Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 8 Pierre Michel: Barbarie, Civilisation, Vandalisme. – Jean-Claude Perrot: Économie politique [Reprint 2015 ed.] 9783486825169, 9783486544411


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German Pages 108 Year 1988

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Barbarie, Civilisation, Vandalisme
Économie politique
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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 8 Pierre Michel: Barbarie, Civilisation, Vandalisme. – Jean-Claude Perrot: Économie politique [Reprint 2015 ed.]
 9783486825169, 9783486544411

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Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer Heft 8 Barbarie, Civilisation, Vandalisme Pierre Michel Economie politique Jean-Claude Perrot

R. Oldenbourg Verlag München 1988

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 erscheint als Band 10 der Reihe Ancien Regime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt).

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680-1820 / hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel u. Anette Höfer. München : Oldenbourg (Ancien regime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) Literaturangaben NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT H. 8. Barbarie, civilisation, vandalisme / Pierre Michel. Economie politique / Jean-Claude Perrot. - 1988 ISBN 3-486-54441-1 NE: Michel, Pierre [Mitverf.] © 1988 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-54441-1

Inhalt Barbarie, Civilisation, Vandalisme / Pierre Michel Economie politique / Jean Claude Perrot Artikelliste

7 51 105

5

Β ARB ARIE, CIVILISATION, VANDALISME* PIERRE M I C H E L

I. Einleitung 1. Eingrenzung der Untersuchung 2. Begriffsgeschichtlicher Verlauf: Die Zivilisation zwischen .Barbaren' und ,Vandalen'

2 2 3

II. ,Die Invasion der Barbaren': ,barbarie' als Gegenkraft von Kultur und Aufklärung in den allgemeinsprachigen Wörterbüchern (16941796)

5

III. Von der aufklärerischen Kultur zur revolutionären Fortschrittsgeschichte: Entstehung und Entwicklung des Begriffs ,civilisation' 1756-1798

9

IV. „Une barbare theocratie": die aufklärerische Barbareikritik 17501791 1. Anprangerung der ,barbarischen Politik' 2. „Vous vous dites croyants et vous vivez en barbares": ,barbarie' als Sammelbegriff des aufklärerischen Antiklerikalismus . . . 3. ,Barbarei' als Ausdruck von Geschichtspessimismus V. Eine, barbarische' Revolution ?, Barbarie 'und, Vandalisme' als politische Parteibegriffe 1790-1800 1. Die Zivilisation nach Art der ,Dame Guillotine' 2. Die „Vandales modernes": Zur Entstehung des VandalismusBegriffs in der Französischen Revolution VI. Von der, Zeit der Vandalen' zur französischen Zivilisation' (18001830) 1. Siege über die .Barbarei' von Thermidor bis Waterloo 2. Verfestigung von .civilisation' zum christlich-europäischen Fortschrittsbegriff

17 17 20 22 24 24 29 35 35 38

* Aus dem Französischen übersetzt von Anette Höfer, überarbeitet von R. Reichardt. 7

Barbarie, Civilisation,

Vandalisme

2

I. Einleitung 1. Eingrenzung der Untersuchung Während in den französischen Wörterbüchern das Adjektiv barbare als entsprechender Gegensatz zu civilise verzeichnet ist, taucht der Begriff barbarie kaum auf, es sei denn als geographische Bezeichnung der nordafrikanischen Länder („Bastion de France") oder aber als Herleitung sprachverwandter Formen: barbare(s)1). 1756 gebraucht Mirabeau barbarie zum ersten Mal als Oppositionsbegriff zu civilisation. Im allgemeinen Sprachgebrauch dominiert so die Bezeichnung barbare und steht police, politesse oder policie entgegen 2 ). „On l'emploie pour marquer la grossierete, la cruaute et tous les vices que la societe civile detruit ou tend ä detruire." Dieser Definition von barbare fügt Condillac die Bemerkung hinzu, daß die Zeitumstände in ausreichendem Maße den Sinn des Begriffs bestimmten 3 ). Das war vielleicht allzu einfach gesehen. Denn als kulturelle und moralische Verfassung einer Gesellschaft, die einem Zustand oder Prozeß der Zivilisation' gegenübergestellt wird, besitzt barbarie schon vor der nachträglichen ,Erfindung' des Wortes selbst4) nahezu eindeutige Begriffsinhalte 5 ). Während die Bedeutung von (le) barbare durch die Moralphilosophie und im Zeichen einer entstehenden Anthropologie durch seine Sinnverwandtschaft mit dem Begriff sauvage geprägt ist, bezieht sich barbarie über ,die Barbaren' auf die Ur- und Frühgeschichte sowie auf die zeitgenössischen, revolutionären Verhältnisse. Vor allem ist barbare ein „mot de parti", wie Saint-Marc Girardin es 1831 nannte 6 ). Unterliegt es doch ständigen Wandlungen, polemischen Ver-

') „Barbarie: action ou caractere d'un barbare" (CONDILLIAC: Syn., 17581 7 6 7 , 8 1 ) ; s. a. CHOMEL ( 1 7 1 8 ) , I. 2 4 2 . 2

) H. HILGERS-SCHELL/H. Pust, Europäische Schlüsselwörter,

3) CONDILLAC: Syn.

III 13.

( 1 7 5 8 - 1 7 6 7 ) , 81.

") Diese Verlagerung wird selbst in den Titeln der Bücher deutlich, die sich diesem Thema widmen. Pierre-Charles LEVESQUE schrieb 1775 ein Buch mit dem Titel: l'Homme moral, ou l'homme considere tant dans l'etat de pure nature que dans la societe. Daraus wurde 1784: L'Homme moral, ou les Principes des devoirs, suivis d'un appergu sur la civilisation. 5) S . U . S . 3 U . 5. 6

8

) Saint-Marc GIRARDIN: Souvenirs et reflexions d'un journaliste, Paris, Michel L6vy 1859,144.

Barbarie, Civilisation,

3

Vandalisme

Zerrungen, immer neuen Sinngebungen sowie satirischen Personifizierungen vom Ausruf „Barbare!" in der Tragödie bis zur Bilderstürmerei des revolutionären, Vandalismus' von 1793 und ihrem Wiederaufleben im November 1831 und im Juni 1848. Ein werthaltiger, schillernder Begriff auch, in dem sich die vielgestaltige Gegnerschaft zur Aufklärung historisch artikulierte, sicherte und ausbreitete. Schließlich dient der Begriff barbare der fasziniert-empörten Distanzierung eines revolutionären Frankreichs, das auf der Suche nach seinem Ursprung ist und um seine Zukunft bangt. Für eine Untersuchung der unterschiedlich alten, semantisch heterogenen und vielfältig gebrauchten Prädikate barbarie, civilisation und vandalisme, die für die einen Allgemeinbegriffe, für die anderen überraschende historische Erscheinungen sind, bieten sich zwei Wege an. Einmal die soziopolitische Begriffshistorie, die nach der civilisation neuerdings auch den vandalisme entdeckt hat. Zum anderen eine Analyse des Stellenwerts und der Funktionen, die weniger die abstrakte barbarie als vielmehr die konkreteren, in unseren Quellen weit häufiger belegten barbares in der bildhaften sozialen Vorstellungswelt hatten - ein Begriff, der einer der größten Mythen des 19. Jhs. werden sollte 7 ). Die folgende Darstellung sucht beide Ansätze zu verbinden. 2. Begriffsgeschichtlicher Verlauf: Die Zivilisation zwischen Barbaren' und ,Vandalen' Sowohl griechischer als auch römischer Herkunft, wurde der B a r bar' allmählich zum Inbegriff absoluten Andersseins. Als Träger aller Sünden wie Trägheit, Wollust und Grausamkeit, war er im klassischen Zeitalter einerseits der düstere Kontrasthintergrund zur Hervorhebung der eigenen Zivilisiertheit. Durch seine beispielhaften urwüchsigen Tugenden war der Barbar zugleich deren verlockendes Gegenbild. Dieser fruchtbare Widerspruch schlug sich in der Strategie der Aufklärung nieder: ihre gleichsam ,barbarische' Unabhän7

)

M I C H E L : Un mythe romantique, les Barbares. Was das vorliegende Quellenmaterial betrifft, so ist barbare(s) (Nomen/Adjektiv, alle unterschiedlichen Bedeutungen berücksichtigt) 63 mal vorhanden, barbarie(s) 60 mal, civilisä viermal, civiliserzweimal, civilisation 16 mal. (Diese letzte Zahl erhöht sich jedoch um diejenige, die sich aus den Texten ergibt, die für den Artikel-Abschnitt zum 19. Jh. benutzt wurden, aber nicht Teil unseres Quellenmaterials sind; dabei zeichnet sich die Vorherrschaft jenes Begriffs gerade zu Beginn des 19. Jh. ab.) P.

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gigkeit begründete die moderne Freiheit, ihre „barbaries bien &\€röes"8) diskreditierten die Religion. Mehr noch: die Aufklärer, diese „Barbares du XVIIIe siecle"9), entfesselten als weitere .Barbarei' die Revolution - eine „inondation de nouveaux barbares"10), die dann Napoleon eindämmte, welcher seinerseits bald als neuer ,Attila' gelten sollte. 1815 schließlich waren es die ,Barbaren des Nordens', welche der Zivilisation' zum Sieg über einen ,Barbar des Südens' verhalfen: Unter Aufsicht der Kosaken sollte das bürgerliche Frankreich dann zu seinem „barbarischen" und gallischen Ursprung zurückgeführt, sollten in einem Zug die Freiheit und das Eigentum begründet werden, bis sich in den Novemberunruhen von 1831 die „Barbaren des Innern" zu Wort meldeten. Das sind die wesentlichen Perspektiven eines Rundblicks, von Montesquieus Esprit des lois (1748) und Voltaires Essai sur les Moeurs (1753-58) bis zu Chateaubriands Essai sur les Revolutions (1797) und Guizots Legons sur la Civilisation (1828-30). Daneben erteilt Fourier sowohl der barbarie wie der civilisation in seiner Theorie des quatre mouvements (1808) eine wenig beachtete Absage. Die Sicht dieser herausragenden Texte wird im wesentlichen durch unser allgemeines Quellenmaterial bestätigt. Spät, erst mit der Encyclopädie, sind die barbares vollwertiger Teil des politisch-sozialen Wortschatzes. In den Flugblättern und Pamphletwörterbüchern der Revolutionszeit stoßen die barbares mit einer civilisation zusammen, die bis dahin vergleichsweise wenig gebraucht worden war, was die These von ihrer Disponibilität bestätigt11). Damit verschärft sich zugleich der polemische Charakter des barbares-Begriffs, wie auch die damalige Prägung der bedeutungsverwandten Schlagworte vandales und vandalisme zeigt.

VOLTAIRE: Diet., Artikel „Martyrs" (1765), 296f. ) La Harpe: De l'itat des lettres en Europe, an V (1796), 19. 10 ) CHATEAUBRIAND: Itiniraire de Paris ä Jirusalem, in: Oeuvres ques et Voyages, ed. M. R E G A R D , Paris 1969, II 1053. N ) FEBVRE: Civilisation, 503ff. 8

)

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romanes-

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II. ,Die Invasion der Barbaren': ,barbarie' als Gegenkraft von Kultur und Aufklärung in den allgemeinsprachigen Wörterbüchern (1694-1796) 1621 bei Nicot erst ansatzweise vorhanden12), erscheinen die Begriffe barbares und barbarie Ende des 17. Jh. bei RICHELET und FURETI6RE als sozial institutionalisiert. Vom Akademie Wörterbuch bis zum Dictionaire de Trevoux zeigt sich ein weithin durchgehender Sprachgebrauch. 1694 verwischt die Akademie den früher von Montaigne und Descartes betonten Unterschied zwischen barbares und sauvages völlig, ohne auch nur den geringsten Zweifel an der „Barbarei" der letzteren und der Roheit (sauvagerie) der ersteren zu äußern: beide haben „ni lois ni politesse". Aber diese im 18. Jh. grundlegende Unterscheidung zwischen „Gesetzen" und „Sitten" bleibt hier funktional und führt weder zu einer sozialen noch zu einer historischen Betrachtung. Ohne Unterschied werden die Tartaren und die Irokesen „echte Barbaren" genannt, und die Germaneneinfälle werden mit der kurzen Formel von der „irruption des barbares" abgetan. Barbarie erscheint dabei als bloßer Gegenbegriff zur „Menschlichkeit" (humanite) und bildet so ein moralisch-kulturelles Konzept, das in einer Monumentalgeschichte des von den Künsten und den Fürsten getragenen Zivilisationsprozesses lediglich Schwellenfunktion besitzt13). Noch 1710 erscheint die Geschichte bei RICHELET als Theater tragischer Gefühle, in dem auch ein „barbare furieux" wie Ariovist der Liebe gehorchen müsse. Hier zeigen sich die klassischen Wertmaßstäbe einer Vorstellungswelt, die dann selbst den polemischen Bedeutungen des Begriffs etwas Positives abgewinnen wird14). Ri12

) Der Thresor de la langue frangaise von Jean NICOT (1621) sagt zu barbare nur „qui n'est point de nostre langage", und zu barbarie nur „Barbaria, vel Barbaries, Africa minor" (S. 67). 13 ) P. J. B. NOUGARET: Anecdotes des Beaux-Arts, II, Paris 1776, 479: „Ce fut sous le rögne brillant et malheureux de Franfois I, que notre Nation sortit de la barbarie: ce Prince appella auprfes de lui les Gens-de-Lettres et les c&febres Artistes d'Italie". 14

) J. encycloped.,

III/2, 3 2 5 - 3 2 6 (I. 1776) der Dialog: „COMPER. Ciel! oü

sommes-nous? EH! quoi, barbare, puisque tu ne veux point nous donner la mort, pourquoi nous destines-tu ä un [ . . . ] supplice pire [...]? LE NEGRE. Barbare! lequel de nous deux l'est le plus? Que venais-tu faire sur nos parages? [ . . . ] II vous faut de l'indigo; Eh! dites-moi, barbares, qu'importe que le vetement dont vous vous couvrez soit bleu, violet, ou gris?"

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chelet verwendet zwar als eine Art Vorform der kulturhistorischen Klimalehre die Formel: „Les peuples septentrionaux sont les plus barbares de tous les peuples". Aber das auf Knechtschaft bzw. Freiheit ausgerichtete Konzept von der philosophischen „Barbarei" des Nordens erscheint bei ihm noch nicht. Auch das Trevoux-Wörterbuch von 1721 bringt nichts Neues. Es ergänzt Furetiere durch eine philosophische Betrachtung sowie einen geschichtlichen Abriß über die „Barbaren" und erläutert den Begriff barbarie in anderer Schrittfolge als Richelet, indem es von der moralischen Bedeutung über das Anderssein zur geographischen Bedeutung fortschreitet. Ist das ein Anzeichen dafür, daß, wenn nicht der „Barbar", so doch wenigstens der „Barbareske" (Einwohner Nordwestafrikas) - so wie es schon das 17. Jh. geahnt hatte - den Zivilisationsmenschen etwas lehren kann 15 )? Erst die Encyclopedic führt den Begriff aus der Grauzone der Klischees hinaus. Ihre Zuordnung des Adjektivs barbares zum Bereich der Philosophie 16 ) ist bedeutungsträchtig und läßt bereits die polemische Umpolung ahnen, durch die dann Rivarol und andere Aufklärungsgegner die „moderne Philosophie" zu einer „£cole de barbarie" 17 ) verkehren sollten. Mit der Geschichte des Wortes barbare entwirft die Encyclopedic eine Fortschrittsgeschichte des menschlichen Geistes, in deren Verlauf die Gesittung (politesse) und die aufklärerische „Philosophie" über die „philosophie barbare", d. h. über die ägyptische oder christliche Theologie siegt. Durch die Annäherung an die „Barbarei" werden das Christentum und ein Teil der Antike in Frage gestellt 18 ).

L'Afrique barbaresque dans la literature frangaise aux XVl· et XVII' siicles, Paris 1971, 30. Die geographische Bezeichnung Nordafrikas zwischen Atlantik und Ägypten als barbaresque leitet sich vielleicht vom Stammesnamen der ,Berber' ab und wurde erst nachträglich mit ,Barbar' in Verbindung gebracht; vgl. J . M . MÖSSNER: Die Völkerrechtspersönlichkeit und die Völkerrechtspraxis der Barbareskenstaaten (Algier, Tripolis, Tunis 1518-1830), Berlin 1968, S. 1. 16 ) Enc., II (1751), 68. 17 ) RIVAROL: De la Philosophie moderne, o. O . [ 1 7 9 9 ] , 4 . 18 ) GRIMM, III 99-100 (1.X.1755). Andererseits wertet Meister die ,Barbareneinfälle' der Germanen mit dem Hinweis auf, daß Gothen, ripuarische Franken, Angelsachsen usw. viel weniger ,barbarische' Gesetzgeber gewesen seien, als man allgemein behaupte, und außer bei Staatsver-

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) S . G . TURBET-DELOF:

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Vandalisme

Bestimmt die Encyclopedic mit dem Ausdruck „philosophie barbare" die moralischen und kulturellen Bedeutungsaspekte des Begriffs barbarie, so faßt sie diesen doch vor allem geographisch auf, indem sie die „barbarischen" Königreiche Afrikas nach dem Wert ihrer Handelsgeschäfte mit Europa klassifiziert und geradezu ethnologisch das Zeremoniell ihrer Geschäftsabschlüsse, ihr Ritual beim Tausch von Gold und Salz, bei dem nicht gesprochen werden darf, darstellt. Hier scheint ein Wirtschaftsliberalismus seine Unschuld wiederzufinden, dessen Gründung auf Gewalt man sich bewußt ist, die man eher dem anderen vorwirft: „II y a beaucoup d'avantage d'aller acheter de ces voleurs tout ce qui n'est pas ä leur usage". 19 ) Gemeinplätze verbinden sich so listig mit einer liberalen Ideologie des Handelsliberalismus als Kulturträger. Einen anderen, in dem vorliegenden Quellenmaterial seltenen Definitionsversuch macht 1787 F£RAUD. In seinem Dictionnaire critique greift er zurück auf die traditionellen semantischen Beispiele des „coeur barbäre", der „äme barbäre" und vor allem des sauvage (Wilder), die er der griechisch-römischen Kultur gegenüberstellt: „Dans ce 2d sens [ . . . ] sur-tout au pluriel: l'irruption des barbares". Die hier spürbare Schwierigkeit, eindeutig zwischen dem barbare und dem sauvage zu unterscheiden, bestätigt sich durch die Bedeutungsangleichung beider Elemente im Beispiel des danubischen Bauern: „Quand le Scythe eut parle, on admira une si grande eloquence dans un Barbäre". 20 ) Feraud versucht jedoch, diese begriffliche Unklarheit zu überwinden, indem er zwischen sauvage und barbare ein Unterscheidungskriterium einführt, das die Zweideutigkeiten der auf-

brechen keine Todesstrafe gekannt hätten. Erst die Vermischung des germanischen Rechts mit jüdischen und römischen Rechtselementen habe das ,barbarische' Strafrecht des Mittelalters mit seinem „raffinement gothique" geschaffen. In dieser Auffassung klingt der Streit zwischen Anhängern des römischen und des germanischen Rechts an, der im Umfeld der liberalen Ideologie im 19. Jh. wieder heftig entbrennen wird, der aber so speziell war, daß er in unseren Quellen keinen Niederschlag gefunden hat. w ) Enc., II (1751), 69. 20 ) Der Skythe ist der ,gute Barbar'; von Voltaire wird er für die Propagierung der Aufklärung benutzt und später von Chateaubriand für die Verteidigung der naturnahen Offenbarung. 13

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klärerischen Völkerkunde offenbart 21 ): „Tous les Sauvages sont Barbares ä notre egard et dans notre langue: mais tous les Barbäres ne sont pas sauvages". 22 ) Der Bedeutungsunterschied wird so nur bezeichnet, um sich sogleich in einer Abscheidung bzw. in einer Ähnlichkeit aufzulösen. Sei er nun abergläubisch oder Mohammedaner, der „Barbar" ist immer ein wenig der „schlechte Wilde", während der „Wilde" der Naturreligion näher steht: „L'un va ä la cruaute, et ä je ne sais quoi de föroce; l'autre ä la retraite et ä l'eloignement du monde." 23 ) Den „moeurs barbares", die man verurteilen kann, steht die „vie sauvage" gegenüber, die faszinierend und wünschenswert erscheint, ohne Zweifel dem Songe d'un habitant du Mogol näher als dem Supplement au Voyage de Bougainville. Was die barbarie betrifft, so ist sie am Ende des Ancien Regime weiterhin der Gegenbegriff zur politesse und zur culture d'esprit, jedoch nicht zur civilisation. Sie hat nach wie vor nicht nur Schwellenfunktion: („La France a έίέ pendant plusieurs siecles plongee dans la barbarie".) Sie wird außerdem vor allem zur Bedrohung, insofern als Schöngeisterei (bei esprit), Überkultivierung (ein Jh. später wird man von „Byzantinismus" sprechen) sowie „falsche Philosophie" zum Rückfall in die „Barbarei" führen können 24 ). So mündet die zivilisierte und philosophische „Barbarei" in die Herrschaft der „Vandalen" 25 ) und in den „Endkampf" mit einer „Zivilisation", die gerade erst Aufnahme in den Wortschatz gefunden hat 26 ).

21

) Siehe DUCHET: Anthropologie et histoire, 11-12, 216-217 u. die Artikel „Sauvage" der Encyclopedie u. des Diet. Trevoux, die MONTESQUIEU, Esprit des Lois, XVIII/11 aufgreift. Auch die Bezeichnungen „peuples sauvages" und „peuples barbares" unterliegen dieser Begriffsunklarheit: „Rousseau fait un effort pour distinguer rigoureusement ,les peuples sauvages', ,les peuples barbares' et ,les peuples polices', mais il n'est pas toujours fidfele ä cette distinction" ( Μ . LAUNAY: Le vocabulaire politique de J.-J. Rousseau, Geneve/Paris 1977, 47). FERAUD, I (1787), 245.

23

) Ebenda. 24 ) Ebd. S. 246. „Die Regierung, das Betragen der Wenden" (REINHARD, 1796, 358). 26 ) Der Artikel „Civilisation" des SNETLAGE übernimmt diese Formulierung von MALLET D U P A N : Considerations sur la nature de la Revolution de France, Londres 1793, S. V. 14

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III. V o n der aufklärerischen Kultur zur revolutionären Fortschrittsgeschichte: Entstehung und Entwicklung des Begriffs „civilisation" (1756-1798 2 7 ) Anders als die auf Persönlichkeitsbildung und -ethik zielende civilite (s. diesen Artikel) erwuchs der allgemeine dynamisch-historische kulturbegriff civilisation nicht aus der Tradition, sondern war ein neues Konzept der Zeit der späten Aufklärung. „Quoique ce mot ne se trouve pas dans les dictionnaires, il itait cependant dejä employe depuis plusieurs ann£es, par les bons Ecrivains".28) Als R E I N H A R D dies 1796 schrieb, hatte er wohl ebensowenig das Trevoux-Wörterbuch gelesen, wie Littre das Akademie-Wörterbuch von 1798 lesen wird29). Aber welche Schriftsteller meinte Reinhard? Der Begriff findet sich weder bei Montesquieu, Buffon oder Rousseau30) noch bei Voltaire, wenn das Zivilisationskonzept und dessen Philosophie zugrundeliegt31). D I D E R O T benutzte ihn zwar in seinem Supplement au Voyage de Bougainville, das um 1772/73 verfaßt und erst 1796 veröffentlicht wurde, allerdings nicht bei seiner Analyse des „Bürgerkrieges", den der „homme naturel" und der „homme moral et artificiel" im menschlichen Innern ausfechten 32 ). Auch in unserem Belegmaterial ist der Begriff vergleichsweise wenig vertreten. Spricht das dafür, daß sich das Prädikat civilisation ungleich später einbürgerte als barbar(i)e und im späten 18. Jh. noch kaum allgemein gebräuchlich war 33 ), so ist das Zivilisationskonzept doch bei weniger prominenten Autoren seit den 1760er Jahren durchaus nachzuweisen34)

27

) Vgl. zum folgenden die Arbeiten von

M O R A S , FEBVRE, BENVENISTE

und

ΒέΝέτοΝ. Μ ) REINHARD ( 1 7 9 6 ) , 8 4 .

Civilisation, 4 8 8 . ) Ebd. S. 485 u. 491. 31 ) R . POMEAU: „Introduction" zu VOLTAIRE: Essai sur les moeurs, Paris 1963, S. XLVII. 32 ) D I D E R O T : Supplement au Voyage de Bougainville, ed. H . DIECKMANN, Genfeve/Lille 1955, 59-60; s. a. L. OKON: ,Nature' et Zivilisation' dans le Supplement au Voyage de Bougainville' de D. Diderot, Bern/Frankfurt 1979. 33 ) HILGERS-SCHELL/PUST, Europäische Schlüsselwörter, I I I 1 6 . 34 ) Zur einschlägigen Debatte zwischen Begriffs- und Ideengeschichte, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. ΒέΝέτοΝ: Histoire des mots, l l f f . 29

) FEBVRE,

30

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und enthielt im Ansatz bereits den Begriff der civilisation chretienne, der im 19. Jh. so wichtig werden sollte 35 ). „L'ami des hommes a employe ce mot pour sociability" - mit dieser Anspielung auf Mirabeau d . , A'. führte das Trevoux-Wörterbuch von 1771 den neuen Begriff civilisation ein und besiegelte zugleich das Ende seiner alten fachjuristischen Bedeutung („jugement qui rend civil un proces criminel"), die sich im späten 18. Jh. überlebt hatte 36 ). Zu einer Zeit, als das Abstraktionssuffix -ion im Französischen zur Bildung einer ganzen Reihe theoretischer Allgemeinbegriffe diente 37 ) und sich auch der englische Zivilisationsbegriff entwickelte38). La Religion est sans contredit le premier et le plus utile frein de l'humanite; c'est le premier ressort de la civilisation. 39 )

Diese erste Definition des Zivilisationsbegriffs in einem allgemeinsprachigen Wörterbuch steht im Zeichen des Katholizismus und übernimmt eine Formulierung des Physiokraten M I R A B E A U - einerseits Prediger aufgeklärter Menschlichkeit und bibelfester Frömmigkeit, andererseits „in einen Prozeß verwickelter, barbarischer Haustyrann", wie ein Christ 1776 berichtete 40 ). Solch ironischer Widerspruch läßt sich auch symbolisch verstehen als Hinweis auf die inneren Spannungen des Zivilisationskonzepts 41 ). Er deutet auf die Be-

35

) Civilisation chretienne, sous la direction de Β . PLONGERON et al., s. a. unten. 36 ) FERRI6RE (1762), I 287-288 widmet civiliser im juristischen Sinn einen Artikel, schweigt sich aber über civilisation aus (1762). Diet. Trevoux ( 6 1771), II 617. Nur den juristischen Fachterminus hatten gebraucht: Diet. Trevoux ( 4 1740, ed. 1743), II 155; Enc., III (1753), 497 („Civiliser"); FERRRI£RE (1762), 1287f. („Civiliser"). - Zum angeblichen Erstbeleg bei Turgot (1751), der erst 1811 von Dupont de Nemours formuliert wurde, vgl. M O R A S , 3, u. FEBVRE, 485. Ein anderer Beleg, den LAROUSSES Grand Dictionnaire universel (III, 1867) Racine zuschreibt („La civilisation d'un empire est un ouvrage long et difficile"), stammt aus RAYNALS Histoirephilosophique ... von 1780 (HILGERS-SCHELL/PUST, S. 15 Anm. 2 u. S. 18) und geht auf Diderot zurück ( D U C H E T : Anthropologie, 224). 37

) M O R A S , 2 ; FEBVRE, 4 9 1 ; BENVENISTE, 5 0 .

38

) M O R A S , 3 4 ; FEBVRE, 4 8 9 ; BENVENISTE, 5 1 .

39

) Diet. Trevoux ( 6 1771), II 617 = Marquis de MIRABEAU: L'Ami des hommes ou Traite de la population, Avignon 1754, 136. T") BACH, IX 211 (12.IX.1776). 41 ) „Mirabeau", so schreibt Grimm, „affecte partout un style obscur et barbare" ( G R I M M , IV 339). Vgl. M O R A S , 33.

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freiung der Philosophie von der Theologie 42 ), enthält aber gleichzeitig das Konzept der civilisation chretienne. Mirabeau fundierte die civilisation zwar anfangs in der Religion, betonte das später aber immer weniger, bis die religion hinter die humanite zurücktritt und nur noch als deren Stütze erscheint 43 ). Von dieser ist es nur noch ein Schritt, um vom traditionellen Katalog der menschlichen Pflichten gegenüber Gott, gegenüber sich selbst und gegenüber dem Nächsten - einfach die „devoirs envers Dieu" zu übergehen 44 ). Und tatsächlich spielen eben jene, welche dieser Säkularisierung hätten entgegenstehen können und es auch versuchen, ihr wohl oder übel in die Hand. Läßt sich doch bei den Theologen des späten 18. Jh. eine neuartige Betonung immanenter Werte, ein Rückgang des Transzendenten, eine verstärkte Beachtung des bei den „Wilden" geltenden Naturgesetzes feststellen 45 ). Und so sucht denn der Abbe le Batteux zu beweisen, daß die „zivilisierten Naturvölker" („les nations payennes civilisees") schon immer den „wahren Gott" gekannt hätten 46 ). In Verbindung mit der humanite wird civilisation so zum allumfassenden Oberbegriff im aufklärerischen Sinne, während die Religion zur Mittlerin zurückgestuft wird: Ob sie bei der Zivilisierung aktiv führt (wie bis etwa 1760 in den meisten Fällen), ob sie an ihr neben anderen Kräften teilnimmt bzw. passiv beteiligt ist oder ob sie gar keine Rolle spielt - in jedem Fall wird die humanite nach 1770 zum obersten zivilisatorischen Leitwort auch bei theologischen Autoren 47 ). Eröffnet der früheste Beleg für civilisation gerade wegen seiner partiellen Anbindung an die Religion eine Perspektive der Säkularisation, so prägten die übrigen Schriften Mirabeaus civilisation im Sinn eines dynamischen Fortschrittsbegriffs. Am umfassendsten definierte Mirabeau seine Ableitung aus dem Verb civiliser um 1768 in dem unvollendet und ungedruckt gebliebenen Manuskript L'Ami des femmes ou Traite de la civilisation:

42

) ΒέΝέτοΝ: Histoire des mots, 34. 34ff.; HILGERS-SCHELL/PUST, 1 6 . M ) Diet. Trevoux ( 6 1771), III 742: der dortige Artikel „Sociabilite" warnt vor dieser Versuchung. Zu barbare und civilise im Trevoux-Wörterbuch vgl. J. G R £ S - G A V E R , in: Civilisation chretienne, 47-62. 45 ) B . PLONGERON: Affirmation et transformation d'une „civilisation chretienne" ä la fin du XVIII e siecle in: Civilisation chretienne, 17. « ) BACH., II 183 (16.IV.1765). 47 ) In Anlehnung an PLONGERON [45], 17. 43

) MORAS,

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La civilisation d'un peuple est l'adoucissement de ses moeurs, l'urbanit6, la politesse et les connaissances röpandues de maniere que les biensiances y soient observ6es et y tiennent bien de lois de detail: [ . . . ] la civilisation ne fait rien pour la sociiti, si eile ne lui donne le fond et la forme de la vertu; c'est du sein des soci6t6s adoucies par tous les ingredients qu'on vient de citer qu'est nee la corruption de l'humanite. 48 )

Was Mirabeau hier für sich definierte und gleichzeitig in mehreren Veröffentlichungen erläuterte, war ein ambivalentes Konzept. Gewiß ist die civilisation, wie sie in der geistig-sittlichen Kultur Frankreichs europäischen Modellcharakter gewonnen hat 49 ), mehr als Gesittung (moeurs) und gesellschaftliche Verfeinerung (politesse, bienseances); anders als diese von ihr bewirkten „Zustände" ist sie die Kraft, welche die Gesellschaft nach Inhalt und Form auf die „Tugend" gründet, ein historischer Zivilisationsprozeß, das lexikalische und konzeptuelle Bindeglied zwischen dem statischen Begriffspaar civilite/politesse sowie seinem Antonym barbarie einerseits und dem aktiven Verb civiliser andererseits. Aber diese fortschrittsgeschichtliche Perspektivierung der civilisation beschränkt sich weitgehend auf Vergangenheit und Gegenwart, sie greift noch nicht linear in eine offene Zukunft aus, sondern bleibt einem zirkulären Geschichtsverständnis verhaftet: Wie die altrömische civilisation durch die Germaneneinfälle zerstört wurde 50 ), so trägt auch die moderne „Kultur", wo sie nur äußerlich ist, den Keim ihres Niedergangs in sich (s.o. Anm. 48), kann aber nach einem Rückfall in die barbarie durch geschickte Politik in einem erneuten Zivilisierungsprozeß wiederhergestellt werden: „le cercle naturel de la barbarie ä la decadence par la civilisation et la richesse peut etre repris par un ministre habile et attentif [.. ,]5i). Diesem Wortverständnis folgte der Abbe B A U D E A U , Mirabeaus Schüler und Mitarbeiter an der physiokratischen Zeitschrift. Er begriff die civilisation einerseits als Fortschrittsprozeß, der auf landwirtschaftlicher Nutzung von Grundbesitz beruht 52 ), der sich im 48

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) Α . Ν . , Μ 7 8 0 , N o 3 , zit. MORAS, 3 8 .

) Ephämerides 1767, X 27. so) Ephemerides 1767, IX, 26. Februar. 51 ) MIRABEAU: Ami des hommes [39], II 176. Ähnlich zum „cercle de la civilisation" ders.: Thiorie de l'impdt, o. 0 . 1 7 6 0 , 9 9 . Zur Interpretation vgl. M O R A S , 38-42; sowie BENVENISTE, 49. 52 ) „La propriete foneifere qui attache l'homme ä la terre, est done un pas trfes important vers la civilisation la plus parfaite, vers l'6tat le plus favorable ä l'humanit£ [ . . . ] " (Ephtmdrides 1768, II81); s. a. FEBVRE, 486. 18

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mehrstufigen Aufstieg von sozioökonomischer Abhängigkeit zu Freiheit und Selbständigkeit vollzieht53) und in der christlich geprägten „civilisation europeene 54 ) seinen Höhepunkt erreicht, zugleich aber auch als Zustand gesellschaftlicher Wohlfahrt und Gesittung. Der von den Physiokraten geprägte Begriff verbreitete sich bald in allgemeinen aufklärerischen Schriften. Hatte die Correspondance litteraire 1767 noch auf das ältere Verb civiliser zurückgegriffen, um den Vergesellschaftungs- und kulturellen Bildungsprozeß eines Volkes zu bezeichnen 55 ), so begann sich mit den 1770er Jahren das neue Substandiv einzubürgern. So erscheint die civilisation in einem anonym veröffentlichten Hauptwerk H O L B A C H S als langfristige Entwicklung vom Naturzustand der Wildheit zum Kulturzustand der Gesellschaft, die erst abgeschlossen sein wird, wenn die Kriege aufhören, wenn die „Vernunft" Staat und Gesellschaft weiter reformiert hat und damit das Ziel der „felicitä publique" erreicht ist: La raison humaine n'est pas encore suffisamment exercee; la civilisation des Peuples n'est pas encore terminee; des obstacles sans nombre se sont opposes jusqu'ici aux progres des connaissances utiles, dont la marche peut seule contribuer ä perfectionner nos Gouvernements, nos loix, notre 6ducation, nos institutions et nos moeurs. 5 6 )

Gleichzeitig brauchten auch D I D E R O T und R A Y N A L civilisation als zusammenfassenden Perspektivbegriff für sittlich-geistige Kultivierung, Aufklärung und Entzauberung der Religion als Legitimationsmittel politischer Herrschaft: „Ce ne fut que par le progres de la civilisation et des lumieres, qu'on s'enhardit ä les examiner [diese „reve-

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) So heißt es zu den nordamerikanischen Wilden: „dans le second 6tat de la civilisation, c'est l'honnete midiocrite, l'aisance et l'agrement qu'on leur procure [ . . . ] " {Ephemerides 1766, IV 89). 54 ) Ebd. 1766, V 60. 55 ) GRIMM, VII 465(1.XI. 1767). 56 ) HOLBACH: Systeme social (1773), III 164ff. - „La civilisation complette des Peuples et des Chefs qui leur Commandern, la reforme desirable des gouvernemens, des moeurs, des abus, ne peuvent etre que l'ouvrage des siecles [ . . . ] " (ebd. 1210). „Est-il rien en effet qui mette plus d'obstacles ä la felicit6 publique, aux progrüs de la raison humaine, ä la civilisation complette des hommes, que les guerres continuelles dans lesquelles des Princes inconsideres se laissent entrainer ä tout moment?" (Ebd., II 112). 19

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ries"], et qu'on commen^a ä rougir de sa croyance." 57 ) Doch weniger fortschrittsoptimistisch als Holbach - und das könnte sich mit aus der rousseauistischen Zivilisationskritik erklären 58 ) - hielten sie eine gesellschaftsschädliche Übersteigerung der civilisation für möglich 59 und betrachteten die Geschichte als endloses Schwanken zwischen „Wildheit" und „Kultur": la civilisation des etats a plus ete l'ouvrage des circonstances que de la sagesse des souverains. Les nations ont toutes oscilld de la barbarie ä l'etat ροΐίοέ, de F6tat police ä la barbarie [.. ,]60) Wie außerdem erste Schriften bestätigen, die den neuen Begriff im Titel thematisierten 61 ), hatte sich civilisation um 1780 zu einem Konzept des geschichtlichen Zeitbewußtseins verfestigt, das hauptsächlich den Fortschritt vom Natur- zum Gesellschaftszustand erfaßte, genauer als progres die langfristige intellektuelle wie sittlich-moralische Verbesserung bezeichnete, als Zustandsbezeichnung ein hohes politisch-soziales Entwicklungsstadium beinhaltete 62 ), ansatzweise 57

) RAYNAL: Histoire philosophique (1780, Quart-Ausgabe), I 39, zit. nach MORAS, 50f. - In der Erstauflage dieses Werkes (1770) hatte der Begriff noch gefehlt, wurde aber in der erweiterten Neuausgabe von La Haye (1774) eingeführt: „un systeme r6fl6chi de legislation, qui suppose dejä un etat de civilisation et de lumieres tres avanc6." (137). 58 ) In eigenwilliger Umkehr gab Rousseau dem Adjektiv barbare den positiven Sinn von civilisation, ohne diesen Begriff zu gebrauchen (M. LAUNAY: Le vocabulaire politique deJ. J. Rousseau, Geneve/Paris 1977, 468). Dagegen wandte sich u. a. BACH., 1250 (19.VII.1763). 59 ) „II y a [...] un terme dans la civilisation, un terme plus conforme ä la ίέlicitö de l'homme en general et bien moins iloigne de la condition sauvage qu'on l'imagine [...]" (DIDEROT: Refutation suivie de l'ouvrage d'Helv6tius intituli l'Homme, 1773, in ders.: Oeuvres, ed. Assezat/ Tourneux, II 43). Kritisch von einem „6tat de civilisation" schrieb G.-M. BUTEL-DUMONT: Theorie du luxe . . . , o. O. 1771, S. 8. RAYNAL: Histoire philosophique (1780, Oktav-Ausgabe), X 43. 61 ) J.-V. DELACROIX: Reflexionsphilosophiques sur l'origine de la civilisation et sur les moyens de remedier ä quelques-uns des abus qu'elle entraine. Amsterdam/Paris 1778; rezensiert in: J. encyclop. VIII/2 (1.XII.1778), 1 9 1 - 2 0 1 ; s o w i e Annie

litter. V / 6 ( J u l i 1 7 8 0 ) , 1 1 3 - 1 2 0 , - P . - C . LÜVESQUE:

L'Homme moral, ou Les principes des devoirs, suivis d'un appergu sur la civilisation, Paris 1784. 62 ) P.-L. LACRETELLE: Discours sur le prejuge des peines infamentes, Paris 1784, S. 11: „je distingue la societi de la civilisation: la premiere commence, des que des families diffirentes [...] se reunissent pourpourvoir aux premiers besoins de la vie et a leur döfense commune. La seconde ne nait que du moment oü ces hommes et ces families plus rapprochees par 20

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den Auftrag zu weiterer Zivilisierung in der Zukunft enthielt, aber doch auch ein vages Gefühl von der Prekarität und Bedrohtheit der damals erreichten Kultur ausdrückte. Da das Wort allerdings keine Aufnahme in das allgemeine Sprachwörterbuch Ferauds von 1787 fand, scheint es am Ende des Ancien Regime über den Kreis der Gebildeten hinaus nicht üblich gewesen zu sein. In der Revolutionszeit wurde der Begriff jedoch lexikalisch institutionalisiert. Während der Neologiste franqais etwas einseitig an den von den Physiokraten aufgebrachten wirtschaftspolitischen Bedeutungsaspekt anknüpfte 63 ), bestätigten zwei andere allgemeinsprachige Wörterbücher die dynamisch-kulturgeschichtliche Hauptbedeutung von civilisation. Ce mot [ . . . ] est employö pour exprimer I'action de civiliser ou la tendance d'un Peuple de polir ou plutot de corriger ses moeurs et ses usages en portant dans la Soci6t6 civile une moralit£ lumineuse, active, aimante et abondante en bonnes oeuvres. 64 )

Dennoch blieb der Begriff zu abstrakt, um in der politischen Tagespresse als allgemeines Schlagwort oder in den Reden führender Revolutionäre wie R O B E S P I E R R E als Konzept zu dienen. Vielmehr beschränkte sich seine Funktion weitgehend darauf, die Französische Revolution gelegentlich als Vernichtungskrieg gegen die ,Kultur' zu verdammen 65 ), oder - und dies geschah nachdrücklicher - geschichtsphilosophisch zu bewältigen. So wurde für V O L N E Y der seit dem 16. Jh. beschleunigte, von Aufklärung und politischen Reformen getragene zivilisatorische Fortschritt erst dadurch zur beherrschenden Kraft der Geschichte, daß die Revolution die zivilisationshemmende Macht von Kirche und Monarchie gebrochen habe:

une grande variöti de besoins, d'interets, de passions, sont obliges d'itendre et de perfectionner le plan de leur association, d'ilever un gouvernement intirieur et de lui donner des regies." 63 ) REINHARD (1796), 84: „La plus ou moins prompte civilisation d'une nation, tient ä son commerce, avec les autres peuples."