These entspricht genau unseren gewöhnlichen Moralvorstellungen, für die es charakteristisch ist, sich die Moral als ein objektiv vorgegebenes Normensystem vorzustellen. Eine der zentralen Ideen ist hier, daß eine Handlung, die objektiv moralwidrig ist, als solche zu einem Schuldvorwurf berechtigt.15 Z w e i Annahmen sind es also, die gemacht werden, er15 Ähnlich J. L. Mackie: Morality and the Retributive Emotions (1982), in: J. L. M.: Persons and Values (Oxford 1985) 206-219, 213 ff.
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stens, daß es objektive moralische Normen gibt, und zweitens, daß sich, wer willentlich gegen eine Norm dieser Art verstößt, schuldig macht und Schuldvorwürfe gegen ihn deshalb berechtigt sind. Den plausibilisierenden Hintergrund dieser objektivistischen Annahmen bilden häufig, bewußt oder unbewußt, religiöse Vorstellungen. Unsere M o r a l hat, wie gesagt, eine religiöse Vergangenheit, und die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer auch der moralischen Ordnung stützt die Intuition von der Moral als etwas objektiv Vorgegebenem. Und sie stützt auch die Intuition, daß eine moralwidrige Handlung als solche einen Schuldvorwurf rechtfertigt. Denn wenn Gott selbst der Urheber der moralischen Ordnung ist und mit seiner unvergleichlichen Autorität von den Menschen verlangt, den gegebenen Normen zu gehorchen, dann ist, dies nicht zu tun, eine essentielle Verfehlung, ein Sich-gegen-Gott-Stellen, durch das sich der Handelnde schuldig macht und anderen Grund gibt, sich mit Schuldvorwürfen und Empörung gegen ihn zu wenden. Ich habe oben darauf hingewiesen, daß die Empörung häufig etwas Selbstgewisses hat. Diese Seite der Empörung ließ sich auf dem Boden einer kontraktualistischen M o r a l durchaus erklären. Denn wer sich über ein Unrecht empört, empört sich, wie wir sahen, für andere mit, er empört sich als Vertreter der moralischen Gemeinschaft insgesamt. Blickt man auf die M o ral, wie sie ist, mit ihrem religiösen Hintergrund und ihrem Objektivismus, erklärt sich diese Seite der Empörung noch ganz anders, nicht aus dem Gefühl, die moralische Gemeinschaft auf seiner Seite zu haben, sondern die objektive moralische Ordnung, ja Gott selbst auf seiner Seite zu haben. 1 6 M a n fühlt sich letzten Endes mit Gott selbst gegen den Übeltäter verbündet. 1 6 Bollnow schreibt in seinem phänomenologischen Versuch über den Zorn, als dessen eigentliche Gestalt er die Empörung über ein erlittenes Unrecht begreift, zum Zorn gehöre „immer das Bewußtsein der Berechtigung und des Einklangs mit der objektiven sittlichen Ordnung", der Zorn sei „zum Ausbruch gekommene Empörung und hat von dieser her die Verwurzelung in dem Bewußtsein einer objektiv gültigen Wertordnung." Vgl. Einfache Sittlichkeit, 1 0 9 und 1 1 0 .
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Das gibt einem die absolute Gewißheit, auf der richtigen Seite zu stehen und dem Übeltäter mit allem Recht, das es auf dieser Welt gibt, entgegenzutreten. Wenn man überlegt, wie es zu der Vorstellung von der Objektivität der Normen und Werte gekommen ist und vor allem, was diese Vorstellung fortwährend stabilisiert, liegt neben vielem anderen ein Grund sicher in dem Bedürfnis, die Empörung über ein Unrecht in etwas Objektivem abgestützt zu wissen. Wenn ein Unrecht geschieht, will man, daß der Protest nicht nur im eigenen Unwillen und dem anderer seinen Grund hat, man will, daß er von einer objektiven Instanz getragen und legitimiert ist. Das macht die Empörung stärker, sie hat gewissermaßen die objektive moralische Ordnung im Rücken, oder sogar Gott, den Schöpfer dieser Ordnung. Wir sehen: Nur wenn eine Handlung objektiv unmoralisch ist und sie als solche zu einem Schuldvorwurf berechtigt, verstärkt sich die Empörung von einer Empörung ohne Vorwurf zu einer Empörung mit Vorwurf. Ich kann die Diskussion des Einwandes, eine kontraktualistische Moral biete keine Basis für die Emotion der Empörung, jetzt zusammenfassen. In zwei wesentlichen Punkten ist der Einwand berechtigt. Erstens enthält die Empörung, so wie wir sie herkömmlicherweise verstehen, einen Schuldvorwurf gegen den, der moralwidrig gehandelt hat. Und zweitens kann eine kontraktualistische Moral von ihren Prämissen aus einen Schuldvorwurf nicht erklären. Deshalb kann eine solche Moral von Empörung im bisher üblichen Sinne nicht sprechen. Sie muß das Wort entweder ganz fallen lassen oder es in einem revisionären Sinne gebrauchen und von einer „Empörung ohne Vorwurf" sprechen. Die Empörung in diesem Sinne ist der moralische Zorn, mit dem man auf eine als Rechtsverletzung gedeutete Schädigung reagiert. Hier handelt es sich, wie gezeigt, um ein spezifisch moralisches Gefühl. So daß es falsch wäre, zu glauben, eine kontraktualistische Moral kenne keine moralischen Gefühle. - Die Schwierigkeit des Einwenders liegt darin, daß, was er einklagt, ein voller Begriff der Empörung, nur Anwendung finden kann im Rahmen einer Moralkonzeption,
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die objektive Normen annimmt und zusätzlich glaubt, daß, wer willentlich gegen diese N o r m e n verstößt, sich schuldig macht. Beide A n n a h m e n haben indes in einer rationalen M o r a l konzeption keinen Platz. Es gibt, wie ich meine, keine Gründe, sie zu akzeptieren. Sie sind Teil einer metaphysischen und gegebenenfalls religiösen Vorstellungswelt, die der moralische Skeptiker zu Recht zurückweisen würde. Dies bedeutet, daß der Einwand ins Leere geht. Er hilft zwar zu verstehen, was „Emp ö r u n g " in einer kontraktualistischen Moral bedeutet, er erzwingt aber keine Korrektur. Denn seine Kritik an der „Empörung ohne Vorwurf" setzt einen objektivistischen Standpunkt voraus. Den einzunehmen, wäre aber, wie gesagt, unvernünftig. 2.3. Wer ein Unrecht tut, hat nicht nur mit negativen Fremdaffekten zu rechnen, sondern auch mit negativen Selbstaffekten. Von welcher Art sind sie? Zunächst ist nach dem Gesagten klar, daß zu ihnen keine Schuldgefühle gehören. Schuldgefühle setzen einen Schuldvorwurf gegen sich selbst voraus, sie sind auf Seiten der Handelnden das Korrelat zur Empörung mit Vorwurf auf Seiten des Betroffenen und der Dritten. Für diese Empörung gibt es aber, wie gesehen, in einer kontraktualistischen Moral keine rationale Basis. Wenn dies richtig ist, gibt es eine solche Basis auch nicht für Schuldgefühle. 17 Gilt dasselbe auch für das Gefühl der Scham? Oder hat, wer moralwidrig handelt, Grund, sich zu schämen? Scham ist ein Gefühl, das eine bestimmte Selbstkonzeption voraussetzt, eine Vorstellung davon, was für eine Person man sein muß, um sich 17 Sicherlich wird von Schuldgefühlen auch in anderen und in schwächeren Bedeutungen gesprochen. Auch hier zeigt sich - ich glaube, sogar in besonderem Maße - , wie wenig fixiert unsere sprachlichen Bezeichnungen für Gefühle sind. Die Rede von Schuldgefühlen ist besonders kompliziert, weil sie auf den Begriff der Schuld verweist und ein Verständnis dieses Begriffs voraussetzt. Meines Erachtens kann man ein Gefühl sinnvollerweise nur dann ein Schuldgefühl nennen, wenn zu ihm die Vorstellung gehört, etwas getan zu haben, was Schuldvorwürfe verdient, oder, anders gesagt, die Vorstellung, schuldig geworden zu sein.
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selbst gut finden zu können. Entspricht man diesem Standard nicht, reagiert man darauf mit dem Gefühl der Scham. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich von Beruf Koch bin und es zu meinem Selbstverständnis gehört, im Beruf gut zu sein, werde ich mich, wenn ich schlecht koche, schämen; ich habe in etwas, was für meine Selbstschätzung und Selbstachtung wichtig ist, versagt. Wenn ich hingegen zwar Koch bin, der Beruf mir aber ziemlich gleichgültig ist, ich mich mit ihm nicht identifiziere und die Tätigkeit nur instrumentell als Mittel zum Lebensunterhalt verstehe, werde ich mich, wenn ich schlecht bin, nicht schämen. Im Beruf gut zu sein, ist dann nicht wichtig für mein Mich-selbst-gut-Finden. Es ist nichts, durch das ich meine Identität definiere. Dieses Beispiel zeigt bereits, daß das, worüber sich der eine schämt, den anderen unberührt lassen kann. Ob man sich schämt, hängt davon ab, wie man sein will. Und darin unterscheiden sich die Menschen. - Man kann überlegen, ob es, wie hier vorausgesetzt, eine Scham nur vor sich selbst gibt oder ob die Vorstellung, von anderen gesehen zu werden, wesensmäßig zur Scham gehört. 18 Meines Erachtens gibt es eine solche Scham nur vor sich selbst. Ohnehin ist, auch wenn man sich vor anderen schämt, die Scham vor sich selbst immer mitenthalten. Denn man schämt sich vor anderen nur, wenn man ihre Sicht und ihre Standards für die Wertschätzung einer Person teilt. 19 Die Scham vor sich selbst scheint also das Kernelement des Schamgefühls zu sein. Gewiß schämt man sich in den meisten Fällen vor sich selbst und vor anderen. Wobei die anderen nicht unbedingt wirklich da sein und bemerken müssen, was man getan hat; es reicht, sie zu imaginieren und sich den Achtungsverlust vorzustellen, den man in ihren Augen erleiden würde, wenn sie es sähen. 20 Daß die beiden Aspekte der Scham - der eigene Blick und der Blick der anderen - in aller Regel zusammengehen, hat eine Reihe naheliegender Gründe. Die Standards 18 Vgl. hierzu G.Taylor: Pride, Shame, and Guilt (Oxford 1985) ch. 3. 19 So auch Taylor, 57. 2 0 Vgl. hierzu bes. B. Williams: Shame and Necessity (Berkeley 1993) 82 f.
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für die Schätzung einer Person sind eben häufig bei sich selbst und bei den anderen die gleichen oder zumindest ähnlich. Man entwickelt solche Standards ja gewöhnlich nicht isoliert und unabhängig von den anderen; vielmehr beeinflußt, wie sie einen sehen und beurteilen, die Art, wie man sich selbst sieht und beurteilt. Was könnte nun für ein Mitglied der moralischen Gemeinschaft, sagen wir für die Person B, Grund sein, sich zu schämen, wenn sie moralwidrig handelt? Zum einen, wenn sie dies unüberlegt tut und damit gegen das für sie Beste handelt? Zum anderen, wenn sie es überlegt tut, weil ihr dies in einer bestimmten Situation von größerem Vorteil ist als die Sanktionen von Nachteil sind? Im ersten Fall hat Β Grund, sich zu schämen, falls es zu ihrem Selbstverständnis gehört, eine durch und durch rationale Person zu sein. Wenn dies Teil ihrer Identität ist, wird sie, unüberlegt, aus spontanen Neigungen gehandelt zu haben, als Versagen empfinden und sich schämen. Β kann sich so verstehen, aber nichts zwingt sie dazu. Sie muß unüberlegtes Handeln nicht als Versagen empfinden. Sie kann es, weil es für sie von Nachteil ist, auch nur bedauern; und das ist dann alles. Es kann auch sein, daß sie sich prononciert als jemanden versteht, der „aus dem Bauch heraus" lebt, und gerade dies Grund für ihre Selbstschätzung ist. - In dem anderen Fall des überlegten moralwidrigen Handelns ist für eine solche Scham kein Platz. In diesem Fall hat sich Β rational verhalten; folglich hat sie, selbst wenn, rational zu sein, Teil ihrer Identität ist, keinen Grund, sich zu schämen. Natürlich ist die jetzt erwähnte Scham keine moralische Scham. Denn was Β an der moralwidrigen Handlung gegebenenfalls negativ berührt, ist nichts anderes als ihre Irrationalität. Die Scham wäre hingegen moralisch, wenn Β sich an einer moralwidrigen Handlung störte, weil es zu ihrem Selbstverständnis gehört, eine moralische Person zu sein. Kann es von den Prämissen des Kontraktualismus aus zu einem solchen Selbstverständnis kommen? Durchaus. Β hat, weil es für sie vernünftig ist, an dem Projekt der Moral teil und trägt es mit
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den anderen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft. Es ist für sie wie für die anderen nicht irgendein Projekt, sondern eins, das für die eigene Lebensführung von besonderer Bedeutung ist. Das macht es wahrscheinlich, daß die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft für B, je länger sie Mitglied ist, zu einem Teil ihrer Identität wird, daß sie sich also wesentlich als jemanden versteht, der das Projekt der Moral so gut wie möglich stützt und vor allem nichts tut, was ihm schadet. Β könnte sich, wenn sie sich so versteht, nicht gut finden, wenn sie moralwidrig handelte. Sie würde das als Versagen empfinden und sich schämen. Diese Identifikation führt dazu, daß sich die Beweggründe zum moralischen Handeln grundlegend verändern. Wer sich nicht in dieser Weise mit dem Projekt der Moral identifiziert, handelt moralisch, weil er sonst die moralischen Sanktionen hinnehmen müßte. Β handelt hingegen aus sich heraus moralisch, sie wird durch ihr Selbstverständnis, unabhängig von allen Sanktionen, davon abgehalten, moralwidrig zu handeln. Das moralische Handeln muß hier nicht erst künstlich durch Sanktionen in den Zielbereich der Präferenzen manövriert werden; es ist ganz ohne Sanktionen Gegenstand der Präferenzen, weil, moralisch und damit projektfördernd zu handeln, Bs Selbstverständnis entspricht. Β streift, indem sie sich mit dem Projekt der Moral identifiziert, ein bloß instrumentelles Verhältnis zur Moral ab. Ihr Verhältnis zur Moral ist nicht (mehr) äußerlich, sondern ein „inneres". Β versteht sich auf diese Weise als moralische Person. Was das bedeutet, tritt noch schärfer hervor, wenn Β in eine Situation kommt, in der die Vorteile, die eine moralwidrige Handlung verspricht, größer sind als die Nachteile, die die Sanktionen bedeuten. Das System der Moral, so wie es als Sanktionensystem organisiert ist, versagt hier. Denn es macht die Handlung, die durch die Sanktionen irrational gemacht werden soll, nicht irrational. Welche Handlung wird Β in dieser Situation wählen, die moralwidrige oder die moralkonforme? Vermutlich die moralkonforme. Β wird sagen - zumindest ist das eine Möglichkeit - , das System der Moral, wie es ist, scheitere hier zwar, aber es
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wäre besser, wenn es nicht scheiterte. Jeder einzelne hätte Grund, sich eine Moral zu wünschen, die leistungsstärker ist und auch in einer Situation wie dieser ihr Ziel erreicht. Deshalb identifiziere ich mich, so B, nicht einfach mit dem Projekt, wie es ist, sondern wie es am besten wäre, und darum wäre es für mich ein Versagen, in dieser Situation moralwidrig zu handeln. Ich würde mich schämen, weil es an der Intention des moralischen Projekts vorbeiginge. - Würde sich B, wenn sie also auch in dieser Situation moralisch handelte, irrational verhalten? Keineswegs. M a n könnte zunächst meinen, sie handele doch gegen den größeren Vorteil der moralwidrigen Handlung und damit gegen ihre Interessen, und deshalb sei ihre Handlung unvernünftig. M a n muß aber berücksichtigen, daß die Selbstachtung selbst ein hochgeschätztes Gut, d.h. Gegenstand einer starken Präferenz ist. Diese Präferenz muß mit auf die Waagschale, wenn die Vor- und Nachteile gewogen werden, die die moralwidrige Handlung und die Sanktionen mit sich bringen. Und wenn das Interesse an Selbstachtung die Schale nach unten drückt, die, ließe man dieses Interesse unberücksichtigt, nach oben ginge, denn verhält sich B, indem sie moralisch handelt, rational. M a n kann sie hier nicht kritisieren. Denn man kann nicht kritisieren, daß sie den Wert der Selbstachtung hoch ansetzt, und man kann auch nicht kritisieren, daß sie die Selbstachtung daran bindet, ein gutes Mitglied der moralischen Gemeinschaft zu sein. - Es zeigt sich also, daß es von einer kontraktualistischen Basis aus durchaus möglich ist, die Moral in das, was die eigene Person ausmacht, zu integrieren und ein moralisches Selbstverständnis auszubilden. Eine kontraktualistisch fundierte Moral ist für diesen Schritt offen. M a n m u ß hier freilich festhalten, daß man sich zwar so verstehen kann, daß einen aber nichts dazu zwingt. Das heißt, es ist rational möglich, aber nicht rational zwingend, ein moralisches Selbstverständnis auszubilden. Es ist durchaus möglich, das, was die eigene Identität ausmacht, in etwas anderem zu finden als darin, ein zentrales soziales Projekt zu fördern. Es ist also möglich, es bei einem instrumenteilen Verhältnis zur Moral zu belassen. M a n stelle sich, Aristoteles' Konzeption
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eines glücklichen Menschen assoziierend, eine Person vor, die ein theoretisches Leben führt und sich sehr stark als denkender Einzelner versteht, aber nur sehr schwach als soziales und politisches Wesen. Natürlich ist es auch für sie, weil sie wie alle auf die Rücksichtnahme der anderen angewiesen ist, vernünftig, Mitglied der moralischen Rechts- und Forderungsgemeinschaft zu sein. Sie achtet die Rechte der anderen und hat selbst das Recht, von den anderen ein bestimmtes Verhalten zu fordern. Aber sie definiert sich nicht durch dieses soziale Arrangement. Würde dieser Mensch moralwidrig handeln, würde er folglich nicht in einem Feld versagen, das für sein Selbstverständnis zentral ist. Und deshalb würde er auch keine Scham empfinden. Er hätte anders gehandelt als „gemußt"; das bringt bestimmte negative Konsequenzen mit sich, zu denen bei ihm aber nicht der negative Selbstaffekt der Scham gehört. Man denke auch daran, daß Piaton in der Politeia die Brüder Glaukon und Adeimantos sagen läßt, die Masse der Leute handele moralisch, weil damit Ansehen und andere äußere Güter verbunden seien und, unmoralisch zu handeln, viele Nachteile im sozialen Leben mit sich bringe. Die meisten haben also, so Piatons Diagnose, ein deutlich instrumentelles Verhältnis zur Moral. 21 - Man kann darüber spekulieren, wie wahrscheinlich solche Existenzformen wie die des Theoretikers sind und wie plausibel Piatons Beurteilung seiner Zeitgenossen ist. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist der, daß man den, der so leben würde, nicht rational kritisieren könnte. Es ist rational möglich, so zu leben, genauso wie es rational möglich ist, sich moralisch zu verstehen. Man kann auch darüber spekulieren, ob sich die instrumentell-äußerliche Haltung zur Moral nicht aufgrund bestimmter psychischer Gesetzmäßigkeiten mehr oder weniger von selbst zu einer „inneren" Haltung hin entwickelt. Es ist vielfach beschrieben worden, wie bei Dingen, die man ursprünglich nur um eines Zweckes
21 Vgl. Piaton, Politeia, Buch II.
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willen gewählt hat, häufig nach und nach dieser Zweck-Bezug immer mehr aus dem Blick gerät; man weiß schließlich einfach, daß man Dinge dieser Art wählt, und tut es gewohnheitsmäßig, so als seien sie in sich wertvoll. 22 Auf einen anderen Aspekt macht das Koch-Beispiel aufmerksam. Hier macht es allein die Zeit, die man in seinem Beruf verbringt, wahrscheinlich, daß die berufliche Leistung Bedeutung für die Selbstachtung gewinnt. Es ist schwer, sich zu einer Tätigkeit, die einen großen Teil des Lebens einnimmt, innerlich so distanziert zu verhalten, daß, wie man sie macht, keine große Bedeutung für die Selbstachtung und den Respekt vor sich selbst hat. Und das Sich-zuanderen-Verhalten nimmt gewöhnlich einen großen Teil des Lebens ein. Will man die Genese unseres moralischen Bewußtseins aufhellen, ist es nötig, sich ein detailliertes Bild von der Wirkungsweise dieser und anderer psychischer Prozesse zu machen. Doch im jetzigen Kontext ist allein wichtig, daß uns nichts zu einem bestimmten Selbstverständnis determiniert. Wir können uns als moralische Personen verstehen, und es gibt, selbst wenn wir die Wirkungen moralischer Erziehung ausklammern, gewiß in unserem Rücken eine Reihe von Vorgängen, die eine „innere" Haltung zur Moral begünstigen. Aber wir können uns auch anders verstehen. Wir haben hier einen Spielraum. Und es ist häufig gerade ein wesentliches Ingredienz der Selbstschätzung, selbst zu bestimmen, was die Eigenschaften und Leistungen sind, aufgrund deren man sich gut findet. Es wäre meines Erachtens ein Irrglaube, anzunehmen, dies sei auf irgendeine Weise vorgegeben, es stehe einfach fest. Tatsächlich hängt, was hier die Kriterien des Gutseins sind, davon ab, was für eine Person man sein will. Und hier stehen uns verschiedene Möglichkeiten offen. Das ist der Grund, warum wir darüber nachdenken, was uns im Leben wirklich wichtig ist und wie wir letzten Endes sein wollen.
2 2 Vgl. z.B. J . C. Harsanyi: Utilities, Preferences (Helsinki 1992) 18 f.
and Substantive
Goods
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Wer es bei einem instrumentellen Verhältnis zur Moral beläßt und sich in diesem Sinne nicht zu einer moralischen Person macht, kennt - das ist nach dem Gesagten klar - keine moralischen Schamgefühle. Er wird deshalb in der besonderen Situation, in der es für ihn trotz der Sanktionen von Vorteil ist, moralwidrig zu handeln, eben dies tun. Oder sagen wir vorsichtiger: ihn halten zumindest nicht ein moralisches Selbstverständnis und nicht Angst vor drohender Scham davon ab. Ob es vielleicht andere Gründe für ihn gibt, in dieser Situation doch moralisch zu handeln, werde ich in § 6 untersuchen. Wer moralwidrig handelt, hat - gleichgültig, ob er moralische Schamgefühle kennt oder nicht - noch mit anderen negativen Selbstaffekten zu rechnen. Zunächst: Wenn, unmoralisch zu handeln, wegen der Sanktionen irrational war, der Übeltäter sich mit dem Unrecht also ins eigene Fleisch geschnitten hat, wird er sich vermutlich über seine Unbedachtheit ärgern; in schwerwiegenden Fällen wird er auf sich wütend sein und sich zürnen. Dann: Wer ein Unrecht tut, steht dem Zorn nicht nur des Betroffenen, sondern auch der anderen gegenüber. Er steht vor einer Wand aus Abwehr und latenter Aggressivität. Das ist ihm unangenehm und löst ein Gefühl des Unbehagens aus. Da, wer erwägt, ein Unrecht zu tun, die Anti-Emotionen der anderen antizipieren kann, wird die ins Auge gefaßte unmoralische Handlung schon, bevor sie tatsächlich realisiert ist und tatsächlich den Zorn der anderen hervorruft, mit einem Gefühl des Unbehagens assoziiert sein. Schon die Absicht, das Unrecht zu tun, löst also unangenehme Negativ-Empfindungen aus. Wie intensiv sie sind, hängt davon ab, wie stark der Übeltäter von dem Zorn der anderen berührt ist. Wenn es ihm wenigstens halbwegs gelingt, die Haltung des „Was gehen mich die (gegen mich gerichteten) Gefühle der anderen an?" nicht nur im Mund zu führen, sondern tatsächlich zu leben, wird das Gefühl des Unbehagens relativ schwach sein. Wenn er den Zorn hingegen als etwas empfindet, was einen Graben zwischen ihm und den anderen aufreißt, und er darunter leidet, wird das Unbehagen erheblich intensiver sein; er wird sich, wenn er ein Unrecht tut
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oder es auch nur beabsichtigt, unwohl fühlen und einen starken inneren Widerstand dagegen empfinden. 2 3 2.4. Wir haben jetzt einen Überblick über die wichtigsten Fremd- und Selbstaffekte, mit denen zu rechnen hat, wer ein Unrecht tut. Diese Affekte sind, wie gesagt, keine Sanktionen, aber doch negative Konsequenzen des Unrecht-Tuns. Sie haben deshalb, genau wie die Sanktionen, die Wirkung, von bestimmten Handlungen abzuschrecken. Sie konstituieren ein Müssen: Wer diese für ihn negativen Affekte vermeiden will, muß bestimmte Dinge tun und kann bestimmte andere nicht tun. Dieses Müssen kommt dem sanktionskonstituierten moralischen Müssen zu Hilfe. Richtiger ist es, es umgekehrt zu sagen: Das moralische Müssen kommt dem durch die Affekte entstehenden Müssen zu Hilfe und verstärkt es. - Auch hier sei darauf hingewiesen, daß die Grenze zwischen spontanen Affekten und absichtlichen Sanktionen nicht scharf ist. Der Übergang ist fließend, eine genaue Grenzziehung nicht möglich. Wir können einen Affekt zwar nicht ad hoc willentlich an- oder abschalten, 23 Vielleicht wird hier mancher den Eindruck haben, das beschriebene Gefühl des Unbehagens sei doch genau das, was man gewöhnlich als Schamgefühl - oder vielleicht sogar als Schuldgefühl - bezeichne. Tatsächlich wird in diesem Sinn von Schamgefühl gesprochen, - und wohl auch von Schuldgefühl. Häufig werden Scham- und Schuldgefühle ja nicht groß unterschieden. Lassen wir offen, ob dies wirklich die gewöhnliche Bedeutung dieser Wörter ist oder ob sie, auf diese Bedeutung beschränkt, nicht doch wesentliche Elemente ihrer gewöhnlichen Bedeutung eingebüßt haben. Es dürfte, so hoffe ich, in jedem Fall offensichtlich sein, daß die Wörter, in dieser Weise verwandt, anders und wesentlich unspezifischer gebraucht werden, als ich sie verwende. Das beschriebene Gefühl des Unbehagens setzt nicht ein moralisches Selbstverständnis voraus, wie es für das moralische Schamgefühl, wie ich es erläutert habe, charakteristisch ist. Und es setzt auch nicht die Vorstellung voraus, daß die moralwidrige Handlung, die man getan oder ins Auge gefaßt hat, etwas ist, was Schuldvorwürfe verdient. Das beschriebene Unbehagen resultiert aus der tatsächlichen oder antizipierten ablehnenden Reaktion der anderen und ist von der eigenen Einschätzung und Beurteilung der moralwidrigen Handlung unabhängig. - Vgl. hierzu auch § 6, S. 173 f.
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aber wir haben zweifellos einen gewissen Einfluß darauf, in welchem M a ß e wir affektiv reagieren. Außerdem haben wir indirekte Einflußmöglichkeiten auf unsere Affektivität, weil wir unsere Dispositionen zu Affekten langfristig verändern können. Wir können affektive Dispositionen kultivieren und abzubauen versuchen. Aristoteles hat, dies voraussetzend, in seinen Ethiken gelehrt, man müsse Dispositionen ausbilden, in deren Folge die Affekte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig die richtige Mitte, d.h. das dem Anlaß angemessene M a ß treffen. Die negativen Affekte sind, wie sich zeigt, für die Moral sehr nützlich. Ihr „Sinn" scheint zu sein, andere von bestimmten Handlungen abzuhalten. Das heißt, die Affekte wirken, als seien sie auch da, wo sie unserem Einfluß entzogen sind, das Ergebnis von Überlegung und absichtsvoller Einrichtung. Mackie erklärt diese scheinbare Zweckgerichtetheit der Affekte auf plausible Weise durch die biologische Evolution: Es ist nützlich, diese Affekte zu haben, und weil es nützlich ist, ist es so gekommen, daß wir sie haben. Diese Affekte sind, so Mackie, das Ergebnis davon, daß „der Mechanismus der natürlichen Selektion kalkuliertes, absichtsvolles Handeln imitiert". 2 4 3.1. Nun endlich zu den moralischen Sanktionen, dem Verhalten und den Handlungen, die das moralische Müssen konstituieren und die bewußt, in präventiver Absicht, angedroht und verhängt werden. Die moralischen Sanktionen bestehen, so kann man sie zusammenfassen, in sozialer Ausgrenzung. Die Antwort auf die Frage: „Und was passiert, wenn ich anders als moralisch ,gemußt' handele?" lautet also: „Dann mußt du eine soziale Ausgrenzung hinnehmen, nicht nur durch den, dem du Unrecht getan hast, sondern durch alle, die davon erfahren und dadurch, daß sie Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sind, mitbetroffen sind." Es ist wichtig, auch im Feld der Handlungen den Unterschied zwischen Sanktionen und bloß negativen Kon-
24 Mackie, Morality and the Retributive Emotions, 216, 218 f.
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Sequenzen zu sehen und zu fixieren: Nicht jede Handlung, mit der man auf ein Unrecht reagiert und die faktisch ausgrenzende Wirkung hat, wird in sanktionierender Absicht getan. Wer moralwidrig handelt, ist für die anderen ein Unsicherheitsfaktor, und es ist klar, daß man versucht, möglichst wenig mit ihm zu tun zu haben. Man geht ihm aus dem Weg, ist mißtrauisch und argwöhnisch, verhält sich vorsichtig und abwehrbereit. Und dies zunächst, um sich zu schützen, und nicht in der Absicht, den anderen zu beeindrucken und vom Unrecht-Tun abzuhalten. Natürlich kann diese Absicht hinzukommen, und tatsächlich tut sich hier ein Kontinuum von Motivationslagen auf: mal spielt die sanktionierende Absicht gar keine Rolle, mal ist sie ein stärkerer oder schwächerer Faktor, mal der alleinige Faktor. Diese Überlegung zeigt, daß der, der Unrecht tut, schon vor jeder Sanktionierung nicht nur mit negativen Affekten, sondern auch mit ausgrenzendem Verhalten der anderen zu rechnen hat. Selbst im Naturzustand, noch vor aller Moral und noch vor der Möglichkeit, überhaupt von „Unrecht" zu sprechen, würde man also auf den, der andere schädigt, mit (nicht-moralischem) Zorn und sozial isolierendem Verhalten reagieren. Das große und differenzierte Spektrum sanktionierender Ausgrenzung beginnt vielleicht damit, dem Übeltäter seinen Zorn zu zeigen, ihn die darin liegende Aggressivität und Bereitschaft zurückzuschlagen spüren zu lassen. Man zeigt ihm, daß seine Handlung starken Unwillen auslöst, und er kann sich ausrechnen, daß das für ihn keine guten Folgen haben wird. Man wendet sich voller Empörung gegen ihn und hält ihm vor, mit seiner Handlung ein moralisches Recht verletzt und gegen das gehandelt zu haben, was von ihm moralisch gefordert ist. Zum anderen macht man andere auf das Geschehene aufmerksam. Es ist ein wichtiger Schritt zu einer wirksamen Sanktionierung, weiterzusagen, was passiert ist. Man spricht mit anderen über das Unrecht, und man spricht, vor allem wenn jemand wiederholt Unrecht tut, auch darüber, was für eine Person der Übeltäter ist. Es ist naheliegend, daß wir andere Personen vor allem nach ihrem sozialen, also uns zugewandten Verhalten
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beurteilen. Wer wiederholt Unrecht tut, wird folglich als schlechter Mensch gesehen, man spricht in dieser Weise über ihn, er hat einen üblen Ruf. Und dies ist für sein Fortkommen in der Welt und sein Lebensglück insgesamt aller Wahrscheinlichkeit nach schädlich. Man wird ihm bestimmte „normale" Umgangsformen verweigern, wird ihm nicht die normale Freundlichkeit, die normalen Formen des Entgegenkommens, die Offenheit für seine Anliegen und N ö t e entgegenbringen. Man schätzt seine Gesellschaft nicht. M a n möchte nicht gerne mit ihm zusammenarbeiten, möchte nicht gerne Geschäfte mit ihm machen. Seine Chancen zu Freundschaft und Partnerschaft sind reduziert. Die stärkste Form der sozialen Ausgrenzung ist der Hinauswurf aus der moralischen Gemeinschaft.25 Man macht den anderen zu einem Outlaw, indem man seine eigenen Verpflichtungen gegen ihn aufkündigt und indem dies nicht nur der Geschädigte tut, sondern auch alle anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, soweit sie wissen, was passiert ist. Man stößt den Übeltäter damit in den vormoralischen Zustand völliger Rechtlosigkeit zurück. Er hat keine moralischen Rechte und Ansprüche mehr. Diese maximale Sanktion ist freilich zwiespältig, sie hat einen offenkundigen Nachteil. Denn die Lösung aller rechtlichen Bande bringt nicht nur den Übeltäter in einen rechtlosen Zustand, sie versetzt auch die andere Seite partiell, nämlich dem Übeltäter gegenüber, zurück in ein rechtliches Vakuum. Ein Outlaw hat nicht nur keine Rechte, er hat auch keine Pflichten. Das heißt, man kann von ihm kein moralisches Verhalten fordern. Man ist ihm gegenüber ohne Rechte. Das Verhältnis ist also wieder von der Art, daß man sich auf eine primitive Art voreinander schützen muß, weil die kultiviertere Art, sich durch ein System rechtlicher Beziehungen zu schützen, nicht funktioniert hat. Klarerweise ist der Erfolg des moralischen Projekts davon abhängig, daß es möglichst wenige
25 Vgl. hierzu die interessanten historischen Ausführungen von R. Zippelius: Ausschluß und Meidung
als rechtliche
und gesellschaftliche
Juristische Schulung 25 (1985) 755-757.
Sanktionen.
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Outlaws gibt. Denn wo ein Outlaw, dort kein Wechselspiel von moralischen Rechten und Pflichten. Jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft hat deshalb das Interesse, möglichst alle in die Gemeinschaft hineinzuziehen. Dies steht dem Interesse an der Verhängung der maximalen Sanktion entgegen. Und deshalb wird man in der Regel versuchen, den Übeltäter durch Sanktionen zu treffen, die ihn zwar nachhaltig beeindrucken, ihm aber seinen Status als Mitglied der moralischen Gemeinschaft nicht nehmen. 3.2. Wir hatten gesehen, daß ein juridisches Recht einen Anspruch an die Rechtsgemeinschaft impliziert, im Falle einer Rechtsverletzung gegen den Rechtsbrecher tätig zu werden und gegen ihn die vorgesehenen juridischen Sanktionen zu verhängen. Und es war die Frage, ob es bei moralischen Rechten hierzu eine Entsprechung gibt. Wir können diesen Punkt jetzt klären. Tatsächlich gibt es eine solche Entsprechung. Wie bereits gesehen, steht, wer moralwidrig handelt, nicht nur dem Opfer gegenüber, sondern auch den anderen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft, da sie in bestimmter Weise mitbetroffen sind. Wer Unrecht tut, hat es also immer auch mit der moralischen Gemeinschaft zu tun.26 In diesem Umstand liegt jedoch noch kein Anspruch des Opfers auf gegen den Übeltäter gerichtete Handlungen der anderen. Aber es hat einen solchen Anspruch, zumindest in einem konsequent entwickelten System der Moral. Das zeigt folgende Überlegung: Da die moralische Sanktion erst das moralische Müssen konstituiert, unterminiert, wer im Falle einer moralwidrigen Handlung nicht sanktioniert, das moralische „Muß" und damit das moralische System überhaupt. Wer nicht sanktioniert, handelt wie der, der Unrecht tut, wider die moralische Ordnung, wenn auch auf andere Weise. Deshalb ist es vernünftig, bei der Etablierung des Moralischen das Sanktionieren selbst zu etwas zu machen, was
2 6 Vgl. oben S. 1 3 3 .
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man tun muß, was zu tun man verpflichtet ist. Das heißt, man muß das Nicht-Sanktionieren selbst sanktionieren. Neben die, wie es Kelsen formuliert, „primäre N o r m " : „ M a n darf X nicht t u n " tritt die „sekundäre N o r m " : „ M a n muß das Tun von X moralisch sanktionieren." 2 7 Tatsächlich entspricht dem unsere übliche moralische Praxis. Wer es unterläßt, auf ein Unrecht sanktionierend zu reagieren, und mit dem Übeltäter so umgeht, als sei nichts geschehen, zieht selbst moralische Mißbilligung auf sich. Wir empören uns über seine Gleichgültigkeit und sein Disengagement. 28 Er hat etwas unterlassen, was er als Mitglied der moralischen Gemeinschaft hätte tun müssen. Als Mitglieder der Gemeinschaft können wir mithin voneinander fordern, ein Unrecht moralisch zu sanktionieren. Und damit hat das Opfer gegenüber den anderen einen Anspruch auf Solidarität in der Reaktion auf das ihm angetane Unrecht. 3 . 3 . Bevor ich zu der Frage komme, wie die Kraft der moralischen Sanktionen und damit die des moralischen Müssens einzuschätzen ist, ist noch auf zwei Möglichkeiten, das moralische „ M u ß " zu verstärken, einzugehen. Die erste Möglichkeit besteht darin, nicht nur moralwidriges Handeln mit Nachteilen zu verknüpfen, sondern zusätzlich auch moralkonformes Handeln mit Vorteilen. Neben die negativen Sanktionen würden auf diese Weise positive Sanktionen treten. Wobei eine positive Sanktion nicht darin besteht, daß eine negative Sanktion nicht fällig wird. Dann wäre sie keine Verstärkung. M a n muß indes sehen, daß für eine solche positive Verstärkung und Ergänzung der Sanktionen in einer Konzeption der M o r a l , in der das moralische Handeln dadurch definiert ist, gefordert zu sein, eigentlich kein Platz ist. Wenn, wer moralisch handelt, etwas tut, was von ihm gefordert ist, was er also tun muß, dann ist
2 7 Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 108 f.; auch Reine Rechtslehre, 28 f. 28 Vgl. hierzu auch U. Pothast: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise (Frankfurt 1980) 357 f.
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das kein Grund für Dankbarkeit oder einen anderen positiven Affekt und auch kein Grund für Lob, besondere Hochschätzung oder Auszeichnung. Die kontraktualistische Konzeption der Moral versteht das moralische Handeln als gefordertes, und dies teilt sie mit der jüdisch-christlich geprägten moralischen Tradition, in der wir stehen. Dankbarkeit, Lob, Hochschätzung verdient ein Verhalten zugunsten anderer demnach eigentlich erst, wenn es über das moralisch Geforderte hinausgeht und mehr tut. Und dennoch: Es scheint so zu sein, daß, wer sich dauerhaft moralisch verhält, damit rechnen kann, hierdurch seine sozialen Chancen zu verbessern, vielleicht wenig auffällig, aber doch spürbar und in einem Maße, das über das hinausgeht, was durch das Vermeiden der negativen Sanktionen erreicht wird. Die zweite Möglichkeit, die moralischen Sanktionen zu verstärken, ist die juridische Verstärkung. Sie drängt sich, trotz des mit ihr verbundenen erheblichen Aufwandes, auf, wenn sich die moralischen Sanktionen als unzureichend erweisen. Sie können sich in bestimmten Situationen als zu schwach herausstellen. Außerdem greifen sie nur richtig in kleinen Gemeinschaften, in face-to-face societies, in denen man immer wieder miteinander zu tun hat. Ferner kann es schwierig sein, überhaupt unbestritten festzustellen, daß eine moralwidrige Handlung vorliegt. Diese und andere Schwierigkeiten legen es den Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft nahe, eine Instanz einzusetzen und sie zu ermächtigen, bei schwerwiegenderen moralwidrigen Handlungen das Vorliegen einer solchen Handlung autoritativ festzustellen und sie „ex officio" zu sanktionieren, nötigenfalls unter Anwendung physischer Gewalt. Dieses Charakteristikum juridischer Sanktionen eröffnet eine Palette neuer und weitergehender Sanktionsmöglichkeiten, so die Entziehung wirtschaftlicher Güter, die Entziehung der Freiheit und gegebenenfalls des Lebens. Historisch ist ein solcher Prozeß der Verrechtlichung der zunächst nur informellen Regeln des sozialen Lebens überall zu beobachten. Die moralische Ordnung wird so, zumindest zum Teil, durch eine juridische Ordnung überwölbt, und dem,
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der Unrecht tut, drohen nicht nur die Sanktionen der sozialen Ausgrenzung, sondern auch die sehr handfesten juridischen Sanktionen. 3.4. Wie wirksam sind nun die moralischen Sanktionen? Wieviel Kraft geben sie dem moralischen Müssen? Wie schwer oder leicht ist es, mit anderen Worten, trotz der Sanktionen anders als „gemußt" zu handeln? Hinter diesen Fragen mag Skepsis stehen, die Skepsis, ob es einer sanktionstheoretischen Konzeption des moralischen Müssens überhaupt gelingt, dem „ M u ß " ausreichende Kraft zu geben. Doch dem ist gleich entgegenzuhalten, daß es neben den Sanktionen nichts gibt, was dem moralischen Müssen Kraft verleiht. Es gibt, den Sanktionen vorausgehend, die spontanen negativen Konsequenzen, die freilich, wie gesehen, kein verpflichtendes und deshalb auch kein moralisches Müssen konstituieren. Hinter dem moralischen Müssen steht nichts anderes als die Sanktionen, keine objektive moralische Ordnung, keine transzendente Macht und auch keine zu kategorischen Imperativen fähige Vernunft. Das heißt: Wenn die Sanktionen kraftlos sind, dann ist das moralische Müssen kraftlos. Das ist eine unvermeidliche Konsequenz. Es wäre deshalb unsinnig zu sagen, da die Wirksamkeit nicht ausreichend sei, müsse diese Konzeption des moralischen Müssens falsch sein, es müsse noch etwas anderes geben, was dem Müssen hinreichende nötigende Kraft verleiht. Dies bedeutete, das Denken und Erkennen durchs Wünschen zu ersetzen und die Welt, wie sie ist, durch eine Welt, wie man sie gerne hätte. - Die Kraft der Sanktionen allgemein einzuschätzen, ist nicht leicht. Die Einschätzung verändert sich mit den verschiedenen Situationen, auf die der Blick fällt. Außerdem ist klar, daß die Kraft des Müssens in Korrelation zu der Schwere des moralischen Vergehens steht. Wer jemanden belügt, hat mit weniger schweren Sanktionen zu rechnen als der, der einen anderen totschlägt. Das Müssen hat also im einen Fall nicht dieselbe Kraft wie im anderen. Alles zusammengenommen drängt sich ein EinerseitsAndererseits auf.
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Einerseits haben die moralischen Sanktionen zweifellos erhebliche Kraft. Wenn man die verstärkenden negativen Fremdund Selbstaffekte und andere spontane negative Konsequenzen hinzunimmt, kommt selbst bei Beiseitelassung der juridischen Sanktionen ein ganzes Bündel von Anti-Reaktionen zusammen, die für den, der Unrecht tut, von Nachteil sind. Er gerät, mehr oder weniger, in eine Art „sozialer Quarantäne". 29 Bei krassem moralwidrigem Verhalten - einer besonders schlimmen Tat oder kontinuierlichem Unrecht-Tun - ist der Übeltäter früher oder später „sozial erledigt". Das ist eine sehr harte Sanktion. Und niemand will das. Der Preis ist einfach zu hoch. Jeder, der überlegt und sich der Folgen wirklich bewußt ist, sieht das. Die Härte der Sanktion wird freilich bisweilen nicht wahrgenommen, weil die moralische Sanktion, anders als die juridische, die Tendenz hat, sich in viele verschiedenartige Reaktionen verschiedener Personen zu zersplittern, und außerdem zum Teil darin besteht, daß gar nichts Sichtbares passiert, dann nämlich, wenn Handlungen, die normalerweise getan würden, unterbleiben. Wenn zu dieser Zersplitterung der Sanktion hinzukommt, daß die sanktionierenden Handlungen in ihrer sanktionierenden Absicht unausdrücklich bleiben, wenn also stumm und lautlos sanktioniert wird, besteht die Gefahr, daß auch der, der sanktioniert wird, die Sanktionierung gar nicht als solche wahrnimmt. Er würde in diesem Fall den Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und dem Verhalten der anderen nicht realisieren. Er würde feststellen, daß sein Leben nicht so gelingt wie gedacht, die Ursachen aber in der Verschlossenheit und mangelnden Hilfsbereitschaft der Menschen finden, darin, daß er immer nur die falschen Freunde hat, in fehlendem Glück und ungünstigen Umständen. Die Sanktionierung hätte in diesem Fall zwar eine Wirkung: der Übeltäter hätte in seinem sozialen Leben reduzierte Möglichkeiten, aber ihren eigentlichen Sinn, durch die Androhung und Verhängung eines Übels verhaltens-
2 9 Der Ausdruck stammt von Pothast, Unzulänglichkeit,
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steuernd und verhaltensverändernd zu wirken, hätte sie verfehlt. Sie würde Übel zufügen, ohne damit etwas Positives zu erreichen. Und damit wäre sie gescheitert. Die Schlußfolgerung hieraus ist, daß die moralische Sanktionierung möglichst ausdrücklich sein sollte. Wer sanktioniert, sollte möglichst erkennen lassen, daß er etwas tut, weil und nur weil etwas anderes geschehen ist. Das „Andererseits" nimmt von dem, was gesagt wurde, nichts zurück. Es bleibt dabei, daß die moralischen Sanktionen erhebliche nötigende Kraft haben. Aber sie haben sie naturgemäß nur dort, wo sie hinreichen. Und sie reichen nicht überall hin. Das ist ein Faktum, das sich nicht wegwischen läßt. Die moralischen Sanktionen sind, wie bereits erwähnt, nur lokal wirksam, eben nur dort, wo das Unrecht bekannt wird. Die, die nicht davon erfahren, haben keinen Anlaß, eine soziale Ausgrenzung zu praktizieren. Dies gilt übrigens auch für die maximale Sanktion des Hinauswurfs aus der moralischen Gemeinschaft. Wer hinausgeworfen wird, wird immer nur von einigen hinausgeworfen; andere, andernorts, betrachten und behandeln ihn weiter als moralisches Subjekt mit Rechten und Ansprüchen. Aus diesem Grund wirkt die Sanktion der sozialen Ausgrenzung in kleinen Gemeinschaften, die man ein ganzes Leben lang nicht verläßt und in denen fast jeder jeden kennt, wesentlich stärker als in Lebensformen, die durch Anonymität und Mobilität bestimmt sind. Hier sind die Bedingungen für moralwidriges Handeln deutlich günstiger. Ein - begrenztes Gegenmittel ist das Weitersagen dessen, was geschehen ist. Je mehr von dem Unrecht erfahren, um so stärker wird die Sanktion sein. Ein anderes, auch begrenztes Gegenmittel ist in schwereren Fällen die Verstärkung, genauer muß man jetzt sagen: die Ersetzung der moralischen durch juridische Sanktionen. Der juridische Arm reicht häufig weiter als der moralische, er reicht wenigstens bis an die Grenze des Staates, meistens weit darüber hinaus. Die moralischen Sanktionen greifen auch nicht, wenn bei einem Unrecht unentdeckt bleibt, wer es getan hat, oder wenn
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gar unentdeckt bleibt, daß überhaupt ein Unrecht geschehen ist. Eine Lüge wird oft gar nicht entdeckt. Und bei manchem Autounfall bleibt unentdeckt, daß er nicht einfach ein Unglück, sondern das Ergebnis von Sabotage ist. Das Unvermögen, in diesen Fällen wirksam zu sein, teilen die moralischen Sanktionen hier mit den juridischen Sanktionen. Hier ist eine Grenze, über die sie nicht hinwegkönnen. In der Geschichte des moralischen Kontraktualismus haben einige Philosophen sich mit diesem Ergebnis nicht zufrieden gegeben und zu zeigen versucht, daß der moralische Skeptiker auch im Verborgenen genötigt ist, moralisch zu handeln. Ich werde auf diese Vorstellungen im folgenden Kapitel (§ 6) ausführlich eingehen. Wir werden so ein differenzierteres Bild von der Leistungsfähigkeit einer kontraktualistisch fundierten M o r a l bekommen und auch die Grenzen ihrer Wirksamkeit genauer abstecken können.
§ 6 Unrechttun im Verborgenen 1.1. Die moralischen Sanktionen sind soziale Sanktionen Sanktionen der sozialen Ausgrenzung. Als solche greifen sie nicht, wenn jemand im Verborgenen ein Unrecht tut, wenn also die anderen nicht wissen, wer das Unrecht getan hat, oder gar nicht merken, daß ein Unrecht geschehen ist. Die optimale Sanktionsinstanz wäre auch hier ein halb göttliches, halb roboterartiges Wesen, das in jedem Fall bemerkt, daß jemand ein moralisches Unrecht tut, und darauf unweigerlich mit der Verhängung einer Sanktion reagiert. Gäbe es diese Instanz, würde sich das Problem des Unrechttuns im Verborgenen nicht stellen. Aber natürlich gibt es sie nicht. Wenn dem, der in Situationen des Unbeobachtetseins moralwidrig handelt, aber keine Sanktionen drohen, gibt es in diesen Situationen kein moralisches Müssen. Die moralischen Sanktionen nötigen einen hier nicht, zugunsten anderer zu handeln. Das System der Moral bietet dem moralischen Skeptiker also keinen Grund, in diesen Situationen die Freiheitsbeschränkungen, die ihm die moralkonstituierenden Agreements abverlangen, zu beachten. Dies, obwohl er die Agreements selbst mitetabliert hat und nach wie vor von ihrer Vernünftigkeit überzeugt ist. Wer es merkwürdig findet, daß sich der Skeptiker nicht an die Agreements hält, die er selbst mitentwickelt und vereinbart hat, möge sich an zweierlei erinnern: ( 1 ) Auch nach der Etablierung des moralischen Raumes fällt der Skeptiker Handlungsentscheidungen nicht anders als nach Gesichtspunkten der Rationalität, d.h. der möglichst optimalen Verfolgung eigener Interessen. Der moralische Skeptiker nimmt nicht einen moralischen Standpunkt ein, in dem Sinne, daß er sich unabhängig davon, ob es für ihn rational ist, moralisch verhält. (2) Das factum brutum der moralkonstituierenden Kooperati-
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on ist die gemeinsame Etablierung eines Sanktionensystems. Die Sanktionen sind es, die das moralische Müssen konstituieren, nichts anderes. Und deshalb ergibt sich, daß, wo keine Sanktionen, auch kein moralisches Müssen. Daß es das moralische Müssen in Situationen des Unbeobachtetseins nicht gibt, ist ein Umstand, den der Skeptiker selbst mißlich findet. Denn was für ihn gilt, gilt genauso für die anderen: auch für sie existiert in Situationen des Unbeobachtetseins kein moralisches „Muß", sich zugunsten anderer zu verhalten. Dies schmälert die Sicherheit, die die moralische Ordnung gewährt. Sie schützt nicht vor Unrecht, das aus dem Verborgenen kommt. Das Ziel, um dessentwillen der Skeptiker und die anderen die Moral geschaffen haben, wird also aufgrund der Tatsache, daß es in Situationen des Unbeobachtetseins kein moralisches Müssen gibt, nicht in dem angestrebten Maß erreicht. - Dieses Manko gewinnt nun dadurch erheblich an Bedeutung, daß auch das bloß rationale Müssen, das das Handeln zugunsten anderer zum Gegenstand hat, in Situationen des Unbeobachtetseins wegzufallen scheint. Der „Unterbau" des moralischen Müssens, das bloß rationale Müssen scheint in diesen Situationen voll und ganz zu fehlen. Denn zum einen nötigt eine auf bloße Rationalität gestützte kooperative Strategie, also ein Agreement, durch das es für jeden Beteiligten ein prudentielles „Muß" ist, eine bestimmte Leistung zu erbringen, nicht dazu, im Verborgenen zugunsten anderer zu handeln. Denn was im Verborgenen geschieht, kann in einem solchen Agreement grundsätzlich keine Rolle spielen. Der Grund liegt darin, daß das prudentielle Müssen innerhalb einer kooperativen Strategie immer ein konditioniertes Müssen ist: A muß etwas tun, wenn Β etwas tut, und Β muß etwas tun, wenn A etwas tut. 1 Da der eine aber nicht weiß, was der andere im Verborgenen tut, und deshalb nicht darauf reagieren kann, kann, was im Verborgenen geschieht, kein Gegenstand einer solchen kooperativen Strategie sein. Und zum andern stellen 1
Vgl. hierzu § 4, S. 92 f.
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sich, wenn ein Unrecht unbeobachtet und unentdeckt bleibt, nicht nur die künstlich geschaffenen Sanktionen nicht ein, auch die spontanen negativen Konsequenzen bleiben aus. So trifft den Übeltäter nicht der Zorn und die Empörung des Opfers und der anderen Zeugen. Auch drohende Schuldgefühle drängen nicht dazu, im Verborgenen zugunsten anderer zu handeln. Schuldgefühle hätten zwar auch in Situationen ohne Zeugen ihre Wirkung, aber für sie gibt es, wie wir sahen, in einer kontraktualistischen Moral keine rationale Basis. Der moralische Skeptiker, der nicht an eine vorgegebene objektive moralische Ordnung glaubt, hat diese Gefühle nicht. Dasselbe gilt auch für moralische Schamgefühle. Wir haben zwar gesehen, daß die kontraktualistisch fundierte Moral für die Ausbildung eines moralischen Selbstverständnisses und infolgedessen auch für moralische Schamgefühle offen ist. Man kann Schamgefühle haben, und es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß man sie hat. Es ist aber nicht zwingend, weil es nicht zwingend ist, ein entsprechendes Selbstverständnis zu haben. Dies bedeutet, daß man sich den moralischen Skeptiker als eine Person denken muß, der keine Schamgefühle kennt. Der Grund ist folgender: Der Entwurf einer kontraktualistischen Moral ist der Versuch, herauszufinden, ob und wie weit moralisches Verhalten als rational zwingend erwiesen werden kann. Und zwar ohne Rekurs auf altruistische Interessen und Neigungen, ja überhaupt ohne Rekurs auf Interessen, Neigungen und Selbstkonzepte, die man haben kann, aber auch nicht haben kann. Das System der Moral, wie es hier entfaltet wird, verdankt ja gerade dieser Intention seine Baugesetze. Es ist, mit anderen Worten, eine Moral, die genau so konstruiert ist, daß es auch für den Skeptiker rational zwingend ist, an ihr teilzuhaben und sich moralisch zu verhalten. Infolge dieser Zielsetzung kann in der Argumentation zugunsten moralischen Handelns alles das, von dem dem Skeptiker nicht gezeigt werden kann, daß es rational zwingend ist, keine Rolle spielen. Dazu gehört, wie wir sahen, auch ein Selbstverständnis, das das Moralischsein zum integralen Bestandteil des eigenen Selbst macht. Auch jede an-
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dere Selbstkonzeption gehört dazu, weil es niemals zwingend ist, sich in bestimmter Weise zu verstehen. Hieraus folgt, daß man, wenn man dem Skeptiker zeigen will, daß es auch in einer Situation des Unbeobachtetseins vernünftig ist, sich zugunsten anderer zu verhalten, nicht auf ein moralisches Selbstverständnis und folglich auch nicht auf moralische Schamgefühle rekurrieren kann. Durch den Verweis auf Schamgefühle läßt sich das Problem des Unrechttuns im Verborgenen also auch nicht lösen. Ich werde im folgenden prüfen, ob sich dieser erste Eindruck - der Wegfall auch des bloß rationalen Müssens - bestätigt. Auf jeden Fall würden der moralische Skeptiker und die anderen am Projekt der Moral Beteiligten im Interesse ihrer eigenen Sicherheit gerne auch für die Situationen des Unbeobachtetseins ein moralisches Müssen etablieren, sei es als Ersatz, sei es als Verstärkung eines rationalen Müssens. Die Frage ist, wie dies möglich sein soll. Es scheint, als stoße die kontraktualistisch fundierte Moral hier an eine definitive, für sie nicht überwindliche Grenze. 1.2. Die Frage, ob es in Situationen des Unbeobachtetseins vernünftig ist, zugunsten anderer zu handeln, ist bereits in der Antike breit diskutiert worden. 2 So hat der Sophist Antiphon gegen eine kontraktualistische Theorie eingewandt, daß es nach ihr rational sei, die (moralischen und juridischen) Gesetze vor Zeugen zu befolgen, sie aber zu ignorieren, wenn keine Zeugen da seien. Die Konsequenzen eines gesetzwidrigen Verhaltens seien, wenn es bemerkt werde, Verachtung und Strafe, also soziale Sanktionen. Zu ihnen komme es aber nicht, wenn die Handlung im Verborgenen getan werde. 3 Diese Schwierigkeit
2 3
Vgl. hierzu vor allem D. L. Cairns: Aidôs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature (Oxford 1 9 9 3 ) 3 6 0 - 3 7 0 . Antiphon, Diels/Kranz (DK) 8 7 (80) Β 4 4 , A l , 1 4 - 2 3 ; 2, 7 - 8 ; vgl. zu diesem Argument auch Demokrit, DK 6 8 ( 5 5 ) Β 1 8 1 ; Xenophon, Memorabilia IV, 4, 2 1 ; Euripides, Hippolytus 403-404.
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entsteht nicht, wenn man glaubt, es gebe Götter, die registrieren, was die Menschen tun, und diejenigen sanktionieren, die sich unmoralisch verhalten. Dies war die allgemein geteilte religiöse Vorstellung von Homer bis ins 5. Jahrhundert. „Nichts entflieht", so schreibt der Dichter Epicharm zu Beginn des 5. Jahrhunderts, „dem Göttlichen. Dies mußt du erkennen. Gott ist unser Bewacher, und nichts ist ihm unmöglich." 4 In dieser Sicht bleibt die moralwidrige Tat im Verborgenen also in Wirklichkeit gar nicht verborgen; sie wird zwar nicht von den Menschen bemerkt, aber doch von den Göttern. Das Unbeobachtetsein ist nur ein Schein, von dem man sich nicht täuschen lassen sollte. Der athenische Aristokrat Kritias hat die Vorteile dieser Auffassung genau gesehen, aber er glaubte nicht, daß es Götter gibt, zumindest nicht, daß sie wie allgegenwärtige Polizisten und Richter die Menschen überwachen und bei moralischem Fehlverhalten bestrafen. Seine ingeniöse These war deshalb, daß die Götter nur erfunden worden seien, damit die Menschen in der Vorstellung leben, immer und in allem beobachtet zu sein. Damit, wie es heißt, „auch dann ein Schreckmittel für die Schlechten da ist, wenn sie im Verborgenen etwas tun oder sprechen oder denken." Die Götter, die erfundenen, haben hiernach die Funktion, das Auseinanderfallen von Moral und Rationalität in Situationen des Unbeobachtetseins zu reparieren. Kritias bezeichnet die Lehre von den alles bemerkenden Göttern als die „schlaueste aller Lehren", sie verhülle freilich die Wahrheit mit „lügnerischem Wort". 5 Am eindringlichsten hat Piaton das Problem des Unrechttuns im Verborgenen exponiert: im zweiten Buch der Politeia mit der Geschichte von Gyges und seinem Ring. Piaton sieht sehr 4 5
Epicharm, DK 23 (13) Β 23. Kritias, DK 88 (81) Β 25. - Das Drama „Sisyphos", aus dem dieser Text stammt, ist in der Überlieferung teils Kritias, teils dem Tragiker Euripides zugeschrieben worden. Vgl. hierzu A. Dihle: Das Satyrspiel „Sisyphos". Hermes 105 (1977) 2 8 ^ 2 . Zu Interpretation und Kontext K. Döring: Antike Theorien über die staatspolitische Notwendigkeit der Götterfurcht. Antike und Abendland 24 (1978) 43-56.
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klar, daß es im Verborgenen keine Gründe gibt, sich moralisch zu verhalten, wenn es nur soziale Sanktionen sind, die dazu nötigen. Der Kontraktualismus erklärt das Moralisch-HandelnMüssen aber allein durch soziale Sanktionen. Hierin liegt in Piatons Augen eine seiner entscheidenden Schwächen. Wer zeigen will, daß es nicht nur in bestimmten Situationen, sondern generell vernünftig, und das heißt auch für Piaton: im eigenen Interesse ist, sich zugunsten anderer zu verhalten, muß zeigen, daß auch der, der im Verborgenen zugunsten anderer handelt, einen Vorteil davon hat. Er muß, so Piaton, zeigen, daß Gyges Grund hat, sich moralisch zu verhalten. Der Lydier Gyges ist, wie Piaton erzählt, durch Zufall und eigene Entschlossenheit in den Besitz eines goldenen Ringes mit einem Stein gekommen. Der Ring hat, wie Gyges bald entdeckt, die Besonderheit, daß er seinen Träger, wenn dieser den Stein nach innen dreht, unsichtbar macht. Dreht der Träger den Stein wieder nach außen, wird er wieder sichtbar. 6 Mit Hilfe dieses Ringes kann Gyges Unrecht tun, ohne entdeckt zu werden. Es steht ihm frei, „vom Markt ohne alle Furcht wegzunehmen, was er will, in alle Häuser zu gelangen, um dort mit jedem, mit dem er will, zusammen zu sein, zu töten und aus dem Gefängnis zu befreien, wen er will, und auch alles andere zu tun wie ein Gott unter den Menschen." 7 Die Frage ist nun, ob Gyges Gründe hat, sich trotz der Möglichkeiten, die ihm sein Ring verschafft, zugunsten anderer zu verhalten. Der Kontraktualismus kann diese Frage, so glaubt Piaton, nur verneinen. Er versteht das moralische Handeln nicht als etwas, was man als solches will; es werde vielmehr nur geschätzt als etwas, was man notgedrungen tun müsse, um den mit dem Zuwiderhandeln verbundenen sozialen Sanktionen zu entgehen. Man tut das, was moralisch ist, also eigentlich nur unfreiwillig. Piaton will demgegenüber zeigen, daß es vernünftig ist, „freiwillig" moralisch zu handeln. Er will zeigen, daß, moralisch zu handeln, als solches attraktiv und 6 7
Vgl. Piaton, Politeia II, 3 5 9 c - 3 6 0 b . Politela II, 3 6 0 b - c .
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Handeln
anstrebenswert ist. Deshalb nämlich, so seine Lösung, weil es ein Konstituens des menschlichen Glücks ist. Wer glücklich sein will, und das will jeder, muß sich vernünftigerweise zugunsten anderer verhalten. Piatons Idee ist also, daß derjenige, der zugunsten anderer handelt, damit auch zu seinen eigenen Gunsten handelt, nämlich das tut, was ihn glücklich macht. Wenn es so ist, ist es natürlich auch im Verborgenen vernünftig, moralisch zu handeln. Dies ist Piatons eudaimonistische Antwort auf das Problem des Unrechttuns im Verborgenen. 8 Ich habe schon gesagt, daß diese eudaimonistische Konzeption nicht zum Ziel führt und den moralischen Skeptiker nicht beeindrukken würde. Denn diese Konzeption verlangt, sagen zu können, was das eine Glück für alle Menschen ist. Man muß dem Skeptiker (und allen anderen) zeigen können, daß es rational zwingend ist, sein Glück in dem-und-dem zu sehen. Und das kann man nicht. 2.1. Stimmt die Diagnose, daß der Kontraktualismus für das Problem des Unrechttuns im Verborgenen keine Lösung hat? Versetzen wir uns noch einmal in die Situation, in der A und Β versuchen, eine moralische Ordnung gegenseitiger Rücksichtnahme zu errichten. Was können sie tun, um das Problem zu lösen? - Es ist klar, daß die Idee, A und Β könnten das Problem einfach dadurch lösen, daß sie sich gegenseitig versprechen, auch im Verborgenen moralkonform zu handeln, scheitert. Denn warum im Verborgenen ein Versprechen halten? Eine zweite Idee ist, daß A und Β mit der Etablierung der sozialen Sanktionen schon alles Nötige getan haben. Denn diese Sanktionen wirken in den Bereich des Verborgenen hinein, sie erreichen die Personen mittelbar auch in Situationen des Unbeobachtetseins. Denn für den, der im Verborgenen Unrecht tut, besteht, so diese Idee, immer das Risiko, wenn nicht sofort, dann doch auf längere Sicht entdeckt zu werden und dann die 8
Vgl. hierzu ausführlicher meinen Aufsatz Der Grurtdriß der Ethik.
platonischen
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moralischen Sanktionen (und die anderen negativen Reaktionen) hinnehmen zu müssen, vermutlich sogar in verschärfter Form. Die Furcht vor dem Entdeckt-Werden und damit doch die Furcht vor den sozialen Sanktionen motiviert im Verborgenen zum moralkonformen Verhalten. Wer den Sanktionen und der Angst vor ihnen entgehen will, muß sich also auch, wenn es keine Zeugen gibt, agreementkonform verhalten. Dies ist ein starkes Argument. Epikur verwendet es, um zu zeigen, daß der moralische Kontraktualismus sehr wohl mit dem Problem des Unrechttuns im Verborgenen fertig zu werden vermag. „ W i r d der Vernünftige", so fragt er, „etwas tun, was die Gesetze verbieten, wenn er weiß, daß es nicht herauskommen wird?" 9 Er wird es, so Epikurs Antwort, nicht tun. Denn „Unrecht zu tun und verborgen zu bleiben, ist schwer, Sicherheit zu erlangen, daß man verborgen bleiben wird, aber unmöglich." 10 Und: „ W e r im Verborgenen gegen das verstößt, was man untereinander vereinbart hat - nicht zu schädigen und nicht geschädigt zu werden - , kann nicht darauf vertrauen, daß er verborgen bleiben wird, selbst wenn er im Moment tausendmal verborgen ist. Denn bis zu seinem T o d ist es unklar, ob er wirklich verborgen bleiben wird." 1 1 Epikur nimmt also nicht an, daß jedes Unrecht, das im Verborgenen getan wird, entdeckt wird. Aber er meint, daß man niemals sicher sein kann, nicht entdeckt zu werden. Selbst wenn man nicht entdeckt werden sollte, ist die unvermeidliche Konsequenz des Unrechttuns im Verborgenen die Furcht, entdeckt zu werden und die dann eintretenden Folgen hinnehmen zu müssen. Diese Furcht vor den Sanktionen und damit mittelbar die Sanktionen selbst sind es also, die den, der alles gut überlegt, vom Unrechttun im Verborgenen abschrecken.12 Ganz im Zuge dieser Überlegung sagt Epikur, „die
9
Epikur, Deperditorum librorum Epicurea, ed. Usener, 18).
reliquiae,
10 Epikur, Gnotnologium Vaticanum 7. 11 Epikur, Kyriai Doxai 35. 12 Vgl. ebd. 34.
ed. Arrighetti, 12, 1 (=
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größte Fracht des Moralisch-Seins sei die Seelenruhe", das heißt: das Freisein von Furcht. 13 Dieses Argument ist, wie gesagt, stark. Aber es reicht nicht so weit, wie Epikur meint. Denn in vielen Fällen ist es nicht realistisch, mit dem Entdeckt-Werden zu rechnen. Folglich muß man es auch nicht befürchten. Vielleicht kann man nie definitiv sicher sein, aber doch so sicher, daß man jedenfalls vernünftigerweise keine Angst vor dem Entdeckt-Werden hat. Epikurs Argument ist also nur für einen Teil der moralwidrigen Handlungen im Verborgenen überzeugend. Wie groß dieser Teil ist, ist eine Einschätzungsfrage. Offen ist auch, wieviel die Furcht vor dem Entdeckt-Werden im Vergleich zu den Vorteilen des Unrechttuns wiegt. Das ist von Situation zu Situation verschieden; eine allgemeine Aussage ist auch hier nicht möglich. Insgesamt läßt sich aber sagen, daß die moralischen Sanktionen tatsächlich in den Bereich des Unbeobachteten hineinwirken. Wenn auch nicht in allen Fällen die Angst vor den Sanktionen angebracht oder stark genug ist, um die Vorteile des Unrechttuns zu überwiegen. Epikurs Argument ist also partiell erfolgreich, aber es löst das Problem des Unrechttuns im Verborgenen nicht vollständig. - Das Argument Epikurs läßt im übrigen darauf aufmerksam werden, daß Piaton das Problem mit der Einführung der Gyges-Figur überspitzt und deshalb bestimmte Lösungsvorschläge ohne Grund ausschließt. Denn Gyges braucht aufgrund seiner Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen, niemals Angst zu haben, entdeckt zu werden. Ihn erreicht Epikurs Argument deshalb gar nicht. Aber die Menschen aus Fleisch und Blut, um deren Gründe, auch im Verborgenen moralisch zu handeln, es geht, sind nicht in der Situation des Gyges. Sie können nicht immer sicher sein, daß ein im Verborgenen begangenes Unrecht unentdeckt bleibt. Und deshalb ist es für sie in vielen Situationen vernünftig, sicherheitshalber auch im Verborgenen moralisch zu handeln. Epikurs Argument ist also
13 Epikur, Epicurea,
ed. Usener, 519.
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ungleich stärker als es aus der Perspektive dessen aussieht, der das Problem des unbeobachteten Unrechttuns anhand der GygesFigur durchdenkt. Eine dritte Idee, das Problem zu lösen, geht ebenso wie die zweite davon aus, daß A und Β mit der Etablierung der äußeren Sanktionen schon alles Nötige getan haben. Auch diese Idee geht davon aus, daß die äußeren Sanktionen in bestimmter Weise in den Bereich des Verborgenen hineinwirken. Doch ganz unabhängig von der Möglichkeit des Entdeckt-Werdens und der Angst davor. Selbst wenn es ausgeschlossen wäre, entdeckt zu werden, käme es durch die äußeren Sanktionen auch im Verborgenen zu einem moralischen „Muß", das dazu nötigt, zugunsten anderer zu handeln. Die Idee ist, daß ein psychischer Mechanismus bewirkt, daß die äußeren Sanktionen auch zu inneren Sanktionen werden, zu Sanktionen also, die nicht von außen, sondern von innen kommen und die den, der moralwidrig handelt, treffen, ohne daß ein anderer etwas dazutut. Sanktionen dieser Art würden somit auch Gyges treffen. Der Prozeß, durch den die äußeren Sanktionen sich gewissermaßen in das Innere der beteiligten Individuen hineinverlängern und der, so die Vorstellung, von selbst, ohne Zutun der Betroffenen stattfindet, ist ein Prozeß der Internalisierung. Äußerer Druck wird durch ihn in inneren Druck verwandelt. Wobei der äußere Druck freilich nicht allein aus den äußeren Sanktionen, sondern auch aus den spontanen negativen Reaktionen der anderen besteht. Die Individuen verinnerlichen ununterschieden beides, die spontanen Abwehrreaktionen und die künstlichen moralischen Sanktionen. Beides geht in die inneren Sanktionen ein. Und nur weil die künstlich etablierten Sanktionen eingehen, kann man, wie ich es im folgenden weiterhin tun werde, von „inneren Sanktionen" sprechen. Und nur weil die äußeren Sanktionen eingehen, ist das Müssen, das die inneren Sanktionen konstituieren, auch ein moralisches und das heißt: verpflichtendes Müssen und nicht nur ein bloß rationales Müssen. Durch die Verinnerlichung des äußeren Drucks entsteht in den Individuen eine Instanz, die auf moralwidriges Verhalten in derselben oder in ähnlicher Weise reagiert wie die anderen rea-
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Handeln
gieren, wenn sie Zeugen einer moralwidrigen Handlung sind. Durch den Prozeß der Internalisierung tritt an die Stelle der sozialen Ablehnung eine innere Ablehnung. Freud hat diesen Prozeß der Verinnerlichung als „die Aufrichtung eines Über-Ichs" bezeichnet.14 Das Über-Ich ist demnach die Instanz im Ich, die im Falle moralwidrigen Handelns intern sanktioniert. Die äußeren Reaktionen sind Zorn und Empörung, das Zeigen dieser Affekte, Argwohn und Vorsicht, soziale Distanzierung, das Sich-zurückZiehen, das Vermeiden von Kontakten. Im Ich-zu-Ich-Verhältnis sind nicht alle diese Verhaltensweisen möglich. Die Internalisierung ist also nicht eine Eins-zu-Eins-Ubersetzung der äußeren in innere Reaktionen. Die inneren Sanktionen bestehen im wesentlichen in einem Gefühl des Unbehagens und Widerwillens; man reagiert auf das, was man getan hat oder tun will, ablehnend, man spürt einen Zwiespalt in sich: der eine Teil des eigenen Selbst tut etwas (oder will etwas tun), und der andere reagiert darauf mit affektivem Widerstand. - Die Idee ist, wie gesagt, daß dieser Prozeß der Internalisierung ohne unser Zutun, also von selbst vor sich geht. Die Wirksamkeit der inneren Sanktionen darf naturgemäß nicht vom Willen der jeweiligen Person abhängig sein. Sie darf die Sanktionen nicht aushebeln können. Sonst wären sie wirkungslos. Der Prozeß der Internalisierung muß außerdem vom Selbstverständnis der jeweiligen Person unabhängig sein. Die inneren Sanktionen müssen jeden, der moralwidrig handelt, treffen, unabhängig davon, was für eine Person er ist und sein will. Wäre es anders, fehlte dem durch die inneren Sanktionen konstituierten moralischen Müssen seine spezifische Kategorizität. Wenn die Vorstellung der Internalisierung in der jetzt exponierten Form zutreffend ist, kann man sagen: wo äußere Sanktionen, da notwendigerweise auch ein „inneres" moralisches Müssen. Wer äußere Sanktionen etabliert, schafft damit indirekt auch innere Sanktionen, die ein solches „inneres" morali14 S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Studienausgabe (Frankfurt 1974) Bd. IX, 252.
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sches Müssen konstituieren. Wenn es aber innere Sanktionen dieser Art gibt, ist klar, daß sie auch in Situationen des Unbeobachtetseins ein moralisches Müssen konstituieren. Wer im Verborgenen moralwidrig handelt, muß mit diesen Sanktionen rechnen. Und er kann, wenn er ihnen entgehen will, nicht moralwidrig handeln. Einen anderen Weg, ihnen zu entkommen, gibt es nicht. „... vor dem Über-Ich", so sagt Freud, „kann ich nichts verbergen." 15 Hier ist es nicht der allwissende Gott, vor dem es kein Unbeobachtetsein gibt, hier ist es das eigene Ich, das von allem weiß und vor dessen Sanktionen es kein Entkommen gibt. Ist damit das Problem des Unrechttuns im Verborgenen gelöst? Gibt es den so beschriebenen Prozeß der Internalisierung? Und, wenn ja, führt er zu einem effektiven moralischen Müssen? Ob es den Prozeß der Internalisierung gibt, und zwar so, daß er wie ein Naturvorgang nicht vom Willen der Betroffenen aufgehalten und beeinflußt werden kann, und so, daß er von der jeweiligen Selbstkonzeption der Betroffenen unabhängig ist, ist keine philosophische, sondern eine psychologische Frage. Ich gehe im folgenden davon aus, daß diese Internalisierung äußeren Drucks tatsächlich bis zu einem gewissen Grade stattfindet. Wer eine moralwidrige Handlung ins Auge faßt oder sie tut, eine Handlung also, auf die die anderen, wenn sie davon erführen, mit Widerwillen, Ablehnung und Gegenmaßnahmen reagierten, wird auch in einer Situation des Unbeobachtetseins ein inneres Unbehagen, einen inneren Widerstand spüren.16 Der Grund hierfür scheint darin zu liegen, daß die Menschen noch vor jedem speziellen Selbstverständnis gar nicht anders können, als das, was sie tun oder tun wollen, auch aus der Perspektive der anderen zu betrachten. Bei der Erwägung, von welcher Art eine ins Auge gefaßte Handlung ist, spielt, ob man will oder nicht, untergründig immer mit hinein, wie die anderen die Handlung sehen oder sehen würden. Die Perspektive der ande-
15 Ebd. 252. 16 Ich habe dieses Phänomen in § 5, S. 150 f. bereits berührt.
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ren ist „einfach da", und sie erklärt den Prozeß der Internalisierung. Auch für den, der die Haltung des „Was gehen mich die anderen an?" zu leben versucht, ist eine unmoralische Handlung also unvermeidlich mit einem inneren Widerstand verbunden. Natürlich wird dieser Widerstand um so größer sein, je mehr eine Person sich als ein soziales Wesen versteht, dem es sehr darauf ankommt, in gegenseitiger Schätzung und Harmonie mit den anderen zusammenzuleben. Doch wir müssen wie immer, wenn es um das moralische Müssen geht, von allen Präferenzen, Idealen und Selbstkonzeptionen, die man haben kann, aber nicht haben muß, absehen. Die Annahme, um die es jetzt geht, besagt, daß auch der moralische Skeptiker, der keine altruistischen Präferenzen und Ideale und keine entsprechende Selbstkonzeption hat, mit inneren Sanktionen zu tun hat. Der Skeptiker und auch alle anderen müssen, wenn sie den inneren Widerstand im Falle unmoralischen Handelns vermeiden wollen, moralisch handeln. Es gibt also ein moralisches Müssen, das durch innere Sanktionen konstituiert wird und das es für jeden notwendig macht, sich moralisch zu verhalten, wenn er den inneren Sanktionen entgehen will. Wie stark ist dieses Müssen? Es scheint, als seien die inneren Sanktionen weniger nachteilig als die äußeren. Man denke daran, daß der, der z.B. jemanden vor Zeugen absichtlich verletzt, mit einem ganzen Bündel von negativen Reaktionen und Sanktionen zu tun hat. Verstärkend kommen die juridischen Sanktionen hinzu. Wer dasselbe hingegen in einer Situation des Unbeobachtetseins tut, hat es „nur" mit negativen Gefühlen sich selbst gegenüber zu tun. Und diese Gefühle des Unbehagens und des inneren Widerstandes haben im allgemeinen nicht die abschreckende Wirkung wie die äußeren Sanktionen. Alle Philosophen, die meinten, die inneren Sanktionen seien schlimmer als die äußeren, haben die Menschen nicht überzeugt. Hinzu kommt folgende Überlegung: Der moralische Skeptiker hat, wenn er unmoralisch handelt, von sich aus keinen Grund, sich negativ zu sich selbst zu stellen. Das Unmoralisch-Handeln ist nicht etwas in sich Schlimmes; man muß es nur deswegen
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unterlassen, weil und sofern es sanktioniert ist und man die Sanktionen vermeiden will. Der Skeptiker hat deshalb, wie gesagt, von sich aus keinen Grund, auf seine eigene Tat mit Widerwillen, Schuldvorwürfen und strafenden Sanktionen zu reagieren. Spürt er dennoch bei einem Unrecht in einer Situation des Unbeobachtetseins Unbehagen und inneren Widerstand, wird er dies folglich als etwas Fremdes, als etwas nicht aus ihm selbst Kommendes empfinden. Er wird sich nicht als Subjekt dieses Unbehagens fühlen, obwohl es „in ihm" ist. Es ist in ihm, weil er nicht anders kann, als seine eigene Handlung auch aus der Perspektive der anderen zu sehen, - selbst dann, wenn die anderen von der Handlung gar nichts erfahren und sie niemals vor ihre Augen kommt. Der Skeptiker spürt deshalb durchaus einen Zwiespalt in sich, aber er schlägt sich doch klar auf die eine Seite: Er selbst verurteilt nicht, was er getan hat, etwas in ihm tut dies. Das heißt, daß er nicht wirklich mit sich im Unreinen ist. Im Ergebnis steht er zu dem inneren Widerstand gegen die eigene Handlung wie zu einem Eindringling, gegen dessen Präsenz man nichts ausrichten kann und mit dem man folglich zurechtkommen muß, ohne sich mehr als nötig stören zu lassen. Es liegt, glaube ich, auf der Hand, daß diese distanzierte Haltung gegenüber dem Widerstand, den man in sich spürt, das Gewicht der inneren Sanktionen und deren abschrekkende Wirkung begrenzt. - Es ergibt sich also, daß die inneren Sanktionen in ihrer Wirkung nicht sehr stark sind. Und damit ist auch das moralische Müssen, das durch diese Sanktionen konstituiert wird, nicht sehr stark. Ich kann jetzt die bisherigen Überlegungen zusammenfassen: Wenn der moralische Skeptiker fragt, warum er sich im Verborgenen moralisch verhalten soll, kann man zunächst antworten: „Weil häufig die Gefahr besteht, entdeckt zu werden und dann die äußeren Sanktionen hinnehmen zu müssen. Und weil du, selbst wenn es nicht dazu kommt, in vielen Fällen dennoch Angst davor haben wirst." - „Und in den Fällen, in denen man keine Angst vor dem Entdeckt-Werden zu haben braucht? Warum sich in diesen Fällen moralisch verhalten?" -
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„Weil du in diesen wie auch in allen anderen Fällen sonst die inneren Sanktionen hinnehmen mußt." Der Skeptiker wird freilich, wenn er erfährt, was die inneren Sanktionen sind, erkennen, daß es für ihn in vielen Situationen besser ist, unmoralisch zu handeln und die inneren Sanktionen hinzunehmen als um der Vermeidung dieser Sanktionen willen das Unrecht zu unterlassen. - Die Vorstellung, daß A und Β gar nichts zu tun brauchen und die Angst vor dem Entdeckt-Werden und der Prozeß der Internalisierung von selbst zu dem gewünschten Ergebnis führen, ist also nur begrenzt richtig. Es gibt sehr wohl auch im Verborgenen einen Druck zugunsten des moralischen Handelns, aber er reicht nicht überall hin und er hat nicht die gewünschte Stärke. Die Lücke zwischen Moral und Rationalität im Bereich des Unbeobachteten ist also nicht vollständig geschlossen. Wenn A und Β die verbliebene Lücke noch schließen wollen, müssen sie noch weitere Gründe dafür suchen, auch im Verborgenen moralisch zu handeln. 2 . 2 . A und Β könnten die Idee haben, in ihren bisherigen Überlegungen zur Moral zu sehr an Einzelsituationen orientiert gewesen zu sein. Wir waren, so könnten sie sagen, fixiert auf die einzelne Situation, in der jemand erwägt, ob er eine bestimmte Handlung tun soll, und wir haben versucht, diese Situation durch die Etablierung von Sanktionen künstlich so zu verändern, daß es rational ist, die Handlung, wenn sie moralisch ist, zu tun und sie, wenn sie unmoralisch ist, zu unterlassen. Die Fixierung auf die einzelne Situation führte dann in die Schwierigkeiten beim Handeln im Verborgenen. Diese Schwierigkeiten entstünden nicht, wenn die am Projekt der Moral Beteiligten eine Disposition zum Moralisch-Handeln, einen, wie Mackie sagt 17 , „Instinkt zugunsten der M o r a l " ausbildeten. Mackie bringt mit dem W o r t „Instinkt" zum Ausdruck, daß es darum geht, mehr oder weniger automatisch, ohne in jedem
17 Mackie, Ethics, 113; dt. 142.
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Einzelfall neu zu überlegen, moralisch zu handeln. Wer eine solche Disposition hat, würde eine Handlung, immer wenn er sie als moralisch (bzw. unmoralisch) identifiziert, tun (bzw. unterlassen). Hätten die an der Moral Beteiligten diese Disposition, würden sie auch im Verborgenen moralisch handeln. Man kann den, der auf diese Weise zur Moral disponiert ist und infolgedessen eine moralische Handlung wählt, weil sie moralisch ist, eine tugendhafte Person nennen.18 Man muß nur aufpassen, daß diese Art zu reden nicht Vorstellungen anzieht, die unangebracht sind. Die Disposition zur Moral, wie sie hier ins Auge gefaßt wird, würde nichts daran ändern, daß derjenige, der so disponiert ist, nur deswegen moralisch handelt, weil es für ihn vernünftig ist, dies zu tun. Der Effekt der Disposition läge nur darin, daß er das nicht mehr immer neu prüft. Z u sagen: er würde infolge der Disposition eine moralische Handlung wählen, „weil sie moralisch ist", ist deshalb verkürzend und offen für Mißverständnisse. Genauer muß man sagen: er würde sie wählen, weil er sie als moralische Handlung identifiziert und weil er generell unterstellt (ohne es noch im Einzelfall zu prüfen), daß es für ihn rational ist, moralische Handlungen zu tun. Man muß hier alle vorschnellen Annäherungen an anders gelagerte Vorstellungen fernhalten. So bedeutet, zur Moral disponiert zu sein, nicht unbedingt, ein „inneres" Verhältnis zur Moral zu haben und infolge eines moralischen Selbstverständnisses moralisch zu handeln. Eine Disposition zum moralischen Handeln ist durchaus mit einem bloß instrumentellen Verhältnis zur Moral vereinbar. Die neue Idee, das Problem des Unrechttuns im Verborgenen zu lösen, ist also, die moralische Welt so einzurichten, daß die Beteiligten eine Disposition zum moralischen Handeln ausbilden. Natürlich stellt sich sogleich die Frage, wie es dazu kommt, daß jemand eine Disposition ausbildet. Zunächst könnte man auch hier wieder sagen, daß es sich von selbst ergibt und 18 So tut es, wie viele andere, M . Baurmann: Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft (Tübingen 1996) 359 ff.
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daß man gar nichts zu tun braucht. Wenn jemand in vielen Einzelsituationen immer oder fast immer zu dem Ergebnis kommt, daß es vernünftig ist, eine Handlung des Typs X zu wählen, wird er nach und nach aufhören, jeweils neu zu überlegen. Er wird eine Handlung, wenn sie vom Typ X ist, einfach deshalb wählen. Das ergibt sich von selbst. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er bildet automatisch solche Gewohnheiten und Dispositionen aus. - Es mag sein, daß dies so ist, wenn es wirklich durchgängig vernünftig ist, Handlungen des Typs X zu tun. Anders ist es jedoch, wenn eine Handlung des Typs X zwar in den meisten oder in vielen Fällen vernünftig ist, aber keineswegs in allen. Je häufiger Situationen sind, in denen es unvernünftig ist, Handlungen dieser Art zu tun, um so mehr wird es zu einer Frage, ob man eine Disposition ausbilden oder doch lieber von Einzelfall zu Einzelfall neu überlegen und entscheiden soll. Und es scheint, als hätten wir hier Einfluß, als liege es bei uns, ob wir eine Disposition ausbilden oder nicht. In der philosophischen Tradition wird von Beginn an gelehrt, daß es möglich ist, Dispositionen willentlich auszubilden. Dispositionen sind, so Aristoteles, feste Handlungsgewohnheiten, die auszubilden oder nicht auszubilden, eine Frage des Wollens ist, auch wenn man eine Disposition nicht wie durch Knopfdruck, sondern nur durch eine länger dauernde Selbstformung erlangen kann. 19 Man bildet eine Disposition aus, indem man beharrlich die der Disposition entsprechenden Handlungen tut. So wird man zu jemandem, der tapfer ist, indem man beharrlich in allen einschlägigen Situationen tapfer handelt. Wenn man eine Disposition erst einmal hat, kann man sie genausowenig einfach wieder abstreifen. Man wird sie, wenn überhaupt, nur durch eine langwierige Umformung des Charakters wieder los. Man legt mit der Ausbildung einer Disposition sein Verhalten also für die Zukunft fest und macht es von den Besonderheiten einzelner Situationen unabhängig. Man programmiert
19 Aristoteles, Nikomachische
Ethik 11,1; II,4.1106a 2 ff.; 111,7.1114a 4-13.
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sich gewissermaßen durch die Ausformung fester Handlungsgewohnheiten selbst. Wer eine Disposition ausbildet, so Gauthier, „makes a choice about how to make further choices." 20 Warum sollte man das im Falle des Moralisch-Handelns tun? Diese Frage wird der moralische Skeptiker stellen. Er wird zunächst festhalten, daß die Disposition zur Moral kein Schicksal ist. Und er wird dann die Frage stellen, warum es für ihn vernünftig sein soll, eine solche Disposition auszubilden. Dies zu tun, hieße doch, nicht durchgängig situationsangemessen zu handeln, es hieße, in bestimmten Situationen suboptimal, sprich: gegen die eigenen Interessen zu handeln. Man handelt ja im Zuge der Disposition auch immer dann moralisch, wenn es im eigenen Interesse wäre, nicht zugunsten anderer zu handeln. Gerade Situationen des Unbeobachtetseins sind häufig von dieser Art. Wenn man im Verborgenen handelt, kein Risiko besteht, entdeckt zu werden und die inneren Sanktionen verglichen mit dem Vorteil, den das Unrechttun mit sich bringt, zu schwach sind, liegt es nicht im eigenen Interesse, zugunsten anderer zu handeln. Warum sollte man dann eine Disposition wollen, die dieses Auseinanderfallen von Moral und Rationalität überspielt und einen gegen das, was vernünftig ist, dazu bringt, moralisch zu handeln? Eine erste Antwort ist diese: Man sollte sich zur Moral disponieren, weil man sich dadurch sehr viel Aufwand erspart. Denn man braucht dann nicht fortwährend jede Einzelsituation neu zu erwägen und immer neu zu entscheiden, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Es reicht aus, zu wissen, daß die Handlung moralisch ist, um zu wissen, was zu tun ist. Man reduziert also, wenn man eine Disposition zur Moral ausbildet, die Komplexität seiner Entscheidungen. Und dieser Vorteil ist es wert, in einzelnen Situationen den Nachteil in Kauf zu nehmen, nicht die beste Handlung zu wählen. - Dieses Argument ist ein allgemeines Klugheits-Argument für die Ausbildung von Ge-
2 0 Gauthier, Morals by Agreement,
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wohnheiten und Dispositionen. Es hat Gewicht. Wir bilden in praktisch allen Handlungskontexten Gewohnheiten und Dispositionen aus. Das Leben ist auf diese Weise einfacher. Alltägliche Situationen werden auf alltägliche Weise entschieden. Und die Nachteile dieser Strategie halten sich in engen Grenzen. Außerdem muß man berücksichtigen, daß wir auch, wenn wir die Rationalität der einzelnen Handlung jeweils neu kalkulierten, nicht in jedem Fall zu der optimalen Handlungswahl kämen. Denn unsere epistemischen Fähigkeiten sind begrenzt. Wir machen Fehler, haben Informationsdefizite, sind unaufmerksam, etc. Die Vereinfachung der Entscheidungen ist also ein starkes Argument für die Ausbildung von Dispositionen. Im speziellen Fall der Disposition zur Moral wird es jedoch durch folgende Überlegung des Skeptikers geschwächt. Selbst wenn es, so der Skeptiker, unter den angeführten „ökonomischen" Aspekten vernünftig ist, sich zur Moral zu disponieren, ist es wohl das Vernünftigste, dies nicht ohne Einschränkung zu tun, sondern es nur für die Situationen zu tun, in denen man beobachtet wird. In Situationen des Unbeobachtetseins sollte man hingegen von Fall zu Fall überlegen, was am besten zu tun ist. Denn in Situationen des Beobachtetseins ist es angesichts der moralischen Sanktionen (und gegebenenfalls auch der juridischen Sanktionen) in der Regel vernünftig, moralisch zu handeln; in Situationen des Unbeobachtetseins spricht hingegen zu oft nicht genug gegen das Unrechttun. Aus diesem Grund ist, wenn überhaupt eine Disposition, eine eingeschränkte Disposition das Vernünftigste. Nämlich die Disposition, in Situationen des Beobachtetseins (und nur in diesen) durchgängig moralisch zu handeln. Zu unterscheiden, wann man beobachtet ist und wann nicht, ist leicht, so daß es zweifellos möglich ist, sich in dieser Weise eingeschränkt zu disponieren. - Das Problem des Unrechttuns im Verborgenen ist durch eine so eingeschränkte Disposition natürlich nicht gelöst. Diese Überlegung des Skeptikers ist freilich, obwohl im Grundsatz richtig, nicht hinreichend differenziert. Sie berücksichtigt zu wenig, wie kompliziert gerade im Verborgenen die
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Entscheidung, ob es in den einzelnen Situationen vernünftig ist, moralisch zu handeln, sein kann. Das hängt vor allem mit der Notwendigkeit zusammen, das Risiko des Entdeckt-Werdens einzuschätzen. Dies ist häufig sehr schwierig, und oft kommt man zu keinem richtigen Ergebnis. Wenn es so ist, ist es einfacher und sicherer - und somit klüger, in Situationen dieser Art nicht immer neu den Aufwand einzelfallbezogener Abwägungen zu treiben, sondern seinem Handeln die Linie vorzugeben, in Situationen, in denen das Risiko des Entdeckt-Werdens gar nicht oder nicht ohne weiteres einzuschätzen ist, moralisch zu handeln. Verfährt man so, bildet sich nach und nach die entsprechende Disposition heraus. Es ist also vernünftig, auch für den Bereich des Unbeobachteten eine Disposition zur Moral auszubilden. Allerdings ist auch diese Disposition noch eingeschränkt. Sie disponiert nur dazu, in Situationen moralisch zu handeln, in denen es nicht oder nur mit großem Aufwand möglich ist, das Risiko des Entdeckt-Werdens im Falle des Unrechttuns einzuschätzen. Sie erstreckt sich aber nicht auf Situationen, in denen die Gefahr des Entdeckt-Werdens offenkundig nicht besteht. Das heißt, daß das „ökonomische" Argument zugunsten einer dispositionellen Bindung an die Moral sehr wohl auch in den Bereich des Unbeobachteten hineinreicht, allerdings nur in einen Teil dieses Bereichs. Das Problem des Unrechttuns im Verborgenen ist durch dieses Argument also nur partiell, aber nicht vollständig gelöst. Es handelt sich erneut um ein Argument, das einen Teilerfolg erzielt, aber auch nur einen Teilerfolg. Eine zweite Antwort auf die Frage des Skeptikers, warum er eine Disposition, wir müssen jetzt sagen: eine uneingeschränkte Disposition zum Moralisch-Handeln ausbilden soll, ist folgende. Die bisherige Überlegung hat nur auf den geschaut, der überlegt, ob er sich zur Moral disponieren soll; und sie hat unterstellt, daß er diese Frage in einer festen Konstellation von Umständen entscheiden kann, also ohne zu berücksichtigen, was andere tun. Es kann jedoch sein, daß, was zu tun für ihn rational ist, davon abhängt, was sein Gegenüber tut. Es kann,
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mit anderen Worten, sein, daß wir es mit einer Frage strategischer und nicht bloß parametrischer Rationalität zu tun haben.21 Wie wir sahen, ist es auf der Ebene der Handlungen in vielen Fällen ein rationales „Muß", auf Handlungsmöglichkeiten, die einem eigentlich offenstehen, zu verzichten, vorausgesetzt der andere tut dasselbe. Der Verzicht ist rational zwingend, aber er ist es nur unter der Bedingung der Reziprozität. Was für die Handlungen gilt, könnte auch für die Dispositionen gelten. Tatsächlich findet sich hier strukturell die gleiche Konstellation: Die uneingeschränkte dispositionelle Bindung an die Moral ist für den Skeptiker, wie wir sahen, als solche von Nachteil; er hat deshalb keinen Grund, die Disposition als solche zu wollen. Aber er ist andererseits stark daran interessiert, daß sein Gegenüber diese Disposition ausbildet. Denn der Skeptiker will, daß der andere ihm auch in einer Situation des Unbeobachtetseins nichts Schlimmes antut. Da der andere dasselbe will, ist es, so nun die Idee, für beide vernünftig, ein Agreement zu treffen, nach dem jeder die uneingeschränkte Disposition zur Moral ausbildet. Jeder tut etwas, was er eigentlich nicht will: Er disponiert sich zum Moralisch-Handeln, aber er bekommt etwas dafür, was ihm wichtiger ist: die Disposition des anderen. Die Ausbildung der eigenen Disposition ist auf diese Weise die notwendige Voraussetzung für die Ausbildung der Disposition des anderen, und genauso umgekehrt. Vorausgesetzt ist bei diesem Agreement, daß es für beide wichtiger ist, vor dem Unrechttun im Verborgenen geschützt zu sein, als selbst gelegentlich im Verborgenen Unrecht zu tun. Dies unterstellt, scheint es für beide rational zwingend, die Disposition zur Moral auszubilden. Es ist leicht zu sehen, daß diese Idee des Dispositionentausches scheitert. Die Gründe liegen in der geringen epistemischen Zugänglichkeit von Dispositionen. Zunächst ist klar, daß man Dispositionen nicht direkt erkennen kann, man kann sie nur aufgrund von Verhalten erschließen. Noch schwerer, als 2 1 Vgl. zu dieser Redeweise § 4, S. 9 3 , Anm. 16.
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ob jemand eine Disposition hat, ist zu erkennen, ob jemand eine Disposition ausbildet. Eine Disposition auszubilden, ist aber gerade der Inhalt des Agreements über den Dispositionentausch. Wie bereits gesagt, bildet man eine Disposition aus, indem man dauerhaft die dispositionsgemäßen Handlungen tut. Man disponiert sich zur Moral, indem man konsequent und dauerhaft moralisch handelt. Handelt jemand moralisch, ist aber für den anderen nicht zu erkennen, ob er dies aufgrund einer bereits ausgebildeten Disposition tut, oder ob er es tut, um eine entsprechende Disposition auszubilden, oder ob er es aufgrund einer einzelfallbezogenen Abwägung tut. Die einzelne moralische Handlung gibt über ihren Hintergrund nichts preis. Dies gilt zumindest für die große Mehrzahl der Fälle. Zu Aufschlüssen über den Hintergrund einer Handlung gelangt man nur in Situationen, in denen aus einer dispositionellen Bindung an die Moral eine andere Handlung resultiert als aus einer einzelfallbezogenen Überlegung. Doch auch in Test-Situationen dieser Art kann, wer nur die moralische Handlung sieht, nicht entscheiden, ob der andere schon die Disposition zur Moral besitzt oder ob er sie erst noch ausbilden will. Selbst die TestSituationen sind also nur begrenzt signifikant. Und sie sind, das kommt hinzu, nicht sehr häufig. Selbst um die begrenzte Information zu bekommen, ob jemand einzelfallbezogen entscheidet oder nicht, muß man ihn also aller Wahrscheinlichkeit nach länger kennen. Da wir aber nicht in einer Zwei-Personen-Welt leben und auch nicht in einer geschlossenen face-to-face society, tun wir das häufig nicht. Wir haben vielfach mit Menschen zu tun, die wir nicht länger kennen und von denen wir nicht wissen, wie sie sind. Doch selbst wenn diese Schwierigkeiten zu beheben wären, würde das noch nicht weiterhelfen. Denn der Skeptiker muß, um entscheiden zu können, ob er sich zur Moral disponiert, mehr wissen, als daß der andere eine Disposition zur Moral ausbildet. Er muß darüber hinaus wissen, ob der andere dies völlig unabhängig von seinem, des Skeptikers, Verhalten tut, oder im Zuge einer mit ihm geteilten kooperativen Strategie.
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Der Skeptiker muß dies wissen, weil es für ihn im Rahmen der Kooperation nur dann vernünftig ist, eine Disposition zur Moral auszubilden, wenn dies die Bedingung dafür ist, daß der andere seinerseits diese Disposition ausbildet. Wenn der andere die Disposition unabhängig von seinem Verhalten ausbildet, ist es für den Skeptiker nicht zwingend, die Disposition seinerseits auszubilden. Im Gegenteil: Er wird sich über den Vorteil, den die Disposition des anderen für ihn bedeutet, freuen und darauf verzichten, sich selbst entsprechend zu disponieren. Nun ist sehr klar, daß der Skeptiker das differenzierte "Wissen, das er bräuchte, um seine kooperative Strategie festzulegen, nicht erlangen kann. Es ist praktisch unmöglich, die nötigen Kenntnisse über die Hintergründe des moralischen Verhaltens des anderen zu bekommen. Doch selbst wenn auch diese Schwierigkeit zu beheben wäre, würde das nicht weiterhelfen. Die Idee des Dispositionentausches scheiterte dennoch. Und zwar deswegen, weil es hier um den Tausch uneingeschränkter Dispositionen zur Moral geht, um Dispositionen also, die in allen Situationen, auch solchen des Unbeobachtetseins, durchgängig zum Moralisch-Handeln disponieren. Eine derartige Disposition auszubilden, kann aber niemals Gegenstand eines Agreements sein. Und deshalb kann es für den moralischen Skeptiker niemals im Rahmen einer kooperativen Strategie rational sein, eine uneingeschränkte Disposition zur Moral auszubilden. Die Ausbildung einer solchen Disposition kann deshalb nicht Inhalt eines Agreements sein, weil es nicht möglich ist, zu erkennen, wie weit die Disposition, die jemand ausbildet, reicht. Ist sie auf den Bereich des Beobachteten beschränkt oder reicht sie weiter und umfaßt auch den Bereich des Unbeobachteten? Ob jemand auch in Situationen des Unbeobachtetseins zur Moral disponiert ist, bleibt also gerade im Dunkeln. Wenn aber nicht zu erkennen ist, ob der andere das tut, was Bedingung für die eigene Leistung ist, entfällt die Grundlage für ein Agreement. Zu sagen: „Ich tue das-und-das, vorausgesetzt du tust dasselbe", ist sinnlos, wenn es unmöglich ist, festzustellen, ob die Kondition erfüllt ist. Es
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ist dann unmöglich, auf das, was der andere tut, zu reagieren. Und damit ist die Grundlage für eine kooperative Strategie nicht gegeben. Der moralische Skeptiker wird sich folglich, weil er nicht erkennen kann, ob der andere sich uneingeschränkt zum Moralisch-Handeln disponiert, selbst nicht so disponieren. Er wird sich allenfalls eingeschränkt zur Moral disponieren. Sicherlich sind hier, was die epistemischen Möglichkeiten angeht, einige Einschränkungen am Platze. In einzelnen Fällen ist es durchaus möglich, sich eine Meinung darüber zu bilden, ob jemand dazu disponiert ist, auch im Verborgenen moralisch zu handeln. So wenn jemand im Verborgenen Unrecht tut und dann wider Erwarten doch entdeckt wird. In diesem Fall weiß man, daß er allenfalls eine eingeschränkte Disposition zur Moral hat. Genauso kann, daß jemand im Verborgenen moralisch gehandelt hat, wider Erwarten bekannt werden. Dies ist zwar kein sicherer Beweis für eine uneingeschränkte Disposition, aber immerhin ein Indiz. Gewiß kann man auch bei einigen Menschen, die man sehr gut kennt, mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß sie auch im Verborgenen dispositionell an die Moral gebunden sind. Aber die Fälle der einen wie der anderen Art sind selten. Sie sind nicht repräsentativ für das Leben in der moralischen Gemeinschaft. Außerdem verdanken sich Entdekkungen darüber, wie jemand im Verborgenen gehandelt hat, fast immer zufälligen, nicht vorhersehbaren Umständen. Darauf läßt sich aber keine kooperative Strategie gründen. Außerdem müßte man ja in all den genannten Fällen nicht nur erkennen, wie jemand disponiert ist, man müßte auch erkennen, daß er die Disposition nicht unabhängig von dem, was man selbst tut, ausbildet. Ich komme also zu dem Ergebnis, daß die Idee des Dispositionentausches das Problem des Unrechttuns im Verborgenen nicht zu lösen vermag. Für den moralischen Skeptiker ist es kein rationales „Muß", im Zuge einer kooperativen Strategie eine uneingeschränkte Disposition zur Moral auszubilden. Ob es rational ist, innerhalb einer solchen Strategie eine auf den Bereich des Beobachteten eingeschränkte dispositionelle Bin-
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dung an die Moral einzugehen, kann ich offenlassen. Die vorangegangenen Überlegungen haben aber gezeigt, daß auch dem massive Schwierigkeiten entgegenstehen. Dieses Ergebnis ist für die am Projekt der Moral Beteiligten, auch für den moralischen Skeptiker, unbefriedigend. Sie wollen ja im Interesse ihrer eigenen Sicherheit eine Lösung für das Problem des verborgenen Unrechttuns, müssen aber einsehen, daß das, was für sie alle nützlich wäre und was sie deshalb übereinstimmend wollen: eine Kooperation, nach der alle auch im Verborgenen moralisch handeln und sich entsprechend disponieren, nicht zustande kommt. Die Kooperation setzt sich, obwohl von allen gewünscht, nicht durch. Das Problem, daß eine Kooperation, obwohl von allen gewollt, nicht oder nicht immer zustande kommt, ist uns nicht neu. Wir kennen es bereits von den Agreements über gegenseitige Freiheitsverzichte auf der Ebene der Handlungen. Das Remedium war hier die Etablierung des moralischen Müssens, das das bloß prudentielle Müssen der kooperativen Strategie verstärkt oder, wenn dieses nicht zustande kommt, ersetzt. Das moralische Müssen ist ein sanktionskonstituiertes Müssen. Man schafft es, indem man das Anders-Handeln künstlich mit negativen Konsequenzen belegt. Die Frage ist nun, ob die Konstitution eines moralischen Müssens durch Sanktionen nicht auch auf der Ebene der Dispositionen möglich ist. Die an der Moral Beteiligten müßten vereinbaren, die Ausbildung der uneingeschränkten Disposition zur Moral dadurch zu einem „Muß" zu machen, daß die Unterlassung sanktioniert wird. Sie müßten ein System von Sanktionen errichten, die unweigerlich den, der sich nicht uneingeschränkt dispositionell an die Moral bindet, treffen und die so hart sind, daß es für jeden rational zwingend ist, die Disposition auszubilden. Die Ausbildung der Disposition würde so zu einer moralischen Verpflichtung. Man wäre verpflichtet, nicht nur moralisch zu handeln, sondern auch moralisch zu sein. Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft könnten nicht nur bestimmte Handlungen, sondern auch ein bestimmtes Sein, einen bestimmten Charakter wechselseitig voneinander fordern.
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Doch auch hier ist leicht zu sehen, daß diese Idee scheitert. Sie scheitert an denselben epistemischen Problemen wie die Idee des Dispositionentauschs. Denn man müßte, sollte die SanktionsIdee erfolgreich sein, nicht nur erkennen können, ob jemand eine Disposition zur Moral hat, man müßte auch erkennen können, ob die Disposition uneingeschränkt ist oder nicht. Das kann man aber, von den genannten Ausnahmen abgesehen, nicht. Deshalb gibt es für eine moralische Sanktionierung keine Basis. Wie die Sanktionierung des unmoralischen Handelns im Verborgenen scheitert, so scheitert es auch, zu sanktionieren, daß jemand für den Bereich des Unbeobachteten nicht generell zum MoralischHandeln disponiert ist. Die ideale Sanktionsinstanz wäre auch hier ein allwissendes Wesen, für das die Menschen in allem, auch in ihren Dispositionen, transparent sind. Ein solches Wesen gibt es aber nicht. Und deshalb scheitert die Sanktions-Idee. Trotz dieses Ergebnisses wird eine rationale Moral Sanktionen auf der Ebene der Dispositionen - man kann vielleicht von sekundären Sanktionen sprechen - etablieren. Sie wird es zu einem moralischen „Muß", zu einer moralischen Verpflichtung machen, eine moralische Handlung deshalb zu tun, weil sie moralisch ist. Sie wird es damit zu einer - positiven - Pflicht machen, moralisch zu sein. Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft werden die Personen sanktionieren, von denen sie erkennen, daß sie nicht zur Moral disponiert sind. Der Grund für diese sekundäre Sanktionierung ist klar: Wer keine dispositionelle Bindung an die Moral hat, wird bei der nächsten Gelegenheit, bei der es für ihn vorteilhaft ist, unmoralisch zu handeln, das Unrecht tun. Er ist in seinem moralischen Verhalten nicht verläßlich. Das ist für die anderen schlecht. Und deshalb reagieren sie mit Gegenmaßnahmen, mit Tadel, sozialer Ablehnung und Ausgrenzung. Wie gesehen, setzt die Erkenntnis, daß jemand nicht zur Moral disponiert ist, in der Regel ein längeres Kennen der Person voraus. Die Sanktionierung ist also an Voraussetzungen gebunden, die häufig nicht erfüllt sind. Das nimmt dem System sekundärer Sanktionen Wirkung, aber es nimmt ihm keineswegs alle Wirkung. Wir
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kennen nicht alle länger, mit denen wir zu tun haben, aber doch eine ganze Reihe. Die sekundären Sanktionen kommen vor allem dort zum Zug, wo wir mit anderen nahe zusammenleben. Natürlich verhängen die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft auch dann sekundäre Sanktionen, wenn sie erkennen, daß jemand nur partiell zur Moral disponiert ist. Dies ist, wie gesagt, nur selten möglich. Aber auch hier gilt, daß selten häufiger ist als nie. Außerdem gilt für die sekundären Sanktionen, was auch für die primären gilt: Sie verwandeln sich auf dem Wege der Internalisierung in innere Sanktionen und treffen in dieser Form auch den, den sie eigentlich, als äußere Sanktionen, nicht treffen. Dem, der im Verborgenen Unrecht tut, ist nicht nur präsent, daß die anderen diese spezielle Handlung mißbilligen, ihm ist auch präsent, daß die anderen seine ganze Haltung zur M o r a l mißbilligen. Das löst Unbehagen und inneren Widerstand aus: nun nicht allein gegen das, was er tut, sondern auch dagegen, wie er ist. Die ursprünglich äußeren Sanktionen, die primären und die sekundären, wirken auf diese Weise in das „Innere" der betroffenen Person hinein. Dies ist ein starker Grund für die Etablierung sekundärer Sanktionen. M i t der Einführung sekundärer Sanktionen erfährt die kontraktualistisch fundierte M o r a l , wie ich sie entwickelt habe, eine bedeutende Erweiterung: Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sind nicht nur zu Handlungen, sondern auch zu Dispositionen zu Handlungen moralisch verpflichtet. Die M o ral kennt nicht nur die moralische Forderung, in bestimmter Weise zu handeln, man muß auch eine Person bestimmter Art sein. Es ist also nicht so, daß eine kontraktualistische M o r a l ausschließlich handlungsbezogen ist und die handelnden Personen und ihre Charaktereigenschaften übergeht. 3. Ich kann jetzt die Überlegungen zu der Frage, ob die Wirkung der moralischen Sanktionen auf Situationen des Beobachtetseins begrenzt ist und es deshalb im Verborgenen überhaupt kein moralisches Müssen gibt, zusammenfassen. Zunächst schien es so, als müsse eine kontraktualistische Moralkonzep-
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tion, die das moralische Müssen als sanktionskonstituiertes Müssen konzipiert, eingestehen, daß es im Verborgenen kein moralisches Müssen geben kann. Wir haben jetzt gesehen, daß dieser erste Eindruck trügt. Die moralischen Sanktionen wirken auf verschiedene Weise in den Bereich des Unbeobachteten hinein. Einmal weil, wer erwägt, im Verborgenen Unrecht zu tun, in vielen Situationen nicht ausschließen kann, entdeckt zu werden und dann die Sanktionen doch hinnehmen zu müssen. Wer den Sanktionen sicher entgehen und nicht mit Angst vor dem Entdeckt-Werden leben will, muß also auch im Verborgenen in vielen Situationen moralisch handeln. Z u m anderen sind die moralischen Sanktionen im Verborgenen in verwandelter, internalisierter Form als innere Sanktionen präsent. Wer im Verborgenen Unrecht tut, hat mit einem Unbehagen, einem inneren Widerstand zu tun, weil ihm die Reaktionen der anderen auf sein Tun auf eine untergründige Weise präsent sind. Den inneren Sanktionen kann man nicht entkommen, sie sind aber, wie wir sahen, relativ schwach, zumindest für jemanden wie den moralischen Skeptiker. Diese beiden Formen des moralischen Müssens im Verborgenen werden verstärkt durch die Effekte der sekundären moralischen Sanktionen. Diese dispositions bezogenen Sanktionen vergrößern die Angst vor dem Entdeckt-Werden. Und sie vergrößern den inneren Druck zugunsten des Moralisch-Handelns; denn in einer sozialen Umwelt, die sekundäre Sanktionen kennt, spürt der, der Unrecht tut, nicht nur, daß er etwas tut, was die anderen ablehnen, sondern auch daß er eine Person ist, die die anderen ablehnen. Weiter verstärkt oder ergänzt werden die verschiedenen Formen des sanktionskonstituierten moralischen Müssens durch ein prudentielles, bloß rationales Müssen: es ist auch im Verborgenen aus Gründen der Vereinfachung der Handlungsentscheidungen vernünftig, eine Disposition zur Moral auszubilden, freilich nicht für alle Situationen des Unbeobachtetseins, sondern nur für die, in denen es unmöglich oder zu aufwendig ist, das Risiko des Entdeckt-Werdens im Falle des Unrechttuns verläßlich zu bestimmen.
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Wir sehen, es kommt auch im Verborgenen einiges zusammen, was dazu nötigt, moralisch zu handeln. Auch im Verborgenen ist das Unrechttun mit einem Bündel von Nachteilen verbunden. Jedes der nötigenden Elemente ist zwar für sich genommen in seiner Wirkung beschränkt - entweder erreicht es nicht alle Situationen des Unbeobachtetseins oder seine nötigende Kraft ist nicht sehr stark - , aber zusammengenommen haben sie natürlich eine ungleich größere Wirkung. Es gibt einen erheblichen kumulativen Effekt. Wer im Verborgenen Unrecht tut, muß dafür in jedem Fall einen Preis bezahlen. In wievielen Situationen er so groß ist, daß das Unrechttun unvernünftig ist, und wie oft er zu niedrig ist, um die Vorteile des Unrechttuns zu überwiegen, läßt sich am grünen Tisch nicht entscheiden. Klar ist aber, daß das moralische Müssen nicht in jeder Situation im Verborgenen stark genug ist, um effektiv zum Moralisch-Handeln zu nötigen. Klar scheint auch zu sein, daß die Kraft der moralischen Sanktionen im Bereich des Unbeobachteten insgesamt schwächer ist als im Bereich des Beobachteten. Hier, im Beobachteten, ist schließlich ihr eigentliches Feld, im Unbeobachteten wirken sie hingegen nur auf indirekte und abgeschwächte Weise. Gewiß liegt in der begrenzten Wirksamkeit der moralischen Sanktionen eine Schwäche der nach kontraktualistischen Baugesetzen errichteten rationalen Moral. Aber es ist eine unvermeidliche Schwäche. Wenn die moralischen Sanktionen kraftlos sind, dann ist, ich habe es schon gesagt, notwendigerweise auch das moralische Müssen kraftlos. Wie die meisten Dinge, die die Menschen erfinden, ist auch die Moral nicht perfekt. Aber das heißt nicht, daß sie nicht eine äußerst nützliche Institution ist. In der Moralphilosophie findet man es häufig, daß eine Moralkonzeption verworfen wird, weil sich zeigt, daß die Moral, die sie für vernünftig hält, nicht alles kann, etwa nicht in allen Situationen zum moralischen Handeln motivieren kann. Aber das ist eine Naivität. Ein Blick in die Welt genügt, um zu sehen, daß die Moral, die wir faktisch haben, nicht verhindern kann, daß Unrecht getan wird. Und auch wenn man eine bes-
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sere Moral an ihre Stelle setzen könnte, bliebe es dabei, daß das moralische Müssen häufig zu schwach ist, um effektiv zum Moralisch-Handeln zu nötigen. Diese Grenze kann keine Moral überwinden. Vielleicht hilft hier ein Blick auf das System juridischer Sanktionen. Es steht, was das Unrechttun im Verborgenen angeht, mindestens vor denselben Problemen wie die Moral. Dennoch würde niemand auf die Idee kommen, die Nützlichkeit und Effektivität der juridischen Ordnung anzuzweifeln.
§ 7 Der Inhalt der Moral und das Problem der Gerechtigkeit 1. Ich habe jetzt gezeigt, was das moralische Müssen ist, wie es zu ihm kommt und was ihm seine Kraft gibt. Die Kernaussagen der vorgetragenen Konzeption sind: (1) Das moralische Müssen entspringt einem Agreement, einer Kooperation derer, die erkennen, daß gegenseitige Freiheitsverzichte und gegenseitige Handlungsbeschränkungen für jeden von ihnen vernünftig sind, und die zudem erkennen, daß das Vernünftigsein der Kooperation häufig nicht ausreicht, um sie verläßlich zustandezubringen. Weswegen es des künstlich geschaffenen moralischen Müssens bedarf, das das rationale Müssen verstärkt oder restituiert. (2) Das factum brutum der Kooperation ist die Etablierung eines Sanktionensystems, durch das bestimmte Handlungen künstlich notwendig und andere unmöglich gemacht werden sollen. Das moralische Müssen ist also ein sanktionskonstituiertes Müssen. (3) Das moralische Müssen ist ein Verpflichtetsein. Wer etwas moralisch tun oder unterlassen muß, ist verpflichtet, so zu handeln. Entsprechend hat der andere ein Recht auf ein bestimmtes Verhalten. Er ist berechtigt, ein bestimmtes Verhalten ihm gegenüber zu fordern. - Mit dieser Konzeption der Moral sind die Fragen beantwortet, die der moralische Skeptiker angesichts an ihn gerichteter moralischer Forderungen stellt: ( 1 ) Was für Forderungen sind das und was begründet die aus ihnen entspringende Verpflichtung? Und: (2) Aus welchem Grund sollte ich Forderungen dieser Art nachkommen? Es ist gezeigt, daß es von der Position des Skeptikers aus zwingend ist, einen Raum des Moralischen zu etablieren und moralisch zu handeln. Wir wissen freilich noch nicht, wie der moralische Raum ausgestaltet ist, d.h. wir wissen noch nichts über den Inhalt der
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Moral. Zu welchen Inhalten kommt eine so fundierte Moral? Das ist das Thema dieses und des folgenden Kapitels (§ 7 und § 8). Ich werde mich hier auf die wichtigsten grundsätzlichen Fragen beschränken. Es wäre, wie sich im folgenden zeigen wird, eine eigene große Aufgabe, den Inhalt einer kontraktualistischen Moral im einzelnen zu fixieren. In diesem Kapitel geht es zunächst um prinzipielle Klärungen und dann speziell um die Frage, ob die die Moral konstituierenden Agreements gerecht sind. In § 8 wird es um die Frage gehen, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist, wer also Träger von moralischen Rechten und Pflichten ist. - Wir werden sehen, daß eine kontraktualistisch fundierte Moral erheblich von der tradierten Moral abweicht und deutlich weniger an Inhalt hat. Sie hat weniger Inhalt als man vielleicht wünscht. Es ist deshalb hier wie in der Moralphilosophie überhaupt wichtig, darauf zu achten, daß das Wünschen das Denken nicht unterjocht. Daß man sich bestimmte Ergebnisse wünscht, bedeutet nicht, daß man sie auch bekommt. Die Aussage, daß es zwingend ist, dasund-das zu tun oder zu unterlassen, wird nicht dadurch wahr, daß man sich wünscht, daß es so sei. M a n muß also, wenn man bestimmen will, wie weit eine rationale Moral reicht, möglichst illusionslos ihre Grenzen abstecken. Es geht hier zunächst um eine Diagnose. Wie man mit dem diagnostizierten Tatbestand umgeht und was er für unser Zusammenleben bedeutet, dies sind dann weitere Fragen. 2.1. Die kontraktualistische Moral ist eine Moral, die ihre Basis in den Interessen der Beteiligten hat. Der Inhalt der Interessen bestimmt deshalb den Inhalt der Moral. Wenn niemand daran interessiert wäre, nicht getötet zu werden, dann wäre das Tötungsverbot nicht Teil der Moral. Da es zu einem Agreement zwischen zwei oder mehreren Personen nur kommt, wenn ihre Interessen konvergieren, ist der Raum des Moralischen ein Raum konvergierender oder gemeinsamer Interessen. Für die genauere Bestimmung dieser Interessen ist es wichtig, sich erneut klarzumachen, daß es das Ziel einer kontraktualistischen
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Moral ist, moralisches Verhalten als rational zwingend zu erweisen. Die kontraktualistische Moral ist so konstruiert, daß es für jeden und damit auch für den moralischen Skeptiker rational zwingend ist, an ihr teilzuhaben und sich moralisch zu verhalten. Infolge dieser Zielsetzung hat in einer Moral dieser Art, wie bereits gesehen 1 , alles das keinen Platz, was nur rational möglich ist. Das gilt auch für die Interessen, auf denen die Moral basiert. Interessen, die man rationalerweise haben kann, aber auch nicht haben kann, können aus diesem Grund in einer kontraktualistischen Moral keine Rolle spielen. Eine Moral, deren Grundlage nur rational mögliche Interessen sind, könnte mit ihren Forderungen alle die nicht erreichen, die diese Interessen nicht haben. In einer kontraktualistischen Moral haben folglich nur solche Interessen Bedeutung, von denen niemand sagen kann, daß er sie nicht hat. Es sind die Interessen, die man jedem fraglos unterstellen kann. Wir haben oben gesehen, daß man nicht zeigen kann, daß es zwingend ist, etwas zu wollen, - es sei denn in bezug auf ein anderes, zugrundeliegendes Wollen. 2 Zu Interessen, die man jedem unterstellen kann, kommt man demnach nur, wenn man Interessen findet, die faktisch jeder einfach hat. Erst in bezug auf solche faktisch allgemeinen Interessen kann man dann von anderen, nachgeordneten Interessen sagen, sie zu haben, sei für jeden rational zwingend. Wie kann man diese basalen allgemeinen Interessen, die man jedermann berechtigterweise unterstellen kann, bestimmen? Ich habe oben bereits zwei Möglichkeiten des Vorgehens unterschieden. 3 Zum einen kann man sagen: Alle Menschen haben, einfach aufgrund der Tatsache, daß sie Lebewesen dieser Art sind, die-und-die basalen Interessen. Diese Strategie ist der Idee nach empirisch, sie sucht nach anthropologischen Grunddaten. Hobbes ist ein Vertreter dieser Strategie: Das basale Interesse aller Menschen ist das Interesse an Selbsterhal1 2 3
Vgl. § 6, S. 1 6 4 f. vgl. S 2 , S. 2 9 f., 3 3 f. Vgl. § 2 , S. 3 4 ff.
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tung. Sicher kommen noch weitere Interessen hinzu. Denn die Menschen wollen, wie Piaton und Aristoteles immer wieder betont haben, nicht nur leben, sie wollen gut leben. Das heißt, sie kennen verschiedene Möglichkeiten, ihr Leben zu führen, und sie beurteilen sie nach „besser" und „schlechter". Und sie wollen unter den ihnen jeweils offenstehenden Möglichkeiten die realisieren, die ihnen die für sie beste zu sein scheint. Rawls hat eine Gruppe von Gütern ausgegrenzt, die, wie er glaubt, jeder will, der ein gutes Leben will. Die Bestimmung dieser sogenannten Grundgüter („primary goods") ist dabei, das ist ganz wichtig, unabhängig davon, welche Lebensweise jeweils angestrebt wird. Wenn man überhaupt eine bestimmte Lebensform zu realisieren versucht, und das tun die Menschen, dann ist man, so Rawls, an diesen Grundgütern interessiert. Es sind deshalb Güter, „von denen man annehmen kann, daß jede rationale Person sie will." 4 Rawls' Liste ist, obwohl sie nur die wichtigsten Grundgüter enthält, lang: Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Besitz, Gesundheit, Lebenskraft, Intelligenz, Phantasie und Selbstrespekt. 5 Unbefriedigend an dieser Strategie ist, daß das empirische Vorgehen in aller Regel nur eine Idee bleibt und deshalb nicht klar ist, anhand welcher Gesichtspunkte die Liste der Grundgüter eigentlich zusammengestellt wird. Letzten Endes sind es die Intuitionen des jeweiligen Autors, die die Liste so oder so ausfallen lassen. Und das führt oft dazu, daß alles Mögliche zum Wesen des Menschen und zu seinen wesentlichen Interessen erklärt wird. Aussichtsreicher erscheint deshalb die zweite Vorgehensweise. Sie läßt offen, welche Interessen die Menschen haben, und geht allein davon aus, daß sie überhaupt Interessen haben, welche auch immer, und daß sie zudem das höherstufige Interesse haben, ihre Interessen zu verfolgen und zu befriedigen. Dieses höherstufige Interesse ist es, das jeder Mensch einfach hat. Dieses, man kann vielleicht sagen, „formale" Interesse 4 5
Rawls, A Theory of Justice, 62, 92, 433, dt. 83, 112, 472. Ebd. 62, dt. 83.
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kann man allen Menschen unterstellen, gleichgültig wie sie sich ansonsten in ihren „materialen" Interessen unterscheiden. Und von diesem einen höherstufigen Interesse kann man, so die Strategie, zu weiteren allgemein unterstellbaren Interessen kommen. Nämlich indem man überlegt, welche anderen Interessen rational zwingend sind, wenn man an der Verfolgung seiner materialen Interessen interessiert ist. 6 Diese Strategie geht also überhaupt nicht von inhaltlich bestimmten Interessen aus, sie sagt nicht, welche Interessen den Menschen wesentlich sind, sie sagt nur, daß sie, da sie überhaupt etwas wollen, das Gewollte auch verwirklichen wollen; sie wollen etwas dafür tun können, daß das Gewollte Wirklichkeit wird. Und wenn sie dies wollen, ist es zwingend, auch anderes zu wollen, weil, dies zu haben, die Bedingung dafür ist, seine Interessen zu verfolgen. Das Paradebeispiel für ein solches abgeleitetes, rational zwingendes und deshalb allgemein unterstellbares Interesse ist natürlich das Interesse an der Selbsterhaltung: Wer erreichen will, woran er interessiert ist, muß notwendigerweise auch seine Selbsterhaltung wollen. Dieses Beispiel legt vielleicht die Vermutung nahe, die Liste der basalen Interessen werde bei der Verfolgung der zweiten Strategie nicht viel anders aussehen als bei der ersten Strategie. Aber selbst wenn es so sein sollte, bleibt der Unterschied, daß man jetzt nicht einfach behauptet, alle Menschen wollten ihre Selbsterhaltung, man führt dieses Wollen vielmehr als eines ein, das rational zwingend ist, wenn man seine Interessen und Wünsche realisieren will. Das heißt, man hat jetzt einen Gesichtspunkt, anhand dessen man die basalen Interessen bestimmen und begrenzen kann. Für einen ersten Blick auf die basalen Interessen kann man die klassische, schon in der vorplatonischen Philosophie zu findende Dreiteilung der Güter in Güter der Seele, Güter des Körpers und äußere Güter zu Hilfe nehmen und überlegen, 6
Vgl. hierzu Gauthier, Between Hobbes and Rawls, 26. - Eine ähnliche Überlegung auch bei O. Höffe, z.B.: Gerechtigkeit als Tauschi Zum politischen Projekt der Moderne (Baden-Baden 1991) 26 f.
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welche Güter aus jedem Bereich man wollen muß, wenn man überhaupt etwas will und das Gewollte realisieren will. Basal, das ist klar, ist die Erhaltung des Lebens. Aber man muß nicht nur leben, man muß seinen Körper möglichst unbeeinträchtigt von Krankheiten und äußeren Eingriffen gebrauchen können, wenn man seine Ziele erreichen will. Das Interesse an körperlicher Aktionsfähigkeit und damit an Gesundheit und Integrität des Körpers scheint also rational zwingend zu sein. Entsprechendes gilt für die geistige Handlungsfähigkeit. Man wird in der Verfolgung seiner Ziele, gleichgültig welche es sind, nur erfolgreich sein können, wenn man möglichst unbeeinträchtigt über seine geistigen Potentiale verfügen kann. Und dies gilt drittens auch für die psychische Gesundheit - ein weiteres Gut der Seele. Man braucht ein Mindestmaß an psychischer Stabilität und psychischem Wohlbefinden, um sein Leben in die gewünschte Richtung führen zu können. Die klassischen Beispiele für äußere Güter sind materielle Mittel, Freundschaften, günstige Umstände, überhaupt die Gunst des Zufalls. Einiges hiervon erfordert bereits die Erhaltung des Lebens: Besitz von Nahrungsmitteln, Kleidung, Gebäuden zum Schutz vor Witterung und wilden Tieren. Wahrscheinlich braucht man, wenn man nicht nur irgendwie, sondern auf eine bestimmte Weise leben will, noch andere materielle Güter. Fast alle Lebensformen setzen das Verfügen-Können über bestimmte materielle Güter voraus. Ein weiteres Gut, das für die Erreichung aller oder fast aller Ziele wichtig ist, ist das Glück (im Sinne des günstigen Zufalls). Das Interesse daran scheint auch eins zu sein, das man allen berechtigterweise unterstellen kann. Nicht genannt wurde bisher ein Interesse, das elementar ist und das ebenfalls allen Menschen unterstellt werden kann, das Interesse, nicht gedemütigt und erniedrigt zu werden, nicht unmenschlich, nicht wie ein Stück Vieh behandelt zu werden. Mir ist nicht ganz klar, ob dieses Interesse ein rational zwingendes Interesse im Sinne der zweiten Vorgehensweise ist, ob man dieses Interesse also nur hat, weil man möglichst ungehindert seine Ziele realisieren will. Wohl eher nicht. Die zweite Vorge-
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hensweise scheint also auch ihre Grenzen zu haben und darauf angewiesen zu sein, mit der ersten kombiniert zu werden. Ich untersuche diesen methodischen Punkt hier nicht weiter. Wichtig ist, daß das Interesse, nicht gedemütigt und erniedrigt zu werden, ein Interesse ist, von dem man annehmen kann, daß es jeder Mensch hat. 2.2. Konvergierende Interessen sind indes noch keine hinreichende Basis für moralkonstituierende Agreements. Wenn A sich für die Realisierung seiner Ziele Glück wünscht und Β dasselbe für sich will, ergibt sich daraus nichts. Deshalb nicht, weil Β keinen Einfluß darauf hat, ob A Glück hat, und A umgekehrt auch nicht. Das Interesse der beiden läuft gewissermaßen jeweils an dem anderen vorbei, es hat mit dem anderen nichts zu tun. Ein Agreement kann nur zustande kommen, wenn das Interesse von A an Β (oder auch an B) gerichtet ist und umgekehrt das Interesse von Β an A (oder auch an A). A muß, mit anderen Worten, von Β wollen, daß er ihm gegenüber etwas tut oder unterläßt, und Β muß dasselbe von A wollen. Nun wird ein Interesse natürlich nur dann in diesem Sinne an jemanden gerichtet, wenn dieser in einer Position ist, dem anderen das Gewollte zu verschaffen. Nehmen wir unser Beispiel des Interesses an körperlicher Unversehrtheit. A will, daß er durch andere nicht verletzt wird. Dieses Interesse richtet sich auch an B, sofern Β die Möglichkeit, man kann auch sagen: die Macht hat, A zu verletzen. Normalerweise hat er diese Macht, die Natur gibt sie ihm. Nur weil er sie hat, ist er und sein Verhalten Gegenstand des Interesses von A. Ist die Situation umgekehrt dieselbe, hat also auch Β das Interesse, durch andere nicht verletzt zu werden, und hat A die Macht, Β zu verletzen, richtet sich auch Bs Interesse an A, er will von A, daß er ihn nicht verletzt. In dieser symmetrischen Situation kann es zu einem Agreement kommen: A und Β können im Tausch auf die Möglichkeit verzichten, den anderen zu verletzen. Vorausgesetzt natürlich, daß beide es besser finden, auf die eigene Handlungsmöglichkeit zugunsten der Handlungsbeschränkung
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des anderen zu verzichten. Ist auch diese Bedingung erfüllt, kommt es vernünftigerweise zu der Etablierung eines Sanktionsmechanismus, durch den die Verletzung des anderen zu etwas wird, das A und Β unterlassen müssen. Das Gesagte bedeutet nicht nur, daß es zu keinem Agreement kommt, wenn A und Β beide die Machtbedingung nicht erfüllen - wie im Falle des gemeinsamen Interesses am günstigen Zufall - ; es bedeutet auch, daß es zu keinem Agreement kommt, wenn A, aber nicht Β die Machtbedingung erfüllt. Wenn Β nicht in der Lage ist, A zu verletzen, kommt es zu keinem Agreement. Und das heißt, es besteht für A keine moralische Verpflichtung, Β nicht zu verletzen. A und Β wollen in dieser Situation zwar beide nicht durch andere verletzt werden, so weit konvergieren ihre Interessen. Aber während sich das Interesse von Β auch an A richtet, richtet sich das Interesse von A nicht an B. Diese Asymmetrie resultiert, wie gesagt, aus der Ungleichheit der Handlungsmöglichkeiten. A und Β verfügen nicht über dieselbe Macht. Und deshalb kommt es hier zu keinem Agreement. - Wenn hier von „derselben" Macht oder der gleichen Macht als Vorbedingung eines Agreements die Rede ist, ist natürlich nicht eine Gleichheit der Handlungsmöglichkeiten tout court gemeint. A und Β können in ihrer Körperkraft sehr verschieden sein. Wenn sie nur genug Kraft haben, um den anderen zu verletzen - und sehr viel Kraft gehört nicht dazu - , verfügen sie in der relevanten Hinsicht über die gleichen Handlungsmöglichkeiten. Das ist eine wichtige Präzisierung. Worauf es ankommt, ist die Gleichheit darin, dem anderen etwas von ihm nicht Gewolltes antun zu können. Ich werde auf diese Gleichheitsbedingung noch zurückkommen. Zunächst aber noch zwei weitere allgemeine Bemerkungen über den Inhalt der Moral. 2.3. Die bisherigen Überlegungen und die verwandten Beispiele könnten den Eindruck erwecken, die kontraktualistische Moral sei nur ein System wechselseitiger Unterlassungen, sie habe nur Abwehrrechte und negative Pflichten zum Inhalt.
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Dieser Eindruck wäre falsch. Wer sein Leben erhalten will, will nicht nur, daß die anderen es ihm nicht nehmen, er will vernünftigerweise auch, daß die anderen ihm zu Hilfe kommen, wenn sein Leben bedroht ist. Deshalb ist es für A und Β vernünftig, ein versicherungsartiges Agreement zu treffen: Wenn ich, A, in eine Notsituation geraten sollte, in der mein Leben bedroht ist, und du, B, in einer Position bist, mir zu helfen, sollst du dies tun müssen, und ich bin im Gegenzug genauso moralisch verpflichtet, dir in einer entsprechenden Situation zu helfen. Die kontraktualistische Moral hat, wie dieses Beispiel zeigt, zweifellos auch Leistungsrechte und positive Pflichten zum Inhalt. Die positiven Pflichten sind freilich mit speziellen Schwierigkeiten verbunden, die es bei negativen Pflichten nicht gibt. Angenommen, A gerät in eine Lebensgefahr und B, C und D können ihm helfen. Jeder hat die Möglichkeit und die moralische Pflicht, es zu tun. Aber so wie die Situation ist, bedarf es nur der Hilfe eines einzigen. Wer soll jetzt helfen? Jeder kann sagen: Die anderen sind genauso verpflichtet wie ich, soll es doch einer von ihnen tun. Es gibt hier gewissermaßen ein Zuviel an Pflicht und damit ein Problem der Auswahl. Dies ist eine Schwierigkeit, die bei negativen Verpflichtungen nicht entsteht. Eine zweite Schwierigkeit kann hinzukommen: Anderen in einer Notsituation helfen zu müssen, kann, wenn es viele solcher Fälle gibt, die Konsequenz haben, vor lauter Hilfeleistungen sein eigenes Leben nicht mehr leben zu können. Positive Verpflichtungen haben, wenn die Umstände entsprechend sind und wenn die Pflichten nicht begrenzt sind, die Tendenz, das eigene Leben ganz oder zu einem großen Teil zu okkupieren. Bei negativen Pflichten stellt sich dieses Problem ebenfalls nicht. Die Pflicht, niemanden zu töten oder zu verletzen, greift nicht in dieser Weise in das Leben ein, und sie macht es keineswegs unmöglich, sein eigenes Leben zu haben. Agreements über positive Pflichten sind, wie sich zeigt, komplizierter als solche über negative Pflichten. Obwohl von gleicher Struktur - auch hier müssen natürlich die genannten Voraussetzungen erfüllt sein, damit es zu einem Agreement kommt - ,
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verlangen sie zusätzliche Regelungen und Grenzziehungen. Es ist kein Zufall, daß in der Geschichte der Moralphilosophie die Begründung und Bestimmung der positiven Pflichten immer nur zu theoretischen Notlösungen geführt hat. Dies spiegelt nur unsere praktische Situation. Wir sind uns sicher, verpflichtet zu sein, andere nicht zu töten oder zu verletzen. Aber wozu wir angesichts der Notleidenden verpflichtet sind, ist uns nicht so klar. Wir lavieren hier. 2.4. Die kontraktualistische Theorie, wie ich sie hier entfalte, hat, wie gesagt, das Ziel, zu zeigen, daß es für jeden und damit auch für den moralischen Skeptiker rational zwingend ist, den moralischen Raum zu betreten. Die kontraktualistisch fundierte Moral ist folglich die eine vernünftige Moral mit dem einen vernünftigen Inhalt. Es gibt nicht mehrere vernünftige Moralen mit verschiedenen Inhalten. Diese Konzeption unterscheidet sich wesentlich von anderen Formen des moralischen Kontraktualismus. Das zeigt sich deutlich, wenn die Auffassung vertreten wird, der Kontraktualismus verbinde sich wie von selbst mit einem moralischen Relativismus. Kontraktualismus und Relativismus seien die genau zusammenpassenden Bildstücke, die zusammengelegt das richtige Bild von der Moral geben. Denn der Kontraktualismus verstehe die Moral doch als ein durch Menschen hervorgebrachtes Artefakt, das den Interessen der Beteiligten diene und eben deswegen erfunden worden sei. Die Menschen haben aber, so nun die Annahme, die den Relativismus ins Spiel bringt, in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften verschiedene Interessen, sie halten verschiedene Dinge für wertvoll und verfolgen unterschiedliche Ziele. Deshalb kommen sie hier zu anderen Agreements als dort, und damit auch zu anderen moralischen Inhalten. Es gibt also nicht eine einzige rationale Moral, sondern eine Mehrzahl von Moralen mit verschiedenen Inhalten. Dabei hat die eine Moral genauso ihr Recht wie die andere, weil diese wie jene Ergebnis der Interessen der jeweils an der Kooperation Beteiligten ist. Dieses Bild der Moral hat in den letzten Jahrzehnten vor allem
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G. Harman ausgearbeitet.7 Es lohnt sich, auf seine Konzeption näher einzugehen. Denn auf diese Weise kann der moralische Kontraktualismus, wie ich ihn vertrete, weiter verdeutlicht und präzisiert werden. Harmans Ausgangspunkt ist die Diagnose, daß es faktisch eine Verschiedenheit von moralischen Normensystemen gibt. Diese Tatsache erkläre man am besten durch die Annahme, daß die verschiedenen Regelsysteme durch wirkliche, wenngleich stillschweigende Agreements zwischen den jeweils Beteiligten entstanden seien. Die moralischen Normen resultieren, so Harman, aus einem Prozeß des steten und stillschweigenden Aushandelns: die Beteiligten bringen ihre Interessen und auch ihre Machtmittel in diesen Prozeß ein, und aus diesen Gegebenheiten entstehen mehr oder weniger von selbst kompromißartige, aber allseits als nützlich empfundene moralische Konventionen. Hier diese, dort jene, je nach den zugrundeliegenden Interessen und Wertvorstellungen. Harman erklärt also durch die Annahme tatsächlicher Übereinkünfte die moralische Wirklichkeit, 8 wie er sie sieht. Doch die wirklichen Agreements erklären nicht nur die moralische Realität, sie rechtfertigen sie auch. Die verschiedenen Moralen sind von den Beteiligten im Blick auf die jeweiligen Gegebenheiten zum Vorteil aller ausgehandelt worden, und hierin liegt ihre Rationalität. Die Dinge sind also so, wie sie sind, in Ordnung. An der Mehrzahl der Moralen und der Verschiedenheit ihrer Inhalte ist nichts zu kritisieren. Es gibt keine Gründe, die eine Moral der anderen vorzuziehen: „There are many different moral frameworks, none of which is more correct than the others."9 Faktische Genese und rationale Rechtfertigung fallen bei Harman also zusammen. Dies ist cha7
Vgl. die zusammenfassende Darstellung in G. Harman: Moral Relativism, in: G. H./J. J. Thomson: Moral Relativism and Moral Objectivity (Oxford 1996)1-64; hier werden auch die einschlägigen älteren Arbeiten Harmans genannt.
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Vgl. G. Harman: Rationality in Agreement. 5 (1988) 1-16, 1; Moral Relativism, 63. Harman, Moral Relativism, 8.
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Social Philosophy and Policy
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rakteristisch für alle Arten des Kontraktualismus, die von tatsächlichen Agreements ausgehen. Noch vor aller weiteren Kritik ist anzumerken, daß Harmans Vorstellung, keines der moralischen Systeme sei „korrekter" als die anderen, unplausibel ist. Denn natürlich beruhen viele moralische Vorstellungen auf metaphysischen oder religiösen Annahmen, die kognitiv kritisierbar sind, von denen sich also zeigen läßt, daß sie falsch sind oder daß es unvernünftig ist, sie zu machen. So hat etwa die Idee, daß die Menschen Geschöpfe Gottes sind, eine zentrale Bedeutung für die Moral der jüdisch-christlichen Tradition. Wenn es unbegründet ist, diese Annahme zu machen, sind die Teile der Moral, die sie voraussetzen, nicht Teile einer rationalen Moral. Hier bestimmt den Inhalt der Moral nicht ein Interesse - , ein Interesse, das als solches nicht zu kritisieren ist - , sondern eine Tatsachenannahme, die wahr oder falsch ist und, die zu machen, entweder vernünftig oder unvernünftig ist. Moralen und ihre Inhalte sind also durchaus kritisierbar. Und es ist klar, daß eine Moral, die auf metaphysischen Annahmen beruht, schlechter ist als eine Moral, die dies nicht tut. Und es gibt nicht nur unbegründete Tatsachenannahmen: eine Moral, die relevante Informationsdefizite aufweist, ist ebenfalls schlechter als eine, die dies nicht tut. - Harman hat die Vorstellung, daß Meinungen wie, daß der Mensch ein Geschöpf Gottes sei und daß sein Leben deswegen heilig sei, mit in den Verhandlungsprozeß eingehen. Sie machen einen Teil der Gegebenheiten aus, aus denen sich im Zuge eines komplexen Verhandlungsprozesses ein moralischer modus vivendi ergibt. Der Hintergrund dieser Konzeption ist vermutlich das tatsächliche Vorgehen in einer Gesellschaft. Es gelingt hier nicht, die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit bestimmter kognitiver Ansprüche so zu demonstrieren, daß alle zustimmen. Deshalb muß man mit dem Faktum verschiedener Meinungen zurechtkommen, und zwar, wie Harman meint, so, daß man sie mit in den Verhandlungsprozeß hineinnimmt. Politisch mag diese Strategie überzeugend sein; wenn es um die Frage geht, wie eine rationale Moral aussieht,
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ist sie es nicht. Die Fragen, (1) was eine rationale Moral ist und (2) welches politische Verfahren empfehlenswert ist, wenn es nicht gelingt, allgemeine Zustimmung für die eigene Konzeption einer vernünftigen Moral zu gewinnen, sind zwei verschiedene Fragen. Sie müssen auseinander gehalten werden. Die Überlegung des letzten Absatzes macht bereits klar, daß es sich, wenn es um die Frage geht, wie eine rationale M o r a l aussieht und welche Inhalte sie hat, nicht empfiehlt, vom status quo der moralischen Wirklichkeit auszugehen. Die verschiedenen moralischen Normensysteme sind das Ergebnis von Entstehungsprozessen, in die vielfach oder sogar überall metaphysische und religiöse Annahmen, Aberglauben, mythische Vorstellungen, aber auch Informationsdefizite, vielleicht auch logische und begriffliche Fehler eingegangen sind. Die Tatsache, daß die Menschen es waren, die diese Normen hervorgebracht haben und sie schließlich als Konventionen des gemeinsamen Lebens akzeptieren, reicht nicht aus, um ihnen Rationalität zuzusprechen. Will man bestimmen, was eine rationale Moral ist, empfiehlt sich eher die traditionelle Vorgehensweise: M a n denkt sich das, um dessen Vernünftigkeit es geht, hier also die M o r a l , weg und überlegt, ob es für rationale Personen vernünftig wäre, aus einem vormoralischen Zustand heraus eine M o r a l zu erfinden und, wenn ja, wie sie aussähe und welche Inhalte sie hätte. Eine solche Moral kann nur eine interessenfundierte Moral sein, wobei die Interessen, wie gesehen, konvergieren müssen und die Beteiligten zudem über bestimmte Machtmittel verfügen müssen. Ist eine entsprechende Konstellation von Interessen und M a c h t gegeben, kommt es vernünftigerweise zu Agreements über die Etablierung moralischer Normen durch die Errichtung eines Sanktionensystems. Diese Vorgehensweise ist die des hypothetischen Kontraktualismus. Er behauptet nicht wirkliche Agreements, sondern imaginiert einen vormoralischen Raum, um zu zeigen, daß es hier für rationale Individuen im Blick auf ihre eigenen Interessen vernünftig wäre, moralkonstituierende Agreements zu vereinbaren und damit eine Moral zu etablieren. Die M o r a l , wie sie wirklich ist, stimmt mit
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der so konstruierten rationalen Moral entweder überein oder nicht überein. Wenn sie übereinstimmt und deshalb rational ist, ist sie so beschaffen, daß sie aus Agreements, wie sie in den Überlegungen des hypothetischen Kontraktualismus nur imaginiert werden, hervorgegangen sein könnte. Dabei ist es ganz gleichgültig, wie sie tatsächlich entstanden ist. Es kommt nicht darauf an, daß sie faktisch aus Agreements hervorgegangen ist, sondern darauf, daß sie so beschaffen ist, daß sie aus Agreements rationaler Personen entstanden sein könnte. Man könnte aufgrund dieser Überlegung die These des Relativismus so modifizieren, daß sie in den Rahmen des hypothetischen Kontraktualismus paßt. Sie lautete dann: Es gibt in einer vormoralischen Welt, auch wenn ihre Bewohner rational sind, keine Interessen, die alle haben und die zu einer einzigen Moral, die für alle vernünftig ist, führen. Es gibt nur rational mögliche Interessen, solche also, die man haben kann, aber auch nicht haben kann. Soweit es in Gruppen konvergierende Interessen dieser Art gibt, ergeben sich, vorausgesetzt die anderen Bedingungen sind ebenfalls erfüllt, verschiedene Moralen. Da die zugrundeliegenden Interessen jeweils rational möglich sind, gilt dies auch für die verschiedenen Gruppen-Moralen. Die eine ist so gut wie die andere. Es gibt also, das ist jetzt die relativistische These, mehrere in diesem Sinne rationale Moralen und keineswegs nur eine, die für alle zwingend ist. Eine solche Konzeption ist, wie leicht zu erkennen ist, unplausibel. Denn es ist unplausibel, daß es keine allgemeinen Interessen gibt, die man jedermann unterstellen kann. Man denke an das Tötungsverbot. Jeder muß, wenn er überhaupt etwas will und das Gewollte realisieren will, sein eigenes Weiter-Leben wollen. Dies ist ein allgemein unterstellbares Interesse. Auch die zweite Bedingung für das Zustandekommen eines Agreements: nämlich daß das Interesse, nicht getötet zu werden, an die anderen gerichtet ist, weil sie die Macht haben, zu töten, scheint hier klar erfüllt zu sein. Ebenso die dritte Bedingung, daß jeder rationalerweise das eigene Nicht-getötet-Werden der Möglichkeit, (gelegentlich) selbst zu töten, vorzieht.
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Das Tötungsverbot ist demnach ein Inhalt einer für alle rationalen M o r a l , und nicht nur einer relativen oder regionalen Moral. Ein Vertreter des Relativismus, der diese Überlegung akzeptiert, würde seine Position vielleicht ein zweites M a l modifizieren und sich auf eine Position des Sowohl-als-auch zurückziehen: Zugegeben, so könnte er sagen, es scheint eine basale Moral zu geben, die für alle vernünftig ist. Das ist aber offenbar eine Moral mit sehr eng umgrenzten Inhalten. Neben oder besser gesagt: jenseits dieser basalen Moral gibt es (oder kann es zumindest geben) verschiedene regionale Gruppenmoralen, die jeweils weitergehende moralische Rechte und Pflichten zum Inhalt haben. Während die basale Moral ihren Grund in allgemein unterstellbaren und rational zwingenden Interessen hat, haben die regionalen Moralen ihn in rational möglichen Interessen. Auch sie sind folglich rationale Moralen. - Zu diesem Vorschlag ist als erstes zu sagen, daß offensichtlich keine moralische Forderung irgendeiner dieser regionalen Moralen mit Erfolg an den moralischen Skeptiker gerichtet werden kann. Niemand kann ihm zeigen, daß er Grund hat, einer Forderung dieser Art nachzukommen. Denn dies setzte voraus, ihm zeigen zu können, daß er das zugrundeliegende Interesse haben muß. Das ist aber gerade ausgeschlossen. Das heißt, daß derjenige, der eine moralische Forderung dieser Art an den Skeptiker richtet und ihre Nicht-Befolgung hinnehmen muß, sich eingestehen muß, etwas Unsinniges getan zu haben. Er hat eine Forderung an jemanden gerichtet und kann, wenn dieser ihr nicht nachkommt, nicht einmal sagen: „Du hättest das-und-das tun müssen." Denn für dieses Müssen gibt es keinen Grund, es hängt in der Luft. Eine Theorie des Moralischen, die dem Skeptiker gegenüber die Vernünftigkeit moralischen Handelns zeigen will, kann also niemals eine relativistische Theorie regionaler Moralen sein. Sie muß zeigen, daß es rational zwingend ist, moralisch zu handeln, und deshalb kann sich diese auch für den Skeptiker vernünftige Moral auf nichts gründen, was nur rational möglich ist.
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Hinzu kommt eine weitere Überlegung: Wer die Absicht hat, eine Forderung einer regionalen Moral an jemanden zu richten, muß den Adressaten im Grunde immer zunächst fragen, ob er das vorausgesetzte Interesse hat. Wenn er „ J a " sagt, kann er von ihm ein bestimmtes Verhalten fordern. Wenn er „Nein" sagt, kann er nichts machen. Eine merkwürdige Situation. Sie widerspricht allem, was wir mit einer moralischen Forderung verbinden. Wir verstehen eine moralische Forderung als eine Forderung, die wir an jeden richten können, gleichgültig wer er ist, wie beschaffen er ist und welche Interessen er hat. Es ist für eine moralische Forderung, so unsere gewöhnliche Vorstellung, gerade definitiv, daß man sich ihr nicht entziehen kann, auch nicht durch den Hinweis darauf, daß man etwas Bestimmtes gar nicht will. Eine sich erst einmal vortastende und Erkundigungen einholende moralische Forderung ist, wie es scheint, ein Unding. Man könnte meinen, in einer Gruppe, die durch eine regionale Moral geeint ist, bedürfe es einer solchen jeweils vorausgehenden Vergewisserung nicht. In der Gruppe könne man voraussetzen, daß jeder die entsprechenden Interessen habe. Doch ist die Gruppe wirklich so homogen? Und wie steht es mit denen, die neu in die Gemeinschaft hineinwachsen? Daß die Gruppe bestimmte Interessen teilt, heißt für sie noch nichts. Man wird sie also fragen müssen. Und man wird auch die anderen fragen müssen, und zwar immer neu. Denn ein rational mögliches Interesse ist ein Interesse, das man nur zeitweise haben kann. Man kann es heute haben, morgen aber nicht mehr. Und dies bedeutet eben, daß, wer eine Forderung einer regionalen Moral an jemanden richten will, sich im Grunde doch ständig vergewissern muß. Vielleicht könnte es jemand überraschend finden, daß ich an dieser Konsequenz so stark Anstoß nehme und so sehr unsere üblichen Vorstellungen davon, was eine moralische Forderung ist, zum Angelpunkt meiner Überlegung mache. Wir verbinden zwar, so könnte er sagen, gewöhnlich mit einer moralischen Forderung die Vorstellung ihrer Kategorizität, aber du hast oben doch selbst gezeigt, daß diese Vorstellung nicht haltbar
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ist. Es gibt keine kategorischen Imperative, weil es keine kantische praktische Vernunft gibt, weil es, mit anderen Worten, kein Vernünftigsein von Handlungen ohne Rekurs auf ein zugrundeliegendes Wollen gibt. Imperative, das war deine eigene Aussage, sind immer nur hypothetische Imperative. Und wenn es so ist, dann mußt du dich, bevor du den Imperativ an jemanden richtest, immer vergewissern, ob das vorausgesetzte Wollen überhaupt gegeben ist. - In der Tat, ich habe oben zu zeigen versucht 10 , daß es keine kategorischen Imperative im kantischen Sinne gibt. Aber daraus folgt nicht, daß es nicht doch moralische Forderungen geben kann, denen sich niemand entziehen kann. Es gibt solche Forderungen, weil es allgemein unterstellbare Interessen gibt. Niemandem ist es möglich, zu sagen, er habe diese Interessen nicht. Eine moralische Forderung, deren Müssen auf ein Wollen dieser Art bezogen ist, kann man mithin an jedermann richten, gleichgültig eine Person welcher Art der Adressat ist und gleichgültig welche speziellen Interessen er hat. Man kann diese Einsicht verdeutlichen, indem man eine wichtige Unterscheidung Kants zu Hilfe nimmt. Kant unterscheidet problematische und assertorische hypothetische Imperative. Die problematischen bestimmen eine Handlung als notwendig in bezug auf eine, wie es heißt, „mögliche Absicht", also auf eine Absicht, die man haben kann, aber nicht notwendigerweise hat. 11 Die assertorischen hypothetischen Imperative bestimmen eine Handlung hingegen als notwendig in bezug auf eine „Absicht, die man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehört. " 12 Diese Imperative sind also auf ein allen unterstellbares Wollen bezogen. Deshalb lautet die Formulierung eines assertorischen hypothetischen Imperativs nicht wie die eines problematischen: „ W e n n du das-und-das willst,...", sondern „Weil
10 Vgl. § 2, S. 63-66. 11 Kant, Grundlegung, AA IV, 415. 12 Ebd. 415 f.
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du das-und-das willst, mußt du so-und-so handeln." 1 3 Mit dieser Begrifflichkeit läßt sich jetzt sagen, daß die Forderungen einer regionalen Moral nur problematische hypothetische Imperative sein können, was die vorgebrachten Einwände auf sich zieht. Die moralischen Forderungen einer für alle rationalen Moral sind hingegen assertorische hypothetische Imperative. Ihre Ausdrucksform ist: „Du mußt das-und-das tun, Punkt." Denn dieses Müssen hängt nicht von einem „Wenn" ab; es ist ein auf Interessen bezogenes, aber ein auf allgemein unterstellbare Interessen bezogenes Müssen. Die Formulierung: „Du mußt das-und-das tun, Punkt." läßt sehr schön erkennen, daß die Konzeption, die moralische Forderungen als hypothetische, aber assertorische hypothetische Imperative faßt, genau unsere gewöhnliche Vorstellung von der Kategorizität moralischer Forderungen einfängt. Man braucht, wenn man einen Imperativ dieser Art an jemanden richtet, nicht zu fragen, was für eine Person er ist und ob er bestimmte Interessen hat. Es bedarf also, um die grundlegende Idee der Kategorizität moralischen Forderns zu verstehen, nicht der Annahme kategorischer Imperative im kantischen Sinne. Ich kann jetzt, nach diesen Überlegungen, noch einmal wiederholen, was bereits gesagt wurde: Der Kontraktualismus in der hier entwickelten Form entwirft eine Moral, an der teilzuhaben für jeden und damit auch für den moralischen Skeptiker vernünftig ist. Diese Moral ist die eine für alle vernünftige Moral mit dem einen vernünftigen Inhalt. Sie ist eine nichtregionale, nicht-relative allgemeine Moral, die ihren Grund in basalen Interessen hat, die man jedem Menschen fraglos unterstellen kann. 2.5. Wir haben im Vorangehenden bereits einige zentrale halte dieser Moral genannt: die Pflicht, nicht zu töten, Pflicht, dem anderen im Falle einer Lebensgefahr zu helfen, Pflicht, den anderen körperlich nicht zu verletzen. Weiter 13 Vgl. Kant, Moralphilosophie
Indie die die
Collins (Nachschrift), AA XXVII/1, 2 4 6 .
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Pflicht, den anderen in der Entfaltung und im Gebrauch seiner geistigen Fähigkeiten nicht zu behindern, die Pflicht, ihn psychisch nicht zu schädigen, und schließlich die Pflicht, ihn nicht zu demütigen und zu erniedrigen. Nach den Vorstellungen der tradierten, christlich-jüdisch geprägten Moral sind diese grundlegenden Verpflichtungen universal, sie bestehen also gegenüber allen Menschen. Die kontraktualistisch fundierte Moral weicht hier ab. Denn die genannten Verpflichtungen kommen, wie bereits gesagt, dann nicht zustande, wenn die Machtbedingung nicht erfüllt ist, wenn also jemand nicht die Macht hat, das zu tun, vor dem der andere sich schützen will oder dessen er sich versichern will. Wenn A nicht in der Lage ist, Β zu verletzen, dann hat Β keinen Grund, sich vor einer Verletzung durch A dadurch zu schützen, daß er die Verpflichtung übernimmt, A nicht zu verletzen. A bleibt deshalb Β gegenüber ohne moralischen Schutz. Die intellektuelle Redlichkeit und die Absicht, sich Aufklärung zu verschaffen, verlangen, diese (und andere) Konsequenzen einer kontraktualistischen Moral auszusprechen, mögen sie auch noch so sehr den eigenen moralischen Idealen entgegenstehen. Es hilft nicht, diese Konsequenzen, wie es häufig geschieht, im dunkeln zu lassen und zu verschleiern. Man muß also sagen: Wer in der genannten Art schwach und machtlos ist, wird durch die Etablierung des Moralischen noch schwächer, weil für ihn der Schutz der Moral nicht erreichbar ist. Während, wer hinreichend mächtig ist, stärker wird, weil er in der Lage ist, sich zusammen mit anderen den Schutz der Moral zu verschaffen. Die kontraktualistisch fundierte Moral ist also nicht aus sich heraus universalistisch. Obwohl sie, wie gezeigt, eine nicht-regionale, nicht-relative Moral ist. Sie ist die eine rationale Moral, die aber nicht allen ihren Schutz gewährt. Es ist wichtig, diese beiden Aspekte auseinanderzuhalten und sich nicht durch unterschiedliche Verwendungen des Wortes „universalistisch" verwirren zu lassen. Wie weit die durch die kontraktualistische Moral begründeten moralischen Rechte und Pflichten reichen, hängt von den faktischen Unterschieden zwischen den Menschen ab. Man
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muß also sehen, wie groß die relevanten Machtunterschiede in bezug auf die genannten Pflichten faktisch sind. Hobbes hat bekanntlich angenommen, die Menschen seien im Naturzustand in den relevanten Hinsichten gleich, weshalb es zwischen ihnen zu den entsprechenden Agreements komme. Dabei übersieht er nicht, daß die Menschen, was ihre körperlichen und geistigen Möglichkeiten angeht, unterschiedlich sind. Es kommt - ich habe es schon gesagt - allein darauf an, ob die Unterschiede so groß sind, daß sie Agreements über wechselseitige Freiheitsverzichte ausschließen. Tun sie das nicht, besteht trotz aller Unterschiede im entscheidenden Punkt Gleichheit. Hobbes schreibt: „Die Natur hat die Menschen in den körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß sich zwar zuweilen einer finden lassen mag, der offensichtlich von größerer Körperkraft oder schnellerem Auffassungsvermögen ist als ein anderer; jedoch wenn man alles zusammenrechnet, ist der Unterschied zwischen Mensch und Mensch nicht so beträchtlich, daß ein Mensch daraufhin irgendeinen Vorteil für sich fordern kann, auf den ein anderer nicht so gut wie er Anspruch erheben könnte. Denn was die Körperkraft betrifft, so hat der Schwächste genügend Kraft, den Stärksten zu töten, entweder durch einen geheimen Anschlag oder durch ein Bündnis mit anderen, . . . " H Hobbes ist vorgehalten worden, er denke bei den Bewohnern des Naturzustandes unterschwellig nur an gesunde und erwachsene Männer. Nur mit dieser massiven Einschränkung sei seine Gleichheitsthese einleuchtend. Doch so ist es gewiß nicht. Die Frauen haben in den hier relevanten Hinsichten dieselbe Macht wie die Männer; dies gilt auch für die meisten Kranken, für einen Teil der Behinderten, für größere Kinder und Jugendliche. Aber es gilt nicht für alle. Ich werde diese Problematik: die Frage, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft und damit Träger von moralischen Rechten und Pflichten ist und wer nicht, wie gesagt, im nächsten Kapitel ( § 8 ) eingehender untersuchen. 1 4 Hobbes, Leviathan,
ch. 13, p. 86 f. (Übers, v. J. Schlösser).
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3.1. Die bisher angeführten Inhalte der Moral betreffen nicht die Verteilung von Gütern. Wenn A und Β einen wechselseitigen Verzicht auf Tötungs- und Verletzungsmöglichkeiten vereinbaren, entstehen für sie keine Verteilungsprobleme. Deshalb scheint es unangebracht zu sein, den Begriff der Gerechtigkeit an die Ergebnisse ihrer Agreements heranzutragen und zu fragen, ob die Normen, die aus den Agreements entstehen, gerecht sind oder nicht. Allerdings führen die Agreements, die nicht nur A und B, sondern auch die anderen zum Schutz ihrer Person treffen, zu einer sozialen Ordnung mit einer bestimmten Aufteilung von Rechten und Pflichten. Stellen wir uns vor, daß die Menschen zum Teil rote und grüne Farbflecke an sich haben, so wie Holzfiguren solche Flecke an sich haben könnten. 15 Der grüne Fleck steht für den Besitz der Rechte an der eigenen Person und ihren Fähigkeiten - ich werde im folgenden von Personenrechten sprechen. Der rote Fleck steht für die entsprechenden Pflichten. Das Muster, das faktisch durch die Agreements der Individuen entsteht, ohne daß diese überhaupt ein Muster intendiert haben, ist von der Art, daß eine kleine Zahl von Menschen überhaupt keinen Farbfleck hat, weder einen roten noch einen grünen. Alle anderen haben einen grünen Fleck und auch einen roten. Es gibt also niemanden, der einen grünen, aber keinen roten, und niemanden, der einen roten, aber keinen grünen Fleck hat. Dies ist die Konfiguration, die sich dadurch ergibt, daß jeder der Beteiligten überlegt, was für ihn zu tun vernünftig ist. Drei Merkmale dieser Aufteilung der Personenrechte und der ihnen korrelierenden Pflichten möchte ich hervorheben. Erstens. Es gibt in dieser Ordnung niemanden, der nur Rechte, aber keine Pflichten, und niemanden, der nur Pflichten, aber keine Rechte hat. Entweder man hat weder das eine noch das andere oder aber beides. Die soziale Struktur, die sich aus den Agreements ergibt, kennt also keine einseitigen Rechte und
15 Ein ähnliches Bild hat E. Tugendhat gelegentlich gebraucht.
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keine einseitigen Pflichten. Sie kennt damit eine bestimmte Form der Ungleichheit nicht. Der kontraktualistische Prozeß bringt eine symmetrische Aufteilung der Rechte und Pflichten hervor, obwohl jedes der handelnden Individuen ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgt und nur tut, was ihrer Erfüllung möglichst optimal dient. Zweitens. Innerhalb der moralischen Gemeinschaft, also der Gemeinschaft derer, die Rechte und Pflichten haben, hat nicht nur jeder, der Rechte hat, auch Pflichten und umgekehrt, es hat auch jeder die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten. Jeder muß das gleiche geben: die Möglichkeit, zu töten und zu verletzen, und jeder bekommt das gleiche: die Sicherheit, nicht getötet und nicht verletzt zu werden. Es gibt niemanden, der weitergehende Rechte hat als die anderen, und niemanden, der weitergehende Pflichten hat. Auch in dieser Hinsicht kreieren die Agreements eine Symmetrie, auch in dieser Hinsicht gibt es keine Privilegierten und keine Benachteiligten. Ganz anders ist es in einer dritten Hinsicht. Nicht alle sind, wie wir sahen, Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Einige haben weder Rechte noch Pflichten, sie müssen ohne den Schutz der Moral auskommen, den die meisten haben. Diesen Schutz zu haben, ist ein Vorteil, ihn nicht zu haben, ein Nachteil. Die wenigen, die ihn nicht haben, sind mithin in einer schlechteren Position, die anderen in einer besseren. Die Agreements führen in dieser Hinsicht also zu einer massiven Ungleichheit. In dieser Ungleichheit könnte man die Berechtigung sehen, die Konfiguration der Personenrechte und der entsprechenden Pflichten, zu der es in einer kontraktualistisch fundierten Moral kommt, unter dem Strich „ungerecht" zu nennen, - ungeachtet der sich ergebenden egalitären Struktur innerhalb der moralischen Gemeinschaft. Ob das Wort „ungerecht" hier angebracht ist, ist freilich fraglich. Um hierüber entscheiden zu können, ist es nötig, kurz auf den Begriff der Gerechtigkeit einzugehen. Der Begriff ist schwer zu fassen; „gerecht" wird in verschiedenen Kontexten in verschiedenen Bedeutungen verwandt, und es ist nicht leicht zu erkennen, wie die unterschiedlichen Bedeutun-
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gen genau bestimmt sind und wie sie zusammenhängen, ob es eine Kernbedeutung gibt oder ob der Bedeutungszusammenhang anderer Art ist. Hinzu kommen „erweiterte" und übertragene Bedeutungen, die das Bild noch komplizierter machen. Für den jetzigen Zusammenhang genügt es, sich folgendes klarzumachen: Die Situation, in der die Idee und die Rede von „gerecht" und „ungerecht" wohl am deutlichsten zuhause ist, ist die einer Verteilung. Wenn jemand ein knappes Gut an verschiedene Personen zu verteilen hat, paßt die Frage, welche Verteilung gerecht ist. Man denke an die für die Gerechtigkeitsproblematik paradigmatische Situation, in der eine Mutter einen Kuchen unter mehreren Kindern aufzuteilen hat. Gerecht ist die Verteilung, so unsere Vorstellung, wenn sie keines der Kinder privilegiert und keines benachteiligt, wenn sie also unparteilich ist und alle gleich berücksichtigt. Ist die Verteilung gerecht, ist deswegen auch der durch sie erreichte Zustand, die Aufteilung des Gutes, gerecht. - Nun kann die Aufteilung eines Gutes anders als durch eine von einer Person vorgenommene Verteilung zustande kommen.16 Man denke an ein natürliches Talent, das der eine in größerem Maße hat als der andere. Oder an das Glück, von dem der eine mehr hat als der andere. In Fällen dieser Art ist es offenkundig nicht richtig, die Aufteilungen „ungerecht" (oder „gerecht") zu nennen. Ein Zustand der Ungleichheit und das Vorhandensein von Vor- und Nachteilen ist nicht eo ipso ein Phänomen der Ungerechtigkeit. Es kommt darauf an, wie die ungleiche Aufteilung entstanden ist. Und wenn sie durch die Natur oder den Zufall entstanden ist, ohne daß ein Mensch oder ein anderes personales Wesen etwas da16 Das W o r t „Verteilung" ist wie viele deutsche Wörter dieser Wortform (z.B. „Abrechnung", „Markierung", „Erfindung") Handlung-Ergebnisambig. „Verteilung" bezeichnet die Handlung des Verteilens und das durch diese Handlung hervorgebrachte Ergebnis. Ich gebrauche „Verteilung" hier und im folgenden immer als Bezeichnung für die Handlung. „Aufteilung" verwende ich für den Zustand des Aufgeteiltseins eines Gutes, wobei dieser Zustand das Ergebnis einer Verteilung sein kann, aber nicht sein muß.
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zugetan hat, hat es keinen Sinn, von „gerecht" oder „ungerecht" zu sprechen. Wenn eine Aufteilung eine natürliche Gegebenheit oder das Ergebnis blinden Zufalls ist, kann man sie allenfalls in einem übertragenen Sinn „gerecht" oder „ungerecht" nennen. Man betrachtet sie dann so, als ob sie aus einer Verteilung resultierte, und sagt: Wenn sie das Resultat einer Verteilung wäre, wäre die Verteilung gerecht (oder ungerecht) gewesen, und damit wäre auch die Aufteilung gerecht (oder ungerecht). Diese Als-ob-Imagination und die aus ihr resultierende Übertragung des Gerechtigkeitsbegriffs auf Phänomene, auf die er eigentlich nicht paßt, ist gefährlich: Sie verführt zu fehlgehenden Intuitionen und falschen Konklusionen. Wie alle oder fast alle Übertragungen begünstigt auch diese weitere die ursprüngliche Übertragung gewissermaßen fortschreibende „uneigentliche" Vorstellungen, hier die Vorstellung, die Natur oder der Zufall seien Personen, die den Menschen Güter so oder so zuteilen. Und es sei sinnvoll, die Natur oder den Zufall der ungerechten Verteilung zu zeihen. Im Zuge dieser Vorstellungen kann jemand, der das moralische Ideal hat, Verteilungsungerechtigkeiten seien zu kompensieren, die Intuition haben, das Ideal verlange auch die Kompensation natürlicher Ungleichheiten. Tatsächlich verlangt das Ideal das nicht, weil die Natur keine Person ist, die etwas verteilt, und die Ungleichheiten deshalb nicht das Ergebnis einer ungerechten Verteilung sind. Wer das Ideal hat, natürliche Ungleichheiten auszugleichen, hat also ein zweites, weitergehendes moralisches Ideal. Und man kann das erste haben, ohne das zweite zu haben. Zurück zu der sozialen Ordnung, um deren Beurteilung es uns geht. Es ist klar, daß sie nicht das Ergebnis einer Verteilung ist; es gibt keinen Distributor, der Rechte und Pflichten zugeteilt hat. Die soziale Ordnung mit ihrer Konfiguration von Rechten und Pflichten ist nicht „von oben", durch die Distribution einer zuteilenden Person, entstanden, sondern „von unten", als nicht intendierte Folge der rationalen Agreements zwischen den Individuen, die dabei nicht im Sinn hatten, ein bestimmtes Aufteilungsmuster hervorzubringen. Es ist aber auch
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klar, daß die so entstandene soziale Ordnung nicht eine natürliche, vom Himmel gefallene Gegebenheit ist. Sie ist, obzwar nicht durch eine Verteilung entstanden, doch das Ergebnis menschlichen Handelns, und zwar durchaus ein vorhersehbares Ergebnis. Deshalb gibt es nicht nur einen Zustand der Ungleichheit und das Vorhandensein von Vor- und Nachteilen, sondern auch das Hervorbringen dieser Vor- und Nachteile durch menschliches Handeln. Und damit gibt es Privilegierung und Benachteiligung, - und damit, so scheint es, Ungerechtigkeit. Die rationalen Agreements schaffen die Vor- und Nachteile, und deshalb ist die durch sie entstehende Ungleichheit ungerecht. Und deshalb ist auch das Handeln der einzelnen Akteure ungerecht. Sie intendieren zwar kein bestimmtes Aufteilungsmuster der Rechte und Pflichten, aber indem sie mit den meisten Rechte und Pflichten konstituierende Agreements treffen, mit einigen wenigen aber nicht, bewirken sie - auf vorhersehbare Weise - doch eine bestimmte Aufteilung. Sie berücksichtigen in ihrem Handeln vorgegebene Ungleichheiten und entscheiden entsprechend, mit wem sie kooperieren und mit wem nicht. Auf diese Weise vergrößern sich die vorgegebenen Ungleichheiten gleichsam in die soziale Wirklichkeit hinein. Die an den Agreements Beteiligten schaffen die originären Ungleichheiten nicht, aber sie handeln so, daß aus ihnen zusätzliche, soziale Ungleichheiten entstehen. Es wäre gewiß ein völlig überzogenes und unrealistisches Gerechtigkeitsideal, daß natürliche Ungleichheiten keine sozialen Auswirkungen haben dürfen. Weniger weitreichend ist das Ideal, daß dies, wo es um so grundlegende Güter wie moralische Rechte geht, nicht sein darf. Dieses Ideal vorausgesetzt, sind Handlungen, zu deren vorhersehbaren Konsequenzen es gehört, daß natürliche Vor- und Nachteile in diesem basalen Bereich auch zu sozialen Vor- und Nachteilen werden, ungerecht. „Ungerecht", in dieser Weise verwandt, ist nun nicht mehr nur auf Verteilungen bezogen, die als solche eine bestimmte Aufteilung intendieren. Der Anwendungsbereich des Wortes ist erweitert, so daß es gerechtfertigt ist, auch Handlungen „gerecht" oder „ungerecht" zu nennen,
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die zwar keine Aufteilung anzielen, aber doch auf vorhersehbare Weise eine bestimmte Aufteilung bewirken. M i r scheint, daß diese Erweiterung unserem gewöhnlichen Verständnis des Wortes entspricht. Wir finden es deshalb richtig, die durch die Agreements entstehende ungleiche Aufteilung der Personenrechte und der ihnen korrelierenden Pflichten „ungerecht" zu nennen. Das W o r t ist hier durchaus angebracht. Ich komme also zu dem Ergebnis, erstens daß die Agreements, die die einzelnen Akteure im Naturzustand zum Schutze ihrer Person treffen, zu einer Konfiguration von Rechten und Pflichten führen, die, was die betrifft, die Rechte und Pflichten haben, egalitär ist, die andererseits aber eine massive Ungleichheit enthält, weil einige weder Rechte noch Pflichten haben. Und zweitens daß diese Aufteilung der Rechte und Pflichten, wenn man den Begriff der Gerechtigkeit an sie heranträgt, „ungerecht" zu nennen ist, - ungeachtet der egalitären Struktur innerhalb der moralischen Gemeinschaft. Der kontraktualistische Prozeß kommt also nicht aus sich selbst heraus zu einer gerechten Aufteilung der Personenrechte. 3 . 2 . Z u wirklichen Verteilungen und der Frage, wie sie von den kooperierenden Individuen vernünftigerweise vorzunehmen sind, kommen wir, wenn wir von den Personenrechten zu den Rechten an materiellen Gütern übergehen. Die Verteilung materieller Güter ist ein zentraler Gegenstand der Moral. Denn wer seine Ziele im Leben verfolgen will, will nicht nur die Güter der körperlichen, geistigen und psychischen Unversehrtheit, sondern auch materielle Güter, zum einen um die Existenz zu sichern, zum anderen um die gewählte Lebensform realisieren zu können. Die Realisierung praktisch aller Lebensformen setzt das Verfügen-Können über materielle Güter und im besonderen die Möglichkeit eines planenden, disponierenden Umgangs mit ihnen voraus. Die natürliche Umwelt hält diese Güter bereit, bzw. die Ressourcen, aus denen sie hergestellt werden können. Aber nicht alle Güter sind in dem Ausmaß vorhanden, daß jeder so viel haben kann wie er will. Viele oder sogar die
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meisten Güter sind k n a p p , so daß m a n u m sie konkurriert. M a n m u ß entweder u m sie k ä m p f e n oder aber eine Regelung finden, die ihre Verteilung friedlich regelt. Im vormoralischen R a u m herrscht n a t u r g e m ä ß ein ständiger K o n f l i k t u m die k n a p p e n Güter; es gibt keine N o r m e n , die ihre Verteilung regeln, und keine Rechte, die d a s „ H a b e n " bestimmter Güter schützen. Jeder kann sich nehmen, w a s und so viel er b e k o m m e n kann; die Grenzen seines Z u g r i f f s sind allein der Z u g r i f f der anderen, die dieselben Güter für sich wollen, und die bereits etablierten Personenrechte. 1 7 H a t m a n ein G u t in Besitz g e n o m m e n , m u ß m a n sich fortwährend davor schützen, daß ein anderer es einem wieder wegnimmt. In der Geschichte des Denkens sind verschiedene Konzeptionen „natürlichen" Eigentums entwickelt worden. So w a r es eine naheliegende Idee, die vor allem L o c k e w i r k s a m entfaltet hat, daß einem d a s eigen ist, w a s m a n durch eigene Arbeit hervorgebracht hat. S o habe m a n etwa ein natürliches Eigentumsrecht auf die Erträge eines Ackers, den m a n bestellt hat. 1 8 Diese Konzeption trifft auf die vertraute Vorstellung, daß die Arbeit auf dem Acker beschwerlich ist und es deshalb nur der gerechte Lohn ist, daß der Ertrag zur exklusiven V e r f ü g u n g dessen steht, der ihn erarbeitet hat. D o c h tatsächlich gibt es im vormoralischen R a u m keine Gerechtigkeitsnormen und deshalb auch keinen gerechten L o h n , auf den m a n ein exklusives Zugriffsrecht hat. Die Idee eines natürlichen Eigentumsrechts ist, wie jeder sieht, naturrechtlicher Art. Im moralischen V a k u u m des N a t u r z u s t a n d e s gibt es keine Pflicht, die einen d a r a n hinderte, dem anderen das gerade mit M ü h e n geerntete Getreide wegzunehmen. Oder j e m a n d e m die Früchte w e g z u n e h m e n , die er g e r a d e g e s a m m e l t hat. Hier
17 Die Rede vom vormoralischen R a u m bezieht sich hier, weil schon Personenrechte und damit ein moralisches Müssen vorausgesetzt sind, nur auf den Zugriff auf materielle Güter. In dieser Hinsicht besteht noch ein moralisches Vakuum. 18 J. Locke: Two Treatises of Government, ed. P. Laslett (Cambridge 1960) II, § 27.
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herrscht, wie gesagt, ein ständiger Kampf. Jeder versucht, sich die Güter, die er braucht, anzueignen, aber es bleibt die Gefahr, daß sie ihm früher oder später wieder entrissen werden. Deshalb muß jeder in erheblichem Umfang Zeit, Energie, Aufmerksamkeit nicht nur für die Eroberung, sondern auch für den Schutz seines Besitzes aufwenden. Und dennoch kann er seinen Besitz im Grunde nur so weit verteidigen, wie seine physische Präsenz und seine physische Kraft reichen. Es liegt auf der Hand, daß das Leben auf diese Weise extrem aufwendig, anstrengend, unbeständig, beschränkt und voller Frustration wäre. Die Situation erzwingt geradezu eine Veränderung. Und es entsteht ganz von selbst der Wunsch, ein Agreement zu treffen, das jedem eine bestimmte Menge von Gütern zur exklusiven Verfügung zusichert und damit den jeweils anderen die Verpflichtung auferlegt, die so geschützten Güter nicht anzutasten. Man muß, mit anderen Worten, eine Sanktionsregelung schaffen, die es zwingend macht, bestimmte Güter wechselseitig unangetastet zu lassen. Auf diese Weise entstehen Eigentumsrechte und entsprechende Pflichten. Der Raum, in den die anderen nicht hineinhandeln dürfen, dehnt sich so über den eigenen Körper und seine Fähigkeiten hinaus aus. Alle Beteiligten profitieren von einem Agreement dieser Art: Sie können jetzt frei über eine bestimmte Menge von Gütern verfügen und sie planend für ihre Zwecke einsetzen; sie können, was sie bisher an Kraft, Energie und Zeit für die Eroberung und für den Schutz ihres Besitzes aufgewandt haben, sparen oder anderweitig einsetzen. Sie können gewissermaßen abrüsten und haben dennoch die Sicherheit, daß sich niemand ihrer Güter bemächtigt. Die Gegenleistung, die sie erbringen müssen, liegt natürlich darin, keinen Zugriff mehr auf die Güter zu haben, die anderen eigen sind. Bei Agreements, die Eigentumsrechte konstituieren, kommt nun das Problem ins Spiel, das bei den Rechten an der eigenen Person und ihren Potenzen keine Rolle spielte: das Problem der Verteilung. Nach welchem Prinzip sollen die Beteiligten die Güter, um die es geht, unter sich verteilen? Soll egalitär verteilt
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werden und jeder gleich viel bekommen, oder kommt es zu inegalitären Agreements? Zu welchen Regelungen kommt eine kontraktualistisch fundierte Moral in diesem Punkt? Und sind die Regelungen, die sich aus der Rationalität der kooperierenden Individuen ergeben, von der Art, daß man sie „gerecht" nennen kann? - Zunächst zu der Frage, wie die Eigentumsrechte von einer kontraktualistischen Basis aus verteilt werden. Vielleicht könnte jemand die Vorstellung haben, das egalitäre Verteilungsmuster sei das natürliche, das, was sich wie von selbst ergebe. Wenn ein Gut knapp ist und A und Β möglichst viel davon haben wollen, sei es das Nächstliegende, A und Β eine gleich große Menge des Gutes als Eigentum zuzusprechen. Doch warum ist die egalitäre Verteilung hier so naheliegend? Weil es ein moralisches Prinzip ist, egalitär zu verteilen? Wo sollte dieses moralische Prinzip herkommen? Wir haben gesehen, daß die Moral, das moralische Müssen und damit die moralischen Inhalte das Ergebnis von Agreements sind. Es gibt kein moralisches Müssen, das den moralschaffenden Agreements vorausgeht und bestimmt, wie die Agreements beschaffen sein müssen. Was der Inhalt der Agreements ist, bestimmen allein die Interessen und die Vernunft der Beteiligten. Wollte man moralische Prinzipien annehmen, die den Agreements schon vorausgehen, könnten diese nur naturrechtlich begründet sein. Es gibt aber keine „natürliche" Verpflichtung zur Gleichbehandlung. Das Prinzip egalitärer Verteilung kann demnach nur dadurch als moralisches Prinzip etabliert werden, daß die Beteiligten sich rationalerweise auf eine solche Verteilung einigen und eine entsprechende Sanktionsordnung schaffen. Die Egalität kann, mit anderen Worten, nur out-put, aber nicht input des Agreements sein. Doch es ist keineswegs klar, daß sie dies ist. Nehmen wir an, A und Β verfügen über alle Güter im Überfluß, nur das Gut X ist knapp. Nun sind A durch zufällige Umstände 70 % von X zugefallen, Β hingegen nur 30 %. Die beiden wissen, daß es vernünftig ist, eine Eigentumsregelung vorzunehmen, aber welche? Wenn Β in dieser Situation eine
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egalitäre Verteilung vorschlägt, bedeutete das für A, daß er 20 % von X an Β abtreten muß, ohne dafür eine Gegenleistung zu bekommen. Warum sollte er das tun? Wie will Β ihm zeigen, daß es für sie beide vernünftig ist, dieses und kein anderes Agreement zu treffen? A könnte im Gegenzug vorschlagen, es bei der Aufteilung von 70 zu 30, die sich nun einmal durch die Umstände ergeben hat, zu belassen und die Eigentumsrechte inegalitär so festzulegen, daß er die 70 % von X behält und Β die 30 %. Was könnte Β gegen eine solche Regelung vorbringen? Auf ein moralisches Prinzip, das eine egalitäre Verteilung gebietet, kann Β aus den genannten Gründen nicht rekurrieren. Deshalb kann er auch nicht wie folgt argumentieren: „Daß du, A, 70 % von X bekommen hast, verdankt sich nur einem Zufall, es hätte genauso gut auch so kommen können, daß ich 70 oder sogar 90 % von X bekommen hätte. Es wäre falsch, an der ganz und gar zufälligen Aufteilung festzuhalten und sich von dem bestimmen zu lassen, was der Zufall entschieden hat. Man muß die entstandene Ungleichheit kompensieren und im Verhältnis 50 : 50 verteilen." Es ist klar, daß Β sich hier auf ein moralisches Prinzip stützt. Sogar auf eines, das über das Gebot der egalitären Verteilung hinausgeht und mehr verlangt. Denn die Aufteilung von X auf A und Β im Verhältnis von 70 : 30 ist nicht das Ergebnis einer Verteilung durch eine Person. Es hat keine Verteilung stattgefunden, an die man die Forderung richten könnte, egalitär zu sein. Bs Forderung, eine zufällig entstandene ungleiche Aufteilung eines Gutes zu kompensieren, ist, wie wir sahen, eine andere und weitergehende Forderung als die, dort, wo tatsächlich etwas verteilt wird, egalitär zu verteilen oder eine inegalitäre Verteilung zu korrigieren. Anders sieht die Situation zwischen A und Β aus, wenn Β so argumentiert: „Du, A, hast zwar 70 % von X in Besitz, aber wer sagt dir, daß du diesen Besitz verteidigen kannst, wenn ich zugreife? Wenn wir also um X kämpfen? Ich bin etwa gleich stark, gleich geschickt, gleich intelligent wie du, und wenn wir um X kämpfen, werde ich am Ende 50 % von X haben, genauso viel wie du. Es würde sich also als Ergebnis unserer
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Verteidigungs- und Eroberungsanstrengungen eine Aufteilung herauskristallisieren, die von der, die faktisch vorliegt, beträchtlich abweicht. Wir können den Kampf natürlich durchfechten, aber er würde uns, wie du dir denken kannst, eine Menge kosten. Wir können uns das ersparen, wenn wir uns gleich auf eine Verteilung im Verhältnis 50 : 50 einigen und diese Verteilung durch die Schaffung entsprechender Sanktionen ,verrechtlichen'." Wenn die Machtverhältnisse so sind, wie Β sagt, und A sie auch so einschätzt, wird er sich vernünftigerweise auf das von Β vorgeschlagene Agreement einlassen und Β 20 % von X ohne weitere Gegenleistung geben. Es ist für ihn von Vorteil, weil er sich so den Konflikt mit Β ersparen kann, an dessen Ende doch nichts anderes als die 50 : 50-Aufteilung und ein entsprechendes Agreement stünde. Es kommt also vernünftigerweise zu der von Β von Anfang an gewollten egalitären Verteilung, aber nicht, weil es moralisch geboten ist, so zu verteilen, sondern weil die Machtkonstellation von A und Β entsprechend ist. Die Machtkonstellation von A und Β ist hier der entscheidende Standard für die Verteilung. Das Verhältnis der Macht bestimmt das Verhältnis der Verteilung. Damit ist auch klar, daß die sich in unserem Beispielfall ergebende effektive Gleichverteilung nur ein Sonderfall ist, der sich einstellt, weil zwischen A und Β ein Machtgleichgewicht besteht. Hätte A mehr Macht als B, würde er sagen: „Wenn wir kämpfen, wird sich eine Aufteilung zu meinen Gunsten ergeben. Deshalb ist es rational, nicht egalitär zu verteilen, sondern mich - vielleicht im Verhältnis 70 : 30 - zu begünstigen, es also bei der zufällig entstandenen Aufteilung zu belassen." Wenn Β mehr Macht als A hätte, könnte er genauso zu seinen Gunsten argumentieren, und es käme vernünftigerweise zu einer Verteilung vielleicht im Verhältnis von 30 : 70. - Wir sehen, die Verteilungen, die sich anhand des Kriteriums der Machtkonstellation ergeben, sind nicht durchweg egalitär. Die egalitäre Verteilung ist nur ein spezieller Fall eines allgemeineren für vernünftig befundenen Prinzips, eben der Verteilung gemäß dem Machtverhältnis zwischen A und B.
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Bevor ich nun zu der Frage komme, ob die so erreichten Verteilungen „gerecht" zu nennen sind oder nicht, ist es erforderlich, den Begriff der Gerechtigkeit noch etwas genauer als bisher anzuschauen, insbesondere das Verhältnis Gerechtigkeit und Gleichheit bzw. Egalität. Diese Begriffe werden seit den Anfängen der philosophischen Reflexion über soziale und politische Fragen in der Antike miteinander verknüpft. Auch in den obigen Überlegungen zur Gerechtigkeit (in 3.1.) wurden die beiden Begriffe miteinander verbunden. Denn gerecht ist eine Verteilung, so wurde gesagt, wenn sie niemanden privilegiert und benachteiligt, wenn sie also alle gleich berücksichtigt. Vielleicht könnte jemand fragen, was es denn hier noch lange zu überlegen und zu erörtern gebe. Es sei doch klar, daß die Verteilung der materiellen Güter, wenn sie gleich ausfällt, gerecht, und wenn sie ungleich ausfällt, ungerecht ist. Aber tatsächlich ist das Zueinander von Gerechtigkeit und Gleichheit wesentlich komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Ich gehe im folgenden nur auf die Aspekte ein, die für unseren jetzigen Kontext wichtig sind. Ich kann mich dabei im wesentlichen an das halten, was Piaton und Aristoteles gesagt haben. Sie haben die wichtigsten begrifflichen Klärungen bereits erreicht. - Beide bestimmen im Rückgriff auf ältere Traditionen die Gerechtigkeit als eine Art Gleichheit. 19 Gerecht zu sein, heißt, gleich zu behandeln. Das ist das eine. Das andere ist, daß sie Simonides' Formel, gerecht sei, jedem das ihm Zukommende zu geben 20 , entfalten, indem sie sagen, gerecht sei, Gleichen Gleiches zu geben und Ungleichen Ungleiches. Ungerecht ist demnach, Gleiche ungleich und Ungleiche gleich zu behandeln. 21 Wenn nun
19 Vgl. Piaton, Gorgias 4 8 9 a - b ; Nomoi VI, 5. 757c-d; Aristoteles, Nikom. Ethik V, 2. 1129a 3 2 - b l ; Eudemische Ethik VII, 9. 1241b 11 f.; Politik III, 12. 1282b 18 f.; V, 1. 1301a 27. 2 0 Vgl. Platon, Politela I, 332c 2: ... τοΰτ' εϊη δίκαιον, TÒ προσήκον Ικάστω άποδιδόναι ...; siehe auch 331e 3 f. 21 Vgl. Platon, Nomoi VI, 5. 757c-d; Aristoteles, Nikom. Ethik V, 6; Politik III, 9. 1280a 1 1 - 1 5 .
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gerecht zu sein, bedeutet, gleich zu behandeln, und es andererseits gerecht ist, Ungleiche ungleich zu behandeln, dann muß konsequenterweise Ungleiche ungleich zu behandeln, eine Art von Gleichbehandlung sein. Und genau dies ist die Vorstellung von Piaton und Aristoteles. Die scheinbare Widersprüchlichkeit dieser Aussage löst sich schnell auf, wenn man die zwei Arten von Gleichheit, die hier im Spiel sind, unterscheidet. Um hierauf zu kommen, ist zunächst zu sehen, daß die Rede vom „Zukommen" („gerecht ist, jedem das ihm Zukommende zu geben") einen Maßstab oder Standard voraussetzt, etwas, an dem sich bemißt, was einem zukommt. Das kann z.B. die soziale Stellung, die Bedürftigkeit, bestimmte erbrachte Leistungen oder die moralische Tugend sein. Nehmen wir nun an, A besitzt diesen Standard im Vergleich zu Β im Verhältnis 2 : 1 . Dann ist es - so Piaton und Aristoteles - gerecht, A und Β das, was verteilt wird, in dem gleichen Verhältnis, also im Verhältnis 2 : 1 zuzuteilen. A bekommt gerechterweise doppelt so viel wie B. Die Verteilung ist hier im Effekt ungleich - es wird nicht gleich viel zugeteilt - , aber diese Ungleichheit resultiert aus der Gleichheit der Verhältnisse (ϊσότης λόγων 22 ): Das Verhältnis der Zuteilung ( 2 : 1 ) ist gleich dem Verhältnis ( 2 : 1 ) , in dem A und Β den Standard der Verteilung besitzen. In dieser Gleichheit der Verhältnisse - und nicht in der Gleichheit der zugeteilten Menge - besteht die Gerechtigkeit der Zuteilung. Wenn A und Β den Standard der Verteilung, wie hier angenommen, im Verhältnis 2 : 1 besitzen, die Zuteilung aber im Verhältnis 1 : 1 erfolgen würde, wäre sie, wie ich jetzt im Anschluß an Piaton und Aristoteles sagen werde 23 , „proportional" ungleich und damit ungerecht. Denn A würde weniger bekommen als ihm zukommt. Wir können die Gerechtigkeit hiernach als proportio-
22 So Aristoteles, Nikom. Ethik V, 6. 1131a 31. 23 Vgl. Piaton, Nomoi VI, 757c 5 f.; Aristoteles, Nikom. Ethik V, 6-7; Politik V, 1. 1301a 27, b 32 f. - Piaton und Aristoteles sprechen auch von „geometrischer" Gleichheit; vgl. Piaton, Gorgias 508a 6; Aristoteles, Nikom. Ethik V, 7. 1131b 12 ff.
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naie Gleichheit bestimmen. Natürlich kann eine proportionale Gleichbehandlung auch zu einer effektiv gleichen Verteilung führen. Dann nämlich, wenn A den Standard der Verteilung im Vergleich zu Β im Verhältnis 1 : 1 besitzt. Dann bekommen beide nach dem Prinzip der proportionalen Gleichheit effektiv gleich viel. - H a t man in dieser Weise proportionale und effektive Gleichheit unterschieden, ist klar, daß die proportionale Gleichheit die grundlegende ist. Sie ist es, die bestimmt, wie effektiv verteilt wird. Und sie ist es, durch die die Gerechtigkeit definiert ist. O b sich dann nach dem Prinzip der proportionalen Gleichheit eine effektiv gleiche oder ungleiche Verteilung ergibt, hängt, wie gesehen, allein davon ab, in welchem Verhältnis A und Β den Standard der Verteilung besitzen. Die effektive Gleichheit ist mithin ein spezielles Ergebnis der proportionalen Gleichheit. Augenscheinlich ist es im Rahmen dieser Gerechtigkeitsauffassung von entscheidender Bedeutung, welches der Standard der Verteilung ist. Jede Charakterisierung einer Verteilung als gerecht oder ungerecht impliziert eine diesbezügliche Festlegung. Und die Konzeptionen können sehr unterschiedlich sein. Wie gesagt, kann der eine annehmen, eine bestimmte Leistung sei das Kriterium, ein anderer, die soziale Stellung, und ein dritter, wieder etwas anderes. Infolge dieser unterschiedlichen Konzeptionen kann es zu massiven Meinungsverschiedenheiten über das Gerechtsein einer Verteilung kommen. Angenommen, für den einen ist das, an dem sich bemißt, was einem zusteht, m und A hat doppelt so viel m wie B; dann ist die Verteilung im Verhältnis 2 : 1 proportional gleich und damit gerecht. Wenn für einen anderen der richtige Standard der Verteilung aber η ist und A genau so viel η hat wie B, dann ist die 2 : 1-Verteilung proportional ungleich und damit ungerecht. Der zugrundeliegende Gerechtigkeitsbegriff ist hier jeweils derselbe, es ist der der proportionalen Gleichheit, aber die Konzeptionen über den Standard der Verteilung unterscheiden sich. Es wäre ein falsches Verständnis dieses Dissenses, wenn man meinte, die beiden Kontrahenten beließen es bei der Aussage, die Verteilung
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sei bezogen auf den Standard m gerecht, bezogen auf den Standard η hingegen ungerecht. Wäre dies die Conclusio, läge überhaupt kein Dissens vor. Ein Dissens liegt nur vor, weil der eine sagt: „Die Verteilung ist gerecht, denn sie verteilt in Proportion zu der Aufteilung von m, und m ist der richtige Standard der Verteilung." Und weil der andere sagt: „Die Verteilung ist ungerecht, denn sie verteilt in bezug auf den Standard m, aber nicht m, sondern η ist der richtige Standard." Das heißt, beide verwenden „gerecht" so, daß die Charakterisierung einer Verteilung als gerecht nicht nur überhaupt einen Standard voraussetzt, sondern das Urteil impliziert, daß der verwandte Standard der richtige ist. Eine Verteilung „gerecht" zu nennen, bedeutet folglich, zwei Urteile zu fällen: 1) Die Verteilung entspricht proportional der Aufteilung des Standards. Und 2) Der Standard der Verteilung ist der richtige. Wir haben jetzt die Verteilungsgerechtigkeit durch die proportionale Gleichheit bestimmt und gesehen, daß die effektive Gleichheit nur ein spezielles Ergebnis der proportionalen Gleichbehandlung ist. Dieser klare Befund kann verdeckt werden, wenn sich in vielen Bereichen, in denen es um gerecht und ungerecht geht, so vor allem im Politischen, wo es um die Verteilung von juridischen Rechten und anderen elementaren Gütern geht, die Auffassung durchsetzt, die berechtigten Menschen seien in der relevanten Hinsicht gleich. Alle hätten das, woraufhin verteilt wird, im Verhältnis 1 : 1 . Deshalb sei eine effektive Gleichbehandlung gerecht, eine effektive Ungleichbehandlung hingegen ungerecht. Eine solche Entwicklung bringt es mit sich - oder macht es zumindest wahrscheinlich, daß sich der Gerechtigkeitsbegriff mit der Zeit auf die effektive Gleichverteilung verengt. Gerechtsein heißt dann einfach nur noch, effektiv gleich zu verteilen. Der grundlegende Gerechtigkeitsbegriff der proportionalen Gleichheit, der für verschiedene Konzeptionen über den Standard der Verteilung offen ist, wird hier gewissermaßen durch eine Konzeption okkupiert. Und das bedeutet, daß er im Zuge dieser Entwicklung ganz verloren geht. Daß Gerechtigkeit effektive Gleichverteilung bedeutet,
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wird schließlich von vorneherein als evident und alternativlos vorausgesetzt. Damit wird indes übersehen, daß es zu dieser Auffassung der Gerechtigkeit nur kommt, weil man eine bestimmte Konzeption davon hat, was der richtige Standard der Verteilung ist. Eine solche Entwicklung, wie ich sie hier imaginiere, hat in den letzten Jahrhunderten im westlichen Denken tatsächlich stattgefunden. Die Menschen sind, so die herrschende Vorstellung, in dem, was die Verteilung etwa juridischer Rechte und politischer Partizipationsrechte bestimmt, gleich, und deshalb ist die gerechte Verteilung eine Gleichverteilung. Infolge dieser Idee und ihrer allgemeinen Akzeptanz wird heute sowohl im alltäglichen Denken und Sprechen wie auch in der philosophischen Theorie häufig ein Begriff von Gerechtigkeit im Sinne der effektiven Gleichbehandlung einfach vorausgesetzt. Ich werde im weiteren von einem egalitären Gerechtigkeitsbegriff und auch von egalitärer im Sinne effektiv gleicher Verteilung sprechen. Und entsprechend, um den ursprünglichen, durch die proportionale Gleichheit bestimmten Gerechtigkeitsbegriff eindeutig zu fassen, von proportionaler Gerechtigkeit. Diese Gegenüberstellung von egalitärer und proportionaler Gerechtigkeit sollte freilich nicht zu der Annahme verleiten, der egalitäre Begriff von „gerecht" sei ein eigenständiger Gerechtigkeitsbegriff neben und unabhängig von dem der proportionalen Gerechtigkeit. In Wahrheit ist er, wie wir sahen, nur ein Derivat der proportionalen Gerechtigkeit und kann sich von dieser gar nicht abnabeln. Folgende Überlegung kann das noch einmal verdeutlichen. Wenn ich sage, es sei gerecht, gleich zu verteilen, und jemand fragt mich, warum gerade dies gerecht sei, wird meine Antwort sein: weil die, denen zugeteilt wird, gleich sind. Weil sie, was den Standard der Verteilung angeht, gleich sind, muß gleich verteilt werden. Alles andere wäre ungerecht. Mit dieser Begründung bin ich sofort wieder bei dem proportionalen Gerechtigkeitsbegriff. Er ist es, der die egalitäre Gleichbehandlung rechtfertigt. Selbst wenn ich sage, daß es keinen anderen Standard für die Verteilung gibt als den,
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daß A einfach genauso eine Person ist wie Β eine Person ist, und deshalb im Verhältnis 1 : 1 verteilt werden muß, gilt, daß die Gleichbehandlung in einer maßgeblichen Gleichheit gründet. A und Β sind sich darin gleich, nicht mehr und nicht weniger als eine Person zu sein. Auch hier ist die egalitäre Behandlung also durch das Prinzip der proportionalen Gerechtigkeit gerechtfertigt. Wie sind nun im Lichte dieser begrifflichen Klärungen die Eigentumsverteilungen zu beurteilen, die sich von der kontraktualistischen Basis aus als vernünftig erweisen? Wie gesehen, orientieren sich die Verteilungen an einem Kriterium, an dem Kriterium der Macht. A und Β verteilen das Gut X unter sich, wie es der Machtkonstellation zwischen ihnen entspricht; sie verteilen, so kann man sagen, in Proportion zu dem Verhältnis ihrer Machtmittel. Es ist damit klar, daß die Verteilungsergebnisse nicht gerecht sind im Sinne der egalitären Gerechtigkeit. Der Standard der Verteilung ist nicht von der Art, daß alle Menschen ihn im selben Maße besitzen. Die Verteilung ist folglich in dem uns nächstliegenden Sinn von „gerecht" gerade nicht gerecht. Ist sie aber im Sinne der proportionalen Gerechtigkeit gerecht? A und Β verteilen das Gut X, wie gesagt, in Proportion zu ihren Machtmitteln. Wenn A im Vergleich zu Β über Machtmittel im Verhältnis 70 : 30 verfügt, ergibt sich eine Verteilung des Gutes X auch im Verhältnis 70 : 30. Die Gleichheit der Verhältnisse ist also gegeben. Um eine Verteilung „proportional gerecht" nennen zu können, muß sie indes nicht nur proportional der Aufteilung des Standards entsprechen, es muß, wie wir sahen, hinzukommen, daß der Standard der richtige ist. Man könnte die Idee haben, auch diese Bedingung sei erfüllt. Denn der Standard der Macht ist nicht irgendein willkürlich vorausgesetzter Standard, sondern der, der sich unter den Bedingungen des vormoralischen Raumes vernünftigerweise ergibt. Es kann keinen anderen Standard geben, den A und Β beide akzeptieren. Insofern ist dieser Standard ohne Zweifel der richtige, - man könnte sagen: der prudentiell richtige. Doch so, wie sie jetzt verstanden ist, ist die Rede vom richtigen Standard
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nicht gemeint. Die Formulierung erweist sich an dieser Stelle als ungenau. Wenn gesagt wird, eine gerechte Verteilung sei eine, die anhand des richtigen Standards proportional gleich verteilt, bedeutet „richtig" nicht „in irgendeinem Sinne richtig", sondern „moralisch richtig". Wer meint, der Standard für eine Verteilung müsse die Leistung und nicht die durch Geburt erlangte gesellschaftliche Stellung sein, unterstellt, daß dieser Standard der moralisch richtige Standard ist. Es ist, so die Vorstellung, moralisch geboten, diesen Standard und keinen anderen der Verteilung zugrundezulegen. E. Tugendhat spricht davon, daß der Standard der Verteilung selbst „gerecht" sein muß 24 , wobei „gerecht" hier nichts anderes als „moralisch richtig" bedeutet. Es zeigt sich also, daß die obige Bestimmung der proportionalen Gerechtigkeit zu präzisieren ist: Eine Verteilung ist in diesem Sinne gerecht, 1 ) wenn sie der Aufteilung des Standards proportional entspricht und 2) wenn der Standard der Verteilung der moralisch richtige ist. Damit ist gezeigt, daß die Eigentumsverteilungen, die sich von der kontraktualistischen Basis aus als vernünftig erweisen, auch nicht im Sinne der proportionalen Gerechtigkeit „gerecht" genannt werden können. Auch in diesem Sinne paßt das Wort nicht. 3.3. Wir haben jetzt eine vorläufige Konzeption davon, wie, anhand welchen Verteilungsmaßstabs die Eigentumsrechte rationalerweise zugeteilt werden. Ich sage „vorläufige Konzeption", weil ich in 3.4. erst noch auf Einwände und eine Alternative eingehen werde. Zuvor aber ist herauszustellen, daß sich die hier entwickelte Konzeption eng mit Vorstellungen berührt, die J . M . Buchanan in seinem Buch The Limits of Liberty dargelegt hat. 25 - Buchanan unterscheidet eine ursprüngliche und eine natürliche Aufteilung von Gütern. In einer ZweiPersonen-Welt mit den Personen A und Β und nur einem knappen Gut, dem Gut X , ist die ursprüngliche Aufteilung von X 2 4 E. Tugendhat: Dialog in Leticia (Frankfurt 1997) 65. 25 Chicago/London 1975; dt.: Die Grenzen der Freiheit (Tübingen 1984).
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die, die A und Β einfach als durch den Zufall gegeben vorfinden. A ist diese Menge von X zugefallen, Β jene. Die natürliche Aufteilung ist die, die sich ergibt, wenn A und Β um X kämpfen. 26 Wie der Kampf ausgeht und wie somit die natürliche Aufteilung ausfällt, hängt von den körperlichen und sonstigen Fähigkeiten von A und Β ab. Die ursprüngliche und die natürliche Distribution können erheblich voneinander abweichen. Buchanan beschreibt die natürliche Distribution als einen Gleichgewichtszustand, als einen Zustand der Stabilität, in dem der Kampf um X sich erschöpft und gewissermaßen zum Stehen kommt. Irgendwann sehen beide Kontrahenten ein, daß es ihnen angesichts der Potentiale des anderen nicht gelingen wird, sich über den Besitz einer bestimmten Menge von X hinaus weitere Vorteile zu verschaffen. Damit ist der Ruhepunkt der natürlichen Distribution erreicht. Dieser stabile Zustand und die mit ihm gegebene Ausstattung von A und Β mit X ist die Ausgangssituation für ein Agreement über Eigentumsrechte. Dieses Agreement wird vernünftigerweise von der Art sein, daß A und Β die natürliche Distribution akzeptieren und sie in ein System von Rechten und Pflichten transformieren. Buchanan sieht, daß die natürliche Distribution egalitär, aber auch inegalitär sein kann, je nachdem ob A und Β in gleichem M a ß e mit natürlichen Fähigkeiten ausgestattet sind oder nicht. Es gibt allerdings, wie er findet, keinen Grund für die Annahme, die Menschen seien im Naturzustand gleich. 27 Er geht deshalb von der Ungleichheit der Menschen aus. Sie sind ungleich hinsichtlich ihrer Neigungen und Präferenzen, ihrer Ausstattung mit körperlichen, intellektuellen und anderen Fähigkeiten wie auch durch die natürliche Umwelt, in die sie hineingestellt sind und die ihnen ungleiche Chancen bietet. 28 Infolge der Ungleichheiten im Naturzustand kommt es, so Buchanan 2 9 , auch zu Ungleich-
26 Vgl. Limits 23 ff., 56 ff., dt. 33 ff., 82 ff. 27 Limits 26, 54, dt. 37, 80. 28 Ebd. 54 f., dt. 79 f. 29 Ebd. 26, dt. 37.
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heiten bei der Zuteilung von Eigentumsrechten. Die natürliche Ungleichheit wird also durch das Agreement in eine rechtlich fixierte Ungleichheit transformiert. Buchanan diskutiert in The Limits of Liberty nicht, ob es gerechtfertigt ist, die Ergebnisse, zu denen der von ihm beschriebene Prozeß der Etablierung von Eigentumsrechten führt, „gerecht" zu nennen. Es ist aber klar, daß in seiner Konzeption Gerechtigkeitsprinzipien im Naturzustand keine Rolle spielen und deshalb keinen Einfluß auf die Herausbildung der Eigentumsrechte haben und daß zum anderen die Ergebnisse der entsprechenden Agreements nicht gerecht im Sinne der egalitären Gerechtigkeit sind. In späteren Publikationen ist Buchanan auf die Frage nach der Gerechtigkeit eingegangen. Er charakterisiert hier die Ergebnisse der Agreements ausdrücklich als „gerecht" bzw. „fair". 30 Sie sind dadurch fair, daß ihnen die Beteiligten vernünftigerweise zustimmen. Wobei sie nicht zustimmen, weil sie fair sind. Daß sie zustimmen, heißt vielmehr, daß sie fair sind: „A rule is fair, if players agree to it. It does not say that players agree because a rule is fair. That is to say, fairness is defined by agreement ..." 31 So definiert hat die Fairneß bzw. Gerechtigkeit gegenüber der Vernünftigkeit des Agreements für alle Beteiligten keinen eigenen, davon unabhängigen Bedeutungsinhalt: „... it is not, and cannot be, defined independently of agreement ..." 32 Man darf sich von diesen Äu3 0 Buchanans Sprachgebrauch macht es nicht nötig, „gerecht" und „fair" zu unterscheiden. Vgl. etwa die einschlägigen Formulierungen in Freedom in Constitutional Contract (College Station 1977) 294; The Ethical Limits of Taxation, in: J. M. B.: Liberty, Market and State (Brighton 1986) 1 6 5 - 1 7 7 , 167. Zu beachten ist auch, daß Buchanan, während er gewöhnlich in bezug auf Regeln das Wort „fair" gebraucht, in dem gemeinsam mit G. Brennan verfaßten Buch The Reason of Rules (Cambridge 1985; dt.: Die Begründung von Regeln, Tübingen 1993) durchgängig von „just rules" spricht. 31 J. M. Buchanan: Rules for a Fair Game: Contractarian Notes on Distributive Justice, in: J. M. B.: Liberty, 1 2 3 - 1 3 9 , 126. 3 2 Freedom, 130. - So auch sehr deutlich Freedom, 294. - Mit dem, was Buchanan in diesen Passagen über das Gerechtsein sagt, appliziert er nur
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ßerungen indes nicht täuschen lassen. Mit den Begriffen „fair" bzw. „gerecht" werden sehr wohl neue Bedeutungsinhalte eingeführt. Buchanan greift nicht von ungefähr zu diesen Wörtern. Er kennzeichnet mit ihnen, ganz unabhängig von allen expliziten Definitionen, die erreichten Verteilungen als auch aus moralischer Sicht gut. 33 Sie sind fair bzw. gerecht, und das heißt: Sie sind moralisch in Ordnung, an ihnen ist moralisch nichts auszusetzen. Und das ist ohne Zweifel eine neue, zusätzliche Aussage. Die Agreements sind nicht nur von der Art, daß ihnen alle Beteiligten vernünftigerweise zustimmen, sie sind eben deswegen auch fair und damit moralisch gut. Hieraus folgt, daß es keine Agreements geben kann, die für die Beteiligten unter Bedingungen der Ungleichheit vernünftig sind, die aber dennoch ungerecht und moralisch zu beanstanden sind. - Buchanan suggeriert mit der Verwendung der Wörter „fair" und „gerecht" den Eindruck, die erreichten Verteilungen entsprächen den moralischen Ideen, die wir mit den Begriffen der Fairneß und Gerechtigkeit verbinden. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Sein Begriff der Gerechtigkeit ist revisionär, er unterscheidet sich offenkundig von dem gewöhnlichen Verständnis von „gerecht", das ich im Vorangegangenen erläutert habe. Gerecht ist eine Verteilungsregelung nach Buchanan nicht, wenn sie gleich effektiv gleich oder (nur) proportional gleich - verteilt, sondern wenn ihr alle Beteiligten zustimmen. Diese Bestimmung der Verteilungsgerechtigkeit läßt ganz offen, wie die konkrete Verteilung aussieht. Wie immer sie aussieht, wenn ihr nur alle
eine allgemeinere Aussage, die er schon in The Limits of Liberty gemacht und als „simple, but... extremly important" bezeichnet hat (6, dt. 8), auf diese spezielle Eigenschaft. Gleich zu Beginn des Buches wirft er die Frage auf, was die moralischen Eigenschaften der Resultate der Agreements seien (6, dt. 7 f.). Seine Antwort ist, gut, gemeint ist: moralisch gut, seien die Ergebnisse, die aus dem Agreement freier Menschen hervorgehen. Buchanan definiert (moralisch) gut als „that which emerges from agreement among free men, independently of intrinsic evaluation of the outcome itself" (167, dt. 237). 33 Vgl. hierzu die in Anm. 2 7 angeführten Stellen aus The Limits of Liberty.
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Beteiligten zustimmen können, ist sie gerecht. Nun ist eine Regelung, der alle zustimmen können, zwar im Vergleich zu einer Regelung, bei der dies nicht der Fall ist und die deshalb, wenn sie zustande kommen soll, einer Seite aufgenötigt werden muß, positiv zu bewerten. Aber „gerecht" ist hier das falsche evaluative Wort. „Gerecht" lobt eine Verteilung nicht, weil sie freiwillig akzeptiert wird, sondern weil sie nach einem Muster verteilt, das alle in gleicher Weise berücksichtigt. 34 3.4. Die im Vorangegangenen entwickelte Konzeption eines rationalen Agreements über Eigentumsrechte sieht in der Situation, in der der Kampf der Beteiligten um die knappen Güter sich gleichsam erschöpft und zum Stehen kommt, die Konstellation, in der es zum Agreement kommt. Die Ausgangssituation für das Agreement ist das stabile Ergebnis des GegeneinanderAgierens. Die Aufteilung der Güter, die in dieser Situation erreicht ist, - die „natürliche Aufteilung" - entspricht den Machtmöglichkeiten der Beteiligten: der Stärkere, der im Naturzustand mehr in seinen Besitz zu bringen und zu verteidigen vermag, hat mehr, der Schwächere weniger. Die natürliche Aufteilung wird durch das eigentumskonstituierende Agreement nicht verändert, sie wird nur „verrechtlicht". Jeder hat also nach dem Agreement so viel von den Gütern wie vor dem Agreement. Natürlich muß der Kampf, der der natürlichen Aufteilung vorausgeht, nicht wirklich ausgetragen werden. Rationale Akteure werden ihn nur imaginieren und die natürliche Aufteilung im Blick auf die gegebenen Machtverhältnisse direkt fixieren. Wir haben gesehen, daß die Eigentumsverteilung, so wie sie hier als rational konzipiert ist, zu inegalitären Ergebnissen kommt. Die Güter werden effektiv ungleich verteilt, es 34 Ähnlich auch H.-P. Weikart: Fairness as Mutual Advantage? Economics and Philosophy 10 (1994) 59-72, 63 f., 71. - Ich gehe auf die Ausführungen zur Gerechtigkeit im 7. Kapitel von The Reason of Rules nicht ein, zum einen weil sie überwiegend hier nicht relevanten Aspekten der Problematik gewidmet sind und zum anderen weil das Kapitel ursprünglich von G. Brennan verfaßt wurde.
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sei denn, die Machtmöglichkeiten sind bei den Beteiligten zufällig gleich oder zumindest annähernd gleich. Dieser Konzeption der rationalen Etablierung von Eigentumsrechten ist D. Gauthier im 7. Kapitel seines Buches Morals by Agreement entgegengetreten. Wenn die Beteiligten wirklich rational sind, kommt es - so Gauthier - zu einem Agreement anderer Art. Die Machtverhältnisse des vormoralischen Raumes werden vernünftigerweise nicht einfach in den Raum der Moral hineinverlängert. Gauthier bestreitet, daß die Ausgangssituation für das Agreement die natürliche Aufteilung ist, er bestimmt sie anders. Das hat zur Folge, daß das Agreement auch zu anderen Ergebnissen kommt. Zu Ergebnissen, die für die Schwächeren günstiger sind, die aber auch nicht egalitär sind. Gauthier nennt sie dennoch „fair", und er spricht auch von „Gerechtigkeit". Er glaubt, zeigen zu können, daß rationale Agreements über Eigentumsrechte aus sich heraus Gerechtigkeit kreieren. Wir werden sehen, in welchem Sinne er von „gerecht" spricht und ob seine Konzeption überzeugend ist. Gauthier räumt durchaus ein, daß ein Agreement, das die natürliche Distribution der Güter rechtlich fixiert, für alle Beteiligten, also auch für den Schwächeren, von Vorteil ist. Eine solche Regelung erspart allen die Kosten für die Verteidigung und gegebenenfalls Zurückeroberung der in Besitz genommenen Güter. Insofern ist es für alle rational, ein solches Agreement zu treffen. Aber es ist, so Gauthier, für den Schwächeren nicht rational, ein Agreement dieser Art ohne inneren Widerstand zu akzeptieren und sich bruchlos mit ihm zu identifizieren. 35 Der Gedanke ist hier, daß es, wenn man in einer schlechten Situation ist, durchaus rational sein kann, ein Agreement zu treffen, das einen schlechter stellt als man es für richtig hielte. Daß man dann aber nur notgedrungen, nicht wirklich freiwillig einwilligt.36 Man steht in Distanz, ja sogar in latenter Rebellion zu dem Agreement und sinnt auf eine Veränderung zu seinen 35 Gauthier, Morals by Agreement, 195. 36 Vgl. ebd. 15, 192, 195, 198, 201; vgl. auch 230.
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Gunsten. Für den Stärkeren ist es naturgemäß schlecht, wenn der Schwächere das Agreement zwar trifft, aber nicht wirklich zu ihm steht, vielmehr ständig darauf aus ist, es zu verändern oder zu unterlaufen. Die entstandene Situation hat damit nicht die gewünschte Stabilität und Verläßlichkeit. Deshalb ist es für den Stärkeren vernünftig, das Agreement so zu Gunsten des Schwächeren zu verändern, daß dieser es ohne Vorbehalte akzeptiert. Nur so entsteht eine Situation, in der man sich darauf verlassen kann, daß der eigene Besitz nicht angetastet wird. Was ist der Grund für die innere Ablehnung des doch vernünftigerweise eingegangenen Agreements, und wie muß das Agreement beschaffen sein, damit es für den Schwächeren rational ist, sich mit ihm zu identifizieren und zu ihm zu stehen? Es ist nur dann, so Gauthier, rational, das Agreement vorbehaltlos zu akzeptieren, wenn die Ausgangssituation „noncoercive", frei von Zwang ist.37 Der Stärkere darf sich im Vorfeld des Agreements nicht durch Zwang Vorteile gegenüber dem Schwächeren verschafft haben. Er unterliegt also - anders als bei Hobbes und Buchanan - schon im vormoralischen Raum bestimmten Handlungsbeschränkungen. Er darf bestimmte Dinge nicht tun, wenn er sein Ziel, eine verläßliche Eigentumsregelung, erreichen will.38 Diese Handlungsbeschränkungen sind 37 Ebd. 192: „...it is rational to comply with a bargain..., only if its initial position is non-coercive." - Vgl. auch 191, 192, 195, 196, 197, 200. 38 Gauthier spricht im Blick auf dieses Müssen davon, daß es im vormoralischen Raum bereits Pflichten und Rechte gebe (vgl. ebd. 208 ff., 221 ff.). Weil es Rechte im Naturzustand sind, könnte man den Eindruck haben, Gauthier knüpfe hiermit an die naturrechtliche Tradition an. Das stimmt jedoch im entscheidenden Punkt nicht. Denn die Rechte, von denen Gauthier spricht, sind nicht von Natur aus gegeben; die Menschen schaffen sie, weil sie erkennen, daß sie Vorbedingungen für effektive moralkonstituierende Agreements sind. Die Rechte sind also eindeutig positive Rechte, aber sie sind nicht Resultat, sondern Vorbedingung für die Konstitution der Moral. - Es sei nur angemerkt, daß Gauthier mit keinem Wort erörtert, was die Rede von Rechten und Pflichten hier rechtfertigt. Und warum das rationale Müssen, das nach seiner Konzeption im Naturzustand besteht, ein Verpflichtetsein sein soll.
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mithin, ein Punkt, auf den Gauthier großen Wert legt, nicht Ergebnisse des Agreements, sondern Vorbedingung seiner Akzeptanz. 39 Läge die kooperative Etablierung des Moralischen nicht in der Absicht des Stärkeren, gäbe es für ihn keine Notwendigkeit, seine Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. 40 Das Agreement hat also, das ist Gauthiers neue Idee, gewissermaßen rückwirkenden Einfluß. Es hat Einfluß auf die ihm vorausgehende Situation, weil es nur, wenn die Ausgangslage von bestimmter Art ist, zu einem Agreement kommt, zu dem die Beteiligten stehen. Angesichts dieser Überlegungen stellt sich die Frage, was genau mit „Zwang" gemeint ist und warum die Situation der natürlichen Aufteilung „coercive" ist. Gauthier legt zunächst dar, daß ein Zustand der Ungleichheit nicht notwendigerweise Zwang voraussetzt. Die Menschen im Naturzustand haben, so auch Gauthiers Vorstellung, unterschiedliche Fähigkeiten und Talente, weswegen sie in verschiedenen Hinsichten stärker und schwächer sind. Sie leben außerdem in verschiedenen Umgebungen, manche in einer mit üppiger, fruchtbarer Vegetation, andere in einer kargen Berglandschaft. Stellen wir uns nun vor, sie nutzen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und Ressourcen, ohne sich dabei in die Quere zu kommen. Jeder agiert isoliert für sich. Die natürlichen Ungleichheiten werden sich so in einem ungleichen Besitz an Gütern niederschlagen. Aber diese Ungleichheit entsteht nicht dadurch, daß einer den anderen zu etwas zwingt. In dieser Situation hätte der Schwächere, der weniger hat, in Gauthiers Augen keinen Grund, dem Stärkeren, der mehr hat, etwas abzuverlangen. 41 Wenn die beiden auf die (in dieser Situation nicht zwingende) Idee kämen, ein eigentumschaffendes Agreement zu treffen und so den status quo ungleichen Besitzes zu verrechtlichen, hätte der Stärkere weitergehende Eigentumsrechte als der Schwächere. Das Agreement wäre 3 9 Ebd. 192 f., 2 1 4 , 2 2 2 . 4 0 Ebd. 192, 2 0 0 f., 208. 4 1 Vgl. ebd. 221.
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inegalitär. Aber nichts in Gauthiers Theorie fordert, eine Ungleichheit dieser Art in Richtung Gleichheit zu verändern. In die Ausgangssituation des Agreements ist kein Zwangselement eingegangen, und deshalb ist an dem Agreement nichts zu kritisieren. Der Schwächere hat rationalerweise als gegeben hinzunehmen, daß er schwächer ist und deshalb schlechter dasteht als der andere. Das ist das Ergebnis natürlicher Gegebenheiten, und hierin liegt kein Grund, sich aufzulehnen. Anders sieht es aus, wenn der Stärkere im Vorfeld des Agreements nicht isoliert agiert, sondern seine Position auf Kosten des Schwächeren verbessert. Tut er dies, ist die so herbeigeführte Situation durch Zwang bestimmt. Wer ein stabiles Agreement erreichen will, muß also genau hierauf verzichten, er darf seine Position nicht auf Kosten eines anderen verbessern. Dies ist das die Handlungsmöglichkeiten im Naturzustand eingrenzende „Proviso", wie Gauthier im Anschluß an R. Nozick sagt. 42 - Die Formulierung „seine Position auf Kosten eines anderen verbessern" ist keineswegs eindeutig. Genausowenig wie Gauthiers häufige Formel: „to take advantage of any other person." 43 „To take advantage of something" heißt „einen Vorteil aus etwas ziehen", „etwas ausnutzen"; „to take advantage of someone" bedeutet also „einen Vorteil ,aus jemandem' ziehen", „sich einen Vorteil verschaffen, indem man jemanden ausnutzt". Woran Gauthier genau denkt, zeigen seine Beispiele. - Das erste ist dieses44: Ein Fischer, der flußaufwärts lebt, wirft seine Abfälle in den Fluß, wodurch flußabwärts, wo ein anderer Fischer lebt, viele Fische sterben. Man könnte glauben, die Verschmutzung des Flusses verstoße gegen das Proviso, denn der weiter oben lebende Fischer verbessere 4 2 Vgl. R. Nozick: Anarchy, State, and Utopia (Oxford 1974) 175-182; dt.: Anarchie, Staat, Utopia (München o.J.) 165-170; Nozick greift hier auf eine Überlegung von Locke zurück, weswegen er und Gauthier auch vom „Lockean proviso" sprechen. Vgl. Locke, Two Treatises of Government, II, § § 27, 33. 43 Morals by Agreement, 201; vgl. auch 205, 225. 44 Ebd. 211 f.
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seine Situation auf Kosten des weiter unten lebenden. Doch Gauthier verneint das. Die Verschmutzung des Flusses verstößt nicht gegen das Proviso. Denn der oben lebende Fischer zieht keinen Vorteil „aus" dem weiter unten lebenden. Er profitiert nicht von dem anderen. Man kann das leicht daran erkennen, daß die Situation des oben Lebenden nicht schlechter wäre, wenn es den anderen Fischer nicht gäbe. Den Vorteil, den er durch seine Weise der Abfallbeseitigung hat, hätte er auch bei Abwesenheit des anderen. 45 Und deshalb liegt hier kein „taking advantage of someone" vor und damit kein Verstoß gegen das Proviso. Ein anderes Beispiel verdeutlicht Gauthiers Bestimmung des Provisos weiter 46 : Zwei Schiffbrüchige, ein Mann und eine Frau, werden auf eine unbewohnte Insel gespült. Der Stärkere, der Mann, nimmt sich von den (knappen) Gütern, die die Insel bereithält, was ihm gefällt, obwohl die Frau, wo immer er zugreift, leer ausgeht. Auch hier ist es so, daß sein Verhalten nicht gegen das Proviso verstößt. Denn wenn die Frau abwesend und der Mann allein auf der Insel wäre, könnte er sich auch alles nehmen, was ihm gefällt. Er verschafft sich also keinen Vorteil, den er nur haben kann, weil die Frau da ist: er profitiert nicht von der Frau. Und deshalb ist das Proviso nicht verletzt. Nehmen wir aber an, die Frau legt in einem Teil der Insel einen Garten an und erntet nach einiger Zeit Früchte, die es ohne dieses Engagement auf der Insel nicht gäbe. Und nehmen wir weiter an, daß der Mann ihr die Früchte wegnimmt. In diesem Fall tut er etwas, was gegen das Proviso verstößt. Denn er verschafft sich einen Vorteil, indem er die Frau ausnutzt, er verschafft sich einen Vorteil, den er nur aufgrund der Anwesenheit der Frau und ihrer Arbeit haben kann. Ohne die Frau käme er nicht in den Genuß der Früchte. Was der Mann hier tut, ist „coercive", Gauthier spricht auch von „Raub". 47 45 Vgl. ebd. 204. 46 Ebd. 206 f. 47 Ebd. 192, 195.
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Wir haben jetzt ein ausreichendes Bild davon, wie Gauthier das Proviso bestimmt. Damit ist auch geklärt, was er unter Zwang versteht: Zwang liegt (nur) dann vor, wenn eine Handlung gegen das - so bestimmte - Proviso verstößt. Und damit ist weiterhin geklärt, wie die Ausgangssituation für ein Agreement beschaffen sein muß, das der Schwächere nicht nur notgedrungen eingeht, sondern ohne Vorbehalte und inneren Widerstand akzeptiert: Sie muß dem - so bestimmten - Proviso genügen. Die proviso-konforme Ausgangssituation ist, das ist nach dem Gesagten klar, keine Situation, in der die knappen materiellen Güter gleich aufgeteilt sind. Die Aufteilung der Güter ist vielmehr inegalitär, und es kommt deshalb auch zu inegalitären Eigentumsregelungen. Gauthier sagt das ausdrücklich 48 , dennoch nennt er die Aufteilung, wenn sie nur das Proviso nicht verletzt, „fair" und - so sein bevorzugtes Wort - „unparteilich". 49 Den, der im Naturzustand im Blick auf die erstrebten Agreements disponiert ist, „not to take advantage of one's fellows", nennt er „gerecht". Die Gerechtigkeit ist folglich die Disposition, proviso-konform zu handeln. 50 In der Spur dieses Wortgebrauchs kann man dann auch die Aufteilung, die sich aus der gerechten Haltung und den entsprechenden Handlungsweisen ergibt, „gerecht" nennen. In welchem Sinn ist die provisokonforme Aufteilung der Güter fair, unparteilich, gerecht? Gerecht, so Gauthiers Vorstellung, ist wechselseitiges Nehmen und Geben, ungerecht hingegen einseitiges Nehmen und Geben. Das bereits angeführte Inselbeispiel kann das verdeutlichen: Wenn der Mann die Früchte, die nur aufgrund der Arbeit der Frau vorhanden sind, in seinen Besitz bringt, hat er das erstrebte Gut, und bei der Frau verbleibt die Last der Arbeit. Das ist ungerecht. Der Mann hat auf diese Weise ein, wie Gauthier sagt, „free good" 51 , ein Gut, das er nimmt, ohne zu 48 Vgl. ebd. 2 1 7 f. 4 9 Vgl. ebd. 191, 2 0 1 , 209, 2 1 7 ff., 221. - Statt von „impartiality" spricht Gauthier auch von „impersonality", vgl. 8. 5 0 Ebd. 232; so auch 113. 51 Vgl. ebd. 113.
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geben. Er erntet, wo er nicht gesät hat. 52 Der Besitzwechsel der Früchte ist nur dann gerecht, wenn der Mann der Frau ein Äquivalent für die Früchte zahlt. Er muß für das, was er nimmt, etwas geben, und dies muß natürlich, weil es sonst wieder zu „free g o o d s " käme, gleichwertig sein. Ein anderes Beispiel ist das Leuchtturmbeispiel 53 : Eine Gemeinschaft von Fischern beschließt, einen Leuchtturm zu bauen und setzt dies in die Tat um. Einer der Fischer beteiligt sich nicht an den Kosten. Es ist aber nicht zu verhindern, daß auch er von dem Leuchtturm profitiert. Er nimmt also, ohne zu geben. Er verschafft sich auf diese Weise ein „free good". Die Situation ist deshalb ungerecht. Gauthier beurteilt überraschenderweise nicht nur das einseitige Nehmen, sondern auch das einseitige Geben als ungerecht. Auf die Frage, ob der zufälligerweise Stärkere und besser Ausgestattete im Naturzustand dem Schwächeren und schlechter Ausgestatteten helfen müsse, antwortet er mit einem klaren „Nein": Es besteht nicht nur kein derartiges „ M u ß " , es wäre sogar unfair, parteilich und deshalb auch ungerecht, dies zu tun. Es wäre ohne Zweifel generös, aber doch ungerecht, weil es dem Schwächeren „free goods" verschaffte. 54 - Wir können jetzt sagen, daß Gauthier Gerechtigkeit in unserem Kontext als Reziprozität versteht. Sie ist es, die sich durch die Beachtung des Provisos im Naturzustand ergibt. Die Situation, aus der heraus ein eigentumschaffendes Agreement getroffen wird, ist, wenn das Proviso nicht verletzt wird, in dem Sinne „gerecht", daß keiner der Beteiligten über „free goods" im erläuterten Sinne verfügt. Man muß sich klarmachen, wie klein nach dieser Konzeption, die die Gerechtigkeit an die Beachtung des Provisos bindet, der Bereich ist, in dem es sinnvoll ist, von „gerecht" und „ungerecht" zu sprechen. Die natürlichen Ungleichheiten in Fähigkeiten und Umständen liegen außerhalb dieses Bereichs. 5 2 Ebd. 195. 53 Vgl. ebd. 96. 54 Ebd. 218 f.
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Sie kann man nicht „ungerecht" nennen. Auch die hinzukommenden Ungleichheiten, die aus der Nutzung der natürlichen Vorteile resultieren, sind, solange jeder für sich agiert, nicht „ungerecht" zu nennen. Die durch diese Ungleichheiten geprägte Ausgangssituation für eine Eigentumsregelung wäre nicht unfair. Aber auch wenn man seine natürlichen Vorteile auf Kosten Schwächerer zur Aneignung von der Natur bereitgehaltener Güter nutzt, ist dies nicht ungerecht. Wir haben gesehen, daß der Mann auf der Insel, wenn er die Früchte, die es auf der Insel gibt, für sich nimmt und die Frau leer ausgeht, nicht gegen das Proviso verstößt und folglich nichts Ungerechtes tut. Ungerecht ist seine Handlungsweise erst, wenn er sich Früchte aneignet, die ohne die Arbeit der Frau nicht vorhanden wären. Die Formulierung, ungerecht sei, zu ernten, wo man nicht gesät hat, trifft den Sachverhalt genau, wenn man voraussetzt, daß man nur ernten kann, wo jemand gesät hat. Denn dann bedeutet, zu ernten, wo man nicht gesät hat, zu ernten, wo ein anderer gesät hat. Dies, und nur dies, ist in Gauthiers Augen ungerecht. Es steht jetzt noch die Antwort auf die alles entscheidende Frage aus, warum sich der Schwächere unvernünftig verhielte, wenn er ein Agreement, das für ihn von Vorteil ist, in dessen Vorfeld aber das Proviso verletzt worden ist, ohne innere Auflehnung akzeptierte. Warum verhielte er sich unvernünftig, obwohl er doch in der Situation, in der er ist, das Agreement vernünftigerweise eingeht? Nur wenn man zeigen kann, warum dies unvernünftig wäre, wird verständlich, warum der Stärkere vernünftigerweise damit rechnen muß, daß ein Agreement, das nicht proviso-konform ist, instabil bleibt und nicht den erstrebten verläßlichen Schutz gewährt. Und warum es für ihn vernünftig ist, als Remedium gegen die sonst drohende Instabilität seine Handlungsmöglichkeiten durch die Berücksichtigung des Provisos einzuschränken. - Zunächst muß hier klar sein, daß es nicht moralische Gründe sein können, die den Schwächeren dazu bewegen, das Agreement nicht vorbehaltlos zu akzeptieren. Er akzeptiert es nicht deshalb nicht, weil es ungerecht ist. Gauthier will ja zeigen, daß es, wenn die Beteiligten sich ratio-
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nal verhalten, zu dem Proviso kommt. Bloße Rationalität, so Gauthiers Argumentationsziel, generiert die Gerechtigkeit der Ausgangssituation und des Agreements. Dies ist sein Projekt, und dennoch finden sich eine Reihe von Formulierungen, die den Eindruck erwecken, der Schwächere verweigere dem Agreement aus moralischen Gründen die innere Zustimmung. Ich führe nur einige dieser Formulierungen an. So heißt es, ein Agreement, das nicht proviso-konform ist, zu akzeptieren, bedeute, zu erlauben, daß Räuber ernten, wo sie nicht gesät haben. 55 Hier sind offenkundig moralische Kategorien und moralische Einschätzungen im Spiel. Der Stärkere, der den Schwächeren ausnutzt, ist ein „Räuber", was er tut, ist „Raub". Genauso, wenn Gauthier den Schwächeren, der in einem Agreement schlechter wegkommt, als „Opfer", eben als Opfer eines Raubes bezeichnet und hinzufügt, die Einwilligung in ein Agreement könne nicht die Zustimmung dazu sein, daß man selbst zum Opfer gemacht wird. 56 Damit ist erneut, was in einem Agreement geschieht, das nicht dem Proviso entspricht, mit moralischem Vokabular beschrieben. Ähnlich ist es, wenn Gauthier sagt, die natürliche Aufteilung als Ausgangssituation des Agreements zu akzeptieren, bedeute, „might as making right" zu akzeptieren. 57 Macht in rechtliche und moralische Vorteile umzumünzen, ist, so die Suggestion, etwas Unmoralisches, und deshalb kann man ein entsprechendes Agreement nicht akzeptieren. Auch hier bewegt sich Gauthier auf dem Terrain moralischer Bewertungen. Alle diese Überlegungen geben folglich keine Antwort auf die Frage, warum es für den Schwächeren unvernünftig ist, ein Agreement vorbehaltlos zu akzeptieren, das nicht proviso-konform ist. Was ist nun Gauthiers wirkliche Antwort? Das ist gar nicht leicht zu sagen. In der einschlägigen Passage bietet er folgende Überlegung: Zu unterscheiden sind zwei Arten des 5 5 Ebd. 195: „predators", „prédation", „predatory activity". 56 Ebd. 195. 5 7 Ebd. 199.
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Einverständnisses mit einem Agreement. Im einen Fall muß eine schwächere Bedingung erfüllt sein. Man vergleicht hier die Situation mit dem fraglichen Agreement mit der Situation ohne Agreement. Wenn das Agreement Vorteile bringt, trifft man es und ist mit ihm ohne Vorbehalte einverstanden. Im andern Fall muß eine stärkere Bedingung erfüllt sein. Man vergleicht hier die Situation mit dem fraglichen Agreement mit der Situation eines fairen Agreements. Und nur wenn das fragliche Agreement dem fairen Agreement „nahekommt", ist man mit ihm einverstanden (obwohl man es vielleicht andernfalls auch eingeht). Gauthier spricht im ersten Fall von „broad compliance", im zweiten von „narrow compliance". 58 Wer nun bereit ist, schon beim Erfülltsein der schwächeren Bedingung das Agreement zu akzeptieren, der - so Gauthiers entscheidendes Argument - lädt die anderen dazu ein, ihre Position auf seine Kosten zu verbessern, indem sie vor dem Agreement Tatsachen schaffen, die dann die Ergebnisse des Agreements bestimmen. Und diese Einladung an die anderen ist irrational, weil sie einem schadet. 59 Dieses Argument geht ganz und gar ins Leere. Verdeutlichen wir uns, was Gauthier sagt, und nehmen an, daß A und Β um das knappe Gut X konkurrieren. 100 Einheiten von X sind verfügbar, wobei 10 dieser Einheiten nur aufgrund eines Engagements von Β vorhanden sind. Der Kampf um X ergäbe die natürliche Aufteilung, die die Machtverhältnisse zwischen A und Β spiegelt, in diesem Fall eine Aufteilung von 60 Einheiten für A und 40 für Β. A kann sich 60 Einheiten aneignen und Β ein Agreement über Eigentumsrechte im Verhältnis 60 : 40 vorschlagen. Für A wie für Β wäre ein solches Agreement wesentlich besser als eine Situation ohne Agreement. A kann aber auch die 10 Einheiten, die Β erwirtschaftet hat, Β zubilligen und sich nur von den verbliebenen 90 Einheiten den der natürlichen 58 Ebd. 2 2 5 f. 5 9 Ebd. 226: „... invite others to take advantage of her in setting terms of co-operation." - Dasselbe Argument auch schon S. 195.
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Distribution entsprechenden Anteil, das sind 5 4 Einheiten, aneignen und Β folglich ein Agreement über Eigentumsrechte im Verhältnis 5 4 : 4 6 vorschlagen. In diesem Fall wäre die Ausgangssituation proviso-konform. Die Idee ist nun, daß es, wenn Β erkennen läßt, daß er das erste Agreement vorbehaltlos akzeptieren würde, zu diesem Agreement kommen wird. Wenn er hingegen erkennen läßt, daß er das erste Agreement nur widerwillig und mit innerem Widerstand akzeptieren würde, mit der Folge, daß das Agreement nicht die beiderseits gewünschte Stabilität hätte, daß er aber zu dem zweiten Agreement voll und ganz stehen würde, wird A um eines stabilen Agreements willen vernünftigerweise für das zweite - provisokonforme - Agreement plädieren, und es wird zu diesem Agreement kommen. Da dieses Agreement für Β besser ist als das erste, wäre es für ihn irrational, sich schon mit dem ersten zufriedenzugeben. Daß dieses Argument scheitert, zeigt sich daran, daß Bs Strategie keineswegs nur gegen das Agreement, das die Eigentumsrechte im Verhältnis 6 0 : 4 0 fixiert, einsetzbar ist, sondern gegen jedes Agreement. Angenommen, A ist bereit, ein Agreement über 5 4 : 4 6 zu treffen. Warum wird Β dann nicht sagen (oder warum hat er nicht von Anfang an gesagt), daß er nur ein Agreement über 5 0 : 5 0 vorbehaltlos akzeptieren werde? Wenn A Sicherheit wolle und ein Agreement, auf das er sich verlassen könne, sei es für ihn vernünftig, ein solches Agreement zu schließen. Wenn Β hingegen erkennen ließe, daß er bereit wäre, das Agreement über 5 4 : 4 6 ohne Widerstand zu akzeptieren, wäre das eine Einladung an A, ein solches Agreement zu schließen. Obwohl A doch offenbar um eines stabilen Agreements willen zu Konzessionen bereit ist und sich deshalb auch auf ein Agreement über 5 0 : 5 0 einlassen würde. Ein solches Agreement ist für ihn ja noch immer besser als ein Zustand ohne Agreement. Β würde sich also selbst schaden, wenn er dem Agreement über 5 4 : 4 6 zustimmte. Folglich wäre es irrational, dies zu tun. - Natürlich kann Β dieses Spiel noch weitertreiben. Warum ein Agreement über 5 0 : 5 0 vorbehaltlos akzeptieren,
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wenn vielleicht eins über 4 6 : 54 möglich ist? Β kann mit dem Argument, das Gauthier ihm in den Mund legt, wie gesagt, gegen jedes Agreement angehen (bis zu einem Punkt, an dem A einen Zustand ohne Agreement vorziehen würde). Warum sollte er gerade bei dem Agreement stehen bleiben und sich zufriedengeben, das in Gauthiers Augen das faire ist? Wir dürfen nicht vergessen, daß Β dem Agreement ja nicht zustimmt, weil es fair ist. Er stimmt zu, weil es - so die Konzeption - rational ist, dies zu tun, und weil, einem anderen Agreement zuzustimmen, irrational wäre. - Eine zweite Überlegung kommt hinzu. Man kann das Argument genauso gut herumdrehen. A könnte Β zu verstehen geben, daß er nur eine Eigentumsregelung vorbehaltlos akzeptieren werde, die ihm, sagen wir, mindestens 65 Einheiten von X zuspricht, bei jedem anderen Agreement werde er keine Ruhe geben, so daß es für Β rational sein müßte, sich um eines stabilen Agreements willen auf eine Aufteilung von 65 : 35 einzulassen. Diese Überlegungen zeigen deutlich, daß es nicht gelingt, mit Hilfe des „Einladungs-Arguments" die proviso-konforme Aufteilung als die einzig rationale Aufteilung auszuzeichnen und alle anderen als irrational zu disqualifizieren. Ich nehme an, daß es auch kein anderes Argument gibt, das dies schafft. Die einzige für A und Β rationale Eigentumsregelung ist die, die der natürlichen Aufteilung entspricht, also die Aufteilung von 60 : 40. Angesichts der natürlichen Gegebenheiten und ihrer Auswirkungen ist kein anderes Agreement erreichbar, weder für A noch für Β. B, der Schwächere, kann sich gegen dieses Agreement auflehnen, weil es inegalitär ist oder weil A sich im Vorfeld Güter angeeignet hat, die es ohne seine, Bs, Arbeit gar nicht gäbe. Aber diese Auflehnung ist klarerweise moralisch motiviert; ihr Grund ist nicht, daß das Agreement irrational, sondern daß es unmoralisch ist. - Es ist aufschlußreich, daß Gauthier selbst in der Passage, in der er sein zentrales Argument vorlegt, bewußt oder unbewußt die Vorstellung fördert, der Schwächere lehne das Agreement aus moralischen Gründen ab. Denn die Maxime der „narrow compliance" lau-
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tet ja: Akzeptiere ein Agreement nur, wenn es einem fairen Agreement nahekommt. M a n lehnt das Agreement also ab, wenn es nicht fair ist. Wenn dies gesagt ist, liegt es nahe, anzunehmen, daß man es auch ablehnt, weil es nicht fair ist. Gauthiers Ausführungen und seine Rhetorik lassen immer wieder den Eindruck entstehen, der Widerstand des Schwächeren sei moralisch motiviert. Aber Gauthier sieht sehr genau, daß er so nicht argumentieren kann. Er braucht ein anderes Argument für die Ablehnung des Agreements, doch das Argument, das er offeriert, erreicht sein Ziel, wie wir sahen, nicht. Gauthiers Konzeption der rationalen Etablierung von Eigentumsrechten ist damit als nicht überzeugend erwiesen. Wir kehren deshalb zu der zuvor entwickelten Konzeption zurück. Sie betrachtet ein Agreement über Eigentumsrechte dann als rational, wenn die Aufteilung die Machtverhältnisse unter den Beteiligten spiegelt und insofern der natürlichen Aufteilung im vormoralischen Raum entspricht. Es gibt für den Stärkeren keine Gründe, im Vorfeld des Agreements Zugeständnisse zu machen und sich einem seine Möglichkeiten eingrenzenden „ M u ß " zu unterwerfen. Das Agreement verbessert die Situation des Stärkeren wie des Schwächeren erheblich. Und es ist nicht zu sehen, welchen Grund der Schwächere haben könnte, das Agreement nicht vorbehaltlos zu akzeptieren. Ein solcher Grund könnte allenfalls moralischer Natur sein. Gründe dieser Art sind jedoch beiseite zu lassen, wenn es um die Frage geht, ob rationale Agreements, in die keine moralischen Prämissen eingehen, zu gerechten Regelungen kommen. 4. Wenn wir auf die Überlegungen in diesem Kapitel über die Inhalte der Moral zurückschauen, sticht besonders hervor, daß die kontraktualistisch fundierte, rationale Moral, wie ich sie entwickelt habe, in zwei wichtigen Punkten von der tradierten Moral abweicht. Der erste: Die kontraktualistische Moral ist nicht universalistisch. Nicht alle Menschen haben moralische Rechte und Pflichten. Diejenigen haben keine Rechte und Pflichten, die nicht die Möglichkeit haben, etwas zu tun, vor dem
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andere sich schützen oder dessen sie sich versichern wollen. Sie verfügen nicht über die Handlungsmöglichkeiten, durch die sie erst zu Partnern in dem Projekt der M o r a l werden. Der kontraktualistische Prozeß kommt also nicht zu einer gerechten Aufteilung der Personenrechte. Diese Abweichung ist schwerwiegend, ich werde auf sie im nächsten Kapitel ( § 8 ) noch eigens eingehen. Nicht weniger schwerwiegend ist die zweite Abweichung; sie liegt darin, daß die kontraktualistische Moral auch, wo es um die Verteilung materieller Güter geht, nicht zu gerechten Verteilungsprinzipien und entsprechenden Eigentumsrechten kommt. Die Etablierung der Eigentumsrechte führt, wie wir sahen, zu einer Eigentumsverteilung, die durch die M a c h t der Beteiligten bestimmt ist. Die Verteilung ist so weit effektiv ungleich, wie die Personen über ungleiche Machtpotentiale verfügen. Sie entspricht also nicht der egalitären Gerechtigkeit. Und sie entspricht auch nicht der proportionalen Gerechtigkeit. Sie verteilt zwar proportional gleich, aber das Verteilungskriterium, die M a c h t , ist nicht das moralisch richtige, sondern nur das, wie wir gesagt haben, prudentiell richtige. Die rationale Moral, von kontraktualistischen Prämissen aus entwickelt, ist, das zeigen diese Ergebnisse sehr deutlich, eine revisionäre Moral, sie rekonstruiert nicht die tradierte M o r a l , sondern revidiert sie, zumindest partiell. Wer dem moralischen Skeptiker zeigen will, daß es für ihn zwingend ist, an der Moral teilzuhaben und moralische Rechte und Pflichten anzuerkennen, kann, daran sei erinnert, nicht auf objektive moralische Werte und Normen verweisen, er kann nicht an moralische Ideale appellieren, die man haben kann, aber nicht haben muß, er kann sich auch nicht auf altruistische Präferenzen beziehen, die man ebenfalls zwar haben kann, aber nicht haben muß, er kann sich nur auf Interessen stützen, die man jedem, auch dem Skeptiker, unterstellen kann, und auf das, was in bezug auf diese Interessen rational zwingend ist. Von diesen Prämissen aus läßt sich eine universalistische Moral und eine Moral, zu deren Kernelementen die Gerechtigkeit und die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Menschen gehört, nicht als
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rational erweisen. Die überkommene, jüdisch-christlich geprägte universalistisch-egalitäre Moral, die allen Menschen einen moralischen Status zuerkennt und von einer grundlegenden, normativ relevanten Gleichheit aller Menschen ausgeht, stützt sich auf metaphysische bzw. religiöse Annahmen, von denen sich nicht zeigen läßt, daß es rational ist, sie für wahr zu halten. In diesem Punkt treffen sich meine Ergebnisse mit Auffassungen, die Ursula Wolf vertritt. 60 Wolf kommt ebenfalls zu der Überzeugung, daß die, wie sie sagt, „liberale" universalistischegalitäre Moralkonzeption auf metaphysischen Prämissen aufruht. Sie weist vor allem darauf hin, daß die diese Moralkonzeption tragende Annahme, daß alle Menschen in gleicher Weise einen absoluten Wert oder eine Würde haben, ohne rationales Fundament ist. Und zwar sowohl in ihrer religiösen Form, die die Würde des Menschen durch seine Gottesebenbildlichkeit erklärt, wie auch in ihrer säkularisierten, man kann sagen: kantischen Form, die die menschliche Würde in der Vernunftbegabung des Menschen begründet sieht. Die Idee der Würde des Menschen hat, so Wolf, eine Tradition, und sie ist Teil unserer Kultur. Aber einem Skeptiker, der wissen will, warum er diese Annahme akzeptieren sollte, kann man nicht zeigen, daß sie wahr ist. - Ich werde auf die Frage, was aus diesen Ergebnissen folgt und was sie für unser Zusammenleben bedeuten, erst in Teil III (ab § 9) eingehen.
6 0 Vgl. U. Wolf: Das Tier in der Moral (Frankfurt 1990) 6 6 - 7 2 .
§ 8 Wer ist Mitglied der moralischen Gemeinschaft? 1. Für die Erörterung der Frage, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist, ist es nützlich, die, die zu moralischem Handeln verpflichtet sind, und die, denen gegenüber moralisch zu handeln ist, zu unterscheiden. Die einen sind die moralischen Akteure, die anderen die moralischen Adressaten. Während in den verschiedenen Moralkonzeptionen Konsens darüber besteht, wer die moralischen Akteure sind, ist es äußerst umstritten, wie die Gruppe der moralischen Adressaten zu bestimmen ist. Es ist klar, daß ein moralischer Akteur nur sein kann, wer fähig ist, eine Handlung, die er gerne tun würde, zu unterlassen, weil dies die Moral von ihm fordert. Er muß also für moralische Forderungen erreichbar sein und über die Fähigkeit selbstbestimmten Handelns verfügen. Das tun nur Menschen, von einem bestimmten Alter an. Wer aber sind die Adressaten moralischen Handelns? Die von den meisten geteilte Grundvorstellung besagt, daß die Menschen und nur die Menschen Anspruch auf moralische Rücksicht haben. Die Gruppe der Akteure und die der Adressaten fallen hiernach im großen und ganzen zusammen. Die moralische Gemeinschaft ist die Gemeinschaft der Menschen. Nur am Rande ergeben sich Abweichungen: Neugeborene und kleine Kinder sind noch nicht fähig, moralisch zu agieren, dennoch sind sie Gegenstand moralischer Rücksicht. Meinungsunterschiede gibt es innerhalb dieses Grundkonsenses bezüglich bestimmter Grenzfälle, so in der Frage, ob menschliche Föten, überhaupt oder von einem bestimmten Entwicklungsstand an, Anspruch auf moralische Rücksicht haben. Es teilen allerdings nicht alle Moralkonzeptionen die Vorstellung, die Menschen und nur sie hätten Anspruch auf moralisches Verhalten. Die Utilitaristen treten
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Moralisches
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seit Bentham dafür ein, daß wir auch Tieren moralische Rücksicht schulden. Dasselbe tun Schopenhauer und die ihm folgenden Vertreter einer Mitleidsethik. Da Tiere keine moralischen Akteure sein können, decken sich hiernach die beiden Gruppen der moralisch Handelnden und der moralischen Adressaten nur noch partiell. Die moralische Gemeinschaft ist deutlich größer als die Gruppe der moralischen Akteure; sie reicht weit über die Gemeinschaft der Menschen hinaus. Noch einen Schritt weiter gehen Konzeptionen, nach denen nicht nur Menschen und Tiere, sondern alles Lebendige Anspruch auf moralische Rücksicht hat. Bekanntlich hat Albert Schweitzer diese Auffassung vertreten. 1 Ist in diesen Moralkonzeptionen der Kreis der moralischen Adressaten weiter als der der Menschen, gehen andere Konzeptionen in die entgegengesetzte Richtung. Sie sind der Auffassung, nicht alle Menschen seien moralische Adressaten. So sind einige der Meinung, nur Personen oder nur Vernunftwesen könnten Objekte moralischen Handelns sein und nicht alle Menschen seien Personen oder Vernunftwesen. Hierhin gehört auch die kontraktualistische Tradition. Moralischer Adressat kann, so ihre Position, nur sein, wer selbst kontraktfähig ist, und das sind nicht alle Menschen. 2.1. Wer die Frage, wer die Adressaten moralischen Handelns sind, richtig beantworten will, muß vor allem drei Fehler, die weit verbreitet sind, vermeiden. Als erstes darf er die Frage nicht im Rekurs auf überempirische Eigenschaften entscheiden. Die jüdisch-christlich geprägte Moral lehrt im Anschluß an den Schöpfungsbericht der Priesterschrift (Gen. 1,26 f.), daß die Menschen und nur sie Ebenbilder Gottes sind. Und daß sie (und nur sie) aufgrund dieser spezifischen Auszeichnung Anspruch auf moralische Rücksicht haben. Die Menschen nehmen unter den von Gott geschaffenen Lebewesen eine Sonderstellung ein, und diese ist es, die sie zu moralischen Adressaten macht. Die anderen Lebewesen sind, obschon auch sie von Gott geschaffen 1
A. Schweitzer: Kultur und Ethik (München Ί 9 2 3 , 1990).
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sind, nicht gottebenbildlich; sie besitzen deshalb keinen eigenen Wert und sind nur um der Menschen willen da. Ihnen kommt kein moralischer Status zu. Diese Lehre gewann dadurch Konkretion und Plausibilität, daß man seit der Patristik annahm, das, was die Menschen zum Bild Gottes mache, sei ihre Vernunftbegabung. 2 Weil sie Vernunftwesen sind, sind sie Gott ähnlich. Die anderen Lebewesen sind hingegen vernunftlos, und dies vor allem macht ihren minderen Status aus. Die säkularisierte Schwundform dieser religiösen Konzeption begnügt sich mit der Kernaussage, daß die Menschen einen absoluten Wert oder, wie man auch sagt, eine Würde besitzen. Diese Würde kommt allen Menschen in gleichem M a ß e zu. Und sie ist, wie es in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt, „unantastbar". Das heißt, durch seine Würde ist der Mensch ein Wesen, das Anspruch auf moralische Rücksicht hat, durch sie ist er Mitglied der moralischen Gemeinschaft. Kant hat diese Idee am klarsten und wirkungsvollsten vertreten. Und nur wenige unserer moralischen Überzeugungen sind so tief verwurzelt wie die, daß die Menschen durch eine sie unantastbar machende, unverlierbare Würde ausgezeichnet sind und deshalb über allen anderen Lebewesen stehen. Kant folgt auch darin der religiösen Tradition, daß er in der Vernunftbegabung das Merkmal sieht, das die Würde begründet. In der Metaphysik der Sitten schreibt er, der Mensch besitze als Vernunftwesen „eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann." 3 Die Konsequenz dieser Konzeption ist klarerweise, daß nur die Menschen, sofern sie Vernunftwesen sind, Gegenstand moralischer Rücksicht oder, wie es bei Kant heißt, moralischer Achtung sind. „Wir haben", so Kant in aller Deutlichkeit,
2
3
Vgl. hierzu H. Merki: Homoiôsis theo. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa (Freiburg/ Schw. 1952) 83 ff. AA VI, 435. - Vgl. auch Grundlegung, AA IV, 435.
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„gegen kein Wesen eine Pflicht, als gegen ein vernünftiges Wesen." 4 Es ist offenkundig, daß es sich bei der Gottesebenbildlichkeit und bei dem Besitz der Menschenwürde, eines absoluten inneren Werts oder, wie es manchmal auch heißt, eines „Eigenwerts" um überempirische Eigenschaften handelt. Das heißt, man kann das Vorliegen einer solchen Eigenschaft zwar behaupten, man kann die Behauptung aber nicht verifizieren. Deshalb wäre es aussichtslos, dem moralischen Skeptiker zeigen zu wollen, daß jemand aufgrund einer dieser Eigenschaften Anspruch auf moralische Rücksicht hat. - Es ist wohl überflüssig, anzumerken, daß den jetzt diagnostizierten Fehler auch die Moralkonzeptionen begehen, die an der Behauptung, allen Menschen komme in gleichem Maße eine absolute Würde zu, festhalten, diese aber statt in der Vernunftfähigkeit in der Kommunikationsfähigkeit, der Kooperationsfähigkeit, der Fähigkeit zur Sozialität oder etwas anderem begründet finden. Der zweite Fehler, den man vermeiden muß, ist folgender: Man kann nicht von der Aussage, daß ein Lebewesen einer bestimmten biologischen Spezies zugehört oder eine andere, jetzt empirische Eigenschaft hat, auf die Aussage schließen, daß dieses Lebewesen ein Recht auf moralische Rücksicht hat. Von der einen Aussage führt kein Weg zur anderen. Dieses fehlerhafte Vorgehen findet sich dennoch in vielen Varianten. Man glaubt, wenn ein Lebewesen ein Mensch sei oder eine Person oder ein Vernunftwesen, oder wenn es Selbstbewußtsein und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung habe, oder wenn es leidensfähig sei, gebühre ihm moralische Rücksicht. Doch in keinem dieser Fälle folgt, was der Nachsatz behauptet, aus dem, was der Vordersatz feststellt. In allen Fällen haben wir es vielmehr mit einem ungerechtfertigten Sprung vom Faktischen ins Normative zu tun. Der Besitz einer empirischen Eigenschaft hat für sich genommen niemals moralische Relevanz. Es ist immer ungerechtfertigt, zu sagen: A besitzt die empirische Eigenschaft 4
Praktische Philosophie Herder (Nachschrift), AA XXVII/1, 84.
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F, und deshalb ist A Gegenstand moralischer Rücksicht. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die empirische Eigenschaft die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies homo sapiens oder die Leidensfähigkeit ist. Deshalb ist es verfehlt, einerseits dafür einzutreten, daß die Spezieszugehörigkeit keine moralische Relevanz habe, und sie andererseits z.B. für die Leidensfähigkeit zu behaupten. Auch Benthams vielzitiertes Diktum, die Frage sei nicht: Können sie denken? Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?5, verliert in diesem Licht seine Plausibilität. - Alle Konzeptionen der jetzt diskutierten Art gewinnen nur Überzeugungskraft, wenn man ihnen dorthin folgt, wo sie allein ihre Existenzgrundlage haben: in die Welt der objektiven Werte und Normen. Wenn es eine objektive, uns durch die Natur vorgegebene Tatsache ist, daß leidensfähige Wesen einen Anspruch darauf haben, daß ihnen kein Leid zugefügt wird, dann folgt daraus, daß etwas ein leidensfähiges Wesen ist, natürlich, daß es Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist. Und wenn es objektiv einfach so ist, daß Personen moralische Rechte haben, dann folgt daraus, daß etwas eine Person ist, natürlich, daß es Anspruch auf moralische Rücksicht hat. In moralphilosophischen Grundlagendiskussionen unter Philosophen ist es in der Regel nicht schwer, für die These, daß es keine objektiven Werte und Normen gibt, Zustimmung zu finden. Aber nur selten wird erfaßt, was die Bestreitung eines objektiven Ankers für unsere moralischen Vorstellungen bedeutet und wie groß die Revision des moralischen Denkens ist, zu der uns die Einsicht zwingt, daß die Moral in Wahrheit eine Hervorbringung der Menschen ist. Unsere moralischen Vorstellungen sind zutiefst von der Idee geprägt, daß es eine uns vorgegebene moralische Ordnung gibt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß man bei der Diskussion moralphilosophischer Probleme fast immer auf bewußt oder unbewußt objektivistische Positionen trifft. Dennoch ist es so, daß wir keine 5
J. Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), ed. J. H. Burns/H. L. A. Hart (London 1970) ch. XVII, p. 283.
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Gründe haben, die Existenz objektiver Werte und Normen anzunehmen. Wir haben, wie oben gezeigt, auch keine Gründe, objektive oder, wie man hier sagt, natürliche Rechte und Pflichten zu akzeptieren. Und deshalb bleibt es dabei, daß ein Lebewesen niemals einfach dadurch, daß es eine bestimmte empirische Eigenschaft besitzt, den Status eines moralischen Adressaten erlangt. Auch der dritte Fehler, den es bei der Bestimmung der moralischen Adressaten zu vermeiden gilt, wird häufig gemacht. Er besteht darin, von der Aussage, daß ein Lebewesen bestimmte Interessen hat, auf die Aussage zu schließen, daß es einen moralischen Anspruch auf die Berücksichtigung dieser Interessen durch die anderen hat. Argumentationen dieser Art findet man z.B. in der Diskussion über die moralische Zulässigkeit der Abtreibung. So wird gesagt, weil der menschliche Fötus ein Überlebensinteresse habe, sei es moralisch verboten, ihn zu töten. Oder weil bzw. solange er dieses Interesse nicht habe, sei es moralisch erlaubt, ihn zu töten. Das Interesse des Fötus am Überleben kreiert hier die Verpflichtung, ihm das Leben nicht zu nehmen. Sein Überlebensinteresse macht ihn somit zum Mitglied der moralischen Gemeinschaft. Ich habe oben bereits gezeigt, daß die Interessentheorie über den Ursprung von Rechten und Verpflichtungen falsch ist.6 Interessen schaffen nicht einfach aus sich heraus Rechte und Verpflichtungen. Es ist zweierlei, ein Interesse an etwas zu haben und ein Recht darauf zu haben, daß die anderen die Verfolgung dieses Interesses nicht behindern oder vereiteln und vielleicht sogar aktiv etwas für seine Befriedigung tun. Auch hier ist der Übergang vom Interesse zum Recht ein ungerechtfertigter Sprung vom Faktischen ins Normative. Oder es ist vorausgesetzt, daß es einfach ein objektives Faktum ist, daß das Haben von Interessen mit moralischen Rechten verknüpft ist. Doch mit dieser Annahme fällt man erneut in den Objektivismus zurück. Ein Lebewesen
6
Vgl. oben § 4, S. 7 9 f.
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gehört, so also der Befund, nicht dadurch zur moralischen Gemeinschaft, daß es Interessen oder bestimmte Interessen hat. 2.2. Wir vermeiden die angeführten Fehler und gelangen zu einer überzeugenden Antwort auf die Frage, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist, wenn wir uns vergegenwärtigen, von welcher Art die moralische Gemeinschaft ist und wie es zu ihr kommt. Die moralische Gemeinschaft ist der Ort moralischer Handlungen, und diese sind durch die Charakteristik des Gefordertseins definiert. Eine moralische Handlung ist eine, die man tun muß, die zu tun zwingend ist, und zwar unabhängig davon, was für eine Person man ist und welche Interessen und Präferenzen man hat. Man kann sich einer moralischen Forderung, wie wir sahen, nicht entziehen, indem man darauf verweist, daß man bestimmte Interessen, Ideale, Präferenzen nicht hat. Dem muß die Konzeption einer rationalen Moral Rechnung tragen. Die kontraktualistisch fundierte Moral, wie ich sie im Vorangegangenen entfaltet habe, tut das. Sie zeigt, daß es zwingend ist, sich moralisch zu verhalten, und zwar auf der Basis von Interessen, die man jedem unterstellen kann und von denen sich deshalb niemand freisprechen kann. Dies ist bei den weiteren Überlegungen dieses Kapitels immer zu berücksichtigen. Das moralische Müssen und die moralischen Rechte und Pflichten sind nichts Vorgegebenes, sie sind Artefakte und entstehen aus Agreements. Die beteiligten Individuen etablieren, weil es in ihrem eigenen Interesse ist, einen Raum des Moralischen, der ihnen Rechte und Pflichten bringt. Wer kann nun an der Etablierung des moralischen Raumes beteiligt sein? Da das Moralische auf der Basis von Interessen entsteht, ergibt sich als erstes, daß die Lebewesen nicht teilhaben, die keine Interessen haben. Die zweite Bedingung, die ich in § 7 schon eingeführt habe, ist die Machtbedingung: Nur wer über Handlungsmöglichkeiten verfügt, vor denen der andere sich rationalerweise schützen oder deren er sich rationalerweise vergewissern will, kann Mitglied der moralischen Gemeinschaft sein. Wenn A das Interesse hat, nicht verletzt zu werden, ist dieses Interesse
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Handeln
nur dann auch an Β gerichtet, wenn Β die Möglichkeit hat, A zu verletzen. Wenn Β sie nicht hat, geht As Interesse an Β vorbei. Dies bedeutet, daß es zwischen A und B, selbst wenn auch Β nicht verletzt werden will und sich dieses Interesse, weil A die Machtbedingung erfüllt, an A richtet, zu keinem Agreement kommt. A hat Β gegenüber folglich so wenig die Verpflichtung, ihn nicht zu verletzen, wie Β A gegenüber. Und A hat so wenig das Recht, von Β die fragliche Unterlassung zu fordern, wie Β das Recht hat, sie von A zu fordern. Weil A aber durch Β gar nicht verletzt werden kann, braucht er dieses Recht Β gegenüber auch nicht. Β hingegen hätte, weil A die Möglichkeit hat, ihn zu verletzen, das Recht A gegenüber gerne; er kann es aber, weil er die Machtbedingung nicht erfüllt, nicht bekommen. Stellen wir uns der Einfachheit halber vor, der moralische Raum kennt nur die eine Norm, keinem der Mitglieder X anzutun. Dann sind offenkundig die, die nicht in der Lage sind, einem anderen X anzutun, nicht Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Dies, obzwar andere die Macht haben, ihnen X anzutun und sie selbst deshalb das starke Interesse haben, daß dies nicht geschieht. Der entscheidende Punkt ist, daß sie wegen ihrer Machtlosigkeit die anderen nicht zwingen, sich zu ihnen in ein Rechtsverhältnis zu setzen, um sich gegen bestimmte ihrer Handlungsmöglichkeiten zu versichern. Sie haben diese Handlungsmöglichkeiten nicht. Und deshalb besteht für die anderen keine Notwendigkeit, den Verzicht auf mögliche Handlungen durch einen eigenen Freiheitsverzicht zu erkaufen. Aus diesen Überlegungen folgt, daß der Raum des Moralischen ein Raum ausschließlich reziproker Rechte und Pflichten ist. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten, und umgekehrt. Es kann also keinen moralischen Adressaten geben, der nur Adressat ist und nicht zugleich auch moralischer Akteur. Moralischer Akteur kann aber, wie schon gesagt, nur sein, wer die Fähigkeit hat, zu überlegen, was rationalerweise zu tun ist, und seine Handlungen im Lichte einer solchen Überlegung zu bestimmen. Wer diese Fähigkeit nicht hat, ist nicht in der Lage, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es moralisch gefordert ist. Mora-
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lischer Akteur kann also nur sein, wer zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig ist. Dies ist die dritte Bedingung für die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft: die Vernunftbedingung. Lebewesen, die sie nicht erfüllen, können nicht Mitglied der moralischen Gemeinschaft sein. Wir haben jetzt die Bedingungen für die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft gefunden: (1) die Interessebedingung, (2) die Machtbedingung und (3) die Vernunftbedingung. M a n kann überlegen, wie sich diese drei Bedingungen zueinander verhalten. Es scheint klar, daß nicht jedes Lebewesen, das Interessen hat, auch die Vernunftbedingung erfüllt. Kleine Kinder von wenigen Monaten etwa haben Interessen, sie haben aber nicht die Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung. Ebenso erfüllt nicht jedes Lebewesen, das die Machtbedingung erfüllt, auch die Vernunftbedingung. Ein Tiger zum Beispiel erfüllt ohne Zweifel die Machtbedingung. Er kann (in Gegenden, in denen Tiger und Menschen nahe beieinander leben) den Menschen Dinge antun, vor denen sie sich unter allen Umständen schützen wollen. Aber ein Tiger erfüllt nicht die Vernunftbedingung. Er vermag seine Handlungen nicht rational zu steuern und nicht deswegen etwas zu tun oder zu lassen, weil er dazu verpflichtet ist. Darum kann es zwischen Tigern und Menschen, obwohl sie sich voreinander schützen müssen, niemals zu einer Moral kommen. Zwischen ihnen bleibt es beim Naturzustand. Sie müssen sich anders als durch die Etablierung einer Moral voreinander schützen, am besten, indem sie sich aus dem Weg gehen. Auch Menschen können aufgrund einer schweren Deformation nicht zu vernünftiger Selbstbestimmung in der Lage sein, obwohl sie zu Handlungen fähig sind, vor denen man sich schützen muß. Solche Menschen erfüllen ebenfalls die Machtbedingung, aber nicht die Vernunftbedingung. Sie sind keine moralischen Akteure, und wir behandeln sie auch nicht als solche. Wir machen sie für ihre Handlungen nicht verantwortlich, und wir empören uns nicht, wenn sie uns etwas antun, eben weil wir wissen, daß sie zu einer vernünftigen Steuerung ihres Verhaltens nicht fähig sind. - Gibt
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es umgekehrt Lebewesen, die die Vernunftbedingung erfüllen, aber nicht die Interessebedingung oder die Machtbedingung? Die Vernunftbedingung erfüllen nur Menschen von einem gewissen Alter an. Wenn die Kinder nach und nach die Fähigkeit entwickelt haben, vernunftbestimmt zu agieren, sind sie klarerweise Wesen, die Interessen haben. Und sie erfüllen auch bereits die Machtbedingung. Auch wer körperlich schwer lädiert ist, aber die Vernunftbedingung erfüllt, hat in der Regel noch Möglichkeiten, andere zu schädigen, - wenn nicht durch unmittelbare eigene Aktivitäten, so doch mit Hilfe anderer Personen. Es scheint also so, als erfülle, wer die Vernunftbedingung erfüllt, auch die Interesse- und die Machtbedingung. Und als brauche man folglich als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft nur diese eine Bedingung, die Vernunftbedingung, zu nennen. Doch hier ist noch ein spezieller Fall zu berücksichtigen. Die Angehörigen zukünftiger Generationen erfüllen die Vernunftbedingung, und sie erfüllen auch die Machtbedingung, aber sie erfüllen diese Bedingung nicht gegenüber den jetzt Lebenden. Wenn sie leben werden, werden die jetzt Lebenden tot sein, und deshalb können sie auf deren Leben weder positiv noch negativ einwirken. Die Angehörigen zukünftiger Generationen können mithin in Zukunft Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft sein, aber sie können, da sie die Machtbedingung den jetzt Lebenden gegenüber nicht erfüllen, nicht Mitglieder in der moralischen Gemeinschaft sein, in der die jetzt Lebenden ihr Zusammenleben organisieren. Es gibt also Fälle, in denen Lebewesen die Vernunftbedingung, aber nicht die Machtbedingung erfüllen. Es ist wichtig, sich klar zu machen, daß die Erfüllung der Machtbedingung unter den Eigenschaften, die zur Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft qualifizieren, eine besondere Rolle spielt. Dies zeigt sich, wenn jemand angesichts der bisherigen Erörterungen einwendet: „Du hast oben, wie ich finde, überzeugend gezeigt, daß das Haben einer empirischen Eigenschaft niemals einen moralischen Status begründen kann. Doch jetzt nennst du selbst empirische Eigenschaften, die Fä-
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higkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung und die Fähigkeit, auf das Leben anderer einzuwirken, und bestimmst im Rekurs auf sie die Grenzen der moralischen Gemeinschaft. Wo ist der Unterschied?" Der Unterschied ist folgender. Die kritisierten Theorien sagen: das Lebewesen A hat die empirische Eigenschaft F, und dadurch ist es ein Objekt moralischer Rücksichtnahme. Der moralische Skeptiker kann hier immer fragen, warum der Besitz der Eigenschaft F für ihn ein Grund sein sollte, A gegenüber seine eigenen Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Auf diese Frage gibt es keine Antwort, gleichgültig ob F die Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies, das Person-Sein oder die Leidensfähigkeit ist. In der hier entwickelten Theorie gibt es hingegen eine Antwort; sie hängt damit zusammen, daß, die Machtbedingung zu erfüllen, eine Eigenschaft besonderer Art ist. Denn wenn das Lebewesen A diese Bedingung erfüllt, verfügt es über Handlungsmöglichkeiten, vor denen sich die anderen, auch der moralische Skeptiker, rationalerweise schützen oder deren sie sich rationalerweise vergewissern wollen. Die Macht von A bewirkt, daß die anderen, auch der moralische Skeptiker, etwas von A wollen: die Realisierung oder den Verzicht auf die Realisierung bestimmter Handlungsmöglichkeiten. Und um dies zu bekommen, müssen sie selbst etwas geben: die moralische Rücksicht. Man kann sagen: Daß A über die einschlägigen Handlungsmöglichkeiten verfügt, bedeutet etwas für die anderen, die mit A zusammenleben. Es ist für sie relevant, und zwar in ganz spezifischer Weise. Es macht es nämlich für sie rational zwingend, etwas zu tun. Wenn sie es nicht tun, wenn sie also A gegenüber im Naturzustand verharren, statt einen moralischen Raum zu schaffen, verhalten sie sich irrational. Man kann vielleicht sagen, daß der Besitz der relevanten Handlungsmöglichkeiten einen necessitierenden Charakter hat, während die anderen Eigenschaften, sei es die Zugehörigkeit zu einer Spezies, sei es das Person-Sein oder die Leidensfähigkeit, einen solchen Charakter nicht haben. Dasselbe gilt für die Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung. Auch sie macht als solche Lebewesen nicht
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zu moralischen Akteuren oder Adressaten. In einer Welt, in der es Lebewesen gäbe, die zwar zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig sind, die aber mit ihren Handlungen keinen Einfluß auf das Leben anderer nehmen können, gäbe es keine Moral. Und in einer Welt, in der die eine Hälfte der Lebewesen Vernunftwesen wären, ohne auf andere einwirken zu können, und die andere Hälfte Vernunftwesen mit der Möglichkeit, das Leben der anderen positiv oder negativ zu beeinflussen, wären nur die, die zur zweiten Hälfte gehören, Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Um richtig einschätzen zu können, was die bisherigen Überlegungen konkret bedeuten, ist es nötig, einen Gedanken aufzunehmen und weiter zu entfalten, der bereits bei den Ausführungen über den Inhalt der Moral in § 7 eingeführt wurde: Das Korpus der moralischen Agreements enthält vernünftigerweise auch versicherungsartige Agreements, Agreements also, durch die man für Situationen, die entstehen können, aber nicht entstehen müssen, ein moralisches Müssen schafft. Wer sein Leben erhalten will, so hatte ich gesagt, will nicht nur, daß die anderen es ihm nicht nehmen, er will vernünftigerweise auch, daß die anderen ihm zu Hilfe kommen, falls sein Leben bedroht ist. Deshalb ist es für A und Β vernünftig, für diese mögliche Situation ein versicherungsartiges Agreement zu vereinbaren. Wenn ich, A, in eine Situation geraten sollte, in der mein Leben bedroht ist, und du, B, in der Position sein solltest, mir helfen zu können, sollst du dies tun müssen, und genauso soll ich dasselbe tun müssen, falls du in eine solche Situation geraten solltest. Ein Agreement dieser Art zu vereinbaren, ist auch vernünftig in bezug auf Situationen temporären Aussetzens der Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung, also für den Fall bestimmter schwerer Krankheiten oder eines temporären Komas. M a n kann unterstellen, daß jeder will, daß er in einer solchen Situation wie ein Mitglied der moralischen Gemeinschaft behandelt wird. Deshalb ist ein entsprechendes moralisches Müssen ein natürlicher Bestandteil der moralischen Ordnung. Die Reziprozität ist hier voll gewahrt. Denn A und Β
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vereinbaren das Agreement, bevor einer von ihnen in der fraglichen Situation ist, ja bevor sie wissen, ob einer von ihnen überhaupt in diese Situation geraten wird. - Nicht leicht zu beantworten ist die Frage, ob diese Überlegung auch für Fälle einschlägig ist, in denen die Reduktion und der Verfall der Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung nicht temporär, sondern irreversibel ist. Angesichts von Fällen, in denen vor allem im Alter die Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung kontinuierlich schwindet und schließlich ganz verlöscht, neigen wir vielleicht zu der Auffassung, daß man jedem, den dies treffen kann, und das ist jeder, unterstellen kann, daß er ein Interesse daran hat, in diesem Fall durch die Moral geschützt zu sein. Unsicherer sind wir, wenn wir an den Fall eines definitiv irreversiblen Komas denken. Es ist unklar, was für Interessen man jedem bezüglich dieser möglichen Situation unterstellen kann. So ist keineswegs sicher, daß man jedem das Interesse unterstellen kann, in einer solchen Situation weiterzuleben und einen entsprechenden moralischen Schutz zu haben (vorausgesetzt natürlich, daß es an der Irreversibilität des Komas keinen Zweifel gibt). - Es ließen sich noch eine Reihe weiterer Situationen und in dieser oder jener Hinsicht abweichende Zwischensituationen anführen und diskutieren. Ich verzichte darauf. Die angestellten Überlegungen zeigen oder lassen zumindest vermuten, daß es kaum möglich ist, die Grenzen der Moral genau zu bestimmen. Man kann nicht genau fixieren, wo die Moral aufhört und etwas anderes beginnt. Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen: daß nur, wer Interessen hat, die Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung besitzt und zudem die Machtbedingung erfüllt, Mitglied der moralischen Gemeinschaft sein kann, bedeutet konkret, daß Tiere nicht Mitglied sind, und es bedeutet auch, daß nicht alle Menschen Mitglied sind. Diejenigen, die infolge einer schweren Deformation von Geburt an zu keinem vernunftgeleiteten Leben fähig sind, sind ebensowenig Mitglieder wie menschliche Föten und kleine Kinder bis zu einem bestimmten Alter. Auch Angehörige zukünftiger Generationen gehören nicht dazu. In
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diesem Ergebnis stimmen die verschiedenen Varianten einer kontraktualistisch fundierten Moral von der Antike an überein. Epikur etwa sagt in aller Deutlichkeit, daß es in bezug auf die Lebewesen, die nicht in der Lage sind, Verträge über einen gegenseitigen Verzicht, sich zu schädigen, zu schließen, keine Moral, nichts Moralisches und Unmoralisches gebe. Denn es gebe keine an und für sich bestehende Moral, die Moral sei vielmehr etwas zum gegenseitigen Nutzen durch Vertrag Geschaffenes. 7 - Zu diesem Ergebnis kommt aber nicht nur der moralische Kontraktualismus. Alle Moraltheorien, die die Moral als ein System von Kooperationsregeln und damit als etwas Reziprokes verstehen, kommen zu ihm. Ebenso alle Moralkonzeptionen, die die Vernunftfähigkeit oder die Personalität zu einer notwendigen Eigenschaft des moralischen Adressaten machen. Auch sie gelangen zu der Konsequenz, daß Tiere und die Menschen, die die Vernunftfähigkeit oder Personalität nicht besitzen, keine Träger moralischer Rechte sind. Wenn Kant und die, die ihm folgen, annehmen, den Menschen gebühre moralische Rücksicht, weil sie etwas absolut Wertvolles seien und dieser Wert in ihrer Vernunftfähigkeit liege, liegt es in der Konsequenz ihrer Konzeption, daß die Wesen, die nicht vernünftig sind, seien es Tiere, seien es Menschen, keinen Anspruch auf moralische Rücksicht haben. Es scheint also, als konvergierten eine ganze Reihe philosophischer Moralkonzeptionen darin, daß die Grenzen des moralischen Raumes innerhalb der Gattung der menschlichen Wesen verlaufen. Aber natürlich kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ergebnis, daß Tiere, Föten, Kinder bis zu einem
7
Epikur, Kyriai Doxai 32 und 33. - Ähnlich auch Hermarch, Schüler Epikurs und sein erster Nachfolger in der Leitung der Schule; seine einschlägige Überlegung ist ediert in: Α. A. Long/D. N. Sedley: The Hellenistic Philosophers (Cambridge 1987) vol. 2, 22N, S. 139, Z. 4 9 58; engl. Übers, vol. 1, S. 131 f. - Vgl. auch Hobbes, De cive, II, 12; Grice, The Grounds, 147; Mackie, Ethics, 193 f., dt. 247 f.; Gauthier, Morals by Agreement, 268.
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bestimmten Alter, von Geburt an der Vernunftfähigkeit Beraubte wie auch Angehörige zukünftiger Generationen nicht der moralischen Gemeinschaft angehören, den Intuitionen der meisten von uns zumindest in Teilen eklatant widerspricht. Viele werden sagen, daß dieses Ergebnis, weil es so empfindlich von den gewöhnlichen moralischen Vorstellungen abweicht, die Moralkonzeptionen diskreditiert, die zu ihm führen. - Der Hinweis auf die moralischen Intuitionen hat Gewicht, man kann ihn nicht einfach beiseite schieben. Das Mindeste, das er erzwingt, ist das nochmalige Überdenken der eigenen Position und ihrer Alternativen. Ich werde auch in diesem Sinne im folgenden noch genauer auf zwei der problematischen Gruppen, die Tiere und die Kinder, eingehen und prüfen, ob das bisher formulierte Ergebnis wirklich standhält. Zuvor aber eine prinzipielle Bemerkung zu der in der Moralphilosophie häufig gestellten Diagnose, daß bestimmte Ergebnisse nicht mit den moralischen Intuitionen zusammenstimmen. Moralische Intuitionen sind Vorurteile über moralische Sachverhalte, Meinungen, die man für wahr hält, ohne zu wissen, warum sie wahr sind. Eben deshalb spricht man von „Intuition", man hält etwas „intuitiv", nicht infolge von Gründen für wahr. Die moralischen Intuitionen sind indes nicht irgendwelche dahergelaufenen Vorurteile, in ihnen kristallisieren sich häufig die Anschauungen vieler Generationen, sie werden seit langem für wahr gehalten und von Generation zu Generation neu akzeptiert; sie haben sich gegenüber ihren Konkurrenten durchgesetzt und behauptet, sie haben sich mithin auf eine gewisse Weise bewährt, und sie sind es, die unser Zusammenleben bestimmen. Man wirft sie deshalb vernünftigerweise nicht leichtfertig über Bord. Aber natürlich kann man fragen, welche Gründe sich für sie anführen lassen. Und wir haben im Fall der moralischen Intuitionen besondere Veranlassung, diese Frage zu stellen. Ich nenne nur zwei Gründe: Zum einen haben unsere intuitiven Moralvorstellungen eine religiöse Vergangenheit, und sie sind, damit zusammenhängend, objektivistisch; sie setzen voraus, daß es eine von uns unabhängige moralische Ordnung gibt,
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durch die festgelegt ist, was moralisch ver- und geboten ist. Das heißt, die moralischen Intuitionen kommen aus einer Vorstellungswelt, die, zumindest was diese Grundprämisse angeht, falsch ist. Allein dieser Befund zeigt, daß die moralischen Intuitionen nicht das Wahrheitskriterium für moralische Thesen sein können. Der zweite Anlaß, die Frage nach den Gründen für unsere Intuitionen zu stellen, ist die Erfahrung, daß die Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, die moralische Disqualifizierung der Homosexualität, um nur diese Beispiele zu nennen, von den moralischen Intuitionen der allermeisten gedeckt waren. Dies demonstriert sehr deutlich, daß die moralischen Intuitionen nur Vorurteile sind. Daß sie über Generationen weitergegeben und für wahr gehalten wurden, bedeutet noch nicht, daß sie ein rationales Fundament haben. Wir sehen, wer auf die gewöhnlichen moralischen Überzeugungen pocht, muß zeigen, auf welche Gründe sie sich stützen. Er muß, wenn sein Widerspruch mehr als ein Appell zu Vorsicht und Genauigkeit in der Argumentation sein soll, selbst eine theoretische Alternative präsentieren. In unserem Fall müßte er zeigen, wie eine rationale Moralkonzeption aussieht, die auf metaphysische Prämissen verzichtet und doch in der Frage, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist, zu Ergebnissen kommt, die sich mit unseren moralischen Intuitionen decken. Es sei im übrigen daran erinnert, daß es in vielen Fragen „die moralischen Intuitionen" gar nicht gibt. Auch in einigen Fragen, die die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft betreffen, gehen die Intuitionen weit auseinander. Das ist in der Abtreibungsfrage so, und auch in der Frage, ob wir gegenüber Tieren moralische Pflichten haben. 3 . 1 . Die Tiere gehören, so das bisherige Ergebnis, nicht zur moralischen Gemeinschaft. Denn sie erfüllen nicht die Vernunftbedingung. Sie sind nicht in der Lage, einzusehen, daß es für sie vorteilhaft wäre, mit anderen Lebewesen zusammen ein moralisches Müssen zu etablieren, das sie dazu nötigte, bestimmte Dinge zu tun und zu unterlassen. Zwischen ihnen und anderen Lebewesen kann es deshalb nicht zu der Konstitution eines
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moralischen Raumes kommen. Und deshalb kann niemand den Tieren gegenüber unter einem moralischen „ M u ß " stehen. Dieses Ergebnis kommt, wie jeder sieht, unmittelbar aus einer Theorie über den Ursprung und das Wesen des moralischen Müssens. Hier, im Zentrum der Moralphilosophie und nicht an ihren Rändern, fällt die Entscheidung über die moralische Berücksichtigung der Tiere. Die über Jahrhunderte vorherrschende Auffassung, daß Tiere der moralischen Gemeinschaft nicht angehören, wird seit einigen Jahrzehnten mehr und mehr in Zweifel gezogen. Viele Moralphilosophen sind inzwischen der Meinung, Tiere seien moralische Adressaten, sie seien Träger von moralischen Rechten und Gegenstand moralischer Verpflichtungen. 8 Was die Frage nach dem Status der Tiere so unumgänglich macht, ist die Tatsache, daß sie (oder richtiger: ein Teil von ihnen) empfindungs- und leidensfähig sind. Tiere sind den Menschen darin gleich, daß sie leiden können. Je näher sie uns biologisch stehen und je größer ihre Ähnlichkeit mit uns ist, um so mehr spricht uns ihr Leid an, um so mehr reagieren wir mit Mitleid. Die leidensfähigen Tiere sind neben den Menschen die einzigen Wesen, mit denen wir Mitleid haben können. Angesichts dieser Fakten ist es nicht verwunderlich, daß die Leidensfähigkeit der Tiere im Zentrum einer Reihe von Argumenten steht, die zu zeigen versuchen, daß Tieren ein moralischer Status zukommt. Die Leidensfähigkeit allein kann aber keine moralischen Rechte begründen. Eine empirische Eigenschaft hat, so haben wir gesehen, grundsätzlich keine moralische Relevanz. Das wäre nur anders, wenn die Leidensfähigkeit eine im oben erläuterten Sinne necessitierende Eigenschaft wäre.
8
Daß die Frage nach dem moralischen Status der Tiere jedoch keine Erfindung des 2 0 . Jahrhunderts ist, sondern bereits im 17. und 18. Jahrhundert sehr differenziert diskutiert wurde, zeigt die aufschlußreiche Studie von A.-H. Maehle: Kritik und Verteidigung des Tierversuchs. Die Anfänge der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert (Stuttgart 1 9 9 2 ) , bes. 1 2 4 - 1 3 0 .
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Moralisches Handeln
Das ist sie aber nicht; sie nötigt die anderen zu nichts, das zu unterlassen irrational wäre. Wer, wie es viele tun, von der Leidensfähigkeit direkt in die normative Sphäre der Rechte und Pflichten springt, begeht also in bezug auf die Tiere den zweiten der drei oben markierten Fehler. - Ein anderes an die Leidensfähigkeit anknüpfendes Argument stützt sich auf die goldene Regel. Sie besagt, daß man anderen nicht antun darf, was man selbst nicht erleiden will. Weil man selbst nicht will, daß einem Leid zugefügt wird, darf man auch anderen kein Leid zufügen. Da Menschen und Tiere leidensfähig sind, wäre es willkürlich, zu sagen: Weil man es selbst nicht will, darf man den Menschen kein Leid zufügen, den Tieren aber doch. Auf diese Weise folgt aus der goldenen Regel die moralische N o r m , auch Tieren kein Leiden zuzufügen. Dieses Argument vermag den moralischen Skeptiker freilich nicht zu überzeugen. Denn warum sollte er sich in seinem Verhalten Tieren gegenüber von der goldenen Regel bestimmen lassen, w o die Tiere doch nicht in der Lage sind, ihrerseits diese Regel zu befolgen? Nichts nötigt den Skeptiker dazu. M a n kann ihm folglich, wenn er es nicht tut, nicht zeigen, daß er es rationalerweise tun müßte. M a n kann diesen Standpunkt einnehmen, aber man m u ß es nicht. Ein weiteres ebenfalls an die Leidensfähigkeit anknüpfendes Argument hat Ursula Wolf entwickelt. Sie meint, wenn man die metaphysische Vorstellung, daß Wesen kraft bestimmter Eigenschaften einen absoluten Wert (oder eine Würde) besitzen und dadurch Gegenstände der Moral sind, verwerfe, ergebe „sich ... von selbst, daß Gegenstand der moralischen Rücksicht alle leidensfähigen Wesen in Hinsicht auf ihre Leidensfähigkeit sind." 9 Es ergibt sich von selbst, weil, wenn man die Vorstellung von einem bestimmten Wesen innewohnenden absoluten Wert aufgibt, nur natürliche Affekte, insbesondere das Mitleid, die Basis der Moral sein können. 1 0 Wenn es so ist, gibt es keinen Grund, die Moral auf Menschen oder Personen zu begrenzen. 9 Wolf, Das Tier in der Moral, 10 Ebd. 142.
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Zur moralischen Gemeinschaft gehören dann die Wesen, mit denen wir Mitleid empfinden können, d.h. alle leidensfähigen Wesen, und dazu gehören auch die Tiere. Zu einer verfestigten moralischen Haltung gelangt man, so Wolf, wenn man auf der Grundlage des Mitleids die allgemeine Einstellung ausbildet, alle, die darin gleich sind, daß sie leiden können, „so zu behandeln..., als ob man ihnen gegenüber Mitleid empfinden würde." 11 Besitzt man diese Einstellung, liegt es, so der nächste Schritt, nahe, denen, die leiden können, ein Recht auf moralische Berücksichtigung zu verleihen. Auf diese Weise kommt es dazu, daß auch Tiere moralische Rechte haben und wir ihnen gegenüber moralische Pflichten. 12 Zwei Überlegungen zeigen, wie ich meine, daß Wolfs Konzeption nicht überzeugend ist. Zunächst ist es nicht richtig, daß sich, wenn man die Idee, daß bestimmte Lebewesen einen absoluten Wert haben, verwirft, die Mitleidsethik als einzige verbleibende Möglichkeit von selbst ergibt. Eine kontraktualistisch fundierte Moral kennt keine überempirischen Eigenschaften, aber sie ist deshalb nicht der Auffassung, daß alle leidensfähigen Lebewesen moralische Adressaten sind. Daß die Leidensfähigkeit sich als Kriterium für die Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft von selbst ergibt, wenn man nur auf metaphysische Prämissen verzichtet, ist also falsch. Die Mitleidsethik ist nicht die, sondern nur eine Alternative zu metaphysikgeladenen Moralkonzeptionen. Wolf räumt an einer Stelle ein, daß der Kontraktualismus nicht zu den metaphysischen „Wertmoralen" gehört. 13 Aber sie hat ihn bereits im Vorfeld beiseite geschoben, mit dem Argument, daß er die Tiere nicht zu Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft mache. 14 Dieses Argument ist offen -
11 U. Wolf: Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere? (1988), in: A. Krebs (Hg.): Naturethik (Frankfurt 1997) 4 7 - 7 5 , 57; vgl. auch Wolf, Das Tier in der Moral, 142 f. 12 Vgl. Wolf, Das Tier in der Moral, 8 1 , 8 3 . 13 Ebd. 68. 14 Ebd. 30 ff.
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Moralisches Handeln
sichtlich zirkulär, weil ja erst noch zu zeigen ist, daß die Tiere Mitglieder sind. Man kann nicht zunächst Moralkonzeptionen verwerfen, weil sie den Tieren keinen moralischen Status einräumen, und dann den Umstand, daß am Ende eine Konzeption übrigbleibt, die ihnen einen solchen Status zuerkennt, als Argument dafür anführen, daß Tiere tatsächlich Anspruch auf moralische Rücksicht haben. Läßt man dieses Argument beiseite, bleibt, daß Wolf den Kontraktualismus aus allgemeinen, nicht weiter ausgeführten Gründen ablehnt. Es sei, so heißt es, unmöglich, Moral im Eigeninteresse zu fundieren. 15 - Der zweite Einwand gegen Wolfs Konzeption zeigt, daß es, anders als sie behauptet, keinen Weg vom Mitleid zu moralischen Rechten gibt. Selbst wenn die These, daß die Mitleidsmoral die einzige (überzeugende) metaphysikfreie Moral ist, richtig wäre, gelänge es nicht, im Ausgang vom Mitleid zu zeigen, daß alle Wesen, die leiden können, ein Recht auf moralische Rücksicht haben. Zunächst ist es ein einfaches Faktum, daß die Menschen auf fremdes Leid verschieden reagieren. Manche reagieren häufig mit Mitleid, manche tun das weniger oft, manche nur selten. Andere reagieren mit Schadenfreude, wieder andere werden überhaupt nicht von einer Emotion erfaßt. Bei manchen von denen, die Mitleid empfinden, ist das Gefühl stark, bei anderen ist es schwach. Wichtig ist nun, daß man dem, der in einer Situation, in der andere Mitleid empfinden, nicht so empfindet, nicht sagen kann, daß er Mitleid empfinden muß. Hier, im Feld der Gefühle, gibt es kein Müssen. Und auch die Einstellung des generalisierten Mitleids, so zu handeln, als ob man Mitleid empfände, ist nichts, was man sich zu eigen machen muß·, man kann es tun, es ist vielleicht naheliegend, es zu tun, aber man muß es nicht tun. Nichts zwingt einen, wenn man in bestimmten Situationen Mitleid empfindet, daraus eine allgemeine Einstellung zu bilden. Wolf räumt das ein. Die Haltung eines generalisierten Mitleids ist, wie sie sagt, „Bestandteil eines Selbstver-
15 Ebd. 30.
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ständnisses". 16 Das heißt, man kann niemandem zeigen, daß er sich so disponieren muß. Wolf verwischt ihre Position hier etwas, weil sie auch sagt, zu der Haltung des Mitleids gehöre die Vorstellung, „daß es sich um die richtige Einstellung handelt, die alle haben sollten." 17 Doch diese Vorstellung läßt sich, so heißt es ausdrücklich, nicht begründen. 18 Damit hängt das „richtig" und das „sollten" in der Luft, und es bleibt dabei, daß die Haltung des generalisierten Mitleids eine - vielleicht naheliegende - Option ist, aber nicht mehr. Verleiht man aus dieser Haltung heraus den leidensfähigen Wesen moralische Rechte, sind dies konsequenterweise Rechte, die diese Wesen nur bestimmten Menschen gegenüber haben, eben denen gegenüber, die das entsprechende Selbstverständnis und damit verknüpft die Haltung des Mitleids haben. Auch das räumt Wolf ein.19 Aber es bedeutet, daß der Rechtsbegriff hier anders als gewöhnlich verwandt ist und daß es besser wäre, auf ihn zu verzichten, um unnötige Verwirrung zu vermeiden. Ein Recht zu haben, bedeutet, daß die anderen etwas tun oder unterlassen müssen, gleichgültig was für Menschen sie sind und gleichgültig welches Selbstverständnis, welche Ideale und Präferenzen sie haben. Sie müssen es tun, Punkt. Diese Kategorizität zeichnet, wie wir sahen, das moralische Müssen aus. Wolf kommt im Ausgang vom Mitleid aber nicht zu einem Müssen dieser Art, sie kommt nicht zu einem moralischen Müssen, dem jeder, der mit leidensfähigen Wesen umgeht, unterliegt, gleichgültig was für eine Person er ist. Und sie kommt deshalb nicht dahin, den Tieren (und auch den Menschen) wirkliche moralische Rechte zuzusprechen. - Auch dieser Argumentation gelingt es also nicht, ausgehend von der Eigenschaft der Leidensfähigkeit zu moralischen Rechten der Tiere und damit zu ihrer Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft zu gelangen.
16 17 18 19
Ebd. 79, 87. Ebd. 80. Ebd. Ebd. 81.
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Handeln
Andere Argumente setzen anders ein. Ich gehe auf zwei weitere wichtige Argumentationstypen ein. Den einen Typ finden wir besonders ausgeprägt bei T. Regan, einem der energischsten Vertreter der These, daß Tiere moralische Rechte haben. Regan geht davon aus, daß Tiere, zumindest ein Teil von ihnen, den Menschen darin gleich sind, daß sie „subjects of life" sind: Sie sind bewußte Wesen, denen an ihrem eigenen Wohl liegt.20 Aufgrund dieser Eigenschaft kommt ihnen wie allen, die diese Eigenschaft haben, ein, wie Regan sagt, „inhärenter W e r t " zu.21 Alle, die diesen inhärenten Wert besitzen, besitzen gleich viel davon, gleich welcher biologischen Spezies, welcher Rasse, welchen Geschlechts, welcher Religion sie sind, gleich, ob sie reich, gesund, intelligent etc. sind.22 Und alle, die den Wert besitzen, sind durch seinen Besitz in gleicher Weise Träger moralischer Rechte und Adressaten moralischer Pflichten.23 Auch die Tiere, zumindest ein Teil von ihnen, haben folglich moralische Rechte. - Man muß nicht weiter auf die Details dieser Position eingehen, um zu sehen, daß die Argumentation den ersten der drei oben aufgeführten Fehler begeht. Sie schreibt Menschen und Tieren aufgrund einer empirischen Eigenschaft eine überempirische Eigenschaft zu, den Besitz eines inhärenten Wertes, und folgert daraus den moralischen Status von Menschen und Tieren. Doch eine solche überempirische Eigenschaft gibt es nicht, sie ist erfunden, - erfunden, so der Verdacht, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen. Wie sehr Regan die Grundsätze rationalen Argumentierens hinter sich läßt und sich ins Mystisch-Spekulative verirrt, zeigt seine Bemerkung, daß wir nicht wissen und wohl
20 T . Regan: The Case for Animal Rights, in: P. Singer (ed.): In Defence of Animals (Oxford 1985) 13-26, 22; dt.: Wie man Rechte für Tiere begründet (geringfügig gekürzt) in: A. Krebs (Hg.): Naturethik (Frankfurt 1997) 33-46, 42. 21 Ebd. engl. 23, dt. 43; vgl. auch T. Regan: The Case for Animal (London 1983) 235 f., 237, 240. 22 The Case (1985) engl. 21, dt. 41 23 The Case (1983) 240, 267, 277 f.
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niemals wissen können, ob auch Felsen, Flüsse, Bäume und Gletscher einen inhärenten Wert haben. 24 Man könnte sagen, diese Spekulation sei nicht weiter überraschend, weil es, wenn man erst einmal überempirische Eigenschaften anerkenne, ohnehin willkürlich sei, welchen Dingen man sie zuschreibt. Eine aus der religiösen Vorstellungswelt kommende Variante dieses Argumentationstyps versteht die Tiere als „Mitgeschöpfe". Sie sind zwar nicht wie die Menschen Ebenbilder Gottes, aber als Mitgeschöpfe, als von Gott gewollte und geschaffene Wesen haben sie einen „geschöpflichen Eigenwert", durch den sie Träger moralischer Rechte sind. Die moralischen Akteure haben folglich die Pflicht, die Tiere in ihrem Eigenwert moralisch zu berücksichtigen. 25 Auch hier stoßen wir auf eine überempirische Eigenschaft, die Eigenschaft, einen „Eigenwert" zu haben. Und auch die Basiseigenschaft, die Grund für den Eigenwert ist, ist hier eine überempirische Eigenschaft: die Mitgeschöpflichkeit. Die Vorstellung der Mitgeschöpflichkeit, die im übrigen nicht auf die Tiere zu begrenzen ist, weil Gott ja die ganze Welt geschaffen hat, hat auch Eingang in das deutsche Tierschutzgesetz gefunden. Ohne ausdrücklichen Bezug auf religiöse Vorstellungen nennt Art. 1 als Ziel des Gesetzes, „aus Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen." Den zweiten Typ von Argumentation für die Zugehörigkeit von Tieren zur moralischen Gemeinschaft, der nicht direkt bei der Leidensfähigkeit der Tiere ansetzt, finden wir in exemplarischer Klarheit bei dem Neukantianer Leonard Nelson. Nelson sagt ohne Umschweife, daß Tiere Subjekte von moralischen Rechten sind. Denn sie haben Interessen, und Wesen, die Interessen haben, sind Subjekte von Rechten. 26 Nelsons Grund-
24 The Case (1985) engl. 23, dt. 44. 25 Vgl. hierzu E. Schockenhoff: Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß (Mainz 1993) 389 f. 26 L. Nelson: System der philosophischen Ethik und Pädagogik (1932). Gesammelte Schriften, Bd. 5 (Hamburg 1970) § 65.
I l l
Moralisches Handeln
position, die er dann auf die Tiere appliziert, besagt also, daß, wer Interessen hat, dadurch Träger von Rechten ist und Anspruch auf die Berücksichtigung seiner Interessen hat. Wir haben bereits gesehen, daß Interessen als solche keine moralischen Rechte begründen. Nelson macht den dritten der drei oben beschriebenen Fehler. Dennoch ist es weit verbreitet, die Tiere als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft anzuerkennen, weil sie Wesen sind, die Interessen haben. Eine ähnliche Argumentation bietet P. Singer. Auch er geht davon aus, daß Tiere, soweit sie leidensfähig sind, Interessen haben. Sie haben zumindest das basale Interesse, keine Schmerzen zu haben. 27 Singer kommt von hier in zwei Schritten zu moralischen Rechten für Tiere. Erstens liegt es in der Natur des moralischen Standpunktes, „daß meine eigenen Interessen nicht einfach deshalb, weil sie meine Interessen sind, mehr zählen als die Interessen von irgend jemand anderm." 28 Zweitens hat für die Universalisierung die Speziesgrenze zwischen Menschen und Tieren keine Bedeutung. Das „einzige, was zählt, sind die Interessen selbst." 29 Wie es nicht zählt, ob das Wesen, um dessen Interesse es geht, ein Mann oder eine Frau, ein Schwarzer oder ein Weißer ist, so zählt auch nicht, ob es ein Mensch oder ein Tier ist.30 Entscheidend ist allein, daß die Tiere wie die Menschen Interessen haben. Dies sichert ihnen die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft. - Natürlich würde der moralische Skeptiker hier dieselbe Frage stellen, wie er sie bezüglich der Goldenen Regel stellt: Warum sollte ich mich Wesen gegenüber auf den moralischen Standpunkt stellen, die ihrerseits nicht in der Lage sind, diesen Standpunkt mir gegenüber einzunehmen? Man kann das aus verschiedenen Motiven tun, es ist
2 7 P. Singer: Practical Ethics (Cambridge 2 1993) 57; dt.: Praktische (Stuttgart 2 1994) 85. 2 8 Ebd. 12, dt. 29. 2 9 Ebd. 2 2 , dt. 40. 3 0 Vgl. ebd. 2 2 ff.; dt. 4 0 ff. und auch P. Singer: Animal Liberation York 1975); dt.: Befreiung der Tiere (München 1982) Kap. 1.
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eine Möglichkeit, aber mehr nicht. Man kann dem Skeptiker in der Tat nicht zeigen, daß er diesen Standpunkt den Tieren gegenüber einnehmen muß. Auch Singer zeigt also nicht, daß die Einbeziehung der Tiere ein moralisches „Muß" ist. Man muß allerdings anmerken, daß seine Argumentation nicht auf der grundsätzlichen Ebene einer Auseinandersetzung mit dem Skeptiker angesiedelt ist. Er setzt eine bestimmte Konzeption des Moralischen voraus und will allein zeigen, daß ihre konsequente Entfaltung zu einer Einbeziehung der Tiere führt. Die Erörterung der wichtigsten Argumentationstypen für die Mitgliedschaft der Tiere in der moralischen Gemeinschaft zeigt, daß offenbar keine dieser Argumentationen das angestrebte Ziel erreicht. Keines dieser Argumente vermag dem Skeptiker zu zeigen, warum er der moralischen Forderung, sich zugunsten von Tieren zu verhalten, nachkommen sollte. Keines der Argumente zeigt, daß die Berücksichtigung der Tiere ein moralisches „Muß" ist, ein „Muß" also, dessen verpflichtende Kraft unabhängig davon ist, welche Ziele der verfolgt, an den es adressiert ist, und unabhängig davon, welche Ideale und welches Selbstverständnis er hat. Es bleibt also dabei, daß die Tiere nicht Mitglied der moralischen Gemeinschaft sind und folglich keine moralischen Rechte haben. Einige Tiere erfüllen zwar die Interessenbedingung, und einige erfüllen auch die Machtbedingung, aber sie erfüllen alle nicht die Vernunftbedingung. Sie können nicht erkennen, daß es rational ist, den Naturzustand zwischen sich und den Menschen zu verlassen und einen Raum des Moralischen zu etablieren. Und sie können, setzt man den moralischen Raum einmal voraus, gar nicht innerhalb eines solchen Raumes agieren, weil sie nicht in der Lage sind, auf eine Handlung, zu der es sie hinzieht, zu verzichten, weil es die Moral verlangt. Zwischen Tieren und Menschen gibt es, wie Hume sagt, keine „society" 31 ; zwischen ihnen muß es notgedrungen beim Naturzustand bleiben. Wir können uns 31 D. Hume: An Enquiry Concerning the Principles of Morals, ed. L. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch (Oxford 1975) sect. III, pt. I, p. 190.
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Moralisches Handeln
vor den Tieren nicht mit Hilfe der Moral schützen, und sie können sich vor uns ebenfalls nicht durch die Moral schützen. Wer etwas zurücktritt und das Phänomen der Moral aus einer größeren Distanz betrachtet, wird dieses Ergebnis nicht sehr überraschend finden. Wenn es so ist, daß die Moral nicht etwas Vorgegebenes ist, sondern etwas, das die Menschen erfinden, um besser zu leben, dann scheint es sich von selbst zu ergeben, daß sie etwas für und zwischen Menschen ist. Wie sollte ein Müssen, das ein Verhalten zugunsten Nichtbeteiligter wie der Tiere zum Inhalt hat, Teil dieser Moral werden? Wo sollte dieses Müssen herkommen? Man könnte allenfalls daran denken, daß die Menschen, wenn sie daran interessiert sind, daß die Tiere gut behandelt werden, untereinander vereinbaren, sich Tieren gegenüber rücksichtsvoll zu verhalten. Aber auch dann wären die Tiere nicht moralische Adressaten und Träger von moralischen Rechten. Die Pflichten, denen die moralischen Akteure unterlägen, wären Pflichten gegenüber anderen Menschen, nicht gegenüber Tieren. Es wären freilich Pflichten bezogen auf Tiere oder, wie Kant sagt, Pflichten „in Ansehung" der Tiere. 32 Man spricht auch von „indirekten Pflichten". Würde man Tiere schlecht behandeln, würde man folglich nicht ihnen ein Unrecht antun, sondern den Agreement-Partnern, mit denen man sich auf die Rücksicht Tieren gegenüber geeinigt hat. Selbst wenn es zu einem Agreement dieser Art käme, wären die Tiere also nicht Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Doch tatsächlich kommt es zu einem solchen Agreement nicht. Tierbezogene Pflichten können wohl nicht Teil einer kontraktualistisch fundierten Moral sein. Denn man kann nicht jedem das Interesse unterstellen, Tiere auf Kosten seiner eigenen Handlungsfreiheit zu begünstigen. Dieses Interesse ist ein, wie man sagen könnte, altruistisches Interesse; und dadurch unterscheidet es sich von den Interessen, nicht getötet, nicht verletzt zu werden, über materielle Güter zu verfügen, etc.
32 Die Metaphysik der Sitten, A A VI, 443.
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Ein solches altruistisches Interesse kann man nicht allen unterstellen, und deshalb ist es keine Basis für das moralische Müssen mit seiner spezifischen Kategorizität. Findest du denn nicht, so könnte jetzt vielleicht jemand fragen, daß es grausam ist, Tiere zu quälen und ihnen ohne Not Leid zuzufügen? Sicher ist es grausam, es ist grausam und mitleidslos. Aber so zu empfinden und zu urteilen, impliziert nicht die Annahme, daß Tiere moralische Rechte haben. Es ist ja gerade die Frage, ob man zu dem, der Tiere grausam behandelt, nur sagen kann: „Was du machst, stößt mich ab, und daß es dich nicht abstößt, macht dich mir fremd. Du bist anders als ich und die meisten, die ich kenne." Oder ob man sagen kann: „Was du tust, kannst (oder darfst) du nicht tun. Es ist ein Unrecht, das du unterlassen m u ß t . " Wenn man die zweite Reaktion für angebracht hält, ist die entscheidende weitere Frage, wie sich, was man da sagt, begründen läßt. Wie lautet die Antwort, wenn der Kritisierte fragt, warum er, was er tut, nicht tun kann, warum er anders handeln muß? Nach allem, was gesagt wurde, scheint es so zu sein, daß wir hier keine Antwort und keine Begründung geben können. Und wenn es so ist, ist es das Beste, daraus die Konsequenzen zu ziehen und sich einzugestehen, daß, wie wir uns Tieren gegenüber verhalten, nicht eine Frage der Moral und des Müssens ist, sondern eine Frage von etwas anderem: es ist eine Frage unseres Selbstverständnisses und unserer Ideale. Wie wir uns verhalten, hängt davon ab, wie wir uns verstehen, Menschen welcher Art wir sein wollen, davon, wie großgesinnt und rücksichtsvoll wir gegenüber Schwächeren sein wollen oder wie kleinlich und egoistisch wir sie ausnützen wollen. Die Moral ist nicht die einzige Quelle von Verhaltensweisen zugunsten anderer. Dazu mehr in Teil III. 3 . 2 . Das oben erreichte, jetzt für die Gruppe der Tiere noch einmal bestätigte Ergebnis weicht ohne Zweifel darin am stärksten von den gewöhnlichen moralischen Überzeugungen ab, daß es auch Neugeborenen und kleinen Kindern moralische
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Moralisches Handeln
Rechte abspricht. Denn sie erfüllen weder die Macht- noch die Vernunftbedingung. Eine kontraktualistische Moralkonzeption gerät an diesem Punkt unter besonders starken Druck. Daß eine Reihe alternativer Moralkonzeptionen in derselben Lage sind, ändert hieran nichts; es gehört aber zu einem adäquaten Bild der Situation. Ich habe es schon gesagt: Alle Moralkonzeptionen, die die Moral als etwas Reziprokes verstehen, kommen unweigerlich zu der Konsequenz, daß Kinder bis zu einem bestimmten Alter nicht zur moralischen Gemeinschaft gehören. Genauso alle Moralkonzeptionen, die aus anderen Gründen annehmen, daß nur Vernunftwesen moralische Adressaten sein können. Menschen sind offenkundig nicht von Geburt an Vernunftwesen. Die meisten Autoren übergehen diese Problematik, sie ziehen ihre Überlegungen nicht bis zu diesem Punkt aus. Einige der zeitgenössischen moralischen Kontraktualisten sagen jedoch klar, daß es in der Konsequenz einer kontraktualistischen Moralkonzeption liegt, daß Kinder nicht von Anfang an moralische Rechte haben, sondern erst nach und nach in die moralische Gemeinschaft hineinwachsen. Wir werden sehen, daß dies nicht bedeutet, daß Kinder bis zu dem entsprechenden Alter ohne moralischen Schutz sind. Von welcher Art ist dieser Schutz? Wir können uns hier an Überlegungen orientieren, die G. R. Grice in seinem Buch The Grounds of Moral judgement angestellt hat. 33 Grice greift auf die Idee indirekter Pflichten zurück, auf die wir bei der Diskussion der Tiere schon gestoßen sind: Neugeborene und kleine Kinder sind dadurch moralisch geschützt, daß die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft untereinander Agreements zu ihren Gunsten vereinbaren. Die moralischen Akteure verpflichten sich, sich Kindern gegenüber rücksichtsvoll zu verhalten. Den Agreements liegen naturgemäß Interessen der Agreement-Partner zugrunde; sie sind in diesem Fall, anders als sonst, nicht daran interessiert, daß sie
3 3 Vgl. 1 4 8 ff.
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selbst, sondern daß andere, außerhalb der Gemeinschaft Stehende, eben die Kinder, in bestimmter Weise behandelt werden. Grice ist also der Auffassung, daß indirekte Pflichten „in Ansehung" der Kinder Teil einer kontraktualistisch fundierten Moral sind. Diesen Verpflichtungen korrespondieren freilich keine moralischen Rechte auf seiten der Kinder; ihnen korrespondieren moralische Rechte auf Seiten der anderen am Agreement Beteiligten. Das heißt, wer pflichtwidrig handelt und einem Kind etwas antut, tut nicht dem Kind Unrecht, sondern dem Agreement-Partner. Nur er steht in einer rechtlichen Beziehung zu dem Übeltäter. 34 Welches sind die Interessen, die die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft dazu bringen, Agreements zugunsten von Kindern zu vereinbaren? Man kann vor allen weiteren Überlegungen schon sagen, daß es Interessen sein müssen, die man allen unterstellen kann. Sonst kommt es zu keinem moralischen Müssen. Damit ist gesagt, daß es nicht altruistische Interessen sein können. Denn altruistische Interessen kann man, wie wir sahen, nicht allen unterstellen. Es müssen folglich Interessen sein, die, obwohl sie auf andere, auf die Kinder bezogen sind, auch auf den eigenen Vorteil gerichtet sind. Welche derartigen Interessen liegen den Agreements zugrunde? Grice bietet hier zwei sehr knappe Überlegungen. Die erste: Jeder hat das Interesse, daß die nachwachsende Generation in die Lage versetzt wird, die Aufgaben der jetzigen Generation zu übernehmen. Das ist für die dann alt gewordene Generation wichtig, und deshalb wird sie Vereinbarungen treffen, die dies sicherstellen. Die zweite Überlegung: Die Eltern und Großeltern sind ihren Kindern und Enkelkindern stark affektiv verbunden, und infolge dieser Bindung machen sie sich deren Interessen zu eigen,
3 4 Wenn ich hier und im folgenden von „ K i n d e r n " spreche, meine ich immer N e u g e b o r e n e und kleine Kinder in d e m fraglichen Alter. Wobei ich o f f e n l a s s e , an welches Alter hier genau zu denken ist. Wie m a n es a u c h bestimmt, es bleibt immer die F r a g e , a u f welche Weise die, die jünger sind, moralisch geschützt sind. U n d u m diese F r a g e geht es hier.
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„zwar nicht immer", so Grice, „aber sehr o f t " . Auf diese Weise gehen über die Eltern und Großeltern die Interessen der Kinder in die Agreements ein. 3S Wie überzeugend ist diese Herleitung indirekter Pflichten gegenüber Kindern? Grices erste Überlegung bleibt unausgeführt und vage. Denken wir zunächst, um etwas Konkretes vor Augen zu haben, an eine kleine Lebensgemeinschaft von Nomaden, die keinen Ackerbau betreiben und keine Nutztiere haben. Diese Lebensgemeinschaft braucht Kinder, sie müssen, wenn die jetzt Erwachsenen nicht mehr für den Lebensunterhalt durch die anstrengende Jagd und das weite Wege erfordernde Sammeln von eßbaren Pflanzen sorgen können, diese für alle lebensnotwendigen Tätigkeiten übernehmen. Es liegt auf der Hand, daß es in einer solchen Gemeinschaft verboten ist, die Kinder zu schädigen oder gar zu töten. Wer dies tut, muß mit den Sanktionen der anderen rechnen. Der so begründete moralische Schutz der Kinder reicht jedoch offenbar nur so weit, wie die Kinder tatsächlich gebraucht werden. Wer mißgebildet oder behindert ist, oder nicht stark genug, um den anstrengenden Lebensverhältnissen gewachsen zu sein, oder wer einfach zuviel ist und nicht ernährt werden kann, ist durch das so begründete moralische Müssen nicht geschützt. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß in Nomadengemeinschaften, so etwa bei den !Kung, die bis vor kurzem in der Wüste Kalahari (im Grenzgebiet von Namibia und Botswana) als Jäger und Sammler lebten, Säuglings- und Kindstötungen praktiziert wurden. Neugeborene wurden getötet, wenn das Kind mit einer Mißbildung oder Behinderung geboren wurde, wenn die Geburten zu schnell aufeinander folgten, das zuvor geborene Kind noch gestillt wurde und die Milch der Mutter für zwei Kinder nicht ausreichte, oder wenn die Gemeinschaft angesichts der äußerst begrenzten Nahrungs- und Wasserressourcen nicht wachsen durfte. Die Kinder waren also in einer Gemeinschaft dieser Art nicht generell davor geschützt, getötet zu werden. Erst wenn die 35 Vgl. Grice, The Grounds,
149.
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Gemeinschaft sich entschlossen hat, das Kind aufzuziehen, bekommt es den moralischen Schutz, den Grice mit seiner ersten Überlegung im Blick hat. Auch in unserer Welt ist es so, daß eine Gesellschaft darauf angewiesen ist, daß Kinder nachwachsen und fähig werden, die für die Gesellschaft lebensnotwendigen Aufgaben zu erfüllen. Deshalb liegt auch hier ein Schädigungs- und Tötungsverbot im Interesse aller; für alle ist es rational, entsprechende Agreements zu treffen. Es kommt hinzu, daß die Kinder von heute die Erwachsenen sind, mit denen wir morgen zusammenleben werden. Und es ist klar, daß, wie wir morgen mit ihnen zusammenleben werden, mit davon abhängt, wie wir uns heute ihnen als Kindern gegenüber verhalten. Wenn wir sie in ihrer körperlichen, geistigen oder psychischen Integrität verletzen, hat das häufig dauerhafte Folgen, die das Opfer in einer Weise formen und verändern, an der uns, auch wenn wir nur an unserem eigenen Wohlergehen interessiert sind, nicht gelegen sein kann. Auch deshalb ist es für jeden rational, ein Agreement zu vereinbaren, das es zu einer moralischen Verpflichtung macht, die Kinder in ihrer Integrität zu achten. Es kommt also zu einem weitreichenden Schutz der Kinder. Allerdings schließen die genannten Interessen und die aus ihnen resultierenden Agreements nicht aus, bestimmte Kinder, nämlich die, von denen sich die Familie und die Gemeinschaft keinen Nutzen versprechen, zu töten. Das Weiterfunktionieren der Gesellschaft ist hierdurch nicht gefährdet. Grices erste Überlegung ist, wie sich zeigt, nur begrenzt erfolgreich. Das Interesse, auf das sie hinweist, begründet in bezug auf die Kinder zwar ein Schädigungs- und Tötungsverbot, aber kein generelles Tötungsverbot, das allen Kindern moralischen Schutz gewährt. Es schützt nur die Kinder, die unmittelbar oder bald nach der Geburt von der Familie und der Gemeinschaft angenommen und in die Lebensgemeinschaft aufgenommen werden. Natürlich sind die Interessen, die zu dem (begrenzten) Schädigungs- und Tötungsverbot führen, die Interessen der Mitglieder der Gemeinschaft, nicht die der Kinder. Die Interes-
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Moralisches
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sen der Kinder kommen durch Grices zweite Überlegung ins Spiel. Die Eltern (und Großeltern) bringen sie, so Grices Vorstellung, als ihre eigenen Interessen in die Agreements ein. Es scheint, als komme man auf diesem Wege zu einem generellen Verbot der Tötung von Kindern und könne so die „Lücke", die die erste Überlegung gelassen hat, füllen. Denn die Kinder, und zwar alle Kinder, haben, nicht vom ersten Tag an, aber doch sehr bald nach der Geburt, das Interesse, weiterzuleben. Übernehmen die Eltern dieses Interesse, kommt es zu dem generellen moralischen Verbot, Kinder zu töten. Doch obwohl die Eltern natürlich normalerweise ein starkes Interesse am Weiterleben ihrer Kinder haben, ist dies nicht immer der Fall. Wir haben gesehen, daß es bei Nomadenvölkern die Praxis der Kindstötung gab. Und diese Praxis ist nicht ein regional und zeitlich begrenztes Phänomen; Kindstötungen und Kindsaussetzungen hat es vielmehr auf allen Kontinenten, zu allen Zeiten und bei Menschen aller Zivilisationsstufen gegeben, bei den Eskimos und australischen Ureinwohnern genauso wie in der Hochzivilisation der alten Griechen und Römer. Die Praxis war weit verbreitet und kulturell fest verankert, legal und moralisch akzeptiert. 36 Große Klassiker der europäischen Ethik, so Piaton, Aristoteles und Seneca, haben die Tötung von Kindern, wenn sie bestimmten Normen nicht genügen, gerechtfertigt und empfohlen. „Mißgeburten", so beschreibt Seneca die Praxis seiner Zeit, „töten wir, und auch Kinder ertränken wir, wenn sie verkrüppelt und widernatürlich zur Welt gekommen sind; es ist nicht ein Akt des Zorns, sondern der Vernunft, das Unnütze vom Gesunden zu scheiden." 37 Vier Gruppen von Neugeborenen waren in Griechenland und auch im römischen Reich 36 Einen knappen Überblick bietet L. Williamson: Infanticide: An Anthropological Analysis, in: M. Kohl (ed.): Infanticide and the Value of Life (Buffalo 1978) 6 1 - 7 5 ; aufschlußreich auch Westermarck, Moral Ideas, I, ch. 17; H. Kuhse/P. Singer: Should the Baby Live? (Oxford 1985), ch. 5; dt.: Muß dieses Kind am Leben bleiben? (Erlangen 1993); R. Stark: The Rise of Christianity (Princeton 1996) 97 f., 118, 124 f. 3 7 Seneca, De ira I, 15.
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besonders gefährdet: Mädchen, Schwache und Mißgestaltete, uneheliche Kinder und Kinder von Sklaven, deren Risiko, getötet oder ausgesetzt zu werden, offenbar besonders hoch war. 38 Es ist bekannt, daß die Tötung unwillkommener Kinder auch heute noch praktiziert wird. In Indien etwa werden jährlich eine große Zahl neugeborener Mädchen wegen ihres Geschlechts und des damit verbundenen geringeren Nutzens für die Familie getötet oder ausgesetzt. 39 Man kann also nicht einfach unterstellen, daß die Eltern in jedem Fall ein Interesse am Weiterleben ihrer Kinder haben. Was man ihnen aber unterstellen kann, ist, daß sie auf keinen Fall wollen, daß ein Dritter gegen ihren Willen ihre Kinder tötet. In diesem Punkt kommt es folglich zu einem Agreement, zu dem Agreement, daß es moralisch verboten ist, und zwar generell verboten ist, ein fremdes Kind zu töten. Damit ist die „Lücke", die Grices erste Überlegung ließ, durch eine Entfaltung seiner zweiten Überlegung zu einem Teil gefüllt: es ist nicht nur moralisch verboten, die Kinder, die man angenommen hat, körperlich, geistig oder psychisch zu schädigen oder gar zu töten, es ist darüber hinaus in jedem Fall verboten, fremden Kindern etwas gegen den Willen ihrer Eltern anzutun. Das Verhältnis der Eltern zu ihren eigenen Kindern bleibt freilich, so folgt es aus dieser Überlegung, zum Teil eine moralfreie Zone; hier scheint es zu keinem generellen Tötungsverbot zu kommen. Grices Überlegungen bieten jedenfalls keine Basis für ein solches Verbot. Und es ist fraglich, was eine solche Basis sein könnte. Entfaltet man Grices Überlegungen in der Weise, wie ich es getan habe, ergibt sich also, daß die kleinen Kinder, die noch nicht zur moralischen Gemeinschaft gehören und deshalb noch 38 Vgl. hierzu R. Garland: The Greek Way of Life (London 1990) 8 4 - 9 3 , hier bes. 86. 39 Vgl. B. D. Miller: The Endangered Sex. Neglect of Female Children in Rural North India (Ithaca 1981); S. George, R. Abel, B. D. Miller: Female Infanticide in Rural South India. Economic and Political Weekly 2 2 (1992) 1 1 5 3 - 1 1 5 6 ; R. Venkatachalam/V. Srinivasan: Female Infanticide (Neu Dehli 1993).
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Moralisches
Handeln
keine moralischen Rechte haben, dennoch nicht ohne moralischen Schutz sind. Sie sind durch indirekte moralische Pflichten geschützt. Die Rede von indirekten Pflichten legt es nahe, auch von „indirekten moralischen Rechten" zu sprechen. Man kann dann sagen, die Kinder seien, solange sie noch keine direkten moralischen Rechte haben, durch indirekte moralische Rechte geschützt. Durch diese Rechte werden sie nicht zu Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft. Sie stehen, wie bereits gesagt, in keiner Rechtsbeziehung zu den moralischen Akteuren. Aber sie sind, wie man vielleicht sagen kann, der moralischen Gemeinschaft assoziiert, - nicht aufgrund ihres eigenen Status, sondern aufgrund von auf sie bezogenen Interessen, die zu haben für alle Mitglieder der Gemeinschaft vernünftig ist. Es ist richtig, den Unterschied zwischen direkten und indirekten Rechten zu markieren. Man muß aber klar sehen, daß die rechtliche Differenz praktisch ohne Bedeutung ist. Denn die Schutzwirkung eines indirekten Rechts ist um nichts geringer als die des entsprechenden direkten Rechts. Das läßt sich leicht zeigen. Wenn A ein Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist und deshalb ein direktes Recht darauf hat, daß Β ihm X nicht antut, bedeutet das konkret, daß B, wenn er A X antut, von der moralischen Gemeinschaft sanktioniert wird. Die Sanktionierung ist, so habe ich gesagt 40 , die Existenz, die Realität des Rechts. Wenn a nun der moralischen Gemeinschaft nur assoziiert ist und deshalb nur ein indirektes Recht darauf hat, daß Β ihm X nicht antut, bedeutet das konkret ebenfalls, daß B, wenn er a X antut, von der moralischen Gemeinschaft sanktioniert wird. Die Sanktionierung ist dieselbe, das moralische „Muß", das A bzw. a schützt, ist ebenfalls dasselbe. Β muß gegenüber a genauso auf das Tun von X verzichten wie gegenüber A. Daß a Β gegenüber in einer anderen rechtlichen Position ist als A, ist für diesen entscheidenden Punkt irrelevant. Man sollte den Schutz, den indirekte moralische Rechte bieten, also nicht falsch einschätzen. Die Kinder sind durch die indirekten moralischen 4 0 Vgl. § 4, S. 116.
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der moralischen
Gemeinschaftf
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Rechte, die sie haben, genauso geschützt, wie sie geschützt wären, wenn ihre Rechte direkte Rechte wären. Allerdings fehlt ihnen - das darf man nicht übersehen (wie Grice es tut) - ein wesentliches Recht. Sie sind, solange sie nicht von den Eltern und der Gemeinschaft angenommen sind, nicht in jedem Fall davor geschützt, von den eigenen Eltern getötet zu werden. Die bisher angestellten Überlegungen bieten, wie wir sahen, keine Basis für eine moralische Norm, die dies verbietet. 4. Ich kann meine Überlegungen zu der Frage, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist, jetzt zusammenfassen. Die Voraussetzung für die Mitgliedschaft liegt darin, die Interesse-, die Macht- und die Vernunftbedingung zu erfüllen. Demnach sind nur Menschen Mitglieder, aber nicht alle Menschen. Die kontraktualistisch fundierte Moral, wie ich sie entwickelt habe, ist also in diesem Sinne nicht universalistisch. Die Grenze der moralischen Welt verläuft innerhalb der Gattung der Menschen. Föten und Kinder bis zu einem bestimmten Alter, von Geburt an der Vernunftfähigkeit Beraubte, Angehörige zukünftiger Generationen gehören nicht dazu, auch die Tiere nicht. Sie alle haben, weil sie zumindest eine der Bedingungen nicht erfüllen, keinen moralischen Status, sie haben keine originären moralischen Rechte. Das heißt freilich nicht unbedingt, daß sie ohne moralischen Schutz sind. Es gibt ihnen gegenüber keine moralischen Pflichten, denen originäre Rechte auf ihrer Seite korrelieren; dennoch kann es sein, daß man moralisch verpflichtet ist, sich zu ihren Gunsten zu verhalten. Ein solcher indirekter moralischer Schutz kommt, wie wir sahen, den Neugeborenen und kleinen Kindern zu. Den Tieren kommt ein solcher Schutz nicht zu. Für die anderen Gruppen habe ich diese Frage nicht untersucht. Was bedeutet dieses Ergebnis? Ich habe schon gesagt, daß es zumindest zum Teil von den gewöhnlichen moralischen Überzeugungen abweicht. Und daß man deshalb geneigt sein kann, die Theorie, die zu diesem Ergebnis führt, insgesamt zu verwerfen. Wer meint, dieses Ergebnis könne nicht wahr sein, muß
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freilich zeigen, daß es nicht wahr ist. Der Verweis auf die abweichenden moralischen Intuitionen zeigt das noch nicht. Es ist an dieser Stelle hilfreich, sich noch einmal kurz zu vergegenwärtigen, wie es zu diesem Ergebnis gekommen ist. Der Beginn meiner Untersuchungen war die Frage, ob man, wenn man religiöse und andere metaphysische Prämissen beiseite läßt, an der tradierten Konzeption des Moralischen, die das moralische Handeln durch die Charakteristik des Gefordertseins, genauer: des kategorischen Gefordertseins bestimmt, festhalten kann. Oder ob man dieses Verständnis der Moral aufgeben und etwas anderes an seine Stelle setzen muß, wie es Schopenhauer und andere vorgeschlagen haben. Ich habe gezeigt, daß man auch unter den Bedingungen einer posttheozentrischen Welt an dieser Konzeption festhalten kann, daß es im Interesse eines jeden ist, eine Moral zu haben, die dazu ermächtigt, von anderen kategorisch zu fordern, daß sie sich zugunsten anderer verhalten. Die Kategorizität der moralischen Forderung besteht, daran sei erinnert, darin, daß sie nicht nur den zu erreichen vermag, der ein bestimmtes Selbstverständnis oder bestimmte Ideale, Präferenzen und Interessen hat. Die moralische Forderung muß vielmehr jeden erreichen, gleichgültig welches Selbstverständnis, welche Ideale etc. er hat. Es hat sich nun herausgestellt, daß die hier entfaltete rationale Moral, obwohl sie oder gerade weil sie an der Kernidee der tradierten Moral, der Idee des kategorischen Forderns festhält, partiell von der überkommenen, jüdisch-christlich geprägten Moral abweicht. In § 7 hat sich gezeigt, daß zu den moralischen Inhalten nicht die Gerechtigkeit gehört. Von den Ergebnissen, zu denen die moralkonstituierenden Agreements gelangen, läßt sich nicht sagen, daß sie in einem substantiellen Sinn des Wortes gerecht sind. Die rationale Moral enthält also weniger Inhalt als die überkommene Moral. In § 8 ist jetzt das Ergebnis, daß auch ihre Reichweite begrenzter ist. Sie ist nicht universalistisch, weil nicht alle Menschen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sind. Man könnte sagen, die jetzt aufgezeigten Grenzen der Moral sind die Kehrseite ihres enorm
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hohen Anspruchs, von jedem, gleichgültig wie er ist und wie er lebt, Handlungen zugunsten anderer fordern zu können. Wir sehen, wohin der Versuch führt, eine metaphysikfreie Moral zu konzipieren, die an der Idee des Gefordertseins moralischen Handelns festhält. Wir sehen, wie einschneidend die Revision ist, die dieser Versuch mit sich bringt. Doch wie sehen die Alternativen aus? Das ist die Frage, die sich jeder stellen muß, der den erreichten Ergebnissen nicht zustimmen kann. Die wirkliche Alternative wäre es, zu zeigen, daß man an der Idee des Gefordertseins festhalten kann und doch zu einer „reicheren" Moral kommt. Natürlich muß dies gelingen, ohne auf metaphysische Annahmen zurückzugreifen. Die Betonung liegt hier auf dem Wort „zeigen". Man kann sich nicht die Position aussuchen, die einem gefällt. Ob es für den moralischen Skeptiker rational ist, sich so-und-so zu verhalten, entscheidet sich daran, ob es so ist oder nicht. Und nicht daran, ob man es so will oder nicht. Man kann hier genausowenig wie anderswo das, was ist, durch ein Wunschgebilde ersetzen. Eine andere Alternative wäre es, die Idee des Gefordertseins fallen zu lassen. Das bedeutete jedoch, die Moral selbst fallen zu lassen, weil man dann anderen nur empfehlen oder raten könnte, sich zugunsten anderer zu verhalten. Es gäbe dann, das liegt in der Konsequenz dieses Weges, auch keine moralischen Rechte und Pflichten mehr, und zwar für niemanden. Die Konsequenzen wären also noch weitergehend. Eine weitere, dritte Alternative wäre es, zu metaphysischen Annahmen, zu der Vorstellung objektiver Werte und Normen oder zu der Idee eines Gottes, der den Menschen eine moralische Ordnung vorgibt, zurückzukehren. Nicht weil diese Annahmen wahr sind, sondern weil man sie für die Begründung der Moral braucht. Einige Philosophen empfehlen diesen Weg ausdrücklich. Ich betrachte das als Verrat an der eigenen Intellektualität. Man kann nicht etwas für wahr halten, obwohl man sieht, daß es keine Gründe gibt, dies zu tun, nur weil man es für wahr halten will. Das gelingt nur, wenn man bereit ist (und es schafft), den eigenen Verstand zu übertölpeln.
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Die Einsicht in die Grenzen der rationalen M o r a l verhilft zu zwei weiteren sehr wichtigen Einsichten. Zunächst erzwingt sie den Abschied von der liebgewonnenen Vorstellung, man könne die religiöse Betrachtung der Welt fallenlassen, ohne daß dies einschneidende Konsequenzen für die Moral habe. Die Vorstellung, man könne der überkommenen Moral ihr religiöses Fundament nehmen und dennoch, so als sei nur eine äußerliche Zutat beseitigt worden, inhaltlich die gleiche universalistischegalitäre Moral beibehalten, entpuppt sich als ein Irrtum. Die Idee einer „säkularisierten" Moral, die sich inhaltlich mit der herkömmlichen theonomen Moral deckt, war wohl von Anbeginn an Wunschdenken, ein schöner Traum der Aufklärung. Wer die Moral wirklich auf den Boden der Rationalität stellt, kommt zu einer anderen, einer „ärmeren" Moral. Zum anderen lassen die Ergebnisse dieses und des letzten Kapitels die Einsicht reifen, daß unser Verhalten zugunsten anderer in viel größerem Maße, als wir annehmen, durch anderes als die Moral bestimmt ist. Mitleid mit denen, die leiden, Vorstellungen davon, was für ein Mensch man ist und sein will, persönliche Ideale, altruistische Interessen motivieren auch zum Handeln zugunsten anderer. Die Moral ist nur eine von mehreren Quellen. Sie ist, wie man sagen könnte, nur der letzte Sicherungsanker für den Fall, daß alle anderen Moventien zum Handeln zugunsten anderer ausfallen. Die M o r a l sichert das Minimum des Handelns zugunsten anderer, von dem jedem, auch dem moralischen Skeptiker, zu zeigen ist, daß es in seinem Interesse liegt. Ich habe im Vorangegangenen von den anderen Quellen des Handelns zugunsten anderer absehen und in einem Gedankenexperiment künstlich die Moral isolieren müssen, um zu sehen, wie weit der moralische Kosmos der Rechte und Pflichten und des Forderns reicht. Dies macht die Realitätsferne eines Teils der Erörterungen aus. In Wirklichkeit ist, wie wir uns zu Tieren, zu Föten und kleinen Kindern verhalten, natürlich nicht ausschließlich durch deren vorhandene oder nicht vorhandene moralische Rechte bestimmt, sondern vor allem oder sogar ganz und gar vom Mitgefühl und anderen Gefühlen, von Idea-
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len einer besseren Welt, von altruistischen Neigungen und davon, wie großgesinnt und rücksichtsvoll wir Schwächeren gegenüber sein wollen. Eine humane Haltung ist weit mehr, als sich moralisch zu verhalten. - Die nicht-moralischen Quellen des Handelns zugunsten anderer werde ich jetzt in Teil III behandeln.
Teil III: Altruistisches Handeln
§ 9 Altruistisches Handeln und Ideale 1. Die rationale, kontraktualistisch fundierte Moral, wie ich sie in den vorangegangenen Kapiteln entwickelt habe, ist in ihren Konstruktionsprinzipien ganz von der Annahme bestimmt, daß moralisch zu handeln von einem gefordert, und zwar kategorisch gefordert ist. Diese Idee des Gefordertseins moralischen Handelns ist eine Kernidee der moralischen Tradition, in der wir stehen. Sie prägt zutiefst unsere alltägliche moralische Vorstellungswelt, und sie bestimmt von Grund auf unser moralisches Verhalten. Der Begriff der moralischen Forderung ist unlösbar mit den Begriffen des moralischen Rechts und der moralischen Pflicht verbunden, und diese Begriffe bilden zusammen die basale Struktur unseres moralischen Denkens. Wer einen dieser Begriffe aus dem Netz der moralischen Begriffe heraustrennen wollte, würde das Netz als ganzes zerstören. Er müßte unser Verhalten zugunsten anderer durch völlig andere Begriffe bestimmen und würde damit dieses Verhalten selbst einschneidend verändern. Das Festhalten an der Idee des kategorischen Gefordertseins hat, wie wir sahen, zur Folge, daß die rationale Moral, die sich auf nichts anderes als die Interessen und die Vernunft der Menschen stützt, inhaltlich von der überkommenen Moral abweicht und deutlich weniger Inhalte hat. Der entscheidende Grund hierfür liegt eben darin, daß eine moralische Forderung von der Art ist, daß sie an ihren Adressaten gerichtet werden kann, ohne darauf zu sehen, was für eine Person er ist und welche Interessen und Ziele er hat. Und daß deshalb alle Interessen, Ziele, Ideale, die jemand haben kann, aber auch nicht haben kann, in dieser Moral keine Rolle spielen können. Ihre Basis sind allein die Interessen, von denen niemand vernünftigerweise sagen kann, daß er sie nicht hat. Diese Basis ist äußerst
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Handeln
schmal. Weil dies so ist, hat die rationale Moral weniger Inhalte als die Moral, die wir kennen. Der Bereich dessen, zu dem man moralisch verpflichtet ist und auf das man ein moralisches Recht hat, ist kleiner. Die Moral, so könnte man sagen, schmilzt in einer posttheozentrischen Welt auf einen Kernbestand von elementaren Rechten und Pflichten zusammen. Es bleibt nur eine Minimalmoral. Ich habe, was die Inhalte dieser Minimalmoral sind, nicht im Detail untersucht, ich habe mich auf die wichtigsten Punkte konzentriert. Danach ist immerhin klar, daß ihre Regelungen sich in etwa auf den Schutz der körperlichen, geistigen und psychischen Integrität, auf den Schutz vor Demütigung und Erniedrigung, auf die Sicherung basaler Freiheiten, vor allem der Freiheit, sein eigenes Leben zu leben, auf Hilfe in Notsituationen sowie auf den Schutz des Eigentums beschränken. Klar ist auch, worin die wichtigsten Abweichungen von der traditionellen Moral liegen: Die rationale Moral ist erstens nicht universalistisch. Das heißt, nicht alle Menschen haben moralische Rechte und Pflichten. Es gehören nicht alle Menschen zur moralischen Rechts- und Forderungsgemeinschaft. Die rationale Moral ist zweitens nicht egalitär. Die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Menschen und die gerechte Verteilung von Gütern und Übeln gehört nicht zu ihren Inhalten. Bei der Etablierung der Personen- und Eigentumsrechte kommt es, wie wir sahen, zu einer Verteilung von Rechten, Pflichten und materiellen Gütern, die allein durch die Macht der Beteiligten bestimmt ist. Das Gemeinsame beider Abweichungen liegt darin, daß die kontraktualistisch fundierte Moral nichts enthält, was den Mächtigen daran hindert, seine Macht dem Schwächeren gegenüber zur Geltung zu bringen. Nichts zwingt ihn, sich zugunsten des Schwächeren zu verhalten. Die kontraktualistische Moral ist eine Moral zwischen gleich Starken 1 ; und deshalb kennt sie nicht das moralische „Muß", zugunsten des Schwächeren zu handeln. 1
Dies in dem oben, § 7, S. 199 erläuterten Sinn.
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Natürlich zieht dieses Ergebnis eine Reihe von Einwänden auf sich. Viele werden sagen, eine Moral ohne Regelungen, die den Stärkeren verpflichten, sich zugunsten des Schwächeren zu verhalten, eine Moral ohne die Kernideen der Gleichheit und Gerechtigkeit verdiene den Namen „Moral" nicht. Was hier vorgestellt werde, sei keine Moral, sondern ein Konstrukt, fabriziert am grünen Tisch, aus welchen Motiven auch immer. Man kann gewiß, obwohl es meines Erachtens nicht empfehlenswert ist, über die Inhalte (oder auch über die Inhalte) bestimmen, was Moral ist. Ist die Gerechtigkeit ein solcher die Moral definierender Inhalt, dann folgt in der Tat, daß das Wort „Moral" hier nicht angebracht ist. Aber das ist nur eine (belanglose) Diskussion über den Gebrauch des Wortes „Moral". Die entscheidende sachliche Frage ist diese: Kann ich von einem Stärkeren fordern, daß er sich Schwächeren gegenüber gerecht verhält? Was ist meine Antwort, wenn er fragt, warum er so handeln muß, warum es für ihn zwingend ist, so zu handeln? Wie sieht meine Antwort aus, die nicht auf objektive Werte und Normen oder andere metaphysische Annahmen zurückgreift und die dem Stärkeren nicht altruistische Ideale und Präferenzen unterstellt, die er haben kann, die er aber nicht haben muß? Was also ist die Basis meiner Forderung und die seines Müssens? Gibt es sie, oder gibt es sie nicht? Das ist die sachliche Frage, um die es geht. Viele werden sagen, daß das erreichte Ergebnis, wenn es richtig sein sollte und wenn es allgemeine Zustimmung fände, die herkömmliche Moral umstürzen würde und infolgedessen schwerwiegende Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen hätte. Es würden sich in der Tat tiefgreifende Veränderungen ergeben. Fraglich ist, wie sie einzuschätzen sind. Die Erörterungen dieses und der nächsten beiden Kapitel werden zeigen, wie sich in der Konsequenz der vorgetragenen Überlegungen über die Grenzen des Moralischen das Zusammenleben verändern würde. Für jetzt sei hierzu nur allgemein gesagt, daß die dramatische Prognose meines Erachtens falsch ist. Sie überschätzt zum einen die Wirksamkeit der Moral, und sie verkennt zum anderen, was in Wahrheit die Quellen des Verhaltens zugunsten
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anderer sind. Das moralische Müssen ist als ein praktisches Müssen nicht von der Art des naturgesetzlichen Müssens, nach dem der Stein, wenn man ihn losläßt, notwendigerweise zu Boden fällt. Etwas anderes kann nicht passieren. Das moralische Müssen kann hingegen nicht ausschließen, daß man anders als „gemußt" handelt. Die Moral unterscheidet sich von einem M a u l k o r b , der einem gefährlichen Tier umgelegt wird: Die Menschen können trotz der Moral „beißen". Die Moral verhindert, wie jeder weiß, nicht, daß die moralischen Rechte der Menschen in großem Ausmaße verletzt und zum Teil geradezu mit Füßen getreten werden. Und die Moral war nicht in der Lage, die unermeßlichen Greueltaten, die Menschen anderen Menschen im 2 0 . Jahrhundert angetan haben, zu verhindern. M a n muß die M a c h t und die Ohnmacht der Moral richtig einschätzen, man darf nicht glauben, sie sei ein Mittel, die Menschen definitiv dazu zu bringen, sich zugunsten anderer zu verhalten. Dies ist das eine. Das andere: Die dramatische Prognose schwerwiegender Konsequenzen unterstellt, wie es scheint, daß wir nur dann zugunsten anderer handeln, wenn wir dazu moralisch verpflichtet sind, und daß wir es nicht tun oder nicht weiter tun, wenn wir erkennen, daß wir nicht dazu verpflichtet sind. Das ist ein großer Irrtum. Unser Verhalten zugunsten anderer kommt zum allergrößten Teil aus anderen, nicht-moralischen Quellen, so aus altruistischen Präferenzen und Idealen, aus Sensibilität für das Leiden anderer, aus einem biologisch-genetisch fundierten Altruismus, aus einem Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft, aus Freundschaft, Sympathie, Zuneigung und Liebe, aus Anpassung an das, was andere tun, an das, was andere erwarten, aus Streben nach Anerkennung, Zuneigung und Reputation, natürlich auch aus handfesterem Eigennutz, aus der Erwartung von Vorteilen und reziprokem Verhalten und - ganz wichtig - aus Angst vor dem Schwächeren, der vielleicht schon morgen in einer besseren Situation sein wird oder unzufrieden und rebellisch werden wird. Keine dieser Quellen versiegt, wenn man sich klarmacht, daß bestimmte Handlungen zugunsten anderer sich in einer posttheozentrischen Welt nicht mehr als moralische, als moralisch
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geforderte Handlungen verständlich machen lassen. Und selbst im Bereich des Moralischen werden die meisten moralischen Handlungen, obwohl sie moralisch gefordert sind, sicher nicht getan, weil sie moralisch gefordert sind. Sie werden in vielen Fällen aus anderen Motiven getan. M a n verletzt den anderen nicht, weil man andere nicht verletzen will, weil es nicht zu dem Bild paßt, das man von sich selbst hat, weil man sich das Leid, das man zufügen würde, vorab ausmalt und dies einen von der Handlung abhält. Oder man hilft dem anderen in einer Notsituation, weil seine N o t einen affektiv berührt oder weil man sich vorstellt, wie es wäre, wenn man selbst in seiner Situation wäre. In diesen Fällen handelt man pflichtgemäß, man tut, was moralisch gefordert ist, aber man tut es nicht, weil es moralisch gefordert ist. Das heißt, man würde es auch tun, wenn es nicht gefordert wäre. Die Moral ist in diesen Fällen überflüssig. Es kommt auch ohne sie zum Handeln zugunsten anderer. Die Einsicht in die engen Grenzen der Moral zeigt uns also, daß unser Verhalten zugunsten anderer in größerem Ausmaß als angenommen außerhalb der Grenzen der Moral angesiedelt ist. Es ist weit mehr als gedacht von nicht-moralischen Antriebskräften abhängig. O b und in welchem M a ß e wir uns zugunsten anderer verhalten, hängt damit, das ist die Erkenntnis, weit mehr davon ab, Menschen welcher Art wir sind und sein wollen. Wie man sich anderen gegenüber verhält, ist mehr dadurch bestimmt, was für eine Person man ist und zu was für einer Person man sich macht, und weniger durch das moralische Müssen, das alles Persönliche und in die "Wahl der einzelnen Gestellte überspringt und sich nur auf die Interessen stützt, die unterschiedslos allen unterstellt werden können. Ich werde im folgenden, um die Linie zwischen dem H a n deln zugunsten anderer, das die Charakteristik des moralischen Gefordertseins hat, und dem Handeln zugunsten anderer, das diese Charakteristik nicht hat, deutlich zu markieren, das erste „moralisches Handeln" und das zweite „altruistisches H a n deln" nennen. Der Oberbegriff ist das Handeln zugunsten anderer. Z u m altruistischen Handeln gehört hier, nicht anders als
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beim moralischen Handeln, nicht nur das Tun, sondern auch das Unterlassen. Der Ausdruck „altruistisches Handeln" ist also nicht, wie es manchmal geschieht, auf helfendes Verhalten eingegrenzt. Zu beachten ist auch, daß das altruistische Handeln hier, genauso wie das moralische Handeln, nicht durch eine spezifische Motivation definiert ist. Der Begriff läßt, so wie er hier verwandt wird, offen, aus welchem Motiv jemand altruistisch handelt. Man kann aus Freundschaft und damit „um des anderen willen" altruistisch handeln, aber auch aus eigennützigen Motiven. Dies mag sich paradox anhören, wird „altruistisch" gewöhnlich doch gerade im Sinne von „uneigennützig" verstanden. Aber es entspricht dem hier zugrundegelegten Wortgebrauch, nach dem das altruistische Handeln die Art des Handelns zugunsten anderer ist, zu dem man nicht moralisch verpflichtet ist. Und diese Art des Handelns kann, das ist offenkundig, auch eigennützig motiviert sein. - Mit Hilfe der so bestimmten Termini kann ich meine bisherigen Überlegungen auch so zusammenfassen: Unser Handeln zugunsten anderer ist mehr, als es die herkömmliche Moral annimmt, altruistisches Handeln und weniger moralisches Handeln. 2.1. Es gibt viele Quellen altruistischen Handelns. Ich habe bereits einige genannt. Im folgenden will ich auf zwei der wichtigsten: auf altruistische Ideale und (im nächsten Kapitel) auf das Gefühl des Mitleids genauer eingehen, vor allem um die Eigenart altruistischen Handelns im Unterschied zum moralischen Handeln genauer herauszuarbeiten. - Zunächst zu den Idealen. Ideale sind Bilder von etwas Vollkommenem, von etwas Idealem, zum Beispiel von idealen Ferien, einem idealen Lehrer, einem idealen Staat oder einem idealen menschlichen Zusammenleben. 2 Ideale zeigen die Welt so, wie wir sie gerne hätten. Das, was ein Ideal imaginiert, ist darum nicht nur etwas 2
Vgl. zum Begriff des Ideals die aufschlußreichen Ausführungen bei Bollnow, Einfache Sittlichkeit, 6 2 - 7 3 ; auch N. Rescher: Ethical Idealism. An Inquiry into the Nature and Function of Ideals (Berkeley 1 9 8 7 ) ch. 5 und 6.
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Vorgestelltes, es ist immer auch etwas Gewolltes. Man kann von jemandem nur sagen, er habe ein Ideal, wenn er den idealen Zustand will, wenn er ihn verwirklicht sehen will und wenn er, sofern das möglich ist, etwas dafür tut, daß sich die Realität auf den idealen Zustand hin verändert. Wer zwar einräumt, daß es schön wäre, wenn die Menschen sich als Brüder betrachteten und aus brüderlicher Gesinnung miteinander umgingen, diese Vorstellung aber für ein bloßes Traumbild hält, das auf immer und ewig nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben wird und für dessen Verwirklichung sich zu engagieren vergebliche Mühe wäre, von dem kann man nicht sagen, daß er das Ideal der Brüderlichkeit hat. Er kennt es, aber er hat es nicht; es bewegt ihn nicht und bestimmt nicht sein Handeln. Die Ideale, die man hat, zeigen, was einem wichtig ist, woran einem in den verschiedenen Bereichen des Lebens liegt. Je umgreifender sie sind und je mehr sie auf das Leben insgesamt bezogen sind, desto mehr zeigt sich daran, welche Ideale jemand hat, was ihm im Leben wichtig ist, welches Leben ihm als das beste erscheint und damit auch: was für ein Mensch er ist und sein will. Die Lebensideale machen sehr stark die eigene Identität aus, man identifiziert sich mit ihnen, und man definiert durch sie sehr stark, was für eine Person man ist. Das bedeutet, daß diese Ideale mächtige Antriebskräfte im Menschen sind. Wer so handelt, wie es seinen Idealen entspricht, handelt in Übereinstimmung mit dem, was er ist und sein will. Wer hingegen gegen seine Ideale handelt, seine Ideale „verrät", bleibt hinter sich selbst zurück, ist nicht der, als den er sich selbst sieht. Einige identifizieren sich so stark mit ihren Lebensidealen, daß ihnen ein Leben, das ihnen nicht erlaubt, diesen Idealen zu folgen, nicht mehr lebenswert erscheint. Sokrates hat seinen Richtern, als sie ihn dazu bewegen wollten, nicht mehr mit anderen über zentrale Lebensfragen zu diskutieren, kurz und knapp geantwortet, ein solches Leben, ein Leben „ohne Prüfung", sei nicht lebenswert. 3 3
Vgl. Piaton, Apologie 38a.
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Man kann bezüglich vieler Dinge Ideale haben. In unserem Kontext geht es um Ideale davon, wie man mit anderen zusammenlebt und wie man sich anderen gegenüber verhält, also um soziale Ideale. Ist die imaginierte soziale Welt eine, in der die Menschen sich über das moralisch Verpflichtende hinaus zugunsten anderer verhalten, spreche ich von „altruistischen" Idealen. - Ein zentrales altruistisches Ideal, das viele Ausprägungen kennt, ist das Ideal der Gleichheit und Gerechtigkeit. Es will eine Welt, in der auf alle Menschen in gleicher Weise Rücksicht genommen wird. Ein Kernelement in den verschiedenen Ausdeutungen und Entfaltungen dieses Ideals ist die Vorstellung, daß die basalen Interessen, die das Fundament der Moral bilden, bei allen Menschen ohne Unterschied respektiert werden, also unabhängig davon, wie stark oder wie schwach sie sind, ob sie zu vernunftgeleitetem Handeln fähig sind oder nicht, überhaupt unabhängig davon, wie sie sind. Dieses Ideal stützt sich auf die einfache Tatsache, daß alle Menschen in bestimmten Hinsichten gleich sind. Seine eigentliche Inspirationsquelle ist aber das Empfinden, daß mit einer dieser Gleichheiten etwas Wesentliches über die Menschen erfaßt ist, etwas, was wichtiger und bedeutsamer ist als alle Ungleichheiten. Diese Gleichheit muß als so hervortretend empfunden werden, daß man will, daß sie unser Verhalten zueinander bestimmt oder mitbestimmt. Die offenkundigste Gleichheit aller Menschen ist die der biologischen Spezies: Alle Menschen sind darin gleich, Menschen zu sein. Sie alle, aber auch nur sie, haben ein menschliches Antlitz, das einem einen Menschen zeigt, wie man selbst einer ist. Diese Gleichheit kann ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Verbundenheit mit allen Menschen auslösen: Ein Mensch ist, gleichgültig wie er ist, in jedem Fall einer „von uns". Eine andere Gleichheit tritt hervor, wenn man die Welt sub specie aeternitatis betrachtet. Wer diese Perspektive einnimmt, wird von dem Eindruck bestimmt sein, daß die Menschen darin gleich sind, daß sie gemessen an der Unendlichkeit des Universums nur verschwindend kurze Zeit auf diesem Planeten leben, nur kümmerlich wenig bewirken können
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und daß ihr Leben letzten Endes bedeutungslos ist. Dieses für alle Menschen gleiche Schicksal kann ebenfalls ein Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft wecken. Alle Unterschiede werden dagegen belanglos, und es wäre angesichts dieser fundamentalen Gleichheit, so das Gefühl, lächerlich, die vorhandenen Ungleichheiten auszuspielen. Wir haben in § 8 gesehen, daß daraus, daß ein Lebewesen einer bestimmten biologischen Spezies zugehört oder eine andere empirische Eigenschaft besitzt, niemals folgt, daß man auf dieses Lebewesen Rücksicht nehmen muß. Ein solcher Sprung vom Empirischen ins Normative ist unmöglich. Entsprechend folgt aus dem Faktum, daß sich die Menschen darin gleich sind, Menschen zu sein, nicht, daß sie gleiche Rücksicht verdienen. Auch aus einer anderen Gleichheit folgt die N o r m der gleichen Berücksichtigung nicht. Eine Folgerung dieser Art ist in jedem Fall falsch. Doch dies kann niemanden daran hindern, zu wollen, daß die basalen Interessen aller Menschen in gleicher Weise respektiert werden. Dies ist ein Ideal, und an ihm gibt es nichts zu kritisieren. Ein anderes Kernelement des Ideals der Gleichheit und Gerechtigkeit betrifft Situationen, in denen es um die Verteilung von Ressourcen, erarbeiteten Erträgen, Positionen und anderen Gütern geht. Hier ist das Idealbild eine Verteilung, die nicht einfach die Machtverhältnisse der Beteiligten reproduziert, sondern gerecht verteilt. Wie immer in den einzelnen Lebensbereichen bestimmt wird, was eine gerechte Verteilung ist - eine, die effektiv gleich verteilt, oder eine, die nach Bedürfnissen oder erbrachten Leistungen verteilt - , klar ist immerhin, daß sie dem Mächtigen weniger zuteilt, als er sich im freien Spiel der Kräfte aneignen könnte. Das Ideal der gleichen Rücksicht kann in verschiedene Richtungen ausgedehnt werden. So auf unser Verhalten gegenüber zukünftigen Generationen. Sie sind klarerweise von dem, was wir tun, betroffen, haben aber keinen Einfluß auf unser Verhalten. Sie sind uns gegenüber völlig machtlos. Deshalb gehören sie, wie wir sahen, auch nicht zur moralischen Gemeinschaft.
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Nichts kann uns zwingen, auf sie Rücksicht zu nehmen. Aber wir können das Ideal haben, ihre vorhersehbaren Interessen zu berücksichtigen. Das Idealbild ist hier ein unparteilicher Ausgleich zwischen ihren und unseren Interessen. Eine andere Erweiterung des Ideals der gleichen Rücksicht ist die Vorstellung, daß die, die durch natürliche und andere Gegebenheiten, für die sie nichts können, schlechter dastehen als andere und deren Chancen im Leben deshalb erheblich gemindert sind, einen Ausgleich erhalten. Wer schlecht mit Talenten ausgestattet ist, behindert oder schwächlich ist, wer in ungünstigen Verhältnissen aufgewachsen ist, erhält, so das Ideal, eine Kompensation, die die natur- und zufallsbedingten Ungleichheiten zumindest mildert. Seit uralten Zeiten ist es so, daß sich die Menschen nicht mit der M a c h t des Zufalls abfinden wollen. Sie rebellieren dagegen, daß der blinde Zufall Macht über ihr Leben hat. Es war für die Philosophen der Antike eine bittere Einsicht, daß sogar, ob die Menschen glücklich werden, ob sie also ihr höchstes und letztes Ziel erreichen, von günstigen oder ungünstigen Zufällen abhängig ist. Den Stoikern war diese Einsicht zu bitter. Sie haben sich geweigert, sie zu akzeptieren. Sie unternahmen deshalb den extremen Versuch, zu zeigen, daß das Glück der Menschen von allem Zufälligen und Unverfügbaren unabhängig sei. Glücksrelevant sind, so lehrten sie, nur Dinge, über die man voll und ganz selbst verfügen kann. In diese Tradition der Rebellion gegen den Zufall gehört das Ideal, „ungerechte Benachteiligungen" der Natur und des Zufalls abzugleichen. 4 Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß der Zufall und die Natur keine Personen sind, die Talente, Behinderungen und anderes verteilen. Und daß es deshalb unangebracht ist, an dieser Stelle von „gerecht" und „ungerecht" zu sprechen. 5 Dennoch kann man wollen, daß die
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Dies läßt sich sehr schön an § 17 von Rawls' A Theory of Justice illustrieren. Vgl. oben § 7, S. 214 f. - Rawls hat dies übrigens klar gesehen; siehe A Theory of Justice, 102, dt. 123.
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Gemeinschaft der Menschen die natürlichen Ungleichheiten nicht einfach hinnimmt und es bei ihnen beläßt. Diese Ungleichheiten sind zwar vorgegeben, aber man kann sich zu ihnen verhalten. Man kann wollen, daß sie, zumindest die gröbsten und wirksamsten unter ihnen, so gut wie möglich ausgeglichen werden. An diesem Ideal ist nichts zu kritisieren. So viel über das Ideal der Gleichheit und der Gerechtigkeit. Ein anderes altruistisches Ideal soll wenigstens kurz erwähnt werden. Es imaginiert eine Welt, in der den Lebewesen, die leidensfähig sind, kein Leiden zugefügt wird. Die Leidensfähigkeit ist hier das für die Rücksicht entscheidende Merkmal. Der Kreis der Lebewesen, auf die man Rücksicht nimmt, reicht damit weit über den Kreis der Menschen hinaus, auch die leidensfähigen Tiere, die nicht zur moralischen Gemeinschaft gehören, sind nach diesem Ideal Objekte der Rücksicht. Wir haben gesehen, daß daraus, daß ein Lebewesen leidensfähig ist, nicht folgt, daß andere ihm kein Leid zufügen dürfen. Aber natürlich kann man eine Welt wollen, in der man diese Rücksicht nimmt und seine Handlungen entsprechend einschränkt. Die Hauptquelle dieses Ideals ist sicher die Erfahrung eigenen Leidens und das Mitleid mit anderen. Eine andere mögliche Quelle ist eine Sichtweise, in der eine Gleichheit von Menschen und Tieren sehr stark hervortritt und ein Gefühl der Gemeinschaft evoziert, das die Speziesgrenzen überspringt. C. Diamond hat davon gesprochen, daß wir die Tiere als „fellows in mortality, in life on this earth" sehen können. 6 Eine solche Sichtweise kann zweifellos auch die Basis für den Wunsch nach einer Welt sein, in der keinem leidensfähigen Wesen Leid zugefügt wird. Es ist offenkundig, daß der, der eines der angeführten Ideale wirklich hat, auch jenseits der Grenzen der Moral zugunsten anderer handelt. Er tut dies, obwohl es nicht moralisch verpflichtend ist. Er handelt also im Zuge seines Ideals altruistisch. 6
Vgl. C. Diamond: Eating Meat and Eating People. Philosophy 53 (1978) 465-479, 474.
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Handeln
2.2. Ich komme jetzt zu der Frage nach der Rationalität von Idealen. Ist es rational zwingend, bestimmte Ideale zu haben bzw. nicht zu haben? Kann man also kritisieren, daß jemand ein bestimmtes Ideal hat? Und daß jemand ein bestimmtes Ideal nicht hat? Um diese Frage richtig anzugehen, sei zunächst daran erinnert, daß jemand, der ein Ideal hat, den als ideal vorgestellten Zustand will. Ein Ideal zu haben, heißt, etwas zu wollen. Die Frage nach der Rationalität von Idealen ist deshalb die Frage nach der Rationalität des entsprechenden Wollens. Kann man, so die Frage, kritisieren, daß die Person A den idealen Zustand X will bzw. nicht will? Ich kann hier auf die Überlegungen zurückgreifen, die ich oben in § 2 über die Kritisierbarkeit von Wünschen angestellt habe. 7 Die wichtigste Einsicht besagte, daß es keine in sich wollenswerten und in sich meidenswerten Sachverhalte gibt, und auch keine Sachverhalte, die die Charakteristik des Gewollt-werden-Müssens oder des Nichtgewollt-werden-Dürfens objektiv an sich haben. Es gibt keine objektiven Werte und Normen, die dem Wollen durch die Wirklichkeit selbst vorgegeben sind und ihm seine Richtung geben. Dies bedeutet, daß man ein Wollen nie deshalb kritisieren kann, weil das-und-das sein Gegenstand ist. Man kann niemals sagen: Dieser Sachverhalt hat objektiv, allem Wollen vorausgehend, die Eigenschaft des Gewollt-werden-Müssens; und deshalb ist es rational zwingend, ihn zu wollen, und es wäre falsch, ihn nicht zu wollen. Man kann Wollenszustände, mit anderen Worten, nicht über ihre Inhalte kritisieren. Man kann sie, wie wir sahen, nur kognitiv kritisieren. Daß die Person A den Sachverhalt X will, kann man nur kritisieren, wenn eine oder mehrere der Meinungen, in die As Wollen eingebettet ist und die seine Ausrichtung oder Intensität bestimmen, falsch oder unbegründet sind und das Wollen hierdurch in eine falsche, in Wahrheit gar nicht gewollte Richtung geht. 7
Vgl. § 2, S. 25-30. - Ich habe dort überwiegend und ohne Bedeutungsunterschied statt vom Wollen vom Wünschen gesprochen. Vgl. hierzu S. 20 f., Anm. 4.
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So ist das Wollen falsch, wenn A Informationen über das Gewollte fehlen und er das Gewollte, hätte er die Informationen, gar nicht oder nicht in dem Maße wollte. Man kann ein in dieser Weise defizientes Wollen als „irrational" bezeichnen. Wobei „irrational" dann in einem Sinn verstanden ist, der es offenläßt, ob dem Träger des Wollens die falsche Meinung oder die fehlende Information vorgeworfen werden kann. Das kognitive Defizit muß nicht den Gegenstand des Wollens, es kann auch seine Genese betreffen. Es kann A verborgen sein, daß der Ursprung seines Wollens in einem Affekt liegt, den er selbst mißbilligt. Würde ihm dies klar, würde er das Wollen fallen lassen (oder es zumindest versuchen). - Zusammengenommen läßt sich sagen: Ein Wollen ist irrational, wenn es in einer relevanten Hinsicht kognitiv defizient ist. Wenn es dies nicht ist, ist es rational. „Rational" bedeutet hier „rational möglich", nicht „rational zwingend". Wenn, X zu wollen, rational ist, heißt das also: man kann es wollen, ohne irrational zu sein, man kann es aber auch nicht wollen, ohne irrational zu sein. Weder das eine noch das andere ist falsch und kritisierbar. Es ist allerdings in vielen Fällen schwierig, mit Sicherheit zu sagen, daß ein Wollen nicht kognitiv defizient ist. Dieses Urteil ist oft nur vorläufig, es ist offen für den Erweis des Gegenteils.8 Was hier allgemein über das Wollen und seine Rationalität gesagt wurde, gilt nun auch speziell für das Wollen idealer Zustände, d.h. für das Haben von Idealen. Ein Ideal zu haben, ist dann irrational, wenn das Wollen des entsprechenden idealen Zustandes in einer relevanten Hinsicht kognitiv defizient ist. Wenn es nicht irrational ist, ist es rational, sprich: rational möglich. Man kann es haben, muß es aber nicht. Und man kann es nicht haben, muß es aber nicht (nicht haben). Hieraus folgt, daß man niemandem zeigen kann, daß er ein bestimmtes Ideal rationalerweise haben muß. Man kann niemandem ein Ideal andemonstrieren. Man kann zwar etwas dafür tun, daß
8
Vgl. hierzu ausführlicher § 2, S. 30 ff.
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andere das eigene Ideal übernehmen, man kann für ein Ideal werben, den angestrebten idealen Zustand so vergegenwärtigen und konkret ausmalen, daß das Ideal vielleicht auch für andere attraktiv erscheint und sie es sich zu eigen machen. Aber man kann ihnen nicht zeigen, daß es für sie ein rationales „ M u ß " ist, ein bestimmtes Ideal zu haben. Damit ist auch schon gesagt, daß das Haben eines Ideals kein moralisches „ M u ß " ist. Denn das moralische Müssen ist, wie gezeigt 9 , eine spezifische Art des rationalen Müssens. W o kein rationales Müssen, da auch kein moralisches Müssen. Man ist also niemals verpflichtet, ein Ideal zu haben. Und man kann niemals von einem anderen moralisch fordern, ein bestimmtes Ideal zu haben. Ideale sind grundsätzlich nicht Teil der Moral, sie sind etwas jenseits der Moral. Es ist sehr wichtig, daß der, der ein Ideal hat, sich bewußt ist, daß es für die anderen keineswegs ein rationales und auch kein moralisches „ M u ß " ist, dieses Ideal ebenfalls zu haben. Er muß sich, anders gesagt, bewußt sein, daß sein Ideal nur ein Ideal ist. Wer sich hier täuscht oder etwas vormacht, wird ein falsches Bild davon haben, was das Zusammenleben der Menschen und somit sowohl sein eigenes Verhalten anderen gegenüber wie auch deren Verhalten ihm gegenüber trägt. Und er wird infolgedessen Ansprüche an andere stellen, die ohne Grund sind, er wird sie kritisieren, sich über sie empören, sie bedrängen und attackieren, ohne ein Recht dazu zu haben. Die Einsicht, daß die eigenen Ideale nur Ideale sind, hat indes mit erheblichen Widerständen zu kämpfen. Verschiedene tiefsitzende, eher unbewußte als bewußte Neigungen und Antriebe ziehen einen leicht in eine andere Richtung. So vor allem die Neigung, wenn ein Sachverhalt für einen selbst attraktiv ist, anzunehmen, er sei einfachhin attraktiv, er sei für alle attraktiv. Wir neigen dazu, das „für mich" zu unterschlagen, und übersehen deshalb leicht, daß es möglich ist, daß ich einen Sachverhalt attraktiv finde, eine andere Person aber nicht, ohne daß 9
Vgl. § 4 , S. 1 0 6 f.
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einer von uns beiden etwas übersieht, unvernünftig ist oder sonst einen Fehler macht. Es mag für mich in vielen Fällen kaum begreiflich sein, wie es dazu kommt, daß der andere nicht genauso empfindet wie ich. Aber das ändert nichts daran, daß ich nicht sagen kann, daß er etwas falsch macht. W i r haben eine starke Tendenz, unsere Gefühle, Präferenzen und Ideale zu entsubjektivieren. 10 Sie wird, besonders im Falle sozialer Ideale, häufig zusätzlich begünstigt durch den untergründigen Wunsch, das eigene Ideal stärker zu machen als es ist. M a n engagiert sich für eine Welt, die dem Ideal möglichst nahekommt, und man will, daß die anderen dasselbe tun. M a n versucht deshalb, dem eigenen Ideal Nachdruck und Notwendigkeit zu verleihen, indem man ihm eine objektive Grundlage gibt, auf die man sich berufen kann und die einem erlaubt, dem, der das Ideal nicht hat, zu sagen, daß er etwas falsch macht und daß er folglich, wenn er nur keinen Fehler machte, das Ideal haben müßte. M a n projiziert sein Ideal auf diese Weise in die Welt und verankert es in etwas objektiv Vorgegebenem. Sicherlich sind die, die weniger Machtmöglichkeiten haben oder ganz machtlos sind und die deshalb von altruistischen Idealen, etwa dem der Gleichheit und Gerechtigkeit, am meisten profitieren, besonders daran interessiert, daß auch die anderen und insbesondere die Stärkeren die altruistischen Ideale teilen. Deshalb sind sie besonders in Versuchung, eine objektive Verankerung für diese Ideale zu erfinden. Denn sie wollen den anderen mit mehr entgegentreten können als mit Idealen, die für sie attraktiv sind und die sie deshalb gerne verwirklicht sähen. W e r das Ideal einer W e l t hat, in der auf alle Menschen in gleicher Weise Rücksicht genommen wird, kann dieses Ideal verobjektivieren, indem er den Menschen eine Eigenschaft zuschreibt, die allen Menschen zukommt, die zudem nicht graduierbar ist, also allen in gleichem M a ß e zukommt und die schließlich von der Art ist, daß wer sie hat, einen Anspruch auf Rücksicht hat. Die Idee,
10 Vgl. die erhellenden Ausführungen Mackies zu verschiedenen Formen der Objektivierung: Ethics, 42-46, dt. 49-54.
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daß alle Menschen in gleichem Maße eine unverlierbare Würde oder einen absoluten inneren Wert haben, der Achtung und Rücksicht verlangt, erfüllt diese Bedingungen. Wer diese Vorstellung für wahr hält, hat eine objektive Grundlage für das Ideal der gleichen Rücksicht auf alle. Er hat damit allerdings unter der Hand dieses Ideal seiner Eigenart als Ideal beraubt. Denn wenn die Menschen einen absoluten inneren Wert haben, ist es ein „ M u ß " , ihn zu achten und entsprechend zu handeln. Es wäre gewiß falsch, anzunehmen, daß die Idee der Menschenwürde ihren Ursprung allein oder auch nur überwiegend in der Objektivierung des entsprechenden Ideals hat. Diese Idee hat viele Quellen. Aber ohne Zweifel ist die Objektivierung des Ideals der Gleichheit, der Wunsch nach einem objektiven Anker für dieses Ideal eine der Quellen, aus denen diese Idee ihre andauernde Kraft und Robustheit bezieht. Noch einige Bemerkungen zu den irrationalen, sprich: kognitiv defizienten Idealen. Hier stellt sich als erstes die Frage, ob es irrationale altruistische Ideale überhaupt gibt. Sind nicht alle altruistischen Ideale vernünftig? Was sollte an ihnen zu kritisieren sein? Man muß hier zunächst zwischen solchen Idealen unterscheiden, die im Einzelfall irrational sind, und solchen, die generell irrational sind. Wenn die Person A ein Ideal nur infolge eines kognitiven Defizits hat, ein anderer dieses Ideal aber auf vernünftige Weise haben kann, dann ist, dieses Ideal zu haben, nur im Einzelfall irrational. Wenn man ein Ideal aber überhaupt nur infolge eines kognitiven Defizits haben kann, niemand es also auf vernünftige Weise haben kann, dann ist dieses Ideal generell irrational. Man muß nicht lange nachdenken, um zu sehen, daß es den ersten Fall bei altruistischen Idealen gibt. Angenommen, die Person A hat das Ideal der Rücksicht auch auf Tiere, weil (und nur weil) sie glaubt, daß Tiere einen absoluten inneren Wert haben, so wie ihn, wie A glaubt, auch die Menschen haben. In diesem Fall wäre, daß A dieses Ideal hat, irrational; denn es stützt sich auf eine metaphysische, nicht ausweisbare und damit unbegründete Annahme. Natürlich kann eine andere Person das Ideal der Rücksicht auch auf Tiere auf
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vernünftige Weise haben. Wir haben es hier also mit einem Ideal zu tun, das nicht als solches irrational ist. Interessanter ist die Frage, ob es altruistische Ideale gibt, die als solche irrational sind. Doch auch hier ist die Antwort einfach. Das Ideal, alle Menschen so zu lieben, wie Gott sie liebt, wäre ein solches Ideal. Dieses Ideal kann man nicht haben, ohne anzunehmen, daß es einen Gott gibt und daß dieser Gott die Menschen in einer Weise liebt, in der auch die Menschen einander lieben können. Dies sind Annahmen, für die es keine hinreichenden Gründe gibt. Ideale, die derartige Prämissen voraussetzen, sind also als solche irrational. - Zu unterscheiden sind hiervon natürlich Ideale, die einige aufgrund religiöser oder metaphysischer Vorstellungen verfolgen, die man aber auch haben kann, ohne derartige Annahmen zu machen. Diese Ideale sind nicht als solche, sie sind allenfalls im Einzelfall irrational. Diese Überlegungen zeigen, daß der Bereich der Ideale keineswegs ein argumentationsfreier Raum ist. Man kann, daß jemand ein bestimmtes Ideal hat, kritisieren. Es ist möglich, jemandem zu zeigen, daß er ein Ideal nicht haben kann, und auch, daß er ein Ideal nicht so haben kann, wie er es hat, also nicht auf der Basis der kognitiven Annahmen, die er voraussetzt. Dieses Ergebnis geht zusammen mit der anderen zentralen Einsicht, daß, ein Ideal zu haben, vorausgesetzt es ist nicht irrational, nur rational möglich, aber nicht rational zwingend ist. Man kann folglich nicht zeigen, daß man ein bestimmtes Ideal haben muß. Wer ein vernünftiges Ideal hat, realisiert immer nur eine Möglichkeit: Er kann dieses Ideal haben, muß es aber nicht. 2.3. Was jetzt generell über Ideale gesagt wurde, gilt naturgemäß auch speziell für altruistische Ideale. Auch ein solches Ideal zu haben, ist nicht nur nicht rational zwingend, es ist auch nicht moralisch zwingend. Deshalb müssen die Reaktionen der anderen auf den, der ein solches Ideal nicht hat und deshalb nicht (in der entsprechenden Weise) altruistisch handelt, grund-
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sätzlich von anderer Art sein als die Reaktionen auf den, der nicht moralisch handelt. Dem, der nicht altruistisch gehandelt hat, kann man nicht sagen: „Du warst verpflichtet, dich anders zu verhalten, du hättest anders handeln müssen." Und man kann sich über sein Verhalten nicht empören. Dadurch, daß der andere nicht altruistisch gehandelt hat, ist niemandes moralisches Recht verletzt worden. Es ist kein moralisches Unrecht geschehen, und deshalb ist hier das moralische Gefühl der Empörung deplaciert. Man kann nur sagen: „Du bist anders. Ich habe dieses Ideal, du hast es nicht." Dieses „Du bist anders" ist die zentrale Reaktion, die uns im Bereich des Altruistischen immer wieder begegnen wird. „Du bist anders" konstatiert die Andersheit. Es schreit nicht wie die Empörung heraus, daß ein Unrecht passiert ist, und es ruft nicht nach Sanktionierung und Zurechtweisung. Es registriert eine Gegebenheit, die man akzeptieren muß, in dem Sinne, daß man nichts in der Hand hat, um sie zu kritisieren. Dies bedeutet nicht, daß man sich mit der Andersheit abfinden muß. Man kann versuchen, den anderen für das eigene Ideal zu gewinnen. Man kann ihm nur nicht zeigen, daß er es sich zu eigen machen muß. - Es wurde oben gesagt, die Einsicht, daß unser Handeln zugunsten anderer mehr als gewöhnlich angenommen altruistisches Handeln und weniger moralisches Handeln ist, habe tiefgreifende praktische Konsequenzen. Die beschriebene Veränderung der Reaktion auf das Unterlassen bestimmter Handlungen ist eine dieser praktischen Konsequenzen: Wenn man erkennt, daß eine Handlung nicht wie bisher angenommen eine moralische, sondern eine altruistische Handlung ist, ist die Reaktion auf die Unterlassung dieser Handlung eine ganz andere. Man hat, wie gesagt, kein Recht, sich zu empören, man kann nur hinnehmen, daß der andere anders ist. Das ist ein großer Unterschied. Es wäre freilich falsch, zu meinen, die Konstatierung des Andersseins sei affektiv neutral. Sie ist in Wahrheit mit einem Spektrum negativer Affekte verbunden. Zunächst: Wenn ich ein altruistisches soziales Ideal habe, will ich nicht nur, daß ich selbst in bestimmter Weise zugunsten anderer handele, sondern
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daß möglichst viele so handeln, damit das soziale Verhalten insgesamt dem Idealbild möglichst nahekommt. Wenn der andere das Ideal nun nicht hat und folglich auch nicht entsprechend handelt, ist das etwas, was ich gerne anders hätte, was meinen Wünschen entgegensteht, was ich anders erhofft und vielleicht auch anders erwartet habe. Deshalb löst es in mir Bedauern und Unwillen, vielleicht auch Enttäuschung aus. Umgekehrt würde ich mich, wenn der andere das Ideal hätte, freuen. Denn dies würde die Realisierung meines Idealbildes befördern. Wenn ich den anderen meinen Unwillen erkennen lasse, könnte er sagen: „Ich verstehe deinen Unwillen, meine Haltung läuft deinen Wünschen entgegen. Aber daraus folgt für mich nichts. Du hast dieses Ideal, und ich habe es nicht." Hinzu kommt etwas anderes. Ein altruistisches soziales Ideal zu haben und damit eine bestimmte Form des Zusammenlebens zu wollen, ist für den, der dies will, in der Regel nicht irgendein peripheres Wollen, es ist ein zentrales Wollen, in dem sich konkretisiert, was für eine Person er ist und sein will. Dieses Ideal zu haben, ist, wie bereits gesagt, in aller Regel ein wesentlicher Bestandteil seines Selbstverständnisses und Selbstbildes.11 Nun wird der, für den das Ideal in dieser Weise wichtig ist, sich nicht nur als jemanden sehen, dessen Persönlichkeit unter anderem durch das Haben dieses Ideals definiert ist; dieses Ideal zu haben, wird vielmehr für ihn darüber hinaus auch ein Grund sein, zu sich selbst „ja" zu sagen, sich selbst also gut zu finden. Es wird ein Grund der Selbstbejahung und der Selbstschätzung sein. Wenn es so ist, enthält die Haltung zu sich selbst ein Element, das über das eigene Ich und die Selbstbeurteilung hinausweist. Denn Selbstschätzung setzt ein Werturteil voraus, eben das Urteil, daß man gut ist, - und zwar in diesem Fall nicht gut als Arzt oder als Familienvater, sondern gut als ein Mensch, der mit anderen zusammenlebt, oder vielleicht einfach als Mensch. Nun setzt, etwas „gut" zu nennen, voraus, zu wissen, was bezüglich der Gegenstandsklasse, zu der 11 Ähnlich Bollnow, Einfache
Sittlichkeit,
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dieses Etwas gehört, die gut-machenden Eigenschaften sind. Wer ein bestimmtes Auto „gut" nennt, muß wissen, welches bezüglich der Gegenstandsklasse der Autos die gut-machenden Eigenschaften sind. Da, was die gut-machenden Eigenschaften sind, in diesem wie auch in allen anderen Fällen in bezug auf die Gegenstandsklasse, nicht aber in bezug auf ein einzelnes Exemplar dieser Klasse festgelegt ist, ergibt sich, daß, wenn dieses Auto gut ist, weil es die gut-machenden Eigenschaften hat, auch jedes andere Auto gut ist, wenn es diese Eigenschaften hat. 12 Dies bedeutet, angewandt auf die Bewertung eines Menschen als gut, daß ich, wenn ich mich selbst aufgrund bestimmter Eigenschaften als gut beurteile, auch jeden anderen Menschen, wenn er diese Eigenschaften hat, als gut beurteilen muß. Und daß ich die, die diese Eigenschaften nicht haben, nicht gut finden kann. Und dies bedeutet weiterhin, daß ich, wenn ich mich selbst unter anderem deswegen gut finde, weil ich ein bestimmtes altruistisches Ideal habe, den, der dieses Ideal nicht hat, in diesem Punkt als schlechter bewerte. Er erfüllt zumindest eine Bedingung des Gutseins nicht. Ich komme deshalb nicht umhin, ihn schlechter zu finden als mich selbst. Wir sehen, daß es, wenn man sich mit dem eigenen altruistischen Ideal identifiziert, aber feststellen muß, daß der andere das Ideal nicht hat, nicht bei der bloßen Konstatierung des „Du bist anders" bleibt. Es kommt vielmehr unweigerlich eine Negativ-Beurteilung hinzu: „Du bist anders, und du bist schlechter als ich", - schlechter entweder als ein Mensch, der mit anderen zusammenlebt, oder sogar überhaupt als Mensch. Diese Bewertung verbindet sich mit einem Gefühl der Überlegenheit, des Höher-Stehens. Der andere hat etwas Wichtiges nicht, was man selbst hat. Dies kann einen abstoßen, es kann sogar das Gefühl der Verachtung hervorrufen. Ob und wie stark man davon, daß der andere ein altruistisches Ideal nicht hat, abgestoßen ist, hängt (neben anderem) davon ab, wie anspruchsvoll das Ideal ist oder für wie anspruchsvoll man es hält. Hält man es für sehr 12 Vgl. hierzu Hare, The Language of Morals, 80 f., dt. 110 f.
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anspruchsvoll, wird man von vorneherein damit rechnen, daß viele es nicht teilen. Die meisten Leute, so mag man denken, sind einfach nicht so, daß sie sich dieses Ideal zu eigen machen. Man kann es von ihnen nicht erwarten; sie sind ohne Ambition auf eine bessere Welt, vielfach durch ihre Lebensverhältnisse gezwungen, immer zuerst ihren eigenen Vorteil im Auge zu haben. Dies ist normal, und deshalb ist es nicht verächtlich, daß sie das Ideal nicht haben. Um so mehr schätzt man umgekehrt die, die das Ideal doch haben. Hält man es hingegen für eigentlich selbstverständlich, daß die Menschen das altruistische Ideal haben, für etwas, was man normalerweise voraussetzen kann, findet man es, wenn der andere es dennoch nicht hat, abstoßend und verächtlich. Er bleibt hinter dem zurück, was man selbst für das Minimum an Humanität hält. So zum Beispiel, wenn jemand nicht einmal das minimale altruistische Ideal hat, Tiere nicht wegen eines geringfügigen eigenen Vorteils grausam zu behandeln. Eine massiv egoistische Haltung gegenüber Tieren kann man als klein, häßlich, als abstoßend und verächtlich empfinden. Und zwar auch dann, wenn man der Meinung ist, daß Tiere keine moralischen Rechte haben. Ein weiteres, etwas anders gelagertes Beispiel: Wenn man das Ideal hat, ungeborene Kinder nicht zu töten, wird man es immer bedauern und mit Unwillen reagieren, wenn andere dieses Ideal nicht haben und eine Abtreibung vornehmen lassen. Wenn eine Frau dies in einer schweren Notlage tut, wird es wahrscheinlich bei dem Bedauern bleiben. Die Frau hat etwas getan, was man sich anders gewünscht hätte und was man selbst, wie man glaubt, nicht getan hätte. Anders ist die Reaktion, wenn eine Frau das ungeborene Kind wegen nur geringer eigener Vorteile töten läßt: weil sie sich in ihrem gewohnten Leben nicht stören lassen will. Diese Andersheit empfindet der, der das Ideal hat und für den es ein zentrales Element seines Selbstbildes und seiner Selbstschätzung ist, möglicherweise als egomanisch, als abstoßend und als verächtlich. Er schaut auf diese Person herab, findet es primitiv, wie sie im Gefängnis ihres Egoismus lebt. - Am krassesten ist die Situati-
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on, wenn der andere nicht nur ein bestimmtes altruistisches Ideal nicht hat, sondern, vielleicht von seinem engsten Lebensumfeld abgesehen, überhaupt nur egoistischen Präferenzen folgt. Ein solches Leben, das vollständig auf sich zentriert ist und sich kaum auf andere hin öffnet, erscheint dem, der altruistische Ideale hat, als besonders häßlich und verächtlich. Die Verachtung ist, das folgt aus dem Gesagten, kein moralisches Gefühl. Sie enthält genausowenig ein moralisches Element wie das entgegengesetzte positive Gefühl der Bewunderung. Wer es verächtlich findet - oder auch nur abstoßend - , daß der andere bestimmte Ideale nicht hat, sollte sich also bewußt sein, daß er keinen Grund hat, sich zu empören. Und er sollte sich zudem bewußt sein, daß er seine eigenen Kriterien für das, was eine schätzenswerte Person ist, voraussetzt und daß diese Kriterien keineswegs zwingend sind. Der andere kann andere (oder partiell andere) Kriterien haben, er kann sich selbst und andere aufgrund anderer Kriterien schätzen, zum Beispiel weil sie konsequent und machtvoll ihre eigenen Interessen verfolgen, ohne mehr als unbedingt nötig auf andere Rücksicht zu nehmen. Und er könnte die verachten, die altruistische Ideale haben und deshalb ihre eigenen Interessen zugunsten anderer zurückstellen und vernachlässigen. Es ist also durchaus möglich, daß A die Art, wie Β sich verhält, verächtlich findet und umgekehrt Β die Art, wie A sich verhält. M a n kann sich gegenseitig verachten. Und die Verachtung des einen nimmt nichts von der Verachtung des anderen. Für den, der ein altruistisches Ideal der anderen nicht teilt, ist es ohne Zweifel unangenehm, ihren Unwillen, ihr Bedauern und gegebenenfalls ihre Enttäuschung zu spüren. Viel unangenehmer ist es, von ihnen nicht oder nur wenig geschätzt zu werden. Am unangenehmsten aber ist es, von den anderen verachtet zu werden. Wer mit Menschen zusammenlebt, die ein altruistisches Ideal haben, das man selbst nicht teilt, ist, wie sich zeigt, einem sozialen Druck ausgesetzt, der sehr stark sein kann. M a n muß ihm standhalten oder, was wahrscheinlicher ist, das Ideal der anderen übernehmen, um so seine soziale
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Stellung entscheidend zu verbessern. - Es liegt nun viel daran, diesen sozialen Druck nicht mit dem durch moralische Sanktionen erzeugten moralischen Druck zu verwechseln. M a n muß sich hier des tiefgreifenden Unterschieds bewußt sein. Der Anpassungsdruck im Bereich des Altruistischen ist zwar wie der moralische Druck ein sozialer Druck, und natürlich konstituiert er wie der moralische Druck ein praktisches Müssen: W e r das Ideal nicht hat und nicht entsprechend handelt, muß, wenn er den negativen Reaktionen der anderen entgehen will, sein Verhalten ändern. Aber dieses Müssen ist kein moralisches Müssen. Denn der soziale Druck im Bereich des Altruistischen kommt ganz von außen, er ist völlig heteronom. Der, der ihm ausgesetzt ist, hat keinerlei Urheberschaft an ihm. Das moralische Müssen ist hingegen, wie gezeigt, autonom. Es geht auf die zurück, die ihm unterliegen. Es ist ein selbst-auferlegtes Müssen. Die Instanz, die die Sanktionen verhängt, ist dazu autorisiert, und zwar von denen, die dem Müssen unterliegen. Damit hängt zusammen, daß das moralische Müssen ein verpflichtendes Müssen ist. 13 Von alledem kann bei dem, der anderen gegenübersteht, die ein altruistisches Ideal haben, das er selbst nicht hat, nicht die Rede sein. Und deshalb wäre es falsch, zu meinen, der Druck, dem er ausgesetzt ist, sei ein moralischer Druck. W e r ein altruistisches Ideal hat, identifiziert sich, so habe ich gesagt, in aller Regel mit diesem Ideal, und das Haben des Ideals ist ein Grund für die eigene Selbstschätzung und Selbstbejahung. Dieses Faktum hat nicht nur Folgen für die Art, wie man auf andere reagiert, die das Ideal nicht haben. Es hat auch Folgen für die Reaktion auf sich selbst, wenn man dem eigenen Ideal in seinem Handeln nicht gerecht wird. W e r trotz des eigenen altruistischen Ideals nicht altruistisch handelt, entspricht nicht dem Bild, das er von sich selbst hat. Er bleibt hinter dem zurück, was er sein will und in seinen Augen doch eigentlich auch ist. Damit ist ein zumindest vorübergehender Verlust an 13 Vgl. oben § 4 , S. 1 1 2 ff.
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Selbstschätzung und an Sympathie sich selbst gegenüber verbunden. M a n hat in etwas, w a s einem wichtig ist, versagt und schämt sich deshalb vor sich selbst. S c h a m ist, wie bereits erläutert 1 4 , ein Gefühl, das ein Selbstbild voraussetzt und sich einstellt, wenn m a n hinter diesem Bild zurückbleibt. Wer einem altruistischen Ideal, mit dem er sich identifiziert, nicht genügt, empfindet dies also als beschämend. U n d a u f g r u n d dieses Sachverhalts wächst dem, der ein altruistisches Ideal hat, ein zweites, zusätzliches M o t i v zu, seinem Ideal g e m ä ß zu handeln. D a s erste, originäre M o t i v ist die Attraktivität des angestrebten idealen Z u s t a n d e s selbst. Sie motiviert z u m Engagement für die möglichst weitgehende Realisierung des Ideals. D a z u k o m m t als zusätzliches und indirektes M o t i v das Bestreben, dem drohenden Schamgefühl zu entgehen. M a n will nichts tun, w a s d a s Bild, d a s m a n von sich selbst hat, beschädigte. M a n will sich nicht vor sich selbst (und vor anderen) bloßstellen und auf sich selbst herabschauen müssen. Dies ist ein starkes H a n d l u n g s motiv. Jeder kennt Situationen, in denen m a n etwas tun muß, weil m a n sonst, wie m a n sagt, nicht mehr in den Spiegel schauen könnte. Die H a n d l u n g e n , die m a n in solchen Situationen tun muß, sind unlösbar mit d e m Bild, das m a n von sich selbst hat, verknüpft; und aus dieser V e r k n ü p f u n g bezieht das M o t i v der Schamvermeidung seine starke Antriebskraft. Auch hier sei ausdrücklich herausgestellt, daß das praktische M ü s s e n , das die drohende S c h a m konstituiert, kein m o r a lisches M ü s s e n ist. Die S c h a m ist ein spontaner negativer Selbstaffekt, keine künstlich geschaffene Sanktion. D a s M ü s s e n ist deshalb nicht sanktionskonstituiert. Es ist ein M ü s s e n , wie wir es aus der eudaimonistischen Theorie der M o r a l kennen: M a n muß, so die Idee, moralisch handeln, weil m a n glücklich sein will und nur so glücklich wird. G e n a u in dieser Weise m u ß der, der ein entsprechendes Selbstbild hat und der drohenden S c h a m entgehen will, altruistisch handeln. Wer anders handelt, verhält
14 Vgl. oben § 5, S. 143 ff.
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sich unklug, er begeht aber kein Unrecht. Die drohende Scham konstituiert keine Pflicht und offenkundig auch kein moralisches Recht auf der Seite derer, die von dem altruistischen Handeln profitieren. Vor allem Chr. Korsgaard hat die Idee verfochten, daß der drohende Verlust der Selbstidentität eine Verpflichtung konstituiert: „ A n obligation always takes the form of a reaction against a threat of a loss of identity." 15 Die Rede von Verpflichtung ist hier jedoch fragwürdig. Sie scheint mir durch nichts gedeckt zu sein. Korsgaard verwandelt ein bloß prudentielles Müssen unter der Hand in ein verpflichtendes Müssen, und es bleibt unklar, was diesen Übergang rechtfertigt. Das Müssen, das aus dem Wunsch, das Bild von sich selbst zu bewahren, resultiert, ist ohne Zweifel stark. Aber das bedeutet nicht, wie Korsgaard glaubt, daß es ein verpflichtendes Müssen ist. Wer sagt: „Ich muß das tun, ich kann nicht anders, ich bin sonst nicht mehr der, der ich bin" unterliegt einem äußerst starken Müssen, man kann fast sagen, einem inneren existentiellen Zwang, aber das heißt, wie ich meine, nicht, daß dieses Müssen ein verpflichtendes oder moralisches Müssen ist; es ist tatsächlich „nur" ein prudentielles Müssen. Ich kann jetzt zusammenfassen. Wer ein altruistisches Ideal hat, hat starke Motive, auch altruistisch zu handeln. Ideale sind also effektive Quellen altruistischen Handelns. Wer hingegen ein altruistisches Ideal nicht hat, aber mit anderen zusammenlebt, die es haben und für die, das Ideal zu haben, wesentlicher Teil ihres Selbstverständnisses ist, hat ebenfalls starke Motive, sich das Ideal zu eigen zu machen. Denn auf ihm lastet ein mehr oder weniger starker Anpassungsdruck. Es gibt also, wenn erst einmal hinreichend viele altruistische Ideale haben, einen sozialen Druck zugunsten dieser Ideale. M i t diesen Überlegungen ist am Beispiel der Ideale gezeigt, daß es auch jenseits der Moral und des moralischen Müssens mächtige Faktoren gibt, die zum Handeln zugunsten anderer motivieren. 15 Chr. Korsgaard: The Sources of Normativity vgl. auch 123.
(Cambridge 1996) 102;
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3. Bevor ich im nächsten Kapitel auf das Mitleid als eine weitere wichtige Quelle altruistischen Handelns komme, möchte ich den Begriff des altruistischen Handelns weiter präzisieren, indem ich ihn zu einem traditionellen Begriff der Moralphilosophie in Beziehung setze. Die Unterscheidung des moralischen und altruistischen Handelns erinnert an die traditionelle Unterscheidung von pflichtgemäßen und supererogatorischen Handlungen. Es ist für unsere Zwecke nützlich, sich das Konzept des supererogatorischen Handelns zu vergegenwärtigen und zu sehen, ob und gegebenenfalls worin sich altruistische Handlungen von supererogatorischen unterscheiden. 16 Supererogatorische Handlungen sind Handlungen, die über das, was moralisch gefordert ist, hinausgehen und mehr tun. Sie sind moralisch gut, aber man ist zu ihnen nicht moralisch verpflichtet. Es sind Handlungen einer dritten Art neben den Handlungen, zu denen man moralisch verpflichtet ist, und den Handlungen, die moralisch indifferent sind. Wenn jemand unter großer eigener Lebensgefahr einen Ertrinkenden rettet, ist dies, so die Vorstellung, eine supererogatorische Handlung: Es besteht keine Verpflichtung, bei großer Gefahr für das eigene Leben einen Rettungsversuch zu unternehmen. Den, der es unterläßt, kann man folglich nicht moralisch attackieren. Aber die Handlung ist nicht moralisch indifferent, sie ist moralisch gut, ja sie verdient in diesem Fall sogar besondere moralische Anerkennung. Ebenfalls supererogatorisch handelt jemand, der sein Leben für den Dienst an Armen und Kranken hingibt. Es ist nicht moralisch verpflichtend, dies zu tun; wer es nicht tut, verstößt gegen kein moralisches Gebot. Aber den Hilfsbedürftigen zu dienen, ist moralisch gut und auch in diesem Fall besonders schätzenswert. Die Unterscheidung von pflichtgemäßen und supererogatorischen Handlungen entstammt der christlichen Theolo-
16 Das herkömmliche, aber kaum noch verwandte deutsche Übersetzungswort für „supererogatorisch" ist „übergebührlich".
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gie.17 Sie unterschied schon früh Werke, zu denen jeder verpflichtet ist (opera debita), und Werke, die übergebührlich und nicht verpflichtend sind (opera supererogatoria). Eine solche Differenzierung schien bereits im Neuen Testament (vor allem in Matth. 19, 16 ff. und 1. Kor. 7, 25 ff.) angelegt. Der Verzicht auf Besitz und auf eheliche Bindung ist, so las man hier, nicht geboten, aber gut, und deshalb empfiehlt es sich, in Armut und Ehelosigkeit zu leben. Seit Tertullian hat die patristische Theologie diese Unterscheidung mithilfe der Begriffe „praecepta" und „Consilia" fixiert: Die einen Handlungen sind vorgeschrieben, mit ihnen folgt man göttlichen Geboten, die anderen sind angeraten, mit ihnen folgt man göttlichen Ratschlägen. 18 Thomas von Aquin hat den Unterschied von „praecepta" und „Consilia" in aller Klarheit formuliert: „...haec est differentia inter consilium et praeceptum, quod praeceptum importât necessitatem, consilium autem in optione ponitur ejus cui datur." 19 Gebote schaffen eine Notwendigkeit, entsprechend zu handeln, während bei Ratschlägen der, dem sie gegeben werden, die Option hat, ihnen zu folgen oder nicht zu folgen. Die protestantische Theologie hat die Idee, daß es supererogatorische Handlungen gibt, strikt abgelehnt und mit aller Macht bekämpft. Die Vorstellung, daß es einen Bereich des Lebens gebe, in dem man nicht unter dem Gebot Gottes stehe, wurde als abwegig empfunden. Wie soll der Wille Gottes teilweise seinen unbedingt verpflichtenden Charakter verlieren können, wie es vorausgesetzt ist, wenn man annimmt, daß Gott zu bestimmten Verhaltensweisen nur rät? Blasphemisch erschien den protestantischen Theologen die im Katholischen verbreitete Vorstellung, man könne sich, indem man etwas über die
17 Vgl. hierzu die erhellenden Ausführungen von D. Heyd: Supererogation (Cambridge 1982) ch. 2; Heyds Buch ist - historisch wie systematisch die bisher beste Untersuchung zum Thema der Supererogation. 18 Entsprechend übersetzte die Vulgata 1. Kor. 7,25: „... autem praeceptum Domini non habeo, consilium autem do . . . " 19 Summa theologiae, I—II, q. 108, art. 4, resp.
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Pflicht hinaus tue, vor Gott einen Extra-Verdienst verschaffen, der mit Sünden, eigenen und sogar auch fremden, verrechnet werden könne. Die Menschen, selbst die besten, können, so die protestantische Dogmatik, niemals etwas tun, was jenseits des Pflichtgemäßen liegt, sie bleiben im Gegenteil immer hinter dem zurück, was Gott von ihnen verlangt. Wer glaubt, es gebe supererogatorische Handlungen, entzieht sich den Geboten Gottes, er schwächt sie für sich ab, indem er einen Teil des Gebotenen in etwas bloß Angeratenes und Optionales umdeutet. 20 Es ist aufschlußreich, daß die beiden Hauptströmungen der modernen Moralphilosophie, die kantische und die utilitaristische, die Idee supererogatorischer Handlungen ebenfalls abgelehnt haben. Die Konsequenz ist in beiden Fällen, daß der Bereich des Verpflichtenden außerordentlich weit reicht. Beide Moralkonzeptionen sind maximalistisch; man kann sie gar nicht leben. 21 Wer es versucht, hat dauerhaft mit dem niederdrückenden Gefühl zu kämpfen, seine moralischen Pflichten nicht zu erfüllen und selbst bei größten Anstrengungen hinter dem zurückzubleiben, was von ihm moralisch gefordert ist. Kants Ethik ist wie die gesamte deutsche Pflichtenlehre des 18. Jahrhunderts entschieden antisupererogationistisch. Sie kennt zwischen dem moralisch Verpflichtenden und dem moralisch Gleichgültigen nicht die Zwischenkategorie des Supererogatorischen, das weder verpflichtend noch moralisch indifferent ist. „Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist", so sagt Kant, „bloß erlaubt... Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis)." 2 2 Dies bedeutet, daß man zu allem, was moralisch gut 2 0 Vgl. M . Luther: Von den guten Werken ( 1 5 2 0 ) . Weimarer Ausgabe, Bd. 6, S. 2 0 4 ; J. Calvin: Institutio christianae religionis ( 1 5 5 9 ) , II, viii, 5 6 . Opera Omnia, ed. G. Baum, E. Cunitz, E. Reuss, vol. 2 (Braunschweig 1 8 6 4 ) col. 3 0 6 . 2 1 Mackie spricht in bezug auf den Utilitarismus (und andere Moralkonzeptionen) zu Recht von einer „ethics of fantasy", einer „Ethik der Illusionen"; vgl. Ethics, 1 2 9 , dt. 1 6 3 . 2 2 Metaphysik der Sitten, AA VI, 2 2 3 .
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ist, verpflichtet ist. So ist es nach Kant eine moralische Pflicht, sich das Glück der anderen zum eigenen Ziel zu machen. Kant kommt hier zwar zu gewissen Einschränkungen, indem er, wenn auch ohne letzte Klarheit, vollkommene und unvollkommene Pflichten unterscheidet. Unvollkommene Pflichten sind solche, die dem Verpflichteten einen Spielraum lassen, wie er die Pflicht erfüllt. 23 So lassen z.B. die unvollkommenen Pflichten der Nächstenliebe und der Wohltätigkeit unbestimmt, bei welchen Gelegenheiten und in welchem M a ß e die Verpflichteten diese Pflichten erfüllen. Wer arm ist, erfüllt die Pflicht der Wohltätigkeit anders als der, der viel Geld hat. Aber dies ändert nichts daran, daß Nächstenliebe und Wohltätigkeit in vollem Sinne Pflichten sind. 24 Die Verbindlichkeit der unvollkommenen Pflichten unterscheidet sich in nichts von der der vollkommenen Pflichten. Kant hält also daran fest, daß es neben dem moralisch Gleichgültigen nur zwei Arten des moralisch „Interessanten" gibt: das moralisch Gebotene und das moralisch Verbotene. Diese Grundposition teilt die utilitaristische Ethik. Moralisch gut sind, so lehrt sie, die Handlungen, die das Glück der Menschen fördern. Diese Handlungen zu tun, ist moralische Pflicht. Damit ist alles, was „oberhalb" des moralisch Indifferenten liegt, verpflichtend. Für supererogatorische Handlungen gibt es keinen Raum. Erst im 2 0 . Jahrhundert ist gegen Kant und die utilitaristische Ethik wieder nachdrücklich geltend gemacht worden, daß eine einfache Drei-Gliederung der Handlungen in moralisch gebotene, verbotene und moralisch indifferente den, wie es
2 3 Metaphysik der Sitten, AA VI, 3 9 0 . - Vgl. zu der Unterscheidung vollkommener und unvollkommener Pflichten und ihrer Vorgeschichte W . Kersting: „Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit" ( 1 9 8 2 ) , in: W . K.: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend (Frankfurt 1 9 9 7 ) 7 4 - 1 2 0 ; und ders.: Pflichten, unvollkommene/ vollkommene. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7 (Basel 1989) 433-439. 2 4 Vgl. hierzu M . Baron: Kantian Ethics Almost Without Apology (Ithaca 1 9 9 5 ) ch. 1: Kantian Ethics and the Supererogatory.
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Urmson formulierte, „facts of morality" 25 nicht entspricht. Urmson hat mit gut ausgewählten Beispielen einsichtig zu machen versucht, daß es Handlungen gibt, die moralisch gut sind, zu denen man aber nicht verpflichtet ist. Er hat vor allem auf Handlungen von „Heiligen und Helden" hingewiesen, sie aber nur als besonders herausragende Beispiele für einen sehr viel größeren Bereich des Supererogatorischen gesehen. - Gibt es „oberhalb" der indifferenten Handlungen supererogatorische Handlungen, scheint es auch „unterhalb" von ihnen ein negatives Komplement geben zu müssen, also Handlungen, die nicht moralisch verboten, aber doch moralisch schlecht sind. Chisholm hat im Anschluß an Meinong dafür votiert, daß es Handlungen dieser Art gibt; er nannte sie „offences", was im Deutschen mit „anstößige Handlungen" wiedergegeben wurde. 26 Chisholms Beispiele sind Ungunst, Unhöflichkeiten und bestimmte Denunziationen. Man kommt nach dieser Erweiterung zu einem 5-gliedrigen Handlungsschema, nach dem es „über" den indifferenten Handlungen im Bereich des moralisch Guten gebotene und supererogatorische Handlungen gibt und „unter" den indifferenten Handlungen im Bereich des moralisch Schlechten verbotene und anstößige Handlungen. Wie stehen nun die altruistischen Handlungen, wie ich sie zuvor konzipiert habe, zu den supererogatorischen Handlungen? Sind sie ein und dasselbe? Oder sind sie etwas anderes, und wo sind dann die Unterschiede und Gemeinsamkeiten? Es ist klar, daß altruistische und supererogatorische Handlungen darin übereinkommen, nicht pflichtgemäß zu sein. Es ist kein moralisches „Muß", sie zu tun. Aber wie weiter? Ich möchte auf zwei Punkte hinweisen. Erstens. Die Überlegungen der Tradition über die supererogatorischen Handlungen haben den genauen Status dieser Handlungen nie geklärt. Klar ist allein 25 J. O. Urmson: Saints and Heroes, in: Α. I. Melden (ed.): Essays in Moral Philosophy (Seattle 1958) 198-216, 199. 26 R. M. Chisholm: Supererogation and Offences: A Conceptual Scheme for Ethics. Ratio 5 (1963) 1-14; dt.: Übergebührlichkeit und Anstößigkeit. Ratio (dt. Ausg.) 5 (1963) 1-12, 4.
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die negative Festlegung, daß sie nicht pflichtgemäß sind. Wie aber ist ihre positive Seite zu bestimmen? Sie sind, so wird gesagt, moralisch gut, von moralischem Wert. Man hat vielleicht eine vage Vorstellung davon, was damit gemeint ist. Aber was bedeutet es genau, daß supererogatorische Handlungen moralisch gut sind? Wie immer die Antwort auf diese Frage ausfällt: Es ist offenkundig, daß ich die Rede vom moralischen Gutsein bezüglich des altruistischen Handelns nicht übernehmen kann. Das altruistische Handeln ist ausdrücklich als ein nicht-moralisches Handeln eingeführt worden, als ein Handeln jenseits der Grenzen des Moralischen. Denn ich habe den Begriff des Moralischen auf den Bereich des Geforderten, des Verpflichtenden begrenzt. Damit ist klar, daß man nicht sagen kann, das altruistische Handeln sei Teil des moralischen Handelns, und auch nicht, es sei moralisch gut. Man mag vermuten, daß dieser Unterschied nur terminologischer Natur ist. Die Theorie des Supererogatorischen nimmt ja auch an, daß das Supererogatorische jenseits des Pflichtgemäßen liegt. Sie hat nur einen weiteren Begriff der Moral, infolge dessen das Supererogatorische noch innerhalb der Grenzen der Moral liegt. Wir werden sehen, daß wir es hier in Wahrheit mit mehr als einem terminologischen Unterschied zu tun haben. Altruistische und supererogatorische Handlungen sind nicht dieselben Handlungen, die nur mit verschiedenen Terminologien verschieden beschrieben werden. Bevor ich das zeige, ist es hilfreich, sich bewußt zu machen, daß auch altruistische Handlungen in einem bestimmten Sinn gut sind. Etwas ist, so kann man im Groben sagen, dadurch gut, daß es einem Wollen entspricht. 27 Wir befragen die Welt und ihre Zustände auf gut und schlecht hin, weil wir Lebewesen sind, die sich wollend auf die Welt beziehen und für die es deshalb wichtig ist, zu wissen, wie sich die Welt und ihre 27 Vgl. hierzu die detaillierteren Ausführungen in meinen Aufsätzen: Gutsein. Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997) 65-92, 88-92 und Was es heißt, ein gutes Leben zu leben, 48-59.
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Zustände, wie sich Personen und ihre Handlungen im Lichte unseres Wollens ausnehmen, ob sie dem Wollen entsprechen oder nicht. Das Wollen, auf das sich der bezieht, der etwas „gut" nennt, kann sein eigenes sein, es kann auch das eines anderen sein; häufig ist es ein allgemein geteiltes Wollen. Eine gute Käsereibe zum Beispiel ist dadurch gut, daß sie dem entspricht, was man allgemein von einer Käsereibe will. Eine altruistische Handlung ist eine Handlung zugunsten anderer, und deshalb entspricht sie zumindest dem Wollen derer, die von ihr direkt profitieren. Eine altruistische Handlung ist folglich immer gut, gut bezüglich des Wollens derer, zu deren Gunsten sie etwas tut (oder unterläßt). Sie kann außerdem auch dem Wollen anderer entsprechen, natürlich vor allem dem Wollen derer, die in einer Gemeinschaft leben wollen, in der die Menschen sich zueinander altruistisch verhalten. Da das altruistische Handeln gut ist, weil es ein Handeln zugunsten anderer ist, ergibt es sich von selbst, daß es dieses Gutsein mit dem moralischen Handeln teilt. Denn das moralische Handeln (wie ich es bestimmt habe) ist auch ein Handeln zugunsten anderer und deshalb in derselben Weise gut. Dieses Gutsein überspringt die Grenze zwischen altruistischem und moralischem Handeln. Man könnte, auf die Gefahr hin, fehlgehende Assoziationen anzulocken, vielleicht von „benefizientem" Gutsein sprechen. Das lateinische „beneficere" wäre damit im Sinne von „zugunsten anderer handeln" verstanden. Das benefiziente Gutsein hat eine Handlung eben dadurch, daß sie eine Handlung zugunsten anderer ist und deshalb zumindest dem Wollen derer entspricht, zu deren Gunsten sie etwas tut (oder unterläßt). Mit diesem Gutsein ist genau jene Eigenschaft gefunden, die den Bereich „oberhalb" der indifferenten Handlungen von diesen Handlungen abhebt. Spazierenzugehen, mag gut sein, bezogen auf das Wollen dessen, der spazierengeht. Aber es ist kein Handeln zugunsten anderer, und deshalb ist es nicht benefizient gut. Während das altruistische wie das moralische Handeln, wie gesagt, gemeinsam dadurch charakterisiert sind, in dieser Weise gut zu sein.
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Man kann nun vermuten, das dem moralischen und altruistischen Handeln gemeinsame benefiziente Gutsein sei genau das, was in der Theorie des Supererogatorischen und auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch „moralisches Gutsein" genannt wird. Und man kann deshalb erneut den Eindruck haben, altruistische und supererogatorische Handlungen seien nur durch verschiedene Terminologien unterschieden. Doch dieser Eindruck ist, wie schon gesagt, irrig, genauso die Vermutung über die Identität des benefizienten und moralischen Gutseins. Um zu zeigen, daß benefizientes und moralisches Gutsein verschiedene Dinge sind, kann es offenbleiben, was unter moralischem Gutsein genau zu verstehen ist; es reicht, ein Bedeutungselement zu unterstellen, das in unserem alltäglichen Verständnis und auch weithin in der philosophischen Tradition fest zum Begriff einer moralisch guten Handlung gehört: Daß eine Handlung moralisch gut ist, sagt auch etwas über die Motivation, aus der heraus die Handlung getan wird; eine Handlung ist nämlich nur dann moralisch gut, wenn sie aus einem uneigennützigen Motiv getan wird. Wir können unterstellen, daß dies auch in der Theorie des Supererogatorischen zur Bedeutung von „moralisch gut" gehört. Dann ergibt sich, daß supererogatorische Handlungen, weil sie moralisch gut sind, Handlungen sind, die aus uneigennützigen Motiven getan werden. Der Begriff des benefizient Guten ist indes ganz frei von Annahmen über die Handlungsmotive. Genauso enthält die Rede von altruistischen Handlungen in der hier entfalteten Theorie keine Implikationen über die Motive, aus denen heraus so gehandelt wird. Es gibt, wie wir sahen, eigennützige altruistische Handlungen, so wenn jemand etwas zugunsten eines anderen nur um der eigenen Reputation willen tut oder um eines erhofften reziproken Vorteils willen. Handlungen dieser Art sind altruistisch, sie sind benefizient gut, sie sind aber, weil sie nicht uneigennützigen Motiven entspringen, nicht moralisch gut, - und deshalb auch nicht supererogatorisch. Benefizientes und moralisches Gutsein fallen hier, gleichgültig wie das moralische Gutsein weiterhin bestimmt wird, auseinander, sie sind also nicht dasselbe; und
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auch altruistische Handlungen und supererogatorische Handlungen sind nicht ein und dasselbe. - Wie es altruistische Handlungen gibt, die nicht supererogatorisch sind, so gibt es auch supererogatorische Handlungen, die nicht altruistisch sind. Eine der „klassischen" christlichen supererogatorischen Verhaltensweisen ist der Verzicht auf Besitz. Das Nicht-wichtig-Nehmen der materiellen Güter, das sich hierin zeigt, ist moralisch gut, aber es ist kein Verhalten zugunsten anderer, es ist nicht benefizient gut, und es ist deshalb kein altruistisches Verhalten. Zweitens. Welche der moralisch guten Handlungen supererogatorisch sind, hängt davon ab, wo die Grenze zwischen dem Pflichtgemäßen und dem Supererogatorischen verläuft. Je weiter der Bereich des Pflichtgemäßen reicht, um so außergewöhnlicher und um so anspruchsvoller sind die supererogatorischen Handlungen. Da die christliche Morallehre und in ihrem Gefolge die wichtigsten modernen Moralkonzeptionen den Bereich des Moralischen außerordentlich weit spannen, ist es kein Wunder, daß die bevorzugten Beispiele für supererogatorische Handlungen solche von Heiligen und moralischen Helden sind. Es sind besonders riskante, besonders selbstlose und entsagungsvolle Handlungen. Die Philosophen, die sich intuitiv an einem weniger weitreichenden Moralbegriff orientieren, haben zwar darauf hingewiesen, daß es auch weniger anspruchsvolle supererogatorische Handlungen gibt, so wenn jemand einem anderen einen kleinen Gefallen tut 28 , aber das Bild bestimmen eher die besonders ungewöhnlichen Handlungen, die man nicht von jedem erwarten kann; nur wenige handeln in dieser Weise. Weil dieser Eindruck im Vordergrund steht, verbindet sich mit dem Begriff des Supererogatorischen die Vorstellung, daß diese Handlungen in besonderer Weise Lob und Hervorhebung verdienen und daß deshalb, wer nicht so handelt, eigentlich das Gewöhnliche und Erwartete tut und folglich nicht mit negativen Reaktionen rechnen muß. Daß es also keinen sozialen 28 Vgl. Urmson, Saints and Heroes, 198; Chisholm, Übergebührlicbkeit, Heyd, Supererogation, ch. 7.
3;
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Druck zugunsten dieser Handlungen gibt. Wir haben gesehen, daß die kontraktualistische Theorie des Moralischen, wie ich sie entwickelt habe, die Grenze des Pflichtgemäßen sehr eng zieht, deutlich enger als die überkommene Moral. Ich habe von einer Minimalmoral gesprochen, die nur die fundamentalen Interessen der Beteiligten schützt und das Beteiligtsein an Bedingungen knüpft, die nicht von allen Menschen (und von keinem anderen Lebewesen) erfüllt werden. Wenn die Moral und damit der Bereich des Pflichtgemäßen in dieser Weise begrenzt ist, verändert sich das Bild der Handlungen, die jenseits des Pflichtgemäßen liegen. Viele Handlungen, die in der überkommenen Moral als verpflichtend angesehen werden, werden in der jetzigen Konzeption als altruistische Handlungen verstanden. Der Bereich des Altruistischen ist groß, der des Pflichtgemäßen und Moralischen ziemlich klein. Deshalb sind Handlungen von Heiligen und Helden nicht die ersten Beispiele, die einem zum Begriff des altruistischen Handelns einfallen. Das altruistische Handeln ist nicht wie das supererogatorische Handeln mit den Vorstellungen des Außergewöhnlichen und besonders Anspruchsvollen verbunden. Altruistische Handlungen sind zum großen Teil Handlungen, die man von anderen erwartet, die man zumindest von jedem und nicht nur von ungewöhnlichen Menschen erwarten kann und die man vielleicht sogar für mehr oder weniger selbstverständlich hält. Entsprechend kann, wer altruistisch handelt, in vielen Fällen nicht mit besonderem Lob rechnen, und wer nicht so handelt, muß oft, wie wir sahen, mit negativen Reaktionen, mit Enttäuschung, Unwillen oder gar Verachtung rechnen. Es gibt also in vielen Fällen, je nach der Erwartungshaltung der anderen, einen sozialen Druck zugunsten altruistischen Handelns. Der Unterschied, der sich hiermit zwischen supererogatorischen und altruistischen Handlungen zeigt, ist kein echter begrifflicher Unterschied; vielmehr ist der Ort, an dem die Handlungen angesiedelt sind, ein anderer. Und damit verändert sich ihr Umfeld, so vor allem die Erwartungen und damit zusammenhängend die Reaktionen der anderen.
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Ich kann jetzt zusammenfassen, was sich für die Präzisierung des Begriffs des altruistischen Handelns aus dem Vergleich mit dem supererogatorischen Handeln ergeben hat. Altruistische Handlungen sind nicht pflichtgemäß, sie haben deshalb nicht die Eigenschaft des moralischen Gefordertseins. Altruistische Handlungen sind benefizient gut, das heißt, sie sind zumindest dadurch gut, daß sie dem Wollen derer entsprechen, zu deren Gunsten sie handeln. Dieses benefiziente Gutsein haben sie mit den moralischen Handlungen gemeinsam. Altruistische Handlungen sind nicht durch eine bestimmte Motivation definiert. Es gibt altruistisches Handeln aus uneigennützigen und auch aus eigennützigen Motiven. Viele altruistische Handlungen sind nicht so anspruchsvoll, daß man sie von gewöhnlichen Menschen nicht erwarten kann. Soweit sie tatsächlich von den anderen erwartet werden, entsteht ein sozialer Druck zugunsten dieser Handlungen.
§ 1 0 Altruistisches Handeln und Mitleid 1. Eine wichtige, vielleicht sogar die wichtigste nicht-eigennützige Quelle altruistischen Handelns ist das Mitleid. Das altruistische Handeln kommt hier nicht aus einem Wollen, sondern aus einem Gefühl. Als ein Gefühl ist das Mitleid etwas, was man erleidet, was einen ergreift, ein, wie die Griechen sagten, pathos. Wer Mitleid empfindet, leidet am Leiden eines anderen. Die Tatsache, daß der andere leidet, erschließt sich im Mitleid als etwas, was einen mitbetrifft und das eigene Wohlsein negativ berührt. Aus diesem negativen Betroffensein resultiert der Impuls, etwas zugunsten des anderen zu tun. Entweder bemüht man sich aus Mitleid, das Leid des anderen zu beenden oder zu mildern, oder man unterläßt es aus Mitleid, einem anderen Leid zuzufügen. In diesem Fall leidet der andere nicht wirklich, man stellt sich das Leiden, das ihm durch die eigene Handlung zugefügt würde, nur vor; und aus Mitleid mit diesem bloß vorgestellten Leid unterläßt man die schädigende Handlung. Das Mitleid hat hier eine hemmende Wirkung, es ruft einem, wie Schopenhauer sagt, ,,,Halt!' zu ... und [stellt] sich als eine Schutzwehr vor den anderen ,.." 1 Das Mitleid kann nicht nur direkt und unvermittelt zum altruistischen Handeln bewegen. Es kann auch die Quelle einer Haltung oder Disposition sein, infolge deren man sich generell altruistisch verhält, wenn man dem Leiden eines anderen begegnet. Man kann es sich aufgrund der Erfahrung des Mitleids zur allgemeinen Handlungsmaxime machen, anderen zu helfen, wenn sie leiden, und anderen kein Leid zuzufügen. Hat man diese Maxime, ist die einzelne altruistische Handlung unabhän-
1
Schopenhauer, Grundlage der Moral, § 17, S. 213.
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gig von dem faktischen Auftreten des Mitleids. Man hat die Erfahrung des Mitleids gewissermaßen ein für alle Mal gemacht und deshalb eine entsprechende Haltung ausgebildet. Schopenhauer hat in seiner Mitleidsethik eine solche Loslösung des altruistischen Verhaltens von dem aktuell empfundenen Mitleid konzipiert. Er spricht von der allgemeinen Maxime, die man sich aufgrund der Mitleidserfahrung geben kann und die folgenden Inhalt hat: „Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva" (Verletze niemanden, hilf vielmehr allen, so weit du kannst). 2 Auch neuere Versionen der Mitleidsethik haben diesen Weg vom aktuell empfundenen Mitleid zur entsprechenden allgemeinen und festen Handlungsdisposition beschrieben. Ursula Wolf spricht von einer Haltung des „generalisierten Mitleids" 3 , einer Haltung, die man auf der Grundlage des Mitleidsgefühls ausbildet und nach der man immer so handelt, „als ob man ... Mitleid empfinden würde" 4 , also auch dann, wenn man aktuell kein Mitleid fühlt. In dieser Haltung des generalisierten Mitleids erreicht das Mitleid seine größte Wirkung. Sie bedarf freilich bestimmter Einschränkungen, um dem Leben und dem Zusammenleben dienlich zu sein. Ich nenne zwei: Auch der, der eine Haltung des generalisierten Mitleids hat, will bestimmte Übel und Leiden. Ich denke hier an die moralischen und rechtlichen Sanktionen, also an Übel, die angedroht werden, um vom Unrecht-Tun abzuhalten. Man kann zwar vielleicht im Einzelfall mit dem, den die Sanktionen treffen, Mitleid haben, aber die Verhängung der Sanktionen aus Mitleid oder einer Haltung des gene2
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Ebd. § 6, S. 137; § 16, S. 212. - Vgl. zur Loslösung des altruistischen Handelns vom aktuellen Mitleid ausdrücklich § 17, S. 2 1 4 f.: „Jedoch ist keineswegs erforderlich, daß in jedem einzelnen Fall das Mitleid wirklich erregt werde; ... sondern aus der ein für alle Mal erlangten Kenntnis von dem Leiden ... geht in edeln Gemütern die Maxime neminem laede hervor, und die vernünftige Überlegung erhebt sie zu dem ein für alle Mal gefaßten festen Vorsatz, ..." Wolf, Das Tier in der Moral, 57, 76, 142 f. Wolf, Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere?, 57.
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ralisierten Mitleids zu unterlassen, hieße, die Stabilität der moralischen und rechtlichen Ordnung zu unterhöhlen. Wer die Moral will, m u ß der Haltung des generalisierten Mitleids also eine Grenze ziehen. Diese Notwendigkeit ergibt sich auch aus einem anderen Grund. Es ist eine einfache Tatsache des Lebens, daß man nicht allen helfen kann, die leiden. M a n kann nicht einmal überall dort helfen, w o man es im Prinzip könnte. Denn das bedeutete, sein eigenes Leben aufzugeben und es vom Leid der anderen aufzehren zu lassen. M a n m u ß hier gar nicht auf das Leid der Tiere verweisen, die, soweit sie leidensfähige Wesen sind, auch Gegenstand der Haltung des generalisierten Mitleids sein können. Selbst wenn man davon absieht, geht Schopenhauers Maxime, zu helfen, so weit man kann, zu weit. Zumindest wenn man das „können" so versteht, daß es von der blanken Möglichkeit spricht. Auch wer sich die Einstellung des generalisierten Mitleids zu eigen macht, m u ß lernen, daß es zu viel Leid auf dieser Welt gibt, als daß man sich allem helfend zuwenden könnte, und daß man selbst dort, wo man helfen könnte, nicht überall helfen kann, wenn man ein eigenes Leben haben will. Trotz dieser Begrenzungen ist das altruistische Potential des Mitleids ungemein groß. Das Mitleid ist eine machtvolle Quelle altruistischen Handelns, zudem eine Quelle, die niemals versiegen wird. Allein das Gefühl des Mitleids garantiert, daß die Menschen sich zu allen Zeiten, wie immer sie ihr Zusammenleben ordnen, zugunsten anderer verhalten werden. 2.1. Ich habe in § 8 bereits gesagt 5 , daß man den, der kein Mitleid oder nicht in dem M a ß e Mitleid empfindet und deshalb nicht aus Mitleid zugunsten anderer handelt, nicht kritisieren kann. M a n kann ihm nicht zeigen, daß er etwas falsch macht. Auch den, der zwar Mitleid empfindet, aber sein Gefühl nicht in ein entsprechendes Handeln zugunsten des anderen umsetzt,
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Vgl. S. 2 6 8 f.
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kann man nicht kritisieren. Und man kann auch den nicht kritisieren, der zwar Mitleid empfindet und vielleicht auch entsprechend handelt, aber nicht die Haltung des generalisierten Mitleids ausbildet. Weder das eine noch das andere noch das dritte ist rational zwingend, und deshalb ist auch nichts davon moralisch verpflichtend. In all diesen Fällen haben wir es mit einem Verhalten zu tun, das wir bedauern mögen, das wir gerne anders sähen, über das wir uns aber nicht empören können. Wir haben es, mit anderen Worten, mit einem Verhalten zu tun, das nicht im Bereich des Moralischen, sondern im Bereich des Altruistischen angesiedelt ist. Daß man das Gefühl des Mitleids nicht von jemandem fordern kann und deshalb auch nicht, aus Mitleid zugunsten anderer zu handeln, scheint nicht vieler Worte zu bedürfen. Denn das Mitleid ist als ein Gefühl etwas - ich habe es schon gesagt - , was man erleidet, was einem widerfährt. Ob man ein Gefühl hat oder nicht, ist keine Frage des Wollens. Und schon allein aus diesem Grund scheint es ausgeschlossen zu sein, von jemandem zu fordern, ein bestimmtes Gefühl zu haben. Denn natürlich kann man von jemandem sinnvollerweise nur etwas fordern, wenn er der Forderung aus eigener Handlungsmacht nachkommen kann. Diese Überlegung, die sich auf eine lange Tradition stützen kann, ist so weit ganz richtig, aber sie übersieht einen entscheidenden Punkt: Gefühle hat man unter bestimmten Bedingungen, und wir haben zweifellos zumindest zum Teil Einfluß darauf, ob diese Bedingungen erfüllt sind oder nicht. Wenn wir aber die Bedingungen herbeiführen können, unter denen einen ein Gefühl erfaßt, haben wir doch Einfluß darauf, ob wir das Gefühl haben oder nicht, - zwar keinen direkten, aber einen indirekten. Aus diesem Grunde reicht es nicht aus, allein auf die Passivität der Gefühle hinzuweisen, um zu zeigen, daß man das Haben eines Gefühls nicht fordern kann. Man muß folglich die Entstehungsbedingungen des jeweiligen Gefühls genauer untersuchen. Unter welchen Bedingungen empfindet also eine Person Mitleid? Aus der Fülle der hier relevanten Aspekte gehe ich auf zwei besonders wichtige näher
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ein. Erstens. Man muß sich klarmachen, daß die verbreitete Ansicht, das Mitleid sei ein natürliches, instinktartiges und voraussetzungsloses Gefühl, problematisch ist. Schopenhauer sagt etwa, das Mitleid beruhe „nicht auf Voraussetzungen", es sei „ursprünglich und unmittelbar", es sei „angeboren", liege „in der menschlichen Natur selbst", es sei die „ganz unmittelbare, ja instinktartige Teilnahme am fremden Leiden". 6 Das Problematische dieser Auffassung zeigt sich an folgendem: Daß ein anderer leidet, hat nur dann eine affektive Wirkung auf mich, wenn sein Leiden etwas für mich bedeutet, wenn es mich negativ berührt. Dies ist nicht notwendigerweise der Fall. Man kann die Haltung des „Was gehen mich die anderen an?" und „Was geht mich das Leiden der anderen an?" haben. Wer diese Haltung hat, dem ist das Leiden des anderen gleichgültig. Infolgedessen empfindet er auch kein Mitleid. Es ist wichtig zu sehen, daß die Möglichkeit der gleichgültigen Distanz bei den „Inhalten" anderer Affekte nicht gegeben ist und daß hierin ein signifikantes Merkmal des Mitleids bzw. des Sachverhalts, auf den das Mitleid bezogen ist, liegt. Betrachten wir als Beispiel die Furcht und eine Situation, in der vor mir in der Steppe ein hungriger Löwe auftaucht und sich langsam, aber sicher auf mich zubewegt. Hier ist klar, daß dieser Sachverhalt mich angeht, daß er etwas für mich bedeutet. Die Situation ist für mich gefährlich, und deshalb reagiere ich mit Furcht und Schrekken. Für die Haltung des „Was geht mich der hungrige Löwe an?" ist hier kein Platz. Im Fall des Leidens eines anderen ist hingegen nicht durch die Situation selbst gegeben, daß das Leiden etwas für mich bedeutet. Dem Für-mich-Gefährlichsein in der anderen Situation entspricht hier nichts. Ein Affekt ist aber niemals einfach auf einen Sachverhalt bezogen, sondern immer auf einen Sachverhalt, der etwas für mich bedeutet, sei
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Schopenhauer, Grundlage der Moral, § 17, S. 2 1 3 ; § 18, S. 2 2 7 ; § 2 2 , S. 2 6 4 . - Ganz ähnlich J.-J. Rousseau: Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, in: Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade), vol. 3 (Paris 1 9 6 4 ) 154.
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es etwas Gutes oder etwas Schlechtes. Damit es zum Mitleid kommt, bedarf es deshalb eines zusätzlichen Elements - eines Elements, durch das das fremde Leiden erst zu etwas wird, was für mich schlecht ist und das mich deswegen negativ affiziert. Dieses zusätzliche Element ist offenbar eine Teilnahme an dem Los des anderen oder, wie ich es fassen werde, ein Gefühl der Verbundenheit mit ihm. Hat man dieses Verbundenheitsgefühl, wird man von dem Leiden des anderen negativ berührt, und nur deshalb kommt es zum Gefühl des Mitleids. Es zeigt sich also, daß das Gefühl des Mitleids einer wesentlichen Voraussetzung bedarf, für die es z.B. beim Gefühl der Furcht keine Entsprechung gibt. Man könnte glauben, diese Analyse ändere nichts daran, daß das Mitleid ein natürliches, instinktartiges Gefühl sei. Denn das Gefühl der Verbundenheit, auf dem es aufruhe, sei selbst ein natürliches Gefühl. Jeder habe es von Natur aus. Aber dies gilt gewiß nur sehr begrenzt. Es mag sein, daß jeder ein biologisch fundiertes Gefühl der Verbundenheit mit seinen Kindern und anderen engen Verwandten hat. Und daß es deshalb niemanden gibt, der niemals eine Regung des Mitleids verspürt hat. Aber dieses natürliche Gefühl reicht nicht weit. Ein weiterreichendes Gefühl der Verbundenheit, gar der Verbundenheit mit allen Menschen oder sogar mit allen leidensfähigen Lebewesen ist sicher nichts Naturgegebenes. Man kann sich mit allen Menschen verbunden fühlen - oder mit allen leidensfähigen Wesen, aber es ist auch möglich, dies nicht zu tun. Es ist verschiedentlich zu Recht darauf hingewiesen worden, daß Freundschaft und Sympathie keine Vorbedingungen des Mitleids sind. 7 Man kann mit jemandem mitleiden, den man gar nicht kennt oder der einem unsympathisch ist oder mit dem man verfeindet ist oder den man moralisch verurteilt. Dies zeigt, daß das Mitleid eine elementarere und damit auch schwächere Form der Verbundenheit voraussetzt. Wenn man mit
7
So z.B. von Hume, Treatise, II, ii, sect. 7, p. 369.
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jemandem Mitleid hat, obwohl er einem unsympathisch ist oder obwohl man ihn moralisch verurteilt, setzt das ein Verbundenheitsgefühl voraus, das tiefer als dieses Trennende liegt. Es mag darin gründen, daß man in dem anderen jemanden sieht, der mit einem durch sein Menschsein oder durch seine Leidensfähigkeit verbunden ist. Um hier nicht falschen Vorstellungen anzuhängen, muß man sich vergegenwärtigen, daß dieses basale Gefühl der Verbundenheit in aller Regel nicht bewußt ist. Es ist im allgemeinen ein sehr tief liegendes, verborgenes, nicht-bewußtes und unartikuliertes Element unserer aus vielen Quellen gespeisten Einstellung zu anderen Menschen und Lebewesen und zum Leben insgesamt. Die Tatsache, daß ich Mitleid empfinde, erschließt mir gerade das Faktum, daß ich mich dem anderen verbunden fühle. Im Mitleid erfahre ich mich als jemanden, der unterhalb von Sympathie und Antipathie am Los des anderen Anteil nimmt. Daß es für viele Menschen schmerzlich ist, einen anderen leiden zu sehen, selbst wenn sie ihn gar nicht kennen, zeigt gerade, daß sie ein Gefühl der Verbundenheit auch mit denen haben, die nicht ihrem engsten Lebensumfeld angehören. Es ist bemerkenswert, daß auch Schopenhauer sich das Gefühl des Mitleids, obwohl er sagt, es sei voraussetzungslos, am Ende nur verständlich machen kann, indem er auf eine Voraussetzung zurückgreift, die erfüllt sein muß, damit es zum Mitleid kommt. Es ist bei ihm die Erkenntnis - nicht primär das Gefühl - des Verbundenseins zumindest aller Menschen, wenn nicht sogar aller leidensfähigen Wesen. Ob man eine mitleidige oder egoistische oder bösartige Person ist, hängt, so Schopenhauer, von der jeweiligen „Auffassung des Verhältnisses zwischen dem eigenen und dem fremden Ich" ab. 8 Wer einen mitleidigen Charakter hat, macht „weniger als die übrigen einen Unterschied zwischen sich und den anderen". 9 Der Egoistische hat hingegen die Auffassung, daß „jeder vom anderen 8 9
Schopenhauer, Grundlage der Moral, § 22, S. 266. Ebd. § 22, S. 265.
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gänzlich verschieden" ist.10 Was dem Mitleid vorausliegt, ist demnach zunächst nicht ein Gefühl der Verbundenheit, sondern eine „Auffassung", also eine Meinung über das Verhältnis, in dem man zu den anderen steht. Schopenhauer spricht ausdrücklich von einer „Ansicht", die „dem Phänomen des Mitleids zum Grunde" liegt und die im Mitleid ihren „Ausdruck" findet. 11 Daß er hier wirklich an eine Meinung, also an etwas, was wahr und falsch sein kann, denkt, zeigt sich, wenn er fragt, welche der verschiedenen Auffassungen, die des Egoisten oder die des Mitleidigen, wahr und welche „eine irrige sei und auf einer Täuschung beruhe". 12 Seine Antwort ist klar: Wahr ist die, die „den Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aufhebt" 1 3 , also die Auffassung, die dem Mitleid zugrundeliegt. Die Basis des Mitleids ist also die Erkenntnis, daß man im anderen „unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen" vor sich hat. 14 Diese Erkenntnis bewirkt ein bestimmtes Verhältnis zum anderen, nämlich ein Verhältnis des Befreundetseins, und sie bewirkt auch ein bestimmtes Gefühl, eben ein Gefühl der Verbundenheit: Wer erkennt, wie die Menschen in Wahrheit zueinander stehen, „fühlt sich allen Wesen im Innern verwandt". 15 Dem Mitleid unterliegt hier also auch ein Gefühl der Verbundenheit, aber es ist seinerseits bedingt durch die Erkenntnis, daß alle Lebewesen in einer All-Einheit vereint sind. - Schopenhauers Vorstellung, daß man im anderen auf sich selbst stoße, ist jenseits des Diskussionswürdigen und braucht uns nicht zu beschäftigen. Ernster zu nehmen ist hingegen seine Auffassung, daß das Mitleid zwar in einem Gefühl der Verbundenheit gründe, dieses Gefühl aber nur Ausfluß der eigentlichen Grundlage des Mitleids sei, nämlich der Erkennt-
10 11 12 13 14 15
Ebd. § 2 2 , S. 267. Ebd. § 2 2 , S. 270. Ebd. § 22, S. 266. Ebd. § 22, S. 270. Ebd.; vgl. auch § 22, S. 273. Ebd. § 22, S. 272.
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nis des wahren Verhältnisses zwischen dem eigenen und dem fremden Ich. Wovon also hängt es ab, ob man sich mit den anderen verbunden fühlt oder nicht - und wovon hängt es gegebenenfalls ab, wie weit der Kreis derer reicht, mit denen man sich verbunden fühlt? Ist dies wirklich eine Frage der Erkenntnis? Wenn wir auf uns und die anderen schauen, sehen wir zunächst ein Feld von Fakten, wir sehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, und überall, wo es Gemeinsamkeiten gibt, gibt es (in anderen Hinsichten) Unterschiede und umgekehrt. Diese Faktenlage kann man „erkennen" und beschreiben; aber ob man angesichts bestimmter Gemeinsamkeiten über alle Unterschiede hinweg ein Gefühl der Verbundenheit oder angesichts bestimmter Unterschiede über alle Gemeinsamkeiten hinweg ein Gefühl der Gleichgültigkeit und der Distanz empfindet, ist nicht durch die Fakten determiniert. Es ist keine Sache der Erkenntnis, sondern eine Frage des Blicks, der Art und Weise, wie man auf die Phänomene schaut und was man an ihnen als hervortretend und bedeutsam wahrnimmt. Ich teile als Mensch mit den höher entwickelten Tieren die Eigenschaft der Leidensfähigkeit. Dies ist eine unleugbare Gemeinsamkeit. Aber stiftet sie notwendigerweise ein Gefühl der Verbundenheit? Nein. Mich trennen von den Tieren, auch solchen, die den Menschen biologisch nahestehen, scharfe Unterschiede. Und es kann sein, daß sie es sind, die über die Gemeinsamkeit der Leidensfähigkeit hinweg meine Haltung den Tieren gegenüber bestimmen und in mir ein Gefühl der Distanz und Fremdheit erwecken, und nicht ein Gefühl der Verbundenheit. Natürlich kann es umgekehrt sein: Die Gemeinsamkeit der Leidensfähigkeit kann das Gefühl hervorrufen, unterhalb aller Unterschiede auf einer elementareren Ebene mit den Tieren verbunden zu sein. Aber das ist, wie gesagt, keine Frage der Erkenntnis, sondern eine Frage der Art und Weise, in der man die Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrnimmt. Auch daß ich mit den anderen Menschen derselben biologischen Gattung angehöre, daß wir also alle Menschen sind, ist eine Gemeinsamkeit, die ein Gefühl der Verbun-
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denheit auslösen kann, aber nicht auslösen muß. Warum sollte - so könnte jemand fragen - gerade diese biologische Tatsache ein Gefühl der Verbundenheit in mir auslösen? Ich fühle mich denen verbunden, mit denen ich wirklich verbunden bin, meinen Verwandten und denen, mit denen ich zusammenlebe. Aber warum sollte ausgerechnet etwas so Allgemeines und Abstraktes wie die Gemeinsamkeit der Gattung ein Verbundenheitsgefühl hervorrufen? Wer es so sieht, macht nichts falsch. Er leugnet oder übersieht nicht irgendwelche relevanten Fakten. Seine Haltung ist nicht zu kritisieren. Mancher wird sie für sich fernliegend und kaum nachvollziehbar finden. Aber das heißt nicht, daß sie irrational oder falsch ist. Ein Gefühl der Verbundenheit entsteht häufig aus gemeinsamen Leiden, aus gemeinsamer Not und gemeinsamer Gefahr. Man kann die Menschen in einer solchen Gemeinschaft der Not sehen. Immer wieder haben Dichter und Philosophen diese Sichtweise der menschlichen Existenz artikuliert und zur Darstellung gebracht. Schon Homer hat, wenn er vom Menschen sprach, gewöhnlich nicht das Wort anthropos, Mensch, verwandt, sondern brotos oder tbnêtos, Sterblicher. Die hervortretende Eigenschaft, die alle Menschen teilen, ist, daß sie sterben müssen. Dies ist ihr gemeinsames, wie Homer fand: elendes Los, hinter dem alle Unterschiede zurücktreten. 16 Der menschlichen Sterblichkeit und der Vergänglichkeit aller Erfolge und allen Glücks innezuwerden und sie als ein Unglück zu empfinden, kann ein basales Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen hervorrufen. In jüngster Zeit hat W. Marx ausdrücklich die Auffassung entwickelt, die gemeinsame Erfahrung der Sterblichkeit könne die Grundlage eines auf alle Menschen ausgedehnten Mitleids sein.17 Diese Erfahrung evoziere ein Gefühl der Verlassenheit und Hilflosigkeit und damit eine Sehnsucht nach Gemeinschaft. Man sehe im anderen Menschen in 16 Vgl. Homer, z.B. Ilias, XXIV, 525 f. 17 Vgl. W. Marx: Ethos und Lebenswelt. Mitleidenkönnen burg 1986) 18-27.
als Maß (Ham-
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diesem Licht einen „Schicksalsgenossen" und wende sich ihm anteilnehmend zu. Natürlich kann man in dieser Weise (gleichsam metaphysisch) an der eigenen Vergänglichkeit leiden und sich verlassen und hilflos fühlen und die anderen in derselben Situation sehen (unabhängig davon, ob sie sich selbst so sehen). Und natürlich kann dies ein Gefühl der Verbundenheit wecken. Aber genauso klar ist, daß dies eine Sichtweise des Lebens neben anderen ist, keine Erkenntnis von Dingen, die so und nicht anders sind. Es ist eine deutende Sicht des menschlichen Lebens, die man haben kann, aber nicht haben muß. An dieser Stelle wird vielleicht eingewandt, was ich gegen Schopenhauer zeigen wolle: daß dem Gefühl der Verbundenheit keine Erkenntnis über das Verhältnis von eigenem und fremdem Ich zugrundeliege, sei ganz richtig, aber meine Beschreibung der Genese dieses Gefühls setze einen falschen Akzent. Die Rede von „Sichtweise", vom „deuten" und „wahrnehmen als" lokalisiere den Unterschied zwischen dem, der ein Gefühl der Verbundenheit (sagen wir: mit allen Menschen) hat, und dem, der es nicht hat, an der falschen Stelle. Denn zu dem, der angesichts des Leids eines anderen Menschen kein Mitleid empfindet, sage man nicht: „Du hast eine andere Sichtweise auf die Dinge", sondern: „Du bist hartherzig, herzlos, kalt. Du lebst in einem Panzer, durch den dich das Los der anderen affektiv nicht erreicht." Es sei richtig, daß das Gefühl der Verbundenheit häufig aus der Gemeinsamkeit des Leidens komme; doch wer von diesem Gefühl nicht ergriffen werde, habe nicht eine andere Wahrnehmung, eine andere Deutung der Dinge, er sei vielmehr hartherzig, er habe zwischen sich und den (meisten) anderen eine unsichtbare Mauer errichtet. O b man sich mit den anderen verbunden fühle, sei mithin eine Frage des Charakters, es sei, prononcierter gesagt, eine Sache des Herzens, nicht des Kopfes. Dieser Einwand kehrt einen wichtigen Aspekt heraus. Fraglich ist allerdings, ob er nicht Dinge auseinanderreißt, die zusammengehören, nämlich die Art, die anderen und die Welt zu sehen, und den Charakter. Eine Sichtweise in dem hier inten-
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dierten Sinne ist in den allermeisten Fällen nichts Bewußtes, Artikuliertes und Ausdrückliches, sondern eine tief in der Person liegende Art, auf die Welt zu schauen und von ihr beeindruckt zu sein. Eine derartige Sichtweise ist damit selbst ein wesentliches Element des Charakters. Ich präzisiere diesen Punkt nicht weiter, weil es hier nicht darum geht, die Genese des Verbundenheitsgefühls im Detail aufzuhellen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß Schopenhauers These, die Basis des Mitleids sei eine Erkenntnis, meines Erachtens falsch ist. Die Grundlage des Mitleids ist ein Gefühl einer elementaren Verbundenheit, und auch dieses Gefühl gründet, gleichgültig wie man seine Genese genau beschreibt, nicht in einer Erkenntnis. Dies ist eine wichtige Einsicht. Sie zeigt, daß man den, der sich mit anderen nicht verbunden fühlt oder nur mit denen, die ihm nahestehen, nicht kritisieren kann. Die Haltung, daß man mit den anderen nichts zu tun hat, daß sie ihre eigene Bahn ziehen und man seine, ist rational möglich. Sie ist denen, die anders sind, fremd; sie wünschen, es wäre anders, sie meiden vielleicht den Umgang mit denen, die so teilnahmslos sind. Aber man kann nicht sagen, daß, wer hartherzig ist, etwas falsch macht. Man kann nur sagen: „Du bist anders." Dieses Ergebnis wird weiter bekräftigt, wenn ich nun zu der zweiten Bedingung komme, die erfüllt sein muß, damit es zum Mitleid kommt. Das Verbundenheitsgefühl ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Hinzu kommen muß die lebendige Präsenz des fremden Leides. Es kommt, wie in der Tradition schon häufig betont wurde 18 , gewöhnlich nicht zum Mitleid, wenn man von einem entfernten Leiden nur abstrakt weiß, aber keine konkrete Anschauung hat. Aber nicht nur dies: Es reicht häufig auch nicht aus, daß der Blick auf das Leiden des anderen fällt. Man muß vielmehr bei dem Leid des anderen gleichsam stehenbleiben, man muß sich in seine Situation hineinversetzen und sie sich, so wie sie für den anderen ist, 18 Vgl. z.B. Hume, Treatise, II, ii, sect. 7, p. 370; Smith, Moral I, i, ch. 1, p. 9.
Sentiments,
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konkret ausmalen. In vielen Fällen regt sich das Mitleid erst, wenn man sich den Zustand des anderen in dieser Weise präsent macht. Je abgestumpfter man gegen das Leid, dem man begegnet, ist, um so mehr ist es nötig, daß man sich selbst oder daß andere einem das fremde Leiden lebendig vergegenwärtigen. Jeder von uns sieht fortwährend Leid, ohne sich darauf imaginativ und infolgedessen auch affektiv einzulassen. Das Mitleid ist insofern immer partikular; es gibt, so könnte man sagen, selbst im eigenen Gesichtsfeld immer mehr Leiden als Mitleid. Deshalb muß jeder in seinem Leben eine Balance finden zwischen der Anteilnahme am Los der anderen und dem eigenen Leben. Dies impliziert imaginative und affektive Beschränkungen. Häufig ist es eine der Ungewißheiten und Unsicherheiten des Lebens, ob man hier das richtige Gleichgewicht gefunden hat oder ob man sich zu sehr, mehr als man eigentlich will, auf sich selbst zentriert hat. In der Fähigkeit und in der Bereitschaft zur Imagination und, damit zusammenhängend, in der Gewohnheit, sich auf die Leiden der anderen imaginativ einzulassen, unterscheiden sich die Menschen stark. In welchem Umfang man das fremde Leiden an sich heranläßt und welche Haltung man in dieser Hinsicht mit der Zeit ausbildet, hängt von vielen Faktoren ab. So sicherlich davon, in welcher Weise und wieviel man selbst gelitten hat, welche Formen des Leidens man kennt, ob man geübt ist, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen, und natürlich auch davon, welche Ideale man hat, eine Person welcher Art man sein will und wie die Welt aussieht, in der man gerne leben möchte. Es ließen sich noch viele andere Faktoren nennen. Klar ist in jedem Fall, daß, welche Haltung man hier einnimmt, zum Teil und sogar zu einem erheblichen Teil eine Frage des Wollens ist. Wir können unsere Fähigkeit und unsere Bereitschaft zur Imagination kultivieren, wir können uns aber auch stumpf und unsensibel machen. O b wir mitleidige Wesen sind oder nicht, hängt also durchaus zu einem großen Teil von uns selbst ab. Wie aber stehen wir zu denen, die ihre Fähigkeit zur Imagination und damit ihre Empfindsamkeit nicht oder nur sehr
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begrenzt kultivieren? Kann man ihnen sagen, daß sie sich irrational verhalten? Übersehen sie Fakten, schätzen sie Fakten falsch ein? Tun sie etwas, was gegen ihre eigenen Interessen ist? Nein, all dies tun sie, wie ich meine, nicht. Was sie tun, ist rational möglich. Vielleicht haben manche höherstufige Interessen oder eine Selbstkonzeption, die es verlangen, sich dem Leid anderer zu öffnen. Dann handelt der, der es nicht tut, gegen seine Interessen und insofern irrational. Aber nur relativ auf Interessen, die man ihrerseits nicht haben muß, die man vielmehr haben kann, aber eben auch nicht haben kann. Dies heißt, daß wir den, der sich gegen das Leiden der anderen stumpf macht, nicht kritisieren können. Es gibt auch hier kein rationales und deshalb auch kein moralisches „ M u ß " . M a n kann zu dem, der das fremde Leiden nicht so nahe an sich herankommen läßt, daß sich Mitleid regt, oder dies nur in sehr begrenztem Ausmaß tut, nur sagen: „Du bist anders." Und dies zeigt erneut, daß man nicht fordern kann, Mitleid zu haben. Ich kann meine bisherigen Überlegungen jetzt zusammenfassen: Auch wenn man nicht nur einfach auf den Widerfahrnischarakter des Mitleids verweist, sich vielmehr klarmacht, daß das Mitleid einen nur unter bestimmten Bedingungen ergreift, auf deren Vorliegen oder Nicht-Vorliegen man wenigstens zum Teil Einfluß hat, ändert sich nichts daran, daß das Gefühl des Mitleids selbst nicht gefordert werden kann. M a n kann auf die Gefühllosigkeit und Unempfindlichkeit dessen, der kein Mitleid empfindet, mit Unwillen und starker Abwehr reagieren. M a n kann voller Befremden und Verwirrung vor ihr stehen und es nicht fassen, wie man ein Mensch sein kann, der kein (oder nur sehr begrenzt) Mitleid empfindet. M a n kann auf den, der so ist, herabschauen und ihn verachten. Aber letzten Endes münden die verschiedenen Reaktionen in der Feststellung: „Du bist anders." 2 . 2 . Diese Einsicht wird durch eine zweite ergänzt: Selbst wenn jemand Mitleid empfindet, muß er nicht so handeln, wie es das Mitleid „will". Das Gefühl des Mitleids enthält einen Hand-
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lungsimpuls, aber es schafft nicht aus sich heraus ein rationales oder moralisches „Muß", diesem Handlungsimpuls zu folgen. Wir sind Wesen, die die Fähigkeit zu überlegen haben und die sich deshalb zu einem affektiven Handlungsimpuls verhalten können. Wir können überlegen, ob es richtig ist, diesem Impuls zu folgen oder dies nicht zu tun. Das ist immer eine offene Frage, die nicht schon durch den Affekt selbst beantwortet wird. Die Notwendigkeit zu überlegen ergibt sich von selbst, wenn mehrere Handlungsmotive konkurrieren, wie es fast immer der Fall ist. Der Mitleidsimpuls ist dann nur einer unter anderen; man muß die verschiedenen Motive folglich gewichten und überlegen, welche Handlung summa summarum die richtige ist. Die Idee, daß hier immer das Mitleid handlungsbestimmend sein müsse und daß es irrational oder unmoralisch wäre, anders zu handeln, ist ganz abwegig. Man muß nicht weit sehen, um das zu erkennen. Wenn ein Mann und eine Frau sich zur Ehescheidung entschließen, werden sie Mitleid mit den Kindern haben, die unter der Trennung leiden werden. Dennoch entscheiden sie sich für die Trennung, und zwar in der Überzeugung, daß es so unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte das Beste ist, trotz des Mitleids und des aus ihm kommenden gegenläufigen Handlungsimpulses. Dieser Handlungsimpuls setzt sich also nicht durch. Und es wäre unsinnig, zu behaupten, das Mitleid müsse allein die Handlungswahl bestimmen. So wie das Leben ist, ist es immer wieder unausweichlich, anderen Leiden zuzufügen. Man denke auch an die schon erwähnten Situationen moralischer und rechtlicher Sanktionierung. Hier kann man durchaus mit dem Übeltäter, der harte Sanktionen hinnehmen muß, Mitleid haben. Aber um der moralischen und rechtlichen Ordnung willen wird man die Sanktionierung dennoch vornehmen bzw. bejahen. Hier könnte erneut jemand einwenden, daß alles Gesagte zwar richtig sei, aber doch am entscheidenden Punkt vorbeigehe. Wer behaupte denn, daß man in allen Fällen dem Handlungsimpuls, der dem Mitleid innewohnt, folgen müsse? Das sei eine Maximalposition, die in der Tat unsinnig sei. Es gebe klarer-
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weise einen Konflikt zwischen dem aus dem Mitleid kommenden Handlungsmotiv und solchen Motiven, die aus dem Eigeninteresse kommen; und es gebe, das sei zugestanden, Situationen, in denen egoistische Motive so stark seien, daß man nicht fordern könne, sie zugunsten des Mitleidsimpulses zu übergehen. Aber diesseits einer Grenze, die genauer zu bestimmen sei, sei es eben doch moralisch geboten, dem Mitleidsimpuls den Vorrang vor den egoistischen Handlungsmotiven zu geben und zugunsten des anderen zu handeln, so wie es das Mitleid „wolle". So müsse, um ein Beispiel zu geben, das Mitleid mit den Tieren, die durch die industrielle Form der Massentierhaltung Qualen erleiden, Vorrang haben vor dem Interesse, häufig Fleisch zu essen, das wenig kostet. Dies sei moralisch verpflichtend. Und so sei es auch in allen anderen Fällen bis zu der genannten Grenze, an der das Interesse an der Selbsterhaltung und am Leben des eigenen Lebens ins Spiel kommt. - Aber wo kommt diese moralische Verpflichtung her? Das ist die Frage, die jeder beantworten muß, der diesen Einwand erhebt. Pflichten fallen nicht einfach vom Himmel. Und auch ein Gefühl kreiert nicht aus sich heraus eine Pflicht. Moralische Pflichten resultieren, wie wir fanden, aus Interessen, die jeder hat, und aus Agreements, die diesen Interessen entsprechen und die erst moralische Rechte und Pflichten konstituieren. Das Interesse, im Konflikt zwischen Mitleid und Eigeninteresse dem Mitleid den Vorrang zu geben, sofern die eigenen Interessen nicht ganz elementar sind, ist aber kein Interesse, das jeder faktisch hat oder rationalerweise haben muß und das man deshalb jedem unterstellen kann. Es ist vielmehr ein Interesse, das man haben kann, aber nicht haben muß. Es ist rational möglich, aber nicht rational zwingend. Wer es nicht hat, verhält sich nicht irrational. Da man es dem anderen also nicht fraglos unterstellen kann, kann aus diesem Interesse keine moralische Verpflichtung hervorgehen, die als solche den anderen bindet. Wer will, daß sich im Konflikt zwischen Mitleid und Eigeninteresse das Mitleid durchsetzt und die Menschen entsprechend handeln, hat ein Ideal. Er hat die Vorstellung einer
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besseren Welt, die er durch sein Handeln zu befördern sucht und die er auch durch das Handeln der anderen befördert sehen möchte. Aber er kann dies von den anderen nicht fordern. Er kann von ihnen nicht fordern, daß sie sein Ideal teilen. Damit ist klar: Wer im Zuge dieses Ideals gegen egoistische Handlungsimpulse aus Mitleid zugunsten anderer handelt, handelt altruistisch, nicht moralisch. Denn sein Handeln hat nicht die für moralisches Handeln definitive Charakteristik des Gefordertseins. Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch, daß der, der in einzelnen Situationen Mitleid empfindet, nicht verpflichtet ist, sich die Maxime zu geben, jedem leidenden Wesen, so weit er kann, zu helfen und keinem leidensfähigen Wesen Leiden zuzufügen. Wie es keine moralische Pflicht ist, dem Mitleidsimpuls Vorrang vor gegenläufigen eigeninteressierten Handlungsmotiven zu geben, so besteht auch keine Verpflichtung, sich eine solche Maxime zu geben und damit das aktuell empfundene Mitleid in eine Haltung des generalisierten Mitleids zu transformieren. Man kann diese Haltung ausbilden, aber muß es nicht. Wer das Ideal hat, dann, wenn er Mitleid empfindet, diesem Gefühl auch zu folgen und entsprechend zu handeln, wird vielleicht auch das weitergehende Ideal ausbilden, generell aus einer Haltung des universalisierten Mitleids, also unabhängig vom faktischen Auftreten des Gefühls, zugunsten anderer zu handeln. Dieses Ideal ist möglich, es ist aber nichts, was man von einem anderen fordern kann, und nichts, aus dem sich moralische Pflichten ergeben. 2.3. Die vorangegangenen Darlegungen zeigen nicht nur, daß das Mitleid und das Handeln aus Mitleid, sei es aus einem aktuellen Mitleidsgefühl oder aus einer Haltung des generalisierten Mitleids, nicht Inhalt der Moral ist, sie zeigen auch, daß das Mitleid nicht das Fundament der Moral sein kann. Aus dem Mitleid entstehen keine moralischen Rechte und Pflichten. Das Gegenteil ist verschiedentlich behauptet worden, nicht von Schopenhauer, aber, wie wir sahen, z.B. sehr deutlich von
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Wolf. Schopenhauer unternimmt in seiner Ethik nichts, um vom Mitleid zu moralischen Rechten und Pflichten zu kommen. Er begnügt sich vielmehr damit, herauszustellen, daß einige Handlungen zugunsten anderer aus Mitleid getan werden und daß allein diese Handlungen moralisch zu nennen sind und Anerkennung und Bewunderung verdienen. 19 W o l f hingegen meint, wer die Grundeinstellung des generalisierten Mitleids habe, könne all denen, die leiden können, ein Recht auf moralische Berücksichtigung verleihen. Auf diese Weise komme es dazu, daß wir gegenüber allen leidensfähigen Wesen zu moralischer Rücksicht verpflichtet seien. 20 Ich habe das entscheidende Argument gegen diese Vorstellung bereits im Kontext der Frage, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist, vorgebracht 2 1 : Die Haltung des generalisierten Mitleids ist, wie wir jetzt noch einmal sahen, nur eine mögliche Haltung; man kann sie haben, man kann sie aber auch nicht haben. Folglich sind die aufgrund dieses Selbstverständnisses verliehenen moralischen Rechte notwendigerweise Rechte, die die Rechtsträger nur bestimmten Menschen gegenüber haben, eben denen gegenüber, die diese Haltung des generalisierten Mitleids haben. Dies bedeutet aber, daß der Begriff des moralischen Rechts hier fehl am Platze ist und etwas vortäuscht, was gar nicht gegeben ist. Denn ein moralisches Recht zu haben, heißt, daß die anderen etwas tun oder unterlassen müssen, gleichgültig welches Selbstverständnis, welche Lebenseinstellung, welche Gefühle, Ideale
19 Schopenhauer, Grundlage der Moral, § 13, S. 195. 2 0 Wolf, Tier iti der Moral, 81, 83. - Wolf sagt sogar, die Haltung der Rücksicht auf alle leidensfähigen Wesen „bedeutet ja gerade, daß wir diesen Wesen ein grundsätzliches Recht auf solche Berücksichtigung verleihen" (S. 81, Hervorhebung von mir). Diese Formulierung geht gewiß zu weit. Denn warum sollte man diese Haltung nicht haben können, ohne daß deshalb die leidensfähigen Wesen ein Recht auf Rücksicht haben und man selbst zur Rücksichtnahme verpflichtet ist? Natürlich ist es möglich, auf andere Rücksicht zu nehmen, ohne daß diese einen moralischen Anspruch darauf haben. 2 1 Vgl. § 8, S. 2 6 8 f.
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und Präferenzen sie haben. Sie müssen es tun, Punkt. Im Ausgang vom Mitleid kommt man aber nicht zu einem Müssen dieser Art, man kommt nicht zu einem moralischen Müssen, dem jeder unterliegt, gleichgültig was für eine Person er ist. Und deshalb kommt man nicht dahin, daß die Wesen, mit denen man Mitleid haben kann, wirkliche moralische Rechte haben. Dies ist die entscheidende Überlegung. Eine andere kommt hinzu. Wolfs Konzeption läuft auf die Aussage hinaus: W o Mitleid und die Haltung des generalisierten Mitleids, da auch moralische Rechte und Pflichten. Wäre es so, wäre die Etablierung des Moralischen eigentlich überflüssig. Denn wo ohnehin - aufgrund einer altruistischen Haltung - zugunsten anderer gehandelt wird, bedarf es der moralischen Ordnung mit moralischen Rechten und Pflichten nicht. Die Moral entspringt gerade der Absicht, sicherzustellen, daß die Menschen auch dann, wenn sie keine altruistischen Gefühle oder Ideale oder Interessen haben, bestimmte Handlungen unterlassen bzw. tun. Die Moral hat gerade die Funktion, zu sichern, daß die Menschen unabhängig davon, wie sie sich verstehen, wie sie empfinden und welche speziellen Interessen sie verfolgen, ihre Handlungsfreiheit in bestimmter Weise einschränken. Eine Moral, die aus einer Haltung des Mitleids käme, würde diesen Zweck nicht erfüllen. Die Erfindung des Moralischen ist, anders gewendet, nötig, weil die Wirkung des Mitleids wie auch anderer Quellen altruistischen Handelns begrenzt ist: es bilden nicht alle die Haltung des generalisierten Mitleids aus, und es haben nicht alle altruistische Ideale. Um diese Partikularität zu kompensieren und ihr zum Trotz einen Grundstock von Handlungen zugunsten anderer zu sichern, bedarf es einer moralischen Ordnung mit moralischen Rechten und Pflichten, die jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft gegenüber jedem anderen hat, unabhängig von seinen altruistischen Idealen und Gefühlen. Das heißt, die Moral hat gerade da ihren Ort, wo partikulare Phänomene wie altruistische Gefühle und Interessen nicht hinreichen. Und deshalb kann die Moral, wie ich meine, nicht aus dem Gefühl des Mitleids kommen.
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3. Ich möchte, dieses Kapitel abschließend, auf einen Punkt eingehen, der in den Überlegungen zum altruistischen Handeln bisher zu kurz gekommen ist. Wenn jemand in einer Situation, in der man es erwartet hätte, nicht altruistisch handelt, weil er das entsprechende Ideal nicht hat oder kein Mitgefühl empfindet, kann man sich, so habe ich immer wieder gesagt, nicht empören, man kann nur konstatieren: „Du bist anders." Dies ist die zentrale Reaktion, die uns im Bereich des Altruistischen immer wieder begegnet ist. Nun hört sich dieses „Du bist anders" vielleicht sehr resignativ an. Und tatsächlich mag es sein, daß man in manchen Situationen versucht ist, dem „Du bist anders" anzufügen: „Ich kann, daß du so bist, nicht ändern, und wahrscheinlich kann auch sonst niemand etwas daran ändern." Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir uns in den meisten Fällen anders verhalten. Wir versuchen auf den anderen einzuwirken, ihn zu verändern. Und wenn nicht ihn, dann andere. Wir versuchen, andere für die eigenen Ideale zu gewinnen, wir versuchen, ihre Sichtweisen zu verändern und sie für fremdes Leid zu sensibilisieren. Wir agieren also in der Hoffnung, daß das „Du bist anders" nicht das letzte Wort sein wird, daß wir die Menschen und mit ihnen die Welt vielmehr so verändern können, daß die Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was wir wollen, kleiner wird. Die größten Einflußmöglichkeiten haben wir naturgemäß bei der Erziehung von Kindern. Die Erziehung zu altruistischen Idealen und zum Mitgefühl wie überhaupt das Engagement für die Quellen altruistischen Handelns gewinnt an Dringlichkeit, wenn man sich das wesentliche Ergebnis der vorangegangenen Untersuchungen vergegenwärtigt, nämlich daß unser Handeln zugunsten anderer weit mehr als gewöhnlich angenommen altruistisches Handeln und weit weniger moralisches Handeln ist. Weil die aufgeklärte, rationale Moral nur eine Minimalmoral ist, hängt, wie wir miteinander leben, weit mehr von altruistischen Idealen und Interessen, von Selbstkonzepten und vom Mitgefühl ab. Eben deshalb ist das Engagement für das Altruistische so wichtig. -
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Dieses Engagement ist kein Engagement für wahre Überzeugungen. Es geht nicht darum, weder bei den Idealen noch beim Mitleid, den anderen dazu zu bewegen, bestimmte Überzeugungen als wahr zu akzeptieren. Es geht nicht darum, daß er bestimmte Fakten realisiert und Irrtum oder Nicht-Wissen durch Wissen ersetzt. Das „Du bist anders" konstatiert nicht eine Differenz im Wissen, sondern eine Differenz im Wollen und Fühlen. Wer den anderen für die eigenen Ideale gewinnen will, kann dies also nicht durch Belehrung und Information tun, er muß ihm vielmehr die gewollte ideale Welt nahebringen, er muß ihm ein möglichst anschauliches und lebendiges Bild von dieser Welt geben und deutlich machen, warum sie für ihn attraktiv ist. Wenn er dies tut, kann er hoffen, daß die so präsentierte Welt auch auf den anderen wirkt, daß sie auch ihn anzieht, daß also auch er sie attraktiv findet und deshalb beginnt, sein Verhalten gegenüber anderen an diesem Ideal auszurichten. Beim Mitleid geht es zum einen darum, im anderen, soweit es nicht schon vorhanden ist, ein basales Gefühl der Verbundenheit mit anderen zu wecken, auch mit denen, die nicht zu seinem engsten Lebensumfeld gehören. Ein solches Gefühl der Verbundenheit ist, wie wir sahen, eine der Voraussetzungen des Mitleids. Man muß versuchen, dem anderen eine Sichtweise auf die Welt nahezubringen, in der Gemeinsamkeiten mit anderen hervortreten und in der diese Gemeinsamkeiten als eine Verbundenheit stiftend wahrgenommen werden. Man muß den anderen also dafür gewinnen, in den anderen Zugehörige zu einer Gemeinschaft zu sehen, sie als „welche von uns" zu sehen und nicht als Fremde, deren Ergehen ihn nichts angeht und kalt läßt. Zum anderen muß man, wenn man mehr Mitleid und mehr durch Mitleid motiviertes altruistisches Handeln will, die Fähigkeit, sich in die Lage anderer hineinzuversetzen und einzufühlen, fördern. Wer es gelernt hat, sich in die Situation und damit auch in das Leiden anderer hineinzuversetzen, wird stärker von fremdem Leid angesprochen und eher Mitleid empfinden als jemand, der diese Fähigkeit des Sich-Einfühlens nicht
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trainiert hat. Die durch Übung ausgebildete und verbesserte empathische Imagination und die damit einhergehende gesteigerte Sensibilität macht es schwerer, das Leid des anderen nicht an sich herankommen zu lassen und mitleidlos an ihm vorbeizugehen. O f t wird darauf hingewiesen, daß die Beschäftigung mit Literatur ein W e g sei, die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, zu entwickeln und zu steigern. Literatur zeige uns anschaulich und eindringlich die vielfältigen Formen des Leidens, nicht von außen, aus der Perspektive des Beobachters, sondern von innen, aus der Perspektive des Leidenden, sie zeige mit der Kraft des Konkreten, was es bedeutet, zu leiden. Ohne Zweifel ist die Erziehung zum Umgang mit Literatur ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung zum Mitgefühl und damit auch zum altruistischen Handeln. Es gibt viele andere Wege. Grundlegend ist hier die Einsicht, daß das Mitleid mit anderen, zumindest wenn es über die Nächsten hinausgeht, nicht einfach „ v o n Natur aus" da ist; es ist vielmehr ein Ergebnis menschlicher Selbstformung, einer Selbstformung, die verschiedene Ausprägungen und ein Mehr und Weniger kennt. D a ß man selbst und die anderen sensibel für das Leid anderer ist und daß die Reichweite des Mitgefühls nach und nach größer und größer wird, ist dabei selbst ein Ideal, ein Bild von einer besseren Welt, in der die Menschen in größerem M a ß e aufeinander und vielleicht auch auf andere leidensfähige Wesen Rücksicht nehmen.
§ 1 1 Geteilte Ideale und Quasi-Moralen 1. Ich habe bisher von den altruistischen Idealen so gesprochen, als sei es etwas Individuelles, solche Ideale zu haben oder nicht zu haben und gerade diese zu haben und nicht jene. Häufig sind altruistische Ideale aber nicht Ideale einzelner Individuen, sondern geteilte Ideale, also Ideale, die eine Gruppe von Menschen gemeinsam hat. Eine Gemeinschaft oder Gesellschaft hat häufig dieselben sozialen Ideale oder zumindest zum Teil dieselben. Die Ursache für diese Übereinstimmung ist eine gemeinsame Tradition und Geschichte, eine gemeinsame Kultur und Lebensweise und, damit zusammenhängend, eine gleichförmige Erziehung und soziale Prägung. Natürlich können sich auch verschiedene Lebensformen so überschneiden, daß sich trotz ihrer Unterschiede eine (zumindest teilweise) Konvergenz der Ideale ergibt. Eine Gruppe von Menschen kann zum Beispiel das Ideal der Gleichheit und Gerechtigkeit, von dem ich gesprochen habe, teilen. Diese Menschen sind sich darin einig, daß sie eine Welt wollen, in der unterschiedslos alle Menschen in ihren basalen Interessen respektiert werden und in der Güter (und Übel) so aufgeteilt werden, daß jeder in gleicher Weise berücksichtigt wird. Einige mögen dieses Ideal in einer weitergehenden Form haben, sie mögen wollen, daß auch Foeten und zukünftige Generationen berücksichtigt werden, sie mögen wollen, daß natürliche Ungleichheiten bei Fähigkeiten und Talenten so gut es geht ausgeglichen werden; andere mögen das Ideal hingegen nicht in dieser Weise ausweiten wollen. Unterhalb dieser Unterschiede sind sie sich aber, so hier die Annahme, einig, daß sie Gleichheit und Gerechtigkeit wollen. Aufgrund dieses geteilten sozialen Ideals entsteht in dieser Gruppe eine Form des Zusammenlebens, in der jeder mehr zugunsten anderer tut, als es die Moral verlangt: alle handeln aufgrund
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des geteilten Ideals altruistisch, und zwar (bis zu einer bestimmten Grenze) in übereinstimmender Weise. Wir haben gesehen, daß jeder einzelne dabei starke Motive hat, so zu handeln. Das eigentliche Motiv ist das Haben des Ideals selbst, das den Willen impliziert, das Ideal zu realisieren und entsprechend zu handeln. Wer gegen sein Ideal handelt, handelt folglich gegen sein eigenes Wollen und verhält sich damit unklug. In vielen Fällen ist, das Ideal zu haben und entsprechend zu handeln, überdies ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses und des Selbstbildes. Hieraus resultiert ein zusätzliches Motiv, idealkonform zu handeln, nämlich das Bestreben, das drohende Schamgefühl zu vermeiden und den Respekt vor sich selbst zu wahren. Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Ein soziales Ideal zu haben, bedeutet, eine Welt zu wollen, in der man sich nicht nur selbst über das Moralische hinaus zugunsten anderer verhält, sondern dies auch die anderen tun. Daß es auch die anderen tun, ist Voraussetzung für die Realisierung des eigenen Ideals. Deshalb hat jedes der durch das gemeinsame Ideal verbundenen Gruppenmitglieder ein starkes Interesse an dem Verhalten der anderen. Jeder will, daß sich auch die anderen idealkonform verhalten. Hieraus folgt, daß der, der es nicht tut, mit der Enttäuschung und dem Unwillen der anderen rechnen muß. Der Wunsch, diese negativen Reaktionen zu vermeiden, ist ein weiteres Motiv, sich dem Ideal entsprechend zu verhalten. Offenkundig besteht also für jeden, gegeben das Ideal, ein aus mehreren Quellen gespeistes rationales, prudentielles „ M u ß " , idealkonform zu handeln. Jeder hat starke Motive, so zu handeln. Dennoch kann der Wunsch entstehen, die Wirkkräfte zugunsten des idealkonformen Verhaltens noch weiter zu verstärken. Hinter diesem Wunsch steht vor allem die Angst, die anderen könnten es mit dem gemeinsamen Ideal und dem entsprechenden Verhalten nicht so ernst nehmen wie man selbst. Deshalb möchte man, daß es für sie möglichst zwingend ist, dem gemeinsamen Ideal zu folgen. Im einzelnen sind es vor allem folgende Überlegungen, die den Wunsch nähren, den Druck zugunsten des idealkonformen Handelns zu verstärken.
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(1) Einem Ideal zu folgen, kann bisweilen mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden sein. In Situationen dieser Art kann man schwankend werden und versucht sein, das Ideal Ideal sein zu lassen. J e stärker aber die Motive zum idealkonformen Handeln sind, um so unwahrscheinlicher ist diese Möglichkeit. (2) Die Menschen handeln gelegentlich infolge von Affekten und Augenblickseingebungen gegen das, was sie eigentlich wollen. Auch hierin liegt ein Risiko für das idealkonforme Handeln. Deshalb gilt auch hier: J e stärker die Motive, um so unwahrscheinlicher das Handeln gegen das Ideal. (3) Sehr wichtig ist ein dritter Punkt: Wenn einige der anderen das Ideal zwar auch haben, ihm aber nur lasch folgen, kann man, davon ungerührt, für sich weiter idealkonform handeln und sich sagen, daß die Welt durch das eigene Handeln zumindest punktuell in die gewünschte Richtung verändert wird. Es profitieren immerhin die wenigen von dem Ideal, denen gegenüber man sich selbst altruistisch verhält. Es könnte aber auch sein, daß die eigene Einstellung ebenfalls lascher wird, weil man sich sagt, daß die eigenen Anstrengungen nicht zur Realisierung des Ideals führen werden, wenn die anderen nicht richtig mitziehen. Das Engagement für das Ideal wird so schwächer, und dies kann wiederum andere anstecken und dazu veranlassen, das idealkonforme Verhalten und damit das Ideal selbst nach und nach aufzugeben. So kann es zu einem sich verstärkenden Sog nach unten kommen, der die Wirksamkeit des gemeinsamen Ideals immer schwächer werden läßt und an dessen Ende sich jeder sagt, daß es mit denen, mit denen man es zu tun habe, unmöglich sei, das Ideal zu realisieren. So kommt es nicht zur Verwirklichung des Ideals, obwohl ursprünglich alle Mitglieder der Gruppe dieses Ideal haben und es verwirklichen wollen. Statt des Sogs nach unten kann indessen auch ein Sog nach oben entstehen: Wenn ich sehe, daß die anderen das Ihre tun, um die bessere Welt zu realisieren, kann das ein Ansporn für mich sein, auch meinerseits alles für die Realisierung des gemeinsamen Ideals zu tun. Und dies kann wiederum das Engagement anderer stärken. Um das Verhalten möglichst aller in
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diese Richtung zu lenken, ist es aus der Perspektive aller wünschenswert, daß für jeden einzelnen der Antrieb, sich idealkonform zu verhalten, so stark wie eben möglich ist. Und das heißt, daß eine Verstärkung der Motive aus der Perspektive aller wünschenswert ist. - Eine andere Überlegung führt zu demselben Ergebnis. M a n muß sehen, daß etwa das Ideal der gerechten Verteilung für eine Reihe von Gruppenmitgliedern eine Schlechterstellung bedeutet. Die Stärkeren und Bessergestellten nehmen für dieses Ideal Nachteile in Kauf. Denn ohne das Ideal, im freien Spiel der Kräfte, fielen ihnen mehr Güter zu als unter den Bedingungen gerechter Verteilung. Nun kann es sein, daß sie nur dann bereit sind, diese Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn das Ideal auch wirklich Aussicht auf Realisierung hat, d.h. wenn sich auch die anderen für die Verwirklichung des Ideals einsetzen. Während sie, wenn diese Aussicht nicht besteht, nicht bereit sind, für eine bloß marginale Realisierung des Ideals die Nachteile in Kauf zu nehmen. Auch in dieser Situation erweist sich der Blick auf die anderen als entscheidend für das, was man selbst tut. Und durch diese Abhängigkeit des eigenen Verhaltens von dem der anderen entsteht erneut die Gefahr des Sogs nach unten. Und deshalb ist es auch hier vernünftig, dem entgegenzuwirken, indem man die Motive zum idealkonformen Handeln möglichst stark macht. (4) Es wäre kurzsichtig, zu glauben, nur im Blick auf das mögliche Verhalten der anderen und nicht auch im Blick auf das eigene Verhalten sei es wünschenswert, die Kräfte zugunsten des idealkonformen Verhaltens zu verstärken. Nicht nur die anderen, auch man selbst kann durch ungünstige Umstände, Affekte und Augenblickseingebungen vom idealkonformen Verhalten abgehalten werden. Deshalb ist man daran interessiert, auch das eigene zukünftige Verhalten festzulegen, es gleichsam festzubinden. M a n ist folglich an Umständen interessiert, die einen möglichst in allen Situationen dazu bewegen, das zu tun, was man eigentlich will, nämlich dem eigenen Ideal zu entsprechen. Solche Umstände würden das eigene Engagement stabilisieren und verfestigen.
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Die Mitglieder der Gruppe können also im Zuge dieser Überlegungen den Wunsch haben, das schon vorhandene prudentielle „Muß", sich idealkonform zu verhalten, zu verstärken. Dies ist, wie die Untersuchungen zum moralischen Müssen gezeigt haben, durch die Etablierung eines zusätzlichen, künstlichen Müssens möglich. Auf welchem Wege man ein solches künstliches Müssen schafft, ist nach den Analysen zum moralischen Müssen ebenfalls klar: Man schafft es, indem man übereinkommt, idealwidriges Handeln künstlich mit negativen Konsequenzen, sprich: mit Sanktionen zu verknüpfen. Die Mitglieder der Gruppe müssen also ein Agreement dieses Inhalts treffen, sie müssen gemeinsam ein System von Sanktionen schaffen, die den treffen, der gegen das gemeinsame Ideal handelt. Die Sanktionen sind auch hier zunächst informelle soziale Sanktionen, also verschiedene Formen des sozialen Drucks und der sozialen Ausgrenzung, bewußt und in strafender Absicht praktiziert. Wer dem entgehen will, muß so handeln, wie es dem gemeinsamen Ideal entspricht. Aufgrund der Sanktionierung hat somit jeder ein zusätzliches Motiv, sich idealkonform zu verhalten. Und genau dies ist das Ziel des Agreements. Das durch die Gruppe auf diese Weise künstlich etablierte Müssen ist wie das moralische Müssen ein helfendes, ein hinzukommendes Müssen, das ein zugrunde liegendes bloß prudentielles Müssen verstärkt. Und es ist wie das moralische Müssen ein sanktionskonstituiertes Müssen. Ich habe oben in § 4 zwei Formen des sanktionskonstituierten Müssens unterschieden, das erpresserische und das verpflichtende Müssen. 1 Im Falle des erpresserischen Müssens ist die Person oder Personengruppe, die das Müssen schafft und die Sanktionen androht und gegebenenfalls verhängt, dazu in keiner Weise berechtigt. So hat der Straßenräuber, der einem Passanten die Pistole auf die Brust setzt und die Herausgabe des Geldes fordert, keine Berechtigung, dies von dem Passanten zu verlangen. Deshalb ist
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Vgl. § 4, S. 108.
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der Passant auch nicht verpflichtet, das Geld herauszugeben. Im Falle des verpflichtenden Müssens ist eine solche Berechtigung hingegen gegeben. In einer religiösen Weltsicht ist Gott, so hatten wir gesehen, aufgrund seiner einzigartigen Position dazu berechtigt, die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen; und eben weil er dazu berechtigt ist, sind seine Gebote und Verbote verpflichtend. Und auch in einer Moral, die die Menschen selbst hervorbringen, indem sie bestimmte Handlungen mit negativen Konsequenzen verknüpfen, sind diejenigen, die die Sanktionen verhängen, dazu berechtigt. Sie sind dazu durch die Urheber der Moral, die zugleich auch ihre Adressaten sind, ermächtigt. Das Müssen, das die Mitglieder der durch das gemeinsame Ideal verbundenen Gruppe zusätzlich schaffen, ist hiernach klarerweise kein erpresserisches Müssen. Denn auch hier sind die, die die Sanktionen verhängen, dazu berechtigt. Der Sanktionierung des idealwidrigen Verhaltens liegt der gemeinsame Wille der Mitglieder der Gruppe zugrunde. Auch hier haben wir es mit einem Müssen zu tun, dessen Adressaten zugleich auch seine Urheber sind. Es handelt sich also um ein verpflichtendes Müssen, um ein Müssen, das Pflichten und das heißt auch: Rechte schafft. Die Mitglieder der Gruppe sind, wenn sie das idealkonforme Verhalten in der genannten Art zum Gegenstand eines sanktionskonstituierten Müssens machen, verpflichtet, sich entsprechend zu verhalten. Sie sind verpflichtet, zugunsten derer zu handeln, die durch das geteilte Ideal begünstigt werden. Und wenn dies so ist, dann haben die Begünstigten ein Recht darauf, in dieser Weise behandelt zu werden. Durch die Schaffung des zusätzlichen Müssens entsteht also, ganz wie bei der Moral, eine Rechtsgemeinschaft mit Pflichten und Rechten. Dabei ist, was der Inhalt dieser normativen Ordnung ist, durch die zugrunde liegenden geteilten Ideale bestimmt. Natürlich stellt sich hier sofort die Frage, wie dieses durch die Gruppe etablierte Müssen zum moralischen Müssen steht. Ist es, da es ein sanktionskonstituiertes und zudem ein verpflichtendes Müssen ist, nicht selbst ein moralisches Müs-
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sen? - Nein, es ist kein moralisches Müssen. Es ist wichtig, zu verstehen, warum nicht. Der entscheidende Grund liegt darin, daß das moralische Müssen ein kategorisches Müssen in dem Sinne ist, daß es nicht relativ auf Interessen, Präferenzen und Ideale ist, die man haben, aber auch nicht haben kann. Das moralische Müssen ist zwar (wie jedes praktische Müssen) ein relatives Müssen (und insofern nicht kategorisch im kantischen Sinne), aber eben relativ auf Interessen, die jeder notwendigerweise hat und die man deshalb jedem unterstellen kann. Dem moralischen Müssen kann sich deshalb niemand entziehen, indem er darauf verweist, daß er die Interessen, auf denen das Müssen basiert, gar nicht hat. Das von der Gruppe auf der Basis der geteilten Ideale etablierte Müssen ist hingegen relativ auf diese Ideale. Diesem Müssen unterliegt nur der, der die Ideale hat; wer sie nicht hat, wird von diesem Müssen nicht erreicht. Dieses Müssen ist deshalb nicht kategorisch. Will man die kantischen Termini verwenden, kann man sagen: Das durch die Gruppe etablierte Müssen ist ein problematisches hypothetisches Müssen, während das moralische Müssen ein assertorisches hypothetisches Müssen ist. 2 Ich werde die normative Ordnung, die die Gruppe auf der Basis gemeinsamer Ideale schafft, „Quasi-Moral" nennen. Sie ist etwas Moral-Ähnliches, aber selbst keine Moral. Sie gehört vielmehr in den Bereich des Altruistischen; denn ihre Basis sind altruistische Ideale. Das Müssen der Quasi-Moral nenne ich „quasi-moralisches" Müssen. Es ist, wie gesagt, ein verpflichtendes Müssen, aber die mit ihm entstehenden Rechte und Pflichten sind keine moralischen, sondern nur quasi-moralische Rechte und Pflichten. Quasi-moralische Pflichten sind, das ist nun klar, solche, die ein altruistisches Ideal auf Seiten des Verpflichteten voraussetzen. M a n muß, wenn man wissen will, ob jemand zu etwas quasi-moralisch verpflichtet ist, wissen, ob er zu der Gruppe gehört, die das vorausgesetzte Ideal teilt und
2
Vgl. hierzu oben § 7, S. 2 0 8 f.
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deswegen eine entsprechende Quasi-Moral geschaffen hat. Quasi-moralische Rechte sind solche, die ihre Träger nur gegenüber bestimmten Personen haben, nämlich nur gegenüber Mitgliedern der Gruppe, die die entsprechende Quasi-Moral hat. Der Träger eines solchen Rechtes kann nicht gegenüber jedermann auf sein Recht pochen, er muß wissen, daß der andere der Gruppe angehört. Dies zeigt deutlich, daß ihm dieses Recht nicht aus der Moral, sondern nur aus einer QuasiMoral zuwächst. Natürlich sind auch die Forderungen, die die Träger quasi-moralischer Rechte an die Gruppenmitglieder richten können, nur quasi-moralische und keine echten moralischen Forderungen. Das Unterschiedensein von Moral und Quasi-Moral spiegelt sich deutlich in folgender Differenz. In der Moral hatte sich eine strikt symmetrische Konfiguration von Rechten und Pflichten ergeben. Jeder, der moralische Pflichten hat, hat auch moralische Rechte, und jeder, der moralische Rechte hat, hat auch moralische Pflichten. Man hat, mit anderen Worten, nur denen gegenüber moralische Pflichten, denen gegenüber man auch moralische Rechte hat, und nur denen gegenüber moralische Rechte, denen gegenüber man auch moralische Pflichten hat. In einer Quasi-Moral ist es anders, zumindest kann es, je nach Ideal, anders sein. Pflichten können in einer Quasi-Moral naturgemäß nur die haben, die Mitglieder der Gruppe sind und den Gruppensanktionen unterworfen sind. Träger der durch die Quasi-Moral entstandenen Rechte können aber Menschen oder Lebewesen außerhalb der Gruppe sein, so daß es in diesem Fall Rechtsträger gibt, die keine entsprechenden Pflichten haben. Es ergibt sich folglich eine asymmetrische Konfiguration von Rechten und Pflichten. In dieser Asymmetrie kommt zum Ausdruck, daß dem durch die Gruppe geschaffenen quasi-moralischen Müssen und der damit entstandenen normativen Ordnung ein altruistisches Ideal zugrundeliegt. Jedes Gruppenmitglied hat das Ideal, auch dort Rücksicht zu nehmen, wo es nicht darauf angewiesen ist, dies zu tun. Jeder tut dies eben nicht, um im Gegenzug dasselbe von den anderen zu bekom-
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men, sondern einseitig infolge seines Ideals. Wird das idealkonforme Handeln durch die Etablierung einer Quasi-Moral verrechtlicht, kommt es zu einseitigen Pflichten und einseitigen Rechten. Die Moral ist hingegen eine Ordnung strenger Reziprozität. Denn sie ist, wie wir sahen, eine Ordnung, die zu wollen auch der moralische Skeptiker Grund haben muß. Der Skeptiker hat aber keine altruistischen Ideale, keine altruistischen Interessen und Präferenzen. Er verleiht deshalb dem anderen nur dann ein Recht, wenn er im Gegenzug dasselbe Recht von ihm erhält und wenn dieser Tausch für ihn von Vorteil ist. Unter den Bedingungen der Moral kommt es folglich nur zu einem Tausch der Rechte und Pflichten und damit zu einer symmetrischen Konfiguration. Es könnte sein, daß die Idee quasi-moralischer Rechte und Pflichten auf Widerstand stößt und eingewandt wird, dies seien keine echten Rechte und Pflichten, allenfalls etwas Ähnliches. Eine Pflicht, der nicht jedermann unterliege und der man sich entziehen könne, sei keine. Der hier so genannten quasi-moralischen Pflicht unterliege nur das Mitglied der Gruppe, und auch das könne sich ihr entziehen, indem es das vorausgesetzte Ideal aufgebe. - Mit diesem Einwand stoßen wir von einer anderen Seite erneut auf den zentralen Unterschied zwischen einer quasi-moralischen und einer moralischen Pflicht. Denn moralische Pflichten sind in der Tat dadurch ausgezeichnet, daß sich ihnen niemand entziehen kann. Darin liegt gerade ihre Kategorizität. Aber in der Tatsache, daß es bei einer quasimoralischen Pflicht anders ist, liegt kein Grund, zu leugnen, daß sie eine echte Pflicht ist. Nicht alle Pflichten sind moralische Pflichten. Wir kennen viele Arten von Pflichten, denen man sich entziehen kann, ohne daß sie deswegen aufhören, echte Pflichten zu sein. Man denke an juridische Pflichten, denen nur die unterliegen, die der jeweiligen Rechtsgemeinschaft angehören. Solange man Mitglied dieser Gemeinschaft ist, kann man sich den Pflichten nicht entziehen. Aber man kann die Rechtsgemeinschaft verlassen. Dann treffen einen die Pflichten dieser Rechtsordnung nicht mehr. Das heißt aber offenkundig
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nicht, daß sie keine echten Pflichten sind. Genauso ist es bei Pflichten, die Spielregeln den Spielern auferlegen. Man kann sich ihnen nicht entziehen, solange man das Spiel spielt. Aber man kann das Spiel nicht spielen oder aufhören, es zu spielen. Das bedeutet aber nicht, daß sie keine echten Pflichten und nicht verbindlich sind. Dasselbe gilt auch für quasi-moralische Pflichten. Gegen die Vorstellung von quasi-moralischen Rechten könnte analog eingewandt werden, ein Recht, das man nur denen gegenüber habe, die ein bestimmtes altruistisches Ideal haben, sei kein wirkliches Recht. Ein Recht sei unabhängig davon, was für Personen seine Adressaten seien. Außerdem sei ein Recht, das man nur infolge der altruistischen Haltung anderer habe, kein echtes Recht, aufgrund dessen man etwas fordern könne, sondern nur eine Begünstigung, für die man dankbar sein müsse. Beide Einwände sind unbegründet. Wie bereits gesagt, bedeutet, ein moralisches Recht zu haben, daß die anderen etwas tun oder unterlassen müssen, gleichgültig welches Selbstverständnis, welche Ideale und Präferenzen sie haben. Diese Kategorizität zeichnet moralische Rechte aus. Quasi-moralische Rechte haben diese Kategorizität gerade nicht; eben deshalb sind sie nur quasi-moralische Rechte. Daß sie dennoch echte Rechte sind und nicht nur Begünstigungen, zeigt auf instruktive Weise ein paralleler Fall aus dem Feld juridischer Rechte. Die Rechtsgemeinschaft der deutschen Staatsangehörigen räumt allen Menschen, sofern sie politisch verfolgt sind, ein Recht auf Asyl ein. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" bestimmt das Grundgesetz. 3 Dieses Recht kommt allen Menschen zu, es kommt ihnen aber nur gegenüber dieser bestimmten Rechtsgemeinschaft zu. Es handelt sich um ein Recht, das die Rechtsgemeinschaft Menschen verleiht, die ihr nicht angehören, und das einen Anspruch an diese Rechtsgemeinschaft impliziert. 3
Art. 16a, 1. - Die Substanz dieses Artikels (bzw. des vormaligen Art. 16) ist allerdings 1993 durch eine Reihe von Zusätzen stark beschädigt worden.
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Das Recht ist einklagbar. Es ist ohne Zweifel ein echtes Recht. Wenn wir annehmen, daß die Rechtsgemeinschaft der Deutschen dieses Recht aufgrund eines gemeinsamen altruistischen Ideals verleiht, ändert das nichts daran, daß es ein echtes Recht ist. Dasselbe gilt für quasi-moralische Rechte. D a ß man sie nur bestimmten Personen gegenüber hat, nimmt ihnen nicht den Charakter eines Rechts, ebensowenig wie die Tatsache, daß sie aufgrund altruistischer Ideale verliehen werden. Der Inhaber eines solchen Rechts kann, auch wenn er nicht Mitglied der quasi-moralischen Gemeinschaft ist, das tun, was bei moralischen Rechten der Einklagbarkeit entspricht: er kann von den Mitgliedern der Gruppe verlangen, den, der das Recht verletzt hat, zu sanktionieren. Die Mitglieder der Gruppe sind zu dieser Sanktionierung verpflichtet. 4 Eine weitere Bemerkung zur Differenzierung quasi-moralischer und moralischer Rechte und Pflichten. Eine Konsequenz der kontraktualistischen Fundierung der Moral war es, daß Neugeborene und kleine Kinder noch nicht Inhaber originärer moralischer Rechte sind. Sie sind noch nicht Mitglied der moralischen Gemeinschaft, sondern wachsen erst in sie hinein. Der Grund liegt darin, daß sie (zumindest) eine der Bedingungen der Mitgliedschaft, die Machtbedingung, nicht erfüllen: M a n muß sich vor ihnen nicht schützen, indem man mit ihnen Rechte und Pflichten tauscht. Kinder dieses Alters genießen indes, wie wir sahen, einen indirekten moralischen Schutz, weil die Eltern, die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sind, auf sie bezogene Interessen haben und den Schutz dieser Interessen zum Inhalt der Moral machen. Folglich sind es die Eltern, deren Rechte verletzt werden, wenn ihren Kindern etwas angetan wird. Die Kinder sind auf diese Weise indirekt durch moralische Pflichten und Rechte geschützt. M a n kann sagen, daß man ihnen gegenüber indirekte moralische Pflichten hat und daß sie indirekte moralische Rechte haben. Diese Rechte sind jedoch keine echten Rechte; denn es besteht zwischen den 4
Vgl. hierzu S 5 , S. 1 5 5 f.
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moralischen Akteuren und den Kindern keine Rechtsbeziehung. Anders ist es mit quasi-moralischen Rechten. Dies sind echte Rechte, und diese Rechte können Neugeborene und kleine Kinder sehr wohl haben. Wenn ihnen eine Gruppe aufgrund eines gemeinsamen altruistischen Ideals Rechte verleiht und sich entsprechende Pflichten auferlegt, sind dies echte Rechte. Sie begründen einen Anspruch, freilich nur denen gegenüber, die das vorausgesetzte altruistische Ideal teilen. Die Überlegungen zur Quasi-Moral lassen deutlich erkennen, daß durch die Aufrichtung einer normativen Ordnung dieser Art das idealkonforme Handeln nicht länger allein die Angelegenheit des einzelnen ist. Ob man idealkonform handelt oder nicht, geht jetzt auch die anderen an. Es gibt nun eine soziale Norm, eine Gruppennorm, die idealkonformes Handeln verlangt, und eine soziale Sanktionierung, die den trifft, der diese Norm verletzt. Durch die Quasi-Moral kommt es also dazu, daß nicht nur der einzelne zu sich sagt: „Ich muß meinem Ideal entsprechen und zugunsten des anderen handeln", sondern auch die anderen an ihn herantreten und fordern: „Du mußt so handeln." „Und zwar nicht", so könnten sie hinzufügen, „weil du sonst gegen dein eigenes Wollen handelst, dein Selbstbild beschädigst und andere frustrierst - ob du das tust, ist deine Angelegenheit, mit der wir nichts zu tun haben - , sondern weil du sonst gegen eine Norm, die in unserer Gruppe gilt, verstößt und deshalb durch die Gruppe sanktioniert wirst." Das „du mußt" formuliert also kein bloß prudentielles, sondern ein quasi-moralisches Müssen. Es bringt keinen Rat, kein consilium, sondern ein Gebot, ein praeceptum, zum Ausdruck. Der Raum der Quasi-Moral ist ein Raum von Ge- und Verboten und ein Raum von Forderungen. - Natürlich wandern die Sanktionen einer Quasi-Moral wie die der Moral durch einen Prozeß der Internalisierung „nach innen". Die äußeren Sanktionen werden auch hier durch innere Sanktionen ergänzt. Die quasi-moralischen Sanktionen können auch juridisch verstärkt werden. Auch hierin unterscheidet sich eine Quasi-Moral nicht von der Moral.
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2 . Die bisherigen Überlegungen haben deutlich gezeigt, daß eine Quasi-Moral trotz aller Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen etwas anderes ist als die Moral. Eine Quasi-Moral ist etwas neben der Moral, oder besser gesagt: jenseits der Moral. Sie ist auf einer anderen Ebene angesiedelt. Denn die rationale Moral, wie ich sie entwickelt habe, ist eine nicht-regionale, weltumfassende Moral, es gibt nur diese eine M o r a l . Auf derselben Ebene kann es deshalb neben ihr nichts anderes geben. Eine Quasi-Moral ist hingegen eine regionale Ordnung, eine Ordnung einer bestimmten Gruppe. Sie kommt zur Moral hinzu und hat weitergehende Inhalte. Eine Quasi-Moral gilt offenkundig nur so weit, wie die Ideale, die ihre Basis bilden, geteilt werden, d.h. sie gilt nur bis an die Grenzen der jeweiligen Gruppe. Hierin ähnelt sie einer juridischen Rechtsordnung, die auch nur einen begrenzten Geltungsbereich hat. W o eine Quasi-Moral existiert, koexistieren, wie sich zeigt, Moral und QuasiMoral, eine nicht-regionale Ordnung mit eng umgrenzten Inhalten und eine partikulare Gruppen-Ordnung mit weitergehenden und anspruchsvolleren Pflichten und Rechten. Geteilte Ideale verdanken sich, so habe ich gesagt, einer gemeinsamen Kultur, einer gemeinsamen Lebensform, gleichförmiger Erziehung und sozialer Prägung. Da es verschiedene Kulturen und Lebensformen gibt, kann es auch verschiedene geteilte Ideale und damit auch verschiedene Quasi-Moralen geben. Und es kann, das ist wichtig, auch mehrere unterschiedliche rationale Quasi-Moralen geben. Rationale Quasi-Moralen sind solche, die auf rationalen sozialen Idealen basieren. Ein rationales Ideal ist, wie wir sahen, ein rational mögliches, nicht ein rational zwingendes Ideal. In dieser Weise rational sind verschiedene Ideale, es gibt eine Palette von rationalen altruistischen Idealen, die in Inhalt und Reichweite auseinandergehen. Dies bedeutet, daß es verschiedene rationale Quasi-Moralen nebeneinander geben kann. Und daß man diese Pluralität nicht durch rationale Kritik auf eine einzige rationale Quasi-Moral reduzieren kann. So können rationale Quasi-Moralen bezüglich der Abtreibung, der Kindstötung, der Einbeziehung der
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Tiere, der Berücksichtigung zukünftiger Generationen, der Kompensation natürlicher Ungleichheiten und vieler anderer Fragen auseinandergehen. Eine Quasi-Moral kann Abtreibungen zulassen, eine andere kann sie verbieten, eine kann Tiere miteinbeziehen, eine andere kann das nicht tun. Ich habe oben bereits im Anschluß an Überlegungen von G. Harman die Idee verschiedener regionaler Gruppenmoralen erwogen. 5 Die Idee (die nicht Harman selbst so vertritt, die sich vielmehr im Anschluß an seine Position ergab) war hier, daß es neben oder jenseits der Moral, die ihren Grund in allgemein unterstellbaren Interessen hat und infolgedessen nur sehr eng umgrenzte Inhalte hat, verschiedene regionale Gruppenmoralen gebe oder geben könne, die ihre Basis in rational möglichen Interessen haben und jeweils weitergehende moralische Rechte und Verpflichtungen zum Inhalt haben. Ich hatte diese Idee aus verschiedenen Gründen verworfen. Wir können sie jetzt, nach der Einführung der Unterscheidung von Moral und QuasiMoral, neu aufgreifen und differenzierter beurteilen. Das erste und wichtigste Argument gegen die Idee regionaler Gruppenmoralen war, daß offensichtlich keine Forderung irgendeiner dieser regionalen Moralen mit Erfolg an den moralischen Skeptiker gerichtet werden könne. Denn niemand könne ihm zeigen, daß er Gründe hat, einer Forderung dieser Art nachzukommen. Dies würde nämlich voraussetzen, ihm zeigen zu können, daß er das zugrundeliegende Interesse haben muß. Das sei aber ausgeschlossen, da es nur ein rational mögliches, aber kein rational zwingendes Interesse sei. - Dieses Argument ist völlig in Ordnung. Aber es verliert seinen Zielpunkt, wenn man sich klargemacht hat, daß die regionalen Gruppenmoralen nicht wirkliche Moralen, sondern Quasi-Moralen sind. Die Forderungen einer Quasi-Moral erreichen in der Tat den moralischen Skeptiker nicht. Eben deshalb sind sie keine moralischen, sondern quasi-moralische Forderungen.
5
Vgl. § 7, S. 206 f.
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Das zweite Argument gegen die Idee regionaler Gruppenmoralen war, daß, wer die Absicht hat, eine Forderung einer regionalen Moral an jemanden zu richten, den Adressaten im Grunde zunächst fragen müsse, ob er das Interesse, auf dem diese Gruppenmoral beruht, habe. Wenn ja, könne man die Forderung an ihn richten; wenn nein, könne man nichts machen. Dies sei eine merkwürdige Situation; sie schlage allem, was wir mit einer moralischen Forderung verbinden, ins Gesicht. - Auch dieses Argument ist in Ordnung. Eine moralische Forderung ist in der Tat eine, die wir fraglos an jeden richten können, gleichgültig wer er ist, wie beschaffen er ist und welche Interessen und Ideale er hat. Weil dies so ist, sind die Forderungen einer Gruppenmoral eben keine moralischen, sondern nur quasi-moralische Forderungen. Quasi-moralische Forderungen sind tatsächlich dadurch charakterisiert, daß man sie nur an jemanden richten kann, der ein bestimmtes, bloß rational mögliches Ideal hat, ein Ideal also, das man nicht unterschiedslos unterstellen kann. Die Differenzierung von Moral und Quasi-Moral beseitigt die Paradoxie moralischer Forderungen, die nicht an alle gerichtet werden können. Aber es scheint, als bestehe dieselbe Schwierigkeit auch bezüglich quasi-moralischer Forderungen. Denn auch zu quasi-moralischen Forderungen paßt es schlecht, den, an den man die Forderung richten will, zuvor fragen zu müssen, ob er ein bestimmtes Ideal hat oder nicht. Man kann hier gewiß darauf hinweisen, daß es in einer Gruppe, die durch gemeinsame Ideale verbunden ist, einer solchen vorausgehenden Vergewisserung nicht bedürfe. In der Gruppe könne man voraussetzen, daß jeder die entsprechenden Ideale habe. Die gemeinsame Kultur, die von ihr geprägte Erziehung, die gleichgerichteten sozialen Einflüsse, der starke Anpassungsdruck bewirkten, daß die Gruppe homogen sei und auch homogen bleibe, daß es ihr also immer wieder gelinge, den nachwachsenden Gruppenmitgliedern die sozialen Ideale zu vermitteln, auf denen die jeweilige Quasi-Moral basiere. Doch selbst wenn man einräumt, daß es im großen und ganzen so ist, ist es doch
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keineswegs durchgängig so. Es gelingt nicht immer, die Homogenität der Gruppe zu wahren. Die, die in die Gemeinschaft hineinwachsen, können sich gegen die Ideale ihrer Väter und Mütter entscheiden. Und sie können dem sozialen Druck, dem sie deswegen häufig ausgesetzt sind, standhalten. Man kann selbstverständlich ererbte Ideale aufgeben oder durch andere ersetzen. Ideale sind nicht unbedingt dauerhaft. 6 Wachsende Lebenserfahrung, einschneidende existenzielle Erlebnisse, die Begegnung mit besonderen Menschen, Erfahrungen von Großgesinntheit und Großzügigkeit oder von Mißgunst und Primitivität, das Kennenlernen fremder Kulturen, die Beschäftigung mit Literatur, Geschichte und Philosophie, aber auch eine Veränderung der wirtschaftlichen Situation und damit der Einschätzung, was man sich an altruistischen Idealen leisten (oder nicht mehr leisten) kann, sind einige der Faktoren, die zur Aufgabe oder zur Veränderung der überkommenen Ideale führen können. Hinzu kommt als sehr wichtiger Aspekt, daß eine Gruppe in aller Regel nichts Abgeschlossenes ist: es kommen Menschen hinein, die anders geprägt sind, die andere Ideale haben und die trotz des starken Anpassungsdrucks nicht bereit sind, ihre Ideale aufzugeben und sich zu assimilieren. Sie haben andere Ideale, leben aber dennoch dort, wo die Quasi-Moral gilt. Diese Möglichkeiten des Andersseins und der Inhomogenität bringen für die Forderungen einer Quasi-Moral äußerst ernsthafte Schwierigkeiten mit sich. Denn wenn einige in einer Gruppe leben, in der eine bestimmte Quasi-Moral gilt, sie aber die Ideale, die die Quasi-Moral tragen, nicht teilen und sie sich auch nicht zu eigen machen, dann ist das quasi-moralische Müssen für sie kein verpflichtendes Müssen. Dies, weil sie sich nicht als Autoren dieses Müssens sehen können. Sie haben die, die die Sanktionen verhängen, nicht dazu autorisiert. Die Gruppenmitglieder sind ihnen gegenüber nicht zur Sanktionie6
Strawson hat dies zu Recht hervorgehoben; vgl. P. F. Strawson: Social Morality and Individual Ideal (1961), in: P. F. S.: Freedom and Resentment (London 1974) 2 6 - 4 4 , 26.
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rung berechtigt. Das bedeutet nicht weniger, als daß das quasimoralische Müssen, adressiert an die, die in der Gruppe leben, aber die Gruppenideale nicht teilen, ein erpresserisches Müssen ist - und daß die quasi-moralischen Forderungen, an diese Minderheit adressiert, zu erpresserischen Forderungen werden. Die, die anders sind, sind ihnen ausgesetzt. Für sie ist es wahrscheinlich klug, das zu tun, was die Quasi-Moral verlangt. Aber sie stehen ihr in derselben Weise gegenüber wie der Passant dem Straßenräuber. Das quasi-moralische Müssen ist für die, die die Gruppenideale nicht teilen, ein heteronomes, ein vergewaltigendes Müssen, force without right, wie Locke es sagt.7 Dieser Befund bringt etwas sehr Wichtiges ans Licht. Es kann einen Konflikt zwischen Quasi-Moral und Moral geben. Eine Quasi-Moral läuft Gefahr, mit ihren Forderungen und Sanktionen moralisches Unrecht zu tun. Denn es ist jedermanns moralisches Recht, selbst zu bestimmen, welchen Zwecken und Idealen er folgt. Dies gehört zur persönlichen Freiheit, und sie ist durch die moralischen Personenrechte vor Eingriffen geschützt. Wie wir sahen, ist niemand moralisch verpflichtet, überhaupt altruistische Ideale zu haben, und erst recht nicht, bestimmte Ideale dieser Art zu haben. Vielmehr ist jeder frei, solche Ideale zu haben oder sie nicht zu haben, und diese und nicht jene zu haben. In diesen Raum der persönlichen Freiheit hineinzuhandeln, ist ein moralisches Unrecht. Doch genau dies tut eine Gruppe, wenn sie eine Minderheit, die in ihr lebt, aber ihre Ideale nicht teilt, ihrer Quasi-Moral unterwirft. Sie zwingt ihr eine normative Ordnung auf, die Ideale voraussetzt, die die Minderheit gar nicht hat und die sie, wie gesagt, auch nicht haben muß. Die Gruppe unterdrückt mit ihrer Quasi-Moral auf diese Weise die, die anders sind. Sie erpreßt von ihnen mit Hilfe der quasi-moralischen Sanktionen bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen. In der Gefahr solchen erpresserischen Handelns sind alle Quasi-Moralen, sobald die Gruppen, in denen sie gelten, ihre 7
Vgl. Locke, Two Treatises of Government,
II, § 232.
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Homogenität verlieren. Wenn andere hineinkommen, die die tragenden Ideale nicht teilen, oder die Nachwachsenden die Ideale ihrer Eltern und Großeltern ganz oder teilweise über Bord werfen, kommt es zu diesem Konflikt zwischen QuasiMoral und Moral. In einer solchen Situation müssen die, die anders sind und Gefahr laufen, unterdrückt zu werden, sich wehren, sie müssen laut sagen, daß sie die Gruppenideale nicht teilen, daß es falsch ist, ihnen das Gegenteil zu unterstellen, und daß es deshalb ein moralisches Unrecht ist, sie den Normen der Quasi-Moral zu unterwerfen. Sie müssen von den anderen fordern, ihre moralischen Rechte zu achten und die Quasi-Moral entweder so zu verändern, daß sie auch ihren Idealen entspricht, oder ihre Geltung auf die Teile der Gruppe zu beschränken, die die vorausgesetzten Ideale auch wirklich haben. Für den Erfolg dieses Protestes ist es eine wesentliche Voraussetzung, daß die Gruppenmitglieder sich bewußt sind oder sich bewußt werden, daß die normative Ordnung, in deren Namen sie Forderungen an die anderen in der Gruppe richten und in deren Namen sie Zuwiderhandlungen sanktionieren, keine moralische, sondern nur eine quasi-moralische Ordnung ist. Sie basiert nicht wie die Moral auf unfraglichen Interessen, sondern auf altruistischen Idealen. Nur wenn die Gruppenmitglieder sich dessen bewußt sind, können sie einsehen, daß es ein moralisches Unrecht ist, die mit diesen Forderungen zu konfrontieren, die die vorausgesetzten Ideale nicht haben. Es zeigt sich hier, daß die Unterscheidung von Moral und Quasi-Moral nicht nur ein analytisches Instrument ist, um einen vorhandenen Unterschied zu markieren und wahrnehmbar zu machen. Die Unterscheidung hat vielmehr eine große praktische Relevanz. Wer sie nicht macht und deshalb fälschlich Forderungen, die in Wahrheit nur quasi-moralische sind, für moralische Forderungen hält, ist blind für das moralische Unrecht, das er begeht, wenn er diese Forderungen an Menschen richtet, die die vorausgesetzten Ideale nicht teilen. Wer die Quasi-Moral seiner Gruppe als Moral mißversteht, hat damit kein Sensorium für eine elementare Form moralischen Unrechts. Er ist in der Ge-
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fahr, Unrecht zu tun in der Überzeugung, der Moral zu dienen. Dies ist, wie jeder weiß, eine besonders verhängnisvolle Form des Unrechttuns. Denn sie ist von dem Glauben getragen, das Gute zu tun, und oft stimuliert von einem gutmeinenden Eifer, der genau das Gegenteil von den Hemmungen und Widerständen ist, mit denen man sonst beim Unrechttun zu kämpfen hat. Es ist deshalb ein Gebot der moralischen Aufklärung, Moral und Quasi-Moral zu unterscheiden und sich klar darüber zu werden, wo die Grenze zwischen ihnen verläuft. Man muß prüfen, welche Basis die Forderungen haben, die man an andere richtet. Sind sie Teil eines Normensystems, das auf allgemein unterstellbaren Interessen beruht, oder basiert das Normensystem auf altruistischen Idealen, die die Adressaten der Forderungen möglicherweise nicht haben? Die Grenze zwischen Moral und Quasi-Moral ist sicherlich nicht in aller Schärfe zu ziehen; es gibt gewiß eine Grauzone des Übergangs. Aber das ändert nichts an der Notwendigkeit, Moral und Quasi-Moral zu unterscheiden und die Grenze zwischen ihnen so gut es geht zu fixieren. Ein einfaches Beispiel kann verdeutlichen, von welcher praktischen Bedeutung diese Unterscheidung ist. Wer es für eine moralische Forderung hält, Foeten nicht abzutreiben, wird diese Forderung an jeden richten und den, der anders handelt, sozial hart sanktionieren und vermutlich zudem dafür eintreten, daß eine Abtreibung auch juridisch bestraft wird. Wer, nicht abzutreiben, hingegen für eine quasimoralische Forderung seiner Gruppe hält, wird diese Forderung nur an die richten, die das altruistische Ideal, das der Gruppennorm zugrunde liegt, teilen. Er wird wissen, daß dieses Ideal ein Ideal ist, ein bestimmtes Bild von einer besseren Welt. Wer es nicht hat, macht nichts falsch. Er ist anders. Wer sich dessen bewußt ist, wird das Anderssein als etwas hinnehmen, auf das der andere ein moralisches Recht hat. Auch wenn ihm, wie der andere ist, mißfällt, auch wenn er dessen Verhalten vielleicht klein und primitiv findet. Er wird es als seine moralische Pflicht begreifen, das Anderssein zu tolerieren und nicht in die Freiheitssphäre des anderen einzugreifen. Und das heißt,
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daß er, wenn der andere eine Abtreibung vornimmt, ganz anders dazu stehen wird als der, der es für eine moralische Norm hält, nicht abzutreiben.8 Man sollte sich freilich nicht darüber täuschen, daß eine Reihe von Faktoren der Unterscheidung von Moral und QuasiMoral entgegenwirken.9 Deshalb neigen wir dazu, beide Typen von Normen zu vermengen oder, genauer gesagt: alle Normen, die ein Handeln zugunsten anderer vorschreiben, für moralische Normen zu halten. Eine der Ursachen liegt darin, daß wir als Kinder einfach lernen, daß man das-und-das nicht tun darf bzw. tun muß. Von welcher Art dieses Müssen ist, ob ihm alle unterliegen oder nur die, die bestimmte altruistische Gruppenideale haben, ist eine Frage, die sich hier naturgemäß nicht stellt. Zunächst sind alle Normen gleich, und tatsächlich hat man, solange man in einer homogenen Gruppe mit einer QuasiMoral lebt, keinen praktischen Grund, moralische und quasimoralische Forderungen zu differenzieren. Diese Unterscheidung ist hier nur von theoretischem Interesse. Das ändert sich, sobald sich die Homogenität der Gruppe auflöst. Jetzt wird es wichtig, zu fragen, welche Forderungen man an die, die anders sind, richten kann und welche nicht. Die inhomogen gewordene Gruppe ist der Ort, an dem die Unterscheidung von Moral und Quasi-Moral zu einer moralischen Notwendigkeit wird. Hier wird es zu einer Frage von moralischem Gewicht, ob man weiter in der Perspektive des Kindes lebt oder durch moralische Aufklärung gelernt hat, moralische und quasi-moralische Forderungen zu unterscheiden. Ein anderer Faktor, der dieser Unterscheidung entgegenwirkt, ist folgender: Wenn man sehr stark eine Welt will, in der Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklicht sind, in der auf Schwache Rücksicht genommen wird, in der die Interessen zukünfti8 9
Eine ähnliche Überlegung bei Harman, Moral Relativism, 57 f. Ich habe oben, § 9, S. 304 ff., bereits dargelegt, daß die Einsicht, daß die eigenen Ideale nur Ideale und nicht mehr sind, mit erheblichen Widerständen zu kämpfen hat. Diese Widerstände sind es auch, die der Unterscheidung von Moral und Quasi-Moral entgegenwirken.
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ger Generationen berücksichtigt werden oder in der ein anderes soziales Ideal realisiert ist, ist die Versuchung groß, das entsprechende Handeln vor sich selbst und vor den anderen zu einem moralischen „ M u ß " zu erklären. Denn wenn es ein moralisches „ M u ß " ist, kann man dieses Handeln von allen fordern. Das Umbiegen des eigenen altruistischen Ideals in ein moralisches „ M u ß " für alle ist ein verbreitetes Phänomen. Die Moral, die wir haben, ist durchzogen davon. Sie hat deshalb ohne Zweifel erpresserische Züge, Elemente von force without right. Auch viele philosophische Morallehren moralisieren Ideale in dieser Weise. Sie machen zum Beispiel die Ideale der Solidarität, der Brüderlichkeit oder der Unparteilichkeit zur Basis moralischer Normen, ohne zu sehen (oder sich einzugestehen), daß dies nur Ideale sind und daß sich auf optionale Ideale keine moralischen Forderungen gründen lassen. Das entscheidende Defizit liegt hier wie in den alltäglichen Moralvorstellungen darin, daß das, was faktisch Ideale sind, anders verstanden wird. Die Ideale werden nicht als solche erkannt. Man glaubt oft, Solidarität und Unparteilichkeit seien nicht oder nicht nur Gegenstände persönlichen Wollens, sondern objektive moralische Prinzipien, die uns unabhängig von allen Interessen durch die Welt selbst, durch Gott, die Natur oder eine objektive Vernunft-Ordnung vorgegeben seien. Sie seien Teil einer vorgegebenen Moral, so daß es moralisch verpflichtend sei, sein Handeln an diesen Prinzipien auszurichten. Die Ideale werden auf diese Weise in die äußere Welt projiziert, von der man sie sich dann als vermeintlich objektive moralische Prinzipien vorgeben läßt. Diese Mutation der Ideale in objektive moralische Gegebenheiten geschieht in der Regel ohne Wissen und Absicht derer, die sie vornehmen. Der Wunsch nach einer besseren Welt, in der die eigenen Ideale realisiert sind, wirkt im eigenen Rücken und verführt unbemerkt dazu, seine persönlichen Ideale in für alle verpflichtende moralische Normen umzufälschen. Dabei bleibt die Gefahr verborgen, moralisches Unrecht zu tun, nämlich anderen die eigenen Ideale aufzuzwingen, obwohl sie die Freiheit haben, diese Ideale nicht zu teilen.
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Ich kann jetzt die Überlegensschritte zur Problematik quasimoralischer Forderungen zusammenfassen und zu Ende bringen. Forderungen dieser Art sind in zweifacher Weise mit Schwierigkeiten behaftet. Zunächst besteht die Gefahr, sie fälschlich für moralische Forderungen zu halten und sie deshalb unberechtigterweise unterschiedslos an alle zu richten. Und selbst wenn man dies nicht tut, sich vielmehr ihres Status und ihrer bloß regionalen Geltung innerhalb einer Quasi-Moral bewußt ist, besteht die Gefahr, quasi-moralische Forderungen an Personen zu richten, die zwar in der Gruppe leben, die der Quasi-Moral unterliegenden Gruppenideale aber nicht teilen oder nicht mehr teilen. Auch hier wären die Forderungen unberechtigt. In beiden Fällen drohen die quasi-moralischen Forderungen in erpresserische Forderungen umzukippen, in beiden Fällen droht damit die Gefahr, moralische Rechte von Menschen zu verletzen. Diese Gefahr des Umkippens ins Unmoralische gehört wesentlich zu einer Quasi-Moral und ihren Forderungen, und hierin liegt die Zwiespältigkeit dieser Art von normativer Ordnung. 3. Quasi-Moralen sind, das zeigen die bisherigen Überlegungen, keine stabilen Gebilde. Sie stehen auf schwankendem Boden, nämlich auf der glücklichen Konvergenz altruistischer Ideale in einer Gruppe. Geht die Homogenität in den Idealen verloren, sind die Quasi-Moralen gezwungen, sich zu verändern oder ganz zu verschwinden. Durch diese Veränderlichkeit unterscheiden sich Quasi-Moralen von der einen (rationalen) Moral. Die Moral ist, was sie ist. An ihren Inhalten ändert sich im Prinzip nichts, weil sich an den Interessen, aus denen sie resultiert, nichts ändert. Diese Interessen können freilich auf immer neue Weise mißachtet werden, weshalb eine stete Anpassung und Neufixierung der moralischen Normen nötig ist. Natürlich kann es auch unklar sein, wie sich ein moralisches Recht in einer bestimmten Situation konkretisiert. So hat jeder ein moralisches Recht auf Hilfe, wenn er zu verhungern droht. Es ist aber nicht ohne weiteres klar, an wen dieses Recht adressiert
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ist, wenn in einem Land hunderttausende Menschen vom Hungertod bedroht sind. Wer ist hier zur Hilfe verpflichtet? Es gibt viele moralische Probleme dieser Art; aber es sind „nur" Konkretisierungsfragen. Sie ändern nichts daran, daß die Interessen, die die Moral zu schützen hat, im Prinzip festliegen. Der Zerfall der Homogenität ist in vielen Teilen der Welt Realität. In unserer Welt, die durch starke Migrationen, große Mobilität, weltweiten Informationsfluß und Wirtschaftsaustausch gekennzeichnet ist, gibt es immer weniger kulturell homogene Gruppen. Dabei ist freilich zu bedenken, daß Menschen sich in vielem unterscheiden und doch dieselben oder annähernd dieselben altruistischen Ideale haben können. Eine Erklärung hierfür liegt (neben anderen) darin, daß religiöse Traditionen eine wichtige Quelle altruistischer Ideale sind und daß beispielsweise die christliche Religion auf allen Kontinenten Fuß gefaßt hat und so eine große Zahl von Menschen in gleicher Weise zu prägen vermag. Gemeinsame religiöse Traditionen haben ohne Zweifel eine starke homogenisierende Wirkung. - Die Mitglieder einer Quasi-Moral können, wenn Menschen aus einer anderen Kultur und mit anderen Idealen in die eigene Gruppe hineinkommen, in verschiedener Weise reagieren. Sie können zunächst zu erreichen versuchen, daß die Hinzukommenden sich die eigenen altruistischen Ideale zu eigen machen und sich so in die durch die Quasi-Moral normierte Gruppe integrieren. Wenn dies gelingt, bleibt die Quasi-Moral, wie sie ist. Wenn dieser Versuch scheitert (und er wird häufig scheitern), wird man sehen, ob es zwischen den Idealen der Hinzugekommenen und den Idealen der angestammten Gruppenmitglieder eine teilweise Überschneidung gibt. Wenn es so ist, kann die Schnittmenge gemeinsamer Ideale trotz der verschiedenen kulturellen Prägungen die Basis für eine neue gemeinsame, Angestammte und Dazugekommene verbindende Quasi-Moral sein. Diese Quasi-Moral hat weniger Inhalte als die ursprüngliche; sie ist dadurch weniger partikular und kann folglich mehr Menschen einbeziehen. Die ursprüngliche QuasiMoral kann daneben durchaus weiterbestehen; allerdings ist
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ihre Geltung dann beschränkt auf die angestammten Gruppenmitglieder, die jetzt nur noch eine Teilgruppe sind. Genauso können die Hinzugekommenen eine gegebenenfalls mitgebrachte Quasi-Moral bewahren, freilich nur unter sich. - Man kann hier überlegen, ob ein solcher Zustand gestufter Quasi-Moralen mit verschiedenen Inhalten und verschiedenen Adressatengruppen nicht höchstens ein Durchgangsstadium, aber nicht eine dauerhafte Form des Zusammenlebens sein kann. Das Leben mit solchen gestuften Quasi-Moralen setzt voraus, die verschiedenen Adressatengruppen jederzeit leicht unterscheiden zu können. Das wird aber, je länger die Dazugekommenen in der Gruppe leben, je mehr sie angestammte Gruppenmitglieder heiraten und je mehr es Kinder aus solchen Verbindungen gibt, zunehmend schwerer und unmöglich. Die Zahl derer, von denen man nicht weiß, wozu sie gehören, und bei denen man deshalb in Gefahr ist, Forderungen der ursprünglichen QuasiMoralen an sie zu richten, ohne daß sie die vorausgesetzten Ideale teilen, wird ständig größer. Diese Entwicklung führt dazu, daß die ursprünglichen Quasi-Moralen immer mehr verschwinden bzw. sich auf immer kleinere Untergruppen, gewissermaßen auf kleine noch homogene Inseln innerhalb der Gruppe zurückziehen müssen. Die Zukunft gehört der neuen in ihren Inhalten reduzierten, in ihrer Reichweite aber vergrößerten Quasi-Moral. Natürlich können sich die beschriebenen Prozesse wiederholen. Wenn die Inhomogenität der Gruppe immer größer wird, ist eine Entwicklung möglich, die in beide Richtungen ihren Endpunkt im Verschwinden der Quasi-Moral findet. Auf der einen Seite wird, je mehr und vielfältiger die Unterschiede werden, die Wahrscheinlichkeit, eine Schnittmenge gemeinsamer altruistischer Ideale zu finden, immer geringer. Und selbst wenn es noch gelingt, führt die fortschreitende Ausdünnung der Quasi-Moral dazu, daß sie sich inhaltlich immer mehr der Moral annähert. Auf der anderen Seite werden die ursprünglichen Quasi-Moralen am Ende so weit zurückgedrängt, daß sie sich wieder in die Elemente auflösen, aus denen sie entstanden
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sind, in individuelle Ideale. Sie werden nicht mehr in einer Gruppe geteilt, sie fallen gewissermaßen in den Bereich des Individuellen zurück und geben deshalb nicht mehr die Basis für eine Quasi-Moral ab. Eine andere mögliche Entwicklung, auf die ich hinweisen will, ist die Entstehung einer weltumfassenden Quasi-Moral. Es ist möglich, daß alle Menschen zumindest zum Teil dieselben altruistischen Ideale haben und daß hieraus eine Quasi-Moral entsteht, die als solche inhaltlich über die Moral hinausgeht und doch alle bindet. Warum soll die Menschheit nicht gemeinsame altruistische Ideale haben und auf sie quasi-moralische Normen gründen? Eine solche Quasi-Moral zu wollen, liegt sogar, wie es scheint, in der Konsequenz eines altruistischen Ideals. Denn jeder, der altruistische Ideale hat, will, daß möglichst alle diese Ideale teilen und ihnen entsprechend handeln. Dieser Wunsch wird durch eine weltumfassende Quasi-Moral auf bestmögliche Weise erfüllt: Die Ideale werden allgemein geteilt, und das ihnen entsprechende Handeln wird durch das quasi-moralische Normensystem zu einer Pflicht. Freilich wäre eine Quasi-Moral, deren Region die ganze Welt ist, auch nichts Unveränderliches. Selbst wenn es sie gibt, kann sie wieder verschwinden und wieder zu einer Quasi-Moral nur eines Teils der Menschheit werden. Dann nämlich, wenn einige die zugrundeliegenden Ideale nicht mehr teilen und erfolgreich für ihr moralisches Recht kämpfen, durch die Quasi-Moral nicht unterdrückt zu werden. Ohnehin ist die Gefahr des moralischen Unrechts durch quasi-moralische Forderungen und entsprechende Sanktionierungen bei einer weltumfassenden Quasi-Moral besonders groß. Denn hier liegt es besonders nahe, die quasimoralischen Forderungen fälschlich für moralische Forderungen zu halten und damit für Forderungen, die man fraglos an alle richten kann. Auch eine weltumfassende Quasi-Moral kämpft also mit der jeder Quasi-Moral eingeschriebenen Gefahr, in moralisches Unrecht umzukippen. Ich habe die möglichen Entwicklungen, die eine Quasi-Moral nehmen kann, angedeutet, um zu zeigen, daß Quasi-Moralen,
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anders als die Moral, auf Gegebenheiten basieren, die sich verändern können. Die Konvergenz altruistischer Ideale kann sich sehr schnell auflösen und mit ihr die Quasi-Moral, wie sie ist. Quasi-Moralen sind also, mögen sie noch so lange existieren und noch so stabil scheinen, instabile kulturelle Institutionen. Zerbricht die Übereinstimmung, auf der sie beruhen, müssen sie sich verändern und neu formieren: Entweder unter dem Druck derer, die andere Ideale haben und sich deshalb mit allem moralischen Recht von dem Druck der quasi-moralischen Normen befreien wollen. Oder aus der eigenen Einsicht, daß es unmoralisch wäre, die, die anders sind, weiter den Normen der Quasi-Moral zu unterwerfen. 4. Wenn der Begriff der Quasi-Moral eingeführt und gezeigt ist, was eine Quasi-Moral ist, kann man drei Bereiche des Handelns zugunsten anderer unterscheiden: Erstens den Bereich der Moral, in dem bestimmte Handlungen zugunsten anderer kategorisch gefordert sind. Die Moral, die weltweit dieselbe ist, fordert von allen ohne Ansehen ihrer individuellen Lebensführung, ihrer kulturellen Prägungen, ihrer Welt- und Selbstkonzepte, ihrer Ideale und Präferenzen, bestimmte basale Interessen der anderen zu respektieren. Sie versucht auf diese Weise, allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft einen Raum der Freiheit und Selbstbestimmung zu sichern. Zweitens den Bereich der regionalen Quasi-Moralen, die anders als die Moral auf in einer Gruppe geteilten altruistischen Idealen beruhen. Quasi-Moralen kommen aus der gemeinsamen Großzügigkeit einer Gruppe, die im Zuge ihrer Ideale mehr zugunsten anderer tun will, als es die Moral verlangt. Quasi-Moralen schaffen über die Moral hinausgehende Rechte und Pflichten, was besonders denen zugute kommt, die von der Moral nicht berücksichtigt werden. Und drittens den Bereich des „ungebundenen", individuellen Altruismus, der nicht in eine bindende kollektive Ordnung transformiert wird. Hierhin gehört das altruistische Handeln aus individuellen Idealen, aus Mitleid, aus Abneigung gegen Grausamkeit, aus Großgesinntheit, aus
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Freundschaft, Sympathie und vielen anderen Motiven. - Wenn man in dieser Weise gliedert, ist es allerdings wichtig, die grundlegendere Unterscheidung des Moralischen und des Altruistischen nicht zu verwischen. Man muß klar sehen, daß die Quasi-Moralen in den Bereich des Altruistischen fallen. Sie können ohne altruistische Ideale nicht sein. Deshalb ist quasimoralisches Handeln altruistisches Handeln. Es wird zwar gefordert, aber nicht moralisch gefordert. Die entscheidende Trennlinie verläuft also zwischen dem, was wir zugunsten anderer tun müssen, gleichgültig was für Personen wir sind, und dem, was wir darüber hinaus zugunsten anderer tun wollen, weil wir Personen bestimmter Art sind. Die Quasi-Moralen sind nur eine besondere Kristallisationsform innerhalb des Altruistischen. Das, was wir zugunsten anderer tun müssen, gleichgültig was für Personen wir sind, ist weniger als gewöhnlich angenommen. Die Moral schmilzt, das hat dieses Buch gezeigt, in einer posttheozentrischen Welt auf einen Kernbereich von elementaren Rechten und Pflichten zusammen. Unser Handeln zugunsten anderer ist deshalb in weit größerem Ausmaße altruistisches und nicht moralisches Handeln. Wie wir miteinander leben, ist weit mehr von nicht-moralischen Antriebskräften abhängig, von altruistischen Idealen, Interessen und Gefühlen. Ob und in welchem Maße wir zugunsten anderer handeln, wird also weniger durch die Moral bestimmt, die alles Persönliche überspringt, und weit mehr dadurch, was für Personen wir sind und zu was für Personen wir uns machen. Wie wir uns Schwächeren gegenüber verhalten, bei denen wir nicht darauf angewiesen sind, sie zu berücksichtigen, hängt sogar ausschließlich davon ab, was für Personen wir sind. Dies zeigt, welche Bedeutung das Engagement für das Altruistische und seine Quellen hat. Die Moral ist nur ein letzter Sicherheitszaun zum Schutz vor denen, die nicht aus sich heraus das Minimum an Rücksicht aufbringen, das die Moral dann durch die Androhung und gegebenenfalls die Zufügung handfester Nachteile zu erzwingen versucht. Dabei darf nicht vergessen werden, daß auch die Moral nicht einfach unabhängig von unserem Engagement da
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ist und funktioniert. Die Moral existiert und wirkt nur, wenn wir sie praktizieren und ihr durch unser Engagement Stärke und Durchschlagskraft geben. Dies zu tun, nötigt uns allerdings die Klugheit.
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Sachregister Adressaten, moralische 2 4 9 f., 2 5 4 , 2 5 6 , 2 6 0 , 276 Affekte, negative 121 f., 151 ff., 159, 171 f., 174, 308 f., 314 Altruismus 9, 2 9 4 , 374 f. s. auch Handeln, altruistisches Akteure, moralische 249 f., 256 f., 260 autonom, heteronom 1 0 8 , 1 1 0 , 1 1 2 , 3 1 3 , 365 Autorisierung s. Berechtigung
Forderungen, moralische; Gefordertsein moralischen Handelns 6 - 1 2 , 16 ff., 20, 39 ff., 5 0 - 5 3 , 62, 6 7 70, 73 f., 76 f., 82 f., 85 f., 9 1 , 9 4 , 105 ff., 1 1 7 - 1 2 0 , 136 ff., 156 f., 1 9 2 , 2 0 6 - 2 0 9 , 2 4 9 , 2 5 5 f., 284 f., 2 9 1 , 2 9 4 f., 3 0 4 , 3 1 6 , 3 1 8 , 326, 330, 340, 343, 3 6 2 f., 3 6 6 370, 373 ff.
Begründung moralischen Handelns 6 ff., 10, 15 f., 3 3 - 3 8 Berechtigung, Autorisierung, Ermächtigung 1 1 0 , 112 ff., 115, 117 ff., 138, 313, 353 f., 364 f.
Gefühl der Verbundenheit 2 9 4 , 3 3 2 - 3 3 8 , 347 Gefühle, moralische 126, 129, 134 f., 142, 312 Gerechtigkeit 2 1 2 - 2 1 8 , 2 2 0 , 2 2 3 229, 231-234, 239-242, 247, 2 8 4 , 2 9 2 f., 2 9 8 - 3 0 1 , 305, 3 4 9 , 352, 368 - egalitäre Gerechtigkeit 2 2 7 f., 231, 2 4 7 - proportionale Gerechtigkeit 2 2 7 ff., 2 4 7 Gleichheit, Ungleichheit 2 1 3 f., 216 f., 2 2 3 - 2 2 8 , 230 ff., 2 3 6 f., 2 3 9 , 2 4 7 f., 2 9 2 f., 2 9 8 - 3 0 1 , 305 f., 349, 368 - effektive Gleichheit, Ungleichheit 225 ff., 2 3 2 f., 2 4 7 , 299 - proportionale Gleichheit, Ungleichheit 2 2 4 - 2 2 9 , 2 3 2 , 2 4 7 , 299 Glück 9, 34, 94, 168, 3 1 4 , 319
Disposition zum moralischen Handeln 1 7 6 - 1 8 9 Eigentum, Eigentumsrechte 2 1 8 2 2 1 , 2 2 9 ff., 233 f., 236, 2 4 6 f., 292 Empörung, sich empören 9, 11, 1 2 6 - 1 3 6 , 138 f., 141 ff., 1 5 3 , 156, 164, 172, 2 5 7 , 3 0 4 , 3 0 8 , 3 1 2 , 330, 346 Ermächtigung s. Berechtigung Eudaimonismus, eudaimonistische Ethik 9, 34, 94, 135, 168, 314 Forderungen, erpresserische 5 1 f., 108, 365, 370
Forderungen, quasi-moralische 356, 362 ff., 366 ff., 370, 373
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Sachregister
Gott, Götter 5 ff., 13 f., 19, 4 7 , 4 9 52, 60 f., 69, 77 f., 80, 112 f., 141 f., 166,173,203,250 f., 271, 285, 307, 317 f., 354, 369 Gottesebenbildlichkeit 2 4 8 , 2 5 0 ff., 271 Gruppen-Moralen s. Moralen, regionale gut, Gutsein 144, 309 f., 321 f. - benefizient gut 322 ff., 326 - moralisch gut 316-321, 323 f. Handeln, altruistisches 295 f., 301, 307 f., 315 f., 320-326,327-330, 343, 345 ff., 374 f. Handeln, moralisches 10-14, 17 f., 37 f., 82, 94, 255, 291, 295 f., 308, 316, 321 ff., 326, 343, 346, 375 Handeln, quasi-moralisches 375 Handeln zugunsten anderer 10, 12, 38, 295 f., 322, 346, 374 f. Handlungen, pflichtgemäße 316, 320 f. Handlungen, supererogatorische 316-321, 323-326 heteronom s. autonom Ideale 17 f., 80, 174, 215 f., 247, 269, 273, 275, 284, 286, 291 f., 294, 2 9 6 - 3 1 5 , 339, 3 4 2 - 3 4 8 , 349-361, 363-375 Imperative 39 ff., 43-48, 53, 58 f., 68 - assertorische hypothetische Imperative 208 f. - hypothetische Imperative 58 f., 64, 208 f. - kategorische Imperative 64 f., 158, 208 f. - problematische hypothetische Imperative 208 f. Interesse 20 f.
Interessen, allgemein unterstellbare 194-198,205 f., 208 f., 247,255, 261,274 f., 2 7 7 , 2 9 1 , 2 9 5 , 2 9 8 f., 342, 355, 362, 366 f. Interessen, altruistische 17 f., 80, 82 ff., 164,274 f., 2 7 7 , 2 8 6 , 2 9 3 , 345 f., 357 Interessen, rational mögliche 194, 205 ff., 362 Interessen, rational zwingende 194, 196 f., 206, 362 Internalisierung 171-176, 188 Intuitionen, moralische 263 f. kategorisch, Kategorizität 1 2 , 1 6 f., 64 f., 172, 207, 209, 269, 275, 284, 291, 355, 357 f., 374 s. auch Imperative, kategorische; Müssen, absolutes, unbedingtes, kategorisches Kontraktualismus, moralischer 84 f., 87 ff., 9 4 , 1 1 0 , 1 3 4 ff., 145,157, 1 6 1 , 1 6 7 ff., 188 f., 201 ff., 209, 250, 262, 267 f., 276 - hypothetischer Kontraktualismus 204 f. Macht, Machtverhältnisse, Machtbedingung 198 f., 204 f., 210 f., 222, 228, 233 f., 242, 246 f., 2 5 5 - 2 5 9 , 261, 273, 276, 283, 292, 299, 359 Minimalmoral 292, 325, 346 Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft - Interessebedingung 255, 257 f., 260 f., 273, 283, 360 - Machtbedingung s. Macht - Vernunftbedingung 256 ff., 264, 273, 276, 283 Mitleid, Mitleidsethik 9, 13, 250, 2 6 5 - 2 6 9 , 286, 296, 301, 316, 327-334, 338-348, 374
Sachregister Moral, nicht-regionale, allgemeine, weltumfassende 2 0 6 , 2 0 9 f., 361, 374 Moralen, regionale; Gruppen-Moralen 205 ff., 209, 361 ff. moralisch gut s. gut, Gutsein Müssen, „müssen", Muß-Sätze 40 f., 5 3 - 6 8 , 86 f., 91 f., 9 4 , 1 0 3 , 1 1 1 , 113 Müssen, absolutes, unbedingtes, kategorisches 11, 6 1 - 6 6 Müssen, assertorisches hypothetisches 355 Müssen, erpresserisches 108, 110, 112, 353 f., 365 Müssen, juridisches 101 f.,104,108, 113 f. Müssen, konditioniertes 92, 99 f., 163 Müssen, künstliches 95, 99 ff., 112, 118, 135, 192, 353 Müssen, moralisches; Normativität, moralische 5 - 1 1 , 6 2 - 7 0 , 8 6 - 9 1 , 1 0 1 - 1 0 8 , 110 ff., 115, 118 ff., 1 2 2 , 1 3 5 , 1 4 0 , 1 5 1 f., 155 f., 158, 162 f., 165, 171-175, 186-191, 192, 220, 255, 260, 265, 269, 2 7 3 , 2 7 5 , 2 7 7 f., 2 8 2 , 2 9 2 , 2 9 4 f., 304, 307, 313 ff., 320, 340 f., 345, 353 f., 369 s. auch Pflichten, moralische Müssen, problematisches hypothetisches 355 Müssen, quasi-moralisches 355 f., 360, 364 f. Müssen, rationales, prudentielles 11, 16, 62, 67 f., 70, 92, 94 f., 99, 101 ff., 105 ff., 1 1 1 , 1 1 8 f., 163, 165, 182, 186, 189, 192, 235, 304, 315, 340 f., 350, 353, 360 Müssen, relatives, bedingtes, hypothetisches 11, 5 7 - 6 7 , 70, 87 Müssen, sanktionsrelatives, sanktionskonstituiertes 9 2 , 1 0 0 - 1 0 6 ,
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108, 113 f., 119, 122, 135, 151, 186, 192, 314, 353 f. Müssen, selbst-auferlegtes 109 f., 313 Müssen, verpflichtendes 6, 313, 353 ff., 364 s. auch Pflichten, moralische Naturrecht 77 f., 9 0 , 1 1 6 , 2 1 8 , 2 2 0 , 235 Normativität, moralische s. Müssen, moralisches Normen, objektive 19f.,137,141 ff., 247, 253 f., 285, 293, 302 Objektivierung 305 f., 369 Person, moralische 146, 149 f. Personenrechte 212 f., 2 1 7 ff., 247, 292, 365 Pflichten, direkte, indirekte 274, 276 ff., 282 f., 359 Pflichten, juridische 7 3 , 1 1 2 f., 115, 357 f. Pflichten, moralische; Verpflichtung; Verpflichtetsein 5 , 7 , 9 ff., 13,18, 39, 51 ff., 6 7 - 7 0 , 7 3 - 7 6 , 78 f., 8 1 - 9 0 , 94, 1 0 5 - 1 0 8 , 1 1 1 - 1 1 9 , 122, 126, 136 ff., 154 f., 186 f., 1 9 2 , 1 9 9 ff., 2 0 9 - 2 1 3 , 2 1 5 - 2 2 0 , 235, 246 f., 2 5 4 - 2 5 7 , 265, 267, 2 7 0 , 2 7 4 , 2 7 9 , 2 8 3 , 2 8 5 f., 291 f., 294, 296, 301, 304, 3 1 5 - 3 2 0 , 325, 3 4 2 - 3 4 5 , 354, 356 f., 359, 365, 367, 369 s. auch Müssen, moralisches Pflichten, natürliche 254 Pflichten, positive, negative 199 ff. Pflichten, quasi-moralische 3 5 5 360 Pflichten sich selbst gegenüber 12 Pflichten, vollkommene, unvollkommene 319 Präferenzen s. Interessen
388
Sachregister
Quasi-Moral 355 ff., 3 6 0 - 3 7 5 Rat, Ratschlag 317 f . , 360 rational möglich 15 f., 2 9 , 3 4 , 1 4 7 f., 194, 206, 303, 307, 338, 340, 342, 361, 363 rational zwingend 11, 15 f., 20, 29, 34 f., 63, 67 f., 92, 105 f., 147, 164, 194, 247, 302 f., 307, 330, 342, 361 s. auch Müssen, rationales, prudentielles Rationalität, parametrische, strategische 93, 96, 182 Rationalität von Handlungen 15 ff., 2 0 - 2 5 , 33, 35, 37, 208 - von Idealen 3 0 2 - 3 0 7 , 361 - von Interessen, Wünschen 2 5 35, 302 f. Rechte, Abwehrrechte, Leistungsrechte 75, 199 f. Rechte, direkte, indirekte 282 f., 359 Rechte, juridische 73, 76, 80, 116, 133, 155, 226 f., 358 f. Rechte, moralische 51 ff., 6 7 - 7 0 , 73-85,87-90,94,101,105-108, 1 1 5 - 1 1 9 , 126, 133, 136 ff., 154 f., 192 f., 2 1 0 - 2 1 3 , 2 1 5 - 2 1 9 , 235, 2 4 6 f., 2 5 4 ff., 262, 265, 2 6 7 - 2 7 7 , 282 f., 285 f., 291 f., 308, 311, 315, 3 4 2 - 3 4 5 , 356, 358 f., 365 ff., 370 f., 373 f. Rechte, natürliche 77 ff., 80, 218, 254 Rechte, quasi-moralische 3 5 5 - 3 6 0 Relativismus, moralischer 201, 205 f. Sanktionen, Sanktionierung 7 , 6 0 f., 7 6 , 9 2 , 9 9 - 1 1 0 , 1 1 4 , 1 1 6 , 1 1 8 f., 121 f., 137 f., 140, 146, 151, 158 f., 163, 167 f., 187 f., 192, 282, 314, 353 f., 359 f., 364 f., 367
-
äußere, innere Sanktionen 171— 176, 179, 188 f., 360 - juridische Sanktionen 104 f., 121, 155, 1 5 7 - 1 6 1 , 174, 180, 191, 328, 341 - moralische Sanktionen 105,110, 113 f., 120 f., 1 2 6 , 1 3 7 , 1 5 2 - 1 6 2 , 169 ff., 180, 188 ff., 313, 328, 341 - positive, negative Sanktionen 156 - primäre, sekundäre Sanktionen 187 ff. - quasi-moralische Sanktionen 360, 365, 373 Scham, Schamgefühl 143-148, 150 f., 164 f., 314 f., 350 Schuld 137, 139 ff., 143 Schuldgefühle 137, 143, 151, 164 Schuldvorwürfe 1 3 7 - 1 4 3 , 1 5 1 , 1 7 5 Selbstachtung, Selbstschätzung 143 ff., 1 4 7 , 1 4 9 , 3 0 9 , 3 1 1 , 3 1 3 f. Selbstkonzeption, Selbstverständnis 17 f., 1 4 3 - 1 4 7 , 149 f., 164 f., 172 ff., 268 f., 273, 275, 284, 309, 311, 315, 340, 344, 346, 350, 358, 374 Skeptiker, der moralische 1 7 - 2 0 , 25, 28, 33-36, 38 f., 53, 70, 76, 8 0 - 8 3 , 8 6 , 1 1 9 , 1 3 4 f., 1 4 3 , 1 6 1 1 6 5 , 1 6 8 , 1 7 4 ff., 1 7 9 - 1 8 6 , 1 8 9 , 192, 194, 201, 206, 209, 247 f., 2 5 2 , 2 5 9 , 2 6 6 , 2 7 2 f., 285 f., 357, 362 Sollen, „sollen", Soll-Sätze 3 9 - 4 8 , 54 f., 58, 68 - moralische Soll-Sätze 43, 48 ff., 53, 68 ff. Supererogation s. Handlungen, supererogatorische unparteilich, Unparteilichkeit 85, 214, 239, 369 Urteile, moralische 3 - 6 , 19
Sachregister Utilitarismus, utilitaristische Ethik 249 f., 318 f. Verachtung 310 ff., 325, 340 Vernunft, praktische s. Rationalität von Handlungen Vernunftwesen 250 ff., 262 Versprechen 88 f., 101, 104, 110, 168 Verteilung materieller Güter 2 1 7 223, 2 2 6 - 2 3 1 , 233 f., 239, 2 4 3 247, 292, 299
389
Vertrag 87 f., 101, 104, 112 Werte, objektive 19, 26, 137, 142, 247, 253 f., 285, 293, 302 Würde, absoluter Wert des Menschen 248, 251 f., 262, 2 6 6 f., 306 Zorn 1 2 3 - 1 2 8 , 1 3 5 f., 138 f., 141 f., 150, 153, 164, 172
Personenregister Abbott, Th. Κ. 40 Abel, R. 281 Anscombe, G. Ε. M. 49 Antiphon 165 Aristoteles 84, 124, 147, 152, 178, 195, 223 f., 280 Austin, J. 107 f., 114 Averiii, J. R. 124 Axelrod, R. 97 Baron, M. 319 Baurmann, M. 177 Bentham, J. 78, 102, 250, 253 Bollnow, O. F. 124, 127, 141, 296, 309 Brandt, R. 29 Buchanan, J. 229-233, 235 Cairns, D. L. 165 Calvin, J. 318 Carnap, R. 44 Chisholm, R. M. 320, 324 Darwin, Ch. 7 Demokrit 165 Diamond, C. 301 Dihle, A. 166 Döring, K. 166 Dworkin, R. 76 Elster, J. 93 Epicharm 166 Epikur 84 f., 169 f., 262 Euripides 165 f.
Feinberg, J. 74 Freud, S. 172 f. Garland, R. 281 Gauthier,D. 35 f., 8 5 , 9 6 , 1 7 9 , 1 9 6 , 234-246, 262 George, S. 281 Gert, B. 15 Gough, J. W. 87 Grice, G. R. 8 5 , 2 6 2 , 2 7 6 - 2 8 1 , 2 8 3 Grotius, H. 40 Hacker, P. M. S. 102 Hamblin, C. L. 50 Hare, R. M. 39, 310 Harman, G. 19, 202 f., 362, 368 Harsanyi, J. C. 149 Hart, H. L. A. 78, 107 f. Hermarch 262 Heyd, D. 317, 324 Hindelang, G. 50 Hobbes, Th. 35, 78, 85, 93, 95, 98, 104, 123, 1 9 4 , 2 1 1 , 2 3 5 , 262 Hoche, H.-U. 40, 49 Höffe, O. 196 Homer 166, 336 Hume, D. 20 f., 24, 96, 98, 129, 273, 332, 338 Kant, I. 7 ff., 13, 24 f., 35, 39 f., 58 f., 64 ff., 86, 208 f., 251 f., 262, 274, 318 f. Kelsen, H. 43, 46, 90, 102, 113 ff., 156
392
Personenregister
Kersting, W. 319 Korsgaard, Chr. 315 Kritias 166 Kuhse, H. 280 Kutschera, F. v. 43 Locke, J. 2 1 8 , 2 3 7 , 3 6 5 Luther, M . 318 MacCormick, N. 80 Mackie, J. L. 19, 40, 85, 140, 152, 176 f., 262, 3 0 5 , 3 1 8 Maehle, A.-H. 265 Marx, W. 336 f. Meinong, A. 320 Merki, H. 251 Miller, B. D. 281 Nagel, Th. 15 Nelson, L. 271 f. Nozick, R. 237
Schockenhoff, E. 271 Schopenhauer, A. 8 f., 12 f., 49,250, 284, 327 ff., 331, 333 f., 337 f., 343 f. Schweitzer, A. 250 Seneca 280 Simonides 223 Singer, P. 272 f., 280 Smith, A. 129, 338 Srinivasan, V. 281 Stark, R. 280 Strawson, P. F. 128 f., 132, 364 Sugden, R. 93 Taylor, G. 144 Tertullian 317 Thomas von Aquin 317 Tuck, R. 79 Tugendhat, E. 24, 40, 43, 53, 55, 102 f., 127, 134, 212, 229 Urmson, J. 320, 324
Piaton 37, 84, 148, 166 ff., 170, 195, 223 f., 280, 297 Pothast, U. 156, 159 Pufendorf, S. 40, 79 Rand, R. 43 Rawls, J. 8 3 , 8 5 , 1 2 3 , 1 2 6 , 1 3 4 , 1 9 5 , 300 Raz, J. 80 Regan, T. 270 f. Rescher, Ν. 296 Rousseau, J.-J. 331
Venkatachalam, R. 281 Weikart, H.-P. 233 Wertheimer, R. 40 Westermarck, E. 123 f., 280 Williams, B. 144 Williamson, L. 280 Wolf, U. 2 4 8 , 2 6 6 - 2 6 9 , 328, 344 f. Xenophon 165 Zippelius, R. 154